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German Pages 234 Year 1995
AXEL
ENDERLEIN
Der Begriff der Freiheit als Tatbestandsmerkmal der Grundrechte
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 686
Der Begriff der Freiheit als Tatbestandsmerkmal der Grundrechte Konzeption und Begründung eines einheitlichen, formalen Freiheitsbegriffs, dargestellt am Beispiel der Kunstfreiheit
Von
Axel Enderlein
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Enderlein, Axel: Der Begriff der Freiheit als Tatbestandsmerkmal der Grundrechte : Konzeption und Begründung eines einheitlichen, formalen Freiheitsbegriffs, dargestellt am Beispiel der Kunstfreiheit / von Axel Enderlein. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 686) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08456-X NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08456-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ®
Vorwort Die Arbeit wurde im Wintersemester 1992/93 an der juristischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation eingereicht. Literatur und Rechtsprechung sind bis zu diesem Zeitpunkt verarbeitet worden. Mein Dank gilt an dieser Stelle dem Betreuer der Arbeit, Herrn Professor Karl Albrecht Schachtschneider, dessen Offenheit für rechtsphilosophische Fragestellungen es mir ermöglicht hat, mich als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl mit diesem Thema zu beschäftigen. Ohne die ständigen Gespräche mit ihm wäre die Arbeit so nicht entstanden; er hat durch seine eigene wissenschaftliche Konzeption die hier zur Diskussion gestellte Lösung maßgeblich beeinflußt. Mein Dank gilt auch Professor Rolf Gröschner, der ebenfalls in häufigen Gesprächen dialogbereit war und mich für die Weiterarbeit an dem Thema motiviert hat. Ebenso gilt der Dank aber auch allen Mitarbeitern des Lehrstuhls für Öffentliches Recht in Nürnberg, die ein Umfeld geschaffen haben, in dem es möglich war, die Arbeit fertigzustellen, was bei einem derartigen Thema nicht selbstverständlich ist.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1
L Teil
Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur A. Aktuelle Konfliktlagen der Kunstfreiheit
4
I. Kunstfreiheit und politische Satire - Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 7. März 1990 (BVerfGE 81,278 ff. und BVerfGE 81,298 ff.) 1. Die Entscheidungen BVerfGE 81,278 ff. („Bundesflagge") a) Die Schranken der Kunstfreiheit b) Das der Kunstfreiheit widerstreitende Schutzgut 2. Die Entscheidung BVerfGE 81, 298 ff. („Nationalhymne")
4 4 5 6 7
II. Kunstfreiheit und Pornographie - Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 27. November 1990 (BVerfGE 83,130 ff. -,Josefine Mutzenbacher")
8
1. Die verfassungsrechtliche Verankerung des Jugendschutzes
10
2. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Gesetzgeber
10
3. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Exekutive und die Fachgerichte
11
III. Kunstfreiheit und Straßenkunst
13
1. Der Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 7.1.1981 und der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 19.6.1981
14
2. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg vom 17.8.1988 und das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9.11.1989
15
a) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg vom 17.8.1988 b) Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 9.11.1989
16 17
IV. Kunstfreiheit und Sacheigentum - Der „Sprayer von Zürich" - Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 19.3.1984
19
Vin
Inhaltsverzeichnis
V. Zusammenfassung
20
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG in Literatur und Rechtsprechung
21
I. Die in der Literatur vertretenen Auffassungen zur Bedeutung der Aussage „ist frei"
21
1. Günter Erbel
21
2. Hans-Rolf Ropertz
22
3. Wolfgang Knies
24
4. Friedrich Müller
28
5. Josef Hoffmann
30
6. Friedhelm Hufen
32
7. Rupert Scholz
34
8. Peter Häberle
35
II. Zusammenfassung und Kritik der Literatur
38
III. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den vorbehaltlosen Grundrechten
41
2. Teil
Freiheitskonzepte im Verhältnis zum Gesetz A. Rechtsphilosophische Modelle der Freiheit durch Gesetzlichkeit I. Die Lehre Jean-Jacques Rousseaus
43 44
1. Rousseaus Unterscheidung von natürlicher Freiheit und bürgerlicher Freiheit
44
2. Rousseaus Staatsbegriff und sein Begriff der bürgerlichen Freiheit
46
3. Die Schaffung des Rechts in Rousseaus Staatskonzeption - der Gemeinwille
50
4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Rousseauschen Konzeption politischer Freiheit zum Grundgesetz II. Die Lehre Immanuel Kants
53 57
1. Zur Herleitung des Begriffs der Freiheit bei Kant
57
2. Kants Begriff des Rechts und seine Begründung des Zwangs
60
3. Kants Staatsbegriff und die Leitfunktion des Rechtsprinzips und des Menschenrechts für den Gesetzgeber
66
a) Die Leitfunktion des Rechtsbegriffs für den Gesetzgeber
66
Inhaltsverzeichnis b) Die Leitfunktion des Menschenrechts für den Gesetzgeber
69
aa) Das „Recht der Menschheit" als Selbstbegrenzung aus dem „Zweck der Menschheit"
70
bb) Die Würde des Menschen, das Recht der Menschheit, das angeborene Recht und das Recht der Menschen cc) Der Inhalt des Rechts der Menschheit im äußeren Gebrauch
73 77
dd) Kants Formulierung des Begriffs der Freiheit in der Schrift „Zum ewigen Frieden"
81
ee) Die Kantischen Rechtsprinzipien - von den apriorischen Freiheitsprinzipien 2. Ordnung zu den staatsbürgerlichen Grundrechten
84
B. Die liberale, bürgerlich-rechtsstaatliche Deutung der Freiheit als Freiheit vom Staat
90
I. John Locke als der Lehrer liberaler Freiheit
90
1. Der Naturzustand in Lockes Freiheitslehre
91
2. Der politische Zustand in Lockes Lehre
92
II. Die Grundthesen der liberalen Freiheitsauffassung in der gegenwärtigen Staatsrechtslehre
96
1. Der Schutz des einzelnen Individuums
96
2. Der Eigenwert individueller Freiheit
97
3. Die „Vorstaatlichkeit" der Freiheit als individuelle Freiheitssphäre
97
4. Die Unterscheidung von Freiheit und Freiheitsrecht
98
a) Die Freiheit als Beliebigkeit des Verhaltenkönnens (Jürgen Schwabe)
99
b) Die Freiheit als Beliebigkeit und ihre Qualifikation als bloß dogmatische Kategorie (Bernhard Schlink, Gertrude Lübbe-Wolff)
101
5. Die Grenzen der Freiheitsrechte und die Begriffe „Eingriff, „Schranke" und „Grundrecht"
104
a) Die systematische Begründung der Grenzen der Freiheitsrechte nach Roman Schnur
104
b) Die Grenzen der Freiheitsrechte und die Unterscheidung von Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranke 6. Kritik der Grundthesen des liberalen Freiheitsverständnisses a) Die Betonung des Individualismus und der Begriff der Freiheitssphäre
107 109 109
b) Die Anerkennung der Rechtsordnung als bloßes Abstraktum und die Fiktion der ursprünglichen Unbegrenztheit
110
c) Der Begriff der Freiheit als Beliebigkeit des Verhaltenkönnens und die Lehren zu den Freiheitsgrenzen
112
Inhaltsverzeichnis III. Die Voraussetzungen der bürgerlich-rechtsstaatlichen Freiheitslehre und die damit verbundenen Konsequenzen
118
1. Der Antagonismus von grundrechtlicher und demokratischer Freiheitsidee
118
2. Die Bestimmung des Staates als Herrschaftsordnung und die Begrenzung der Freiheitsrechte durch staatliche Herrschaft
121
3. Die Funktion der Freiheitsrechte als staatsabwehrende Rechte und ihr Verständnis als Reaktion auf historische Gefährdungslagen
127
3. Teil
Die grundrechtsdogmatische Konsequenz einer Freiheit durch Gesetzlichkeit, erprobt an Art. 5 Abs. 3 GG A. Zur Kritik des Freiheitsbegriffs des Grundgesetzes
134
I. Freiheit als institutionell bedingte Freiheit (Peter Häberle)
134
II. Freiheit als Instrumentalisierungsmöglichkeit anderer Menschen (Dieter Suhr)
138
III. Freiheit als soziale Entfaltungschance der menschlichen Persönlichkeit (Eberhard Grabitz)
141
IV. Der formale republikanische Freiheitsbegriff - Freiheit als Gesetzlichkeit (Karl Albrecht Schachtschneider)
147
1. Der Begriff der Freiheit als Zuordnung von innerer und äußerer Freiheit
147
2. Die Rechtswirkungen der ethischen Grundnorm des Grundgesetzes
152
3. Die Lehre von den Grundrechten als politischen Leitentscheidungen
154
B. Kritik der Neubestimmung des Freiheitsbegriffs und Versuch der Dogmatik eines formalen Freiheitsbegriffs am Beispiel der Kunstfreiheitsgarantie
157
I. Übereinstimmungen und Divergenzen in den Neubestimmungen des Freiheitsbegriffs . . .157 II. Freiheit als Gesetzlichkeit am Beispiel der Kunstfreiheitsgarantie 1. Die Kunstfreiheitsgarantie als offener Rechtssatz
160 160
a) Die Feststellung definitiver Rechte und die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien b) Der Prinzipien- und Regelcharakter der Kunstfreiheit
162 164
Inhaltsverzeichnis c) Exkurs - Der abwehrrechtliche Charakter der Grundrechte als ihr vermeintlicher Regelgehalt 2. Der Begriff der Freiheit im Tatbestand der Kunstfreiheitsgarantie
166 169
a) Grundrechte in einer nach der Lehre Rousseaus und Kants entwickelten Republik . 169 b) Der Begriff der rechtlichen Freiheit als allgemeine Gesetzlichkeit 3. Ein Modell der Grundrechtskonkretisierung
170 176
a) Das Recht zur Willkür des Grundrechtsberechtigten als Recht zur moralischen Autonomie
176
b) Die gesetzliche Ausgestaltung des Grundrechts
180
c) Die verfassungsgerichtliche Entscheidung im Grundrechtsbereich
184
4. Abschließende Beurteilung der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Kunstfreiheit
194
a) Die Entscheidungen „Bundesflagge" und „Nationalhymne"
194
b) Die Entscheidung, Josefine Mutzenbacher"
197
c) Die Entscheidungen zur „Straßenkunst" und zum „Sprayer von Zürich"
203
Schlußbemerkung
207
Literaturverzeichnis
211
Einleitung Der Begriff der Freiheit ist ein sowohl in der deutschen Rechts- und Staatsphilosophie als auch in der Staatsrechtslehre und der Grundrechtsdogmatik immer wieder erörtertes Thema, das auch nicht annähernd zu einem Abschluß gekommen ist. Im Rahmen dieser Arbeit soll der Begriff auf der einen Seite sehr grundsätzlich, nämlich unter Rückgriff auf das kantische und rousseausche Freiheitsverständnis, auf der anderen Seite aber auch praktisch und konkret, nämlich am Beispiel der Judikatur und Literatur zum Freiheitsgrundrecht der Kunstfreiheit erörtert werden. In der Regel finden Erörterungen zu den speziellen Freiheitsrechten ohne eine Problematisierung des allgemeinen Freiheitsbegriffs statt. Beleg für diese These wird im Fortgang der Arbeit die Darstellung umfassender literarischer Stellungnahmen zur Kunstfreiheitsgarantie sein. Die Arbeit will im Gegensatz dazu zeigen, daß auch bei der Erörterung der speziellen Freiheitsgrundrechte eine Erinnerung des allgemeinen Freiheitsbegriffs notwendig ist. Nur aus einer Systematik des allgemeinen Freiheitsbegriffs lassen sich Begründungen für die Judikatur und Auslegung der besonderen Freiheitsgrundrechte erreichen, die ohne Rückgriff auf diesen allgemeinen Freiheitsbegriff nicht möglich sind. Dabei sollen im Rahmen dieser Arbeit keine neuen Ergebnisse zu Fragestellungen der Kunstfreiheitsgarantie gefunden werden, es soll aber im Rahmen eines konkreten Freiheitsgrundrechts gezeigt werden, daß der Schwerpunkt der Auseinandersetzung über die Auslegung und die Anwendung eines Freiheitsgrundrechts stärker von der Erörterung und dem Streit über die Definition des jeweiligen Sachbereichs, hier also dem Kunstbegriff, auf den Begriff der Freiheit und seine Konkretisierung zu konzentrieren ist. Als Beispiel und Einstieg in die Problematik sollen hier folgende, in der Tagespresse erörterte krasse Fälle zur Kunst- und Meinungsfreiheit dienen: „Erstmals wird sich ein Geschworenengericht in den USA damit auseinandersetzen, ob Gewalt propagierende Rap-Musik zum Mord an einem Polizisten beigetragen hat. Das Verfahren könnte zu einem Musterfall in dem Streit werden, ob auch solche Songs vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung geschützt sind. Bei dem Prozeß geht es um den Mord an einem Polizisten, der von einem Autodieb bei einer Routinekontrolle erschossen worden war. Im Auto des Täters fand sich eine Kassette mit gewalttätigen Liedern. Die Witwe des Opfers, die eine Band und den Musikverlag verklagt hat, argumentiert, derartige Musik wirke wie Alkohol.441
1
Süddeutsche Zeitung vom 18./19. September 1992, S. 12.
2
Einleitung
Dieser Beispielsfall ist wahrscheinlich nach den Maßstäben, die das Bundesverfassungsgericht mittlerweile zur Kunst- und Meinungsäußerungsfreiheit aufgestellt hat, ohne weiteres zu lösen. Die in diesem Fall in Rede stehenden Musikstücke wären gesetzlich mit dem Hinweis auf die Schranken der Kunstfreiheit, die sich unter anderem aus der grundgesetzlichen Wertordnung und damit aus der Menschenwürdegarantie ergeben, zu verbieten. Die Arbeit will aber einen anderen Akzent setzen. Die Musikband beruft sich zur Rechtfertigung und Verteidigung ihrer Songs auf die Freiheit der Kunst und der Meinungsäußerung. Dahinter steht ein bestimmtes Verständnis von Freiheit, daß nämlich Freiheit Beliebigkeit des Verhaltenkönnens und des Verhaltendürfens sei und jede dem entgegenstehende gesetzliche Regelung unfreiheitlich, zumindest unter dem Gesichtspunkt der Kunst- und Meinungsäußerungsfreiheit, sei. Freiheit wird danach gleichgesetzt mit Willkürfreiheit. Dieses Verständnis des Freiheitsbegriffs soll in dieser Arbeit kritisiert werden. Es wird hier, unter Zugrundelegung der kantischen Rechts- und Moralphilosophie, ein Freiheitsbegriff vorgeschlagen, der Freiheit - als Gesetzesterminus in Individualgrundrechten - als allgemeine Freiheit, also Gesetzlichkeit im Gegensatz zur Willkürfreiheit versteht. Dieser Begriff wird in der Arbeit in der Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung und Literatur zum Freiheitsbegriff und zur Kunstfreiheitsgarantie erfolgen. Im ersten Teil der Arbeit wird die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Kunstfreiheitsgarantie unter Herausarbeitung der leitenden Entscheidungsgesichtspunkte dargestellt. Im folgenden Teil wird im Rahmen der Erörterung der von Rousseau und Kant entwickelten Freiheitslehren ein rechtsphilosophisch begründeter Freiheitsbegriff entwickelt. Dabei wird aus dem kantischen Begriff der Freiheit eine systematische Begründung der Menschenrechte erfolgen, die den besonderen Bezug der Menschenrechte und damit der grundgesetzlichen Freiheitsrechte zur Gesetzgebung aufweist. Dieser Freiheitsbegriff soll der bislang herrschenden grundgesetzlichen Freiheitsbegrifflichkeit gegenübergestellt werden, dem Begriff der Freiheit als Beliebigkeit des Verhaltenkönnens. Es werden die Grundlinien dieses Freiheitsverständnisses nachgezeichnet, unter anderem im Rückgriff auf die Lehre Lockes, um dann im einzelnen dieses Freiheitsverständnis zu kritisieren. Dabei wird eine Zweiteilung der Darstellung und Kritik vorgenommen: in einem ersten Schritt werden die Grundthesen des sogenannten liberalen Freiheitsverständnisses nach der Definition der jeweiligen Autoren vorgestellt und kritisiert; daran anschließend werden begriffliche Voraussetzungen dieses Freiheitsverständnisses erörtert, die nicht spezifisch der liberalen Lehre zugerechnet, sondern eher als Allgemeingut der Staatsrechtslehre betrachtet werden, auf denen der Begriff der Freiheit als Beliebigkeit aber notwendigerweise basiert. Es sind dies die
Einleitung
Begriffe der staatlichen Herrschaftsordnung, der Funktion der Grundrechte als staatsabwehrende Rechte und der Antagonismus zwischen grundrechtlicher und demokratischer Freiheitsidee. Im letzten Teil der Arbeit, der das Freiheitsproblem aus der staatsrechtlichen Perspektive beleuchtet, werden zu Beginn die kritischen Stellungnahmen vier staatsrechtlicher Autoren zum liberalen Begriff der Willkürfreiheit referiert und erörtert, nämlich die Arbeiten von Peter Häberle, Dieter Suhr, Eberhard Grabitz und Karl-Albrecht Schachtschneider. Der vorab entwickelte Freiheitsbegriff, der Freiheit als Gesetzlichkeit, als allgemeine Freiheit im Gegensatz zur besonderen Freiheit versteht, wird dann am Grundrecht des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erprobt. Die allgemeine Freiheitsbegrifflichkeit wird auf den Begriff „frei" im Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG angewendet. Es wird sich zeigen, daß diese Freiheitsbegrifflichkeit im Grundsatz der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts nicht widerspricht, daß damit aber eine genauere Analyse der Funktion des Bundesverfassungsgerichts für die Freiheitsrechte möglich wird.
