Anschauung und Begriff: Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung 9783110537192, 9783110535808

Published in 1913 by Max Brod and Felix Weltsch, this work weaves together epistemological and perceptual psychological

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German Pages 264 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Das Unbestimmte der Sprache
Editorische Vorbemerkungen zur Neuausgabe
Edition: Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung. Max Brod und Felix Weltsch
Inhalt
Einleitung
Erstes Kapitel. Die vorbegriffliche Gesamtanschauung
Zweites Kapitel. Das vorbegriffliche Urteil
Drittes Kapitel. Die Verschwommenheit
Viertes Kapitel. Der anschauliche Begriff (A + x)
Fünftes Kapitel. Die höheren (A + x)-Gebilde
Sechstes Kapitel. Relationen und Akte
Siebstes Kapitel. Das lebendige Spiel der (A + x)-Gebilde
Achtes Kapitel. Die Gedanken
Neuntes Kapitel. Der wissenschaftliche Begriff
Nachbemerkung
Literaturverzeichnis
Dokumente und Rezensionen
Selbstanzeige
Rezension
Rezension
Rezension
Review
Rezension
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Anschauung und Begriff: Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung
 9783110537192, 9783110535808

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Max Brod/Felix Weltsch Anschauung und Begriff

Textologie

Herausgegeben von Martin Endres, Axel Pichler und Claus Zittel Wissenschaftlicher Beirat: Alexander Becker, Christian Benne, Lutz Danneberg, Petra Gehring, Thomas Leinkauf, Enrico Müller, Dirk Oschmann, Alois Pichler, Anita Traninger, Martin Saar, Ruth Sonderegger, Violetta Waibel

Band 3

Max Brod/Felix Weltsch

Anschauung und Begriff

Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung Herausgegeben und eingeleitet von Claus Zittel unter Mitarbeit von Axel Pichler

ISBN 978-3-11-053580-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053719-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053592-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Claus Zittel Das Unbestimmte der Sprache. Max Brods und Felix Weltsch Monographie über verschwommene Vorstellungen | VII Claus Zittel und Axel Pichler Editorische Vorbemerkungen | XXIX

Edition:   Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung. Max Brod und Felix Weltsch  Inhalt | 5 Einleitung | 9  Erstes Kapitel   Die vorbegriffliche Gesamtanschauung  | 15 Zweites Kapitel   Das vorbegriffliche Urteil  | 33 Drittes Kapitel   Die Verschwommenheit | 45 Viertes Kapitel   Der anschauliche Begriff (A + x) | 65 Fünftes Kapitel   Die höheren (A + x)-Gebilde | 79 Sechstes Kapitel   Relationen und Akte | 89 Siebstes Kapitel   Das lebendige Spiel der (A + x)-Gebilde | 113

VI | Inhalt

Achtes Kapitel   Die Gedanken  | 133 Neuntes Kapitel   Der wissenschaftliche Begriff  | 149 Zehntes Kapitel   Erkenntnistheoretische Bemerkungen  | 181 Nachbemerkung | 192  Literaturverzeichnis | 193 

Dokumente und Rezensionen  Max Brod und Felix Weltsch   Selbstanzeige | 199 Gaston Rosenstein  Rezension | 201 Hugo Bergmann  Rezension | 203 Alois Müller  Rezension | 207 Henry Watt  Rezension | 217 Heinrich Levy  Rezension | 219

Claus Zittel

Das Unbestimmte der Sprache Max Brods und Felix Weltsch Monographie über verschwommene Vorstellungen

I. „Wir wissen“, schreibt Fritz Mauthner zur Verblüffung seiner Leser in seinen Beiträgen zu einer Kritik der Sprache, „dass es der Sprache wesentlich ist, unbestimmt und nebelhaft zu sein. Auch der konkreteste Begriff ist noch verschwommener als die Wirklichkeit, das heißt als die Sinneseindrücke, welche wir von ihr empfangen. Um wie vieles unbestimmter müssen dann die Formen der Grammatik sein, welche allesamt Abstraktionen sind. Wundern darf uns das nicht, die wir das Schwebende in allen Begriffen der Sprache erkannt haben.“ (Mauthner 1913, S. 217) Das zwischen Sein und Nichtsein frei Schwebende der Sprache (vgl. Schulz 1985) war indes seit den Tagen der Romantik, wo es die produktive Imagination eines die Extreme vereinenden Geistes auszeichnen konnte, in Verruf geraten. Verschwommene Ausdrücke, unklare Formulierungen, vage Anschauungen, die Grauzonen des Denkens und der Wahrnehmung, galten zu Mauthners Zeit sowohl in der Philosophie als auch in der Literaturwissenschaft als Ausweis stilistischer und gedanklicher Schwäche, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Mauthner konnte sich jedoch auf eine kurz zuvor erschienene philosophische Abhandlung berufen, die nicht nur für Traum-, Übergangs- und Dämmerungszustände wie dem Halbschlaf, sondern für die Sprache überhaupt „die Verschwommenheit auch der vorbegrifflichen Vorstellungen in scharfsinniger Weise nachgewiesen“ (Mauthner 1913, S. 217) habe. Die Studie trug den Titel Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung und war ein Gemeinschaftswerk zweier enger Freunde Kafkas, Max Brods (1884– 1968) und Felix Weltschs (1884–1964)1. Die 1913 zu Leipzig im Kurt Wolff Verlag erschienene, seither nicht mehr aufgelegte und auch antiquarisch verschollene Schrift2 führt ins Herz der Prager || 1 Zu Brod und Weltsch als Philosophen vgl. Schmidt 2010 und 2012, Pazi 1970 und Pazi 1987, Zimmermann 2002. 2 Sie wird auch nicht aufgenommen in der neuen Werkausgabe der Schriften Max Brods (Brod 2013ff.).

DOI 10.1515/978311053719-001

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Moderne, mitten hinein in die damals am Kreuzungspunkt von Phänomenologie, Sprachphilosophie, Ästhetik, Gestalttheorie und deskriptiver Psychologie heftig geführten Kontroversen um Kunst und Wissenschaft. Das Prager Autorenduo erkundet jedoch mit seiner Studie nicht nur den Übergangsbereich von Anschauung und Begriff, sondern es nutzt den ganzen Reichtum ästhetischer Beschreibungsmöglichkeiten für mannigfache phänomenologische Analysen von Wahrnehmungs- und Bewußtseinsakten. Vice versa bergen ihre Beobachtungen ein immenses poetologisches Potential, das insbesondere für das Verständnis von Texten jener Literaten aus ihrem näheren und weiteren Umfeld, die sich auf die Schilderung von Denk- und Wahrnehmungsvorgängen verlegen, einen direkten Zugang erschließt. Es ist daher kaum zu glauben, dass eine solch zentrale, seinerzeit vielbeachtete und prominent rezensierte Schrift (siehe in diesem Band den Abschnitt „Dokumente und Rezensionen“) in der Forschung bislang nur eine marginale Rolle spielt,3 obgleich sie das entscheidende Brückenglied zwischen den seinerzeit in Prag vermeintlich getrennten Sphären von Wissenschaft und Philosophie einerseits und Kunst und Literatur andererseits bildet. Denn sowohl für ein Verständnis der literarischen Experimente Franz Kafkas, Max Brods, Paul Adlers, Hermann Brochs und anderer ist diese Studie ebenso unverzichtbar als auch für eine Rekonstruktion der Wirkungen Franz Brentanos auf die Formierung der modernen Phänomenologie und Sprachphilosophie in Prag.4 In ihrer Einleitung und in ihrer Selbstanzeige benennen Brod und Weltsch als aktuellen Anlaß ihrer Arbeit den unter philosophischen Schulen des Neukantianismus und den Anhängern Bergsons und William James tobenden Streit um das Verhältnis rational-analytischer oder intuitiv-unmittelbarer Erkenntnis [S. 10f.]. Beide Lager stünden sich in derart unvereinbaren Positionen gegenüber, dass eine gegenseitige Verständigung kaum vorstellbar scheine. Dadurch aber, dass nun auch „Literaten, denkende[] Laien und populäre Darsteller“ sich in die Debatte lebhaft einmischten, habe der Konflikt eine emotionale Wende genommen und sich weiter verschärft: Die Freunde der Analyse wollen nun gar nichts mehr von dem dumpfen verschwimmenden Erlebnis wissen, ihr Schrei nach Reinlichkeit und lateinischer Klarheit ist zugleich ein Verachtungsruf gegen jede halbunbewußte, dämmernde, in sich geduckte Begeisterungswelt. An Überschätzung der eigenen Vorliebe und Unterschätzung des gegnerischen Standpunkts geben ihnen aber die „Unmittelbaren“ nichts nach, ja der unparteiische Be-

|| 3 Ausnahmen sind: Mattenklott 2012, Vollhardt 1986, S. 79f. u. S. 94, Morris 2009, Alt 2009. 4 Vgl. dazu meine die historischen, systematischen und ästhetischen Verbindungen zwischen Wissenschaft und Literatur der Prager Moderne ausführlicher darstellende Studie: Zittel 2016.

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obachter wird finden, daß sie in den letzten Jahren merklich aggressiv geworden sind und mit einer gewissen triumphierenden Selbstzufriedenheit alle Logik, alles Rationalistische für überwunden erklären, daß sie auf eine besonders freudig hervorgehobene Unerklärlichkeit des Lebens als auf den unzerstörbaren Bestand ihres Reiches pochen, einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen „Leben“ und „Begriff“ für festgestellt halten […] und man kann schon heute sagen, daß sie bei allen nicht ganz Unbefangenen den Rationalismus in Mißkredit gebracht hat. [S. 10f.]“

Entscheidend ist nun aber, dass Brod und Weltsch ihr Buch weder gegen die Wissenschaftsauffassung eines der beiden Lager geschrieben noch eine Vermittlung oder Versöhnung der Parteien angestrebt hatten. Inmitten des „Schlachtfeld[es] eines […] erbitterten Kampfes“ geraten, sei es ganz und gar nicht ihre Absicht gewesen, den gefährlichen Boden der Kontroverse von Verstand und Herz zu betreten und uns am Ende von der einen Front „Verschrobenheit“ und zugleich von der andern „Seichtheit“ zurufen zu lassen. Wir wollten vielmehr in aller Kühle, angeregt durch den speziellen Fall eines terminologischen Streites, das durch Realismus, Nominalismus und Konzeptualismus seit alter Zeit genugsam verwirrte, aber noch nicht aufgelöste Rätsel des Allgemeinen, des Begriffs uns klar machen und es war zunächst nur das eine unsere Absicht: die logischen Funktionen des Begriffs zu verstehen [S. 11f.].

Keineswegs also versuchen Brod und Weltsch als Anwälte der Literatur und Kunst die Anschauung gegen den Begriff auszuspielen, sie beabsichtigen auch nicht den philosophischen Aposteln der Klarheit mit einem vitalistischen Lob der Verschwommenheit entgegenzutreten, vielmehr wollen sie die Funktionsanalyse des Begrifflichen durch die genaue Beobachtung und präzise Beschreibung vonseiten der Phänomenologie bislang ausgeblendeter Bewußtseinsvorgänge erweitern. Das Ergebnis, so resümieren beide, dürfte denn auch Hitzköpfen beider Teile ziemlich ärgerlich sein, obwohl es beileibe keine der so beliebten „vermittelnden Stellungen“ ist. Wir glauben nämlich, der anschauenden und der zergliedernden Grundfunktion des menschlichen Geistes, sowie ihren mannigfachen Kombinationen abgesonderte Wirkungsgebiete und eigene Vorzüge, aber jeder auch eigene Mängel zuschreiben zu müssen. Wir ziehen Grenzen, die freilich nicht wie die zwischen den Staaten auf der Landkarte von Nordamerika als geometrische Gerade sich einschneiden, sondern deren launischer Zickzack sorgfältig verfolgt und mit durchaus geduldigem Blut, ohne Schlagworte und ohne Rücksicht auf die damit verbrachte Zeit abgesteckt sein will. [S. 13]

Der neue Weg, den Brod und Weltsch beschreiten wollen, sei nicht von logischen Postulaten vorbestimmt, sondern führe „mitten in das Begriffserlebnis hinein“. Sie schlagen vor, das Begriffserlebnis selbst, das lebendige Zusammenspiel von Anschauung und Begriff zu studieren, anstatt beide separat zu be-

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trachten und erst danach zueinander ins Verhältnis zu setzen. Diese Vorgehensweise enthülle zwischen vorbegrifflicher Anschauung, anschaulichem und wissenschaftlichem Begriff gerade keine Gegensätze, sondern nur den „Unterschied von Nüancen“. Die Nuance aber ist, was Brod und Weltsch hier wissentlich verschweigen, eine zentrale Kategorie der Poetik der Moderne, die ausgehend von den Zeilen „Car nous voulons la Nuance encore, / Pas la Couleur, rien que la nuance!“ aus Paul Verlaines berühmten Gedicht L’art poetique (Verlaine 1994, S. 316) über Nietzsche seither programmatisch das Zwischenreich der Valeurs und zarten Übergänge in der Wahrnehmung evoziert (vgl. Lange 2005). Dieser Kontext ist aufgerufen wenn Brod und Weltsch direkt im Anschluss ihre Schrift als eine „Monographie über verschwommene Vorstellungen“ bezeichnen, deren zentrales Anliegen eine „genaue Beschreibung und möglichste Weiterverfolgung des Verschwommenheitsphänomens“ [S. 12] sei. Indem sie das philosophisch geächtete Thema der Verschwommenheit (vgl. Mulligan 1990) ins Zentrum ihres wissenschaftlichen Interesses rücken, machen sie darauf aufmerksam, dass unsere Wahrnehmungswelt von einer Vielzahl von vagen, unbestimmten, verschwommenen Sinnes- und Gedächtniseindrücken bestimmt wird, die eine empirisch arbeitende Psychologie mit einzufangen und ihren Funktionen zu explizieren habe. Brentano und seine Anhänger hatten ihre Postulate der Evidenz und genauen Beschreibung auf das engere Gebiet der Wissenschaften eingeschränkt. Brod und Weltsch versuchen den Bereich der exakt beobachtbaren und präzise beschreibbaren Erfahrungen großzügiger abzuzirkeln. Auf diese Weise verschränken sie Problem- und Arbeitsfelder der Literatur und Philosophie, verbleiben aber dennoch in ihrer Grundintention im Fahrwasser des Brentanismus.

II. Die Prager Moderne wird jedoch insbesondere aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vordringlich unter Ausblendung der zeitgenössischen wahrnehmungspsychologischen Problemstellungen des logischen und psychologischen Empirismus in Physik, Medizin und Phänomenologie in den Blick genommen. Die Forschung liebt das magische, irrationale. gespenstische Prag, das sich eindeutiger Bestimmung entzieht und die Begriffe verschwimmen lässt (vgl. z. B. Ripellino 1982; Schlaffer 1987, Geißler 1989, Schmitz 2001). Wird dieses Verschwimmen jedoch selbst zu einer wissenschaftlichen Fragestellung erhoben, und genau darin liegt die originelle Leistung von Brod und Weltschs Schrift, verschwindet die vermeintliche Scheideline zwischen Literatur und den Wissenschaften.

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Ohnehin war Prag ein bedeutendes Zentrum der Wissenschaften, in dem Wissenschaftler, Philosophen und Künstler sich rege austauschten. In Prag lehrten zeitweilig unter anderen Albert Einstein (vgl. Bergmann 1975; Illy 1979), Philipp Frank,5 Friedrich Jodl6 und Ernst Mach, der bis 1895 Direktor des Physikalischen Instituts und zuvor für kurze Zeit Rektor der Universität gewesen war. Vor allem aber war die Prager deutsche Universität die Haupt-Bastion der Brentano-Schule in Europa,7 ein Hort der logischen Sprachanalyse von Anton Marty bis Rudolf Carnap, Tummelplatz der experimentellen Psychologie und in der Folge eine Geburtsstätte sowohl der Gestaltpsychologie, der psychologischen Literaturtheorie, der phänomenologischen Kunstwissenschaft und des Prager Strukturalismus. Intensiven Austausch beförderten zudem zahlreiche bunte Gesprächs-Zirkel (vgl. Gimpl 2001, Stach 2014, S. 271–291). Im Salon der Berta Fanta trafen sich z. B. zeitweilig die Literaten Max Brod, Franz Kafka, Franz Werfel und Oskar Baum, die Kunsthistoriker Oskar Pollack und Emil Utitz, die theoretischen Physiker Albert Einstein, Philipp Frank und Ludwig Hopf, der Mathematiker Gerhard Kowalewski (Kowalewski 1950) und die Philosophen Anton Marty, Christian von Ehrenfels, Alfred Kastil, Oskar Kraus (vgl. Kraus 1916), Felix Weltsch und Hugo Bergmann, alles BrentanoAnhänger (vgl. Wagenbach 1958, S. 174–178). Aus diesem Kreis schälte sich ein harter Kern von Brentanisten heraus, die sich im Café Louvretrafen, mit Max Brod, Felix Weltsch, Oskar Pollack und Kafka als Trabanten. Das Beziehungsgeflecht war eng: Kafka, Bergmann, Pollack und Utitz waren ehemalige Klassenkameraden, Kastil und Kraus waren an der Universität die Assistenten zweier sehr ungleicher Brentano-Schüler: Anton Marty und Christian von Ehrenfels. Die beiden Professoren betreuten die erkenntnistheoretischen Dissertationen von Hugo Bergmann8, Otto Fanta9, Emil Utitz und Felix Weltsch. Berta Fanta, Paul Adler, Max Brod und Kafka besuchten ihre Vorlesungen. Marty zählt ge-

|| 5 Phillip Frank veröffentlicht zusammen mit H. Rothe in dieser Zeit einen wichtigen Aufsatz zu den Folgen von Einsteins Theorien (Frank/Rothe 1910). 6 In Jodls Prager Zeit entsteht unter anderem sein Standardwerk Lehrbuch der Psychologie (Jodl 1897, Nachdr. 1983). 7 Sogar Masaryk, der später der erste tschechische Staatspräsident wurde, war BrentanoSchüler (vgl. Zumr/Binder 1992). Zu den unterschiedlichen Zentren des Brentanismus siehe: Fisette/Fréchette 2007, S. 7–78. 8 Hugo Bergmann wurde 1905 bei Marty mit einer Arbeit über Die Atomtheorie im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag für die Problemgeschichte der Philosophie promoviert (= Bergmann 1908). 9 Otto Fanta, der Bruder Bertas, wird von Marty und Ehrenfels 1912 mit einer Arbeit über Der Substanzbegriff in der neueren Philosophie von Cartesius bis Hume promoviert, Felix Weltsch mit einer Arbeit über Lockes Erkenntnistheorie (vgl. Gimpl 2001, S. 309).

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meinsam mit Vilém Mathesius, Roman Jakobson und Jan Mukařovský zu den Initiatoren des 1926 im Café Derby gegründeten Prager Linguisten Zirkel (vgl. Ehlers 2005). Von Ehrenfels10 entwickelte in Machs Kielwasser seine Gestalttheorie (Ehrenfels 1890), an deren Ausdifferenzierung Max Wertheimer mitarbeitete, der mit Brod und Werfel gut bekannt war.11 Mit Bergmanns Schriften setzen sich Brod und Welsch in Anschauung und Begriff auseinander, dieser revanchiert sich mit einer Rezension [in diesem Band, S. 201–205]. Utitz entwarf eine phänomenologische Ästhetik unter Berufung auf Husserl und verfasste grundlegende Werke zur Kunstwissenschaft (Utitz 1914, 1915, vgl. auch Utitz 1959), in deren Traditionslinie sich auch Jan Patočka stellen wird (vgl. Orth 1985). 1934 übernimmt er den Lehrstuhl von Ehrenfels an der Prager Universität. Kurzum, die Verbindungen zwischen den Literaten, Künstlern und Wissenschaftlern waren eng, die Werke, die in dieser Zeit entstehen, entspringen dieser Gemengelage und lassen sich isoliert nicht adäquat begreifen. Dieses enge Geflecht scheint jedoch zu zerreißen als Max Brod, der eine Glosse über Brentano veröffentlicht hatte, aus dem engeren Kreis der Brentanisten verbannt wurde. Der Rauswurf dient der Forschung meist als Begründung, um Brod und seinen Freunden, die aus Solidarität ebenfalls den Zirkel verlassen hatten, eine grundsätzliche Gegnerschaft zum Brentanismus zu unterstellen, statt nach möglichen Verbindungen zu fragen (vgl. Zittel 2016, S. 64–67). Da ohnehin das Gros der Forschung zur Prager Moderne diese nur als Umfeld Kafkas wahrzunehmen bereit ist, wird alles für eine Kafka-Deutung vermeintlich Irrelevante aus dem Gesichtskreis verbannt, einschließlich dessen Partizipation an Theoriediskussionen seiner Zeit. Die allgemeine Ignoranz gegenüber Brod und Weltschs philosophischem Hauptwerk verhindert bis heute eine nüchterne Analyse der Wechselwirkungen von Literatur und Kunst zur Zeit der Prager Moderne.12

|| 10 Vgl. Brod 1960, S. 200 über die „Ideen der Ehrenfelsschen Gestaltlehre“, die „in anderen Köpfen weiterwuchsen (ein System der Begriffsbildung, ‚Anschauung und Begriff‘, das Felix Weltsch mit mir entwarf, Kurt Wolf Leipzig 1913, gehört hierher)“ (ebd.) und Brod 1932, S. 313f. (vgl. Mulligan/Smith 1988, S. 124–157). 11 Siehe dazu Brod 1960, S. 86: „Man merkt seinen [Wertheimers] Einfluß in dem einzigen exakt-psychologischen Buch, das ich (gemeinsam mit Felix Weltsch) geschrieben habe – in ‚Anschauung und Begriff‘“. 12 Siehe dazu die Nachweise in Zittel 2016, Fn 45. Auch jene Studien, die direkte Beziehungen zwischen Brentanos Philosophie und Kafka aufzuzeigen versuchen, übergehen oder marginalisieren Brod und Weltschs Schrift und übersehen deshalb das entscheidende Zwischenglied, welches überbrückt und zugleich Abstand herstellt: Heidsieck, der Kafka mit Hilfe leicht zu generierenden Parallelstellen in einer Serie von Studien zu einem Brentanisten erklärt, führt

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III. Liest man in Brod und Weltschs Schrift hinein, wird sofort klar, dass dies kein endgültiger Scheidebrief zweier Verbannter an den Brentanokreis ist, sondern eine intensive Auseinandersetzung mit demselben und seinen Schülern (Marty [S. 32], Ehrenfels, Bergmann und Meinong, [S. 97–100; S. 158f. & S. 191f.; S. 94]),13 wobei die beiden bei ihrem Vorhaben das Verhältnis von Anschauung und Begriff neu zu bestimmen, in ungeheurer Belesenheit alles aufsaugen, was seinerzeit diskutiert wurde: Husserls Phänomenologie, die Kulturtheorie und Gestalttheorien Max Wertheimers [S. 92–98, 186f.], Koffkas, von Ehrenfels [S. 97–100] und Otto Weiningers [S. 73], die Theorien Bergsons [S. 130f., 181f.], und Freuds14 [S. 51, 63, 124, 173, 178], die Evolutionsbiologie von George Romanes, den Pathempirismus von Heinrich Gomperz [S. 33f., 42ff., 74ff., 87ff., u.am.] sowie den Neukantianismus von Natorp [S. 154ff.], Rickert [S. 156] Cornelius, und Cassirer, aber auch den Pragmatismus von William James [S. 10, 23, 73, 188], die Sprachtheorie von Karl Bühler [S. 136f., 147], die Psychologie von Ebbinghaus’, Lipps’ [S. 48 und 67] und Alfred Binets [S. 73f.], die psychologischorientierte Literaturtheorie Otokar Fischers, dazu die Sprachkritik Fritz Mauthners [S. 169]. Die Aufgabenstellung ist brentanistisch. Als Leitfrage wird verfolgt, inwiefern unsere Bewusstseinserlebnisse die anschauliche Welt repräsentieren und zu welchem Grad und Umfang sie wissenschaftlich exakt beschrieben werden können. Brod und Weltsch positionieren sich ausdrücklich im seinerzeit heftig umkämpften Streitfeld zwischen erkenntnisskeptischer Lebensphilosophie und harter Wissenschaftstheorie, schlagen sich dabei eher auf die Seite Brentanos, wenn sie versuchen für den Brentanismus eine neue Provinz zu erobern, in der von ihm verbannte Vorstellungen nun doch ein wissenschaftlich legimitiertes Bürgerrecht erhalten. Ihre These lautet, dass wenn wir im Geiste Bilder aufrufen und begrifflich ihrer habhaft werden wollen, sich stets die Einbildungskraft einmischt und dafür sorgt, dass wir nie distinkte und klare Resultate erhalten.

|| die Monographie von Brod und Weltsch in seinen Aufsätzen nur einmal an und streift sie mit einem Kurzreferat in seinem Buch: Heidsieck 1994, S. 41–43 (vgl. Heidsieck 1989, S. 389–402; Heidsieck 1989, S. 489–500; Heidsieck 1986, Fn. 14; Heidsieck 1987; siehe auch Smith 1981, S. 113–159; Neesen 1955, S. 59–69; Jordan 1980). 13 Marty unterrichtet am 3.3.1913 Brentano in einem Brief, dass Brod und Weltsch in ihrem Buch einiges von ihnen übernommen, aber wenig verstanden haben (vgl. Fisette/Fréchette 2007, S. 47 sowie Marek/Smith 1987, S. 32f., die den Brief zitieren). 14 Mattenklott 2012, S. 553 verweist auf ein mittlerweile online nicht mehr einsehbares Verzeichnis von Freuds Bibliothek, in dem sich Brod und Weltschs Buch ebenfalls befunden hat.

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Eine Theorie der empirischen Wahrnehmung und empirischen Erkenntnis die den Begriff nur unter mit Hilfe reproduktiver Vermögen wie Gedächtnis und Erinnerung physiologisch oder logisch erklären wollte, geriete zwangsläufig in Aporien, da sie die Produktivität der Einbildungskraft nicht als einen entscheidenden Faktor bei der Begriffsbildung anerkenne und in die Analyse einbeziehe. Nun ist just der Übergang von unmittelbar im Bewusstsein präsenten Bildern zur Auffassung von diesen Bildern als Repräsentationen von Dingen, durch die sie als Vorstufen für Begriffe angesehen werden können, in der strengen Bewusstseinsphänomenologie ein Problem, da diese Anschauung und Begriff strikt trennt. Brod und Weltsch setzen hier an, ihr Anliegen ist nicht, wie gelegentlich zu lesen ist, die Theorie des Begriffs durch eine Assoziationstheorie aufzulockern oder die vorbegriffliche Anschauung als Wahrnehmungsmedium oder Vorstufe zum Begriff aufzuwerten (Alt 2005, S. 119; Alt 2009, S. 27), sondern sie plädieren dafür, eine eigene Zwischenstufe zwischen Anschauung und Begriff einzuführen. In subtilen Analysen zeigen sie Defizite und Irrtümer der Brentanisten auf. Sie wenden ein, dass man nicht zunächst die Elemente der Wahrnehmung genau bestimmen und erst danach deren Verhältnis zum Begrifflichen klären könne. Experimente mit Kartonzeichnungen, die sie Versuchspersonen gezeigt haben [S. 26f.], hätten vielmehr erwiesen, dass es im Bereich der Wahrnehmung selbst schon Zwischenstufen der begrifflichen Erkenntnis gibt, sie nennen diese „anschauliche Begriffe“. Eigentlich ist es auch ein Motiv der Gestalttheorie, anzunehmen, dass es keine atomaren Einzeleindrücke sind, sondern Gestalten wahrgenommen werden, die Vorstufen zu Begriffen darstellen. Brod und Weltsch sprechen hingegen von anschaulichen Begriffen, was etwas missverständlich ist, da sie damit Relationen zwischen Wahrnehmungsbildern meinen, die aus traditionell begrifflicher Sicht vage und unbestimmt erscheinen. Es ist also eher eine Theorie der Vagheit und Unbestimmbarkeit, nicht eine der Kontur oder Gestalt, die sie vorlegen. Die scharfen und individuell bestimmten Bilder, die Wahrnehmung und Empfindung liefern, werden Brod und Weltsch zufolge durch den anschaulichen Begriff daher gerade nicht distinkt erkannt, sondern zu unscharfen und verschwommenen Bildern umgeformt. Die Verschwommenheit (Kap. 3) ist also nicht primär als ursprüngliches diffuses Chaos von Sinnesdata gegeben, sie residiert auch nicht wie bei Freud im Unbewussten, sondern entsteht als eine Art Hof, der jede Einzelbeobachtung umflirrt. Es gebe zwar nicht bewusste Anteile bei jeder Wahrnehmung, doch das sind einfach jene, die im Dunkeln bleiben, wenn die aufmerksame Betrachtung aus einer Gesamtanschauung einzelne Elemente auswählt, um sie schärfer in den Blick zu bekommen. Beim Hervorheben eines Elementes wird dieses aber immer zugleich unter

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Mithilfe der vagen Erinnerung oder auch einer Fiktion mit anderen Elementen in Beziehung gesetzt. Wenn man so will, sind die von Brentano geächteten, mitschwingenden Bedeutungen eines bewusstseins-immanenten Gegenstands, die in das „Meer des Wahns“ (Brentano/Kraus 1924 [1874]) führen, hier gerade zu Konstituentien von Wahrnehmungsgebilden avanciert und haben eine kognitive Funktion erhalten. „Verschwommenheit“ sei insofern eine „graduell abgestufte Eigenschaft einer Vorstellung“ [S. 47]. Verändere man räumlich oder graduell den Fokus der Aufmerksamkeit, dann sei „diese Veränderung nichts anderes als eine Verschiebung in der Verschwommenheitsskala, ein Schärferwerden des Objektes.“ [S. 48] Die Verwischung der Konturen und Grenzen zwischen den individuellen Eindrücken wird laut Brod und Weltsch zunächst im Medium der Erinnerung vollzogen und dann vom Begriff fortgesetzt, wobei immer schon die vermeintlich ursprüngliche Anschauung sich als von Begriffen durchsetzt erweist. Denn wenn man im Zuge einer Introspektion das Seelenleben direkt beschreiben wolle, seien „schon längst hohe Begriffe ausgebildet, ja diese Selbstbeobachtung vollzieht sich vielleicht schon vermittelst gewisser Begriffe oder gar nur in Begriffen“ [S. 15]. Auch wenn wir ein einzelnes Erinnerungsbild aufzurufen versuchen, z. B. die Erinnerung an einen Freund oder eine Landschaft, evoziere dieses Bild sofort eine ganze Reihe weiterer Erinnerungen und Stimmungsbilder, die mit ihm zusammenhängen, aber zunächst diffuse Einzeleindrücke bleiben, obgleich sie anschaulich sind. Es müssten daher „zur Rettung der Welt aus ihrer ins Unendliche fortschreitenden Zerkleinerung Vorstellungen auftreten […], die das in abweichenden Detailbilder Zerfallende wieder zu höherer Einheit verbinden.“ Dies leiste „das allgemeine Erinnerungsbild […] als verschwommene Vorstellung, die vermöge ihrer Deutbarkeit in viele scharfe, voneinander abweichende Vorstellungen diese Vorstellungen in sich begreift.“ [S. 66; vgl. auch S. 50 und 53] Die ursprüngliche Anschauung ist also kein „Mosaik unbenannter Anschauungsqualitäten“, sondern eine „einheitliche ungegliederte Gesamtanschauung, in der die einzelnen Teile voneinander noch nicht unterschieden werden“, wie beim ersten Hören eines Musikstücks. Im Wechsel der scharfen und verschwommenen Partien in den Erinnerungsbildern werde die Art und Weise erkennbar, wie sämtliche unserer Vorstellungen erlebt werden, nämlich als Schichtung des Verschwommenen, welche Brod und Weltsch mit dem Symbol A + x bezeichnen. „Im A eines solchen Gebildes“ sei „mithin das enthalten, was den erlebten Vorstellungen gemeinsam war, während das Verschiedenartige im x verschwimmt“ [S. 68], wie etwa eine Landschaft in verschiedenen Stimmungen und Beleuchtungen zum einen gleich erscheint, zum anderen

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durch diese Stimmungen in vielfältige Deutungsmöglichkeiten (x) zerfließt. Dadurch also, dass jede Anschauung verschwimmt, wird sie abstrakter, allgemeiner, begriffsähnlicher. Der clou bei dieser Konzeption ist, dass das Vermögen zur Abstraktion die Tätigkeit des sinnlichen Vorstellungsvermögens erst ermöglicht. ‚Abstrakt‘ und ‚anschaulich‘ seien keine Gegensätze, sondern die (A + x)- Gebilde „die ersten Formen des menschlichen Begriffes“, denn es gebe „eben anschauliche und dabei doch abstrakte Vorstellungen: die verschwommenen Vorstellungen von der Form (A + x).“ [S. 69] Neben dem wissenschaftlichen Begriff, der unterscheidet und subsumiert, gibt es Brod und Weltsch zufolge also einen anschaulichen Begriff, in dem Vorstellungs- und Erinnerungsbilder je nach Situation anders zusammenfließen. Er ist ein dynamisches Konstrukt, das weder genetisch noch logisch eine Vorstufe des wissenschaftlichen Begriffs bildet. Das Bewusstsein sei daher eher wie eine photographische Platte zu verstehen, auf der nach und nach verschiedene Bilder erzeugt wurden, die sich überlagern und miteinander verschmelzen, bis sie schließlich ein verschwommenes Gesamtbild ergeben [S. 45 und 74f.]. Beschränke man die Psychologie des Denkens nicht willkürlich auf das wissenschaftliche Denken, sondern versuche die Totalität des Erlebens einzufangen, so erfasse diese just das „lebendige Spiel der (A + x)-Gebilde“, welches bezeuge, „das wir in verschwommenen allgemeinen Anschauungen denken.“ [S. 118] Die (A + x)-Gebilde bleiben dabei keineswegs fix, sondern erscheinen als „lebendiges, zuckendes, bei jeder Aufmerksamkeitsänderung sich umgestaltendes (A + x)“ [S. 152]. Der permanente Wandel anschaulicher Begriffe, die relative Unbestimmtheit des x, erzwingt immer neue Fokussierungen. Und je nachdem wo, wann und wie intensiv sich die Aufmerksamkeit auf eine Wahrnehmung und ihren Kontext richtet, erzeugt sie andere Deutungsmöglichkeiten. Das Verschwimmen der Anschauung im x begründet daher die prinzipielle Vieldeutigkeit der Bewusstseinsinhalte [S. 93] – dies wiederstreitet einer Grundvoraussetzung Brentanos oder Husserls, die auf die Evidenz von Bewusstseinstatsachen setzen. Entworfen wird stattdessen ein Modell für das Verständnis ästhetischer Mehrdeutigkeit. Da Verschwommenheit auf verschiedene Weise zustande kommt, versuchen die beiden Autoren eine Art Typologie zu erstellen, mit welcher die unterschiedlichen Weisen, wie Begriffe Anschauungen verwischen und im x verschwimmen lassen, differenziert erfasst werden kann. Man steht so nicht mehr einfach vor der Alternative zwischen klarem Begriff und dem Reich des Diffusen, das sich dann bequem als Provinz des Irrationalen oder Okkulten abkanzeln lässt, sondern auch die Welt der vagen und ungefähren Vorstellungen wird durch Denkmechanismen konstituiert, die sich rational rekonstruieren lassen.

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IV. So problematisch diese Theorie ist, da sie die Leistung des Begriffs nicht im Brückenschlagen zwischen in der Wahrnehmung einzeln Gegebenem, sondern im Herstellen unscharfer Bilder der Dinge erblickt und dabei genetische Erklärungen für die Bildung der Begriffe für die logische Erklärung der BegriffsFunktionen missbraucht (vgl. Cassirer 1954, S. 359–366), so reizvoll sind die dadurch eröffneten Perspektiven auf die Interpretation von Kunstwerken, denn in Brods und Weltschs strikt wissenschaftstheoretisch erscheinendem Buch ist eine höchst bemerkenswerte Poetik versteckt, die die Brücke zwischen Wahrnehmungstheorie und Literatur in der Prager Moderne zu schlagen vermag. Die gesuchte Verbindung gerät immer dann in den Blick, wenn das Prager Autorenduo die individualpsychologische Erklärung der Begriffsbildung zu einer Betrachtung der allgemeinen Funktionen der Sprache ausweitet. In jeder Sprache fänden sich latente Vorstellungsbilder, die in „verschwommenen“ Zusammenhängen miteinander stehen, bis bestimmte syntaktische Verknüpfungen, sodann konkrete Worte die Aufmerksamkeit erhöhen: Den Mechanismus des Denkens hätte man sich sonach so vorzustellen, dass durch jedes Wort das (A + x) des nachfolgenden Wortes gerade zu derjenigen Zuckung angeregt wird, die im Satz gebraucht wird; das vorangehende Wort ist Aufmerksamkeitsmotiv und stört die Ruhe des nachfolgenden (A + x) nur in der Richtung, die dem vorangehenden Wort selbst, also dem Satzzusammenhang, entspricht. [S. 122]

Solche Erläuterungen lesen sich wie eine Anweisung für das dichterische Schreiben, mit syntaktischen Irritationen die Aufmerksamkeit zu wecken. Insofern stecken in ihnen eine implizite Poetik der Aufmerksamkeit sowie eine ihr korrespondierende Poetik der Störung. Manche Beispiele entlehnen Brod und Weltsch daher gleich aus der Werkstatt der Literaten, wobei der leidenschaftliche Stilist Flaubert, für Kafka wie Brod in diesen Jahren das Maß aller Dinge, Vorbild für ein von allen Störungen bereinigtes Schreiben ist [S. 29, vgl. auch S. 175f.]. Es bedarf folglich einer besonderen Wahrnehmungsschärfe und Aufmerksamkeit für ästhetische Details, wenn kleinste Störungen vermieden werden sollen. Umgekehrt gilt dann aber auch, dass wenn diese Formdetails stehen bleiben, sie jene Leser irritieren, deren Auge für sie geschult ist. Nebenbei entpuppt sich aus dem Gespinst von Brod und Weltschs Theorie also eine kleine Stillehre. Die Untersuchung bietet in den ersten Kapiteln immer wieder einzelne phänomenologische Analysen, die in ihrem Beschreibungsduktus selbst literarisch werden. Schließlich berufen sich Brod und Weltsch, um die Bedeutung ihrer „anschaulichen Begriffe“ für die poetischen Verfahrensweisen der Zeitgenossen

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zutage treten zu lassen, auch noch auf Stendhal [S. 126f.], Rimbaud [S. 174], Rudolf Borchardt [S. 175], auf Poes The purloined letter [S. 61] und wiederholt auf Goethe [S. 11, 169, 175]. Vor allem aber loben sie Hugo von Hofmannsthal für seine „meisterhafte Beschreibung des von uns dargestellten anschaulichen Begriffs“ [S. 151]. Hofmannsthal hatte in seiner Rede Der Dichter in dieser Zeit (1906) die Unterschiede zwischen dichterischer und wissenschaftlicher Sprache erläutert. In den Köpfen der Dichter drängeln sich undeutliche Sprachbilder, die auf frühere, in der Erinnerung verblasste Lektüren klassischer Autoren zurückgehen, die gleichwohl immer vage präsent sind: Sie denken ‚Shakespeare‘ und daneben ist für einen inneren Augenblick alles andere verloschen, aber der nächste Augenblick stellt das unendlich komplexe oszillierende Gedankending wieder her und Sie denken ohne zu trennen ein amalgamiertes Etwas aus Dante, Lenau und dem Verfasser einer rührenden Geschichte, die Sie mit vierzehn Jahren gelesen haben. (Hofmannsthal 1979, S. 55; zum Hintergrund vgl.: Hirsch 1995, S. 273–280 und Fellmann 1982, S. 57–65)

Hofmannsthal appelliere, indem er das unendliche, komplexe, oszillierende „Gewebe aus den Erinnerungsbildern der subtilsten Erlebnisse“ darstelle, offensichtlich an das (A + x) „Dichter“, d. h., er gebe keine wissenschaftliche Definition, sondern einen „anschaulichen Begriff“ (S. 150f.). Auch Hofmannsthals Chandos-Brief, auf den wahrscheinlich Kafka gleich nach dessen Erscheinen 1902 Brod hingewiesen hatte (Wagenbach 1958, S. 221, Anm. 471), reklamieren Brod und Weltsch als Beleg für die von ihnen konstatierte „parzellierende Tendenz“ in der Wahrnehmung, da in ihm beschrieben werde, wie gleich erscheinende Wahrnehmungskomplexe in immer kleinere „Anschauungsstücke“ zerfallen (S. 155). Brod und Weltsch beziehen sich hierbei direkt auf die im Zeichen Nietzsches in der Dichtung der Moderne häufig formulierte Skepsis gegenüber begrifflichen Verallgemeinerungen, die dem ewigen und unberechenbaren Wechsel der einzelnen Anschauung nicht gerecht würden. Mit ihrem Bezug auf die sogenannte „Sprachkrise“ in der Literatur der Moderne, für die sie auch Mauthner (S. 169) als Zeuge aufrufen, stehen sie nicht, wie oft behauptet, in Opposition zu Kafka.15 In diesem Zusammenhang entwerfen sie eine Art Poetik des Unaussprechlichen und des „dichterischen Begriffs“, berufen sich dabei auf einen wegweisenden Essay des einflussreichen Prager Literaturwissenschaftlers Otokar Fischer

|| 15 Stach 2014. S. 277 behauptet hingegen, Weltsch sei von der Sprachskepsis der Dichter in der Nachfolge Nietzsches unberührt, Kafka habe mit Brod und Weltsch über den Chandos-Brief vergeblich zu debattieren versucht. Siehe aber Brod 1960, S. 163.

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über „Das Unnennbare“,16 und vollziehen so den Schulterschluss zur psychologischen Literaturtheorie. Der wissenschaftliche Begriff, so räumen sie ein, sei neutral und eindeutig, anders jedoch verhalte es sich mit dem „unwissenschaftliche[n], namentlich de[m] dichterische[n] Begriff. Er stützt sich auf das Wort, er zieht es gleichsam zur Mithilfe heran bei seiner schweren Aufgabe, die unendliche Fülle des Anschaulichen wiederzugeben. Aber selbst mit dieser Unterstützung ist er zu schwach und vieles von dem, was er mitteilen möchte, bleibt ungesagt.“ [S. 177] Das Unbenannte und Unerkannte ist jedoch keineswegs wirkungslos. Brod und Weltsch unterscheiden zwischen dem eigentlich Bewussten und dem uneigentlich Bewussten, das aus unbemerkten Teilinhalten besteht [S. 53], die obzwar sie unbemerkt oder unklar bleiben, auf das Bewusstsein Einfluss nehmen. Die Dinge erscheinen dadurch nicht durchgängig gleich, sie verwandeln – je nachdem worauf wir achten – ihre Gestalt und sogar ihr Wesen. Gerade die Unbestimmtheit verlangt der Aufmerksamkeit, die unterschiedlich intensiviert und gespannt werden kann, besondere Leistungen ab. Detailliert legen Brod und Weltsch dar, dass wir „in Aufmerksamkeits- Kulminationspunkten“ denken, die uns dazu veranlassen, einzelne Begriffe aus ihren Kontexten herauszugreifen und stärker zu beleuchten, und andere zugleich ins Dunkel abgleiten zu lassen. Es kommt zu Verschiebungen in der Wahrnehmung. Solange ein Wort im Schatten der Aufmerksamkeitslosigkeit liegt, verhält es sich verhältnismäßig ruhig. Wird es aber von der Aufmerksamkeit nur berührt, gestreift – und das geschieht in hohem Maße, sobald man es betrachten will – so beginnt es sich zu rühren, zu zucken, es versucht in unregelmäßiger Weise Einzelvorstellungen zu sprühen. Es windet sich unter dem Lichte der Aufmerksamkeit und versucht alle möglichen Verwandlungen, schnell wechselnd, manchmal die Verwandlung nicht beendend und rasch zu neuem Versuche sich zurückziehend, manchmal in einer Individualgestalt verharrend, gleichsam als ob nun die richtige Gestalt gefunden wäre, urplötzlich wieder in eine neue Form hinüberschlüpfend. Die Aufmerksamkeit verträgt eben nichts Verschwommenes und wirkt sofort bildend auf dasselbe ein, in den Grenzen, die dem x vom A gesteckt sind und in den Richtungen, die vom gegenwärtigen Stand des Bewusstseins abhängen. [S. 119]

|| 16 Fischer 1910, zitiert bei Brod, Weltsch, S. 177. Dazu weiterführend: Heimböckel 2003, S. 9– 11. Gimpl 2001, S. 319 bringt die Abbildung des Titelblatts von Anschauung und Begriff mit der symptomatischen Unterschrift: „Auf Abwegen der Gestalttheorie“. Auf diesem Titelblatt erkennt man eine bemerkenswerte Widmung: „Für Herrn Doz. Dr. Otokar Fischer in herzlicher [?] Gesinnung überreicht von Max Brod Felix Weltsch.“

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Rezeptionsästhetisch betrachtet sind die Konsequenzen für die Lektüresteuerung erheblich, denn beim Verbinden von sogenannten Aufmerksamkeitsgipfeln während des Lesens gilt: Tritt eine Stockung ein, weil z. B. der kausale oder temporale Zusammenhang der Erzählung undeutlich ist, wird der Leser zum Nachdenken veranlasst [vgl. S. 135]. Eine Erzählung organisiert sich demzufolge über eine Serie von Aufmerksamkeitskulminationspunkten, das sind „die Hauptbilder, welche die wichtigsten, hervorstechendsten Momente der Begebenheit bilden. Von einem zum anderen springt scheinbar die Erzählung, resp. Der Erzähler, Leser oder Zuhörer, große Strecken unbeleuchtet lassend“ [S. 135]. Man müsse daher mit einem besonderen Vermögen der Leser rechnen, denn die „Sprungbereitschaft der Aufmerksamkeit ist kaum überschätzbar“ [S. 139]. Brod und Weltsch skizzieren überdies eine kleine Poetik der Namen und Lautgedichte, indem sie dazu anleiteten, die Aufmerksamkeit auf die akustische und visuelle Physiognomie von literarischen Texten zu richten [S. 173]. Aus ihren Analysen gewinnen sie einen deskriptiven Apparat, der die Grade und Zustände der Aufmerksamkeit nach ihren Ursachen und Wirkungen zu differenzieren erlaubt: Die Erinnerung verwischt, aber auch das Nachlassen oder Schärfen der Aufmerksamkeit verändert die Wahrnehmung, ebenso der Traum oder Halbschlaf“ [S. 3 und 67]. Beispielhaft seien die Lückenhaftigkeit der Traumerzählung und das Phänomen der Doppelbesetzung von Trauminhalten, bei dem eine Figur zwei verschiedene Personen repräsentieren kann, oder eben Halbschlafbilder: „Man kann im Halbschlaf oft noch beobachten, wie man Denkketten weiterspinnt, nur treten jetzt die bedeutungsgebenden (A + x)Gebilde, da die äußeren Sinne ruhen, intensiver hervor“ [S. 178]. Die Bedeutung dieser Überlegungen für eine Poetik der Unaufmerksamkeit, der Halbschlafbilder, der Müdigkeit [S. 18], des Traumes ist evident, literarische Zeugnisse dafür sind Legion (vgl. dazu: Stadler 2011, Fischer 1911a, S. 1–8; Fisch 1911b). Beim Aufrufen der Wahrnehmungsbilder im Halbschlaf, der Erinnerung oder Vorstellung rufen diese benachbarte oder ähnliche Vorstellungen auf und treten mit diesen zu Gebilde zusammen. Die Ähnlichkeit von Vorstellungen führt also zu passiven Kopplungen von Vorstellungen, die dann zwangsläufig weitere Vorstellungen aufrufen und die Verknüpfungen zu bestimmten Kompositionen fixieren. Es gibt folglich nicht nur wissenschaftliche Verknüpfungen von Begriffen, sondern auch solche, die sich mit ästhetischer Notwendigkeit vollziehen, etwa wenn der „ Anblick des Vaters […] den des Sohnes“ reproduziere oder „eine Landschaft, ein Dom, ein Krampfanfall“ in uns „ähnliche Eindrücke ins Gedächtnis“ [S. 70 und S. 173] rufen. Bei der Arbeit des anschaulichen Begriffs beteiligt sich daher nicht nur die Einbildungskraft, sondern auch die Erinnerung, die allerdings ihrerseits beeinflusst werden könne. Auch dies zeit-

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igt poetologisch valente Konsequenzen, denn es trete zutage, dass die Wahrnehmung „immer von Erinnerungsbildern durchsetzt [sei], welche sie vervollständigen“ [S. 125] und vice versa auch die Wahrnehmung auf die Erinnerung wirkt, etwa wenn man beim plötzlichen nächtlichen Erwachen sich im eigenen Zimmer nicht mehr auskennt [S. 127]. Es seien also bestimmte Wahrnehmungsgebilde in unserem Kopf nicht als vorgegebene Denkformen oder Weltanschauungsbrillen fest verankert, sondern als durch Gewohnheit vertraut gewordene A + x (Gebilde) [vgl. S. 14, 156, 216]. Diese können offensichtlich vorhanden sein oder aber als latente Erinnerungsbilder das bewusste Erleben unerkannt und unbenannt mitbestimmen. In diesen „Begriffsembryonen“ seien frühere Erfahrungen gespeichert, bei denen nur ein kleiner Anstoß reicht, um sie bewusst zu machen, doch es bringe schon in diesem latenten Zustand „dieses Verschwommene die Stimmungen hervor, für die wir keine Worte haben, jenes Undefinierbare, Instinktive, von dem das Leben voll ist“ [S. 122]. Brod und Weltsch erklären entsprechend, dass „im wirklichen Denken“ die vermeintlich separaten Sphären von Anschaulichem und Wissenschaftlichem zusammenspielen, sie greifen „in einander ein, lösen einander ab, unterstützen einander“. Besonders auffällig werde dieses Zusammenspiel, wenn nicht vertraute Vorstellungen mobilisiert werden können, sondern neue Begriffe für bislang Unbekanntes gebildet werden müssen. Die Begriffsbildung wird dann kaum durch Erinnerungen, sondern durch vage Gestaltwahrnehmung, Phantasie und Emotionen ermöglicht: Unsere ersten Begriffe z. B. von ‚Aeroplan‘ sind wohl ganz krasse Fälle von (A + x)Gebilden, durch Deckung erzeugte verschwommene Vorstellungen, in denen nur einige Relationen und Akte (Flugbewegung, Vogelgestalt, gewisse Freudegefühle) klar sind. – Durch irgend eine Lektüre erfahren wir das Merkmal ‚möglichst leichter Motor‘. Aber ich weiß ja nicht, was das (wissenschaftlich) ein Motor ist. Wohl aber, was ihn vor den Dingen auszeichnet, mit denen er am ehesten verwechselt werden kann usf. [S. 168]

Es ist bemerkenswert, dass Brod und Weltsch an dieser Stelle nicht mehr auf Zeugnisse anderer Literaten, sondern auf eigene Erfahrung zurückgreifen. Offenbar ging der phänomenologischen Analyse in Wissenschaftsprosa eine literarische Auseinandersetzung mit Wahrnehmungserlebnissen voraus, denn der zitierte Passus resümiert Schilderungen der Flugschau von Brescia, die Kafka und Brod zuvor veröffentlicht hatten.17 Sie gelten als die ersten literarischen

|| 17 Kafkas Text „Die Aeroplane in Brescia“ erschien leicht gekürzt am 29.09.1909 in der Bohemia, Brods Text in der Essay-Sammlung Von der Schönheit häßlicher Bilder, Leipzig 1913. Brod

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Beschreibungen von Flugzeugen in der deutschen Literatur und sind daher exemplarische Zeugnisse für die Beschreibung einer neuartigen Erlebniswelt und ihrer Ästhetik (vgl. Asendorf 1999). Ausführlich widmen sich beide, insbesondere Kafka, der Darstellung der das Geschehen begleitenden Gefühle, der ängstlich-freudigen Stimmung, den Details der Flugapparate und dann dem Einfangen der schwankenden Flugbewegungen aus instabilen, sich verkehrenden Perspektiven. Brod hebt in seinem Bericht die ungeheure Veränderung der Wahrnehmung durch die neue Erfahrung des Fliegens hervor. Es hätten während der Flugwoche, so Brod, „in diesen Tumult einer fremden Menschheit wir uns so tief hineingesehen, daß wir glauben, alles andere, was wir nachher etwa noch sehen werden, wird uns nach dieser erlebten Wirklichkeit wie ein Traum sein.“ (Brod/Kafka 1987, S. 9). Beim Versuch, dieses neue Wirklichkeitserlebnis einzufangen, reflektiert Brod dabei bereits auf das Mitwirken der eigenen Phantasie und der Erinnerungsbilder, etwa wenn er den schwankenden Flug eines Monoplans beschreibt, dessen Einzelheiten sich in der Bewegung verlieren und Traumerinnerungen herbeirufen (Brod/Kafka 1987, S. 14f.). Dennoch fällt Brods Darstellung deutlich nüchterner als die seines Freundes aus, Sinn für Motoren und technische Details lässt er im Unterschied zu Kafka nicht erkennen. Dieses literarische Spiel mit unterschiedlichen Wahrnehmungsszenarien mündet in den Plan, einen ganzen Roman so zu komponieren, der Richard und Samuel heißen sollte (Brod/Kafka 1912). In ihm wollten sie in nuancierter „widersprüchlicher Doppelbeleuchtung“ vorführen, wie zwei Freunde eine Zugreise unterschiedlich erleben. Ihr Erleben ist dabei – wie in Hofmannsthals Rede und ganz gemäß der späteren Theorie Brods und Weltschs (s.o.) – je individuell bestimmt von vagen Erinnerungen an früher Gelesenes und Gesehenes, und von Halbschlafbildern, die (A + x)-Gebilde erzeugen. Die beiden Reisenden verknüpfen ihre unterschiedlichen Beobachtungen jeweils mit ihren individuellen Erinnerungen an einst gesehene Bilder und Lektüren. Es entstehen detaillierte phänomenologische Beschreibungen, unter welchen Bedingungen sich in verschiedenen Abstufungen verschwommene Vorstellungen bilden. Den engen Zusammenhang der A+x-Vorstellungen mit dem Prosaexperiment Richard und Samuel belegt auch deren Präsenz in den Reiseaufzeichnungen Kafkas, der z. B. am 26.08.1911 notiert: „Zürich Heraufsteigen des Bahnhofs

|| hatte geplant, darin auch Kafkas vollständige Schilderung aufzunehmen und so – wie bei Richard und Samuel – das Ereignis in konkurrierenden Darstellungen zu vergegenwärtigen. Beide Texte sind wiederabgedruckt in: Brod/Kafka 1987, S. 9–26. Andernorts schildert Brod den gemeinsamen Besuch der Flugschau sowie die Idee, die Niederschrift der Beobachtungen als „sportlichen Zweikampf“ auszutragen (vgl. Brod 1954, S. 125–129).

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aus einigen ineinander gegangenen Bahnhöfen der letzten Erinnerung – (Max nimmt es für a + x in Besitz).“ (Brod/Kafka 1987, S. 146, Kafka 2002, S. 947, vgl. Morris 2009, S. 477) Im Jahr davor hatte auch Brod erste Entwürfe seiner Wahrnehmungstheorie in den Aufzeichnungen seiner Reise nach Paris und Rouen und dabei erstmals die A+x-Gebilde beschrieben. (Brod/Kafka 1987, S. 146f.) Subjektive Reiseeindrücke bilden somit einen Ausgangspunkt für die Theorie. Als Exempel für Reiseschilderungen zitieren Brod und Weltsch wiederholt Goethes Italienische Reise. Doch es finden sich in Anschauung und Begriff auch verdeckte Reminiszenzen an gemeinsame Reisen, die Brod mit Kafka nach Riva am Gardasee geführt hatten [S. 158]. Diese werden ausgerechnet angeführt, um das Verschwimmen von Erinnerungen zu beschreiben, und genau dies ist auch bekanntlich das Leitmotiv eines der rätselhaftesten Erzählfragmente Kafkas, dem Jäger Gracchus. Auch der Jäger Gracchus weiß beim Eintreffen in der Stadt erst nicht, wo er sich befindet, und als deren Bürgermeister sich als jener von Riva zu erkennen gibt, sagt er: „Ich wusste es ja Herr Bürgermeister, aber im ersten Augenblick habe ich immer alles vergessen“ (Kafka 1993, S. 308). Den poetologischen Implikationen und vielen Bezügen zwischen Brod und Weltschs Theorie der Verschwommenheit und den frühen Texten Kafkas bin ich andernorts en détail nachgegangen (Zittel 2016). Ich erinnere an diesem Ort nur daran, dass mehrere von Kafkas Erzählungen zur gleichen Zeit entstanden sind, als Brod und Weltsch an Anschauung und Begriff schrieben. Insbesondere Kafkas 1912 unter dem Titel Betrachtung (1912/1913) erschienene Sammlung von 18 Prosastücken und die wenig später veröffentlichten Texte „Das Urteil“ und „Der Heizer“ (1913) stehen in offensichtlichen Zusammenhang mit der brentanistischen Wahrnehmungs- und Sprachproblematik. In diesem Licht betrachtet erscheinen Kafkas Texte dann nicht mehr als Exempel eines verwirrten Erzählens (Kurz 1994), wie immer wieder erklärt wird, sondern – und das ist ein Unterschied um Ganze – als präzise Beschreibungen verwirrter und verwirrender Wahrnehmungssituationen. Ein Schreiben im Sinne einer Theorie der Verschwommenheit führt folglich nicht zur Apotheose des vagen oder paradoxen Formulierens und Denkens, sondern zu einem genaueren Beschreiben der inneren Erlebniswirklichkeit. Brentano hatte ja eingeräumt, dass verschwommene Eindrücke unsere Empfindungen regieren, doch deren exakte Beschreibung für unmöglich erklärt. Mit ihren gemeinsamen theoretischen und ästhetischen Studien reagieren Brod, Weltsch, aber auch Kafka auf Brentanos Kapitulation, sie versuchen das Reich der verschwommenen Empfindungen und Vorstellungen nicht nur theoretisch, sondern auch mit erzählerischen Mitteln differenziert darzustellen, mit „anschaulichen Begriffen“ zu begreifen. Aber auch dies ist eine wichtige Weiterentwicklung des Brentanismus, dessen immense Wirkung

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auf die moderne Sprachphilosophie und Literatur bislang nur in Ausschnitten bekannt ist. Die Neuausgabe von Brod und Weltschs philosophischem Hauptwerk möge daher die Forschung auf neue Bahnen lenken. Ich danke sehr herzlich Lars Amann, Martin Endres, Germaine Keogh und Fabian Schan für ihre Hilfe bei der Herstellung des Druckmanuskripts. Hans-Gerd Koch danke ich sehr herzlich für seine hilfreiche Vermittlung bei der Erfragung der Druckrechte.   Gedruckt mit freundlicher Genehmigung der Erben Max Brods und Felix Weltschs. 

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Kowalewski, Gerhard (1950): Bestand und Wandel. Meine Lebenserinnerungen, zugleich ein Beitrag zur neueren Geschichte der Mathematik. München: Oldenburg-Verlag. Kraus, Oskar (1916): „Martys Leben und Werke. Eine Skizze“. In: Anton Marty: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Hrsg. v. Josef Eisenmeier, Alfred Kastil und Oskar Kraus. Halle: Niemeyer. Kurz: Gerhard (1994): „Lichtblicke in eine unendliche Verwirrung. Zu Kafkas ‚Betrachtung‘“. In: Text + Kritik. Franz Kafka, S. 49–65. Lange, Wolfgang (2005): Die Nuance: Kunstgriff und Denkfigur. Paderborn, München: Fink. Marek, J./Smith, Barry (1987): „Einleitung zu Anton Martys Elemente der Deskriptiven Psychologie“. In: Conceptus XXI, S. 33–47. Mattenklott, Gert (2012): „Ernst Cassirer und die künstlerische Moderne“. In: Birgit Recki (Hrsg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert. Hamburg: Meiner, S. 543–566. Mauthner, Fritz (1913): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 3: Zur Grammatik und Logik. 2. Aufl. Berlin, Stuttgart: Cotta. Morris, Joel (2009): „Josef K.’s (A + x) Problem: Kafka on the Moment of Awakening“. In: The German Quarterly 82/4, S. 469–482. Mulligan, Kevin (1990): „Genauigkeit und Geschwätz – Glossen zu einem paradigmatischen Gegensatz in der Philosophie“. In: Helmut Bachmaier (Hrsg.): Wien – Paradigmen der Moderne. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins Publishing, S. 209–236. Mulligan, Kevin/Smith, Barry (1988): „Mach and Ehrenfels: The Foundations of Gestalt Theory“. In: Barry Smith (Hrsg.): Foundations of Gestalt Theory. München, Wien: Philosophia Verlag, S. 124–157. Neesen, Peter (1972): Vom Louvrezirkel zum „Prozeß“. Göppingen: Alfred Kümmerle. Schmidt, Carsten (2010): Kafkas fast unbekannter Freund. Das Leben und Werk von Felix Weltsch (1884–1964). Würzburg: Königshausen & Neumann (zugl. Dissertation, Universität Potsdam 2008). Schmidt, Carsten (2012): „Zwei Freunde des Kafka-Kleeblatts. Die Ur-Prager Felix Weltsch und Max Brod“. In: Peter Becher (Hrsg.): Kafka und Prag. Literatur-, kultur-, sozial- und sprachhistorische Kontexte. Köln: Böhlau, S. 97–110. Orth, Ernst Wolfgang (1985): „Einleitung: Jan Patočka und die Phänomenologie“. In: Phänomenologische Forschungen 17, S. 7–9. Pazi, Margarita (1970): Max Brod. Werk und Persönlichkeit. Bonn: Bouvier. Pazi, Margarita (Hrsg.) (1987): Max Brod 1884–1984. Untersuchungen zu Max Brods literarischen und philosophischen Schriften. New York, Bern, Frankfurt am Main: Lang. Ripellino, Angelo Maria (1982): Magisches Prag. Tübingen: Wunderlich. Schlaffer, Heinz (1987): „Kulturelle Bedingungen der deutschsprachigen Prager Literatur“. In: Marino Freschi (Hrsg.): Saggi di Letteratura Praghese. Neapel: Istituto Universitario Orientale Napoli, S. 55–67. Schmitz, Walter (2001): „Magisches Prag“. In: Walter Schmitz/Ludger Udolph (Hrsg.): Tripolis Praga. Dresden: Thelem, S. 163–198. Schulz, Walter (1985): Metaphysik des Schwebens: Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik. Pfullingen: Neske. Smith, Barry (1981): „Kafka and Brentano“. In: Ders. (Hrsg.): Structure and Gestalt. Philosophy and Literature in Austria-Hungary and her successor states. Amsterdam: John Benjamins Publishing, S. 113–159. Stach, Reiner (2014): Kafka. Die frühen Jahre. München: Fischer.

Das Unbestimmte der Sprache | XXVII

Stadler, Ulrich (2011): „Halbschlafszenen bei Kafka und Benjamin“. In: Robert Paulin/Helmut Pfotenhauer (Hrsg.): Die Halbschlafbilder in der Literatur, den Künsten und den Wissenschaften. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 205–222. Utitz, Emil (1914): Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft. Stuttgart: Ferdinand Enke. Utitz, Emil (1915): „Vom Schaffen des Künstlers“. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 10, S. 369–434. Utitz, Emil (1959): „Erinnerungen an Franz Brentano“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 13, S. 102–110. Verlaine, Paul (1994): Poetische Werke. Französisch und deutsch, übers. von Sigmar Löffler. Frankfurt, Leipzig: Insel. Wagenbach, Klaus (1958): Kafka. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt am Main: Francke. Zimmermann, Hans-Dieter (2002): „Zwei Prager Philosophen: Felix Weltsch und Tomáš Garrigue Masaryk“. In: Friedrich Battenberg/Manfred Voigts (Hrsg.): Von Enoch bis Kafka: Festschrift für Karl E. Grözinger zum 60. Geburtstag. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, S. 30– 39. Zittel, Claus (2016): „Poetik der Verschwommenheit. Philosophische, psychologische und ästhetische Wahrnehmungskonzepte in der Prager Moderne“. In: Bernd Stiegler/Sylwia Werner (Hrsg.): Laboratorien der Moderne. Orte und Räume des Wissens in Mittel- und Osteuropa. München: Fink, S. 61–113. Zumr, Josef/Binder, Thomas (1992) (Hrsg.): T.G. Masaryk und die Brentano-Schule. Prag, Graz: Fylosoficky ustav. Vollhardt, Friedrich (1986): Hermann Brochs geschichtliche Stellung: Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie ‚Die Schlafwandler‘ (1914-1932). Tübingen: Niemeyer.

Claus Zittel und Axel Pichler

Editorische Vorbemerkungen zur Neuausgabe Die Neuausgabe von Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems philosophischer Begriffsbildung folgt dem bislang einzigen Druck von 1913 (Leipzig: Kurt Wolff-Verlag). Hinzugefügt wurden ein in der Erstausgabe nicht vorhandenes Literaturverzeichnis sowie Materialien zur Rezeption, darunter die Selbstanzeige der Autoren sowie alle bekannten Rezensionen. Verzichtet wurde indes auf einen Nachdruck der wichtigen Auseinandersetzung Ernst Cassirers im 3. Band von dessen Philosophie symbolischer Formen, da dieser Text leicht greifbar und ohnehin nicht in sich so geschlossen ist, dass ein separater Abdruck sinnvoll erscheint.1 In ihrer Nachbemerkung behaupten Brod und Weltsch, dass sie „am Gedanklichen wie an dessen sprachlicher Gestaltung bis ins Einzelnste ganz gleichen Anteil haben“ [S. 192]. Tatsächlich sind die 10 Kapitel stilistisch durchaus unterschiedlich, zuweilen finden sich auch Passagen, in denen offenkundig persönliche Erinnerungen Brods in Ich-Form wiedergegeben werden. Vermutlich stammen die sehr lebensweltlichen Schilderungen in Kapitel 3 („Die Verschwommenheit“), 4 („Der anschauliche Begriff (A + x)“), 7 („Das lebendige Spiel der (A + x)-Gebilde und 9 („Der wissenschaftliche Begriff“) überwiegend aus der Feder Brods, die anderen, terminologisch schulmäßiger formulierten Kapitel eher von Weltsch. Die Erstausgabe von 1913 weist keine bedeutungsrelevanten typographischen Besonderheiten auf. Daher verzichtet die Neuedition auf eine mimetische Reproduktion ihrer Typographie: Der Satz folgt den gängigen buchgestalterischen Vorgaben des Verlages. Wie die Abbildung 1 belegt, entsprechen weder die bibliographischen Angaben in der Ausgabe von 1913 noch die Art und Weise ihrer Setzung aktuellen Konventionen. Sie wurden daher den Gestaltungsvorgaben der vorliegenden Reihe entsprechend angepasst. Die teilweise unvollständigen bibliographischen Angaben als auch der Wortlaut sämtlicher Direktzitate wurden anhand der von Brod und Weltsch ausgewiesenen Ausgaben überprüft und wo nötig ergänzt. Dabei trat zutage, dass die beiden Autoren sehr lax mit Wortlaut und Orthographie der Referenz-

|| 1 Vgl. Ernst Cassirer (1954): Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 359–366.

DOI 10.1515/978311053719-002

XXX | Claus Zittel und Axel Pichler

texte umgingen. Zahlreiche Zitate der Erstausgabe sind fehlerhaft oder unvollständig und wurden daher unter Hinzuziehung der von Brod und Weltsch verwendeten Quellentexte korrigiert. In den wenigen Fällen, in denen die direkten Quellen nicht greifbar waren, haben wir andere zeitgenössische Ausgaben zum Abgleich herangezogen. Sämtliche Emendationen und Ergänzungen sind im Lauftext durch das textkritische Zeichen 〈〉 ausgewiesen. Gingen die Varianten der Erstausgabe über bloß orthographische Abweichungen hinaus, wurden diese mit der Sigle EA (= Erstausgabe) in den Fußnoten verzeichnet. Im sehr seltenen Falle größerer Abweichungen vom Primärtext wurden die Zitate im Wortlaut der Erstausgabe beibehalten, der originale Wortlaut der zitierten Stelle jedoch in der Fußnote dokumentiert. Nachgewiesen werden jedoch nur die im Text selbst markierten Referenzen, nicht die verborgenen Bezüge etwa auf die eigenen Reise-Schilderungen (s.o.). Wenn unklar ist, auf welche Ausgabe/Auflage eines Textes Brod und Weltsch zurückgegriffen haben, wird dies im Literaturverzeichnis durch einen Asterix ausgewiesen. In den wenigen Fällen, in denen die von Brod und Weltsch verwendeten Ausgaben nicht zu ermitteln bzw. nicht greifbar waren, was eine Überprüfung der Zitate unmöglich machte, wird dies sowohl im Lauftext als auch im Literaturverzeichnis durch eine Crux nach den Literaturangaben gekennzeichnet. Orthographie und Zeichensetzung der Erstausgabe wurden beibehalten, die ursprüngliche Paginierung durch im Fließtext eingefügte Seitenzahlen wiedergegeben. Die genannten editorischen Prinzipien erstrecken sich nicht auf die im Abschnitt „Dokumente und Rezensionen“ abgedruckten Texte. In diese wurde nicht textkritisch eingegriffen, nur ein typographisches Element der vorliegenden Reihe angepasst: Der am Anfang des 20. Jahrhunderts für Textauszeichnungen in wissenschaftlichen Publikationen übliche Sperrsatz wurde in Cursiva überführt.

Editorische Vorbemerkungen zur Neuausgabe | XXXI

Abb. 1: Max Brod/Felix Weltsch (1913): Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung. Leipzig: Kurt Wolff-Verlag, S. 7.

| Edition: Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung Max Brod und Felix Weltsch

Inhalt Einleitung | 9  Erstes Kapitel   Die vorbegriffliche Gesamtanschauung  | 15 Das anschauliche Material. – Konstruktion einer vorbegrifflichen Anschauung. – Schwierigkeiten dieser Konstruktion. – Ablehnung der Ansicht, daß die ursprüngliche Anschauung aus Einzelqualitäten zusammengesetzt ist. – Die vorbegriffliche Anschauung ist Gesamtanschauung. – Die vorbegriffliche Anschauung ist Gesamtanschauung. – Gliederung der Gesamtanschauung. – Intensität, Gefühlsbetonung. – Eigentliches und uneigentliches Auffallen einer Qualität. – Uneigentliches Auffallen als Wirkung der Verschiedenheit. – Ureffekt der Gleichheit. – Einwände und deren Widerlegung: 1. Die Wirkung der Gleichheit basiert auf der der Verschiedenheit. 2. Auffallen des Verschiedenen, genauer betrachtet. 3. Abstumpfung durch Gleichheit. 4. Relationen. – Belege für den Ureffekt der Gleichheit: 1. Kinderpsychologie. 2. Experimente. – Unendlichkeit der Zeit, des Raums, der Qualitäten als Einwand. – Verschränkte Wirkung der Gleichheit und der Verschiedenheit.  Zweites Kapitel   Das vorbegriffliche Urteil  | 33 Zur Anschauung kommt beim Welterlebnis etwas hinzu. – Was ist dieses Plus? – H. Gomperz’ geschichtliche Auffassung dieses Problems. – Das Plus sind Urteile. – Die Brentano-Martysche Urteilslehre. – Urteilskriterien. – Das thetische Urteil. – Die Wahrnehmung ist ein Urteil. – Auch vorbegriffliche Anschauung kann Urteilsmaterie werden. – Das Urteil ist in den meisten Fällen ein Dauerakt. – Bewußtheit des Urteils. – Das negative thetische Urteil. – Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Phantasievorstellungen liegt trotz Vorhandensein objektiver Differenzen letzten Endes im Urteil. – Ontologischer Exkurs. – Das synthetische Urteil. – Das Ding. – Das kategorische Urteil. – Das Notwendigkeits-Urteil. – Auseinandersetzung mit dem H. Gomperzschen Hauptargument gegen den Kritizismus. – Wie erfahren wir das vorbegriffliche Urteil?  Drittes Kapitel   Die Verschwommenheit | 45 Zwei Entwicklungstendenzen der phänomenalen gegebenen Welt: eine parzellierende und eine zusammenfassende. – Ermöglichung der letzteren Tendenz durch die „Verschwommenheit“. – Beispiele des „Verschwommenen“. – Ge-

DOI 10.1515/978311053719-003

6 | Inhalt

meinsame Eigenschaften. – Zusammenhand mit den physiologischen und physikalischen Bedingungen der Organfunktion. – Zusammenhang mit der Aufmerksamkeit. – Beschreibung des aufmerksamen Verhaltens. – Veränderungen im Objekt hierbei, Veränderungen im Subjekt. – Uneigentliche und eigentliche Aufmerksamkeit. – Unterschiede der Wirkung der Aufmerksamkeit von der der Verbesserung der physiologischen und physikalischen Bedingungen. – Das uneigentlich Bewußte. – Klarheit, Deutlichkeit. – Das Deuten ist ein synthetischen Urteil. – Gleichheitsurteil und I〈〉dentitätsurteil. – Die Verschwommenheit im Dienste dieser beiden Urteilsformen. – Ein Beispiel O = O1, P = P1, O = O1 oder P1. – Das unecht Verschwommene. – Das Maß der Deutbarkeit (K + x). – Nullpunkt der Verschwommenheitsskala. – Deutbarkeit des Nichtverschwommenen. – Verschwommenheit im akustischen Sinnesgebiet. – Deutung des Verschwommenen durch Aufmerksamkeitssteigerung. –Verschwommenheit der speziellen Erinnerungsbilder.  Viertes Kapitel   Der anschauliche Begriff (A + x) | 65 Das allgemeine Erinnerungsbild. – Es wirkt der Parzellierungstendez entgegen. – Schematisches Beispiel eines allgemeinen Erinnerungsbildes aus L- und S. – Reproduktion und Deckung zweier Vorstellungen infolge der Identität. – Das Symbol (A + x). – Die (A + x)-Gebilde als erste Form des Begriffs. – Vermöge der Verschwommenheit sind sie anschaulich und abstrakt zugleich. – Die Verschwommenheit ermöglicht die Funktion des Begriffs, zu nennen (Begriffsumfang). – Reproduktion und Deckung zweier Vorstellungen infolge der Gleichheit. – Der anschauliche Begriff. – Historisch-polemischer Exkurs. Fünftes Kapitel   Die höheren (A + x)-Gebilde | 79 Hinweis auf den wissenschaftlichen Begriff. – Einwirkung der (A + x)-Gebilde auf die Wahrnehmung. – Modifikation der (A + x)-Gebilde durch die Wahrnehmung. – Fortschreiten zu höheren Begriffen. – Einfluß der Erziehung, Tradition. – Deckung der (A + x)-Gebilde unter einander. – Wie sieht das Gemeinsame (A) der höchsten (A + x)-Gebilde aus? – Bedeutung der Relationen. – Beispiele. – Das anschauliche Begriffskorrelat bei Gomperz.  Sechstes Kapitel   Relationen und Akte | 89 Die Analyse. – Die höchsten (A + x)-Gebilde. – Wie werden Relationen erfahren? – Die Relationen sind anschauliche Vorstellungen. – Einteilung der Relationen.

Inhalt | 7

– Die Abhängikeit vom Fundament. – Unendlichkeit der Relationen (H. Gomperz, Meinong). – Im Eigentlich-Bewußtwerden sind die Relationen ihren Fundamenten koorditiniert, also selbständig. – Die Relationen sind durch die Fundament eindeutig bestimmt. – Gomperz’s Einwände gegen die Ansicht: Relationen werden gesehn. (Wertheimers Experimente). – Die Relationen sind keine Urteile. – Die Frage der „Gestaltsqualitäten“ (Gelb, Höfler). – Vorzüglichkeit der „Gestalten“. – Gefühlsakte im A. – Der Gefühlsgegenstand ist immer vorhanden, wenn auch verschwommen. – Wie ist der Nuancenreichtum des Gefühls zu erklären? – Aufmerksamkeit beim Gefühl. – Intensität. – Gegenstandsbereicherung. – Bewußtheit. – Bedenken gegen die Bevorzugung eines abstrakten Teiles durch die Aufmerksamkeit. – Erklärung der Gegenstandsbereicherung. – Endopathie. – Urteilsakte im (A + x). – Aufmerksamkeit beim Urteil. – Gegenstandsbereicherung.  Siebstes Kapitel   Das lebendige Spiel der (A + x)-Gebilde | 113 Unser Konzeptualismus. – Paradox von der „allgemeinen Wahrnehmung“. – Die klassische Einwände gegen den Konzeptualismus. – Die allgemeine Vorstellung ist möglich. – Wir denken nicht in individualisierten Einzelanschauungen; gegen Bergson und Gomperz. – (A + x)-Surrogate. – Das Zucken der (A + x)Gebilde. – Wesentliche Rolle der Unaufmerksamkeit. – Begriffsembryonen. – Zerfall des (A + x) in seine Surrogate bei lebhafter Erzählung. – Symbolbildung. – Das „Hineinwerfen“ des (A + x) in die Wahrnehmung. – Die Subjektive Seite der Aufmerksamkeit. – Die Duplizität der Ereignisse. – Weitere Beispiele. – Das „narkotisierte“ (A + x). – Beispiele.  Achtes Kapitel   Die Gedanken  | 133 Das Denken. – Begriff des Anschaulichen. – Zwei wichtige (A + x)-Gebilde mit Gefühlsakten im A. – Die Kulminationspunkte der Aufmerksamkeit beim Denken. – Das scheinbar Unanschauliche. – Seine Nuanciertheit. – Das Denken in der neueren psychologischen Forschung. – Unterschiede in der Methode. – Begriff des „Beschreibens“. – Die Lehren Husserls. – Koffka. – Ach, MüllerFreienfels, Bühler. – Vorzüge der hier vorgetragenen Theorie.  Neuntes Kapitel   Der wissenschaftliche Begriff  | 149 Die Funktionen des Begriffs: Subsumption und Mitteilung. – Vorzüge des anschaulichen Begriffs. – Seine Mängel und Überleitung zum wissenschaftlichen

8 | Inhalt

Begriff. – Atomisierung in „Merkmale“. – Die Zahl als Beispiel eines Merkmals. – Synthese der Merkmale. – Die atomisierte Anschauung und das Notwendigkeitsurteil. – Apodiktische und assertorische Kausalität. – Kriterium einer guten wissenschaftlichen Begriffsbildung. – Konstitutive und konsekutive Merkmale. – Denkökonomie als „Zeugung“ konsekutiver Merkmale. – Das psychologische Erleben des wissenschaftlichen Begriffs. – Verbindung anschaulicher und wissenschaftlicher Begriffe. – Der gemischte Begriff. – Anschauliche und wissenschaftliche Bedeutung desselben Wortes. – Uneigentliche Begriffe. – Polarität der Sprache. – Verschiedene Bedeutung der Sprache für den anschaulichen und für den wissenschaftlichen Begriff. – Onomatopoesie. – Form und Inhalt. – Das Problem der Übersetzungen. – Essaismus. – Denken ohne Sprache. Zehntes Kapitel   Erkenntnistheoretische Bemerkungen  | 181 Bergson und die Neu-Kantianer. – Intuition. – Das Sein als Im-System-Sein. – Das Begriffgsproblem bei Cassirer. – Abgrenzung der Gebiete des anschaulichen und wissenschaftlichen Begriffs. – Die Frage der „Unmittelbarkeit“. – Der anschauliche Begriff ist nicht völlig „unmittelbar“ und der wissenschaftliche Begriff nicht völlig „erfahrungsfremd“. – Immanente Unvollkommenheit der Wissenschaft.  Nachbemerkung | 192  Literaturverzeichnis | 193 

Einleitung Nicht leicht wird man gegenwärtig eine Abhandlung aus dem Gebiete selbst der beschreibenden und durchaus nicht spekulativen Psychologie lesen, ohne letzten Endes auf ein Problem zu stoßen, das in mannigfacher Formulierung und in noch mannigfacheren Lösungen, am kürzesten etwa als das von „Form“ und „Stoff“ des Bewußtseins bezeichnet, sich einstellt. Gewisse Tatsachen des Bewußtseins sind nämlich dem Subjekt in einer unmittelbaren, gleichsam naiven Weise gegenwärtig oder, wie andere behaupten, müssen wenigstens als in solcher Art ehemals gegenwärtig erschlossen werden; andere tragen deutlich das Gepräge mehr oder minder intensiver psychischer Verarbeitung an sich. – Um von den vielen Gestaltungen dieses Problems eine ganz deutliche als Beispiel vorzuführen, sei Harald Höffding 〈...〉 zitiert. Er unterscheidet das „unwillkürliche Seelenleben in seiner unmittelbaren Entfaltung“ als einen „Strom, ein Hingleiten mannigfacher Erlebnisse“, wobei sich das Ich nur aufnehmend verhält, und als zweite Gruppe der psychischen Erlebnisse das „Nachdenken“ mit dem Kennzeichen, daß es ein zeitlich vorausgehendes unmittelbares Erlebnis voraussetzt, charakterisiert durch unsere Aktivität, durch Zerlegung, Vergleich, Isolierung und Synthese des dargebotenen Bewußtseinsmaterials 〈Høffding 1911, S. 7ff.〉. – Die genaue Abgrenzung zwischen diesen beiden Bereichen des Spontanen und der Rezeptivität ist es, die in jeder psychologischen Arbeit, selbst dann, wenn sie wie der vorliegende Versuch jeder erkenntnistheoretischen und ontologischen Frage geflissentlich ausweicht, aus dem Gebiet der reinen Deskriptive unwiderstehlich in das der Theorien und Zusammenfassungen drängt; können ja selbst die entschlossensten Anhänger der empirischen Richtung, sobald sie nur von der Aufspeicherung ihrer Versuchsreihen zu einer Deutung und Resultierung übergehen, dieses | X | Problem nicht vermeiden, das wir deshalb als das deskriptiv-psychologische Problem kat’exochen ansprechen möchten. Es gibt eben, wie es scheint, nicht nur im Gegenstande, sondern auch in der Methode der Psychologie einen Punkt, an dem der Sprung vom bloßen Rezipieren zur Spontaneität gewagt werden muß. Die Gegensätze nun, die dieses Problem in den mit ihm beschäftigten Köpfen hervorbringt, sind in unseren Tagen die denkbar entschiedensten geworden, was umso folgenschwerer ist, als die Frage selten um ihrer selbst willen, sondern meist in Verbindung mit ihren Derivaten, dem Erkenntnisproblem und dem ethischen Problem und in Absicht auf diese aufgeworfen und behandelt wurde. Wir finden, daß auf der einen Seite (Neu-Kantianer) das unmittelbare Erlebnis, das „Gegebene“, nur insofern für wesentlich, für erkennbar gehalten wird, als es in die Formen des menschlichen Denkens bereits eingegangen ist,

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10 | Einleitung

Ordnung und Destillation in Merkmale und Gesetze erfahren hat; während die andere Partei, die „den Reichtum der menschlichen Natur liebt“ (James 〈1909, S. 149〉), das Analysieren als überflüssig, wo nicht als schädlich ansieht, und mit Bergson erklärt, daß eine Erkenntnis nicht durch Thesis und Antithesis der Begriffe, sondern nur durch „Intuition“, durch Eintauchen in den ungegliederten unmittelbaren Strom des Bewußtseins möglich werde. Ein Meinungsaustausch zwischen Anhängern der beiden Richtungen mit befriedigender wissenschaftlicher Lösung hat unseres Wissens noch nicht stattgefunden; dazu sind vielleicht die Grundansichten gar zu sehr entgegengesetzt und förmlich unvereinbar1). Auf beiden Seiten wird eifrig in den angegebenen Richtlinien, eigentlich ohne Rücksicht auf die ganz entgegenstehende Wertung der Gegner, gearbeitet und man hat allen Grund, die Liebe und Überzeugung zu bewundern, mit der Systeme ausgefeilt werden, deren Grundlagen durch so gewichtige Argumente gegenseitig sich bedroht fühlen könnten. | XI | Umso lebhafter ist die Diskussion auf dem mittleren Gebiete der teilnehmenden Literaten, denkenden Laien und populären Darsteller geworden. Hier ist es natürlich nicht das deskriptive Problem, sondern fast ausschließlich seine ethische und erkenntnistheoretische Fassung, welche die Gemüter aufregt. Dadurch erhält die Debatte eine affektive Betonung, sie wird zur Herzenssache und das äußert sich, wie nicht anders vorhergesehen werden kann, in einer womöglich noch entschiedeneren Unterstreichung der Gegensätze. Die Freunde der Analyse wollen nun gar nichts mehr von dem dumpfen verschwimmenden Erlebnis wissen, ihr Schrei nach Reinlichkeit und lateinischer Klarheit ist zugleich ein Verachtungsruf gegen jede halbunbewußte, dämmernde, in sich geduckte Begeisterungswelt. An Überschätzung der eigenen Vorliebe und Unterschätzung des gegnerischen Standpunkts geben ihnen aber die „Unmittelbaren“ nichts nach, ja der unparteiische Beobachter wird finden, daß sie in den letzten Jahren merklich aggressiv geworden sind und mit einer gewissen triumphierenden Selbstzufriedenheit alle Logik, alles Rationalistische für überwunden erklären, daß sie auf eine besonders freudig hervorgehobene Unerklärlichkeit des Lebens als auf den unzerstörbaren Bestand ihres Reiches pochen, einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen „Leben“ und „Begriff“ für festgestellt halten. – Der Sieg in diesem Kampfe, soweit man in einem so unorganisiert und mit so wenig wissenschaftlichem Aufwand geführten Disput überhaupt von Sieg sprechen kann, scheint sich denn auch der zweiten Gruppe zuzuneigen. Jedenfalls gewinnt sie stetig und besonders in den höheren geistigen Kreisen an Boden und man kann schon heute sagen, daß sie bei allen nicht ganz Unbefan|| 1 Natorps „Allgemeine Psychologie“ 〈Natorp 1912〉 erschien erst nach Abschluss der Arbeit

Einleitung | 11

genen den Rationalismus in Mißkredit gebracht hat. Man wagt kaum mehr, ihn zu verteidigen. Der tiefere Grund dieser Wendung unseres ganzen Zeitalters zur Mystik mag auf ganz anderem Gebiete, vielleicht auf dem der sozialen Mißstände, in einem Protest der gepeinigten | XII | Seele gegen den zunehmenden Materialismus zu suchen sein, im Sinne des Goetheschen Wortes etwa: „Das Leben, so gemein es aussieht, so leicht es sich mit dem Gewöhnlichen, Alltäglichen zu befriedigen scheint, hegt und pflegt doch immer gewisse höhere Forderungen im Stillen fort, und sieht sich nach Mitteln um, sie zu befriedigen.“ 〈Goethe 1907, S. 126〉 Das für jeden Menschenfreund Tröstliche dieser Bewegung läge dann in ihrem Aufschwung, ihrer Energie und man könnte ihr aus diesem Grunde, da sie dem Wesen nach fortreißend sein muß, ihre oft besinnungslose Heftigkeit zu Gute halten. Denn abstrakte Theorien sind es gewiß nicht und dürfen es ja auch nach Ansicht dieser Partei nicht sein, die ihre Anhänger auf allen Gebieten zu immer schärferen Attaken gegen die Geltung von Begriffen und ruhiger Wissenschaftlichkeit hinreißen. So wird erklärt, daß dem bisherigen Denkbetrieb gerade das einzig Wesentliche, das Fließende der Dinge entgehe, der Vitalismus bekämpft jede fixierte Formel des Daseins, eine schwärmerische Religiosität verhöhnt jede nüchtern-praktische Motivation des Handelns, die Theosophie erhebt neue geistige Sinne über die körperlichen, die von uns an anderem Ort als „Essaiismus“2 gekennzeichnete Art des Schrifttums will die Grenzen zwischen dichterischer und philosophischer Betrachtungsweise verwischen, die Folgerungen für eminente Tagesprobleme wie z. B. für die Kunstkritik, die Rassenpolitik, bleiben nicht aus. Überall wird das „Echte“ in Gestalt des Unkontrollierbaren, Dumpfen, Gefühlten, ahnungsvoll Erfaßten dem mühevoll Entwirrten und Auseinandergelegten vorgezogen; ja das schlichte Erkennenwollen, das Messen und Abwägen bekommt allmählich, obwohl es im Ansturm gegen diese Modeströmung eher einen heroisch-trotzigen Glanz verdiente, die lächerliche Farbe des Philiströsen und Faden. Auf dieses Schlachtfeld eines scheinbar fast schon entschiedenen und deshalb umso erbitterteren Kampfes sind wir (wenn es nun erlaubt ist, von einer allgemeinen Weltbetrach- | XIII | tung den Gedanken ins Persönliche zurückzuziehen) eigentlich ganz unschuldig und nichts ahnend geraten. Wir hatten alles andere eher im Sinn als den gefährlichen Boden der Kontroverse von Verstand und Herz zu betreten und uns am Ende von der einen Front „Verschrobenheit“ und zugleich von der andern „Seichtheit“ zurufen zu lassen. Wir wollten vielmehr in aller Kühle, angeregt durch den speziellen Fall eines terminologischen Streites, das durch Realismus, Nominalismus und Konzeptualismus seit alter || 2 Zu Brods „Essaismus“-Verständnis siehe Brod 1911a.

