Grenzverkehr: Beiträge zum Werk Kurt Martis 9783835318229, 9783835329386, 3835318225


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German Pages 304 S [305] Year 2016

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Umschlag......Page 1
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Pierre Bühler und Andreas Mauz: Martis Grenzverkehr. Zur Einleitung......Page 8
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Manfred Papst: Kurt Marti: Dichter, Zeitzeuge, Gottesmann......Page 20
»Ich lasse mich nicht mehr aktivieren und präsentieren«. Kurt Marti im Gespräch mit Stefan von Bergen......Page 38
»Gott ist nicht in den Starken mächtig«. Kurt Marti im Gespräch mit Matthias Hui......Page 46
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Dieter Lamping: Der religiöse Lyriker Kurt Marti......Page 54
Peter Utz: Wirbel unterwegs. Kurt Martis Gedichtsammlung da geht dasein......Page 64
Mirja Kutzer: Wenn das WORT gesellig wird. Kurt Martis Theologie der poetischen Form......Page 71
Stefanie Leuenberger: Von Bürgern und Riesen. Verschlungene Wege durch Kurt Martis Prosa......Page 91
Adrian Portmann: Lexikographie als Spiel mit Realität und Fiktion. Kurt Martis Lexikon Abratzky oder Die kleine Brockhütte......Page 110
Magnus Wieland: Zärtliche Quartiere. Kurt Martis Notizen......Page 129
Ralph Kunz: »die wörter fallen, das wort bleibt aus«. Eine Rede zu Kurt Martis Homiletik......Page 151
Andreas Mertin: Kurt Marti – Befreiung zur Profanität. Zeithistorische Einordnung......Page 170
Folkart Wittekind: Kreativität und Kritik – oder die ›Verteidigung des Individuums‹. Zu den theologischen Grundlagen von Martis Literaturtheologie......Page 189
Andreas Mauz: Seinen Tod sterben. Kurt Martis exemplarische Sterbeerzählung Neapel sehen (1960)......Page 226
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Lukas Dettwiler: Der Briefwechsel Ernst Merz – Kurt Marti. Eine Annäherung......Page 254
Fredi Lerch: Nicht Existentialist, sondern Barthisan. Zum Engagement des Schriftstellers Kurt Marti......Page 274
Eberhard Jüngel: Laudatio für Kurt Marti (2002)......Page 287
Pierre Bühler: »gott gerneklein«. Eine von Kurt Marti inspirierte Weihnachtspredigt......Page 297
Dank......Page 302
Autorinnen und Autoren......Page 303
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Grenzverkehr: Beiträge zum Werk Kurt Martis
 9783835318229, 9783835329386, 3835318225

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Grenzverkehr Beiträge zum Werk Kurt Martis

Grenzverkehr Beiträge zum Werk Kurt Martis Herausgegeben von Pierre Bühler und Andreas Mauz

Die Drucklegung dieses Bandes wurde dankenswerterweise ermöglicht durch Beiträge der Lang-Stiftung, des Emil Brunner-Fonds des Kirchenrats des Kantons Zürich, des Zürcher Universitätsvereins (ZUNIV) und des Instituts für Hermeneutik und Religionsphilosophie (IHR) der Universität Zürich.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2016 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Aldus Umschlag: Susanne Gerhards, Düsseldorf ISBN (Print) 978-3-8353-1822-9 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2938-6

Inhalt Pierre Bühler und Andreas Mauz Martis Grenzverkehr. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Manfred Papst Kurt Marti: Dichter, Zeitzeuge, Gottesmann . . . . . . . . . . . . 19 »Ich lasse mich nicht mehr aktivieren und präsentieren« Kurt Marti im Gespräch mit Stefan von Bergen . . . . . . . . . . 37 »Gott ist nicht in den Starken mächtig« Kurt Marti im Gespräch mit Matthias Hui . . . . . . . . . . . . . 45

II. Dieter Lamping Der religiöse Lyriker Kurt Marti . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Peter Utz Wirbel unterwegs Kurt Martis Gedichtsammlung da geht dasein . . . . . . . . . . . 63

Mirja Kutzer Wenn das WORT gesellig wird Kurt Martis Theologie der poetischen Form . . . . . . . . . . . . 70 Stefanie Leuenberger Von Bürgern und Riesen Verschlungene Wege durch Kurt Martis Prosa . . . . . . . . . . . 90 Adrian Portmann Lexikographie als Spiel mit Realität und Fiktion Kurt Martis Lexikon Abratzky oder Die kleine Brockhütte . . . . 109 Magnus Wieland Zärtliche Quartiere. Kurt Martis Notizen . . . . . . . . . . . . . . 128

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inhalt

Ralph Kunz »die wörter fallen, das wort bleibt aus« Eine Rede zu Kurt Martis Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Andreas Mertin Kurt Marti – Befreiung zur Profanität Zeithistorische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Folkart Wittekind Kreativität und Kritik – oder die ›Verteidigung des Individuums‹ Zu den theologischen Grundlagen von Martis Literaturtheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Andreas Mauz Seinen Tod sterben. Kurt Martis exemplarische Sterbeerzählung Neapel sehen (1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

III. Lukas Dettwiler Der Briefwechsel Ernst Merz – Kurt Marti Eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Fredi Lerch Nicht Existentialist, sondern Barthisan Zum Engagement des Schriftstellers Kurt Marti . . . . . . . . . . 273 Eberhard Jüngel Laudatio für Kurt Marti (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Pierre Bühler »gott gerneklein« Eine von Kurt Marti inspirierte Weihnachtspredigt . . . . . . . . 296

Dank

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

Autorinnen und Autoren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

Pierre Bühler und Andreas Mauz

Martis Grenzverkehr Zur Einleitung

»Grenzverkehr«: Der Begriff, der vorliegendem Band seinen Namen gibt, wird uns von Kurt Marti selbst zugespielt. Er steht über einer Sammlung von Essays eines – wie es im Untertitel heißt – »Christ[en] im Umgang mit Kultur, Literatur und Kunst«.1 Wir meinen nun, dass dieser Titel eigentlich zu prägnant ist für Martis höchst eigenes Autorenprofil, um ihn ›nur‹ für seine Bewegungen auf und zwischen den Feldern von Theologie und Kultur / Literatur / Kunst zu verwenden. »Grenzverkehr« scheint uns ein ausgezeichnetes Kürzel für seine denkbar vielfältigen intellektuellen und gesellschaftspolitischen Aktivitäten zu sein. Es soll daher zunächst etwas genauer ausgelotet werden, um dann die Gründe zu erläutern, die uns zur Arbeit an Marti veranlasst haben.

I. »Grenzverkehr«: Wir beginnen die Explikation dieses Labels mit einem Blick auf Martis eigene Kommentierung des Begriffs, wie sie sich im kurzen Vorwort des erwähnten Bandes findet.2 Die erste Bestimmung, die der Autor liefert, steht im Kontext einer klaren Abgrenzung, in der Abwehr eines für naheliegend erachteten Missverständnisses: »Der ›Grenzverkehr‹, der mich zwischen theologisch-kirchlicher und literarischer Tätigkeit hin und her pendeln lässt, hat – dies vornweg gesagt – nicht zu einem auch nur ansatzweisen Entwurf einer Theologie der Literatur, der Kunst geführt.« (5) Es ist deutlich: Der Grenzverkehr wird hier akzentuiert zugunsten des ersten Wortteils. Die Grenze bleibt intakt; der Verkehr über sie hinweg hebt sie nicht auf. Nicht einmal »ansatzweise« soll das, was jenseits der Grenze liegt – das Feld von Literatur und Kunst – durch das eigene Feld,

1 Kurt Marti: Grenzverkehr. Ein Christ im Umgang mit Kultur, Literatur und Kunst. Neukirchen 1976. 2 Ebd., S. 5 f.

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das der Theologie, theoretisch ›kassiert‹ werden. Interessant scheint nun aber Martis Begründung für diese Reserve. Sein Grenzverkehr hätte ihn nicht nur nicht einmal ansatzweise in die Nähe einer Theologie der Literatur bzw. Kunst geführt, sondern »im Gegenteil«: Die eigene literarische Arbeit hat das geradezu verhindert. Zu stark erlebe ich, wie gerade in der Literatur, in den Künsten wohl überhaupt, das Besondere das Allgemeine, das neu Entstehende die alten bereitliegenden Begriffe stets von neuem desavouiert. Die Theorie des Kunstwerks manifestiert sich in seiner Praxis. Metakünstlerische Theoriebildung dagegen missrät allzu bald zur Ideologie, die Kreativität und Produktion eher verbaut als fördert. (5) An diesem Positionsbezug muss (über die positiv konnotierte Rede von einem »Desavouieren« hinaus) auffallen, mit welcher Vehemenz, ja Apodiktik er erfolgt. Ob eine Theologie der Literatur die Produktion des literarisch tätigen Theologen allenfalls zur Ideologie verkümmern könnte, steht hier nicht zur Debatte, sondern fest im Sinn einer zwangsläufigen Konsequenz. Der emphatische Rekurs auf die künstlerische Praxis – und nicht auf die Theorie –, auf das Besondere – und nicht auf das Allgemeine –, steht selbstverständlich im Horizont einer umfassenden Kritik an einer Gesellschaft, die, Marti paraphrasierend, aus Kunst Ware macht, aus Denken Ideologie, eine Gesellschaft, die den Menschen (mit implizitem Verweis auf Marcuse) »eindimensional« werden lässt. Das zeigen die Beiträge seines Bandes in aller Deutlichkeit. Und dieser weite Horizont führt eben zu beidem: zu einer Affirmation eines eigenen und begrenzten Feldes und zur Affirmation des Grenzverkehrs, der über das Eigene hinaus und in neuer Weise zu ihm zurückführt. Religion bzw. Theologie gelten Marti als – man beachte den Superlativ – »zuverlässigste Garantie gegen ›eindimensionale‹ Verkürzungen, d. h. Verstümmelungen des Menschen in seiner Welt« (6). Freilich machen diese Bedrohungen nicht Halt an der Schwelle zur religiös-kirchlichen Sphäre. Aber gerade die Beobachtung der ideologiebedrohten, der »bürgerlich gewordenen Kirche« veranlasst Marti zu einer wichtigen Präzisierung seines Grenzverkehr-Modells: Die Felder, die dies- und jenseits der Grenze liegen, sind nach seiner Auffassung in keiner Weise gleichwertig. Und es ist auch nicht so, dass sich der Autor beliebig da oder dort aufstellen könnte, dass ihm – wie man vielleicht erwarten könnte – sein Platz gerade auf der Grenze angewiesen werde, um von dort nach Lust und Laune einmal von hier nach dort und dann von dort nach hier zu gehen. Die Felder sind vielmehr klar gewichtet: Der primäre Standpunkt, die Theologie, ist gegeben, und es ist aber eben auch dieser Standpunkt, der dazu nötigt, ihn zu überschreiten. Marti:

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»Deshalb gehört der ›Grenzverkehr‹, die grenzüberschreitende Tätigkeit in der Literatur, zu meiner theologischen Existenz. Er lässt mich kritisch bleiben in einer Kirche, die nicht ist, was sie sein könnte, und so oft nicht tut, was sie tun müsste […].« (6) Zugleich bewahre ihn die Herkunft von genau diesem Feld davor, den einschlägigen »spätbürgerlichen« Wahrnehmungen des anderen Feldes zu verfallen: einer Überbewertung von Literatur bzw. Kunst als »Ersatzreligion« oder einer Unterbewertung als »zerstreuende Freizeitbeschäftigung«. Wenn zunächst also die Gewichtung der involvierten Felder und die Positionalität Martis im Grenzverkehr zur Debatte stehen, so nimmt er ganz am Ende seines Vorworts noch einmal einen anderen Standpunkt ein, der dann doch auf der Grenze selbst verortet scheint: In Beziehung auf die »bis zur Entfremdung« »fremdbestimmt[e]« Gesellschaft sind beide, Theologie und Literatur / Künste, dann doch gleichberechtigte Bundesgenossinnen. Und Marti fasst diese Nähe in ein durchaus drastisches Bild: »Ich glaube, dass jedenfalls in unserer immer mehr durchverwalteten, durchgenormten Welt Theologie und Künste sich volens nolens näher sind, als sie es erkennen – Zellennachbarn sozusagen?« (6) Soweit Martis kurze, aber sehr pointierte Entfaltung des Programmbegriffs »Grenzverkehr«. Natürlich könnte und möchte man nun Rückfragen stellen. Etwa: Überzeugt das skizzierte Verhältnis von Theorie und Praxis? Oder: Sind diese Überlegungen nicht – zumindest in nuce – genau das, was sie ausdrücklich nicht sein sollen: eine Theologie der Literatur? Von den Beiträgen, die unter diesem Titel präsentiert werden, muss man zumindest sagen, dass sie als solche rezipiert wurden.3 Unser Interesse geht hier aber weniger auf eine Problematisierung von Martis Auffassung seines Grenzverkehrs. Wir meinen, dass sich seine Aktivitäten auch jenseits der zentralen Arbeitsfelder TheologieLiteratur / Kunst sehr gut unter diesem Titel subsumieren lassen. Der Begriff – den man wohl nicht nur pro domo einen hermeneutischen Begriff nennen kann – bietet Differenzen, Fragehorizonte an, die ebenso bei der Rekonstruktion von Martis Poetik, derjenigen bestimmter Texte

3 Das zeigen nicht nur die damaligen Besprechungen, etwa: Elsbeth Pulver: Von der Gegenwärtigkeit des Vergangenen [zu Stimmen der Schweiz und Grenzverkehr], in: Schweizer Monatshefte 1976 /77, 56, S. 544-548; Paul Konrad Kurz: Schreiben als Grenzverkehr. Kurt Martis Essays zu Literatur und Kunst. In: ders.: Über moderne Literatur, Bd. 7. Frankfurt a. M. 1980, S. 101-105. Das zeigt auch unser Band, vgl. die Beiträge Andreas Mertins und Folkart Wittekinds.

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wie ihrer Rezeption hilfreich sein können: Wo liegen die jeweils in Frage stehenden Grenzen? Wer hat sie gezogen – und von wo aus? Und wer spricht sie an – und von wo aus? Welche Grenzen sind es aus welchen Gründen wert, überschritten zu werden? Welche können nicht (oder nur von einer Seite her) überschritten werden? Welche dürfen es nicht? Und ins Metaphorische ausgreifend: Welche Papiere erlauben den legalen Grenzverkehr? Oder bewegt man sich lieber als Illegaler, als sans papier? Gibt es Grenzverkehrsunfälle? Wer hat hier den Schaden? Wer haftet? Etc. etc. Ein eindrückliches Beispiel von Martis eigener, sagen wir, Grenzverkehrskompetenz geben seine Überlegungen zum Komplex von Altern, Sterben und Tod. So munter er in anderen Kontexten Grenzen überschritten und damit auch verschoben hat, so sehr schärft er in diesem Fall – auch aus theologischer Zurückhaltung und gegen diesbezügliche Vollmundigkeiten – deren Setzung und/oder Wahrung ein. Nur zwei Exempla: »Das Wort Jenseitsvorstellungen – ein Bluff! Wenn es nämlich ein Jenseits gibt, ist es jenseits auch aller Vorstellungen.«4 »Gott ist unser Jenseits. Das zu glauben genügt, und alles weitere (auch Verwandlung, Auferstehung usw.) bleibt ihm überlassen.«5 Die Stärke dieser Sätze rührt nicht nur daher, dass sie beglaubigt werden durch eine Existenz, die unmittelbar mit dem konfrontiert ist, was zur Debatte steht. Sie überzeugen vor allem auch, weil sie permanent einhergehen mit einer kritischen Selbstbeobachtung. So registriert Marti etwa seine »[l]angsame Verbravung […], verursacht wohl durch schwindende Kraft, durch schwindende Frage- und Antwortkompetenz«,6 oder er glossiert prägnant – und ausdrücklich hinweisend auf eine diffus werdende Grenze – die fremde und eigene Produktion von »Altersweisheiten«: »Wobei zu beachten sein dürfte, dass die Grenze zwischen Altersweisheiten und Alterstorheiten fließend ist.«7

II. In aller Kürze sei erläutert, weshalb wir an sich und genau jetzt zu einer Beschäftigung mit dem Werk Martis einladen. Für diese Entscheidung

4 Kurt Marti: Notizen und Details 1964-2007, hg. v. Hektor Leibundgut et al. Zürich 2010, S. 1323. 5 Kurt Marti: Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Stuttgart 22011, S. 37. 6 Marti, Notizen und Details, S. 1197. 7 Ebd., S. 1195.

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scheinen in einem ersten Anlauf vor allem zwei Gründe zu sprechen. Der erste ist, ganz banal, literaturgeschichtlicher Natur. Will man Kurt Marti in der neueren Literaturgeschichte der deutschsprachigen Literatur der Schweiz seinen ungefähren Ort anweisen, so muss man sagen: Er gehört in die erste Reihe der Literatengeneration neben und nach Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Marti gilt etwa – nun mit den superlativischen Worten einer neueren Schweizer Literaturgeschichte – als »der vielseitigste der Autoren, die zu dieser Zeit neue Formen erprobten und mit wachen Sinnen die aktuellen und kommenden Veränderungen wahrnahmen«.8 Allein diese Stellung böte Anlass, Marti nicht nur zu lesen, sondern auch fachwissenschaftlich zu bearbeiten. Für uns war aber ein anderer, spezifischerer Grund wichtiger: Marti ist ein Autor, dessen Werk weit über den helvetischen Kontext hinaus exemplarisch steht für eine produktive und anspruchvolle Verbindung von christlicher Religion und Literatur. Wenn man sich – zumal als Theologe, zumal in der Schweiz – für eben dieses Verhältnis interessiert, führt kein Weg an ihm vorbei.9 Bleibt die Frage, warum genau jetzt eine Beschäftigung mit Marti an der Zeit ist. Auch hier möchten wir eine mehrteilige Antwort geben. Zunächst: So unbestritten seine Stellung auf dem literaturgeschichtlichen Feld der neueren deutschsprachigen Literatur auch sein mag, seine Arbeiten wurden in den vergangenen Jahren nur sporadisch Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung, und intensivere Einlassungen monographischer Art fehlen gänzlich.10 Es scheint vielmehr so, als sei

8 Peter Rusterholz: Nachkrieg – Frisch – Dürrenmatt – Zürcher Literaturstreit – Eine neue Generation (1945-1970). In: Peter Rusterholz / Andreas Solbach (Hg.): Schweizer Literaturgeschichte. Stuttgart 2007, S. 241-327, S. 256. 9 Für den weiteren Kontext vgl.: Andreas Mauz / Ulrich Weber (Hg.): »Wunderliche Theologie«. Konstellationen von Literatur und Religion im 20. Jahrhundert. Göttingen 2015 (darin, S. 237-253, Magnus Wielands Aufsatz: Gottesgestotter und Dadagestammel. Religion und literarische Avantgarde bei Hugo Ball und Kurt Marti). 10 Die drei einschlägigen Bände stammen alle vom Anfang der 1990er-Jahre: Christof Mauch: Poesie – Theologie – Politik. Studien zu Kurt Marti. Tübingen 1992; ders. (Hg.): Kurt Marti. Texte, Daten, Bilder. Mit einem Vorwort von Walter Jens. Frankfurt a. M. 1991; Ernst Rudolf Rinke: Der Weg kommt, indem wir gehen: Theologie und Poesie der Zärtlichkeit bei Kurt Marti. Stuttgart 1990. Für Bibliographien sowohl der Primär- wie der Sekundärliteratur vgl. Elsbeth Pulver: Art. Kurt Marti. In: Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur. Online: http://www.munzinger.de/document/ 00000016709 (15. 1. 2016). Der genannte Artikel verzeichnet an Sekundär-

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parallel zu Martis allmählichem Rückzug aus dem Literaturbetrieb11 auch der sekundäre Diskurs (im engeren Sinn einer wissenschaftlichen Thematisierung) zunehmend schmaler geworden.12 Dieser Umstand allein, die bloß statistische Fälligkeit eines Bandes über Marti, konnte selbstverständlich nicht hinreichen, um an die Arbeit zu gehen. Als starker Anlass, diese Fälligkeit überhaupt wahrzunehmen, dienten vielmehr die aktuellen Verschiebungen innerhalb des intellektuellen und künstlerischen Grenzverkehrs, den Marti jahrzehntelang schwerpunktmäßig betrieb. Es ist nicht zu übersehen, dass sich der Diskurs über Religion und Literatur seit einigen Jahren stark intensiviert, und dies ebenso in der Primärliteratur wie in der Forschung.13 In diesem neuen Gesprächskontext scheint es nun angezeigt, Marti zur Geltung zu bringen, und

titeln insbesondere auch Rezensionen und Autorengespräche. Ergänzend dazu bieten wir im Anhang zu dieser Einleitung eine Bibliographie der Forschungsliteratur im engeren Sinn. Erfreulicherweise ist das Inventar von Martis Archiv (im Schweizerischen Literaturarchiv, Bern) online zugänglich: http://ead.nb.admin.ch/html/martikurt.html (15. 1. 2016). 11 Man vergleiche aber die kürzlich aus Anlass von Martis 95. Geburtstag erschienene Hommage-Doppel-CD Rosa Loui von Guy Krneta und Louisen (Luzern 2015). Nebst Vertonungen und Fortschreibungen von Martis klassischen berndeutschen Texten bietet die CD auch Archivaufnahmen mit Lesungen durch den Autor. 12 Wie präsent Marti und seine Texte dagegen im kirchlichen Diskurs sind, zeigte im Kontext der schweizerischen reformierten Kirchen exemplarisch die Diskussion um die Formulierung eines Bekenntnisses, die in Martis nachapostolischem bekenntnis (in: Abendland. Gedichte. Darmstadt 1980, S. 92) einen Grundlagentext fand. Vgl. die umfangreiche Dokumentation zur Herbsttagung 2010 der Fachstelle Oekumene, Mission, Entwicklungszusammenarbeit (OeME) der Reformierten Kirchen Bern–Jura–Solothurn, http://www.refbejuso.ch/fileadmin/user_upload/Downloads/OeME_Migration/ Herbsttagung/OM_PUB_d_Herbsttagung_2010.pdf (15. 1. 2016). 13 Für eine aktuelle Umschau im Bereich von Roman und Lyrik vgl. etwa die Beiträge Silke Horstkottes: Zitatraum und Epiphanie: Religiöses in gegenwärtiger Lyrik. In: Neue Rundschau 126, 2015, 1, S. 98-106; dies.: Heilige Wirklichkeit! Religiöse Dimensionen einer neuen Fantastik. In: Silke Horstkotte / Leonhard Herrmann (Hg.): Poetiken der Gegenwart: Deutschsprachige Romane nach 2000. Berlin 2013, S. 67-82. Für breitere Darstellungen: Christoph Gellner: »… nach oben offen«. Literatur und Spiritualität – zeitgenössische Profile. Ostfildern 2013; Georg Langenhorst: »Ich gönne mir das Wort Gott«. Annäherungen an Gott in der Gegenwartsliteratur. Freiburg i. B. 2009 (darin, S. 147-149, zu Marti, gott gerneklein). Zum englischen Sprachraum neuerdings: Zoë Lehmann Imfeld et al. (Hg.): Theology and Literature after Postmodernity. London 2015.

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zwar gleichermaßen als Praktiker14 wie – was gerne in den Hintergrund tritt – als Theoretiker.15 Schließlich der dritte und letzte Umstand: Kurt Marti ist mittlerweile ein sehr alter Mann. Das wenige, was er schreibt, ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sein Werk darf als abgeschlossen gelten; es kann daher erstmals als Ganzes in den Blick genommen werden. Diese Bemerkung ist allerdings, um keine falschen Erwartungen zu wecken, sofort zu relativieren: Martis Werk könnte als Ganzes in den Blick genommen werden. Dies tatsächlich zu tun, war weder unsere Absicht, noch lag es im Bereich des Möglichen. Wie bereits ein flüchtiger Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt, versucht der vorliegende Band, zentrale und auch bislang vernachlässigte Themen, Werkeinheiten und disziplinäre Perspektiven abzudecken. Deutlich erkennbar ist aber auch, dass Entscheidendes nicht angesprochen wird – etwa Martis exegetische Arbeiten und Predigten,16 etwa die Breite seines essayistisch-diaristischen Schreibens,17 aber auch die unzähligen entlegen und verstreut publizierten Texte, mit denen Marti zu aktuellen Fragen Stellung nahm.18 Die Struktur des Bandes ist eine denkbar einfache: Ein erster einleitender Abschnitt bietet neben einem Einführungsessay zwei aktuelle Gespräche mit dem Autor, um auch ihn zu Wort kommen zu lassen. Der 14 So etwa mit Bezug auf die Lyrik auch Dieter Lamping im vorliegenden Band (S. 53-62, S. 53): »Doch dass man heutzutage wieder von religiöser Lyrik spricht, ohne ästhetischen Vorbehalt, ist tatsächlich eine der Leistungen Kurt Martis, der zu den bekanntesten und wichtigsten Vertretern dieser Literatur gehört.« 15 Man vergleiche, noch einmal, die Beiträge Andreas Mertins und Folkart Wittekinds. 16 U. a. Das Markus Evangelium. Predigten. Basel 1967 (Neuausgabe: Zürich 1985); Bundesgenosse Gott. Versuche zu 2. Mose 1-14. Basel 1972; Gottesbefragung. Der erste Johannesbrief heute. Stuttgart 1982; Prediger Salomo. Weisheit inmitten der Globalisierung. Stuttgart 2002. Die Psalmen. Annäherungen. Stuttgart 2010. 17 Eine empfindliche Lücke bildet insbesondere eine Einlassung auf Martis ›Hauptwerk‹: die gesammelten Notizen und Details. 18 Sie liegen säuberlich gesammelt, aber eben unpubliziert im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA). – Diese Hinweise belegen noch einmal, dass unser Augenmerk, wie der Untertitel des Bandes formuliert, tatsächlich in erster Linie dem Werk Martis gilt. Dass es eine Reihe anderer Zugangsweisen und Fragehorizonte gibt, für die Autor und Werk gleichfalls von Belang sind, liegt auf der Hand. Man denke nur an literatursoziologisch orientierte Untersuchungen zum Autortypus des »Dichterpfarrers« oder an Studien zu Politik und Literatur bzw. Politik und Theologie.