1. Teil Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur A. Aktuelle Konfliktlagen der Kunstfreiheit I. Kunstfreiheit und politische Satire - Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 7. März 1990 (BVerfGE 81,278 ff. und BVerfGE 81,298 ff.) 7. Die Entscheidungen BVerfGE 81, 278 ff(,ßundesflagge") In den diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Verfahren ging es um Verunglimpfungen der Bundesflagge nach § 90a I Nr.2 StGB. Nach dieser Vorschrift macht sich strafbar, „wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften... die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland .... verunglimpft." Die Beschwerdeführer in den Verfahren nach Art. 93 I Nr.4a GG wehrten sich gegen ihre Bestrafung wegen Verunglimpfung der Bundesflagge. Im Verfahren 1 BvR 266/86 war der Geschäftsführer einer Buchvertriebsgesellschaft zu 90 Tagessätzen in Höhe von je 50 D M verurteilt worden. Die Gesellschaft hatte in den Jahren 1981 und 1982 zahlreiche Exemplare eines Taschenbuches mit dem Titel ,JLaßt mich bloß in Frieden" verkauft, die auf der Umschlagrückseite eine aus zwei Fotografien zusammengesetzte Collage enthielten, auf der ein männlicher Torso, von den Knien bis zur Hüfte abgebildet, auf die Bundesflagge urinierte. Ein Teil der Collage zeigte dabei ein Gelöbniszeremoniell der Bundeswehr auf einem Kasernernenhof. Im Verfahren 1 BvR 913/87 war der Beschwerdeführer als Mitglied der Redaktion der Zeitschrift „Mitbürger! - Odenwälder Flugschrift" zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen in Höhe von je 30 D M verurteilt worden. Die Zeitung hatte im März/April 1982 eine Meldung über Durchsuchungsaktionen der Hamburger Staatsanwaltschaft veröffentlicht, deren Ziel die Beschlagnahme des Buches „Laßt mich bloß in Frieden" war. In der Ausgabe wurde die obige Fotocollage veröffentlicht, und zwar im Rahmen eines satirisch als „Preisrätsel der Hamburger Staatsanwaltschaft" bezeichneten Artikels. In dem „Preisrätsel" wurden mehrere ,3edeutungsalternativen" genannt, die ironisch die Collage erklärten.
Α. Aktuelle Konfliktlagen der Kunstfreiheit
5
Das Bundesverfassungsgericht entschied, daß die beiden Verfassungsbeschwerden begründet seien wegen Verletzung der Grundrechte der Beschwerdeführer aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Die Handlungen der Beschwerdeführer seien in beiden Fällen dem Schutzbereich der Kunstfreiheit zuzuordnen. Das Gericht legt sich, wie schon in früheren Entscheidungen, auf keinen bestimmten Kunstbegriff fest 1. Es wird festgestellt, daß Kunst einer staatlichen Stil- und Niveaukontrolle nicht zugänglich sei 2 . Ebenso wird die engagierte Kunst, die eine politische Meinung enthält, dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG als der spezielleren Norm gegenüber Art. 5 Abs. 1 GG zugerechnet.3 a) Die Schranken der Kunstfreiheit Das Bundesverfassungsgericht führt in dieser Entscheidung die für die Schranken der Kunstfreiheit seit der „Mephisto"-Entscheidung4 bekannte Dogmatik fort. Selbst wenn eine Handlung dem Schutzbereich des Art.5 Abs. 3 Satz 1 GG zugeordnet werde, schließe das eine Bestrafung nach § 90 a Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht von vornherein aus, obwohl die Kunstfreiheit vorbehaltlos gewährleistet sei: „Die Garantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG findet ihre Grenzen nicht nur in den Grundrechten Dritter. Vielmehr kann sie mit Verfassungsbestimmungen aller Art kollidieren; denn ein geordnetes menschliches Zusammenleben setzt nicht nur die gegenseitige Rücksichtnahme der Bürger, sondern auch eine funktionierende staatliche Ordnung voraus, welche die Effektivität des Grundrechtsschutzes überhaupt erst sicherstellt. Kunstwerke, welche die verfassungsrechtlich gewährleistete Ordnung beeinträchtigen, unterliegen daher nicht erst dann Schranken, wenn sie den Bestand des Staates oder der Verfassung unmittelbar gefährden. Vielmehr muß in allen Fällen, in denen andere Verfassungsgüter mit der Ausübung der Kunstfreiheit in Widerstreit geraten, ein verhältnismäßiger Ausgleich der gegenläufigen, gleichermaßen verfassungsrechtlich geschützten Interessen mit dem Ziele ihrer Optimierung gefunden werden." 5
1 Vgl. BVerfGE 67,213,225 ff.- In dieser Entscheidung werden ein (a) materialer, wertbezogener Kunstbegriff, der Merkmale des Schöpferischen, des Ausdrucks persönlichen Erlebnisses, der Formgebung und der Kommunikativen Sinnermittlung enthält, (b) ein formaler Kunstbegriff, der nur an die Tätigkeit und die Ergebnisse des Malens, Bildhauens, Dichtens etc. anknüpft, (c) ein auf die Vielzahl der Deutungsmöglichkeiten des Werks abstellender Kunstbegriff, der das Kunstwerk vor allen Dingen durch seine fehlende Eindeutigkeit ausgezeichnet sieht, als gleichwertig betrachtet. 2
Vgl. nur BverfGE 75,369,377
3 So schon BVerfGE 30,173,190 f.;67,213,227 f. 4
BVerfGE 30,173, 188 ff.
5
BVerfGE 81, 278,292.
2 Enderlein
6
1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
In einer früheren Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht betont, es müsse eine unmittelbare und gegenwärtige Gefahr für oberste Grundwerte der Verfassung vorliegen, wenn die Kunstfreiheit zurücktreten solle 6 . In der jetztigen Entscheidung dagegen formuliert das Gericht: „Das bedeutet nicht, daß in weniger extremen Situationen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ein unbedingter Vorrang zukommt. In solchen Fällen ist der Konflikt zwischen der Kunstfreiheit und anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern im Wege fallbezogener Abwägung zu lösen."7
b) Das der Kunstfreiheit widerstreitende Schutzgut Für die Abwägung ist dabei allerdings zu beachten, daß das der Kunstfreiheit widerstreitende Verfassungsgut konkret anhand einzelner Grundgesetzbestimmungen herausgearbeitet werden muß ß Dazu führt das Gericht aus: „§ 90 a Abs. 1 Nr. 2 StGB, auf dem die Bestrafung der Beschwerdeführer beruht, schützt die Flagge der Bundesrepublik Deutschland als staatliches Symbol. Dieser Schutz ist in der Verfassung begründet. Dies läßt sich allerdings weder unmittelbar noch ausschließlich aus Art. 22 GG folgern. Dessen normative Aussage beschränkt sich auf die Festlegung der Bundesfarben. Eine darüber hinausgehende Bedeutung kommt dieser Grundgesetzbestimmung insoweit zu, als sie das Recht des Staates voraussetzt, sich zu seiner Selbstdarstellung solcher Symbole zu bedienen. Zweck dieser Sinnbilder ist es, an das Staatsgefühl der Bürger zu appellieren (...). Dient die Flagge durch die von ihr verkörperten Staatsleitziele als wichtiges Integrationsmittel, so kann ihre Verunglimpfung die für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates beeinträchtigen (...). Im Lichte des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG darf der Symbolschutz indessen nicht zur Immunisierung des Staates gegen Kritik und selbst gegen Ablehnung führen." 9
Dabei ist für die durch die Abwägung zu bestimmenden Schranken von größter Bedeutung, daß an das Kunstwerk „werkgerechte" Maßstäbe angelegt werden. 1 0 Ob ein „werkgerechter" Maßstab vom Fachgericht angewandt wurde, prüft das Bundesverfassungsgericht zumindest bei der Verfassungsbeschwerde gegen strafgerichtliche Urteile voll nach. Dies liegt an der einschüchternden Wirkung, die strafrechtliche Urteile im Bereich der Kunst haben.
6 BVerfGE 33, 52, 71. 7
BVerfGE 81, 278,293.
8
So schon BVerfGE 77,240,255 und LS 2 -„Hernburger Bericht"
9
BverfGE 81, 278,293 f..
1 0
Ständige Rechtsprechung des Gerichts seit BVerfGE 67,213,229 f.-„Anachronistischer Zug". Der Begriff der „Werkgerechtigkeit" wird in dieser Entscheidung noch nicht verwandt. Dem Fachgericht wird aber vorgeworfen, von einer Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten nur die das fachgerichtliche Urteil stützende Interpretation in Betracht gezogen zu haben.
Α. Aktuelle Konfliktlagen der Kunstfreiheit
7
In einem der beiden Fälle wurde die Begründetheit der Beschwerde mit der fehlenden Werkgerechtigkeit der fachgerichtlichen Interpretation belegt. Im anderen Fall war vom Fachgericht das in § 90 a StGB geschützte Rechtsgut ausdrücklich als der Kunstfreiheit übergeordnet bezeichnet worden. Damit war der Weg zu einem „fallbezogenen Ausgleich der widerstreitenden Schutzgüter versperrt". 2. Die Entscheidung BVerfGE 81, 298ff. („Nationalhymne") Der Beschwerdeführer in dem der Entscheidung zugrunde liegenden Verfahren wandte sich gegen seine Bestrafung wegen Verunglimpfung der Hymne der Bundesrepublik Deutschland nach § 90 a Abs.l Nr.2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten 11 . Ende August 1986 wurde in dem in Nürnberg erscheinenden Stadtmagazin „Plärrer", dessen verantwortlicher Redakteur der Beschwerdeführer war, folgender Text veröffentlich: Deutschlandlied '86 Text: Anonym/ Musik: Joseph Haydn Deutschland, Deutschland over alios Auf der Straße liegt das Geld Wenn es gegen Los Krawallos Gnadenlos zusammenhält Von Beethoven bis Bergen Belsen Von Wackersdorf bis Asylantenzelt Deutschland, Deutschland, hyper alles Du schönstes Biotop auf der Welt Deutsche Türken, deutsche Pershings Deutscher Bigmäc, deutscher Punk Sollen in der Welt behalten Ihren alten schönen Klang Deutsche Cola, Deutsche Peepshow Deutsche Mark und deutsche Samenbank Solln zu edler Tat begeistern Uns das ganze Leben lang Schleimigkeit und Frust und Bleifrei Für das deutsche Tartanland Darauf laßt uns einen heben Vorneweg und hinterhand Schlagstockfrei und Krebs und Gleitcrem Deutschland, wuchert mit dem Pfund Kopuliefn im deutschen Stalle Mutterschaf und Schäferhund 11 Vgl. zur Art der Verunglimpfung des Textes der Deutschlandhymne BVerfGE 81, 298 ff., wo die satirische Verfremdung des Beschwerdeführers abgedruckt ist.
8
1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
Aufgrund der Veröffentlichung in der Zeitung „Plärrer" beschlagnahmte das Amtsgericht diese Ausgabe der Zeitschrift. Der Beschwerdeführer nahm dies zum Anlaß, eine „Presseerklärung" zu drucken, die in Nürnberger Buchhandlungen ausgelegt wurde. Darin schildert und kommentiert er die Beschlagnahme und den ihr zugrunde liegenden Sachverhalt unter wörtlicher Wiedergabe des Liedes. Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen zweier sachlich zusammentreffender Vergehen der Verunglimpfung der Symbole des Staates zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten. Die Berufung des Beschwerdeführers verwarf das Landgericht als unbegründet. Das Bayerische Oberste Landesgericht verwarf die Revision ohne nähere Begründung. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Verfassungsbeschwerde für begründet, da das Fachgericht den Schutzbereich des Art.5 Abs. 3 Satz 1 GG unzutreffend bestimmt habe. Die Beurteilung der Satire habe nicht die der Kunst eigenen Strukturmerkmale berücksichtigt; das Gericht interpretiere die Nachdichtung nicht werkgerecht. Die Befugnis zur Überprüfung der Werkinterpretation des Fachgerichts folge daraus, daß die Auslegung des einfachen Rechts auch in ihren Einzelheiten auf ihre Vereinbarkeit mit der Kunstfreiheit untersucht werden müsse. 12 Das Gericht führt aus, daß die Strafbarkeit der Verunglimpfung der Hymne grundsätzlich mit der Kunstfreiheit zu vereinbaren sei; die Verhängung der Strafe beruhe aber auf dem nicht werkgerechten Verständnis der Nachdichtung.
I I . Kunstfreiheit und Pornographie - Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 27. November 1990 (BVerfGE 83,130 ff. -,Josefine Mutzenbacher") In diesem Verfassungsbeschwerdeverfahren ging es um die Aufnahme des Romans „Josefme Mutzenbacher - Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt" in die Liste jugendgefährdender Schriften. Die Bundesprüfstelle nach § 8 ff. des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (GjS) hatte 1968 und 1970 zwei Ausgaben dieses Romans im Rahmen eines Verfahrens nach § 18 Abs. 1 GjS indiziert. Die Beschwerdeführerin, ein Verlag, der eine Taschenbuchausgabe des Werkes herausgegeben hat, begehrte von der Bundesprüfstelle die Streichung dieser früheren Indizierungen. Die Bundesprüfstelle lehnte dies ab und nahm mit der Begründung, daß der Roman offensichtlich schwer jugendgefährdend im Sinne des § 6 Nr. 2 und 3 GjS
Unter Hinweis auf die am gleichen Tage ergangene Entscheidung BVerfGE 81, 278 ff. und auf die Entscheidungen BVerfGE 75,369,376;77,240,250 f.; die Entscheidung 67,213,229 f., in der zum ersten Mal der Gesichtspunkt der „Werkgerechtigkeit" entscheidungserheblich war, wird hier nicht genannt.
Α. Aktuelle Konfliktlagen der Kunstfeiheit
9
sei, auch die Taschenbuchausgabe in die Liste auf. 13 Die Klage gegen diese Indizierung wurde letztinstanzlich vom Bundesverwaltungsgericht abgewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hob die Entscheidung der Bundesprüfstelle und die Urteile der Verwaltungsgerichte als mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG unvereinbar auf. Nach § 1 Abs. 1 GjS sind „Schriften, die geeignet sind, Kinder oder Jugendliche sittlich zu gefährden, in eine Liste aufzunehmen". Die in diese Liste aufgenommenen Werke unterliegen dann einer Reihe von Beschränkungen, die in den § § 3 - 5 GjS geregelt sind. Eine Schrift darf nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS nicht in diese Liste aufgenommen werden, „wenn sie der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre dient". Das Gesetz statuiert also einen ausdrücklichen Kunstvorbehalt. Dieser galt nach bisherigem Verständnis, unter anderem dem des Bundesverwaltungsgerichts, nicht für Werke im Sinne des § 6 GjS. Diese Vorschrift ordnet an, daß schwer jugendgefährdende Schriften den Beschränkungen der § § 3 - 5 GjS unterliegen, ohne daß es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf. 14 Die Indizierungswirkungen treten für derartige Schriften also unabhängig von einer Indizierung ein. Die in § 6 GjS genannten Schriften treffen alle Rechtsfolgen einer Indizierung, insbesondere bei einem Verstoß gegen die Verbote der §§ 3 - 5 die strafrechtlichen Folgen des § 21 GjS, „obwohl sie gar nicht indiziert sind." 1 5 Bei § 6 GjS handelt es sich um eine Indizierung kraft Gesetzes. Das Bundesverfassungsgericht hat nun entschieden, daß die Aufnahme in die Liste nicht mit der Kunstfreiheitsgarantie vereinbar gewesen sei. Das Gericht ist nur relativ kurz auf die Frage eingegangen, ob es sich bei dem Roman um ein Kunstwerk handelt. Der offene Kunstbegriff des Art. 5 Abs. 3 GG führt unproblematisch zu einer Einordnung des Werkes als Kunst. Das Gericht bestätigt die schon vom Bundesgerichtshof in der Entscheidung zu Henry Millers „Opus Pistorum" gewonnene Erkenntnis, daß Kunst und Pornographie sich nicht ausschließen.16 Die entscheidenden Passagen des Urteils zur Frage der Reichweite der Kunstfreiheitsgarantie beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Kunstfreiheit und Jugendschutz. 13
Dies kann im Rahmen des Verfahrens nach den §§ 9 Abs. 3, 13 GjS oder im Rahmen des vereinfachten Verfahrens nach § 15 a GjS geschehen. 1 4 Der § 6 GjS lautet: „Den Beschränkungen der §§ 3 bis 5 unterliegen, ohne daß es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf, 1. Schriften, die zum Rassenhaß aufstacheln oder die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen in einer Art schildern, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des Vorganges in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt (§131 des Strafgesetzbuches), 2. pornographische Schriften (§ 184 des Strafgesetzbuches), 3. sonstige Schriften, die offensichtlich geeignet sind, Kinder oder Jugendliche sittlich schwer zu gefährden."