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Zeit genugsam verwirrte, aber noch nicht aufgelöste Rätsel des Allgemeinen, des Begriffs uns klar machen und es war zunächst nur das eine unsere Absicht: die logischen Funktionen des Begriffs zu verstehen. In der Folge schieden wir hievon möglichst scharf das psychologische Begriffserlebnis und waren darauf bedacht, auch im weiteren Fortgang unserer Arbeit, so oft sich auch die Verlockung dazu einstellte, niemals aus einem logisch konstruktiven Postulate wie „Dies muß ein Begriff leisten, um Begriff zu sein“ abzuleiten, daß der Begriff wirklich in der gewünschten Art erlebt werde; sondern wir suchten jedesmal dem faktisch Beobachtbaren nur durch Beobachtung nahezukommen. Bei gewissenhaftem Einhalten dieser Abgrenzung (wie sie sich uns vorbildlich in den Werken Brentanos und Martys bot) vollzog sich nun der Eintritt unserer Beobachtung in das große Gebiet der psychischen Bewußtseinszustände und es zeigte sich unaufhaltsam, daß der Begriff, wie wir von ihm in seiner wissenschaftlich prägnanten Form ausgegangen waren, nur die Spitze einer Pyramide war, deren breite Basis tief im Reiche der anschaulichen, ja der halbunbewußten Vorstellungen wurzelte. Wir erkannten im Begriff bald die oberste Klasse jener seelischen Verarbeitungen, die das „Gegebene“ modifizieren, und es scheint uns, als hätten wir mit ziemlicher Vollständigkeit die Gesamtheit der Mittelglieder aufgedeckt, die zwischen ihm und dem Rohstoff der Anschauung liegen. Einen nicht zu vernachlässigenden Ein- | XIV | schnitt in dieser Reihe mußten wir allerdings konstatieren, eine Stelle, an der die sonst so ebenmäßigen Übergänge eine gewisse Einkerbung, wenn auch keinen Riß, zeigen; doch legen wir diese Grenze nicht in die gewohnte Gegend zwischen Anschauung und Begriff, sondern mitten in das Begriffserlebnis hinein, zwischen den anschaulichen und den wissenschaftlichen Begriff (die Bedeutung dieser Termini kann erst in den weiteren Ausführungen klar werden) und finden zwischen vorbegrifflicher Anschauung und anschaulichem Begriff nur den Unterschied von Nüancen. Diese Ansicht beruht auf unsern Untersuchungen über das vorbegriffliche Erleben, über Gleichheitseffekt und Aufmerksamkeit, und wäre namentlich ohne genaue Beschreibung und möglichste Weiterverfolgung des „Verschwommenheitsphänomens“ unmöglich gewesen, welches letztere unserer Arbeit so zentral liegt, daß wir in manchem Stadium unserer Überlegungen versucht waren, das Buch als eine „Monographie über verschwommene Vorstellungen“ aufzufassen. Wir sind uns wohl bewußt, daß wir gerade auf diesem Gebiete bedeutenden Forschern in der neueren englischen Philosophie (Mill, Galton, Huxley, Romanes), in der jüngsten Theorie (vornehmlich Heinrich Gomperz und Cornelius) und Experimentalpsychologie (Wertheimer, die KülpeSchule) zu großem Danke verpflichtet sind. Wir möchten diesen Dank am liebsten dadurch abtragen, daß wir eine Spanne auf ihrem Wege zur Erkenntnis

Einleitung | 13

weiterschreiten. Hierbei dürften wir dadurch, daß wir auch der Erklärung des „Nennens“, der „Relationen“, der „Gestaltqualitäten“ und der „Gedanken“ die von uns weiterausgebildete Theorie der „verschwommenen Vorstellungen“ zugrunde legen, die Einsicht in den Zusammenhang der dargestellten Erscheinungen gefördert, ja vielleicht die letzte Lücke, die bisher die Reihe zwischen Anschauung und Begriff noch unterbrach, geschlossen haben. Durch die Herstellung dieser Kontinuität gewinnt natürlich gerade der Mittelteil der Reihe, der des „anschaulichen Begriffs“ (mit | XV | dem Symbol: (A + x) aus später zu er〈ör〉ternden Gründen belegt), an Länge wie an allgemeiner Bedeutung für das menschliche Geistesleben und weitet sich zu einem hundertgestaltigen, sehr komplexen Bereich, für den die eingangsaufgestellte Dichotomie von „Material“ und „Verarbeitung“ viel an ihrer Schärfe, ja an ihrem Sinn verliert. Und nun stünden wir also nach langem Wege vor der Entscheidung: Mystik oder Ratio. Wie man sieht, sind wir zu diesem Problem, das wir oben das deskriptiv-psychologische kat’exochen genannt haben, wirklich nur mit der bescheidenen Absicht, Psychologie zu treiben, gekommen und nicht in der Hoffnung, hier einige metaphysische oder moralische Schwierigkeiten im Handumdrehn verschwinden zu machen. So dürfen wir für unsere Arbeit wohl den Vorzug in Anspruch nehmen, daß sie von Rücksichten auf eine Schlußpointe ganz frei ist: den Vorzug der Unvoreingenommenheit. Unser Resultat, das wir vornehmlich in den Schlußkapiteln darstellen, dürfte denn auch Hitzköpfen beider Teile ziemlich ärgerlich sein, obwohl es beileibe keine der so beliebten „vermittelnden Stellungen“ ist. Wir glauben nämlich, der anschauenden und der zergliedernden Grundfunktion des menschlichen Geistes, sowie ihren mannigfachen Kombinationen abgesonderte Wirkungsgebiete und eigene Vorzüge, aber jeder auch eigene Mängel zuschreiben zu müssen. Wir ziehen Grenzen, die freilich nicht wie die zwischen den Staaten auf der Landkarte von Nordamerika als geometrische Gerade sich einschneiden, sondern deren launischer Zickzack sorgfältig verfolgt und mit durchaus geduldigem Blut, ohne Schlagworte und ohne Rücksicht auf die damit verbrachte Zeit abgesteckt sein will. Einen kürzeren Ausdruck für diese Grenzen als die vorliegende Arbeit konnten wir nicht finden. | 1 |

Erstes Kapitel Die vorbegriffliche Gesamtanschauung Bei der Betrachtung unserer seelischen Erlebnisse finden wir bald, daß in vielen (vielleicht in allen) ein Komplex enthalten ist, dessen Abhängigkeit von unseren Sinnen (dem äußeren und dem inneren) außer aller Frage steht; diesen Komplex nennen wir das „anschauliche Material“. Eben wegen dieser Abhängigkeit von den Sinnen, die von uns jederzeit beobachtet und kontrolliert werden kann, hat dieser Komplex für uns etwas Vertrautes und Sicheres, scheint gleichsam von kräftigerer Konstitution als die komplizierteren Gebilde des Seelenlebens. Jedenfalls würde es für viele Probleme, vornehmlich für das tiefere Verständnis des begrifflichen Denkens ersprießlich sein, wenn man zunächst einmal den Komplex des anschaulichen Materials isolieren, also die menschliche Seelentätigkeit auf die pure Anschaulichkeit beschränkt vorstellen könnte. – Die Schwierigkeiten zeigen sich bald: es kann nämlich eine solche ursprüngliche Anschauung nur schwer, vielleicht gar nicht beobachtet werden, sofern man das Wort „ursprünglich“ im strengsten Sinne nimmt. Denn in dem Zeitpunkte, in dem das Seelenleben einer direkten Beschreibung durch Introspektionen zugänglich wird, sind schon längst hohe Begriffe ausgebildet, ja diese Selbstbeobachtung vollzieht sich vielleicht schon vermittelst gewisser Begriffe oder gar nur in Begriffen, so daß denn die Vermutung, die schon fertigen Begriffe hätten auf das ursprüngliche anschauliche Material irgendwie eingewirkt, nicht mehr abgewiesen werden kann; auch dann nicht, wenn eine solche Einwirkung sich der unmittelbaren Beobachtung entzieht. Die Frage nun, die sich am Anfang unserer Untersuchungen aufdrängt, ob und wie die ursprüngliche Anschauung erlebt werden kann, kann gleichwohl erst ganz zum Schlusse behandelt werden. Für jetzt wollen wir vorsichtshalber die ur- | 2 | sprüngliche oder, wie wir sie nennen, die „vorbegriffliche Anschauung“ nur als Hypothese einführen. (Der Terminus ist dadurch berechtigt, daß er auf die Begrifflosigkeit des Erlebnisses als auf seine hervorstechendste Eigenschaft hinweist, ferner erscheinen auch alle die andern ordnenden Eingriffe, denen sich diese Anschauung nebst den Begriffen entzieht, einer vorgeschritteneren Betrachtungsweise als Schritte zum Begriff hin.) Diese Konstruktion des Vorbegrifflichen wird nichtsdestoweniger des Wertes nicht ermangeln und ihn daraus ziehen, daß sie in ihrer Entwicklung die komplizierten Tatsachen des beobachtbaren Bewußtseins letzten Endes vollständig erklärt, ohne zu diesem Fortschritt anderer als der bekannten oder doch sonst erweislichen psychologischen Gesetze zu bedürfen. Sie wird sich ferner auf Analogien aus dem entwi-

DOI 10.1515/978311053719-005

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ckelten, von Begriffen schon durchsetzten Bewußtsein in solchen Fällen stützen können, in denen die Einwirkung der Begriffe auf die Anschauung als gering vernachlässigt werden kann oder für Momente ganz aufgehoben ist. In beschränktem Maße werden auch Resultate der Kinderpsychologie und der Psychologie der Naturvölker verwendbar sein. Die genetische Frage, ob es angeborene Begriffe gibt, soll selbstverständlich mit dieser Konstruktion einer vorbegrifflichen Anschauung nicht erledigt werden. Allerdings wäre es nicht ohne Einfluß auf ihre Beantwortung, wenn die Ableitung des gesamten entwickelten Begriffserlebnisses aus der vorbegrifflichen Anschaulichkeit mit Hilfe anerkannter Gesetze und ohne Zuhilfenahme von unabhängigen angeborenen Begriffen gelänge. – Es handelt sich also darum, eine von allem Begrifflichen unberührte sinnliche Anschauung, einerlei ob eine solche im Werdegang einer Menschenseele jemals sich auffinden läßt oder nicht, zu beschreiben: eine Problemstellung, die der Kantischen Grundunterscheidung von Spontaneität und Rezeptivität verwandt ist. (Vgl. Kant „Kritik der reinen Ver- | 3 | nunft“, 2. Auflage, §15: „Das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer Anschauung gegeben werden, die bloß sinnlich〈,〉 d. i. nichts als Empfänglichkeit ist, und die Form dieser Anschauung kann a priori in unser〈〉m Vorstellungsvermögen liegen〈,〉 ohne doch etwas anderes〈〉 als die Art zu sein, wie das Subje〈c〉t affi〈c〉iert wird. Allein die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen 〈〉“ 〈Kant AA III, § 15〉). Im Weitern ist jedoch Kants Interesse nur auf diese conjunctio gerichtet, so daß gerade für die Beschreibung der vorbegrifflichen Anschauung, des „Gegebenen“, seinem Hauptwerke nichts entnommen werden kann. Diese Beschreibung nun würde man sich allzu leicht machen, wenn man, etwa vor eine Landschaft tretend, für eine Weile den Entschlußfaßte nun einmal keine sogenannte „Brücke“, keinen sogenannten „blauen Himmel“, keinen Fluß, keine Häuser zu sehen, nicht daran zu denken, wie diese Dinge genannt werden, auch nicht, wozu sie dienen, wie sie sich aus der Nähe betrachtet ausnehmen, und Ähnliches. Wenn man also wirklich für einen Moment diese begrifflose Anschauung erleben wollte, wozu erfordert wird, daß der Betrachter auf das sich einmalig und gegenwärtig Darbietende eingeschränkt bleibt, ohne es durch Verknüpfung mit seinen früheren Erlebnissen auch nur im Geringsten deuten zu wollen. Der bloße Entschluß kann diese vorbegriffliche Anschauung nicht zustande bringen, denn da bleibt es eben immer fraglich, ob er auch die Kraft hat, sämtliche von früheren Erfahrungen an der sinnlichen Anschaulichkeit vorgenommenen Modifikationen jemals wieder rückgängig zu machen. Ebenso fruchtlos bleibt der Versuch, die vorbegriffliche Anschauung zu erzwin-

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gen, indem ein recht kompliziertes und dem abstrakten Verständnis nicht erschlossenes Objekt, z. B. das Innere einer großen Maschinenfabrik oder etwa ein ganz unbekanntes, nie zuvor gesehenes Ding der Betrachtung zugeführt wird. Denn auch dann, wenn ein solcher Gegenstand nicht verstanden und nicht | 4 | in allen seinen Teilen gewürdigt werden kann: jedenfalls wird er als „Gegenstand“, als „Ding“ aufgefaßt und auch sonst mit mannigfachen Stempeln unserer bisherigen Erfahrung versehen. Wie durchgreifend diese Erfahrung, auch die scheinbar anschaulichste, von Begriffserlebnissen umgestaltet ist, wird sich im Verlauf der Untersuchung ergeben (5. Kapitel). Mit Entschiedenheit sei also festgestellt: Die vorbegriffliche Anschauung läßt sich aus der entwickelten durch einfache Subtraktion nicht gewinnen. Auch Schopenhauer, der in dieser Frage sehr radikal vorgeht, läßt noch der vorbegrifflichen Anschauung zu viel Begriffliches beigemischt. Nachdem er nämlich alle Anschauung als eine „intellektuale“ bezeichnet und den Träger dieser intellektualen Funktion als „Verstand“ ausgesondert hat, fährt er fort 〈…〉: „Könnte 〈J〉emand, der vor einer schönen weiten Aussicht steht, auf einen Augenblick alles Verstandes beraubt werden, so würde ihm von der ganzen Aussicht nichts übrig bleiben als die Empfindung einer sehr mannigfaltigen Affektion seiner Retina, den vielerlei Farbenflecken auf einer Malerpalette ähnlich, – welche gleichsam der rohe Stoff ist, aus welchem vorhin sein Verstand jene Anschauung schuf“ 〈Schopenhauer 1870, S. 9〉. Wir sagen: geht nicht die Mannigfaltigkeit dieser Affektion schon über das hinaus, was als roher Stoff ursprünglich gegeben ist? Ist diese Mannigfaltigkeit nicht vielleicht schon Ergebnis einer intellektualen Arbeit, einer Analyse? – Nebenbei sei bemerkt, daß Schopenhauer an dieser Stelle in anderer Richtung zu weit geht, indem er gleichsam einen Längsschnitt durch die Anschauung zieht und auf die eine Seite die phänomenale Anschauung, auf die andere den zugrunde liegenden physiologischen Vorgang (das Netzhautbild), der als solcher gar nicht Gegenstand der Psychologie sein kann, verweist. Wir kehren zum Anfang des Kapitels zurück und verstehen nun die Schwierigkeiten, mit denen der Versuch einer Iso- | 5 | lierung des anschaulichen Materials aus dem entwickelten Seelenleben seinem Wesen nach zu kämpfen hat. Ja wir haben einen tiefen Verdacht gegen dieses entwickelte Seelenleben gefaßt in der Beziehung, daß wir beinahe alle seine Phänomene auf spätere Durcharbeitung und beinahe nichts auf das ursprünglich Dargebotene zurückzuführen geneigt sind. Können wir uns doch von dem Entstehn der meisten präsenten Seelengebilde Rechenschaft ablegen, ihren Entwicklungsprozeß verfolgen (und die weitere Untersuchung soll gerade diese Einsicht vergrößern), so daß wir nach Beobachtung des Werdens zur Feststellung gezwungen sind, daß das

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Gewordene nur ein sehr mittelbares Abbild des anfänglich Dagewesenen sein kann. – Dieser Richtung entgegengesetzt zeigt sich jedoch in der Wissenschaft (insbesondere seit Locke) oft eine Auffassung, die in dem ursprünglich Gegebenen eigentlich genau dasselbe wie in dem nachmals begrifflich Erfaßten sieht, mit alleiniger Ausnahme dessen, daß vorher nur die einzelnen Qualitäten, reinlich gesondert aber unbenannt, aufgefaßt werden, wozu nachträglich noch die Namen wie: rot, blau, blaß, laut, der Ton c – und die entsprechenden Begriffe kommen. Es ist also gleichsam (nach dieser Ansicht) die vorbegriffliche Welt für die merkmalsmäßig-begriffliche Nomenklatur aufs Beste vorbereitet und eingeteilt, von Anfang an so gegliedert, wie sie uns erscheint, so daß vorbereitete Anschauung und späterer Begriff wie zwei kongruente Figuren in allen Details zu einander passen. Eine Stütze dieser Ansicht scheint es, daß die Sinne uns Einzelqualitäten darbieten, offenkundig zur Aufnahme differenter Eindrücke eingerichtet sind. Doch diese Betrachtung ist als rein physiologische abzulehnen. Für den Psychologen beginnt das Problem erst weit später, nachdem die Sinneseindrücke schon gewirkt haben, wenn also deren psychologische Gegebenheit anfängt. Und für diese letztere macht es gar nichts aus, in welcher Weise die physiologische Reizung stattgefunden hat. Daher kommt auch die Beschreibung | 6 | Kants, der die Anschauung aus einer sukzessiven Vereinheitlichung und Bearbeitung des simultan gegebenen Mannigfaltigen hervorgehen läßt, für die Psychologie nicht in Betracht, da diese vereinheitlichende Bearbeitung keineswegs beobachtbar, sondern auch bei Kant Ergebnis einer Überlegung, zeitlich und inhaltlich eine Tatsache außerhalb des psychologischen Forschungsgebiets ist. Der These, die aus der ursprünglichen Anschauung ein Mosaik unbenannter Einzelqualitäten macht, widerspricht die Selbstbeobachtung. Wir können nämlich sehr wohl unsere entwickelte Anschauung gleichsam herabschrauben, künstlich herabspannen; auch führen uns oft gegen und ohne unsern Willen Müdigkeit oder Unaufmerksamkeit tiefer gegen den Urzustand zurück, wenn er auch (wie dargelegt) exakt nicht erreicht werden kann. Dabei zeigt sich aber immer, daß nicht nur die Begriffe und Namen entschwinden, während die ganze Anschauung in ihrem Reichtum etwa unverändert bliebe: sondern die ganze Anschauung macht eine Wandlung zur Einheit, zum Ungegliederten durch. Umgekehrt erfahren wir bei Verstärkung unserer psychischen Anspannung, daß nicht allein die Zusammenfassung von gegebenem Einzelnen zu einem Ganzen, sondern vornehmlich die Gliederung eines bisher undurchgearbeiteten Ganzen in neue Details die wesentliche Folge dieser Anspannung ist. Auch die Beobachtung jeder gegenwärtigen Anschauung weist auf, daß Komplexe und nicht Einzelqualitäten in ihr gegeben sind; ja solche letzte Einzelqualitäten sind viel-

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leicht bloß konstruierbar, nie erfahren. Dies alles führt uns zwingend zu der Annahme, daß eine einheitliche ungegliederte Gesamtanschauung, in der die einzelnen Teile von einander noch nicht unterschieden werden, die urprüngliche Anschauung darstellt. Diese Gesamtanschauung hätten wir uns gleichnisweise wie den Eindruck vorzustellen, den ein kompliziertes Musikstück beim ersten Anhören auf einen wenig musikalischen Menschen macht, | 7 | in dem aus dem Schwall gleichförmiger Reize nichts Distinktes hervortritt. Seine experimentelle Bestätigung findet dieser Satz in den Untersuchungen Preyers 〈…〉, der die auffallend lange Zeit feststellte, während der ein Kind die einfachen Farben „grün“ und „blau“ nicht voneinander unterscheidet. Sehr prägnant benannte das Kind die ihm vorgelegten Farben (resp. seine vorbegriffliche Anschauung dieser Farben) als „Gar nichts“3 〈Preyer 1884, S. 13〉. Die Überzeugung, daß unser psychisches Leben mit einer ungegliederten Gesamtanschauung, und nicht mit den Einzelqualitäten beginnt, hat sich in der neuen Psychologie bereits Bahn gebrochen. Mit aller Schärfe wendet sich Cornelius 〈…〉 gegen die falsche 〈„〉atomistische〈“〉 Psychologie, welche von einem Aufbau unserer Erlebnisse aus einzelnen einfachen Elementen – Empfindungen und Vorstellungen – redet, als ob diese letzteren das primär Gegebene und die 〈c〉omplexen Erlebnisse erst se〈c〉undäre Produ〈c〉te der Zusammensetzung solcher Teile wären“ 〈Cornelius 1897, S. 117〉. Ähnlich spricht sich derselbe in seinen Arbeiten „Über Verschmelzung und Analyse“ 〈Cornelius 1892 und Cornelius 1893〉, „Psychologische Prinzipienfragen“ 〈Cornelius 1906〉 aus, er statuiert als unmittelbar gegeben ein „Gesamterlebnis“. Ähnliche Formulierungen finden sich u. a. bei James 〈James 1909, S. 148ff.〉, Lipps 〈Lipps 1903, S. 70〉, Harald Höffding 〈Høffding 1911, S. 7ff.〉, H. Gomperz 〈Gomperz 1905, S. 117 u. S. 322〉, Ebbinghaus 〈Ebbinghaus 1902, S. 10〉. Immerhin muß sofort nach Erkenntnis dieser ursprünglichen Gesamtanschauung zugegeben werden, daß bei späterer Gliederung ihre Teile (Einzelheiten) nicht etwa erfunden, von anderswoher zugetragen, sondern in dem Ganzen vorgefunden, als darin enthalten erfaßt werden. Diese Komplikation des Problems wird genau zu untersuchen sein. Zunächst: wie und | 8 | wodurch kommt die allmähliche Gliederung der Gesamtanschauung zustande? Da bietet sich nun als nächstliegende Möglichkeit, daß eben die Verschiedenheit der Qualitäten, die freilich erst später erfaßt wird, den Anlaß zur Gliederung in Einzelqualitäten geben könnte. Man könnte glauben, daß das Kind der Reihe nach auf die verschiedenartigen Qualitäten aufmerksam wird, indem es

|| 3 Das hier fehlerhaft zitierte Original lautet: „Neu ist nur die Bezeichnung garnix für Grün und Blau. Auch werden jetzt öfter unbekannte Farben grin genannt, z. B. Blau.“ 〈Preyer 1884, S. 13〉

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ihnen seine Seele nicht anders zuwendet, als ein Dampfer mittelst seines Scheinwerfers ein Seeufer absucht. Die „Aufmerksamkeit“ wäre also die treibende Kraft, die ohne weiteres Zutun der Objekte, ohne andere nachweisbare Bedingung außer den qualitativen Differenzen, einfach aus sich selbst heraus, die dunkle Masse der Gesamtanschauung in Einzelheiten auflöste. Gewiß gibt es Fälle, in denen eine Einzelqualität auch schon vorbegrifflich aus der Gesamtanschauung hervortritt und als hervortretend erfaßt wird. In diesen Fällen ist aber außer der objektiven Verschiedenheit dieser Einzelqualität von ihren Nachbarinnen auch noch entweder ihre besonders starke Intensität oder ihre Gefühlsbetonung, die wohl meist auf biologische Wichtigkeit zurückgeht, geboten. Das Kind wendet sein Gesicht der brennenden Lampe, dem Fenster zu. Preyer hat gezeigt, daß es das leuchtende Gelb und Rot lange vor den kalten Farben bemerkt, zu allererst das Gelbe. In einen neutral erfüllten Felde des Tastsinnes lenkt ein Nadelstich die Aufmerksamkeit auf sich. Der Unmusikalische, dem ein Konzert „Gesamtanschauung“ bleibt, wird doch durch schrille Trompetenstöße, Pfiffe im Orchester aufgeschreckt. – Diese richtige Beobachtung hat auch einige Psychologen zu der allerdings übertriebenen Tendenz veranlaßt, die gesamte Begriffsbildung auf biologische Wichtigkeiten zurückzuführen. Bleibt also die Frage: Genügt die bloße Verschiedenheit der Qualitäten zu ihrer Hervorhebung in dem Sinne, in dem diese Hervorhebung bei mitwirkender Intensität und Gefühls- | 9 | betonung sicher stattfindet? – Wir wollen nachweisen, daß diese Frage für das vorbegriffliche Erleben zu verneinen ist. Wohl hat auch die Verschiedenheit von Qualitäten etwas „Auffallendes“ an sich, doch wird dadurch die einzelne Qualität nicht als aus der Gesamtanschauung hervortretend erfaßt. Vielmehr ist das Auffallende hier lediglich durch den Übergang von einer Qualität zur andern hervorgerufen, nur der Übergang gibt sich als Überraschung, als kleiner Choc, als vorübergehende Steigerung des Bewußtseinsgrades kund. Dieser Effekt des Auffallens jedoch ist bei dem Übergang von der Qualität „rot“ in „blau“ seinem Wesen nach ebenderselbe wie bei dem Übergang von „blau“ in „gelbgestreift“. Nur Intensitätsunterschiede zwischen den einzelnen Steigerungen gibt es, nie aber erfaßt dieser an den Übergang gebundene Ruck des Auffallens eine Einzelqualität als solche, sachlich. Es wird durch ihn keiner Einzelqualität ein Vorzug vor den Übrigen gegeben, keine tritt individuell hervor. Hiermit ist eine doppelte Bedeutung der Terminus „Auffallen“ festgestellt. Bei der ersten Art (die unter Zuhilfenahme von besonderer Intensität, Gefühlsbetonung wirkt) wird eine hervortretende Einzelqualität wie mit der Zange gepackt und frei, isoliert vor die andern hingestellt. Bei der andern Art (die an

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bloße phänomenale Verschiedenheit geknüpft ist) entsteht nur eine Erregung des Bewußtseins infolge des Übergangs von einer Qualität zur andern, gleichsam eine Reizung, die ins Leere greift, ohne eine besondere Einzelqualität erfassen zu können. – Da man eine Terminologie braucht, wollen wir der ersten Art (in Übereinstimmung mit der späteren Untersuchung des Aufmerksamkeitsphänomens im 3. Kapitel) den Namen des „Auffallens im uneigentlichen Sinne“, der zweiten Art den des „Auffallens im eigentlichen Sinne“, geben. Die Gesamtanschauung ist also nicht in dem Sinne gegliedert, daß die Einzelqualitäten vermöge ihrer Verschiedenheiten als solche hervortreten (dies tun sie nur infolge von Intensität, | 10 | Gefühlsbetonung und in einem dritten wichtigsten Fall, der sofort behandelt werden wird), sondern zunächst nur in dem Sinne, daß der Übergang von einer Qualität zur andern, die Verschiedenheit als solche, auffällt, gleichsam eine prickelnde Unruhe, eine immerwährende Störung im Betrachter erzeugend, aber keine Differenzierung einzelner Teile des Gesamtbildes. Von dieser Erkenntnis aus (deren experimentelle Bestätigung weiter unten folgt) läßt sich nun die vorbegriffliche Anschauung schon etwas eingehender beschreiben. Wir gehen vom einfachsten Falle aus: a) Es sei das Sinnesfeld von einer einzigen Qualität erfüllt. – Da ist natürlich von Gliederung und Auffallen keine Rede. Der Bewußtseinsgrad muß sogar allmählich herabsinken. b) Im Sinnesfeld sind gleichzeitig zwei Qualitäten gegeben. – Dann tritt psychologisch dasselbe ein wie im Falle a. Denn von einem Übergang kann bei simultanen Qualitäten nicht die Rede sein. Es werden also beide Qualitäten ebensowenig auffallen (und zwar weder im ersten noch im zweiten Sinne des Wortes) wie eine einzige. – Zu bemerken wäre, daß dieser Fall praktisch schwer denkbar ist. Er kann nur eintreten, wenn das Sehfeld immer gleich fixiert bleibt, wozu ja gerade bei dem Mangel an Aufmerksamkeit in diesem Falle nicht der geringste Anlaß vorliegt. Sobald sich aber das Sehfeld verschiebt, liegen schon zwei verschiedene sukzessive (nicht mehr simultane) Paare von Qualitäten vor, und dies ist der Fall c) Übergang zweier Qualitäten. – Es tritt die besondere Wirkung des Auffallens, jedoch ohne sachliche Erfassung ein. Und zwar ist es hier prinzipiell einerlei, ob der Wechsel der Qualitäten durch Verschiebung im objektiven Sehfeld oder durch Wechsel der Blickrichtung erzeugt wurde. d) Von zwei Qualitäten wechselt die eine, während die andre gleich bleibt. – Hier tritt etwas fundamental Neues in der Gliederung des Sinnesfeldes ein. Es beginnt nämlich die zur Wiederholung gelangte Qualität sachlich hervor- | 11 | zutreten, metaphorisch gesprochen: sich zu verstärken; sie zieht allmählich die

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Aufmerksamkeit auf sich, sie wird schließlich „auffallend“ im eigentlichen Sinne, d. h. als Einzelqualität erfaßt, während die wechselnden Qualitäten immer wieder in die Gesamtanschauung zurückfallen, spurlos verrinnen, die Aufmerksamkeit nur für Momente (während des Überganges) reizend und gleich wieder loslassend. Es tritt beispielsweise ein konstanter Rot-Komplex aus einer in verschiedenen Farben wechselnden Fläche, die vorläufig Gesamtanschauung bleibt, erst infolge seines Ruhens in bewegter Umgebung mit der ihm eigentümlichen Qualitätsempfindung „rot“, als für sich allein bestehend (wenn auch natürlich noch ohne Namen) an die Seele heran, auf die er, so lange er selbst wechselte, keinen Eindruck gemacht hat. – Hier also liegt erst etwas vor, was der sachlichen Qualitätserfassung bei besonderer Intensität oder Gefühlswichtigkeit beigeordnet ist, der obenerwähnte „dritte Fall“. Dieser dritte Fall ist von den drei qualitätserfassenden nicht nur seiner Häufigkeit nach der wichtigste, sondern auch der seltsamste. Denn daß durch besondere Grelligkeit einer Qualität, durch Blitz und Flintenknall, daß durch Eingriffe in das leibliche Wohl irgendeine Einzelheit aus der Gesamtanschauung ausgesondert wird, läßt sich zur Not begreiflich finden, selbst wenn man das vorbegriffliche Stadium als einen ganz unterschiedslosen, hilflosen, täppischen Zustand auffaßt. Daß aber die bloße Wiederholung genügt, um in dem gleichsam unentwirrbaren Netzwerk der Gesamtanschauung die ersten Knoten und Ballungen anzubringen, daß also das „Gleichsein“ von Qualitäten einen so ganz andern und um so viel bevorzugteren Effekt ausübt als das „Verschiedensein“, das klingt zunächst unglaubhaft. Es sind daher auch sofort zahlreiche Einwände bei der Hand, die nur schrittweise erledigt werden können, weshalb wir an dieser Stelle an die Geduld und Ruhe des Lesers appellieren müssen. | 12 | Zunächst ist ein Zweifel an diesem angeblichen Bevorzugtsein des Gleichen vor dem Verschiedenen nicht unangebracht. Die Verschiedenheit von Qualitäten, wird man fragen, soll auf die begrifflose Anschauung in dem wirklich nur sehr uneigentlichen Sinne gliedernd wirken, daß sie in dem betrachtenden Bewußtsein Unruhe erzeugt, momentane Wellen und Zuckungen der Aufmerksamkeit, die unfruchtbar bleiben, während das Gleichbleiben, die Wiederholung einer Qualität auf diese Aufmerksamkeit gleichsam beruhigend und zusammenfassend wirken soll und allmählich aus dem Chaos die geordnete Welt der Farben, Klänge, Gerüche, Hautempfindungen den Sinnesorganen entgegenreicht? – Diese Aschenbrödelrolle der Verschiedendeit wird zu korrigieren sein und zwar durch den einfachen Hinweis auf Fall a, in dem die Ohnmacht der Gleichheit an sich, ja ihre gewissermaßen einschläfernde, abstumpfende Wirkung auf das Bewußtsein dargelegt wurde. Es ist eben der Effekt d durchaus nicht aus dem bloßen Anteil der wiederkehrenden Qualität, sondern auch aus

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dem der wechselnden zu deuten. Das Bewußtsein muß zunächst durch den Übergang verschiedener Qualitäten wie durch kleine Stöße in jenen Zustand der Wachheit, der Erregung gebracht werden, in dem dann das Verharren einer Qualität seine objektive Wirkung auslösen kann. So basiert also das eigentliche Auffallen bei Gleichheit auf dem uneigentlichen durch Verschiedenheit. Sehr richtig sagt daher James 〈James 1909, S. 247f.〉: „Es läßt sich als ein fundamentales Prinzip der Satz aufstellen, daß jeder Totaleindruck, den der Geist empfängt, so lange unanalysierbar bleiben muß, als seine Elemente niemals für sich oder anderswo in andern Kombinationen erlebt worden sind“ und bringt als Exempel, daß man keinen Anlaß hätte, die Empfindungen „naß“ und „kalt“ für sich zu scheiden, wenn alles Nasse auf der Welt kalt wäre. Ein zweiter Einwand, der sich im Wesen nur als eine Verwischung der schon erzielten Resultate darstellt, sei hier nicht | 13 | übergangen. Auch das Verschiedene fällt auf, nicht nur das Gleiche, – könnte behauptet werden und ist auch behauptet worden, denn wir bringen hier ja nichts als Einwände, die wir uns selbst immer wieder gemacht haben. Die Antwort ist, daß in diesem Einwand eine falsche Terminologie oder die falsche Deutung einer Beobachtung steckt. – Eine falsche Terminologie, wenn hier „Auffallen“ ohne deutliche Unterscheidung der beiden fundamental verschiedenen Fälle gebraucht wird. Das Verschiedene fällt auf, aber nur im uneigentlichen Sinne, um wieder zu verschwinden, das Gleiche wird unterstrichen, fällt auf und heraus. – Bei richtiggestellter Terminologie braucht aber der Gegner seine Position noch nicht aufzugeben, kann vielmehr ein Beispiel wie folgendes Vorbringen: Mehrere Karten werden vorgezeigt, jede mit einem andersgefärbten Fleck in der Mitte, also alle grau mit je einem roten oder schwarzen Fleck usw. Zeigt man die Karten nacheinander ohne besondere Aufforderung, einem wenig interessierten Beobachter, so mischen sie sich im Gedächtnis zu einer Art von vorbegrifflicher Gesamtanschauung. Das Auffallende und aus dieser Gesamtanschauung Erfaßte ist nun gewiß nicht die gleichbleibende graue Farbe, sondern der Fleck, also das qualitativ Verschiedene. – Das ist richtig, die Deutung aber muß dahin gehen, daß auch in diesem Fleck nur das „Gleiche“ erfaßt wurde, nämlich nur der gleiche irgendwie markierte Ort, nicht die wechselnden Farben an diesem Orte. – Wird der Fleck an jeweils verschiedenen Stellen der Karten angebracht, so wird in ihm seine gleichbleibende Proportion zur Kartenfläche erfaßt. Ändert man diese beträchtlich, so beginnt auch das Resultat zu schwanken. Überdies ist nie auszuschließen, daß die Versuchsperson diesen Fleck oder seine Gestalt oder eine seiner Qualitäten schon begrifflich deutet und auf diesem Wege herausfaßt, also etwa als Blutstropfen, Herz, blauen Globus u. ä., so daß der Rückschluß auf das vorbegriffliche Erleben irreleitet. Das eigentliche Auffallen einer | 14 | ein-

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maligen Erscheinung beruht (falls Intensität und Gefülston nicht mitspielen) gewiß auf bereits verarbeiteten gleichen oder ähnlichen Erlebnissen. Irreführen könnte auch die häufige Beobachtung, daß das Gleiche oft nicht herausgehoben, sondern im Gegenteil leicht vernachlässigt wird. Der Müller hört das Geklapper seiner Mühle nicht u. Ä. Ebbinghaus 〈…〉 beschreibt sehr richtig die „negative“ Wirkung der Aufmerksamkeit, wie er überhaupt alle hierher gehörenden Phänomene der Intensität, Gefühlsbetonung, Wiederholung vollständig anführt, ohne freilich die im Vorigen gemachte Unterscheidung zwischen den beiden Arten des Auffallens zu kennen. Er sagt: „Der geübte Historiker, Jurist, Beamte liest 〈…〉 Akten, Urkunden, Verfügungen mit einer für den Laien erstaunlichen Geschwindigkeit und dabei doch mit viel größerem Gewinn als dieser. Alles bloß Formelhafte und Nebensächliche weiß er mit Sicherheit zu überspringen, er wird davon nicht mehr in Anspruch genommen, und die ganze Leistungsfähigkeit seiner Seele bleibt somit verfügbar für das Wesentliche, das in jedem Fall Interessierende“ 〈Ebbinghaus 1902, S. 579〉 usw. – Zum Verständnis dieses abschwächenden Effekts der Gleichheit braucht nur hervorgehoben zu werden, daß es durchaus sekundär ist und eine sachliche Erfassung, Verstärkung des Gleichen als ersten Effekt voraussetzt. Es wird sodann auf Grund höherer Seelenvorgänge, begrifflicher Beziehungen das einmal Erfaßte willkürlich unterdrückt. Im weiteren Verlauf geschieht diese Unterdrückung immer leichter, unabsichtlicher. So auch Ebbinghaus, dem jedoch die Einsicht, das sich die negative Wirkung des Gleichen auf seine positive stützt, abgeht. Tiefer greift ein Bedenken ein, daß in den folgenden Untersuchungen mit unwesentlichen Änderungen noch oft wiederkehren wird. „Gleichheit“ und „Verschiedenheit“ sind Relationen und haben daher ihre Fundamente, also die Sinnesqualitäten, zwischen denen sie gelten sollen, als Voraussetzung. | 15 | Nun sollen aber diese Sinnesqualitäten nach unserer Ansicht erst der Relation ihr Entstehen, ihr bewußtes Vorhandensein verdanken. Ferner: Die Erkenntnis von Gleichheit oder Verschiedenheit zwischen sukzedierenden Qualitäten hat eine Reproduktion des vorausgehenden Relationsgliedes zur Bedingung. Von Reproduktion der Qualitäten ist jedoch im Stadium des vorbegrifflichen Erlebens, das diese Qualitäten noch nicht einmal distinkt erfaßt hat, natürlich keine Rede. – Nun ist es unmöglich, unsere Ansicht über das Verhältnis der Relation zu ihren Fundamenten und über die Relationserkenntnis überhaupt schon an dieser Stelle vorzutragen. Wir verweisen auf das Folgende, insbesondere das 6. Kapitel. Gegen das Theorem von der unentbehrlichen Reproduktion hat Alfred Brunswig 〈…〉 durch Statuierung seiner „eingliedrigen Relationen“ erfolgreich angekämpft 〈Brunswig 1910〉. Uns genügt es, vorläufig geltend zu machen, daß in der Phase des Vorbegrifflichen, in der wir jetzt noch bewegen, von einer „Re-

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lationserkenntnis“ überhaupt noch nicht gesprochen werden kann. Die beiden sukzedierenden verschiedenen Sinnesempfindungen, die das Sinnesfeld erfüllen, werden ja gar nicht als „verschieden“ erkannt, sondern sie üben nur vermöge ihrer objektiven Verschiedenheit jene subjektive „Ruck“wirkung aus, die wir als „uneigentliches Auffallen“ bezeichnet haben. Von diesem Ruck führt zunächst gar kein Weg ins Objekt hinüber, keine objektive Verschiedenheit gibt sich durch ihn kund. Nur der Bewußtseinsgrad erfährt eine momentane Erhöhung und sinkt dann wieder, ohne eine Beute gepackt zu haben, allmählich wieder zurück. –Ebensowenig wird ein Eindruck, der vermöge seiner Gleichheit mit vorigen Eindrücken verstärkt und aus der Gesamtanschauung herausgehoben wird, als „gleich“ empfunden, mit einem Erinnerungsbild des vorhergehenden Eindrucks verglichen oder sonstwie als in einer Relation stehend erfaßt. Es geschieht nichts, als daß das Subjekt dieses Eindrucks infolge eines Vorzugs, den er von dem | 16 | übrigen Sinnesfeld hat, gewahr wird. – Sobald eine Einzelqualität erfaßt ist, steht natürlich auch nichts im Wege, daß sie einer Relation z. B. einer Gleichheitsbeziehung zugrunde gelegt wird. Dies hat aber mit dem Ureffekt der Gleichheit, mir jener spezifischen Verstärkung, durch die die Qualität und nicht die Gleichheit erfaßt wird, nichts zu tun. Nur von diesem Ureffekt ist hier die Rede, für den nur die objektive Voraussetzung zu einer Relationserkenntnis, keineswegs aber diese Erkenntnis selbst notwendig ist. Diese objektiven Voraussetzungen (Wiederholung des Gleichen) haben ursprünglich die Verstärkung zur Folge, später unter gewissen Umständen die bewußte Relationserkenntnis. Belege für die ursprüngliche qualitätserfassende Wirkung der Gleichheit bietet die Kinderpsychologie. Die dargestellten drei Stadien der vorbegrifflichen Sinneswelt (zunächst Gesamtanschauung, dann Verschiedenheits-Ruck, dann Effekt der Gleichheit) findet man etwa bei Preyer 〈…〉, natürlich ohne Rücksicht auf eine Theorie, schön beschrieben: „Das Fixieren und deutliche Sehen eines Gegenstandes bildet sich langsam aus. Im ersten Stadium starrt das Kind ins Leere. Im zweiten wendet es das Auge öfter von einem in der Starrlinie befindlichen Objekt, gewöhnlich einem Gesicht, auf ein daneben auftauchendes Objekt, das es dann anstarrt. Im dritten verfolgt es einen langsam bewegten Gegenstand mit den Augen und dem Kopf oder Augen allein. Der Übergang vom Starren zum Blicken hat sich vollzogen“4. Als Stütze für unsere Ansicht, daß das Gleiche vor

|| 4 Der von Brod und Weltsch zitierte Text weicht an zahlreichen Stellen in Orthographie, Auszeichnung und Wortwahl vom Text in Preyer 1884, S. 131 ab. Dieser lautet:„Das Fixiren und deutliche Sehen eines Gegenstandes bildet sich langsam aus. Im ersten Stadium starrt das Kind ins Leere. Im zweiten wendet es das Auge öfters von einem in der Starrlinie befindlichen Object,

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dem Verschiedenen sachlich erfaßt wird, diene die bekannte Erscheinung, daß eine regelmäßige Bewegung, ein Hin- und Herpendeln, ein rhythmisches Trommeln zu allererst die Aufmerksamkeit des Kindes fesselt, während das Ungeordnet-Mannigfache, falls es nicht durch Intensität oder Gefühlsbetonung hervortritt, unbeachtet bleibt. Die erste vernünftige Äußerung eines Kindes war (nach Mitteilung eines Freundes), daß es ein Spielzeug über seiner Wiege, dessen | 17 | Schwingungen schon oft vorher sein Interesse gefesselt hatten, eines Tages spontan in Bewegung setzte. Auch die verwunderlich starke Freude aller Kinder an Tieren, Tramways, Eisenbahnzügen dürfte als Freude an dem, was vermöge seiner Beweglichkeit (Gleichheit an verschiedenen Orten) am leichtesten und deutlichsten aus der dumpfen Gesamtanschauung sich heraushebt, nicht zu künstlich interpretiert sein. Um die eigentümliche Urwirkung der Gleichheit auch experimentell nachzuweisen, muß man eine vorbegriffliche Anschauung oder etwas ihr Analoges herzustellen suchen. Wir benutzten hierzu kleine, gleichgroße Kartons, die, mit ornamentalen Zeichnungen besonderer Art versehen, einer Versuchsperson hintereinander vorgezeigt wurden, ohne daß vorher die Aufmerksamkeit dieser Person in eine bestimmte Richtung gelenkt worden wäre. Es wurde daher an jeder Person nur einmal ein solcher Versuch gemacht. Weiß man nämlich, daß dem Vorzeigen und Betrachten der Zettelchen die Aufforderung: „Bitte zeichnen Sie auf, was Sie sich gemerkt haben!“ folgen wird, so sieht man die Zettel schon daraufhin an, merkt sich hier und dort eine Figur und der Versuch gibt ein irrelevantes Resultat. Sollte der natürliche Vorgang der vorbegrifflichen Anschauung, in der die Aufmerksamkeit nicht willkürlich vom Betrachter aus gelenkt, sondern nach den ihr eigenen Gesetzen vom Objekt angezogen wird, künstlich nachgeahmt werden, so durfte der Betrachter beim Anschauen der Zettel gar nicht wissen, zu welchem Zweck man ihm das alles zeigte. So viel über die Einstellung. Die Zeichnungen selbst mußten folgenden Bedingungen entsprechen: 1. Sie mußten aus Teilen bestehen, denn einige dieser Teile sollten sich auf den Kartons wiederholen, andere mit immer neuen abwechseln. 2. Diese Teilfiguren mußten untereinander für die Aufmerksamkeit gleichwertig sein, damit keine bevorzugt werde. Insbesondere sollten womöglich alle gleich leicht oder gleich schwer zu merken sein. | 18 |

|| z.B. einem Gesicht, auf ein daneben auftauchendes auffallend helles Object, z.B. eine Kerzenflamme, die es dann anstarrt. Im dritten verfolgt es ein langsam bewegtes Object mit dem Auge und Kopf oder dem Auge allein. Der Übergang vom Starren zum Blicken hat sich vollzogen;“ 〈Preyer 1884, S. 131〉

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3. Daher sollten die Zeichnungen womöglich nicht an bekannte Ornamente oder Gegenstände erinnern; Deutungen und Assoziationen mußten ausgeschlossen werden. 4. Jeder Karton trug einige Figuren, jede Figur war aus krummen und geraden Streckenelementen zusammengesetzt: die Zahl dieser Elemente war auf allen Kartons gleich, so daß auch kein Karton als Ganzes genommen, vor dem andern in bezug auf Übersichtlichkeit oder Deutlichkeit den Vorzug hatte. 5. Wir bevorzugten kleine Formate, die mit einem Blick übersehbar waren, so daß die Teilfiguren nicht zur Analyse herausforderten. Es war nicht leicht, Figuren und Kartons zu finden, die allen diesen Anforderungen genügten. Oft zeigte es sich, daß die Versuchspersonen selbst ganz krause, ungewohnte Kombinationen, z. B. durch Vergleich mit stenographischen Schriftzügen, im Gedächtnis festhielten und so einzelne Teile der Gesamtanschauung von vornherein betonten. Die Blättchen wurden nun den Ver〈su〉chspersonen mit der allgemeinen Bitte, aufzumerken, vorgezeigt. Nach Vorführung einer ganzen Reihe solcher Blättchen erfolgte die Aufforderung, das Gemerkte zu zeichnen. Schließlich wurde die Versuchsperson gefragt, warum sie sich ihrer Ansicht nach gerade dieses gemerkt habe. In den meisten Fällen, in denen es überhaupt zu einem Resultat kam, (denn oft erklärte die Versuchsperson, durch die Einladung, zu zeichnen, überrascht, sich überhaupt nichts gemerkt zu haben) wurde jene Figur gemerkt und gezeichnet, die den Kartons gemeinsam war. Und zwar ergab die Analyse meistens, daß sich die Versuchsperson bewußt war, diese Figur wegen ihrer Gleichheit sich gemerkt zu haben. – Entscheidend aber waren die Fälle, in denen die Versuchsperson die gemeinsame Figur vollkommen richtig ihrer Gestalt und Lage nachzeichnete, auf die Frage aber, warum sie sich gerade diese | 19 | Figur gemerkt habe, angab, sie sei auf dem letzten Blättchen aufgefallen, und sehr erstaunt über die Mitteilung war, daß diese Figur auch auf den vorhergehenden Blättchen vorkäme. Der Satz, daß sich gleiche Qualitäten auch ohne Bewußtsein ihrer Gleichheit verstärken, erscheint damit bewiesen. Von den Versuchspersonen wurde fast jedesmal neben dem gemeinsamen Teil der Kartons noch irgend etwas gezeichnet, was sich in oft possierlicher Weise als ein Gemisch und eine Entstellung der vielen anderen nicht gemeinsamen Figuren, bisweilen auch als frei Erfundenes erwies. Wir werden auf diese merkwürdigen Erinnerungsgebilde ausführlich zu sprechen kommen. Für diesmal lehren sie, daß die Verschiedenheit der Figuren jedenfalls nicht genügt, um eine von ihnen aus der Gesamtheit abzuheben. In den wenigen Fällen, in denen

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es auch bei einer sich nicht wiederholenden Figur, zu einem solchen Herausheben kam, ließ sich eine Assoziation leicht nachweisen und wurde auch von der Versuchsperson ohne weiteres als solche erkannt. Eine wesentliche experimentelle Unterstützung unserer Ansicht fanden wir bei A. A. Grünbaum 〈Grünbaum 1908〉. – Grünbaum stellt seinen Versuchspersonen die Aufgabe, unter mehreren Figuren die gleichen zu finden, und untersucht nun ihr von dieser Tendenz von vornherein beeinflußtes Verhalten. Als besonders interessant bezeichnet er selbst die Fälle, in denen die Konstatierung der Gleichheit nicht gelingt und bei denen die Versuchsperson auf die Aufforderung, zu zeichnen, was sie sich gemerkt habe, die gleichen Figuren zeichnet. Grünbaum bemerkt hierzu: „Wir können die Tatsachen vorläufig unter einem Satz vereinigen: 〈die gleichen Figuren sind in besonderer Weise wirksam, noch bevor die Gleichheit konstatiert ist.〉 Wenn die Gleichheit nicht konstatiert wird, 〈so besteht diese Wirksamkeit darin, daß eine von den gleichen Figuren aus der Masse der nichtgleichen Figuren〉 hervorgehoben wird. | 20 | Es ist so, als ob die eine gleiche Figur die andere unterstütze, so daß sie beide, obgleich sie im Bewußtsein nicht gegeben sind, doch zueinander in der Beziehung stehen, welche die Hervorhebung der einen von ihnen bewirkt.“ 〈Grünbaum1908, S. 433f.〉 – Auch bei den Versuchen, in denen die Gleichheitskonstatierung gelingt, unterscheidet Grünbaum einen Spezialfall: Hervorhebung ohne Wissen um die Gleichheit, also wieder (trotz divergenter Aufgabenstellung) einen Fall, der unserem Ureffekt der Gleichheit entspricht. „Dieser eigenartigen Hervorhebung ist irgendwelche bewußte Beziehung zur Aufgabe völlig fremd, nur nachträglich erwies sich die hervorgehobene Figur als die gleiche.“ Eine ähnliche fundamentale Wirkung des Wiedererkennens ähnlicher Teilinhalte beschreibt Cornelius 〈Cornelius 1897, S. 28–33〉. Höffding 〈Høffding 1911, S. 55〉 bezeichnet das Wiedererkennen als „eine interessante Übergangsform zwischen Empfinden und Nachdenken.“ Hier habe schließlich ein Beispiel aus der Praxis eines Schriftstellers seinen Platz. Derselbe bemerkt, daß ihm die Stilisierung eines Satzes, den er eben geschrieben hat, nicht behagt; beim oftmaligen Durchlesen stößt er immer wieder an dasselbe Wort an, das ihn irgendwie unklar, geradezu grundlos quält. Endlich merkt er, daß er einige Zeilen vorher dasselbe Wort oder ein stammverwandtes (so können einander die Worte „Widerspruch“ und „ansprechend“ gegenseitig stören), gebraucht hat. Infolge der unbewußten Gleichheit ist das wiederholte Wort ungebührlich aus dem Satz hervorgetreten, und dieses auffallende Formdetail, dem kein inhaltlicher Zwang entspricht, war es wohl, was den feinfühlenden Flaubert zwang, so unerbittlich auf Wiederholungen, Asso-

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nanzen, Reime in seiner Prosa Jagd zu machen. Dieser Dichter soll die Fähigkeit besessen haben, Wortwiederholungen über viele Seiten hin zu bemerken. – | 21 | Zusammenfassend dürfte nun klar sein: in der vorbegrifflichen Gesamtanschauung wirkt objektiv vorhandenes Gleichbleiben und Wechseln der Teile automatisch, ohne zu einer abstrakten Erkenntnis oder auch nur zu einem Bewußtsein von „Gleich“ oder „Ungleich“ zu führen, ohne eines solchen zu bedürfen. Und zwar erzielt das Wechseln der Qualitäten eine leere Bewußtseinssteigerung, das Gleichbleiben ein Innewerden der Qualitäten und damit die erste Gliederung der vorbegrifflichen Anschauung. Diesen Sätzen sei eine letzte Überlegung entgegengeführt: Es gibt gar keine objektive Gleichheit im Gebiet des Vorbegrifflichen … Man kann gegen uns argumentieren, daß wir von unserem Standpunkt aus, der dem Wechsel der Qualitäten keine qualitäterfassende Wirkung zugesteht, überhaupt nie zu einem Hervorheben einzelner Qualitäten kommen würden. Denn genau gesehen gebe es nichts als wechselnde Qualitäten, da jeder Qualität in ihrer Dauer unendlich viele verschiedene Zeitmomente zukämen, jeder räumlich ausgedehnten Qualität ferner eine unendliche Mannigfaltigkeit vermöge der unendlich vielen Raumpunkte, die sie erfüllt, nicht abgesprochen werden könne; und daß zu diesen unendlich vielen zeitlichen und örtlichen Bestimmungen auch noch eine unendliche qualitative Variation der Außenwelt trete. Dieses Problem „der Überwindung der Unendlichkeit“ ist im Grunde eine Seite der Frage: „Wie ist Erkenntnis der Welt möglich?“ und die Beantwortung dieser Frage stößt der Reihe nach auf alle Schwierigkeiten, die aus der Kompliziertheit der Welterscheinungen und aus der geringen Kenntnis, die wir von dem zur Bewältigung dieser Welt vorhandenen seelischen Mechanismus haben, entspringen können. – Für das Stadium der vorbegrifflichen Anschauung sei bemerkt, daß die angeführte Schwierigkeit zum großen Teil aus dem Hereintragen der in der fertigen, begriffsbeeinflußten, gedeuteten Welt vorliegenden Verhältnisse in eine primitive Epoche entsteht. | 22 | Einem begrifflichen Denken mag es allerdings erscheinen, daß dasselbe Ding dadurch, daß ihm in jedem Moment eine neue Zeitbestimmung zugeschrieben werden muß, eigentlich aufhört „dasselbe“ und „sich selbst gleich“ zu sein. Es fragt sich aber, ob dieser objektive Wechsel auch bemerkt wird, ob er also eine phänomenale Gleichheit ausschließt. Und da glauben wir allerdings, daß der bloße Wechsel der Zeitmomente seitens des Subjektes nicht mit dem jede ins Bewußtsein tretende Verschiedenheit beantwortenden Ruck zur Kenntnis genommen, sondern vermöge kontinuierlichen Überganges und Aneinanderhangens von Moment zu Moment überhaupt vernachlässigt wird. – Das Kontinuum also überwindet die Unendlichkeit der Zeitmomente; genauer gesagt, die

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verschiedenen Zeitmomente geben zwar jedem Ding etwas objektiv Wechselndes, dieser Wechsel aber wird vermöge seiner Kontinuität phänomenal als Konstanz empfunden. Wenn man will, kann man hierin etwas der Abstraktion Ähnliches finden und paradox genug von „vorbegrifflicher Abstraktion“ sprechen. Das Subjekt sieht von den wechselnden Zeitmomenten ab und hebt das Gleiche hervor. Doch muß man sich erinnern, daß hierbei von etwas abstrahiert werden soll, was noch gar nicht im Bewußtsein war. Man kann also nur von einer „unechten Abstraktion“ reden oder tut besser, es überhaupt nicht zu tun. Sehr scharf formuliert Cornelius 〈…〉 und wir können uns ihm für das vorbegriffliche Stadium anschließen: „Der Zeitverlauf unseres psychischen Lebens 〈setzt〉5 sich nach diesen Betrachtungen nicht aus einer Folge dauerloser Zeitpunkte, sondern aus endlichen Zeitstrecken zusammen. Auch die Gegenwart besitzt jeweils eine endliche Dauer: 〈d〉er gegenwärtige Bewu〈ss〉tseinsinhalt dauert eben so lange, als kein neuer Inhalt denselben ablöst. 〈…〉 Man hat diese Dauer in〈c〉onsequenterweise als Dauer der scheinbaren Gegenwart bezeichnet; sie sollte vielmehr die Dauer der wirklichen oder der | 23 | empirischen Gegenwart hei〈ss〉en, da wir an dem Inhalt während dieser Zeit einen Unterschied zwischen zeitlich verschiedenen Teilen, von welchen der eine vergangen, der andere gegenwärtig wäre, nicht vorfinden.“ 〈Cornelius 1897, S. 141f.〉 – Was nun Raum und Materie anlangt, so ist es bei der Anzahl von Raumpartikeln jedes Ausgedehnten und bei der gleichfalls unendlichen Variationsmöglichkeit der Qualitäten (z. B. Farbennüancen) unwahrscheinlich, daß auch nur zwei solche Raumpartikel qualitativ gleich sind. Woher also soll das Urerlebnis der „Gleichheit“ kommen? – Dieser Einwand verwechselt, genau so wie der erste, „objektive“ und „phänomenologische“ Deskription; einer immer tiefer ins Objekt eindringenden, gleichsam immer mikroskopischeren Betrachtung erscheint die Welt allerdings unendlich mannigfach und eine Beschreibung, die jedes einzelne dieser Merkmale hervorheben und betrachten möchte, kommt nie ans Ende. Aber diese atomistische Betrachtungsweise der Welt, so sehr sie dem entwickelten wissenschaftlichen Denken entspricht, ist eben durchaus nicht als primär vorauszusetzen. Im Gegenteil: die ursprüngliche Betrachtung geht von großen einförmigen Komplexen aus, deren verschiedene Teilchen gar nicht unterschieden werden. Die mangelnde Beherrschung und Schärfe der Sinne verhindert das Gewahrwerden störender Differenzen, so daß ganz beträchtliche Massen, die, objektiv genommen, alles andere als „gleichförmig“ sind, ja die einer nur um weniges geschärften Betrachtung in ihre mannigfalti|| 5 EA: stellt

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gen Teile auseinanderfallen, den niedrig funktionierenden Sinnen noch als monotones Ganzes ohne Gliederung erscheinen, die mit andern ebensolchen Ganzen gleichgesetzt werden, von denen sie in Wirklichkeit ganz verschieden sind. So haben wir es also recht eigentlich der Stumpfheit unserer Sinne zu verdanken, daß die Welt von Anfang an nicht in ein vibrierendes, anknüpfungsloses, allzu buntes Chaos zerstäubt, sondern sich vermöge einer nur scheinbaren, dem großen Blick vorgetäuschten Gleichheit | 24 | einzelner Teile durch Hervorhebung dieser Teile zu ordnen beginnt. – Die mangelnde Sinnesschärfe ist neben der Zeit- und Raumkontinuität unser wichtigstes Instrument zur Überwindung des objektiv Unendlichen. Hierüber werden unsere mit dem 3. Kapitel beginnenden Untersuchungen über das „Verschwommenheitsphänomen“ noch Manches klar machen. – Hier sei nur noch als eine Stütze des Vorgebrachten die Tatsache angezogen, daß bei den Kindern seit je einfache Formen als Spielzeug beliebt waren. Dies ist nicht etwa durch die ästhetische Wirkung zu erklären, die das Vereinfachte auf Erwachsene macht, sondern nur wohl ganz einfach daraus, daß die Kinder auch das lebende Pferd, den wirklichen Wagen nur in den rohen Formen des Spielzeugpferdes und Spielwagens erblicken, ohne jegliches naturalistisches Detail. Genaue Nachahmung der Lebensformen würde ihnen als Spielzeug unrealistisch scheinen, da es ihnen vermöge der Nähe und geänderten Aufmerksamkeitseinstellung andere Dinge als die erlebten zeigt, indes die grob behauenen Holzgegenstände ihrer Spielzeugwelt wirklich genau ebendasselbe bieten, was dem Kinde auch auf der Gasse, im Freien auffällt. – Indem wir im eben Gesagten zu Gunsten der Möglichkeit des „Gleichen“ in der vorbegrifflichen Anschauung gesprochen haben, scheinen wir vielleicht zu weit gegangen zu sein und unserer eigenen ersten Beschreibung des Vorbegrifflichen entgegengearbeitet zu haben. Wir haben uns gedreht. Anfangs gingen wir davon aus, daß zunächst nur verschiedene Sinnesqualitäten und der ihnen entsprechende Ruck gegeben ist, daß die Gleichheit erst allmählich zur Wirkung kommt. Jetzt wieder stehen wir, mit Kontinuität und Sinnesstumpfheit (wenn man so sagen will) ausgerüstet, in einer Welt, die aus vielen großen gleichartigen Massen zusammengesetzt ist und baldige Übersichtlichkeit verheißt. – Tatsächlich liegt hier kein Widerspruch vor, sondern die beiden Ansichten erfordern einander als gegenseitige Korrektur, wie auch in Wirklichkeit | 25 | die beiden großen Mechanismen von „Verschieden“ und „Gleich“ beständig sich ineinander verschränken. Man darf sich die Welt des Kindes nicht als chaotischen Wirbel vorstellen, ohne jede Qualitätserfassung, noch weniger freilich merkmalsmäßig von vornherein in objektive Einzelqualitäten eingeschachtelt. Sondern gleich zu Beginn der kindlichen Kosmogonie steht dem Nichterfassen einzelner Qualitäten, ja ganz derber Differenzen das Hervortreten einiger Emp-

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findungsballungen gegenüber, die entweder, wie die Mutterbrust, infolge ihrer besonderen Gefühlswichtigkeit oder wie das Sonnenlicht, infolge ihrer Intensität oder endlich infolge des hier beschriebenen Hebelwerkes von Gleichheit, Kontinuität und Sinnesstumpfheit sich frühzeitig vor dem neutralen Hintergrund der Gesamtanschauung bemerkbar machen. | 26 |

Zweites Kapitel Das vorbegriffliche Urteil An dieser Stelle scheint es passend, den Gang der Untersuchung ein wenig aufzuhalten und von jenen psychischen Vorgängen zu sprechen, die zwar nicht Etappen der hier dargestellten Entwicklung sind, wohl aber als ständige Begleitung und bleibender Hintergrund aller seelischen Ereignisse erwähnt und beschrieben werden müssen. Im 1. Kapitel war die Rede vom anschaulichen Material, d. i. von allen physischen Gegebenheiten, die uns durch Vermittlung unserer Sinne einfließen, die wir einfach aufnehmen; es war aber auch schon von den Veränderungen die Rede, die an dieser rezeptiven Erfahrung durch den Ureffekt der Gleichheit hervorgebracht werden, und wir werden in dem nächsten Kapitel sehen, daß dies nur ein Spezialfall der Einwirkungen der Aufmerksamkeit auf das anschauliche Material ist. Vergleichen wir nun all das, was uns dieses anschauliche Material mit allen durch die Aufmerksamkeit hervorgerufenen Veränderungen bietet, mit dem wirklichen endgültigen Eindruck, den wir täglich von der Welt empfangen, von der außer uns existierenden Welt der Gegenstände, die aufeinander wirken, einander hervorbringen und vernichten, so ergibt sich, daß dieses Welterlebnis weit hinausgeht über das, was die bloße Anschauung vermag. Es ist ein großer Abstand zwischen dieser Anschauung und unserer wirklichen psychischen Stellung zur Umgebung. Die Frage aber, wie dieser Abstand auszufüllen ist, welcher psychischen Tätigkeit wir den Teil unseres seelischen Zustandes verdanken, der über die Anschauung hinausgeht, war seit jeher ein Grundproblem der Philosophie und später der Psychologie. Ein wohldurchdachtes Bild der Lösungsversuche, die dieses Problem im Laufe der Geschichte erfahren hat, gibt uns | 27 | Heinrich Gomperz in seiner „Methodologie“, dem I. Bande seiner „Weltanschauungslehre“ 〈Gomperz 1908〉. Nach Gomperz lassen sich da folgende Grundansichten unterscheiden: der animistische Standpunkt, der dieses Plus, das zur Anschauung hinzukommt, in einer gewissen Belebung des Gegebenen, der metaphysische, der es in sinnlich nicht wahrnehmbaren, aber objektiv vorhandenen Elementen finden will; dann der ideologische Standpunkt, der dieses Plus in die verschiedenartige Verbindung der sinnlichen Qualitäten auflösen zu können vermeint. Nach der kritizistischen Ansicht ist das über die Anschauung Hinausgehende nichts anderes als die Form, in welcher unser Verstand das anschaulich Gegebene faßt, also eine subjektive Zutat; die Ansicht, die Gomperz selbst vertritt, ist die pathempirische;

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er glaubt nämlich, daß sich diese subjektive Zutat als Gefühl aufzeigen läßt. So trefflich uns diese geschichtliche Darstellung auch erscheint, können wir uns der Gomperzschen Lösung der Frage selbst durch den Pathempirismus nicht anschließen. Vielmehr glauben wir, daß dieses problematische Plus zwar eine subjektive Zutat, aber nicht zu den Gefühlen, sondern zu den Urteilen zu zählen ist. Mit dieser Ansicht, die wohl im Wesen von der größten Anzahl der Psychologen geteilt wird, stehen wir etwa in der Mitte zwischen dem Pathempirismus und dem Kritizismus. Denn die Anschauung, daß diese subjektive Zutat eine nachweisbare psychische Tätigkeit ist, teilen wir mit dem Pathempirismus, die Ansicht aber, daß diese Zutat ein Urteil ist, und zwar, wie gleich zu zeigen sein wird, als ein alles begleitender, oft nur unbewußter Dauerakt, bringt uns wieder ganz nahe an den Kritizismus heran, von dem sie nur dadurch getrennt ist, daß sie von den Argumenten, welche Gomperz gegen den Kritizismus führt, nicht getroffen wird. Damit dies klar werde, ist es notwendig, vorher unsern Standpunkt in der Lehre vom Urteil, soweit er hier in Betracht kommt, zu skizzieren. Da eine ausführliche Darstellung und | 28 | Begründung nicht in den Rahmen dieser Arbeit fällt, wollen wir uns hier ganz kurz fassen und schließen uns im wesentlichen an die Lehre vom Urteil an, die Franz Brentano 〈Brentano 1874〉 und jüngst Anton Marty 〈Marty 1908〉 wohl begründet haben. Nur auf jene Seiten der Urteilslehre sie hier näher eingegangen, welche durch unsere Untersuchung eine neue Beleuchtung erfahren und, so geklärt, gerade dort nicht ohne Belang sind, wo es sich um die Abwehr jener Einwendungen handelt, die gegen das Urteil als jene psychische Tätigkeit, die zur Anschauung gewissermaßen weltschöpferisch hinzutritt, – in prägnantester Weise von H. Gomperz erhoben werden. Die Brentano-Martysche Urteilslehre erblickt das Wesen des Urteils in einer fundamental eigenartigen Beziehung zum Objekt, die entweder durch ein Bejahen oder ein Verneinen charakterisiert ist. – An dieses Hauptkriterium des Urteils seien hier nun einige Merkmale angeschlossen, durch die wir das Urteil vor den anderen psychischen Phänomen ausgezeichnet halten. Im Laufe unserer weiteren Untersuchung wird sich oft die Notwendigkeit ergeben, bei Klassifizierung problematischer psychischer Tatsachen die hier gegebenen Kriterien zu Rate zu ziehen. Wir unterscheiden bei einem jeden Urteil die „Materie“, das ist jenes Vorgestellte, jenes Anschauungsmaterial, welches beurteilt wird, zu welchem eben jenes eigenartige Verhalten tritt, das entweder ein Bejahen oder ein Verneinen involviert. Letzteres ist die „Form“ des Urteils. Die große Mannigfaltigkeit der Urteile liegt hauptsächlich in der Verschiedenheit der Materie, die alle Arten von Vorstellungen enthalten kann, während die Form selbst nur wenige, ganz

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bestimmte Arten aufweist, die „modi“ des Urteils; darnach gibt es das thetische Urteil, welches bloß anerkennt oder verwirft, das synthetische (der Terminus hat hier nicht denselben Sinn wie bei dem | 29 | Kantischen synthetischen Urteil), welches zuerkennt oder aberkennt und das apodiktische, welches etwas als notwendig oder als unmöglich erkennt. Was nun diese zur Materie hinzukommende Form betrifft, so ist ihr hervorstechendstes Charakteristikon, daß sie nicht etwa als ein neuer anschaulicher Inhalt zur Materie tritt, sondern sich der geschärften inneren Erfahrung als von diesem Fall sehr wohl verschiedenes Phänomen kundgibt. Hierin haben wir eines der sichersten Kriterien zur Unterscheidung von Urteil und bloßer Vorstellung. Es kann nun zur gleichen Materie die Form entweder positiv oder negativ hinzukommen: das Schwanken vor der Entscheidung stellt den Fall des Zweifels dar. Die Form kann aber auch, – bei gleicher Materie – überhaupt wegbleiben, es kommt zu gar keinem Urteile. Hierzu treten noch zwei Kriterien, die bereits außerhalb der rein deskriptiv feststellbaren Eigenschaften liegen, nämlich einerseits die in das Gebiet der Erkenntnistheorie fallende, dem Sinne des Urteils entsprechende und aus seiner Intention hervorgehende Möglichkeit, von einem richtigen und unrichtigen Verhalten zu reden, und andererseits die gleichfalls erkenntnistheoretische Erwägung, daß durch das Urteil eine metaphysische Änderung der reinen Anschauung, ein schöpferischer weitreichender Eingriff in das sinnlich gegebene Material vor sich geht, dem wir, wie noch darzustellen sein wird, die Begriffe des Seins, der Identität, der Substanz, der Notwendigkeit, der Kausalität u. a. verdanken. Wir wenden uns nun dem ersten und wichtigsten Grundtypus des Urteils zu, dem rein anerkennenden Urteil, für welches Marty den Namen „thetisches Urteil“ eingeführt hat. Sicherlich wäre die Stellung des Subjekts zur vorbegrifflichen Welt ungenügend beschrieben, wollte man diese Welt nur als eine rein vorstellungsmäßige, als vorbegriffliche Anschauung darstellen. Anschaulich sind auch Phantasievor- | 30 | stellungen, Erinnerungsbilder aller Art. Von diesen sondert sich bald eine große Gruppe anschaulicher Bilder, die vom Subjekt als etwas außer ihm Liegendes, von ihm Unabhängiges und von seinem eigenen Zustand Verschiedenes erfaßt wird. Es wird eben eine Gruppe von Anschauungen zur Außenwelt. Die Anschauung wird zur Wahrnehmung. Ganz exakt gesprochen: Vorgestelltes wird als seiend beurteilt, wird anerkannt. Es tritt zur Anschauung das thetische Urteil „Dieses (damit ist hier die jeweilige ungegliederte oder gegliederte Gesamtanschauung gemeint) ist.“

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Ein Blick auf unsere Urteilskriterien bestätigt uns, daß die Wahrnehmung ein Urteil ist; es kann ja kaum einem Zweifel unterliegen, daß das zur Anschauung bei der Wahrnehmung Hinzukommende nicht wieder Anschauung, ein neuer anschaulicher Inhalt, sondern ein Verhalten sui generis ist. Wir verdanken die Begründung der Erkenntnis, daß in der Wahrnehmung ein Urteil liegt, Brentano. Immerhin wird diese Ansicht nicht von allen Psychologen geteilt. So argumentiert Ebbinghaus 〈Ebbinghaus 1902, S. 168〉: „Gewiß kommt in dem Urteil zu der bloßen, sozusagen neutralen Vorstellung noch etwas hinzu, was weder mit einer besonderen Lebhaftigkeit der Vorstellung noch auch mit einer beliebigen Verknüpfung gleichartiger Vorstellungen verwechselt werden darf. Aber etwas 〈A〉nderes als selbst wieder Vorstellung ist das Hinzukommende darum doch nicht. Es besteht in einer sehr abstrakten Vorstellung von Realität oder Wirklichkeit, die sich als notwendiger Niederschlag aus gewissen Erfahrungen des Empfindungslebens allmählich entwickelt. Hier liegt also nichts Neues und Letztes vor, sondern ein ableitbares Erzeugnis des Vorstellungsgetriebes wie es deren manche andere gibt.“ Dem gegenüber halten wir das Urteil für etwas Letztes und NichtAbleitbares. Es läßt sich auf keine abstrakte Vorstellung von Realität und Wirklichkeit zurückführen, ganz | 31 | im Gegenteil hat Marty 〈Marty 1908, S. 314ff. u. a.〉 überzeugend nachgewiesen, daß der Begriff der Existenz – und das soll hier wohl Realität und Wirklichkeit in exakter Terminologie bedeuten – erst durch das thetische Urteil geschaffen wird. Es ist aber auch nicht durch bloße Verknüpfung von Vorstellungen ersetzbar, sondern geht als Bejahen oder Verneinen der Vorstellungen weit über das Haben noch so komplizierter Vorstellungsverbindungen hinaus. Uns kommt es nun vornehmlich darauf an, zu zeigen, daß das Verhalten des Subjekts der vorbegrifflichen Welt, der Gesamtanschauung gegenüber ein Anerkennen oder Verwerfen ist in genau derselben Weise wie der begrifflich gedeuteten, merkmalmäßig erfaßten Welt gegenüber. So lange man das Wesen des Urteils in einer „Trennung und Vereinigung von Begriffen“ sah, war allerdings der Zugang zu dieser Erkenntnis verschlossen. Erkennt man aber – mit Brentano– das Charakteristische des Urteils in einem Ja-oder Nein-sagen, dann ist es klar, daß auch die ungegliederte Gesamtanschauung als Urteilsmaterie in Betracht kommt. Es wird diese Gesamtanschauung, das Chaos, in dem noch alles verschwimmt, oder vielleicht schon Einzelnes hervorgetreten ist, als außer dem Subjekt existierend (natürlich ohne diese begriffliche Fassung) konstatiert, d. i. durch ein Urteil anerkannt, das man in Worten mit: „Dieses ist“ ausdrücken könnte.

Das vorbegriffliche Urteil | 37

Die tägliche Beobachtung lehrt uns ja schon, wie dieses automatische Anerkennen dem Erkennen, dem Klassifizieren, dem distinkten Erfassen vorangeht. Wie oft haben wir den Eindruck: Hier ist etwas, … Umgebung … Außenwelt … irgendein Gegenstand, der uns keineswegs bekannt ist; erst später kommt vielleicht die Deutung hinzu, wandelt sich das Urteil „Dieses“ oder „Etwas ist“ in „A ist“. Wie oft finden wir uns in gewissen Dämmerzuständen, wo wir wohl die Umwelt en bloc anerkennen, uns in einer Umgebung fühlen, (möchte man beinahe sagen), aber nichts Bestimmtes herausheben, | 32 | nichts erkennen. Es ist auch, abgesehen von der Beobachtung, kein Grund einzusehen, warum dieses rein instinktive Anerkennen ein explizites Erfassen voraussetzen sollte, umsomehr als ja die umgebende lebende Welt tatsächlich wechselnd und fließend ist. So erscheint diese Einsicht in das Wesen des Urteils bereits als eine Frucht unserer bisherigen Untersuchung, die im Prinzip die Gesamtanschauung vor die gegliederte Anschauung stellt. Sie führt uns aber auch noch auf ein zweites wichtiges Moment. Im allgemeinen stellt man sich, wenn man vom Urteil oder Urteilsakt spricht, eine einmalige, punktuelle, mit einem gewissen Aufwand von Energie vollzogene Tätigkeit vor, auf die dann wieder ein Zustand des Nichturteilens folgt. Und so verhalten wir uns ja tatsächlich, wenn wir beispielsweise den Namen einer entfernten Ortschaft von einem Aussichtspunkt aus nach der Karte mühevoll feststellen und uns nach dieser Arbeit um den Namen nicht mehr kümmern. Da muß nun gesagt werden, daß dieser Typus von Urteilstätigkeit nur ein Grenzfall ist, für gewisse begriffliche Konstatierungen, für den Ausdruck von Urteilen, für Aussagen passend, nicht aber für die überwiegend größere Anzahl von Urteilen, zu denen auch die Anerkennung der vorbegrifflichen Welt gehört. Hier liegt kein punktueller Akt vor, sondern eine Dauertätigkeit, ein permanentes Verhalten, kein Urteil, genau genommen, sondern ein Urteilen, das aber mit dem einmaligen begrifflichen Urteil alle wesentlichen Eigenschaften gemein hat. Wir urteilen also gerade so permanent, wie wir permanent fühlen. Man darf da den Ausdruck des Urteils, den Satz oder die Aussage, nicht mit dem Urteil selbst verwechseln. Jenes ist etwas Einmaliges, dieses etwas Dauerndes, ein fortwährendes Überzeugt-sein von etwas, das vielleicht plötzlich beginnt, dann aber im Bewußtsein verharrt. Freilich ist ein explizites Erfassen dieses Verhaltens im Bewußtsein nicht immer gegeben. Ein näheres Eingehen auf | 33 | die Frage der Bewußtheit dieses Urteils kann hier jedoch nicht stattfinden und muß aufgeschoben werden, bis die Fragen der Aufmerksamkeit und des Bewußtseins überhaupt geklärt sein werden (3. Kapitel). Hier genüge die Feststellung, daß das Urteil, bevor es durch

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mannigfache Prozesse, wie Wiederholung u. a. voll bewußt wird, in der innern Gesamtanschauung genau so enthalten ist, wie wir bereits im ersten Kapitel die Einzelqualität vor ihrem vollen Bewußtwerden in der äußeren Gesamtanschauung enthalten sahen. Wir kehren nun zum Wahrnehmungsurteil zurück. Gegen unsere Behauptung, daß hier wirklich ein Urteil vorliege, könnte man sich mit der Begründung sträuben, daß das „Ja“ zwar vorkomme, nicht aber das „Nein“, daß also gerade die für das urteilende Verhalten charakteristische Alternative fehle. Dem ist zuzugeben, daß tatsächlich das „Ja“, das positive thetische Urteil, eine wichtigere Rolle spielt, als das negative. Durch das bejahende thetische Urteil, welches vorbegrifflich das Vorhandensein einer außersubjektiven Welt feststellt, beginnt diese Welt zu existieren. Dieses Urteil ist also fundamental für alles Folgende. Dem gegenüber befindet sich das Urteil „A ist nicht“ in einer nicht ganz vollwertigen Position. Denn das Verneinen einer Anschauung ist nicht etwa beim phantasiemäßigen Vorstellen gegeben, wie man für einen Moment annehmen möchte; vielmehr zeichnet sich letzteres eben durch Abwesenheit von „Ja“ und „Nein“ aus. Die Vorstellungen, die nicht Wahrnehmungen werden, sind eben einfach gegenwärtig, ohne anerkannt oder verworfen zu werden. Erst im Zweifelfall, oder wenn ein solches Phantasiebild als existierend angenommen wurde und sich dann als bloße Einbildung erweist, tritt die effektive Verneinung auf: „A ist nicht“. Grenzfälle zwischen Phantasie und Wirklichkeit sind also das Gebiet dieses negativen thetischen Urteils, und wir haben es dem relativ richtigen Funktionieren unserer Sinne zuzuschreiben, daß es zu diesem Urteil nicht allzuhäufig | 34 | kommt. Auch wird es im Gegensatz zum positiven thetischen Urteil, meist als Abschluß einer starken Gemütsbewegung, in hoher Aufmerksamkeit stehen. Durch diese das positive thetische Urteil in gewisser Hinsicht voraussetzende Stellung des negativen thetischen Urteils darf man sich aber nicht verleiten lassen, das Urteil „A ist nicht“ als eine bloße Negation des Inhalts des Urteils „A ist“ zu erklären und es sohin als Abkürzung der Formel: „Es ist nicht, daß A ist“ hinzustellen. Denn abgesehen davon, daß in dieser Formel das negative thetische Urteil, das man etwa wegschaffen wollte, doch vorkommt („Es ist nicht . . .“) scheint auch die Selbstbeobachtung das Vorkommen des negativen thetischen Urteils als einer echten Grundfunktion zu erhärten. Man beobachte sich nur einmal, wenn man einer verhallenden Militärmusik nachlauscht bis zu dem Punkte, in dem die letzten leisen Töne und ein Nachklingen im Ohre nicht mehr leicht auseinanderzuhalten sind. Der Akt, mit dem man ohne abstrakte Überlegung den Klang als bloße Einbildung verwirft und sich ganz instinktiv etwa vom Fenster weg wieder zu seiner Arbeit wendet, steht jedenfalls dem vorbegrifflichen „A ist nicht = Urteile“ sehr nahe.