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zweite Abschnitt umfasst eine größere Anzahl von Untersuchungen zu bestimmten Werken oder Themen. Der dritte Abschnitt versammelt schließlich alles ›Andere‹: einen biographischen Beitrag, eine Laudatio und eine Predigt, die sich von Marti-Texten inspirieren lässt.

Anhang: Forschungsbibliographie Kurt Marti (1970-2015) Werner Weber: Kurt Marti, ›Rosa Loui‹. In: ders.: Forderungen. Bemerkungen und Aufsätze zur Literatur. Zürich 1970, S. 264-271. Elsbeth Pulver: »Das Zerredete literarisch gestalten« [zu: Abratzky]. In: Schweizer Monatshefte, 1972, 10, S. 762-766. Norbert Schachtsiek-Freitag: Die Riesin. In: Neue Deutsche Hefte, 1975, 4, S. 821-824. Pierre Hornick: Kurt Martis Dichtung im Zeichen seines Friedens- und Zukunftsrealismus. Luxemburg 1976 (Lizentiatsarbeit). Hans Zürcher: Auf der Suche nach einer ehrlichen Sprache. Kurt Martis Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Literatur. Luxemburg 1979 (Lizentiatsarbeit). Paul Konrad Kurz: Schreiben als Grenzverkehr. In: ders.: Über moderne Literatur, Bd. 7. Frankfurt a. M. 1980, S. 101-105. Ernst Josef Krzywon: Das Heilige als Problem der literarischen Wertung: Versuch einer strukturalistischen Analyse von Kurt Martis Gedicht »Alles in allem«. In: Roczniki Humanistyczne: Annales de Lettres et Sciences Humaines / Annals of Arts, 1980, 28, 1, S. 135-148. Friedrich Popp: Sprachsklerose und Spracherweiterung. Zu Kurt Martis sprach- und ideologiekritischen Lyriktexten. Salzburg 1981 (Lizentiatsarbeit). Cornelius Schnauber: Kurt Marti. In: Benno von Wiese (Hg.): Die deutsche Lyrik 1945-1975. Düsseldorf 1981, S. 318-328. Karl-Heinz Adams: »… denn ungeheuer ist der vorsprung leben«. Der Tod als Brennpunkt des Lebens in den Gedichten Kurt Martis. Freiburg i. B. 1983 (Magisterarbeit). Kurt Rothmann: Kurt Marti. In: ders.: Deutschsprachige Schriftsteller seit 1945 in Einzeldarstellungen. Stuttgart 1985, S. 259-262. Ulla Hahn: Zu Kurt Martis Gedicht »der name«. In: Walter Hinck (Hg.): Gedichte und Interpretationen, Bd. 6. Stuttgart 1985, S. 208-214. Paul Konrad Kurz: »Ohne Axt und Hammer« [zu: Bürgerliche Geschichten). In: ders: Zwischen Widerstand und Wohlstand. Frankfurt a. M. 1986, S. 241-247.

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Daniel Wehrli: Genauigkeit und Sachlichkeit in der Lyrik von Kurt Marti. Zürich 1986 (Lizentiatsarbeit). Peter Utz: »Geh dicht, geh!« [zu: Mein barfüssig Lob). In: Schweizer Monatshefte, 1987, 6, S. 511-513. Johannes Maassen: Die Stadt am Ende der Zeit. Zur Prosa von Kurt Marti 1970-1985. In: Robert Acker / Marianne Burkhard (Hg.): Blick auf die Schweiz. Zur Frage der Eigenständigkeit der Schweizer Literatur seit 1970. Amsterdam 1987, S. 131-154. Ernst Rudolf Rinke: Der Weg kommt, indem wir gehen: Theologie und Poesie der Zärtlichkeit bei Kurt Marti. Stuttgart 1990. Gisbert Kranz: Kampf für Gerechtigkeit und Frieden: Kurt Marti (*1921). In: ders.: Begegnungen mit Dichtern. Wuppertal 1990, S. 80-90. Birgit Lönne: Entwicklungslinien der deutschsprachigen Lyrik in der Schweiz von den frühen fünfziger bis zu den frühen achtziger Jahren: Erika Burkart, Eugen Gomringer, Kurt Marti und Beat Brechbühl als exemplarische Autoren dieser Entwicklung. Leipzig 1990. Christof Mauch (Hg.): Kurt Marti. Texte, Daten, Bilder. Mit einem Vorwort von Walter Jens. Frankfurt a. M. 1991. Vladimir D. Sedel’nik: Kurt Marti: Satire und Barmherzigkeit. In: Germanistisches Jahrbuch DDR – Republik Ungarn, 1990, 9, S. 164-170. Michael Butler: Kurt Marti: »Chaos in die Ordnung bringen«. In: Michael A. Butler / Malcolm Pender (Hg.): Rejection and Emancipation: Writing in German-speaking Switzerland, 1945-1991. New York 1991, S. 119-137. Christof Mauch: Poesie – Theologie – Politik. Studien zu Kurt Marti. Tübingen 1992. Hans Ester: Kurt Marti: Pfarrer, Schriftsteller, Schweizer. In: Jattie Enklaar und Hans Ester (Hg.): Die Schweiz: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Amsterdam 1992, S. 31-36. Elisabeth Grözinger: Dichtung in der Predigtvorbereitung: zur homiletischen Rezeption literarischer Texte – dargestellt am Beispiel der »Predigtstudien« (1968-1984) unter besonderer Berücksichtigung von Bertolt Brecht, Max Frisch und Kurt Marti. Frankfurt a. M. 1992. Stephan Leimgruber: Kurt Marti: Theopoesie mit Zeitindex. In: Joseph Bättig / Stephan Leimgruber (Hg.): Grenzfall Literatur. Die Sinnfrage in der modernen Literatur der viersprachigen Schweiz. Freiburg (CH) 1993, S. 294-305. Elsbeth Pulver: Ein literarisches Multiversum [Vorwort zu: Werkauswahl in 5 Bänden], Bd. 1 (Neapel sehen. Erzählungen). Zürich 1996, S. I-XXVIII. Elsbeth Pulver: Neapel sehen. In: Werner Bellmann (Hg.): Klassische deutsche Kurzgeschichten. Interpretationen. Stuttgart 2004, S. 240-245.

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Christoph Gellner: Kurt Marti. Gedichte am Rand. In: Georg Langenhorst (Hg.): Christliche Literatur für unsere Zeit. Fünfzig Leseempfehlungen. München 2007, S. 237-241. Sabine Gebhardt Fink: Politische Anliegen und die Anfänge der Konkreten Poesie in der Schweiz: eine erste Auslegeordnung am Beispiel Kurt Martis. In: Anne Thurmann-Jajes (Hg.): Poesie – Konkret: Zur internationalen Verbreitung und Diversifizierung der Konkreten Poesie. Köln 2012, S. 237-247. Tanja van Hoorn: Kleine Typologie des Lexikon-Romans (Okopenko, Pavic, Marti, Wolf). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 2014, 88, 3, S. 392-413. Magnus Wieland: Gottesgestotter und Dadagestammel. Religion und literarische Avantgarde bei Hugo Ball und Kurt Marti. In: Andreas Mauz / Ulrich Weber (Hg.): »Wunderliche Theologie«. Konstellationen von Literatur und Religion im 20. Jahrhundert. Göttingen 2015, S. 237-253.

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Manfred Papst

Kurt Marti: Dichter, Zeitzeuge, Gottesmann Die drei Stichworte »Dichter, Zeitzeuge, Gottesmann« bilden gleichsam ein gleichseitiges Dreieck, wenn es darum geht, das Schaffen Kurt Martis zu umreißen. Sie stehen für ein Ganzes, das sich nicht trennen lässt. Der experimentelle, spielerische Wagemut der Lyrik spiegelt sich bei Marti in der Ernsthaftigkeit seiner theologischen Reflexion und umgekehrt. Ehrfurcht vor der Schöpfung bestimmt die ökologische und damit auch politische Position Kurt Martis. In seinem Werk hängt alles mit allem zusammen. Es gleicht indes weniger einem kunstvoll angelegten Labyrinth als einem natürlich gewachsenen, bald lichten und bald dichten Wald. Da führen viele Wege hinein und hinaus. Man kann sich in ihm mitunter tüchtig verirren. Aber dann sieht man unvermittelt wieder einen Sonnenstrahl durch das Blattwerk leuchten. Es passt sehr gut zu Kurt Marti, dass er erst auf Umwegen zur Theologie gekommen ist. Als am 31. Januar 1921 in Bern geborener Sohn eines Notars, der mit Friedrich Dürrenmatt das Freie Gymnasium besuchte, absolvierte er zunächst zwei Semester an der juristischen Fakultät seiner Heimatstadt, bevor er sich für das Studium der Evangelischen Theologie entschied. Zuvor hatte er nach eigenem Bekunden eine »richtige« Kindheit erlebt, ohne Kindergarten, ohne Früheinschulung; erst als Siebenjähriger musste er in die erste Klasse.1 Die Welt war damals noch übersichtlicher. Diese Übersichtlichkeit hat sich Kurt Marti zeit seines Lebens zu erhalten versucht. Den absurden Situationen und steten Überforderungen, welchen sich der »antiquierte Mensch« gemäß Günther Anders ausgesetzt sieht, ist er instinktsicher aus dem Weg gegangen.2 Nicht nur dem Computer, der E-Mail, dem Internet hat er sich standhaft verweigert. Er hat sich auch, solange es irgendwie ging, mit Klinge und Schaum rasiert und auf einer mechanischen Schreibmaschine geschrieben. Ein Auto hat er nie gebraucht. Das Velo genügte ihm. Er zählt also nicht zu denjenigen, die Wasser predigen und Wein trinken. Sparsamkeit in punkto Energie war ihm immer eine Selbstverständlichkeit. Deshalb konnte er auch über Jahrzehnte so glaubhaft 1 »Ich weiss nicht, was Gott vorhat«. Weihnachtsgespräch mit Kurt Marti. In: Berner Zeitung, 22. 12. 2007, S. 35. 2 Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1. München 1956.

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gegen Atomkraftwerke angehen. Seine Argumentation überzeugt damals so wie heute. Keiner von uns kann die Verantwortung übernehmen für radioaktive Abfälle, die über Zehntausende von Jahren gefährlich bleiben. Die Sprüche der entsprechenden Manager hat Kurt Marti in seinen Texten treffend kritisiert.3 In seinem so unprätentiösen wie gehaltvollen Erinnerungsbuch Ein Topf voll Zeit (2008), dessen Titel auf Hans Arps schöne Metapher vom »Topf voll Zeit«, der »vom Herd genommen« wird, anspielt, erzählt Marti eindrücklich, wie die theologische Neugier in ihm mit einer sinnlichen Kraft erwachte, ganz ähnlich wie die Vitalität des Jünglings. Es war eine Erweckung des ganzen Menschen, nicht bloß eine des Intellekts.4 Sinnlichkeit und Spiritualität sind für Kurt Marti denn auch nie Widersprüche gewesen. Dass er sie als nicht bloß komplementäre, sondern geradezu in einer Kernfusion zusammenwirkende Kräfte erkannte und gestaltete, wurde entscheidend für sein Leben wie für ein dichterisches Schaffen. Bis zur Geburt des Poeten war es indes noch ein weiter Weg. Zunächst galt es zu studieren. Gleichzeitig rief der Aktivdienst. Marti wurde zur Fliegerbeobachtung eingeteilt. Den heiligen Büchern widmete er sich daneben und danach zunächst in Bern, dann 1945 /46 in Basel, wo Karl Barth ihn durch seine Persönlichkeit wie durch sein streng gefügtes Werk und Denken prägte. Nicht nur die monumentale Dogmatik des fraglos wichtigsten evangelischen Theologen im 20. Jahrhundert tat es ihm an: Auch Barths kritische Rede über die allzu schlaue schweizerische Neutralitätspolitik im Zweiten Weltkrieg beschäftigte ihn.5 Dieser Fundamentalismus im positiven Sinn des Wortes erschien ihm als vorbildliche Haltung. Fortan war er für jeden Opportunismus verloren. 1947 /48 verbrachte Kurt Marti im Auftrag des Ökumenischen Rates der Kirchen ein Jahr als Seelsorger für Kriegsgefangene in Paris. Wenn wir seinen Erinnerungen glauben dürfen, lebte er damals nach dem lutherischen Grundsatz »pecca fortiter, crede fortius« – »sündige kräftig, aber glaube noch stärker«.6 Ein Kostverächter ist der junge Kurt Marti gemäß eigenem Bekunden nicht gewesen. Doch die Zeit der Abenteuer nahm alsbald ein Ende. Nach dem Hochschulabschluss und der Ordination im Jahr 1950 heiratete er Hanni Morgenthaler. Als »elfenhaft leichte Langenthalerin« hat er sie in seinen Erinnerungen

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Beispielsweise in Kurt Marti: Notizen und Details. Zürich 2010, S. 563 ff. Kurt Marti: Ein Topf voll Zeit 1929-1948. Zürich 2008, S. 187 ff. Ebd., S. 174 f. Ebd., S. 214 f.

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apostrophiert.7 Es wurde eine Verbindung fürs Leben – und eine große, lebensbestimmende Liebe wie jene von Gerhard Meier und seiner geliebten Frau Dorli. 58 glückliche, erfüllte Jahre sollte das Paar zusammen verbringen. Der Tod der Lebensgefährtin im Jahr 2007 hat Kurt Marti schwer getroffen. Er lebt seither in der Erinnerung und – mit einem Bild Schopenhauers – in den Anmerkungen zum Haupttext seines Lebens. Diesen sieht er als im Wesentlichen abgeschlossen an. Doch er blickt dankbar und ohne Bitterkeit zurück auf ein langes, erfülltes Leben. Vier Kinder gingen aus seiner Ehe mit Hanni Morgenthaler hervor, drei Söhne und eine Tochter, auch Enkel haben sich eingestellt. Von 1950 bis 1960 war Marti Pfarrer in Niederlenz, von 1961 bis 1983 wirkte er dann prägend an der Nydeggkirche in Bern. Mit Treue, Mut und Fleiß versah er sein Amt als Prediger und Seelsorger; erst nach seiner Pensionierung im Alter von 62 Jahren etablierte er sich vollends als freier Schriftsteller. Eines fällt auf, wenn wir uns diese Zahlen und Fakten vor Augen führen: Kurt Marti fand erst relativ spät zum literarischen Schreiben. Er ging damals schon auf die vierzig zu. Max Rychner und Jörg Steiner ermutigten ihn zur poetischen Invention.8 Dann aber ging es sozusagen Schlag auf Schlag. Denn Martis Ideen-Scheune war bereits bis unters Dach gefüllt. Als junger Mensch hatte er nicht nur eifrig Theologie studiert, sondern auch die Weltliteratur von gestern und heute regelrecht verschlungen. Wie er erzählt, hat er sich in seinen frühen Jahren von James Fenimore Coopers Lederstrumpf bis zu Hermann Hesse, von Rainer Maria Rilke und Stefan George bis zu James Joyce, Boris Vian und Henry Miller kein Bücherabenteuer entgehen lassen. Als lesesüchtig und lebenssüchtig beschreibt er sich in seiner Autobiographie.9 Ein unerschrockener Leser ist er zeit seines Lebens geblieben. Das zeigen seine Essays, Notizen und Tagebücher. Von den Dichtern des Kirchenlieds bis zum Dadaismus, Surrealismus und zur konkreten Poesie blieb ihm nichts fremd. In den frühen 1950er-Jahren entdeckte er Arno Schmidt. Als Erstes las er dessen Buch Die Umsiedler, danach wartete er ungeduldig auf jedes neue Werk des sperrigen Eremiten aus Bargfeld. Er empfand ihn als Riesen. Mit einem treffenden Oxymoron nannte er Schmidts Prosa »filigran-monströs«. Im Vergleich mit ihr kam ihm die übrige Nachkriegsliteratur geradezu »würzlos« vor. Doch die Begegnung

7 Ebd., S. 190. 8 Den Hinweis auf Max Rychner und Jörg Steiner als Förderer von Kurt Marti verdanke ich Charles Linsmayer. 9 Vgl. besonders die Paris-Kapitel in Ein Topf voll Zeit, S. 206-227.

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beflügelte ihn nicht etwa, sondern lähmte ihn, wie er in dem von Rudi Schweikert herausgegebenen Band Da war ich hin und weg. Arno Schmidt als prägendes Leseerlebnis festgehalten hat, für lange Zeit.10 Was Kurt Marti an der Literatur faszinierte, war stets das sprachliche Experiment, die paradoxal geglückte Formulierung, die Epiphanie der Erkenntnis. Für die Langstrecken des raunenden Imperfekts hatte er weniger Sinn. Für umfängliche Romane fehlte ihm, besonders in seinen späteren Jahren, die Geduld. Kierkegaard sagte ihm mehr als Thomas Mann. Er selbst hat auch nur einen einzigen, vergleichsweise schmalen Roman geschrieben: Die Riesin. Das 1975 erschienene Werk um das Riesenweib Erna, die Ich-Erzählung eines Bibliothekars, der die ihn bedrückenden Visionen schreibend loswerden will, ist einerseits eine Satire auf die Psychoanalyse, andererseits ein gewagtes Spiel mit einer sinnlichen Bilderflut, die sich der praktischem Vernunft und dem Effizienzdenken nicht beugen will. Der Roman ist eine reizvolle Eskapade, in welcher der Autor staunenswert viel von sich preisgibt. Doch der Kern seines Schaffens liegt in der Lyrik und in den Essays. Offenheit und Neugier kennzeichnen Kurt Martis gesamtes Werk. 1959 betritt er mit den Lyrikbänden Boulevard Bikini und Republikanische Gedichte die literarische Bühne.11 Mit den in Berner Umgangssprache verfassten Gedichtsammlungen Rosa Loui (1967) und undereinisch (1973) erweckt er die Tradition der Mundartlyrik zu neuem Leben, befreit sie vom Stigma der Behäbigkeit und erweitert sie wagemutig ins Experimentelle.12 Mit dem kleinen, bis heute höchst lesenswerten Band Die Schweiz und ihre Schriftsteller – die Schriftsteller und ihre Schweiz von 1966 erweist er sich auch als engagierter Zeitzeuge und politischer Kopf;13 seine umfangreiche Sammlung von Predigten über das Markus-Evangelium, die 1967 erscheint, zeigt ihn zudem als kundigen, sorgsamen Homiletiker.14 Schon 1960 hat er zudem in dem Erzählungsband Dorfgeschichten 1960,15 der bei Siegbert Mohn in Gütersloh

10 Rudi Schweikert (Hg.): Da war ich hin und weg. Arno Schmidt als prägendes Leseerlebnis. Wiesenbach 2004, S. 13. 11 Kurt Marti: Boulevard Bikini. Gedichte. Holzschnitte von Willy Leiser. Biel 1959. Ders.: Republikanische Gedichte. St. Gallen 1959. 12 Kurt Marti: Rosa Loui. Vierzg Gedicht ir Bärner Umgangssprach. Darmstadt / Neuwied 1967. Ders.: Undereinisch. Gedicht ir Bärner Umgangssprach. Darmstadt / Neuwied 1973. 13 Kurt Marti: Die Schweiz und ihre Schriftsteller – die Schriftsteller und ihre Schweiz. Zürich 1966. 14 Kurt Marti: Das Markus-Evangelium, ausgelegt für die Gemeinde. Zürich 1967. 15 Kurt Marti: Dorfgeschichten 1960. Gütersloh 1960.

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erschien und zunächst kaum Beachtung fand, eine Gattung etabliert, die vier Jahre später durch Peter Bichsels Geschichtensammlung Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen populär wurde: diejenige der unprätentiösen, unsentimentalen Dorfgeschichte, die in knappen Sätzen davon berichtet, dass in der Idylle eigentlich nichts mehr in Ordnung ist. Charles Linsmayer, der neben Elsbeth Pulver zu den gründlichsten Kennern von Martis Werk gelten darf, hat nachdrücklich auf diesen bis heute unterschätzten Band hingewiesen.16 Bereits 1964 ist in der angesehenen ökumenischen Zweimonats-Zeitschrift Reformatio der erste Essay von Kurt Marti erschienen. Über 250 sollten es insgesamt werden, bis die verdienstvolle Publikation im Jahr 2009 aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt werden musste. Von 1984 an tragen Martis Beiträge den auf Ludwig Hohl anspielenden Rubrikentitel Notizen und Details. Sie handeln von tausend Dingen und bilden doch eine Einheit. Im Jahr 2010 sind sie in einem voluminösen Band von 1422 Seiten integral erschienen, nachdem zuvor schon zwei Auswahlausgaben erschienen waren.17 Die Gesamtausgabe sieht ein bisschen aus wie eine Bibel, und in gewissem Sinn ist sie auch Kurt Martis Bibel. Es passt zur Bescheidenheit des Autors und zu seiner Fähigkeit zum understatement, dass er sagt, er selbst hätte diese Texte nicht integral publiziert, sie seien ihm zu ungleichgewichtig, und mit einigen sei er gar nicht mehr zufrieden. Martis Skrupel in Ehren: Immer deutlicher zeigt sich inzwischen, dass die Notizen und Details zu den wichtigsten Werken der Schweizer Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg gehören. Sie umspannen 44 Jahre. Es gibt kein vergleichbares Zeitzeugnis dieser Epoche. Es wurde von der Kritik höchst positiv aufgenommen und erlebte mehrere Auflagen. Doch es ist bis heute noch nicht annähernd in seiner Bedeutung für die Schweizer Kultur-, Literatur- und Zeitgeschichte erkannt worden. Kurt Marti zeigt sich uns hier als unbestechlicher Seismograph seiner Epoche. Er spricht von Theologie und Literatur, Philosophie und Ökologie, Politik und Gesellschaft. Im – nicht nur im Titel – an Johann Peter Hebel gemahnenden Artikel Notizen, die Ewigkeit betreffend formuliert Marti auf knappen vier Seiten die Summe seiner Theologie.18 Gedankentiefe und ein glasklarer Stil gehen in ihr die schönste Verbindung ein.

16 Charles Linsmayer: Kurt Marti: Ein Lexikon zu seinem Werk. In: Der Bund, 27. 1. 1996, S. 72. 17 Kurt Marti: Notizen und Details 1964-2007. Zürich 2010. Auswahlausgaben zuvor: ders.: Herausgehoben. Stuttgart 1990; ders.: Das Lachen des Delphins. Zürich 2001. 18 Kurt Marti: Notizen und Details. Zürich 2010, S. 1390 ff.