!5 So Gusy, JZ 1991, S. 471. 1 6
BGH NJW 1990, 3026, 3027.
10
1 · Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
/. Die verfassungsrechtliche
Verankerung des Jugendschutzes
Das Bundesverfassungsgericht betont in diesem Beschluß die schon in allen bisherigen Entscheidungen zur Kunstfreiheit bestätigte Rechtsprechung, daß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zwar eine vorbehaltlose Gewährleistung statuiere, daß dieses Grundrecht aber seine Schranken in den Grundrechten anderer Rechtsträger, aber auch in sonstigen Rechtsgütern, sofern diese gleichfalls mit Verfassungsrang ausgestattet sind, finde. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen ist danach verfassungsrechtlich begründet durch die Vorschriften der Art. 5 Abs. 2, 6 Abs. 2 Satz 1 und insbesondere Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG: „Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit im Sinne dieser Grundrechtsnormen. Sie bedürfen des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln. Das gilt auch für ihre Bewahrung vor sexuellen Gefahren und die Ermöglichung einer das Persönlichkeitsrecht achtenden Sexualerziehung. Dieser Gesichtspunkt berechtigt den Staat, von Kindern und Jugendlichen Einflüsse fernzuhalten, welche sich auf ihre Einstellung zum Geschlechtlichen und damit auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit nachteilig auswirken können."1 ?
2. Die verfassungsrechtlichen
Anforderungen
an den Gesetzgeber
Das Gericht hat den Entscheidungsbereich des Gesetzgebers im Rahmen grund- und verfassungsrechtlicher Prinzipien präzise bestimmt. So hat es dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zugestanden für die Frage, ob literarische Werke überhaupt einen schädigenden Einfluß auf Kinder und Jugendliche ausüben können. Diesen ihm zustehenden Entscheidungsspielraum hätte der Gesetzgeber nur dann verlassen, wenn eine Gefährdung Jugendlicher nach dem Stand der Wissenschaft vernünftigerweise auszuschließen wäre. Wenn der Gesetzgeber sich aber entscheidet, der vorbehaltlos gewährleisteten Kunstfreiheit Belange des Kinder- und Jugendschutzes gegenüberzustellen, so muß nach dem Beschluß der Gesetzgeber verfassungsrechtliche Anforderungen beachten, denen das Gesetz über jugendgefährdende Schriften bei verfassungskonformer Auslegung allerdings genügt. Aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip sei der Gesetzgeber verpflichtet: „die für die Grundrechts Verwirklichung maßgeblichen Regelungen im wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen. Wie weit der Gesetzgeber die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien selbst bestimmen muß, richtet sich maßgeblich nach dessen Grundrechtsbezug.
BVerfGE 83, 130, 140.
Α. Aktuelle Konfliktlagen der Kunstfreiheit
11
Eine Pflicht dazu besteht, wenn miteinander konkurrierende grundrechtliche Freiheitsrechte aufeinandertreffen und deren jeweilige Grenzen fließend und nur schwer auszumachen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die betroffenen Grundrechte nach dem Wortlaut der Verfassung vorbehaltlos gewährleistet sind und eine Regelung, welche diesen Lebensbereich ordnen will, damit notwendigerweise ihre verfassungsimmanenten Schranken bestimmen und konkretisieren muß. Hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Schranken der widerstreitenden Freiheitsgarantien jedenfalls so weit selbst zu bestimmen, wie sie für die Ausübung dieser Freiheitsrechte wesentlich sind."
Dieser Regelungspflicht habe der Gesetzgeber mit dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften zwar genügt. Der § 6 GjS sei aber nur verfassungsgemäß, wenn der Kunstvorbehalt des § 1 Abs. 2 GjS auch für diese Vorschrift gelte. Denn der Gesetzgeber dürfe mit Rücksicht auf die Kunstfreiheit nicht anordnen, bei einer bestimmten Art besonders gefährdender Schriften genieße der Jugendschutz stets und ausnahmslos Vorrang. Deshalb müsse auch im Rahmen des § 6 GjS bei jeder Schrift eine Abwägung im Einzelfall erfolgen, ob die Kunstfreiheit oder der Jugendschutz Vorrang genieße. § 6 GjS, insbesondere § 6 Nr. 3, unterliegt nach der Entscheidung auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG: „Gesetzliche Regelungen müssen so gefaßt sein, daß der Betroffene seine Normunterworfenheit und die Rechtslage so konkret erkennen kann, daß er sein Verhalten danach auszurichten vermag. Die Anforderungen an die Bestimmtheit erhöhen sich mit der Intensität, mit der auf der Grundlage der betreffenden Regelung in grundrechtlich geschützte Bereiche eingegriffen werden kann. Dies hat jedoch nicht zur Folge, daß die Norm dann überhaupt keine Auslegungsprobleme aufwerfen darf. Dem Bestimmtheitserfordernis ist vielmehr genügt, wenn diese mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden." 19
3. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen die Exekutive und die Fachgerichte
an
Das Bundesverfassungsgericht ist der Auffassung, daß die Bundesprüfstelle und die Verwaltungsgerichte die Kunstfreiheitsgarantie verletzt haben, und zwar insbesondere deshalb, weil sie nur die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 GjS geprüft hätten, ohne die von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gebotene Gesamtabwägung vorzunehmen: „Keinem der Rechtsgüter kommt von vornherein Vorrang gegenüber dem anderen zu. Das gilt auch für Schriften, die von § 6 GjS erfaßt werden. Auch diese dürfen nur nach einer umfassenden Abwägung mit den widerstreitenden Belangen der Kunstfreiheit in die Liste
BVerfGE 83, 130, 142. BVerfGE 83, 130, 145.
12
1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur jugendgefährdender Schriften aufgenommen oder den Beschränkungen der §§ 3 bis 5 GjS unterworfen werden." 2^
Wie diese Gesamtabwägung hätte aussehen müssen, erörtert das Gericht sehr ausführlich. Es werden insgesamt 5 normative Kriterien für den Abwägungsvorgang aufgestellt: (1) Zunächst nimmt das Gericht auf die Entscheidung zum »Anachronistischen Zug" bezug: 21 „Dort wird zwar ausgeführt, zweifelsfrei feststellbare schwerwiegende Beeinträchtigungen des konkurrierenden Rechtsgutes (dort: des Persönlichkeitsrechts) können durch die Kunstfreiheit nicht gerechtfertigt werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Prüfung, ob eine solch schwerwiegende Beeinträchtigung festzustellen ist, isoliert, das heißt ohne Berücksichtigung des Charakters des Werks, vorgenommen werden dürfte" 22 .
(2) Das Gericht präzisiert und modifiziert dann das Kriterium der Werkgerechtigkeit, bezogen auf die Belange des Jugendschutzes: „Bei der Kollision der Kunstfreiheit mit den Interessen des Kinder- und Jugendschutzes kann die von der Verfassung geforderte Konkordanz indes nicht allein auf der Basis vorheriger werkgerechter Interpretation erreicht werden. Kunstwerke können nicht nur auf der ästhetischen, sondern auch auf der realen Ebene Wirkungen entfalten. Gerade Kinder und Jugendliche werden häufig, wenn nicht sogar in der Regel, den vollen Gehalt eines Kunstwerks nicht ermessen können.(...) In der Konsequenz dieser Erkenntnis liegt es jedoch nicht, dem Belang des Jugendschutzes stets Vorrang einzuräumen." 2^
(3) Die Bundesprüfstelle und die Fachgerichte werden dann darauf verpflichtet, die realen Wirkungen und Folgen des Einflusses, den die konkrete Schrift ausübt, unter besonderer Berücksichtigung des gesellschaftlichen Wertewandels zu ermitteln: „Auf Seiten des Kinder- und Jugendschutzes werden sich Bundesprüfstelle und Fachgerichte im Rahmen des verfahrensrechtlich Möglichen Gewißheit darüber zu verschaffen haben, welchen schädigenden Einfluß die konkrete Schrift ausüben kann. Dies schließt nicht nur eine Betrachtung der Frage ein, in welchem Maße die Akzeptanz erotischer Darstellungen im Zuge „sich ganz allgemein ausbreitender Sexographie" gestiegen ist (so zutreffend BGH NJW 1990, 3026, 3028). Das erfordert unter Umständen auch eine sachverständiggutachterliche Ermittlung dieser Folgen. Dabei haben Bundesprüfstelle und Fachgerichte die gesetzgeberische Entscheidung zu akzeptieren, daß Schriften im Sinne des § 1 Abs. 1 GjS
2
0 BVerfGE 83, 130, 146.
2 1
BVerfGE 67, 213, 228.
2 2
BVerfGE 83, 130, 146.
2
3 BVerfGE 83, 130, 147.
Α. Aktuelle Konfliktlagen der Kunstfreiheit
13
überhaupt geeignet sein können, Kinder und Jugendliche in ihrer charakterlich-sittlichen Entwicklung, das heißt in der Herausbildung ihrer Persönlichkeit zu beeinträchtigen." 24
(4) Das Kriterium der werkgerechten Interpretation wird dann noch einmal präzisiert: „Für die Gewichtung der Kunstfreiheit kann von Bedeutung sein, in welchem Maße gefährdende Schilderungen in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind. Die Kunstfreiheit umfaßt auch die Wahl eines jugendgefährdenden, insbesondere Gewalt und Sexualität thematisierenden Sujets sowie dessen Be- und Verarbeitung nach der vom Künstler selbst gewählten Darstellungsart. Sie wird um so eher Vorrang beanspruchen können, je mehr die den Jugendlichen gefährdenden Darstellungen künstlerisch gestaltet und in die Gesamtkonzeption des Kunstwerks eingebettet sind. Die Prüfung, ob jugendgefährdende Passagen eines Werkes nicht oder nur lose in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind, erfordert eine werkgerechte Interpretation."
(5) Ein weiteres Beurteilungskriterium soll die Akzeptanz bei der fachkundigen Öffentlichkeit sein: „Echo und Wertschätzung, die es (das Werk Α. E.) in Kritik und Wissenschaft gefunden hat, können Anhaltspunkte für die Beurteilung ergeben, ob der Kunstfreiheit Vorrang einzuräumen ist." 2 ^
Alle weiteren Details des Beschlusses spielen für die Frage der Freiheit im Rahmen der Kunst keine Rolle.
Ι Π . Kunstfreiheit und Straßenkunst Die Frage, ob Straßenkunst Gemeingebrauch oder Sondernutzung der in Anspruch genommenen Straße ist, beschäftigt seit zehn Jahren das Bundesverwaltungsgericht und ist eine der im Verwaltungsrecht heftig diskutierten Fragen 26 . Es ist einer der Bereiche, in denen sich die Frage nach dem Umfang der normativen Gewährleistung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG im Verhältnis zu Grundrechten anderer Grundrechtsträger stellt 2 7 . Das Bundesverwaltungsgericht hat am 9.11.1989 die vierte Entscheidung zu diesem Problemkreis getroffen.
2 4
BVerfGE 83, 130,147.
2 5
BVerfGE 83, 130, 148.
2 6
Vgl dazu nur Laubinger, Straßenkunst: Gemeingebrauch oder Sondernutzung, VerwArchiv 1990, S. 583 ff. Friedhelm Hufen, DÖV 1983, S. 353 ff.; Goerlich, Jura 1990, S. 415ff.; Messer, Die Sondernutzung öffentlicher Straßen; Würkner, NJW 1989, S. 1266 f.; ders. Straßenrecht contra Kunstfreiheit?, NJW 1987, S. 1793 ff.; Bismarck, NJW 1985, S. 246 ff, S.251; Stock, Straßenkommunikation als Gemeingebrauch. 2 7 A.a. Laubinger, Verw Arch 90, S. 538 ff., S. 621, der meint, die Frage, ob Straßenkunst einer Sondernutzungserlaubnis bedürfe, falle gar nicht in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG.
14
1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
1. Der Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 7.1.1987 28 und der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 19.6.1981 29 In dem diesen beiden Beschlüssen zugrunde liegenden Verfahren begehrte der Kläger die Feststellung, daß er keiner straßen(verkehrs)rechtlichen Erlaubnis dafür bedürfe, auf der Straße im Fußgängerbereich der Düsseldorfer Innenstadt Gemälde und Plastiken anzufertigen, aufzustellen und zu verkaufen. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf und das Oberverwaltungsgericht NordrheinWestfalen wiesen die Klage ab. a) Das Bundesverwaltungsgericht wies die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers zurück: „Die Freiheit der Kunst umfaßt nicht das Recht, sich zu jeder Zeit und an jedem Ort in beliebiger Art zu betätigen. Es ist demgemäß geklärt, daß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zwar nicht den Schranken der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG unterliegt, jedoch seine Grenze in den Grundrechten anderer Personen findet (...). Ebenso ist...geklärt, daß der störungsfreie Gemeingebrauch der öffentlichen Straße und die Sicherheit des Straßenverkehrs in ihrem Kern durch die Grundrechte der Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG gewährleistet sind(...). Mit diesen Rechten kann der Gebrauch der Straße, den der Kläger unter Hinweis auf die Freiheit seiner Kunst für sich beansprucht, kollidieren. Bei einer Tätigkeit, die die Straße als Malerwerkstatt und Ausstellungsort von Bildern benutzt, ist regelmäßig von der Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer auszugehen. Diese Gefahr der Kollision von Grundrechten verschiedener Rechtsträger rechtfertigt eine behördliche Kontrolle in Form des vorgängigen Erlaubnisverfahrens, damit die zuständigen Behörden nicht nur Kenntnis von Ort, Zeitdauer und Umfang der Sondernutzung der Straße erhalten, sondern auch Verkehrsstörungen verhindern oder einen zumutbaren Interessenausgleich schaffen können.(....) Der Beschwerde ist zuzugeben, daß damit das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG - trotz seiner Spezialität zu Art. 5 Abs. 2 GG - letztlich doch unter den Gesetzes vorbehält des § 18 Abs.l des Landesstraßengesetzes und der §§32 Abs.l Satz 1, 33 Abs. 1 Nr. 2, 46 Abs.l Nrn. 8 und 9 StVO gestellt ist. Dieses Ergebnis ist aber angesichts der Rechtslage, daß die Kunstfreiheit ihre Grenzen in der Verfassung selbst findet, in den Fällen zwangsläufig, in denen die gesetzliche Regelung, die durch die Kunstausübung betroffen wird, zum Ziel hat, ein der Kunstfreiheit gleichrangig gegenübertretendes Verfassungsgut zu schützen."
b) Gegen die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde legte der Kläger Verfassungsbeschwerde ein. Diese wurde vom Vorprüfungsauschuß des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit folgender Begründung nicht zur Entscheidung angenommen:
2 8 2 9
BayVBl. 1981,508 ff. = DÖV 1981, S. 342 f. =GewArch. 1981, S. 191 f..
Az.: 1 BvR 183/81 -; wiedergegeben bei Würkner, NJW 1987, S. 1793 ff., S. 1798 FN. 49, ebenso bei Laubinger, aaO., S. 587.
Α. Aktuelle Konfliktlagen der Kunstfreiheit
15
„Der Beschwerdeführer wird durch die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen nicht in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verletzt. Die Verwaltungsgerichte gehen in ihren Ausführungen ausdrücklich und im Ergebnis zutreffend von den Grundsätzen aus, die das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung 30, 173, 188 ff. - Mephisto - zur Lösung von Konflikten zwischen der Kunstfreiheitsgarantie und anderen verfassungsrechtlich geschützten Bereichen aufgestellt hat. Die Kunst ist in ihrer Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit durch Ait. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zwar ohne gesetzlichen Vorbehalt gewährleistet. Andererseits ist dieses Freiheitsrecht nicht schrankenlos gewährt. Es kann mit anderen ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Rechten in Konflikt geraten. Dem Bundesverwaltungsgericht (und den Vordergerichten) ist darin zuzustimmen, daß der störungsfreie Gemeingebrauch der öffentlichen Straßen und die Sicherheit des Straßenverkehrs in ihrem Kern durch die Grundrechte des Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistet sind. Der hohe Wert dieser geschützten Rechtsgüter für die Gemeinschaft rechtfertigt es unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, daß zu ihrem Schutze ein behördliches Kontrollverfahren eingeführt wird, das eine über den Gemeingebrauch hinausgehende Nutzung erlaubnis- oder genehmigungspflichtig macht."