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Indem wir so die Wahrnehmung vor allen Vorstellungen durch das Vorhandensein des thetischen Urteils ausgezeichnet sein ließen, sind wir hart an den Bezirk des folgenden Einwands geraten: Wenn der Unterschied zwischen Wahrnehmung und den übrigen Vorstellungen, z. B. der Phantasievorstellung im urteilenden Verhalten des Subjekts liegt, welche Umstände veranlassen das Subjekt, einmal „A ist“, dann wieder „A ist nicht“ oder überhaupt nicht zu urteilen? Liegt das vollkommen in der Willkür des Subjekts, dann verliert es jeden Sinn, von der „Richtigkeit des Urteils“ zu reden. Soll aber das jeweilige Verhalten des Subjekts dem objektiven Tatbestand irgendwie entsprechen, müßte man dann nicht auch objektive Unterschiede, also Verschiedenheit der dem Urteil | 35 | zugrundeliegenden Vorstellung annehmen? Gibt es aber solche Unterschiede im Objekt, wozu bedarf es dann noch eines Wirklichkeit und Phantasievorstellung unterscheidenden Urteils? Dieser Einwand hat nicht geringe Ähnlichkeit mit der Beunruhigung, die man an einer Stelle des Kantschen Systems verspürt: Kant gibt genau die apriorischen Formen an, mit denen das Subjekt die Sinnlichkeit ausstattet; – aber wieso, durch welche Zauberkraft, wird das Subjekt bestimmt, bald diese, bald jene Kategorie auf die Außenwelt anzuwenden? Der oben gemachte Einwand hat auch einen ontologischen Sinn, indem gefragt werden kann: Was ist fundamental, was ist Voraussetzung für das andere, was ist das frühere: der Unterschied in Objekt oder das Verhalten des Subjekts? Wenn auch unsere Untersuchung durchaus nur psychologisch sein will, so weichen wir dennoch an dieser Stelle einem kurzen ontologischen Exkurs nicht aus, da wir sonst eine Lücke und einreißende Unklarheit befürchten müßten. – Das aufgeworfene ontologische Problem stellt sich uns nun im Anschluß an die Ausführungen Marty’s 〈…〉 folgendermaßen dar 〈Marty 1908, S. 307ff.〉: Das objektive „Sein von A“ heißt nichts anderes, als daß A mit Recht anerkannt werden kann, daß ein Urteil „A ist“, wenn es gefällt würde, richtig wäre. Trotzdem wäre es irrig, wollte man annehmen, daß das Urteil „A ist“ das Sein von A nicht bloß konstatiert, sondern direkt erschafft, Denn A ist ja, bevor wir urteilen, auch ohne daß wir urteilen, und durch das Urteil erfahren wir eben etwas von uns Unabhängiges. Hieße Urteilen – in psychologistischer Weise – das Sein nicht konstatieren, sondern erst schaffen, hinge also das Urteil nur vom Subjekte ab, so wäre es ja möglich, in demselben Moment dasselbe zu bejahen und zu verneinen. Es ist also das Sein eines Objekts Voraussetzung für ein richtiges anerkennendes Urteil, und wir kennen auch keinen andern Sinn davon. Andererseits erfahren wir aber das Sein nicht früher, | 36 | bis wir das Urteil „A ist“ fällen, vielmehr sind dieses Urteilen und dieses Erfahren identische Erlebnisse. Objektiv ist also die Existenz vor dem Existentialurteil da, subjektiv aber, –für

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uns– erschaffen wir die Existenz im Urteil, denn es gibt für uns keinen anderen Weg sie zu erkennen, als das (sie zugleich für uns schaffende) Existentialurteil. Ontologisch gesprochen gibt es also einen objektiven Unterschied zwischen Wahrnehmung und Phantasievorstellung; er ist Voraussetzung für ein verschiedenes subjektives Verhalten, ja er kann gar nicht anders als durch dieses verschiedene Verhalten zu Bewußtsein gebracht werden, er erschöpft sich für uns darin, daß er für dieses unser Verhalten Voraussetzung ist. Vergleicht man dagegen, was phänomenal bei einer Wahrnehmung und einer Phantasievorstellung gegeben ist, so scheint auch hier dem verschiedenen subjektiven Verhalten ein Unterschied im Objekt in dem Vorgestellten zu entsprechen. Das Phantasiebild ist in der Regel weniger stark, es tritt unter wohlbekannten Begleitungständen auf. Wenn wir auch die von Ebbinghaus angegebenen Charakteristika der Phantasievorstellungen (die er Vorstellungen nennt) den Empfindungen (d. i. den Wahrnehmungen) gegenüber, nämlich 1. Blässe und Körperlosigkeit, 2. Lückenhaftigkeit und Armut an unterscheidbaren Momenten, 3. Unbeständigkeit und Flüchtigkeit – namentlich die sub. 2 angeführten – nur als graduelle Unterschiede von den Wahrnehmungen anerkennen können, so ist doch wenigstens dieser Gradunterschied vorhanden. Nun haben aber neuere experimentelle Untersuchungen, insbesondere Koffka’s 〈Koffka 1912, S. 192ff.〉, gezeigt, daß in gewissen Fällen zwischen Wahrnehmung und Phantasie-Vorstellung tatsächlich gar kein vorstellungsmäßiger Unterschied besteht. In diesem Fall spielen dann Urteilsmotive mit, die zwar auch nichts anderes sind, als objektive Differenzen, welche aber freilich nicht in dem gesucht werden können, was man „äußeres Objekt“ zu | 37 | nennen pflegt. Das Urteilsmotiv kann dann vielleicht in Spannungsempfindungen des Körpers, in den Empfindungen irgendwelcher Bewegungen oder Verschiebungen liegen, durch die man sich davon zu überzeugen sucht, ob das Organ funktioniert oder nicht, – wie das etwa ganz grob die volkstümliche Vorstellung andeutet, daß man sich an der Nase zwickt, um Traumbild und Wirklichkeit zu unterscheiden. Und so gibt es neben dem eigentlichen Objekt noch eine Menge objektiver Differenzen, die uns Kriterien für die Urteilsentscheidung werden. Mag aber diese objektive Differenz wo immer liegen, keinesfalls erscheint, wenn sie vorhanden ist, das Urteil überflüssig. Das zeigt uns die Selbstbeobachtung über jeden Zweifel erhaben. Es mag sich in der Vorstellung nur eine ganz geringe Nuance ändern; wenn dadurch unser Urteil geändert wird, wenn diese Nuance Urteilsmotiv war, erfahren wir eine so gewaltige Änderung, eine derartige Umwälzung unseres Verhältnisses zu dieser Vorstellung, wie sie unmöglich begreiflich wäre, wenn sich wirklich nichts anderes abgespielt hätte, wie jene kleine Vorstellungsänderung. In vielen Fällen zeigt uns so die innere Erfahrung

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ganz evident das Vorhandensein eines vom bloßen Vorstellen fundamental verschiedenen Verhaltens; sehr auffallend erfahren wir dies auch in Grenz- und Zweifelfällen, wie nicht bloß gleichsam ein Druck auf die einzelnen Organe erfolgt, um sie zu besserem Hinschauen, feinerem Hinhören, Schnuppern, also zu genauerer Erfassung des Objektes anzuspornen, sondern wie auch unsere Urteilsfähigkeit angestrengt wird, wie die beiden Urteile „A ist“ und „A ist nicht“ in Bereitschaft stehen, um sofort nach erfolgter Prüfung einzufallen. Ja es kann direkt beobachtet werden, daß die genauere Kenntnis des Objekts nur als Material, und zum Zwecke der richtigen Urteilsfällung angestrebt wird. Der Unterschied im Objekt ist also keine hinreichende Erklärung dafür, daß wir Wahrnehmung und Phantasievorstellungen unter- | 38 | scheiden. Die Frage, ob Phantasie oder Wirklichkeit, entscheidet immer nur das Urteil. – Auch der zweite Grundtypus, das synthetische Urteil wird bereits mit wichtiger Funktion im vorbegrifflichen Stadium angetroffen; es ist jenes Urteil, bei dem es sich nicht bloß um ein Anerkennen, sondern nebst dem noch um ein Verbinden, Zusammenfassen sei es nun in identifizierender oder zuerkennender Form handelt. Die Formel hierfür ist „A ist B“, resp. genauer, wie Marty nachgewiesen hat, „A ist (existiert) und ist B“. Diesem synthetischen Urteil verdanken wir die Gegenständlichkeit der Welt. Es schafft im vorbegrifflichen Stadium in der Anschauung, die durch das thetische Urteil nur zu etwas außer uns Existierendem gemacht worden war, die Dinge. Hier ist der Ursprung des Substanzbegriffes zu suchen. Es ist damit ein letztes psychisches Moment berührt und wenn auch dessen Beobachtung nicht allzuschwierig ist, so ist es die Beschreibung umsomehr, da eine weitere Zurückführung nicht möglich ist. Wir haben es hier mit einem eigenartigen In-Eins-Fassen verschiedener Anschauungsstücke zu tun, mit einem Vereinheitlichen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht, das uns die räumliche und zeitliche Identität schafft; die Identität gewisser Orte der verschiedenen Sinnesfelder und die Identität trotz Wechsel in der Zeit, und das Resultat dieser Identitäten das Ding, die Substanz. Denn in diesem In-Eins-Fassen verschiedener Empfindungen, insbesondere der Qualitäten verschiedener Sinne, in dieser schöpferischen Konstatierung, daß dieses Weiße zugleich dieses Süße und dieses Harte usw. ist, sowie in der Beharrlichkeit dieser Einheit trotz Wechsel der Qualitäten in der Zeit, – dies gilt natürlich nur, insoweit der Wechsel im Vorbegrifflichen überhaupt zum Bewußtsein kommt, – darin liegt das rätselhafte Wesen des Dinges. Und all dies wird durch das vorbegriffliche synthetische Urteil erzeugt. | 39 | Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß dieses Urteil vorbegrifflich ist. Subjekt und Prädikat bedarf in diesem Stadium keineswegs begrifflicher

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Fassung. Es sind ungegliederte Anschauungsstücke, nur insoweit gegliedert natürlich, daß sie von einander unterschieden werden. Die Erfahrung daß „dieses Gesehene“ auch „dieses Tönende“ ist, setzt die begriffliche Formung dessen, was gesehen und gehört wird, eben nicht voraus. Ebenso klar ist es aber auch, daß dieses Urteilen analog dem thetischen kein einmaliger Akt ist, sondern ein dauerndes Verhalten. Auch hier darf man sich durch den sprachlichen Ausdruck nicht irreleiten lassen. Wir verhalten uns der Außenwelt so gegenüber, daß wir sie, sind die Voraussetzungen gegeben, gegenständlich d. i. als Dinge auf fassen. Und was uns einmal Ding ist, bleibt uns auch weiter Ding, – insolange die Voraussetzungen bestehen, – oder präziser, halten wir auch weiter als Ding zusammen. Natürlich finden wir das synthetische Urteil auch außerhalb der vorbegrifflichen Anschauung. Bietet sich ihm die gegliederte und begrifflich erfaßte Anschauung als Materie dar, so erkennen wir in diesem Urteil das kategorische der traditionellen Logik, das auch die Form für den sprachlichen Ausdruck des synthetischen Urteils für alle Arten liefert. So ist es im Grunde nur ein Unterschied der Materie, wenn das vorbegriffliche Identitätsurteil Anschauungen verschiedener Sinnesfelder zusammenfaßt, während das kategorische Urteil Qualitäten, die bereits aus der Anschauung herausanalysiert sind, oder Begriffe als Subjekt und Prädikat vereinigt. Die Behandlung dieses begrifflichen Urteils ist jedoch nicht mehr unsere Aufgabe, und wir wenden uns dem dritten Grundtypus, dem Notwendigkeitsresp. Unmöglichkeitsurteile zu. Da uns aber ein näheres Eingehen auf dieses Urteil erst bei Besprechung des wissenschaftlichen Begriffes angezeigt erscheint, erwähnen wir es hier bloß der Vollständigkeit hal- | 40 | ber und verweisen auf die diesbezügliche Untersuchung im 9. Kapitel. Macht man sich das Wesen dieser vorbegrifflichen Dauerurteile klar, so ergibt sich, daß wir damit der Kantschen Verstandesform – was wenigstens ihre psychologische Auslegung betrifft, – recht nahegekommen sind. Und daher könnten wir uns, wie wir oben sagten, in der Gomperzschen Terminologie als Kritizisten bezeichnen. Nur fühlen wir uns, sagten wir weiter, durch die Gomperzsche Argumentation gegen den Kritizismus nicht getroffen. Denn Gomperz vermißt hauptsächlich die psychologische Aufzeigung jener Phänomene, die zur Anschauung gestaltend hinzutreten sollen. Tatsächlich bemüht sich ja auch Kant um einen solchen psychologischen Nachweis nicht, sondern beweist das Vorhandensein derartiger Denkformen durch die transzendentale Deduktion. Wir glauben hier nun diese Phänomene gezeigt zu haben. Das begriffliche vollbewußte Urteil gibt uns Gelegenheit, die Eigenschaften der Urteile zu erkennen, und wir vermögen sie dann auch in jenen Gebieten zu finden, wo die Umstände

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eine scharfe Erfassung dieser psychischen Ereignisse nur schwer möglich machen. Das Phänomen der „Uneigentlichen Bewußtheit“, in welcher sich diese vorbegrifflichen Urteile abspielen, wird uns noch eingehend zu beschäftigen haben (3. Kapitel), und es dürfte sich dann erst das rechte Licht über diese Probleme verbreiten. Wir werden dann sehen, wie das künstliche Bewußtwerden des Uneigentlich-Bewußten, das dadurch erzeugt wird, daß man auf dieses Uneigentlich-Bewußte aufmerksam wird, auf derselben Stufe steht, wie das natürliche Aufsteigen des Uneigentlich-Bewußten zum Eigentlich-Bewußten, wie das automatische Hervortreten eines Anschauungsstückes aus der verschwommenen Gesamtanschauung, und daß, was das Wichtigste ist, dieses neue Anschauungsstück nicht als etwas Fremdes betrachtet wird, das von außenher hinzutritt, sondern ohne jedes Schwanken, wie selbstverständlich, als dasselbe | 41 | angesehen wird, das in der Gesamtanschauung bereits im verschwommenen Zustand vorhanden war. So können wir uns dann auf dem Wege genauester Beobachtung und künstlicher Bewußtmachung diesem vorbegrifflichen urteilenden Verhalten, das uns die Welt als existierend erschafft und die Anschauungen zu Dingen zusammenhält, bis aufs äußerste nähern und die Eigenschaften wiedererkennen, die uns das begriffliche Urteil gekennzeichnet haben. Es darf übrigens nicht vergessen werden, daß auch beim begrifflichen Urteil dasjenige, was uns zunächst ins Bewußtsein fällt, nämlich der sprachliche Ausdruck des Urteils, nicht das Urteil selbst ist. Das eigentliche Urteil ist auch hier ein dauerndes Verhalten, welches dem einmaligen, scharfgeschnittenen Akt eines sprachlichen Ausdrucks gegenüber in bedeutend geringerer Bewußtheit steht. Einmal darauf aufmerksam gemacht, wird es uns aber nicht schwer fallen, das eigentliche Urteilen gesondert von dessen sprachlicher Mitteilung bewußt zu erleben. – Haben wir somit erkannt, daß beim thetischen und synthetischen Urteil begriffliche Materie nicht notwendig ist, daß Urteile Dauerakte sind und daß sie, wie jeder Teil der äußeren wie inneren Anschauung uneigentlich-bewußt sein können, so steht nichts im Wege, diese vorbegrifflichen Vorgänge, die sonst alle Eigenschaften der Urteile zeigen, als wirkliche Urteile anzuerkennen. So ist es uns denn gelungen, die gesuchte psychische Tätigkeit, die zur Anschauung hinzutritt, in dem oben beschriebenen Dauererlebnis zu finden, in einem fortwährenden Setzen, in einem ständigen Zusammenhalten. Und gegen ein solches Erlebnis kann Gomperz im Prinzip nichts einwenden; aus dem einfachen Grunde, weil er selbst ein solches Erlebnis kennt. Nur klassifiziert er es als Gefühl, während wir darin ein Urteil zu erkennen glauben. Und daran müssen wir festhalten, auch wenn wir jene Tatsache, die Gomperz als Hauptstütze seiner

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| 42 | Ansicht anführt, nämlich die Totalimpression, als äußerst glückliche Beobachtung anerkennen; auch bei uns kommt ja die der Totalimpression zugrundeliegende Tatsache, daß der Gesamteindruck vor dem in ihm enthaltenen (eingebetteten, sagt Gomperz,) Qualitäten erlebt wird, in der Darstellung der Gesamtanschauung zur Geltung. Doch können wir wieder in dieser Gesamtanschauung kein Gefühl sondern nur Anschauung erblicken. Ist sie zwar oft Gegenstand von Gefühlen, so ist sie doch selbst nur Anschauung. Nur dann ließe sich hier von Gefühlen sprechen, wenn man den Terminus so verändert, daß jenes erste Erlebnis des Setzens und Zusammenhaltens noch darunter fiele. Eine solche Änderung eines der ältesten Begriffe der Psychologie erscheint uns aber umso weniger am Platze, als wir aus den angeführten Gründen glauben, in dem beschriebenen Erlebnis mit Recht ein Urteil erblicken zu dürfen. | 43 |

Drittes Kapitel Die Verschwommenheit Die vorbegriffliche Anschauung, die durch das thetische und synthetische Urteil zum Range der uns umgebenden, aus Dingen bestehenden Außenwelt erhoben ist, haben wir nun zu einem Stadium geführt, in dem einzelne Stücke dieser Welt vermöge ihrer Gleichheit sich verstärkt und herausgehoben haben. Wie am Schlusse des 1. Kapitels ausgeführt, ist diese Gleichheit nur eine phänomenale, nicht objektiv gegebene, und da die Sinne allmählich sich schärfen, die Aufmerksamkeit geübt wird, kann es nicht fehlen, daß endlich in der gegenseitigen Verstärkung der sich wiederholenden, nicht ganz gleichen Komplexe Störungen eintreten. Man denke z. B. an einen Hund Karo, der sich im Kinderzimmer befindet, und den das Kind so oft sieht, daß sich dessen Bild verstärkt und aus der Gesamtanschauung hervorhebt. Ob der Hund liegt oder steht, das macht zunächst keinen Unterschied, das wird gar nicht bemerkt, das verhindert nicht, daß dem Kinde diese Eindrücke als „phänomenal gleich“ gegeben sind und einander verstärken. Indessen aber bleibt die Veränderung, die darin besteht, daß der Hund bald liegt, bald steht, nicht ohne Wirkung, sie wird zwar nicht sachlich erfaßt, reizt aber die Aufmerksamkeit doch in der oben beschriebenen (1. Kapitel) Art. Dazu kommt, daß sowohl Stehen, als auch Liegen des Hundes sich wiederholen, also allmählich verstärken, so daß nach und nach jeder dieser Zustände für sich allein hervortritt. Dadurch sind nun phänomenal verschiedene Teile ins Bewußtsein getreten und der ursprüngliche Gleichheitskomplex ist zerfallen. Es haben sich zwei kleinere Gleichheitskomplexe gebildet. Da aber in jedem von diesen natürlich immer noch objektive Veränderungen vor sich gehen, erzwingen sich neue Verschiedenheiten Beachtung. Es ist leicht einzusehen, daß auf diese Art die Welt in immer kleinere An- | 44 | schauungsstücke zerfallen muß, da ja keiner ihrer Teile objektiv ungegliedert und stationär bleibt, daß dieser Prozeß bis an die Grenze der optischen oder sonst organischen Leistungsfähigkeit geht, wobei aber die großen Zusammenhänge und Gleichheiten vollständig verloren gehen. Das Chaos also, aus dem vermittelst der phänomenalen Gleichheit die Welt gerettet wurde, tritt vermöge ebenderselben Gleichheit in veränderter Gestalt wieder ein. In der Tat wäre dies die Entwicklungsreihe unserer Welt, wenn diese in der sinnlich gegenwärtigen Anschaulichkeit beschlossen bliebe. Eine Auflösung in sehr viele Ungleichheiten, von denen jede durch eine gleiche Dosis Gleichheit noch gerade so weit gestützt wird, daß sie überhaupt erfaßt werden kann. – Dieser parzellierenden Entwicklungstendenz wirkt aber von allem Anfang an

DOI 10.1515/978311053719-007

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eine zusammenfassende direkt entgegen, die in letzter Linie zum Begriff führt. Die anschauliche Reihe arbeitet zu immer geringfügigeren Gleichheiten hinunter, die begriffliche zu immer weiteren Gleichheiten hinauf. Kehren wir zum vorigen Beispiel zurück: die Gesamtanschauung „Hund“ ist durch die entgegenwirkenden Anschauungen „stehender Hund“ und „liegender Hund“, soweit es sich um den unmittelbaren anschaulichen Eindruck handelt, aufgehoben worden. Ist sie aber dadurch ganz vernichtet, überhaupt aus der Welt verschwunden oder kann sie irgendwie, in einem höheren Analogon, gleichsam mit verbesserter Struktur, wiederhergestellt werden? Unsere Untersuchung ist damit zu einem Wendepunkt gelangt, an dem sich uns das Phänomen der „Verschwommenheit“ zur Ermöglichung der oben erwähnten zusammenfassenden Entwicklungsreihe darbietet; ein Phänomen, das eigentlich auch schon in dem bisher Dargelegten mit seinen komplizierten Ausläufern in die Erscheinungen der Aufmerksamkeit und des Unterbewußten mitgespielt hat, zu dessen Erörterung wir uns aber die Vor- | 45 | bedingungen erst durch Konstatierung und Beschreibung der vorbegrifflichen Welt schaffen mußten. Dieses Phänomen läßt sich zunächst in dem oberflächlich scheinenden, später aber tiefere Bedeutung erlangenden Satz fassen: daß unser ganzes Vorstellungsmaterial, sei es anschaulich gegenwärtig oder Erinnerungsbild, an einer Skala teilnimmt, die man in dem Sinne „Verschwommenheitsskala“ nennen mag, daß eine Vorstellung, längs dieser Skala in der einen Richtung verschoben immer verschwommener, in der entgegengesetzten Richtung verschoben immer schärfer wird; daß mithin durch Bestimmung des Punktes, den eine Vorstellung auf dieser Skala einnimmt, ihr Verschwommenheitsgrad gegeben ist. Um nun den Sinn des Wortes „verschwommen“ unverlierbar zu präzisieren, seien zunächst regellos einige Fälle herausgegriffen, in denen dieses Wort üblicherweise verwendet wird. – „Verschwommen“ in diesem volkstümlichen Sinne nennt man allzuweit entfernte Gegenstände; allzu kleine oder schlecht beleuchtete oder von Nebeln umhüllte Körper; Gegenstände an der Peripherie des Sehfeldes; Gegenstände wie sie dem unbewaffneten, kurzsichtigen Auge erscheinen; solche, die nur ungenau, unaufmerksam betrachtet werden; Vorgänge, an die man sich nicht mehr recht erinnern kann und die doch in einer gewissen Bildhaftigkeit dem Gedächtnis gegenwärtig sind, alles, was sich irgendwie verwaschen dem Auge darbietet, z. B. eine Theaterkulisse, eine Wolke, Dampf, eine infolge unscharfer Einstellung schlechtgeratene photographische Aufnahme usf. Es fragt sich, ob in dieser Fülle scheinbar ganz verschiedenartiger Phänomene eine gemeinsame Eigenschaft die Berechtigung zu dem gemeinsamen

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Terminus „verschwommen“ gibt. Dabei trachten wir vorerst rein deskriptiv vorzugehen; nur der phänomenologische Tatbestand interessiert uns. Dieser bietet sich gewiß am besten und offensten dort, wo das Verschwommene gleichsam fixiert, unveränderlich geworden ist. | 46 | Geht man von solchen statischen Fällen aus, ohne die der gewissermaßen dynamischen, wechselnden Verschwommenheit aus dem Auge zu lassen, vergleicht man also etwa eine verschwommene photographische Platte mit einer schärferen oder einen aus der Ferne gesehenen Wald mit einem nahen, so ergeben sich als charakteristische Merkmale der Verschwommenheit 1. eine geringe Intensität, 2. eine gewisse Dunkelheit resp. Blässe der Vorstellung, 3. verwischte Grenzen ihrer Teile, z. B. Übergang der Flächen ineinander, statt der Grenzlinien gibt es Bänder, 4. Vermischung der benachbarten Farben. D. h. aus zwei oder mehreren an Intensität und Ausdehnung annähernd gleichwertigen Farben entstehen Mischfarben; war eine Qualität im Verhältnis zu den andern schwach, so verschwindet sie ganz wie etwa das Fasergerippe eines aus der Ferne gesehenen Blattes, das Geäst einer Baumkrone, 5. die Folge der angeführten Eigenschaften ist, daß die Vorstellung aus einer geringeren Anzahl differenter Eindrücke besteht. An Stelle der wegfallenden Eindrücke sind aber nicht etwa Lücken, auch nicht das Eigenlicht der Netzhaut (schwarz) getreten, sondern die dominierenden Teilqualitäten, einzeln oder als Mischung. Es zeigt sich, daß alle diese Eigenschaften im Zusammenhang mit einer mehr oder minder günstigen Funktion des Organs, mit einer größeren oder geringeren Organausnützung stehen. Verschwommenheit ist mithin jene graduell abgestufte Eigenschaft einer Vorstellung, deren Steigerung einer durch angespannte Tätigkeit des Organs entstehenden Steigerung entspricht. Diese gesteigerte bzw. mangelhafte Organausnützung entsteht nun 1. aus physiologischen Gründen, 2. infolge äußerer physikalischer Bedingungen für die Funktion des Organs, die für das Auge (wir exemplifizieren der Einfachheit halber nur auf das optische Sinnesfeld) etwa als Entfernung, Helligkeit des Objekts, Dauer des Eindrucks anzugeben wären, 3. infolge größerer oder geringerer Aufmerksamkeit. | 47 | Die Beiordnung des 3. Punktes zu den zwei vorhergehenden dürfte zunächst gewagt erscheinen, führt uns aber gerade in den Kernpunkt des Problems. Ist wirklich die Veränderung, die im Bilde, z. B. eines Sofas mit seinem komplizierten altmodischen Schnitzwerk und Samtmuster vorgeht, wenn ich mich körperlich ihm nähere, also die physikalische Einstellung ohne Änderung der Aufmerksamkeit verbessere, dieselbe wie die, welche das Bild bei Erhöhung meiner Aufmerksamkeit in gleichbleibender Entfernung erleidet? Unsere Antwort: Im Wesen ja. Die Einschränkungen werden wir später entwickeln, nach-

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dem wir zunächst die Verknüpfung des Aufmerksamkeitsproblems mit dem Verschwommenheitsproblem dargelegt haben. Die Beschreibung des aufmerksamen Verhaltens (auf diese allein kommt es uns hier an) lautet verschieden: die Psychologen sprechen von besonderer Lebhaftigkeit, Klarheit, Aufdringlichkeit, Deutlichkeit, Explizität, Erfassung, Anstrengung, Spannung des Vorstellungserlebnisses. Lipps nimmt eine besondere „psychische Kraft der Vorstellung“ an, die sich unter Umständen bis zur „Apperzeption“ steigert 〈Lipps 1903, S. 34〉. Die all diesen Kriterien zugrunde liegende Eigenschaft suchend, gelangt man dazu, die Veränderungen, die das phänomenal gegebene Objekt und das Subjekt des Erlebnisses erleiden, auseinanderzuhalten. Von der Seite des Objekts aus, auf das sich die Aufmerksamkeit richtet, ist diese Veränderung nichts anderes als eine Verschiebung in der Verschwommenheitsskala, ein Schärferwerden des Objektes. Dies lehrt die einfache Beobachtung. Sieht man z. B. einen Blumenstrauß flüchtig an und erinnert sich dann, daß hier ein Anspannen der Aufmerksamkeit sich lohnen würde, so gliedert sich, unter dem jetzt aufmerksameren Blick, das Bukett in seine einzelnen Blumen, die Blume in ihre kleinen, zart aber bestimmt gegeneinander abgegrenzten Farben und Schatten, die alle auch schon vorher da waren, in dem flüchtigen Gesamteindruck aber zu einer blassen un- | 48 | gewissen Mischung verschwommen blieben. Freilich findet ein solches gleichmäßiges Anspannen der Aufmerksamkeit relativ selten statt, gewöhnlich nimmt die Aufmerksamkeit eine gewisse Richtung, wovon später die Rede sein wird. Aber auch bei einer solchen besonders gerichteten Aufmerksamkeit (die etwa das Bukett daraufhin untersucht, ob Rosen da sind und wie viele) geht es nicht ohne ein Schärferwerden der einzelnen Teile der Gesamtanschauung ab. Nur tritt neben der Verschärfung eine Auswahl ein und die nicht gewählten Teile verschwimmen sofort wieder; oder es trifft die Auswahl von Anfang an nur die richtigen Teile und die andern werden gar nicht verschärft. – Einen interessanten Beleg für den eben dargestellten Zusammenhang der Aufmerksamkeit mit dem Verschwommenheitsphänomen, genauer: dafür, daß durch bloße Aufmerksamkeitsverschiebung Mischfarben (in denen wir ein wichtiges Charakteristikon des „Verschwommenen“ sehen) auftreten, gibt E. R. Jaensch in seiner fundamentalen Arbeit „Über die Wahrnehmung des Raumes“ 〈Jaensch 1911〉, wo er teilweise im Anschlüsse an die Theorie der impressionistischen Malerei die Farbe des „ambiante“, d. i. des Luftraumes zwischen den Dingen, sowie zwischen dem Betrachter und den Dingen untersucht. Bei aufmerksamer Betrachtung der Gegenstände erscheint dieser Zwischenraum nahezu farblos, während die Farben der Gegenstände scharf gesondert bleiben; bei flüchtigem Hinsehen zeigt sich

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eine Mischfarbe im Zwischenraum. – Gegen die Ansicht Stumpfs 〈…〉, daß das Objekt bei veränderter Aufmerksamkeit keine Änderung erleidet, sondern daß nur die Auffassung des Objekts sich ändert 〈Stumpf 1890, S. 11〉, vergleiche man die Argumentation von Cornelius (〈Cornelius 1892〉, bes. S. 423ff. u. 443ff., 〈und Cornelius 1893〉, S. 36ff.). Zu dem eben geschilderten Verschärfungseffekt im Objekt, welchen die Aufmerksamkeitssteigerung mit der Verbesserung | 49 | der physiologischen und physikalischen Bedingungen gemein hat, tritt als konstituierend für das aufmerksame Verhalten: das subjektive Phänomen der Anstrengung, Anspannung. Dieses ist nicht etwa das bloße Bewußtsein des besondern inneren Aktes, z. B. eines Urteils oder eines Gefühls, so also, daß die auf ein äußeres Objekt gerichtete Aufmerksamkeit in dem besonders deutlichen Bewußtsein des Wahrnehmens dieses Objekts bestünde. Es erschöpft sich auch nicht, wie Ribot annahm, in den Begleiterscheinungen dieser Anstrengung, wie etwa in Muskelkontraktionen, Spannungsempfindungen (vgl. hingegen Dürr 〈1907〉). Diese Anspannung tritt vielmehr als subjektives Korrelat der objektiven Verschärfung direkt ins Bewußtsein, wie auch Bergson 〈Bergson 1902〉 gezeigt hat. Die beiden Grundphänomene der Aufmerksamkeit (objektive Verschärfung und subjektive Anspannung) treten in zwei Kombinationen auf. 1. Als Verbindung einer nur flüchtigen oder momentanen objektiven Verschärfung mit der subjektiven Anspannung können wir nun exakter den im 1. Kapitel sogenannten „Verschiedenheitsruck“, das uneigentliche Auffallen agnoszieren. Diese „uneigentliche Aufmerksamkeit“ führt noch zu keiner Gliederung der Gesamtanschauung, nur zu einer vorübergehenden Reizung des Bewußtseins. Wir erleben solche Reizungen nicht nur im Vorbegrifflichen, sondern (und damit weisen wir den Leser zur Bekräftigung dieser Partien des 1. Kapitels an die Selbstbeobachtung) eine analoge Wirkung des Mannigfaltigen und Wechselnden bringt uns recht eigentlich jeder Tag. Ununterbrochen werden wir von Dingen angetippt, die sich nur als „etwas Neues, etwas anderes“, als Veränderung bemerkbar machen, denen wir aber unser Interesse nicht soweit zuwenden, daß wir uns bemühen zu erfahren, was für Dinge das eigentlich sind. Freilich tritt in unserer schon ge- | 50 | deuteten Welt, sobald wir nur das geringste Bedürfnis danach haben, jedes Ding mit Hilfe der früher erfahrenen gleichen Eindrücke, die es auf Wunsch verstärken, sofort heraus. Die objektive Verschärfung verlängert sich, die subjektive Aufwallung flaut nicht sofort ab, der Eindruck wird festgehalten. Legen wir aber auf dieses Festhalten einmal keinen Wert, so bleibt z. B. von einer langen Eisenbahnfahrt, während der man, anderen Gedanken nachhängend, zum Fenster hinausgeschaut hat, nichts übrig als die Erinnerung an eine verworrene Unruhe, ein immerwährendes Zugrei-

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fenwollen ohne Erfolg. Ebenso geht es bei Eindrücken von zu geringer Dauer: Irgend etwas ist geschehen, unsere Aufmerksamkeit hat gezuckt und hat nichts Festes erhaschen können. – Solche Eindrücke uneigentlichen Auffallens sind aber die Regel, nur wenige Stellen unserer jeweiligen Umgebung heben sich heraus, im übrigen bleiben wir tief ins Vorbegriffliche eingebettet, das, im 1. Kapitel als bloße bescheidene „Konstruktion“ vorgeführt, als lebendige Wirklichkeit, wie wir jetzt einsehen, uns stündlich bedrängt und beglückt. 2. Tritt zu dem Tatbestand der uneigentlichen Aufmerksamkeit das Erfassen eines Einzelstückes der Anschauung, so liegt die „Aufmerksamkeit im eigentlichen Sinne“ vor. Aus der allgemeinen Verschärfung, die vorher planlos, ruckweise über die Gesamtanschauung hinirrte, ist die Hervorhebung einer Einzelqualität oder eines Komplexes geworden. Motiv hierzu ist, wie im 1. Kapitel ausgeführt wurde: Wiederholung des Gleichen, Intensität oder Gefühlsbetonung. Zu diesen, die auch im Vorbegrifflichen wirken, kommen als allerwichtigstes Motiv für die schon gegliederte Welt: die schon bestehenden, im Bewußtsein aufgespeicherten Vorstellungen, die ebenso wie die Gleichheit eine richtunggebende Herrschaft über die Aufmerksamkeit ausüben, wobei sie die verschiedenartigen Formen vom Erinnerungsbild bis zum komplizierten Begriff innehaben. | 51 | Nun können wir den Unterschied zwischen der objektiven Schärfung des Objekts bei Aufmerksamkeitssteigerung und jener bei Verbesserung der physiologischen oder physikalischen Bedingungen schon präzisieren. Der Unterschied betrifft 1. die subjektive Seite, die nur beim Aufmerken als geistige Anstrengung gegeben ist. 2. Auch objektiv liegen recht divergente Tatbestände vor, eine verschiedene Schnelligkeit und Verbreitungsart der Schärfung. Der weitere Unterschied hängt vom Aufmerksamkeitsmotiv ab, also von dem Grunde, aus dem der Gegenstand mit gesteigerter Aufmerksamkeit betrachtet wird: ist dieser Grund z. B. ein Erinnerungsbild des Gegenstandes, so verschärft sich das Bild vorzüglich in der durch die Erinnerung gegebenen Richtung, steigert sich sprunghaft, bedient sich eventuell einer Fiktion, nimmt Dinge als schon gesehen an, die das Auge noch gar nicht sehen kann und die ihm nur das Gedächtnis verrät, während beim optischen Näherrücken das Auge natürlich unabhängig von solchem Erraten, also wesentlich langsamer und unbeholfener sich Aufklärung verschaffen muß. Kompliziert wird dieser Fall dadurch, daß beim Näherrücken die Intensität eines Teiles Aufmerksamkeitsmotiv werden kann und daß von hier aus vielleicht über Assoziationen und Gedächtnisbilder hinweg der ganze Vorgang verwischt wird. – Aus all dem geht aber hervor, daß das Wesen des objektiven Grundphänomens, der Verschärfung, in allen Fällen sich gleich bleibt.

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Wenn man die Bedeutung des „eigentlichen Aufmerkens“ kennt, so ist es nun auch möglich, in die Terminologie des „Bewußten“ Ordnung zu bringen. In unserem Blumenstraußbeispiel etwa entstünde die Frage, ob in der Gesamtanschauung des Straußes die erst nachher gesehenen Blumen vorher „unbemerkt“ oder „unbewußt“ oder „schwach bewußt“ oder „nicht explizit erfaßt“ waren. Gegen den Ausdruck „unbewußt“ sträubt sich die Einsicht, daß die Aufmerksamkeit phänomenal nichts vollkommen Neues schaffen | 52 | kann, daß also schon vorher etwas im Bewußtsein gewesen sein muß. Tatsächlich liegt hier eine ausgebreitete Äquivokation vor, indem man mit „bewußt“ bald das bezeichnet, was Gegenstand der eigentlichen Aufmerksamkeit ist, bald das, was im phänomenalen Bild irgendwie vorhanden sein muß, da es bei hingelenkter Aufmerksamkeit auffällt. Um diese Fälle auseinander zu halten, nennen wir Gegenstände der eigentlichen Aufmerksamkeit „eigentlich bewußt“. „Uneigentlich bewußt“ sind nun die Teile eines eigentlich bewußten Ganzen, die einzeln nicht erfaßt werden, also – als solche – phänomenal gar nicht gegeben sind, die nur vom Standpunkt einer später erfolgten Gliederung aus, gleichsam rückwirkend, konstatiert werden unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß sich im objektiven Dasein durch bloße Aufmerksamkeitssteigerung des Subjektes nichts geändert haben kann. Die Frage, als was diese phänomenal nicht vorhandenen, uneigentlich bewußten Teile im phänomenalen Bewußtsein erscheinen, löst sich für uns auf Grund der vorausgeschickten Untersuchung sehr einfach: als verschwommene Anschauungspartien. Der Anspruch des uneigentlich Bewußten, durch eine eigene Bezeichnung vor allem übrigem Nichtbewußten ausgenommen zu werden, liegt in Folgendem: 1. Als Teil eines früher – als Ganzes – bereits eigentlich Bewußten wird es durch Aufmerksamkeitssteigerung selbst eigentlich bewußt. 2. Auch aus dieser bloßen Möglichkeit entfaltet es schon Wirkungen, die uns im Folgenden noch oft beschäftigen sollen. (Vgl. 7. Kapitel.) Eine aber haben wir schon besprochen: das Auffallen im uneigentlichen Sinne. Was liegt hier anders vor als eine Wirksamkeit von Qualitäten, die als solche noch uneigentlich bewußt sind? – So zeigt sich also das Auffallen im uneigentlichen Sinne als ein Spezialfall der uneigentlichen Aufmerksamkeit und als eine der Wirkungen des uneigentlich Bewußten. – Dagegen scheint uns das uneigentlich Bewußte mit dem „Unbewußten“, das | 53 | durch die psychoanalytische Methode Freuds an den Tag gefördert wird und dem Analysanden als fremder, überraschender Teil seines Bewußtseins erscheint, nichts gemein zu haben. Charakteristisch für das uneigentlich Bewußte ist ja gerade, daß es nach seiner Bewußtwerdung als „schon vorher irgendwie vorhanden“ anerkannt wird. – Eine ähnliche Beobachtung wie bei uns dem „uneigentlich Bewußten“ liegt den „unbemerkten Teilinhal-

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ten“ bei Cornelius zugrunde (vgl. 〈Cornelius 1892, S.〉 441 und 〈Cornelius 1893, S.〉 52, 54 – 〈Cornelius 1906〉, S. 26). Nicht nur in der äußeren, auch in der inneren Anschauung scheint uns die Erkenntnis des „uneigentlich Bewußten“ bedeutsam. Die psychischen Akte als Gegenstände der inneren Wahrnehmung sind nämlich meist uneigentlich bewußte Teile der inneren Gesamtanschauung, ja in der inneren Anschauung ist das ungegliederte, vorbegriffliche Stadium, in dem also alle Akte nur als verschwommenes Material gegeben sind, noch viel dauernder und durchgreifender Regel als in der äußeren. Hieraus ist es zu erklären, daß von Psychologen gelegentlich diese ganze innere Erfahrung mit ihrem Aktbewußtsein ganz geleugnet werden kann. Sie ist eben Gesamtanschauung, also auch beim entwickelten Menschen meist in dem unbestimmten Zustand, in dem die Außenwelt dem Kinde entgegentritt. (1. Kapitel.) Nur selten findet sich ein Motiv, das die Aufmerksamkeit auf die Teile dieser großen Innenwelt lenkte und sie eigentlich bewußt machte. Im Alltag ist man sich seines Urteilens in der Regel nicht bewußt, es genügt eben zu urteilen und die Aufmerksamkeit auf das äußere Objekt, nicht etwa auf den Urteilsakt selbst zu lenken. Nur um den Gegensatz zu anderen Meinungen auszudrücken, wird betont: „Ich sage“ oder „Meine Ansicht ist“. Erst der psychologische Forscher hat Anlaß, seine Aufmerksamkeit auf die einzelnen Vorgänge der inneren Anschauung zu richten, sie zu beschreiben und zu | 54 | klassifizieren. Sie werden aber nicht erst durch diese Aufmerksamkeit geschaffen, sondern waren (wie die Teile eines verschwommenen Bildes) schon vorher als uneigentlich bewußte Erlebnisse da. Namentlich die vorbegrifflichen Vorgänge, z. B. das vorbegriffliche Urteil (2. Kapitel), haben keine Möglichkeit, sich gegen die übrige innere Gesamtanschauung abzugrenzen. Dies darf aber kein Grund sein, sie überhaupt zu leugnen. Man wird vielmehr, nach dieser Ausführung über das uneigentlich Bewußte, ihre eigenartige Stellung im Seelenleben zu würdigen geneigt sein. Sofern die Aufmerksamkeit nicht Vorstellungen, sondern Gefühle und Urteile trifft, wird von ihr im 6. Kapitel gehandelt. – Hier sei noch mit Bezug auf die herrschende Terminologie nachgetragen: klar oder unklar ist ein Anschauungsstück, wenn eine größere oder geringere Anzahl seiner Teile eigentlich bewußt ist. Deutlich, wenn es – als Ganzes – in der eigentlichen Aufmerksamkeit steht, mit Rücksicht auf seine Unterscheidung von anderen benachbarten Anschauungsstücken. Wir haben mithin die Aufmerksamkeit als eine Hauptbedingung für die Stellung einer Vorstellung in der Verschwommenheitsskala (neben physiologischen und physikalischen Gründen) kennen gelernt, die Verschwommenheit selbst fanden wir durch mangelhafte Funktion des Organs charakterisiert. In

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den meisten Verschwommenheitsfällen (nicht in allen) findet sich neben diesem rein psychologischen ein funktionelles Kriterium: die verschwommene Vorstellung läßt eine Deutung in verschiedene weniger verschwommene Vorstellungen zu. Ein Wald, der, aus der Ferne gesehen, verschwommen erscheint, kann bei Annäherung als Fichtenwald oder Tannenwald deutlich werden. – Ein von der Ferne herankommender Mann erscheint nur bekannt, trotzdem kann ich nicht entscheiden, wer es ist, mir schweben einige Möglichkeiten abwechselnd vor. Das verschwommene Bild eines Gesichtes kann | 55 | in vielen Arten durch detaillierte Gesichtszüge ergänzt werden. –Wir haben heute einen Kollegen kurze Zeit auf der Straße gesehen. Werden wir nun gefragt, welchen Anzug er trug, so können wir uns nicht entscheiden. Und doch ist in unserem Erinnerungsbild, das wir uns vor Augen rufen können, keine Lücke, ganz gewiß steht der Freund in unserer Erinnerung nicht unbekleidet da; nein, es trägt sein Anzug eben nicht die Qualität grün oder schwarz, sondern eine verschwommene Qualität. Das ist natürlich keine Mischung von Grün oder Schwarz, etwa ein grünliches Schwarz (was viel zu grob-sinnlich ausgedrückt wäre), sondern ein ganz eigentümliches, im Folgenden noch näher zu beschreibendes Phänomen, dessen Wesen darin besteht: 1. daß es unbestimmt ist, matt, schwach, mit fließenden Grenzen, kurz genau so wie wir die verschwommene Vorstellung als durch mangelhafte Organausnützung charakterisiert gefunden haben, 2. daß es unter gewissen Bedingungen in schärfere Phänomene übergehen kann, im vorliegenden Falle, beispielsweise durch eine Gedächtnishilfe wie durch die Aussage eines Augenzeugen, in die Erinnerung an die scharf gesehenen Farben grün oder schwarz und an eine deutliche individuelle Form des Anzugs; wobei das Wichtigste ist, daß das neu auftauchende Erinnerungsbild nicht als etwas dem verschwommenen Bilde ganz Fremdes, sondern als in dem Verschwommenen schon irgendwie Enthalten-Gewesenes sich darstellt. – Ähnlich geht es uns auch, wenn wir von einem Worte nichts als die verschwommene Erinnerung haben, wenn wir es, wie man zu sagen pflegt, „auf der Zunge haben“ und doch nicht aussprechen können. Fällt es uns dann nachher ein, so erscheint dies nicht als neue Erfahrung, sondern als schon vorher in dem ganz unbestimmten Bilde Enthaltenes, nur nicht richtig Deutbares. – Ein letztes Beispiel: wir lassen uns die Zahlen 7 und 9 aufschreiben. Jemand nimmt nun die Zettel, mischt sie, zeigt einen davon aus der Ferne. Wir sehen etwas Verschwommenes, das sich | 56 | als ein längliches Gebilde mit einem nach links gewendeten Köpfchen darstellt und das entweder 7 oder 9 sein könnte. Wir wundern uns nicht, wenn es sich beim Näherrücken als eine dieser beiden Figuren entpuppt.

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Das Verschwommene hat also neben der psychologischen Eigenschaft mangelnder Organausnützung in vielen Fällen noch die logische Funktion der verschiedenen Deutbarkeit. Diese Funktion, näher untersucht, läßt zunächst die Frage aufwerfen: Was für eine psychologische Tätigkeit ist das Deuten? – Antwort: Jedenfalls ein Urteilen. Natürlich muß dieses Urteilen nicht in Begriffen vor sich gehen, es ist vielmehr meist ein vorbegriffliches Urteil mit allen Merkmalen eines solchen, d. h. der Urteilsakt kann in nur uneigentlichem innerem Bewußtsein, also als verschwommenes Stück der inneren Erfahrung gegeben sein, und die Materie muß nicht gegliedert oder gar begrifflich gefaßt sein, vielmehr genügt ein verschwommenes Stück der Gesamtanschauung auf sehr niedriger Entwicklungsstufe, ein „Dieses“, ein Unbenanntes. Übergänge zum begrifflichen Urteil, zum bewußten Akt sind allmählich. Die Grundform, deren man sich beim Deuten bedient, ist die des synthetischen Urteils: A ist B (vgl. 2. Kapitel), spezieller: die des Identitätsurteils. Das Identitätsurteil (das wir bereits im 2. Kapitel als integrierenden Bestandteil des Dingurteils beschrieben haben) faßt zwei Vorstellungen als zu demselben Gegenstand gehörig, als im Gegenstand eins auf. Die Identität liegt nicht in der Materie des Urteils, sondern wird durch das Urteil erst geschaffen, ist also Urteilsmodus. Hierin hegt sein eingreifender Unterschied vom Gleichheitsurteil, mit dem es der ähnlichen äußeren Form halber leicht verwechselt wird. Das Gleichheitsurteil konstatiert eine als anschauliche Relation vorgefundene Gleichheit, ist also ein thetisches Urteil mit Bezug auf die Materie „Gleichsein von A und B“. Dagegen ist das Identitätsurteil schöpferisch, greift über die Sphäre des jemals | 57 | Erfahrbaren in die Sphäre des Metaphysischen hinaus. Von dieser Erkenntnis der gründlich unterschiedenen Struktur aus wird auch die verschiedene Intention der beiden Urteilsformen einleuchtend. Wir meinen, indem wir urteilend uns auf Identität oder Gleichheit zweier Eindrücke einstellen, beidemal ganz Disparates, so daß es nicht angeht, die Identität etwa als Idealfall, Grenzfall der Gleichheit aufzufassen. Durch das Identitätsurteil haben wir über die Gleichheit oder Ungleichheit der an uns gelangenden Eindrücke gar nichts ausgesagt. Wir entheben uns gleichsam aus eigener Machtvollkommenheit der Pflicht, die Gleichheit oder Ungleichheit des phänomenal Gegebenen zu beachten, da wir die Wesenseinheit des Gegebenen kennen. Allerdings kann eine gewisse beobachtbare Gleichheit das Motiv des Identitätsurteiles sein, aber indem wir das Identitätsurteil fällen, setzen wir uns schon weit über diese Gleichheit hinweg, wir wollen nicht Gleichheit konstatieren, wir haben ja Identität, wir brauchen oft die Gleichheit gar nicht: so bei einem Verwandlungskünstler, bei dessen Produktion uns zu dem Identitätsurteil, daß der ver-

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kleidete Mann immer dieselbe Person sei, keine beobachtbare Gleichheit anregt (denn wir sehen ja nur Divergenzen), sondern nur unser Variétéprogramm und das Vertrauen auf die Redlichkeit des ganzen, im übrigen recht unbegreiflichen Vorganges. Dagegen basiert das Gleichheitsurteil auf dem anschaulichen Inhalt „Gleichheit“, es ist die Anerkennung dieser Relation. Zum Entstehen der anschaulichen Relation Gleichheit ist die im 1. Kapitel beschriebene „Gleichheitsverstärkung“ erforderlich, aber noch nicht hinreichend. Diese automatische Verstärkung betrifft nämlich von den zwei objektiv gleichen Eindrücken nur den zweiten, nicht den verstärkenden ersten, der ja gar nicht zum Bewußtsein kommt, so daß von einer „Gleichheit“ dieser einzigen hervorgehobenen Qualität noch keine Rede sein kann. Zu diesem automatischen Verstärkungseffekt tritt eben, falls auch der erste Eindruck, sei es simultan, | 58 | sei es als Erinnerungsbild, sich hervorhebt, ein neuer anschaulicher, nicht weiter beschreibbarer Inhalt: „Gleichheit“, welcher gelegentlich durch das Gleichheitsurteil bejaht wird. (Näheres über Relationen im 6. Kapitel.) Sowohl das Gleichheitsurteil als auch das Identitätsurteil bedienen sich der Verschwommenheit, doch beide in ganz verschiedenen Richtungen. Die dem Gleichheitsurteil zugrunde liegende Gleichheit, ja schon der vorhergehende Verstärkungseffekt kämen nicht zustande, wenn die objektiv ungleichen Teile der als gleich hervorgehobenen Komplexe nicht zunächst nur uneigentlich bewußt, also verschwommen gegeben wären. Zum Identitätsurteil dagegen bedürfen wir der phänomenalen Gleichheit nicht. Es fällt uns nicht ein, daraus, daß wir eine Person in Bewegung an verschiedenen Orten sehen, zu folgern, daß es nicht dieselbe Person sei. Wir können unsere Aufmerksamkeit gerade auf die Bewegungen der Person richten, also gerade die wechselnden Orte eigentlich bewußt machen, ohne daß das Identitätsurteil beirrt würde. Das Identitätsurteil stützt sich vielmehr in der Regel auf eine andere Seite der Erfahrung: auf ihre Kontinuität, den unmerklichen Übergang der Veränderungen – und nur in dem Falle, daß die Kontinuität unterbrochen wird, bedient sich das Identitätsurteil einer anderen Hilfe, z. B. wie schon oben erwähnt, der Gleichheit, eventuell in Verbindung mit Nebenumständen. (Sehe ich etwa in einem Restaurant an zwei aufeinanderfolgenden Tagen an demselben Tisch zwei gleiche Menschen sitzen, so bin ich geneigt, aus dieser Gleichheit darauf zu schließen, daß es beidemal ein und derselbe Mensch war. Aber nur auf Grund der stützenden Erfahrung, daß es wenige einander so ähnliche Menschen gibt, daß es ein besonderer Zufall wäre usf.) Eine solche Kontinuitätsreihe aber in idealster Vollkommenheit (und hier gelangen wir an den Kern der Sache) bietet eben die Verschwommenheitsskala. Das Identitätsurteil, in welchem die Funktion der

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Deutbarkeit sich ausdrückt, bedient sich | 59 | also des in der Verschwommenheit liegenden Kontinuums, während das Gleichheitsurteil durch das Verschwimmen ungleicher Partikel zu gleichartigen Komplexen gefördert wird. So sehen wir zwei ganz verschiedenartige Seiten der Verschwommenheit am Werk, die einander überdies oft unterstützen, dann wieder auseinandergehen und ineinander überleiten. Ein Beispiel erläutere diese Verhältnisse: Betrachtet man einen Ofen aus einer gewissen Entfernung, so gewinnt man von ihm die Wahrnehmung O. Hierauf nähert man sich diesem Ofen und gewinnt von einem zweiten Standpunkt aus die Wahrnehmung O1 die wir der Einfachheit halber als die optisch günstigste Wahrnehmung dieses speziellen Ofens ansetzen wollen. (Die in der Verschwommenheit liegende Relativität wird an einer späteren Stelle durch geeignete Abgrenzung beseitigt werden.) O1 enthält also viele feinmodellierte Ornamente der einzelnen Ofenkacheln, während man in O etwa nicht einmal die Fugen zwischen den Kacheln unterscheidet und eine einheitliche Fläche zu sehen glaubt. Die Wahrnehmung O ist mithin verschwommen, durch mangelhafte Organausnützung charakterisiert, was hier eine Folge ungünstiger äußerer physikalischer Bedingungen (Entfernung) ist. Zwischen O und O1 liegen nun unendlich viele Nuancen, deren Übergang unmerklich ist. Also: die Reihe der Verschwommenheitsgrade bildet ein Kontinuum u. zw. hier ein sekundäres, aufgebaut auf dem Kontinuum des Raumes oder besser gesagt, der Bewegung, des Sich-Annäherns an das Objekt. Die Erfahrung lehrt, daß die phänomenale Verschiedenheit der Eindrücke O1 und O uns nicht hindert, ja sogar veranlaßt, ein Identitätsurteil zu fällen, das freilich, solange nicht besondere Gründe zu seiner Hervorhebung eintreten, ein vorbegriffliches Urteil bleibt. Die Identität der Eindrücke O und O1 ist nichts Anschauliches, sie wird erst durch das Urteil geschaffen (die ontologische Frage löst sich dabei analog wie beim thetischen Urteil, 2. Kapitel), Motiv des Urteils aber ist die anschauliche | 60 | Kontinuität. Das Identitätsurteil O = O1 hat den Sinn, daß der Betrachter sich von der Besonderheit des verschwommenen Anblicks nicht aufhalten läßt und sich so benimmt, wie es dem zugrunde liegenden einheitlichen Gegenstande, dessen optisch günstigste Ansicht O1 ihm nicht unbekannt ist, entspricht. Es erlebe nun der Betrachter, eine zweite Kontinuitätsreihe bei Annäherung resp. Entfernung von einem zweiten Ofen und fälle die dieser Reihe entsprechenden Urteile: P = P1. Nehmen wir ferner an, die beiden Öfen, deren deutliche Anblicke P1 und O1 heißen, unterschieden sich in nichts voneinander als in den Ornamenten ihrer Kacheln, diese Ornamente wären aber gerade in den Stellungen O und P unsichtbar, so kann der Anblick O nun den Zweifel erregen, ob bei Näherrücken in die günstigste Entfernung der Anblick O1 oder P1 zum Vorschein

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kommen wird. Hier ist von der Verschwommenheit in beiden Richtungen, die oben kennzeichnet wurden, Gebrauch gemacht: die kontinuierliche Verschiebbarkeit eines Gegenstandes in der Verschwommenheitsskala ermöglicht die Identitätsurteile O = O1 und P = P1. Der Umstand, daß die Verschwommenheit Vorstellungen einander gleich macht, die im scharfen Zustande voneinander abweichen, bringt zugleich das Gleichheitsurteil O = P hervor. Die Verbindung aller drei Urteile ist das alternative Identitätsurteil O ist entweder O1 oder P1. Man kann also sagen: wird das Identitätsurteil durch einen Zweifel aufgehalten, stockt das Überfließen in einer speziell determinierten Kontinuitätsreihe, so werden mit Hilfe des Gleichheitsurteiles zwei oder mehrere Kontinuitätsreihen (Identitätsurteile) zusammengekoppelt. Und gerade dies ist der eigentliche Fall, indem wir von „Deutung“ einer verschwommenen Vorstellung reden. Die Deutbarkeit also, als Eigenschaft der verschwommenen Vorstellungen, hängt nicht nur von der verschwommenen Vorstellung ab, ist nicht eine durch reine Beschreibung zu ermit- | 61 | telnde Eigenschaft wie das als „mangelhafte Organausnützung“ charakterisierte Merkmal. Die Deutbarkeit des O im Beispiel ist dadurch bedingt, daß auch P, O1 und P1 im Bewußtsein gegeben sind, also durch den sonstigen Zustand des Bewußtseins, in dem die verschwommene Vorstellung auftritt. Deutbar ist eine Vorstellung nur inbezug auf andere schärfere Vorstellungen. Hier ergibt sich eine grundlegende Unterscheidung der verschwommenen Vorstellungen. Es gibt nämlich Verschwommenes, das durch mangelhafte Organausnützung charakterisiert ist, jedoch die Eigenschaft der Deutbarkeit nicht besitzt. Wir wollen solche Vorstellungen „unecht verschwommen“ nennen. Unecht verschwommen ist beispielsweise eine Theaterkulisse. Sehen wir sie selbst in der optisch günstigsten Entfernung, so erscheint das Auge immer noch nicht genügend ausgenützt. In dieser Stellung ist aber eine Deutung auf ein schärferes Bild ausgeschlossen, denn ein schärferes Bild hat eben der Maler gar nicht gemalt, die undeutlich hingezogenen Buchstaben auf den Bücherrücken eines gemalten Bühnen-Bücherkastens werden auch durch das fleißigste Hinblicken nicht lesbarer. Der Maler hat vielmehr im Vertrauen auf den Umstand, daß diese Bücherrücken von der Ferne jedenfalls nur ein verschwommenes Bild geben, ob sie nun deutlich oder flüchtig gemalt sind, von vornherein nur ein verschwommenes Bild geliefert, er hat die Verschwommenheit gleichsam hypostasiert. – Ähnlich ist der Fall der schlecht eingestellten Photographie, eine Deutung ist hier wie bei der Kulisse nur in bezug auf die dargestellten Gegenstände nicht mit Rücksicht auf das unmittelbar Dargebotene möglich. Ebenso läßt sich bei allem substantiell Verblassten und Wolkigen kein klarerer Kern herauslösen. Hätten wir, im Beispiel, nur die Vorstellung O und nicht auch O1;

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so wäre O unecht verschwommen. Durch die Erfahrung O1 wird nun die Vorstellung O phänomenal gar nicht geändert und gewinnt doch die Eigen- | 62 | schaft der Deutbarkeit, der echten Verschwommenheit. – Es sei schon hier angedeutet, daß die Verschwommenheit der vorbegrifflichen Anschauungswelt nur eine unechte ist, da in dieser Periode schärfere Stücke noch gar nicht im Bewußtsein existieren; daß hingegen eine Verschwommenheit, die auf irgendeinem Wege zugleich mit dem Vorhandensein schärferer Stücke erzeugt würde, von dieser unechten Verschwommenheit durch ihre Deutbarkeit in einem sehr wichtigen Punkte sich unterschiede. An unserem einfachen Beispiele lassen sich die Verhältnisse der Deutbarkeit und damit der Verschwommenheit noch näher zeigen. Das Bild O ist als O1 oder P1 deutbar, vielleicht noch in vielen anderen Arten. Das wird jedesmal vom Stand unserer Erfahrung abhängen, d. h. wir müssen O1, P1 usf. erlebt haben, ehe wir deuten. Nun ist aber doch klar, daß man O nicht als alles Mögliche deuten kann, was man je erlebt hat; sondern daß das Maß der Deutbarkeit außer in den Erlebnissen auch noch in O selbst irgendwie liegen muß. Wir werden in unserem Falle den Ofen O nie für den Pariser Eiffelturm oder für eine Katze halten; vielleicht aber, die nötigen ungünstigen Entfernungs- und Beleuchtungsverhältnisse vorausgesetzt, für einen Kasten. Es liegt also in der Größe und Gestalt der Vorstellung O etwas, was sich beim Heranrücken an den Ofen nicht ändert, was also schon in der ursprünglichen Entfernung unzweideutig erkannt wird. Wollen wir diesen unwandelbaren Kern K nennen, so erübrigt von der Ofenvorstellung noch ein x, welches bei günstigerer Einstellung sich in genauere Bilder verwandelt, z. B. in die scharfe Kontur des Ofens, in die Ornamente auf den Kacheln. Wenn wir nun die verschwommene Vorstellung O in einen scharfen Kern und in ein verschwommenes x gliedern, mithin als (K + x) symbolisieren, so wollen wir damit keineswegs die Verbindung von K und x als eine bloß additive darstellen, sondern das K durchdringt gleichsam die ganze Formation des verschwommenen Gebildes wie ein | 63 | Skelett, wie ein Blutkreislauf, es steckt gewissermaßen in jedem Teilchen der Vorstellung. Das K einer verschwommenen Vorstellung gibt mithin die Grenze an, innerhalb der sich die mannigfaltigen Deutungen des x bewegen dürfen. Es ist das Maß der Variabilität dieser Vorstellung, das in der gebenen Vorstellung selbst liegt, ganz unabhängig von der Beschränkung, die aus dem jeweiligen Stande unserer für die Deutungszwecke verfügbaren Erfahrung erwächst. Im allgemeinen kann man sagen: Wächst das x einer Vorstellung, so entstehen immer mehr Möglichkeiten mannigfacher Deutung. Und vice versa. Hieraus ergibt sich leicht der Satz: daß alle unsere Wahrnehmungen ein x enthalten, verschieden deutbar sind. Denn auch die schärfste Wahrnehmung ist

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(um beim Optischen zu bleiben) durch Anwendung immer besserer Mikroskope einer immer neuen Deutung fähig. – Ist also alles, was wir wahrnehmen, verschwommen? Ist die Verschwommenheit ein relativer Begriff? Um nicht ins Unendliche zu geraten, halte man für die Dauer der Untersuchung an einunddemselben Organ fest. Nimmt man ein Mikroskop, so schafft man sich gleichsam ein neues Auge an, eine neue Verschwommenheitsskala. Für dasselbe Auge aber lassen sich die optimalen Bedingungen seiner Funktion als Nullpunkt der Verschwommenheitsskala festlegen. Alle Bilder, die diesen Bedingungen nicht genügen, sind nach dem Maße des in ihnen enthaltenen x mehr oder minder verschwommen. Gegen unsere Ansicht, welche die Deutbarkeit zu einem Derivat der Verschwommenheit macht, könnte eingewendet werden, daß es Fälle gibt, in denen eine Vorstellung im Höhepunkt aller optischen Möglichkeit steht, und doch wird an ihr herumgedeutet. Man kann eine unleserliche Unterschrift, einen verschnörkelten Buchstaben, ein Vexierbild genau im günstigsten Einstellungspunkt des Auges halten und doch im Zweifel sein, was man da eigentlich vor sich habe. – Doch | 64 | bemerkt man leicht, daß sich die Ungewißheit hier nicht auf das optisch Vorhandene bezieht, sondern auf die Bedeutung, das Gelesenwerden des Vorhandenen, auf seine Subsumption unter gewisse Formen, von denen nicht nach optischen Gesetzen, sondern willkürlich abgewichen wurde. Will man auch in solchen Fällen von Deutung sprechen, so stimmt das freilich mit dem lockeren Sprachgebrauch überein, bezeichnet aber jedenfalls ein seelisches Verhalten, das von dem oben beschriebenen Korrelat der Verschwommenheit unschwer zu unterscheiden ist. – Diese Fälle bieten gewissermaßen ein Gegenstück zu dem Fall der Kulisse, den wir als unecht verschwommen ausscheiden mußten; hier wie dort gelangt die Deutung zu einem Punkt, an dem sie das optisch Gegebene verlassen und auf ein anderes Gebiet überspringen muß, auf das des Dargestellten, des Symbolisierten, des entfernt Bezogenen. Aber während ein Gegner den Fall der Kulisse zu der Behauptung ausnützen konnte, daß es ein optisch Verschwommenes ohne eigentliche Deutung gebe, liegt es ihm hier nahe zu argumentieren, daß es etwas Deutbares ohne optische Verschwimmung gebe. Und in beiden Fällen steht hier das Wort „Deuten“ in einem entlegeneren Sinne als beim Identitätsurteil, mittels dessen der undeutliche Ofen O als O1 erkannt wurde. Die Kulisse stellt einen Wald dar, der Buchstabe den Laut a, aber der in einiger Entfernung ohne Verzierung gesehene Ofen ist der verschnörkelte Ofen, ist der Ofen meines Zimmers, den ich kenne. Verschwommenheit in dem jetzt präzisierten technischen Sinne ist nicht auf den optischen Sinn beschränkt. Gemurmel, Geräusche sind akustische Bei-

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spiele mangelhafter Organausnützung und Deutbarkeit; ebenso die einzelnen Töne schneller Violinpassagen, die im Orchester oft vom Fortissimo der Bläser übertönt werden und doch uneigentlich bewußt sind. Wir haben in unserem Schulbeispiel die Verhältnisse der Deutbarkeit an einem Objekt erörtert, dessen Verschwommen- | 65 | heit auf ungünstigen physikalischen Bedingungen beruht. Nach unserer These verhält es sich jedoch bei der aus mangelhafter Aufmerksamkeit entspringenden Verschwommenheit nicht anders. Die Unterschiede wurden eben erörtert. Allen Fällen gemeinsam ist die Möglichkeit der Deutung, der Identitätsurteile, denn auch die Aufmerksamkeitssteigerung vollzieht sich in unmerklichen Nuancen, als Kontinuum, ebenso wie die Verbesserung der optischen Bedingungen. Dem Fall ganz analog, daß wir uns dem Ofen nähern und dabei fortgesetzt Identitätsurteile fällen, ist der Fall, daß ich z. B. aus meinem Fenster auf das Straßenpflaster schaue, zuerst nur ein ganz ungefähres Bild vor mir habe, dann bei angestrengtester Aufmerksamkeit die einzelnen Steine unterscheide und nun, wenn ich mir sage, „vielleicht ist das noch nicht alles, vielleicht geht es noch weiter“, auch die Details jedes Steines. Die Verschärfung des Bildes geht allmählich vor sich und immer ist das Urteil möglich, daß der durch verschiedenartige Anblicke repräsentierte Gegenstand ein und derselbe ist. – In beiden Fällen ist nun auch das „abgekürzte Verfahren“ möglich, indem die Kontinuitätserfahrung gleichsam fingiert wird. Der entfernte Ofen O wird mit dem nahegesehenen Ofen O1 identifiziert, ohne daß ich die Annäherung und den allmählichen Übergang jedesmal neu erleben muß. Die Fällung dieses Urteils O = O1 hängt weiter davon ab, daß O1im Bewußtsein gegeben ist: also vom Stande des gegenwärtigen Bewußtseins. Analog ist dafür, daß meine Aufmerksamkeit von dem flüchtig gesehenen Ofen O bei gleichbleibenden optischen Bedingungen auf seine Details O1 hingelenkt werde, erforderlich, daß meine Aufmerksamkeit zu dieser Mehrleistung motiviert wird. Solche Motive sind vornehmlich die im Bewußtsein bereits vorhandenen gleichen O1-Bilder. An dieser Stelle eröffnet sich uns also ein Verständnis für den im 1. Kapitel beschriebenen „Ureffekt der Gleichheit“, der im Wesentlichen nichts anderes ist als eine vorbegriffliche Deutung eines An- | 66 | schauungsstückes im abgekürzten Verfahren, ermöglicht durch Aufmerksamkeitssteigerung im Sinne eines vorhergehenden Eindrucks. Allerdings ist bei diesem „Ureffekt“ der vorgehende Eindruck unbewußt, die Wirkung erfolgt automatisch. Die Gleichheit wirkt aber aufmerksamkeitsanregend auch im bewußten Zustand, als Erinnerungsbild, ja als Begriff. Von solchen im Bewußtsein gegebenen Bildern ist es also abhängig, in welcher Richtung die Aufmerksamkeit an der Wirklichkeit deutend arbeiten kann. Es ist nun auch verständlich, daß die Deutung mit Hilfe gesteigerter Aufmerksamkeit rascher und sprunghaf-

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ter vor sich geht als die mit Hilfe verbesserter äußerer Bedingungen. Die Verbesserung z. B. durch Näherkommen erfolgt allmählich, bei hingelenkter Aufmerksamkeit kann augenblicklich das wirksame Motiv auftreten. Versagt aber dieses Motiv aus irgendeinem Grunde, wird die Aufmerksamkeit nicht angeregt, so bleibt oft selbst bei den günstigsten optischen Bedingungen die Deutung aus oder es wird gar falsch gedeutet. Beispiel: In einem Atelier hing ein Damenporträt. Einmal fiel mir der Rahmen auf, ich musterte ihn genau, jeden einzelnen der vier Stäbe um das Bild herum; nach ein bis zwei Minuten erschrak ich plötzlich und erkannte erst jetzt, daß das Bild, das ich bisher als das mir bekannte Damenporträt angesehen hatte, mit einem Stilleben vertauscht war. Ich habe also, obwohl das kaum ein Quadratmeter große Bild bei der Betrachtung des Rahmens im günstigsten Blickfeld lag, infolge mangelnder Aufmerksamkeit ein so verschwommenes Bild davon gehabt, daß ich nicht nur die auffallende Verwandlung nicht merkte, sondern immerfort geradezu das Damenporträt zu sehen glaubte. – Vgl. hierzu die Poesche Novelle „Der Brief“. – Es ist eben falsch zu glauben (so haben wir in diesem Kapitel schon einmal die „Konstruktion“ des Vorbegrifflichen korrigiert), daß die Welt uns immer in alle Details gegliedert entgegentritt. Infolge unserer mangelhaften Aufmerksamkeit ist sie uns tatsächlich meist in rudimentären Bildern gegeben, | 67 | die mit dem „Vorbegrifflichen“ unseres ersten Kapitels große Ähnlichkeit haben. Bei hingelenkter Aufmerksamkeit verschärfen sich diese Bilder kontinuierlich, lassen Identitätsurteile zu. Dies würde natürlich dem Bedürfnis schneller Auffassung der Welt nicht genügen. Da aber in unserem Gedächtnis viele Erlebnisse aufgespeichert sind, findet die Aufmerksamkeit fortgesetzt neue Unterlagen für ihr abgekürztes Deutungsverfahren, neue Motive, diese formlose Außenwelt raschest und in der praktischesten Art (d. h. wie es dem Stande unserer Erfahrungen, also unserer Lebensweise entspricht) zu gliedern. Kaum gegliedert sinkt aber die Außenwelt, wenn das Motiv wegfällt, in die vorbegriffliche Verschwommenheit ebenso schnell zurück, wie sie aus ihr emporgeschnellt ist. – Wir haben bisher nur von Wahrnehmungen gesprochen. Da wir aber die Verschwommenheit für eine wesentliche Eigenschaft alles Anschaulichen halten, erübrigt es noch, die Phantasiebilder in unseren Kreis zu ziehen. Zunächst das spezielle Erinnerungsbild, d. i. dasjenige, das einen individuellen, zeitlich und räumlich ganz bestimmten Fall im Gedächtnis festhält, z. B. meinen Freund in einer ganz konkreten, für mich bedeutsamen, einmaligen Stellung, in einem durch irgendeinen Zufall hervorgehobenen Augenblick. Von dem allgemeinen Erinnerungsbild, bei dem eine solche Eingeschränktheit auf einen Moment nicht besteht, handelt das folgende Kapitel. Aber auch schon am speziellen Erinnerungsbild läßt sich die Eigenschaft der Verschwommenheit deutlich

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nachweisen. Ich sehe etwa die Auslage eines Geschäftes. Dann wende ich mich ab und betrachte das Erinnerungsbild in mir. Es ist einleuchtend, daß es nur einige Gegenstände der Auslage und nur ein höchst verschwommenes, allgemeines Flächenbild gibt. Auch der Grund ist nahe: Das Erinnerungsbild ist abhängig von der Aufmerksamkeitsverteilung in der Wahrnehmung. Da nun schon die Wahrnehmung ein verschwommenes Gebilde (K + x) darstellt, so gilt die Form (K + x) auch für das spezielle Er- | 68 | innerungsbild. – Mache ich dasselbe Experiment, indem ich einen gewissen Zeitraum zwischen Wahrnehmung und Erinnerungsbild einschiebe, so ergibt das Erinnerungsbild einen noch verschwommeneren Eindruck, mehr x, weniger K; falls nicht die Aufmerksamkeit durch gewisse Motive auf K festgehalten wurde. Will ich mich z. B. an das Bild erinnern, das mir der Braten vorgestern mittag bot, als er hereingetragen wurde (ich habe seither an diesen gleichgiltigen Eindruck nicht mehr gedacht), so hat die Verschwommenheit einen kaum mehr zu übertreffenden Grad erreicht. Es erscheint, mühevoll festgehalten, ein Bild, ein Farbenklex, der als alles Mögliche in der Welt gedeutet werden kann, dessen K eben noch die Macht hat, die Deutungssp〈hä〉re auf „Braten aller Art“ einzuschränken und gegen alles andere, was nicht Braten ist, abzugrenzen; viel mehr ist aber im K nicht gegeben. Alles andere ist nur x. Es wird sich schon an dieser Stelle dem Leser die Überzeugung aufdrängen, daß dieses restliche K kein körperlich-optischer Teileindruck der gesamten Vorstellung (K + x) sein kann (wir sagten auch gleich bei Einführung dieses Symbols, daß eine gewöhnliche Addition durch das + Zeichen nicht angedeutet werden soll), sondern seine zusammenhaltende und abgrenzende Kraft aus anderen als den bloß in der Anschauung gegebenen Verhältnissen schöpfen mag. Hierüber werden das 5. und 6. Kapitel orientieren. Vorderhand ist als wichtig festzustellen, daß das spezielle Erinnerungsbild die Form (K + x) hat und daß es, sich selbst überlassen, die Tendenz zeigt, sein x zu vergrößern, verschwommener zu werden. Man erkennt, daß durch diese zweite Tatsache auch hier ein Kontinuum gegeben ist, welches es uns ermöglicht, die in Verschwommenheitsnuancen von einander unmerklich und überleitend abweichenden Erinnerungsbilder auf denselben Gegenstand zu beziehen. Ist diese Reihe genügend häufig erfahren worden, so wird sie zwischen zwei Punkten der Reihe von selbst interpoliert. Was wir oben „ab- | 69 | gekürztes Verfahren“ nannten, wird auch hier die Regel. Das in meinem Innern vorhandene, schon sehr verschwommene Spezialbild repräsentiert mir die vergangene, mit allen Details der damaligen Anschaulichkeit erlebte Situation, also O wird als O1gedeutet. Ich benehme mich also ganz so, als wüßte ich genau, was damals geschehen ist, obwohl mir nur noch ein (K + x) der damaligen Situation gegeben ist. Hier liegt ein besonders interessantes Beispiel für die Wirkung der

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Verschwommenheit vor. Man wird sich nämlich der Verschwommenheit eines Erinnerungsbildes gar nicht als eines Mangels bewußt, sondern substituiert durch Deutung dem sehr unvollkommenen Gebilde, das man im Kopf hat, einfach den Wert und die Komplettheit der lebendigen Wahrnehmung. Wollte man daraus schließen, daß die Erinnerungsbilder vielleicht nicht nur als komplett gedeutet werden, sondern wirklich komplett sind, daß ihre Verschwommenheit von uns nur postuliert wurde: so widerspricht dem die einfachste Beobachtung. Man lenke nur einmal die Aufmerksamkeit auf so ein Erinnerungsbild. Sofort wird die Deutung gestört, d. h. es treten zahllose Möglichkeiten von Deutungen auf, die vom Stande unseres gegenwärtigen Bewußtseinsinhaltes abhängig sind, zahlreiche Alternativen (O ist O1, oder P1, usf.) werden versucht, und der Akt des Deutens, des Identifizierens wird eben dadurch bewußt, daß er sich nicht in Ruhe abwickeln kann: was unserer Theorie des vorbegrifflichen Urteils vollkommen entspricht. – Ebensowenig komplett wie die Erinnerungen sind die Traumbilder, die ja auf Erinnerungen zurückgehen, und dennoch wirken sie mit aller Kraft der Anschaulichkeit. Sie werden eben als lückenlose Anschauungen gedeutet, ohne es zu sein. Aus dieser ihrer Doppelstellung zwischen komplett und lückenhaft, die man auf Grund unserer Theorie vom Verschwommenen und Deuten verstehen wird, gründen sich zahlreiche merkwürdige Eigenschaften der Träume. So die von Freud („Traumdeutung“) beobachtete Tatsache, daß eine im | 70 | Traume auftretende Figur zwei Patientinnen zugleich darstellt, ohne dadurch in sich widersprechend zu werden 〈Freud 1900〉6. – Man kann die hier dargestellte Eigenschaft der Verschwommenheit, scharfe Vorstellungen zu repräsentieren, sehr gut im Halbschlaf beobachten, wenn man über seine Traumbilder noch einige Macht besitzt. Ich will ein Automobil sehen. Sofort steht es da mit allen Details. Ich kann nun Passagiere hineinsetzen, Gegenden aller Art vorübersausen lassen usf. … Alle diese Figuren und Landschaften etwa zu zeichnen ist mir ganz unmöglich. Wie kommt das? Ich habe nur eine sehr verschwommene Erinnerung an ein Automobil im Kopf gehabt, nur diese im Halbschlaf vor mir gesehen, aber sofort bin ich mit ihr umgegangen, als wäre sie die reichste Wirklichkeit selbst. Sie hat mir genügt, weil ich sie als reales Auto deuten konnte. Versuche ich aber, meine Vorstellung von meinem Auto zu Papier zu bringen, mit dem Deuten also Ernst zu machen, so kommt, abgesehen von allem technischen Ungeschick, eine klägliche Figur heraus. Es zeigt sich dann nämlich, daß mein (K + x) sehr verschiedene Deutungen zuläßt; denn, wenn ich auch nur ein ganz spezielles Au〈t〉o intendiere, im Kopf habe, z. B. das

|| 6 In Freud 1900, S. 76 heißt es: „Ich habe also meine Patientin Irma mit zwei anderen Personen verglichen, die sich gleichfalls der Behandlung sträuben würden.“

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meines Nachbars, so ist doch dieses spezielle Erinnerungsbild schon so verschwommen geworden, daß es mit dem Erinnerungsbild von zahllosen anderen Autos ganz gleich ist, also ebenso längs der einen wie der anderen Kontinuitätsreihe in die Zone scharfer Vorstellungen gleiten kann. Nun liegt aber der Fall nicht so, daß ich mir eine dieser Reihen beliebig wählen und zu Ende führen kann. Sondern in Wahrheit ist diese Überfülle nur Täuschung, ich kann keine dieser Reihen zu Ende gehen, ich habe eben gar nichts anderes im Kopfe als die verschwommene Vorstellung. Solange man mich in Ruhe läßt, nehme ich diese verschwommene Vorstellung als eine scharfe, deute sie also; zwingt man mich aber, diese Deutung faktisch zu vollziehen, das Verfahren nicht abzukürzen, sondern auszuführen, so versagt meine Kraft. – | 71 | Daß das spe〈zi〉elle Erinnerungsbild trotz seiner Form (K + x) aber nicht ganz ohnmächtig ist, besser gesagt, daß im K dieser Formel noch ganz andere Kräfte schlummern als die, die mir etwa das Fiasko eines Zeichenversuchs verdächtig macht, zeigt der Fall, wenn an dem speziellen Automobil, dessen lückenhafte Vorstellung ich im Kopf habe, eine Änderung vorgenommen wurde. Wir wollen hier von der Änderung des Zeitmoments ganz absehen (vgl. Ende des 1. Kapitels); es sei aber an der Form des Wagendaches etwas Neues geschehen. Obwohl ich nie imstande bin, dieses Wagendach zu zeichnen: seine Veränderung erkenne ich sofort, trotzdem nicht das komplette Auto, sondern nur sein (K + x) in mir vorhanden war. Es kann eben dieses (K + x) zwar auf sehr verschiedene Arten gedeutet werden, aber hartnäckigerweise nur in der einen Richtung nicht, die durch die neue Dachform entstanden ist; dagegen stemmt sich das K meines Erinnerungsbildes mit seiner eigentümlichen, stummen Gewalt. Mit diesem letzten Beispiel sind wir schon zum Problem des „Wiedererkennens“ übergegangen, das, streng genommen, nicht mehr im Rahmen des speziellen Erinnerungsbildes zu lösen ist. Denn das spezielle Erinnerungsbild bezieht sich nur auf die vergangene einmalige Situation, durch die es hervorgebracht wurde. Mit einem neuen Eindruck verglichen, führt es zu den Phänomenen, die im nächsten Kapitel uns beschäftigen werden. Abschließend sei hier nochmals darauf hingewiesen, daß wir im 2. Kapitel die phänomenalen Unterschiede der Wahrnehmung und Phantasievorstellungen mit Ebbinghaus in 1. Blässe und Körperlosigkeit, 2. Lückenhaftigkeit und Armut an unterscheidbaren Momenten, 3. Unbeständigkeit und Flüchtigkeit annahmen, und daß wir schon an dieser Stelle das ad 2. und 3. angeführte nur als Gradunterschiede der Wahrnehmung gegenüber gelten ließen. Daß mit 2. und 3. das universale Phänomen der Verschwommenheit beschrieben war, dürfte jetzt klar sein. | 72 |

Viertes Kapitel Der anschauliche Begriff (A + x) Eine Rekapitulation führe uns an den Anfang des 3. Kapitels zurück. Die dort aufgeworfene Schwierigkeit gab uns den Anlaß, das Phänomen der Verschwommenheit zu untersuchen. Die Schwierigkeit selbst ist aber noch nicht gelöst. Immer noch scheint es, als ob die anschauliche Welt dadurch, daß im Fortschreiten der Erfahrung jedesmal kleinere Teile sich wiederholen und daher hervorheben, in ein Mosaik unendlich kleiner Teile zerfiele, die wir zu größeren Einheiten zusammenzufassen nicht imstande sind, da an diesen größeren Einheiten eben immer mehr Widersprechendes und Veränderliches gesehen wird. Zur Überwindung dieser Parzellierungstendenz postulierten wir, daß der Welt, während sie ins Detaillierte und Gegliederte fortschreitet, zugleich doch auch irgendwie der Rückweg ins Ungegliederte, Verschwommene, Vorbegriffliche gewahrt bleiben müsse. Wie aber die Verschwommenheit der Detaillierungstendenz entgegenwirkt und ihr den Stachel nimmt, das erübrigt noch zu erklären. Es wird dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein, mit welcher Mühe wir die Darlegung der letzten Partie des vorigen Kapitels auf das spezielle Erinnerungsbild einzuschränken gesucht haben. Jeden Augenblick drohte uns der Stoff unter den Händen zu entgleiten und das allgemeine Erinnerungsbild miteinzubeziehen. In der Tat ergibt die Selbstbeobachtung, wie selten eigentlich spezielle Erinnerungsbilder sind, d. h. solche, in denen das Gedächtnis eines einmaligen, förmlich punktuellen Erlebnisses mit Sicherheit von dem Einfluß nachfolgender ähnlicher Erlebnisse rein geblieben ist. Fast immer repräsentiert ein Erinnerungsbild eine ganze Reihe von Eindrücken. Die Erinnerung an einen Freund stellt diesen in vielen Beziehungen zu mir zugleich dar. Denke ich an eine Landschaft, so steht sie vor mir, wie ich sie oft und oft gesehen | 73 | habe, in verschiedener Ausdehnung, Beleuchtung, Stimmung. Es hören aber diese Bilder, die so vieles von einander Abweichendes vorstellen, deshalb nicht etwa auf, anschaulich zu sein. Das allgemeine Erinnerungsbild entspricht also in der Tat der zu Beginn des vorigen Kapitels aufgestellten Bedingung, daß zur Rettung der Welt aus ihrer ins Unendliche fortschreitenden Zerkleinerung Vorstellungen auftreten müssen, die das in abweichenden Detailbilder Zerfallende wieder zu höherer Einheit verbinden. Diese Mission vollbringt das allgemeine Erinnerungsbild (wie hier zunächst kurz angedeutet sei) als verschwommene Vorstellung, die vermöge ihrer Deutbarkeit in viele scharfe, voneinander abweichende Vorstellungen diese Vorstellungen in sich begreift. Wir sehen sofort das

DOI 10.1515/978311053719-008

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Wesentliche, wodurch sich unsere Theorie von ähnlichen Theorien der Begriffsbildung unterscheidet: das allgemeine Erinnerungsbild, für das wir das Symbol (A + x) einführen, gleicht der vorbegrifflichen Anschauung darin, daß es wie sie mangelhaft gegliedert ist, es unterscheidet sich von ihr aber dadurch, daß es als Deutbares „echt verschwommen“ ist, während das Vorbegriffliche, nur „unecht verschwommen“, keine Deutung zuläßt und unserem „Fall der Kulisse“ analog bleibt. Das Vorbegriffliche und das (A + x) sind also beide verschwommen, aber in verschiedenen Entwicklungsstufen, auf verschieden hohen Niveaus gleichsam. Wir konstruieren, um diese Verhältnisse zu studieren, ein einfaches Beispiel, in dem das allgemeine Erinnerungsbild zunächst als Resultat von nur zwei Eindrücken aufgefaßt wird. In Wirklichkeit umfaßt es ganze Reihen von Eindrücken. Nehmen wir an (im Anschluß an den Beginn des 3. Kapitels), die Aufmerksamkeit und Sinnesschärfe hätten sich gerade so weit entwickelt, daß aus dem ungegliederten Anblick eines Hundes zwei voneinander deutlich abweichende Bilder entstanden seien; das des liegenden Hundes (L) und das des stehenden Hundes (S). Voraussetzung für dieses Auseinander- | 74 | fallen des Komplexes, der vordem L und S ununterscheidbar enthielt, ist, daß die Unterschiede von L und S genügend häufig erlebt worden sind, sich dadurch verstärkt haben (Ureffekt der Gleichheit) und Gegenstand der eigentlichen Aufmerksamkeit geworden sind. Ferner ist dafür, daß der gemeinsame Komplex nur in die zwei Stufen L und S und nicht in Zwischenstufen zerfallen ist, die Voraussetzung notwendig (die eben unser Beispiel zu einem schematischen Schulbeispiel macht), daß die Aufmerksamkeit zu einer weiteren Detaillierung noch nicht vorgedrungen ist, also den Hund, während er sich aufrichtet, direkt aus L in S übergehen sieht und keine mittlere halbaufgerichtete Stellung erfaßt. Unter diesen Voraussetzungen wird zwischen L und S ein Kontinuum erlebt, was ja nichts anderes sagt, als daß alle bei äußerster Anspannung einer gegebenen Aufmerksamkeitsstärke erlebbaren Glieder einer Reihe wirklich erlebt werden. Dieses Kontinuum gibt Anlaß zu dem Identitätsurteil, das L und S als im Gegenstand zusammengehörig erkennt. Wird dieses Identitätsurteil häufig gefällt, so entsteht zwischen den beiden Vorstellungen L und S ein Zusammenhang, kraft dessen das spezielle Erinnerungsbild der einen reproduziert wird, wenn die andere aktuell gegeben ist. Die erinnerte Vorstellung wird gleichsam am Faden der Identität mit der aktuell gegebenen im Bewußtsein zusammengebracht. Es sind also zwei voneinander verschiedene Vorstellungen zugleich gegeben. In diesem Falle kommt es nun zu einem Vorgang, den man unter dem Bilde der „Deckung“ etwa so anschaulich machen kann: Wir haben eine größere Anzahl gleicher durchsichtiger Platten,

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schreiben in die Mitte einer jeden ein deutliches N und rundherum Buchstaben in beliebiger Anordnung. Legen wir die Platten aufeinander, so zeigt sich ein stark und deutlich hervortretendes N mit einer verschwommenen Umrandung. – Es wäre sehr grob, wollte man auch von den beiden Vorstellungen L und S sagen, daß sie „zur Deckung kommen“. | 75 | Aber die Analogie der Deckung bringt uns doch den ganzen psychischen Prozeß näher. Ist L und S zugleich im Bewußtsein, so verstärken sich die gleichen Partien dieser Vorstellungen gegenseitig (Ureffekt der Gleichheit), indem sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und alles andere in geringere Aufmerksamkeit herabdrücken. Zu diesem Herabgedrückten, Verschwommenen gehört schließlich auch die „Zweiheit“ der Vorstellungen, d. h. so lange die Aufmerksamkeit nicht eine neue Richtung nimmt, werden die beiden Vorstellungen für eine genommen. Damit hat sich tatsächlich ihre Deckung vollzogen. – Denselben Vorgang beschreibt Lipps als „Gesetz der Einheitsapperzeption“ 〈…〉: „Sind die verschiedenen Vorgänge in mir gleichzeitig gegeben ....., so besteht die Tendenz möglichst inniger Vereinigung dieses Mannigfachen.“7 Die neue, durch Vereinigung von L und S entstandene Vorstellung entspricht natürlich der Formel (K+x), ist also verschwommen und deutbar. Man sieht sofort, wie wichtig es ist, die Verschwommenheit eines solchen allgemeinen Erinnerungsbildes von den früher beschriebenen Typen einer einfachen Vorstellung zu unterscheiden. Der aus der Ferne gesehene Ofen, die unaufmerk〈s〉am betrachtete Auslage eines Geschäfts, das verblaßte spezielle Erinnerungsbild zeigen eine von den augenblicklichen Umständen abhängige Verteilung von Schärfe und Verschwimmung. Eben diese Verteilung erscheint im allgemeinen Erinnerungsbild als Resultierende unserer gesamten Erlebnisse, als Ausdruck nicht mehr nur der momentanen, sondern auch der seit jeher auf gespeicherten Erfahrung. In der Art, wie die scharfen und die verschwommenen Partien in diesem allgemeinen Erinnerungsbild abwechseln, ist gleichsam ein Abdruck sämtlicher von uns erlebten Vorstellungen gegeben, sie alle erscheinen repräsentiert durch die besondere Schichtung des Verschwommenen im allgemeinen Erinnerungsbild. Um diese repräsentative, durch Deckung | 76 | mehrerer Vorstellungen entstandene Verschwimmung vor allen andern hervorzuheben, nehmen wir für sie die Formel (A + x). Hierbei gilt das A (wie oben das

|| 7 Brod und Weltsch haben hier stillschweigend die Auszeichnung des Originals getilgt. Dieses lautet: „Sind verschiedene Vorgänge in mir gleichzeitig gegeben, oder erlebe ich gleichzeitig ein Mannigfaches, das auf die psychische Kraft und das Apperzipiertwerden zumal Anspruch erhebt, so besteht die Tendenz möglichst inniger Vereinheitlichung dieses Mannigfachen“ 〈Lipps 1903, S. 73〉.

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K) nicht als bloßer Summand, sondern als ein Maß, welches die Deutung des an sich ganz indifferenten x auf einen bestimmten Kreis von Vorstellungen begrenzt, determiniert, es ist gleichsam die Hefe im x. Um also Irrtümern von vornherein zu begegnen, sei das obige Beispiel der Glasplatten dahin aufgeklärt, daß das A der Vorstellung (A + x), die nach Aufeinanderlegen sämtlicher Gläser entsteht, natürlich mehr enthält als etwa den deutlichen Mittelbuchstaben N. Es werden ja auch die rundum geschriebenen verschwommenen Buchstaben nicht als alles Beliebige gedeutet werden können, nicht etwa als Zeichnungen von Tieren u. ä., sondern werden wohl noch deutlich den Buchstabencharakter an sich tragen, wenn man auch die einzelnen Buchstaben nicht mit Sicherheit nennen kann. Es wird vielleicht sogar klar sein, ob es sich um Antiquaschrift oder Fraktur handelt. Der Buchstabencharakter also ist in diesem Falle dem A und nicht dem x der verschwommenen Vorstellung zuzurechnen (hierüber mehr im 5 u. 6 Kapitel). Im (A + x) haben wir also das Erlebnis, welches den Zerfall der Welt in ungleichartige Anschauungsatome hindert, ohne jedoch damit einen Rückschritt ins Vorbegriffliche zu veranlassen. Beispielsmäßig gesagt: Das (A + x) aus unseren beiden Vorstellungen L und S ist mit der ungegliederten Gesamtanschauung „Hund“, die wir vor ihrer Aufteilung in L und S hatten, durchaus nicht gleichwertig. Denn dieser Gesamtanschauung fehlt die Deutbarkeit, sie ist nur im unechten Sinn verschwommen; das (A + x) dagegen, das aus L und S gewonnen ist, besitzt gerade in seiner Deutbarkeit, also in der Eigenschaft, bei Aufmerksamkeitssteigerung als mit L und S identisch beurteilt zu werden, das Mittel, L und S in sich zu umfassen und dabei doch eine einheitliche anschauliche Vorstellung zu bleiben. Bedenken wir noch, daß in Wahrheit nicht zwei Vorstellungen, sondern | 77 | ganze Reihen zur Deckung gelangen, so daß die Verschwommenheit eines solchen (A + x) vermöge ihres bildsamen gefügigen Charakters jedes Erlebnis nachzeichnet, daß also seine mehr oder weniger verstärkten Partien auf mehr oder weniger häufig Erfahrenes hindeuten, so können wir uns der Wichtigkeit dieser Gebilde nicht länger verschließen: sie sind die ersten Formen des menschlichen Begriffes. Im A eines solchen Gebildes ist mithin das enthalten, was den erlebten Vorstellungen gemeinsam war, während das Verschiedenartige im x verschwimmt, So haben wir in der Verschwommenheit das Hilfsmittel gefunden, durch das zwei scheinbar entgegengesetzte, bisher als krasse Widersprüche angeführte Eigenschaften in eins gebracht werden, das „Anschauliche“ und das „Abstrakte“. Es gibt eben anschauliche und dabei doch abstrakte Vorstellungen: die verschwommenen Vorstellungen von der Form (A + x).