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Als aufmerksamer Spaziergänger nimmt Kurt Marti die Veränderungen seiner Umwelt genau wahr. Sie sind ihm Anlass zur Sorge. Er beobachtet, wie einstmals blühende Landschaften zu scheußlichen Agglomerationen werden. Er sieht, wie Wohnsilos und Shoppingcenter sich breitmachen. Er beobachtet aber auch den Verlust des Menschlichen durch Automatisierung und Gewinnoptimierung. Konsequent bekämpft er die Banalisierung und Verhässlichung der Welt durch eindimensionales Effizienzdenken auf der einen und dumpfe Konsumhaltung auf der anderen Seite. Kurt Marti war ein »Grüner«, lange bevor es den Begriff und die Partei gab, und er blieb dabei, auch als der Wind sich drehte und es Mode wurde, die Warnungen vor der Zerstörung unserer Umwelt als Spinnereien von hysterischen Aktivisten anzusehen. Zum Waldsterben und zur Abrüstung, zum Asylrecht und zur Gentechnologie hat Marti in der Reformatio Gedanken geäußert, die nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Und wenn ihn heute die Ungleichgewichtigkeit der Texte in »seiner« Bibel stört, so darf mit einem Augenzwinkern festgehalten werden, dass schließlich auch die Bibel selbst kein Werk aus einem Guss ist. Aufmerksamkeit gegenüber allem Lebendigen hat Kurt Marti in seinem ganzen Denken und Wirken bestimmt. Die Vielfalt der Natur hat ihn immer wieder beglückt und sein Bild von der Schöpfung bestimmt. Und auch für Menschen jeglicher Couleur hat er immer ein großes Herz bewiesen: Er hat sich für bekannte Querköpfe wie den kommunistischen Kunstwissenschaftler Konrad Farner und den Dichter Kuno Raeber eingesetzt, aber auch für zahllose namenlose Sonderlinge. Alles Ungewöhnliche machte ihn neugierig, und es fand Niederschlag in seinen Texten. Das gilt ganz besonders für sein lyrisches Werk. In ihm schießen Tradition und Innovation zusammen. Als Dichter kennt Kurt Marti keine Furcht. In seinem lyrischen Meisterwerk, dem 1980 bei Luchterhand erschienenen Gedichtband Abendland, finden wir von Paraphrasen auf biblische Texte bis zum dadaistischen Lautgedicht schlichtweg alles. In seinem unser vater lesen wir da folgende Verse: »unser vater / der du bist die mutter / die du bist der sohn / um anzuzetteln / den himmel / auf erden.«19 Die Verse, die dafür plädieren, dass Gott zu einem Tätigkeitswort werde, sind wie das nachapostolische bekenntnis an einem vergleichsweise verborgenen Ort erstmals erschienen – in einem Lyrikband – und wurden für die kirchliche Erneuerung doch höchst bedeutend.20

19 Kurt Marti: Abendland. Darmstadt / Neuwied 1980, S. 50. 20 Ebd., S. 92.

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Den Himmel anzetteln auf Erden: Auf diese Formel könnte man Kurt Martis ganzes Werk bringen. Denn er verfügt, wie sein kluger Interpret Samuel Moser einmal geschrieben hat, über »die heitere Entschlossenheit, Hell und Dunkel, Luzidität und Härte in der Waage zu halten«.21 Er ist ein sanfter Aufrührer. Er macht keinen Lärm, aber er gibt auch keine Ruhe. Mit dem gemäß Ernst Bloch schlecht Vorhandenen zufriedengeben mag er sich nicht. In mancher Hinsicht ist Kurt Marti ein wandelndes Paradoxon. Er ist ein Bewahrer und deshalb ein im Wortsinn Konservativer. Doch sein Herz hat immer links geschlagen. 1968 gehörte er zu der entwicklungspolitisch engagierten Erklärung von Bern; 1971 zählte er zu den Gründern der fortschrittlichen Schriftstellervereinigung Gruppe Olten. Mit der SVP konnte er nie etwas anfangen. Er hat ihr nie geglaubt, dass sie tatsächlich die Anliegen des Volkes vertrete, und er hat sein Misstrauen immer wieder differenziert begründet. Er war nie ein Parteigänger, doch seine Sympathien lagen bei den Anliegen der Sozialdemokraten und der Grünen. Demagogen verachtete er nicht nur; er konnte sie auch gar nicht ernst nehmen. 2007 sagte er in einem Interview mit der Berner Zeitung: »Ich muss lachen, wenn ich im Fernsehen sehe, wie Christoph Blocher mit den Armen in der Luft herumrudert. Er ist eine Art Clown, Ueli Maurer sein Clownpartner. Sie spielen eine Komödie.«22 Ein weiteres Paradox ist folgendes: Kurt Marti hat viel dafür getan, die Kirche zu reformieren. In vielem fühlte er sich dabei mit der deutschen Theologin Dorothee Sölle verwandt. »Das Recht, ein anderer zu werden«, hat auch ihn beschäftigt.23 Damit hat er oftmals Widerspruch hervorgerufen. Doch seine Wünsche nach Erneuerung zielten nie auf Anpassung an den gerade aktuellen Zeitgeist. Den hat er immer verachtet. Marti ist sein Leben lang für eine weltoffene, tolerante Kirche eingetreten, aber nie für »Christentum light«. Die »kommode Religion«, die schon Georg Büchner subtil verspottet hat,24 ist ihm ein Gräuel. Glauben ist für ihn nie ein Wellnessprogramm gewesen. Deshalb hat

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NZZ, 23. 3. 2005, S. 45. »Ich weiss nicht, was Gott vorhat«, S. 35. Dorothee Sölle: Das Recht ein anderer zu werden. Darmstadt / Neuwied 1971. Georg Büchner, Leonce und Lena. Werke und Briefe. München 1980, S. 118: Valerio erlässt ein Dekret, »dass Jeder der sich rühmt sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion!«

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er sich auch nie den trägen Bedürfnissen indifferenter Mehrheiten angebiedert. Kurt Marti schreibt Gedichte von unaufgeregter Überlegenheit, doch der Gestus des Überlegenen ist ihm fremd. Viele betrachten ihn als Weisen. Diese Zuschreibung weist er von sich. »Ich wäre nicht weise, wenn ich sagen würde, ich sei weise«,25 hat er unlängst auf seine hintergründige Weise in einem Gespräch gesagt. Es passt auch zu ihm, dass er seine Situation als alter Mann illusionslos schildert. Im Jahr 2007 ist, wie erwähnt, seine über alles geliebte Lebensgefährtin gestorben. »Du stirbst dann bitte nicht vor mir.« Das haben sich die beiden alten Liebenden nach Kurt Martis Erinnerung oft gesagt. Keiner von beiden wollte alleine übrigbleiben. Am Ende war es dann eben er. Seither fühlt er sich in einem echolosen Raum. Er lebt in der Erinnerung. »Meine Zeit ist jetzt die Vergangenheit«, sagt er, und er scheut sich auch nicht vor dem Satz »Ich bin jetzt eigentlich fällig«.26 Vor dem Tod fürchtet sich Kurt Marti nicht, vor dem Sterben allerdings schon. Dieses gehört für ihn zum Leben, nicht zum Tod. Mit Matthias Claudius, der Theologe und Dichter war wie er selbst, hält er sich an dessen an Gott gerichtete Bitte: »Wollst endlich sonder Grämen / aus dieser Welt uns nehmen / durch einen sanften Tod.«27 Der modernen Medizin steht Kurt Marti kritisch gegenüber. Nach seiner Überzeugung verlängert sie nicht das Leben, sondern lediglich das Sterben. Er spricht denn auch pointiert nicht von lebensverlängernden, sondern von sterbensverlängernden Maßnahmen. Für sich selbst erwartet er nicht mehr viel. Er wünscht sich, sterben zu können, bevor er ganz erblindet. Doch auch am späten Abend seines Lebens fühlt er sich noch immer gefangen in jenem Schuldzusammenhang alles Lebendigen, als den Walter Benjamin unsere Existenz gekennzeichnet hat: »Es gibt viele Leute, denen ich etwas schuldig geblieben bin«, hat Kurt Marti in einem späten Interview gesagt. »Ich kann mir nicht vorstellen, an den Punkt zu kommen, wo ich niemandem mehr etwas schuldig bin.«28 Das sagt notabene einer, der als Pfarrer und Dichter, als Ehemann und Familienvater in guten Treuen seine Pflicht getan hat, der sich nun am Ende seines Weges angekommen fühlt und der für sich in schöner Selbstbewusstheit das Wort »Greis« in Anspruch nimmt. Hilflose

25 »Ich bin jetzt eigentlich fällig«. In: Der Bund, 28. 3. 2011. 26 Ebd. 27 Matthias Claudius: Abendlied. In: ders.: Werke. Asmus omnia sua secum portans oder: Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten. Hg. v. Urban Roedl. Stuttgart 1960, S. 264. 28 Marti, »Ich glaube nicht, dass ich auferstehe«, S. 35.

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Euphemismen wie »Senior« findet der »untaugliche Witwer«, wie er sich selber nennt, verfehlt. Er regt sich indes nicht in heiligem Zorn über sie auf, sondern belegt sie heiter mit dem herrlichen Wort »Schneckentänze«. Auf sein Leben kann er mit dem paulinischen Wort »simul iustus et peccator« zurückblicken. Beide Komponenten brauchte es, damit sein Werk entstehen konnte.29 Kurt Marti hat sich in seinen späten Jahren wiederholt mit unerschrockenen theologischen Gedanken exponiert. So hat er mehrfach – nicht zuletzt in den Notizen, die Ewigkeit betreffend – festgehalten, dass er nicht an die Unsterblichkeit des einzelnen Menschen glaube und dass er eine solche für sich selbst auch gar nicht ersehne. Das hat zu großen Diskussionen geführt. Wie kann ein evangelischer Pfarrer so etwas sagen? So fragten viele irritiert in Leserbriefen. Doch Kurt Marti blieb bei aller ihn bezeichnenden Freundlichkeit in der Sache bestimmt. Er sah keinen Anlass, sein Lebensgefühl aus Gründen gefälliger Erbaulichkeit zu verleugnen. Und er wusste, dass er gute Argumente auf seiner Seite hatte. Generationen von Menschen haben die Frage nach der Existenz Gottes gleichgesetzt mit jener nach ihrer individuellen Unsterblichkeit. Noch der große spanische Denker Miguel de Unamuno hat im frühen 20. Jahrhundert angesichts der Vorstellung von der absoluten Sterblichkeit des Menschen mit rhetorischer Emphase gefragt: »Wozu dann Gott?«30 Kurt Martis Verdienst ist es, diese beiden Fragen auseinanderdividiert zu haben. Er bestaunt und preist die Schöpfung unabhängig von seinem eigenen Fortleben. Er tut dies – in gewisser Weise wie Gottfried Keller, der allerdings von Ludwig Feuerbach her kam und nicht von Karl Barth – als Wesen, das sich seiner Vergänglichkeit bewusst ist. Mehr noch: als Wesen, das gar nicht unvergänglich sein will. »Sólo Dios basta«: Diese Formel der spanischen Mystikerin Teresa von Ávila hat Marti sich zu eigen gemacht. Die Begierde nach einem individuellen ewigen Leben hält er für hoffärtig und damit für letztlich unchristlich. Er hat auch einen ganz anderen Begriff von Ewigkeit zu denken gewagt als den in unserem umgangssprachlichen Verstand vor- und zuhandenen, welcher Ewigkeit einfach als Zeit ohne Ende versteht. Dieser Auffassung widerspricht Kurt Marti. Er sieht die Ewigkeit als eine Kategorie jenseits der Zeit, als etwas, das wir gar nicht denken können. In der Ewigkeit gibt es für ihn – wie für Angelus Silesius – keine gerichtete Zeit, keinen Anfang und kein Ende, kein Vorher und Nachher. Für uns als in Sein und Zeit gefangene Wesen steht diese Kategorie deshalb gar nicht zur Verfügung.

29 Ebd. 30 Zitiert nach: Die Zeit, 31. 3. 1957.

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Sie gehört Gott allein. »Wir sind Zeitlinge«,31 hat Kurt Marti mit einem schönen Wort gesagt. Für uns Menschen ist der Begriff Ewigkeit nur ein Markstein für den Punkt, an dem unsere Vorstellungskraft nicht mehr weiterkommt. Ist das nun aber wirklich so? Ja und nein. Denn an diesem Punkt der Reflexion und Spekulation kommt für Kurt Marti die Mystik ins Spiel, namentlich jene des deutschen Mittelalters. Mit Meister Eckhart ist der Dichter und Gottesmann der Auffassung, dass Ewigkeit sich schon im Hier und Jetzt ereignen kann, mitten in der Zeit und doch jenseits von ihr. In einzelnen entrückten Momenten können und sollen wir unsere Erfüllung finden und gleichzeitig unserer selbst ledig werden. »Wer zu Gott kommt, entfällt sich selbst«,32 hat Meister Eckhart geschrieben. Wenn uns das geschieht, werden wir befreit. Dann müssen wir nicht mehr immerdar »Ich« sagen, sondern können unsere Vergänglichkeit annehmen und, wie es einer der schönsten Ausdrücke unserer Sprache uns anbietet, »das Zeitliche segnen«. Ohnehin ist Kurt Marti mit der deutschen Mystik vertraut und über tausend unsichtbare Fäden verbunden. »Grosser Gott klein«,33 heißt eine seiner Formeln. Er weiß, dass sich das Weltall in der einzelnen Zelle spiegelt und umgekehrt. Und er weiß auch, dass Gott nicht ein fernes Objekt darstellt, sondern uns näher ist als unsere Haut, als unser Herz, als unsere Halsschlagader. Deshalb sind wir nicht nur dem Tod zu jeder Stunde gleich nah, sondern auch dem Leben. Stets gehen wir, noch einmal mit Ernst Bloch zu reden, durch das Dunkel des gelebten Augenblicks.34 Dabei bleiben wir auf rätselhafte Weise immer wir selbst. Obwohl wir uns nicht haben und deshalb erst werden.35 Hannah Arendt hat den schönen Satz formuliert, dass das Ich nicht altert.36 Dabei rekurrierte sie, ob es ihr bewusst war oder nicht, auf Meister Eckhart, welcher der Seele die Fähigkeit altersloser Präsenz zusprach.37 Was aber will uns die Formulierung sagen? Zum einen vielleicht, dass der alternde, verfallende

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Marti, »Ich glaube nicht, dass ich auferstehe«, S. 35. Zitiert nach Marti, »Ich bin jetzt eigentlich fällig«. Marti, Abendland, S. 82. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M. 1954-1959, Bd. 1, S. 343 ff. Ders.: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt a. M. 1970, S. 7. Hannah Arendt: Das Zitat lässt sich nicht zweifelsfrei nachweisen. Die häufigste im Internet kursierende Formulierung lautet: »Das denkende Ich bleibt lebenslang alterslos, wird älter, ohne zu altern.« 37 Meister Eckhart. Der Gedanke taucht in seinen Predigten und Schriften immer wieder auf, vgl. die Gesamtausgabe von Josef Quint und Georg Steer. Stuttgart 1958-2003. Kurt Marti zitiert mit Vorliebe den Eckhart-Satz: »Wer zu Gott kommt, entfällt sich selbst.«

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Körper, in dem wir gefangen sind, nicht das einzige und letzte Wort hat. Doch das klingt schon wieder nach Trost und Beschwichtigung – nach Begriffen also, gegen die Kurt Marti allergisch ist. Vermutlich geht es sowohl Meister Eckhart wie auch Hannah Arendt um etwas anderes: um die Erkenntnis nämlich, dass wir uns immer unmittelbar zur Welt verhalten: in jedem Alter, in jedem Zustand, in jeder Freude oder Not. Zu Kurt Martis fundamentaltheologischen Gedanken kommen nun aber auch noch ganz praktische Überlegungen. Er kann sich nicht vorstellen, dass alle Menschen, die jemals gelebt haben, sich einst im Himmel wieder begegnen. Mit Karl Barths wunderbar heiterem Aperçu gibt er zu bedenken, dass wir nicht nur den Lieben, sondern auch den Bösen in ihrer sattsam bekannten Gestalt wiederbegegnen würden.38 Können wir das – und dies ist natürlich die Implikation Karl Barths – denn ernsthaft wünschen? Jesu Auferstehung hält Kurt Marti für ein einzigartiges Ereignis, das wir nicht mit unseren kleinlichen und egoistischen Überlebenswünschen in Verbindung bringen sollten. »Gott weiss, was er mit mir macht«, sagt er, »und ich weiss es nicht.«39 Dabei ist ihm bewusst, dass er in ein lebenslanges Paradoxon eingespannt ist. Der Tod ist im christlichen Glauben nicht etwas, das mit der Gelassenheit der Stoa hinzunehmen ist, sondern der letzte Feind, der besiegt werden muss. So steht es in der Bibel. Da ist ein Kampf auszufechten. Gelassenes Beiseite-Sehen ist nicht genug. Gleichwohl liebäugelt Marti mit dem berühmten Satz Epikurs: »Solange wir da sind, ist der Tod nicht da; und wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr da.«40 Das ist ein treffliches Beispiel von Gelassenheit. Doch unsere zitternden Herzen kann es letztlich nicht beruhigen. Wir sind in der Welt und haben Angst. An jedem Ort. Zu jeder Stunde. Deshalb richtet sich unsere Sehnsucht auf die Überwindung der Welt, und sei es im Sinn des augustinischen »credo quia absurdum«.41 Im schmalen Band Fromme Geschichten, der 1994 erschienen ist, im Radius Verlag (Stuttgart), wo Kurt Marti nicht weniger als fünfzehn Bücher theologischen oder seelsorgerischen Inhalts publiziert hat, gibt es eine so anmutige wie hintersinnige Geschichte über die Schönheit des Glaubens. Einmal mehr geht es um die religiöse Erfahrung nicht als zerebrale Leistung, sondern als sinnliches Erlebnis, ja geradezu als

38 Karl Barth: Nach einer Mitteilung von Kurt Marti. 39 Marti, »Ich glaube nicht, dass ich auferstehe«, S. 35. 40 Epikur: Brief an Menoikeus. In: Olof Gigon (Hg.): Epikur, Von der Überwindung der Furcht. Zürich 1983, S. 101. 41 Das geflügelte Wort wurde Tertullian und Augustinus zugeschrieben, lässt sich aber bei beiden nicht nachweisen.

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Liebesakt. Im Himmel begegnen sich Meister Eckhart und Karl Barth: ein heiterer und ein strenger Geist. Naturgemäss haben sie es nicht ganz leicht miteinander. Doch allmählich wird Karl Barth klar, wie verwandt Eckharts Mystik und die Himmelsmusik seines geliebten Wolfgang Amadeus Mozart einander im Grunde sind. Im Himmel ist aller gelehrte Disput überwunden, da wird alle Wissenschaft zur »Theopoesie«, zur Gottesdichtung.42 Das ist eine heitere Phantasie. Man mag sie als naiv bezeichnen. Doch Kurt Marti ist nicht nur ein Mann des Glaubens, sondern auch einer des Zweifels. Einer, der zugleich glauben und den Zweifel aushalten will. Als Leser Ludwig Hohls ist er ein Feind jeder voreiligen Versöhnung. Er will keinen faulen Frieden. Er hält daran fest, dass wir über das Jenseits platterdings nichts wissen. Und er lobt nicht nur die Vielfalt der Schöpfung, sondern auch jene der Religionen. »Gott liebt das Monopol nicht«, hat er einmal gesagt. »Es hätte ihm nicht gefallen, wenn alle Menschen Christen geworden wären.«43 Der Gedanke, dass es in Religionen wie dem Buddhismus eine Spiritualität ohne Gott gibt, schreckt ihn nicht. Im Gegenteil: Er sieht die Schönheit des Gedankens, auch wenn es nicht der seine ist. Diese Offenheit hat viele Menschen, auch solche, die Kurt Marti zugetan sind, irritiert. Sie haben sich, wie schon bei seiner Skepsis gegenüber der individuellen Sterblichkeit, gefragt: Wie kommt ausgerechnet ein evangelischer Pfarrer zu so einer Auffassung? Die Einwände sind verständlich. Doch Kurt Marti hat einmal mehr triftige Argumente gegen sie. Immer wieder hat er gezeigt, dass die Idee von der Unsterblichkeit des Menschen jung ist. Im Alten Testament ist von ihr noch keine Rede. Und auch im Neuen Testament wird sie nicht fraglos etabliert. Weder die Auferweckten noch der auferstandene Jesus erzählen ein Wort über das Jenseits. Es gibt nur die eine Ausnahme, ein unbegreifliches Wunder, und ansonsten ein großes Schweigen. Im Zentrum der evangelischen Theologie sieht Kurt Marti nicht Weihnachten, sondern Ostern. Weihnachten würdigt er zwar als wichtiges Symbol, weil in der Geburt Christi Gott zum Menschen wird; er sieht das Fest aber als relativ späte Erfindung in der Geschichte der Christenheit. Ostern ist dagegen entscheidend für ihn. »Ohne die Auferstehung an Ostern«, hat er gesagt, »gäbe es kein neues Testament, kein Christentum und keine Kirche.«44

42 Kurt Marti: Fromme Geschichten. Stuttgart 1994; siehe auch: Jürg Scheuzger: Gott lacht. In: NZZ, 19. 1. 1995. 43 Marti, »Ich bin jetzt eigentlich fällig«. 44 Marti, »Ich glaube nicht, dass ich auferstehe«, S. 35.

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Wie in jedem Jahrzehnte überspannenden Werk gibt es auch in dem von Kurt Marti Schwankungen. Da sind Höhen und Tiefen. Nicht alles ist in gleichem Maße gelungen. Wie denn auch, bei so vielen Bänden, so vielen Anlässen, so viel geschäftiger Eile! Diese Schwankungen sehen wir übrigens sogar bei Johann Peter Hebel, dem neben Kleist und Kafka größten Meister der kleinen Form in der Geschichte der deutschen Literatur. Auch bei Hebel ist die Textur, wenn er predigt, nicht so dicht, wie wenn er Lyrik oder Prosa schreibt. Wie sollten wir gegenüber den Pfarrern mit ihrer Pflicht zu allsonntäglicher Produktion nicht nachsichtiger sein als gegenüber den Meistern des gemeißelten Verses? Und doch ist da eine bemerkenswerte Konstanz, bei Hebel so gut wie bei Marti. Sie ist begründet in der Authentizität der beiden Autoren. Der eine wie der andere mögen sich bisweilen geirrt, sie mögen das eine oder andere Mal den strengsten Anforderungen der literarischen Form nicht genügt haben. Aber falsche Töne gibt es in beider Werk nicht. Die Gedichte und Essays, die Erzählungen und Aphorismen, die Predigten und Notizen sind vom gleichen Geist der Redlichkeit durchwirkt. Johann Peter Hebel wie Kurt Marti wollten uns nie blenden, und sie mussten es auch nicht. Vor der Berufskrankheit pastoraler Selbstzufriedenheit bewahrte Kurt Marti sein Humor. Nie machte er großes Aufheben von sich. Und diese Tugend hat er zeit seines Lebens bewahrt. In seinen späten Notaten ist er voller Selbstironie. So hat er mit souveräner Bescheidenheit festgehalten, dass er keiner Ablenkung mehr bedürfe, weil er ohnehin schon immer zerstreut sei. Konkurrenten fürchtet er nicht mehr, weil die ja, wörtlich genommen, bloß Mitläufer sind – und er selbst läuft inzwischen sehr langsam. Er stellt sich vor, dass er am Ende der Welt vor einem Automaten steht, der seine persönliche PIN-Nummer verlangt. Die aber will ihm partout nicht mehr einfallen. Wie gelangt er nun in die Ewigkeit? Es passt zu Kurt Marti, dass er nie systematisch Tagebuch geführt hat. Diejenigen Tagebücher, die er publiziert hat, galten dem Zeitgeschehen, nicht den kleinen Schwankungen persönlicher Befindlichkeit. Die fand er nie bemerkenswert. Wir mögen das bedauern. Er fand seinen privaten Alltag einfach nicht wichtig genug. Sein öffentliches Leben, seine politischen Wahrnehmungen hat er dagegen sehr wohl aufgezeichnet, beispielsweise im Buch Zum Beispiel: Bern 1972.45 Damals verweigerte ihm der Regierungsrat des Kantons Bern aus politischen Gründen eine Professur für Homiletik an der Evangelisch-theologischen Fakultät, ob-

45 Kurt Marti: Zum Beispiel: Bern 1972. Ein politisches Tagebuch. Darmstadt / Neuwied 1973.

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wohl er zur Wahl vorgeschlagen war. Der Grund hierfür lässt uns heute nur noch den Kopf schütteln: Kurt Marti hatte damals ein Gespräch mit dem Kunstwissenschaftler und bekennenden Kommunisten Konrad Farner publiziert. Zudem hatte er einen Dienstverweigerer erfolglos vor dem Divisionsgericht verteidigt. So etwas genügte damals, um einen verdienten Mann zur persona non grata zu machen! Später wurde Marti von derselben alma mater zum Ehrendoktor ernannt. Er hat darin vergnügt eine kleine Rache der Universität am Regierungsrat gesehen. In Kurt Martis schönsten Texten verbinden sich Tiefsinn und Leichtigkeit. Bereits 1971 publizierte er das herrliche kleine Werk Abratzky oder Die kleine Brockhütte mit dem Untertitel Nachträge zur weiteren Förderung unseres Wissens.46 Es war eine köstliche Persiflage auf den Wissenschaftsbetrieb. Der Sinn für den höheren Unsinn verließ Kurt Marti aber auch in späteren Jahren nicht: Im 2004 publizierten Gedichtband zoé zebra finden wir beispielsweise folgende Verse: »es zottelt / ein wölklein / heiter / noch weiter / ins blau / und weiss / doch genau / was ihm droht / denn das blau / ist sein tod.«47 alte weise heißt dieses filigrane Gebilde. Es spielt mit Reimen von kindlicher Schlichtheit und Sprachmagie, es stellt ein heiteres Bild vor uns hin, und gleichwohl lässt es uns nicht los. Es sucht und findet die schöne Form. Und auch das begegnet uns immer wieder bei Kurt Marti: Er entdeckt Schönheit, Vielfalt, Ebenmaß in der Natur. So widersprüchlich sie auch sein mag: Fressen und Gefressen-Werden ist nicht ihr einziges und letztes Wort. Es gibt, wie der Anarchist Pjotr Alexejewitsch Kropotkin unermüdlich reklamiert hat, auch gegenseitige Hilfe. Und es gibt einen Überschuss an Schönheit. Denken wir nur an die Schmetterlinge! In diesem Punkt trifft sich Kurt Marti bisweilen mit dem Konzept der Physikotheologie, zu der Paul Michel eine so kluge und tiefsinnige Studie vorgelegt hat.48 Die Gesetzmäßigkeit, die Schönheit und Rätselhaftigkeit der Natur sollten wir staunend, dankbar, neugierig anschauen – auch wenn wir uns manchmal fragen müssen, ob wir wirklich nur ein unschuldiger Teil der Natur sind oder – wie Kurt Marti es einmal angedeutet hat – nicht vielleicht sogar die Lunte, die Gott an seine irdische Schöpfung gelegt hat.49 Keineswegs bloße Betrachter also, und interesselose schon gar nicht, sondern im

46 Ders.: Abratzky oder Die kleine Brockhütte. Nachträge zur weiteren Förderung unseres Wissens. Lexikon in einem Band Darmstadt 1971. 47 Ders.: Zoé Zebra. Gedichte. Zürich 2004, S. 22. 48 Paul Michel: Physikotheologie. Ursprünge, Leistung und Niedergang einer Denkform. Neujahrsblatt auf das Jahr 2008. Hg. von der Gelehrten Gesellschaft Zürich. Zürich 2008. 49 Marti, Zoé Zebra, S. 74.

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Schuldzusammenhang alles Lebendigen Handelnde und damit, mit Goethe zu sprechen, Verantwortungslose. Wir bleiben eingespannt in den offenen Prozess der Schöpfung. Bewegung, Entwicklung. Verwandlung ist deren Prinzip. Das Leben ist, nochmals mit Kurt Marti gesprochen, ein zäher, verrückter Wildling. Von da aus plädiert der Dichter für einen Gott, der Liebe ist. Mutig und anmutig tut er das, fromm und frei. Nicht für einen Gott der Macht, sondern für einen der Beziehungen. Für einen Schöpfer, der sich nicht von seinem Werk abgewandt hat, sondern im Gegenteil von Weltleidenschaft geprägt ist. Für Kurt Marti ereignet sich das Wunder im Alltag. In der Begegnung mit dem geliebten Gegenüber. Im Staunen über alles Lebendige. Im unauflöslichen Ineinander von Lebensfülle und Todesnähe. Im Gedichtband zoé zebra finden wir folgende Verse: »heut nimmt mich wunder / ich weiss nicht was – / und wüsst ich was: / nähms mich noch wunder?«50 Kunst lebt vom Spiel zwischen Freiheit und Ordnung. Natürlich hat sie ihre Formen und Gesetze. Aber sie ist nie bloß Mathematik. Da bleibt etwas übrig, das nicht aufgeht. Das nicht hineinpasst. Ein frecher kleiner Rest. Den dürfen wir freilich nicht bloß für sich betrachten. Wir müssen ihn im Zusammenhang des Ganzen sehen. Nirgends im Werk von Kurt Marti lässt sich diese Probe aufs Exempel besser anstellen als in seinem 1995 erschienenen Buch Im Sternzeichen des Esels, das der Germanist Heinz Schafroth so trefflich gewürdigt hat.51 Sätze, Sprünge, Spiralen kündigt es im Untertitel an. Damit werden wir schon darauf eingestimmt, dass der Dichter mit uns Achterbahn und Schlitten fahren wird. Munter mischt er Sinn und Unsinn, Ernst und Unernst, Mut und Übermut. Gern schiebt er »Wortkramläden« zwischen seine Texte. Doch gerade in diesem Umfeld findet er zu ungeahnter Gedankentiefe, etwa, wenn er für die Wiedereinführung von Beinhäusern plädiert, oder wenn er erzählt, wie einer versucht, seine Angst aus dem fahrenden Zug zu werfen, und wie die Angst triumphierend zurückmeldet, dass ihr dergleichen gar nichts anhaben könne. Es ist eine so absurde wie bannende kleine Geschichte.52 Der Band Im Sternzeichen des Esels, der laut Heinz Schafroth »so durchlässig und dicht zugleich war«53 wie noch keines von Martis Büchern, erinnert an ein Bild von Paul Klee. Es zeigt eine weite blaugrüne Unter-

50 Ebd., S. 38. 51 Heinz Schafroth: Neue Prosa von Kurt Marti. In: Basler Zeitung, 24. 11. 1995, S. 44. 52 Kurt Marti, Im Sternzeichen des Esels. Sätze, Sprünge, Spiralen. Zürich 1995, S. 67. 53 Schafroth, Neue Prosa von Kurt Marti.