Die Verwaltungsgerichte haben auch nicht verkannt, daß bei der Entscheidung über eine Erlaubniserteilung die Kunstfreiheitsgarantie entsprechend ihrem hohen Stellenwert innerhalb der Verfassungsordnung zu berücksichtigen ist. Darauf braucht hier aber nicht weiter eingegangen zu werden, denn Gegenstand des Ausgangsverfahrens war lediglich die vom Beschwerdeführer begehrte Feststellung, daß er für die Ausübung der beabsichtigten Tätigkeit an dem von ihm ausgewählten Platz auf einer öffentlichen Straße keiner straßen(Verkehrs)- rechtlichen Erlaubnis bedürfe. 2. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg vom 17.8.1988 30 und das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9.11.198931 Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9.11.1989 ist das letzte in der Reihe der Entscheidungen zur Straßenkunst. Es ist aus zwei Gründen interessant: zum einen mußte es sich mit einer Entscheidung der Vorinstanz, des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, auseinandersetzen, die die Straßenkunst für nicht erlaubnispflichtig hielt. Zum anderen hat das Gericht in dieser Entscheidung eine etwas andere Position zu der Frage eingenommen, ob Strassenkunst in allen Fällen sondernutzungspflichtig sei. 3 2 3
0 DÖV 1989, S. 128 ff. mit Anm. Goerlich, S. 130f. = GewArch. 1988, S. 370ff. = NJW 1989, S. 1299 ff. = VB1BW 1989, S. 58 ff. 3 1 DVB1 1990, S. 163 ff. = DÖV 1990, S. 252 ff. = GewArch. 1990,163 ff.= JA 1990, S. 246 ff. = JZ 1990, S. 336 ff. mit Anm. Hufen = NJW 1990, S. 2011 ff. m. Anm. Würkner. 3 2 Dagegen bringen der Beschluß vom 19.12.1986 in GewArch. 1987, S. 330 ff. = JuS 1988, S. 308 ff. (Hufen) und der Beschluß vom 16.6.1987 AZ.: 7 Β 118.87 n.v., wiedergegeben bei Laubinger, VerwArch. 1989, S. 583 ff., 593 keine neuen Erkenntnisse des BVerwG über die Frage des Verhältnisses der Kunstfreiheitsgarantie zum Straßenrecht.
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1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
a) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg vom 17.8.1988 Die Klägerin in dem der Entscheidung zugrunde liegenden Verfahren hatte beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage erhoben mit dem Antrag, festzustellen, daß das Anfertigen und der Verkauf von Scherenschnitten weder unter das Ladenschlußgesetz falle noch als Gewerbe im Sinne der Gewerbeordnung einzustufen sei und daß sie auch nicht einer Sondernutzungserlaubnis bedürfe. Die Klägerin fertigte in ihrer Freizeit in den Fußgängerzonen und auf den öffentlichen Plätzen verschiedener Städte Scherenschnitte (Silhouetten, Profilschattenbilder) von Passanten an, denen sie die Scherenschnitte für 8,- D M verkaufte. Für diese Tätigkeit stellte die Klägerin eine Staffelei und einen Klapptisch auf. Das Verwaltungsgericht wies die Klage insoweit ab, wie die Klägerin die Feststellung begehrte, daß die obige Tätigkeit keiner Sondernutzungserlaubnis bedürfe. Der Verwaltungsgerichtshof dagegen gab auf die Berufung der Klägerin der Klage in vollem Umfang statt. Er qualifizierte das Anfertigen der Scherenschnitte nicht als Sondernutzung, sondern als Gemeingebrauch im Sinne von § 15 Abs. 1 StraßenG Baden-Württemberg. Denn die Begriffe „Verkehr" und „Gemeingebrauch" im baden-württembergischen StraßenG müßten verfassungskonform ausgelegt werden: „Der Gemeingebrauch auch an solchen Straßen, die nicht Bundesfernstraßen sind, ist nämlich zugleich bundes-(verfassungs-)rechtlich geregelt, und zwar nicht nur insoweit, als er in seinem Kern von der grundrechtlichen Gewährleistung der Art. 2 Abs. 2, 3 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG erfaßt wird (...), sondern als darüber hinaus auch andere Grundrechte wie Art. 5 Abs. 1 und 3, Art. 8 Abs. 1 und Art. 21 GG eine verfassungskonforme Auslegung der Begriffe „Verkehr" und „Gemeingebrauch" gebieten (...). Die (landes-)straßenrechtlichen Begriffe „Verkehr" und „Gemeingebrauch" sind auch durch die (bundes-)verfassungsrechtliche Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs.3 Satz 1 GG überlagert und im Lichte dieses Grundrechts auszulegen und abzugrenzen. Der 1. Senat des erkennenden Gerichts hat sich im erwähnten Urteil vom 26.6.198633 mit dieser Rechtslage nicht befaßt, sondern - gewissermaßen erst im zweiten Schritt - geprüft, ob die Kunstfreiheitsgarantie des Art.5 Abs. 3 Satz 1 GG der Anwendung von Vorschriften entgegenstehe, welche die (zuvor angenommene) Sondernutzung auch zur Ausübung der Kunst einer Erlaubnispflicht unterwerfen und in welcher Weise sich die Freiheit der Kunst auf die zu treffende Ermessensentscheidung auswirkt."
Der Verwaltungsgerichtshof macht dann Ausführungen zum Stellenwert der Kunstfreiheit. Daraus folgert er:
33 Der 1. Senat des V G H hatte in der vom 14. Senat zitierten Entscheidung ebenfalls zur Frage der Erlaubnispflichtigkeit von Straßenkunst Stellung genommen, vgl in DÖV 1987, S. 160 ff. = GewArch. 1986, S. 365 ff. = JuS 1988, S. 308 ff = NJW 1987, S. 1839.
Α. Aktuelle Konfliktlagen der Kunstfreiheit
17
„daß bei einer verfassungskonformen Abgrenzung des Gemeingebrauchs (von der Sondernutzung) jeweils im konkreten Einzelfall geprüft werden muß, ob durch die Kunstausübung auf der Straße die Grenze der Gemeinverträglichkeit deshalb überschritten ist, weil grundrechtlich geschützte Positionen Dritter in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt werden. Die Grenzziehung muß daher im jeweiligen konkreten Falle verhältnismäßig sein und darf nicht weiter gehen, als es notwendig ist, um die Konkordanz der verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter herzustellen (...). Als Grundrechtspositionen Dritter kommen vor allem in Betracht der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Gemeingebrauch an den öffentlichen Straßen sowie die durch Art. 14 GG geschützte Rechtsposition der Anlieger, ferner das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (etwa bei Störungen der Nacht- oder Mittagsruhe, bei besonderer Intensität einer Musikveranstaltung oder bei Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs), aber z.B. auch die Kunstfreiheit anderer (Straßen-) Künstler."
b) Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 9.11.1989 Die obige Entscheidung des V G H wurde vom Bundesverwaltungsgericht wegen Verletzung von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG aufgehoben. Zunächst stellt das Gericht aber fest, daß die Straßenkunst als eigenständige Kunstform in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fällt: „Zu den geschützten Kunstformen gehört auch die Straßenkunst, also das künstlerische Schaffen, das in einem untrennbaren Wechselspiel zwischen Werk- und Wirkbereich auf das Medium der öffentlichen Straße und das dort sich aufhaltende Publikum spezifisch angewiesen ist. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen der Kunstschöpfung und der Kommunikation zwischen Künstler und Außenwelt ist bei der Straßenkunst der Wirkbereich nicht weniger schutzbedürftig als der Werkbereich (vgl. dazu auch BVerfGE 77, 240, 253f. =NJW 1988,325). In diesem Sinne ist Straßenkunst auch das Herstellen von Schattenrißbildern in der von der Klägerin betriebenen Art und Weise. Denn der Scherenschnittkünstler kann seine Modelle nur dort finden und an den Porträtierten verkaufen, wo Menschen in der Öffentlichkeit in größerer Zahl versammelt sind oder vorübergehen. Wegen dieser unauflöslichen Verknüpfung von Herstellung und wirtschaftlicher Verwertung gehört hier auch der Verkauf des Kunstwerkes zum geschützten Wirkbereich der Kunst."
Das Gericht prüft aber, obwohl es die Schutzbereichsberührung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG bejaht, nicht, wie das Verhältnis des Grundrechts zu den landesstraßenrechtlichen Begriffen des „Verkehrs" und des „Gemeingebrauchs" dogmatisch zu beurteilen ist, sondern verweist in diesem Punkt nur auf seine frühere Rechtsprechung: „Die entscheidungstragende Begründung (des VGH) läßt sich dahin zusammenfassen, daß die Einführung eines auf generell-abstrakte Sachverhalte bezogenen Erlaubnisverfahrens für straßenkünstlerische Betätigungen wegen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 verfassungswidrig wäre, daß also der Gesetzgeber die Pflicht zur Einholung einer Erlaubnis erst dann vorsehen dürfe, wenn aufgrund einer Einzelfallprüfung feststehe, daß die konkrete Straßennutzung Grundrechte anderer unverhältnismäßig beeinträchtigt. Diese Auffassung ist mit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats unvereinbar (...). Der Senat hält auch nach erneuter Überprüfung der Rechtsprechung daran fest." -
18
Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
Zur Einschränkung der Kunstfreiheit führt der Senat dann aber aus: „Der Senat verkennt nicht, daß die Notwendigkeit, eine Erlaubnis einzuholen, die Ausübung der Kunstfreiheit erschweren kann(...). Deshalb könnte die generelle Qualifizierung straßenkünstlerischer Darbietungen als erlaubnispilichtige Sondemutzung dann eine unverhältnismäßige Einschränkung der Kunstfreiheit sein, wenn es fest umrissene Fallgruppen gäbe, die typischerweise keine nennenswerten Nutzungskonflikte und damit keinen Bedarf an präventiver Kontrolle hervorrufen. Für solche Straßenkunst könnte es ausreichen, im Einzelfall einzuschreiten, wenn es ausnahmsweise zu einem gemeinunverträglichen Zustand kommen sollte."
Der Senat verwirft diese Lösungsmöglichkeit aber, da eine eindeutige Bestimmung konfliktarmer straßenkünstlerischer Betätigungen auf der Ebene des förmlichen Gesetzes nicht möglich erscheine. Das Landesstraßengesetz für Baden-Württemberg lasse allenfalls Raum für die Bildung von „Ortsgebräuchen", die auch bestimmte straßenkünstlerische Aktivitäten als gemeingebräuchlich erfassen könnten. Der „hohe Rang der in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleisteten Kunstfreiheit" werde aber auf jeden Fall im Rahmen des straßenkünstlerischen Erlaubniserteilungsverfahrens gewahrt: „Ergibt die Prüfung des Einzelfalles, daß die straßenkünstlerische Darbietung weder die durch Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG im Kern geschützten Rechte der Verkehrsteilnehmer noch das Recht auf Anliegergebrauch (Art. 14 Abs. 1 GG) noch andere Grundrechte, z.B. Art. 2 Abs. 2 GG im Falle erheblicher Geräuschimmissionen, ernstlich beeinträchtigt, wird in aller Regel das Ermessen reduziert sein und ein Anspruch auf Erlaubniserteilung bestehen."
Ein Erlaubnisverfahren sei nur dann grundrechtswidrig, wenn „...der Gang zur Erlaubnisbehörde nicht nur eine Lästigkeit wäre, sondern Kunstausübung praktisch unmöglich machte."
Für den Senat kommt dabei vor allem die sog. „Spontankunst" in Betracht, die vorliege, wenn das künstlerische Werk nur entweder spontan oder gar nicht vollbracht werden könne. Abschließend faßt das Gericht noch einmal seine Erkenntnisse zum Verhältnis von Straßenrecht und Kunstfreiheitsgarantie zusammen: „Die Garantie der Kunstfreiheit zwingt zwar nicht, wie ausgeführt, zur Erlaubnisfreiheit für Straßenkunst, hindert aber - wie auf der Hand liegt - auch nicht eine grundrechtsfreundliche Auslegung der maßgebenden landesstraßenrechtlichen Bestimmungen in dem Sinn, daß bestimmte künstlerische Aktivitäten dem Gemeingebrauch zugerechnet werden."
Die Ausführungen zur „Spontankunst" und zur „grundrechtsfreundlichen Auslegung" machen deutlich, daß das Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung zum Verhältnis von Landesstraßenrecht und Kunstfreiheitsgarantie geändert hat. Geht das Gericht in seinem Beschluß vom 7.1.1981
Α. Aktuelle Konfliktlagen der Kunstfreiheit
19
noch von einem Quasi-Vorbehalt zugunsten des einfachen Gesetzgebers aus, wenn der einfache Gesetzgeber ein der Kunstfreiheit gleichrangig gegenübertretendes Verfassungsgut schützt, so sieht das Gericht eine Möglichkeit zur Verstärkung des normativen Eigengehalts des Grundrechts in der „grundrechtsfreundlichen Auslegung" des einfachen Gesetzes.
I V . Kunstfreiheit und Sacheigentum - Der „Sprayer von Zürich" Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 19.3.1984 34 Die Frage, ob die Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG Einwirkungen auf das Sacheigentum zuläßt, war Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, in dem die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Auslieferung eines wegen Sachbeschädigung verurteilten schweizerischen Staatsbürgers an die Schweiz zu entscheiden war. Der Beschwerdeführer war in der Öffentlichkeit unter dem Namen der „Sprayer von Zürich" bekannt geworden. Das Obergericht Zürich hatte ihn für schuldig befunden, in mehr als 100 Fällen öffentliche und private Bauwerke in Zürich und anderen Orten in der Schweiz mit Figuren besprüht und damit den Tatbestand der wiederholten und fortgesetzten Sachbeschädigung nach Art. 145 I SchweizStGB erfüllt zu haben. Der Beschwerdeführer war durch das Obergericht Zürich in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten Gefängnis ohne Bewährung und zur Zahlung von 101.534,60 Sfr. Schadensersatz verurteilt worden. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Entscheidung des OLG Schleswig, welches die Auslieferung des Beschwerdeführers an die Schweiz zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig erklärte. Das Bundesverfassungsgericht nimmt in diesem Beschluß zur Frage der Beschädigung von Sacheigentum durch künstlerische Tätigkeit Stellung: „Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist nicht verletzt. Die Frage, ob im Hinblick auf die grundgesetzlich verbürgte Freiheit der Kunst die beiderseitige Strafbarkeit des Verhaltens des Beschwerdeführers zu verneinen und seine Auslieferung dementsprechend als unzulässig anzusehen ist, hat das OLG im Rahmen der Prüfung der Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Beschwerdeführers nach deutschem Recht beurteilt. Es hat die von den schweizerischen Gerichten als Sachbeschädigung gewerteten Betätigungen des Beschwerdeführers als »künstlerisch« bezeichnet, dem Beschwerdeführer aber entgegengehalten, daß Art. 5 Abs. 3 Satz l GG einem Künstler nicht schlechthin gestatte, sich über die Eigentumsrechte anderer hinwegzusetzen. Die hierin zum Ausdruck kommende Überzeugung des OLG ist im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG anerkennt und verbürgt für den Geltungsbereich des Grundgesetzes ein individuelles Freiheitsrecht, sich
34 NJW 1984, S. 1293 ff.
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1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur künstlerisch zu betätigen, Kunstwerke darzubieten und zu verbreiten. Die Vorschrift schützt vor Einwirkungen der öffentlichen Gewalt zumal auf Inhalte, Methoden und Tendenzen künstlerischer Tätigkeit. Diese Gewährleistung hat das Grundgesetz mit keinem Vorbehalt versehen; ihre Reichweite erstreckt sich aber von vorneherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung (sei es im Werk- oder Wirkbereich der Kunst). Überdies enthält das Eigentumsgrundrecht gleichfalls eine Verbürgung von Freiheit; nach den vom Grundgesetz getroffenen Wertungen steht es nicht prinzipiell hinter der Freiheit der Kunst zurück. Gesetze, die eine Eigentumsbeschädigung mit Strafe bedrohen, verstoßen nicht gegen den Sinn dieser Freiheit. In der Bundesrepublik Deutschland wie in der Schweiz kann sich Kunst auch ohne Beschädigung fremden Eigentums entfalten."
Die Kollision zwischen Kunstfreiheitsgarantie und Eigentumsgarantie wird, wie bei der Straßenkunst, über die Anwendung des einfachen Rechts vermittelt, hier über die Strafvorschriften zur Sachbeschädigung. Im Fall des »Sprayers« tritt die Kollision zwischen Art. 14 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG aber noch deutlicher ins Blickfeld. Daß zum Zwecke der Erstellung eines Kunstwerkes fremdes Eigentum nicht beschädigt werden darf, erscheint auf den ersten Blick einleuchtend. Das Bundesverfassungsgericht spricht hier von „vom Grundgesetz getroffenen Wertungen", nach denen die Eigentumsverbürgung „prinzipiell" nicht hinter der Freiheit der Kunst zurückstehe.
V. Zusammenfassung Allen aktuellen Entscheidungen zur Kunstfreiheit ist gemeinsam, daß das Tatbestandsmerkmal „frei" im Grundrechtstatbestand des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht thematisiert wird. Die gängige Methode aller rechtsanwendenden Gerichte einschließlich des Bundesverfassungsgerichts ist es, den Kunstbegriff sehr formal zu fassen und damit fast jede Tätigkeit als „Kunst" zu bezeichnen, dann aber sofort nach den „Schranken" zu fragen, denen jene Kunst unterliegt. Die Frage, was „frei" im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie bedeutet, wird nicht gestellt. Es ist damit die Frage nach dem Schutzgut des Freiheitsrechts des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gestellt, die im folgenden genauer untersucht werden soll.
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in Literatur und Rechtsprechung
21
B. Das Tatbestandsmerkmal „frei" des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG in Literatur und Rechtsprechung Der Streit um die Kunstfreiheitsgarantie oder genauer um die Frage, was der Tatbestand des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG denn überhaupt für eine Aussage enthält, und was er genau regelt, ist meistens unter zwei Aspekten untersucht worden: - zunächst unter der Fragestellung, was denn der verfassungsrechtliche Begriff der „Kunst" bedeutet 35 . - sodann unter der Fragestellung, welche „Schranken" der Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 gesetzt sind 3 6 . Im folgenden soll der verfassungsrechtliche Kunstbegriff völlig beiseite gelassen werden und der Blick nur auf die Frage gerichtet werden, was „frei" bedeutet. Dabei soll zunächst untersucht werden, welche Ansichten in der speziellen Literatur zur Kunstfreiheitsgarantie bestehen, ohne sofort auf allgemeine Lehren zu den Grundrechten überzugehen.