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Die Eigenschaft der Verschwommenheit, deutbar zu sein, gibt dem (A + x) im Keime das Hauptcharakteristikon des Begriffes, das seinen Theoretikern so unsagbar viel Schwierigkeiten gemacht hat: den Begriffsumfang neben dem Begriffsinhalt, das Nennen d. i. die Beziehung zu den durch den Begriff gemeinten Gegenständen, neben dem Bedeuten, d. i. dem psychischen Vorgang. – Bei einer individuellen Einzelanschauung besteht diese Schwierigkeit nicht, Inhalt und Umfang sind gleich, die Anschauung nennt den Gegenstand, den sie bedeutet. Wie aber soll eine einzige Vorstellung beschaffen sein, um viele Gegenstände zu nennen? – Die Antwort, die wir auf Grund alles Vorhergegangenen geben können, lautet: Indem ein (A + x) innerhalb der Grenzen, die sein A seinem x gebietet, sich in verschiedene Vorstellungen verwandeln kann, indem es also ohne Schwierigkeit mit diesen rezenten, voneinander abweichenden Vorstellungen durch ein Identitätsurteil sich verknüpfen läßt, nennt es die diesen Vorstellungen entsprechenden Gegenstände. Die Eigenschaft des | 78 | (A + x), Subjekt verschiedener Identitätsurteile sein zu können, ermöglicht die Funktion des Begriffes „zu nennen“. – Ein aktualisiertes Nennen ist die Subsumption. Habe ich aus L und S und den anderen mir bekannten Positionen eines bestimmten Hundes sein (A + x) gebildet, in dem das all diesen Positionen Gemeinsame hervorgehoben ist, das Divergente aber verschwimmt, und tritt mir nun dieser Hund in einer individuellen Position L entgegen, so fälle ich (vermöge einer fingierten Kontinuität, also im „abgekürzten Verfahren“), dem oben diskutierten Urteile O = O1 analog, ohne weiteres das Identitätsurteil: (A + x) = L. – Die Fähigkeit des (A + x), auf diese Art mit vielen einzelnen Anschauungen zusammengebracht zu werden, wird eben herkömmlich so ausgedrückt, daß man sagt: eine Vorstellung, deren Bedeutung (A + x) ist, nennt alle diesen vielen einzelnen Anschauungen L, S, usf. entsprechenden Gegenstände bzw. verschiedenen Ansichten eines Gegenstandes. Bisher haben wir die Bildung des (A + x) nur am Faden der Identität verfolgt. Dadurch sind wir aber auch über ein allgemeines Erinnerungsbild, des sämtliche Ansichten eines und desselben Gegenstandes z. B. eines Hundes umfaßt, nicht hinausgekommen. Damit haben wir aber auch die anschauliche Zersplitterung nur soweit aufgehoben, als sie ein und denselben Gegenstand betrifft. – Nun ist es aber nicht zweifelhaft, daß ein Kind in seinem (A + x) nicht nur den im Kinderzimmer befindlichen Hund Karo vorstellt, sondern allmählich auch ein vom ersten natürlich unterschiedenes (A + x) gewinnt, das sämtliche Hunde oder doch wenigstens die nicht zu sehr vom Normaltyp abweichenden Rassen umfaßt. Auch dieses (A + x) entsteht durch Deckung divergenter Vorstellungen. Das Kind lernt beispielsweise die Größe des Hundes als variabel betrachten, infolgedessen wird die Größe, die gewiß anfänglich im A der ver-

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schwommenen Vorstellung „Hund“ enthalten war, in das x gestoßen. Bei zunehmender Erfahrung wächst das x, das A | 79 |wird immer kleiner, ohne jedoch seine determinierende Kraft je ganz einzubüßen. Auch die Funktion des Nennens findet hier vermittelst des Identitätsurteils statt, genau so wie beim (A + x) des einzelnen Hundes. Nur die Deckung und die ihr in der Genesis des (A + x) notwendig vorangehende Reproduktion der zur Deckung zu bringenden Vorstellung findet hier nicht anläßlich der Identität, sondern anläßlich der Gleichheit dieser Vorstellungen statt. –Daß die Gleichheit reproduzierend wirkt (auch automatisch d. h. auch ohne als Gleichheit erkannt zu werden), ist eine bekannte Erscheinung. Der Anblick des Vaters reproduziert den des Sohnes; eine Landschaft, ein Dom, ein Krampfanfall bringen ähnliche Eindrücke ins Gedächtnis. Das Entscheidende hierbei ist, daß nicht nur das Gleiche an den vorhergehenden Eindrücken, sondern auch (ähnlich wie bei der Reproduktion durch Identität) ihre Unterschiede aufsteigen. Das Gleiche ist gleichsam nur der Haken, an dem die ganze verwandte Vorstellung samt ihren Abweichungen herangezogen wird. So geraten auch hier Partien aneinander, die einander verstärken, und solche, die einander zum Verschwimmen bringen; auch das durch Gleichheitsdeckung entstandene Gebilde hat die Form (A + x). Man wird es wohl kaum mehr als allgemeines Erinnerungsbild ansprechen, da die Beziehung auf einen Gegenstand fehlt. Es gehört vielmehr zugleich mit letzterem in eine Vorstellungsklasse, die wir als „anschaulichen Begriff“ bezeichnen und hat nebst der Formel (A + x) auch alle aus der echten Verschwommenheit entspringenden Merkmale (Deutbarkeit, Nennen usf.) mit dem allgemeinen Erinnerungsbild gemein. – Man könnte gegen die obige Deduktion der „Deckung infolge von Gleichheit“ noch einwenden, wieso es denn komme, daß gerade eine bestimmte Vorstellung reproduziert wird, da doch sämtliche im Bewußtsein vorhandenen Vorstellungen mit der rezenten in gewissen Stücken gleich sind; mit andern Worten, wieso bei der Gleichheitsreproduktion eine gewisse Wahl getroffen werden kann. | 80 | (Dies eine Schwierigkeit, die bei der Reproduktion durch Identität nicht vorlag). Wir entgegnen: 1. Es wird natürlich diejenige Vorstellung reproduziert, die am wenigsten Unterschiede, am meisten Gleiches der Aufmerksamkeit darbietet; 2. Die Wahl wird durch die Verschwommenheit sowohl der rezenten als der zu reproduzierenden Vorstellung erleichtert, da durch die Verschwommenheit phänomenale Gleichheit herbeigeführt werden kann; 3. Auf dieser Stufe wirkt auch bereits die Erziehung und die Sprache als Aufmerksamkeitsmotiv mit. Man lehrt uns, gewisse Gleichheitsreproduktionen zu betrachten, andere fallen zu lassen. Ohne solche künstliche Richtung würden wir wohl schwerlich den Begriff des „Säugetiers“ bilden. (Vgl. 9. Kapitel)

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Unsere Beschreibung der „verschwommenen Vorstellungen“ ist nicht die erste in der Psychologie. Wir fanden jedoch bei Prüfung aller vorhergehenden Ansichten, daß sie in irgendeinem entscheidenden Punkte versagen. Ohne daß wir hier (und ebenso in allen historischen Partien des Buches) auf Vollständigkeit den geringsten Anspruch erheben, seien im folgenden einige Musterbeispiele der einschlägigen Literatur behandelt, die uns mit Widerspruch und Zustimmung im Laufe unserer Arbeit oft nachhaltig angeregt haben. John Stuart Mill 〈…〉 stimmt mit dem von ihm kritisierten Denker gerade im Punkt der Begriffsbildung so ziemlich überein 〈Mill 1908〉. Nach Hamilton können die abstrakten Ideen auch individuell bleiben: „Der Begriff der Gestalt des Pultes vor mir ist eine abstrakte Idee, eine Idee, die einen Teil des Gesamtbegriffes dieses Körpers bildet, und auf die ich meine Aufmerksamkeit konzentriert habe, um sie ausschließlich zu betrachten.“ 〈Mill 1908, S. 423〉 Abstrakte Allgemeinbegriffe werden gebildet, „wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die〈se〉 Ähnlichkeitspunkte 〈(mehrerer Gegenstände)〉 konzentrieren und so den Geist von einer Betrachtung ihrer Unterschiede abziehen.“〈Mill 1908, S. 423〉 J. St. Mill sagt: „Die Bildung | 81 | eines Allgemeinbegriffes besteht also nicht darin, daß wir die Attribute, die ihn, wie man sagt, zusammensetzen, von allen anderen Attributen desselben Gegenstandes trennen, und uns dadurch in den Stand setzen, jene Attribute losgelöst von allen anderen zu denken. Wir stellen sie uns weder vor, noch denken oder erkennen wir sie irgendwie als ein Ding für sich, sondern nur so, daß sie in Verbindung mit zahlreichen anderen Attributen die Idee eines individuellen Gegenstandes bilden. Obschon wir sie aber nur als einen Teil einer größeren Menge denken, haben wir doch die Macht unsere Aufmerksamkeit auf sie zu heften, unter Vernachlässigung der anderen Attribute, mit denen wir sie verbunden denken 〈....〉. Wir haben eine konkrete Repräsentation, von der gewisse der sie bildenden Elemente durch ein Merkmal unterschieden sind, das sie für die besondere Aufmerksamkeit bestimmt; und diese Aufmerksamkeit schließt in Fällen außergewöhnlicher Intensität jedes Bewußtsein der übrigen aus.“ 〈Mill 1908, S. 434f. und S. 437〉 – Wir sehen: beide Autoren haben eine bemerkenswerte Einsicht in das Wesen der Aufmerksamkeit und in ihre Relevanz für die Begriffsbildung. Es fehlt ihnen aber jede Kenntnis von der Verschwommenheit, für sie sind die durch Aufmerksamkeitshervorhebung übrigbleibenden Reste der Anschauung genau so deutlich wie vorher die ganze Anschauung war. Und dies geht auf den im 1. Kapitel gerügten Grundfehler zurück, daß die beiden als primär nicht eine Anschauung, sondern eine sauber nach „Elementen“ oder „Attributen“ eingeteilte, atomisierte Anschaulichkeit voraussetzen. Infolgedessen ist bei ihnen die Wirkung der Aufmerksamkeit eine glatte Subtraktion, es werden gleichsam aus einer Schachtel mit so

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und so vielen Bonbons einige herausgenommen, die Struktur der übrigbleibenden Bonbons hat sich dadurch nicht geändert. Daß die Vorstellung dadurch, daß die Aufmerksamkeit sich vorzugsweise auf einige ihrer Teile richtet, verschwommen und gerade dadurch deutbar, auf viele andere Vorstellungen beziehbar wird, haben beide übersehen. | 82 | Hamilton (siehe das zweite oben angeführte Zitat) überdies nicht so ganz wie Mill, weshalb ihm von letzterem Inkonsequenz und verkappter Konzeptualismus vorgeworfen wird. Bei Mill dagegen bewahrt das durch Aufmerksamkeitsverteilung entstandene Gebilde streng den Charakter der Anschaulichkeit (so weit stimmt es mit unserem „anschaulichen Begriff“ überein), aber auch der Individualität, was ja bei Mills Unverständnis der Verschwommenheit ohne weiteres einleuchtend und folgerichtig ist. Dadurch gelangt Mill zu seinem extremen Nominalismus, in dem es keine Allgemeinbegriffe, nur noch Klassennamen gibt, zu seiner Leugnung des Begriffsumfangs, zu seinen Schwierigkeiten mit Denotation und Konnotation. Im Gegensatz zu dieser konkretisierenden Richtung (ähnlich auch 〈Taine 1870〉, S. 397ff.) hat sich in England eine Schule entwickelt, die das Gewicht auf die Vereinigung vieler Anschauungen in einer einzigen legte und infolgedessen zum Studium der Verschwommenheit gelangte. So fanden wir, unserem Glasplattenbeispiel ähnlich, die Versuche Galtons, der durch übereinander gedruckte Photographien den Familientypus darstellte. Ähnliche Wege gingen Huxley, Bain, Spencer, James〈,〉 Mill. Die Verschmelzung von Vorstellungen zu komplizierteren und dennoch anschaulichen Gebilden wurde entwickelt. Gegen diese „images génériques“ polemisiert Peillaube 〈…〉 offensichtlich mit Unglück, indem er derartige typische Bilder mit „Durchschnittsbildern“ verwechselt: „Tous les hommes n’ont pas un âge moyen, un etaille moyen“ 〈Peillaube 1895, S. 66〉. Gewiß, aber das verschwommene Bild des Menschen ist eben nicht von mittlerer Größe, sondern von verschwommener Größe, d. h. von einer Größe, die nicht beachtet wird und deshalb verschiedene Deutungen zuläßt. – Mit allem Nachdruck weist G. J. Romanes („L’évolution mentale chez l’homme“, wir zitieren nach der französischen Übersetzung) auf die verschwommenen | 83 | Anschauungen hin als auf die „grande terra media, située entre les idées particulières et les idées générales, étrangement négligée par les psychologues“ 〈Romanes 1891, S. 40〉. Mit Hinblick darauf teilt er die Vorstellungen ein in 1. idée simple, particulière, concrète – percepts; 2. idée composée, complexe, mixte – récepts; 3. ideé générale, abstraite – concepts, notions. Die mittlere Gruppe, die récepts, etwa unseren (A + x)-Gebilden entsprechend, entsteht durch die „Ähnlichkeit vorangehender Eindrücke“, automatisch als „associations spontanées, formés sans intention“. Diese haben bei untergeordneten Or-

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ganisationen, z. B. bei Tieren, begriffsähnliche Wirkungen. Nur darin scheint uns Romanes zu weit zu gehen, daß er zwischen récepts und concepts als einzigen Unterschied die Sprache gelten lassen will; wir werden die von „anschaulichen Begriff“ sehr unterschiedene Struktur und Funktion des „wissenschaftlichen Begriffs“ im 9. Kapitel behandeln. James hat die Bedeutung des „Vagen und Unartikulierten“ 〈James 1909, S. 169〉 für das Seelenleben wohl erkannt und unter der berühmt gewordenen Metapher (aber doch nur Metapher) von den „Fringes“ beschrieben. Exaktere Deskriptive bringt O. Weininger in seiner Henidenlehre 〈Weininger 1908, S. 120ff.〉 –Binet behandelt die „fusion“ in seiner „Psychologie du raisonnement“, kommt jedoch in der „Etude expérimentale de l’intelligence“ 〈Binet 1903, S. 104〉 zu dem Schluß, daß die von einer seiner Versuchspersonen sehr schön als „Silhouetten“ beschriebenen unbestimmten Bilder zur Erklärung des wirklichen Denkens nicht ausreichen: „Toute la logique de la pensée échappe à l’imagerie“ 〈Binet 1903, S. 309〉. Seine Argumente gleichen den von uns im 8. Kapitel behandelten. Eine treffende Darstellung bietet ferner Sigwart in seiner „Logik“ § 7. Auch nach ihm sind die Vorstellungen des Kindes „ein rohes und verwaschenes Abbild des Dinges“ 〈Sigwart 1904, S. 52〉, so daß Differenzen mit ähnlichen Objekten gar nicht wahrgenommen werden. „Ganz entgegen der gemeinen Lehre von der Bildung | 84 | der allgemeinen Vorstellungen ist im Individuum wie in der Sprache das Allgemeine früher als das Spe〈c〉ielle, so gewi〈ss〉 die unvollständigere und unbestimmtere Vorstellung früher ist als die vollständige, die eine weitergehende Unterscheidung voraussetzt“ 〈Sigwart 1904, S. 56〉. Sigwart kennt also allgemeine und dennoch anschauliche Vorstellungen, auch über ihre Entstehung äußert er sich richtig (man vergleiche hierzu die Darstellung der „Deckung“ in diesem Kapitel): „Die Unsicherheit des Erinnerungsbildes und das allgemeine Gesetz, das Beneke passend das der Anziehung des Gleichartigen genannt hat, genügen, um es mit einer Reihe von neuen Bildern zu vereinigen und ihm so die Funktion einer allgemeinen Vorstellung zu geben“. Die so entstandenen Gebilde beschreibt er als „flüssig und verschiebbar.“ Leider aber hat er das Wesen dieser Verschiebbarkeit nicht näher untersucht, sonst hätte er darin die Deutbarkeit und damit die logische Funktion dieser Gebilde erkennen müssen. Da er dies nicht tut, gelangt er (ähnlich wie Mill) dazu, die Allgemeinheit der Worte und die der Vorstellungen zu scheiden. Es entsteht für ihn die Schwierigkeit, die wir zu Anfang dieses und des vorigen Kapitels dargelegt haben: was denn aus den unbestimmten Vorstellungen werde, wenn sich mit der fortschreitenden Entwicklung neben ihnen bestimmtere entwickelt haben. Daß gerade dann erst die unbestimmte Vorstellung logisch wertvoll wird, aus einer

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unecht verschwommenen in eine echt verschwommene, deutbare sich wandelt, entgeht ihm in dem Grade, daß er den Satz prägt: „Der gemeinschaftliche Name bleibt und es bilden sich zugleich die Namen für die bestimmteren Vorstellungen. Die bestimmteren Vorstellungen aber verdrängen im Laufe der Zeit die unbestimmteren; diese können in ihrer Verschwommenheit nicht mehr lebendig gemacht werden.“ Wie unrichtig! Von einer Verdrängung der verschwommenen Anschauungen ist gar keine Rede, da doch jedes Zurücktreten um ein paar Schritte, jedes Sinken der Aufmerksamkeit, jeder zeitliche Abstand von | 85 | dem erinnerten Gegenstand genügt, um uns sein verschwommenes Bild lebendig zu machen. – An dieser Stelle dürfte der Leser mit uns darin übereinstimmen, daß eine genaue Deskription des Verschwommenheitsphänomens die Arbeit am Begriffsproblem beträchtlich zu fördern geeignet ist. Auf derselben Stufe seines Gedankenganges biegt auch H. Gomperz in seinem bedeutungsvollen Buche „Zur Psychologie der logischen Grundt〈h〉atsachen“ von unserem Wege ab. Nachdem er neben Einzelvorstellungen die „Verschmelzung der Vorstellungen“ im Anschluß an Binet anerkannt hat, fragt er: „Wie alteriert diese Thatsache der Vorstellungsverschmelzung das Seelenleben 〈…〉?“ Und seine „reiflich erwogene Antwort lautet: in der Hauptsache nicht〈!〉“ 〈Gomperz 1897, S. 11f.〉 Hierfür gibt er im wesentlichen fünf Gründe an: 1. Die Vorstellungsverschmelzung ändert nichts an der psychologischen Einfachheit der hierdurch entstehenden Gebilde. Diese sind deshalb nicht als zusammengesetzt, nicht als allgemein zu bezeichnen. Wenn für das ungeübte Auge zwei Farben noch zusammenfallen, die für das geübtere auseinandertreten, so darf man deshalb nicht sagen, der erstere einheitliche Eindruck sei ein zusammengesetzter oder verschmolzener. Ein Mensch mit getrübtem Sehvermögen, der nur den Unterschied von hell und dunkel empfindet, nicht die einzelnen Farben, hat deshalb nicht eine „allgemeine Vorstellung“ in dem Sinne, als zöge er von allen Einzelfarben die Eigenschaft der Helligkeit ab und bilde aus ihr seine neue allgemeine Qualitätsvorstellung. Sonst müßte schließlich das Protozoon allgemeiner, zusammengesetzter denken als der Mensch. Die auf mangelnder Unterscheidungsgabe beruhende Vorstellungsverschmelzung berührt die Einfachheit der Empfindungen und Erinnerungsbilder nicht und auch ein mit einem unvollkommenen Erkenntnisvermögen ausgestattetes Wesen hört deshalb nicht auf, in Einzelvorstellungen zu leben und zu denken. – Hierzu bemerken wir, daß Gomperz mit diesem Argument | 86 | nur die „auf mangelnder Unterscheidungsgabe beruhende Vorstellungsverschmelzung,“ also die vorbegriffliche Verschwommenheit trifft, die wir als „unecht verschwommen“ gekennzeichnet haben. Von ihr sehr weit entfernt ist das mit dem Merkmal der Deutbarkeit ausgestattete (A + x)-Gebilde mit seiner so bedeu-

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tungsvollen Eigenschaft, sich bei Aufmerksamkeitserhöhung mit irgendeiner der schärferen Vorstellungen zu identifizieren, also gleichsam eine Verschwommenheit nach den Einzelvorstellungen, während die Verschwommenheit vor den Einzelvorstellungen (deren ein Protozoon, ein am Augenlicht Geschädiger teilhaftig ist) für die Begriffsbildung freilich ohne Einfluß bleibt. 2. Gomperz fährt fort: Diejenigen Denker, die den Tieren solche allgemeine verschmolzene Vorstellungen zuschreiben, geraten in die Schwierigkeit, denen der Konzeptualismus ausgesetzt ist. Romanes, Darwin, Huxley sind in diesem Fall. Wie sollen wir auch die Artvorstellung eines Dreieckes haben, daß weder spitzwinklig, noch rechtwinklig, noch stumpfwinklig wäre, oder die eines Pferdes, das weder Brauner, noch Schimmel, noch Rappe ist. Hierauf scheint uns die Entgegnung richtig, daß unsere „verschwommene Vorstellung“ wirklich diese Hauptschwierigkeit des Konzeptualismus behebt. Die verschwommene Vorstellung eines Pferdes ist tatsächlich weder braun noch weiß, noch schwarz; wohl aber ist sie, falls man die Einzelvorstellungen „Brauner“, „Schimmel“, „Rappe“ gehabt hat (also früher nicht – siehe 1. Argument!) als jede dieser Einzelvorstellungen deutbar. Dieser Bedingung genügt schon die durch Nebel, Entfernung oder andere physikalische Gründe hervorgerufene verschwommene Vorstellung „Pferd“; um so mehr, wenn Aufmerksamkeitsverteilung, (A + x)-Bildung mitwirken. Von den höchsten Graden der Verschwimmung, die wahre Zaubereien im Lavieren zwischen klarer Bestimmtheit und ganz allgemeiner Bedeutung ausführen, wird allerdings erst im nächsten Kapitel gehandelt werden können. | 87 | 3. Gomperz glaubt ferner als Beleg für seine Ansicht, daß isolierte Wesen zwar assoziierte und verschmolzene Einzelvorstellungen, nicht aber Gemeinvorstellungen haben, die Tatsache anführen zu können, daß gerade die tiefstehenden Naturvölker eine nur unvollkommene Abstraktion haben – die Eskimos besitzen z. B. für Seehundfang und Walfischfang keine gemeinsame Bezeichnung, die Eingeborenen der Gesellschaftsinseln keine für Hundeschwanz und Vogelschwanz zusammen, die Irokesen haben dreizehn Worte für verschiedene Arten des Waschens. Diese für uns sehr interessanten Tatsachen zeigen aber unseres Erachtens nur gerade, wie das (A + x) auf einem der anschaulichen Detaillierung entgegengesetzten Wege, also auf dem Rückwege zur vorbegrifflichen (freilich in der Struktur durch Deutbarkeit modifizierten) Anschauung hin und nicht auf dem Wege von ihr weg gewonnen wird. Die scharfen Sinne dieser Naturvölker sehen eben bei den Vorstellungen „Hundeschwanz“ und „Vogelschwanz“ das Verschiedenartige so detailliert, daß sich deren Gleiches als zu geringfügig nicht verstärken kann, so daß eine Deckung dieser Vorstellungen gar nicht eintritt.

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4. Huxley schließt daraus, daß ein Hund Bettler anbellt, gutgekleidete Leute aber vorbeiläßt, darauf, daß der Hund eine Artvorstellung von „Fetzen und Schmutz“ hat. Gomperz meint dagegen: „Wie will man beweisen, daß des Hundes Eindruck von der zerlumpten Kleidung des Bettlers von heute nicht identisch ist mit den früheren? Glaubt man, der Hund müsse die Nuancen der Zerlumpung bemerken, die uns selbst entgehen? – In Wahrheit werden die Unterschiede, welche belanglos und gleichgiltig sind, übersehen, und was bemerkt wird, ist der einheitliche Charakter. Es steht jedermann frei, dies eine rezeptive Abstraktion zu nennen. Allein der springende Punkt ist, daß das Wesentliche einer Verallgemeinerung ein Gegensatz zum bloßen Mangel von Unterscheidung ist, daß | 88 | sie geschieht, ohne die wahrgenommenen Unterschiede zu vernachlässigen. Wir wissen, daß Schimmel und Rappe, wie wir sehr wohl auseinanderhalten, beides Pferde sind; daß auch der Hund „Fetzen und Schmutz“ einheitlich zusammenfasse, obwohl er ihre Besonderheiten im einzelnen Falle auseinanderhält – zu dieser Annahme vermisse ich jeden zwingenden Anlaß.“ Dagegen argumentieren wir wie bei Punkt 1. Auch hier scheidet Gomperz das „echt Verschwommene“ nicht genügend vom „unecht Verschwommenen.“ Ob freilich die verschwommenen Vorstellungen des Hundes „echt“ oder „unecht verschwommen“ sind, also aus Verschiedenheiten der Einzelvorstellungen entstanden oder vor Bemerken solcher Verschiedenheiten: das wagen wir nicht zu entscheiden, da wir nur das menschliche Verhalten geprüft haben. 5. Schließlich betrachtet Gomperz die kindliche Sprachentwicklung, wobei er davon ausgeht, daß das Kind, wenn es eine Artvorstellung hätte, den Namen, den es als Bezeichnung eines Individuums einer solchen Art lernt, auf die ganze Klasse ausdehnen müßte. Nicht aber dürfte es den Namen nach oberflächlichster Ähnlichkeitsbeziehung von einem Objekt auf andere übertragen. Es hat aber Romanes festgestellt, daß ein Kind eine Ente „Quack“ nannte, ebenso Wasser, dann alle Insekten und Vögel, andere Flüssigkeiten, dann Münzen mit dem Bild eines Adlers. „Nun kann doch ein Zweifel nicht bestehen, daß es keine allgemeine Vorstellung gibt, die die Merkmale von Fliege, Wein und Münzen in sich vereinigt, und es darf als sehr unwahrscheinlich, ja als ausgeschlossen gelten, daß ein Kind, das von den Arten Flüssigkeit, Münze und Vogel eine, wenn auch noch so unbewußte und undeutliche Gemeinvorstellung hätte, alle drei unter einem gemeinsamen Namen zusammenfassen sollte.“ Auch dieses Beispiel (und ihm ähnlich jenes von Taine zitierte Kind, das Eisenbahnen, Dampfschiffe, Kaffeetöpfe, eine | 89 | Weingeistlampe, kurz alles, was pfiff oder rauchte „féfer“ nannte) scheint uns nur für unsere Ansicht zu zeugen. – Das Kind hat eben seine Gesamtvorstellung durchaus nicht nach Klassen unserer entwickelten wissenschaftlichen Begriffsbildung, sondern wirk-

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lich nach ganz oberflächlichen Ähnlichkeitsbeziehungen geordnet. Erinnern wir uns daran, daß uns als erste Entwicklungsstufe der kindlichen Weltauffassung ein vollständig ungegliedertes, also in allen Teilen ununterscheidbares Chaos galt; daß erst allmählich durch das Verstärkt werden ganz großer, nur im Groben gleicher Komplexe die ersten hervorgehobenen Eindrücke entstanden; daß bei diesen Hervorhebungen Intensität und Gefühlsbetonung eine große Rolle neben der Gleichheit spielten: – so werden wir uns nicht wundern, daß den stumpfen Sinnen und der ungefestigten irrenden Aufmerksamkeit des Kindes wirklich Flüssigkeit, Münze (mit dem Bild eines Vogels), Vogel und Insekt phänomenal gleich waren, vermöge irgendeines flüchtigen Aufglänzens etwa oder einer anderen hervorstechenden Eigenschaft, welche die Aufmerksamkeit des Kindes so sehr auf sich lenkte, das es alle anderen noch so handgreiflichen Unterschiede übersah. An diesem letzten Beispiele konnten wir überdies lernen, daß die Gesamtanschauung im ersten vorbegrifflichen Stadium und das später auf tretende (A + x) sich nicht bloß durch Deutbarkeit bzw. Fehlen einer solchen unterscheiden, sondern daß das (A + x) auch die praktischere Anordnung des Verstärkten und Vernachlässigten voraus hat. In dieser Anordnung prägt sich alles aus, was wir erfahren haben, jede Einzelvorstellung hat bekräftigend, schwächend, ordnend mitgewirkt, während im Vorbegrifflichen die Seele, förmlich betäubt vom Lärm der Welt, geblendet von den einfachsten Effekten, das Nächste-Beste an sich reißt und so den rohesten Zufällen ausgeliefert ist, glücklich, wenn sie wenigstens eine vorläufige, ungefähre und ungeschickte Ordnung in den Wirrwarr bringt. | 90 |

Fünftes Kapitel Die höheren (A + x)-Gebilde Von dem bereits erlangten Standpunkt aus öffnen sich nun für die weitere Untersuchung viele Wege, welche einander vielfach durchkreuzen und in geringerer oder größerer Entfernung ineinander münden oder sich neu verzweigen. – So ist es nötig, die Entwicklung der höchsten Begriffe aus den bis jetzt gewonnen Gebilden zu untersuchen. Zugleich drängen sich Fragen nach der eigentlichen Natur dieser (A + x)-Gebilde, nach ihrer genauen Beschreibung, Beobachtung und Abgrenzung gegen andere psychische Phänomene auf, die uns veranlassen, den Leser, dem sich, während wir den einen dieser Wege beschreiten, verschiedene Zweifel aufdrängen, die ihm hierher gehörig erscheinen, um Nachsicht zu bitten, mit der Versicherung, daß wir auf alle auftauchenden Fragen in den nächsten Kapiteln zurückkommen werden. Zunächst eine Einschränkung: Keineswegs sind mit der hier verfolgten Entwicklungsreihe alle Seiten des Begriffsproblems erschöpft. Wir machen schon jetzt auf eine zweite, grundverschiedene Quelle der Begriffsbildung aufmerksam, die wissenschaftliche, die den Gegenstand späterer Betrachtung bilden wird. Wohl aber scheinen uns die Begriffe des gewöhnlichen Lebens, die ohne Anspruch auf besondere wissenschaftliche Schärfe und ohne Erfordernis einer solchen gebraucht und verstanden werden, ihrem Wesen nach (A + x)Gebilde, oder, wie wir sie bereits genannt haben, „anschauliche Begriffe“ zu sein. Wir sehen somit in ihnen keineswegs, wie es sonst geschieht, einen Gegensatz zur „Anschaulichkeit“, sondern eine Fortbildung, Modifizierung des Anschaulichen. Wohl sind die anschaulichen Begriffe abstrakt im gewöhnlichen Sinne; dies beruht aber auf ihrer Verschwommenheit, Lückenhaftigkeit und Verschärfungsmöglichkeit, also auf Eigenschaften, die an jeder Anschauung nachzuweisen sind, mit Ausnahme| 91 | der wenigen, die den Nullpunkt der Verschwommenheitsskala bilden. „Abstrakt“ und „anschaulich“ sind uns also keine Gegensätze. Sondern jede Anschauung ist infolge ihrer Verschwommenheit mehr oder minder abstrakt. Nur nach den Gründen dieser Verschwommenheit (physikalische, mangelhafte Organausnützung, Aufmerksamkeitsverteilung, Dekkung ungleicher Vorstellungen) unterscheiden wir nun Anschauung und Begriff, also nicht nach der phänomenalen Deskriptive, sondern nach der Genese und Leistung. Der unmittelbaren Wahrnehmung bleibt natürlich ihre Sonderstellung gewahrt; aber von den speziellen Erinnerungsbildern, denen manche Forscher die Anschaulichkeit der Wahrnehmung zuschrieben, führt eine nuancenreiche Überleitung zum anschaulichen Begriff. Und selbst die

DOI 10.1515/978311053719-009

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verschwommene Wahrnehmung zeigt in ihrer Deutbarkeit etwas, was so sehr der Nenn-Funktion des Begrifflichen entspricht, daß scharfe Abgrenzungen schwierig werden. Wir kommen auf diese Frage später zurück. Ehe wir uns nun der Weiterentwicklung des (A + x) zu den höheren Begriffen zuwenden, müssen wir noch, späteren Ausführungen vorgreifend, konstatieren, daß diese (A + x)-Gebilde durchaus nicht frei neben den Wahrnehmungen schweben, ein Sonderleben führen, sondern daß zwischen ihnen und der Wahrnehmung eine rege Wechselwirkung besteht. Daß diese (A + x)-Gebilde auf die anschauliche Erfassung der Welt einwirken, bedarf keiner näheren Begründung. Wir sahen bereits die Deutung einer anschaulichen, verschwommenen Wahrnehmung, z. B. des entfernten Ofens, determiniert durch das im Subjekt angehäufte Erfahrungsmaterial. Dieses Material besteht nun im Wesentlichen nicht aus speziellen Erinnerungsgebilden, wie wir nach dem damaligen Stande der Untersuchung annahmen, sondern aus (A + x)-Gebilden, deren Vorhandensein also auf die Art und Weise, wie wir die anschauliche Welt erleben, bestimmend einwirkt. Niemand darf sich einbilden, | 92 | daß er das sieht, was seine Augen ihm momentan zeigen. Er sieht bald mehr, bald weniger, und bei der Formung, die er dem gibt, was sich scheinbar so unabhängig vor seinen Augen auftut, wirft er seine (A + x)-Gebilde in die augenblickliche Wahrnehmung hinein. Man sieht also tatsächlich zum großen Teile nur das in der Welt, was man schon vorher gesehen und verdaut hat. Von hier aus ergibt sich vielleicht erst das volle Verständnis für die Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen hatten, als wir im 1. Kapitel die vorbegriffliche Anschauung konstruierten, also dieses Hineinwerfen von (A + x)-Gebilden einmal sistieren wollten. Es ist nun klar: das, was dem Erwachsenen als bloße Anschaulichkeit (von nichts Abstraktem scheinbar beeinflußt) erscheint, ist durchaus nichts Primäres, sondern schon sehr Verarbeitetes. – Ein Beispiel: Ich trete in die verdunkelte Theaterloge ein. An der Wand bemerke ich ein Bild aus hundert rätselhaften Farben, etwas ganz Unklares, Unbegreifliches, Ungeordnetes. Plötzlich fällt mir ein: „Das ist ja der Spiegel, der in jeder Loge hängt, und in ihm spiegelt sich die Galerie des Theaters.“ In demselben Augenblick, in dem ich dieses (A + x) der „Galerie als Spiegelbild“ in die Anschauung hineinwarf, änderte sich das Bild, löste sich die so verworrene Fläche in genaue Bankreihen, Menschen in farbigen Toiletten, und in kleine Bewegungen dieser winzigen Figuren auf. So hatte ich also einmal den Übergang vom Vorbegrifflichen zum Gedeuteten, diesen Sprung beobachtend selbst erlebt, und seither gelang es mir oft, meine Seele bei dieser Arbeit des Formens der Anschaulichkeit zu belauschen, bei dieser Tätigkeit, die deshalb so schwer zu beobachten ist, weil sie so schnell und mühelos vor sich geht und weil sie alltäglich ist. – Was wir also ohne Mithilfe der (A + x)-

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Gebilde sehen würden, das wäre um nichts deutlicher als jenes Bild der entfernten Galerie an der dunklen Logenwand. Erst das Eingreifen dieser seelischen Gebilde schafft uns die Welt, wie wir sie sehen. | 93 | Das wäre nun eine Seite der Beziehungen zwischen der Wahrnehmung und den (A + x)-Gebilden. Die Kehrseite, die Beeinflussung dieser Gebilde durch die Wahrnehmung ist ebenso unschwer zu begreifen. Es ist uns schon bekannt, wie die jeweilige Wahrnehmung ein ihr zugehöriges (A + x) hervorruft, lebendig macht, wie die beiden in einer Kontinuitätsreihe ineinanderfließen. Beide sind ja verschwommen. Die abstrakte Vorstellung infolge ihrer Entstehung durch Deckung mehrerer Vorstellungen, die gegenwärtig anschauliche infolge der durch das (A + x) bewirkten Aufmerksamkeitsverteilung; beide unterscheiden sich nur durch den Grad der Verschwommenheit und eben in diesem Unterschied haben wir durch unsere Erfahrung kein Hindernis für das Identitätsurteil sehen gelernt. Nun einen Schritt weiter, an der Hand eines Beispieles, das uns die spezielle Wahrnehmung eines Hundes biete: der Wahrnehmungs-Hund reproduziert den (A + x)-Hund in der bekannten Weise. Der WahrnehmungsHund hätte nun anschauliche Eigenschaften, die beim ersten Anblick unbeachtet, die Reproduktion des (A + x) nicht hinderten, nunmehr aber eben infolge gewisser Widerstände beim Einfließen des (A + x), die sie verursachen, in Aufmerksamkeit geraten. Trotz dieser geringfügigen Unterschiede verschmelzen die beiden gleichzeitig vorhandenen, sich bis auf diese Kleinigkeit deckenden Vorstellungen, in eine. Nur ist das (A + x) nicht ganz unversehrt aus dieser Berührung mit der lebenden Anschauung davongekommen; es hat eine kleine Deformierung erlitten, hat gleichsam diese Anschauung in sich aufnehmen müssen, um sie in Gestalt dieser kleinen Änderung weiterhin mit sich zu führen. Wir kennen diese Änderung; ein scharfes und feststehendes Teilchen des A (im A + x) wurde mit etwas von ihm Verschiedenen zur Deckung gebracht; was das bedeutet, wissen wir schon; dieses Teilchen verliert seine Schärfe und wird trüb; wiederholt sich das Erlebnis, so versinkt das Teilchen in das verschwommene Material des (A + x). Ein Stückchen hat sich vom A abge- | 94 | bröckelt und ist im x untergetaucht. Das A ist kleiner geworden, das x größer. Der Inhalt des Begriffes hat sich verringert, der Umfang ist gewachsen. Das Fortschreiten zum höheren Begriff hat sich vollzogen, indem die verschwommene Partie größer geworden ist, ohne daß dadurch die Anschaulichkeit etwas eingebüßt hätte. Ein detaillierterer Fall unseres Beispiels möge diesen Vorgang illustrieren: es habe ein Kind aus allen Hunderassen mit Ausnahme der Pudel, die es noch nie gesehen hat, seinen (A + x)-Hund gebildet, der natürlich mit dem wissenschaftlichen, merkmalsmäßig festgelegten Begriff des Hundes nicht viel gemein haben wird, sondern in einer recht verschwommenen Hundevorstellung beste-

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hen wird, in der gewisse stets wiederkehrende Eigenschaften z. B. ungefähre Größe, rohe Gestalt, walzenförmiger Leib, der Hundeblick u. ä. – (wieso derartige „Merkmale“ angeführt werden können, dürfte im Laufe dieses und des nächsten Kapitels klar werden –) als Grenze (A) eines willkürlich Auszuwechselnden (x) deutlich sich hervorheben. Tritt nun der erste Pudel dem Kinde entgegen, so lenkt sich die Aufmerksamkeit des Kindes vermöge des in ihm enthaltenen nunmehr lebendig gewordenen (A + x) auf die mit diesem (A + x) übereinstimmenden Details des Hundes, die andern verschwimmen. Das Identitätsurteil wird gefällt, – vollbewußt ausgedrückt etwa des Inhalts: Dies ist der Hund, den ich im Sinne trage. – Ob das soweit kommt, hängt natürlich von der Stärke des (A + x) und vielen Nebenumständen in der Wahrnehmung ab; genug, es kann so kommen. – Bei näherem Hinblicken, d. h. bei veränderter Aufmerksamkeitsrichtung, für die ja in jedem Augenblick neue Motive auf treten können, wird bemerkt, daß dieser Pudel doch nicht ganz in den (A + x)-Hund hineinpaßt. Er hat wolliges Haar; das ist neu; widerspricht ein wenig dem A. Das kann zur Folge haben, daß der Pudel wieder den Hundecharakter verliert, daß also das Identitätsurteil annulliert wird; kann aber auch eine Modifikation | 95 | des (A + x)-Hundes bewirken: Bisher war die Oberfläche des Hundes deutlich glatthaarig, von nun an, resp. nach einer Anzahl ähnlicher Erlebnisse, ist sie weder glatt noch wollig, ihre Beschaffenheit wird verschwommen, bleibt gleichgültig, fällt in das x. – An dieser Stelle wird es auch ohne weiteres deutlich, wie sehr Tradition und Erziehung in die menschliche Begriffsbildung eingreifen. Würde dem Kinde die Einbeziehung des Pudels in seinen (A + x)-Hund ausgeredet werden, so würde kein Anlaß zu fernerer gemeinsamen Reproduktion und Deckung vorliegen, das (A + x) des Hundes würde eine andere Entwicklungsrichtung nehmen. Mit den Worten „Dies ist ein Hund“, mit dieser Benennung wird ein Verbindungsmotiv geschaffen. Von Natur aus wäre ja vielleicht die Einbeziehung eines Fuchses oder Wolfes in den (A + x)-Hund leichter. Hier aber spielt schon die wissenschaftliche Klassifikation mit, durch andere Motive als die in der unmittelbaren Anschauung gelegenen werden die (A + x)-Gebilde in Bahnen gelenkt, die der menschlichen Gesellschaft von alters her ersprießlich scheinen. Ziehen wir in Betracht, daß nun diese (A + x)-Gebilde die Anschauung, wie oben ausgeführt, beeinflussen, ja gestalten, so werden wir uns nicht wundern, daß der Mensch sich schließlich einbildet, die Klassen, die seine Ahnen aus irgendwelchen Gründen, vielleicht Vorurteilen, gebildet haben, in seiner scheinbar unbeeinflußten Anschauung leibhaftig vor sich zu sehen. Der Satz: „Man braucht nur die eigenen Augen aufzumachen, um richtig zu sehen“ ist falsch. Denn man kann die Augen nicht aufmachen, ohne die ganze Maschinerie der eigenen, aber auch

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der fremd-ererbten (A + x)-Gebilde in Tätigkeit zu setzen. Statt der unendlichen Mannigfaltigkeit der Natur, die zwischen je zwei Individuen Unterschiede legt, andererseits aber die entferntesten Gegensätze im Sinne des „natura non facit saltus“ durch reichnuancierte Reihen verbindet, sehen wir, indem wir nach unseren (A + x)-Gebilden die einen Unterschiede ver- | 96 | stärken, die anderen vernachlässigen, scharf voneinander abgegrenzte Typen. Die Frage nun, wie hoch auf dem hier gezeigten anschaulichen Wege die Begriffsreihe faktisch hinaufgeführt wird, ob also auch die höchsten Begriffe auf diese Art entstehen, ist nicht praktisch, da in diesem Stadium der Begriffsbildung der wissenschaftliche Begriff schon entscheidend mitgewirkt hat. Immerhin besitzt aber das Anschauliche Kräfte genug, um bis in recht hohe Regionen menschlicher Vernunft emporzudringen. So können vor allem zwei oder mehrere (A + x)-Gebilde zu einem (A + x)Gebilde höherer Ordnung verschmelzen, – ohne dadurch selbst etwa verschwinden zu müssen. Der Anlaß dazu, daß zwei (A + x)-Gebilde zur Deckung gebracht werden, ist darin zu suchen, daß sie einander infolge von Gleichheiten, die durch besonders hingelenkte Aufmerksamkeit entstehen, reproduzieren. Leicht kann ja eine Wahrnehmung in gewissen Fällen verminderter Aufmerksamkeit zwei verschiedene, wenn auch ähnliche (A + x)-Gebilde hervorrufen. Es fällt jemandem z. B. beim flüchtigen Anblick eines Hundes nicht nur (A + x)-Hund, sondern auch (A + x)-Katze ein. Hund und Katze haben ja bei oberflächlicher Betrachtung Ähnlichkeiten genug. Diese Deckung der beiden (A + x)-Gebilde, die durch die gleichzeitige Reproduktion zustandekommt, bleibt nicht ohne Erfolg. Durch wiederholte derartige Erlebnisse verstärkt sich das Gemeinsame im A, und das Wechselnde versinkt ins x, wie wir das schon oft genug beschrieben haben. So entstehen durch fortwährende Berührung der (A + x)-Gebilde miteinander immerwährend (A + x)-Gebilde höherer und höherer Ordnung, immer abstraktere anschauliche Begriffe, während es die ursprünglichen (A + x)-Gebilde der stetigen Belebung durch die bestätigende frische Wahrnehmung verdanken, daß sie trotz dieses Verkehres mit den übrigen (A + x)-Gebilden erhalten bleiben, ja sogar immer prägnantere Gestaltung erlangen. | 97 | So kann also schon das Kind zu gewissen hohen Begriffen gelangen, wie etwa, durch Betonung der Beweglichkeit der Tiere gegenüber der Unbeweglichkeit der Zimmermöbel, zu einem (A + x), in dem das einzig Bestimmende etwa diese Beweglichkeit wäre, und das dem wissenschaftlichen Begriff „Tier“ nahekommt. Freilich nur nahekommt. Man darf sich diese primitive Begriffsbildung durchaus nicht nach den Klassen unserer späteren Begriffe, die nach ganz anderen Gesichtspunkten gebildet werden, geordnet denken. Möglicherweise

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rechnet das Kind noch etwa die „Uhr“ mit dem großen hin- und hergehenden Pendel zu den Tieren. Die Korrektur solcher naiver Vorstellungen, die allerdings nicht in dieser eben angedeuteten Grobheit, aber doch recht intensiv die kindliche Seele beherrschen, erfolgt, sobald das Kind zum ersten Male mit der wissenschaftlichen Begriffsbildung, mit Definitionen usf. bekannt wird, also in der Regel wohl mit Beginn der Schule, und wir alle haben wohl noch in heftiger Erinnerung, wie fremdartig und willkürlich uns zunächst diese kalte Welt der wissenschaftlichen Begriffe anmutete, in der ein „Kreis“ nicht mehr diese vertraute Figur ist, sondern „jene in sich geschlossene Linie, deren sämtliche Punkte von einem fixen Punkte gleichen Abstand haben“, wie spielerisch, ja erschlichen und betrügerisch uns die ersten Begriffsbestimmungen erschienen, und wie wir uns nur ungern aus unserer einfachen, anschaulichen und doch schon so durchgebildeten Welt vertreiben ließen. Denn hier schon sei es betont: der wissenschaftliche Begriff ist keine ruhige Weiterentwicklung des Anschaulichen mehr, wenn er auch auf diesem beruht, sondern etwas ganz Neues, das in ganz anderer Richtung zum Anschaulichen hinzutritt. Doch so verschieden diese beiden Arten der Begriffe sind, bei ihrer Entstehung wirken sie aufeinander ein. Das heißt: Viele von ihnen entstehen erst in einer Epoche, in der es schon beide Begriffskategorien gibt und unter Einfluß der anderen Kategorie. So dürfen wir uns eine Art der Deckung von (A + x)- | 98 | Gebilden unabhängig von einem Wahrnehmungsanlaß, bloß durch theoretische Interessen, also wissenschaftlich verursacht denken. Es bedarf hier nicht der speziellen Wahrnehmung eines Hundes, um auf die Ähnlichkeit von (A + x)Hund und (A + x)-Katze zu kommen. Sondern da diese (A + x)-Gebilde im Geiste vorhanden sind, reproduzieren sie einander auch ohne solchen Anlaß, sie geben zu denken und leiten die Aufmerksamkeit von selbst zu höheren Begriffsbildungen. Wir befinden uns ja jetzt bereits auf einer Stufe menschlicher Entwicklung, in der die Seele auf Anregung und Motive der Außenwelt nicht mehr sklavisch warten muß; nein, der Geist hat die Außenwelt vermöge der Gliederung, die er ihr gegeben hat, vermöge der oft in der verschiedensten Richtung durch sie geschickten Aufmerksamkeitsströme in der Hand, er hat Überfluß an Motiven, er lebt sein eigenes Leben, und es ist nur wahrscheinlich, daß sich auch da sehr bald ein lebhaftes wissenschaftliches Interesse nach Sichtung des eigenen (A + x)-Vorrats zeigt, das dann eben zu der angegebenen Deckung und zu der bereits beschriebenen weiteren Entwicklung zu höheren (A + x)-Gebilden führt. Es scheint uns nunmehr die höchste Zeit, einer Frage Raum zu geben, die sich jetzt nicht mehr zurückdrängen läßt, und deren Beantwortung uns nicht

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nur um eine großes Stück Erkenntnis fördern soll, sondern auch geeignet ist, den bisher vorgebrachten Ansichten erst die richtige Gestalt zu geben. Was ist jenes rätselhafte Etwas, das die angeführten (A + x)-Gebilde gemeinsam haben sollen? Oder: Wie sieht das A bei den höheren (A + x)-Gebilden aus, was bleibt als A bei den höchsten (A + x)-Gebilden übrig? War es schon schwer, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie das A bei (A + x)-Hund ausschauen soll, da es einen Dackel und Bernhardiner gemeinsam, und dabei doch anschaulich sein soll, wie sollen wir es uns nun bei „Tier“ oder „organisches Wesen“ vorstellen? | 99 | Oder bei noch abstrakteren Vorstellungen wie „Waffe“ oder „Kunstwerk“ (das von H. Gomperz in dieser Hinsicht angeführte Beispiel)? Die Anschauung scheint ja – wenn wir einer naiven Betrachtung folgen – aus Sinnesqualitäten, also soweit es die optische Anschauung anlangt, aus Farbenqualitäten zu bestehen. So wird sich denn alles, könnte man meinen, in Sinnesqualitäten auflösen, aus Sinnesqualitäten wieder aufbauen lassen. Wenn dem so wäre, so müßten die letzten (A + x)-Gebilde graue Wände sein, sofern überhaupt eine qualitative Deckung eines Schwertes, eines Schildes, eines Gewehres und einer Kanone denkbar ist. Diese Verlegenheit wäre groß genug, wenn uns nicht schon bei der allerersten Überlegung des Satzes: „Die Anschauung läßt sich in Sinnesqualitäten auflösen und aus ihnen aufbauen“ die schwersten Zweifel aufgestiegen wären. Schon wenn wir bei diesem Bilde bleiben und es weiterführen wollten, drängt sich die neue Frage auf: Was ist denn das Bindemittel, der Kitt, mit dem wir diese Bausteine, die einzelnen Qualitäten, verbinden wollen? Und es taucht die Vermutung auf, ob nicht vielleicht diesem Bindemittel eine große Rolle zukomme, so wichtig, wie die der Qualitäten selbst. Wir bejahen diese Frage. Es ist in der Anschauung noch etwas, das mindestens so wichtig ist, wie die Qualitäten selbst. Dieses Etwas, das wir bald näher beschreiben werden, sind die Relationen. Es wird sich zeigen, daß wir uns mit dieser Benennung von der herrschenden Terminologie nicht wesentlich entfernen. Was fällt uns denn bei der Einzelanschauung tatsächlich am meisten auf? Was merken wir uns am ehesten an ihr und woran erkennen wir sie wieder? Ein Beispiel möge uns helfen. Was ist das Charakteristische an einem Tierkörper, das Gemeinsame an allen Tierkörpern? Sicher nicht bloß der Farben- | 100 | eindruck. Wohl aber gewisse örtliche Beziehungen, wie Gestalt und Anordnung, also Ortsrelationen. Der örtliche Zusammenhang von Kopf, Leib, Beinen, Schwanz usw.

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Wenn wir uns ein Tier zusammenstellen wollten, in dem die Anordnung dieser Körperteile eine andere wäre – jeder kann sich das selbst ausmalen – so wird dieses Monstrum kaum den Eindruck eines Tierkörpers machen, obwohl die Qualitäten, ja sogar ganze Komplexe mit ihren Spezialrelationen dieselben geblieben sind, und nur die Hauptrelation sich geändert hat. Beim Anblick einer Schlange verdrängt wohl das eigentümliche Winden des langgestreckten Leibes, das Schlängeln, die ganze übrige Anschauung, beim Anblick eines fliegenden Vogels die Flugbewegung alle weiteren Einzelheiten. In der Anschauung eines Baumes ist die örtliche Anordnung von Krone und Stamm vorherrschend, vielleicht sogar das Hervorsprießen aus der Erde, oder das der Blätter aus den Zweigen. Wenn wir uns einen Kampf vorstellen wollen, so wird das erste ein Eindruck des Gegeneinander sein, eine Ortsrelation, vielleicht noch mehr, ein feindliches Gegeneinander, wobei das Gefühl schon mitspielt. Das führt uns weiter. Wir sehen ein drohendes, schreckliches Gesicht. Wird bei diesem Erlebnis das Schreckende, Gefürchtete, Gehaßte die Anschauung nicht durchdringen, übertönen? Oder spielt bei der Erinnerung an ein liebliches Gesicht nicht das Gefühl eine Rolle, die von der Anschauung kaum zu trennen ist? Es sind hier leichthin und unsystematisch Beispiele gegeben worden, an denen das Gemeinsame war, daß das rein Qualitative hinter dem, was wir Relation nannten, irgendwie zurücktrat. Die Relation war scharf, das Qualitative verschwommen. Hier ergibt sich ein Einblick: Die Relation war A, das Qualitative x. Es sind also die angeführten Fälle: Relationen mit verschwommenem Fundament. | 101 | Diese Erkenntnis wirft auf das Wesen der (A + x)-Gebilde ein ganz neues Licht. Nun verstehen wir, wie überhaupt die Verbindung der A mit dem x zu denken ist, warum gesagt werden kann, das A determiniere das x, gebe ihm Grenzen, bilde ihm dem Rahmen, durchziehe es als Skelett, oder wieder, das x fülle die Form des A aus, sei durch das A geordnet, zusammengehalten und fixiert. Nun wissen wir auch, wie das A bei solchen verschwommenen Vorstellungen aussieht, bei denen wir früher etwas Gemeinsames, Anschauliches festzustellen in Verlegenheit waren. Und doch sind, wie wir jetzt auch sehen, diese (A + x)-Gebilde nichts als Anschauung, keineswegs das, was als nirgends beschriebenes, psychisches Phänomen des Unanschaulichen, Begrifflichen, Abstrakten oder Gedanklichen gemeiniglich angenommen wird.

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Auf Grund dieser neuen Erkenntnis können wir in der Polemik gegen Gomperz, die das vorige Kapitel abgeschlossen hat, fortfahren. – Nachdem nämlich Gomperz die verschwommene Vorstellung als untauglich für die Begriffsbildung bezeichnet hat, gelangt er doch dazu, in den folgenden Ausführungen ein anschauliches Moment im Begrifflichen zu statuieren, wodurch er sich unserer Theorie wieder nähert. – Doch soll dieses beschauliche nur beim Sprechenden, nicht beim Hörenden mitwirken (Gomperz unterscheidet genau den psychischen Vorgang in diesen beiden Personen) und soll auch „wenig anderes als assoziatives Nebenprodukt des lauten oder stillen Sprechens“8 sein. Dieses „anschauliche Begriffskorrelat“ soll nach Gomperz bestehen 1. aus der Vorstellung, die das Aussprechen veranlaßte und die verblassend fortbesteht, 2. aus Gefühlen, die sich an diese Vorstellung knüpfen, 3. Innervationsempfindungen beim Aussprechen des Wortes, 4. aus dem lautlichen Klang des Wortes, 5. möglicherweise aus seinem Schriftzeichen. – Die richtige Beobachtung, die in Punkt | 102 | 2–5 liegt, wollen wir später behandeln [Surrogat (A + x)]. Uns interesssiert Punkt 1, denn es ist klar, daß in diesem Teil des „anschaulichen Begriffskorrelates“ nichts anderes als unser (A + x) vorliegt. Es besteht nach Gomperz in Vorstellungsresten mit konstanten Merkmalen. „Es sind eben jene gemeinsamen Merkmale, die bewirken, da〈ss〉 die einzelne Vorstellung unter dem allgemeinen Wort〈e〉 begriffen wird. Nicht als ob diese 〈gemeinsamen〉9 Merkmale für sich vorgestellt werden könnten. 〈…〉 Allein trotzdem werden sich die 〈c〉onstanten Merkmale mit der Zeit summieren und verstärken, die wechselnden immer mehr schwächen, so daß sich mit der Zeit, wo dies möglich 〈ist〉10, ein Durchschnittsbild ergeben wird, in dem die 〈c〉onstanten Merkmale stärker, die wechselnden schwächer hervortreten werden.“ 〈Gomperz 1897, S. 29f.〉 – An dieser Stelle, sollte man glauben, brauchte Gomperz nur seine „verschwommenen Vorstellungen“ des ersten Kapitels heranzuziehen und könnte den Kreis so schließen, wie wir es in der vorliegenden Arbeit versuchen, indem wir die „Allgemeinheit“ der (A + x)-Gebilde eben auf ihre Verschwommenheit stützen. Aber gerade hier legt Gomperz wieder energisch Protest dagegen ein, daß man diese „Vorstellungsreste“ und „Nebenprodukte“ bei der Begriffsbildung entscheidend mitwirken läßt. „Erstlich sind diese V〈o〉rstellungsreste viel zu unbestimmt und enthalten auch viel zu viel Einzelnes, um im Abstrakten alle Individuen vertreten zu können. Man stelle sich nur das dürftige Gebilde vor, welches der „Baum“ an

|| 8 Brod und Weltsch haben in den Text eingegriffen; die Stelle lautet in Gomperz 1897, S. 30f.: „Mir sind sie wenig anderes als associative Nebenproducte des lauten oder stillen Sprechens.“ 9 EA: konstanten 10 EA: wird

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sich repräsentiert: ein Stamm mit Rinde und ein paar Verzweigungen mit Astansätzen, in grüne Farbe auslaufend: das ist alles. Nadeln oder Blätter dürfen nicht daran sein, und dieser dürftige Rest, auch er enthält zu wenig und auch zu viel, weil er schon eine gewisse Größe usw. voraussetzt. Unmöglich könnten an ihm die allgemeinen Eigenschaften aller Bäume aufgezeigt werden.“ Der letzte Satz betrifft den wissenschaftlichen Begriff und kann in diesem Zusammenhang nicht untersucht werden. Gomperz fährt | 103 | fort: „Zweitens aber: in sehr vielen Fällen kann auch dieser dürftige Durchschnitt nicht zustande kommen. 〈Ue〉berall nämlich, wo das Gemeinsame nicht in einer sinnlich wahrnehmbaren Qualität, sondern in einer gleichen Relation besteht. Niemand kann sich 〈„ein Paar“〉11 an sich vorstellen. Denkt er auch nur an zwei unbestimmte Farbenklekse, so ist dies eine reine Einzelvorstellung〈,〉 und nur an dieser, sowie an allen anderen Einzelvorstellungen desselben Begriffes findet sich die gemeinsame Relation. Da wir aber von einem Paar ebenso bestimmt und deutlich reden können wie von einem Baum, so folgt schon hieraus, da〈ss〉 es nicht eine solche vage und allgemeine Vorstellung sein kann, mit der das abstra〈c〉te Wort asso〈c〉iativ verbunden ist“ 〈Gomperz 1897, S. 34〉. Der Leser wird ohne weiteres einsehen, daß für uns der Einwand der „Dürftigkeit des (A + x)“ wegfällt, da wir eben in Relationen mit verschwommenen Fundamenten den Kern dieser höheren Gebilde, wie z. B. „Baum“ eines vorstellt, finden. So haben wir den anschaulichen Begriff des Baumes in Orts- und Bewegungsrelationen (Hervorsprießen) bestehend gefunden. – Ebenso ist der zweite Einwand für uns nichtig, der darauf hinzielt, daß Relationen ohne ihre Fundamente nicht anschaulich vorstellbar sind. Wir stellen sie eben nicht „ohne Fundamente“, sondern mit „verschwommenen Fundamenten“ vor, d. h. so, daß die Aufmerksamkeit vorzugsweise die Relation heraushebt und alles andere ganz im Dunkel, in gleichgültiger Vieldeutigkeit beläßt. | 104 |

 

|| 11 EA: ein „Paar“

Sechstes Kapitel Relationen und Akte Unsere Darstellung, die sich das methodische Ziel gesetzt hat, vom Einfachen ausgehend und im Bilde einer Entwicklung fortschreitend, zum reifen, komplizierten Seelenleben zu gelangen, ist auf diesem Wege erst im letzten Kapitel auf die Tatsache der Analyse gestoßen. Es hat sich diese Analyse durch das Spiel der psychischen Tätigkeiten gleichsam von selbst ergeben, dadurch daß Komplex A sich durch Einwirkung anderer (A + x)-Gebilde gliedert, indem gewisse höhere (A + x)-Gebilde in niederen (A + x)-Gebilden, oder was das Gleiche ist, gewisse höhere A in niederen A-Komplexen, sich verstärkten, die Aufmerksamkeit auf sich zogen, wiedererkannt wurden. So kann z. B. das (A + x)-Tier im (A + x)-Hund, in welchem es ja jedenfalls enthalten ist, da es durch Deckung von (A + x)-Hund mit anderen (A + x)-Gebilden entstanden ist, das in uns vorhandene (A + x)-Tier, nachdem es sich einmal gebildet hat, reproduzieren; nach den Kenntnissen, die wir von diesem Prozeß schon haben, wird dadurch das (A + x)-Tier im (A + x)-Hund hervorgehoben, wird als das bereits bekannte wiedererkannt, als im (A + x)-Hund enthalten wiedererkannt. Damit ist der (A + x)Hund in einer Richtung analysiert. Dem folgen natürlich eine Reihe ähnlicher Erlebnisse mit den anderen im (A +x)-Hund enthaltenen A-Komplexen, die sich indessen gebildet haben, und so kann die Analyse in automatischer, unbeabsichtigter Weise vor sich gehen, wobei die letzten Ergebnisse der Analyse, wie wir an dieser Entwicklung genau sehen, nichts anderes sein können, als die höchsten von uns geschaffenen (A + x)-Gebilde. Und so gelangen wir zur Frage: Was ist das Resultat dieser Analyse? Oder: Welches sind die höchsten (A + x)-Gebilde? Zu einer wesensgleichen Frage hätten wir früher kommen müssen, wenn uns nicht der Umstand, daß es überhaupt zu | 105 | einer Analyse kommt, Problem geworden wäre. Denn dann hätten wir schon an früherer Stelle mit der Analyse der Gesamtanschauung beginnen und die Frage aufwerfen können: Woraus besteht die Gesamtanschauung? Daß diese Frage aber tatsächlich erst jetzt am Platze ist, und vor Besprechung der (A + x)-Gebilde und ihrer Entwicklung ganz sinnlos gewesen wäre, wird dem Leser, der uns aufmerksam bis hierher gefolgt ist, nicht unklar sein, ebensowenig, wie er im Zweifel darüber sein wird, daß die Antwort auf beide Fragen ein und dieselbe sein muß. Zunächst kommen nun zweifellos als letzte Elemente die Sinnesqualitäten in Betracht, d. s. die bekannten und seit jeher als einfachste psychische Elemente auf gefaßten Spezies der einzelnen Sinnesgebiete. Das ist aber, wie im vori-

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gen Kapitel ausgeführt wurde, durchaus nicht die einzige und auch nicht die wichtigste Art letzter Anschauungselemente. Es blieben noch Elemente, die wir Relationen nannten. Eine Definition kann hier füglich unterbleiben; die Beispiele des letzten Kapitels sowie der wissenschaftlich überlieferte Sinn dieses Terminus dürften vollauf genügen, um dem Leser diesen Begriff soweit klar zu machen, als es am Eingänge dieses Kapitels, das sich ja eine nähere Untersuchung der Relationen zur Aufgabe macht, nötig ist. Die vorherrschende Frage im Gebiete der Relationen ist die nach der Weise ihres Erlebens. Wie erfahren wir die Relationen? Wie entstehen sie? Das Problem ist keineswegs genetisch, wie es auf den ersten Blick scheint, sondern rein deskriptiv. Es wird in der inneren Wahrnehmung jener Akt gesucht, der die Relation zum Inhalte hat. Bei der Untersuchung des psychischen Geschehens wird ja immer wieder die Erfahrung gemacht, daß es der größten Aufmerksamkeit und reifster deskriptiv-psychologischer Übung bedarf, um aus den unanalysierten Komplexen der inneren Anschauung jenen Akt herauszuheben, dessen Inhalt uns als wichtiger und oft | 106 | wiederholter Teil der äußeren Anschauung recht gut bewußt ist. Es wird also unsere Aufgabe sein, unsere Aufmerksamkeit auf die innere Anschauung und deren Teile zu lenken, letztere gleichsam künstlich bewußt zu machen. Wir wissen, daß Aufmerksamkeitsänderungen nur Verschiebungen auf der Verschwommenheitsskala zur Folge haben, und brauchen daher nicht zu besorgen, es könnte das schärfer beobachtete und herausgehobene Phänomen hierdurch etwa noch weitere Änderungen erfahren. Gelingt es diese inneren Erlebnisse zu erfassen, so ist die Aufgabe der deskriptiven Psychologie damit noch nicht erledigt; denn dann heißt es, zu erkennen, in welche große Klassen psychischer Phänomene diese Erscheinungen einzureihen sind. Das ist nicht etwa überflüssig, wie es Fanatikern der Deskriptive vielleicht scheinen möchte. Denn wir wollen zu einem deskriptiven System kommen und von da aus zu wissenschaftlichen Begriffen; diese allein können die geeignete Grundlage für eine Erforschung der herrschenden Gesetze bilden, wie im 9. Kapitel noch zu zeigen sein wird. Hierzu kommt noch, daß bei einer der Beschreibung so schwer zugänglichen Materie die Klassifizierung unter bereits bekannte Gruppen oder zumindest die Anlehnung an diese die relativ beste Art der Deskriptive ist. Indem wir uns in der Grundeinteilung der psychischen Phänomene in der Hauptsache an die von Brentano eingeführte – also: Vorstellungen, Urteile, Interessephänomene (Gefühle) – halten, wird die nächste Frage die sein: Sind die Relationserlebnisse Vorstellungen, Urteile oder Gefühle?

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Alle drei möglichen Antworten haben in der Psychologie ihre Vertreter gefunden. Wir schließen uns jenen an, die die Relationen als Vorstellungen klassifizieren. Freilich bemerken wir gleich hier, daß die Rolle der Relationen bei der Aufmerksamkeitsverteilung und in den (A + x)-Gebilden – also ihre | 107 | wichtigste Funktion – in einer großen Zahl von Fällen auf Phänomene übergeht, die nur als Urteile oder Gefühle, genauer als Urteils- oder Gefühlsakte – im Sinne Brentanos – angesprochen werden können. Doch darüber später. Die Relationen sind also Vorstellungen, und zwar, behaupten wir, anschauliche Vorstellungen. Sie sind wahrhaft letzte Elemente der Gesamtanschauung, die uns genau so gegeben sind, d. h. von uns durch Einwirkung der Aufmerksamkeit genau so aus der Gesamtanschauung herausgehoben werden, wie die einzelnen Sinnesqualitäten. Man kann die Relationen nach ihren Fundamenten, d. h. nach den Vorstellungen, die ihnen zugrundeliegen, ihre Voraussetzung sind – in welcher Weise, soll gleich untersucht werden – einteilen. Wir führen hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, an: A. Einfache Relationen. 1. Ortsrelationen, deren Fundamente phänomenal absolute Orte sind, und zwar entweder getrennt (nebeneinander, rechts, oben usw.) oder ein Kontinuum bildend. Im letzten Falle entstehen Figuren, „Gestalten“ (Linie, Fläche, Quadrat, Körper). 2. Zeitrelationen, deren Fundamente phänomenal absolute Zeitmomente sind, und zwar getrennt (Das Nacheinander zweier Ton-Qualitäten usw.) oder im Kontinuum (dauerndes Tönen usw.). 3. Qualitätsrelationen, bei welchen das Neben- oder Nacheinander einfacher Qualitäten einen neuen anschaulichen Inhalt gibt (Ton-Intervalle, TonAkkorde, Farben-Akkorde usw.). 4. Vergleichsrelationen (Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit, Größenverhältnisse u. ä.). Diese Relationen erleben im Gebiete des wissenschaftlichen Begriffs, wo nämlich der „Zahlbegriff“ hinzutritt, eine bedeutsame Weiterentwicklung; an diesem Orte ist aber von ihnen nur als anschaulichen Relationen die Rede, von jenem Inhalte etwa, der z. B. beim Gleichheitseindruck mit den automatischen Verstär- | 108 | kungen in den gleichen Objekten als anschauliches Erlebnis eigener Art im Subjekte parallel geht und nicht weiter rückführbar ist. (Vgl. die Argumentation von Ebbinghaus 〈1902〉, S. 474ff.) B. Aus diesen einfachen Relationen bauen sich die zusammengesetzten auf, in welchen einfache Relationen als Fundamente wirken, und zwar Relationen derselben Art, wie z. B. bei Quadrat (verschiedene Ortsrelationen) oder Relationen verschiedener Art, wie z. B. bei der Melodie (wo Zeitrelationen [Rhythmen],

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mit Qualitätsrelationen verschiedener Art, [Intervallen und Intervallenfolgen] eine höhere Einheit bilden). Ähnlich ist es mit der Relation der Bewegung. Ihr Fundament ist eine bestimmte Kombination von Orts- und Zeitrelationen, man sollte annehmen, Orts- und Zeitkontinuen. Ob aber wirklich Ortskontinuum erforderlich ist, damit die Anschauung der Bewegungsrelation zustande kommt, ist nach den Ergebnissen Max Wertheimers 〈…〉, die hierüber ganz neues Licht verbreiten, zumindest zweifelhaft 〈Wertheimer 1912a〉. Sicherlich liegt in vielen Fällen neben dem Zeitkontinuum auch ein Ortskontinuum zugrunde. Doch scheint nach Wertheimers Experimenten ein in ganz bestimmter Zeit aufeinanderfolgendes Nebeneinander ohne Kontinuum genügend, um den Bewegungseindruck hervorzurufen. Alle diese Relationen rechnen wir also zu den anschaulichen Vorstellungen, zu jenen psychischen Akten, die nichts weiter sind, als ein Gegenwärtigsein von Inhalten ah sich, frei von jeder urteilenden oder emotionellen Stellungnahme des Subjekts. Fragen wir nun darnach, was die Relationen von den übrigen Vorstellungen unterscheidet, so fällt als besonderes Charakteristikon eine gewisse Bedingtheit, Abhängigkeit von anderen Vorstellungen – den Fundamenten – auf, eben jene Relativität, die ihnen den Namen gegeben. Der Verdacht, daß es sich hier um eine lediglich logische Beziehung handle, | 109 | und daß man vielleicht fälschlich dieser logischen Tatsache psychologische Bedeutung beimesse, nötigt uns, diese Abhängigkeit näher zu untersuchen. Hierbei sei zunächst die tatsächlich rein logische Beziehung ausgeschaltet, die darin liegt, daß z. B. die Eigenschaft des „Vaterseins“ von der Existenz eines Sohnes abhängig ist. Für das Wesen des Vaterseins ist die Existenz eines Sohnes Bedingung. Ob aber für die Vorstellung des Vaters die Vorstellung des Sohnes Voraussetzung ist, – und das ist erst die psychologisch in Betracht kommende Frage – ist damit noch nicht ausgemacht. Auf dem Boden der Psychologie bleibend, formulieren wir also die Frage so: „Ist die Vorstellung der Relation von der Vorstellung ihrer Fundamente abhängig?“ Indem wir diese Frage bejahen, haben wir das charakteristische Merkmal, das die Relationen von den übrigen Vorstellungen auszeichnet, gewonnen. Zur Rechtfertigung unserer Antwort sei nun die Bedeutung dieser Abhängigkeit näher untersucht. Wir stellen zunächst fest: Es gibt keine Vorstellung der Relation ohne Vorstellung der Fundamente. Man kann die Relation nur erleben, wenn man die Fundamente erlebt. Dagegen scheint nun vieles zu sprechen. Oft, beinahe könnte man sagen, in der Regel, erfahren wir eine gewisse Selbständigkeit der Relationen gegenüber ihren Fundamenten. Man erinnert sich hier – um markante Fälle zu nennen – an die transponierte Melodie, wo wir trotz ziemlich geänderter Fundamente

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kaum einen Unterschied merken und die Relation ohne weiteres sofort wiedererkennen. – Wie oft scheint uns die Gleichheit früher bewußt zu werden als die Qualitäten, die in dieser Relation stehen! Hierher gehören auch Fälle, die Wertheimer in seiner bereits zitierten Bewegungsarbeit anführt. Er experimentiert an einem Tachistoskop, indem er durch rasch aufeinanderfolgendes Exponieren zweier ruhender Geraden a und b den Eindruck hervorruft, als habe sich a | 110 |nach b bewegt. Es ist ihm hierbei gelungen, den Bewegungseindruck zu erzielen, auch wenn das eine Fundament, die Gerade a, vollkommen in Ruhe erscheint und das Bewegungsphänomen sich nur am anderen Fundament, der Geraden b, zeigt. (〈Wertheimer 1912a,〉 S. 199) Durch verschiedene Experimente weist er nach, daß nicht die Fundamente: a, b und Bewegung gesehen werden, sondern schlechterdings nur: „Bewegtes“. (〈Wertheimer 1912a,〉 S. 213.) Auf S. 226 heißt es prägnant: „Der Beobachter sagt hier, nicht der Strich bewegt sich hinüber, glaubt auch nicht, er bewege sich hinüber, a nach b, oder er scheine sich hinüberzubewegen; sondern: ich sehe a, ich sehe b, ich sehe zwischen den beiden Bewegung, ich sehe das Hinüber, die Drehung – nicht des Striches oder der Striche, die sind an ihren Orten a und b –ein starkes oder schwaches ‚Hinüber’ selbst.“ 〈Wertheimer 1912a, S. 226〉 Ja es gelingt Wertheimer sogar, 〈…〉 das eine Objekt wirklich wegzunehmen, so daß nur ein ruhiges Objekt dableibt – und es wird doch Bewegung gesehen 〈Wertheimer 1912a, S. 218〉. Wir kommen darauf noch zurück. Die Lösung dieser Schwierigkeit liefern die bereits erlangten Ergebnisse dieser Arbeit. Wir wissen ja schon, daß die Gesamtrelation ein (A + x) sein kann; daß aus diesem Gesamteindruck die Relation selbst als A hervorragen und die Fundamente im x, also uneigentlich bewußt bleiben können. Da sich nun dieses uneigentlich bewußte, oder verschwommene Material von anderem ebenso uneigentlich bewußtem oder verschwommenen nicht unterscheidet – bei letzterem natürlich nur, soweit es das vorhandene A zuläßt – so brauchen wir uns nicht mehr zu wundern, wenn wir eine Änderung dieser Materialien resp. Fundamente nicht merken oder mindestens bei einer gewissen Aufmerksamkeitsrichtung leicht von ihr absehen. Dies der Fall der transponierten Melodie. Damit ist nun keineswegs gesagt, daß die Fundamente überhaupt nicht vorhanden wären, daß also die Vorstellung der Relation von der Vorstellung der Fundamente unabhängig | 111 | wäre. Denn Verschwommenheit ist keineswegs gleichbedeutend mit Nichtvorhandensein, ebensowenig wie das UneigentlichBewußtsein. Wir wissen, auch letzteres ist phänomenal gegeben, wenn auch als mit anderem – hier mit der Relation selbst – verschwommenes Material. Wenn wir zwei Äpfel sehen („zwei“ bedeute hier nicht den wissenschaftlichen Zahlbe-

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griff, sondern das lokale Nebeneinander, die „Zweigestalt“), so kann bei Scharfbleiben dieser Relation „zwei“ das Fundament noch so verschwimmen – begrifflich ausgedrückt, aus den zwei grünen Äpfeln werden etwa zwei Äpfel mit indifferenter Farbe – zwei runde Gegenstände – zwei Gegenstände … usw., aber immer bleibt noch irgendein Fundament. Verschwindet dieses ganz, so ist auch die Relation „zwei“ nicht mehr vorhanden. Man darf sich eben die verschwommene Gesamtrelation, überhaupt das Verschwommene nicht als ein distinktes Aneinanderstoßen von Scharfem und Uneigentlich-Bewußtem denken, so daß neben der scharfen Relation phänomenal nichts mehr vorhanden wäre. Sondern das Uneigentlich-Bewußte ist Teil der verschwommenen Gesamtanschauung, erfüllt die Relation, d. h. das Licht des A strahlt, allmählich verblassend, in die Fundamente hinein. Das ist natürlich mit dem wirklichen Leben verglichen immer noch schematisch, denn da gibts keine Ruhe, bald geht die Aufmerksamkeit leichthin über das x hinweg, es ganz in seiner uneigentlichen Bewußtheit lassend, bald dringt sie – bei irgendeinem kleinen Aufenthalt – tief in das x hinein, immer neue A, ineinander geschachtelt, produzierend. Versuchen wir nun weiter uns das Verhältnis zwischen Relation und Fundament klar zu machen, so ergibt sich ein der obigen Frage entgegengesetztes Problem: Ist die Relation immer vorhanden, sooft ihre Fundamente gegeben sind? Dem Wesen der Relation, wie wir es bisher gefunden, würde es entsprechen, die Frage zu bejahen. Doch scheint dagegen wieder die Erfahrung zu sprechen, die uns zeigt, daß bei ge- | 112 | gebenen Fundament das Relationserlebnis oft genug ausbleibt. Der Unmusikalische erfährt offenbar trotz Vorhandenseins der gleichen Fundamente viel weniger musikalische Relationen als der Musikalische. Außerdem droht hier der Einwand, daß man – nach dieser Ansicht – eine Unendlichkeit von Relationen erleben müßte, die aus der großen Anzahl jederzeit vorhandener Fundamente und deren Kombination untereinander und mit den bereits entstandenen Relationen entspringen würden. Diesen Sinn scheint uns auch der von H. Gomperz (〈Gomperz 1905〉, S. 106) gegen die Gestaltqualitäten mit Bezug auf A. Meinong (〈Meinong 1902〉, S. 123) erhobene Einwand des unendlichen Regresses zu haben. Gomperz meint: wenn n Qualitäten nur durch eine (n + 1)te Gestaltsqualität verbunden werden könnten, müßte offenbar auch die Verbindung dieser (n + 1)ten Qualität mit den n anderen Qualitäten wiederum durch eine (n + 2)te Qualität vermittelt werden usw. in infinitum. – Es handelt sich aber – glauben wir – bei einer Gestaltqualität (die hier unserer anschaulichen Relation gleichkommt) gar nicht um die Vermittlung einer Verbindung; es handelt sich einfach darum, daß ein neuer anschaulicher Inhalt entsteht oder entstehen kann; daß, wenn die Töne c und f

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gegeben sind, in vielen Fällen der Quarteindruck (c f) eintritt. Nur in ganz übertragenem Sinne kann man da noch von einer Verbindung von c und f durch (c f) sprechen. Noch weniger kann aber von einer notwendigen Verbindung die Rede sein. C und f müssen keineswegs immer und bei jedem den typischen Quarteindruck ergeben. Deshalb können c und f doch gegeben sein und bleiben. (c f) und c und f müssen aber ebensowenig eine neue Gestaltqualität zweiter Ordnung ergeben. Deshalb können c und f und (C f) doch gegeben sein und bleiben. In dem Moment, da der neue sinnliche Eindruck (c f) entstanden ist, ist er eben schon ganz mit allen seinen Eigenschaften da und bedarf keiner Verbindung | 113 | mit c und f. Es hat sich einfach nebst c und f ein neuer Eindruck (c f) gebildet. Wir haben ja schon davon gesprochen, wie c und f gegenüber (c f) zurücktreten können, so daß sie selbständig gar nicht mehr vorhanden sind, und Wertheimers Bewegungsarbeit bietet uns, wie schon gezeigt wurde, gerade dafür treffende Illustrationen. Freilich geben wir zu, daß eine derartige neue Gestaltqualität „2. Ordnung“ eintreten kann. Damit haben wir aber den Einwand auf die oben angeführte Form gebracht. Um diesen zu erledigen, brauchen wir aber nur für die vagen Ausdrücke wie „vorhanden, erleben usw.“ unsere durch diese Untersuchungen gewonnenen praecisen termini einzusetzen, und die Antwort ergibt sich wie von selbst: Bei eigentlich-bewußtem Fundament sind die Relationen als uneigentlich-bewußte stets vorhanden, als eigentlich-bewußte aber nur unter gewissen Voraussetzungen. Die Frage nach den letzteren aber beantwortet uns dieselbe Beobachtung und dieselbe Überlegung, die uns schon bei der Frage nach dem „Eigentlich-Bewußtwerden“ der Qualitäten zum Ziele geführt hat. Aus der Gesamtanschauung sondern sich in gleicher Weise durch das Spielen der Aufmerksamkeit Qualitäten wie Relationen. Als uneigentlich-bewußte Gebilde schlummern sie so lange in der Gesamtanschauung, bis sie infolge verschiedener Motive, wie Wiederholung, Intensität, Erziehung, biologische Wichtigkeit, Gefühlswert, ästhetischen Reiz usw. die Aufmerksamkeit erfaßt und eigentlich bewußt macht. So ist es erklärlich, warum die Relationen manchmal bewußt werden, manchmal wieder nicht; es fehlen eben in letzterem Falle die Motive für die Aufmerksamkeit, die sie erst eigentlich bewußt machen kann, wie z. B. der ästhetische Reiz beim Unmusikalischen. Für die Bedeutung der Aufmerksamkeit für das Zustandekommen des Relationseindrucks bietet uns wieder die angeführte Arbeit Wertheimers interessante Belege. Immer wieder | 114 | weist er darauf hin (hauptsächlich § 11 der Arbeit), wie die Aufmerksamkeit das Entstehen des Bewegungseindrucks begünstigt, obzwar man erwarten sollte, daß ihn die Aufmerksamkeit gerade erschweren

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sollte, da ja eine physikalische, also eine „wirkliche“ Bewegung in Wertheimers Versuchen nie vorlag. Uns kann das nach dem Angeführten nicht mehr Wunder nehmen, da wir die Abhängigkeit des Relationseindrucks von Vorgängen der Aufmerksamkeit bereits kennen. So braucht uns denn die Gefahr der Unendlichkeit der Relationen nicht zu erschrecken. Eigentlich-bewußt werden nur wenige, da die Arbeitskraft der Aufmerksamkeit beschränkt ist, und die uneigentlich-bewußten, die ja gar nicht selbständig, sondern nur ein Stück verschwommenen Materials sind, beschweren uns ebensowenig wie etwa die unendlich vielen Teile eines Kontinuums. – Es hat sich somit ein vollständiger Parallelismus zwischen Qualitäten und Relationen ergeben, und das entspricht vollkommen der Tatsache, daß die Relationen genau so letzte Elemente der Anschauung sind wie die Qualitäten. Eine weitere Seite der Abhängigkeit der Relationen von ihren Fundamenten liegt darin, daß die Relationen durch ihre Fundamente eindeutig bestimmt sind. Wenn der Maler einen bestimmten Gesichtsausdruck reproduzieren will, der ja auf einer komplizierten Ortsrelation beruht, muß er die Fundamentalrelation und in letzter Linie die Fundamentalqualitäten darstellen. Aus diesem Grunde sind Ungeübte auch so ganz außerstande, komplizierte Formen, deren Gesamtrelation ihnen klar und bekannt ist, zu zeichnen, weil sie es nicht verstehen, die Aufmerksamkeit auf die der Relation zugrundeliegenden Fundamente – das eigentliche Objekt des Zeichnens – zu richten, und weil ihnen diese Fundamente, obwohl – oder weil – die Relation selbst so hoch bewußt ist, nicht zum expliziten Bewußtsein kommen. | 115 | Diese Bestimmtheit und Übertragbarkeit der Relation durch ihr Fundament würde man aber ganz falsch verstehen, wenn man annehmen würde, daß durch das Hervorrufen der Fundamente der eigenartige anschauliche Inhalt der Relation – sofern er aus irgendwelchen Gründen nicht eigentlich bewußt wird – ersetzt werden kann. Ebensowenig kann aus diesem Grunde etwas dagegen eingewendet werden, daß wir die Relation als letzte, nicht rückführbare Elemente der Anschauung ansehen. Bei einer Auflösung der Relation in ihre Fundamente als vermeintliche weitere Elemente der Analyse würde die ganze Relation einfach verloren gehen. Die Relation ist eben mehr als die bloße Summe ihrer Fundamente, sie ist im Wesen ein neuer anschaulicher Inhalt, der zu den Fundamenten hinzutritt, und der bei einer Zerlegung der Relation in ihre Fundamente verschwände. Eine wichtige Folge der oben beschriebenen Abhängigkeit der Relationen von den Qualitäten sei hier nicht unerwähnt gelassen. Während die Vermehrbarkeit der Qualitäten bei einer bestimmten gleichbleibenden optischen Einstellung praktisch begrenzt ist, lassen sich die Relationen beliebig vermehren, da ja

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jede Qualität mit jeder anderen wie mit den schon hervorgetretenen Relationen und diese wieder untereinander neue Relationseindrücke hervorrufen können, falls die Aufmerksamkeit (wie dies etwa bei dichterischen Met〈〉aphern geschieht) in die entsprechende, oft ganz ungeahnte Richtung gelenkt wird. So werden ganz zarte Gleichheiten erhascht, welche auch an gewohnten Dingen und Situationen neue, bisher unbemerkte Relationen oder Details entdecken und diese dadurch prägnanter als bisher charakterisieren, so wird Entlegenstes zu Entlegenstem in Beziehung gebracht. Gegen unsere Ansicht, daß die Relationen eigenartige anschauliche Inhalte seien, könnte man vielleicht das Vorbringen, was H. Gomperz 〈…〉 als Haupteinwand gegen die Lehre von den Gestaltqualitäten führt 〈Gomperz 1905, S. 107〉. Gomperz zitiert | 116 | v. Ehrenfels, der die Gestaltqualitäten als „positives Vorstellungselement“ bezeichnet, und 〈…〉, geradezu meint „sie gehöre demselben Sinnesgebiete an, wie die durch sie verbundenen Vorstellungselemente“ 〈Ehrenfels 1890, S. 262〉, es werde somit die „Melodie gehört, das Quadrat gesehen“. Speziell gegen diese letzte Behauptung wendet sich Gomperz entschieden und führt zu ihrer Entkräftung jene Fälle an, wo die Elemente der Gestaltqualität verschiedenen Sinnesgebieten angehören. Diese Phänomene hat v. Ehrenfels ursprünglich tatsächlich für Gestaltqualitäten angesehen, wir waren aber in der Lage in allen derartigen Fällen Urteile zu konstatieren – wie z. B. bei dem von Gomperz zitierten „Ding“ – und können daher durch dieses Argument nicht berührt werden. Die anschaulichen Relationen, von denen wir gesprochen, gehören durchwegs immer einem Sinnesgebiete an. Warum sollte man aber in diesen Fällen nicht sagen können, die Relationen werden gesehen oder gehört? Was bedeutet eigentlich dieser Satz? Soll das etwa nur heißen, daß hierbei der physiologische Apparat in Funktion ist? Das wäre selbstverständlich. Weit eher steckt also in dieser Frage ein Zweifel, ob Relationen genau so gesehen werden, wie Qualitäten, ob die Abhängigkeit von den Qualitäten, die wir bei den Relationen festgestellt haben, sich nicht auch beim Sehen durch irgendeinen Vorzug der Qualität bemerkbar macht. Die Beobachtung lehrt, daß dies nicht der Fall ist. Der Vorzug gebührt nicht etwa der Qualität gegenüber der Relation, vielmehr der Gesamtanschauung gegenüber Qualität wie Relation. Wir sehen tatsächlich immer nur Gesamtanschauung. Erst infolge einer komplizierten Entwicklung werden in dieser Gesamtanschauung Qualitäten eigentlich bewußt aber immer nur innerhalb der Gesamtanschauung, mit einem ständigen Hofe von Gesamtanschauung. Eine vollkommen isolierte Qualität ist überhaupt kein psychisches Erlebnis, sondern nur ein | 117 | abstrakter Teil. Genau so ist’s aber mit den Relationen. Auch diese sind in der Gesamtanschauung enthalten und

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vermögen nur durch eine vollkommen gleiche Entwicklung wie die Qualitäten dieselbe beschränkte Isoliertheit zu erreichen wie diese. Damit sie aber – als eigentlich-bewußte – aus der Gesamtanschauung hervortreten, ist es keineswegs nötig, daß vorher auch die sie fundierenden Qualitäten eigentlich bewußt werden. In dieser Hinsicht ist eine vollkommene Selbständigkeit vorhanden, die mit der vorhin erwähnten Abhängigkeit deshalb nicht in Widerspruch steht, weil es eben genügt, wenn die Fundamente uneigentlichbewußt in der Gesamtanschauung vorhanden sind. Für diese Selbständigkeit bieten uns die bereits angeführten Experimente Wertheimers Beispiele genug und finden zugleich eine entsprechende Erklärung. Wenn Wertheimer sich doch 〈…〉 gegen die in gewisser Hinsicht mit uns analoge Theorie der Gestaltqualitäten wendet und sich hierbei auf jenes Experiment beruft, wo er sogar bei objektivem Fehlen eines Fundaments (a) den Bewegungseindruck (a b) erzielt 〈vgl. Wertheimer 1912a, S. 242〉, so hat er darin nur scheinbar eine Stütze. Das Fundament a ist hier eben in den knapp vorangegangenen Experimenten, wo es gegeben war, zu suchen und wirkt eine kurze Zeit noch nach. Wertheimer selbst behandelt ja dieses Experiment als einen Erfolg der Einstellung. Es ist übrigens auch ein interessanter Fall des „Hineinwerfens eines (A + x) in die Anschauung“. (7. Kapitel.) So spricht in diesen Experimenten nichts gegen unsere These von der eigenartigen Abhängigkeit der Relation vom Fundament, wie wir sie beschrieben haben; denn was Wertheimer noch gegen die Theorie der Gestaltqualitäten anführt, trifft die hier dargestellte Lehre von den anschaulichen Relationen nicht. Auch die physiologische Hypothese Wertheimers verträgt sich ganz gut mit den hier vorgetragenen psychologischen Anschauungen. | 118 | Eine gewaltige Überschätzung und Verkennung dieser Abhängigkeit würde es aber bedeuten, wollte man darin ein Argument für den Urteilscharakter der Relationen finden. In dieser Frage können uns nur die Urteilskriterien, die wir im 2. Kapitel aufgezählt haben, Aufklärung bieten. Das Plus, das bei den Relationen zu den Fundamenten hinzutritt, ist, wie schon oft genug betont, ein anschaulicher Inhalt, und der kann seine Entstehung nie einem Urteil verdanken. Die Beobachtung, daß hier wirklich etwas neues Anschauliches vorliegt, hat ja die ganze Frage der Gestaltqualität ins Rollen gebracht. Der nachdrückliche Hinweis auf die Transponierbarkeit einer Melodie, d. h. auf das Wiedererkennen einer Melodie bei verändertem Fundament, ist ein unbestreitbares Verdienst v. Ehrenfels’. Daß wir den sinnlichen Inhalt eines Quartintervalles immer wiedererkennen, mag es sich um welche Töne immer handeln, ist – sofern die klare Selbstbeobachtung hier noch eines Arguments bedarf – der beste Beweis dafür, daß die Quartrelation ein anschaulicher Inhalt ist.

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Wollte man trotzdem an dem urteilsmäßigen Charakter der Relationen festhalten, so käme man auch in folgende Zwangslage: Wie soll man die zahllosen sinnlichen Verschiedenheiten der Relationen auffassen? Als Verschiedenheit der Urteils-Materie? Bekanntlich beruht aber gerade das Wiedererkennen der Relationen auf der Verschwommenheit der Fundamente, also der vermeintlichen Urteilsmaterie. Denn nur so verschwinden die Unterschiede, die sonst ein Wiedererkennen erschweren oder unmöglich machen würden. So müßte man also die ganze Mannigfaltigkeit der Relationen in der Form des Urteils suchen, eine ungeheuere Anzahl Urteilsmodi konstruieren, wie etwa einen Quart- oder Quintmodus usw. – Dies widerspräche aber nicht nur einem Hauptcharakteristikon des Urteils, der bestimmten, engbegrenzten Anzahl der modi, sondern würde noch überdies die anschauliche Beschaffenheit des Relationsinhalts unerklärt lassen. | 119 | Auch der einer Urteilsentscheidung oft vorangehende Überlegungszustand ist bei den Relationen nicht zu finden. Das Auftreten des Relationseindrucks hängt bei vorhandenem Fundament nur von der Aufmerksamkeit ab. Bei der Urteilsentscheidung kann aber der Zweifel bei der allergrößten Aufmerksamkeit eintreten. Zwei Gegenstände oder Ereignisse mögen uns bei höchstgespannter Aufmerksamkeit ganz frei von jedem Unterschied erscheinen, wir fällen das Identitätsurteil doch nicht, wenn wir wissen, daß sie von einem Taschenspieler oder Zauberkünstler vorgeführt werden. Unsere Entscheidung basiert eben nicht bloß auf dem unmittelbar Gegebenem. Keine Überlegung der Welt könnte uns aber hindern bei richtig eingestellter Aufmerksamkeit den Quarteindruck zu erleben. Natürlich ist bei einer anschaulichen Relation auch nicht von einer positiven und negativen Seite die Rede. Dabei darf man sich dadurch nicht täuschen lassen, daß man einmal sagt, „das ist eine Quart, das ist gleich“, ein anderes Mal, „das ist keine Quart, das ist nicht gleich“, oder gar „verschieden“. Die Negation liegt hier nicht im Relationserlebnis selbst, sondern in einem noch hinzutretenden Urteil, das die Relation einmal anerkennen, einmal verwerfen kann, nicht anderes, als wenn man urteilt: „rot ist“, oder, „rot ist nicht“. Hierbei darf man auch die Relation der Verschiedenheit nicht etwa – psychologisch – als ein negatives Erlebnis ansehen. Selbstverständlich ist die Verschiedenheit ein –wenn man so sagen darf –genau so positiver Vorstellungsinhalt, wie die Gleichheit. Das die Gleichheit negierende Urteil kann nur konstatieren, daß hier nicht Gleichheit vorliegt, freilich wird das in der Regel praktisch mit dem anschaulichen Erlebnis der Verschiedenheit zusammenfallen.

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Damit hängt es auch zusammen, daß es bei einer Relation keinen Sinn hat, von Richtigkeit oder Unrichtigkeit zu sprechen. Wo doch davon die Rede ist, bezieht es sich wieder auf ein zur Relation hinzutretendes Urteil. | 120 | Daß schließlich auch der für das Urteil so bedeutsame Eingriff in die Außenwelt, über die Gesamtanschauung hinaus, durch die anschaulichen Relationen nicht ausgeführt wird, geht schon daraus hervor, daß letztere aus der Gesamtanschauung selbst durch einfache Aufmerksamkeitssteigerung gewonnen werden, also gleichsam nur eine Ausführung der Gesamtanschauung sind, und ihr nichts Fremdes, von außen Kommendes zuführen, wie dies beim Urteil der Fall ist. Die hier behandelten Fragen gehören zum großen Teile zu jenem Kreise von Problemen, die sich um den Begriff der „Gestaltqualitäten“ gruppieren. Auch auf diese scheinen aber die Ergebnisse unserer Untersuchung neues Licht zu werfen und zeigen, daß hier viele Meinungsverschiedenheiten nicht im Wesen der Sache begründet, sondern lediglich dadurch entstanden sind, daß man die Phänomene nicht immer an der richtigen Stelle von einander geschieden hat. So hat man zwischen jenen Qualitätsrelationen, die ein Kontinuum zum Fundament haben, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist, einen Unterschied gemacht und nur ersteren als „Gestaltqualitäten“ jene Beschreibung zukommen lassen, die wir für die ganze Gruppe der anschaulichen Relationen in Anspruch nehmen. Im Prinzip liegt aber auch wirklich in beiden Fällen ganz derselbe Tatbestand vor, sowohl was die Weise der Wahrnehmung als auch sonst die Art des Erlebens betrifft. Denn ebensowenig, wie eine Linie durch ein Urteil aus ihren Fundamenten entsteht, geschieht dies beim bloßen Nebeneinander zweier Punkte. Und so ist es mit allen Merkmalen unserer anschaulichen Relationen. Auch zwischen einfachen und zusammengesetzten Relationen ist kein wesentlicher Unterschied zu machen. Denn in gleicher Weise kommen die Merkmale einer anschaulichen Relation einer langen Melodie sowie einer Quart oder einem bloßen rythmischen Nacheinander zweier Töne zu. | 121 | Von anderen Forschern wurde der Begriff der Gestaltqualitäten wieder zu weit gefaßt, so daß es kaum mehr gemeinsame Merkmale gab. So sind die Phänomene, die v. Ehrenfels als Gestaltqualitäten bezeichnete, nur zum Teile anschauliche Relationen; viele davon sind Urteile, wie z. B. Ding u. a. Die Frage, bei deren Beantwortung die Ansichten am meisten divergieren, ist aber die, ob die Gestalt nichts weiter als die Summe der Verhältnisse ihrer Fundamente sei. Vgl. in jüngster Zeit A. Gelb 〈Gelb 1911〉 und A. Höfler 〈Höfler 1910〉. Gerade diese Frage scheint uns aber nicht das Wesen des Problems zu berühren, außerdem läßt sie auch wegen der Vieldeutigkeit der termini „Summe, Verhältnis“ gar keine strikte Antwort zu.