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wasserwelt, in der sich ein winziger roter Fisch tummelt. Er fällt wegen seiner Farbe auf, obwohl er so klein ist. Und weil er allein ist. Das ist die poetologische Methode Kurt Martis in seinen wagemutigen Texten: Er schildert uns die geläufige Welt. Sie ist ein weites blaugrünes Meer. Und plötzlich entdecken wir da einen winzigen roten Fisch. Das ist der entscheidende Gedanke, der uns aus der vertrauten Welt hinausführt. Es ist ein weiter Weg von Kurt Martis frühen, 1959 erschienenen Republikanischen Gedichten zu seiner späten Lyrik. Mancherlei Wandlung beobachten wir da. Und doch bleibt sich der Dichter treu. In seiner Liebe zum Sprachspiel etwa, in seiner Lust, Wörter auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen. Wir verdanken ihm zahlreiche Wort-Neuschöpfungen, vom »Landhimmelleib«54 und dem »Laufschatten«55 bis zum »Lichtfinger«56 und dem »Schattengewog«.57 Wörter wie »menschenwund«58 und »totentreu«59 sind uns durch seine Vermittlung lieb geworden. Wir kennen Marti als überschwänglichen Sprachschöpfer. Doch dann sehen wir ihn plötzlich wieder als einsamen Menschen am Rand des Schweigens, der allem »Wortstaub«60 enträt. Beides gehört zu ihm. Im Jahr 2010 hat Kurt Marti nochmals einen so schmalen wie eindrücklichen Band vorgelegt. Heilige Vergänglichkeit heisst er, und schon der Titel ist eine Provokation.61 Der Autor lebt damals seit drei Jahren allein. Seine Gefährtin fehlt ihm. Er gedenkt ihrer in Dankbarkeit. »Ich wurde geliebt, also war ich«, schreibt er in Anspielung auf Descartes. Sentimental wird er aber nicht. Im Gegenteil. Er wagt Sätze wie die folgenden: »Wer kein Heim mehr hat, geht in ein Heim. Was tut er dort? Wartet auf seinen Heimgang.« Das klingt nach Galgenhumor. Doch Kurt Marti geht es in diesen »Sätzen« um etwas Ernstes, nämlich um die Bekräftigung seiner Bejahung der Vergänglichkeit. Sie ist vom Schöpfer gewollt, sagt er, und deshalb heilig. Das ist eine mutige, ja verwegene Formulierung. Sie hat den Wortlaut des apostolischen Glaubensbekenntnisses gegen sich. Darin formuliert die Christenheit ihre theologische Summe. Es schließt in der evangelischen Fassung mit den Worten: »Ich glaube an den heiligen Geist, die

54 55 56 57 58 59 60 61

Kurt Marti, da geht dasein. gedichte. Hamburg 1993, S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 21. Ebd., S. 28. Marti, Zoé Zebra, S. 84. Ebd. Marti, da geht dasein, S. 28. Kurt Marti: Heilige Vergänglichkeit. Stuttgart 2010.

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heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und an das ewige Leben.« Diesen Wortlaut hat Kurt Marti in seinem nachapostolischen glaubensbekenntnis, das 1980 im Gedichtband Abendland erschienen ist, wie folgt abgeändert: »Ich glaube an den heiligen Geist / der uns zu Mitstreitern des Auferstandenen macht / zu Brüdern und Schwestern derer die für Gerechtigkeit kämpfen und leiden / Ich glaube an die Gemeinschaft der weltweiten Kirche / an die Vergebung der Sünden / an den Frieden auf Erden für den zu arbeiten Sinn hat / und an eine Erfüllung des Lebens über unser Leben hinaus.«62 Die Hoffnung auf das ewige Leben ist damit zurückgenommen, aber nicht negiert. Vielmehr ist sie in einem eigentümlichen Sinn bewahrt. Das hat keiner genauer erkannt als der große Theologe Eberhard Jüngel, der im Februar 2011 in einem emphatischen Artikel in der Zeit auf Martis »Spätsätze« reagierte. Er hat diese als Antworten gewürdigt, denen eine ganz besondere Weise des Fragens vorausgeht. »Hören auf das, was sich einem zuspricht«, nennt er sie mit einer Formulierung Martin Heideggers. In diesem Licht sieht er Martis »heilige, weil von Gott gewollte Vergänglichkeit«, die vom ewigen Augenblick – der Epiphanie – begrüßt wird.63 »Gott ist unser Jenseits. Das zu glauben genügt«, heißt es bei Marti.64 Das ist, wenn wir nur genau genug lesen, keine Absage an das apostolische Glaubensbekenntnis. Es bleibt das Vertrauen in Gott. Und es bleibt der erwähnte Gedanke von der Ewigkeit als eines für unseren weltlichen Zeitsinn inkommensurablen Begriffs. Diese Unfassbarkeit hat vielleicht keiner besser auf den Punkt gebracht als der Lyriker Gottfried Benn, bei dem wir die folgenden wunderbaren Verse lesen: »Die vielen Dinge, die du tief versiegelt / durch deine Tage trägst in dir allein / die du auch im Gespräche nie entriegelt, / in keinen Brief und Blick sie ließest ein. / die schweigenden, die guten und die bösen, / die so erlittenen, darin du gehst, / die kannst du erst in jener Sphäre lösen, / in der du stirbst und endend auferstehst.«65 Auferstehen und enden, enden und auferstehen: Sie sind in dieser Vorstellung eines. Kurt Marti hat wohl genau das gemeint, als er seine paradoxen Sätze zum Leben nach dem Tod formuliert hat. Das Leben des Individuums endet. Doch es bleibt – im mehrfachen Sinn, den Hegel

62 63 64 65

Kurt Marti: Abendland. Darmstadt / Neuwied 1980, S. 92. Eberhard Jüngel: »Ich wurde geliebt, also war ich«. In: Die Zeit, 3. 2. 2011, S. 58. Ebd. Gottfried Benn: Epilog 1949. In: Gesammelte Werke 1. Wiesbaden 1960, S. 343 ff.

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dem Wort zugedacht hat, aufgehoben in einer Existenz, von der es nichts weiß und in der es von sich nichts mehr weiß. Kurt Marti ist indes nicht nur ein Denker, sondern auch ein Spieler und ein Kämpfer. Seine Leichtigkeit und sein Mut gehören zusammen. Als Beispiel für seine Leichtigkeit mag das Gedicht Seiltänzerin gelten, notabene das Werk eines 83-Jährigen: »fasst / fuss / auf wenig / fusst auf / fast nichts / setzt / fuss / vor fuss / hoch / über / köpfen.« Oder denken wir an die heitere Ausgelassenheit der folgenden, an den Roman Die Riesin erinnernden Verse: »mich frass / das ungeheuer / zärtlichkeit / hurra hurra / jetzt bin ich / nicht mehr da.«66 Zum Glück ist Kurt Marti aber immer noch da. Er begleitet uns in vielerlei Hinsicht. Als Visionär und Dichter, als tiefgründiger Theologe, aber auch als wacher Zeitgenosse. Wir können so viel von ihm lernen. Zum Beispiel dies, und damit kommen wir zum Kämpfer: In unserer Leistungsgesellschaft ist eine schleichende Entsolidarisierung im Gang. Hier die krisenanfällige Karriere, dort das krisenanfällige Privatleben. Dazwischen gibt es fast nichts mehr. Wir brauchen aber, um glücklich zu sein, den Bezug zu einer Gemeinschaft, in welcher der Einzelne sich engagiert. Dafür meinen wir heute keine Zeit mehr zu haben, und das ist ein Elend. Gerechtigkeit und Frieden kommen nämlich nicht von allein oder von ungefähr. Ausbeutung und Armut werden nicht von selber überwunden. Die Zerstörung unserer Umwelt hört nicht auf, wenn wir nichts gegen sie unternehmen. Wir dürfen uns nicht nur um unser privates Wohlbefinden kümmern. Kurt Marti hat immer wieder betont, dass die Propheten des Alten Testaments keine verstiegenen Phantasten waren. Sie waren kritische Realisten, die zu verhindern suchten, was sie voraussagten. »Kehrt um, sonst kommt es schlimm heraus!« sagten sie. Das dürfen wir nicht vergessen. Kurt Marti ist neben vielem anderen ein Exponent der Befreiungstheologie, für den die Bibel ein Widerstandsbuch war und blieb. Ein Dialogiker in der Nachfolge Martin Bubers, der nicht den Bekehrten predigen wollte, sondern den Widerspruch suchte und fand. Gewiss: Im Alter ist er milder geworden. Doch täuschen wir uns nicht: Kurt Marti will uns nicht beruhigen. Er stachelt uns dazu an, mit Herz, Verstand und Sinn für eine bessere Welt einzutreten. Auch wenn wir dabei am Ende vielleicht wenig ausrichten: Wir sollten es zumindest versuchen. Gerade hier, gerade jetzt.

66 Marti, Zoé Zebra, S. 21 u. S. 43.

»Ich lasse mich nicht mehr aktivieren und präsentieren« Kurt Marti im Gespräch mit Stefan von Bergen* Herr Marti, denken Sie manchmal: Jetzt bin ich schon 93-jährig, und ich bin immer noch da? »Ich lasse mich nicht mehr aktivieren«1 Ja, ich komme mir vor wie ein Überzähliger, wie ein Überbleibsel aus dem letzten Jahrhundert. Woran merken Sie das? An allem. An mir selber. An meiner Umwelt, die mir fremd wird. Was befremdet Sie? Dass meine näheren Bekannten und Freunde nicht mehr da sind, weil sie gestorben sind. Man ist in meinem Alter allein. Mögen Sie als alter Mann überhaupt über das Alter reden, oder haben Sie keine Lust mehr auf dieses Thema? Das Alter und der Tod sind ein Thema, das man in meinem Alter halt vorgesetzt bekommt. Aber Sie können mit mir über alles reden, auch über etwas anderes als das Alter. Allerdings muss ich sagen: Ich bin über vieles nicht mehr im Bild. In der Zeitung stolpere ich über Abkürzungen, die ich nicht kenne. Die Technik verstehe ich nicht mehr. Zugang zum Internet habe ich keinen, das halte ich allerdings nicht für ein Problem. Meine Altersgruppe 50 plus spricht viel über das Älterwerden. Hört das mal wieder auf? Das lässt nach. Weil das Alter dann einfach da ist, mit all seinen Nachteilen. Dagegen kann man nichts machen. Man ist halt einfach alt, man kann vieles nicht mehr und versteht vieles nicht mehr. Ich akzeptiere das. Es gibt auch Dinge, die man nicht mehr tun muss, das finde ich angenehm. Übrigens sind Sie in meinen Augen noch jugendlich. Medien interviewen gerne alte Meister. Sind Sie so einer?

* Erstmals erschienen in der Berner Zeitung vom 21. 12. 2014. Der Abdruck erfolgt mit der freundlichen Genehmigung Kurt Martis und der Berner Zeitung / Stefan von Bergen.

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Ich bin kein Meister. Ich wüsste nicht, in welchem Bereich. Im Predigen und als Schriftsteller waren Sie stark. Ich schreibe nicht mehr. Und ich habe eher das Gefühl zu verblöden. Wie bitte? Sie reden zwar langsam, aber glasklar. Und ich halte Sie durchaus für weise. Was heißt schon weise? Man hat halt in meinem Alter viel erlebt und gesehen. Menschen, die kommen und gehen. Bewegungen und Moden, die kommen und gehen. Wenn man das mit einer gewissen Distanz sieht, kann man das vielleicht für Weisheit halten. Aber ich selber habe nie das Gefühl, ich sei weise. Ich habe wie gesagt eher das Gefühl zu verblöden. Aber man muss das auch mit Humor nehmen. Ich sitze manchmal da oder liege auf dem Bett und mache mich über mich selber lustig. Dann fallen mir so Reime ein. Zum Beispiel? Die letzte Zeit auf Erden ist dazu da, Erspartes loszuwerden. Schreiben Sie diese Reime auf? Nein. Die sind viel zu simpel und zu blöd. Im Simplen steckt manchmal Wahrheit und Klarheit. Vielleicht. Blickt man mit 93 großzügiger auf die Welt? Vielleicht weitblickender. Heißt weitblickend, dass man zum Beispiel denkt, dass Wladimir Putin, der gerade die Welt in Atem hält, in 10 Jahren weg ist vom Fenster? Ich halte Putin nicht für einen Bösewicht. Ich verstehe nicht, warum so viele Leute über ihn schimpfen. Putin vertritt natürlich russische Interessen. Aber das ist sein Recht. Indem wir ihn zum Schreckgespenst aufbauen, rufen wir alte Bilder des Kalten Krieges ab. Das finde ich blöd. Putin weitet dreist Russlands Einflusssphäre aus und hat der Ukraine die Krim entrissen. Ich habe die Krim immer als ein Stück Russland betrachtet. Aber vielleicht ist meine Kenntnis unvollständig. Zu Zeiten der Sowjetunion war mal ein Germanistikprofessor aus Kiew bei mir. Da entwichen mir die Worte: Sie als Russe. Er korrigierte mich, er sei Ukrainer. Da realisierte

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ich, dass wir im Westen eine falsche Vorstellung von Russland als feindlichem Block haben. Wir haben gar nicht realisiert, dass es ein Vielvölkerstaat ist. Ähnlich wird jetzt auch wieder Putins Russland als feindlicher Block gesehen. Putin trägt mit seiner Konfrontationspolitik kräftig dazu bei. Putin sieht aber auch, wie Russland von der Nato und dem Westen in die Defensive gedrängt worden ist. Das muss man sich auch vor Augen halten. Ich erinnere mich, dass US-Präsident Kennedy in der Kuba-Krise vor seinem Kabinett sagte, man solle sich in die Situation der Russen versetzen. Es ist eine Art Denktraining, nicht immer die eigene Position zu sehen. Sondern sich vorzustellen, was andere für Interessen und Sorgen haben. Das ist die richtige Einstellung dafür, miteinander zu verhandeln. Können Ältere das besser? Einer hat mal behauptet, alte Staatsmänner hätten weniger Kriege entfesselt als junge. Aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Putin ist 62. Ist das alt? Nein. Wie alt ist Frau Merkel? 60. Sie können dann zusammen die Pension feiern. Die zwei sind im Moment nicht gut aufeinander zu sprechen. Ich möchte einmal dabei sein, wenn die beiden miteinander reden. Ich möchte wissen, was sie sich sagen. Duzen sie sich? Sie haben ja viel miteinander zu tun, sodass man annehmen kann, dass sie eines Tages zum Du übergehen. Können sie offen miteinander reden? Ich stelle mir das schwierig vor. Aber es würde für einen guten Politiker sprechen, wenn er offen mit dem Gegner reden könnte. Insofern wäre Christoph Blocher in meinen Augen kein so guter Politiker. Warum nicht? Er braucht Feindbilder. Ich kenne Blocher nicht persönlich. Aber für mich ist er der Typus des Rechthaberpolitikers. Ein guter Politiker hält sich nicht an Feindbilder, sondern versucht die Realität zu sehen, die Realität der anderen. Wenn Sie zurückblicken, ist die Welt dann eher besser oder schlechter geworden?

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Als ich jung war während des Zweiten Weltkrieges, war die Welt in einem viel schlimmeren Zustand. Da haben wir heute vergleichsweise friedliche Zeiten. Letzthin hat mir der frühere Leiter des Schweizerischen Literaturarchivs eine Fotokopie meines ersten Artikels im Berner Bund aus dieser Zeit geschickt, vom September 1939. Worum ging es darin? Ich ging damals ins Gymnasium. Wir Gymeler erhielten den Auftrag, für das Militär in der Stadt Bern Velos zu requirieren. Was sich die Armeeführung damals dachte, ist mir unklar. Dass die Schweizer Soldaten mit dem Fahrrad den deutschen Panzern entgegenfahren sollten? Jedenfalls sammelten wir mit Begeisterung Velos ein, statt zur Schule zu gehen. Darüber habe ich im Bund ein Stimmungsbild geschrieben. War dieser Text der Beginn Ihrer Laufbahn als Autor? Fast gar. Wahrscheinlich waren viele Redaktoren des Bund im Grenzdienst, und die auf der Redaktion waren froh, dass da ein Junger einen Text einsandte. Kommt Ihnen dieser Text nach 75 Jahren fremd vor? Nein, eigentlich nicht. Ich stehe zu diesem Text und auch zur patriotischen Begeisterung, die ich damals hatte. Wir dachten: Jetzt machen wir etwas Gescheiteres, als Lateinvokabeln zu büffeln. Etwas für das Vaterland. Sie erleben zum 93. Mal Weihnachten. Bedeutet sie Ihnen noch etwas? Ja ja, sicher. Aber ich finde, dass sie überschätzt wird. Für die Christen ist das Hauptfest ja Ostern. Also nicht Christi Geburt, sondern seine Auferstehung. Weihnachten ist ja auch so kommerzialisiert worden, weil es eine leicht verständliche fromme Legende ist. Ostern ist das kompliziertere Ereignis. Eine Geburt ist eine Geburt, darunter kann man sich etwas vorstellen. Aber eine Auferstehung, was kann man sich da vorstellen? Feiern Sie Weihnachten? Hier im Altersheim gibt es eine Weihnachtsfeier. In der Familie war es immer ein Problem, weil ich als Pfarrer Dienst hatte. Meine Söhne und die Tochter sind heute an Weihnachten meist in den Ferien. Also bin ich an Weihnachten hier. Wo sonst, ich bin ja jetzt hier. Ich kann nicht mehr in der Welt herumreisen. Wenn Sie noch könnten, wohin würden Sie gern reisen?

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Ans Meer. Das würde ich gerne noch einmal sehen. Der Blick auf das Meer ist etwas Tolles. Auch das Baden im Meer. Wann haben Sie das Meer zum letzten Mal gesehen? Vor vielleicht 10 Jahren auf der griechischen Insel Lemnos. Zusammen mit meiner Frau, die vor sieben Jahren gestorben ist. Damals sind wir auch noch im Meer geschwommen, meist ganz nackt, bis um die Mittagszeit die Quallen kamen. Womit füllen Sie heute Ihre Tage. Strukturieren Sie Ihre Zeit? Nein, eigentlich nicht. Ich nehme es, wie es kommt. Höre Radio oder auch nicht. Lege mich aufs Bett und mache ein Nickerchen. Spazieren ist schwierig geworden. Was soll ich noch sagen? Langweilen Sie sich? Manchmal schon. Warten Sie nur noch auf den Tod? Das nicht. Aber eigentlich finde ich, dass man nicht älter werden sollte als 90. Und ich werde bald 94. Ich habe keine andere Perspektive mehr, als zu sterben. Spüren Sie einen gesellschaftlichen Druck, dass Alte abtreten sollen? Sie meinen mit Exit? Ich persönlich habe keinen solchen Druck erlebt. Aber ich höre und lese, dass es diesen Druck geben soll. Ich habe ein Misstrauen gegen Einrichtungen wie Exit. Was macht Sie misstrauisch? Dass Exit eine Firma ist, die mit dem Sterben auch ein Geschäft macht. Ich glaube nicht, dass ich deren Dienste in Anspruch nehmen würde. Ich habe meinen Arzt gefragt, ob er mir nicht ein Sterbemedikament geben könne. Aber er sagte Nein. War Ihnen das mit dem Sterbemedikament ernst? Halb ernst. Ich nahm an, dass er das nicht will und nicht darf. Offenbar sind Sie mit 93 noch zu gesund? Ja, vielleicht. Leider. Wäre ich in einem schlechteren Zustand, könnte ich vielleicht eher sterben. Hat Ihr Glaube seit Ihrer Pensionierung als Pfarrer nachgelassen und ist Zweifeln gewichen?

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Der Zweifel war für mich immer ein Stimulans des Glaubens. Ein Glaube ohne Zweifel ist mir verdächtig. Wenn man nicht zweifelt, kann man nach meiner Erfahrung nicht recht glauben. Zweifeln Sie auch an Gott? Ja, warum nicht. Man darf an allem zweifeln. Ein Katholik darf nicht an Gott zweifeln, oder? Deshalb bin ich eben reformiert und nicht katholisch. Ich könnte auch kein Muslim werden. Die Reformierten haben die Aufklärung verdaut und verarbeitet. Der Islam hatte seine großartige Zeit der Aufklärung vor 700 Jahren. Aber die Muslime von heute haben diese Zeit und diese Tradition fast vergessen. Aber Muslime glauben inbrünstiger als reformierte Christen. Das kann ich nicht aus eigener Beobachtung bestätigen. Dass die reformierte Kirche an Anziehungskraft eingebüßt hat, können Sie aber bestätigen? Wenn man den Rückgang der Kirchenmitglieder anschaut, mag das stimmen. Bei der effektiven Glaubens- und Sozialarbeit der Kirche aber sieht es anders aus. Die reformierte Kirche ist halt verletzbarer als die katholische Kirche oder der Islam. Indem sie etwa die geistige Freiheit zulässt. Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Fürchten Sie um den Fortbestand der reformierten Kirche? Nein, eigentlich nicht. Wir sind in einer Zeit der Umwälzungen. Die Zeit, als etwa im Kanton Bern alle reformiert waren, ist halt einfach vorbei. Es ist auch gut so, dass sie vorbei ist und es in Glaubenssachen mehr Freiheit gibt. Die Kirche muss nun aber nicht jeder Mode hinterherrennen, um aktuell zu bleiben. Das wäre der falsche Weg. Muss die Kirche vermehrt auf ihre Werte verweisen? Ich denke nicht in der Kategorie von Werten. Das ist mir zu nahe bei den Wertpapieren. Die Kirche muss das offene Gespräch propagieren. Früher habe ich nach meiner Predigt in der Berner Nydeggkirche die Interessierten zur Diskussion über meine Predigt eingeladen. Meist blieben etwa 50 bis 60 Leute. Ich kam dann runter von der Kanzel, und jemand leitete die Diskussion. So ein Gespräch, das ist ein Ausdruck des Reformiertseins. Die reformierte Kirche ist von unten her, aus kleinen Zellen wie dieser Gesprächsrunde aufgebaut. Die katholische Kirche aber ist eine hierarchische Organisation vom Papst bis hinunter zum Priester.

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Der neue Papst Franziskus beschert der katholischen Kirche Zulauf. Fasziniert er Sie? Er ist ja nicht mein Papst, er ist der Papst der Katholiken. Protestanten brauchen keinen Papst. Er ist ein normalerer Mensch als sein Vorgänger. Aber lange nicht jeder auf diesem Posten war eine Ausnahmefigur. Es bleibt abzuwarten, was Franziskus mit seinem Amt anstellt. Man steckt große Hoffnungen in ihn. Aber er ist auch ein Gefangener seines Amtes. Wo Macht ist, ist schnell auch ein Klüngel von Mächtigen. Auch im Vatikan. Ich finde aber, dass die Kirche keine Macht haben sollte. Außer der Macht ihrer Botschaft. Im Berner Münster wurde Ende Oktober eine Reihe zum Thema Macht mit Texten von Ihnen eröffnet. Leider waren Sie nicht dabei. Warum nicht? Ich gehe abends nicht mehr aus. Da ist es mir zu finster. Noch einmal ein Auftritt in der Öffentlichkeit hat Sie nicht gereizt? Überhaupt nicht. Es ist schön, dass man mich gefragt hat. Aber ich lasse mich nicht mehr präsentieren und nicht mehr aktivieren. Dafür bin ich geistig zu wenig präsent und durch meine erlöschenden Augen behindert. Im Münster wurde Ihr Gedicht The Party Is Over vorgelesen. Es handelt davon, dass einer allein in der Nacht steht, weil alle anderen nach der Party sofort gehen, um nicht die Letzten zu sein. Kommen Sie sich so vor? Ja, manchmal schon. Ich bin der Letzte. Weil alle anderen sterben und ich noch da bin. Gab es für Sie die Party, die im Titel des Gedichts vorkommt? Wenn man die Party als Metapher für ein erfülltes Leben betrachtet: jawohl. Mit 93 ist die Party vorbei? Das kann man so sagen. Ist es überhaupt spannend, was ich Ihnen erzähle? Mich dünkt es nicht. Das meinen Sie nicht im Ernst? Sie brauchen halt Pausen zum Nachdenken. Aber Ihre Sätze treffen wie Pfeile. Ich war immer schon ein langsamer Mensch. Ich muss jeweils erst nachdenken. Für meine Predigten habe ich früher eine Woche lang Ein-

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drücke gesammelt. Ich habe meine Predigten jeweils eine Woche lang ausgebrütet. Brüten Sie noch mal einen Text aus? Mit den Reimen, von denen Sie einen zitiert haben? Ich habe keinen literarischen Ehrgeiz mehr. Und ich weiß nur noch diesen einen Reim, die anderen habe ich vergessen.