I. Die in der Literatur vertretenen Auffassungen zur Bedeutung der Aussage „ist frei" 7. Günter Erbel Erbel hat sich auf vier Seiten seiner Arbeit über die Kunstfreiheitsgarantie 37 mit der Frage auseinandergesetzt, welche Bedeutung die Aussage „ist frei" hat. Er hat dabei zwischen dem Inhalt der der Kunst garantierten Freiheit und der Frage der Beschränkbarkeit - den Schranken - dieser Freiheit unterschieden 38. Erbel weist zunächst darauf hin, daß der Art. 5 Abs. 3 Satz 1 als Rechtssatz eine normative Aussage enthalte und nicht als Seinsaussage zu verstehen sei. Das Grundrecht enthalte demnach das an den Staat gerichtete Gebot:„Die Kunst soll frei sein." Erbel unterscheidet eine objektive und eine subjektive Bedeutungs-
35 vgl dazu n u r die Arbeiten von Günter Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, 1966, und Wolfgang Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967. 36 Vgl dazu ebenfalls Erbel, aaO., und Knies, aaO., die beide den Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG unter diesen beiden Aspekten analysieren. 3 7
Erbel, Kunstfreiheitsgarantie, S.99 - 102.
3 8
Erbel, aaO, S.99.
3 Enderlein
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1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
komponente der Freiheit 39 . Die Freiheitsgarantie verlange, das Kunstleben in seiner Gesamtheit als einen eigengesetzlichen, dem staatlichen Herrschaftsanspruch prinzipiell entzogenen Lebensbereich zu schützen. Darin erschöpfe sich aber das Verfassungsgebot des freien Kunstlebens nicht, vielmehr treffe den Staat auch die Pflicht, solche Maßnahmen zu unterlassen, die „mittelbar" die Freiheit des künstlerischen Wirkens beeinträchtigten. Es gebe eine ganze Reihe von Faktoren, die das künstlerische Schaffen - als Zentrum des Kunstlebens beeinflussten 40. Die staatliche Einwirkung auf derartige Faktoren dürfe keine Aushöhlung der Kunstfreiheit zur Folge haben. Als drittes enthalte die Aussage „ist frei" aber noch eine verbindliche Wertentscheidung für ein freies Kunstleben. Den Staat treffe nicht nur das Gebot, alles zu unterlassen, was die Freiheit des Kunstlebens verletze, sondern er müsse auch um eine positive Förderung dieser Freiheit bemüht sein. Für Erbel stellt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG denn auch eine verbindliche Wertentscheidung dar, für deren Verwirklichung der Staat verantwortlich sei. Neben dieser objektiven umfasse die Freiheit in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG auch eine subjektive Bedeutungskomponente. Der Künstler als Zentrum des Kunstlebens solle „frei" sein von Bevormundung und Eingriffen von Seiten des Staates, und zwar beim Schaffen und Publizieren. Darauf habe jeder Kunstschaffende ein subjektives Grundrecht. Die normative Reichweite der Aussage „ist frei" bestimmt Erbel dann letztendlich ausführlich bei den „Schranken" der Kunstfreiheit 41 . 2. Hans-Rolf Ropertz Ropertz thematisiert in seiner Dissertation 42 , daß der Wortlaut der Vorschrift zu der Frage nach der allgemeinen Bedeutung des Wortes „Kunst" führe, was aber wegen der Vielzahl der möglichen Definitionen unergiebig sei 4 3 . Für Ropertz wird daher die Auslegung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zunächst zu einer Frage nach der Auslegungsmethode, und zwar im Rahmen der objektiven Auslegung des Tatbestandes. Um den Wortlaut der Norm zu erschließen, be3 9 Dies folgt auch aus seiner Auslegung des Kunstbegriffs, S.35 - 98, wonach der Begriff „Kunst" einmal das gesamte „Kunstleben", d.h. den Lebensbereich der schöpferischen Künste als objektive Bedeutungskomponente umfaßt, sowie das individuelle, auf Entfaltung der schöpferischen Persönlichkeitskräfte gerichtete Schaffen und Publizieren als subjektive Bedeutungskomponente. 4 0 Erbel nennt auf S.100 u.a. die Kunsterziehung, die rechtliche Regelung des Schutzes künstlerischer Schöpfungen (Urheberrecht), den Umfang der künstlerischen Publikationsfreiheit, das Maß der Meinungs- und Kritikfreiheit, das Ausmaß öffentlicher Subventionierung künstlerischer Arbeit und die erkennbaren Bewertungsmaßstäbe, nach denen die öffentliche Hand subventioniert. 4 1
Erbel, aaO., S. 102 ff..
4 2
Hans-Rolf Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, 1966, insbes. S.76 ff..
4 3
Ropertz, S.78.
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in Literatur und Rechtsprechung
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dürfe es also noch einmal einer genaueren Methode. Als eine derartige Methode biete sich eine Auslegung an, die sich im wesentlichen an der Identität von Norminhalt und dem weithin vorherrschenden Urteil der Rechtsunterworfenen orientiere 44 . Ropertz lehnt diese Methode der Auslegung mit interessanten Argumenten ab, wobei er auch den Begriff der Freiheit thematisiert: Freiheit (als Sollen) bedeute die Gewährung eines Freiheitsbereichs gegen eine diesen Bereich bedrängende staatliche Macht 4 5 . Dieses Ergebnis begründet Ropertz verfassungsgeschichtlich. Denn die Auslegungsmethode, die sich an dem Urteil der Rechtsunterworfenen orientiere, sei demokratisch und nicht liberal. Dem demokratischen Element seien Grundrechte aber immer fremd geblieben, da nur die volonté générale, also der Mehrheitsbeschluß, „richtig" sei 4 6 . Grundrechte schützten demnach logischerweise das „Falsche" vor dem „Richtigen." Sie hätten nach der rousseauistischen Auffassung nur eine Daseinsberechtigung, wenn sich ihr Inhalt stets nach der volonté générale bemäße. Die Grundrechte seien aber als Abwehrrechte konstruiert, und sie behielten diese Funktion auch in einer demokratischen Verfassung. Das liberale Element, welches sich an bestimmten Gütern (Freiheit usw.) orientiere, sei das Gegengewicht zum demokratischen Element geblieben und könne auf Grund dieses Gegensatzes inhaltlich nicht von Methoden bestimmt werden, nach denen sich die volonté générale offenbare. Ropertz äußert sich hier nicht direkt zum Tatbestandsmerkmal „ist frei", sondern er erläutert die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte. Zunächst ist dazu zu bemerken, daß Ropertz hier von der objektiven Auslegungsmethode zur subjektiven, also dem Willen des historischen Gesetzgebers, überwechselt. Ropertz Hauptargument für die Auslegung der Grundrechte als liberales Element der Verfassung ist, daß sie „als Abwehrrechte konstruiert" seien. Mit dieser Auslegung nimmt Ropertz zwar nicht direkt auf das Wort „frei" bezug, aber diese Auslegung ist wohl so zu verstehen, daß alle Grundrechte als Freiheitsrechte 47 zu verstehen seien, denen ein gemeinsamer Freiheitsbegriff zugrunde liege. Dieser gemeinsame Freiheitsbegriff sei „liberal" zu interpretieren. 48
4 4 Ropertz. S.80 unter Hinweis auf Georg Jellineks These von der normativen Kraft des Faktischen, Allgemeine Staatslehre, S.339, wonach „alles Recht eines Volkes...ursprünglich nichts als faktische Übung" gewesen sei, die als allgemeine Regel selbst zum „autoritativen Gebot des Gemeinwesens, also zur Rechtsnorm" geworden sei. 4 5
Ropertz, S.82.
4 6
Ropertz, S.82, nimmt hier ausdrücklich auf Rousseau bezug und auf seinen Begriff der volonté générale. 4 7
Daß nicht alle Grundrechte Freiheitsrechte sind, ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Vorschriften; so sind Art. 6 und Art.7 wohl nur teilweise Freiheitsrechte, ebenso Stern/Sachs, Staatsrecht ΠΙ, 1.Teilband, §46; S. 4 8 Was Ropertz allerdings unter „liberal" versteht, wird aus dem Kontext nicht deutlich, vgl. nur S. 82/83.
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Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
Ropertz versucht, eine Methode zu finden, die unter der Berücksichtigung der Prämisse, daß die Kunstfreiheitsgarantie ein liberales Abwehrrecht gegen den Staat sei, den Norminhalt des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zu bestimmen hilft. Ropertz kommt zu dem Ergebnis, daß diese Methode nur die von Hans Welzel vorgeschlagene Suche nach den sachlogischen Strukturen einer Norm sein könne 49 . Ropertz kommt unter Anwendung dieser Methode zu dem Ergebnis, daß es sich bei Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG um eine institutionelle Garantie handele 50 , daß aber die Betätigung des Einzelnen innerhalb des Abstraktums „Kunst-Freiheit" notwendigerweise mitgeschützt sein müsse 5 1 . Aus der sachlogischen Struktur ergebe sich ebenfalls, daß durch sie auch die Bekanntmachung der künstlerischen Äußerung geschützt sei 52 · 3. Wolfgang Knies Knies untersucht in seiner ausführlichen und sehr gut belegten Arbeit über die Kunstfreiheitsgarantie 53 nicht in erster Linie den Inhalt der Verfassungsnorm, sondern die Schranken der Kunstfreiheit 54 . Dennoch befaßt er sich mit dem Regelungsgehalt des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sehr genau 55 . a) Knies versteht zunächst die „Freiheit der Kunst" als Freiheit für einen kulturellen Lebensbereich. Dies folge aus der objektiv-rechtlichen Formulierung der N o r m 5 6 , die kein Subjekt eines Freiheitsrechtes nenne, keinen Grundrechtsträger. Art. 5 Abs. 3 GG spreche nicht davon, daß die künstlerische Betätigung, sondern daß die Kunst frei sein solle. Knies weist darauf hin, daß nicht nur eine bestimmte einzelne menschliche Verhaltensweise, sondern die Vielzahl der sich in dem Gesamtkomplex „Kunst" abspielenden und ihn konstituierenden Verhaltensweisen unter die Garantie der Freiheit gestellt seien. Knies bezeichnet diese Auslegung selbst als primär objektiv-rechtliche, 4 9
Vgl. dazu Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 3.Aufl., Göttingen 1960.
5 0
Ropertz, S.90.
5 1
Ropertz, S.91: „....zumal anders - auf Grund der Unorganisierbarkeit jener hier gemeinten Freiheit - der Verfassungsnorm nicht die Wirksamkeit zukomme, die nun einmal die Grundrechtsstruktur verlangt. Innerhalb dieser so verstandenen institutionellen Garantie ergeben sich also gewisse subjektiv-öffentliche Rechte als Ausdruck des status negativus." Der Begriff des status negativus wird hier ohne Erläuterung in die Arbeit eingefühlt. Für Ropertz ist es völlig eindeutig, daß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nur als Ausdruck des status negativus verstanden werden kann. 5 2 Ropertz, S.83: „Künstlerisches Tun ist auf den Menschen angewiesen. Ein Wort, Mittler des Geistes, ungelesen, und dies für alle Zeiten, bleibt tot, wenn es nicht auf den Menschen trifft, der seine Gesetze erkennt und das Latente dem Leben zurückholt. Zusammenfassend: Kunst ohne Bekanntmachung ist ein totes Gebilde". 5 3
Wolfgang Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem.
5 4
Knies, S. 194 ausdrücklich.
5 5
Knies, 4.Teil „Zu Rechtsnatur, Inhalt und Funktion der Kunstfreiheitsgarantie".
5 6
Knies, S. 190 ff..
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in Literatur und Rechtsprechung
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überindividuelle Interpretation der Kunstfreiheitsgarantie, welche die Freiheit der Kunst nicht auf eine Künstlerfreiheit einenge, sondern als verfassungsrechtliche Verbürgung eines freien Kunstlebens, als Freiheitsgarantie für die „Sache" Kunst verstehe 57 . Knies zieht daraus die Konsequenz, daß die Kunstfreiheit nicht nur als Produktionsfreiheit, sondern umfassender als geistige Kommunikationsfreiheit verstanden werden müsse. Das Prinzip der Kunstfreiheit gelte nicht nur für die aktive, sondern auch für die „passive" Seite des Kunstlebens, für die Empfängerseite, den Kunstbetrachter; es umfasse schließlich die zwischen Kunstproduzenten und Kunst-„Konsumenten" vermittelnden Tätigkeiten 58 . Den naheliegenden Einwand gegen diese Auslegung hat Friedrich Klein formuliert 59 . Nach Klein ist die Kunst ein Abstraktum und könne als solches nicht frei sein; frei sein könne nur der Mensch, der sie ausübe. Klein zieht daraus den Schluß, daß Art. 5 Abs. 3 GG nur die Freiheit der künstlerischen Betätigung schütze 60 . Jede Interpretation hat zunächst beim konkreten Begriff anzusetzen. Wenn der Text des Grundgesetz in seinem Grundrechtskatalog von „Freiheit" spricht, dann steht dies in Bezug zur Würde des Menschen in Art.l GG. „Freiheit" meint ein spezifisches Vermögen des Menschen, das entweder auf seinen Willen oder auf seine Handlungen bezogen ist. Von der Freiheit eines Sachbereiches zu sprechen, ist ungenau. Dennoch ist der Einwand von Knies gegen Klein völlig zutreffend. Knies hat Recht damit, daß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG die Kunstfreiheit nicht auf eine Künstlerfreiheit einenge. Sein Argument ist aber unzureichend begründet. Der entscheidende Unterschied zu Klein ist, daß Friedrich Klein einen anderen Freiheitsbegriff vertritt. Der Kleinsche Freiheitsbegriff steht in liberaler, individualistischer Tradition. Knies dagegen bemerkt, daß dieser individualistische Freiheitsbegriff für Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht ausreicht. Knies ist bewußt, daß es nicht genügt, nur dem Künstler eine Produktionsfreiheit zuzuerkennen. Der Künstler ist vielmehr auf eine Vielzahl von Menschen angewiesen, damit der Gesamtbereich „Kunst" für ihn erschlossen wird. Zumindest braucht er ein Publikum, und sehr wahrscheinlich auch Vermittler, die ihn bei der Schaffung des Kontaktes zum 5 7
Knies,S. 192.
5 8
Knies, S. 194 unter Hinweis auf Helmut Ridder GR II S. 249; Rainer Rüdiger Roellenberg, Die Rechtstellung der Filmbewertungsstelle, 1963, S.141; Franz Schneider, Presse- und Meinungsfreiheit nach dem Grundgesetz, 1962, S.39 ff., wonach die Meinungsfreiheit als auch den freien Meinungsempfang umfassende Kommunikationsfreiheit verstanden werde. 5 9 6 0
v.Mangoldt-Klein X 2 b zu Art.5 GG (S. 253).
Knies ,S. 198 setzt sich mit diesem Einwand, der nicht speziell auf seine Auslegung gemünzt war, auseinander. Er gesteht zu, daß im strengen Sinne nur der Mensch frei sein könne: „Diese Einsicht erlaubt es aber nicht, die Kunstfreiheit auf eine Künstlerfreiheit einzuengen ..." Man könne „... von Freiheit mit Bezug auf einen bestimmten Sachbereich sprechen (freie Kultur, freie Wirtschaft)."
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1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
Publikum unterstützen. Ohne andere Menschen ist seine Freiheit keine Freiheit. Dieter Suhr hat das folgendermaßen formuliert: „Homo homini ad hominem medium - die Menschen sind füreinander das Mittel zum Menschen." 6! Der Freiheitsbegriff soll an anderer Stelle umfassender und ausführlicher erörtert werden. Wichtig ist es, festzuhalten, daß Knies mit seiner Fassung der Kunstfreiheitsgarantie als objektivem Rechtsprinzip die Unzulänglichkeit der individualistischen Freiheitsvorstellung gesehen hat. b) Trotz dieser Formulierung als objektivem Rechtsprinzip erkennt Knies in Art. 5 Abs. 3 GG auch subjektive Rechte. Eine andere Interpretation würde sich in Widerspruch zur ganz allgemein anerkannten Tendenz setzen, daß im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung die Geltungskraft der Grundrechte im Grundgesetz eine größere sei 6 2 . Zu diesen subjektiven Rechten gehören neben dem Recht des Künstlers auf freie Produktion auch das Recht, das Kunstwerk zu verbreiten. Dieses subjektive Recht könnten, eben weil die Kunstfreiheitsgarantie ein das gesamte Kunstleben umfassendes objektives Rechtsprinzip sei, auch „Verleger, Galeriebesitzer und Filmverleiher" geltend machen 63 . Bei der Abgrenzung von subjektivem Recht und objektivem Rechtsprinzip ist Knies der Ansicht, daß durch die Formulierung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG als überindividuelles Recht ein größerer Rechtsschutz entstehe: „Eine Deutung der Kunstfreiheitsgarantie ausschließlich als individuelles Freiheitsrecht erweist sich aber vor allem dann als unzulänglich, wenn kunstdirigistische Maßnahmen nicht eine individuelle Freiheits- und Rechtssphäre berühren und beeinträchtigen. Das ist etwa dort der Fall, wo durch dirigistische Einflußnahmen auf die Spielplangestaltung staatlicher Bühnen....eine bestimmte Kunstrichtung durchgedrückt werden soll. Man wird nicht zögern, in solchen Interventionen einen Verstoß gegen das Prinzip der Kunstfreiheit zu sehen, wohl aber kaum annehmen können, daß durch diese kunstfreiheitswidrigen Akte ein individuelles Freiheitsrecht in der Person des Intendanten...verletzt wird." 6 4 .
c) Knies versteht die grundrechtliche Freiheit des Art. 5 Abs. 3 GG als status libertatis im Sinne Georg Jellineks 6 5 . Diese Freiheit schaffe aber keinen rechtsfreien Raum im Sinne völliger Rechtsfreiheit 66 , sondern diese rechtliche Freiheit sei dadurch gekennzeichnet, daß der Staat den Inhalt dieser Freiheit nicht definiere und dadurch determiniere 67 . Knies folgert daraus: da es sich bei 6 1
Dieter Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, S. 113 ff..