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Vor allem geht die Fragestellung von der bereits als unwesentlich hingestellten Unterscheidung von Relationen mit und ohne Kontinuum aus. Denn das soll wohl die Unterscheidung von „Gestalt“ und „Verhältnis“ bedeuten. Sieht man aber davon ab, so steckt in der Frage noch ein anderer Sinn, der sich auf „Verhältnisse“ wie „Gestalten“ bezieht und wirklich den Kernpunkt des Problems trifft: liegt in den Relationen noch ein neuer anschaulicher Inhalt neben den Fundamenten, oder nicht? Wie man sieht, ist es dieselbe Frage, die uns bisher beschäftigt hat, und die wir für alle Relationen bejaht haben. Um aber auf die übliche Fragestellung einzugehen, müßte man vorerst den Begriff „Verhältnis“ näher präzisieren. Logisch gemeint kann es wohl nicht sein, das hätte hier gar keinen Sinn. Heißt es also Urteilsakt oder vielleicht eine nicht anschauliche Vorstellung? Dann muß man jedenfalls antworten: Die Gestalt ist mehr als die Summe der Verhältnisse. Bedeutet aber „Verhältnis“ anschauliche Relation, so muß man weiter fragen: was wird hier unter „Summe“ verstanden? Nimmt man Summe im Sinne des wissenschaftlichen Begriffs, | 122 | der begrifflichen Zahl, so bleibt es bei der obigen Antwort. Um ein einfaches Zusammenzählen handelt es sich hier sicher nicht. Faßt man aber Summe im anschaulichen Sinne, sowie man etwa das Kontinuum als die Summe seiner Teile ansehen könnte, so ist zuzugeben, daß die Gestalt nichts weiter sei als die Summe der Verhältnisse. Aus all dem geht hervor, daß die eigentliche Frage, die wir schon vorhin behandelt, in dieser Fassung auf ein Nebengeleise geraten ist. – Wir haben bei der Beantwortung dieser Frage keinen Unterschied zwischen den Relationen mit und ohne Kontinuum, ebensowenig wie zwischen einfachen und zusammengesetzten gemacht. Diesem Standpunkt könnte man nun eine gewisse Vorzüglichkeit bestimmter Relationen, die gemeinhin „Gestalten“ genannt werden, entgegenhalten, die allenthalben zutage trete. Man könnte auf ihre leichtere Faßlichkeit, ihr angenehmes Hervortreten aus der „ungestalteten“ Umgebung und noch auf viele andere Eigenschaften hinweisen, die sie vor den übrigen Relationen auszeichnen. Ein noch so komplizierter Stern fällt uns schneller auf, als irgendein beliebiges, wenn auch einfaches Nebeneinander, eine lange Melodie tritt aus ihrer Umgebung prägnanter und angenehmer hervor, als ein einfacher, unmelodiöser Intervall. Diese Tatsachen sind keineswegs zu leugnen, können aber doch keinen wesentlichen Unterschied zwischen Relationen und Gestalten begründen, welch letztere sich uns bei näherer Betrachtung als anschauliche Inhalte, nämlich zusammengesetzte Relationen, gewöhnlich mit Kontinuum, erweisen. Ihre fraglose Vorzüglichkeit liegt aber in Folgendem: 1. zieht die „Gestalt“ die Aufmerksamkeit in höherem Maße auf sich; 2. ist sie ästhetisch ausgezeichnet. Beide

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Momente lassen sich auf eine gewisse Einheitlichkeit zurückführen, die durch diese Gestalt einen ganzen Komplex der Gesamtanschauung umfaßt und durchstrahlt. Der Anschauungskomplex z. B. eines | 123 | Kreises hat einen Mittelpunkt, um den alles übrige regelmäßig, nach bestimmtem Gesetz angeordnet ist. Das Auge braucht nur diesen Mittelpunkt festzuhalten, um von hier aus alles übrige, also ein verhältnismäßig recht großes Stück Gesamtanschauung zu beherrschen; bei einer weniger einheitlichen Figur ist dagegen erst ein längeres Herumwandern des Auges nötig, um die Relation zu erfassen, um das Ganze rings um den Aufmerksamkeitsfokus zu gruppieren. Diese günstige Anordnung gibt dem Auge oft Gelegenheit zu gleicher Zeit alle Fundamente der betreffenden zusammengesetzten Relation, d. i. der Gestalt, zu überblicken; geschieht dies genug oft, so erhebt sich bald dank dem Gleichheitseffekt die Gestalt aus der Gesamtanschauung heraus, um dann, weiterhin oft und leicht bemerkt, immer kräftiger und vertrauter zu werden. Der Hauptgrund aber, daß sich Gestalten eher aus der Gesamtanschauung herausheben, ist einfach der, daß sie öfter zur Deckung kommen, weil sie überhaupt öfter Vorkommen. Dies beruht darauf, daß es viel weniger Arten von Regelmäßigkeiten als von Unregelmäßigkeiten geben muß, da die ersteren vom Zusammentreffen einer Reihe bestimmter Voraussetzungen abhängig sind, während die Bildung und die Zahl der Unregelmäßigkeiten unbeschränkt ist. Daraus geht aber weiter hervor, daß sich öfters die gleichen Regelmäßigkeiten in der Anschauung wiederholen müssen, als die immer verschiedenen Unregelmäßigkeiten. Zu diesem Aufmerksamkeitsmotiv der Wiederholung resp. Gleichheit gesellen sich dann natürlich, teilweise im Zusammenhange damit, andere, wie Erziehung, ästhetischer Reiz, biologische Wichtigkeit u. ä. Aus all dem läßt sich aber keine grundlegende Scheidung zwischen diesen so ausgezeichneten Relationen und den übrigen herleiten, da in ihren psychologisch in Betracht kommenden Eigenschaften, der Art ihres Erlebtwerdens, ihres Emportau- | 124 | chens aus der Gesamtanschauung, ihrer Beziehung zu den Fundamenten usw. das gleiche Verhalten zutage tritt. Ebensowenig läßt sich aber, glauben wir, in der Unterscheidung von „Gestalten“ und „Verhältnissen“ der Gegensatz des anschaulichen und diskursiven Denkens begründen, wie es A. Höfler 〈1910〉 versucht. Nur wenn man die Terminologie so änderte, daß man unter „Gestalten“ unsere anschaulichen Relationen überhaupt, unter Verhältnissen aber ein zahlen- oder sonst merkmalsmäßiges (9. Kapitel), durch Urteile zusammengehaltenes Ganzes verstünde, könnte man vielleicht behaupten, in dieser Unterscheidung den Gegensatz anschaulichen und diskursiven

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Denkens wiederzufinden, ohne daß aber dadurch der Sinn und das Wesen dieser Scheidung vollständig erschöpft wäre. – So scheinen uns denn alle Relationen mit Recht in einer Klasse anschaulicher Gebilde zusammengefaßt zu werden. Dieser ganzen Klasse aber den Namen „Gestaltqualitäten“ zu geben, den sie zur Bezeichnung des Anschaulichen und des den Qualitäten in vieler Beziehung Beigeordneten nicht mit Unrecht führen könnte, konnten wir uns deshalb nicht entschließen, weil dieser Terminus ja bereits in der Wissenschaft einen gewissen Umfang erlangt hat, der mit dem unserer Relation nicht ganz übereinstimmt. – Die Form der Aufmerksamkeitsverteilung, die wir an den (A + x)-Gebilden kennen gelernt und in der Formel (A + x) festgelegt haben, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Prinzip, das unser ganzes psychisches Erleben beherrscht. Nachdem wir nun seine Rolle bei der Verbindung der Relation mit ihrem Fundament kennen gelernt haben, wollen wir es in einem noch weiterem Gebiet verfolgen, nämlich der Verbindung der Akte mit ihrem Gegenstand. Wir finden in unseren psychischen Erlebnissen Gebilde, in denen ein psychisches Phänomen offenbar eine dem A höchst analoge Bedeutung hat, das sich durchaus nicht in die Gruppe | 125 | der Vorstellungen einreihen läßt. Wenn wir etwa an eine Wasserleiche denken oder an einen Tobsüchtigen oder an eine Kröte, wenn wir uns an das Erklimmen eines Alpengipfels erinnern, wenn uns ein Medusenhaupt vorschwebt oder ein reizvolles Mädchenantlitz – so heben sich in allen diesen Bildern psychische Phänomene hervor, die ihre Zugehörigkeit zur Klasse der Gefühle nicht verleugnen können, heben sich in ähnlicher Weise vor dem übrigen Erlebnis hervor, wie wir es vorhin bei den Relationen sahen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich die Analogie immer vollständiger. In unzähligen Fällen können wir beobachten, wie die Gefühle selbst in einer bei weitem höheren Bewußtheit stehen als ihre Gegenstände, auf die sie sich beziehen, und dieser Gradunterschied geht schließlich so weit, daß die Gegenstände als verschwommene Gebilde, als ein (A + x) oder gar nur als Stück eines verschwommenen Erlebnisses, als etwas Uneigentlich-Bewußtes erscheinen, also als ein x gegenüber dem Gefühle, das A wird. Wir können feststellen, wie sich das Wiedererkennen gewisser Ereignisse oder Bilder durch Vermittlung des gleichen Gefühls vollzieht; wie sich Gefühlsgegenstände ändern können, ohne daß wir dadurch gehindert werden, das gleiche Erlebnis zu haben; wie uns ein Gefühl oft mit ganz klarer Nuance erfaßt, bevor der Gegenstand noch klar zu Bewußtsein gekommen ist, z. B. Gefühle beim Erwachen. So beherrscht uns oft ein Gefühl, wenn dessen Gegenstand uns scheinbar bereits ganz entschwunden ist. Die Trauer über einen Unglücksfall verläßt uns den ganzen Tag nicht, ob-

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wohl es keineswegs den Anschein hat, als ob uns das traurige Ereignis ununterbrochen vorstellungsmäßig präsent wäre. Hierher gehören auch die unzähligen Fälle, daß wir irgendein lust- oder unlustbetontes Ereignis vergessen, während die Gefühlsbetonung bleibt und uns – unter Umständen – solange peinigt, bis uns der betreffende Gegenstand wieder einfällt. Hier scheint also einem Gefühl eine Zeitlang überhaupt der Gegen- | 126 | stand zu fehlen. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Beispiele hingewiesen, die H. Gomperz für die Totalimpression (〈Gomperz 1908〉, S. 118ff.) anführt. Die vielen Fälle, in denen Gefühlsgegenstände überhaupt nicht vorhanden zu sein scheinen, könnten leicht zur Ansicht verleiten, daß die Gefühle überhaupt keine „beziehende Akte“ seien, daß man den Gefühlsakt von dem Gegenstand, auf den er sich bezieht, gar nicht sondern könne, da Gefühle keine „Gegenstände“ haben. (Vgl. Husserl über die Frage, ob es nicht-intentionale Gefühle gebe. [〈Husserl 1901〉, II, S. 369ff.].) Die Lehre, daß die Gefühle beziehende Akte seien, scheint uns aber durch unsere Untersuchungen eine wesentliche Unterstützung zu erfahren, da hier eine Erklärung für die dieser Lehre scheinbar widersprechenden Fälle, wo der Gefühlsgegenstand fehlt, gegeben ist. Denn keineswegs fehlt hier der Gegenstand, sondern ist nur verschwommen oder uneigentlich-bewußter Teil eines verschwommenen Erlebnisses. Gegen diese Ansicht wäre ein Einwand möglich, den wir nicht übergehen wollen. Wie kann ein solcher verschwommener Gegenstand, der sich – so wissen wir – nur von wenigen Anschauungsstücken unterscheidet, dem Gefühl seine so zart differenzierte Nuance geben? – Dazu sei bemerkt, daß ja in der Regel der Gegenstand nicht vollkommen uneigentlich-bewußt, vielmehr selbst ein (A + x)-Gebilde sein wird, wenn auch in einer gewissen (A + x)mäßigen Unterordnung unter den Gefühlsakt. Es wird auch hier die Aufmerksamkeit oszillierend in den Gegenstand hineinstrahlen, und wenn auch nur eine geringe Bewußtheit des Gegenstands gegeben ist, so wird er doch noch die Kraft haben, dem Gefühle eine bestimmte Färbung zu geben. Vor allem darf hier aber nicht vergessen werden, daß im Gefühlsakte selbst – ganz abgesehen von den Unterschieden des Gegenstands – eine große Variationsmöglichkeit herrscht, | 127 | die eben das Gefühl so wesentlich vom Urteil mit seinen wenigen modi unterscheidet. Man denke nur an die fein nuancierte Lust-Unlustskala, die allein schon eine reiche Mannigfaltigkeit des Gefühls verbürgt. Dazu kommen dann noch die Unterschiede in der Tiefe des Erlebens, d. i. der Intensität des Gefühls. Trifft es aber einmal zu, daß bei zwei Gefühlserlebnissen weder im Gefühlsakt ein Unterschied ist, noch in den Gegenständen – infolge ihrer uneigentli-

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chen Bewußtheit –, so liegen tatsächlich zwei phänomenal gleiche Erlebnisse trotz objektiv verschiedener Gegenstände vor, wie es wohl unwahrscheinlich, aber – wenigstens solange die Aufmerksamkeit nicht aus irgendeinem Grunde erweckt wird – nicht undenkbar ist. – Wir sprachen hier von Gefühlsakten, die in Aufmerksamkeit oder höherer Bewußtheit stehen. Im Anschlusse daran tritt an uns die Aufgabe heran, zu untersuchen, worin diese Aufmerksamkeit bei den Gefühlen besteht und worin sie sich äußert, und zugleich durch diesen Nachtrag unsere Ansichten über die Aufmerksamkeit überhaupt (3. Kapitel) zu ergänzen. Die Beschreibung des Aufmerksamkeitsphänomens bei den Gefühlen ist recht schwierig und dem entspricht es auch, daß in der Psychologie unter dem Wenigen, was in dieser Deskriptive geleistet worden ist, keine Übereinstimmung herrscht. Am häufigsten begegnet man der Ansicht, daß die Aufmerksamkeitssteigerung beim Gefühl einer Intensitätssteigerung gleichkommt. Selbstverständlich wird diese Intensitätserhöhung von der mit ihr verbundenen Häufung gewisser Nebenempfindungen oder psysiologischer Erscheinungen, wie Aufgeregtheit, Weinen, Unruhe, Pulsbeschleunigung u. ä. wohl unterschieden. – Aber trotzdem können wir einer derartigen Ansicht, die Aufmerksamkeit und Intensität in einen solchen Zusammenhang bringt, nicht zustimmen. Daß dies dem Phänomen der Aufmerksamkeit resp. Bewußtheit, wie wir es beobachtet und beschrieben haben, widersprechen würde, wollen wir hier nicht als Argument verwenden. Hier genügt es voll- | 128 | kommen, auf die grundlegende Tatsache hinzuweisen, daß eine Erhöhung der Gefühlsaufmerksamkeit durchaus nicht immer mit einer Intensitätssteigerung verknüpft ist. Es kann auch die mit einem ganz gelinden Schmerz verbundene geringe Unlust ohne stärker zu werden, in höhere Aufmerksamkeit geraten, wenn die entsprechenden Aufmerksamkeitsmotive einsetzen, wenn z. B. der Arzt zur genauen Beschreibung des Schmerzes auffordert. Es kann aber auch ein recht intensives Gefühl in Unaufmerksamkeit versinken, wenn die Aufmerksamkeit aus irgendeinem Grunde abgelenkt wird (Zerstreuung). Es ist ja nicht zu bezweifeln, daß auch hier Intensität Aufmerksamkeitsmotiv ist, und daß andererseits die Aufmerksamkeit die Intensität erhöhen kann, aber jedenfalls sind die beiden Phänomene nicht identisch, ja nicht einmal notwendig miteinander verbunden. Die Beschreibung, die wir von der Aufmerksamkeit als höherer Bewußtheit oder größerer Schärfe im Gegensätze zur Verschwommenheit gegeben haben, weist darauf hin, daß man nur bei Vorstellungen, d. h. Vorstellungsinhalten, in richtiger und eigentlicher Weise von Aufmerksamkeit sprechen kann. Man könnte sich nun leicht versucht fühlen, die Aufmerksamkeitssteigerung beim Gefühl auf irgendeine Änderung des Gefühlsgegenstands in bezug auf seine

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Bewußtheit und Schärfe zurückführen. Und tatsächlich läßt sich oft bei Erhöhung der Gefühlsaufmerksamkeit eine Bereicherung des Gegenstandes beobachten. Wenn uns die Liebe zu einem Wesen ganz erfüllt, immermehr unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, so bemerken wir, wie sie einen immer größeren Kreis von Objekten infiziert, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem ursprünglichen Gegenstand unserer Liebe stehen. Wir durchdringen und umweben mit unserem Gefühl die Stadt, das Haus, die Wohnung, die Kleidung der Geliebten. Schließlich greift dann dieses Gefühl, wenn es uns recht einnimmt, alles an, wird zur Komponente bei allen, wenn auch im losesten Zu| 129 | sammenhange damit stehenden Gefühlen. Alles wird dann gleichsam sub specie dieses einen alles beherrschenden Gefühles gesehen. Was ist das aber anderes, als eine Bereicherung des Gegenstandes? Wenn uns die Trauer über einen Unglücksfall ganz einnimmt, tauchen nach und nach immer mehr Einzelheiten in wehmütiger Betonung in unserem Geiste auf. Hier wird der Gegenstand des Gefühls selbst analysiert, zerfasert, innerlich bereichert; und dazu kann dann noch, wie wir vorhin gesehen, eine äußerliche Bereicherung kommen, eine Angliederung logisch oder assoziativ mit dem Hauptgegenstand zusammenhängender neuer Objekte, die so an dem Gefühle teilnehmen. So richtig diese Beobachtungen aber an sich sein mögen, so kann man darin doch nicht das wahre Wesen der Aufmerksamkeit bei Gefühlen erblicken. Denn oft genug steigt das Gefühl in der Aufmerksamkeit, ohne daß diese Änderung des Gegenstandes vor sich geht. Ganz im Gegenteil war uns ja immer die Tatsache, daß der Gegenstand bei gleichbleibender Aufmerksamkeit des Gefühls selbst verschwimmen, also verarmen kann, eine der charakteristischesten Erfahrungen. Hier tritt ja gerade das Gegenteil der vorhin erwähnten inneren Zerfaserung ein, ohne daß die Höhe der Gefühlsaufmerksamkeit deshalb sinken müßte. Was aber die äußere Bereicherung des Gegenstandes betrifft, die Angliederung neuer Objekte, so ist dies ja keineswegs dasselbe wie die Verschärfung des Objekts, und tritt vor allem auch nicht immer und notwendig ein. Jedenfalls kann auch darin nicht das Wesen der Aufmerksamkeit erblickt werden, sondern weit eher eine Folgeerscheinung. Wir werden dies weiter unten noch näher dartun. Vorher wollen wir aber erst das wahre Wesen der Gefühlsaufmerksamkeit, wie es uns die Beobachtung und die Analogie mit den übrigen Erscheinungen der Aufmerksamkeit zeigen, erörtern. | 130 | Das Gefühl ist ein psychisches Phänomen und als solches bewußt, d. i. Gegenstand der inneren Anschauung. Was bedeutet das? Wenn ich mir eines Ge-

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fühles bewußt bin, fühle ich dann das Gefühl, oder ist es mir nur psychisch gegenwärtig, im Sinne einer Vorstellung? Zweifellos ist das „Gefühl fühlen“ schon etwas anderes, als das einfache Bewußtsein des Gefühls. Das bloße Gegenwärtigsein eines Inhalts ohne weitere psychische Beziehung ist aber die Vorstellung, mag nun dieser Inhalt der äußeren oder der inneren Anschauung angehören. Auf diesem Wege ergibt sich das Wesen der Aufmerksamkeit beim Gefühl analog wie bei den Vorstellungen der äußeren Wahrnehmung. Genau so wie bei dieser das Ursprüngliche die Gesamtanschauung ist, aus der sich einzelne uneigentlich-bewußte Teile isolieren, d. h. eigentlich bewußt werden, gibt es bei der inneren Wahrnehmung eine Gesamtanschauung, aus der gewisse Teile– darunter auch Gefühle–, ursprünglich uneigentlich bewußt in ihr vorhanden, zur eigentlichen Bewußtheit gelangen; und zwar auf denselben Wegen, die wir schon aufgezählt, und unter denselben subjektiven Erscheinungen, die wir als die subjektive Seite der Aufmerksamkeit s. z. angeführt haben. Gegen diese Auffassung erstehen natürlich alle die Einwände, die sich gegen die innere Anschauung überhaupt richten. Wird jedes Gefühl vorgestellt? Und die Vorstellung dieses Gefühls, überhaupt die Vorstellungen, werden die wieder vorgestellt? Entsteht da nicht ein regressus in infinitum? Das alles trifft uns, weil wir eine innere Anschauung anerkennen, und diese, wie gar nicht anders möglich, zu den Vorstellungen rechnen. Wir antworten: Wir stellen jedes Gefühl und jede Vorstellung so vor, wie wir jeden einzelnen Teil der äußeren Anschauung vorstellen; d. h. also jedenfalls mindestens uneigentlich-bewußt. Erst wenn der betreffende Komplex aus irgendeinem Grunde eigentlich bewußt wird, ist er an sich, als etwas Ein- | 131 | zelnes, Gesondertes, phänomenal wirklich vorhanden. Wir stellen also jedes Gefühl jedenfalls uneigentlich vor, es ist ein Teil der verschwommenen inneren Gesamtanschauung; können es aber gelegentlich auch eigentlich vorstellen, wenn es sich als solches aus der Gesamtanschauung heraushebt. Hiermit ist genau umschrieben, inwiefern wir Vorstellungen oder Gefühle, die uns nicht voll bewußt sind, vorstellen, da unser Terminus des „Uneigentlich-Bewußten“ einen ganz präzisen und eindeutigen Sinn hat. Damit ist auch die Gefahr des regr. in inf. beseitigt. Schon die Vorstellung der Vorstellung dürfte ja uneigentlich bewußt sein. Wie wenig uns das aber beschwert, haben wir schon besprochen. Damit stimmt es auch vollkommen, daß es dem wissenschaftlich Beobachtenden z. B. möglich ist, vielleicht noch die Vorstellung der Vorstellung künstlich bewußt zu machen, da das wissenschaftliche Interesse als Aufmerksamkeitsmotiv wirkt. Damit hat sich unser Bild vom Wesen der Aufmerksamkeit wieder vervollkommt. Indem wir beobachten, wie die Aufmerksamkeit das Gefühl seinem

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Gegenstand gegenüber bevorzugen kann, haben wir erkannt, daß eine einheitliche Aufmerksamkeit das ganze psychische Leben, das Gebiet der äußeren wie der inneren Anschauung durchzieht und reguliert, daß eine Aufmerksamkeit die Ereignisse beider Gebiete gegeneinander abtönt und in das jeweils erforderliche Licht setzt. Noch ein Bedenken ist abzuwenden: Da doch Akt und Gegenstand eine Realität sind, eines ohne das andere nicht bestehen kann, ja gar nicht denkbar ist, ist es da erlaubt, anzunehmen, daß das eine verschwimmt, ohne daß mit dem anderen dasselbe geschieht? Es ist ja sicher richtig: So wie man nicht essen kann, ohne etwas zu essen, so ist ein Gefühl ohne Gegenstand nicht möglich. Präzis ausgedrückt: Akt und Gegenstand sind intelligible Teile; es ist nun möglich, daß intelligible Teile unter verschieden verlaufender Aufmerksamkeit stehen? | 132 | Es ist ja eine alltägliche Erfahrung, daß sich der Gegenstand eines Aktes in verschiedener Weise verändern kann; warum sollte da gerade eine Verschiebung in der Verschwommenheitsskala – ohne Veränderung des Aktes selbst – unmöglich sein? Man kann ja einen Wald aus der Ferne genau so lieben oder beurteilen, wie in der Nähe; und hier liegt ja die gleiche Veränderung des Objekts vor wie beim Wechsel der Aufmerksamkeit. Sollte aber jemand immer noch trotz der vielen überzeugenden Erfahrungen auf dem theoretischen Zweifel beharren, ob ein verschiedener Aufmerksamkeitsverlauf bei intelligiblen Teilen möglich ist, so sei er auf andere Fälle intelligibler Teile in der Psychologie verwiesen, z. B. auf Höhe und Stärke eines Tones. Kommt es da nicht oft genug vor, daß ein Ton höher und stärker wird, wir aber nur merken, daß er stärker geworden ist, und die Änderung der Tonhöhe, von dem Eindruck der Intensitätssteigerung ganz in Anspruch genommen, „vollkommen überhören“? Das ist ein einfacher, oft beobachteter Fall, wo die Aufmerksamkeit intelligible Teile in ganz ungleicher Weise mit ihrem Lichte bestrahlt. Unser Einblick in das Wesen der Gefühlsaufmerksamkeit setzt uns nun auch in den Stand, jene Beobachtungen zu erklären, die uns bei Aufmerksamkeitssteigerung eine Bereicherung des Gegenstandes gezeigt haben. Gerade der scheinbar ganz entgegengesetzte Umstand, daß einem scharf bewußtem Gefühl ein verschwommener, somit innerlich verarmter Gegenstand gegenübersteht, gibt uns den Schlüssel zur Erklärung in die Hand. Es ist ja unschwer einzusehen, daß das Gefühl, wenn es in immer höhere Bewußtheit tritt, wenn es uns ganz beherrscht, sich auf die Dauer mit einem verschwommenen Gegenstand nicht begnügt und das Bestreben zeigt, die Aufmerksamkeit auch auf seinen Gegenstand überzuleiten. So kann der Gegenstand nach einer Zeit geringerer Bewußtheit schärfer werden, er wird zerfasert, neue Details wachsen aus ihm

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hervor, die das hochbewußte Gefühl sogleich | 133 | in seine Sphäre zieht. Manchmal aber ist dieser Vorgang nicht möglich. Der Gegenstand ist schon teilweise vergessen, vermag aus seinem verschwommenen Zustand sich nicht mehr zu erheben; ist es da zu verwundern, wenn das Gefühl – da ja der Gegenstand infolge seiner Verschwommenheit vielen gleich ist – einfach andere, derartig „gleiche“ Gegenstände angliedert und infiziert? So ist die Unruhe, Deutungslust in gefährlichen Situationen zu erklären („aus einer Mücke einen Elefanten machen“), die Angst in der Nacht, die sich auf jedes Objekt stürzt, und ähnliche Erscheinungen. – Wir haben bei unserer Darstellung die Weise der Verbindung des Gefühls mit dem Gegenstände unberücksichtigt gelassen, resp. nur von der gewöhnlichen Art gesprochen, wo unser Gefühl den Gegenstand direkt angreift, wie etwa, wenn wir etwas hassen oder lieben. Nun darf man aber gerade in diesem Zusammenhange eine andere Verbindungsart nicht unerwähnt lassen, nämlich den Fall, wo wir ein Gefühl in das Objekt hineinverlegen, introjizieren, als wäre das Objekt Subjekt des Gefühls. Wir wollen diese Verbindungsart endopathisch nennen, in Anlehnung an H. Gomperz (〈Gomperz 1905〉, S. 164ff.), dem hier die wesentlichsten Aufklärungen zu danken sind. Er führt mannigfache Beispiele der Endopathie an, das Gefühl des Stemmens, das wir gleichsam im Kopfe der Karyatyde erleben, das Gefühl des kraftvollen Anrennens, das wir in die Lokomotive einlegen, das Gefühl der Spannung in der k〈〉omprimierten Feder u. a. Gerade solche Gefühle sind es, welche in einer großen Anzahl psychischer Gebilde die Rolle des A übernehmen. Die Beispiele sind zahllos: Der Feind, der Kampf, der majestätische Löwe usw. Hier überall steht das endopathisch verknüpfte Gefühl seinem verschwommenen Gegenstand gegenüber in hoher Aufmerksamkeit. Theoretisch sei hierzu nur bemerkt, daß es sich hier sicher nicht um in den Gegenständen nur vorgestellte Gefühle handelt. | 134 | Es werden hier wirkliche Gefühle erlebt, nur eben in endopathischer Verknüpfung, in den Gegenständen, nicht anders als die Gefühle zu den Gegenständen. – Sehen wir so die Gefühlsakte als A im (A + x) wirken, so kann uns die Frage, ob ähnliches nicht vielleicht auch bei den Urteilsakten statthabe, nicht lange ferne bleiben; kann aber auch nicht lange unbeantwortet bleiben, wenn wir unser psychisches Leben daraufhin betrachten. Ja, wir finden sogar, daß viele, gemeinhin zu den Relationen gezählte Phänomene nichts anderes sind als (A + x)-Gebilde, in welchen eine verschwommene Materie Gegenstand bewußten Urteilens ist. Wir erinnern uns hier, daß wir das Urteil im 2. Kapitel als Dauerakt bezeichnet haben, der ebenso wie die begriffliche auch die vorbegriff-

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liche Materie erfaßt. Wir wissen, was für einschneidende Veränderungen das Urteil an der Anschauung vornimmt. In dieser bereits verarbeiteten Gestalt tritt uns ja die Außenwelt in der Regel entgegen. So erscheinen unsere Urteile mit der Anschauung – als ein verschwommenes Gesamterlebnis – verwoben, und es braucht hoher Aufmerksamkeit und Beobachtungsschärfe, um die Analyse der beurteilten Gesamtanschauung in der Richtung der Trennung von Anschauung und Urteil ausführen zu können. In der Regel wird da aber die Stellung des Aktes und der Materie im (A + x) umgekehrt sein, als wir es bis jetzt kennen gelernt haben. Es wird der Akt ins x geraten. Das urteilende Verhalten ist gewöhnlich eintönig, entbehrt der Anregung durch den „Verschiedenheitsruck“, hebt sich so nur schwach und selten aus der inneren Anschauung, sowie aus dem Erlebnis überhaupt hervor und bleibt so hinter dem „Beurteilten“ zurück. Doch ist es deshalb noch nicht unerfahrbar, und wie die Selbstbeobachtung zeigt, willkürlicher resp. künstlicher Aufmerksamkeitssteigerung sehr zugänglich. Freilich darf man Gliederung und Anschauung durch die Aufmerksamkeit nicht mit Klassifizierung verwechseln. Wir können uns des Urtei- | 135 | lens als eines ganz bestimmten von der Gesamtanschauung sich wohl abhebenden Verhaltens bewußt sein, ohne es deshalb auch als „Urteil“ klassifizieren zu müssen. Diese Stellung des Urteilsaktes im (A + x) ist aber nicht immer zu beobachten. Oft kann auch hier das Urteilen in höherer Bewußtheit stehen als die Materie. So ist es ja beim einfachen thetischen Urteil, das sich der ungegliederten Anschauung anschließt, wo das wesentliche Erlebnis darin besteht, daß hier etwas von uns Unabhängiges, etwas außer uns existiert. Und das alles ist ja der Sinn des vorbegrifflichen thetischen Urteils. So ist es aber auch mit vielen synthetischen Urteilen. Der Eindruck des „Dings“, des „Gegenständlichen“, ist oft vorhanden, bevor uns etwas Genaueres über das Ding bewußt ist. Wie oft haben wir beim Identitätsurteil noch vor aller Kenntnis des Gegenstandes den Eindruck: „Das ist dasselbe, was früher war.“ Ähnlich verhält es sich schließlich mit der Notwendigkeit und Kausalität; doch wollen wir davon erst im Zusammenhange mit dem wissenschaftlichen Begriff (9. Kapitel) sprechen. Hier müssen wir noch die Frage aufwerfen, worin beim Urteil die objektive Änderung bei Aufmerksamkeitssteigerung besteht. In Übereinstimmung mit unseren früheren Ausführungen können wir sagen: Das Urteil gerät in Aufmerksamkeit, wenn es sich aus der inneren Gesamtanschauung, in der es als uneigentlich bewußtes Phänomen enthalten war, auf Grund eines der bekannten Motive zum Range einer eigentlich-bewußten Einzelvorstellung emporgeschwungen hat. Bezüglich der prinzipiellen Einwände dagegen sei auf unsere Erörterung bei der Gefühlsaufmerksamkeit hingewiesen.

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Auch beim Urteil wurde schon die objektive Seite der Aufmerksamkeit anders gedeutet, so vor allem als Überzeugtheit. Diese Verwechslung ist analog mit der von Gefühlsaufmerksamkeit und Intensität und ist auch analog zu beurteilen. Kaum, scheint es, braucht darauf hingewiesen zu werden, daß | 136 | oft Urteile, die wir schwankend, ohne Überzeugung fällen, sehr bewußt sind, gerade weil im Zweifelfall das Urteil die Aufmerksamkeit erregt, und daß andererseits mit starker Überzeugung gefällte Urteile, wie in vielen Fällen das thetische oder das Dingurteil, in minimaler Bewußtheit stehen. Noch weniger kann man von einer Bereicherung der Materie als Wesen der Urteilsaufmerksamkeit sprechen. Dennoch kommen auch hier, wie beim Gefühl, Fälle vor, die eine solche Ansicht wenigstens nicht ganz absurd erscheinen lassen. Auch hier kann die hohe Bewußtheit des Urteils bei starker Verschwommenheit des Beurteilten unversehens eine Materialbereicherung hervorrufen, indem es neue Objekte, die infolge der Verschwommenheit der Materie von ihr nicht unterschieden werden, in seinen Bereich einbezieht. So wächst dann bei starker Bewußtheit des Urteils die nebelhafte Materie. Solche Urteile eignen sich scheinbar ganz besonders zur Beantwortung alles umfassender, sogenannter letzter Fragen, und es wird dann mit hoher Bewußtheit, großer Begeisterung und intensiver Gefühlsbetonung eine ungeheure verschwommene Materie beurteilt, die durch ein Übermaß von Fehlerquellen, die sie mit sich führt, die Richtigkeit des Urteils höchst unwahrscheinlich macht. Das ist dann der Typus des mystischen Urteils im schlechten Sinne. | 137 |

Siebentes Kapitel Das lebendige Spiel der (A + x)-Gebilde Indem wir im Vorhergehenden die Begriffe und selbst die höchsten oder, wie man sagt, abstraktesten unter ihnen als „verschwommene Vorstellungen“ beschrieben und diese Beschreibung durch ein näheres Eingehen auf das Wesen der Verschwommenheit und namentlich der „Relationen mit uneigentlich bewußten Fundamenten“ gerechtfertigt haben, beziehen wir einen Standpunkt, den man als einen streng konzeptualistischen bezeichnen kann. Denn wir halten die Begriffe durchaus nicht für bloße Worte, Klassennamen, wir lassen sie auch nicht durch Einzelvorstellungen vertreten sein, sondern wir anerkennen das Vorhandensein allgemeiner Vorstellungsinhalte im strengsten Sinne des Wortes, wir betonen ferner die Wesensverwandschaft dieser Allgemeinvorstellungen mit der Anschaulichkeit. Wenn wir paradox sein wollten, so könnten wir das dahin formulieren: „An der Existenz allgemeiner Vorstellungen im begrifflichen Denken ist schon deshalb nicht zu zweifeln, weil es ja beinahe auch so etwas wie allgemeine Wahrnehmungen gibt. Wir meinen damit etwa das Bild eines aus der Ferne gesehenen verschwommenen Baumes. Dieses Bild, statt außer uns wahrgenommen, in unserem Denken auftauchend, ist dem analog, was wir denken, wenn wir den Begriff „Baum“ haben. – Vor diesem an die scholastische Universalientheorie anklingenden Paradox wird niemand erschaudern, der die Arbeit bis hierher teilnehmend durchgedacht hat. Es gibt wirklich nur „beinahe“ allgemeine Wahrnehmungen, ihr Unterschied vom Begriff liegt, abgesehen von den im 2. Kapitel geschilderten Unterschieden zwischen Wahrnehmung und Phantasievorstellung, in den Ursachen ihrer Verschwommenheit. Die des Begriffs ist ein Werk der Aufmerksamkeitsverteilung und, welcher Elastizität die Aufmerksamkeit fähig ist, wird gerade dieser Abschnitt zeigen, wenn wir zu dem von uns so | 138 | genannten „Zucken des (A + x)“ und damit zur Beschreibung des wirklichen Denkens kommen; denn alles Bisherige war noch zu sehr Schema und Schulfall. Dagegen ist die Verschwommenheit des Wahrgenommenen hauptsächlich von physikalischen und physiologischen Momenten abhängig, wird also meist eine sehr regelmäßige Verteilung zeigen, eine konzentrische Zunahme um den unter den optimalen Bedingungen erfaßten Teil des Sinnesfeldes. Das Wesen der begrifflichen Verschwommenheit, der Aufmerksamkeits-Verschwommenheit, wenn man so sagen darf, ist aber gerade ihre Unregelmäßigkeit, ihr schnelles Wechseln und willkürliches Hervorheben eben noch unbeachteter Punkte bei völliger Preisgabe des vorher Scharfen. Freilich spielt auch bei der Wahrnehmung die Aufmerksamkeit mit und zwar

DOI 10.1515/978311053719-011

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infolge des im 5. Kapitel schon angedeuteten, in diesem Kapitel näher zu beschreibenden Einwirkens der (A + x)-Gebilde auf die Anschauung. Aber dieser Vorgang ist doch trotz seiner enormen Wichtigkeit wesentlich machtloser als das entsprechende, förmlich schöpferische Aufmerksamkeitsspiel im Begrifflichen. Außerdem betrifft er ja gerade die Grenze, das Ineinanderfließen von Anschauung und Begriff, so daß er nicht mit Sicherheit dem einen oder dem anderen Gebiete ausschließlich zugezählt werden kann. Wir können uns also dabei beruhigen, daß die Verschwommenheiten der Anschauung und des Begriffs genetisch nicht stets, aber oft voneinander abweichen, phänomenologisch zwar nur der Intensität nach, aber immer so sehr verschieden sind, daß sie wie auf zwei für einander unerreichbaren Niveaus gut gegen einander abgeschlossen bleiben, – so gut, daß man ihre Zusammengehörigkeit leicht ganz übersehen konnte. Indem wir uns also in dem eben angeführten Sinne als Konzeptualisten bekennen, obliegt es uns, auf die klassischen Einwände des Nominalismus gegen den Konzeptualismus einzugehen, was wir umso lieber tun, als wir dadurch einige beachtenswerte Eigenschaften, die unsern „anschaulichen Be- | 139 | griffen“ (A + x) auf der Stufe ihrer höchsten Entwicklung zukommen, ans Licht zu ziehen Gelegenheit haben. Locke anerkennt zwar allgemeine Begriffe und leitet sie („Versuch über den menschlichen Verstand“ III, 3, § 6ff.), ohne einer Schwierigkeit gewahr zu werden, aus der Anschauung ab; jedoch später (〈Locke 1913〉 IV, 7, § 9) findet er diese allgemeinen Ideen so unvollkommen, daß sie ihm sogar zu einem „Zeichen unserer Unvollkommenheit“ werden. Er meint: „Wenn wir sie scharf ins Auge fassen, so werden wir finden, daß allgemeine Ideen Erdichtungen und Kunstgriffe des Verstandes sind, die Schwierigkeiten mit sich bringen und sich nicht so leicht darbieten, wie wir zu glauben geneigt sind. Erfordert es z. B. nicht eine gewisse Bemühung und Geschicklichkeit, die allgemeine Idee eines Dreiecks zu bilden (die noch nicht zu den abstraktesten, umfassendsten und schwierigsten gehört), denn es muß weder schief- noch rechtwinklig, weder gleichseitig, gleichschenklig noch ungleichseitig sein, sondern alles das und keines davon auf einmal. In der Tat ist sie etwas Unvollkommenes, was nicht existieren kann, eine Idee, worin gewisse Teile mehrerer verschiedenen und unvereinbaren Ideen zusammengefügt sind.“ Die Bildung einer allgemeinen Idee, die in Lockes behutsamer Sprache „schwierig“ genannt wird, ist bei Berkeley, eigentlich auf Grund derselben Überlegung, nur mit größerer Konsequenz, unmöglich 〈…〉: „Die Idee eines Mannes, die ich mir bilde, muß entweder die eines weißen oder eines schwarzen oder eines rothäutigen, eines gerade oder krumm gewachsenen, eines großen oder kleinen, oder eines Mannes von mittle-

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rer Größe sein. – Ebenso unmöglich ist es mir, die abstrakte Idee einer Bewegung ohne einen sich bewegenden Körper, die weder schnell, noch langsam, weder krummlinig, noch geradlinig sei, zu bilden und das Gleiche gilt von jedweder anderen abstrakten allgemeinen Idee.“12 Gegen dieses Argument, das auch bei Hume, Hamilton, J. St. Mill in größtem Ansehen steht, richten | 140 | wir uns mit denkbar größter Schärfe, indem wir nachgewiesen haben, daß es Vorstellungen gibt, die wirklich der Bedingung, weder ein ungleichseitiges noch ein gleichseitiges Dreieck und zugleich beides zu sein, Genüge leisten: nämlich die echt verschwommenen, deutbaren Vorstellungen. Mit einigem Humor könnte man annehmen, daß auch Locke schon den richtigen Sachverhalt geahnt hat, indem er die oben zitierte Bemerkung mit den Worten einleitet: „Wenn wir sie scharf ins Auge fassen“, also – die Verschwommenheit von vornherein nicht berücksichtigt. Berkeleys Ansicht dagegen beruht einfach auf einer falschen Selbstbeobachtung. Wie lesen sich auch nach seinem dezidierten „unmöglich“ die Beobachtungen neuerer Experimentatoren (mit denen wir in diesem Punkte ganz übereinstimmen)! Es beschreibt zum Beispiel eine Versuchsperson bei A. Messer 〈…〉 ihr Erlebnis folgendermaßen: „Unbestimmte Vorstellung eines Tieres, ich glaube: eines Raubtieres (nicht bestimmt zu sagen); also etwa das, was 〈Berkeley〉 leugnet〈. E〉s war weder Löwe noch Tiger, am meisten war das zottige Fell im Bewußtsein, es schien braun zu sein.“ 〈Messer 1906, S. 54〉 Oder: „Dunkle Vorstellung eines Mädchengesichtes〈;〉 weiß nicht, auf wen es sich bezog; es war ein allgemeines Mädchengesicht, trug gar keine charakteristischen Züge.“ 〈Messer 1906, S. 54〉 Oder bei F. Schwiete 〈…〉 mit Bezug auf die Denkfolge „Goldgelb“: „Hatte keine Vorstellung eines bestimmten Objektes, ich habe aber die feste Überzeugung, daß ich das Wort „gelb“ visuell gefunden habe.“ 〈Schwiete 1910†〉 Oder bei der Wortfolge „Wand grau“ ebenda: „Ich hatte eine undeutliche Vorstellung, ohne daß ein konkretes Merkmal daran war; es war ein schattenhaft graues Objekt.“ – So ließen sich aus Literatur und Selbstbeobachtung die Zeugnisse beliebig vermehren, um Berkeley des Irrtums zu überführen; eines Irrtums, der auf der stillschweigenden unrichtigen Voraussetzung beruht, | 141 | daß das Anschauliche stets vollkommen, in allen Teilen bestimmt und zusam|| 12 Es konnte nicht aufgelöst werden, auf welche Berkeley-Ausgabe Brod und Weltsch zurückgriffen. In der von Friedrich Ueberweg besorgten Übersetzung lautet die Stelle folgendermaßen: „Ebenso muss auch die Idee eines Mannes, die ich mir bilde, entweder die eines rothhäutigen, eines gerade oder krumm gewachsenen, eines grossen oder kleinen oder eines Mannes von mittlerer Grösse sein. 〈…〉 Ebenso unmöglich ist es mir, die abstracte Idee einer Bewegung ohne einen sich bewegenden Körper, die weder schnell, noch langsam, weder krummlinig, noch geradlinig sei, zu bilden, und das Gleiche gilt von jedweder anderen abstracten allgemeinen Idee.“ 〈Berkeley 1869, S. 6f.〉

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menhängend gegeben sei. Ein Begriff, der aus solchen kompletten Anschauungen, wie Locke meint, „zusammengefügt“ wird, muß freilich in seinen Teilen „unvereinbar“ sein. Daß schon in der wahrgenommenen Anschaulichkeit, noch mehr im anschaulichen Begriff die Verschwommenheit gleichsam als plastische ausgleichende Bildnerin die Ecken der allzu individuellen Bestimmtheiten abschleift, mildernd und das scheinbar Unverträglichste vereinigend wirkt, ist diesen Forschern entgangen. So beruht ihre unrichtige Erklärung des Begriffsphänomens in letzter Instanz auf mangelhafter Deskriptive des Anschaulichen. Es kann also gar kein Zweifel daran bestehen, daß allgemeine Vorstellungen möglich sind. Eine andere Frage ist es aber, ob dieser Möglichkeit eine Wirklichkeit entspricht, ob sich also unser Denken tatsächlich in allgemeinen Vorstellungen von der Form (A + x) abspielt. Und hier setzt der zweite Einwand der Nominalisten ein, behauptend: Einerlei ob Allgemeinvorstellungen möglich sind oder nicht – wir erleben sie jedenfalls nicht, unser Denken geht entweder ganz unanschaulich oder in streng individualisierten Erinnerungsbildern und Phantasievorstellungen vor sich, ein durch Deckung divergenter Einzelerlebnisse gewonnenes allgemeines (A + x) wird nicht erlebt…. Es dürfte jedem Leser klar sein, daß wir hier zum Kern unserer ganzen Arbeit gelangen, indem wir nun nachweisen müssen, daß unsere (A + x)-Gebilde nicht etwa nur ein schönes Spielzeug theoretischer Betrachtung, sondern sehr praktische und wirksame Wesenheiten sind. Dabei wird sich (wir nehmen das Resultat voraus) zeigen, daß die Vorgänge des Denkens wirklich auf (A + x)-Gebilden beruhen, daß diese Vorgänge aber nur unter gewissen günstigen Bedingungen der Beobachtung zugänglich sind, unter andern Bedingungen sich mehr oder minder einem „Denken in Einzelvorstellungen“ zu nähern scheinen, wofür wir aber den ganz besondern Grund aufzeigen werden, | 142 | der unsere bisherige Erkenntnis nicht zerstören, sondern bekräftigen wird. Ehe wir auf die Argumente der Gegner eingehen, müssen wir ihnen eine Betrachtung entgegenhalten, die schon für sich allein geeignet ist, ihrem Angriff die Hauptwucht zu nehmen. Wir fragen nämlich: Woran will man überhaupt erkennen, daß nicht Allgemeinvorstellungen, sondern individuelle Vorstellungen beim Denken sich abwickeln? – Die geläufige Antwort besagt, daß das individuelle Erinnerungsbild genau in allen Details, vollständig, das allgemeine hingegen infolge der divergenten Eindrücke verschwommen sein muß. Jedoch diese Gegenüberstellung von Anschaulichem und Allgemeinem als irrig, und das Vorhandensein von Verschwommenheit in jedem, sei es anschaulichen, sei es begrifflichen Phänomen nachgewiesen zu haben, halten wir gerade für die Haupteinsicht, die aus unserer Darlegung hervorgeht. Der Unterschied zwischen dem allgemeinen und dem individuellen Erinnerungsbild tritt gar nicht

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phänomenal, sondern erst dann hervor, wenn man zu deuten versucht. Ist es allgemein, so zerfällt es bei verschärfter Aufmerksamkeit in divergente Einzelerlebnisse (das später beschriebene „Zucken des (A + x)“); ist es individuell, so verschärft sich das Verschwommene in der Richtung auf eine ganz bestimmtes Erlebnis und zeigt schließlich unausfüllbare Lücken, über die man nur noch sagen kann: „Wie diese Einzelheit damals aussah, weiß ich nicht mehr.“ – Hat man sich einmal gewöhnt, den Begriff der Verschwommenheit exakt zu behandeln, so findet man überall Verschwommenes und es erscheint einem unbegreiflich, wie selbst ein Forscher vom Range Bergsons, allerdings im Verlauf einer ganz andern Problemen nachgehenden Untersuchung, ein besonderes Gedächtnis postulieren kann, in dem ganz scharfe persönliche Erinnerungsbilder jedes Erlebnisses, also unendlich viele Erinnerungsbilder, „welche alle ihre Begebenheiten mit ihren Umrissen, ihrer Farbe und ihrem Platze in der Zeit einzeichnen“ | 143 | enthalten sein sollen. (〈Bergson 1908〉, S. 82). An anderer Stelle spricht er von „vergangenen Bildern, welche so wie sie sind, mit allen ihren Einzelheiten bis in ihre Gefühlsfärbung hinein, reproduziert werden.“ – Sollte sich Bergson nie die Frage vorgelegt haben, ob denn die Anschauung jemals „mit all ihren Einzelheiten“ erlebt wird? Falls man allerdings seine Sätze vom individuellen Erinnerungsbild so interpretieren kann, daß sie nur aussagen wollen, daß das individuelle Erinnerungsbild alle Einzelheiten des anschaulichen Eindrucks, also schon recht viel Verschwommenes, enthält, kann man ihm recht geben; obwohl eine die Einzelheiten abschwächende Wirkung der Zeit auf die individuellen Erinnerungen leicht beobachtbar ist. Die unwichtigeren Details z.B. die Landschaft, die Witterung bei einer Begegnung, entfallen, während etwa der Tonfall der gewechselten Worte scharf bleibt. Umgekehrt kann auch, je nach der Betonung im Erlebnisse, dieser Tonfall verschwimmen und die Witterung bleiben. Durch dieses Verschwimmen, wodurch gleichsam Licht und Schatten modellierend über das individuelle Erinnerungsbild gebreitet wird, nähert es sich dem allgemeinen. Man prüfe nur Bilder von Zimmern oder Personen, die man im Kopfe hat; fast jedes wird sich auf mehrere Begegnungen mit dieser Person, auf zahllose, gar nicht mehr auseinanderzuhaltende Anblicke des Zimmers beziehen lassen. Nur ganz wenige Eindrücke, die für unser ganzes Leben einschneidende Bedeutung haben, bewahren ihre ursprüngliche Schärfe. Bergson hat diese Abmattung der individuellen Erinnerungsbilder durch den Zeitverlauf bei Statuierung seines Gedächtnisses, das „treu im Konservieren ist,“ arg vernachlässigt. Zwar ist es ein Grundzug seines Systems, die Wirksamkeit dieser ganz scharfen Gedächtnisbilder durch Entgegensetzung eines nur praktischen Zwecken dienenden Bewegungsgedächtnisses und durch „launenhafte Reproduktion“ der halbunbewußten individuellen Gedächtnisbilder zu

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paralysieren. Aber eben dieses „Halbunbewußte“ | 144 | glauben wir durch unsere Beschreibung der Verschwommenheit allgemeiner Gedächtnisbilder, deren Teile bis zum Uneigentlich-Bewußten herabsinken, an diese Verschwommenheit geknüpft und erklärt zu haben. Auch Gomperz 〈Gomperz 1897〉, der dem „Sprecher“ ein unserem (A + x) in manchem verwandtes „anschauliches Begriffskorrelat“ gibt, glaubt im „Hörer“ eine „deutliche bestimmte konkrete Einzelvorstellung“ annehmen zu müssen. „Das ist sie aber nur dann, wenn sie eine wirkliche vollständige Wahrnehmung reprodu〈c〉iert.“ 〈Gomperz 1897, S. 28〉 Also auch hier die irrige stillschweigende Voraussetzung, daß die Wahrnehmung „vollständig“ sei. Erläutert wird dies noch mit einem von Binet angeführten Beispiel, wonach ein Mann, dem man „eine Schlange“ suggeriert, „eine bestimmte lebendige komplette Schlange“ sieht, „vor der er schreiend davonläuft.“ – Das beweist aber gar nichts. Denn auch die wirkliche Schlange, vor der man schreiend davonläuft, muß durchaus nicht komplett und mit allen Merkmalen gesehen werden; ja es ist hundert gegen eins zu wetten, daß gerade in diesem Falle nur ein sehr verschwommenes Bild, ein „Schlängeln“ (5. Kapitel), eine Relation mit uneigentlich bewußtem Fundament vor den erschreckten Augen steht, daß das Urteil 0 = 01 in aller Eile gefällt wird. – Es scheint also sichergestellt, daß wir in verschwommenen allgemeinen Anschauungen denken (wobei wir vom wissenschaftlichen Denken immer noch absehen und nur den Alltagsgebrauch der Sprache beschreiben). Unsere These ging aber noch viel weiter: sie nahm an, daß die allgemeinen Vorstellungen durch Deckung der Einzelerlebnisse auf Grund von Gleichheit oder Identität entstehen, daß also in ihrem A das Gemeinsame der Einzelerlebnisse und im x ihr einander Widersprechendes steckt. – Greift man nun, um dies zu verifizieren, ein Wort aus irgendeinem gesprochenen oder gedachten Satz heraus und sucht zu erfassen, was man sich dabei vorgestellt | 145 | hat, so findet man freilich, daß dies von der oben gegebenen Beschreibung recht weit absteht. Das vorgestellte Gebilde ist zwar verschwommen, aber es enthält bald mehr, bald weniger, bald ganz anderes als es nach unserer Deckungstheorie enthalten sollte. Es enthält weniger, denn im anschaulichen Begriff „Tier“ z. B. ist nicht allen Tieranblicken, die wir hatten, Rechnung getragen; nicht alles, was allen uns je erschienenen Tieren gemeinsam war, wird vorgestellt. Oder (dies der häufigste Fall) es wird mehr vorgestellt, als allen Eindrücken gemeinsam ist; gewisse spezielle Erlebnisse, etwa die letzten, drängen sich vor und bringen damit Anschauungsstücke, die von Rechtswegen in das x eines anschaulichen Begriffes gehörten, in sein A. Selbst dann, wenn die Impressionen nicht mehr als eine Relation oder einen Gefühls- oder Urteilsakt gemeinsam haben können,

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zeigen sich qualitative Komplexe in den Bildern. Es treten ferner neben den Gegenständen oder an ihrer Stelle die geschriebenen, gedruckten Worte oder Wortklänge auf (so beschreibt Gomperz sehr eingehend sein Begriffskorrelat „Lampe“ 〈Gomperz 1897,〉 S. 31). Derartige gewohnheitsmäßige Bilder recht bizarrer Art, wenn auch nicht so liebevoll detailliert, dürften bei den meisten Menschen an Stelle der normalen (A + x)-Gebilde fungieren. So stelle ich mir eine „Lampe“ zwar nicht so kompliziert wie Gomperz, aber immerhin brennend vor, während an dem durch Deckung entstandenen (A + x) eigentlich auch ausgelöschte Lampen mitgewirkt haben müßten. Wie ist es nun möglich, daß ein verschwommenes Gebilde, das nicht die durch Deckung zu erklärenden Schärfen, sondern mehr oder weniger oder beides zugleich zeigt, doch alle unter den Begriff fallenden Einzeldinge repräsentiert, indem es in ihrer Richtung deutbar ist? In andern Worten: Ist mit Anerkennung dieser unvollkommenen, nicht durch Deckung gebildeten Bilder, die wir (A + x)-Surrogate nennen wollen, unsere ganze Theorie gefallen? Wir glauben, nein. Im Gegenteil, gerade | 146 | diese (A + x)-Surrogate lassen sich zwanglos aus dem Dargestellten ableiten und werfen ein neues Licht auf das Wesen der (A + x)-Gebilde. Eine genauere Beschreibung des obigen Vorgangs, den wir als Herausgreifen eines (A + x) aus einem gesprochenen oder gedachten Satz bezeichneten, zeigt, daß eben während dieses Herausgreifens eine entscheidende Wandlung im (A + x) vor sich geht, die man als „Zucken“ des (A + x) in der Richtung der ihm zugrunde liegenden Einzelvorstellungen aufzufassen hat. – Wir denken eben nicht in einzelnen Begriffen, sondern in Sätzen, ja in ganz großen Gedankengängen, über welche sich die Aufmerksamkeit nicht gleichmäßig, sondern in weit auseinanderliegenden Kulminationspunkten ergießt. Wir denken in Aufmerksamkeits-Kulminationspunkten. Die einzelnen Begriffe stehen innerhalb dieser größeren Zusammenhänge in geringerer Aufmerksamkeit. Das Herausgreifen eines Wortes bedeutet mithin eine Aufmerksamkeitsverstärkung, Aufmerksamkeitsverschiebung. Es ist nun nicht zu verwundern, daß diese zarten (A + x)-Gebilde, die man ja recht eigentlich als Kinder der Aufmerksamkeit bezeichnen kann, einer Verschiebung in ihrer mütterlichen, zeugenden Sphäre nicht gleichgültig gegenüberstehen. Ein solches (A + x), das nur durch eine bestimmte Formation der Aufmerksamkeit entstanden ist, verträgt eine neue Lagerung der Aufmerksamkeit nicht, beginnt sofort sich zu zersetzen, sobald die Aufmerksamkeit sich steigert. Solange es im Schatten der Aufmerksamkeitslosigkeit liegt, verhält es sich verhältnismäßig ruhig. Wird es aber von der Aufmerksamkeit nur berührt, gestreift – und das geschieht in hohem Maße, sobald man es betrachten will – so beginnt es sich zu rühren, zu zucken, es versucht in unregelmäßiger Weise Einzelvorstellungen zu sprühen. Es windet

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sich unter dem Lichte der Aufmerksamkeit und versucht alle möglichen Verwandlungen, schnell wechselnd, manchmal die Verwandlung nicht beendend und rasch zu neuem Versuche sich zurückziehend, manchmal | 147 | in einer Individualgestalt verharrend, gleichsam als ob nun die richtige Gestalt gefunden wäre, urplötzlich wieder in eine neue Form hinüberschlüpfend. Die Aufmerksamkeit verträgt eben nichts Verschwommenes und wirkt sofort bildend auf dasselbe ein, in den Grenzen, die dem x vom A gesteckt sind und in den Richtungen, die vom gegenwärtigen Stand des Bewußtseins abhängen. So erklärt es sich, daß das Allgemeine von einigen Autoren als ein wechselndes Vorbeiziehen vieler Spezialvorstellungen erlebt werden wollte, daß James Mill angab, er erfahre einen ungeheuer raschen Wechsel von speziellen DreieckVorstellungen, wenn er den Begriff „Dreieck“ denke. Diese Beschreibung, die trotz ihrer scheinbaren Absurdität der Wahrheit viel näher kommt als die Berkeleysche, läßt es allerdings unklar, warum nicht auch andere Gebilde als Dreiecke hierbei erschienen und vor allem wieso durch die naturnotwendig endliche Anzahl von Spezialfällen die Leistung eines allgemeinen Begriffs erzielt wird, wie z. B. ein Spezialfall, der just nicht unter den vorbeiziehenden sich einfand, doch keineswegs im Falle seines Auftretens als etwas nicht Hierhergehöriges, nicht unter diese Idee zu Subsumierendes abgewiesen wird. – Richtig an dieser Beobachtung bleibt aber, daß der anschauliche Begriff (A + x) in uns ruht und bei Aufmerksamkeitsbetrachtung bereit ist, sich nach allen Richtungen hin in seine Einzelerlebnisse zu zerspalten. Zu diesen Einzelerlebnissen gehören aber nicht nur die verschiedenen Ansichten des Gegenstandes, sondern auch Relationen, in denen er charakteristisch vorkommt, Gefühle und Urteile, die mit Bezug auf ihn häufig erfahren werden, ja noch entferntere Assoziationen wie der Klang oder das Wortbild seiner Benennung. Alle diese von rechtswegen im x des anschaulichen Begriffs gegenseitig verdeckten Einzelimpressionen können also bei hingelenkter Aufmerksamkeit frei werden, sein A überdeterminieren und verfälschen. Nur in der Ruhelage also kann das (A + x) erlebt werden, seine Zuckungen im Lichte der Aufmerksamkeit | 148 | sind notwendigerweise zu spezialisiert; freilich (davon später mehr) liegt gerade in dieser Spezialisierung mit bestimmter Richtung das Geheimnis des zusammenhängenden Denkens. – Denken wir z. B. an „Silbermünze“. Das Bild der beiden Flächen ist noch verschwommen. Nun wenden wir ihm aber unsere Aufmerksamkeit zu; es kann nicht verschwommen bleiben, ich sehe einen Adler, sehe einen Kopf, das Bild des Kaisers, plötzlich sogar eine Figur, etwa eine Siegesgöttin. Damit kann ich mich zufrieden geben, eben noch konstatierend, daß diese Siegesgöttin ein recht verschwommenes Gebilde war. Aber bei diesem Gedanken wendet sich ihr schon die Aufmerksamkeit zu. Es beginnt eine schwere Arbeit, da jede Speziali-

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sierung dieser Göttin fehlt. Da wagt es das x sogar ein klein wenig zu fälschen; es borgt sich (hier zeigt sich klar die oben geschilderte Differenz zwischen dem allgemeinen und dem individuellen Erinnerungsbild, das hier eine Lücke offen eingestehen müßte) eine Siegesgöttin aus, die in der Erinnerung als irgendeine Figur aus der griechischen Mythologie vorhanden war, und füllt mit dieser erborgten Materie die unter dem unerbittlichen Lichte der Aufmerksamkeit nach Spezialisierung strebenden x-Partien der Siegesgöttin, so gut es eben geht. Im Verfolg der im 1. Kapitel beschriebenen Versuche, welche die Wirkung der „Gleichheit“ feststellten, kamen wir dazu, auch die Zuckungen des (A + x) zu studieren. In den nacheinander vorgezeigten Täfelchen waren ja die meisten Figuren abweichend voneinander, gelangten also durch Deckung ins x. Hatte nun eine Versuchsperson außer der gleichbleibenden Figur noch andere, durch nachfolgende Abweichungen gestörte und verschwommen gemachte Stücke behalten, so kam es beim Zeichnen meist zu den willkürlichsten Abweichungen vom Original, zu Deformationen und Erfindungen. Das Verschwommene machte bei seinen krampfhaften Anstrengungen, eine feste Einzelform zu erlangen, Anleihen bei andern im Gedächtnis vorhandenen Gestalten. Man konnte es | 149 | förmlich sehen, wie die Versuchsperson, wenn man darauf drang, sie müsse sich doch etwas gemerkt haben und sie solle nur versuchen weiterzuzeichnen, sich nun aufs Erfinden verlegte und, allerdings im Anschluß an irgendeinen ganz dunklen verschwommenen Eindruck, zu phantasieren anfing. Als wir einmal gar statt geometrischer Figuren Bilder verschiedenartiger Gondeln wählten, brachten manche Versuchspersonen zwar recht gut das Gemeinsame in ihrem Erinnerungsbild an, andere aber begannen die Zeichnung mit einer Fülle von Details auszustatten, die deutlich als (A + x)-Surrogate zu erkennen waren. So erklären sich auch die detaillierten Einzelbilder, die Gomperz seinen Begriffen „Lampe“, „Dienstag“ zuschreibt, dadurch, daß er beim InsAuge-Fassen dieser Begriffe die Aufmerksamkeit ganz fest auf sie konzentrierte und auf diese Art die ursprünglich verschwommene Anschauung mit Individuellem bereicherte. Wie trügerisch die Aufmerksamkeit solche ganz scharfe Eindrücke aus ganz Verschwommenem aufzucken läßt, lehrt auch dieser Fall, der sich in unserer Umgebung zutrug: Als die hiesige Tageszeitung ihr Format vergrößerte und infolgedessen in geringerer Seitenzahl erschien, registrierte dies beim ersten Eintreffen des geänderten Blattes eine Dame, sie sich sonst wenig um äußere Dinge zu kümmern pflegte, mit den Worten: „Du, mir scheint, die Zeitung ist heute dicker als sonst.“ Sie war natürlich dünner. Aber aus dem verschwommenen Eindruck, in dessen A nur die überraschende Verschiedenheit vom täglich Gewohnten stand (ein schöner Beleg dafür, daß die „Verschiedenheit“ nicht qualitäterfassend wirkt (1. Kapitel), entsprang durch willkürliche

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Verschärfung unter dem Zwange der Aufmerksamkeit, die kein Material vorfand, ein falscher Einzeleindruck. Wir erklären mithin die Einzelvorstellungen, die sich zeigen, falls man einen Begriff unter die Lupe nimmt, nicht als im Wesen des Begriffs begründet, sondern im Wesen des „Unter-die-Lupe-Nehmens“, das eben als Aufmerksamkeitsänderung | 150 | auf das (A + x) zersetzend wirkt. In der Unaufmerksamkeit also, mit der die meisten Begriffe im Denkzusammenhang gebraucht werden, sehen wir gleichsam den Konservator ihrer Verschwommenheit und damit ihrer richtigen, allgemeinen oder besonderen Bedeutung in der Satzverknüpfung, die durch jedes Hervortreten unbefugter Einzelbilder empfindlich gestört würde. Den Mechanismus des Denkens hätte man sich sonach so vorzustellen, daß durch jedes Wort das (A + x) des nachfolgenden Wortes gerade zu derjenigen Zuckung angeregt wird, die im Satze gebraucht wird; das vorangehende Wort ist Aufmerksamkeitsmotiv und stört die Ruhe des nachfolgenden (A + x) nur in der Richtung, die dem vorangehenden Wort selbst, also dem Satzzusammenhang, entspricht. – Alle übrigen möglichen Richtungen, in die das (A + x) zerfallen könnte und bei hingelenkter Aufmerksamkeit auch wirklich zerfällt, bleiben unter dem Schutze der Unaufmerksamkeit für den besonderen Fall verhüllt. Vgl. A. Busemann 〈1911〉. Noch wesentlicher ist diese Unaufmerksamkeit für jene zahllosen (A + x)-Gebilde, die ohne Benennung in uns leben, gleichsam als Begriffsembryonen noch auf die Stunde der Geburt warten. Eine Fülle von Erfahrung ist in ihnen aufgespeichert, nur eine kleine Verstärkung fehlt noch und sie würde in ihrer Eigentümlichkeit bewußt, aber schon jetzt bringt dieses Verschwommene die Stimmungen hervor, für die wir keine Worte haben, jenes Undefinierbare, Instinktive, von dem das Leben voll ist und das sich auflösen müßte, wenn es der Aufmerksamkeit gelänge, alles in deutlichste Einzelbilder zu zerspalten. Dann könnte es zu diesen behutsamen Neubildungen, deren Stoff sich im Halbbewußten ansammelt, gar nicht kommen, denn die Aufmerksamkeit würde nur stets auf Wiederholungen des schon in voller Schärfe Erlebten zurückgreifen. Die Formierung der (A + x)-Gebilde, das Schöpferische der Menschenseele also, vollzieht sich im Unbewußten. – Mit diesen Sätzen sind wir | 151 | scheinbar ins Unbeweisbare geraten, indem wir die wahren (A + x)Gebilde als unbewußt und unbeobachtbar wirkende Fundamente des Denkens annehmen. Doch glücklicherweise gibt es Fälle, in denen wir die Aufmerksamkeit gleichsam überrumpeln, ihre Zersetzungstätigkeit ausschalten können. Diese Fälle lassen sich auf zwei Typen bringen: 1. Wir können den Übergang beobachten, den allmählichen Zerfall des wahren (A + x) in die Surrogate unter dem Einfluß der übergroßen Aufmerksamkeit. Von dieser Art waren die zitierten Fälle theoretischen Unter-die-Lupe-Nehmens.

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– Aber auch praktisch ereignen sich jeden Augenblick Situationen, die als Motiv für eine Aufmerksamkeitsverstärkung wirken und dadurch die in uns befindlichen (A + x)-Gebilde, die wir uns als in einem Zustand äußerster Labilität befindlich zu denken haben, in Unruhe versetzen und zu einem Zerfall in Einzelbilder anregen. Höre ich eine mit Lebhaftigkeit vorgetragene aufregende Erzählung, so ist eben die auf mich übertragene Aufregung (Gefühlsintensität) für mich ein Motiv, die in mir vorhandenen verschwommenen Materien möglichst individuell und lückenlos auszubilden, also: den erzählten Vorgang, wie man sagt, möglichst anschaulich zu sehen, wobei man allerdings vergißt, daß die Verschwommenheit ebenso anschaulich ist und daß durch Aufmerksamkeitssteigerung nicht Anschaulichkeit sondern Determiniertheit erzielt wird. Beim Anhören oder auch Selbstvortragen spezieller markanter Ereignisse wird also in phantasiebegabten Menschen kein (A + x)-Gebilde zu konstatieren sein, alle werden sich in je eine ihrer Sondergestalten verwandelt haben. Dieser Fall, der aber nur als ein durch besondere Umstände herbeigeführter Spezialfall zu gelten hat, verführt Gomperz zu der schon oben erwähnten Teilung des psychischen Vorgangs im Sprecher und Hörer. Während er dem Sprecher immerhin im „anschaulichen Begriffskorrelat“ etwas dem (A + x) Verwandtes läßt, sagt er vom Zuhörer: „Ein vernommenes Wort wird in mir vor allen | 152 | jenen Einzelvorstellungen, mit denen es assoziert ist, in jedem Falle nur eine einzige hervorrufen: eine einzige, einzelne, an sich bestimmte. Wenn mir jemand erzählt, er sei beinahe von einem durchgegangenen Pferde überrannt worden, so stelle ich mir in dieser Situation ein bestimmtes, konkretes Pferd vor: von bestimmter Größe, bestimmter Farbe, bestimmtem Aussehen. Was ist das für ein Pferd? Ist es das Pferd des Erzählers? … Gewiß nicht… . Vielleicht stelle ich mir einen Braunen vor und er denkt an einen Schimmel. Denn das Wort kann nichts anderes tun als aus dem Vorrat von assoziierten Einzelvorstellungen eine bestimmte heraufzurufen“. – Hätte Gomperz versucht, zu untersuchen, was in der Seele des Hörers vorgeht, wenn man ihm statt dieses dramatischen Vorgangs einen allgemeinen Satz z. B. „Fast alle Pferde sind launenhaft“ mitteilt, so wäre er schwerlich auf Vorstellungen von solcher Bestimmtheit gestoßen. Nur wenn das (A + x) in seiner Ruhe gestört wird, bringt es eben eine passende Einzelvorstellung aus seinem immer fruchtbaren Schoße hervor. Doch steht diese schwerlich in der von Gomperz beschriebenen Schärfe. Wenn ich z. B. im Verlaufe der Erzählung erfahre, daß das Pferd ein Schimmel war, und wenn man mich jetzt fragt, welche Farbe ich mir denn bis dahin vorgestellt habe, so werde ich mich meist nicht zu erinnern wissen: ein Beweis, daß meine Vorstellung „Pferd“, wie es seiner (A + x)-Natur entspricht, von verschwommener, gleichgültiger Farbe war. – Diese Erfahrung habe ich oft gemacht, wenn ich mir vor dem Zusam-

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mentreffen mit einer Person, vor dem Besuch eines Ortes, des Theaters eine anschauliche Vorstellung dessen zu machen suchte, was mich jetzt erwartete. Trotz aller Anstrengung, ein in allen Details vollendetes Bild zu schaffen, bringt man nur ein recht verschwommenes fertig, welches dann eben wegen seiner Neutralität von der Wirklichkeit sofort und unerinnerbar verdrängt wird. Einen Beweis dafür, wie leicht das (A + x) zu einer Zuckung, | 153 | Einzelgestaltung bestimmt wird, sehen wir auch in der Symbolbildung und in der Neigung zur Symbolisierung. Zugleich ist die Art dieser Symbole ein Beleg für unsere in den beiden vorigen Kapiteln ausgeführten Theorien, daß als A einer verschwommenen Vorstellung oft die Relation im höchsten Licht der Aufmerksamkeit bleibt, während die Fundamente nicht beachtet werden. Derartige Symbole also haben mit dem, was symbolisiert werden soll, eine charakteristische Relation gemeinsam, die Fundamente dagegen sind als gleichgültig mit andern vertauscht. So kann der „Blitz“ vermöge der in ihm hervorgehobenen Relation der plötzlichen Bewegung als Spezialgestalt (Zuckung), als Metapher für alles, was sich plötzlich bewegt, verwendet werden. In den kindlichen Sexualtheorien (vgl. 〈Freud 1909〉) vertritt das Hervorkommen der Exkremente aus dem Körper, also eine Orts- und Bewegungsrelation mit willkürlich spezialisiertem Fundament, symbolisch den Vorgang der Geburt. Freud hat die zahllosen Genitalsymbole im Traum, Mythos usw. erkannt, seine Schüler haben weitere Beiträge in dieser Richtung geliefert. Der wichtigste, häufigste Fall, in dem das (A + x) zu einer Verwandlung in eine seiner Spezialformen angeregt wird, ist: die Wechselwirkung mit einer speziellen Wahrnehmung. Es wirkt nämlich das (A + x) aufmerksamkeitsverteilend und formt damit recht eigentlich die Wahrnehmung. Zugleich wird es von der Wahrnehmung in seiner Ruhe gestört und nähert sich, wie eine Zelle mit sich ausstreckenden Protoplasmafortsätzen, der Wahrnehmung. Das Resultat, das unsere Wahrnehmung ausmacht, ist schließlich eine Verschmelzung, ein Ausgleich zwischen dem (A + x) und der speziellen Anschauung. Man könnte sagen: das (A + x) ist in die Wahrnehmung „hineingeworfen“ worden. Bindemittel ist das Identitätsurteil. Sieht man einen Hund, so hat man sich den Erkennungsakt (dies ist ein Hund) nicht als begriffliche Subsumption zu denken, wiewohl natürlich auch dieser Fall Vorkommen kann. | 154 | In der Regel hat (wie bei der Elektrizitätsinduktion) bei Näherung des (A + x) an die Wahrnehmung das (A + x) bereits die ihm charakteristische Aufmerksamkeitsverteilung auf das speziell Anschauliche übertragen, so daß uns genau das in der Anschauung auffällt, was im (A + x) scharf ist; zugleich hat die Wahrnehmung das (A + x) zum Zucken und zur Annahme einer spezielleren Gestalt angeregt. So kommen einander die beiden Vorstellungen auf halbem Wege entgegen, im

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Moment des Zusammenschlusses sind sie ganz gleich oder gar identisch, so daß wir gar nicht zwei verschiedene Vorstellungen, sondern nur eine zu erleben glauben. – Wir nennen diesen Vorgang das „Zusammenfließen von (A + x) und Wahrnehmung“. Nicht sehr abweichend beschreibt ihn Bergson in seiner Abhandlung „L’effort intellectuell,“ ferner in „Materie und Gedächtnis“: „Die Wahrnehmung ist niemals bloß ein Kontakt des Geistes mit dem gegebenen Gegenstand; sie ist immer von Erinnerungsbildern durchsetzt, welche sie vervollständigen, indem sie sie erklären.“ 〈Bergson 1908, S. 134〉 Bergson nimmt also nur eine Wirkung der Erinnerung auf die Wahrnehmung an; die Einsicht, daß auch die Wahrnehmung auf die Erinnerung wirkt, indem sie die (A + x) zur Spezialisierung anregt, mußte ihm, da er von vornherein spezielle Erinnerungsbilder annimmt, verschlossen bleiben. Von hier aus ergibt sich eine neue Einsicht in das Wesen der Aufmerksamkeit. Wir haben im 3. Kapitel ihre subjektive Seite als „Spannung“, „Anstrengung“ beschrieben. Worauf richtet sich aber diese Anstrengung? Offenbar darauf, möglichst viele (A + x) in die Anschauung hineinzuwerfen. Je nach dem Grade dieser Anstrengung werden also tiefere Schichten der in uns ruhenden (A + x)-Gebilde zur Tätigkeit angeregt und nach Maßgabe der funktionierenden (A + x)-Gebilde gelangt dann die Außenwelt zur Deutung. So ist die Gliederung des Draußens, die objektive Verschärfung infolge von gesteigerter Aufmerksamkeit, nichts anderes als ein getreues Spiegelbild der Gliederung des Innen. Die objektive Seite der Auf- | 155 | merksamkeit ist in ihrem Zusammenhang mit der subjektiven Seite erkannt. Wie sehr die (A + x)-Gebilde unsere ganze Wahrnehmung bestimmen, scheint uns die bekannte Regel von der „Duplizität der Ereignisse“ zu bestätigen. Die Sache verhält sich nicht so, daß die Ereignisse paarweise auftreten, sondern daß sie, einmal bemerkt, leicht wieder bemerkt werden, da das von ihnen zurückgelassene (A + x) jetzt die Aufmerksamkeit in ihre Richtung lenkt. Höre ich ein neues Wort, das mir noch nie vorgekommen ist, so kann ich fast darauf wetten, daß ich es am nächsten Tag wieder zu hören bekomme. Natürlich habe ich es auch vorher schon unzähligemale gehört, aber es blieb in Unaufmerksamkeit verhüllt. Ich erinnere mich genau, das Wort „ergattern“ erst in meinem 14. oder 15. Lebensjahr gelesen und damals sehr darüber gestaunt zu haben, daß es mir vom Zeitpunkt des ersten Auffallens an fast täglich unter die Augen kam. – So ist es ja nachgewiesen 〈vgl. Goldscheider/Müller 1893〉, daß das fließende Lesen eine Arbeit des Erratens ist. – Ebenso beruht das VomBlattspiel am Klavier auf einem Erraten von Akkorden. – In allen diesen Fällen gliedern wir die Wahrnehmung nach den in uns vorhandenen (A + x)-Gebilden, werfen diese in die Wahrnehmung hinein. Unser schnelles Orientiertsein ist so

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leicht erklärlich, wir bewegen uns ja in einer von uns geschaffenen Umgebung, obwohl wir glauben, daß diese Umgebung uns fremd und willkürlich aufgedrängt ist. – Ein einziger Blick genügt, um ein kompliziertes, aus tausend Fasern und Poren zusammengesetztes Gebilde wie den Schwamm beim Raseur augenblicklich als Schwamm zu erkennen. Wir haben eben gar nicht ihn gesehen, sondern nur unsern (A + x)-Schwamm in die Wahrnehmung projiziert und aus ihr, zu einer Spezialgestalt angeregt, zurückempfangen. Nur so ist es zu erklären, daß wir oft gar nicht sehen, was vorhanden ist, sondern was wir zu sehen uns einbilden. Stendhal | 156 | behandelt diese Art schöpferischer Geistestätigkeit, die namentlich im Affekt hervortritt, auf einem Spezialgebiet in seinem Buche „De l’amour“ als „Krystallbildung.“ 〈Stendhal 1903〉 Vgl. auch Goethe 〈Gespräch mit v. Müller, 24. April 1819〉: „Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht. Oft sieht man lange Jahre nicht, was reifere Kenntnis und Bildung an dem täglich vor uns liegenden Gegenstände erst gewahren läßt. Nur eine papierene Scheidewand trennt uns öfters von unseren wichtigsten Zielen, wir dürften sie keck einstoßen, und es wäre geschehen …“13. Zahllose Vorurteile und Schranken zwischen den Menschen werden auf diese Art geschaffen. Jeder fordert den andern auf, doch seine Augen zu gebrauchen, jeder glaubt es ehrlich zu tun, jeder sieht doch nur seine eigenen (A + x)-Gebilde, in ziemlich willkürliche Zuckungen von äußeren Reizen angeregt und nach ihrem Gleichgewichtszustand tendierend. Wir deuten alles Nachfolgende auf Grund der in uns verankerten Komplexe, auf vorangegangene Erfahrung hin und es ist klar, daß hierbei eine zufällige Ordnung, Reihenfolge, überhaupt das Zeitmoment oft mehr mitwirkt als das Material der Erfahrung. Nur so sind die oft seltsamen Reiseeindrücke zu erklären: Hebbel sah in Paris auffallend viele Stecknadeln auf der Gasse liegen,14 Grillparzer bemerkte in Dresden auffallend viele Bucklige und Zwerge.15 Nehmen wir etwa an, wir erfüh-

|| 13 Es konnte nicht eruiert werden, aus welcher Goethe-Ausgabe Brod und Weltsch diese Gesprächsnotiz zitieren. Im 2. Band der Ausgabe von Goethes Gesprächen, den Flodoard von Biedermann 1909 publizierte, lautet der Passus folgendermaßen: „Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht. Oft sieht man lange Jahre nicht, was reifere Kenntnis und Bildung uns an dem täglich vor uns liegenden Gegenstande erst gewahren läßt. Nur eine papierene Scheidewand trennt uns öfters von unseren wichtigsten Zielen, wir dürfen sie keck einstoßen, und es wäre geschehen.“ 〈Goethe 1909, S. 436f.〉 14 In Brod 1911b zitiert Brod aus Hebbels Pariser Tagebuch: „Man sieht auf der Straße in Paris auffallend viele Blatternarbige“. 15 Siehe dazu Grillparzers Tagebuch auf der Reise nach Deutschland: „Ich glaube, die Dresdenerinnen kommen mit 30 Jahren zur Welt, bis jetzt sah ich beinahe noch keine junge. Verhältnismäßig viel Mißgestaltete und Zwerge.“

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ren folgende Reihe von Erlebnissen oder Eigenschaften einer bestimmten Person: a a b a a c b d b a b d a b. Hier ist die Eigenschaft a dadurch im Vorteil, daß sie gleich zu Anfang in auffallenden Gruppen gegeben ist. Das Folgende wird nun schon auf a hin angesehen; a findet sich noch einigemal, man bekommt den Eindruck, daß es in der Reihe entschieden überwiegt, während in Wahrheit b nur ein einzigesmal weniger, aber nicht so günstig verteilt auftritt, daher die Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen kann. Die Deutung der ganzen Reihe hat sich unter dem Einfluß der anfänglichen a-Konstellationen vollzogen. So können auch im Leben gegebene Ketten | 157 | (z. B. das Benehmen eines Menschen, die Vorteile und Nachteile eines Berufs) nicht mit Gewißheit wirklichkeitsgemäß beurteilt werden, die Position einzelner Glieder entscheidet für die andern mit. Es ist ein Gebot der Klugheit, der Gerechtigkeitsliebe und Güte, jedes einzelne Ereignis mit seinem vollen Gehalt auf sich einwirken zu lassen, vor Widersprüchen, die scheinbar im Erlebnis, eigentlich aber in unsern vorgefaßten Begriffen liegen, nicht zurückzuschrecken, gewissenhaft die neuen Glieder einer Kette zur Verbesserung der Gesamtauffassung mitzubenutzen. Aber kann dieses Gebot je ganz erfüllt werden? Ein tiefer Verdacht gegen alle Verallgemeinerungen, gegen Sätze wie „dieser Mensch ist böse, lieb, unausstehlich, moralisch“ erfaßt einen, wenn man das ewig Wechselnde, Unberechenbare der Einzelanschauungen und die Bequemlichkeit der üblichen Subsumptionen erkannt hat. Diese Skepsis, die nichts ist als die Kehrseite einer großen Ehrfurcht gegen die lebendige Anschauung, hat in rührender Eindringlichkeit Hugo von Hofmannsthal in seiner Novelle „Ein Brief“ dargestellt. Wir heben nur eine besonders markante Stelle des Meisterwerkes hervor: „So ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.“ (Vgl. hierzu die „parzellierende Tendenz“, Beginn des 3. Kapitels: 〈Hofmannsthal 1907b, S. 64〉). – Manchmal kommt es vor, daß man von der Anschauung in recht drastischer Weise zurechtgewiesen wird. Wenn man an einer Straßenecke etwa jemanden erwartet, so sieht man in jedem Herannahenden die gewünschte Gestalt, das gewünschte Gesicht und ist dann über die groteske Unähnlichkeit manchmal erstaunt. Oder, eine Dame erzählte mir: „Seit Jahren kenne ich Herrn N. von der Gasse. Heute mußte ich zum erstenmal mit ihm sprechen, sah ihn daher von der Nähe und bemerkte zu meiner Verwunderung, daß er ein ganz anderes Gesicht | 158 | hat als ich mir es vorgestellt und mit dem ich ihn früher immer von fern zu sehen geglaubt hatte. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, wie ich mir ihn früher eigentlich gedacht habe.“ –

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Oft gelingt es einem auch direkt den Übergang zu beobachten. Manchmal versagen nämlich die im Kopf angesammelten Erinnerungsbilder und wollen in das Gegebene nicht einfließen, sie scheinen nicht zu passen. Wenn man mit der Tramway durch die Stadt fährt und längere Zeit nicht aufgeschaut hat, so kann es einem vorkommen, daß man durch ein Anhalten aus dem Nachsinnen aufgerüttelt, plötzlich die Gegend nicht erkennt und in einer fremden Stadt zu sein glaubt. Kein Haus, keine Gasse ist bekannt. Plötzlich gibt es einen Ruck, das Bild erscheint, ohne sich materiell zu ändern, wie unter veränderter psychischer Beleuchtung (Aufmerksamkeitsverteilung) und man erkennt, daß man diese Lokalität schon tausendmal gesehen hat, man begreift gar nicht, wie sie einem vorher so ganz anders erscheinen konnte. So gewaltig ist der Unterschied zwischen den Eindrücken, den eine Wahrnehmung ohne Hilfe der (A + x)-Gebilde und mit einer solchen Hilfe macht. – Es kommt ja auch vor, daß man sich in seinem eigenen Bett nicht auskennt, wenn man plötzlich Nachts aus dem Schlaf auffährt, daß man rechts und links im eigenen Zimmer in einem seltsamen Gefühl verwechselt und sich keine Vorstellung von der so gewohnten Anordnung der Möbel machen kann. Bis auch hier die (A + x)-Gebilde erwachen und mit einem Schlag alles in der vertrauten Weise gliedern! – Das Ausbleiben dieser Gliederung wäre als ein wechselseitiges Versagen von Anschauung und (A + x) zu erklären. Die Anschauung ist nicht stark genug, um das richtige (A + x) zu einem Zerfall anzuregen und das (A + x) nicht stark genug, um Motiv für eine geänderte Aufmerksamkeitsverteilung zu werden. So bleibt das gegenseitige Zusammenfließen aus. Das Eigentümliche des (A + x) ist also, daß es bei Begegnung mit einer ihm verwandten Einzelanschauung unter dem Lichte | 159 | erhöhter Aufmerksamkeit sich zur Verwandlung in dieses Einzelne angeregt fühlt; dies haben wir durch Beispiele erhärtet und jeder Tag liefert solche. Dieser Eigenschaft korrespondiert seine Macht, dem Zusammenfließen mit andern Vorstellungen als den ihm verwandten einen deutlich fühlbaren Widerstand entgegenzusetzen. Ein solches Gebilde, so vieldeutig und zart, ist ja doch nur in den Grenzen, die ihm sein A setzt, verschwommen und besitzt insofern also trotz seiner Regsamkeit und Weichheit ein starres Rückgrat. Auch dies erleben wir alle Tage: wir kehren z. B. an einen Ort zurück, den wir lange nicht gesehen haben. Nie wären wir imstande, etwa ein Bild des Marktplatzes von Riva mit allen Details uns vorzustellen. Es scheint, als hätten wir ihn ganz vergessen. Und doch ist ein verschwommenes Erinnerungsbild in uns zurückgeblieben, dessen Macht sich sofort als Widerstreben zeigt, wenn irgend etwas an diesem Marktplatz z. B. der Anstrich eines Hauses, geändert wurde (vgl. 4. Kapitel). Das in uns ruhende Erinnerungsbild sträubt sich, in diese geänderte Einzelanschauung sich zu

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verwandeln. Obwohl es nicht die Macht hat, sich aus sich selbst heraus als eine komplette Einzelanschauung zu füllen (wir erinnern uns an die frühere Farbe des Hauses gar nicht): mit dieser vorliegenden Anschauung will es jedenfalls nichts zu tun haben. Dieser Wille, der unbewußt da ist und dennoch so lebhaft wirkt, ist nichts anderes als die Effloreszenz eines in uns ruhenden (A + x)Gebildes …. Man kann beobachten, daß man manchmal auf dieses Nichteinfließen-wollen eines (A + x) direkt spekuliert. Der Schüler, der irgendeine griechische Verbalform nur verschwommen innehat, sucht sich bei der Schularbeit dadurch zu helfen, daß er zwei entgegengesetzte Formen aufs Löschpapier kritzelt, sein (A + x) förmlich zu reizen sucht und dessen Hinneigung zu der richtigen Form und Widerstand gegen die unrichtige ausnützen möchte. 2. Diese letzten Beispiele bieten schon den Übergang zu dem | 160 | zweiten Typ von Beweisen, die sämtlich darauf beruhen, daß man das (A + x) nicht wie in den vorangeführten Fällen während seiner Bewegung zu Speziellem hin, sondern gerade im Gegenteil während seiner Erstarrung beobachtet. – Diese zuckenden unruhigen Gebilde haben nämlich Zustände, in denen sie ihr ganzes Leben verloren zu haben scheinen, in denen sie wie narkotisiert stillhalten, oft sehr zum Ärger des Betroffenen, der ja meist nicht das theoretische Interesse der Beobachtung eines (A + x)-Gebildes, sondern das sehr praktische seiner schnellen Ergießung aus dem Verschwommenen in die komplette Anschauung hat. – Jedermann ist dieser Zustand z. B. bei der Erinnerung an Worte unter dem Namen bekannt: „Ich hab’s auf der Zunge, aber ich kann es nicht herausbringen.“ Man weiß also wohl, daß man eine Vorstellung und sogar die richtige hat, aber sie ist verschwommen, sie will ihr x nicht mit lebendigem Material anfüllen, das A ist im Verhältnis zum x zu geringfügig oder es liegt kein genügendes Motiv vor, um das (A + x) zum Zerfall anzuregen. In solchen Fällen versucht man es oft mit Motiven aller Art, mit dem Hersagen von Namen, die man für ähnlich hält, die aber dann später, wenn das Richtige zu finden endlich geglückt ist, meist als recht unähnlich sich herausstellen. Manchmal ist von dem Wort, an das man sich erinnern will, der Rhythmus oder ein Vokal klar, das andere verschwommen und solche Fälle sind besonders deshalb interessant, weil sie den Beweis liefern, daß eine solche „Totalimpression“ nicht, wie Gomperz in der „Methodologie“ ausführt, lediglich auf einem Gefühl fundiert ist, sondern auch aus verschwommenen Qualitäten oder Relationen von der Form (A + x) bestehen kann. Freilich bietet gerade der Fall, daß im A einer verschwommenen Vorstellung ein Gefühlsakt steht (z. B. Hunger), während der Gegenstand, auf den sich das Gefühl bezieht, nur uneigentlich bewußt ist, besonders guten Anlaß zur Beobachtung. Denn die mit der Beobachtung verbundene Aufmerksamkeitssteigerung kommt dann oft nur | 161 | dem Gefühl zu Gute, während der