»Gott ist nicht in den Starken mächtig« Kurt Marti im Gespräch mit Matthias Hui*1 Als ich mich kürzlich nach deinem Ergehen erkundigte, gabst du zur Antwort »schitter [lausig] bis bewölkt« und erzähltest die Geschichte eines betagten Bekannten, der auf dieselbe Frage zu antworten pflegte, der liebe Gott habe ihn wohl vergessen. Ist dies heute deine Grundbefindlichkeit: verlassen zu sein, auch von Gott? Irgendwie schon. Ich habe das Gefühl, ich wäre doch überfällig, überzählig mit mehr als 92 Jahren. Es wäre längst Zeit, dass ich hätte sterben dürfen. So habe auch ich das Gefühl, dass der liebe Gott mich vergessen hat. Das Leben wird ein Leerlauf. Ich spüre das sehr stark. Ja, was soll ich eigentlich noch? Deshalb hoffe ich jeden Abend beim Einschlafen – es ist mein Nachtgebet –, ich würde am nächsten Morgen nicht mehr erwachen. Leider funktionierte mein Herz aber immer sehr gut, so dass diese Hoffnung ein wenig irreal ist. Aber wer weiß … Ein seltsames Einschlafen, aber es beruhigt mich immer wieder. Einmal passiert es dann vielleicht. Gibt es am nächsten Morgen, im Alltag dennoch Momente, von denen du sagen kannst, das sei gutes Leben? Immer seltener. Hie und da schon. Aber du weißt nie, wann du Beschwerden hast. Du siehst nicht mehr gut, du hast allerlei Beschwerden mit dem Rücken, du wirst halbwegs inkontinent, du musst immer aufs Häuschen. Das ist alles sehr unerfreulich und belastend. Ich will ja nicht jammern und jammere doch immer wieder – ein alter Jammeri. Es gibt diesen schönen lateinischen Begriff: Senex loquax, ein geschwätziger Greis. Schon lautmalerisch ist er schön, da ist auch das Quaken der Frösche mit drin. Und kleine Momente, in denen du dich wohl fühlst? Irgendein Gespräch. Mit einer jungen Betreuerin komme ich ab und zu ins Gespräch. Das ist lustig. Sie beschäftigt sich neben der Arbeit hier mit Atem- und Tanztherapie. Kürzlich war sie in Wuppertal am

* Das Gespräch, geführt am 12. September 2013, erschien erstmals in Neue Wege, 11, 2013, S. 304-308. Der erneute Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung Kurt Martis und der Neuen Wege / Matthias Hui.

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Tanztheater, das von Pina Bausch gegründet wurde. Ich sagte zu ihr: »Einmal im Leben durch Wuppertal schweben.« Dort gibt es ja diese komische Magnetschwebebahn. Das blieb mir immer von Wuppertal, wo ich zwei-, dreimal war, als Rudolf Bohren noch Professor war an der dortigen Kirchlichen Hochschule. Mit ihm war ich befreundet seit Gymnasialzeiten, und ich war Götti eines seiner Kinder. Oder in diesen Tagen kam mein Verleger aus Stuttgart zu Besuch. Von hier aus reiste er weiter zu Peter Bichsel nach Solothurn, ich schickte einen Gruß mit. Vorher besuchte er Fulbert Steffensky und seine Partnerin Li Hangartner in Luzern. Dem Theologen Fulbert Steffensky bin ich das erste Mal bei Dorothee Sölle in Hamburg begegnet. Kanntest du Dorothee Sölle gut? Ja, recht gut, wir duzten uns. Ich lernte sie kennen, als wir in einem Team gemeinsam Herausgeber des Almanachs für Literatur und Theologie waren. Ich traf Dorothee immer wieder. Wir besuchten sie in Hamburg. Und im Berner Münster gab es 1989 das große Öko-Oratorium Sunt lacrimae rerum von Daniel Glaus mit Dölf Burkhardt als Aufführungsleiter. Dorothee Sölle, Adolf Muschg und ich lasen in diesem Oratorium unsere eigenen Texte. Dorothee Sölle war ja hie und da in Bern. Sie tat der Theologie und der theologischen Diskussion unglaublich gut. Atheistisch an Gott glauben stammt von ihr. Das ist ein sehr fundierter Ansatz, viel fundierter als vieles, was heute zu Atheismus und Glauben diskutiert wird. Sie hat aus politischen Gründen keine Professur erhalten in Deutschland. »Sölle zur Hölle« hieß es einmal an einem Kirchentag. Ich profitierte viel von dieser wackeren, spannenden Frau. So entstehen im Alltag Verknüpfungen mit deinem ganzen Leben. Wenn Erfahrungen von dir ins Spiel kommen, Erinnerungen an Beziehungen, scheinst du aufzuleben. Ja, vielleicht. Ich bin aber ein wenig verloren ohne meine Bibliothek. Ich kann nicht mehr einfach ein Buch hervorziehen, um etwas nachzuschlagen. – Und ich muss es anders sagen: Nun ist es bald sechs Jahre her, dass meine Frau gestorben ist. Mit ihr war ich im Dauergespräch. Und plötzlich war dieses Gespräch nicht mehr da. Ich merke dies. Du kannst nur noch Selbstgespräche führen oder eben hie und da ein einzelnes Gespräch mit jemandem. Aber ich merke eben auch, dass meine Gesprächsfähigkeit nachgelassen hat, seit ich keinen dauernden Gesprächspartner mehr habe. Ich bin nicht mehr sehr gesprächig. Im Leben, das du jetzt führst, kommt da Gott als Wort, als Gedanke, als Chiffre im Alltag vor?

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Ja, doch. Am Abend bete ich immer, das Unser Vater und so. Wenn man einmal Theologe war, ist man einfach angefressen von diesem Thema. Ich mache mir immer noch hie und da Notizen zu all diesen Themen. Aber es reicht nicht mehr zu etwas Vernünftigem. Ich freue mich, ich ärgere mich über manches. Das Niveau theologischer Diskussionen ist aber im Moment nicht sehr hoch, was ich mitbekomme. Aber ich bin natürlich nicht mehr richtig auf dem Laufenden. Immerhin interessiert es mich schon, wenn zum Beispiel derzeit die Aussagen von Pfarrerin Ella de Groot diskutiert werden. Ella de Groot aus Muri-Gümligen sagte im Gespräch mit der NZZ: »Ich persönlich kann mit dem transzendenten Gottesbild, also mit der Vorstellung von einem personalen Gott außerhalb dieser Welt, nichts mehr anfangen. Alle Vorstellungen, die wir von Gott haben, sind Produkte des menschlichen Verstandes, also Phantasien. […]›Gott‹ ist für mich Geist und Energie. Diese Kraft entfaltet sich in der Liebe, die ich im Zusammensein mit anderen Menschen spüre.« Für mich ist das ein neuer Vitalismus: Gott ist einfach die Lebenskraft. Gott ist die Kraft, die das Leben ausmacht und es vorantreibt. Das ist für mich eine Art Selbstvergötzung. Mit dieser Vorstellung versuchen wir, uns selber aus dem Sumpf zu ziehen wie Münchhausen. Was heißt denn eigentlich, nichts anfangen zu können mit dem transzendenten Gott? Er soll keine Person mehr sein? Ich antworte darauf: Nach christlicher Tradition ist Gott nicht eine Person, es ist eine Mehrzahl, es sind drei Personen. Das sollten wir wieder durchdenken. Was haben sich die Theologen gedacht, die die Lehre der Dreieinigkeit ausgedacht haben? Gott als einer, der zu dritt ist! Was ist hier gemeint? Das würde mich interessieren. Was gefällt dir nicht an der Aussage, dass Gott Kraft ist? Dass Gott einfach Lebenskraft ist, sagt mir nichts, muss ich sagen. Da werde ich auf mich selber zurückgeworfen. Das hilft mir nicht. Wenn die Lebenskraft eben nicht mehr so da ist … Gott ist in den Schwachen mächtig – das sagen das Alte und das Neue Testament aus – und eben nicht in den Lebensstarken und Vitalen. Gott schenkt Lebenskraft, aber er ist nicht einfach Lebenskraft. Niemand erwähnt in dieser Diskussion das zweite Gebot: Du sollst Dir kein Gottesbild machen. Das ist doch sinnvoll, finde ich. Jedes Gottesbild ist eine Art Vergötzung von Gott. Die ganze Diskussion über Gottesbilder läuft irgendwie »lätz« [falsch]. Ich habe nichts dagegen, dass man sich Gott mit einem Bart ausdenkt – Michelangelo, der so malte –, aber was denn sonst noch? Ich komme auf die alten Formeln: Gott als Mehrzahl. Ich habe ja einst den Begriff

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der »geselligen Gottheit« geprägt. Das gefiel auch dem Theologen Eberhard Jüngel gut. Gemeint war, dass Gott in sich selber Gemeinschaft ist, nicht einfach Person. Du hast von Selbstvergötzung gesprochen und davon, dass wir Bilder eines Gottes produzieren, wie wir ihn gerne hätten und so gleich selber ein wenig Teil sind davon. Erstaunlich früh hast du darüber geschrieben, dass einer der großen Götzen, die wir heute anbeten, der Markt, die Marktwirtschaft ist. Hat sich dabei in deiner Wahrnehmung in den letzten Jahrzehnten etwas verändert – jetzt haben wir auch noch die große Finanzkrise erlebt? Nein. Die unsichtbare Hand des Marktes, die alles aufs Beste regelt, das ist immer noch Götzenanbetung. Das ist Mammon – da komme ich auf altväterische, altbiblische Bezeichnungen zurück. Die hatten recht. Reicht es, Götzenbilder zu benennen? Was ist die Aufgabe der Theologie heute für dich? Die Aufgabe der Theologie ist es, die ganze Tradition des christlichen Glaubens wieder lebendig zu machen und sie zu befreien von allen Verzerrungen und Vereinfachungen. Das versuchte ich immer weiterzugeben, auch in meinen Predigten. Wenn wir uns nochmals die blinde Verehrung der Marktwirtschaft vor Augen führen, die angeblich alle Probleme lösen kann – halt da und dort mal mit einigen Opfern: Was wäre denn eine Alternative? Die Schweiz heißt ja Eidgenossenschaft. Da ist der Gedanke der Genossenschaft drin enthalten und nicht der Marktwirtschaft und des Kapitalismus. Das genossenschaftliche Denken ist eigentlich die Alternative zur Marktvergötzung. Worauf kommt es dabei an? Auf das Miteinander und nicht einfach die Steuerung von oben durch die sogenannte unsichtbare Hand. Miteinander leben, miteinander handeln, das setzt natürlich miteinander sprechen, Mitbestimmung voraus. Da habe ich ja eben die gesellige Gottheit ins Spiel gebracht – Gott selber ist eine Gemeinschaft von Mitbestimmung, von Mitsprache. Spaßeshalber kann man sich vorstellen, dass Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist auch Streit haben miteinander und sich nicht einig sind, aber sie sprechen zusammen und kommen dann doch zu einem Ergebnis, zu einem Schluss. Solche Ansätze sollten wir weiter verfolgen und nicht die Frage, ob Gott Person ist oder nicht. Dort müssten wir zuerst klären, was überhaupt mit Person gemeint ist, persona heißt ja ursprünglich

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Maske. Was wollen wir mit Masken? Das sind nicht sehr hilfreiche Diskussionen, sie führen nicht weiter. In der theologischen Tradition gibt es wohl noch viele Schätze – Gedankenschätze, Bilderschätze –, die man wiedererwecken, neu lebendig machen könnte. À propos Schätze der Tradition: Nun kommen die Reformationsjubiläen auf uns zu. Gibt die Reformation etwas her für unsere Zeit? Was haben die traditionellen Aussagen und Dogmen eigentlich gemeint? Wie können wir sie heute interpretieren? Wir können die eigene Tradition aufarbeiten und fruchtbar machen und nicht nur gerade mit dem Zeitgeist gehen: Was sagen die Leute? Was ist modisch? Was wäre die Relevanz von Gnade, von »sola gratia«? Ja, was heißt das? Wir sind nicht selber Gott. Weder wir als Individuen, noch der Markt, noch die Kirchen. Es gibt eine Macht, eine Instanz, oder wie man das benennen will, die uns etwas angeht, die uns leitet, wenn wir bereit sind, uns leiten zu lassen. Sola gratia: dass wir uns nicht selber erlösen können. Alle Aussagen in Richtung von »Gott ist Lebenskraft« laufen darauf hinaus, dass wir uns selber erlösen können. Wo das hinführt, haben wir in meiner Generation ja erlebt, zum Beispiel in Deutschland, in der deutschen Kirche. Ist diese Auseinandersetzung mit dem Faschismus, mit dem Nationalsozialismus der Urkontext deines Theologietreibens? Suchtest du in der Theologie eine Alternative zu jenem Zeitgeist? Ja, ich kam eigentlich zur Theologie durch Karl Barth, als ich zwei Semester Jus studiert hatte und kleine Schriften von Barth las. Damals ging mir etwas auf: Von seiner Position des sola gratia aus konnte er die politische Lage so klar beurteilen wie damals fast niemand. Das beeindruckte mich stark in einer Zeit, in der auch in der Schweiz niemand so richtig wusste, was denken, was tun, wie sich verhalten. Unverwüstlich brachte Barth sein ceterum censeo an. Auch 1940, als der Bundesrat zu wanken begann, sagte er: Nein, das ist nicht unser Weg, dieses neue Europa der Faschisten. Er behauptete einfach frech: Das will Gott nicht. Was er sagte, war eigentlich anmaßend, aber es stimmte leider – in einer Zeit, als auch in der Schweiz viele unsicher wurden und sagten, wir müssten uns halt anpassen und mit der Zeit gehen. Scheinbar ging man damals mit der Zeit, wenn man sich anpasste an den europäischen Faschismus in Italien, in Deutschland, überall. Diese Situation hat mich sehr stark geprägt. Deshalb studierte ich Theologie und wurde dann sogar Pfarrer. Was heißt »sogar Pfarrer«?

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Ich konnte mir zuerst nicht vorstellen, was es heißt, Pfarrer zu sein. Aber die Sache der Theologie interessierte und faszinierte mich. So wurde ich Pfarrer in der Aargauer Kirche in Niederlenz. Dort hatten sie zwar eine Kirche gebaut, aber noch keinen Pfarrer. Ich war der erste in diesem kleinen Industriedorf. Erst später vernahm ich, dass der Direktor der Leinenindustrie AG Niederlenz einmal sagte, dass es gescheiter sei, einen Beitrag für einen Kirchenbau zu spenden statt für die Anstellung von mehr Polizisten. Der Kirchgemeinderatspräsident leitete eine Abteilung dieser Leinenindustrie, seine Frau war die Schwester von Gottlieb Duttweiler, ähnlich energisch wie Dutti. Ich bekam auch bald guten Kontakt zur lokalen SP. Die waren überrascht, dass der Pfarrer sich für sie interessiert. Ich fühlte mich an diesem Ort wohl, auch mit unserer Familie, die da langsam entstand. An der Universität Zürich findet Ende November eine Kurt-MartiTagung statt unter dem Titel »Grenzverkehr«, ein schönes Foto und ein wunderbares kurzes Gedicht von dir sind auf der Titelseite des Flyers. Im Verwaltungsgebäude der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn ist der große Saal nach dir benannt. Das Interesse an dir und an deiner Literatur und Theologie, dass man deinen Namen da und dort hinhängt, dass andere Menschen über dich debattieren – was bedeutet das für dich? Ich bin betagt und werde betagt. Ich bin ein Subjekt und werde zum Objekt, über das geschrieben und getagt wird. Das verwirrt und verwundert mich also ein wenig. Seltsam. Das hätte ich nie gedacht. Aber dass in Gottesdiensten Texte von dir verwendet werden, dass weiterhin Menschen auf ihrem Nachttischchen ein Buch von dir liegen haben, dass in manchen fremden Texten Formulierungen von dir vorkommen, dass vieles, was du angesprochen hast, weitergeht: Da muss doch auch ein Gefühl von Zufriedenheit und Dankbarkeit sein? Doch, sicher. Ich staune einfach und frage mich manchmal: Bist du das eigentlich? Ich weiß ja selber nicht mehr, was ich alles sagte, schrieb und predigte. Es ist lustig, dass das andere nun besser wissen als ich. Darüber, was weitergeht, mache ich mir keine Gedanken und keine Illusionen. Das wird sich herausstellen. Das ist mir eigentlich auch egal.

II.

Dieter Lamping

Der religiöse Lyriker Kurt Marti 1. Wollte man den Dichter Kurt Marti, den Verfasser von gut zwanzig Gedichtbänden, kurz und bündig charakterisieren, müsste man ihn zuerst einen religiösen Lyriker nennen. Das ist er zwar nicht nur, aber zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem. Allerdings scheint für den, der Kurt Martis Werk kennt, die Klassifizierung geradezu eine Trivialität zu sein. Liegt es nicht auf der Hand, dass dieser literarisch überaus produktive protestantische Theologe ein christlicher Dichter ist? Doch dass man heutzutage wieder von religiöser Lyrik1 spricht, ohne ästhetischen Vorbehalt, ist tatsächlich eine der Leistungen Kurt Martis, der zu den bekanntesten und wichtigsten Vertretern dieser Literatur gehört. Wo von dem Verhältnis zwischen Lyrik und Religion in der Gegenwart die Rede ist, wird Kurt Marti wie selbstverständlich erwähnt; zuletzt hat sich Heinrich Detering auf sein poetologisches Konzept einer »Theopoesie« bezogen.2 Als Kurt Marti die literarische Szene betrat, waren Ausdrücke wie religiöser oder gar christlicher Dichter jedoch verpönt – selbst bei denen, die man versucht war so zu nennen. Heinrich Böll etwa belehrte 1958 sein Publikum, dass die »Bezeichnung ›christlicher Autor‹ leichtfertig verschenkt«3 sei: Erträglich ist diese Bezeichnung nur auf der Steuererklärung, wo einer hinschreiben mag, Beruf: ›Schriftsteller‹, und unter der Rubrik ›Religionszugehörigkeit‹ eine der Abkürzungen einträgt, die ihn als einer christlichen Kirche zugehörig bezeichnet.4 Dem katholischen Kirchenkritiker Heinrich Böll war es um die Trennung von »Kunst und Religion« zu tun – im Interesse der Kunst und

1 Vgl. dazu Heinrich Detering: Lyrik und Religion. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart 2011, S. 114-123. 2 Vgl. ebd., S. 123. 3 Heinrich Böll: Werke. Hg. v. Bernd Balzer. Essayistische Schriften und Reden I: 1952-1963. Köln o. J., S. 320. 4 Ebd.

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ihrer Freiheit. »Als freier Künstler unter freien Künstlern«, schrieb er, »unterliegt ein Christ den Maßstäben der Kunst.«5 Auch der christliche Künstler, sollte das heißen, muss sich zuerst als Künstler ausweisen. Die Kunst war für Böll grundsätzlich autonom – auch gegenüber der Religion. In seiner Forderung war impliziert, dass viele Autoren, die sich seinerzeit dem Christentum zurechneten, zumindest seinen ästhetischen Ansprüchen nicht genügen konnten. Böll war keineswegs der Einzige, der schon um 1960 herum christliche Kunst als obsolet ansah. Wer Anfang der 1970er-Jahre Kurt Marti wahrnahm, musste überrascht sein, dass ein zeitgenössischer Autor ebenso selbstverständlich von der Gesellschaft wie von Gott sprach. Als Herausgeber etwa des Almanach für Literatur und Theologie (zusammen u. a. mit Dorothee Sölle)6 oder der Anthologie religiöser lateinamerikanischer Lyrik Der du bist im Exil (zusammen mit Stefan Baciu)7 nahm er sich eines Bereiches an, der in der deutschsprachigen Literatur zunehmend verwaiste. Eine neue religiöse Lyrik gab es zu der Zeit fast nur an der Peripherie der europäisch geprägten literarischen Moderne, in der nord- und südamerikanischen Literatur. Sie verband sich vor allem mit Namen wie Ernesto Cardenal und Thomas Merton, der ein Jahr lang Cardenals Novizenmeister im Trappistenkloster von Gethsemany (Kentucky) gewesen war. Erst mit der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1980 an Cardenal hat diese christlich-amerikanische Lyrik in Deutschland eine Beachtung gefunden, die über kleinere kirchliche Kreise hinausging. Die Poesie deutscher Sprache dagegen war – ähnlich wie die französische oder die englische – längst dem Christentum entfremdet, und zwar seit den Anfängen der Moderne. Rilke mag ein religiöser Dichter gewesen sein – ein christlicher war er erklärtermaßen nicht. Stefan George und Hugo von Hofmannsthal, neben Rilke die beiden Begründer der modernen deutschen Lyrik in der Nachfolge der französischen seit Baudelaire, haben in ihren Gedichten keine tiefen religiösen Interessen erkennen lassen (Hofmannsthal tat das allerdings später als Dramatiker). Bertolt Brecht und Gottfried Benn waren zweifelsfeste Atheisten, ebenso die wichtigsten Lyriker der Nachkriegsliteratur wie

5 Ebd. 6 Vgl. Dorothee Sölle / Wolfgang Fietkau / Armin Juhre / Kurt Marti (Hg.): Almanach für Literatur und Theologie 1. Wuppertal 1967. 7 Vgl. Stefan Baciu / Kurt Marti (Hg.): Der du bist im Exil. Gedichte zwischen Revolution und Christentum aus 16 lateinamerikanischen Ländern. Wuppertal 1969.

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Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf. Einmal beachtete christliche Dichter und Dichterinnen wie Rudolf Alexander Schröder und Elisabeth Langgässer waren um 1970 herum bereits vergessen, nicht ganz zu Unrecht. Durchaus typisch für das Verhältnis von Lyrik und Religion in der deutschen Literatur der 1960er-Jahre, zumal im Umkreis der Gruppe 47, ist das Gedicht Die Seeschlacht 8 von Günter Grass: Ein amerikanischer Flugzeugträger Und eine gotische Kathedrale Versenkten sich Mitten im stillen Ozean Gegenseitig. Bis zum Schluß Spielte der junge Vikar auf der Orgel. – Nun hängen Flugzeuge und Engel in der Luft Und können nicht landen. Das Gedicht ist die pointierte, ja um einer Pointe willen umgeschriebene und vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges aktualisierte Version einer Passage über die britische Burma-Offensive gegen die Japaner aus der Blechtrommel: Da schwammen mitten im Ozean zwei mächtige, wie gotische Kathedralen verzierte Flugzeugträger aufeinander zu, ließen ihre Flugzeuge starten und versenkten sich gegenseitig. Die Flugzeuge aber konnten nicht mehr landen, hingen hilflos und rein allegorisch gleich Engeln in der Luft und verbrannten brummend ihren Brennstoff.9 Kampfflugzeuge und Engel, »rein allegorisch« zusammenzubringen, war in der Tat ein Kunststück. Aber es hatte, als Kritik an der Rolle der Kirchen in Zeiten der großen Kriege, Tradition. Kirchen- und darüber hinaus religionskritische Gedichte hat aber in den 1960er- und 1970erJahren nicht nur Günter Grass geschrieben. Kurt Marti gewöhnte das Publikum wieder daran, dass zeitgenössische Lyrik durchaus religiös sein konnte – und religiöse Lyrik in einem emphatischen Sinn zeitgenössisch. Dass ihm dies gelungen ist, hat vor allem den einen Grund, dass er ein religiöser Lyriker auf der Höhe seiner

8 Günter Grass: Werkausgabe in 10 Bänden. Hg. v. Volker Neuhaus. Bd. I: Gedichte und Kurzprosa. Darmstadt / Neuwied 1987, S. 86. 9 Vgl. Günter Grass: Werkausgabe in 10 Bänden, Bd. 2: Die Blechtrommel, S. 473.

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Zeit war (und ist). Das gilt in einem doppelten, sowohl politischen wie literarischen Sinn. Kurt Marti führte die religiöse Lyrik vor allem mit der politischen10 zusammen – und er reihte sich dabei, insbesondere stilistisch und formal, in die Tradition der modernen Poesie ein, ohne, wie viele andere, in jedem Fall den Psalmen als Paradigma11 zu folgen. Damit hat er die religiöse Lyrik nicht nur thematisch, sondern auch formal und stilistisch erneuert.

2. Was die Lyrik Kurt Martis fast von Anfang an auszeichnet, kann man beispielhaft an seinem zweiten Band republikanische gedichte zeigen, der zuerst 1959 im Tschudi Verlag, dann 1971 in einer erweiterten Neuausgabe im Luchterhand Verlag erschien. Er enthält zeitgenössische Gedichte, die sich auf politische Zustände in der Schweiz beziehen – erkennbar schon an Titeln wie räte und bundesräte, opposition in der schweiz, bundeshaus oder generale die nicht general sind. Manches davon hat zweifellos seinen Anlass überlebt wie etwa warnung: kleiner mann gibt acht was man mit dir macht […] sei nicht dümmer als man grad noch muß zahlen muß man immer meist zahlst du zum schluß12 Noch immer aktuell ist auch die geldballade, deren Anfangs- und Schlussvers: »geld gilt« in seiner Geltung keineswegs auf die Schweiz beschränkt ist. Das Gleiche kann man etwa auch von dem epigrammatisch kurzen Gedicht votantenübel13 sagen:

10 Vgl. dazu Verf.: »Wir leben in einer politischen Welt«. Lyrik und Politik seit 1945. Göttingen 2008. 11 Vgl. dazu Detering, Lyrik und Religion, S. 117-118. 12 Kurt Marti: Republikanische Gedichte. Neuwied / Berlin 1971, S. 29. In den Fußnoten verzichte ich aus Gründen der Einheitlichkeit auf die Kleinschreibung der Buchtitel Martis. 13 Ebd., S. 21.