6 2
Knies, S.195 unter Hinweis auf BVerfGE 7,198,205; Otto Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, S. 18/19; Karl August Bettermann, Freiheit unter dem Gesetz, 1962, S. 28 f.; Herbert Krüger, Grundgesetz und Kartellgesetzgebung, 1950, S.3, S. 12. 6 3
Knies, S.200
6 4
Knies, S.202
6 5
Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1905, S.94 ff.
6 6
Unter Hinweis auf Engisch, „Der rechtsfreie Raum", ZgesStW 108 (1952), S.404.
6 7
Knies, S.218
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in Literatur und Rechtsprechung
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dieser Freiheit nicht um einen rechtsfreien Raum, sondern nur um ein inhaltliches Definitionsverbot handelt, bezieht sich der Freiheitsgehalt des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht auf irgendwelche konkreten Tätigkeiten, die erlaubt sind oder die nicht erlaubt sind. Vielmehr folge aus dem Freiheitsgehalt des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vor allen Dingen, daß das, was „Kunst" sei, vom Staat nicht definiert werden dürfe. „Kunst" sei danach eine technisch-formale Kategorie 68 Jede andere Interpretation des Begriffes „Kunst" verstoße danach nicht gegen den Kunstbegriff in Art. 5 Abs. 3 GG, sondern gegen das Freiheitsgebot. Insbesondere verbiete die Freiheitsgarantie jede Qualifizierung der Kunst als Wert. Denn jeder Wert setze eine qualitative Schranke, die gerade durch das Freiheitsgebot des Art 5 Abs. 3 GG untersagt sei 6 9 . d) Knies führt weiterhin aus, daß der Begriff „Staatsfreiheit" der Kunst mit einer Verfassungswirklichkeit konfrontiert werde, in der nicht die Distanzierung des Staates, sondern seine unterstützende Hinwendung zur Kunst eine ihrer realen Existenzbedingungen sei 70 . Damit zeigt Knies die Problematik einer Grundrechtslehre auf, die Grundrechte in der Kategorie der Staatsfreiheit sieht 71 . Nach seiner Ansicht sei dem Staat nach dem weitgehenden Ausfall höfischen und kirchlichen Mäzenatentums die Rolle des Kunstmäzens zugefallen. Die Zahl der Kunstkonsumenten sei in einem Maße gestiegen, die den völligen Rückzug des Staates aus dem Bereich von Kunst und Kultur auschließe. Knies stellt fest, daß in dieser Hinsicht die Hoffnung auf die selbstregulierenden Kräfte der Wirtschaft vergeblich sei. Für ihn folgt daher aus der Verfassung auch kein Gebot der völligen Staatsfreiheit der Kunst. Im Gegenteil: eine derartige Auffassung schleppe staatstheoretische Vorstellungen des bürgerlichen Liberalismus fort, die von der Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft ausgingen, den Zweck des Staates allein auf Recht und Rechtsverwirklichung beschränkten und aus dem Staatszweck jede Beförderung der Wohlfahrt, also auch eine positive staatliche Kunstpolitik, ausschieden. Knies zieht folgendes Fazit: „In der Tat kann nun kein Zweifel bestehen, daß dem Grundgesetz weder im allgemeinen noch im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Kultur ein solches frühliberales Staatsverständnis zugrundeliegt, dessen erster Grundsatz das Prinzip bildete, der Staat habe »sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger« zu enthalten."7^
6 8
Knies, S.219.
6 9
Knies, S.217.
7 0
Knies, S .205.
7 1
Knies weist hier u.a. auf Ridder, Freiheit der Kunst, S.22; Rudolf Smend, VVDStRL 4 (1928), S. 70; Krüger, Allg. Staatslehre, 1966, S.551f.. 7 2 Knies, S. 206f. unter Hinweis auf Wilhelm von Humboldt „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen", 1792, erste Gesamtausgabe 1851.
28
1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
4. Friedrich
Müller
a) Müller entwickelt in seinen Arbeiten über die Kunstfreiheit 73 eine Bereichsdogmatik des Art. 5 Abs. 3 GG. Seine Ausgangsfrage ist: „Wie weit reicht der Gebrauch des Grundrechts ? " 7 4 . Auch bei Müller findet sich keine Stellungnahme, die den Begriff der Freiheit eigenständig thematisiert. Müller untersucht, welche Struktur der von der Verfassung als „frei" bezeichnete Lebensbereich „Kunst" hat. Sein Blick gilt den Eigengesetzlichkeiten der Kunst. Und so kann man in einem Satz zusammenfassen, was denn „frei" nach Müller bedeuten soll: „Eine freiheitliche Rechtsordnung, die ihrem Anspruch gerecht wird, kann Freiheit der Kunst nur als die sachgebundene, durch ihren eigentümlich nicht-objektivierbaren Auftrag geprägte Freiheit eines strukturell einzigartigen Bereichs menschlicher Aktion und Kommunikation nach eigener Sachgesetzlichkeit bestehen lassen (und ihn fördern, soweit das nicht gegen das Verbot inhaltlicher Bestimmung und Beeinflussung verstößt)." 75
„Frei" als Tatbestandsmerkmal des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG bedeutet für Müller das an den Staat gerichtete Verbot, die eigene Sachgesetzlichkeit der Kunst zu stören. Deshalb gilt sein Interesse den Strukturen der Sache „Kunst" und nicht den Strukturen der „Freiheit": „Bei stark eigengeprägten und zu einem erheblichen Teil nicht rechtserzeugten Normbereichen wie Glaube, Gewissen und Bekenntnis, Kunst, Wissenschaft, Ehe und Familie ergeben sich die Sachkriterien der Interpretation überwiegend aus ihnen selbst." 76
Müller lehnt einen Begriff der „natürlichen Freiheit" für Art. 5 Abs. 3 GG ab 7 7 , da die Freiheitsverbürgung ein anderes Gepräge habe, das mit einem solchen Begriff nicht getroffen werde. Das positive Verfassungsrecht begründe vielmehr die Anerkennung für einen in sich verständlichen, in der Rechtsordnung frei zu belassenden Bereich organisatorischer und sachlicher Gegebenheiten und menschlicher Verhaltenschancen 78. Die Kunst wird somit nicht für frei erklärt, um einen Bereich „natürlicher Freiheit" zu sichern, sondern um einem Lebensund Sachbereich, der seine eigenen Organisationstrukturen hat, die Möglichkeit zu nicht von der staatlichen Gemeinschaft reglementierter Entfaltung zu geben.
7 3 Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, 1969; derselbe, Strafrecht, Jugendschutz und Freiheit der Kunst, JZ 1970, 87 ff.; derselbe, Nachschrift zur Freiheit der Kunst sowie zu Normbereichsanalyse und Rechtspolitik, in: Rechtsstaatliche Form Demokratische Politik, 1977. 7 4
Müller, Freiheit der Kunst, S.49.
7 5
Müller, aaO., S.92.
7 6
Müller, aaO.,S.51.
7 7
Müller, aaO., S.50 f..
7 8
Müller, aaO.,S.51.
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in Literatur und Rechtsprechung
29
Diese Sachbereiche, so Müller, sind „rechtlich nicht erzeugbar", „die Verfassung findet sie nur vor" 7 9 . Für den Werkbereich, also den Bereich des künstlerischen Schaffens, betont Müller, dies sei kein Bereich „natürlicher" Freiheit, sondern rechtlich geschützter Freiheit 80 . b) Müllers Methode ist die Normbereichsanalyse, die danach fragt, „was die Freiheitsgewährleistung angesichts allgemein feststellbarer empirischer Struktureigentümlichkeiten des grundrechtlichen Normbereichs normativ aussagen kann." 81 „Der Geltungsgehalt des Grundrechts reicht nur so weit, wie er reicht. Die Feststellung ist banal, aber praktisch brauchbar. Sie ist für die Grundrechtsdogmatik wie für die Lehren von der Grundrechtsbegrenzung bisher nicht hinreichend fruchtbar gemacht worden, weil das überkommen realitätsfeindliche Normverständnis es nicht zuließ, den aus dem Sachbereich mittels des Normprogramms herauszuhebenden Normbereich als normatives Element anzuerkennen." 82
c) Bekannt geworden ist Müllers Unterscheidung von „Werkbereich" und „Wirkbereich" der Kunstfreiheitsgarantie, die auch vom Bundesverfassungsgericht übernommen wurde 83 . Aus einer Analyse des Normbereichs zu Art. 5 Abs. 3 GG erläutert Müller, daß die Freiheit der Kunst „Freiheit des Schaffens und Verbreitens und Garantie der Existenz von Kunstwerken bedeutet" 84 . Der Werkbereich, also die Sphäre des Schaffens, und die Garantie der Existenz von Kunstwerken seien absolut geschützt 85 · Dies folge vor allen Dingen aus der vorbehaltlosen Garantie des Art. 5 Abs. 3 GG. Diese Tätigkeiten seien durchgängig sachspezifisch für den Sachbereich „Kunst" und eben deshalb absolut geschützt. Allein gleichrangige, grundrechtlich geschützte Rechtsgüter seien in der Lage, den Werkbereich zu verkürzen 86 . Der Wirkbereich, der Bereich der Verbreitung des Kunstwerks, sei dagegen von nicht-sachspezifischen Faktoren durchsetzt 87 . Deshalb gewährleiste das vorbehaltlos garantierte und sachlich nicht einschränkbare Grundrecht in diesem Bereich nur relative Freiheit. Art. 5 Abs. 3 GG garantiere nur die grundsätzliche Gegebenheit des Wirk7 9
Müller, aaO., S.52; Müller unterscheidet dagegen Grundrechte, bei denen wichtige Teile des Normbereichs rechtlich erzeugt sind, wie z.B. bei Art. 6 Abs. 1,9 Abs. 1 und Abs. 3, 12 Abs. 1, 14 GG, Freiheit der Kunst, S.95. 8 0
Müller, aa0.,s.l06f..
8 1
Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 56.
8 2
Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 73.
8 3
Vgl. BVerfGE 30, 173, 189 - „Mephisto"-Entscheidung.
8 4
Müller, Nachschrift zur Freiheit der Kunst, S.90; ebenso Freiheit der Kunst, S.97 ff..
8 5
Müller, Freiheit der Kunst, S. 100.
8 6
Müller, aaO., S. 107 f..
8 7
Müller, aaO., S.100: „Im wesentlichen sind Kunsthandel, Kunstmanagement und Verlagsgeschäft big business, nichts weiter. Sie verbreiten Kunst, werden dadurch aber nicht selbst zu von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sachspezifisch geschützten Tätigkeiten."
30
1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
bereichs, die durch staatliches Handeln nicht einschränkbare Möglichkeit, Geschaffenes in den Kommunikationsvorgang einzubringen, zur Diskussion zu stellen, mitzuteilen. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG garantiere nicht einen Anspruch auf jede beliebige Verbreitungsart 88. 5. Josef Hoff mann a) Hoffmann analysiert in seiner Arbeit über die Kunstfreiheitsgarantie 89 den Normbereich der Kunst unter Zuhilfenahme der marxistischen Gesellschaftstheorie. Dabei beschreibt er den Künstler in historischer Perspektive insoweit in der bürgerlichen Gesellschaft als frei, als er an der Freiheit des Subjekts als Warenbesitzer teilhabe. Er sehe sich einer doppelten Freiheit ausgesetzt, nämlich der Freiheit, seine Arbeitskraft zu verkaufen, sowie der Freiheit vom Besitz an Produktionsmitteln 90 . Dabei handele es sich bei der Kunst um eine besondere Form der ideellen Produktion, die im industriellen Produktionsprozeß keine Verwendung finde, da in diesem besondere Fertigkeiten wie die des Künstlers ihre Bedeutung verloren hätten 91 . Die Autonomie der Kunst entstehe, so Hoffmann, durch die prinzipielle Gleichgültigkeit des Tauschwertes gegenüber dem konkreten Inhalt der getauschten Ware; dadurch werde künstlerische Produktivität freigesetzt 92 . Rechtlich werde diese Freiheit gesichert durch die Ausbildung des Urheberrechts („geistiges Eigentum") und vor allen Dingen, für den Inhalt der künstlerischen Arbeit, durch die Gewährleistung der allgemeinen Geistesfreiheit 9 3 . „Kunst" werde mit „Autonomie" gleichgesetzt; diese Autonomie entstehe aber erst durch die Herauslösung der Kunst aus dem Zusammenhang der Lebenspraxis 94 . b) Hoffmann geht es zunächst nicht um eine Analyse der Dogmatik der Kunstfreiheit, sondern um eine Analyse des „gesellschaftlichen Kontextes" der Grundrechtsnorm unter der Weimarer Verfassung und unter dem Grundgesetz, d.h. um die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Kunst seit ihrer „Autonomisierung" existiert, d.h. produziert wird und in welchem gesellschaftlichen
8 8
Müller, aaO., S.99 f..
8 9
Josef Hoffmann, Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes und die Organisierung einer Mediengewerkschaft, Köln 1981. 9 0
Hoffmann, Kunstfreiheitsgarantie, S.63f..
9
1 Hoffmann, Kunstfreiheitsgarantie, S. 65 unter Hinweis auf Marx, Grundrisse der politischen Ökonomie, S.204. 9 2
Hoffmann, Kunstfreiheitsgarantie, S.67.
9 3
Beispielhaft in der Menschen und Bürgerrechtserklärung von 1789, vgl. Hoffmann, Kunstfreiheitsgarantie, S.74 ff.. 9 4 Diese Herauslösung aus dem Zusammenhang der Lebenspraxis ist aber wiederum kein Spezifikum der Kunst, sondern entsteht durch die sich immer weiter verfeinernde Differenzierung gesellschaftlicher Prozesse, insbesondere die für die industrielle Produktion typische Arbeitsteilung.
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in Literatur und Rechtsprechung
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Kontext mit und über die Kunst kommuniziert wird. Der Freiheitsaspekt hat keine eigenständige Bedeutung, sondern Freiheit wird primär im Kontext der marxistischen Gesellschaftstheorie behandelt. Angesprochen wird von Hoffmann allerdings das Verständnis der Grundrechte als Ausgrenzungs- und Abwehrrechte, und er weist daraufhin, daß dieses Verständnis eine Tradition in der monarchisch-feudalen Staatsauffassung habe. 95 Hoffmann hält eine solche Auslegung der Grundrechte, die eine Dichotomie von Staat und Gesellschaft voraussetze, unter dem Grundgesetz nicht mehr für möglich. Denn das Grundgesetz sei vielmehr durch die Begriffe der „Demokratie" und des „Sozialstaats" in Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG bestimmt. Damit sei normativ die Trennung von Staat und Gesellschaft aber nicht zu halten. Für Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG bedeute dies, daß diese Garantie eine aktive Wahrung dieser Freiheit durch staatliche Maßnahmen im sozialen Feld impliziere. 96 An dogmatischen Positionen ist bei Hoffmann von Interesse, daß er den Gebrauch der Begriffe „Eigengesetzlichkeit", »Autonomie" und „Öffentlichkeit" im Rahmen der Bestimmung des Normbereichs der Kunstfreiheitsgarantie ablehnt. Er wendet sich gegen die Vorstellung einer idealistischen Genieästhetik und will die „Werkgattung" als Anknüpfungsbegriff für den verfassungsrechtlichen Kunstbegriff aufgeben. Für Hoffmann ist der Anknüpfungsbegriff der „Kommunikationsprozeß" Kunst. Dieser spielt sich spezifisch in Institutionen ab: „Es gilt mithin als vom Normbereich des Prozesses »Kunst« alle Produktion (Verhalten, Objekt) umfaßt, die in spezifischer Weise innerhalb der Institutionen des Prozesses »Kunst« fungiert." 97
Hoffmann will die von Friedrich Müller entwickelte Unterscheidung von „Werkbereich" und „Wirkbereich" aufgeben und den Gesamtbereich des Kommunikationsprozesses absolut schützen. Kritisch ist dazu zu bemerken, daß der von Hoffmann vorgeschlagene Anknüpfungsbegriff selbst den Begriff der „Produktion" braucht, um zu bestimmen, welche Institutionen denn nun solche des Prozesses „Kunst" sind. Der Werkbegriff kann somit nicht aufgegeben werden, wie auch die aktuellen Konfliktlagen der Kunstfreiheit zeigen.
9 5 Vgl. auch S. 202, wo er mit einem Hinweis auf Ropertz deutlich macht, daß das Verständnis der Kunstfreiheitsgarantie als Ausgrenzungsrecht logisch nicht zu vereinbaren ist mit einer Kunstförderungspflicht des Staates, die Ropertz postuliert. 9 6
Hoffmann, Kunstfreiheitsgarantie, S. 226 ff..