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Gegenstand in der zur Beobachtung einzig zuträglichen Halbbeleuchtung bleibt. Daß aber auch in hoher Aufmerksamkeitsstufe stehenden Gefühlen oft Verschwommenes (als Gegenstand) zugesellt ist, berechtigt nicht dazu, in Gefühlen die einzig mögliche Art verschwommener Vorstellungen zu statuieren. – Wir bewegen uns mit den nun vorgeführten Beispielen auf einem Gebiete, das manchem modernen Psychologen Ausgangspunkt seiner Betrachtungen geworden ist. Auf derartigen Beobachtungen baut Gomperz seine Pathempirie auf, Brunswig 〈…〉 statuiert in ihnen ein „latentes Wissen,“ d. h. ein Wissen von einem nicht gegenwärtigen Objekt ohne Vermittlung des Erinnerungsbildes (wir würden genauer sagen: durch Vermittlung eines sehr verschwommenen Erinnerungsbildes), aus dem er dann die Vorgänge beim Vergleichen erklärt 〈vgl. Brunswig 1910〉. Wir nehmen gegen Gomperz einen ergänzenden, gegen Brunswig einen näher präzisierenden Standpunkt ein, indem wir diese Fälle auf „narkotisierte (A + x)-Gebilde“ zurückführen, also auf durch Deckung verschiedenartiger Eindrücke erzeugte verschwommene Erinnerungsbilder, in deren Natur es liegt, bei hingelenkter Aufmerksamkeit und richtiger Anregung, in die speziellen Vorstellungen, aus denen sie hervorgegangen sind, zu zerfallen, die aber, wenn die richtige Anregung ausbleibt, auch den größten Anstrengungen der Aufmerksamkeit standhalten und somit das irreguläre Schauspiel eines in höchster Aufmerksamkeit stehenden Verschwommenen bieten, eines Verschwommenen, das sich nicht weiter in Scharfes auslöst und das dennoch wirkt. – Damit glauben wir auch einen gewissen Einblick in das Wesen des sogenannten „Unbewußten“ oder wenigstens in eine seiner Provinzen erlangt zu haben. Sehr schön beschreibt Bergson 〈…〉 einen unserem „narkotisierten (A + x)“ entsprechenden Zustand, wobei er allerdings, wie schon oben gerügt, diese seltsame Mimosen- | 162 | haftigkeit nicht dem „verschwommenen Erinnerungsbild“ wie wir, sondern den postulierten zahllosen Einzelerinnerungen zuerkennt. Er sagt: „Konzentrieren wir uns auf das, was in uns vorgeht, so fühlen wir, daß das vollständige Bild da ist, aber ganz flüchtig, wie ein Gespenst, das gerade in dem Augenblick entschwindet, wo unsere motorische Wirksamkeit seine Umrisse fixieren will. Im Verlaufe zu einem ganz andern Zweck unternommener Experimente (Smith 〈…〉 1895) erklärten die Versuchspersonen, gerade diese Art Eindruck zu haben. Man ließ während einiger Sekunden vor ihren Augen eine Reihe von Buchstaben erscheinen, welche man sie zu behalten bat. Aber um sie zu verhindern, die bemerkten Buchstaben dadurch zu betonen, daß sie die ihnen zukommenden Artikulationsbewegungen machten, verlangte man, daß sie fortwährend eine bestimmte Silbe beim Anschauen des Bildes wiederholten. Daraus ergab sich ein Seelenzustand, in dem sich die Personen

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vollständig im Besitz des Sehbildes fühlten, ohne jedoch auch nur etwas davon im gewollten Augenblick reproduzieren zu können; zu ihrem großen Erstaunen verschwand die Zeile. Nach Aussage einer derselben hätte die Erscheinung zur Basis eine Gesamtvorstellung, eine Art zusammengesetzter Vorstellung, die das Ganze enthielt, und deren Teile eine unaussprechlich gefühlte Einheit hatten.“ 〈Bergson 1908, S. 80f.〉Wer sieht nicht, daß diese von Bergson nach Smith zitierte Versuchsanordnung abzielte, in den Versuchspersonen durch Deckung entgegengesetzter Erlebnisse Verschwommenes hervorzubringen, und daß sich dieses Verschwommene bei hingelenkter Aufmerksamkeit genau so erstarrt und trügerisch, nah und fern zugleich benahm, wie wir es oben beschrieben haben. Andere Fälle des „narkotisierten (A + x): Ich sehe ein Gesicht, es erinnert mich an jemanden, ich weiß aber nicht, an wen. Das heißt: es bringt mir ein (A + x) ins Gedächtnis, hat aber nicht die Kraft, dieses Verschwommene (Unbewußte); schärfer zu machen. In solchen Fällen ist ein Gefühl oft das | 163 | einzige Scharfe einer solchen Vorstellung, oft ein ziemlich kompliziertes Gefühl und doch verschwommenes Material. – Eine solche verschwommene Vorstellung haben wir beispielsweise auch von chinesischen Schriftzeichen. Gewisse eigentümliche Gestaltsrelationen ruhen in uns und befähigen uns, eine chinesische Schrift als solche zu erkennen. Aufgefordert aber, ein chinesisches Wort niederzuschreiben, vermag dieses in uns ruhende Verschwommene nicht sich in eine feste Einzelgestalt umzugießen. Ebenso fällt uns an der deutschen Schrift eines Russen manchmal die eigentümliche Beeinflussung der Buchstaben durch die ihm gewohnten russischen Züge auf, ohne daß wir selbst russisch schreiben könnten. Dasselbe bemerken wir an fremdländischen Akzenten im Sprechen. Eine lustige Übertreibung dieser Situation, in der uns eine Sache vertraut und doch ganz fremd erscheint, ist der Komikertri〈c〉k, eine erfundene Reihe von sinnlosen Silben zu sprechen, die dem Charakter nach als „deutsch“ oder „französisch“ oder „spanisch“ zu erkennen sind, in denen also zwar kein einziges deutsches Wort und doch der an sich unfaßliche gemeinsame Charakter der deutschen Sprache hervortritt. Auch den Typus eines Volkes, einer Rasse, den Charakter oder den besondern Eindruck eines Menschen, einer Gegend, das Typische eines Komponisten („das Mozartische“, „Brahmsische“) haben wir auf diese Art in unserem Kopf (vgl. oben „Begriffsembryonen“) und hantieren mit derartigen unausgetragenen Begriffen in überraschender Sicherheit, ohne jedoch etwas Bestimmtes, begrifflich zu Packendes aussagen, ohne das in uns ruhende (A + x) zu klaren Zuckungen anregen zu können. Alle begrifflichen Formulierungen scheinen uns falsch und doch ruht der Gegenstand tief und sicher in uns. Schon Kant 〈…〉 machte auf solche verschwommene Gebilde aufmerksam: „So ist es mit dem Ideale der Vernunft bewandt, welches jederzeit auf

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bestimmten Begriffen beruhen und zur Regel und Urbilde, es sei der Befolgung | 164 | oder Beurt〈h〉eilung, dienen muß. Ganz anders verhält es sich mit den Geschöpfen der Einbildungskraft, darüber sich niemand erklären und einen verständlichen Begriff geben kann, gleichsam Monogrammen, die nur einzelne, obzwar nach keiner angeblichen Regel bestimmte Züge sind, welche mehr eine im Mittel verschiedener Erfahrungen gleichsam schwebende Zeichnung, als ein bestimmtes Bild ausmachen, dergleichen Maler und Physiognomen in ihrem Kopfe zu haben vorgeben〈,〉 und die ein nicht mitzut〈h〉eilendes Schattenbild ihrer Produ〈c〉te oder auch Beurt〈h〉eilungen sein sollen. Sie können, obzwar nur uneigentlich, Ideale der Sinnlichkeit genannt werden, weil sie das nicht erreichbare Muster möglicher empirischer Anschauungen sein sollen und gleichwohl keine der Erklärung und Prüfung fähige Regel abgeben.“ 〈Kant AA III, S. 384f.〉 So findet man wirklich, daß wir von zahllosen Dingen einen charakteristischen, nicht zu verwechselnden Eindruck in uns haben, der aber nur bei Berührung mit dem Einzelding selbst oder sonst unter ausgewählt günstiger Konstellation auflebt, im übrigen aber „narkotisiert“ in uns jeder Verdeutlichung sich entzieht. Das sind Fälle, in denen wir das (A + x) direkt erleben, weil seinem sonst so hurtigen Zerfall in Einzelbilder ein Riegel vorgeschoben ist. Und in solchen (A + x)-Gebilden, die sich nicht in Einzelbilder auflösen und die dennoch, bei aller Verschwommenheit, eine unzweideutige Beziehung zu einem Typus von Einzelbildern haben, geht, so dürfen wir wohl resumieren, auch das Denken allgemeiner Begriffe vor sich, so lange die Aufmerksamkeit (etwa als theoretisches Beobachtungsinteresse) nicht störend eingreift. | 165 |

Achtes Kapitel Die Gedanken Nunmehr gilt es noch, durch Zusammenfassung der einzelnen Resultate unserer Untersuchungen einen Einblick in jene Vorgänge zu erhalten, die als „Denken“ im technischen Sinne bezeichnet werden und welche gerade in neuester Zeit ein weites und fruchtbares Arbeitsgebiet der Psychologen, insbesondere der experimentell forschenden, bilden. Wie wir zeigen werden, entsprechen die positiven Resultate dieser Untersuchungen zum großen Teile unseren Beobachtungen, wenn wir auch in deren theoretischer Beurteilung einen anderen Weg eingeschlagen haben. Das Denken erweist sich nun als eine Weiterentwicklung der Anschauung, die dadurch charakterisiert ist, daß infolge bestimmter Veränderungen der Aufmerksamkeit immer größere Stücke des A ins x fallen; so daß schließlich im A nur noch gewisse Elemente übrig bleiben, die es begreiflich erscheinen lassen, daß man dieses Denken direkt als unanschaulich bezeichnen konnte. Richtig wäre dies aber nur dann, wenn man den Terminus „anschaulich“ in dem Sinne der ideal vollkommenen, allseitig und durchgängs mit höchster Aufmerksamkeit und stärkster Sinnesanspannung vollzogenen Anschauung gebrauchen könnte. Wir glauben gezeigt zu haben, daß dies schon wegen der immer verschiedenen lokalen Aufmerksamkeitsverteilung, welcher belangreiche Verschwommenheiten entsprechen müssen, unmöglich ist. Nimmt man aber darauf keine Rücksicht und nennt auch die Materie, die nicht gerade im Aufmerksamkeitsfokus steht, anschaulich, – dann hat man bereits unsern Begriff der Anschauung akzeptiert. Denn es gibt dann nur noch ein Mehr oder Weniger, ohne scharfe Scheidung, und es ist nicht abzusehen, an welchem Punkte dieser Verschwommenheitsbahn, die von dem nicht mehr ganz im Brennpunkte der Aufmerksamkeit Stehenden über das all- | 166 | mählich immer mehr Verschwimmende bis zum Uneigentlich-Bewußten führt, das Anschauliche schon unanschaulich genannt werden sollte. Wir gebrauchen also den Begriff „anschaulich“ für alles VorstellungsMaterial, das sich nur durch größere oder geringere Verschwommenheit von dem idealen Fall der Anschaulichkeit entfernt hat. Somit sprechen wir noch von Anschaulichem, wenn in einem verschwommenen Komplex bloß der Akt oder die Relation eigentlich bewußt, der Gegenstand bzw. die Fundamente aber uneigentlich bewußt sind. (6. Kap.) Im Denken spielen jene Elemente die wichtigste Rolle, welche wir als die letzten bezeichnet haben, die bei fortschreitender Entwicklung im A bleiben. Es

DOI 10.1515/978311053719-012

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waren dies die Relationen, Urteils- und Gefühlsakte. Vornehmlich letztere gewinnen große Bedeutung, worauf schon u. a. W. Wundt und H. Gomperz, wenn auch in anderer Auffassung hingewiesen haben. Zwei solche emotionelle Phänomen seien hier hervorgehoben: 1. Willensimpulse. Genau so wie die Liebe zu etwas, kann auch ein gewisses Streben nach etwas in Aufmerksamkeit stehen, ohne daß dieses Etwas selbst eigentlich bewußt würde. – Als Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen treten dann noch Innervations-, Spannungs-, Muskel- und andere Empfindungen auf. Diese können ziemlich lebhaft werden und den größten Teil der Aufmerksamkeit absorbieren. Trotzdem stehen sie zum uneigentlichbewußten Gegenstand nicht etwa im Verhältnis des A zum x, da sie nicht geeignet sind, in ein so nahes, einzigartiges Verhältnis zum x-Material zu treten, wie Akte oder Relationen, sondern müssen als äußerlich verknüpfte Begleiterscheinungen des bewußten Willensaktes aufgefaßt werden. 2. Ein angenehmes Gefühl des Beruhigtseins, das zum x-Material hinzutritt, welches uns anzeigt, daß wir nicht weiter die Anschauung zu entwickeln brauchen und sich etwa mit den Worten ausdrücken läßt: Da kann ich ruhig sein, – das weiß | 167 | ich schon, – da braucht es nichts weiter, u. a. Es ist dasselbe Phänomen, welches schon oft von verschiedenen Forschern festgestellt wurde, und bald als „Bekanntheitsgefühl“ bald als „Wissen um etwas“ bezeichnet wurde. (Vgl. auch „der Bekanntheitscharakter“, bei F. Schwiete 〈1910† …〉) Eine Versuchsperson Koffkas 〈…〉 beschreibt sehr treffend ein ähnliches Gefühl beim „Verständnis“: „Zuerst Verständnis, sehr stark gefühlsbetont: Behaglichkeit, Gemütlichkeit. Dadurch das Verständnis charakterisiert… Das Gefühl der Hauptrepräsentant des Verständnisses.“ 〈Koffka 1912, S. 386〉 Ein Gefühl scheint uns dieses Phänomen aus dem Grunde zu sein, weil dieser Zustand der Ruhe, der Sicherheit, des Erlöstseins, der Freiheit von Hemmungen und Schwierigkeiten seinem innersten Wesen nach eine Lust ist. Freilich erschöpft sich darin nicht das ganze Erlebnis. Der Zustand ist charakterisiert durch eine bestimmte Unangeregtheit der Aufmerksamkeit. Es ist eben in gewissen Fällen für die Aufmerksamkeit kein Grund zu weiterem Einschreiten vorhanden. Und diese Ruhelage des (A + x)-Gebildes ist von einem angenehmen Gefühl begleitet, welches das ganze Erlebnis einhüllt. Die weiteren Ausführungen dieses und des nächsten Kapitels werden diese Erscheinungen näher erklären. Wir hatten bereits Gelegenheit, auf die Tatsache hinzuweisen, daß wir – beiläufig ausgedrückt – nicht in den einzelnen Worten entsprechenden Begriffen denken, worauf die Sprache mit ihren Worteinheiten zu weisen scheint, sondern in größeren Komplexen; genauer: die Einheiten, zwischen denen eine Gedankenverbindung stattfindet, die Höhepunkte der Aufmerksamkeit und

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zugleich Ruhepunkte im Flusse des Denkens, sind nicht den einzelnen Worten entsprechende Begriffe im gewöhnlichen Sinne, sondern verschieden weit voneinander abstehende (A + x)-Gebilde. Man kann daraus keinerlei Argument gegen die Methode unserer Untersuchung schmieden, welche die ein- | 168 | zelnen Begriffe als Ausgangspunkte verwendet hat. Denn sobald die Aufmerksamkeit nur ein wenig lebhafter wird, – wenn etwa der größere Komplex nicht verstanden wird, oder sonst eine Hemmung, die das Wissensgefühl stört, eintritt – geraten sofort kleinere Komplexe in die Aufmerksamkeit und schließlich auch einzelne Begriffe. Der ganze Prozeß bleibt aber in allen Fällen derselbe, ob der in Aufmerksamkeit stehende Komplex größer oder kleiner ist, und wir waren deshalb wohl berechtigt, den einfacheren Fall, welcher der Untersuchung zugänglicher ist, zur Grundlage unserer Beobachtungen zu nehmen. – Die tatsächlichen Kulminationspunkte der Aufmerksamkeit sehen verschiedenartig aus. Bei einer Erzählung sind es die Hauptbilder, welche die wichtigsten, hervorstechendsten Momente der Begebenheit bilden. Von einem zum anderen springt scheinbar die Erzählung, resp. der Erzähler, Leser oder Zuhörer, große Strecken unbeleuchtet lassend. (Vgl. hierzu: 〈James 1909,〉 S. 158; substanzartige und transitive Bewußtseinszustände.) In einer logischen Darlegung werden die beleuchteten Spitzen durch die Hauptbeweispunkte gebildet, oft auch nur durch das letzte Ziel der Überlegung, die Schlußpointe. Je genauer eine Gedankenreihe bekannt ist, je öfter sie bereits durchgedacht worden ist, desto weiter voneinander liegen die Aufmerksamkeitspunkte. Alles andere versteckt sich gleichsam hinter ihnen. Wenn wir eine solche Reihe denken, steht von vornherein der Schlußgedanke als helles Ziel vor uns, alles andere wickelt sich in einem gewissen Dunkel ab, indem sich vielleicht kleinere, weniger in Aufmerksamkeit stehende Hilfspointen bilden. Darauf scheint es zurückzuführen zu sein, wenn oft behauptet wird, man habe bloß „eine Richtung auf etwas“ gegenwärtig. Als Verbindung dieser Aufmerksamkeitsgipfel dienen bei Überlegung u. ä. schwach- event, uneigentlich-bewußte Kausalitätsurteile – die, wenn irgendeine Stockung eintritt, sofort eigentlich bewußt werden (man muß darüber „nachdenken“), | 169 | bei Erzählungen u. ä. Zeit- und Bewegungsrelationen, oft auch Kausalitätsurteile, manchmal einfache Assoziationen; doch kann eine direkte Verbindung auch vollständig fehlen (z. B. bei schlechtem Zuhören.) Die Wichtigkeit, die wir hier beim Denken den Wirkungen von Aufmerksamkeitsänderungen zuschreiben, macht es klar, warum das Problem des Denkens erst in letzter Zeit seine richtige Fassung gewonnen hat, und wieso sich die Psychologie eine so lange Zeit bloß mit einzelnen aus dem Zusammenhange des Denkens gerissenen Stücken beschäftigen konnte, ohne das Verkehrte dieser

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Methode zu erkennen. Man folgte eben einfach der Sprache, und indem man die durch die Sprache uns präsentierten Redeteile aus dem Zusammenhänge nahm, bedachte man sie gleich dadurch mit einer derartigen – unnatürlichen Aufmerksamkeit, daß sie einerseits der Untersuchung viele Möglichkeiten eröffneten („Zuckungen des (A + x) s. 7. Kap.), andererseits in dieser Aufmerksamkeitsbeleuchtung wirklich wichtige und bleibende Grundelemente des Denkens zu sein schienen. Daß man ihnen aber erst durch diese Behandlung diese Gestalt und Wichtigkeit verliehen hatte, konnte man erst merken, als man sich von diesen Untersuchungen frei machte und das Denken, wie es sich im Leben wirklich abspielte, vorsichtig zu beobachten begann. Nun darf man aber nicht den umgekehrten Fehler machen, und den Aufmerksamkeitszustand, wie ihn das wirkliche Denken zeigt, als etwas Letztes, nicht weiter Veränderliches nehmen. Denn dadurch würde man die Aufmerksamkeit in einem durch uns, also künstlich, unnatürlich erstarrten Zustande zur Grundlage der Untersuchung machen und so ihrer Haupteigenschaft, die ihr Wesen ausmacht und ihr Wirken erklärt, nämlich ihrer ungeheuren Veränderlichkeit, Labilität, Empfindlichkeit und stets sprungbereiten Lebendigkeit berauben. Mag nun das jeweilige (A + x) größere oder kleinere Komplexe umfassen, immer bilden die angeführten letzten Ele- | 170 | mente das A, in dem das x in der bekannten eigentümlichen Weise enthalten ist. K. Bühler meint an einer Stelle seiner Arbeit „Über Gedanken“ 〈…〉, wo er von dem vielen spricht, was – nach dem Erfolg zu schließen – in dem „Gedanken“ irgendwie enthalten sein müßte: „〈…〉 Es muß wohl eine reale Spange geben, die die anscheinend zusammengewürfelten Momente dieser Gedanken eint und zusammenhält 〈…〉“ 〈Bühler 1907, S. 349〉. Wir antworten: Unser (A + x)-Verhältnis ist die gesuchte reale Spange. Dieses Verhältnis, das nichts anderes ist, als eine bestimmte, durch psychische Gesetze sich ergebende Aufmerksamkeitsverteilung, ist es, das die Fragen löst, wie das Uneigentlich-Bewußte zur Wirkung zu kommen vermag, dieses Verhältnis ist es, welches Wesen und Wirkungsweise des sogenannten „Unanschaulichen“ erklärt und seinen Zusammenhang, richtiger: seine Wesensgleichheit mit dem Anschaulichen aufdeckt. Das Wesentliche bei dieser Entwicklung des Anschaulichen ist, daß ursprünglich vollbewußte, ja sogar mühevolle Prozesse aus dem Bewußtsein entschwinden, ohne daß dies in einer Änderung ihrer Wirkungsweise irgendwie zum Ausdruck käme. Es sieht so aus, als ob der eigentliche Inhalt ganz verloren ginge (S. auch Versuche von 〈Ach 1905〉, S. 146ff.) Nun fragt es sich natürlich: Geht dieser anschauliche Inhalt ganz und für immer verloren, oder gerät er nur ins Uneigentlich-Bewußte? Um darauf zu antworten, brauchen wir uns nur zu erinnern, was das Uneigentlich-Bewußte bedeutet: Es heißt ja nichts anderes,

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als phänomenal selbständig zwar nicht gegeben sein, wohl aber innerhalb einer anderen – infolgedessen verschwommenen – Anschauung so vorhanden sein, daß es durch bloße Aufmerksamkeitssteigerung (oder Sinnesschärfung, was aber hier nicht in Betracht kommt) darin gefunden wird, eigentlich-bewußt wird. Können wir nun beobachten, daß durch aufmerksameres Erleben dieses Prozesses der anschauliche Inhalt tatsächlich darin gefunden | 171 | wird, so haben wir gezeigt, daß er eben nur uneigentlich bewußt war, nicht ganz verloren gegangen ist. In jenen Fällen, wo das Denken aus irgendeinem Grunde eine Stockung erleidet, können wir nun aber gerade dies leicht beobachten. Ganz automatisch beginnt bei einer solchen Hemmung die Aufmerksamkeit sich einzudrängen und gleich ist der anschauliche Inhalt zur Unterstützung da. Immer steht der Rekurs auf die Anschauung bereit, bietet Rückhalt und Hintergrund. Wenn wir etwas nicht verstehen, müssen wir trachten, es uns zu „vergegenwärtigen“; heißt das etwas anderes, als die uneigentlich bewußte Anschauung bewußt zu machen? Genau so ist es, wenn man einer Erzählung nicht zu folgen vermag, und sich gezwungen sieht, sich die „ganze Situation vorzustellen“, wenn man ein physikalisches oder geometrisches Problem sich „anschaulich vorstellen“ muß, um es zu lösen. So bietet unser ganzes fortgeschrittenes Denken zwar das Bild einer Mechanisierung eines geistigen Prozesses (vgl. 〈Bühler, 1907〉, S. 301), aber einer provisorischen Mechanisierung mit ständiger Unterstützung durch uneigentlich bewußte Anschauung. In den fortgeschrittensten Fällen täuscht sie uns das Bild einer Art von Reflexbewegung vor, so z. B. beim Addieren des geübten Rechners, wo die Lippenbewegung zweier Zahlen bereits die Lippenbewegung der Summenzahl auszulösen scheint. Doch, nur eine kleine Stockung, Übermüdung, ungewohnte Zahlen, nervöse Hindernisse – und die wahre Natur des Prozesses zeigt sich: das unregelmäßige Leben drängt sich in die Maschine, die offene Stelle füllt sich schnell mit Aufmerksamkeit, das nötige Quentchen voller Anschauung hebt den Fehler und bringt das ganze wieder in Schwung. Es braucht nicht viel Anschauung – handelt sich’s ja in unserem Beispiel um wissenschaftliche Begriffe – es wird nur der Mechanismus ein wenig, so weit es nötig ist, zur bewußten Durchführung hin zurückgeschraubt. – | 172 | So erfüllt das Uneigentlich-Bewußte seine Aufgabe immer nur als ein vom Eigentlich-Bewußten Abhängiges, mit erborgter Kraft; und solange es seine Wirkung tut, wird es nicht eigentlich bewußt. Es fragt sich nun: Wie ist es möglich, daß das Uneigentlich-Bewußte resp. Verschwommene so wirkt, wie das voll und scharf Bewußte, obwohl dieses ja um so vieles reicher ist und viel mehr Eigenschaften hat als jenes, und seine Wirkungen und Funktionen ja gerade von diesen Eigenschaften abhängen?

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Ein Umstand, auf den wir schon einmal aufmerksam gemacht haben, schränkt diese Schwierigkeit wesentlich ein. Nur eine falsche Vorstellung von der Gestalt des (A + x) ließe uns glauben, daß die einzelnen (A + x)-Gebilde wirklich in so hohem Maße einander gleich, also farblos und bedeutungslos seien, daß einem geringfügigen bewußten A-Kern eine große, gleich uneigentlich-bewußte und unterschiedslose x-Masse gegenüberstünde. So ist es aber nicht. Das Scharfe und Uneigentlich-Bewußte sind Grenzpunkte, zwischen denen eine Unzahl allmählicher Abstufungen möglich ist. Tatsächlich gibt es in den meisten (A + x)-Gebilden Material, welches diese Zwischenstufen aufweist. Und diese Schichten stehen wieder in jenem eigentümlichen Verhältnis zueinander, das wir im (A + x) als Typus einer jeden Verbindung ungleich bewußten Materials zu einer Einheit kennen gelernt haben. Es sei etwa im schärfsten Bewußtsein der Akt, z. B. ein Gefühl: das bezieht sich auf ein Material, in dem wieder eine vielumfassende, einheitliche Relation verhältnismäßig am schärfsten bewußt ist, und diese enthält vielleicht wieder eine andere Relation als betontestes Moment in dieser Materie usw. bis etwa zu den Qualitäten, oder zum Ort oder zur Umgebung herab, die in diesem Falle die tiefste Stufe der Bewußtheit einnähmen. Infolge dieser Übereinanderschachtelung der verschiedensten immer weniger und weniger bewußten A-Phänomene, in welche die Aufmerksamkeit je nach Bedarf, wechselnd hinein- | 173 | leuchtet, gewinnt jedes (A + x)-Gebilde seinen eigenartigen Charakter, seine bestimmte von den anderen (A + x)Gebilden wohl unterschiedene Physiognomie. So ist es erklärlich, daß das (A + x) als Stellvertreter von psychischen Gebilden funktionieren kann, die der idealen Anschauung um so viel näher stehen und um vieles reicher sind, als jenes. Und solange können die (A + x)-Gebilde ihre Aufgabe erfüllen, als ihre Eigenschaften zur Herstellung des jeweiligen Denkzusammenhanges hinreichen. In dieser Form ist natürlich das (A + x) am schwersten zu beobachten; erst wenn die Aufmerksamkeitsentwicklung einmal notwendig wird, aus irgendeinem Grunde aber gehemmt ist, tritt ein Fall leichterer Beobachtbarkeit ein, das bereits (7. Kap.) erwähnte „narkotisierte (A + x).“ So und so oft können wir uns an etwas nicht erinnern, obwohl wir dieses etwas doch genau zu wissen glauben; wir k〈ö〉nnen es einfach nicht bewußt machen; nur an seiner negativen Wirksamkeit erkennen wir es leicht, wenn es mit rätselhafter Bestimmtheit alles Fremde, in dem wir es zu finden suchen, ausschließt. – Trotz dieser schweren Beschreibbarkeit ist das (A + x) doch die regelmäßige Gestalt unserer geistigen Einheiten, deren wir eine ungeheuere Anzahl besitzen. In der letzten Entwicklung der Psychologie begegenen wir auch vielen Beschreibungen, die auf diese Gebilde hinweisen, wenn auch deren Deutung

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mangelhaft ist. Am häufigsten werden diese Gebilde für Gefühle gehalten; das ist erklärlich. Einerseits finden wir ja oft vorzugsweise Gefühle im A, anderseits erkennen wir als die hervorstehendsten Eigenschaften dieser Phänomene eine gewisse Verschwommenheit, Unausgesprochenheit, Unentschiedenheit, Labilität und Möglichkeit nach verschiedenen Richtungen zu fließen, lauter Merkmale, die lebhaft an Eigenschaften der Gefühle erinnern. Immerhin muß aber zugestanden werden, daß diese (A + x)-Gebilde trotz der angedeuteten Mannigfaltigkeit doch vielfach | 174 | unter einander gleich und sicherlich merkmalsärmer sind, als die volle Anschauung. Wir haben aber schon betont, daß dies eben in den meisten Fällen zur Herstellung des Zusammenhanges hinreicht. Ereignet sich aber der Fall, daß es nicht hinreicht –und das ist der Punkt von dem aus der ganze Prozeß verstanden werden kann– so ist es selbstverstä〈n〉dlich, daß hierdurch die Aufmerksamkeit erregt wird; und ist einmal die Aufmerksamkeit an einer bestimmten Stelle erregt worden, so ist es wieder selbstverständlich, daß sie das ganze Gebilde zu schärferer Bewußtheit, vollerer Anschaulichkeit, zur Erweiterung des A gegenüber dem x anregt. Die Leichtigkeit, mit der das geschieht, die Sprungbereitschaft der Aufmerksamkeit ist kaum überschätzbar. Die Bahn auf diesen Schienen von der größeren zur geringeren Verschwommenheit hin ist so ausgefahren und glatt, die Verschiebbarkeit so leicht, das Ganze in einem Zustand so fein empfindlicher Labilität, daß es nur einer ganz minimalen Reizung der Aufmerksamkeit bedarf, um das Uneigentlich-Bewußte gerade nur in dem Maße und in der Richtung, als es das Verständnis des logischen Zusammenhangs benötigt, bewußt zu machen. Diese Labilität ist aber wieder mit einem eigenartigen Gefühl verbunden, mit einem Gefühl der Unstetheit, – oder, wenn es erlaubt ist zu sagen, – Bereitschaft, das – im Verein mit dem etwa vorhandenen Ruhegefühl bei nicht erregter Aufmerksamkeit – dem ganzen Erlebnis einen eigenartigen Charakter verleiht und seiner Verwechslung mit einem Gefühl noch Vorschub leistet. In dieser geschilderten Verwandlungsfähigkeit des Uneigentlich-Bewußten ins Eigentlich-Bewußte liegt die Erklärung für seine logische Kraft. — Nun seien mit unseren Ansichten noch kurz einige Ergebnisse der neueren Forschung verglichen. Mit der Frage des Denkens hat sich vornehmlich eine Reihe von Forschern beschäftigt, die eine experimentelle Beobachtung eingeschlagen | 175 | haben, vor allem Psychologen aus der Schule O. Külpes, besonders K. Bühler, dann auch A. Messer, N. Ach, in jüngster Zeit R. Müller-Freienfels, K. Koffka u. a. Ihre Resultate stimmen darin mit denen anderer nicht experimentell vorgehender Forscher, so insbesondere E. Husserl, der das Gebiet von einer ganz anderen Seite her in Angriff nimmt, überein, daß sie das „Denken“ als einen unanschaulichen Prozeß erklären, daß sie neben der anschaulichen geis-

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tigen Tätigkeit eine zweite, von dieser ganz verschiedene und unabhängige, unanschauliche konstatieren. Was die Frage der Eignung der experimentellen Methode in diesem Gebiete betrifft, gegen welche W. Wundt Stellung genommen hat 〈vgl. Wundt 1907†〉, so möchten wir hier der experimentellen Methode, wie sie von den genannten Forschern gehandhabt wurde, aus dem Grunde einen großen Wert zuerkennen, weil sie in reichem Maße Versuchspersonen von hoher psychologischer Bildung Gelegenheit zur Selbstbeobachtung in einer äußerst wünschenswerten Richtung gibt, und so eine vortreffliche Ergänzung der Methode der Selbstbeobachtung bildet. Wenn wir nun der Selbstbeobachtung trotz aller bekannten Gründe, die gegen sie sprechen, aus jenen Gründen, die hier gegen die experimentelle Methode angeführt werden, den Vorrang zugestehen, so müssen wir dennoch die richtige Initiative in diesem Gebiete als ein Verdienst der experimentellen Psychologen anerkennen. Vor allem sei auf einen Grundunterschied hingewiesen, der zwischen uns und diesen Forschern besteht. Es ist die verschiedene Auffassung der Deskriptive. Man kann nämlich in zweifacher Weise von „Beschreiben“ reden. Entweder besteht es darin, daß man ein Erlebnis vollkommen mit Aufmerksamkeit durchleuchtet und, sich dieses Vorgehens und der damit verbundenen Veränderungen voll bewußt, feststellt, was auf diese Weise beobachtet wird. Oder man läßt das Erlebnis in | 176 | der Aufmerksamkeitslage, in der es sich zur Zeit des Erlebens befand, künstlich erstarren, man fängt es in dieser Form und versucht es in dieser Erstarrung zu beobachten. Während wir uns nun bemühen, die erste Art des Beschreibens zu pflegen, glauben wir die zweite Art bei den zit. Psychologen zu finden. Kein Wunder, daß so nicht viel positive Resultate erzielt werden. Besonders interessant ist es aber, daß gerade das Wenige an positiver Beschreibung, das so bezüglich des „Denkens“ zutage gefördert wurde, dem Umstande zu verdanken ist, daß an diesen Stellen die zweite Methode von der ersten durchbrochen wurde. Es ist eben vor allem gegen diese zweite Methode einzuwenden, daß es gar nicht möglich ist, sie rein anzuwenden, daß eine jede Beobachtung und sei sie noch so gefesselt, schließlich doch nichts anderes ist, als eine Aufmerksamkeitsdurchleuchtung, nur nicht eingestanden und auf halbem Wege aufgehalten, und daß daher bei keiner Beschreibung eine gewisse Änderung des Erlebnisses in der von uns schon oft genug beschriebenen Richtung vermieden werden kann. So geschieht es dann, daß z. B. bei der experimentellen Methode mit Reizworten entweder nur ein oberstes A des (A + x) oder eine willkürliche, vielleicht die erste Zuckung des (A + x) künstlich stabilisiert, beobachtet und beschrieben wird.

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Es wird also diese zweite Methode nicht konsequent durchgeführt. Wir finden bei Bühler 〈…〉 den Rat, die Versuchspersonen verschiedene Male zum Beschreiben aufzufordern, wenn es das erste Mal nicht geht 〈vgl. Bühler 1907, S. 357〉. Ist das nicht eine klare Ermahnung, aufmerksam zu sein? Tatsächlich wären auch die Resultate der streng durchgeführten Methode –soweit dies möglich wäre – beinahe Null. Denn in Wahrheit merken wir in der Aufmerksamkeitslage, in der das mechanisierte Denken gewöhnlich vor sich geht, weite Strecken überhaupt nicht auf, und können nichts beschreiben, was einer anschaulichen oder unanschaulichen Vor- | 177 | stellung ähnlich wäre. Wollen wir aber nur ein bißchen das Wesen dieser Vorgänge fassen, müssen wir schon unsere Aufmerksamkeit in höherem Maße in Anspruch nehmen, als sie tatsächlich beim momentanen Erlebnis funktioniert hat. Schon die tatsächliche Unmöglichkeit dieser Methode gibt also unserer den Vorzug. Überdies entspricht letztere auch eher dem Wesen der wahren Beschreibung; sie stellt die Teile eines Ganzen fest. Und darin wird ja auch der Sinn dieser Tätigkeit beim populären Gebrauch dieses Wortes gefunden. Schließlich hat sie auch den größten Erklärungswert. Denn durch diese Art von Beschreibung finden wir jene Teile des Erlebnisses, welche dessen logischen Effekt begründen. Und die Frage nach diesen war es ja, welche unsere Untersuchung vornehmlich veranlaßt hat. Dieses methodische Bedenken, das sich aus der angeführten Unterscheidung ergibt, deckt sich teilweise mit dem Einwand, den Wundt a. a. O. Bühler macht, indem er ihm vorwirft, daß er Bewußtsein und Aufmerksamkeit als identisch behandle. In unserer Terminologie würde das heißen: nicht alles, was bewußt ist, ist auch eigentlich bewußt. – Auch die Methode, die Wundt angewendet wissen will, eine Kombination der Selbstbeobachtung mit der Berücksichtigung der Sprache, halten wir für ersprießlich. Meritorisch räumt Wundt den Gefühlen eine führende Rolle ein; dazu haben wir uns schon geäußert. Seinen Standpunkt faßt Wundt 〈…〉 in folgenden Sätzen zusammen, zu denen unsere Ansichten in mancher Beziehung beinahe als erklärende Ausführungen gelten könnten: „Unter dem Zusammenwirken unserer Eindrücke und latenten Dispositionen tritt die logische Gesamtvorstellung als Ganzes in das Bewußtsein ein. Als solches besteht sie aus dem gleichen Zusammenhang einzelner Vorstellungen, in die sie nachher das diskursive Denken in sukzessiver Apperzeption des Einzelnen gliedert. Aber sie ist mit allen diesen Teilen dunkel bewußt, und nur, weil sie das ist, kann sie überhaupt als ein simultanes | 178 | Ganze gegeben sein, das durch das ihm eigene Totalgefühl, nicht selten aber auch momentan, wenn der Prozeß der Gedankengliederung gehemmt wird, in einzelnen sinnlichen Vorstellungselementen in den Blickpunkt des Bewußtseins eintritt. Die

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eigentliche Entwicklung, oder, wie wir sie hier wohl bezeichnend nennen könnten, die Auswicklung des Gedankens besteht nun in dem sukzessiven Erfassen der einzelnen Bestandteile der im Hintergrund des Bewußtsein stehenden Gesamtvorstellung …“ 〈Wundt 1907, S. 356†〉 Wenn wir uns nun im Einzelnen den Resultaten der genannten Forscher zuwenden, so können wir vor allem jene Beschreibungen vernachlässigen, die nichts anderes sind als der sprachliche Ausdruck logischer Wirkungen. Als solche nicht beantwortete, sondern bloß zurückgeworfene Fragen müssen wir es betrachten, wenn von Möglichkeit, Anregung, Bereitschaft, Tendenz, Kurswert die Rede ist. Das sind nur in den seltensten Fällen Beschreibungen, in der Regel nur nach vorn projizierte spätere Erfahrungen. So bleiben schließlich jene Gebilde, welche uns als „Gedanken“, „Bewußtheiten“, „Einstellungen“, „Aktcharaktere“, „Bedeutungsintentionen“ etc. beschrieben werden, und in welchen wir oft genug Phänomene wiederfinden, die wir hier erörtert haben. Wenn auf Beschreibungen, die wir als richtig anerkennen, theoretische Ansichten aufgebaut werden, die mit den unsrigen nicht übereinstimmen, so ist uns doch die Gleichheit der Ergebnisse, welche die Deskriptive in einem großen Kreise verschieden arbeitender Psychologen zutage fördert, viel zu erfreulich und wertvoll, als daß wir hier auf die Polemik gegen eine verschiedene theoretische Ansicht das Hauptgewicht legen könnten. Bei weiteren Fortschritten der deskriptiven Analyse wird sich die richtige Theorie von selbst ergeben. Wir begnügen uns daher, hier nur von einem theoretischen Grundunterschied zu handeln, der uns von diesen Forschern trennt. Es ist dies die Ansicht, daß es ein vollkommen unan- | 179 | anschauliches Vorstellen gebe, wie sie von E. Husserl 〈Husserl 1901〉, A. Messer 〈Messer 1906〉 und in letzter Zeit von K. Koffka 〈Koffka 1912〉 vertreten wird. Was letzteren betrifft, so können wir uns nicht versagen, auf die interessanten Ergebnisse seiner Versuche hinzuweisen, die in vielen Beziehungen hier niedergelegte Ansichten bestätigen, ebenso wie auf seine feinsinnigen Analysen gewisser Denkprozesse, auf die wir jedoch hier, wo es sich uns hauptsächlich um das Denkmaterial handelt, nicht näher eingehen können. Dies, sowie unsere vorhin erwähnte Absicht, den polemischen Teil möglichst einzuschränken, ist auch der Grund, warum wir uns an dieser Stelle mit dem grundlegenden Buche Husserls nur in einem, freilich fundamentalen, Punkte und auch da nur kurz auseinandersetzen können. Diese Forscher erkennen also neben dem anschaulichen Vorstellen ein unanschauliches an, das von ersterem ganz unabhängig ist: „〈…〉 es geht nicht an, die Gedanken als aus Vorstellungen entstanden aufzufassen, etwa so, daß durch Übung die Vorstellungen in Gedanken übergehen, daß die Gedanken nur eine rudimentäre Form der Vorstellungen seien“ (Koffka 〈1912〉, S. 365). Durch

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diese „Gedanken“ vermag jeder Gegenstand genau so, resp. weit sicherer determiniert zu werden, als durch die Anschauung. „Der Inhalt einer Vorstellung ist nicht imstande, den Gegenstand darzustellen. Damit ein Gegenstand in der Vorstellung gegeben ist, muß vielmehr etwas anderes nicht anschaulicher Art dazu kommen.“16 〈…〉 „Wir nehmen 〈…〉 an, daß schon jede Vorstellung ihren unanschaulichen Gehalt hat und daß dieser allein auftreten kann〈〉 ohne das anschauliche Fundament, mit dem er ursprünglich vereint war.“ (Koffka 〈1912〉, S. 365). „Akte 〈…〉 sind sozusagen ein Abzielen, ein Hindeuten auf ihren Gegenstand, und diese unsere abzielende Meinung kann schlechterdings auf alles und jedes gehen, gleichgültig, ob es uns in | 180 | anschaulicher Weise gegeben sein kann oder nicht.“ (Messer 〈1908〉, S. 93) Husserl macht die fundamentale Unterscheidung zwischen anschauungsleeren und erfüllten Bedeutungsintentionen; im Hinblick darauf kennt er bedeutungsverleihende Akte oder Bedeutungsintentionen und bedeutungserfüllende Akte. (Husserl 〈1901〉, S. 38) Erstere sind frei von jeder Anschauung, durch sie haben wir einen Gegenstand im Sinne, „meinen“ ihn, ohne Hilfe irgendeines Anschauungsmateriales. Das Dasein der Phantasiebilder macht nicht die Bedeutsamkeit des Aktes oder gar seine Bedeutung aus und ihr Ausfall hemmt sie nicht (Husserl 〈1901〉, S. 62). Diese Bedeutungsintention ist nicht ein unterschiedsloser, sich erst durch den Zusammenhang mit den erfüllenden Anschauungen, also äußerlich, differenzierender Charakter. Vielmehr gehören zu verschiedenen Bedeutungen auch inhaltlich verschieden charakterisierte Bedeutungsintentionen. (Husserl 〈1901〉, S. 99) Aus diesen Angaben geht zur Genüge hervor, daß diesen Bedeutungsintentionen zumindest dieselbe Mannigfaltigkeit zugeschrieben werden müßte, wie den Anschauungen. Denn sonst könnte man nicht jeden Gegenstand – ganz ohne Anschauung – vollkommen determiniert und sicher „meinen“. Die begreifliche Neugier nach der Beschreibung dieser ganz neuen Vorstellungsart, die denselben unendlichen Nuancenreichtum, dieselbe ungeheure Mannigfaltigkeit wie die Anschauung haben müßte, wird von den Vertretern dieser Ansicht gar nicht gestillt. Denn der Grundzug dieser Beschreibung ist immer der: die Intention ist das, was das Erlebnis eines sinnvollen Wortes vor dem eines sinnlosen auszeichnet. Blickt man näher, so findet man: Erstens muß man sich hier wieder sehr hüten, die Mitteilung des Effektes, der logischen Funktion eines Erlebnis-

|| 16 Brod und Weltsch haben hier sowohl die Auszeichnung des Originals getilgt als auch die Zeichensetzung verändert: „Der Inhalt einer Vorstellung ist nicht imstande, den Gegenstand darzustellen. Damit ein Gegenstand in der Vorstellung gegeben ist, muß vielmehr etwas andres, nicht anschaulicher Art, dazukommen.“ 〈Koffka 1912, S. 258〉

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ses für eine Beschreibung zu nehmen. Freilich findet dieser Effekt auch deskriptiv seinen Ausdruck. Wir haben ihn selbst in jenem Gefühl bei ruhendem (A + x) festgestellt. Ob | 181 |man nun mit uns dieser Ansicht ist, oder dieses Erlebnis als Charakter der Bekanntheit (Riehl) oder als Bekanntheitsqualität (Höffding) bezeichnet, jedenfalls – und das ist der zweite Punkt – bleibt sich dieses Erlebnis immer gleich und ist wohl eine Unendlichkeit von jener Mannigfaltgkeit und Differenziertheit entfernt, die es nach der Funktion, die ihm zukommen soll, haben müßte. Husserl wendet sich (〈Husserl 1901,〉 S. 74) gegen die Rede von der Bekanntheitsqualität in diesem Sinn, indem er darauf hinweist, daß dieses Phänomen ja auch bei ganz verständnislos erlebten, aber gut eingelernten Worten eintritt. Da aber in diesem Falle nur der Wortklang bekannt ist, keineswegs aber jener von uns beschriebene Ruhezustand der Aufmerksamkeit eintritt, von dem zu reden nur dann einen Sinn hat, wann die durch das Wort ausgedrückte Vorstellung infolge ihrer Bekanntheit und Geläufigkeit die Aufmerksamkeit nicht anregt, scheint uns dieses Argument nicht stringent zu sein. So genügt der Hinweis auf dieses „Verständnis“ keineswegs als Beschreibung, ebensowenig wie die Ausdrücke „Gerichtet sein, Abzielen auf etwas.“ Denn soll jedes Abzielen auf jedes „Etwas“ determiniert sein, so muß, bei mangelnder Unterscheidung des Abzielens dieses „Etwas“ selbst determiniert sein. Und das scheint uns eben nur die Anschauung zu vermögen. Ist es aber etwas anderes, so fehlt hierfür vorläufig jede Beschreibung. Wir wissen, daß es genug Erlebnisse gibt, die sich in einer solchen Aufmerksamkeitslage befinden, daß sie scheinbar den Eindruck des Unanschaulichen oder Unbeschreibbaren machen. Versucht man es aber, sie doch zu beschreiben, d. h. läßt man Aufmerksamkeit einfließen, so gerät man unweigerlich auf Anschauung. Noch nie hat man aber jene Bedeutungsintention auch bei angestrengtester Aufmerksamkeit näher zu beschreiben vermocht, als durch – Anschauung; keineswegs hat sich, wie es auf diesem Wege doch hätte geschehen müssen, eine neue Art reich nuancierter Vorstellungserlebnisse finden | 182 | lassen. Daß man zur Klärung der Bedeutungen auf Anschauung zurückgehen müsse, gibt auch Husserl (〈1901〉, S. 70) zu, ohne aber daraus die uns notwendig scheinenden Folgerungen zu ziehen. Vielmehr tritt bei Husserl, wenn dies überhaupt der Fall ist, die Anschauung zur Bedeutung als Stütze, als etwas Äußeres, Fremdes hinzu; die Intentionen werden nachträglich durch Phantasiebilder erfüllt. Sehen wir hier davon ab, daß uns die Intention ohne eine gewisse Anschauung überhaupt nicht möglich scheint, so könnte man immerhin diese von Husserl beschriebene Erfüllung durch Anschauung mit jenem Phänomen vergleichen, daß nach unserer Einsicht eintritt, wenn ein (A + x), in dessen A sich vielleicht nur ein Akt oder eine Relation befindet, in

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stärkere Aufmerksamkeit gerät. Es scheint nicht unrichtig, wenn Husserl 〈…〉 sagt: „In ihnen (den Erfüllungsreihen) fortschreitend〈,〉 lernen wir den Gegenstand immer besser kennen, mittelst eines darstellenden Inhalts, der dem Gegenstand immer ähnlicher ist und ihn immer lebendiger und voller erfaßt.“ 〈Husserl 1901, S. 569〉 Das Wesentliche ist aber, daß diese nachträgliche Anschauung unserer Meinung nach nicht als etwas Fremdes zur Intention – oder zum (A + x) – hinzukommt, sondern als etwas organisch mittelst Aufmerksamkeitssteigerung aus ihm Hervorwachsendes, das, wie uns das Erleben zeigt, als in ihm bereits irgendwie Enthaltenes in höheres Bewußtsein tritt. – Diese Einsicht, die den ganzen Vorgang in die richtige Beleuchtung rückt, fehlt uns bei Husserl. Die genaue Beobachtung eben dieses Hervortretens aus der Gesamtanschauung, aus dem (A + x), zeigt uns die Einheitlichkeit des ganzen Erlebnismaterials, und gibt uns eine plausible Erklärung für die Veränderungen dieses Materials unter dem Einfluß der Aufmerksamkeit, sodaß es unnötig erscheint, eine ganz neue Art unbeschreibbarer Erlebnisse einzuführen. Wenn wir in dieser Hinsicht Husserl opponieren mußten (vgl. hierzu die Kritik der Intentionen bei H. Bergmann 〈1908〉 | 183 | 〈…〉, S. 52ff.) so wollen wir es nicht unterlassen, zu betonen, daß wir die Fülle richtiger Beobachtungen und befruchtender Gedanken, die er uns in seinen „Logischen Untersuchungen“ bietet, keineswegs unterschätzen. Immerhin glauben wir, daß sich all das Beobachtungsmaterial, das ihn zur Statuierung der Intentionen in seinem Sinne veranlaßt hat, sehr wohl durch unsere Relationen, insbesondere aber Urteilsakte mit verschwommenem Fundament resp. Materie, erklären läßt. Wenn sich aber auch der Urteilsakt an sich der Unanschaulichkeit der Husserl’schen Intentionen, wenigstens was den äußeren Sinn anbelangt, nähert, so kann er eben nach unserer Ansicht allein, ohne Materie, ohne Anschauung, wenn auch die verschwommenste, nicht bestehen, da er nur ein abstrakter Teil eines Gesamterlebnisses, und als selbständige Realität eine sinnlose Fiktion ist. Der Lehre, daß die Anschauung das bedeutungverleihende Moment ist, bringt Husserl (〈1901〉, S. 62) unverhohlen seine Verachtung entgegen. Wir glauben nicht, daß er das auch dann täte, wenn der Begriff der Anschauung so gefaßt würde, wie wir es hier versucht haben. Denn das geht schon daraus hervor, daß die Argumente, die er gegen eine solche Lehre vorbringt, nur dann zutreffen können, wenn man auf dem von uns bereits hinlänglich charakterisierten Standpunkt steht, daß nur scharfe Anschauung – Anschauung ist. Gegen unseren Anschauungsbegriff vermögen sie aber gar nichts. Er denkt bei der Anschauung an nichts anderes, als an die „wechselnden Phantasiebilder“, und hat da offenbar nur das „Zucken des (A + x)“ vor Augen. Daß aber diese einzelnen wechselnden Zuckungen nicht das Sinnverleihende sind, bestätigen wir

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ihm gerne, ebenso, daß diese Phantasiebilder, d. h. die Zuckungen, erst nachträglich, unter dem Einfluß der suchenden Aufmerksamkeit, also in diesem Sinne unterstützend, zur Bedeutung hinzutreten. Dagegen können wir ihm nicht zugeben, daß das Verstehen eines Gedankens dem Zustandekommen dieser Phantasie- | 184 | bilder förderlich sei. Gerade dort, wo das Verstehen anstandslos vonstatten geht, wird es zu solchen Zuckungen nicht kommen und das (A + x) nur in geringer Aufmerksamkeit stehen. Erst bei einer Störung oder Schwierigkeit im Verstehen wird das Anschauliche lebendig werden. Freilich dürfen wir nicht vergessen, daß es sich gerade bei wissenschaftlicher Lektüre, an die Husserl da denkt, um wissenschaftliche Begriffe handelt, und daß hier die an das (A + x) rechtzeitig angeschlossenen Urteile und urteilsmäßig verknüpften Merkmale – wie wir im nächsten Kapitel sehen werden – das Verständnis herbeiführen, so daß eine weit in die volle Anschauung hinabreichende Veränderung des (A + x) nicht Vorkommen dürfte. – Konnten wir schon bei Husserl mit uns übereinstimmende Beobachtungen finden, so ist das in den Untersuchungen der experimentellen Psychologen trotz verschiedener Grundanschauung noch mehr der Fall. Die Ähnlichkeit, die unser A mit der „Selektion“ bei Koffka hat, ist bei näherer Betrachtung nicht zu verkennen, und vieles, was Koffka als bedeutungsverleihenden Akt beschreibt, das Spezifische der Wahrnehmung gegenüber der Phantasie, der Charakter der Leibhaftigkeit, von dem er in Anlehnung an Taylor spricht, die Gegenständlichkeit, Dinglichkeit usw. ist wohl vom Urteil, als Dauerakt, wie wir es auffassen, gar nicht weit entfernt. N. Ach definiert seine „Bewußtheiten“ als Gegenwärtigsein eines unanschaulich gegebenen Wissens. Er spricht in seiner Beschreibung 1. von einem „Wissen.“ Hier ist wirklich ein positiver psychischer Inhalt gegeben und er fällt etwa mit unserem Ruhegefühl im A zusammen. – Soll aber damit vielleicht noch die Tatsache ausgedrückt werden, daß wir damit logisch richtig operieren, so ist das deskriptiv ganz ohne Belang. – Er spricht 2. noch von einer Bereitschaft. Darin erkennen wir ähnliches wie unsere Willensimpulse im A mit begleitenden Innervationsempfindungen, oder das Gefühl der Labilität unserer Aufmerksamkeit. (S. dieses Kapitel.) | 185 | Die „Einstellungen“ von R. Müller-Freienfels 〈Müller-Freienfels 1912〉 sind, wenn man von ihren Eigenschaften, den Sinn der Rede zu vermitteln, nicht passende Deutungen auszuschließen u. a. als nicht deskriptiven Merkmalen absieht, im Wesen unserem im A befindlichen Willensimpuls gleichzustellen. K. Bühler 〈…〉 findet die eigentlichen Träger des Denkinhaltes in den „Gedanken“, welche er als letzte Erlebniseinheiten definiert 〈Bühler 1907〉. Da wir

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darin keine Beschreibung finden, wenden wir uns zu seiner Einteilung der Gedanken, die am meisten Deskriptives gibt. Er unterscheidet erstens das Regelbewußtsein und findet das dort, wo der Weg zur Lösung einer Aufgabe über das Bewußtsein einer allgemeinen Regel geht. Es liegt auf der Hand, daß dieses Regelbewußtsein, welches erst recht eine nähere Beschreibung verlangt, nichts anderes ist als ein Urteil, ein apodiktisches resp. kausales Urteil, der logischen Form nach ein Schluß. Die Versuchspersonen beleuchten mit ihrer Aufmerksamkeit nur die Spitzen des Prozesses, und ein großer Teil der Urteilsmaterie bleibt im Dunkeln. Das Verständnis erfordert keine weitere Belichtung. Wir finden bei Bühler Beschreibungen, die recht gut für unsern Urteilsakt mit verschwommener Materie passen: „Das Abnehmen mit dem Quadrate der Entfernung z. B. kann man klar und sicher denken ohne Bestimmtheit dessen, wozwischen die Entfernung liegt und was abnimmt; es ist wirklich die Funktion selbst, was man denkt und das man klar im Bewußtsein hat, während das, woran sie stattfindet, bis auf ein unbestimmtes Etwas seines Inhalts beraubt sein kann, 〈…〉“ (〈Bühler 1907,〉 S. 340). Als zweite Type führt Bühler das sogenannte „Beziehungsbewußtsein“ ein; wenn wir bedenken, daß er hier Bewußtseinelemente meint, die von den Versuchspersonen als: Gegensatz, Konsequenz, entweder-oder, Koordination u. a. gekenn- | 186 | zeichnet werden, so erkennen wir unschwer darin Relationen mit verschwommenen Fundamenten. Als dritte Gedankentype bezeichnet er die „Intentionen“ und meint, in diesen Fällen wäre es so, als ob das „was“ selbstverständlich oder irgendwie schon festgesetzt wäre, und der Gedanke nur in einer Beziehung auf dieses schon Gegebene bestände. Versteht man das so, daß dieses „was“ nicht etwa überhaupt fehlt, so sind hier wieder (A + x)-Gebilde mit Urteilsakten im A beschrieben. Hierin erblickt er ja auch die schon erwähnte reale Spange. Wenn auch die Bühlersche Einteilung von Intention und „Wasbestimmtheit“ mit unserem A und x nicht ganz übereinstimmt, so trifft sie doch praktisch in den meisten Fällen mit ihr zusammen. So erweisen sich die Ergebnisse der experimentellen Forschungen über das Denken nicht nur als mit unserer theoretischen Ansicht verträglich, sondern auch in vielen Beziehungen als Bestätigungen derselben, die in ihr den erwünschten Zusammenhang erhalten. Die Gestalt unserer Denkgebilde hat sich uns als ein ganz normales, auf Grund bekannter Gesetze entstandenes, in seinen einzelnen Bildungsetappen wohl verfolgbares Entwicklungsstadium der vertrauten, allem zu grundeliegenden Anschauungsmaterie ergeben, und es ist daher ganz unnötig, hier zur Erklärung ein neues rätselhaftes und unbekanntes, unanschauliches und unbeschreibbares Denkelement einzuführen, so daß es

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wieder einmal beim alten Satz bleiben kann: Nihil est in intellectu, quod non est in sensu. (Sensus natürlich im Leibnizschen Sinne als äußere und innere Anschauung gefaßt). Haben wir aber so eine Brücke zwischen der vollen Anschauung und dem mechanisierten, scheinbar unanschaulichen Denken gefunden, so ist uns dieses nichts Unerklärbares mehr. Und das scheint uns ein wesentlicher Vorteil unserer Theorie. Nie geht uns die Anschauung verloren, immer bleibt sie Material des Denkens und | 187 | wechselt ihre Gestalt nur unter dem Einfluß der Aufmerksamkeit in wohl erklärbarer Weise. Da wir das Wesen dieser Veränderungen des Anschaulichen im bloßen Wechsel der Aufmerksamkeit erkannt haben, ist es uns auch erlaubt, die Aufmerksamkeit in diese Gebilde künstlich auf dem Wege der Beobachtung wieder einfließen zu lassen, und so zu erkennen, was uns, als minder bewußt, verschleiert war; so ist der Forschung ein weites Feld geöffnet, in vorsichtiger, scharf-aufmerkender Beobachtung die feinsten Verzweigungen und Verkettungen dieser Teile seelischen Geschehens zu analysieren. So können wir vielleicht auch hoffen, Anschluß an die Physiologie zu gewinnen und die parallelen psychischen Erscheinungen zu finden, die den jeweiligen physiologischen entsprechen. Dann dürfte auch der Anlaß entfallen, physiologische Tatsachen zur Erklärung psychologischer Erscheinungen herbeizurufen, solange noch die Hoffnung besteht, die entsprechenden erklärenden psychischen Phänomene zu finden. | 188 |

Neuntes Kapitel Der wissenschaftliche Begriff Die bis hierher erörterten Fragen nach der Art und Weise des Begriffserlebnisses sind ein Kapitel der Psychologie. Kein Zweifel, daß wir auf dem Weg psychologischer Betrachtung auch auf diejenigen Denkgebilde stoßen müßten, deren Bildung teilweise anderen Gesetzen gehorcht als die Entstehung des „anschaulichen Begriffs“ und die wir als „wissenschaftliche Begriffe“ erkennen werden. Doch diese wissenschaftlichen Begriffe haben vornehmlich logische Bedeutung, sie werden mit Hinblick auf bestimmte logische Leistungen, die man von ihnen verlangt, gebildet. Und deshalb erscheint es zweckentsprechend, hier mit einer Untersuchung über die Leistungen des Begriffs ins Gebiet der Logik überzutreten und erst später die Frage nach der Erlebbarkeit und der Art des Erlebtwerdens als ein Problem psychologischer Deskription von neuem aufzuwerfen. Die Funktionen des Begriffs sind: Subsumption und Mitteilung. (Erst der wissenschaftliche Begriff bringt mit einer Verbesserung dieser zwei Funktionen auch eine neue hinzu). –Subsumption ist das Einordnen der Wahrnehmungen unter vorhandene Begriffe, genauer: ein Identitätsurteil zwischen einer vorliegenden Anschauung und einem Begriff. – Mitteilung (Transport) besteht in der Übertragung eines Erlebnisses auf andere Subjekte durch Begriffe (Sprache), wobei also die Intention besteht, einen andern Menschen zu einer bestimmten Gruppe von Objekten in dasselbe Verhältnis treten zu lassen, in dem der Mitteilende zu diesen Objekten steht. Diese Intention ist dieselbe auch bei der begrifflichen Fixierung einer Tatsache für den eigenen Gebrauch, man spricht da gleichsam zu seinem zukünftigen Ich und will es in den Stand setzen, die gegenwärtig erlebte Situation auch noch nach Ablauf einer beliebigen Zeit so zu sehen wie heute. Ferner | 189 | ändert es prinzipiell nichts, ob es sich um die Übertragung eines allgemeinen Gedankens oder einer anschaulichen Einzelheit handelt. Im letzteren Fall ist nur ein größerer Aufwand einander kreuzender und bestimmender Begriffe erfordert. Wie bewährt sich nun die Leistungsfähigkeit des anschaulichen Begriffs in diesen beiden Funktionen? Gewiß ist, daß die Grundfunktion des (A + x), das auf die Deutbarkeit begründete Nennen, dem anschaulichen Begriff eine Arbeit in beiden Richtungen gestattet. Ein (A + x)-Gebilde nennt Objekte, indem es Subjekt vieler Identitätsurteile sein kann, deren Prädikate alle jene Einzelanschauungen sind, die in einem gewissen, durch das A begrenzten Verschwommenheitsstadium einander gleich sind. Diese Einzelanschauungen sind es, die unter ein (A + x) bei ihrem Auftreten subsumiert und, falls das (A + x) benannt

DOI 10.1515/978311053719-013

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ist, mit dem Namen auf andere Subjekte übertragen und mitgeteilt werden. In beiden Funktionen ist also das (A + x) brauchbar, was umso verständlicher ist, als diese Funktionen nicht etwas Fremdes darstellen, das als Forderung an das fertige (A + x)-Gebilde herantritt, sondern seine natürlichen Lebensäußerungen, die sich mit seinem eigenen Wachstum mehr und mehr entwickeln. Es ist die natürliche Entwicklung der (A + x)-Gebilde und ihr unmittelbarer Anschluß an die Sinnenwelt, die es bewirken, daß die anschaulichen Begriffe dem Gedächtnis keine Last auf erlegen wie dies Definitionen und wissenschaftliche Merkmale tun, zu denen wir uns bald wenden. Die (A + x)-Gebilde werden in jedem Augenblick durch die Berührung mit frischen Einzelanschauungen neu gezeugt. Nur eine gewisse Summe uneigentlich bewußter Erinnerungsbilder, die schon sehr tief sitzen und gleichsam in Fleisch und Blut des Denksubjekts übergegangen sind, ist stets gegenwärtig und ordnet die neuen Eindrücke, faßt sie erfahrungsgemäß auf. Dieses Stammkapital braucht nicht im höchsten Licht der Aufmerksamkeit zu stehen, braucht nicht mühsam weitergeschleppt zu werden, | 190 | es ist da und wirkt. In der Aufmerksamkeit befinden sich inzwischen vielleicht nur Einzelanschauungen, Zuckungen des (A + x), Verfälschungen, Surrogate. Das schadet nichts; denn sobald eine rezente Wahrnehmung herangebracht wird, bewegt sie doch das tief zugrunde liegende (A + x), indem sie aufmerksamkeitssteigernd wirkt, zu der im Einzelfall passenden Zuckung, wodurch das Identitätsurteil (die Subsumption) herbeigeführt wird. Wie sehen also: der Besitz von (A + x)-Gebilden macht keine Kopfschmerzen, er wird mit dem Lebensablauf von selbst erworben und ohne Anstrengung weitergetragen. Kein Wunder, daß gerade die Naturvölker mit solchen anschaulichen Begriffen in vielen Fällen manipulieren, in denen uns der wissenschaftliche Begriff schon zur Notwendigkeit geworden ist. (〈Wertheimer 1912b〉, S. 322: „Es genügt nicht zu fragen, welche Zahlen und Operationen unserer Mathematik die Völker anderer Kulturen, insbesondere die sogenannten Naturvölker haben〈. (W〉omit man bisher glaubte〈〉 ihre Denkstufe in diesem Gebiete〈〉 des Denkens festgesetzt zu haben. 〈)〉 Die Frage muß lauten: Was für Denkgebilde haben sie in diesem Gebiete〈〉?“ – Im Folgenden zeigt dazu Wertheimer, wie bei den Naturvölkern Gestaltqualitäten und ähnliches den exakten Zahlbegriff zu allgemeiner Zufriedenheit vertreten.) Bei außerordentlicher Leichtigkeit des Aufbewahrtwerdens leisten die (A + x)-Gebilde eine fast momentane und oft treffsichere Subsumption der Einzelanschauung unter den Begriff. Die Sicherheit, mit welcher der geübte Jäger auf Grund seines anschaulichen Begriffs selbst unter ungünstigen Lichtverhältnissen von weitem sein Wild erkennt, ist recht entgegengesetzt der tagelangen Mühe, die der Chemiker zur Analyse eines Stoffes mit Hilfe wissenschaftlicher

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Methode aufwendet. – So verzichtet auch Hugo von Hofmannsthal in seiner schönen Rede „Der Dichter und diese Zeit“ vorsätzlich auf jede wissen- | 191 | schaftliche Definition, um sich mit dem Publikum über sein Thema, den Dichter, schnell zu verständigen, sondern appelliert offensichtlich an das (A + x) „Dichter,“ indem er „das unendliche, komplexe, oszillierende Gedankending“ heraufbeschwört, das „Etwas aus Dante, Lenau und dem Verfasser einer rührenden Geschichte, die Sie mit vierzehn Jahren gelesen haben.“ 〈Hofmannsthal 1907a, S. 5〉 Diese ganze Stelle, vom Anfang an, vergleiche man als meisterhafte Beschreibung des von uns dargestellten „anschaulichen Begriffes“. – Freilich ist dem anschaulichen Begriff eine Grenze gezogen, die sich aus seiner Genese herschreibt. Das (A + x) ist durch psychische Deckung anschaulicher Erlebnisse entstanden, deren Gleichheit auf Kosten individueller Unterschiede, und deren Identität mit Hilfe der Kontinuität wirksam war. Es hängt nun von ganz zufälligen Umständen ab, welche Gleichheiten und Identitäten hervorgetreten sind; mit andern Worten, welche Objekte in ein (A + x)-Gebilde zusammengeschweißt wurden. Daß bei den meisten Menschen diese anschaulichen Begriffe doch so ziemlich in gleicher Weise sich gebildet haben, ist daraus zu erklären, daß die Erziehung schon in der Richtung einer traditionellen wissenschaftlichen Ordnung der Gleichheiten und Identitäten mitarbeitet. Denken wir uns aber die Entwicklung von der wissenschaftlichen Ordnung unbeeinflußt, so hat jeder Mensch je nach seiner persönlichen Erfahrung andere (A + x)-Gebilde, (der anschauliche Begriff „Affe“ muß unter dem Äquator anders ausfallen als in unseren Zonen); folglich spricht jeder seine eigene Sprache und selbst innerhalb der Sprache eines Einzelnen sind die (A + x)-Gebilde gegeneinander zwar scharf abgrenzt, aber die von jedem Begriff umfaßten Gegenstände weisen nur zufällige, grobe, unbrauchbare, unfruchtbare Gemeinsamkeiten auf. So sind also beide Grundfunktionen des (A + x) mangelhaft, eine Übertragbarkeit ist überhaupt kaum vorhanden und die Subsumption erfolgt zwar schnell, ist aber nur selten und willkürlich verwend- | 192 | bar, da das übergeordnete (A + x) nicht reich genug an relevanten Eigenschaften (wie wir später erläutern: an konsekutiven Merkmalen) ist. Dies ist nicht anders möglich, solange die Gemeinsamkeit der unter ein (A + x) gefaßten Objekte nur durch oberflächliche erstbeste Gleichheiten begründet wird. – Einen Übergang zum wissenschaftlichen Begriff können wir uns nun zunächst so denken, daß als gemeinsamkeitsbegründend nicht die auffallendsten, sondern auch weniger sichtbare, verborgene, inwendige Merkmale verwendet werden. So ist für das ursprüngliche (A + x) „Fabrik“ der hohe Rauchfang wohl unentbehrlich. Ein späteres vorsichtigeres (A + x) wird dagegen ins A etwa die innere Maschinerie und eine Mindestzahl von Arbeitern (zum Zweck juristischer Abgrenzung des Begriffs) set-

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zen, der hohe Rauchfang erscheint wesentlich, es gibt ja auch Fabriken ohne diesen Rauchfang. Doch ist dies nur ein vorbereitender Schritt. Wir stehen hier an einem Wendepunkt der Begriffsbildung. Das Äußerste, was die (A + x)-Gebilde zu leisten imstande sind, ist ein vages Wiederkennen, ein unsicheres Mitteilen, tappende Versuche eines Systems. Gäbe es nur diese Gebilde, so würde alles das fehlen, was das Wesen der Wissenschaft ausmacht: die Ereignisse verstehen und benützen, – also ein Welterleben, das über die bloße Bearbeitung des Gegebenen durch das Gedächtnis hinausgeht, allem einen „Sinn“ gibt, Erklärungen sucht, Ursachen erkennt und so die Welt begreift, Wirkungen erzielt und so die Welt beherrscht. Mit diesem neuen Verhalten, das die Anschauung mit Notwendigkeits- und Kausalitätsurteilen durchsetzt, ist eine vollständige Änderung der Begriffswelt, dem Inhalt und der Form nach, psychologisch und logisch, eingetreten. Das Kausalitätsbedürfnis steht im Vordergrund. Dadurch ist aber sofort eine Umwandlung des Materials, aus dem Begriffe sich formen, bedingt. Wir wissen seit Hume, daß die Kausalität in der Anschauung nicht zu finden ist. Wir wissen | 193 | ferner, daß die Kausalität auf die Anschauung nicht einmal anwendbar ist. Denn das Notwendigkeitsurteil setzt Sicherheit und Festigkeit der Materie voraus. Platon wurde durch die Unmöglichkeit, auf der Erfahrung eine Wissenschaft aufzubauen, bewogen, die ewigen unveränderlichen Ideen zu eigentlichen Substrat des Seins und des Wissens zu machen. Wenn uns der Gegenstand in der Hand entschwindet, wenn er beständig sein Wesen ändert, wenn wir nicht die Gewißheit haben, daß wir denselben Gegenstand behandeln, so lange wir ihn behandeln, so fehlt uns jede Möglichkeit, seine Notwendigkeit zu beurteilen. Unser lebendiges, zuckendes, bei jeder Aufmerksamkeitsänderung sich ungestaltendes (A + x) ist also ungeeignet. Wir müssen eigenmächtig eingreifen, um eine Konsolidierung dieses unruhig Anschaulichen durchzuführen, müssen unter dem Gesichtspunkt der Kausalität Gebilde schaffen, um Kausalität auf sie anwenden zu können. In dieselbe Richtung, also gleichfalls zur Sicherheit hin, drängt uns die oben angedeutete Mangelhaftigkeit der Subsumption und Mitteilbarkeit der (A + x)Gebilde. Das Bedürfnis einer prägnanten, eindeutigen Mitteilung geht darauf aus, daß beide Gesprächspartner genau dieselbe Vorstellung vor Augen haben, über die sie ihre Urteile fällen. So etwa wie zwei Leute, die vor demselben Hause stehen, einander durch Hindeuten mit Fingern einen bestimmten Teil des Hauses als unverrückbaren Gegenstand ihres Meinungsaustausches abgrenzen können und nun überzeugt sind, daß sie beide wirklich von demselben Gegenstand sprechen. Zu einem solchen Vorstellungstransport ist nun im strengsten

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Sinn die Wahrnehmung ebenso ungeeignet wie das (A + x). Die Wahrnehmung versagt infolge wechselnder Aufmerksamkeitsverteilung, das (A + x) aus demselben Grunde und überdies noch deshalb, weil es bei jedem Individuum aus andern Einzelanschauungen gebildet wurde, was in letzter Linie wieder auf die Möglichkeit verschiedenartiger Aufmerksamkeitsverteilung in den Einzel- | 194 | anschauungen hinweist. – Diese Betrachtung zeigt schon den Weg, auf dem unzweideutige Begriffe erzielt werden können. Man muß das Anschauliche herabzudrücken suchen, auf jenes Mindestmaß beschränken, in dem es nicht mehr einer verschiedenartigen Interpretation durch die Aufmerksamkeit zugänglich ist. Wie von selbst bietet sich zu diesem Behuf das Fortschreiten des (A + x) zu höheren Begriffen an, das, wie wir gesehen haben, ein stetes Anwachsen des x und eine Verkleinerung des A mit sich bringt. Diese Verengerung geht schließlich so weit, daß das übrigbleibende A an Anschaulichkeit so arm ist, daß es nicht weiter analysierbar, unteilbar, invariabel erscheint. Es ist gleichsam ein Anschaulichkeits-Atom geworden, oder, wie die übliche Terminologie sagt, ein Merkmal. Merkmale sind also jene starren, kleinsten Teile der Anschauung, die mit keiner andern Vorstellung etwas gemeinsam haben können, ohne alles mit ihr gemeinsam zu haben. Das Spiel der Aufmerksamkeit, das aus einem Stück der Anschauung bald diese, bald jene Vorstellung hervorzuzaubern vermag, erschlafft kraftlos an solch einem Fragmentchen. Die Variationsmöglichkeiten der Anschauung werden im x absorbiert und es bleibt nur das punktuelle, unveränderliche A übrig. Hat dieses A einen Namen und ist der Gesprächspartner mit dessen Anwendung vertraut, so ist nun in diesem Idealfall ein wirklicher Transport möglich; denn unter A kann der andere dann nur ebendieselbe unteilbare, unwandelbare Vorstellung verstehen wie ich. – Es ist klar, daß solche Atome nicht nur die Sicherheit der Mitteilung garantieren, sondern auch das gesuchte Substrat für Notwendigkeitsurteile und kausale Erkenntnis sind. Wir haben mithin in ihnen das postulierte Material für die wissenschaftliche Begriffsbildung gefunden. Bleibt die Frage, ob es solche Atome der Anschauung gibt. Also Vorstellungen von einer unerhörten Gleichgültigkeit gegen alle möglichen Erfahrungen, welche einfach ins x dieser Vor- | 195 | stellungen aufgesaugt und so negligiert werden, so daß von allem, was sie umfassen, nur ein einziger, mit nichts zu verwechselnder, fixer Punkt, – das Merkmal – in ihrem A bleibt. … Es gibt solche Merkmale, und mindestens eine Art von Merkmalen existiert sogar in der allerhöchsten Vollkommenheit: die Zahl. Der Zahlbegriff ist dadurch ausgezeichnet, daß die Qualität des zu Zählenden, was es auch immer sei, gänzlich gleichgültig ist, daß lediglich die Zahlrelation im scharfen A bleibt, alles andere dagegen ins x fällt. (Wie sehen hier von dem anschaulichen Zahlbegriff ab, vgl.

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10. Kapitel). Außerordentlich treffend ist dies bei P. Natorp. „Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften“ 〈…〉 ausgeführt. Z. B. Seite 108: „Zähle ich Dinge, z. B. die Fenster eines Saales, so sind diese noch durch irgendwelche sonstigen Merkmale unterschieden; z. B. eines liegt gegen Osten, eins gegen Westen, die andern, in der und der Aufeinanderfolge, dazwischen. Aber das reine Verfahren der Zählung weiß von solchen Unterschieden nichts, darf nichts davon wissen, es kennt nur Eins, Eins, Eins 〈usf.〉 und kann unter diesen nicht anders unterscheiden als nach der Folge, in der sie gesetzt werden: Eines als Ausgangsglied, Eines diesem zunächst, Eines wiederum diesem usf.“ 〈Natorp 1910, S. 108f.〉 – Oder Seite 〈225〉17: „Die Beziehung der Position oder der Ordnung des Vor und Nach erwies sich als das letzte Gattungsmerkmal der Zahl, welches aller Maßbedeutung derselben logisch vorhergeht. Sein mathematischer Ausdruck ist das Plus und Minus, welches eine immer gleiche Art der Relation von Glied zu Glied unserer Urreihe 〈…〉 bezeichnet.“ 〈Natorp 1910, S. 225〉 – Damit ist gesagt, daß jeder, der die Vorstellung einer Zahl hat, nur eine einzige, unverfälschbare Relation meinen kann, daß jedes weitere anschauliche Leben einer solchen Vorstellung verschwommen bleibt, also unterdrückt ist. Die Zahl ist daher bestimmt, eindeutig, und, wiewohl sie aus der Anschauung hervorgeht, (über unsere in diesem Punkt von Natorp und den Neu-Kantianern abweichende Ansicht vgl. unsere Kritik | 196 | Cassirers im 10. Kapitel) doch so radikal von Anschaulichkeit mit Ausnahme eben der einzigen, daher unzweideutigen Plus-Minus-Relation gereinigt, daß sie das exakte Fundament der Wissenschaft darbietet. Pythagoras und Platon haben in diesem Sinne die Zahl verehrt. Wo immer ein eindeutiger Transport vermittelt werden soll, ist die Zahl in ihren mannigfachen Anwendungen (Messen, Wägen usf.) unentbehrlich. Dies gilt für die Bedürfnisse der Wissenschaft ebenso wie für jene Ausnahmsfälle, in denen auch das praktische Leben sich mit einem „ungefähr“ nicht begnügen kann. Als es sich im Jahre 1910 um Schaffung einer internationalen Farbenskala für die Bedürfnisse jener Industrien, die mit Tuchmustern arbeiten müssen, handelte, mußte man nach Fehlschlagen der detailliertesten Nomenklaturversuche Zuflucht zu einem Apparat („Chromoskop“) nehmen, der mit Polarisation und meßbaren Drehungen der Schwingungsebenen arbeitet. So erscheinen also schließlich auch Qualitäten durch die Zahl faßbar und übertragbar. Wie die Zahl eignen sich auch andere Relationen, sofern sie unvermischt isolierbar sind, zu wissenschaftlicher Begriffsbildung. (Vgl. die ähnlichen Ausführungen bei Sigwart, Logik § 40 〈Sigwart 1904, S. 324ff.〉) – Auch der Eigenna|| 17 EA: 223

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me schränkt eine Vorstellung auf eine einzige Eigenschaft, nämlich das So-und so-Benanntsein, ohne Rücksicht auf jede andere Qualität ein, sofern er nicht den Individualbegriff, also die Summe sämtlicher Eigenschaft (gerade das entgegengesetzte Extrem) bezeichnet. – Zahlreich sind die Vorstellungen, die, ohne gerade eine unzweifelhafte Einschränkung auf das Minimal-A leisten zu können, dieser Atomeigenschaft doch ziemlich angenähert werden können. Aufgabe der wissenschaftlichen Begriffsbildung ist es nun, die Vorzüge eindeutiger oder wenigdeutiger, namentlich zahlenmäßiger Vorstel〈l〉ungen auszunützen. Die durch höchste Abstraktion gewonnenen „Merkmale“ werden durch Synthese vereinigt; darüber soll sofort gesprochen werden. | 197 | Anschauungen werden also übertragen, indem sie aus Merkmalen zusammengesetzt und transportfähig gemacht werden. Wie das Vergleichen zweier Landkarten nach dem bloßen Augenmaß kein definitives Resultat liefert, sondern durch Zerteilung der Karten in kleine Quadrate und Vergleich der analysierten und wieder aneinandergereihten Details ersetzt werden muß; ebenso wird die Anschauung in ihre Merkmalsatome zerlegt und aus ihnen wieder zusammengefügt. Dieser erst auf hoher Bewußtseinsstufe mögliche Vorgang hat den Grund zu dem (von uns im 1. Kapitel und oft noch bekämpften) Irrtum gegeben, daß man sich die Anschauung schon aller Anfang aus unendlich vielen Merkmalen geordnet vorstellte. So werden die Merkmale, das feinste Destillat einer Entwicklung, an den Anfang dieser Entwicklung gestellt. Vom Standpunkt des wissenschaftlichen Begriffs kann man dann freilich sagen, daß alles Anschauliche eine Unendlichkeit von Merkmalen enthält, aber, soll diese Ausdrucksweise nicht gefährlich werden, so muß man sich vor Augen halten, daß diese Merkmale erst durch die wissenschaftliche Begriffsbildung geschaffen wurden, daß aber das ursprünglich Gegebene als ungegliederte, einheitliche Gesamtanschauung vor den Menschen trat. Diese wird von der Analyse erfaßt, der anschaulichen Abstraktion, wie wir sie dargestellt haben; und erst der höchsten Resultate dieser (A + x)-Entwicklung kann sich die Synthese bemächtigen. Wenn daher Natorp 〈…〉 sagt: „In dem, was man Anschauung nennt, wirken im Grunde die sämtlichen reinen Denkfunktionen nur in unaufgelöster Verflechtung zusammen“ 〈Natorp 1910, S. 264〉, so können wir ihm recht geben, sofern in diesem Satze das Wort „unaufgelöst“ betont ist und unsere „verschwommene Gesamtanschauung“ umschreibt. Soll aber das Gewicht des Satzes auf dem Wort „Verflechtung“ im Sinne einer die Anschauung bedingenden, schaffenden Synthese liegen, so müssen wir ihn gemäß obiger Ausführungen ablehnen. (Vgl. 10. Kapitel.) Die atomisierte Anschauung ist nun reif dazu, mit Kausalität | 198 | d. h. mit Notwendigkeitsurteilen durchsetzt zu werden. Doch greift diese Entwicklung

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natürlich schon früher, vor der endgültigen Stabilisierung der Anschauungselemente, ein. Gegenstände werden nicht mehr nach anschaulicher Ähnlichkeit, sondern nach ihrer Wirkungsweise, nach ihren Ursachen zusammengefaßt, wobei, wie wir schon oben sahen, oft verborgene, wenig auffällige Eigenschaften entscheidend werden. Es muß das Gleiche, das die Gegenstände nicht unmittelbar zeigen, sondern das nur unter gewissen Bedingungen ihnen regelmäßig zum Vorschein kommt, erfaßt werden. Während etwa noch Begriffe des vulgären Lebens, z. B. „Galanterieware“ einen durch den Gebrauch, die oberflächliche Analogie der Benützung usf. zusammengehaltenen Inhalt haben, ist der Begriff „Explosivstoff“ nicht nach Gleichheit der Farbe oder des Aggregatzustandes, sonst käme etwa Puder und Pulver unter dasselbe (A + x), überhaupt nach nichts ohne weiteres Sichtbarem gebildet, sondern mit Rücksicht auf ein bestimmtes Verhalten unter bestimmten chemischen Bedingungen, die wieder für eine bestimmte z. B. juristische, kriegstechnische, industrielle Einreihung der Stoffe folgenschwer ist. Man sieht ohne weiteres auch die biologische Wichtigkeit dieser Umformung. – Der Walfisch, der nach seinem Äußeren den Fischen anzugehören scheint, kommt in die Gruppe der Säugetiere, wobei unter dem Begriff „Säugetier“ jetzt eine Folge von Eigenschaften gedacht ist, die notwendig beisammen sein müssen, von denen also eine gegebene die anderen zu verursachen oder mindestens verständlich zu machen scheint. Unsere Ausführungen decken sich hier in manchen Punkten mit den Ansichten H. Rickerts 〈Rickert 1896〉, dem die Lehre vom wissenschaftlichen Begriff überhaupt bedeutungsvolle Klärungen verdankt. – Wir sagten: Die Anschauungsatome werden zum Teil durch Notwendigkeitsurteile zusammengehalten, Diese Urteile, der | 199 | dritte Urteilstypus, dessen Betrachtung wir uns im 2. Kapitel für diese Stelle auf gespart haben, lassen sich auf die Formel bringen: A muß zugleich B sein, oder genauer: A, das nicht zugleich B wäre, ist unmöglich, woraus zu ersehen ist, daß der Urteilsinhalt eine Notwendigkeit resp. Unmöglichkeit des kontradiktorischen Gegenteiles zum Inhalte hat; weshalb wir diese Urteile auch kurz Notwendigkeitsurteile nennen. In seiner reinen Form ist dieses Urteil apodiktisch, analytisch und einsichtig. Die Einsichtigkeit ist für uns die einzige Quelle für das Verständnis des Begriffs des Notwendigseins, wie auch für dessen Konstatierung. (Vgl. 〈Marty 1908〉, S. 300). Die Notwendigkeit empfängt Sinn und Leben dadurch, daß wir einsehen, daß es nicht anders (in kontradiktorischer Bedeutung) sein kann. Es wird von vornherein eingesehen, daß es so sein muß, daß es immer so ist. Daher kann die Erfahrung, die nicht allgemein ist, hier keine Rolle spielen. Aus diesem Grunde ist die unvollkommen analysierte Anschauung keine brauchbare Materie für das apodiktische Urteil. Denn nur dort ist Einsicht möglich, wo eine Mate-

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rie beurteilt wird, die keine unbemerkten und lebendig veränderlichen Teile enthält. So erklärt sich auch, was wir vorhin sagten, daß ein Notwendigkeitsurteil unmöglich sei, so lange wir nicht die Gewißheit haben, daß wir ganz denselben und gleichen Gegenstand beurteilen, solange wir ihn beurteilen. Und darin lag ja eine Ursache dafür, daß die Anschauung in starre Atome umgewandelt werden mußte, um für den wissenschaftlichen Begriff brauchbar zu werden. Und aus diesem Grunde wird der wissenschaftliche Begriff das eigentliche Gebiet des apodiktischen Urteils. Hier, wo wir die Atome selbst geformt und selbst zum Begriffe durch Synthese vereint haben, ist es uns möglich, diesen Vorstellungskomplex analytisch und apodiktisch zu beurteilen, insoweit er von uns zusammengesetzt ist, und insoweit das, was darin von der Anschauung noch vorhanden ist, nicht in Betracht kommt und vernachlässigt werden darf, da es sich – mathe- | 200 | matisch ausgedrückt – durch die Synthese und entgegengesetzte Analyse aufhebt, oder bei beiden „herausgehoben“ werden kann. Auf diese Notwendigkeitsurteile geht nun, wie Hugo Bergmann 〈…〉 gezeigt hat 〈Bergmann 1908〉, die Kausalität zurück. Wir erfahren eine regelmäßige Aufeinanderfolge von A, B und beurteilen sie als notwendig. In der Konstatierung, daß B notwendig auf A folgt, liegt die Erkenntnis, daß B aus A folgt, daß A die Ursache von B ist. Somit sind Kausalitätsurteile, – und nur so erfahren wir die Kausalität, die ja außerhalb der Anschauung liegt – Notwendigkeitsurteile, deren Materie eine Zeit- oder Bewegungsrelation A-B ist. Halten wir nun dem gegenüber, was wir über das Notwendigkeitsurteil und dessen Apodiktizität gesagt haben, so wird sofort ein gewichtiges Bedenken laut. Es gibt freilich Fälle, wo eingesehene Notwendigkeit in gewissem Sinne auch Kausalität genannt wird; es wäre dies etwa die logische oder mathematische Kausalität, wenn z. B. gewisse Eigenschaften einer geometrischen Figur der Grund sind für andere Eigenschaften. Das ist wahre, eingesehene Notwendigkeit. Viel öfter und auch weit prägnanter spricht man aber von Kausalität dort, wo ein tatsächliches Nacheinander beurteilt wird. Und hier fehlt Einsichtigkeit, damit aber auch echte Apodiktizität. So erleben wir dann bei der ungeheueren Anzahl von Kausalitätsurteilen aber auch bei vielen anderen Notwendigkeitsurteilen den Fall, daß etwas ohne Einsicht als notwendig beurteilt wird. Es wird die Notwendigkeit zwar nicht eingesehen, aber doch mit voller Bestimmtheit konstatiert. So gewinnt es den Anschein, als ob es neben den einsichtigen, apodiktischen noch nicht-einsichtige, apodiktische oder vielleicht assertorische Notwendigkeitsurteile gäbe. So hat tatsächlich schon Aristoteles und nach ihm viele andere auch nicht-einsichtige Urteile mit apodiktischem Charakter angenommen. Das widerspräche aber ganz | 201 | entschieden der

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vorhin vorgetragenen richtigen Erkenntnis, daß wir wahre Notwendigkeitsurteile nur einsichtig und daher apodiktisch fällen können. Marty erklärt in seinen „Untersuchungen“ die Schwierigkeit so, daß hier die durch Reflexion auf ein wahres apodiktisches Notwendigkeitsurteil gewonnene Notwendigkeit einer Urteilsmaterie assertorisch als Eigenschaft zuerkannt wird. „Indem man so den Inhalt eines gewissen Urteils zum Gegenstand eines andern Urteils macht, kann man in einem kategorischen oder pseudokategorischen Satze von ihm die Notwendigkeit resp. Unmöglichkeit als „Eigenschaften“ aussagen. (〈Marty 1908〉, S. 298.) Dieser Ansicht hat sich auch H. Bergmann angeschlossen. Die Formel wäre etwa so: Daß A ist, ist notwendig, oder (Notwendigkeit von A) ist. Die Notwendigkeit wird also von A einfach prädiziert. Da das Urteil assertorisch ist, braucht es hier keiner Einsicht. Es liegt kein wahres apodiktisches Notwendigkeitsurteil vor, sondern nur die assertorische Konstatierung der Notwendigkeit. Freilich bleibt bei dieser Lösung noch eine Schwierigkeit bestehen. Was bedeutet das: die Notwendigkeit wird durch Reflexion auf ein Urteil gewonnen? Der Begriff Reflexion ist keine Erklärung, sondern nur die Konstatierung einer Tatsache. Somit erhebt sich noch die Frage: wie haben wir uns die psychische Durchführung dieser „Reflexion“ zu denken? Auch hier vermögen uns die Gesetze der Aufmerksamkeitsverteilung, die wir beschrieben haben, Aufklärung zu verschaffen. Beim Urteil kann man mehrere abstrakte Teile unterscheiden, etwa den Akt, den Urteilsinhalt (Objektiv), das urteilende Subjekt, das Beurteilte oder das zu Beurteilende usw. Diese intelligiblen Teile kommen natürlich realiter nicht allein vor, sie sind immer nur Seiten eines realen Aktes. Wohl aber können diese Teile in verschiedener Aufmerksamkeit stehen; wir haben ja schon gesehen (6. Kapitel), daß dies auch bei abstrakten Teilen möglich ist. Es können gewisse Teile zu- | 202 | gunsten eines solchen besonders hervortretenden Teiles verschwimmen, ins UneigentlichBewußte geraten. Wir haben dann einen Urteilsakt, bei welchem ein abstrakter Teil, z. B. das Beurteilte, in besonderer Aufmerksamkeit steht, während alles übrige z. B. Subjekt des Urteils, Zeit des Urteils usw. verschwimmt, gleichgültig wird. Während nun bei der Anschauung Teile dieser Anschauung, wie Relationen oder Qualitäten ins A des (A + x) kamen, erscheinen hier beim Urteil. 〈W〉o es sich nicht mehr um ein reines Gegenwärtigsein handelt, sondern um ein beziehendes Bewußtsein, um einen auf etwas hinzielenden Akt, eine Tätigkeit des Subjekts, in der es etwas außer ihm Liegendes, das Objekt, in einer bestimmten Weise erfaßt, Teile, die anders aussehen als die ruhenden Teile der Anschauung, und die entsprechend der Tätigkeit, aus der sie hervortreten, eher als Richtungen anzusprechen sind.