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Er verspricht sich kurz wenn er verspricht sich kurz zu fassen Republikanisch sind die Gedichte in Kurt Martis zweitem Lyrikband in einem emphatischen Sinn. In ihnen bezieht sich der Autor nicht nur auf die res publica seines Landes: auf das, was die Öffentlichkeit erregte oder seiner Einschätzung nach erregen sollte. Er vertritt auch dezidiert – für manche: radikal – demokratische Positionen, als Kapitalismus- und Kriegsgegner, als Kritiker der Volksvertreter und als Sachwalter eines »demokratischen modells« (wie eines der Gedichte überschrieben ist), dem offenbar das Modell noch nicht demokratisch genug war. Auf der Höhe ihrer Zeit waren diese Gedichte aber nicht nur durch ihre politischen Themen. Wer den Band in die Hand nahm und ihn auch nur durchblätterte, konnte keinen Zweifel daran haben, dass diese Gedichte sich an der seinerzeit avancierten Poesie orientieren. Mit der Kleinschreibung, dem Verzicht auf Interpunktion und der meist freien Versgliederung machten sie sich ohne viel Aufhebens manches aus dem Repertoire der fortgeschrittenen modernen Lyrik zueigen, verzichteten aber, ebenso selbstverständlich, auf deren Hermetik. Eine besondere Nähe zeigten sie zur Konkreten Poesie, wie sie sich nach 1945 nicht nur in der deutschsprachigen, sondern in der internationalen Literatur entwickelt hatte. Es ist kein Zufall, dass Marti 1972 Aufnahme in Eugen Gomringers repräsentative Anthologie konkrete poesie gefunden hat – mit drei der republikanischen gedichte.14 Typisch für die ›konkreten Texte‹ Martis ist die Thematisierung von Sprache, zumal einzelner Worte und Wendungen, zumeist in kritischer Absicht. Sie zielt auf die Entlarvung von Phrasen und bedient sich insbesondere Verfahren wie der Permutation, etwa in chamäleonspolitiker, und des Wortspiels, etwa in votantenübel. Nicht selten entsteht dabei Visuelle Poesie, die Verse zu einer graphischen Gestalt anordnet wie in demokratisches modell, vorzug von parlamentswahlen und räte und bundesräte – oder besonders sinnfällig in begegnung zwischen helvetiern. Dass es sich bei diesem Autor dennoch nicht einfach etwa um einen weiteren Parteigänger Brechts handelt, dem es um rhetorisch gewandte

14 Vgl. Eugen Gomringer (Hg.): Konkrete Poesie. Deutschsprachige Autoren. Stuttgart 1972, S. 86-90.

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politische Agitation geht, oder einen der zeitweise zahlreichen poetischen Nachfolger Wittgensteins, dem es um Reflexion unserer Sprachverwendung zu tun ist, verrät schon ein Gedicht wie auferstehung, in dem am Ende »rassenvermischung / zur christlichen pflicht«15 erklärt wird. Auch wenn das ein starkes Wort ist – überraschen konnte es einen Leser Martis nicht. Leicht erkennbar vertritt er von Anfang an christliche Werte: Er kritisierte und kritisiert die Gesellschaft seiner Zeit als Christ. [R]epublikanische gedichte mag der erste sozusagen ›vollständige‹ Lyrikband Kurt Martis gewesen sein. Fast alles, was die späteren auszeichnet, findet sich schon in ihm oder umgekehrt: Fast alles, was ihn auszeichnet, findet sich auch noch in seinen späteren Gedichtsammlungen. Zwar mag manches dann, als Erweiterung des Repertoires, noch hinzugekommen sein, etwa Liebesgedichte oder Reisegedichte wie in zoé zebra oder Mundartgedichte wie in Rosa Loui und undereinisch. Auch mag der Anteil ausdrücklich religiöser Gedichte in den späteren Bänden größer geworden sein. So nehmen sie etwa, gut zwanzig Jahre später, in abendland den ganzen zweiten Teil ein, in dem zwei der wichtigsten und eingänglichsten theologischen Gedichte Martis stehen, maria und jesus. Doch bei allen Modifikationen sind zwei Konstanten in der religiösen Lyrik dieses Autors nicht zu übersehen, die bereits in den republikanischen gedichten offensichtlich sind. Zum einen sind die Gedichte Kurt Martis dezidiert weltlich – wie auch sein Christentum, wenn nicht eines von dieser Welt, dann doch eines in dieser Welt ist. Selbst Gott findet dieser christliche Autor in der Welt, die wie die Menschen zu dessen »Verstecken«16 gehört, wie es in grosser gott klein heißt. Der religiöse Lyriker Kurt Marti ist ein realistischer Dichter. Sein Blick ist gerichtet auf das, was ist. In ihm sucht er nach theologischen Botschaften. Bezeichnend für ihn ist, dass er etwa schon in credo und pierrot-le-suisse (aus alfabeete und cymbalklang) einen gesellschaftlichen Außenseiter seine Vorstellungen von Gott darlegen lässt. Zum anderen ist dieser Autor in besonderer Weise wortgläubig. Einzelnen Wörtern gilt seine Aufmerksamkeit, er dreht und wendet sie, bis sie ihren geheimen Sinn zu erkennen geben. So macht er es in den Republikanischen Gedichten mit der Floskel »je nachdem« (chamäleonspolitiker), mit dem Namen »Kuhn« (am kuhnweg wo ich wohne) oder

15 Marti, Republikanische Gedichte, S. 36. 16 Kurt Marti: Schon wieder heute. Sämtliche Gedichte 1959-1980. Darmstadt / Neuwied 1982, S. 102.

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dem Begriff »Opposition« (opposition in der schweiz)17. Das Wort ist für Kurt Marti allerdings mehr als – nur – eine linguistische Kategorie. Entgegen dem Verständnis der modernen Sprachwissenschaft ist es für ihn kein arbiträres Zeichen. Es ist vielmehr theologisch das Medium der Verkündigung und damit erkenntnistheoretisch zugleich das Medium von Wahrheit und Lüge. Der besondere Wahrheitsanspruch seiner Lyrik gründet sich auf dieses Verständnis von Wort und Sprache: als »Anspruch auf eine spezifisch religiöse Wahrheitsfähigkeit poetischer Rede«.18

3. Kurt Marti als weltlicher und wortgläubiger religiöser Lyriker ist zugleich ein dialogischer Autor, und auch dies ist er in einem mehrfachen Sinn. Dialogisch sind seine Gedichte zunächst als Gebet und Bekenntnis, als Zwiesprache mit Gott, als Lob und Klage, als Dank und allemal als Anrufung. zoé zebra etwa endet mit einer ganzen Reihe solcher dialogischer Gedichte, zumal an Gott gerichteter wie psalm und anrufungen, aber auch mit einem kruzifix19 überschriebenen, das an den Gekreuzigten adressiert ist, fragend: toter am toten holz: was hast du verändert? Dialogisch sind die religiösen Gedichte Kurt Martis aber auch als poetische Interpretationen und Kommentare zu Bibelversen und somit als Arbeit an der christlichen Überlieferung, mit der sie sich auseinandersetzen. Programmatisch hat Marti solche Verse gedichte am rand genannt. Sie sind, wie er erläutert hat, poetische Randnotizen, »am rande der evangelien entstanden und auch so zu lesen. Es handelt sich um texte, die durch vorgegebene texte angeregt worden sind und auf diese bezug nehmen.«20 In diesem Sinn ist etwa der dieb ein poetischer Kommentar

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Vgl. Marti, Republikanische Gedichte, S. 11, 7 u. 18. Detering, Lyrik und Religion, S. 123. Kurt Marti: Zoé Zebra. Neue Gedichte. München / Wien 2004, S. 76. Kurt Marti: Gedichte am Rand. Teufen 1974, S. 79.

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zu Markus 5,17: »Sie baten ihn, dass er aus ihrer Gegend zöge.«21 In solchen Texten knüpft Marti an eine theologisch-exegetische Tradition an, die er auf seine Weise poetisch fortführt. Dass er die christliche Überlieferung dabei gelegentlich auch interreligiös überschreitet, verrät sein Gedicht schrei noch immer, das aus dem mittelalterlichen christologischen Disput zwischen Pablo Christiani und Moses ben Nachman Gerundi einen jüdisch-christlichen Dialog macht. Dialogisch auf wieder andere Art sind schließlich Gedichte, in denen Kurt Marti mitunter sogar den Bereich religiöser Lyrik verlässt und in ein Gespräch mit anderen, nicht unbedingt religiösen Autoren eintritt. Er bezieht sich dann etwa auf Worte und Verse von ihnen, sei es, dass er sie als Motto nimmt wie z. B. in den Leichenpredigten, sei es, dass er sie kommentiert wie Schriftstellen, also durchaus theologisch, wie er es mit einem Wort von Peter Hille (schriftgelehrte) oder einem von Francis Ponge (durch die tür) tut. Manchmal wendet er sich anderen Autoren aber auch nur biographisch zu. So ist es etwa in seinem z. b. 2. 11. 72 überschriebenen Mundart-Gedicht auf den Tod Ezra Pounds, der nun in der Tat kein christlicher Dichter war, oder in dem Porträtgedicht des Dichters als eines kleinen Angestellten, das bürolisten22 überschrieben ist: da ihre seelen traurig grundiert waren arbeiteten sie ziemlich gewissenhaft erledigten ihr tägliches pensum im büro fast immer fast immer zur zufriedenheit der vorgesetzten sie intrigierten nicht sie begehrten kaum auf pünktlich erschienen sie pünktlich verschwanden sie (wohin denn? niemand fragte) und hießen z. B. kavafis kafka pessoa In diesen ebenso knappen wie dichten Versen hat Marti einen Typus von Dichter charakterisiert, dem er in einer Hinsicht auch angehört: den Autor zur linken Hand sozusagen, der nur neben dem bürgerlichen Hauptberuf als Angestellter (oder auch als Arzt oder Pfarrer) schreiben kann. In solchen Gedichten zeigt sich Kurt Marti ganz im Sinn Bölls zunächst und vor allem als Künstler, der andere Autoren als eben das nimmt.

21 Ebd., S. 34. 22 Marti, Zoé Zebra, S. 36.

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Durchaus typisch für Martis intertextuelle Gedichte ist allerdings, dass er den Worten anderer Schriftsteller eine religiöse Bedeutung abzugewinnen versucht – so etwa in seinen großen Montagegedichten paradiescollagen oder frau mann liebe, in denen er auch bekennende Atheisten wie Arno Schmidt, Paul Éluard oder Pablo Neruda zu Wort kommen lässt oder genauer: beim Wort nimmt. So wird ihm dann etwa frau mann liebe mit Hilfe von Formulierungen nicht nur Ernesto Cardenals, sondern auch Jack Kerouacs oder Lawrence Ferlinghettis zu einem Gedicht über die Mystik der Sexualität. Da ist es dann nur naheliegend, dass er anderen christlichen Autoren, wenn nicht beständig, so doch immer wieder, Aufmerksamkeit schenkt. In Zärtlichkeit und Schmerz z. B. sind gleich mehrere Notizen Ernesto Cardenal und seinem kämpferisch-antikapitalistischen Ur-Christentum gewidmet, der übrigens schon 1969 in Der du bist im Exil mit vier Gedichten vertreten war. Zu dem ersten deutschsprachigen Auswahlband aus dem Werk Cardenals, Gebet für Marilyn Monroe überschrieben, 1972 im Wuppertaler Peter Hammer Verlag erschienen, hat Marti ein Nachwort beigesteuert. In diesem prägnanten Porträt, das bis heute zu dem Besten zählt, was über den nicaraguanischen Lyriker geschrieben wurde, hat er Cardenal als »Dichter der Armen, der Erniedrigten und Beleidigten« beschrieben. »Cardenals Gedichte«, heißt es da etwa, »sind prallvoll von Realität, aber ebenso prallvoll von Vision. Realität wird plastisch im Licht einer Hoffnung, die an noch nicht entfaltete Hoffnungen des Menschen und der Gesellschaft glaubt.«23 Es fällt nicht schwer, diese Sätze auch auf Kurt Marti anzuwenden.

4. Zu den großen literarischen Verdiensten Kurt Martis gehört es, dass er den Begriffen ›religiöser‹ oder ›christlicher Lyriker‹ eine neue, eine moderne Bedeutung verliehen hat. Zwei poetologische Gedichte, nebeneinandergestellt, können etwas von dieser Komplexität andeuten.

23 Kurt Marti: Nachwort. In: Ernesto Cardenal: Gebet für Marilyn Monroe und andere Gedichte. Hg. u. übers. v. Stefan Baciu. Mit einem Nachwort von Kurt Marti. Wuppertal 1972, S. 171-178, S. 177.

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Am Ende von wüste A 424 heißt es: schweigen ist gut beten ist besser ich schreibe Die bloße Reihung dieser drei lakonisch-kurzen Sätze lässt offen, ob wir es mit einer Klimax von Schweigen, Beten, Schreiben zu tun haben. Mein Deutungsvorschlag wäre: Für Kurt Marti als religiösen Lyriker steht das Schreiben zwischen dem Schweigen und dem Beten. Die DIN-A4-Seite mag dabei, als leeres Blatt, seine literarische Wüste sein, die den horror vacui des Autors auslöst. Sie mag aber auch die Wüste des Eremiten sein, des Gottsuchers und Grüblers. Die Schlussverse von das ende vom lied25 lauten: […] ich sang ein neues lied doch siehe: das lied das ich sang war das ende vom geistlichen lied Der letzte Satz stimmt letztlich nicht. Die Gedichte Kurt Martis mögen das Ende einer – tatsächlich oft liedhaften – religiösen Lyrik sein, die überkommen und vielleicht erschöpft war und einer Tradition angehörte, die die moderne Poesie hinter sich gelassen hat. Sie sind aber nicht nur das Ende einer alten und veralteten, sondern genauso der Anfang einer neuen religiösen Lyrik gewesen.

24 Kurt Marti: Schon wieder heute. Ausgewählte Gedichte 1959-1980, S. 28. 25 Ebd., S. 32.

Peter Utz

Wirbel unterwegs Kurt Martis Gedichtsammlung da geht dasein Auch wer nicht mehr als ein Kiesel sein will, kann für Wirbel sorgen: Kurt Marti hat in seiner langen Karriere als Schriftsteller immer wieder eine Öffentlichkeit überrascht, die ihn schon etikettiert und abgeheftet hatte. Das literarische Deutschland kennt ihn bereits seit den späten fünfziger Jahren vor allem als Lyriker. In den wichtigsten Anthologien und in Schulbüchern sind seine Gedichte und einige seiner lakonischen Kurzerzählungen präsent – ein bewährter Schulbuchklassiker, von dem kaum noch Überraschungen drohen. Für die deutschsprachige Schweiz hingegen ist er ein unspektakulärer, aber insistenter Störer des bürgerlichen Familienfriedens geblieben. Marti, als Theologe ein Schüler Karl Barths, hat sich immer wieder kritisch zu den wichtigsten Zeitfragen gemeldet. Irritiert musste man an ihm nicht nur zur Kenntnis nehmen, dass politisches Engagement auch in gutbürgerlicher, ja pfarrherrlicher Kleidung auftreten kann. Noch irritierender, dass er für dieses Engagement eine eigene Formsprache gefunden hat. Ihre ästhetische Qualität hat Marti eine so nachhaltige Beachtung verschafft, dass man ihn kaum mehr ignorieren kann. Kurt Martis Gedichtsammlung »da geht dasein« Darum lässt sich Marti auch nicht aufspalten in den politischen Bürger und den sensiblen Literaten. Auch wenn seine vielfältigen Ausdrucksformen widersprüchlich erscheinen, so schreibt er doch nur mit einer Stimme. Sein Engagement ist unzweideutig geblieben: für den republikanischen Gedanken und gegen seine Perversion im Überwachungsstaat, für eine glaubwürdige Friedensarbeit und gegen gewaltsame Konfliktaustragung, für die Erhaltung der Umwelt und gegen den Mobilitäts- und Wachstumswahn. Sein Werk artikuliert dieses Engagement an jeder Stelle, und ohne dieses Engagement wäre es nicht entstanden. Doch auch wenn seine Polemik überall ihre Kanten zeigt, spitzt er sie nicht zu Pointen zu, die allzu rasch brechen. Umso nachhaltiger wirken die unbequemen Fragen, die er stellt. Exemplarisch dafür die Lyriksammlung da geht dasein (1993).1 Sie wurde teilweise auch aufgenommen in die fünfbändige Werkausgabe,

1 Kurt Marti: da geht dasein. gedichte. Hamburg 1993. Im Folgenden nach dieser Ausgabe direkt im Text nachgewiesen.

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die 1996 zu Martis fünfundsiebzigstem Geburtstag erschienen ist,2 und sie ist als bisher einzige Gedichtsammlung auch ins Französische übertragen worden.3 Die Schärfe der Beobachtung, die ebenso präzise wie lakonische Sprache, die Aufmerksamkeit für deren klangliches, spielerisches Potential, die sinnliche Präsenz des Körpers – dies alles macht diesen Gedichtband repräsentativ für Martis gesamtes literarisches Werk. Dass hier eine politische Polemik im engeren Sinn fehlt, ist kein Symptom einer Altersmilde, einer späten Versöhnlichkeit. Marti verdichtet vielmehr seinen kritischen Blick zu einzelnen Gedankenbildern, die er den Zeitströmungen entgegenstellt. Seine Poetik setzt hier auf einen literarisch geschliffenen Widerstand gegen eingeschliffene Denkweisen. Im Gedicht bachkiesel (37) ist diese Poetik als Bild formuliert: bachkiesel wach unter schlafwandelnder strömung: geschliffene widerstände stören quirlige wirbelchen auf halten geheim daß sie ebenfalls wandernde sind Unter der »schlafwandelnden strömung«, dem mainstream der Wörter und Meinungen, spürt das Gedicht »bachkiesel« auf. Diese lassen sich nur an jenen »quirligen wirbelchen« erkennen, die sie an der glatten Oberfläche des Stromes verursachen. So »stören« sie ihn auf, wecken ihn aus seinem »schlafwandel«, ohne ihn aber endgültig zu stauen. Nur in »quirligen wirbelchen« zeigen sie sich, im Spiel an der Oberfläche, einem oberflächlichen Spiel. Ihm entspricht die Folge der Enjambements, mit dem das Gedicht uns Leser von Zeile zu Zeile weiterspült. Unter dieser Oberfläche verstecken sich die »Bachkiesel«, um »geheim« zu halten, dass sie auch selbst »wandernde sind«, dass sie also von der

2 Kurt Marti: Werkauswahl in fünf Bänden. Hg. zusammen mit Elsbeth Pulver. Frauenfeld 1996, Bd. 5, S. 285-305. 3 Kurt Marti: Là vois la vie. Da geht dasein. Traduit de l’allemand par Patricia Zurcher. Lausanne 1998. Das französische Vorwort des Verfassers ist die Grundlage des vorliegenden Artikels.

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Strömung mitgetrieben werden, freilich langsamer als diese, im Ritardando des Spaziergängers. Doch diesem verlangsamten Schwimmen mit dem Strom verdanken sie auch jenen »Schliff«, der sie wiederum zu ihrem geschmeidigen Widerstand befähigt. So werden die Kiesel zu untergründigen Partnern des dahinschießenden Zeitstromes. Diese Dialektik tritt in Martis Gedicht an die Oberfläche: bachkiesel wird lesbar als poetisches Bild für die geschliffene Widerständigkeit seiner Gedichte. Dass »alles fließt« ist ein archaisches, ein primäres Bild. Doch Marti übersetzt es mit den »geschliffenen widerständen« seiner Gedichte, mit ihren scharfkantigen Zeilenbrüchen, den genau gehämmerten Parallelismen und den »quirligen« Wortspielen in die Moderne hinein. Sein Blick gilt nicht nur dem wirbligen »bachkiesel«, sondern auch seinen großindustriellen Verwandlungsformen, beispielsweise einem Flusskraftwerk in hagneck, von dem sich das »wegwirbelnde wasser« schäumend verabschiedet (45). Dagegen sind die »wirbelchen«, die Martis Gedichte erzeugen, weit weniger spektakulär. Sie verdanken ihre poetische Energie einem Gefälle, das sie selbst erzeugen. Darum ist die Bewegung abwärts vielen Gedichten eingeschrieben. In niedersteigen nachts etwa führt das »absteigen nachts / auf gedanken- / und bildertreppen« vom redensartlichen Umgang mit dem Sterben über fünf Strophenstufen hinunter ins »niedersteigen / in die nächtliche obhut / des zur zeit noch / verläßlichen körpers« (70). Der Körper hat hier das letzte Wort; er allein entscheidet über die Resistenz gegen die Zeit, über Leben und Tod. Dieser körperlichen Gravitation folgt das Gedicht, in der Hoffnung, diese halte seine Bewegung noch weiter in Gang, über das Ende des Textes hinaus. Der »Aufstieg« hingegen führt unweigerlich an einen toten Punkt: Das Gedicht nach dem aufstieg (39) zeigt, wie sich am erreichten »ziel« ›Ziellosigkeit‹ breitmacht; auf dem Gipfelpunkt bleibt nur noch der Himmel einer Wunschlosigkeit, die sich ins Abstrakte verflüchtigt. Martis Gedichte treten deshalb den Gang vom abstrakten Konzept in die konkrete, individuelle Erfahrung an, eine Bewegung in der sanft abfallenden Horizontalen, in welcher das Gedicht den eigenen Rhythmus halten kann, Schritt für Schritt, Zeile für Zeile. Ausgangspunkt sind Titel wie on the road, wege, nimmt seinen lauf oder über land. Sie sind Aufforderungen dazu, sich gehen zu lassen. Lakonisch rät eine Doppelzeile aus niedersteigen nachts: »willst dich finden? / laß dich gehen« (68). In euphorischer Tonlage heißt diese Aufforderung: »so hebe auch du nun / den alten hintern! / längst warten wege darauf / sich an deine fersen / zu heften« (31). Die »Wege« selbst sind Anstiftungen zum Aufbruch, setzen jene »Fersen« in Gang, in denen man auch die »Verse« mithören darf. Eine Poetik des Gehens, die der Strophenzyklus über land in das

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veraltete Wort »geh ich fürbaß« (32) fasst, an dem noch der Staub altdeutschen Fernwehs haftet und in dem romantische Wanderlieder anklingen. Bei Marti jedoch führt der Zyklus über land nicht in eine heile Welt, sondern zu »hochleistungskühen« und Niederstammkulturen, und dann zurück in die »schwitzende« Stadt samt ihrem »perpetuum automobile« und zur »flüchtigen frage: wie gehts?« (36). Diese Frage hat das Gedicht schon längst beim Wort genommen und über Land getragen. Sie wird im Kontext der Sammlung von der verblassten Alltagsfloskel zur Frage nach einer existentiellen Befindlichkeit, nach dem ›Sein‹ beim ›Unterwegs-Sein‹. Dies fasst das Gedicht im straßencafé (23) mit der Titelzeile des Bandes ins Auge: im straßencafé da geht dasein seine launen tun weh ich auge möcht mitgehn das auge ist stumpfer geworden Das »dasein«, dem noch ein Hauch von pathetischem Existentialismus anhaften würde, wird durch das Gegenwort »geht« dynamisiert. Umgekehrt zeigt sich auch die Bewegung erst in ihrem Gegensatz zum Ruhepunkt des Betrachters »im straßencafé«. Erst für ihn, dessen Auge eigentlich »mitgehn« möchte, wird das »gehen« als Dialektik von Stillstand und Bewegung erfahrbar. »Stumpfer«, weniger weitsichtig, ist sein Blick vielleicht geworden, nicht aber abgestumpft. Und Aufmerksamkeit verlangt nach Innehalten, das Gehen braucht den Stillstand. Mindestens ebenso häufig, wie sie zum Aufbruch rufen, legen Martis Gedichte deshalb ihren Gang still. Unter Titeln wie da und sein, sitzen sonne, warten oder staunen verdichtet sich die Bewegung zu Bildern, an denen sie sich gleichzeitig auch staut – Bachkiesel in der Strömung des Mitgehens. Diese Naturbilder, nicht zufällig meist bei hohem Sonnenstand aufgenommen, bleiben aber als gestellte Bilder erkennbar und erstarren deshalb nie zum Klischee. Denn immer meldet sich in ihnen auch das »ich auge«, das Subjekt, das – wie im kodacolorverdächtigen abend am meer – weiß: »ich träume mich fort / und bleibe doch da« (52). In seinem Kopf »dreht zeit / ihre warteschleifen« (67), während es sich seine zeitflüchtigen Bilder herbeidichtet.