9 7
Hoffmann, Kunstfreiheitsgarantie, S. 254.
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1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
6. Friedhelm Hufen a) Hufen erarbeitet in seiner Habilitationsschrift 98 ein Gebiet, das Friedrich Müller in seinen Arbeiten abgesteckt hatte 99 : die systematische Strukturierung des Normbereichs der Kunstfreiheit, hier für den Bereich der staatlichen Kunstund Musikhochschulen. Er arbeitet damit in einem Bereich, der nicht mehr nur von der Jurisprudenz und ihren Begriffen beherrscht wird, sondern in dem interdisziplinär der „nicht rechtserzeugte Sachbereich Kunst" 1 0 0 , systematisch auf die für das Normprogramm des Art. 5 Abs. 3 GG erheblichen Strukturen untersucht wird. Hufens erstes Fazit ist, daß „die im Hinblick auf die Freiheit der beteiligten Künstler bestehenden Grundrechtsprobleme, die mit dem Spannungsverhältnis von Individualität und Institution, von Entfaltungsanspruch und Organisationsbedarf, Freiheit der künstlerischen Wirkung und Zweck der jeweiligen Einrichtung nur sehr abstrakt beschrieben sind ... mit einer rein auf das Individuum bezogenen, das Grundrecht als Abwehrrecht gegen den Staat auffassenden Sichtweise nicht mehr angemessen zu lösen sind. Nicht mehr wie der einzelne Künstler gegen den Staat zu schützen oder ob Kunst - überindividuell formuliert - als »Privatsache« zu organisieren sei, bestimmt die Thematik, sondern wie diese Einwirkungsformen ausgestaltet und strukturell verfaßt sein müssen, um Kunstfreiheit zu gewährleisten."! 0!
Hufen geht es dabei um den gesamten Bereich der staatlichen Kunstförderung, dessen Strukuren er beschreibt, um ihn freiheitlich zu organisieren. b) Hufen untersucht die Bedingungsfaktoren grundrechtlicher Freiheit, die bei der Entwicklung des Normprogramms des Grundrechts die entscheidende Rolle spielen sollen. Hufen bezeichnet das Grundrecht des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG als „sachgeprägtes Ordnungsmodell." 102 Damit entwickelt er schon eine bestimmte Vorstellung von grundrechtlicher Freiheit: wenn man grundrechtliche Freiheit als Ordnungsmodell versteht, kann sie nicht mehr Regellosigkeit sein, nicht mehr bloße Abwehr von Regeln. Die entscheidende Frage ist dann, wer die Regeln für die sachgeprägte Ordnung gibt: dies eben soll der Künstler selbst sein. Hufen bestimmt somit die grundrechtliche Freiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG als „Eigengesetzlichkeit" 103 . Der Künstler ist somit frei, wenn er die Eigengesetz9 8
Friedhelm Hufen, Die Freiheit der Kunst in staatlichen Institutionen, 1982.
9 9
vgl. Fr. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966; ders. Strukturierende Rechtslehre, 1984; ders. Freiheit der Kunst. 1 0 0
Fr. Müller, Freiheit der Kunst, S.52.
1 0 1
Hufen, aaO., S.32.
1 0 2
Hufen, aaO., S.62.
1 0 3
Hufen, aaO., S.184 - Hufen entwickelt diesen Gedanken, der ja nicht neu ist, sondern von Smend auf der StaatsrechLslehrertagung 1927 das erstemal vorgetragen wurde (R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, VVDStRL 4 (1928), S. 44 ff, S.61 f.) unter Hinweis auf Smend und die „Mephisto" - Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 30,173.
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in Literatur und Rechtsprechung
33
lichkeit seines künstlerischen Schaffens gegenüber dem Staat, also gegenüber staatlichen Eingriffen und Regeln, behaupten kann 1 0 4 . Hufen spricht in diesem Zusammenhang vom „verfassungsrechtlichen Freiheitsbegriff der Kunst" 1 0 5 . In dem Bereich staatlicher Eingriffe, dem Bereich des traditionellen Abwehrrechts könne man Eigengesetzlichkeit definieren als "Distanz von den staatlich bestimmten Gesetzlichkeiten des politischen und administrativen Lebens" 1 0 6 . Diese Konzeption reiche aber dann nicht mehr aus, wenn der Staat die Kunst selbst organisiere, also fördernd, aktivierend, ausgleichend oder auf sonstige Weise im eigentlich als „eigengesetzlich" umschriebenen Bereich tätig werde. Und somit definiert Hufen für den Bereich der staatlich organisierten Kunst Eigengesetzlichkeit als „Verbot von Einseitigkeit, als Gebot der strukturellen Absicherung intersubjektiver Kommunikation, als Konkordanz durch Verfahren." 107 c) Bei der Bestimmung des Inhalts der Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG schließt sich Hufen der von Friedrich Müller entwickelten Unterscheidung von Werkbereich und Wirkbereich an. Interessanterweise soll sich der Schutz des Wirkbereichs nach Hufen auch auf die Kunstrezipienten erstrecken 108 . Wichtig für das Freiheitsverständnis von Hufen ist in diesem Zusammenhang noch ein Aspekt, der nur beiläufig, durch Verwendung eines bestimmten Begriffs deutlich wird. Hufen versteht die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 als Privilegierung: „Im Verzicht auf das Erfordernis einer bestimmten Formensprache, auf Standards der Erkenntnisgewinnung, auf die Nachvollziehbarkeit der Relation zwischen künstlerischer Impression und Kunstwerk, auf Planmäßigkeit, Ernsthaftigkeit des Bemühens und Vorhersehbarkeit der Ergebnisse, auf Überprüfbarkeit und Widerlegbarkeit liegt gerade eine wichtige, verfassungsrechtlich sanktionierte Privilegierung der Kunst gegenüber anderen Kommunikationsformen." 109
1 0 4 Hufen, Freiheit der Kunst, S. 180 f. betont, daß „die Kunstfreiheit in ihrer Abwehrfunktion gegenüber staatlichen Eingriffen seit jeher alle Zeichen des traditionellen bürgerlichen Freiheitsrechts trägt"... „Kunst ist primär ein staatsfrei konzipiertes und sich entwickelndes Teilsystem, das über die Kriterien seiner eigenen Entwicklung im Prinzip autonom entscheidet." 1 0 5
Hufen, aaO., S.262.
1 0 6
Hufen, aaO., S.181, vgl. auch S.393, wo gesagt wird, nicht die „Normenkomplexe und überhaupt kein staatliches Gesetz konstituieren diesen Lebensbereich, sondern es liegt gerade im Kern der verfassungsrechtlichen Gewährleistung, daß die eigentlichen Handlungs- und Entfaltungsprozesse sich selbst einrichten, organisieren und »verfassen«." 1 0 7
Hufen, aaO., S.236.
1 0 8
„Unter der Geltung des Grundgesetzes aber wäre die Benachteiligung oder gar das Verbot der Werke Barlachs, Mendelssohns, aber auch Brechts und Eislers als Eingriff in die Grundrechte aller, die an der Vergegenwärtigung dieser Werke teilhaben, verfassungswidrig" - Hufen, aaO., S.123. 1 0 9
Hufen, aaO.,S. 119.
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1 · Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
d) Hufen untersucht in seiner Arbeit die Freiheit der Kunst bis in ihre konkretesten Formen hinein, d.h. er analysiert die konkreten rechtlichen Regelungen des Kunst- und Musikhochschulbereichs daraufhin, ob sie auch wirklich freiheitlich sind. Das ist, neben der genauen Normbereichsanalyse im Bereich der Kunst- und Musikhochschulen, der zweite wichtige Aspekt an Hufens Arbeit. Hufen geht es um die Konkretisierung der Freiheit 1 1 0 . Er weist damit schon auf einen wichtigen Punkt für die gesamte Frage der Freiheit hin: nämlich daß Freiheit dann keine Freiheit ist, wenn sie abstrakt bleibt. Nur in konkreten Regelungen kann Freiheit verwirklicht werden. Hufens Maßstab ist der von ihm herausgearbeitete „verfassungsrechtliche Freiheitsbegriff der Kunstfreiheit", nämlich die „Eigengesetzlichkeit" künstlerischer Tätigkeit. 7. Rupert Scholz a) Scholz versteht die Kunstfreiheit zum einen als liberales Freiheitsrecht, und zwar als subjektiv-individuales Abwehrrecht, zum anderen aber auch als objektives, teilweise institutionell organisiertes Rechtsprinzip 111 . Scholz sieht in der Kunstfreiheitsgarantie somit ein subjektiv-rechtliches, individuales Abwehrrecht des einzelnen Künstlers, eine objektiv-rechtliche Verpflichtung des Staates, die Freiheit der Kunst als autonomen und eigengesetzlichen Lebensbereich anzuerkennen und zu garantieren, und drittens eine objektive Wertentscheidung der Verfassung für die Freiheit, Pflege und Förderung der Kunst als Teil der grundgesetzlichen Kulturverfassung 112 . b) Für Scholz ist die Kunstfreiheit das „Freiheitsrecht aller künstlerisch tätigen, eigenschöpferischen Individuen" 1 1 3 . Er lehnt es dementsprechend auch ab, daß Grundrechtsträger des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 auch die Träger kunstvermittelnder Medien seien 1 1 4 . Auf der anderen Seite schließt Scholz aus der inhaltlichen Offenheit des Verfassungsbegriffs Kunst die Befugnis und Aufgabe des unterverfassungsrechtlichen Gesetzgebers, auch den Lebensbereich Kunst im Wege grundrechtsprägender („grundrechtsausführender") Rechtsetzung zu konkretisieren bzw. entsprechend ihrer aktuellen (autonomen) Eigengesetzlichkeit auch rechtlich zu verfassen. Dabei sieht Scholz weitergehende Gestaltungsbefugnisse des Gesetzgebers im Bereich der institutionellen Gewährleistungen des Art. 5 Abs. 3 GG, nur beschränkte Gestaltungsbefugnisse
' 1 0 So untersucht Hufen sehr genau die „hochschulrechtliche Konkretisierung studentischer Freiheit4', aaO., S.315 ff. 111
Scholz in: Maunz-Dürig, Art. 5 Abs. 3, Rdnr. 1. 112 Scholz, aaO., Rdnr. 16.
1 1 3
Scholz, aaO., Rdnr.45.
1 1 4
Scholz, aaO..
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in Literatur und Rechtsprechung
35
dagegen gegenüber den materiellen Inhalten der Kunst. Hier sei der Gesetzgeber auf die Organisation der äußeren Freiheitsbedingungen und deren Sicherung in der sozialen Realität beschränkt 115 . & Peter Häberle a) Für Häberle 1 1 6 ist die Kunstfreiheitsgarantie ein unentbehrlicher Baustein in der „Kultur der Freiheit." „Kunst und Kunstfreiheit" prägen nach Häberle „neben Religion und Religionsfreiheit, neben Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit den Verfassungsstaat von innen her weit intensiver und grundsätzlicher als gemeinhin angenommen wird", sie „sind ein wesentlicher Baustein des Kulturverfassungsrechts" 117. Auch Häberle geht von der Kunstfreiheit als individueller Kunstfreiheit aus, ja er geht sogar soweit, das Selbstverständnis bei der Auslegung der Kunstfreiheit als „dogmatisches Instrument" zu nutzen 118 . Auf der anderen Seite stellt Häberle den Begriff der Kunstfreiheit in den Gesamtzusammenhang der Freiheit, eben in die „Kultur der Freiheit." Das ist ein Weg, den Häberle schon in seiner Freiburger Dissertation vorgezeichnet hatte, nämlich die Entfaltung der Freiheit im Recht 1 1 9 . Diesen Weg formuliert er für seine Sichtweise der Kunstfreiheit nun aus. Häberle geht es um den Zusammenhang von individueller Freiheit und dem Staatsziel „Kultur", um das Konzept eines kulturwissenschaftlich verstandenen Verfassungsstaates. Er geht aus vom Gesamtkonzept der Freiheit im freiheitlichen Verfassungsstaat und entwickelt von daher seine Bedingungen. Die wichtigste Bedingung des freiheitlichen Verfassungsstaates ist dabei die individuelle Freiheit. b) Häberle unterscheidet dogmatisch fünf Schutzrichtungen der Kunstfreiheit „im Sinne des Grundgesetzes" 120 : aa) Kunstfreiheit als subjektives Abwehrrecht des einzelnen: der status negativus Ausgehend von dem oben aufgezeigten Ausgangspunkt Häberles, dem der Schaffung einer „Kultur der Freiheit", muß nach Häberles Ansicht Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG einen personal und sachlich weiten und offenen Bereich schützen. Danach seien alle an der Kunst als Prozeß personal Beteiligten geschützt - vom Künstler über den Verleger und Händler bis zum Kritiker 1 2 1 . Sachlich soll nach 1 1 5
Scholz, aaO.,Rdnr. 15
1 1 6
Peter Häberle, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110, 1985, 577 ff., 602 ff..
1 1 7
Häberle, AöR 110, S.577 ff., 602.
1 1 8
Häberle, AöR 110,S.599.
1 1 9
Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3.Auflage 1983.
1 2 0
Häberle, AöR 110,S.605.
121
Häberle; AöR 110, S.606 unter Hinweis auf BVerfGE 30, 173,188; 67, 213,244; 36, 321, 332.
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1 · Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
Häberle garantiert sein: der „Werkbereich" des künstlerischen Schaffens und der „Wirkbereich" der Darbietung und Verbreitung eines Kunstwerks 122 · bb) Kunstfreiheit als objektivrechtliche, lebensbereichbezogene „Grundsatznorm" Häberle nennt dies die objektivrechtliche-institutionelle Schutzdimension des Art. 5 Abs.3 Satz 1 GG, die „objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst", die „dem modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung auch als Kulturstaat versteht, zugleich die Aufgabe (stellt), ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern"! 23 . Häberle bezeichnet diese Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts als „prätorische Anreicherung", die aus der Freiheitsgarantie als solche nicht logisch folge, die aber legitim sei, da die „Kultur" ein unentbehrlicher Aspekt für die Identität des Verfassungsstaates sei und eine ausdrückliche Staatszielbestimmung „Kunst und Kultur" im Grundgesetz fehle 1 2 4 . cc) Die leistungsstaatliche und leistungsrechtliche Seite der Kunstfreiheit verfassungsstaatliche Kunstpolitik als Grundrechtspolitik Häberle ist nicht der Ansicht, daß die Kunstfreiheit schon eine Teilhabedimension aufweise, er formuliert vorsichtiger: die aktuellen Verfassungstexte 1 2 5 ließen fragen, ob die Kunstfreiheit im modernen Verfassungsstaat nicht auch in die Teilhabedimension hineinzuwachsen beginne 1 2 6 . Dabei sieht Häberle die Teilhabedimension der Kunstfreiheit aber nicht durch einen grundrechtlichen Leistungsanspruch verwirklicht, sondern durch „verfassungsstaatliche Kunstpolitik." Diese verfassungsstaatliche Kunstpolitik kann nach Häberle in zwei Formen verwirklicht werden: als „Grundrechtspolitik", je näher sie konkreten Individuen komme, und als kulturstaatliche Kunstförderungspolitik, je mehr sie im allgemeinen verbleibe 127 . Den Teilhabeaspekt
' 2 2 Häberle, AöR 110,S.606 ganz im Sinne des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 30, 173, 188. 1 2 3
Häberle, AöR 110, S.607, unter Hinweis und Zitat von BVerfGE 36, 322, 331.
1 2 4
Häberle, AöR 110, S.608 - Häberle gibt in diesem Fall keine Begründung, wie die Wertentscheidungsformel aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 folgt. Er bezeichnet diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf der einen Seite als „Interpretation", auf der anderen Seite als „prätorische Anreicherung". 1 2 5
Häberle zitiert dabei insbesondere die bayerische Verfassung, Art. 140; die allgemeine Erklärung d. Menschenrechte der UN v. 1948, Ait. 27 Ziff.2 u. die Verfassung Portugals, Art. 78 II b. 126 Häberle, AöR 110,S.608. 1 2 7
Häberle, AöR 110,S.610.