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Selbstverständlich werden diese Richtungen nicht erst durch dieses Hervorheben geschaffen. Es sind eben die Elemente, die im Urteil, als einer beziehenden Tätigkeit eines Subjekts auf ein Objekt enthalten sind, und nur einer einseitigen Betonung bedürfen, um scheinbar selbständig hervorzutreten. So gewinnen wir also aus verschiedenen, zahlreichen Urteilserlebnissen (A + x)-Gebilde, in deren A eventuell das durch das Urteil schon hindurchgegangene Beurteilte (der Urteilsinhalt) enthalten ist, während im x der Urteilende, der Akt, die Materie usw. verschwindet. So entsteht auch der Begriff des AlsNotwendig-Beurteilten oder Als-Notwendig-zu-Beurteilenden. Es ist ein (A + x) von Notwendigkeitsurteilen, in dessen A das Als-Notwendig-Beurteilte ist, während alles andere im x bleibt. Es dreht sich gleichsam unter dem Einfluß der Aufmerksamkeit die Ansicht auf das Phänomen. Die Richtung auf das Objekt nimmt alle Aufmerksamkeit in Anspruch, so daß alles andere, wie Subjekt und Tätigkeit gleichgültig und vernachlässigt wird. Und durch diese Richtungsänderung verliert das ganze (A + x) seinen Charakter als Akt und erhält einen solchen | 203 | Objekts-Charakter, daß es ohne Schwierigkeiten von einer Materie in einem neuem Urteil praediziert werden kann. So erhalten wir dann Urteile wie: A-B ist ein Als-Notwendig-Beurteiltes. Und hiermit ist der Effekt eines „assertorischen Notwendigkeitsurteiles“ erreicht. Wir sagten: Die Voraussetzung des Kausalitäts-Erlebnisses sei das Notwendigkeitserlebnis. Nun könnte man dagegen einzuwenden versuchen, daß ja das Notwendigkeitserlebnis schon eine hohe geistige Entwicklung, vielleicht schon wissenschaftliche Begriffe voraussetze, daß dagegen Kausalitätserlebnisse sicher auch schon bei Kindern, den niedersten Völkerschaften, vielleicht sogar bei Tieren anzutreffen seien. Da muß nun beachtet werden, daß in diesen Fällen zumeist nur ein scheinbares Kausalitätserlebnis vorliegt, oft nur eine expectatio similium, eine gewohnheitsmäßige Erwartung einer oft erfahrenen, regelmäßigen Folge. Eine höhere Stufe der Entwicklung stellt schon der Fall vor, daß etwas der Kausalität im Effekt Ähnliches gefühlsmäßig, u. zw. endopathisch im Sinne der Gomperzschen Ansicht erlebt wird. Es ist wohl denkbar, daß sich bei der persönlichen, sicherlich sehr gefühlsbetonten Erfahrung des Abhängigseins von fremdem Willen, des Gezwungenseins, ein ganz bestimmter Gefühlseindruck gebildet hat, der nun in den Gegenstand, der durch einen andern bedingt ist, introjiziert, in diesem Gegenstand erlebt wird. Diese Erlebnisse können nun wohl einen ähnlichen Effekt haben wie das Kausalerlebnis, sind aber von diesem und vom Begriff der Notwendigkeit sehr weit entfernt. Aber selbst dieser eigentliche Notwendigkeitsbegriff kann in frühem Stadium der Entwicklung erlebt werden und es wäre falsch zu glauben, daß hierzu

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hochentwickelte wissenschaftliche Begriffssysteme notwendig seien, wenn auch dies erst das eigenste Gebiet des Notwendigkeitsurteils ist. Wir haben vorhin betont, daß ein Vorstellungskomplex geeignetes Material für apodiktische Urteile ist, insoweit er von uns zusammen- | 204 | gesetzt ist, und die darin enthaltene Anschauung vernachlässigt werden darf. Daß die darin enthaltene Anschauung hierbei nicht immer hinderlich ist, bedeutet eine Erkenntnis, die nicht nur für unseren Fall, sondern überhaupt für jede Wissenschaft, die ja, wie wir gesehen haben, schließlich nie ganz anschauungsfrei sein kann, von großer Wichtigkeit ist. Die Voraussetzung ist nur, daß die Beschaffenheit der Anschauungsstücke selbst bei der Urteilsentscheidung keine Rolle spielt, daß die Entscheidung nicht in die Anschauungsstücke selbst einzudringen braucht, sondern mit ihnen nur als mit Größen ganz beliebiger Beschaffenheit zu rechnen hat, die sich bei der Entscheidung aufheben, wie die gleichen Unbekannten, die sich auf beiden Seiten einer Gleichung finden. – Die wissenschaftlichen Begriffe sind also nach dem Gesichtspunkt der Kausalität im weitesten Sinne, d. i. also notwendiger Abhängigkeit, zusammengeballt, sie sollen in der Richtung der Erklärung nach rückwärts und der Wirkung, der Beherrschung nach vorwärts das Möglichste leisten. Die Kausalität ist das Kriterium der Vorzüglichkeit eines wissenschaftlichen Begriffs. Dies verlangt eine nähere Untersuchung. Die Merkmale eines Begriffs werden durch Urteile zusammengehalten. (Wie diesem logischen Postulat im Erlebnis, psychologisch, Genüge getan wird, soll später erörtert werden.) Es sind dies Urteile, welche die Kausalität festhalten (apodiktisch oder assertorisch), und synthetische Urteile, welche das einfache Aneinanderreihen der Merkmale, das tatsächliche Nebeneinander statuieren. Wir können somit als Schema eines wissenschaftlichen Begriffs feststellen: A ist B, ist C, ist D, muß E, F, G sein. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Gruppen ist seit altersher gemacht worden, indem man die konstitutiven Merkmale eines Begriffs und die aus ihnen entspringenden konsekutiven unterschied. Die konstitutiven Merkmale bestimmen den Begriff eindeutig, grenzen ihn gegen alle andern Begriffe ab, weil die konsekutiven aus den einzelnen | 205 | konstitutiven Merkmalen oder aus ihrer Kombination durch Notwendigkeitsurteile hervorgehen, also in die Definition nicht aufzunehmen sind. – Allerdings ist diese Notwendigkeit nicht gerade oft die von Kant geforderte, aller möglichen Erfahrung vorgehende Apodiktizität, sondern, wie schon oben ausgeführt, bei Erfahrungsbegriffen oft nur eine erfahrungsmäßige Regelmäßigkeit, die dem Kausalitätsbedürfnis mindestens für den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft genügt, ohne bei Fortschritten eine veränderte Situation auszuschließen. – Ein Beispiel: Der Begriff „Wasser“ sei wissenschaftlich durch die Merkmale H20

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eindeutig bestimmt, die chemische Formel ist für den Begriff konstitutiv. Alle übrigen Eigenschaften des Wassers (gefriert bei 0 Grad, kleinstes Volumen bei 4° usf.) sind nun nicht in dem Sinne konsekutiv, daß sie analytisch aus den Merkmalen H20 ohne weiteres hervorgehen, etwa durch Zurückgehen aus einem höhern Prinzip ableitbar oder gar apriori einzusehen; sondern nur in dem Sinne, daß die naturwissenschaftliche Forschung ein beständiges Zusammengehen dieser Eigenschaft mit der Eigenschaft H20 konstatiert hat. Sie sind also notwendig gegeben, wenn die konstitutiven Merkmale gegeben sind; eine Erklärung findet nicht statt. Die konstitutiven Merkmale sind gleichsam der Hebel, mit dem man eine ganze Last von konsekutiven Merkmalen beherrscht. Die Einsicht: wenn A ist (konstitutiv), ist B (konsekutiv) – kommt der Einsicht: weil A ist, ist B, immerhin nahe. – Doch sind Konflikte nicht ausgeschlossen. Wenn etwa der Graf St. Germain, wie in den Memoiren Casanovas zu lesen ist, Diamanten herstellen konnte, die in sämtlichen Eigenschaften echten glichen, nur im Gewicht sich unterschieden, – so befanden sich (den Tatbestand als wahr vorausgesetzt) die Zeitgenossen in der problematischen Lage, das Gewicht des Diamanten aus der Reihe der konsekutiven in die der konstitutiven stellen und mit seiner Hilfe zwei verschiedene Begriffe (vom größeren und kleineren Gewichte) bilden zu sollen. Aus | 206 | diesem Beispiel erhellt die Abhängigkeit der empirischen Begriffsbildung von der Empirie, die ja an sich kein erstaunliches Faktum darstellt, die uns aber doch den tieferen Zusammenhang hier erkennen läßt: Die eigentlichen konsekutiven Merkmale, aus denen die konstitutiven notwendig herfließen, die also etwa in der Natur des Diamanten als letzte Gründe sein Gewicht bedingen, sind uns meist unbekannt. Wir kennen meist gleichsam nur die Symptome dieser rechten konstitutiven Merkmale, die allein Erklärungswert hätten, und nennen diese Symptome insolange konstitutive Merkmale, als nicht ihr regelmäßig von andern Merkmalen abhängiges Auftreten beobachtbar ist. Sehr richtig bemerkt Sigwart 〈…〉, der die konstitutiven und konsekutiven Merkmale als „fundamentale“ und „abgeleitete“ unterscheidet: „Es darf den fundamentalen Merkmalen nicht die Bedeutung beigelegt werden, da〈ss〉 sie das reale Wesen eines Dinges 〈c〉onstituieren – darüber wissen wir in vielen Fällen nichts – sondern nur, da〈ss〉 sie nach der Art, wie wir die Abhängigkeit der Merkmale von einander erkennen, den Begriff als eine bestimmte Vorstellung 〈c〉onstituieren.“ 〈Sigwart 1904, S. 367〉 – Dies hängt mithin vom Stande der Wissenschaft ab. Beobachten wir an einem Begriff die Merkmale a, b, c und stellen wir fest, daß c sich immer dann findet, wenn a und b oder eines davon vorkommt, daß dagegen a und b von einander unabhängig sind, so finden wir in a und b konstitutive Merkmale, in c konsekutive Merkmale des Begriffs.

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Konstitutive Merkmale sind also von einander unabhängig. Es fragt sich, wie man dazu kommt, sie in einem Begriff zu vereinen. An sich wären ja zwischen Merkmalen, die zu einander in keinem Kausalitätsverhältnis stehen, alle Kombinationen gleich möglich. Auch der Einwand, daß die Sprache kein Interesse daran hat, Merkmalskombinationen zu benennen, sondern Dinge, – ein Einwand, der etwa aus der Richtung des denkökonomischen Prinzips her gemacht werden könnte, | 207 | trifft nicht zu. Denn selbstverständlich würde es sich hier nicht um unreale Kombinationen handeln, sondern nur um solche, die wirklich vorkommen. Etwa um die Einführung von neuen Begriffen für „gelbes Quadrat“, „rotes Quadrat“…. Um den tiefern Grund dieser Denkökonomie zu erforschen, wählen wir ein ganz schematisches Beispiel. Der Begriff „Geige“ bestünde etwa aus den Merkmalen (die natürlich selbst wieder komplizierte Begriffe darstellen, siehe unter „gemischter Begriff“): 1. Ein Saiteninstrument mit 4 Saiten in den Tonhöhen g, d, a, e. 2. In bestimmter Bauart z. B. mit Resonanzboden. 3. In bestimmter Größenproportion. 4. Aus Holz. 5. Mit einer bestimmten Klangfarbe (Obertöne). 6. Mit bestimmtem Tonumfang. 7. Dient zu bestimmten besonderen Effekten im Orchester, im Quartett usf. Bei näherer Betrachtung zeigen sich die Merkmale 1 bis 4 als konstitutiv, die Merkmale 5 bis 7 als konsekutiv, die natürlich eine unendliche Reihe geben, während die konstitutiven Merkmale andeutungsweise erschöpfend angegeben seien. Ein Ding der Außenwelt also, das die Merkmale 1–4 (die von einander unabhängig sind) aufweist, nenne ich „Geige“; dieses Ding muß die Merkmale 5–7 und zahllose andere enthalten. Es fragt sich, warum ich gerade die Merkmale 1–4, die innerlich unverbunden sind, zu einem Begriffe vereinigt habe. Versuche ich etwa ein anderes Merkmal dazuzugeben, etwa „braun“, so werde ich dem Einwurf, daß ich damit den Umfang des schon fertigen Begriffs „Geige“ vermindere, leicht damit begegnen, daß es sich ja jetzt um ein Versuchsstadium vor der Fertigstellung des Begriffs handelt, und daß die Hinzufügung jedes konstitutiven Merkmals zu einem Komplex den Umfang | 208 | in der Regel mindere, wofür dann eben der Inhalt sich vermehrt zeige. – Hier aber erscheint schon der Unterschied und es zeigt sich, daß das Motiv der Zusammenfügung konstitutiver Merkmale in einer ganz eigenartigen Vermehrung konsekutiver Merkmale liegt. – Durch Hinzufügung des Merkmals „braun“ ver-

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mehre ich die Zahl der konsekutiven Merkmale von Geige allerdings, und zwar um sämtliche konsekutiven Merkmale, die eben aus „braun“ herfließen, also etwa um alle optischen Wirkungen von braun usf. Betrachte ich aber die Veränderung, die mit den konsekutiven Merkmalen des Begriffs „Geige“ bei Hinzufügung des Merkmals „eine bestimmte Größenproportion“ (3) vor sich geht, so zeigt sich, daß hier neben den optischen Folgewirkungen der bestimmten Größe noch besondere Veränderungen der Klangfarbe, Orchesterverwendung auftreten, die ohne Hinzutreten des Merkmals 3 aus den Merkmalen 1, 2 und 4 nicht folgen, die aber auch aus 3 an sich nicht folgen. Es findet also beim Hinzutreten des Merkmales 3 zu den Merkmalen 1, 2, 4 eine Art von „Zeugung konsekutiver Merkmale“ statt. Während durch das Hinzutreten des Merkmals „braun“ nur die konsekutiven Merkmale, die „braun“ gleichsam als seine Familie mit sich führt, ohne weitere schöpferische Zeugung angepickt werden. Man kann also sagen: Merkmale, die nicht von einander abhängen, also konstitutive Merkmale, werden nach Maßgabe der hierbei entstehenden konsekutiven Merkmale und im Hinblick auf diese zusammengefügt. Eine solche Verbindung ist dann wertvoll, wenn sie als Verbindung mehr konsekutive Merkmale hat als die einzelnen Merkmale, jedes für sich betrachtet und dann zusammengerechnet, haben. Anders ausgedrückt: Bei Wegnahme eines konstitutiven Merkmals muß der Inhalt des wohlgebildeten Begriffes um mehr als die konsekutiven Merkmale dieses einen Merkmals verringert werden. – Wollen wir etwa im obigen Beispiel das Merkmal 4 ausschalten, also auch Geigen aus Blech „Geige“ nennen, so zeigt es sich, daß | 209 | wir den Inhalt des Begriffes nicht bloß aller aus der Holzeigenschaft an sich fließenden Merkmale, des bestimmten Gewichts usf. beraubt haben, sondern daß auch die Merkmale der bestimmten Klangfarbe, Hantierung usf. die an sich weder aus dem Merkmal „Holz“ noch aus dem übrig bleibenden Komplex konstitutiver Merkmale folgen, weggefallen sind. Die wissenschaftliche Begriffsbildung darf also nicht willkürlich vor sich gehen, es können aus der atomisierten, der Anschaulichkeit entbundenen Welt nicht beliebige Stücke zusammengekittet werden, sondern die Verbindung konstitutiver Merkmale hat stets auch eine möglichst ausgebreitete Herrschaft über konsekutive zum Zweck, die Zusammensetzung der konstitutiven Merkmale geschieht im Hinblick auf die konsekutiven. Mit einem Hebel sollen gleichsam möglichst viele Lasten bewegt werden. – Hiermit wird dem Grundsatz der Ökonomie („Kleine Mittel, große Erfolge“) und zugleich dem Kausalitätsbedürfnis Rechnung getragen. Denn je mehr konsekutive Merkmale erzeugt werden, desto mehr Tatsachen (eben die konsekutiven) sind erklärbar. – Die allgemeine Regel, daß mit Vergrößerung des Begriffsinhaltes der Umfang verkleinert wird und vice versa, ist, abgesehen davon, daß wir ihre Brüchigkeit auch an späterer

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Stelle dartun, nicht geeignet, ein Fundament der Denkökonomie abzugeben; im Gegenteil, mit ihrer Gleichgiltigkeit gegen alle möglichen Denkrichtungen scheint sie dieser Ökonomie zu spotten. Erst die Einsicht, daß das Zusammentreten konstitutiver Merkmale im Falle gelungener Bildung zu einer „schöpferischen Zeugung“ führt, gibt hier eine Gesetzmäßigkeit kund. – Wir fassen zusammen: der ganze Prozeß der Verwandlung des anschaulichen Begriffs in den wissenschaftlichen – sofern man ihn, der sich in mannigfachen Etappen, Wellenlinien und Durchkreuzungen der beiden Systeme abspielt, künstlich als einen einheitlichen Prozeß betrachtet, – erscheint einerseits als ein Zerfallen der lebenden Anschauung in kleinste | 210 | Partikelchen, andrerseits als ein Durchdrungenwerden der Anschauung von Kausalität. So verschwindet nach und nach überhaupt die Anschauung und es bleiben nur die kleinen Sprengstückchen übrig, die noch zum großen Teile mit unanschaulichen Wirkungsmöglichkeiten geladen sind. Damit ist aber das Band verloren gegangen, das einst diese Teilchen zum lebenden Ganzen machte. So müssen wir uns denn, wenn wir nun wieder die logische Postulierung verlassen und fragen, wie denn das Erlebnis der wissenschaftlichen Begriffe in psychologischer Wirklichkeit aussieht, nach einem neuen Mittel umschauen, das diese Brocken wieder zu einem Ganzen aufbaut. Die Antwort liegt bereit; denn wir wissen, daß die einzelnen Merkmale eines Begriffs durch Urteile zusammengehalten werden. – Das Erleben von Urteilen wäre also die Form des strengen wissenschaftlichen Begriffs und das Denken in solchen Begriffen gleichsam das ideale Gegenstück zu dem rein anschaulichen Denken. Doch wie schon die einzelnen Merkmale nicht solche Atome sind, wie sie nach den oben dargelegten wissenschaftlichen Erfordernissen sein sollten, sondern noch immer große Stücke lebender Anschauung mit sich tragen, so ist auch andrerseits das unwissenschaftliche Denken durchsetzt von Elementen wissenschaftlicher Begriffsbildung, die als ein Zeichen unserer Kultur angesehen werden können, und die von frühester Jugend an durch Erziehung und Unterricht im weitesten Sinne unserem Denken eingeimpft sind. Und so erweist es sich denn als notwendig, dem, was wir im vorigen Kapitel über den Denkverlauf gesagt haben, die letzte Korrektur zu geben. Wir hatten dort als letztes Glied der Entwicklung ein mechanisiertes (A + x) gefunden, in dessen A bereits letzte Elemente, wie hohe anschauliche Relationen, sowie Urteils- und Gefühlsakte, speziell jenes Beruhigungsgefühl auftreten. Dieses (A + x) haben wir als ein Gebilde kennen gelernt, das jederzeit bereit war, nach augenblicklichem Bedarf sich in ein schärferes | 211 | (A + x) zu verwandeln, in welchem das A durch bewußter gewordene Stücke des x sich vergrößert hatte. Es schloß sich demnach an dieses (A + x) eine Verwandlungsreihe

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in der Richtung der schärferen Anschaulichkeit an. Es wird durch Aufmerksamkeit zur Hervorbringung immer schärferer „Zukkungen“ veranlaßt. Dieses (A + x)-Gebilde ist nun tatsächlich jene Einheit, die allem Denken zu Grunde liegt. Nur kommt beim wissenschaftlichen Denken noch etwas hinzu. In derselben Art, in der im gewöhnlichen Verlauf sich im Bedarfsfälle jene oben beschriebene Reihe anschließt, kann sich nun – durch Erziehung und Unterricht, sowie Übung veranlaßt – an dasselbe (A + x) eine zweite Reihe anschließen, nämlich eine Reihe assoziativ mit dem (A + x) verbundener synthetischer bezw. apodiktischer Urteile. Und das ist die wissenschaftliche Reihe. Die Verbindung dieser Urteile mit dem (A + x) ist nun – und das ist das Wesentliche – eine weit losere, äußerlichere, künstlichere als die natürlich entstandene anschauliche. Denn während alle Formen, die das (A + x) in dieser anschaulichen Reihe annimmt, in dem (A + x) in der von uns beschriebenen Art enthalten sind, so daß sie organisch aus ihm herauswachsen können, sind diese wissenschaftlichen Urteile nur assoziativ angehängt, ist das Funktionieren dieser Reihe vom Gedächtnis, das diese Assoziationen zu bewahren hat, abhängig und – das zeigt wieder die Überlegenheit der anschaulichen Reihe – auf die Unterstützung dieser anschaulichen Reihe angewiesen. Denn wie sich diese assoziative Reihe an das ruhende (A + x) anschließt, so gibt es in jeder Lage des (A + x) auf der Verschwommenheitsskala Gelegenheiten der Assoziation; und was ein stark verschwommenes (A + x) an Urteilen assoziativ nicht zu reproduzieren vermag, das gelingt vielleicht, wegen der größeren Zahl bewußter Anhaltspunkte, wegen der reicheren Gestaltung einem weniger verschwommenen. Und das gibt uns auch den Fingerzeig, wie wir uns den Vorgang des wirklichen wissenschaftlichen Denkens vorzustellen haben. Ge- | 212 | nügen nämlich die Assoziationen, die sich an das vorhandene (A + x) knüpfen, nicht, um den Zusammenhang und das Verständnis herzustellen, erregt gerade dieser Umstand, wie wir schon gehört haben, die Aufmerksamkeit. Das (A + x) wird zur Verschärfung angeregt und sofort in ein weniger verschwommenes verwandelt. Und in dieser Gestalt bringt das (A + x) wieder mehrere neue assoziativ angehängte Urteile herbei, die das Verständnis vermitteln können. Man kann sagen: es wiederholt sich hier das Spiel, das wir bereits als Analyse kennen gelernt haben, indem sich gewisse Gruppen aus dem A aussondern. Nur schließt sich an die Analyse sofort die Synthese, indem das, was früher ein durch die Aufmerksamkeit bemerktes automatisches Hervorheben war, zu einem bewußten Konstatieren in der Form der Urteile, die sich an das verschärfte (A + x) anschließen, wird. Die Sache liegt also so, daß je nach Individualität und Erziehung beim Verständnis neben dem ruhenden (A + x) noch die damit assoziativ reproduzierten Urteile mitwirken; erst wenn das nicht genügt, tritt eine Verwandlung des

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(A + x) in der Richtung geringerer Verschwommenheit ein, welches in seiner neuen Gestalt wieder neue assoziierte Urteile ermöglicht. – Wird dieser Regreß in der anschaulichen Reihe zur Hervorbringung neuer Urteile nicht benötigt, dann tritt das als „unanschauliches Denken,“ als „Einreihung in einen bekannten logischen Zusammenhang,“ als „mechanisches Denken’ oft beschriebene Phänomen auf. In diesem Falle ergibt sich auch das oben (8. Kapitel) erwähnte Beruhigungsgefühl. Es bedeutet dieses Gefühl eben die Befriedigung darüber, daß die notwendigen Urteile sich sofort an ein ganz verschwommenes(A + x) leicht assoziieren, ohne daß ich tiefer in die anschauliche Reihe zu schärferen (A + x)-Gebilden herabsteigen muß. Daß diese Art des Denkens bei Leuten mit geübtem Gedächtnis, bei Fachgelehrten (vgl. die Enquête Galtons) oft vorkommt, ist selbstverständlich. – | 213 | Ein (A + x), eine verschwommene Vorstellung, die als Einheit erlebt wird, kann sich mithin in zwei ganz verschiedenen Richtungen aufrollen, entweder schließen sich anschauliche Vorstellungen von größerer Deutlichkeit an sie oder es werden urteilmäßig Merkmale angefügt. Zwischen dem anschaulichen und dem wissenschaftlichen Begriffserlebnis ist daher ein gleichsam kinetischer Unterschied, ein Unterschied in der Reihenentwicklung, dem eine statische, auf den Moment begrenzte Betrachtungsweise nicht gerecht werden kann, denn der Ausgangspunkt der beiden Reihen, der sich dieser Betrachtung allein bietet, ist ja nichts als die beiden gemeinsame verschwommene Vorstellung, der Kern, von dem sie nach verschiedenen Seiten ausstrahlen. – Leicht ist einzusehen, daß die Reihe des anschaulichen Begriffs nur eine Aufmerksamkeitssteigerung erfordert, also um vieles natürlicher, leichter vor sich geht als das Erinnern der angekoppelten Merkmals-Urteile; die erstere Art des Erlebnisses ist daher bei Kindern und primitiven Völkern vorzugsweise in Gebrauch. Trotz dieser Zusammenhänge wollen wir die scharfe Grenze zwischen dem anschaulichen und dem wissenschaftlichen Begriff (ähnlich Wundt, Ach, Sigwart u. a.) nicht übersehen, während wir von der Anschauung zum anschaulichen Begriff einen allmählichen Übergang konstatieren konnten. – In der Tat kann man sich kaum einen größeren Unterschied denken als den zwischen der Wahrnehmung oder auch (A + x)-Vorstellung eines Kreises, die sich als Hinleitung der Aufmerksamkeit auf die charakteristische anschauliche Relation (Gestaltqualität) und Verschwimmen von Größe, Farbe, Ort usf. des Kreises zeigen wird, einerseits und andererseits dem wissenschaftlichen Begriff des Kreises, der als Summe der Urteile „ist eine ebene, in sich geschlossene Figur, deren sämtliche Punkte von einem Mittelpunkt gleich weit abstehen“ oder in der Formel x2 + y2 = r2 erscheint. – Man kann an diesem Beispiel zugleich die eigentümliche Technik des wissenschaft- | 214 | lichen Begriffs erkennen. Daß das zu

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Definierende mittelst einer differentia specifica an das genus proximum angeschlossen wird, diese alte logische Lehre gewinnt durch die vorhergehenden Ausführungen ein neues Licht: das genus ist als der übergeordnete höhere Begriff, meist auch schon der analysiertere, der merkmalsmäßigen Durchsetzung zugänglichere, denn zu Merkmalen eignen sich ja nur (A + x)-Gebilde mit sehr eingeengtem A. Durch ein System von differentiae, die alle wieder möglichst merkmalsmäßig = eindeutig gegeben sein sollen, wird der zu definierende Begriff nun an diesen höheren analysierten Begriff synthetisch angekettet. Dieser ganze Aufwand von Kunstmitteln geschieht zwecks leichter Transportabilität des Begriffs; ähnlich wird durch ein System von Hilfslinien eine Zeichnung zur Übertragung geeignet gemacht. Die Betrachtung einiger Definitionen zeigt freilich bald, wie wenige reine „Merkmale“ dabei verwendet werden, d. h. Eigenschaften, die keine weitere Definition, nur den Rekurs auf die eindeutige im technischen Sinn höchst verschwommene und dadurch in einem Punkt höchst klare Anschauung zulassen. – Dies führt uns zu der Erkenntnis, daß die meisten Begriffe, mit denen wir wie mit wissenschaftlichen umgehen, eigentlich nur den Namen von „gemischten“ verdienen, indem sie nämlich gleichsam aus einem anschaulich-begrifflichen Block und aus einem Überbau von wissenschaftlichen, echten Merkmalen bestehen. – Es kommt eben in den Wissenschaften nie auf eine Totalerkenntnis von Gegenständen, sondern nur auf die präzise Erfassung bestimmter Beziehungen an. Nehmen wir den juristischen Begriff der „Ehe“ nach österreichischem Recht. Die hier vorkommenden Begriffe „Mann, Geschlecht, Lebensgemeinschaft“ präzis zu definieren, liegt ganz außerhalb der Absicht des Gesetzgebers. Ihm handelt es sich um die Abgrenzung der Ehe von andern eheähnlichen Verhältnissen; nur in dieser Richtung wird Genauigkeit, Eindeutigkeit erfordert, im übrigen werden die Worte im Sinne, des Alltags- | 215 | lebens genommen. – Wird etwa das „Postregal“ als „die der Postanstalt verliehene Alleinbefugnis zur Beförderung von Sachen oder Personen“ gesetzlich festgelegt, so können allerdings dadurch, daß anschauliche Begriffe wie „Sache“, „Person“ mitaufgenommen wurden, Zweifel entstehen, ob etwa Elektrizität als eine „Sache“ oder ob eine Mißgeburt als eine „Person“ (vgl. die diesbezüglichen Zweifel bei Locke 〈1913〉, III 〈…〉) aufzufassen sei. Wie kommt es, daß wir trotzdem den Begriff als einen exakten empfinden, daß er über das, was er nennt, keinen Zweifel aufkommen zu lassen scheint? – Weil dieser Begriff (und mit ihm alle gemischten Begriffe der Wissenschaft) so eingerichtet ist, daß er gerade dort, wo praktischerweise ein Zweifel möglich ist, eindeutig merkmalsmäßig bestimmt ist, daß er also seinen (A + x)-Unterbau nur in jenen Gegenden ungek-

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lärt ruhen läßt, in denen nur unnütze Haarspalterei eine Bewegung hervorrufen könnte. So verschieden also die Struktur der (A + x)-Gebilde und der wissenschaftlichen Begriffe ist: im wirklichen Denken greifen sie in einander ein, lösen einander ab, unterstützen einander. Vergleichen wir damit nur die Entwicklung, die unsere eigenen neugewonnenen Begriffe durchmachen. Unsere ersten Begriffe z. B. von „Aeroplan“ sind wohl ganz krasse Fälle von (A + x)-Gebilden, durch Deckung erzeugte verschwommene Vorstellungen, in denen nur einige Relationen und Akte (Flugbewegung, Vogelgestalt, gewisse Freudegefühle) klar sind. – Durch irgend eine Lektüre erfahren wir das Merkmal „möglichst leichter Motor“. Aber ich weiß ja nicht, was das (wissenschaftlich) ein Motor ist. Wohl aber, was ihn vor den Dingen auszeichnet, mit denen er am ehesten verwechselt werden kann usf. Das 8. Kapitel wäre also noch dahin zu bereichern, daß neben den unterschiedlichen Verschwimmungsformen der teils ruhenden, teils zu zuckender Bewegung aufgestörten (A + x)-Gebilde, von denen einige noch deutliche Qualitäten, andere | 216 | nur Relationen, Urteile, Gefühle oder gar nur „Beruhigungsgefühle“, „Einstellungen“ im Brennpunkt der Aufmerksamkeit haben, die überdies noch zu Gunsten einer Hierarchie im Satze oder Satzgefüge (Gedanken) einigen wenigen Aufmerksamkeitskulminationspunkten gegenüber fast ganz verschwimmen: daß neben all diesen Formen nun noch einzelne Merkmale oder von Merkmalen umsäumte Komplexe auftreten und diesem Verschwommenheitsgemenge an erwünschten Punkten die nötige Transportabilität und Eindeutigkeit verleihen. Kompliziert wird diese Situation dadurch, daß die Sprache kein Mittel hat, um anzudeuten, ob ein Wort im Sinne des anschaulichen Begriffs oder im Sinne des wissenschaftlich definierten gebraucht wird. Nur der Zusammenhang ergibt das und insofern kann man sagen, daß die Einstellung einen bedeutenden Einfluß auf die Auffassung einer Rede hat. Wenn jemand in einer Situation, in der man von ihm etwa eine Liebeserklärung erwarten würde, ohne Einleitung ein mathematisches Problem zu erörtern beginnt, so wird man ihn für die erste Zeit schon deshalb nicht verstehen, weil man jeden seiner Sätze mit einem recht intensiv anschaulichen (A + x)-Bild zu begleiten die Intention hat, gleichsam also in der Seele das Magazin der Merkmale verschlossen hält. – Lese ich in einem Gerichtssaalbericht den Satz: „Ehe der Mörder das Haus betrat, hatte er einen Garten zu durchschreiten“, so realisiere ich das Wort „Garten“ wissenschaftlich durch die merkmalsmäßige Bestimmtheit einer besondern Art der Bodenbepflanzung (wobei ich diese Merkmale gleich mit der Tat in Beziehung setze) jedenfalls ganz anders, als wenn dasselbe Wort in einem Gedichte steht

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und in mir einen recht unbestimmten, individuellen, aber reichen anschaulichen Komplex in Verbindung mit angenehmen Gefühlen, Erholungen, Verstecktheiten usf. auslöst. – Über diese beiden verschiedenen Arten, denselben Gegenstand zu sehen, spricht Goethe in den Annalen (letzter Absatz des Jahres 1805) mit unübertrefflicher | 217 | Klarheit; der „künstlerische Blick“ wird von dem des „Naturforschers“ geschieden.18 – Das Wort „Wasser“ in einem Physikbuch soll nichts als H20 und die kausal damit verknüpften Eigenschaften bedeuten. Das Gedicht Goethes „Der Fischer“ appelliert hingegen an das anschauliche (A + x)-Wasser, an eine vielleicht unrichtige, unexakte, bei verschiedenen Menschen ganz verschiedene, jedenfalls aber anschaulich-verschwommene Vorstellung, in der etwa ein gewisses „Glitzern“ die Hauptaufmerksamkeit auf sich ziehen wird, obwohl dieses Glitzern, als wissenschaftliches Merkmal des Wassers gefaßt, unrichtig wäre. (Vgl. 〈Mauthner 1906〉) Akut wird die Frage der Doppelseitigkeit der Worte (als anschauliche und wissenschaftliche Begriffe) bei gewissen Begriffen wie dem der „Irrationalzahl“, der „mathematischen Unendlichkeit“, deren wissenschaftlich exakter Gebrauch wohlbegründet ist, deren anschauliches Denken aber nicht gelingt. Solche Begriffe können in Anlehnung an Marty als „uneigentliche“ bezeichnet werden. Ihre nur indirekte Vorstellbarkeit beruht darauf, daß die sie bezeichnenden Worte zwei Bedeutungen haben, eine merkmalsmäßige exakte und eine unexakte (A + x)-Vorstellung, die eventuell das wissenschaftliche Denken unterstützt, nicht aber unterstützen muß und jedenfalls nicht das leisten kann, was die Merkmale leisten. Wenn man diese beiden Bedeutungen konfundiert, wozu freilich infolge der gleichen Wortbezeichnung die Gefahr naheliegt, so gelangt man zu der Antinomie von P. du Bois Reymond 〈…〉, in der es für den „Idealisten“ eine scharfe Grenze eines endlosen Dezimalbruches gibt, weil er „die vom Vorhandensein menschlicher Gehirne unabhängig gedachte Beschaffenheit zu Grunde legt“, und ebensogut für den „Empiristen“ nicht gibt, der die Grenzen des Wahrnehmbaren nicht überschreiten will 〈vgl. Du Bois-Reymond 1890〉. Die Auflösung der Antinomie ist unserer Ansicht nach die, daß der Empirist fälschlich die | 218 | anschauliche (A + x)-Gestalt für etwas, was doch nur als Merkmalssynthese anzutreffen ist, fordert, während der Idealist übersieht, daß doch auch die Merkmale nur destillierte, gesteigerte, gereinigte (A + x)-Gebilde, also durchaus nicht „vom menschlichen Gehirn unabhängig“ sind. Gegen die

|| 18 Siehe dazu Goethe 1892, S. 244f.: „Jene Art des Anschauens gewährt der künstlerische Blick, diese eignet dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar anfangs nicht ohne Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, daß, indem jener Sinn mich nach und nach zu verlassen drohte, dieser sich in Aug’ und Geist desto kräftiger entwickelte.“

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empiristische Ansicht, wie sie etwa Locke mit seinem negativen Vorstellen der Unendlichkeit vertrat, wendet sich treffend Kerry 〈…〉: „Aber es macht ja auch keineswegs die Bestimmung einer Anzahl aus, da〈ss〉 wir uns in ihre Betrachtung, wie in die eines Kunstwerkes versenken; nur gewisse 〈Urtheile〉 über Anzahlen zu fällen ist unsere Absicht, und dieselben brauchen daher nur soweit vorgestellt zu werden, um diese Urt〈h〉eile zu ermöglichen.“ 〈Kerry 1890, S. 40〉 – So ist auch der Begriff des „Tausendecks“ mit aller nur wünschenswerten Sicherheit durch das zahlenmäßige Merkmal „Tausend“ gefaßt, welches durch die Einsicht in die gleichmäßige, in jeder Höhe des Stellenwerts einförmig fortschreitende Plus-Minus-Struktur der Zahlenreihe gegeben ist. Hierzu ist die Anschauung eines Tausendecks nicht erforderlich. Allerdings kann ein verschwommenes (A + x) dieses Tausendecks oder wenigstens eines Segments davon, eines kreisähnlichen, gebrochenen, verworrenen Linienzuges auftreten; aber es wäre verfehlt, aus diesem den wissenschaftlichen Begriff des Tausendecks ableiten zu wollen. (Nebenbei bemerkt: ein solches (A + x) „Tausendeck“ ist ein gutes Beispiel für ein „narkotisiertes“ (A + x), denn, da es die richtige, wirklich tausendeckige Zuckung nicht machen kann, wird es sich nicht so leicht zu einer Zuckung überhaupt entschließen und bleibt daher auch bei höchster Aufmerksamkeit höchstverschwommen.) Aber ebenso unrichtig ist es auch, diese auftretenden (A + x)-Gebilde und die Ableitung der Merkmale aus der Anschauung ganz zu übersehen, wie es etwa Natorp tut 〈Natorp 1910, S. 182〉. Daß die irrationale Zahl der Anschauung unfaßbar ist, daß es in der Realität | 219 | keinen geometrischen Punkt gibt, beweist noch nicht, daß diese Merkmale nicht durch Abstraktion (Verschwommenheit) in Verbindung mit Notwendigkeitsurteilen aus der Anschauung hervorgegangen sind. Gerade dies geht aus den Ausführungen von Kerry hervor, der die irrationale Strecke daraus ableitet, daß man beim „Grenzübergang“ statt des Oberbegriffs „rationale Strecke“ den der „Strecke überhaupt“ nahm. Er sagt: „Wird der Kreis als Grenze einer Polygonreihe von bekannter Beschaffenheit angesehen, so genügt nicht der Begriff jener Polygone, sondern es liegt der den Polygonen und dem Kreise übergeordnete Begriff der Linie 〈überhaupt〉 der Grenzbehauptung zu Grunde.“ 〈Kerry 1890, S. 158〉 Und daß dieser Übergang eben durch die Verschwommenheit bewirkt wird, zeigt sich, wenn auch nicht wörtlich, doch dem Sinne nach in andern Sätzen desselben Autors, z. B.: „Und es lässt sich jetzt einsehen19, woran es lag, dass die begriffliche Verschiedenheit, welche in unserem Beispiele zwischen den Reihengliedern und ihrer Grenze bestand, der Grenzbeziehung selbst nichts verschlug; es lag dies daran, dass jene Verschiedenheit gering genug || 19 EA: übersehen

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war, um eine entsprechend geringe Variation des Grenzmerkmals zuzulassen – eine Variation, durch welche die Vergleichbarkeit der Reihenglieder 〈mit einander〉20 nicht gestört und diejenige der Reihenglieder mit ihrer Grenze neu eingeführt wurde.“ 〈Kerry 1890, S. 140〉 – Ein anderes Beispiel: der exakte geometrische Begriff der Fläche kann gewiß in keiner Anschauung isoliert vorgestellt werden. Es kann aber, wenn man einen Holzwürfel sieht, die zugewendete Fläche in scharfer Aufmerksamkeit stehen, so daß der ganze Würfel dahinter, das Material, verschwimmt und nur gleichsam die Oberfläche des Würfels, die unzweideutige Relation seiner Begrenzung nach außen im A des (A + x) bleibt: womit das allen wissenschaftlichen Anforderungen genügende Merkmal einer Würfelfläche in der Einengung auf diese einzige Relation fixiert ist. Damit soll einer empiristischen Geometrie nicht das Wort geredet werden, die den Punkt etwa als „materiellen, unteil- | 220 | baren Körper“ auffaßt. Nein, der Punkt wird nur aus so einem materiellen, unteilbaren Körper abgeleitet, indem eben das Materielle und das Körpersein durch Verschwommenheit verschwinden. Solche Punkte gibt es nicht. Das geben wir für die objektive Welt etwa zu. Aber ganz gewiß gibt es für die Aufmerksamkeitskonzentrierung solche „Punkte“, und derartige Schöpfungen der Aufmerksamkeit, Umformungen des Gegebenen in ihrer höchsten Form sind eben alle wissenschaftlichen Merkmale. – Eine Kombination solcher Merkmale, unter dem Gesichtspunkt der Kausalität bezw. Abhängigkeit, Determiniertheit, zusammengefaßt, macht den wissenschaftlichen Begriff. Dieser kann sich nun, nach gelungener Synthese, ungefähr auf dieselben Gegenstände beziehen, deren Eindrücke ein (A + x) nachbildet. Der Umfang eines anschaulichen und eines wissenschaftlichen Begriffs kann also (von einigen Grenzkorrekturen abgesehen) zusammenfallen, während ihr Inhalt qualitativ und quantitativ weit auseinandergeht. Der alte Satz der Logik, daß bei Umfangserweiterung der Inhalt eines Begriffs abnimmt und umgekehrt, wird damit widerlegt. Ebenso erscheint nun die Haltlosigkeit des Arguments nachgewiesen, mit dem die Theoretiker des unanschaulichen Denkens den verschwommenen Anschauungen jede Bedeutung absprechen. Sie weisen nämlich darauf hin, daß die höchsten Begriffe höchst verschwommen, also arm und unbrauchbar sein müßten. Aber es steht ja gar nichts im Wege, daß einem solchen (A + x) auf seinem Wege zu höheren Graden hin ein synthetisches Merkmalsgebilde an die Seite tritt und die erforderlichen Urteilsmöglichkeiten beistellt. – Wir stehen also nicht an, eine gewisse Polarität oder Ambivalenz der Sprache zu konstatieren, indem viele ihrer Worte im wissenschaftlichen oder unwis|| 20 EA: stillschweigend ‚emendiert‘

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senschaftlichen Sinne braucht werden können (vgl. die Statuierung von termini technici) und selbstverständlich auch in einem größeren oder | 221 | geringem Abstand von den beiden Polen, der sich eben aus dem Bestand der „gemischten Begriffe“ von selbst ergibt. – Diese wichtige Tatsache sei an einem weiteren Beispiel gezeigt. Das Wort „Vater“ enthält, wissenschaftlich genommen, nur ein Merkmal, das des genitor, parens, also „dessen, der erzeugt hat“. Mit der Absicht auf diesen Sinn wird dieses Wort etwa in der Rechtsregel „pater est, quem nuptiae demonstrant“ gebraucht. Freilich könnte man fragen, ob das Merkmal „der, welcher erzeugt hat“ nicht selbst wieder ein anschaulicher Begriff ist. Doch klärt sich dies, wenn man findet, daß in dieser Eigenschaft merkmalsmäßig genau derjenige festgehalten ist, der aktiv (als Erzeugender) an dieser nicht genau definierbaren Betätigung des Erzeugens teilnimmt. So besteht der exakte Begriff „Vater“ aus dem nicht wissenschaftlichen Komplex „Erzeugen“ und dem präzisen Merkmal als wissenschaftlichen Oberbau: „aktiv dabei tätig“, dem eine eindeutige Relation mit sehr breitem verschwommenem Fundament entspricht, und wodurch die wünschenswerte Abgrenzung gegen die Begriffe: „empfangen“ oder „gezeugt“ bewerkstelligt ist. Dieses Merkmal des „Aktiven“ ist als einfache Relation transportabel und mit ihm der ganze Begriff, abgesehen von den Fehlerquellen, die im nicht durchanalysierten Komplex „Zeugen“ liegen und etwa alle Probleme der Urzeugung oder einer genauen anschaulichen Deskriptive mit ihrer „Unendlichkeit von Merkmalen“ enthalten. Neben diesem wissenschaftlichen Begriff gibt es den anschaulichen, in dessen A gewiß Gefühlsmomente wie „Milde, Güte,“ Urteile wie „Größer sein, älter sein“ und daneben noch manche verschwommene Anschauungsreste je nach den Individualerlebnissen sich befinden. – Man sieht, daß gerade der wissenschaftliche Inhalt des Begriffs, das „Erzeugthaben“, als ein verborgenes, der Vergangenheit angehöriges, kausales Merkmal dem (A + x) Vater entbehrlich ist, denn im anschaulichen Erlebnis „Vater“ steht es nicht. – Tritt nun das Wort „Vater“ | 222 | auf, so wird es wohl als anschaulicher Begriff erlebt, aber auch das wissenschaftliche Merkmal ist, wo nicht anschaulich, doch mindestens durch Gedächtnisassoziation in Bereitschaft, – ja wenn die Rede den Charakter wissenschaftlicher Trockenheit annimmt, nüchtern wird, spielt es die Hauptrolle. So kommt es, daß bei der Beobachtung des wirklichen Denkens die Forscher bald Anschauliches, bald Unanschauliches zu erleben glaubten; namentlich die Gelehrten (Enquête Galtons) sahen sich natürlich in merkmalsmäßigen Bahnen. Es ist möglich, daß die Verknüpfung eines Teiles des anschaulichen Komplexes mit dem, was wir oben als das Merkmal „Vater“ (Erzeugt-habender) bezeichnet haben, so regelmäßig erscheint, daß dieser Teil des anschaulichen Komplexes, falls seine Destillierung in Merkmale gelingt, in den Rang eines

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konsekutiven Merkmals aufrückt. – Nehmen wir an, Freud hätte erwiesen, daß gewisse den Vater gegen den Sohn hin umgebende Stimmungen z. B. das Herrschen, Imponieren, Gehaßt-Werden, notwendig mit dem „Vater-sein“ Zusammenhängen. Dann wird das kausale Urteil „der Vater beherrscht immer, notwendigerweise den Sohn“ als neues Merkmal dem Merkmal des „Erzeugthabens“ angeschlossen. Mit dem wissenschaftlichen Begriff „Vater“ umfasse ich also jezt einen reicheren Inhalt (auch hier Inhaltserweiterung ohne Umfangsverengung), ich habe mit dem einen Merkmal das zweite notwendige (konsekutive) in dem Hörer erregt. Diese neue Situation, die den Grundtypus eines wissenschaftlichen Fortschritts darstellt, entspricht ebensosehr der Ökonomik des Denkens wie dem Erklärungsbedürfnis des Menschen. Denn erfahre ich z. B. jetzt, daß ein Vater seinen Sohn psychisch beherrscht, so steht das aus dem Begriff einfach herauszuziehende Kausalurteil bereit: „Er beherrscht ihn, weil er sein Vater ist“. Aus der oben beschriebenen Polarität der Sprache entspringt das verschiedenartige Verhältnis der Sprache zum wissenschaftlichen und zum anschaulichen Begriff. – Während | 223 | nämlich der wissenschaftliche Begriff in seinen Merkmalen klar und fest aufgebaut ist, sich daher leicht von der Sprache ganz ablösen kann, ist den (A + x)-Gebilden der Name nicht ganz so unentbehrlich. Viele anschauliche Begriffe, namentlich im dichterischen d. h. anschaulichsten Gebrauch, stützen sich auf den Namen, und das kann uns nicht Wunder nehmen, wenn wir das Wesen dieser (A + x)-Gebilde in einer scharfen Relation mit verschwommenen Fundamenten erkannt haben. Oft ist ja der Name nichts anderes als dieselbe Relation, nur in einem ganz anderen, im akustischen Material nachgeformt. Das Wort „Krone“ etwa hat in seinem „O“ die Rundung und in seinem „R“ etwas wie die Zacken des bezeichneten Gegenstandes, man könnte es ein Symbol der Sache nennen, wenn man sich die oben von uns gegebene Beschreibung des Symbols vors Auge ruft. – Daß es also die anschauliche Reproduktion unterstützt, ist offenbar. Man kennt unter dem Namen „Onomatopoesie“ längst diese Eigenschaft der Sprache, doch hat man meist Onomatopoesie nur die Nachahmung von Qualitäten, also da es sich um ein akustisches Material handelt, von Geräuschen genannt (Worte wie „zischen“, „heisa“). Der Ausdruck ist aber viel zu eng. Nun da wir erkannt haben, daß das charakterische A der (A + x)-Gebilde nur selten im Qualitativen, meist in einer Relation liegt, hindert nichts, eine Nachahmung der Gegenstände (d. h. eben von Relationen) durch die Sprache in viel durchgreifenderem Maße zu erkennen. Ja, es zeigt sich, daß nur wenige Worte eines solchen relationsnachbildenden Elements

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ganz entraten und das bekannte Sonett Rimbauds21 von der malenden Wirkung der Vokale (seine Schule ist darin viel weiter gegangen, hat ziemlich pedantische Ausdrucksregeln für jeden Konsonanten und Vokal statuieren wollen) gewinnt eine neue Beleuchtung. Freilich scheint es verfrüht, hier schon feste Gesetze ableiten zu wollen. Wir möchten auch nichts mehr als darauf hinweisen, daß dieselben Relationen mit verschwommenen Fundamenten, die in unseren | 224 | Vorstellungen der Dinge, in den (A + x)-Gebilden die Hauptrolle spielen, auch als in der Sprache ausgeprägt erkannt zu werden verdienen, und zwar nicht nur in Worten, auch in Wortfolge, Wortstellung, im Rhythmus eines Satzes, in den gegenseitigen Beziehungen langer und kurzer, stoßweiser und periodisierter Sätze. – Da das Worterlebnis so innig bedeutungsmäßig mit dem Gegenstand zusammenhängt, so erscheint es nun von diesem neuen Gesichtspunkt aus erklärlich, daß unter den von uns so genannten Surrogat-(A + x) oft auch Wortklänge und Wortbilder eine Rolle spielen. Ganz anders beim wissenschaftlichen Begriff. Habe ich einmal den Begriff „zwei“ merkmalsmäßig definiert, so kann die Bezeichnung dieses nun gleichsam von allen irdischen Irrtümern losgelösten, in sich selbst beruhenden, überallhin ohne Änderung seines Wesens transportablen Gebildes nichts Wesentliches mehr hinzufügen. Ob ich das so definierete „two“ „deux“ oder „zwei“ nenne, ist einerlei. Die Merkmale führen gleichsam ein Leben in einer ganz andern, rein logischen Welt; man könnte von diesem Punkt aus, also durch den gut aufgefaßten Unterschied von wissenschaftlichem und unwissenschaftlichem Begriff die Platonische Ideenlehre erläutern. Das Streben des Platonischen Sokrates zur scharfen Definition wäre mithin ein Streben nach unveränderlicher, merkmalsmäßiger Auffassung der Dinge im Gegensatz zu allem Fließend-Anschaulichen. Zwischen der wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Art des Ausdrucks (der poetische Ausdruck ist gewissermaßen noch eine Steigerung nach der Seite des Unwissenschaftlichen) ist der Unterschied unverkennbar. – Das alte Problem von Form und Inhalt im Dichterischen wäre auf Grund der vorigen Überlegungen dahin zu lösen, daß es diesen Unterschied gar nicht gibt, indem jedes Partikelchen der als Form fälschlich so bezeichneten Wortklänge, Rhythmen usf. eigentlich mit zum Inhalt gehört, vermöge der in ihm ausgedrückten Rela- | 225 | tionen die (A + x)-Gebilde in der Richtung dieser Relationen modifiziert. – Dagegen ist im wissenschaftlichen Denken und Ausdruck Form wirklich etwas vom Inhalt ganz Ablösbares. Wissenschaftliche Werke können restlos || 21 Vgl. Rimbauds Sonett „Voyelles“.

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übersetzt werden, während poetische nur nachgedichtet werden können. Freilich löst sich einer behutsam-redlichen Betrachtung noch mancher Teil dieser radikalen Behauptung, wie sie etwa R. Borchardt in seinem „Gespräch über Formen“ mit vielem Recht vertritt, in Nichts auf 〈Borchardt 1905〉. Auch poetische Werke können nämlich teilweise übertragen werden, das Dogma von der vollständigen Unübersetzbarkeit ist irrig. Wenn etwa Flaubert in einer Schilderung gerade durch den Tonfall der Sätze den Eindruck des Friedens erzwingt, wenn er einigen langen Sätzen einen abschließenden knappen mit „et“ anfügt, so kann gerade der architektonische Reiz der Proportionen in der Übersetzung gut nachgeahmt werden. Ferner gehen auch gerade die akustischen Relationen der Worte, deren inhaltliche symbolhafte Relevanz wir oben dargestellt haben, in die fremde Sprache über, wenn der Übersetzer an wichtigen Stellen auf den Klang sorgsam Bedacht nimmt und ihm im Notfall vielleicht sogar die Präzision der Bedeutung opfert, um nur die akustische Relation zu bewahren. So wurde in einer deutschen Laforgue-Übersetzung „éclater“ mit „zerknattern“ wiedergegeben, obwohl das dem Sinne nach offenbar nicht korrekt ist, und der Stimmungscharakter der betreffenden Stelle scheint gerade durch diese rein phonetische Übertragung gerettet zu sein. – Man muß freilich gestehen, daß nur Partikel des Originals durch solche Kunststücke in die fremde Sprache übergehen können. Alles andere geht verloren. Denn für den dichterischen Gebrauch steht der Satz fest: Es gibt keine Synonyma. Nicht einmal im Gebrauch derselben Sprache. „Töff-Töff“ und „Automobil“ mögen merkmalsmäßig denselben Gegenstand bezeichnen, als anschauliche Begriffe sind sie verschieden, lenken die Aufmerksamkeit und die Stimmung in andere Richtungen. – Während man | 226 | ferner nicht nur die sogenannte Form, auch den Inhalt eines dichterischen Werkes stark angreift, wenn man das Werk nacherzählt, steht nichts im Wege, wissenschaftliche Gedankengänge in völlig andere Worte zu kleiden. Die Gedanken Keplers, Newtons etwa werden von den wenigsten aus den Originalschriften erlernt, wissenschaftliche Bücher der Meister werden überhaupt wenig gelesen, aber das hat seine Berechtigung, denn die Lehren der Meister können in den Büchern der Schüler ohne Veränderung überliefert werden. – Die Meinung Goethes, die er in einem Brief an Jacobi über Spinoza äußert, daß man philosophische Systeme nicht mit andern Worten nacherzählen könne, läßt sich nur aus der Überschätzung ästhetischer Werte und Nebenwirkungen erklären. Um so richtiger behauptet Goethe an andern Stellen die Unübersetzbarkeit der nichtwissenschaftlichen Begriffe z. B. in der „Italienischen Reise“ (5. Oktober 1786, letzter Absatz). In dem Stücke „Moritz als Etymolog“ sind gar Gedanken ausgedrückt, die mit dem oben dargestellten Zusammenhang von Sprache und Gegenstand nahe übereinstimmen, z. B.: „Er (Moritz) hat ein Verstandes- und

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Empfindungsalphabet erfunden, wodurch er zeigt, daß die Buchstaben nicht willkürlich, sondern in der menschlichen Natur gegründet sind und alle gewissen Regionen des inneren Sinnes angehören, welchen sie denn auch, ausgesprochen, ausdrücken. Nun lassen sich nach diesem Alphabet die Sprachen beurt〈h〉eilen, und da findet sich, daß alle Völker versucht haben, sich dem innern Sinn gemäß auszudrücken, alle sind aber durch Willkür und Zufall vom rechten Wege abgeleitet worden. 〈Demzufolge〉 suchen wir in den Sprachen die Worte auf, die am glücklichsten getroffen sind, bald hat es die eine, bald〈hat’s〉 die andre; dann verändern wir die Worte, bis sie uns recht dünken, machen neue usw. Ja wenn wir recht spielen wollen, machen wir Namen für Menschen, untersuchen, ob diesem oder jenem sein Name gehöre usw. usw.“ (〈Goethe 1903, S. 184; vgl.〉 auch 〈Borchardt 1905,〉 S. 22ff.). „〈T〉äglich und in jeder Stunde ruft das heilige Leben, unsere ver- | 227 | götterte Mutter uns zu, daß es keine Formen gibt, die nicht an sich Inhalt wären. 〈…〉 〈E〉s kommt auf den „Sinn“ nicht an; es kommt nicht an auf das, was bleibt, wenn die Formen zerbrochen sind.“ – Diese Sätze gelten, wenn man den wissenschaftlichen Begriff ausnimmt, durchaus. Nur dieser ist (und auch wieder durchaus) formfrei. – Den innigen Zusammenhang von Form und Inhalt als Ideal dichterischen Stils hebt Flaubert in der Vorrede zu den Werken seines Freundes Bouilhet hervor: „Voila un style, qui va droit au but, où l’on ne sent pas l’auteur; le mot disparaît dans la clairté même de l’idée, ou plutôt, se collant dessus, ne l’embarasse dans aucun de ses mouvements, et se prête à l’action.“ 〈Flaubert 1874, S. 23f.〉 Beinahe dieselben Worte (se collant dessus) finden wir bei Grimm „Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen“: „Eine entschiedene Mundart hätten wir gerne beibehalten. Hätte es überall geschehen können, so würde die Erzählung ohne Zweifel gewonnen haben. Es ist hier ein Fall, wo die erlangte Bildung, Feinheit und Kunst der Sprache zuschanden wird, und man fühlt, daß eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem übrigen sein mag, heller und durchsichtiger, aber auch geschmackloser geworden ist und nicht mehr so fest dem Kerne sich anschließt.“ 〈Grimm 1819, S. XVIf.〉22 Noch weiter geht Flaubert in den „Mémoires d’un fou“, wo er die Begeisterung eines Knaben für die Werke Lord By|| 22 Es konnte nicht eruiert werden, auf welche Ausgabe der Grimm’schen Hausmärchen Brod und Weltsch für dieses Zitat zurückgriffen. In der 2. vermehrten und verbesserten Auflage lautet die Stelle folgendermaßen: „Eine entschiedene Mundart haben wir gern beibehalten. Hätte es überall geschehen können, so würde die Erzählung ohne Zweifel gewonnen haben. Es ist hier ein Fall, wo die erlangte Bildung, Feinheit, und Kunst der Sprache zu Schanden wird und man fühlt, daß eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem übrigen seyn mag, heller und durchsichtiger, aber auch schmackloser geworden, und nicht mehr so fest an den Kern sich schließe.“

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rons nicht energischer auszudrücken weiß als durch die offenbar als äußerstes Paradox gemeinten Worte: „Die Plattheit der französischen Übersetzung versank vor den bloßen Gedanken, als ob diese, noch der Worte entkleidet, ihre persönliche Art bewahrt hätten.“ 〈Flaubert 1907†〉23 Es scheint uns kaum übersehbar, wieviel Wirrwarr in ästhetischen Fragen dadurch entstanden ist, daß man die auf den wissenschaftlichen und auf den anschaulichen Begriff bezüglichen, einander diametral entgegengerichteten Gesetze vermischte, statt hier einmal den seltenen Fall, in dem die Natur der Dinge selbst statt des sonst so häufigen nüancenreichen | 228 | Übergangs eine deutliche Kluft aufweist, zu einer reinlichen Scheidung zweier Methoden, zweier Welten zu nutzen. Ja, eine ganze Stilrichtung unserer Zeit ist dadurch charakterisiert, daß sie diese Vermischung für Schönheit hält und wissenschaftliche, soziologische, ästhetische, philosophische Fragen in blütenreicher, witzelnd-polemischer, aphoristischer Sprache behandelt; diese zwitterhafte Richtung hat an anderer Stelle als „Essaismus“24 schon eine Zurückweisung erfahren. Die eingehendere Verfolgung aller Fragen, die sich der Ästhetik nähern, bleibt einer anderen Arbeit Vorbehalten. – Das Verhältnis der Sprache zum Begriff hat noch eine zweite Seite. Der wissenschaftliche Begriff, der vom Wort keine Färbung annimmt, da er in seinen Merkmalen endgiltig erstarrt ist, bedarf allerdings nicht eines bestimmten Wortes, ist polyglott – andererseits aber ist er durch das Wort, das ihn bezeichnet, voll ausgeschöpft und eindeutig bestimmt. Er führt also nur insofern eine Sonderexistenz, als er verschiedene Worte annehmen kann, aber es besteht kein Bedürfnis, ihm eine Bedeutung jenseits des durch Worte überhaupt Ausdrückbaren zuzugestehen. – Anders der unwissenschaftliche, namentlich der dichterische Begriff. Er stützt sich auf das Wort, er zieht es gleichsam zur Mithilfe heran bei seiner schweren Aufgabe, die unendliche Fülle des Anschaulichen wiederzugeben. Aber selbst mit dieser Unterstützung ist er zu schwach und vieles von dem, was er mitteilen möchte, bleibt ungesagt. Vgl. dazu Ottokar Fischer: Das Unnennbare (Fischer 1910). Noch einmal sei Goethes „Italienische Reise“ zitiert (2. Jänner 1787). „Man mag zu Gunsten einer schriftlichen und mündlichen Überlieferung sagen, was man will, in den wenigsten Fällen ist sie hinreichend, denn den eigentlichen Charakter irgend eines Wesens kann sie doch nicht mitteilen, selbst nicht in geistigen Dingen. Hat man aber erst einen sichern Blick getan, dann mag man gerne lesen und hören, denn das schließt sich an den lebendigen Eindruck; nun kann | 229 | man denken und beurteilen.“

|| 23 Brod hat Flauberts Roman in der Neuen Freien Presse vom 16. Februar 1908 rezensiert. 24 Siehe Fußnote 2.

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〈Goethe 1903, S. 243〉 Auch diese Tatsache findet in unserer Theorie Erklärung. – Es gehört eben durchaus nicht zum Wesen der (A + x)-Gebilde, benannt zu sein. Zahlreiche Deckungserlebnisse spielen in unserm Innern ineinander, ohne überhaupt ein so hohes Stadium von Aufmerksamkeit zu erlangen, daß sie sich von andern klar sondern können (vgl. 7. Kapitel, „Begriffsembryonen“). Dennoch beeinflußt dies „Uneigentlich-Bewußte“ unsern geistigen Zustand auf das Nachdrücklichste. Es gibt also ein Denken ohne Worte, wie dies Preyer 〈…〉 für das Kindesalter in den Kapiteln „Das Gedächtnis ohne Worte“, „Die Begriffsbildung ohne Worte“, „Die Logik ohne Worte“ beobachtet hat 〈Preyer 1884〉. – Ein Beweis im Großen scheint ferner der Traum zu sein. Man kann im Halbschlaf oft noch beobachten, wie man Denkketten weiter spinnt, nur treten jetzt die bedeutungsgebenden (A + x)-Gebilde, da die äußeren Sinne ruhen, intensiver hervor. Der Vermittlung durch Worte bedarf es nicht mehr. Man wende nicht ein, daß man oft auch Worte träumt. Gerade die Leichtigkeit, mit der der Traum Worterlebnisse und Sinnliches vermischt, scheint die nahe Verwandschaft dieser beiden Sphären zu beweisen. Auch der Einwand, daß man Individualerlebnisse träumt, die als solche anschaulich sind, nicht in Begriffe (Worte) gekleidet, ist hinfällig. Man träumt oft abstrakte Gedankenketten (vgl. hierzu Freud 〈1900〉) und ihre Repräsentation geschieht ganz anschaulich, also begrifflich und doch ohne Worte, durch die mannigfachsten Hilfsmittel. Daß abstraktes Denken oft in anschaulichen Symbolen ohne Worte vor sich geht, haben nachgewiesen: Silberer (〈Silberer 1910〉, S. 605) und Dr. Alfred Robitschek „Symbolisches Denken in der chemischen Forschung“ (〈Robitschek 1912〉). – Es kann wohl nicht klarer gezeigt werden, daß das Denken anschaulich, in anschaulichen Begriffen, vor sich geht. Entgegen der oft ausgesprochenen Ansicht, daß in Worten und unanschau-| 230 | lichen Merkmalen gedacht wird, wobei die Bilder nur begleitend auf treten, zeigt es sich, daß vielmehr die (zum Teil uneigentlich bewußten) Bewegungen dieser Bilder den Denkverlauf ausmachen, den nur zu einem geringen Teil Worte und wissenschaftliche Begriffe begleiten. Schon für sich selbst kann man nur einen kleinen Ausschnitt von dem, was man denkt, durch bereits geprägte Worte und in wissenschaftlichen Merkmalen ausdrücken. Es „fehlen eben die Worte“, wie eine oft gebrauchte Redensart sagt. Im Verkehr mit andern schrumpft dieser Teil noch mehr zusammen, da er eine gemeinsame gleiche Anschaulichkeit voraussetzt; denn nur in diesem Falle sind (A + x)-Gebilde übertragbar, im Falle langer Freundschaft etwa. Greift man aber zur merkmalsmäßigen Zergliederung, versucht man dem andern eine Arabeske etwa dadurch zu vermitteln, daß man die Maße jeder ihrer Krümmungen mittelst eines Koordinatensystems, die Farben durch Schwingungszahlen widergibt, dann hat man eben den anschaulichen Begriff mit seiner leichtsinni-

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gen, kindlich-schönen Ungenauigkeit, mit seinem guten Glauben verlassen und wandelt den mühsamen Weg wissenschaftlichen Denkens. Und erst in diesem Falle kann man es verstehen (auch hier stets beachtend, daß die Merkmale nichts anderes als höchstsublimierte Anschauungsstücke sind), daß von einem Denken in unanschaulichen Vorstellungen, die durch Worte vollständig ausdrückbar sind, gesprochen wird. | 231 |

Zehntes Kapitel Erkenntnistheoretische Bemerkungen Die Absicht, die uns bei dieser Arbeit geleitet hat, haben wir in der Einleitung gekennzeichnet. Wir sind von rein psychologischen Problemen ausgegangen und sind, von diesen immer weiter und weiter geführt, mitten ins Kampfgewühl moderner Erkenntnistheorie und Metaphysik hineingeraten, und es will uns scheinen, als sei gerade dies kein schlechtes Zeichen für die Richtigkeit des beschrittenen und zurückgelegten Weges. Unserer Absicht gemäß halten wir aber mit der Erledigung der psychologischen Fragen, mit der beschreibenden Darstellung und Entwicklung des anschaulichen und des wissenschaftlichen Begriffs unsere Aufgabe für beendet und müssen den Ausbau des erkenntnistheoretischen Ertrages einer selbständigen Arbeit vorbehalten. Nur kurz sei hier noch der Ausblick gezeichnet, der sich uns am Schlusse unseres Weges in das Gebiet der Erkenntnistheorie eröffnet. Die beiden großen Geistesrichtungen, die wir in der Einleitung, im Einklang mit den populären und unklaren Namen, als Mystik und Rationalismus bezeichnet haben, krystallisieren sich in der neueren Erkenntnistheorie in zwei großen Gruppen, deren eine, um Henri Bergson und William James geschart, im Erlebnis selbst, in der Intuition die wahren Einblicke in das Wesen der Welt zu finden meint, während die andre, die in der Schule der Neu-Kantianer ihre konsequentesten Vertreter hat, als das einzig sinnvolle Sein das Sein im wissenschaftlichen System, nach der hier gebrauchten Terminologie: das NotwendigSein erklärt. (〈Natorp 1910,〉 S. 331; „Etwas existiert, d. h. aber dem logischen Sinn des Existenzurteils zufolge: es ist allseitig bestimmt, so bestimmt, daß nichts unbestimmt bleibt.“) Die ausgesprochene Mißachtung des wissenschaftlichen Begriffs, die wir bei Bergson finden, sowie die Leugnung einer anderen als der in einem deter- | 232 | minierenden System stehenden Erfahrung bei den Neu-Kantianern zeigen uns schon deutlich, wie es ja auch aus dem Wesen der Sache selbst hervorgeht, daß diese zwei Pole moderner Weltanschauung sich auf der einen Seite um die Anschauung und den anschaulichen Begriff, auf der andern um den wissenschaftlichen Begriff und das wissenschaftliche System gruppieren. Wir glauben in den Ergebnissen unserer Arbeit die Grundlagen dieser beiden Ansichten zu erkennen und schöpfen hieraus die Möglichkeit, zu einem richtigen Urteil über sie zu gelangen. Und auf diesem Wege finden wir, wie diese beiden grundverschiedenen Arten unseres Verhältnisses zur Welt gleichberechtigt nebeneinander stehen, wie wir uns auf diesen zwei Wegen in gleichem

DOI 10.1515/978311053719-014

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Schritte einer vollkommenen Welterfassung nähern, wie aber jegliche Überschätzung der einen Richtung oder gar eine Konfundierung der beiden zu einer schiefen Stellung zur Welt führen muß. Es ist ein zweifelloses Verdienst der neuesten Metaphysik, uns den unersetzlichen Wert der lebendigen Anschauung gegenüber ihren erstarrten Produkten gezeigt zu haben. Und wir haben ja selbst geschildert, wie dieses kraft- und unruhvolle, unmittelbar erlebte Anschauungsmaterial in starre leben- und bewegungslose Atome zerstückelt, gleichsam abgetötet werden muß, bevor es für die wissenschaftliche Durchdringung brauchbar wird. Und so können wir uns, was diesen Vorzug der Anschauung anlangt, gern der feurig-unermüdlichen Argumentation Bergsons gefangen geben. Wir haben aber auch festgestellt, daß dieses lebendige Material nie und nimmer geeignet ist, verstanden zu werden; daß es ewig wechselnd und schwankend weder der Grundfrage menschlichen Geistes: Warum? je zu antworten vermag, noch auch eine Beherrschung der Umgebung ermöglicht. Das vermag eben nur die unter dem Kausalprinzip wissenschaftlich verarbeitete Welt. Wie wir uns nun für die Bedeutung der | 233 | Anschauung auf die Darstellung Bergsons berufen konnten, so können wir hier wieder auf die scharfsinnigen und überzeugenden Beweisführungen der Forscher aus dem näheren und weiteren Kreise der neu-kantischen Schule hinweisen. Freilich schleppt auch hier die glänzende Argumentation die Übertreibung und so den Fehler nach sich. Der Begriff des Seins, als des „Im-System-Seins“, oder prägnanter, des „Notwendig-Seins“ entspricht eben nur einer Möglichkeit unseres Verhältnisses zur Welt, psychologisch ausgedrückt, nur einem Urteilsmodus, nämlich dem apodiktischen mit allem von ihm Stammenden. – Die assertorischen Modi, wie das bloße Anerkennen oder Zuerkennen, werden gar nicht berücksichtigt, insbesondere nicht, was hier von besonderer Wichtigkeit wäre, das rein thetische Urteil, auf das uns ja Brentano und seine Schule in überzeugender Weise gewiesen hat. Wenn Natorp 〈…〉 meint: „Anschauung kann dem Denken nichts geben, sie kann selbst nur durch Denken gegeben, d. h. bestimmt werden“ 〈Natorp 1910, S. 265〉, so liegt darin eine Vernachlässigung dessen, was „gegeben“ und dennoch „unbestimmt“ ist, mit andern Worten, des gesamten Gebiets der verschwommenen Vorstellung, dem wir unsere Hauptarbeit gewidmet haben. Es wird übersehen, daß wir die Umwelt anerkennen können, ohne sie deshalb ins System wissenschaftlicher Begriffe einreihen zu müssen; daß die Empfindung, von der ja auch die Neu-Kantianer sprechen, nicht bloß „aufgegebene“ Empfindung ist, sondern auch durch das thetische Urteil als existierend anerkannt wird, als Außenwelt konstituiert wird; und dieses so Hinausprojizierte bleibt unverändert lebendige Anschauung. Damit ist natürlich keineswegs behauptet,

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daß wir durch dieses thetische Urteil etwa metaphysisch tiefer in die Wirklichkeit einzudringen vermögen, als bei anderem Urteilsmodus, oder daß, wofern die Urteilsmodi etwa als Denk- oder Verstandesformen aufgefaßt würden, dies das assertorische Urteil in irgendeinem Sinne weniger wäre als das apodiktische. Sondern wir wollen | 234 | auch hier lediglich das feststellen, was sich vom rein psychologischen Standpunkt aus darbietet. Daß die Materie, indem sie einfach anerkannt wird, ihr unruhig strömendes Leben behält und nicht die Veränderung erleiden muß, die sie erst für das apodiktische Urteil verwendbar macht. Das thetische Urteil bedarf eben keines festen Objektes, und keines Objektes, das mit den übrigen in einem notwendigen Zusammenhang steht. Es tritt immer und jederzeit unmittelbar an das frische Erlebnis selbst heran. Indem nun die Neu-Kantianer dieses einfache Seins-Urteil vernachlässigen, fehlt ihnen für die unverarbeitete Anschauung selbst überhaupt jedes Sein. Und da für sie die einzige Art der Erfassung der Außenwelt die Einreihung ins wissenschaftliche System ist, kennen sie keinen andern Begriff als den, welchen wir den wissenschaftlichen genannt haben. Das geht in eminent prägnanter Weise aus dem Buche Ernst Cassirers: „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ hervor, dem wir, soweit es sich um den wissenschaftlichen Begriff handelt, eine ganze Reihe wohlbegründeter Erkenntnisse verdanken 〈Cassirer 1910〉. Da sich in diesem Buche auch rein psychologische Argumente finden, die sich gegen die Anschauungen richten müßten, die in dieser Arbeit vorgebracht worden sind, können wir es uns nicht versagen, hierauf hier etwas näher einzugehen. Nachdem Cassirer 〈…〉 den „Konzeptualismus“ in einer Form vorgetragen hat, die sich in manchen Punkten mit dem in diesem Buche Dargestellten berührt (Reproduktion wiederholter Vorstellungen, Verschmelzung, Wirkung der Aufmerksamkeit) 〈Cassirer 1910, S. 13f.〉, lehnt er ihn mit dem Argument ab: „Die Ähnlichkeit der 〈Dinge〉 aber vermag offenbar nur dann fruchtbar und wirksam zu werden, wenn sie als solche erfaßt und beurteilt wird: Daß die 〈„〉unbewußten〈“〉 Spuren, die von einem früheren Wahrnehmungsbild in uns zurückgeblieben sind, einem neuen Eindruck tatsächlich gleichartig sind, bleibt für den Prozeß, um den es sich hier handelt, so lange gleichgültig, als beide Ele| 235 | mente nicht als ähnlich erkannt sind. Damit 〈aber ist〉 zunächst als Grundlage aller „Abstraktion“ ein Akt der Identifikation anerkannt 〈…〉 Diese Synthese, die die beiden zeitlich getrennten Zustände miteinander verknüpft und in eins setzt, besitzt in den verglichenen Inhalten selbst kein unmittelbares sinnliches Korrelat.“ 〈Cassirer 1910, S. 19〉 Konsequent wird auch später den Relationen das Wahrnehmungsmoment abgesprochen (〈Cassirer 1910,〉 S. 435), alle Relationen sind nach Cassirer Urteile. Insoweit dieser Satz nicht durch eine von der unsern abweichende Terminologie gerechtfertigt ist, klingt er mit der durchgängigen

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Unterschätzung des anschaulichen Moments bei Cassirer überein. So heißt es in der Fortsetzung seiner Polemik gegen den Konzeptualismus: „Was der Theorie der Abstraktion Halt verleiht, ist somit lediglich der Umstand, daß sie die Inhalte, aus welchen der Begriff sich entwickeln soll, selbst nicht als unverbundene Besonderheiten voraussetzt, sondern sie bereits in der Form einer geordneten Mannigfaltigkeit denkt. Der „Begriff“ aber ist damit nicht abgeleitet, sondern vorweggenommen; denn indem wir einer Mannigfaltigkeit eine Ordnung und einen Zusammenhang ihrer Elemente zusprechen, haben wir ihn, wenn nicht in seiner fertigen Gestalt, so doch in seiner grundlegenden Funktion vorausgesetzt.“ Es ist kein Wunder, daß bei einer solchen Auffassung für den anschaulichen Begriff, ja für die Anschaulichkeit selbst, kein Platz übrigbleibt. Alles hat dann nur insofern ein Sein, als wir es geordnet, d. h. unter die Kategorien der wissenschaftlichen Begriffsbildung eingereiht haben. Uns aber will scheinen, als ob diese Lehre nur deshalb ein stetes Bedürfnis, die „Elemente“ der Anschauung zu ordnen, empfindet und diese Elemente, als „unverbundene Besonderheiten“ voraussetzt, weil sie diese Elemente vorher herausanalysiert, also aus der natürlichen Ordnung, mit der sie uns von vornherein einheitlich in der verschwommenen Gesamtanschauung entgegentreten, herausgebrochen und dissoziiert hat. Hier zeigt sich die ganze Gefährlichkeit des von | 236 | uns an vielen Stellen gerügten Hysteron-Proteron, mit dem das Endresultat einer komplizierten Begriffsbildung, die Atomisierung der Anschauungswelt in „Merkmale“, als primäres Erlebnis, als Urzustand der Wahrnehmung vorausgesetzt wird. Dann natürlich fehlt „das haltende Band“. Unserer Ansicht nach bedarf es eines solchen nicht, weil von aller Anfang an die Mannigfaltigkeit gar nicht da ist, die geordnet werden soll; vielmehr treten aus der Gesamtanschauung, wie es uns die analoge Erfahrung im Kleinen täglich lehrt, erst durch Aufmerksamkeitsverteilung Einzelqualitäten hervor, und zwar automatisch, ohne daß es der von Cassirer postulierten Urteilsakte, Identifikationen bedürfte. Dieser Umstand ist experimentell nachgewiesen (vgl. die Experimente von Grünbaum und die unsrigen, 1. Kapitel). – An anderer Stelle betont Cassirer allerdings, daß das Ordnungselement zum gegebenen Inhalt nicht im Verhältnis des Nachher steht, daß schon der elementarste psychische Tatbestand die allgemeinen Formelemente in sich schließt 〈Cassirer 1910, S. 453〉. Dann aber muß mit Gomperz (vgl. 2. Kapitel) die Zulässigkeit der Statuierung solcher Ordnungsakte, die schon an dem elementarsten psychischen Tatbestand mitgewirkt haben sollen, bestritten werden. Solche Akte sind psychologisch nicht nachweisbar und haben jedenfalls mit den höchst bewußten Akten, die zur wissenschaftlichen synthetischen Begriffsbildung führen, nichts zu tun. Die Formel der Neu-Kantianer für die primäre Gesamtanschauung, die „geordnet“ sein soll,

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müßte also lauten: Die Gesamtanschauung wird uns ursprünglich in einer Form geboten, wie wir sie ähnlich nur durch Ordnung der Elemente, die wir nachträglich aus der Gesamtanschauung gewinnen, nachahmen können – ein sehr künstlicher und bildlicher Ausdruck für die „verschwommene Anschauung“. Wenn Cassirer freilich als das Ziel jeder Begriffsbildung ein „Verständlichmachen“ ansetzt (〈Cassirer 1910,〉 S. 8), dann schließt schon diese Fragestellung die Auffindung der (A + x)-Gebilde aus. Wir | 237 | haben gesehen, daß die automatische Bindung in Gleichheitsgruppen nur zufällig vor sich geht, freilich spiegelt sich in eben dieser Zufälligkeit der Erlebnisse das individuelle Schicksal und die Erfahrung des Einzelmenschen und insofern ist diese scheinbare Willkür doch auch wieder höchstpersönliche Bestimmung; aber wir haben an mehreren Stellen betont, daß diese aus der Anschaulichkeit entstandenen, ihr nahverwandten Aufmerksamkeitsschöpfungen zwar für den vulgären Gebrauch ausreichen, auch überall dort, wo es mehr auf Raschheit als auf Exaktheit, also auf einen natürlichen, instinktiven, bedürfnismäßigen Zusammenhalt der Außenwelt ankommt (beim Erleben selbst, beim Tätigsein, vielleicht deshalb in allem Ethischen, jedenfalls in der leidenschaftlichsten aller Taten – in der Kunst), sogar den Vorzug vor schwerfällig genauer Konstruktion haben, – daß sie aber für die so bedeutsame Frage nach dem Kausalzusammenhang der Dinge, für die wissenschaftliche, theoretische Welterfassung bald ihre Unzulänglichkeit erweisen. Deshalb ist man aber noch nicht berechtigt, den (A + x)Gebilden jede logische Kraft oder gar die ganze Existenz abzusprechen. Vielmehr gebührt es der Forschung, sie mit dem logisch-wissenschaftlichen Begriff zu vergleichen, die beiderseitigen Herrschaftsgebiete klar abzugrenzen, Vorund Nachteile zu zeigen, wie wir es in diesem Schlußkapitel versucht haben. Daß Cassirer dieser Funktion des lebendigen, anschaulichen Begriffs überhaupt keine Bedeutung beimißt, scheint uns der Fehler des sonst ausgezeichneten Buches, das wir demnach nur als Monographie über den „wissenschaftlichen Begriff“, nicht als Beschreibung des gesamten Begriffsphänomens ansehen können. Fragt doch Cassirer gleich nach Darstellung der Millschen Theorie nicht etwa, ob derartige von Mill beschriebene Gebilde die Funktionen des Nennens und Bedeutens haben, sondern: „Ist die Theorie des Begriffs, die hier entwickelt wurde, ein zureichendes und getreues Abbild | 238 | des Verfahrens, das in den konkreten Wissenschaften geübt wird?“ 〈Cassirer 1910, S. 14f.〉 Hier zeigt sich ganz eklatant, daß Cassirer an einen andern als den präzisen wissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs gar nicht denkt. Cassirer hat demnach einen leichten Stand gegen die Vertreter einer Ansicht, die auch wissenschaftliche Systeme anschaulich ableiten wollen, welche die geometrischen Elemente wie Punkt, Linie nicht in exakter, begrifflicher

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Formulierung einführen (Pasch), sondern so, wie sie empirisch beobachtet werden können, also den Punkt nicht nulldimensional, sondern als materiellen unteilbaren Körper. Daß die Wissenschaft zu ihren bestimmten Urteilen Merkmale, nicht Anschaulichkeit braucht, daß sie selbst dort, wo ihr anschauliche Fülle unentbehrlich ist, diese nur in der Form des „gemischten Begriffs“ oder des „indirekten Vorstellens“ (uneigentlichen Begriffs) einläßt, ist unsere mit Cassirer übereinstimmende Ansicht. Wir unterschreiben auch Sätze wie: „Die Zahl mag an sich selbst sein, was sie will: für Analysis und Algebra kommt sie einzig dadurch in Betracht, daß sie sich rein und vollständig in der Form einer ,Progression‘ darstellen und entwickeln läßt.“ 〈Cassirer 1910, S. 63〉25 Damit ist aber nicht gesagt, daß die Zahl außer ihrem wissenschaftlichen Gebrauche, also außerhalb ihrer strengen Fixierung auf merkmalsmäßige Relationen, nicht noch in andern, sogar ursprünglicheren Inhalten erlebt wird. Man behält von Zahlen, die man gehört hat, außer der Erinnerung an ihre unzweideutige Stellung im System oft noch die Erinnerung an eine gewisse Valenz, an eine verschwommene Anschauung mit hervorgehobenem Gefühl u. ä. Man weiß etwa von einer Hausnummer nur noch ungefähr, ob sie hoch oder niedrig, so rund um die Hundert herum oder mehr einem Dutzend ähnlich war. Wenn man sie nun genau angeben soll, irrt man wohl, aber nur um den Wert weniger Einer. Merkmalsmäßig gesehen ist von einer solchen Zahl gar nichts übrig geblieben, denn Merkmale sind eben entweder scharf | 239 | oder gar nicht da; eine verschwommene Vorstellung, für die Wissenschaft unbrauchbar, biologisch vielleicht von hohem Wert, ist durch Ungenauigkeit nicht ausgeschlossen. – Den Beweis von Vorhandensein nicht wissenschaftlicher Zahlen hat Max Wertheimr 〈Wertheimer 1912b〉 in dem schon oben zitierten Aufsatz erbracht. Den Naturvölkern, die er beschreibt, fehlt freilich jedes Mittel zu erkennen, daß die Zahl 7325 sich genau um dasselbe von 7324 unterscheidet wie 2 von 1, auch jeder Weg zur Bildung imaginärer und irrationaler Zahlen ist ihnen verschlossen. Alle auf wissenschaftlichem Merkmalsbetrieb basierenden Leistungen bleiben ihnen unverständlich. Aber Wertheimer bemerkt sehr richtig: „Der Faktor des Abzählens im Sinne〈〉 der bloß wiederholten Hinzufügung einer Einheit ist nicht der einzige und zentrale bezüglich der Genese der Zahlen. Das Ideal allgemeiner Übertragbarkeit (Abstraktheit) der Denkgebilde, des einheitlich struktiven Aufbaues einer Reihe ist nicht unbedingt notwendige Zielrichtung des Denkens in diesem Gebiet. – Es gibt Gebilde, die, weniger abstrakt als unsere Zahlen, analogen Zwecken dienen wie diese, resp. an deren Stelle fungieren. – Diese Gebilde ab-

|| 25 Cassirer weist diesen Satz als ein Zitat aus Bertrand Russels 1903 erschienenen The Principles of Mathematics aus.

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strahieren nicht schlechthin von der natürlichen Gegebenheit und den natürlichen Beziehungen: sie sind gelegentlich abstrakt von der〈〉26 Anordnung des Materials, von Form, seltener vom Material 〈[〉verschiedenen Materialarten sind verschiedene Gruppen und Einheiten eigen〈]〉, und: jede Gebildefassung, jede Operation muß notwendig ihren vollen Wirklichkeitssinn haben.“ 〈Wertheimer 1912b, S. 323〉 – „Vier Flinten, vier Bogen, vier Krieger, vier Rationen Reis können ev. dasselbe Gebilde ergeben, – aber vier Reiskörner sind nicht solche ‚vier‘, sind wohl gleich nichts oder fast nichts, außer im symbolischen Zählen. – So kann es vorkommen, daß Leute wohl Geld, Baumstämme usw. 〈zählen, Dörfer z. B.〉 aber nicht zählen können.“ 〈Wertheimer 1912b, S. 328〉 Wertheimer führt diesen Gedanken der „Wirklichkeitsnähe“, d. h. Anschaulichkeit auch bei andern Relationen, z. B. „viel“, „klein“ durch und hat damit unumstößlich gezeigt, | 240 | daß wie den merkmalsmäßigen Konstruktionen auch den (A + x)Gebilden eine logische Wirksamkeit innewohnt. – Es läge nun auch noch im Umkreise einer erkenntnis-theoretischen, der Psychologie bereits entrückten Betrachtung, die Vorzüge und Mängel dieser beiden Begriffswelten zu beleuchten, zu zeigen, wo sie sich bewähren und wo sie versagen, und es ließe sich auf diesem Wege andeuten, wo eine jede das ihr eigene Gebiet hat, in dem sie allein ihre Aufgabe zu erfüllen vermag, und in welchen sie von der andern, die hier ohnmächtig nur Verwirrung stiften könnte, ungestört bleiben möchte. Da uns nun eine andere Art der Weltauffassung, als diese zwei zu beurteilenden, unbekannt ist, so scheint es auf den ersten Blick, daß wir, eines höheren, unabhängigen und über ihnen stehenden Maßstabes entbehrend, bei der Abwägung ihrer Vorzüge und Schwächen leicht in Verlegenheit kommen könnten. Doch zeigen uns – so stellt sich bald heraus – diese beiden Begriffsarten selbst genug erfüllte und unerfüllte Möglichkeiten, so daß wir eines andern Maßstabes gar nicht benötigen. Wir brauchen so nur die Anforderungen, die sie ihrem Wesen nach an sich selbst stellen, mit ihren wirklichen Leistungen zu vergleichen, oder gar die Leistungen beider aneinander zu messen. Gerade dies ist aber die Gelegenheit, von neuem das Verhältnis dieser beiden Begriffsarten zu berühren und die gesuchten Grenzen zu finden, die sie voneinander scheiden. Nur einige Hauptpunkte seien nun angeführt. Wir haben schon oft erwähnt: die große, immer wieder gerühmte Kraft des Anschaulichen ist seine Unmittelbarkeit. Und da fragen wir nun: Ist diese wirklich so vollkommen, wie es uns als Ideal einer unmittelbaren Erfahrung vorschweben würde? Wir brauchen da nur auf unsere Untersuchungen über die Anschauung und ihre Entwicklung zum anschaulichen Begriff hinzuweisen. Da || 26 EA: der

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haben wir gezeigt, wie die ursprüngliche Gesamtanschauung gleich beim Beginne unserer geistigen Tätigkeit mannigfacher Verarbeitung ausgeliefert wird. Wie | 241 | sie sich durch den Ureffekt der Gleichheit und die Einwirkung der Aufmerksamkeit allmählich gliedert und so in ihren Einzelheiten erst zu Bewußtsein kommt. Wir sehen nun freilich leicht, was die Anschauung hierbei an Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit einbüßt. Wollen wir uns aber an die Gesamtanschauung vor diesen Einwirkungen halten, so bleibt nichts übrig als ein einheitlich und ungegliedert dahinströmender Fluß des Lebensgefühls, oder, wie James beschreibt, „eine Art feierlichen Gefühls der Hingabe an den leeren Zeitverlauf“ 〈James 1909, S. 217〉. Jedenfalls kann aber in dieser allerunmittelbarsten Anschauung nicht jene Mannigfaltigkeit und jener Reichtum des Lebens zu erfahren sein, die die Intuition für sich in Anspruch nimmt. Dieser Reichtum ist vielmehr schon das Resultat intensiver psychischer Verarbeitung der unmittelbaren Erfahrung. Erblickt man aber schon darin etwas Rationalistisches, so muß man wohl annehmen: Sobald aus dem dumpfen Hinbrüten ein reiches Erleben geworden ist, ist der erste Schritt ins Rationalistische bereits getan. Und dieser erste Schritt, die immer weiter gehende Gliederung der Gesamtanschauung nimmt freilich die Richtung von der ursprünglichen Einheit der Anschauung zu wachsender Zerteilung und Vervielfältigung. Bliebe er die einzige Weise psychischer Verarbeitung der Anschauung, so würde er zu unendlichem Reichtum, damit aber auch zugleich zur vollständigen Zerstückelung derselben führen, die eine jede Orientierung ausschließen würde. Wir würden dann vor der gleichmäßig bis ins Kleinste gegliederten Anschauung ebenso hilflos stehen, wie vorhin vor der einheitlich und unberührt dahinfließenden. In diesem Zustande vermögen wir vielleicht eine Seite der „Fassungslosigkeit“ des mystisch Entrückten wiederzuerkennen. Wir haben aber eingangs des 3. und 4. Kapitels gezeigt, wie eine zweite Richtung psychischer Verarbeitung des anschaulichen Materials dieser unendlichen Verkleinerung und Parzellierung wirksam entgegenarbeitet und allmäh| 242 | lich zum Entstehen der hier sogenannten (A + x)-Gebilde führt. Man sieht hieraus: die Vernachlässigung dieser zweiten, zusammenfassenden Kette wäre allerdings eine Näherung an die Ursprünglichkeit, von dem ersehnten unmittelbaren Erlebnis aber schon durch einen beträchtlichen Aufwand psychischer Arbeit getrennt. Ist man aber nicht der prinzipiellen Ansicht, daß durch psychische Verarbeitung, die auf nichts anderm beruht, als auf Aufmerksamkeitswandel, die Unmittelbarkeit der Anschauung verloren gehe, so ist kein Grund einzusehen, warum gerade die (A + x) bildende Reihe, oder das Zusammenwirken beider Reihen die Unmittelbarkeit mehr beeinträchtigen und verderben sollte, als die erste Reihe allein.