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So bricht sich die Strömung von Martis poetischen Schreibgängen an querliegenden Bilderkieseln. An diesen Stellen treten an der Oberfläche der Sprache »quirlige wirbelchen« auf. Sie haben häufig auch die Form jener Sprachspiele, die seine Lyrik seit ihren Anfängen in den 50er-Jahren charakterisieren. Damals gehörte Marti mit seinen experimentellen Gedichten zu den international beachtetsten Pionieren der »konkreten Poesie«. Sie versucht, die Sprache aus ihren alltäglichen Verwendungszusammenhängen zu lösen und im freien Spiel mit dem Sprachmaterial die verfestigten Ideologien des Alltags aufzubrechen. Auch wenn sich Marti seither in vielen weiteren literarischen Formen, auch in der weniger spielfreudigen Prosa, bewährt hat, versteht er doch das spielerische Potential, die latente Vitalität der Sprache, bis in die letzten Gedichtbände hinein immer neu zu aktivieren. In da geht dasein treten die sprachlichen Wirbel zwar weniger dicht und überschäumend auf als in früheren Lyrikbänden. Doch dafür markieren sie entscheidende Bruchstellen im poetischen Gedankengang und dynamisieren ihn neu. Das Gedicht geretteter tag (55) beispielsweise käme in seiner Schlussstrophe fast auf einer friedlichen Mondstille zum Stehen, würde es nicht mit einer letzten Wendung noch einmal in neuer Weise dynamisiert: zipfelnder mond nun: frieden nimmt überhand überfuß Wenn ein allzu friedlicher Frieden im Stillstand zu erstarren und »überhand« zu nehmen droht, dann führt nur noch das spielerische Wörtlichnehmen und Weiterdrehen des Begriffs den Text über diesen toten Punkt hinaus: »überhand« wandelt sich zu »überfuß«. So erhält das verblasste Wortbild eine neue, körperliche Konkretion. Das Wort wird vom Kopf auf die Füße gestellt. Dann kann es selbst zu gehen beginnen. So erhält das Gedicht, wenn sein »tag« schon abendlich »gerettet« und stillgelegt scheint, in der letzten Zeile noch einmal neues Gefälle; das Wortspiel sichert den Fortgang über das Ende hinaus. Die »wirrlust vertagt uns« (58), heißt es im Monatszyklus liebeskalender. Das heißt: Im Wirbel des Sprachspiels winkt die Hoffnung auf einen neuen lyrischen Tagesanbruch. Das Sprachspiel deckt so den konkret-körperlichen Bildergrund der Sprache auf. Das Wort selbst ist »vom leib buchstabiert«, wie im liebeskalender unter dem »november« (60) melancholisch eingedunkelt zu lesen ist:

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die blätter lassen sich gehen grabfeuchte dämmerung mahnt uns aber bleibt »tod« noch immer ein wort ratlos vom leib buchstabiert Der »Tod« ist Grenzwort und Grenzwert der lebendigen Sprache, die vor ihm »ratlos« verstummt. Um so entschiedener muss sie sich auf die Seite des Lebens stellen, ja ins Leben rufen, mit jenem anderen Sakrament, das der dichtende Pfarrer Marti mehr liebt als jede Leichenrede: der Taufe. Lyrisch ruft er ein Wort beim Namen, tauft es selbst neu, und macht damit sichtbar, wie willkürlich die Sprache uns alle getauft hat. So fügt der liebeskalender an anderer Stelle dem Begriff »dilemma« in Klammern an: »dielsa dileila dilettissima« (58). Nur auf den ersten Blick ein bloßer Kalauer: Aus dem »dilemma« hat der Autor den weiblichen Vornamen »Emma« herausgehört, um ihn durch eine Reihe weiterer Vornamen wie »elsa« und »leila« zu ersetzen. Dann geht ihm mit der »dilettissima« endgültig die Zunge durch; die »wirrlust« der Sprachwirbel zersetzt den geordneten Gedankenstrom und ruft die Frauenreihe neu ins sprachbewusste Leben. Der schöpferischen entspricht eine analytische Leistung des Sprachspiels: Es zerlegt das Gewohnte, macht es neu lesbar. So exemplarisch im Gedicht selbstgesellig (77): selbstgesellig geh mein schaft wend terrohr terraug weg von mir! auch ohne dich teil ich gesellig mich Die totalisierende und totalitäre »Gemeinschaft« wird mehrfach zerlegt und gibt frei, was in ihr steckt: der »Schaft«, das männlich auftrumpfende Werkzeugwort, berndeutsch aber auch der hohle Schrank immobilen Besitzens, und das »gemein«, von der Bedeutung des ›Allgemeinen‹ heruntergekommen zum Gewöhnlich-Schlechten. Dafür kann sich in dieser zerlegten »Gemeinschaft« plötzlich das Subjekt, das »mein«, zu Wort melden, und im »geh« legt der Sprachgänger Marti sein vitales Lebensprinzip frei. So gelesen, wandelt sich das ideologische Wort in sein Gegenteil, setzt es sich selbst zur Wehr gegen den »Terror« der Gemein-

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schaft, den die folgende Zeile ihrerseits als »terrohr« und »terraug« weiterdreht, sprachspielerisch und sinnenbewusst zugleich. Dieser »Gemeinschaft«, welche es in der zweiten Strophe direkt anspricht, stellt sich das »Ich« gegenüber. Es selbst weiß sich »geteilt«, befangen in den Widersprüchen, denen nicht entgeht, wer innerhalb dieser »Gemeinschaft« gegen deren totalitäre Züge Einspruch erhebt. Jene unterschiedlichen Gesichter, unter denen man Martis Werk wahrnimmt und klassiert, zwischen kämpferischem Engagement und sprachspielerischem Eigensinn, gehören ihm alle gleich, als sein eigener Widerspruch. Mit diesem Widerspruch lebt er; er affirmiert ihn und bringt ihn zum Ausdruck, nicht »selbstgefällig«, aber »selbstgesellig«. In einem für Marti prototypischen Gestus zeigt das »Ich« hier an sich selbst das auf, was alle teilen, ohne sich dessen immer bewusst zu sein: das Potential einer »Geselligkeit«, wie man sie mit der zwangslosen Zweisamkeit einer gemeinsam zurückgelegten Wegstrecke verbindet. Das Gedicht niedersteigen nachts, den »styx« schon im Blick, spricht vom »niedersteigen gesellig« (69). Wenn wir Martis Gedichtsammlung lesen, legen wir mit ihm eine solche Wegstrecke zurück. Das, was das »Ich« zu »teilen« droht, teilt es uns mit, teilt es uns lyrisch aus in kleinen, konzentrierten Gedichtrationen. Sie sind Wegzehrung für ein »dasein«, das sich nur als ein Unterwegssein verstehen kann, auch wenn der Weg abwärts führt, mit jenem Gefälle, dem allein sich die Strömung samt ihren Wirbeln verdankt.

Mirja Kutzer

Wenn das WORT gesellig wird Kurt Martis Theologie der poetischen Form

Kurt Marti zu lesen ist für die Theologin und den Theologen keine harmlose Feierabendbeschäftigung. Was Peter Bichsel über Marti bezüglich der gesellschaftlichen Debatten in der Schweiz gesagt hat,1 kann auch für die Theologie gelten: Seine Texte spiegeln Zeitgeschichte – auch die des theologischen Diskurses. In ihnen findet sich die Diskussion über die Mitschuld des Christentums an der ökologischen Zerstörung. Man trifft auf die von der feministischen Theologie aufs Tableau gebrachte Frage nach der Weiblichkeit Gottes. Thema sind politisch-ökonomische Unterdrückungsmechanismen, die durch kirchliche Institutionen und theologische Positionen Legitimation erfahren und die insbesondere seitens der Theologie der Befreiung angeprangert wurden. Marti zu lesen erinnert daran, dass kaum eine der Debatten als erledigt gelten kann. Zwar sind sie etablierter Bestandteil des akademischen Diskurses geworden. Zu Handbuchwissen geronnen begegnen sie dort allerdings nicht selten ihrer provokativen Sinnspitze beraubt. Bei Marti verweist nicht zuletzt die poetische Form darauf, dass die Fragen nach Gerechtigkeit und Ökologie, nach der Gestalt der Kirche und dem Bild Gottes nicht in einem theologischen Handbuch eingesperrt werden können. Dorothee Sölle hat in einem Essay über Kurt Marti geschrieben, dass die Einheit von Theologie, Politik und Ästhetik für ihn, wie für sie selbst, immer unaufgebbar gewesen sei.2 Von Gott mit den Mitteln des Poetischen, der Lyrik, des Text-Bildes zu sprechen, ist in den Texten Martis nie eine Frage der Behübschung von anders Sagbarem. Generalbassartig unterlegt die poetische Form die Inhalte mit Grundsätzlichem: Wenn das, was zum Ausdruck kommen soll, nur über den »Umweg« des Poetischen gesagt werden kann, was würde das für die Direktheit beanspruchende Sprache einer Glaubenswissenschaft bedeuten? Wenn eine poetische Theologie nicht die Form aufeinander 1 Peter Bichsel: Passen Sie auf, der Tisch wackelt. In: Kurt Marti: Texte, Daten, Bilder. Mit einem Vorwort von Walter Jens. Hg. v. Christof Mauch. Frankfurt a. M. 1991, S. 71-75, S. 72. 2 Dorothee Sölle: Begegnungen mit Kurt Marti. In: Kurt Marti: Texte, Daten, Bilder, S. 81-87, S. 87.

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aufbauender Argumente und Gedankengänge hat, sondern assoziativ zu Werke geht, ja wenn überdies einzelne Texte das Paradox bemühen, den Sinnzusammenhang verweigern, die Logik und den Begriff durchbrechen – ist die Frage nach Gott und seiner Gerechtigkeit dann überhaupt noch in einer Systematik abschließbar? Oder muss der theologische Diskurs offener werden, wandelbarer, geschichtlicher? Die poetische Form vermittelt bei Marti die Theologie mit Theoremen, die sich um den poetischen Text der Moderne gruppieren und gegenwärtig unter dem weiten Dach der Postmoderne verhandelt werden. Dazu gehören die Absage an die traditionelle Metaphysik, der Tod des Autors und des Subjekts, die Verneinung einer Fixierbarkeit von Sinn und die damit einhergehende Infragestellung von wissenschaftlichen und moralischen Normen. Es ist die besondere Leistung Kurt Martis, vermittels der poetischen Praxis die theologische Auseinandersetzung mit diesen Theoremen zu führen, ohne in schlichte Opposition oder kritiklose Übernahme zu verfallen. Durch die ästhetische Infragestellung von Sicherheiten hindurch behauptet Marti die Möglichkeit eines vertrauensvollen In-der-Welt-Seins in einer konsequenten, politischen Parteilichkeit. Das Folgende ist kaum mehr als ein Versuch, dieser Auseinandersetzung auf die Spur zu kommen. Gewählt ist eine Vorgehensweise, die Martis Texte nicht nur zulassen, sondern geradezu provozieren: in der Lyrik umherzustreifen, in manches Prosafragment hineinzuschnuppern, sich auf der Suche nach Vertrautem und Bekanntem lustvoll durch die Texte treiben zu lassen, um gerade im Unvertrauten und Fremden über Gott zu stolpern – in der Form wie im Inhalt.

Die Lust am Text – Gotteslust Es ist ein Topos in der Literaturgeschichte, sich zur Legitimierung des eigenen poetischen Schaffens auf die Poetizität der Bibel zu berufen. Dass die Bibel selbst offenkundig poetische Texte enthält, dass sie plakativ mit den Möglichkeiten des Fiktionalen spielt, ist für Dichterinnen und Dichter Rechtfertigung, selbst poetische Mittel anzuwenden und mit diesen ihrerseits theologisch tätig zu werden. Sie tun dies einmal mehr, einmal weniger gebunden an die Vorgaben des biblischen Textes oder der kirchlichen Institution.3 Und mehr oder minder verhohlen erheben sie

3 Vgl. Mirja Kutzer: In Wahrheit erfunden. Dichtung als Ort theologischer Erkenntnis. Regensburg 2006, S. 47-70.

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dabei den Anspruch, in der Poesie das sprachliche Medium zu gebrauchen, das für das theologische Geschäft weit geeigneter erscheint als der diskursive Text. In seiner Denkskizze Lust aus dem Band Von der Weltleidenschaft Gottes stellt sich Marti in diese Tradition, indem er auf die Gottesreden des Buches Hiob verweist. In diesen sieht Marti eine Theologie verwirklicht, die aufgrund ihrer poetischen Sprachform dem einigermaßen gerecht zu werden vermag, was er die schöpferische Lust Gottes nennt. Angesichts und eingedenk der irdischen Lebensfülle und Lebensvarietät aber kommt mir das Wort »Freude« noch zu gemessen, zu abgeklärt daher. Wirkte und wirkt da denn nicht eine schöpferische Energie, eine exzessive Lust und Leidenschaft, deren Gewalt uns sogar mit Furcht und Zittern zu erfüllen vermag? Eine Lust, die theologisch kaum und höchstens noch theo-poetisch artikulierbar ist, wie z. B. in Hiob 3841. Und diese Lust, Urlust, deren Schau- und Tummelplatz der blaue Lebensplanet ist, sollte nicht Gottes eigener Lust entsprungen sein?4 Gott und seiner Schöpfung Lust zuzuschreiben, ist in mehr als einer Perspektive anstößig. Die im selben Text aufgeführten Vorbehalte der christlichen Tradition gegenüber den sexuellen Konnotationen der Lust sind hinlänglich bekannt.5 Grundlegender und nicht nur in sexueller Perspektive verdächtig ist der hier ebenfalls genannte Exzess, der in der Lust zum Tragen kommt und einer christlich gebotenen Haltung zuwiderzulaufen scheint. Als Emotion der Schöpfung wie des Schöpfers bedeutet die Lust keine gemäßigte Freude, die der wesentlich über Augustinus in das Christentum getragenen stoischen Ruhe eine leicht emotive Färbung gibt.6 Die Lust ist Leidenschaft, begleitet von einer Gewalt, die mit Furcht und Zittern zu erfüllen vermag. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Art und Weise, von ihr zu reden.

4 Kurt Marti: Lust. In: Von der Weltleidenschaft Gottes. Denkskizzen. Stuttgart 2011, S. 15. 5 Immer noch grundlegend für die Entwicklung der Sexualfeindlichkeit in der frühen Kirche: Peter Brown: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München 1991. 6 Die Eröffnungsfigur der Confessiones »Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir« (Augustinus: Confessiones I, 1) adaptiert das stoische Ideal der Leidenschaftslosigkeit für das Christentum, indem es das Streben nach Ruhe mit dem Streben nach Gott identifiziert. Ziel ist ein Zustand einer von jeder Unruhe befreiten Freude, die nach Augustinus im Paradies gegeben war und in der künftigen Existenz wiedererlangt werden kann. Vgl. u. a. ders.: De civitate Dei XIV 10, 25 f.

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Der distanzierende Begriff vermag ihre Dynamik nicht zu zähmen. Die Lust – der Schöpfung wie des Schöpfers – überträgt den Exzess in die Sprache, zieht sie in den Sog des Imaginären und überführt die Sicherheit theologischer Aussagen in die Unsicherheit eines Fragespiels mit dem lustvollen Du Gottes: Erregst meine Phantasie mit Bildern, die wie im Kino rasch wechseln, bis daß ich nicht mehr weiß, ob auch Du Phantasie bist7 Der Wechsel der Bilder, die alle Sicherheiten verschlingende poetische Imagination, fußt auf einer generellen Verunsicherung der Sprache, die durch die Erfahrung der Grenzen der theologischen Rede noch einmal provoziert wird. Nicht umsonst bezieht sich Marti mit Hiob auf ein Buch, das angesichts der diskursiv nicht lösbaren Theodizeefrage mit den Möglichkeiten des Poetischen spielt. Die Geschichte vom Mann aus dem Lande Uz ist die märchenhaft anmutende Figuration eines Einzelfalls, in dessen Besonderheit Allgemeines aufscheint. Hiobs individuelles Leid, im Buch als unverdient qualifiziert, wird zur Nagelprobe für die Ordnung der ganzen Schöpfung.8 Allgemeine Welterklärungen wie der Zusammenhang von Tun und Ergehen, den er selbst und seine Freunde für gültig erachten, vermögen dem konkreten Fall des Hiob nicht gerecht zu werden. Wahr sind sie lediglich auf der Ebene der Sprache und können dort, wie die Freundesreden des Buches zeigen, immer und immer wieder wiederholt werden. Doch die Passagen, in denen das Buch Gott selbst zu Wort kommen lässt, legen eine Differenz zwischen Sprache und Wirklichkeit offen. Die Eingangsfrage der Gottesreden – »Wo warst du, als ich die Erde gründete?«9 – formuliert eine massive Kritik an auf Sprache beruhenden Systemen vermeintlichen Wissens, die ihre Entsprechung bei Marti findet.

7 Kurt Marti: Fragespiel. In: ders.: Ungrund Liebe. Klagen, Wünsche, Lieder. Stuttgart 2004, S. 22. 8 Diese Grundlinie der Hiobreden betont insbesondere Jürgen Ebach: Streiten mit Gott – Hiob, 2 Bde. Neukirchen-Vluyn 52009. Vgl. auch Kutzer, In Wahrheit erfunden, S. 246 f. 9 Hiob 38,4a. Übers. nach Ebach, Streiten mit Gott.

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hundertmal sagte ich mir daß alles schon hundertmal gesagt worden ist dennoch schlüpft was geschieht stumm-mächtig durch die maschen des worts.10 Ebenso wie die Theopoetik der Gottesreden im Buch Hiob gründet die Dichtung Martis in diesem Zweifel am Wort. Sie speist sich aus einer Skepsis gegenüber der Fähigkeit von Sprache, die Welt ein für allemal einzufangen. Wo die Gottesreden zum Vorbild werden, sind die Vorgänge auf der Welt nicht mehr auf den Zusammenhang von Tun und Ergehen, auf die Einheit des Begriffs, auf Einheit generell zurückzuführen. Wo die Lust regiert, sind selbst Paradoxe und Gegensätze nicht aufzulösen. Dass das Wort an Gott versagt, die »Zangen der Logik«,11 die Gottheit nicht zu fassen vermögen, ist nicht der Sonderfall der Sprache, sondern ihr Gesamtzustand. Gleichwohl formuliert und begegnet eine Theopoetik dem Zweifel an der Sprache wortreich. Der wimmelnde Kosmos der Gottesreden im Hiob hat in dem immer von Neuem ansetzenden poetischen Wort bei Marti eine Parallele. In den vielen Fragmenten, Gedichten, Denkskizzen über die Welt, explizit oder implizit als Schöpfung Gottes bezeichnet, korreliert die »Lust, Urlust, die Leben in immer neuen Formen, Variationen, Differenzierungen erfindet«,12 mit dem, was man in Anlehnung an den französischen Literaturkritiker und Texttheoretiker Roland Barthes die »Lust am Text«13 nennen kann. Was Barthes als »Text« bezeichnet, findet seine prototypische Form im poetischen Text der Moderne. Der Text widersetzt sich in seiner Verweigerung von geschlossenen Formen und Sinnzusammenhängen jeglicher bestehender Ordnung. Er hat nicht nur aufgegeben, Reales abbilden zu wollen. Er durchbricht

10 Kurt Marti: cusanische strophen. In: Mein barfüßig Lob. Gedichte. Berlin 1989, S. 51-52, S. 51. 11 Kurt Marti: So zart ist die Gottheit. In: Ungrund Liebe, S. 21. 12 Kurt Marti: Lust. In: Von der Weltleidenschaft Gottes. Denkskizzen. Stuttgart 2011, S. 14-16, S. 15. 13 Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt a. M. 2009.

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durch seine Form auch die Ebenen des Sinns – die Systematik der Begriffe, die Linearität des Textes, die Regeln der Grammatik und die Logik der aufeinander aufbauenden Argumentation. Darin verabschiedet er mit den Mitteln des Poetischen auch die Metaphysik in ihren klassischen Formen. Es gibt keinen tieferen Sinn, auf den sich die Dinge/ die Wörter zurückführen ließen. An die Stelle von begrifflich garantierter Einheit tritt Alterität, Differenz, beständige Verschiebung des Sinns. Lustvoll, wollüstig vermag der Leser durch den Text, der Beziehungen zu einer unendlichen Vielzahl anderer Texte unterhält, zu gleiten – seine eigenen Linien zu ziehen, sich assoziativ treiben zu lassen, ohne das Ganze zu respektieren, einen Gesamtsinn des Werkes oder gar die Intention eines Autors eruieren zu wollen. Theologie mit den Mitteln moderner Poesie zu treiben, folgt damit nicht nur Martis Absicht, den vorhandenen theologischen Systemen kein weiteres hinzuzufügen.14 Es ist eine generelle Infragestellung der Möglichkeit geschlossener theologischer Systeme. In ihrem offenkundigen inhaltlichen Anspruch machen Martis Texte freilich deutlich, dass sie in den mittlerweile vielfach auf Schlagwörter reduzierten Theoremen der Postmoderne – dem Zerspielen der Ordnungen, dem Verlust der Einheit, der Absage an einen Ur-Grund – nicht ihr Ziel finden. Vielmehr zeigt sich in ihnen das Bemühen, durch die Erschütterung des Überkommenen hindurch die alten Fragen neu zu stellen. In der »Hässlichkeit«15 und Fragmentarität des Textes enthüllt sich die Suche nach der Schönheit des Gedichts, der Genauigkeit der Sprache oder der Einheit von Form und Inhalt.16 Inhaltlich lässt der lustvolle Exzess, den Marti auf dem von ihm so genannten »Lebensplaneten«17 erkennt, die klassischen metaphysischen Fragen nach der Gutheit und Schönheit der Schöpfung, nach der Einheit der Welt gerade in ihrer Verabschiedung neu zutage treten. Diese Einheit, Gutheit und Schönheit kann nun nicht mehr dadurch hergestellt werden, dass alles Verschiedene, Veränderliche und Individuelle sich auf einen einheitlichen Grund beziehen ließe. Ganz im Gegenteil besteht Gutheit für Marti gerade im vordergründig Hässlichen, im Differenten.

14 Vgl. Ernst Rudolf Rinke: Der Weg kommt, indem wir gehen. Theologie und Poesie der Zärtlichkeit bei Kurt Marti. Stuttgart 1990, S. 32 f. 15 Zur Ästhetik des Hässlichen bei Marti vgl. Christof Mauch: Poesie – Theologie – Politik. Studien zu Kurt Marti. Tübingen 1992, S. 70 f. 16 Vgl. Rinke, Der Weg kommt, indem wir gehen, S. 57. 17 Marti, Lust, S. 15.

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Die Ur- oder Gotteslust an Alteritäten, an Anders- und Verschiedenheiten, zeichnet die Grundfigur dessen vor, was gut heißt. Gut ist die Bejahung und Förderung der andern gerade in ihrer Differenz zu mir oder zum kollektiven Wir. Im andern, der anders ist als wir, begegnet Gottes heilige Lust.18 Die Gutheit im Differenten zu sehen, verabschiedet die Metaphysik nicht, sondern stellt sie auf neue Füße. Die Einheit ist kein den Dingen zugrundeliegendes, in der Tiefe zu findendes Sein. Sie ist eine Relation der Beziehung zwischen dem Differenten, ein Vorgang je neu zu vermittelnder Bejahung. Damit korrelierend fasst Marti die Einheit Gottes nicht als die statische Einheit des aristotelischen unbewegten Bewegers oder des jenseitigen Einen neuplatonischer Provenienz, sondern als ethisch grundierte Einfachheit: »Seine Einfachheit = Seine Radikalität«.19 Diese Einfachheit verwirklicht sich in einer Vielfalt der Stimmen Gottes, in denen Gott sich in Geschichte vermittelt: »Monotheismus, aber nicht Monotonie! Die Lust des Einen und Einzigen ist Vielfalt z. B. auch der Sprachen, Kulturen, Kulte, Religionen, in denen Seine Stimme immer wieder anders laut werden kann.«20 Die Differenz der Religionen und Kulturen sind demgemäß nicht Ausweis einer wie auch immer gearteten Vorläufigkeit, die zu überwinden wäre. Vielmehr ist Gottes Stimme erst in der Mannigfaltigkeit zu vernehmen. Die logozentrische Interpretation der biblischen Rede vom Schöpferwort erhält darin eine neue Akzentuierung: »Im Anfang war Beziehung. Und dann, an Menschen gerichtet, das Wort, aber als viva vox, als Stimme.«21 Noch bevor die lebendige Stimme etwas bedeutet, ist sie Ansprache, Aufnahme von Kommunikation, Bedeuten-Können. Darin ist sie der sprachlich-symbolischen Ordnung vorgelagert. Wo das menschliche Wort die Stimme Gottes vernehmbar macht, ist es immer bereits von der jeweiligen Sprache abhängig, kulturell geprägt. In dieser Vielfalt zeigt sich Wahrheit nicht in einer dahinter liegenden Allgemeinheit, sondern in der »Oberflächen-Existenz«.22

18 Ebd. 19 Kurt Marti: Einfachheit. In: Von der Weltleidenschaft Gottes, S. 11-13, S. 12. 20 Kurt Marti: Die Stimme. In: Von der Weltleidenschaft Gottes, S. 29-34, S. 32. 21 Ebd. 22 Kurt Marti: An der Oberfläche. In: Im Sternzeichen des Esels. Sätze, Sprünge, Spiralen. Zürich / Frauenfeld 1993, S. 6.

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Der Preis freilich ist hoch. Die lebendige Stimme ist an die Zeitlichkeit ihres Erklingens gebunden. Verbunden mit der Luft und dem Atem ist sie Ausdruck von Leben, aber ebenso von Verletzbarkeit und Tod.23 Das Schöpferwort Gottes als Stimme zu denken, zieht auch Gott in die Flüchtigkeit des Daseins hinein. deine wehrlosigkeit deine erstickbarkeit o gott des lebendigen atems warum ach hast du dich selbst und alles was lebt auf atem gebaut? eine welt aus hauch nur – wie leicht haucht sie aus24 Der Flüchtigkeit des Seins entspricht sprachlich die stets nur relative Abgeschlossenheit des Fragments, das Durchbrechen der Referentialität und die beständig neue Suche nach Sinn im lyrischen Text. Die poetische Sprache als Ausdruck des Lebendigen ist darin Gegenkonzept zur begrifflich-dogmatischen oder technisch-ökonomischen Konzeptualisierung von Sein, das die Welt verfügbar erscheinen lässt und den Tod verdrängt. Dem Sterblichen Sinn abzutrotzen, ohne sich ans Leben zu klammern, verankert Martis Theopoetik in dem, was dessen langjähriger Weggefährte Kurt Lüthi als »fragliches Sein«25 bezeichnet hat. Diese Fraglichkeit nicht überwinden zu wollen, sondern sie als etwas zu begreifen, das Leben eröffnet, ist vielleicht der markanteste und theologisch nach wie vor uneingeholte Grundtenor in Martis Dichtung, die ihre Kraft gerade aus der Sterblichkeit des Körpers und der Hinfälligkeit des Wortes gewinnt.

23 Vgl. dazu Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über die Negativität. Frankfurt a. M. 2007, S. 59-69. 24 Kurt Marti: mein barfüßig lob. In: Mein barfüßig Lob, S. 29-34, S. 29. 25 Kurt Lüthi: Mut zum fraglichen Sein. Wege eines Theologen zu zeitgenössischer Kunst und Literatur. Wien 1996.