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in Literatur und Rechtsprechung
37
als Grundrechtspolitik bestimmt nach Häberle aber in jedem Fall eine Programmatik, die sich beschreiben lasse mit den Stichworten „Kunst für alle" und „Kunst von allen." 1 2 8 dd) Kunstfreiheit und Kunst dank kulturstaatlicher „Organisation und Verfahren" Diese Dimension der Kunstfreiheit betrifft den Staat als Förderer der Kunst in seiner Aufgabe als der Wertentscheidung „Kunst" verpflichteter Staat. Häberle bezeichnet dies als den grundrechtlichen „status activus processualis" 129 . Die Rechtswirkungen dieser Schutzdimension erstarken nach Häberle aber nur in Ausnahmefällen zur Qualität eines subjektiven Rechts, sie würden vor allem objektiv-rechtlich als Auftrag an den Gesetzgeber sichtbar. Der Staat werde aber durch diesen grundrechtlichen status activus processualis verpflichtet, angemessene verfahrensrechtliche Organisationsformen für eine optimale Kunstfreiheitsentfaltung zu schaffen 130 . ee) Korporative Schutzdimensionen der Kunstfreiheit Diese Schutzdimension des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG betrifft nach Häberle vor allem die Rechts Wirkungen des Art. 19 Abs. 3 GG für die Kunstfreiheit. Es geht hier um die kollektive Herstellung oder Darstellung eines Kunstwerks sowie um die kollektive Vermittlung des Kunstwerks z.B. im Rahmen von Kunst- und Fördervereinen. Häberle deutet diesen Aspekt der Kunstfreiheit nur an und verweist darauf, daß die Bedeutung des Art. 19 Abs. 3 GG für die Kunstfreiheit noch auszuschöpfen sei 1 3 1 ·
1 2 8
Häberle, AöR 110, S.609 - „Kunst für alle" bedeutet, daß alle Bürger Zugang zum Kunstgenuß haben sollen, „Kunst von allen" bedeutet dagegen die Anerkennung der Befähigung jedes Menschen zur Hervorbringung von Kunst, was im Grundrechtsverständnis im weiten Kunstbegriff und in der Anerkennung des Selbstverständnisses des Künstlers seinen Ausdruck finde. 1 2 9 Häberle,VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff., S. 86 ff. - auf der Staatsrechtslehrertagung von 1971 brachte Häberle diesen Begriff erstmals in die Diskussion. In AöR 110, S. 611 entwickelt er ihn für die Kunstfreiheit. 1 3 0 Häberle benennt dafür vor allem den Bereich der Kunstförderung. Im Anschluß an Wolfram Höfling, Zur hoheitlichen Kunstförderung, DÖV 1985, S.387 ff. unterscheidet Häberle drei Grundmuster hoheitlicher Kunstförderung: ein selbstverwaltungsorientiertes, ein staatsdistanziertes und ein staatliches Organisationsmodell. 1 3 1
Häberle, AöR 110, S.612 f..
4 Enderlein
38
1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
I I . Zusammenfassung und Kritik der Literatur Dieser Bericht soll nicht eine erschöpfende Darstellung aller Arbeiten über die Kunstfreiheitsgarantie geben, sondern nur einige größere Monographien zur Kunstfreiheitsgarantie erfassen. Insgesamt wird der Freiheitsbegriff im Rahmen der Kunstfreiheit wenig erörtert. So enthält eine der neueren Arbeiten zur Kunstfreiheit, die Dissertation Elmar Erhardts, nur wenige Sätze zur Bedeutung des Begriffes „ f r e i " 1 3 2 . Dies wird auch anhand der hier vorgestellten Arbeiten deutlich. Jede klassifizierende Einordnung geht auf Kosten der Differenzierungen in den Einzelheiten der verschiedenen Monographien, aber sie verdeutlicht auch bestimmte Grundlinien. Von fast allen Arbeiten kann man sagen, daß der Kunstbegriff und die Schrankenfragen das Hauptinteresse beanspruchen, wenn man die Arbeiten von Häberle und die von Hoffmann einmal ausnimmt. Hoffmann steht wegen seines marxistischen Ansatzes von vornherein allen bestehenden Positionen kritisch gegenüber und kann für eine Dogmatik der Freiheit nur begrenzt herangezogen werden, da eine Auseinandersetzung mit marxistischer Rechtstheorie im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Häberle hatte die Frage des Verhältnisses von Freiheit und Recht schon früher ausführlich thematisiert und kann deshalb vor diesem Hintergrund auf weitere Ausführungen zum Begriff der Freiheit verzichten 133 . Ansonsten kann man die Monographien von Erbel, Knies und Häberle eher einem objektivrechtlichen und die Arbeiten von Ropertz, Müller, Hufen und Scholz einem eher subjektiv-rechtlichen Verständnis der Kunstfreiheit zurechnen. Diese Differenzierung ist, wie schon gesagt, eher grob, denn ζ. B. Scholz versteht den Art. 5 Abs. 3 GG auch als objektives Rechtsprinzip. Aber der Ausgangspunkt von Scholz ist die Einordnung der Kunstfreiheit als subjektives, liberales Abwehrrecht. Erbel trennt zwischen der „Freiheit" der Kunst und den „Schranken" der Kunstfreiheit. Er ordnet der Kunstfreiheitsgarantie nicht von vornherein das Merkmal des Abwehrrechts als alleinigen Inhalt zu und kommt deshalb auch zu dem Ergebnis, daß die Norm den Staat auf eine Förderung des Kunstlebens verpflichte, also eine verbindliche Wertentscheidung darstelle. Das ist ein Beleg dafür, daß eine Sichtweise, die sich nicht von vornherein durch den Begriff der Freiheit vom Staat den Blick verstellt, zu anderen Ergebnissen für den
1 3 2
Elmar Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, 1989; nach Erhardt gebietet Art. 5 Abs. 3 GG dem Staat als „Adressat der Freiheitsgarantie Autonomie, Freiheit, Pluralität und immanente Eigengesetzlichkeit zu achten", S. 56. 1 3 3
Häberle, Wesensgehaltsgarantie.
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in Literatur und Rechtsprechung
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Normgehalt des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 kommen kann. Erbeis Lösung der Freiheitsfrage ist eher intuitiv, für ihn besteht die Freiheit der Kunst in ihrer Eigengesetzlichkeit. Er kommt zu seinen Ergebnissen denn auch wegen der unpersönlichen Fassung des Art. 5 Abs. 3 GG. Knies weist ebenso auf die objektiv-rechtliche Formulierung hin und gibt somit wie Erbel dem objektiven Rechtsprinzip der Kunstfreiheit den logischen Vorrang vor einer subjektiven Künstlerfreiheit. Die Arbeit von Knies ist deshalb interessant, weil der eigentliche normative Gehalt der Freiheit für Knies im Verbot einer Definition des Kunstbegriffs liegt und nicht in der Erlaubnis zu ganz bestimmten Tätigkeiten. Knies kommt deshalb zu dem Ergebnis, daß jede Kunstausübung den Schranken der allgemeinen Gesetze unterliegt 134 . Obwohl die Arbeit von Knies den Begriff der Freiheit ebenfalls nicht eingehender untersucht, lehnt er den Begriff der Trennung von Staat und Gesellschaft als staatstheoretische Prämisse des bürgerlichen Liberalismus ab. Knies zieht den Schluß, daß der Staat zur Förderung der Kunst verpflichtet sei. Knies und Erbel verstehen Freiheit intuitiv als Beliebigkeit, finden eine Lösung der durch diesen Begriff entstehenden Probleme über eine extensive Ausdehnung der „Freiheitsschranken." Hoffmann stimmt mit Knies überein, daß unter dem Grundgesetz eine Trennung von Staat und Gesellschaft normativ - wegen der Geltung der Prinzipien der Demokratie und des Sozialstaats - nicht zu vertreten sei und weist auf den Widerspruch eines abwehrrechtlichen Verständnisses der Kunstfreiheit und der Bejahung der Kunstförderungspflicht des Staates hin. Dieser Widerspruch ist Ropertz nicht bewußt geworden. Er ordnet die Kunstfreiheit in die Kategorie der liberalen Abwehrrechte gegen den Staat ein und stellt die Kunstfreiheit damit in einen Gegensatz zum Staat, postuliert aber eine Kunstförderungspflicht des Staates. Die Arbeiten von Müller, Hufen und Scholz haben diesen Fehler nicht begangen, sondern die staatliche Kunstförderung mit dem objektiv-rechtlichen Prinzip der Kunstfreiheit begründet. Eine genauere Analyse des Begriffs der Freiheit hätte an sich in der Arbeit von Müller nahegelegen, da der Gedanke, daß der Geltungsgehalt des Grundrechts nur so weit reicht, wie er reicht, den Gedanken einer von vornherein begrenzten Freiheit nahelegt. Müllers Konzept der Analyse der Sachgesetzlichkeiten der Kunst verkürzt den Sinngehalt der Freiheit, indem sie dem Begriff „frei" ein staatliches Verbot entnimmt und indem kontingente, empirische Bedingungen des Kunstbetriebs für allgemeinverbindlich erklärt werden. Hufen setzt das Projekt Müllers, nämlich die Analyse des Normbereichs der Kunstfreiheit und der Sachstrukturen der Kunst, in einem ganz konkreten Sachbereich, dem der KunstI
3 4
Knies, Kunstfreiheit, S. 257 ff..
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1 · Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
hochschulen, fort, geht aber einen Schritt weiter als Müller, indem er, schon von seinem Untersuchungsgegenstand her, feststellt, daß die Kunstfreiheit nicht mehr mit dem abwehrrechtlichen Gegensatzpaar Individuum - Staat beschrieben werden kann. Gerade die Arbeit von Hufen macht die Schwäche eines auf Staatsabwehr zielenden Freiheitsbegriff deutlich: Kunstfreiheit soll einerseits Eigengesetzlichkeit des Künstlers gegenüber staatlichen Reglementierungen bedeuten, andererseits schafft der Staat durch seine Reglementierungen erst die Möglichkeit der Arbeit in den Kunsthochschulen. Die Kunstfreiheit wird somit durch staatliches Gesetz erst verwirklicht. Die Trennung von Staat und Gesellschaft läßt sich schon an dem neben der Religionsfreiheit am stärksten auf die Individualität rekurrierenden Grundrecht, der Kunstfreiheit, nicht durchführen. Die Eigengesetzlichkeit sichert man daher am besten, wie Hufen vorschlägt, durch „Konkordanz durch Verfahren" 1 3 5 , aber nur durch die Teilnahme am Verfahren. Der Künstler sollte so weit wie möglich an der für ihn gültigen Normsetzung beteiligt werden. Scholz, der ebenfalls das liberale Abwehrrecht zum Ausgangspunkt der Interpretation wählt, geht trotzdem sogar soweit, dem Gesetzgeber beschränkte Gestaltungsbefugnisse gegenüber den materiellen Inhalten der Kunst zu attestieren. Inwieweit das konsistent ist, wenn man Freiheit in liberaler Tradition als Beliebigkeit des Verhaltenkönnens definiert, wäre zu fragen. Einer genaueren Analyse unterzieht auch Scholz den Begriff der Freiheit nicht, er sieht aber die Unzulänglichkeit einer nur subjektiven Kunstfreiheit und gibt, von seinen Ergebnissen her, letztendlich dem objektivrechtlichen Prinzip Kunstfreiheit den Vorrang, wenn der Lebensbereich Kunst im Wege grundrechtsprägender Rechtsetzung konkretisiert werden darf. Allen subjektiv-rechtlichen Ansätzen ist kritisch vorzuhalten, daß sie mit der Betonung des Charakters der Kunstfreiheit als liberalem Abwehrrecht bestimmte Regelungsgehalte aus der Kunstfreiheit ausgrenzen wollen und daß jeder Interpret des Grundrechts eine ganz genaue Vorstellung davon hat, welches denn die „freien" Kunstausübungshandlungen sein sollen. Der Grundrechtsinterpret bestimmt damit durch Auslegung, was „frei" im Sinne des Art. 5 Abs. 3 sein soll. Häberle dagegen ordnet den Begriff der Kunstfreiheit in den Gesamtzusammenhang einer Kultur der Freiheit ein und verweist damit auf den allgemeinen Freiheitsbegriff. Häberle hatte schon in seiner Arbeit über die Wesensgehaltsgarantie das Ineinanderstehen von Recht und Freiheit gesehen und erläutert und damit einem Freiheitsdenken den Weg geebnet, das Freiheit auch im Rahmen der Grundrechte nicht auf Staatsabwehr reduziert. Mit einem solchen Freiheitsbegriff kann die Kunstfreiheit nicht auf ihren Abwehrcharakter reduziert werden.
1 3 5 Hufen, Freiheit der Kunst, S. 236: „Verbot von Einseitigkeit, als Gebot der strukturellen Absicherung intersubjektiver Kommunikation, als Konkordanz durch Verfahren".
Β. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in Literatur und Rechtsprechung
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Im folgenden wird es darum gehen, den Freiheitsbegriff eingehender zu erläutern. Denn fast alle Arbeiten zur Kunstfreiheitsgarantie umgehen eine Definition des Tatbestandsmerkmals „frei" im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG und finden eine Lösung gemäß ihrer eigenen Freiheitsvorstellung als Recht zur Beliebigkeit. Es wird zu fragen sein, ob diese Intuitionen tragfähig sind, und zwar im Rückgriff auf die Struktur des allgemeinen Freiheitsrechts.
ΙΠ. Das Tatbestandsmerkmal „frei" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den vorbehaltlosen Grundrechten Vorab soll im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Freiheits-/Schrankendogmatik des liberalen Freiheitsbegriffs dargestellt werden. Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird der Begriff der Freiheit selten als konkretes Tatbestandsmerkmal definiert. Im Investitionshilfe-Urteil hat das Gericht aber das Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft mit einer mittlerweile berühmten Formel auf den Begriff gebracht: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1,2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Das heißt aber: der einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt." 1 36
Das Gericht sieht die Belange des sozialen Zusammenlebens im Begriff der „Schranke" aufgehoben, also von außen an die Freiheit herangetragen. Der Begriff der Freiheit selbst erfaßt danach diese Belange nicht, er wird vielmehr als allgemeine Handlungsfreiheit verstanden: „Rechtlich gesehen ist er (Art. 2 Abs. 1 GG - Α. E.) ein selbständiges Grundrecht, das die allgemeine menschliche Handlungsfreiheit gewährleistet. Es waren nicht rechtliche Erwägungen, sondern sprachliche Gründe, die den Gesetzgeber bewogen haben, die ursprüngliche Fassung »Jeder kann tun und lassen, was er will« durch die jetztige Fassung zu ersetzen."'^
'36 BVerfGE 4, 7, 15 f.. 137 BVerfGE 6, 32, 36 f.; zur Kritik vgl. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, S. 51 ff.; sehr kritisch auch Schachtschneider, Res puplica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, S. 494 .
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1 Teil : Freiheitsbegriff und Kunstfreiheit in Rechtsprechung und Literatur
Diesen Begriff der Freiheit verwendet das Bundesverfassungsgericht in allen speziellen Grundrechtstatbeständen, also auch bei der Prüfung des Tatbestandes des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Wenn aber Freiheit Beliebigkeit ist, stellt sich die Frage, wie man bei einem vorbehaltlosen Grundrecht, das nach der Verfassung unbeschränkt gelten soll, die allgemeinunverträglichen Ausübungsformen als rechtswidrig begründet. Im sog. „Soldaten"-Beschluß 138 hat das Gericht erstmals eine Formel für die Beschränkung vorbehaltloser Grundrechte gefunden und diese dann in der Mephisto-Entscheidung auf die Kunst angewandt: „Andererseits ist das Freiheitsrecht nicht schrankenlos gewährt. Die Freiheitsverbürgung in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geht wie alle Grundrechte vom Menschenbild des Grundgesetzes aus, d. h. vom Menschen als eigenverantwortlicher Persönlichkeit, die sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltet. Jedoch kommt der Vorbehaltlosigkeit des Grundrechts die Bedeutung zu, daß die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind. Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthält, darf sie weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden, welche ohne verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt und ohne ausreichende rechtsstaatliche Sicherung auf eine Gefährdung der für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendigen Güter abhebt. Vielmehr ist ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen." 139
Diese Freiheits-/Schrankendogmatik ist immer noch die Leitnorm für die Judikatur der vorbehaltlosen Grundrechte, wie die zu Beginn der Arbeit dargestellten Entscheidungen zeigen. Jetzt soll es zunächst um eine Untersuchung des Freiheitsbegriff unter rechtsphilosophischem Blickwinkel gehen.
138 BVerfGE 28, 243, 261. 139 BVerfGE 30, 173, 193.
2. Teil Freiheitskonzepte im Verhältnis zum Gesetz A. Rechtsphilosophische Modelle der Freiheit durch Gesetzlichkeit Der Freiheitsbegriff, auch als Tatbestandsmerkmal der Grundrechte, erklärt sich nicht aus sich selbst. Den positivrechtlichen Grundrechtsbestimmungen ist nicht zu entnehmen, wie der Begriff der Freiheit definiert wird. Der Freiheitsbegriff ist somit den einzelnen Grundrechtsbestimmungen vorgelagert, er bildet „den Allgemeinen Teil der Grundrechtsinterpretation" 1. Um ihn zu verstehen, ist ein Rückgriff auf rechtsphilosophische und rechtshistorische Begründungen notwendig. Aus rechtshistorischer Perspektive erscheinen die Grundrechte und der ihnen zugrunde liegende Freiheitsbegriff als Ausdruck der Erfahrung aus typischen historischen Gefahrdungslagen 2: „Wir glauben als Jurist, daß der Inhalt der Freiheit an sich positiv nicht definiert werden kann. Wir glauben, daß alle Freiheiten nur die Negation von Beschränkungen sind, die menschlichem Handeln früher auferlegt waren"^.
In dieser Arbeit soll ein anderer Weg gewählt werden, und zwar in Auseinandersetzung mit dem sogennanten „liberalen Freiheitsbegriff 4 , der sich, im Anschluß an Jellinek, vornehmlich auf geschichtliche Erfahrungen beruft, aber auch eine systematische Wurzel hat, nämlich in der Naturrechtslehre John Lockes. Im nun folgenden Teil der Arbeit soll ausgehend von den Lehren Rousseaus und Kants ein Freiheitsbegriff nachgezeichnet und erinnert werden, den man, im Gegensatz zum liberalen Freiheitsbegriff, als „normativen Freiheitsbegriff