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Es gelingt ja auch beim Zusammenwirken beider Reihen der ersten Tendenz recht oft, unbehindert von der zweiten, tief in die Anschauung einzudringen und uns so einen Schauer von Mannigfaltigkeit erleben zu lassen. Bedenkt man, daß dazu noch die im 7. Kapitel beschriebenen „Zuckungen des (A + x)“ und „Begriffsembryonen“ kommen, und vor allem die immerwährende Erwartung dieser sich dadurch manifestierenden Mannigfaltigkeit, sowie der selbstverständliche Schluß von einem solchen im blitzartigen, einmaligen Erlebnis uns unendlich erscheinenden Reichtum auf eine ähnliche, wenn auch nicht immer erfahrene Natur der andern seelischen Ereignisse, so läßt sich all das begreiflich finden, was von dem Reichtum der „Intuition“ gesprochen wird, um so mehr als man ja oft so verschiedenartige Erlebnisse wie Emotionen, etwa das Mitfühlen, oder gar anschauliche Relationen als eigenartige, vor allen anderen ausgezeichnete Erlebnisse unter dem so weiten und so schmiegsamen Begriff „Intuition“ gefaßt findet. Wir haben im 6. Kapitel gezeigt, wie gerade diese teilweise oft als Gestaltqualitäten bezeichneten, anschaulichen Relationen, z. B. das vor der distinkten Perzeption der einzelnen Töne erfolgende Erfassen einer Melodie, Phänomene | 243 | sind, die den anderen Teilen der Gesamtanschauung gleichberechtigt, durch denselben seelischen Vorgang aus der Gesamtanschauung hervorgehoben werden, wie alle übrigen Teile. Aber gerade dieser psychische Prozeß des „Hervorgehobenwerdens“ ist es ja, der auch diesen anschaulichen Relationen strenggenommen jene Unmittelbarkeit raubt, durch die die Intuition ihrem Wesen nach ausgezeichnet sein soll. So sind alle diese nur durch das Wirken der Aufmerksamkeit hervorgebrachten Gliederungen der Anschauung zwar unleugbar unmittelbar aus dieser entstanden, gleichsam direkteste leibliche Abkömmlinge der Anschauung, aber eben doch nicht mehr das Ideal jener Ursprünglichkeit der Erfahrung, an das man manchmal gerne glauben möchte. Freilich sind wieder diese Veränderungen, welche die Anschauung der einwirkenden Aufmerksamkeit verdankt, weit geringer und unwesentlicher als jene, welche die Anschauung erst durch die Verarbeitung in wissenschaftlichen Begriffen erleiden muß. Wenden wir uns nun von den Unzulänglichkeiten des anschaulichen Begriffs, auf die uns seine eigenen Vorzüge weisen, zu jenen, die uns die Vorteile des wissenschaftlichen Begriffes ihm gegenüber zeigen. Da wird uns nun sein Grundmangel offenbar. Wenn man auch noch zugeben könnte, daß er, wie wir bei den (A + x)-Gebilden gezeigt haben, freilich unter Verzicht auf jede Genauigkeit und Sicherheit, zur Not eine Verständigung der Menschen untereinander herstellen könnte, so versagt er vollkommen unserem Erkenntnistrieb gegenüber, oder, wenn es sich darum handelt, mit unserer Umgebung etwas anzufangen. Wir stünden, mit der bloßen Anschauung ausgerüstet, der Welt

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ratlos gegenüber ohne eine für uns vorstellbare Möglichkeit kultureller Entwicklung. So muß man denn annehmen, führten biologische Erfordernisse zur wissenschaftlichen Erfassung des Gegebenen, wandelte das Leben selbst den anschaulichen Begriff in den wissenschaftlichen. Und so wurde die Frage „Warum“ der Schöpfer unserer wis- | 244 | senschaftlichen Kultur. Ob mit dieser Konstatierung schon eine Änderung des Wahrheitsbegriffs in pragmatistischem Sinne gegeben ist, wollen wir hier nicht entscheiden. Begründet nun all das, was uns die Kausalität leistet, den Wert des wissenschaftlichen Begriffs, da wir es beim anschaulichen vermißten, so müssen wir wieder bei jenem die Ursprünglichkeit und Lebendigkeit, die wir an diesen schätzen, in hohem Maße entbehren. Die Sehnsucht, die unser wissenschaftliches Zeitalter nach der Intuition, dem unmittelbaren Erlebnis erfaßt hat, zeigt am besten, was uns der wissenschaftliche Begriff nicht bieten kann. Aber auch hier müssen wir eine Einschränkung machen. Keineswegs ist hier Verachtung des wissenschaftlichen Begriffs am Platze, auch unter der Voraussetzung nicht, daß das Fehlen jeglicher Anschaulichkeit trotz aller sonstigen Vorzüge hierzu berechtigen würde. Denn wenn auch die bekannte Atomisierung und Erstarrung der Anschauung erfolgt sein muß, so ist es doch wieder nur Anschauung, die, in dieser veränderten Form, den wissenschaftlichen Begriff durchdringt und sich bis in seine feinsten Adern verzweigt. Und so ist er keineswegs ein totes Gestirn, das erfahrungsfremd über der Anschauung schwebt, vielmehr eine Pflanze, die mit ihren Wurzeln in der Anschauung drinsteckt, wenn auch ihre Spitzen sich vom Erdboden weit genug entfernt haben. Nicht als ein neu von uns Geschaffenes, als eine leere Form, oder vielleicht als etwas Eingeborenes bringen wir ihn an die Erfahrung heran, sondern im Gegenteil, in natürlicher Entwicklung erwächst auch er uns aus der Anschauung. Denn sein ganzes Material entnimmt er der Anschauung, die ihm so ewigfließende Lebensquelle ist. Daß diese aber ewig und unabänderlich fließt, ist der letzte Grund seiner methaphysischen Mängel, die so mit der Beschränktheit der Wissenschaft und allen Unzulänglichkeiten des Kausalgesetzes zusammenfallen. Der wissenschaftliche Begriff ist auf die fortlaufende Erfahrung angewiesen, von der | 245 | er immer frisch gespeist wird, und muß sich seinem Wesen und seiner Konstruktion nach so benehmen, als ob die Erfahrung bereits abgeschlossen wäre. Auf diesen seinen Erbfehler – dessen Erkenntnis wir im Wesen Kant verdanken – beruhen alle Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten, die der Wissenschaft – von einem anspruchsvolleren Standpunkt aus gesehen – anhaften, und die zum größten Teile mit den Schwierigkeiten und Problemen des Kausalgesetzes zusammenfallen. In mustergiltiger Weise sind diese Fragen in jüngster Zeit zusammenfassend von Hugo Bergmann in seiner Arbeit „Der Begriff der Verursa-

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chung und das Problem der individuellen Kausalität“ behandelt worden 〈Bergmann 1915〉, in deren Manuskript einzusehen uns vom Autor in freundlichster Weise gestattet worden war. Wenn Bergmann am Schlusse seiner Darlegungen behauptet, daß uns die Kenntnis eines allgemeinen Kausalgesetzes für immer versagt ist, weil wir niemals die Totalität der negativen Bedingungen kennen, die das Eintreten eines Ereignisses verhindern könnten, und weiter ausführt, daß wir praktisch niemals ein singuläres Geschehnis als Schnittpunkt allgemeiner Gesetze begreifen können, so ist, wie auch Bergmann konstatiert, immer der Grund der, daß unsere Erfahrung ständig weiterfließt und nie beendet werden kann. Könnte man sich eine beendete Erfahrung vorstellen, so müßten für diesen Fall diese Schwierigkeiten wegfallen. Ebenso läßt sich auch die Tatsache, daß die Kausalkette nie vollständig ist, auf die Unendlichkeit der Erfahrung zurückführen. Denn auch hier müßte eine vollendete und in das Kausalsystem gebrachte Erfahrung die Kette – oder die Ketten – füllen und schließen. Ferner: wenn wir vorhin als besten Begriff den bezeichnet haben, der möglichst viele konsekutive Merkmale enthält, oder durch den möglichst viele Tatsachen oder Ereignisse erklärt werden, so stellt sich auch hier dem endlichen Ziel | 246 | immer wieder die frische Erfahrung mit neuen Aufgaben entgegen. Eine weitere konstitutionell begründete Unvollkommenheit des wissenschaftlichen Begriffs beruht darauf, daß auch die erforderliche Atomisierung der Anschauung, die Auflösung in allerletzte, starrste und sicherste Merkmale eine Entwicklung ist, die immerwährend fortschreitend sich dem Ideal vollkommener Sicherheit und Starrheit nur nähern kann. Die Praxis der Wissenschaft freilich benötigt jeweils keine absolute Sicherheit und vermag sich so mit diesen Mängeln abzufinden. Vor allem aber werden durch fortwährende Eroberung immer neuer und größerer Komplexe der Erfahrung für den wissenschaftlichen Begriff diese Unvollkommenheiten immer geringer, und darin eben hegt – trotz unendlich fernen Zieles – der ewig ermunternde Fortschritt der Wissenschaft. – Am Schlusse könnte man noch auf ein Problem hinweisen, das in dem tiefsten jener Ideale liegt, die wissenschaftliches, kausales Denken in uns erweckt, ohne sie erfüllen zu können. Es ist die Frage nach der Verwandlung der Kausalität in eingesehene Notwendigkeit, nach der Möglichkeit der analytischen Erfassung alles Weltgeschehens, oder, nach der Möglichkeit der sogenannten Laplaceschen Weltformel. Das ist aber ein viel zu lapidares und verehrungswürdiges Problem, als daß wir es hier, gleichsam im Anhang an eine psychologische Arbeit, zu entscheiden wagen könnten. | 247 |

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Nachbemerkung Daß diese Schrift mit zwei Autorennamen gezeichnet ist, soll bedeuten, daß hier eine durchaus gemeinsame Arbeit vorliegt, in der die Autoren am Gedanklichen wie an dessen sprachlicher Gestaltung bis ins Einzelnste ganz gleichen Anteil haben. Durch vieljährige Freundschaft mit den beiderseitigen Ausdrucksweisen vertraut, fanden wir einmal, daß wir von verschiedenen Seiten zu demselben Problem Zugänge zu haben glaubten, die zu unserer Freude gegen einen Mittelpunkt hin führten. Von damals an entstand die Arbeit in vollkommen gemeinsamer Tätigkeit, indem das beiderseits befriedigende Ergebnis vorbereiteter und sorgsam geführter Gespräche zur Grundlage der Darstellung genommen wurde, die dann durch übereinstimmende stilistische Verarbeitung der beiden Fassungen die gewünschte Einheitlichkeit erlangte.

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Max Brod und Felix Weltsch

Selbstanzeige In: Kant-Studien 18 (1913), S. 164–165 In raschem Siegeslauf haben sich in der modernen Entwicklung der Metaphysik und Erkenntnistheorie die Philosophen der Intuition den Philosophen der systematisch-logischen Erkenntnis entgegengestellt. Fremd und feindlich stehen einander die Parteien gegenüber; nur hie und da springt ein Funken von Verständnis von der einen zur anderen Seite. Im Ganzen sind die Grundansichten gar zu entgegengesetzt und scheinen förmlich unvereinbar, Unser Buch will nun nicht etwa eine Versöhnung der beiden Parteien herbeiführen, oder etwa eine neue vermittelnde Theorie aufstellen; es will nur mit dazu beitragen, dass die Kälte und Verständnislosigkeit zwischen den beiden Gruppen verschwinde; es will durch Untersuchung der Voraussetzungen und Grundlagen der beiden Richtungen die Übertreibungen und Kompetenzübergriffe auf beiden Seiten feststellen und so versuchen, einen Standpunkt zu finden, von dem aus eine Entwicklung beider Linien möglich ist. Als zentrales, zwischen den Parteien liegendes Problem erschien uns das Begriffsproblem. Der wohlgegründeten Schätzung des diskursiven, also begrifflichen Denkens seitens der Neu-Kantianer, steht die Verachtung gegenüber, die Bergson dem Begriff, als dem Instrument des Intellekts entgegenbringt. Wir mussten uns daher fragen: Bestehen die Ursachen dieser so entgegengesetzten Wertungen zurecht? Ist der Begriff wirklich jenes erfahrungsfremde Element, das die Anschauung vergewaltigt und das Leben ertötet, wie Bergson meint? Und andererseits: Ist jener – wissenschaftliche – Begriff, wie ihn etwa Cassirer in seinem Werke: „Substanz-und Funktionsbegriff“ darstellt, psychologisch die einzige Art begrifflicher Verarbeitung der Anschauung? Darf einer andern begrifflichen oder begriffsähnlichen Fassung der Anschauung, insolange sie noch nicht in die strenge Form des wissenschaftlichen Begriffs eingegangen ist, keine Existenzberechtigung oder darf ihr überhaupt gar keine Existenz zugesprochen werden? Diese Erwägungen leiteten zu einer psychologischen Untersuchung des Begriffsproblems mit besonderer Berücksichtigung der Beziehung des Begriffs zur Anschauung, sowie der psychischen Entwicklung des durch die Anschauung gewonnenen anschaulichen Materials. Selbstbeobachtung sowie Experiment führten uns bald zum Mittelpunkt dieser Probleme, zum Phänomen der Verschwommenheit, dem wir besondere Aufmerksamkeit schenken mussten, da es einerseits wissenschaftlich noch nicht hinlänglich bearbeitet schien, anderer-

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seits uns die Erkenntnis seiner Wichtigkeit – sozusagen unter den Händen wuchs. Wir machten uns die genaue Deskriptive des Verschwommenen zur Pflicht, untersuchten insbesondere seine merkwürdige Veränderlichkeit, sein schillerndes, kaum fassbares Wesen und kamen hiebei zu Ergebnissen, die uns auch das Rätsel der logischen Kraft des Verschwommenen lösten, und uns gerade durch Letzteres im Begriffsproblem wesentlich förderten. Die „Verschwommenheit“ führte auch zu einer neuen Behandlung der „Aufmerksamkeit“, die sich als deren Gegenpol erwies. Der weitere Zusammenhang leitete uns zur Erkenntnis der Struktur aller jener Vorstellungsphänomene, die nicht mehr Anschauung im idealen Sinn und noch nicht Begriff sind, wohl aber in vieler Hinsicht einen annähernd gleichen logischen Effekt erzielen, wie dieser. Die Bedeutung, die in diesen Phänomenen – nebst der schon erwähnten Verschwommenheit – den Relationen, Urteils- und Gefühlsakten zukommen, machten ein Eingehen auf diese Gebiete der Psychologie, insbesondere also die Probleme der Relationen, Gestaltqualitäten‚ der Akte, der Intentionen und der Gedanken, sowie eine Auseinandersetzung mit den hierüber bestehenden Ansichten notwendig. Die Entwicklung der Anschauung unter dem Einfluss der Aufmerksamkeit zeigte uns eine Fülle psychischer Gegebenheiten, die unser Denken durchwachsen und ihm jene reiche und glühende Lebendigkeit verleihen, die die Anschauung vor dem rein wissenschaftlichen Denken auszeichnet; als Endpunkt dieser Entwicklungsreihe ergab sich der anschauliche Begriff, der aber trotz seiner Vorzüge den strengen Ansprüchen der Logik und der Wissenschaft nicht genügte. Muss nun auch das wissenschaftliche Denken eine Umgestaltung des Begriffs vornehmen, indem sie ihn zum „Funktionsbegriff“ macht, die Anschauung mit Kausalität, Abhängigkeiten und Gesetzen durchdringt, muss auch die Anschauung selbst, um hierfür tauglich zu werden, grundlegende Änderungen erleiden, so zeigt sich dennoch, dass der anschauliche Begriff und somit die Anschauung die Grundlage dieses wissenschaftlichen Begriffs geblieben sind, dass der wissenschaftliche Begriff jederzeit von der Anschauung mit allen ihren Veränderungen und Entwicklungsstadien abhängig bleibt. Die Vergleichung dieser beiden Begriffsgruppen – des anschaulichen und des wissenschaftlichen – ergab interessante Einblicke in die Sprachphilosophie, Ästhetik und Erkenntnistheorie und brachte vielleicht einige Klärung in das Verhältnis von Mystik und Rationalismus.

Gaston Rosenstein

Rezension In: Imago 2 (1913), S. 253–254 „Die genaue Abgrenzung zwischen den beiden Bereichen des Spontanen und der Reziptivität ist es, die in jeder psychologischen Arbeit aus dem Gebiet der reinen Deskriptive unwiderstehlich in das der Theorien und Zusammenfassungen drängt.“ Dieses deskriptiv psychologische Problem bekommt oft eine ethische und erkenntnistheoretische Fassung; die Diskussion zwischen den „Unmittelbaren“ und den „Logikern“ wird eine lebhafte, erhält eine affektive Betonung und weitet sich „zum unüberbrückbaren Gegensatz zwischen ,Leben’ und ,Begriff’“. Primär haben wir eine „einheitliche ungegliederte Gesamtanschauung“. In weiterer Folge wird das Phänomen der verschwommenen Vorstellung aufgezeigt, die in dem System eine fundamentale Bedeutung gewinnt. Die „verschwommene Vorstellung“, deren näheren Beschreibung ein großer Teil des Buches gewidmet ist, resultiert in dieser Untersuchung als eine Vorstellung, die mehrere Einzelvorstellungen umfaßt, mit denen sie durch Aufmerksamsteigerung identisch werden kann, dabei doch eine einheitliche anschauliche Vorstellung bleibt und somit die erste Form des menschlichen Begriffes darstellt. „Wir sehen somit in den Begriffen keineswegs, wie es sonst geschieht, einen Gegensatz zur ,Anschaulichkeitʻ, sondern eine Fortbildung, Modifizierung des Anschaulichen.“ Nebenbei wird in Fortführung der Gedankengänge die Entstehung der Symbole gestreift. Im wissenschaftlichen Denken ist zwar die größtmögliche Atomisierung und Erstarrung der Anschauung erreicht, aber „es ist doch wieder nur Anschauung, die in dieser veränderten Form den wissenschaftlichen Begriff durchdringt und sich bis in seine feinsten Adern verzweigt. Nicht als ein neu von uns Geschaffenes, als eine leere Form, oder vielleicht als etwas Eingeborenes, bringen wir ihn an die Erfahrung heran, sondern im Gegenteil, in natürlicher Entwicklung erwächst auch er uns aus der Anschauung. Denn sein ganzes Material entnimmt er der Anschauung, die ihm so ewig fließende Lebensquelle ist.“ – Zum Nachweise, daß selbst abstraktes Denken oft in anschaulichen Symbolen ohne Worte vor sich geht, werden auch Silberers Forschungen (die autosymbolischen Phänomene) herangezogen. Die Entwicklung der dargestellten Resultate aus dem Prinzip der verschwommenen Vorstellung gibt den Autoren Anlaß zu sehr tiefgehenden Gedan-

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kengängen; jedenfalls hat das Buch dem Probleme des Konzeptualismus eine neue und bedeutende Lösung gegeben, deren stilistische Fassung dem Referenten nur manchmal etwas langwierig und überladen scheint.

Hugo Bergmann

Rezension In: März 11 (1914), Bd. 11, S. 394–396 Wenn man das, was die psychologische Forschung der allerletzten Jahre Neues gebracht hat, unter einem höheren Gesichtspunkt zusammenfassen will, so ist es wohl dies: sie hat die naive Art, mit welcher früher logische Kategorien mit psychologischen identifiziert wurden, beseitigt. Dadurch aber bekam das seelische Leben einen Aspekt ungeheurer Mannigfaltigkeit. Die logischen Kategorien sind notwendigerweise scharf abgegrenzt und einfach; werden sie aber erlebt, wirklich gedacht, dann treten sie unter ganz andere Gesetzlichkeiten; an die Stelle der scharfen Konturen treten Uebergänge und Zwischenstadien, die für die Logik – mit Recht! – nicht existieren. Denn Logik ist Grundlage wissenschaftlicher Gegenstandsbestimmung und alle solche „Objektivierung beruht auf Abstraktionen; handelt es sich hingegen darum, den seelischen Inhalt selbst möglichst in seiner subjektiven Unmittelbarkeit – und das heißt eben psychologisch – zu erfassen, so muß die Scheidung in Gedanken wieder aufgehoben, die Verbindung wiederhergestellt werden.“ (Natorp.) Die Unterscheidung von Anschauung und Begriff gehört zu den grundlegenden Sonderungen der Logik, denn sie ist die grundlegende Sonderung der Wissenschaft, deren Aufgabe sich doch hierin bezeichnet, die Anschauung in Begriffen zum Stillstand zu bringen. Diese Dualität, die alle Wissenschaft erst möglich macht, kann durch keinerlei Uebergänge verflüchtigt werden. Aber etwas anderes ist die Wissenschaft und die ihr zu Grunde liegende Logik, etwas anderes das wirkliche Denken des Forschers. Im Kopfe des Chemikers ruht der Begriff des Wasserstoffs nicht in jener kristallenen Klarheit wie ihn das Lehrbuch umschreibt: da gibt es wohl nur den klaren Kern einer Atmosphäre von Erinnerungen, Gefühlen, Vermutungen, für welche der Chemiker als Wissenschaftler nicht einstehen möchte. Es gehört zu den wesentlichen Verdiensten des Buches, das Max Brod und Felix Weltsch über das Problem der Begriffsbildung geschrieben haben1, daß sie in denkbar schärfster Form das logisch-wissenschaftliche Gegensatzpaar Anschauung – Begriff, sondern vom Erlebnis des Begriffes. Dadurch haben sie sich den Weg zum psychologischen Tatbestand, der hier vorliegt, erst frei gemacht.

|| 1 Anschauung und Begriff. Grundzüge des Systems der Begriffsbildung von Max Brod und Felix Weltsch. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1913.

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Jetzt können sie den Weg verfolgen, der von der „vorbegrifflichen Gesamtanschauung“ zum reinen wissenschaftlichen Begriff führt. Am Anfang – der von uns nur erschlossen werden kann – steht die Gesamtanschauung; der Name will den Gegensatz zu hergebrachten Theorien bezeichnen, nach denen auch schon die primitive Anschauung in sich gegliedert und für die begriffliche Erfassung vorbereitet wäre. Brod und Weltsch meinen – und stützen ihre Ansicht durch Hinweis auf die Erscheinungen der Ermüdung und andere – daß die ursprüngliche Gegebenheit des Seelenlebens ungegliedert ist und daß die Gliederung schon der Weg zur Begriffsbildung ist. Befindet sich z. B. ein Hund im Kinderzimmer, so sieht ihn das Kind in den verschiedensten Stellungen, ein Etwas kehrt da immer wieder, dessen Eindruck sich durch die Wiederkehr verstärkt, bis es aus der Gesamtanschauung hervortritt. Das Bild, das so das Kind von dem Hunde gewinnt, sein anschaulicher Begriff „Hund“ besteht aus diesem hervorgetretenen ,,Etwas“ („A“) eingebettet in ein verschwommenes Anschauungsmaterial („x“), in welchem die Eindrücke des sitzenden, stehenden, laufenden, fressenden Hundes in merkwürdiger Verwebung vereinigt sind zu einem unbestimmten und deutbaren, aber in sich doch anschaulichen Gesamteindruck: der Begriff ist ein ,,A + x“-Gebilde. In dieser Formel bringen die Autoren das wesentliche Resultat ihrer Untersuchung zum Ausdruck. In diesem (A + x)-Gebilde ist die Uebergangserscheinung zwischen der Anschauung und dem wissenschaftlichen Begriff entdeckt und damit eine ganze Reihe von Schwierigkeiten gelöst, die alle dadurch entstanden waren, daß man vom erlebten Begriff die scharfen Konturen des wissenschaftlichen verlangt hatte und nun mit Anschauung und Begriff als einem Gegensatz operierte. Auch gegen das Kehrbild dieses Gegensatzes, wie es bei Bergson erscheint, wendet sich die eingehende Kritik der Autoren. Die Erfahrung kennt diesen Gegensatz überhaupt nicht: das A+ x ist ein anschaulicher Begriff. Die übliche Theorie, welche die Begriffe als unanschaulich charakterisiert, setzt an die Stelle der Deutbarkeit eines Unbestimmten, des x, eine psychologisch nicht auffindbare Unanschaulichkeit. Gebilde des seelischen Lebens, die sie sind, haben die A + x selbst in sich ein immer bewegtes Leben. Das Kapitel über das lebendige Spiel der A + x gehört zu den genußreichsten des Buches. Dieses Spiel ist vor allem ein Hin und Her zwischen der unbestimmten Sphäre und dem deutlichen Kern. Bald wird das x in gewisser Weise spezialisiert, wie wenn zum Beispiel ein in uns vorhandener Erinnerungskomplex auf eine aktuelle Wahrnehmung angewendet, das Wahrgenommene ,,erkannt“ wird: wir werfen die in uns vorhandenen A + x in die Wahrnehmung hinein. Bald halten die A + x ,,wie narkotisiert“ still, wollen den Bereich ihrer Verschwommenheit nicht verlassen, wir haben etwas „auf der Zunge“, das heißt wohl anschaulich, aber nur verschwommen und unbestimmt.

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Unser Bericht muß hier notgedrungen Halt machen. Wir können den Autoren in die feinen Verzweigungen ihrer Analysen nicht folgen. Wer seine Freude haben will an der Art, wie hier geduldig und liebevoll das seelische Leben in seine Wirrnisse verfolgt wird, muß das Buch selbst zur Hand nehmen; nicht zumindest aber auch die, welchen das Problem Anschauung – Begriff am Herzen liegt, das heute in tausend Namen und Verkleidungen die Fragestellung der Philosophie beherrscht.

Aloys Müller

Rezension In: Archiv für die gesamte Psychologie 31 (1914), S. 39–47 Bei dem Versuche, die logischen Funktionen des Begriffes zu verstehen und deshalb möglichst scharf das psychologische Begriffserlebnis hiervon zu scheiden, wurden die beiden Verf. fast unmerklich in rein psychologische Probleme hineingeführt. Ihre Untersuchung hat, so meinen sie, mit ziemlicher Vollständigkeit die Gesamtheit der Mittelglieder aufgedeckt, die zwischen dem Begriff und dem Rohstoff der Anschauung liegen. Ist das richtig, dann wäre damit eines der wichtigsten Probleme gelöst, die gerade die neueste Psychologie beschäftigt haben. Ihre erste Aufgabe ist, den Charakter des vorbegrifflichen Erlebens zu beschreiben (Kap. I). Sie sehen in ihm eine einheitliche ungegliederte Gesamtanschauung, in der die einzelnen Teile voneinander noch nicht unterschieden werden. In dieser Gesamtanschauung wirkt objektiv vorhandenes Gleichbleiben und Wechseln der Teile automatisch, ohne zu einer abstrakten Erkenntnis oder auch zu einem Bewußtsein von „Gleich“ oder „Ungleich“ zu führen. Und zwar erzielt das Wachsen der Qualitäten eine leere Bewußtseinssteigerung, das Gleichbleiben ein Innewerden der Qualitäten und damit die erste Gliederung der vorbegrifflichen Anschauung. Somit sind an dem ursprünglich Gegebenen schon durch den „Ureffekt der Gleichheit“ Veränderungen hervorgebracht; und das ist nur ein Spezialfall der Einwirkungen der Aufmerksamkeit auf das anschauliche Material. Wenn wir aber dieses Material samt allen diesen Veränderungen mit dem wirklichen Eindruck vergleichen, den wir täglich von der Welt empfangen, so ergibt sich, daß dieses Welterlebnis weit über das hinausgeht, was die bloße Anschauung vermag. Die nächste Frage (Kap. II) der Verf. ist demnach die, welcher psychischen Tätigkeit wir dieses Plus verdanken. Sie finden, daß diese Tätigkeit ein Urteil ist, und werden dadurch veranlaßt, ihren Standpunkt in der Lehre vom Urteil zu skizzieren. Sie schließen sich der Auffassung von Brentano und Marty an, die das Wesen des Urteils in einer fundamental eigenartigen Beziehung zum Objekte erblickt, die entweder durch ein Bejahen oder ein Verneinen charakterisiert ist. Der wichtigste Grundtypus des Urteils ist das rein anerkennende Urteil, dem Marty den Namen „thetisches Urteil“ gegeben hat. Aus dem Anschaulichen der vorbegrifflichen Welt sondert sich nun bald eine große Gruppe anschaulicher Bilder aus, die vom Subjekt als etwas außer ihm Liegendes, von ihm Unabhängiges erfaßt wird. Sie wird zur Außenwelt; die Anschauung wird zur Wahrneh-

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mung. Und es ist klar, daß nach der vorgenannten Urteilslehre diese Wahrnehmung ein thetisches Urteil ist; denn das Verhalten des Subjektes der Gesamtanschauung gegenüber ist ein Anerkennen oder Verwerfen in genau derselben Weise wie der begrifflich gedeuteten, merkmalmäßig erfaßten Welt gegenüber. Allerdings ist dieses Urteil keine einmalige, punktuelle, mit einem gewissen Aufwand von Energie vollzogene Tätigkeit, sondern eine Dauertätigkeit, ein permanentes Verhalten, kein Urteil, sondern ein Urteilen, das aber mit dem einmaligen begrifflichen Urteil alle wesentlichen Eigenschaften gemein hat. Es braucht nicht immer ein explizites Erfassen dieses Verhaltens im Bewußtsein gegeben zu sein; es ist oft nur ein unbewußter Dauerakt. Ein zweiter Grundtypus ist das synthetische Urteil, bei dem es sich nicht nur um ein Anerkennen, sondern auch noch um ein Verbinden, Zusammenfassen handelt. Diesem synthetischen Urteil verdanken wir die Gegenständlichkeit der Welt. Es schafft im vorbegrifflichen Stadium in der Anschauung, die durch das thetische Urteil nur zu etwas außer uns Existierendem gemacht worden war, die Dinge. Hier ist der Ursprung des Substanzbegriffes zu suchen. Auch dieses Urteil ist ein dauerndes Verhalten. Ein dritter Grundtypus, das Notwendigkeits- bzw. Unmöglichkeitsurteil kann erst später behandelt werden. Die Verf. betonen noch, daß sie mit diesen vorbegrifflichen Dauerurteilen der Kantschen Verstandesform recht nahegekommen zu sein glauben. Würde die Funktion der Gleichheit, einzelne Stücke der Außenwelt zu verstärken und herauszuheben und so immer neue Verschiedenheiten zu erzeugen, sich unbegrenzt ausleben können, so müßte die Welt in immer kleinere Anschauungsstücke zerfallen. Aber dieser Detaillierungstendenz wirkt von vornherein etwas anderes Zusammenfassendes entgegen, und dieses andere ist die Verschwommenheit. Es handelt sich zunächst darum (Kap. III), dieses Phänomen zu charakterisieren, aber noch nicht um die Untersuchung, wie es arbeitet. Das Phänomen läßt sich nun vorab in den allgemeinen Satz fassen: unser ganzes Vorstellungsmaterial, sei es anschaulich gegenwärtig oder Erinnerungsbild, nimmt an einer Skala teil, die man in dem Sinne Verschwommenheitsskala nennen mag, daß eine Vorstellung, längs dieser Skala in der einen Richtung verschoben immer verschwommener, in der entgegengesetzten Richtung verschoben immer schärfer wird. Untersucht man die Merkmale der Verschwommenheit (der Einfachheit halber wird fast ausschließlich auf das optische Sinnesfeld exemplifiziert), so findet man 1) eine geringe Intensität, 2) eine gewisse Blässe der Vorstellung, 3) verwischte Grenzen, 4) Vermischung der benachbarten Farben, 5) eine geringe Anzahl differenter Eindrücke. Alle diese Eigenschaften stehen in Zusammenhang mit einer mehr oder minder günstigen Funktion des Organs. Verschwommenheit ist mithin jene graduell abgestufte Eigenschaft

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einer Vorstellung, deren Steigerung einer durch angespannte Tätigkeit des Organs entstehenden Steigerung entspricht. Diese gesteigerte bzw. mangelhafte Organausnutzung entsteht 1) aus physiologischen Gründen, 2) infolge äußerer physikalischer Bedingungen für die Funktion des Organs, 3) infolge größerer oder geringerer Aufmerksamkeit. Der dritte Punkt bedarf weiterer Ausführungen. Die beiden Grundphänomene der Aufmerksamkeit (objektive Verschärfung und subjektive Anschauung) treten in zwei Kombinationen auf: 1) Als Verbindung einer nur flüchtigen oder momentanen objektiven Verschärfung mit der subjektiven Anschauung (uneigentliche Aufmerksamkeit). Sie führt noch zu keiner Gliederung der Gesamtanschauung, sondern nur zu einer vorübergehenden Reizung des Bewußtseins; sie tritt natürlich nicht nur im Vorbegrifflichen, sondern auch später auf. 2) Kommt zu dem Tatbestand der uneigentlichen Aufmerksamkeit das Erfassen eines Einzelstückes der Anschauung hinzu, so liegt die eigentliche Aufmerksamkeit vor. Aus der allgemeinen Verschärfung, die vorher planlos, ruckweise über die Gesamtanschauung hinirrte, ist die Hervorhebung einer Einzelqualität oder eines Komplexes geworden. Motiv hierzu ist Wiederholung des Gleichen, Intensität oder Gefühlsbetonung. Mit Hilfe der Unterscheidung der beiden Typen der Aufmerksamkeit ist es möglich, in die Terminologie des Bewußten Ordnung zu bringen. Wir nennen „eigentlich bewußt“ Gegenstände der eigentlichen Aufmerksamkeit. „Uneigentlich bewußt“ sind nun die Teile eines eigentlich bewußten Ganzen, die einzeln nicht erfaßt werden, also als solche phänomenal gar nicht gegeben sind, die nur vom Standpunkte einer später erfolgten Gliederung aus konstatiert werden als schon vorher irgendwie vorhanden. Diese uneigentlich bewußten Teile erscheinen im phänomenalen Bewußtsein als verschwommene Anschauungspartien. Auf solche Weise wird also die Aufmerksamkeit zu einer Hauptbedingung für die Stellung einer Vorstellung in der Verschwommenheitsskala. – Neben dem rein psychologischen Verschwommenheitskriterium der mangelhaften Funktion des Organs findet sich in den meisten Fällen noch ein funktionelles: die verschwommene Vorstellung läßt eine Deutung in verschiedene weniger verschwommene Vorstellungen zu. Psychologisch ist das Deuten ein Urteilen, und zwar in der Form des Identitätsurteils (A ist B), das zwei Vorstellungen als zu demselben Gegenstand gehörig, als im Gegenstande eins auffaßt und deshalb als synthetisches Urteil von dem gleichfalls der Verschwommenheit sich bedienenden thetischen Gleichheitsurteil zu unterscheiden ist. Das Identitätsurteil stützt sich in der Regel auf die Kontinuität der Erfahrung, auf den unmerklichen Übergang der Veränderungen. Weil nun die Verschwommenheitsskala eine solche Kontinuitätsreihe in idealster Vollkommenheit bietet, bedient sich das Identitätsurteil, in welchem die Funktion der Deutbarkeit sich ausdrückt, dieses

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Kontinuums. Die Deutbarkeit hängt nicht nur von der verschwommenen Vorstellung ab, sondern auch von dem sonstigen Zustand des Bewußtseins, in dem diese Vorstellung auftritt. Deutbar ist eine Vorstellung nur in bezug auf andere schärfere Vorstellungen. Man kann nach alledem die Vorstellungen in „unecht verschwommene“, die die Eigenschaft der Deutbarkeit nicht besitzen (z. B. eine Theaterkulisse, eine schlecht eingestellte Photographie), und in „echt verschwommene“ mit der Eigenschaft der Deutbarkeit einteilen. Auch ergeben diese Überlegungen eine gute Symbolisierung. Man wird beispielsweise das Bild eines Ofens, den man aus einiger Entfernung bei ungünstiger Beleuchtung betrachtet, wohl deuten, aber nicht als alles Mögliche deuten können, das man erlebt hat. Man wird den Ofen nicht für den Eiffelturm oder für eine Katze, vielleicht aber für einen Kasten halten. Jede Vorstellung hat also einen scharfen unwandelbaren Kern K und ein verschwommenes x, das sich bei günstigerer Einstellung in genauere Bilder verwandelt. Jede Vorstellung und Wahrnehmung läßt sich darstellen durch (K + x); damit ist nicht gesagt, daß die Verbindung bloß additiv ist; sondern das K durchdringt gleichsam die ganze Formation des verschwommenen Gebildes wie ein Skelett, wie ein Blutkreislauf; es steckt gewissermaßen in jedem Teilchen der Vorstellung, es ist das Maß der Variabilität der Vorstellung, das in der gegebenen Vorstellung selbst liegt. – Analoges wie bei den Wahrnehmungen liegt auch bei den Phantasiebildern vor. So ist auch das spezielle Erinnerungsbild, das einen individuellen, zeitlich und räumlich ganz bestimmten Fall im Gedächtnis festhält, von der Form (K + x); es besitzt, sich selbst überlassen, die Tendenz, sein x zu vergrößern. Die speziellen Erinnerungsbilder kommen allerdings selten vor. Fast immer repräsentiert das Erinnerungsbild eine ganze Reihe von Eindrücken, es ist ein allgemeines Erinnerungsbild, das deshalb nicht aufhört, anschaulich zu sein. Und dieses allgemeine Bild als verschwommene Vorstellung, die vermöge ihrer Deutbarkeit in viele scharfe, voneinander abweichende Vorstellungen diese Vorstellungen in sich begreift, ist das, was der genannten Detaillierungstendenz entgegenwirkt, was den Zerfall der Welt in ungleichartige Anschauungsatome hindert, ohne jedoch damit einen Rückschritt ins Vorbegriffliche zu veranlassen. Das allgemeine Erinnerungsbild, das das Symbol (A + x) haben soll, gleicht der vorbegrifflichen Anschauung darin, daß es wie sie mangelhaft gegliedert ist; es unterscheidet sich von ihr aber dadurch, daß es als deutbares „echt verschwommen“ ist, während das Vorbegriffliche, nur „unecht verschwommen“, keine Deutung zuläßt. Diese (A + x) sind die ersten Formen des menschlichen Begriffes. Sie sind anschaulich und dabei doch abstrakt. Die Bildung der (A + x) braucht nicht am Faden der Identität zu erfolgen, d. h. ein und denselben Gegenstand zu betreffen. Sie können sich auch auf mehrere Gegenstände hinsich-

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tlich der Gleichheit beziehen. Alle diese Formen des (A + x) gehören in eine Vorstellungsklasse, die man als „anschaulichen Begriff“ (Kap. IV) bezeichnen kann. Werden nun auf diesem anschaulichen Wege alle Begriffe gebildet? Die Verf. antworten schon vorausgreifend mit Nein: die wissenschaftlichen Begriffe sind ihnen keine ruhige Weiterentwicklung des Anschaulichen mehr, wenn sie auch auf diesem beruhen, sondern etwas ganz Neues, das in ganz anderer Richtung zum Anschaulichen hinzutritt. Trotzdem besitzt das Anschauliche Kräftegenug, um bis in hohe Regionen menschlicher Vernunft vorzudringen. Zwei oder mehrere (A + x)-Gebilde können zu einem (A + x)-Gebilde höherer Ordnung verschmelzen, ohne dadurch selbst verschwinden zu müssen. Die anschaulichen Begriffe werden so immer abstrakter, während die ursprünglichen (A + x)Gebilde es der steten Belebung durch die bestätigende frische Wahrnehmung verdanken, daß sie trotz dieses Verkehrs mit den übrigen (A + x)-Gebilden erhalten bleiben. Wie sieht nun das A bei den höheren (A + x)-Gebilden aus? Was bleibt als A bei den höchsten (A + x)-Gebilden übrig? Die Frage läßt sich nicht befriedigend beantworten, wenn man die Anschauung sich in Sinnesqualitäten auflösen und aus ihnen aufbauen läßt. Es muß vielmehr in der Anschauung noch etwas sein, das mindestens so wichtig ist wie die Qualitäten selbst. Dieses Etwas sind die Relationen. An einfachsten Beispielen läßt sich leicht einsehen, daß das rein Qualitative hinter die Relation irgendwie zurücktritt; die Relation ist scharf, das Qualitative verschwommen. In der Sprache unserer Symbolik: die Relation ist A, das Qualitative x. Und die (A + x)-Gebilde sind Relationen mit verschwommenem Fundament (Kap. V). Das Nächste ist natürlich eine Untersuchung der Relationen (Kap. VI); es wird in der inneren Wahrnehmung jeder Akt gesucht, der die Relation zum Inhalte hatte. Wenn man die Brentanosche Einteilung der psychischen Phänomene – Vorstellungen, Urteile, Interessephänomene (Gefühle) – annimmt, sind die Relationserlebnisse Vorstellungen. Allerdings geht die Rolle der Relationen bei der Aufmerksamkeitsverteilung und in den (A + x)-Gebilden in einer großen Anzahl von Fällen auf Urteils- oder Gefühlsakte über. Die Relationen sind anschauliche Vorstellungen, sie sind psychische Akte, die, frei von jeder urteilenden oder emotionellen Stellungnahme des Subjektes, nur ein Gegenwärtigsein von Inhalten an sich sind. Sie unterscheiden sich von den übrigen Vorstellungen durch eine gewisse Bedingtheit, eine gewisse Abhängigkeit von anderen Vorstellungen – ihren Fundamenten. Es gibt keine Vorstellung der Relation ohne Vorstellung ihrer Fundamente. Man kann die Relation nur erleben, wenn man die Fundamente erlebt. Das scheint mit vielen Beobachtungen nicht zu stimmen. Aber dieser Widerspruch löst sich sofort, wenn man bedenkt, daß die

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Gesamtrelation ein (A + x) sein kann; daß aus diesem Gesamteindruck die Relation selbst als A hervorragen und die Fundamente in x, also uneigentlich bewußt bleiben können. Ist die Relation immer vorhanden, so oft ihre Fundamente gegeben sind? Bei eigentlich-bewußtem Fundament sind die Relationen als uneigentlich-bewußte stets vorhanden, als eigentlich-bewußte aber nur unter gewissen Voraussetzungen, nämlich dann, wenn auf verschiedenartige Motive hin die Aufmerksamkeit sie erfaßt und eigentlich bewußt macht. Die Relation ist durch ihre Fundamente eindeutig bestimmt; aber sie ist mehr als die bloße Summe der Fundamente, sie ist ein neuer anschaulicher Inhalt, der zu den Fundamenten hinzutritt, und der bei einer Zerlegung der Relation in ihre Fundamente verschwände. – Von hier aus fällt dann neues Licht auf die Gestaltqualitäten, die mit den Relationen nicht ganz identisch sind, und auf die Verbindung der Akte mit ihrem Gegenstand. Das Nähere mag man in dem betr. Kapitel nachlesen. Nur sei hinsichtlich des letzteren Punktes noch bemerkt, daß es (A + x)-Gebilde gibt, in denen als A Gefühlsakte oder als x Urteilsakte wirken. Die im Vorstehenden skizzierte Theorie der Begriffe hält die Begriffe nicht für bloße Worte, läßt sie auch nicht durch Einzelvorstellungen vertreten sein, sondern anerkennt das Vorhandensein allgemeiner Vorstellungsinhalte und betont die Wesensverwandtschaft dieser Allgemeinvorstellungen mit der Anschaulichkeit. Das ist die Auffassung des Konzeptualismus, und die nächste Aufgabe ist nun, auf die Einwände des Nominalismus dagegen einzugehen; dabei werden sich einige neue Eigenschaften der (A + x)-Gebilde ergeben (Kap. VII). Der erste Einwand ist jener bekannte, den Berkeley am schärfsten formuliert hat: es gibt nicht die Idee einer Bewegung, die weder schnell noch langsam, weder krummlinig noch geradlinig ist usw. Unsere Verf. berufen sich mit Recht auf die einfache Erfahrung, die echt verschwommene, deutbare Vorstellungen aufweist. Ein zweiter Einwand des Nominalismus lautet: Es ist gleichgültig, ob solche Allgemeinvorstellungen möglich sind oder nicht – das Denken geht entweder ganz unanschaulich oder in streng individualisierten Erinnerungsbildern und Phantasievorstellungen vor sich. Dagegen zeigen die Verf. in eingehender Untersuchung, daß der in dem Einwand vorausgesetzte Gegensatz zwischen individueller und allgemeiner Vorstellung gar nicht besteht, daß die Vorgänge des Denkens wirklich auf (A + x)-Gebilden beruhen, daß diese Vorgänge aber nur unter gewissen günstigen Bedingungen der Beobachtung zugänglich sind, unter anderen Bedingungen sich mehr oder weniger einem Denken in Einzelvorstellungen zu nähern scheinen. Zeigen sich Einzelvorstellungen bei der Analyse eines Begriffes, so liegt das nicht im Wesen des Begriffes begründet, sondern darin, daß die Aufmerksamkeitsänderung auf das (A + x) zerstörend wirkt, daß sie (A + x)-Surrogate schafft, die bei den meisten Menschen

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an Stelle der normalen (A + x)-Gebilde fungieren. Die wahren (A + x)-Gebilde sind im allgemeinen unbewußt und unbeobachtbar wirkende Fundamente des Denkens. Die Zusammenfassung der bisherigen Einzelresultate ergibt die Charakteristik des Denkens (Kap. VIII). Das Denken ist eine Weiterentwicklung der Anschauung, die dadurch charakterisiert ist, daß infolge bestimmter Veränderungen der Aufmerksamkeit immer größere Stücke des A ins x fallen, so daßschließlich im A nur noch gewisse Elemente übrig bleiben, die es begreiflich erscheinen lassen, daß man dieses Denken als unanschaulich bezeichnen kann. Das Wesentliche bei dieser Entwicklung des Anschaulichen ist, daß ursprünglich vollbewußte, ja sogar mühevolle Prozesse aus dem Bewußtsein entschwinden, ohne daß dies in einer Änderung ihrer Wirkungsweise irgendwie zum Ausdruck käme. Der anschauliche Inhalt geht aber nicht verloren, sondern gerät nur ins Uneigentlich-Bewußte. So bietet unser ganzes fortgeschrittenes Denken zwar das Bild einer Mechanisierung eines geistigen Prozesses, aber einer provisorischen Mechanisierung mit ständiger Unterstützung durch uneigentlich bewußte Anschauung. Es bedarf nur einer ganz minimalen Reizung der Aufmerksamkeit, um das Uneigentlich-Bewußte gerade nur in dem Maße und in der Richtung, als es das Verständnis des logischen Zusammenhanges benötigt, bewußt zu machen. In dieser Verwandlungsfähigkeit des Uneigentlich-Bewußten ins Eigentlich-Bewußte liegt die Erklärung für seine logische Kraft. – Die Verf. vergleichen nun noch mit ihren Ansichten einige Ergebnisse der neueren Forschung, die mit jenen nicht nur verträglich sind, sondern sich in vielen Fällen auch als Bestätigungen derselben erweisen. Schon vorhin ist bemerkt worden, daß die Bildung der wissenschaftlichen Begriffe teilweise anderen Gesetzen gehorcht als die Entstehung des anschaulichen Begriffs. Ihnen ist deshalb das folgende (IX.) Kapitel gewidmet. Weil sie vorwiegend logische Bedeutung haben, besprechen die Verf. zuerst die logischen Leistungen der Begriffe überhaupt. Die Funktionen des Begriffes sind im allgemeinen Subsumption und Mitteilung; erst der wissenschaftliche Begriff bringt noch eine neue hinzu. In beiden Funktionen sind die (A + x)-Gebilde brauchbar, aber nur mangelhaft brauchbar. Das Äußerste, was sie leisten können, ist ein vages Wiedererkennen, ein unsicheres Mitteilen. Gäbe es nur diese Gebilde, so würde alles das fehlen, was das Wesen der Wissenschaft ausmacht: die Ereignisse verstehen und benützen. Hier muß die Anschauung mit Notwendigkeits- und Kausalitätsurteilen durchsetzt werden, und das bedingt eine völlige Änderung der Begriffswelt. Wie geht diese Änderung vor sich? Wenn das (A + x) zu höheren Begriffen sich entwickelt, bringt das ein stetes Anwachsen des x und eine Verkleinerung des A mit sich. So wird das übrigbleibende A all-

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mählich an Anschaulichkeit so arm, daß es nicht weiter analysierbar, daß es unteilbar, invariabel erscheint. Es ist gleichsam ein Anschaulichkeitsatom geworden, nach der üblichen Terminologie ein Merkmal. Merkmale sind also jene starren, kleinsten Teile der Anschauung, die mit keiner anderen Vorstellung etwas gemeinsam haben können, ohne alles mit ihr gemeinsam zu haben. Hier ist das Material für die wissenschaftliche Begriffsbildung. Jene Anschauungsatome werden zum Teil durch Notwendigkeitsurteile zusammengehalten, d. h. Urteile von der Form: A, das nicht zugleich B wäre, ist unmöglich. Hier haben wir den dritten zu Anfang schon genannten Urteilstypus vor uns. Auf diese Notwendigkeitsurteile geht die Kausalität zurück: in der Konstatierung, daß B notwendig aus A folgt, liegt die Erkenntnis, daß B aus A folgt, daß A die Ursache von B ist. Kausalitätsurteile sind Notwendigkeitsurteile, deren Materie eine Zeitoder Bewegungsrelation A–B ist; bei einer großen Anzahl von Kausalitätsurteilen und bei vielen anderen Notwendigkeitsurteilen liegt allerdings kein wahres apodiktisches Notwendigkeitsurteil vor, sondern nur die assertorische Konstatierung der Notwendigkeit. Der ganze Prozeß der Verwandlung des anschaulichen Begriffs in den wissenschaftlichen – sofern man ihn, der sich in mannigfachen Etappen, Wellenlinien und Durchkreuzungen der beiden Systeme abspielt, künstlich als einen einheitlichen Prozeß betrachtet – erscheint also einerseits als ein Zerfallen der lebenden Anschauung in kleinste Partikelchen, andererseits als ein Durchdrungenwerden der Anschauung von Kausalität.– Wenn wir nun das logische Gebiet verlassen und nach dem Erlebnis der wissenschaftlichen Begriffe in der psychologischen Wirklichkeit fragen, so ist die Antwort in dem besprochenen Umstand, daß die Merkmale eines Begriffes durch Urteile zusammengehalten werden, von selbst gegeben: das Erleben von Urteilen ist die Form des strengen wissenschaftlichen Begriffs und das Denken in solchen Begriffen gleichsam das ideale Gegenstück zu dem rein anschaulichen Denken. So wie aber die Merkmale noch immer Stücke lebender Anschauung mit sich tragen, so ist anderseits das unwissenschaftliche Denken durchsetzt von Elementen der wissenschaftlichen Begriffsbildung. Somit erhält der vorhergehende Abschnitt durch die folgenden Ausführungen eine Ergänzung. Das (A + x)-Gebilde ist jene Einheit, die allem Denken zugrunde liegt; nur kommt beim wissenschaftlichen Denken noch etwas hinzu. So wie sich an das mechanisierte (A + x) eine Verwandlungsreihe in der Richtung der schärferen Anschaulichkeit anschließt, kann sich an dasselbe (A + x) eine zweite Reihe anschließen, nämlich eine Reihe assoziativ mit dem (A + x) verbundener synthetischer bzw. apodiktischer Urteile. Das ist die wissenschaftliche Reihe. Die Verbindung dieser Urteile mit dem (A + x) ist eine weit losere, äußerlichere, künstlichere als die natürlich entstandene anschauliche. Denn während alle

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Formen, die das (A + x) in dieser anschaulichen Reihe annimmt, in dem (A + x) in der von uns beschriebenen Art enthalten sind, so daß sie organisch aus ihm herauswachsen können, sind diese wissenschaftlichen Urteile nur assoziativ angehängt, ist das Funktionieren dieser Reihe vom Gedächtnis, das diese Assoziationen zu bewahren hat, abhängig und auf die Unterstützung dieser anschaulichen Reihe angewiesen. – Der Schluß des X. Kapitels enthält noch eine Reihe von Einzelheiten über das gegenseitige Verhältnis des wissenschaftlichen und anschaulichen Begriffes und das Verhältnis beider zur Sprache. Das letzte (X.) Kapitel gibt einige erkenntnistheoretische Andeutungen. Die genauere Ausarbeitung behalten sich die Verf. für eine eigene Arbeit vor. Sie glauben, daß in ihren Aufstellungen der Ausgleich zwischen Mystik und Rationalismus, modern gesprochen zwischen dem Gedankenkreis derer um Bergson und James und dem der Neukantianer, enthalten sei. Beide Betrachtungsweisen sollen gleichberechtigt nebeneinander stehen. Isoliert sündigt die erstere durch zu starke Betonung des Anschaulichen, die zweite durch zu starke Betonung des Wissenschaftlichen. Das Buch ist wohl das erste, das in geschlossener Darstellung eine eingehende Theorie der psychologischen Entwicklung der Begriffe bietet. Wo die Verf. mit den Gedanken anderer Forscher zusammentreffen, merken sie es an, setzen sich auch stellenweise ausführlicher mit ihnen auseinander; vielleicht wäre aber doch eine größere Berücksichtigung der Kinder- und völkerpsychologischen Untersuchungen wünschenswert gewesen. Der Anklänge an fremde Gedanken gibt es überdies mehr in dem Buche, als es selber sagt. S. 40 meinen die Verf., daß sie mit ihren vorbegrifflichen Dauerurteilen der Kantschen Verstandesform recht nahe gekommen seien; ich würde dieses Verhältnis zu Kant eher als ein Präzisieren des unbestimmt gelassenen Kantschen Begriffes auffassen. Das Wichtigste aber ist, daß die Verf. nicht zu merken scheinen, wie sie mit ihren thetischen vorbegrifflichen Dauerurteilen Jerusalems Urteilsfunktion, mit den synthetischen den Dürrschen Objektivitätsfunktionen sich nähern. Das Buch schlägt den richtigen Weg ein, indem es den Begriff in seinem ganzen Umfang, nicht nur den wissenschaftlichen Begriff untersucht, und indem es gerade der Durchforschung des Gebietes des Anschaulichen den breitesten Raumwidmet; denn unzweifelhaft liegen die Ursprünge des wissenschaftlichen Begriffes in dem anschaulichen Material des täglichen Lebens. Auch scheint mir das Buch zwischen den Ansichten der Denkpsychologen, die einen unanschaulichen Prozeß teils postulieren, teils leugnen, zu vermitteln geeignet zu sein. Im einzelnen bietet das Buch viele Stellen, wo die Kritik einsetzen kann (z. B. die Ausführungen über die Kausalität), vor allem aber viele, die Ansätze und Anreize zu weiterer Forschung, vielleicht auch experimenteller, enthalten. Manches

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scheint mir mehr Symbolisierung als Deutung, mehr Darstellungsmittel als Erklärung zu sein. Am schmerzlichsten aber empfinde ich eine Lücke in dem Buche. Die Verf. streifen fast in jedem Kapitel, am meisten im 7., 8. und 9., an das Problem des Realitätscharakters der logischen Gesetze, ohne es zu behandeln, ja auch nur ausdrücklich zu formulieren. Mir scheinen sie aber ihre Aufgabe nicht gelöst zu haben, bevor sie nicht gezeigt haben, wie in dem Leben der psychischen Gebilde, das sie so meisterhaft beschreiben, die logischen Gesetze realisiert werden. Vielleicht dürfen wir von einer späteren Arbeit eine Behandlung dieses Problems im Rahmen ihrer Anschauungen erwarten.

Henry J. Watt

Review In: Mind 25 (1916), S. 103–109 As the title suggests, this book attempts to form a theory of the psychological development of the concept from its inspective (anschaulich) basis in sensory experience. The universal is held to be the point of a pyramid whose broad basis lies deep in the realm of inspective, perhaps half-unconscious, experience; it is the highest rank of the processes that modify the given. The authors believe they have found all the intermediary steps between the concept and the raw material of inspection. The only gap may lie amidst the conceptual sphere itself, between the inspective and the scientific concept. Extensive references are made to recent experimental work on thought and abstraction, to literature dealing with the ‘Gestaltqualität,’ and to phenomenological essays‚ especially those of Cornelius‚ H. Gomperz and E. Husserl. The Work is crisply written and is prefaced by a useful analysis of the subjects discussed in each chapter. In spite of these merits of purpose and effort I cannot think that the constructive scheme offered by the authors either serves to clarify the facts or to decide between opposing theories. In fact the book seems merely to add to the prevailing confusion of opinion regarding the relation between sensory experience and thought. It is but another device for suggesting that thoughts are formed of the same mental stuff as sensations and so for discrediting the growing group of psychologists who claim to find a radical difference of nature or stuff between sensation and thought. In this respect the work allies itself with the recent efforts of C. Rahn to form a presumption1 in favour of a sensationalism, which in spite of some independence of opinion, works out very close to the pattern of Titchener’s. But though our authors do not follow the well-worn tracks of kinæsthetic theory, their plan shares with the American variety the claim that much of our thought seems to be non-sensory‚ because the sensations which have gone to its making have confused each other’s individuality or have decayed through over-use. It is natural that the author of a theory should have a strong belief in its validity; otherwise his efforts to support and justify it would be a mockery. And we expect the confidence of the author of the true theory to be the greater for his

|| 1 The relation of sensation to other categories of contemporary psychology. The Psychol. Monographs, 1913, xvi., No. 1, esp. 115ff.

DOI 10.1515/978311053719-020

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insight into the truth. But if a theory is to become an arch in the castle of science, it must stand firm without the builder’s frames of faith. Strong assertions of belief are apt to arouse as vigorous opposition, which rarely hesitates to reject all other views as trivial and unintelligible. Opponents not only fail to be reconciled, but their differences become more and more acute. The frailty of the science then reveals itself collectively in the formation of “schools” of opinion. That appellation points a warning finger at the influence of local authority and suggestion. It reminds us how little chance of life the favoured theory would have outside such genial surroundings. The psychology of thought has evidently attained this unhappy stage of its development. But in spite of violent differences of theory there is an obvious increase of unanimity about the crude facts of observation. This could hardly long be wanting where experimental practice is familiar and decisive. Observers of all “schools” assert that they think and intend, and are sure or doubt‚ and know that they know, or know that they will not succeed, and so on. This establishes a greater semblance of equality of justification between schools; for it destroys the brief authority that is given by priority of observation. The issues then hang upon interpretation and theory, and in a really difficult problem there is no connexion at all between the age of a theory and the justice of its claim to inherit the truth. The vesture of venerable tradition will rather hamper than help the heir in his struggle for recognition. In these days of violent dispute it may be of interest to inquire by what signs or marks the true theory may be recognised, and in what respects our authors’ theory comes short of the ideal. Where there is so much debate about the nature of thought, it must surely be obvious that even thought itself – for the thinkers who wish to discover the essence and roots of its being – is an independent psychical reality. In a certain sense it is just as real and independent as is any physical reality. We can all distinguish between a fly and an elephant, and when two fluids are mixed we can notice a change of colour and of temperature. Dispute begins only when we attempt to detect the common substance and origin of the elephant and the fly, or to discover the cause of the change of temperature or colour. Any one can see the difference between starch and sugar, but their real difference could only be ascertained when chemical science had grown up to, and incorporated, their complexity. The lesson for psychology seems clear. We shall be unable to state the full value of the obvious difference between sense and thought, till we have established a method of successful and exhaustive analysis of sensory experiences and have succeeded in arranging these in their order of complexity and in their connexions, not only systematically but convincingly. As in chemistry, so in psychology, we need some means of knowing approximately when we

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have a sufficient theory. At present theories are merely preferences. Not one of them convinces its opponents; and it is therefore to be inferred that it does not convince even its adherents; it only pleases and charms them. Let us then gather our facts about thought diligently‚ but let us look to the elementary foundations of psychological science for the theoretical basis on which to build their explanation. The key to our authors’ system is found in their interpretation of the now well-known facts regarding generalised images. Their term for this genus of sensory experience is Anschauung; let us call this ‘inspect’. Das Anschauen will then be inspection and anschaulich inspective. The important question may then be stated: To what range of experience may the predicate ‘inspective’ still be applied? How far up the pyramid leading from the elements of sense to the concept are experiences still inspective? Obviously it all depends upon what happens to the inspective elements on the way. Let us read what our authors tell us: “Thinking thus shows itself to be a further development of inspection, which is characterised by the fact that in consequence of certain changes of the attention greater and greater pieces of the A fall into the x; so that in the A there remain finally only certain elements, which make it appear likely that this thinking could be simply designated non-inspective. But this would be right only if the term ‘inspective’ were to be used in the sense of the ideally complete inspect, apprehended fully and thoroughly with highest attention and strongest tension of sense-organs. We believe that we have shown that this is impossible, if only on account of the constant local differences in the distribution of the attention which must be balanced by considerable processes of blurring. But if that is left out of consideration and if the material that is not exactly in the focus of attention is also called inspective, our concept of the inspect is also therewith accepted. For then it is a matter only of more or less, without sharp boundary, and there is no saying at what point of this scale of blurredness, that leads from what no longer stands quite in the focus of attention, through what is getting more and more blurred, to what is not properly conscious, the inspective should be called uninspective” (p. 166). There we have the whole doctrine in a nutshell. Blurring by overlaying, much after the manner of Galton’s composite photographs, but with modifications and restrictions which, of course, rescue the notion from the crudity of Galton’s idea, is the process that turns inspects into concepts; and, of course, concepts are inspective. The reader can imagine how this doctrine would be received by members of the non-sensory thought schools. No doubt ‘generalised’ images do occur; they are familiar to all who have had occasion to make systematic introspection under experimental conditions. The famous blend of triangles is, of course, not to

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be expected, but there are countless others quite as decisive in nature. Shall we then tell our authors that that sort of image is not therefore general, any more than a fading after-image is, and for various reasons cannot be a step on the way to the concept? To do so would be merely to repeat efforts that have already been made in vain. The sensationalistic literature of America of recent years shows how little conviction of error the most cherished distinctions of the nonsensory thought schools have aroused amongst their opponents. The bias of sensationalism can trace its own image in the most diffused appearances of thought. Have they not said and do they not tell us: How full of fantastic superstitions your doctrine is; your thoughts must be infinite in number and ineffable in being; surely you have forgotten the part played by the cortex; you do not seem to share the wonderful wealth of kinæsthetic imagery of our observers; you do not seem to realise the tricks even your imagery could play you; your methods are crude and offhand, you simply throw away as irrelevant what you do not like and then pretend to discover you cannot find it; you speak of sensations as if they were unchangeable atoms, but do think for a moment what is involved in the notion of process, every one knows that a ‘state’ is a myth; you yourselves say you often find only one attribute at a time, and, pray, where are the others at the moment; do you not see that your thoughts are only such ‘wandered’ attributes? The reply to this array of persuasions is the judgment that amongst them there is not a single real argument. They are all mere presumptions, which make much show and effect, but have no objective force. They are such lean kine that a single newborn calf of real argument would swallow them without the least loss of appetite. Can then the counter-reply be made? Can sensationalism brand the ‘arguments’ of the non-sensory schools as mere presumptions? Surely it can; otherwise we can hardly explain how its mere presumptions could maintain themselves in men’s minds against these real arguments. But a battle of presumptions with presumptions might last for very long. The main presumption made by the non-sensory schools is the assertion that the difference between sense and thought is not a great and subtle one but a radical difference, a difference of kind. The sensationalists have now learnt to admit the difference, but they maintain that it is only apparently great, in reality subtle and trivial. Thus a position of stalemate between the two schools has been found. The problem of vitalism in organic chemistry reduces itself to a similar issue. As in it, so in psychology, we can expect a solution and unanimity only when the psychological science has raised itself from its elementary foundations to the level of the thought processes.

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But the sensationalist may not reply that it has already done so – in his school; not while he entertains the household of presumptions enumerated above. Both schools must leave their radical and subtly great differences alone, for the issue between sense and thought is far too broad; the opposing parties must come out into the open, and put up a small, fixable, ordinary difference, the first and simplest difference they can find, and fight the matter out on that. Both schools admit that there are differences within both spheres – sense and thought, so that there is wide scope for detail work. An example comes to hand from our authors. They accept much familiar teaching regarding Gestaltqualitäten–Relationen as they call them. What sort of experiences are they? In order to decide this they accept Brentano’s broad division of psychical phenomena into three groups: inspects (Vorstellungen), judgments, and interests or feelings; and, of course, relations are Vorstellungen; “moreover, we maintain inspective Vorstellungen”. They are truly ultimate elements of inspective experience. They fall into two groups, simple and complex. Complex relations are built up from simple ones; either of the same kind, hence e.g. ‘square’ from different place relations; or of different kinds, e.g. melody from tones and qualities; or again motion. The relation is dependent upon its foundations but is more than the sum of them. And “as is well known the recognition of relations rests upon the blurredness of its foundations” (p. 118). If all this be so, relations form precisely the kind of battle-ground desired. They involve blurring and overlaying (p. 123), there is not a subtly great difference between them and their foundations, the difference is slight, or the authors would not say: “And they are, we maintain, inspective Vorstellungen”. And finally the relation is more than the sum of its foundations. We would propose to our authors that they apply the term inspect to the foundations of relations and that they then show cause why that term should be applied to the relations themselves, full, detailed, methodical cause, every trifle of which we can follow, and accept or reject. Then we shall have some idea as to whether the concept is inspective or not. For why should we not from their system say the concept is a relation? If the occurrence of relations depends upon the caprice of attention (p. 119), why should not relations be also right or wrong? And if the concept be a ‘relation,’ who shall then say that concepts are inspective? It all depends upon what decision is given for the simpler relations. But if relations (including concepts) are always something more than the mere sum of the foundations, it is a matter of moonshine whether they are called inspective or not. Not only is the main hypothesis of our authors’ scheme unconvincing, but so are its subsidiary props. The chief of these are the action of Verschwommenheit or blurredness, and its counterpart the Gesamtanschauung or mass inspect.

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In fact, the former occupies so central a position in the whole scheme that the authors themselves at times felt inclined to call their work “a monograph on blurred Vorstellungen”. We have already read how the process of blurring enters into the explanation of thoughts and concepts. It is everywhere brought into action; it has to make up for all deficiencies due to want of method and to hide the improbability, so obvious at first blush, that concept and sense are not different kinds of experiences. At the same time its balance and counterpart – the mass-inspect – serves to retain for experience the clarity and order that it so often shows. The authors believe that “a unitary undissected mass-inspect, in which the various parts are not yet distinguished from one another, forms the original inspect”. Nevertheless we have to believe that “on later dissection these parts are not, as might be thought, invented or introduced from elsewhere, but are discovered in the whole”. The second sentence obviously implies that the word ‘distinguished’ in the first means ‘different’; otherwise the whole passage, apart from the primacy of the mass-inspect, becomes a mere tautology, viz., when parts are distinguished, they are distinguished. A system which is thus suffused with the notion that things are there that are not there, can hardly claim to be clear. The theory of the original unitary mass-inspect is right or wrong according to the meanings given to the term inspect. If the idea is that a sensory experience comes to us always only in large outlines, it is certainly wrong. I very much doubt whether such an idea or its predecessor of the ‘undifferentiated continuum’ is even capable of intelligible formulation. The jugglery loses its charm when all creation is pulled out of the borrowed hat. Why borrow a hat at all? Why start with a mass-inspect rather than with the elements of sense? Let psychical creation come forth in its order without having to pass through the birth mystery of the soul or the brain or the Gesamtanschauung or any other agent or halo. On the other hand, if the idea is that our percepts are at first large in scope and gradually become more specific and detailed, there is probably much truth in it. Then we can say with truth and without tautology that the various ‘parts ’ of our first large percept are not yet distinguished from one another and are later perceptually discovered. Or more exactly, the great mass of data upon which our first percept is founded afterwards provides foundation for a large number of percepts of smaller scope. In a passage on page 38 our authors express a theory of thinghood or substance which would have served them better in a study of perception than their nation of the mass-inspect. Our authors’ notion of blurring is too special to allow them to reply that of course they do admit the existence of the elements of sense, end merely qualify that existence with the predicate uneigentlich bewusst, not exactly conscious.

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They give an example which excludes that interpretation. A certain article seen in diffused attention “had not the quality green or black, but a blurred quality. That is, of course, no mixture of green or black, as it were a greenish black (that were a much too crude expression of sense), but a quite peculiar … phenomenon, whose being consists in this: (1) that it is indefinite, dull and weak, with flowing boundaries … (2) that under certain conditions it can pass over into sharper phenomena,” e. g. the remark of an eyewitness may restore the memory of the clearly seen colours green and black and the exact form of the article; “whereby the important point is that this revived picture of memory presents itself not as something foreign to the blurred picture, but as something already somehow contained in the blur”. With this another quotation may be compared: “the judgment, before numerous processes such as repetition, etc., make it fully conscious, is contained in the inner mass-inspect exactly in the way we have already seen that the single quality is contained in the outer mass-inspect previous to its becoming fully conscious” (p. 33). “Judgment is an enduring act which accompanies everything and is oft only unconscious” (p. 27). Taking those none too clear statements with all possible goodwill, I do not feel convinced that the notion of ‘blurring’ is in any way applicable to our inspective experience, or indeed to any experience at all. Neither experience nor a picture is ever blurred. It is blurred only in a relational sense, in so far as its adequacy to portray a certain reality or to fulfil a certain task is concerned. The idea of blurring, in other words, belongs not to the objects of psychology, but to general objective knowledge, of which psychology itself forms a part. As veridical and practical instruments both experiences and pictures may be blurred; but in their subjective und in their æsthetic reality respectively they are never blurs. The aim of psychology is to know the subjective reality at all levels of the growing pyramid, whether the slabs have been got into proper balance or not. The aim of the picture is to be admitted to the mind as it is so that its full action may be there attained. Nor are the changes in an inspect that the authors group under the term ‘blurred’ sufficiently analysed and separated from one another. At one moment we read of a scale of clearness in which each inspect takes a place, at another of changes of adaptation in the sense-organs, and again of progress or change in the knowledge of the subject or in his preparation to observe and know. But not even Titchener’s clear analysis and vindication of the attribute of clearness can be said to have succeeded; and whatever the varieties of the knowing process may be, none of them can be held to be a blurred experience, however indefinite or indirect in its logical aspects the knowledge they embody may be.

Heinrich Levy

Rezension In: Kant-Studien 24 (1920), S. 321–325 Das Thema des Buches „Anschauung und Begriff“ muß die Philosophie interessieren, auch wenn es, der Absicht der Verf. gemäß, psychologisch gemeint ist. Denn das Erleben des Begriffs ist ein Denken, Denken aber das Erleben eines objektiven Gehalts als solchen und somit von letzterem, dessen Wesen die Philosophie untersucht, nicht zu trennen. Von Seiten der experimentellen Psychologie hat freilich erst Külpe und seine Schule das Unanschauliche und Sinnhafte im Denken erkannt. Die kritische Philosophie ihrerseits hingegen durfte von jeher an diesem schon von Platon durchschauten Sachverhalt nicht zweifeln; sie mußte aber eben deshalb alle Psychologie, die bloße Assoziationspsychologie war, aus ihrem Reiche verbannen. Räumt nun aber diese Philosophie, obwohl ex professo auf objektive, geltende Bedingungen gerichtet, der Aktivität, Spontaneität, den Handlungen des Denkens oft eine beherrschende Rolle ein, so erhält sie durch solche psychologische Begriffe selbst ein unmittelbares Verhältnis zur Psychologie. In der Tat regt sich denn auch heute, mehr oder weniger offen, das Problem: wie die Beziehung des „an sich“ Geltenden zu seinem Erleben und Gestalten in der Kultur kritisch zu fassen sei, bei Denkern verschiedener Richtung in mannigfacher Modifikation und Terminologie – ein altes Problem in der Form, in der es in unserer Zeit für Lösungsversuche reif geworden ist. Diesen Fragen gegenüber verhält sich allerdings das Buch in eigentümlicher, mehr negativer Weise. Verf. bestreiten nämlich der neueren psychologischen Literatur, deren Ergebnissen sie im übrigen zustimmen, gerade die Unanschaulichkeit des Denkens in weitem Umfange. Die Lösung ihrer positiven Aufgabe, die Ableitung des Begriffserlebnisses aus primitiveren seelischen Phänomenen, erhält infolgedessen ein sensualistisches Gepräge. Sehen Verf. nun ihr Verdienst in der sorgfältigen Aufspürung aller zwischen dem „Rohstoff der Anschauung“ und seiner vollkommensten Verarbeitung auffindbaren Glieder, so werden psychogenetische Untersuchungen wichtig, die wiederum der Bloßlegung des Sinnerlebens nicht günstig sind. Allerdings sollen sie wesentlich dem Hauptzweck der „Deskription“ dienen, welche auf die Dynamik des Anschauungs- und Begriffserlebnisses beim normalen Erwachsenen gerichtet ist, wie denn zu diesem Zweck Selbstbeobachtung, Experiment, Erfahrungen aus der Psychologie des Kindes, der primitiven Völker usw. zusammenwirken.

DOI 10.1515/978311053719-021

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Wie nun aber der Versuch der Verf. zu beurteilen sei, muß die Verfolgung ihres Gedankenganges lehren. Ausgangspunkt ist ein von aller seelischen Verarbeitung noch unberührter Urzustand, die „vorbegriffliche Anschauung“. Unmittelbarer Beobachtung unzugänglich, wird sie durch Analogien ermittelt als „ungegliederte Gesamtanschauung“. Aus dieser heben sich einzelne Qualitäten, die eine „atomistische Psychologie“ fälschlich an den Anfang stellt, erst heraus 1. durch besondere Intensität oder Gefühlsbetonung, 2. durch bloßen Wechsel, wobei jedoch noch nicht die Qualitäten als solche erfaßt werden, während 3. die Qualitäten, die sich innerhalb der wechselnden wiederholen, also als gleiche wirken, festgehalten werden und dadurch (neben 1) die erste Gliederung, die wichtigste, im Vorbegrifflichen veranlassen. („Gleichheitseffekt“.) – Nun greift bereits das Urteil ein; es ist in jeder Wahrnehmung enthalten und wird im Sinne Brentanos durch die Stellungnahme des Bejahens (bezw. Verneinens) charakterisiert, wodurch es, als dauerndes Verhalten, Existierendes anerkennt und in eins setzt. Indessen bleibt zum reifen Welterlebnis auch hiernach noch ein langer Weg. Er führt zunächst zu immer weiterer Differenzierung durch Schärfung der Sinne und der Aufmerksamkeit. In dem auf einer früheren Stufe des Bewußtseins gleich Erscheinenden stören nun ungleiche Momente: die Teile, die der Gleichheitseffekt heraushebt, werden immer kleiner und zahlreicher, so daß eine Auflösung aller Zusammenhänge drohte, wenn nicht eine entgegengesetzte Tendenz zugleich wirkte, „die in letzter Linie zum Begriff führt“. Ihr Organon ist die „Verschwommenheit“. Kontinuierlich alle Grade durchlaufend kann sie physikalische und physiologische Ursachen haben; vor allem jedoch ist sie funktionell abhängig von der Aufmerksamkeit. Die Verschwommenheit aber besteht vornehmlich durch die „uneigentliche Aufmerksamkeit“. Dieser gehören die zahllosen Bilder an, die an uns alltäglich unbeachtet vorüberschweben, während nur die „eigentliche Aufmerksamkeit“, deren Gegenstände „eigentlich bewußt“ sind, diese scharf beleuchtet. Angeregt durch Wiederkehr des Gleichen, Intensität, Gefühlston, vor allem aber durch aufgespeicherte Vorstellungen, hebt sie vorher Verschwommenes‚ „uneigentlich Bewußtes“ als Teil eines eigentlich bewußten Ganzen heraus, und zwar auch aus der Innenwelt, aus der so Urteils- und Gefühlsakte als abstrakte „Teile“ zu klarer Bewußtheit zu gelangen vermögen. Fundamental ist hierbei aber die Deutbarkeit der „echt verschwommenen“ Vorstellungen. Diese können nämlich, durch Aufmerksamkeit kontinuierlich verschärfbar, als schärfere Vorstellungen gedeutet werden, dadurch, daß Identitätsurteile sie mit den letzteren identisch setzen; beim Fortfall des

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Aufmerksamkeitsmotivs aber sinken sie sogleich in die Verschwommenheit zurück. Die auflösende Tendenz wird jedoch erst dadurch paralysiert, daß das Verschwommenheitsphänomen außer der Wahrnehmung und dem „speziellen Erinnerungsbild“ auch das allgemeine Erinnerungsbild beherrscht. „In der Art, wie die scharfen und die verschwommenen Partien in dem allgemeinen Erinnerungsbild abwechseln, ist gleichsam ein Abdruck sämtlicher von uns erlebten Vorstellungen gegeben.“ Infolge ihrer Deutbarkeit sind die allgemeinen Erinnerungsbilder allgemein („abstrakt“) und anschaulich zugleich und lösen so gegen alle nominalistischen Einwände, als „erste Formen des menschlichen Begriffs“, dessen Rätsel: wie sich eine einzige Vorstellung auf viele Gegenstande beziehen, einen logischen Umfang haben kann. Durch zunehmende Erfahrung und Reproduktion des Gleichen entsteht nun aus ihnen der „anschauliche Begriff“ mit dem Symbol (A + x), wobei A das Maß der Deutungsmöglichkeit, x die uneigentlich bewußten, verschwommenen Partien bezeichnet, mit deren Wachstum sich die Deutungsmöglichkeiten steigern. Dieses Symbol ist aber weder substantiell noch additiv zu verstehen; das A soll sich vielmehr als Relation erweisen, sodaß die (A + x)-Gebilde Relationen, aber, wie Vf. wollen, anschauliche Relationen mit verschwommenen Fundamenten sind. Diese „Begriffe“ sind demgemäß allgemeine anschauliche Vorstellungsinhalte, von den Anschauungen nur durch eine außerordentlich elastische Aufmerksamkeitsverteilung unterschieden. Danach ist das Denken psychologisch zu begreifen. Dabei muß jedoch beachtet werden, daß wir in Sätzen mit weit auseinanderliegenden Aufmerksamkeitskulminationspunkten denken; hierbei konserviert die Unaufmerksamkeit in den verschwommenen Partien die für die betr. Sätze richtige Bedeutung der Begriffe, wie auch der zahllosen unbenannten (A + x), die in uns still wirken und manch wunderbar anmutendes Erlebnis erklären. Schildern dagegen andere Forscher das Erlebnis des Allgemeinen als ein „wechselndes Vorbeiziehen vieler Spezialvorstellungen“, so richtet sich ihre Beobachtung auf ein künstlich aus dem Satzganzen herausgegriffenes Wort; die Folge ist eine unnatürliche Aufmerksamkeitssteigerung und, je nach deren Motiven, eine Zersetzung des äußerst labilen (A + x) in die verschiedenartigsten Einzelerlebnisse, in „(A + x)Surrogate“. Zu solchen besonderen Gestalten „zucken“ die (A + x) vor allem auf in Wechselwirkung mit der Wahrnehmung, durch deren Umformung gemäß der Gliederung unserer Innenwelt (des Inbegriffs der [A + x]) unsere Außenwelt ihr Angesicht erhält. Nur selten erleben wir die verschwommenen (A + x) rein. Nach all dem nennen Verf. das Denken „anschaulich“. – Es entwickelt sich nach ihnen organisch aus der Anschauung durch das Wachstum des x und die

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Verengung des A, das schließlich nur noch aus Relationen, Urteils- oder Gefühlsakten zu bestehen braucht. Indem nun das als „Fundament“ von dem A untrennbare uneigentlich-bewußte x übersehen wird, entsteht der Schein der Unanschaulichkeit. Dasselbe aber gilt von dem mechanisierten Denken. Ursprünglich mühevoll Erlerntes versinkt ins Uneigentlich-Bewußte, immer aber abhängig von Eigentlich-Bewußtem, von dem zu ihm kontinuierliche Abstufungen der Verschwommenheitsskala mit stetiger Möglichkeit einer Verwandlung führen, wobei jede „Störung“, die eine scharfe Vorstellung zu wecken vermag, beweist, daß das Unbeachtete nicht verloren ist. Vermöge der Elastizität und raschen Anwendbarkeit der (A + x)-Gebilde, die das Gedächtnis nicht belasten, kommen so die wunderbaren Leistungen unseres Denkens zustande. Allein ein großer Mangel haftet ihnen an: die Inkonstanz‚ welche die Subsumption wie die Mitteilbarkeit unzuverlässig macht und ein „Verstehen“ nicht gestattet. Die Wissenschaft muß deshalb das veränderliche Anschauliche möglichst eliminieren; dies geschieht durch Fortschreiten zu „höheren Begriffen“, in denen das A schließlich nicht mehr analysierbar, ein „Anschaulichkeitsatom“, ein Merkmal wird. Alle isolierten Relationen sind Beispiele dafür. Solche Merkmale werden durch Notwendigkeitsurteile zum wissenschaftlichen Begriff verbunden. Auch dieser, dessen logische Erfordernisse Verf. verständnisvoll behandeln, geht aber aus dem (A + x) hervor. Im gewöhnlichen Gebrauch läßt sich das (A + x) in „eine Verwandlungsreihe in der Richtung der schärferen Anschaulichkeit“ entwickeln, beim Begriff schließt sich „viel loser, äußerlicher, künstlicher“ an dies (A + x) noch „eine Reihe assoziativ mit dem (A + x) verbundener synthetischer bezw. apodiktischer Urteile“ an. Genauer verläuft das wissenschaftliche Denken so: „Genügen die Assoziationen, die sich an das vorhandene (A + x) knüpfen, nicht, um das Verständnis herzustellen, so erregt gerade dieser Umstand die Aufmerksamkeit. Das (A + x) wird zur Verschärfung angeregt. In dieser Gestalt bringt es wieder mehrere neue assoziativ angehängte Urteile herbei, die das Verständnis vermitteln können. Wird dieser Regreß zur Hervorbringung neuer Urteile nicht benötigt, dann tritt das als „unanschauliches Denken“, „Einreihung in einen bekannten logischen Zusammenhang“, „mechanisiertes Denken“ oft beschriebene Phänomen auf“. Ein unanschauliches Denken ist auch hiermit nur für den äußersten Fall, und selbst da nicht unbeschränkt anerkannt. Dieser Fall ist nämlich sehr selten, da die meisten wissenschaftlichen Begriffe nicht aus lauter reinen Merkmalen gebildet sind. Ferner besteht die genetische Abhängigkeit von der Anschauung: das Unanschauliche ist wesentlich nur Rest und Effekt des Anschaulichen. Endlich wird selbst zum Abschluß darauf bestanden, daß das Denken im weiteren Sinne „anschaulich, in anschaulichen Begriffen vor sich geht“. (S. 229.)

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Was ist somit das Ergebnis für das psychologische Verhältnis von Anschauung und Begriff? Zunächst ist der „Begriff'“ – richtiger hieße es: die Allgemeinvorstellung – eine Weiterentwicklung der Anschauung, von ihr vornehmlich durch den höheren Grad der Verschwommenheit und die Elastizität seiner Aufmerksamkeit unterschieden. Rein deskriptiv könnte man so die Verschwommenheit als Urphänomen ansehen, das sich in kontinuierlicher Abstufbarkeit in allen Erlebnissen findet, die Aufmerksamkeit als den psychischen Vorgang, bei dem eine „subjektive Anspannung“ einer Verschärfung im „Objekt“ entspricht. Aber bei der „Deskription“ bleibt es keineswegs. Die Verschwommenheit wird in den (A + x)-Gebilden auf die Vielheit sich deckender Erlebnisse zurückgeführt; ferner ist die „Verschärfung“ offenbar von der „subjektiven Anstrengung“ abhängig, und die Aufmerksamkeit soll durch verschiedene Motive verschieden gelenkt werden. Und wenn als „allerwichtigstes Motiv die im Bewußtsein aufgespeicherten Vorstellungen“ gelten, so bedeutet dies den Rekurs auf einen komplizierten Funktionsbegriff, dessen Verhältnis zu dem der Verschwommenheit und Aufmerksamkeit nicht genügend geklärt ist. Inwieweit erklären also überhaupt die beiden letzteren das „Denken“? Tatsächlich wirkt in der Lehre der Verf. das Urteilen durchaus wesentlich mit; in der Wahrnehmung erkennen sie es ja bereits an, und Gleichheits- und sogar „schöpferische, über die Sphäre des je Erfahrbaren hinausgehende“ Identitätsurteile werden für die Deutung des Verschwommenen statuiert. Diese Urteile werden dann aber vom Anschaulichen absorbiert und interessieren Verf. bis zur Darstellung des „wissenschaftlichen Begriffs“ wenig. Aus ihrer Polemik gegen Gomperz (S. 87f.) und Cassirer (S. 234ff.) ersieht man denn auch, daß sie in die verschwommenen Vorstellungen selbst eine „logische Kraft“ (S. 237) verlegen wollen. So dürfte eine Ueberschätzung und zu einseitige Beleuchtung des Bereichs des Verschwommenheitsphänomens vorliegen. – Dagegen bringt die Untersuchung Wertvolles und Anregendes innerhalb ihrer Grenzen; namentlich die Verwendung der verschwommenen Vorstellung für das Problem der psychologischen Möglichkeit und Wirklichkeit der „allgemeinen Ideen“ und für die historische Streitfrage Lockes und Berkeleys ist sehr beachtenswert. Nun führen aber Verf. selbst ihre Differenz von den Denkpsychologen auf ihre „verschiedene Auffassung der Deskriptive“ (S. 175) zurück; sie glauben die bekannte, durchaus nicht leicht zu nehmende Aporie der Selbstbeobachtung – die Veränderung in dem zu Beobachtenden durch diese – dadurch reduzieren zu können, daß sie ihr Instrument, die Aufmerksamkeit, und die Veränderungen, die es hervorruft, zu kennen meinen. Aber da sie selbst des Instruments bei der Beobachtung nicht entraten können, woher ist ihnen das Unbeobachtete bekannt? Nicht aus der Deskription jedenfalls. In Wahrheit ist die Diskrepanz

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durch einen viel prinzipielleren Gegensatz zu begreifen. Wer nämlich behauptet, das Unanschauliche im Denken sei sekundär, übersieht nichts Geringeres, als daß alles Denken etwas bedeutet, einen Sinn besitzt. Dieser Sinn eben kann als das Unanschauliche erlebt werden. Die Bedeutungen in ihren Beziehungen aber, die im Denken erlebt werden, liegen in einer ganz anderen Dimension wie die Vorstellungen mit ihrem anschaulichen Charakter. Aus noch so verschwommenen Vorstellungen wird nicht ein Denken. Erst wenn sich ihrer jenes Unanschauliche bemächtigt, wenn sie von Sinnerlebnissen beherrscht und spontan durch Urteile gedeutet werden, kann man von Denken reden. Beide Momente hätten Verf. scharf hervorheben müssen. Wenn sie statt dessen in den meisten Denkerlebnissen mechanisierte Denkprozesse, mit Herabdrückung der Anschauung ins Verschwommene, sehen, ohne daß die Schöpfung des Sinns und das Sinnganze bemerkt würde, so ist daran ihre naturalistische Einstellung schuld. Kein Wunder, daß zum eigentlichen Begriff kein „organischer“ und psychologisch durchsichtiger Uebergang zu finden ist. Endlich versuchen aber Verf. zum Abschluß ein bestimmtes Verhältnis zwischen „anschaulichem“ und wissenschaftlichem Begriff herzustellen, indem sie die philosophische Frage nach beider Leistungsfähigkeit für die „Welterfassung“ erheben. Sie lehren dabei wieder, daß auch der reine Begriff psychologisch in der Anschauung wurzle und auf ihn zurückgreife, anderseits betonen sie mit Recht, daß schon der anschauliche Begriff und mit ihm die „Intuition“ sich von der Unmittelbarkeit weit entfernt und zahlreiche rationale Momente in sich aufgenommen hat. Die Folgerung, die Intuition stehe gleichberechtigt neben dem wissenschaftlichen Begriff, kann jedoch keinesfalls überzeugen, und sie ist, weiterverfolgt, ganz verschieden deutbar. Indessen bleibt wesentlich für die Beurteilung des Buchs die eigentliche psychologische Untersuchung. Diese nun ist zwar nicht frei von Mängeln, besonders der erkenntnistheoretischen Grundlegung und der terminologischen Durcharbeitung; allein im ganzen ist ihr reiches und verschlungenes Gewebe, von dessen Ausbreitung, Musterung und Detail eine Besprechung keine hinreichende Vorstellung gehen kann, auf Grund vielseitiger Kenntnisse und Ueberlegungen sorgfältig hergestellt, und feine Bemerkungen heben sich glänzend daraus hervor. Und wenn das Rätsel des zugleich labyrinthischen und proteischen Seelenlebens nicht gelöst, ein wichtiges Element seines Organismus nicht richtig eingeschätzt ist, so werden doch bestimmte Vorgänge in beachtenswerter Weise beleuchtet. Dem Psychologen kann das Buch daher sicherlich zur Anregung und Bereicherung dienen. Wahrhaft wertvoll dürften aber neue Beiträge nur werden, wenn ihre Vorzüge und Fehler dazu antreiben, die Aufgaben der Psychologie klar herauszuarbeiten, so daß diese den Stoff nicht nur sammelt, sondern ihnen gemäß geistig

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durchdringt. Dann erst erkennt man, welche Art der psychologischen Forschung, welche Denkmittel ihren verschiedenen Aufgaben und ihrem tiefsten Suchen gewachsen sind und welche Rangordnung zwischen ihren verschiedenen Methoden und Problemen festzusetzen ist. Eines klaren Bewußtseins von den Kategorien und Ideen der Psychologie bedarf aber auch die Philosophie, nicht nur, weil diese die logische Struktur jener wie die jeder Einzelwissenschaft interessieren muß, sondern vor allem weil es davon abhängt, ob die Psychologie in das System der Philosophie selbst aufzunehmen und welche Funktion ihr dann darin zuzuerkennen ist.