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Textkörper – Der gesellig-verletzliche Gott Die Stimme Gottes lässt sich nicht auf Sprache reduzieren. Sie erklingt im Vorsprachlichen und unterhält darin enge Beziehungen zum Körper. Eng, zu eng würde denken, wer meint, Gottes Stimme bleibe in jedem Fall an menschliche Sprachen und Grammatiken gebunden. »Die Sprache Gottes«, so Hugo Ball, »hat Zeit, viel Zeit, und Ruhe, viel Ruhe. Darin unterscheidet sie sich von der Menschensprache. Ihre Vokabeln sind über Laut und Schrift. […] Sie sät ihre Zeichen und wartet.« Hierbei kann es sich um individuell adressierte, körperlichseelische Regungen, Impulse, Widerstände, um Zeichen der Natur oder um »Zeichen der Zeit« (Matthäus 16,3) handeln.26 Der Bezug auf Hugo Ball als einem prominenten Vertreter der poetischen Moderne ist hier aufschlussreich. Das für Balls Texte charakteristische Spiel mit der Glossolalie, den Nonsense-Strukturen, den Text-Bildern begegnet auch im Repertoire Martis. Diese Textformen verbinden die Sprache mit dem Körper. Wo die Wörter zum Klangspiel werden, fordern sie das laute Sprechen und die sinnliche Wahrnehmung. Wo die Anordnung der Buchstaben für den Text konstitutiv wird, erfährt er seine Visualisierung als Text-Körper. Wo die Texte das Paradox, die Metapher, die Disruption von Sinn riskieren, bringen sie das zum Ausdruck, was Marti im obigen Zitat als körperlich-seelisch erfahrbare Regungen, Impulse und Widerstände beschreibt. Die Literaturtheoretikerin und Philosophin Julia Kristeva hat diesen den symbolischen Ordnungen, insbesondere der Sprache vorgelagerten Bereich als »das Semiotische« bezeichnet.27 Im Semiotischen gibt es bereits Strukturierungen und Bündelungen von Energien bzw. Trieben. Analytisch einholbar sind diese allerdings nicht. So wird das Semiotische nie an sich sichtbar, sondern nur innerhalb der symbolischen Ordnung: Es zeigt sich, wo diese Störungen erfährt – unkontrolliert etwa im Traum, kontrolliert in derjenigen literarischen Produktion, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommt und sowohl die Regeln von Denotation wie auch von Sinn angreift. Das Semiotische drängt zum Schreiben. In den Worten Martis:

26 Marti, Die Stimme, S. 33 f. 27 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M. 92010, S. 32-113.

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Wer schreibt, folgt einem Trieb, einem Schreibtrieb, der ebenso qualvoll wie lustvoll ist. Man könnte auch von Ausdruckstrieb, Formulierungstrieb, Erzähltrieb sprechen. Aber Trieb auf jeden Fall – und das heißt: jenseits von Logik und Überlegung, vorgängig aller Rechtfertigungen und Zielsetzungen.28 Die literarische Produktion ist damit als Reaktion auf eine körperlich spürbare Erfahrung zu deuten. Um ihr gerecht zu werden, bildet sie ihrerseits einen Körper – den Text. Dieser ermöglicht es wiederum dem Publikum, quasi-körperliche Erfahrungen zu machen. Im modernen Text ereignet sich damit das, was Marti in einem seiner so unmittelbar zugänglich erscheinenden Sprachbilder die »Geselligkeit Gottes« nennt. Einen, der gesellig ist, kann man mit den Sinnen wahrnehmen, ihn neben sich spüren, ihn riechen. Der gesellige Gott muss körperlich erfahrbar sein. Für das Christentum ist das die Zentralerfahrung schlechthin. In Jesus von Nazareth ist Gott Mensch geworden, hat einen Körper angenommen, war greifbar für die Menschen seiner Umgebung – unmittelbar und individuell. Umso schwerer wiegt der Verlust des Gott-Körpers. Maria von Magdala darf den Körper des Auferstandenen nicht mehr berühren (vgl. Joh 20,17). Als Apostelin der Apostel wird sie zur Verkünderin der Präsenz des Auferstandenen, der die Abwesenheit bereits eingeschrieben ist. In der sogenannten Himmelfahrt entrückt der Körper dann ganz. Die Suche nach dem Abwesenden, die Erwartung der Rückkehr des Gott-Körpers ist für das Christentum konstitutiv.29 Sie begründet einen Diskurs, der das Abwesende präsent setzt, ohne die Abwesenheit überwinden zu können. Dieser Diskurs kommt an kein Ende. Er fußt auf Beharrlichkeit, die der Text Geschichte, Ostern der Magdalenerin zuschreibt und mit der angesteckt zu werden das lyrische Ich sich wünscht.30 Roland Barthes, wie Marti ein Vertreter der fragmentarischen Schreibweise, hat Diskurs im Sinne des Wortes als dis-cursus, als ein Hin- und Herlaufen beschrieben.31 Er bedeutet eine fortwährende Produktion

28 Kurt Marti, Vortrag, gehalten in den Goethe-Instituten York und Glasgow am 19. und 20. 5. 1988; zitiert nach Rinke, Der Weg kommt, indem wir gehen, S. 52. 29 Vgl. Michel de Certeau: Die mystische Fabel. 16.-17. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2010, S. 124-148. 30 Vgl. Kurt Marti: Geschichte, Ostern. In: Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs. Stuttgart 1989, S. 53-56, S. 55. 31 Vgl. Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a. M. 152012, S. 15.

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von Gesten, von Körperhaltungen, von Text. Der dis-cursus bringt Sprache als Redebruchstücke, als Fragmente, als je neue Anläufe hervor, um etwas anwesend zu setzen, das sich der Fixierung entzieht. Der Prototyp des Hin- und Herlaufenden ist der Liebende und, in der Rede austauschbar mit ihm, der Mystiker. Sein Text ist nicht dergestalt, dass er den abwesenden Geliebten beschreiben wollte, den verlorenen Körper abbilden könnte. Ganz im Gegenteil ist es seine Grunderfahrung, eben daran zu scheitern. Da es ihn dennoch zum Reden drängt, schafft er aus seinen körperlich spürbaren Erfahrungen, seinem Begehren nach dem Abwesenden einen Text. Als einen solchen erotischen Diskurs hat Kurt Marti seine schriftstellerische Produktion beschrieben. In seinem Aufsatz Das erotische Verhältnis des Schriftstellers zur Sprache spricht er ausdrücklich von sich als einem Liebenden.32 Die angemessene Antwort auf die Frage, warum er schreibe, sei: »Eros. So dürfte auch die Schriftstellerei in der Regel durch ein sozusagen erotisches Spannungsverhältnis zur Sprache motiviert sein.«33 Wo dieses Begehren nach Sprache das Wort schlechthin, das Gott genannt wird, intendiert, wird Martis Textproduktion zur mystischen Tätigkeit. Sein Schaffen ist das beständige Produzieren eines Gott-Körpers mit dem Anspruch, diesen Gott berührbar zu machen. Der theologische Traktat ist dazu die falsche Form. Er fordert den distanzierten Leser, der dem Text gegenüber sitzt in dem Bemühen, sich einen Inhalt kognitiv anzueignen respektive ihn kritisch zu bewerten.34 Das Gedicht dagegen verführt den Leser dazu, die im Alltag wirksame, sie aber keineswegs komplett bestimmende Logik des Begriffs hinter und Paradoxien in sich zuzulassen, wie etwa in dem Gedicht Jesses! Jesses! Du so. Du anders. Du nicht. Du doch. Dein Leib. Deine Worte. Was weiß ich. Was soll ich.

32 Vgl. Kurt Marti: Grenzverkehr. Ein Christ im Umgang mit Kultur, Literatur und Kunst. Neukirchen-Vluyn 1976, S. 42. 33 Ebd. 34 Zur kulturellen Bedingtheit dieser Lesehaltung vgl. Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. München 22014.

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Komm glaub mit mir. Komm geh mit uns.35 Die strikte Anrede des Vokativs, verbunden mit den elliptischen Satzkonstruktionen, macht die Sprache zu einem fragenden Stammeln. Die Anrede »Du so« wird gesetzt, um durch das »Du anders« sofort revidiert zu werden. Selbst der Kernsatz der Logik, dass etwas nicht gleichzeitig sein und nicht sein kann, scheint im Gegenüber von »Du nicht« und »Du doch« aufgehoben. Der Text formiert darin einen für den Rezipienten quasi körperlich spürbaren Widerstand. Er fordert einen Leser, der die Kontrolle des rationalen Bewusstseins für die Zeit der Lektüre aufgibt und sich der Erotik des Textes aussetzt. Nochmals mit Barthes gesprochen: »Die Lust am Text, das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich.«36 Durch die Paradoxien hindurch wird Gott bei Marti damit gerade nicht zum jenseitigen Entrückten einer negativen Theologie, sondern zu einem geselligen Du: »geh / mit uns«. Der Text, Gott, schreibt sich ein in den Körper. Eben diese Aufforderung richtet Marti in seinen Texten immer wieder an das Wort, das offen ist für die theologischchristologische Bedeutung des Wortes Gottes: »wort! wort! […] komm kreis durch körper«37 oder »kriech durch körper«.38 Explizit erotisch aufgeladen wird dies in Martis Adaption des bekannten Gute-NachtGebets von Luise Hensel: »Decke mich mit Deinem Körper zu«.39 Der Text evoziert hier eine Vorstellung, die in der vielfachen emotionalen Brechung des Wütenden Liebeslieds ebenso beschützend anmutet wie das Bildmaterial des mystischen Brautgemachs aufruft. Die Gottheit wendet sich der Welt in einem Begehren zu, das tiefer reicht als das mit Bewusstsein verbundene Wort und allein mit Bildern des Körpers angedeutet werden kann. Gott ist Verführer und, da diese Position in den Kulturen des Liebesspiels traditionell weiblich besetzt ist, Verführerin: »Stets warst Du hinter mir her.«40

35 36 37 38 39

Kurt Marti: Jesses! In: DU. Rühmungen. Stuttgart 2008, S. 35. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 26. Kurt Marti: verkündigung. In: Mein barfüßig Lob, S. 64. Kurt Marti: gottesdienst. In: gott gerneklein. Gedichte. Stuttgart 2011, S. 61. Kurt Marti: Wütendes Liebeslied. In: Ungrund Liebe, S. 51. Vgl. auch Mauch, Poesie – Theologie – Politik, S. 84-89. 40 Kurt Marti: Nie hab’ ich Dich gesucht. In: Ungrund Liebe, S. 37.

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In der Geschichte der christlichen Theologie ist es den Anleihen bei der griechischen Philosophie geschuldet, Begehren auf einen Zustand zu beziehen, der als Mangel beschrieben wird.41 Da Mangel gemäß klassischer Diktion in Gott nicht sein kann, scheint es theologisch nach wie vor unstatthaft, Gott als einen Begehrenden zu denken. Im poetischen Freiraum der Lyrik entfaltet Marti eine andere Intuition: In seinen Sprachbildern ist Gott begehrend, verführend, lustvoll. Von Anfang an ist er gesellig: mit Sophia im Rückgriff auf Sprüche 8,42 in einer als Liebesgemeinschaft vorgestellten Trinität.43 Marti verhilft darin heute einem in das Reservat der Mystik abgeschobenen Traditionsstrang zu neuer Bedeutung. Als Kronzeuge für ein Denken der Trinität als Liebesgemeinschaft kann Richard von St. Viktor gelten, der in der Dreiheit der göttlichen Personen ein begehrendes und deshalb beglückendes Zueinander vermutet hat.44 Liebe, so die Grundlage von Richards Trinitätsspekulation, kann zwischen weniger als zweien nicht sein. Dies richtet sie automatisch aus auf anderes und lässt sie erst im Genießen des Anderen vollkommen werden. Begehren wird darin zum Teil der göttlichen Vollkommenheit – nicht als Ausgleich eines Mangels, sondern als überfließendes, beziehungsreiches Leben. Von Richard inspiriert dehnt aber erst Mechthild von Magdeburg, deren Bild der dreifach spielenden Minneflut Marti zitiert,45 das Begehren Gottes auf die Schöpfung aus.46 Und wie die Mystikerin des 13. Jahrhunderts unverhohlen von Gott als einem spricht, den es nach der menschlichen Seele verlangt, so ist auch bei Marti die Schöpfung Grund einer begehrenden Liebe. Am Anfang also: Beziehung. Am Anfang: Rhythmus. Am Anfang: Geselligkeit. Und weil Geselligkeit: Wort. Und im Werk, das sie schuf, suchte die gesellige Gottheit sich

41 Zur christlichen Adaption des griechischen Eros-Gedankens vgl. Anders Nygren: Eros und Agape. Gestaltwerdungen der christlichen Liebe. Gütersloh 21954. 42 Vgl. Kurt Marti: Die gesellige Gottheit am Werk. In: Die gesellige Gottheit, S. 7-9, S. 7. 43 Vgl. Kurt Marti: Gottes Sein blüht gesellig. In: Die gesellige Gottheit, S. 9497; ders.: Trinität. In: DU. Rühmungen, S. 46 f. 44 Vgl. Richard von St. Viktor: De trinitate III, SC 63, Ed. Salet. 45 Marti, Gottes Sein blüht gesellig, S. 95. 46 Vgl. Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, hg. v. Gisela Vollmann-Profe. Berlin 2010, III 9.

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neue Geselligkeiten. Weder Berührungsängste noch hierarchische Attitüden. Eine Gottheit, die vibriert vor Lust, vor Leben. Die überspringen will auf alles, auf alle.47 Begehren fußt damit nicht auf einem auszugleichenden Mangel, sondern einer Offenheit, die Liebe möglich macht. Wäre dies ein Mangel, so wäre er nicht zu überwinden, sondern lustvoll zu begrüßen, eröffnet er doch die Möglichkeit, zu leben und Leben zu gestalten. In dieser Geselligkeit, in der Lebendigkeit, im Begehren liegt freilich auch eine Verletzlichkeit Gottes begründet. Die Dramatik der biblischen Erzählungen besteht darin, daß nicht nur Menschen Gott erfahren, sondern daß Gott auch die Menschen erfährt – auf schmerz- und leidvolle Weise stets wieder. Keine Rede davon, daß Er alles menschliche Tun immer schon vorausweiß oder sogar vorausbestimmt! So sehr Er uns zu überraschen vermag, so sehr wird auch Er von uns überrascht, meistens freilich auf schmerzvolle Art.48 Zu lieben bedeutet selbst für Gott ein Risiko. Zärtlichkeit und Schmerz, beides körperliche Empfindungen, gehen mit der Liebe einher.49 Wie jeder Liebende vermag auch Gott am geliebten Anderen, am Menschen, zu scheitern – gerade dort, wo Gott in der Inkarnation den höchsten Einsatz nicht scheut.50 Die klassischen soteriologischen Modelle wie die Lösegeldvorstellung oder der Sühnetod-Gedanke verstellen nach Marti diese liebende Risikobereitschaft Gottes. Vorstellungen dieser oder ähnlicher Art: hilflose Versuche, Gottes unendliche Leidenschaft, mit der Er sich selber aufs Spiel setzt

47 Marti, Die gesellige Gottheit am Werk, S. 8 f. 48 Kurt Marti: Schmerz. In: Von der Weltleidenschaft Gottes, S. 17-19, S. 18. 49 Kurt Marti: Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Darmstadt-Neuwied 1979, S. 67: »Gott ist, was er ist: Liebe, Zärtlichkeit, Schmerz.« 50 Vgl. Kurt Marti: Wagnis der Nähe. In: Die gesellige Gottheit, S. 20-22.

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(ein mögliches Scheitern nicht scheuend), in Begriffe patriarchaler Herrschaft zu fassen.51 Gottes Stärke liegt in seiner Schwäche, seiner offenen Geselligkeit, seinem Lechzen nach Beziehung, seiner Leidenschaft. Welch ein Umdefinieren aller Vorstellungen von Stärke und Schwäche, welch Figuration von Kenosis als liebende Selbsthingabe! Und welch eine Möglichkeit, aus der Gottesliebe heraus eine zutiefst menschliche Ethik zu begründen.

Der fragile Mensch – Ethik Aus der Geselligkeit Gottes entsteht für den Menschen ein Imperativ. Sie ist eine Aufforderung, selbst gesellig zu werden, Kommunikation aufzunehmen, die körperliche Nähe zu suchen, sich zu öffnen. Der Mensch, der sich in sich selbst verschließt, wird dadurch auch zum Gottverschlossenen. Dies ist zunächst dem Lutherschen Diktum des homo incurvatus in se ipsum verwandt.52 Der sündige Mensch verkrümmt sich in sich selbst, was in der Folge seine gesamte Weltbegegnung gottwidrig werden lässt. Für Marti zeigt sich dieser Verkrümmte insbesondere im technisierten Menschen des 20. Jahrhunderts, der jegliche Fragilität des Daseins zu überwinden sucht, indem er sich die Welt und den anderen Menschen Untertan macht. Technik in ihrer ökonomischen und imperialistischen Aneignung deutet Marti als Mittel gegen die eigene Verletzlichkeit und Sterblichkeit sowie die damit verbundene Angst. Und doch ist die Akzentsetzung anders als in der augustinisch-lutherischen Tradition. Vor Augen führt Marti dies in dem Text-Bild sich öffnen.53 Dieser Text ist buchstäblich Körper: Die Wörter sind angeordnet wie eine Figur – die »Arme« mit den Textfragmenten »sich öffnen« und »nach oben« sind nach oben ausgebreitet, die Füße mit den Fragmenten »sich öffnen« und »nach unten« sind gespreizt. Der Text läuft durch eine fragile Körpermitte. Sie wird von einem »heisst« gebildet, das die stabile Entsprechung des »ist« vermeidet und die Symmetrie durchbricht. Dennoch ist die verbindende Mitte, die die Gliedmaßen einem einzelnen Körper zuordnet, vorhanden. Die Text-Figur hängt und steht

51 Kurt Marti: Das Kreuz. In: Die gesellige Gottheit, S. 59-63, S. 61. 52 Martin Luther: Scholion zu Röm 5,4: WA 56, S. 304, 25-29. 53 Kurt Marti: sich öffnen. In: gott gerneklein, S. 19.

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gleichermaßen. Sie hat Boden unter den Füßen, insoweit sie im Himmel wurzelt, und umgekehrt. Dennoch wirkt sie instabil, als könne sie ein Luftstoß umwehen. Die Hände in den Himmel gehoben, erscheint die Figur begehrend ausgestreckt auf Anderes. Darin ist sie aktiv. Gleichwohl strecken sich die Arme scheinbar ziellos und vielleicht gerade deshalb empfangen könnend in den Himmel. Der Aktivität ist damit eine grundlegende Passivität eingeschrieben. Möglicherweise jubelt die Figur mit in die Höhe geworfenen Armen. Allerdings trägt die Anordnung der Gliedmaßen auch die Gebrochenheit des Gekreuzigten in die menschliche Textfigur. Der Text lässt sich als eine Figuration lesen, die dem starken Subjekt der Moderne, wo es vorgestellt wird als selbstgenügsame, in sich abgeschlossene Entität, eine Absage erteilt. Keineswegs aber vertritt er eine Absage an das Subjekt schlechthin. Der Text-Körper markiert den Menschen als Individuum, als von anderen abgegrenzte Entität. In seinem Begehren, seiner aktiv-passiven Offenheit, ist es selbst-ständig. Allerdings ist der Mensch als rufendes, begehrendes, körperliches Individuum nicht selbstgenügsam und sich seiner selbst nicht gewiss. Er ist es auch nicht als ein Glaubender, als den die Figur den »nach oben« Offenen auszuweisen scheint. Sein Ruf nach Gott ist, wie Marti den Psalm des katholischen Begräbnisrituals umdichtet, der nach sich selbst. aus untiefen rufe ich gott nach mir54 Das Versprechen einer sicheren Identität, die der Mensch durch den Glauben zu gewinnen vermag, erscheint damit bei Marti fragwürdig. Die Ausrichtung auf Gott hebt die Fragilität nicht auf. Im Gegenteil scheint sie erst dort zutage zu treten, wo das Subjekt es wagt, sich zu öffnen, (bürgerliche) Sicherheiten aufzugeben und sich auf Gott hin auszurichten. Die Position des Glaubenden ist damit weder Weltflucht noch Vorgriff auf eine gottes- und selbstgewisse Ruhe, die mit einer emotional neutralisierten Haltung gegenüber allem Irdischen einhergeht.55 In Martis Figur ist die Offenheit für Gott im »sich öffnen nach

54 Kurt Marti: oft. In: Mein barfüßig Lob, S. 22. 55 Eine solche prägt beispielsweise die augustinische Gegenüberstellung von uti und frui, der gemäß alle Dinge der Welt gebraucht werden müssen, während allein Gott genossen werden darf. Vgl. De doctrina christiana I 7-10, CChr.SL 32, 1-167, Ed. Martin.

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oben« nur in der Symmetrie einer Offenheit für die Welt, im »sich öffnen nach unten« zu haben. Wer sich nach oben öffnet, dispensiert sich gerade nicht von seinen Bezügen zur Welt, sondern setzt sich ihnen aus. Die Offenheit bedeutet Leben, nicht Ruhe, Weltbezug statt Weltflucht. Die Fragilität ist damit auch anders als in Luthers Bestimmung des Menschen als simul iustus et peccator kein Zeichen der auch in der Rechtfertigung noch verbliebenen Sünde. Der Mensch, der sich öffnet, ist unausweichlich verletzlich. Aber erst dadurch wird er zu einem Wesen, dem es möglich ist, nach Vollkommenheit auszugreifen. Die Offenheit ist gleichzeitig die Grundform einer Haltung, die ethisch wirksam zu werden vermag und die Marti als Zärtlichkeit beschreibt. Zärtlich zu sein bedeutet zunächst Offenheit für den Anderen. Zuhören – empfangen anstatt selber senden! – ist durchaus eine Aktivität, aber eine unaufdringliche und eben darum: eine zärtliche. In diesem Sinne ist Gott zärtlich, und unsere eigene Zärtlichkeit beginnt ebenfalls damit, daß wir unaufdringlich, aber aktiv hören, zuhören lernen, um danach dann auch handelnd auf die Bedürfnisse, Freuden und Leiden anderer unaufdringlich eingehen zu können.56 Der Habitus der Zärtlichkeit begründet ethisches Handeln, das nicht positivistisch, weder durch Offenbarung noch durch Naturrecht, legitimiert werden muss. In ihm wurzelt eine Moral, die Maß nimmt an den konkreten Bedürfnissen der jeweils anderen. Diese ist eine autonome, eine menschliche Moral. Ihre tatsächliche Menschlichkeit gewinnt sie allerdings erst durch die bejahende Anteilnahme am Anderen. In diesem Sinne, nicht in einem positivistischen, ist sie göttlich. Hat die theologische wie poetische Sprachkritik die Worte eingerissen, das Gesetz aufgehoben, die Moral revidiert, so ist es nun diese Haltung der Zärtlichkeit, die dennoch das Wort fordert. Die Lust Gottes an der Vielfalt, der Geist Gottes, der »sich nicht an dogmen oder institutionen binden läßt«,57 mündet bei Marti nicht in einem Technisierung und Ökonomisierung geschuldeten oder die Postmoderne zur Plattitüde verkürzenden »anything goes«. Vielmehr ermöglicht die Sprachkritik dem Wort eine neue Würde. Erst sie eröffnet neue Möglichkeiten des Sprechens und die Chance, »zart und genau«58 zu werden. Dies ist zunächst ein Anspruch an Martis eigenes Dichten:

56 Kurt Marti: O Gott! Essays und Meditationen. Stuttgart 21987, S. 30. 57 Marti, DU. Rühmungen, S. 26. 58 Marti, Zärtlichkeit und Schmerz, S. 105.

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Zärtlichkeit bezieht sich auf den Umgang mit Lebendigem, seien’s Menschen, Tiere, Pflanzen. Zärtlichkeit heißt: das Lebendige auch in seinen unauffälligsten Formen und Äußerungen wichtig nehmen. Insofern ist Lyrik die Sprachform der Zärtlichkeit: ein Haar, ein Blick, ein Blatt werden in ihr unendlich wichtig, werden Epiphanien des Lebens überhaupt. Lyrik möchte uns lehren, auch im täglichen Gespräch auf die Details des Lebens einzugehen.59 Das zärtliche Wort ermöglicht eine andere Weltwahrnehmung. Insofern ist es Epiphanie, Offenbarung.60 Es legt Wert auf das Einzelne, sieht hinter dem allgemeinen Begriff das Detail, nimmt Maß am Leben des Anderen. Es bricht den ökonomischen Blickwinkel auf: »›Zart und genau‹ meint ferner: die Wiederentdeckung des täglichen Wunders, das Außerordentliche des Selbstverständlichen, die Heiligung des Banalen, die Verwandlung des homo faber in den homo admirans.«61 In diesem Widerstand gegen die Ökonomisierung der Sprache ist das poetische Wort unausweichlich politisch. Umgekehrt erhält alle konkrete Parteinahme, insbesondere die Parteinahme für die Armen im Schulterschluss mit der Theologie der Befreiung, eine poetische Entsprechung. Die durch die Sprachkritik geläuterte, zärtlich gewordene Sprache fordert eine neue Geltung des Wortes: »das wort will gelten, zum wohl des nächsten.«62 Es ist das Wohl des Anderen, das der Grenzen bedarf, die durch das Wort gezogen werden können: »das wort hält wache«. Deshalb darf das Wort weder dem machtförmigen Begriff anheimgegeben werden, ebenso wenig aber dem andauernden Drift der différance. Zum Wohl des Nächsten braucht es Festlegung, klare Einschnitte, wie sie Marti mit dem wiederholten Explosivlaut »k« anzudeuten scheint: »komm klag wo kälte / komm kämpf wo käfig / komm kehr was kehricht / komm krön mit klarheit«.63

59 Zitiert nach: Rinke, Der Weg kommt, indem wir gehen, S. 56. 60 Vgl. dazu Kurt Marti: Moderne Literatur. In: ders. / Kurt Lüthi / Kurt Fischer: Moderne Literatur, Malerei und Musik. Drei Entwürfe zu einer Begegnung zwischen Glaube und Kunst. Zürich 1963, S. 15-165, S. 147: »Aber Literatur ist in ihren besten Realisationen ein Wirkmuster solcher ›Epiphanien‹, in denen das ›Gewöhnliche‹ plötzlich in einem Moment überwältigender Helligkeit transparent wird auf Ungewöhnliches, Ungewohntes hin.« 61 Marti, Zärtlichkeit und Schmerz, S. 117. 62 Marti, DU. Rühmungen, S. 40. 63 Marti, verkündigung, S. 64. Eine Alliteration mit »k« in Verbindung mit einer Anrufung an das Wort verwendet Marti ebenfalls in dem Gedicht gottesdienst. In: gott gerneklein, S. 61.

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Ihren Halt findet Sprache somit in der Parteinahme für den Anderen. Allerdings zieht die sprachliche Form einen Vorbehalt ein. Der Anruf an das Wort erinnert an den Maranatha-Ruf: Unser Herr, komm! Auch in der konkreten Parteilichkeit vermag Sprache ihr Gelingen aus sich heraus nicht zu verbürgen. Die poetische Form zeigt an, dass »jede Bezeichnungstätigkeit ein Akt der Hoffnung ist«.64

Das Wort »Gott« Das Wort als Bestandteil der menschlichen Sprache ist interpretationsoffen für jenes Wort, durch das die Schöpfung geworden und das Gott selbst ist. So ist es letztlich das Wort »Gott«, das die Dichtung Martis wie einen Nukleus umkreist und in dem sich ebenso seine Theologie wie sein Sprachverständnis zuspitzt. Das Wort Gott durchmisst die Bandbreite der Sprachverwendung. Es steht wie kein zweites für ihre Funktionalisierung und die Machtausübung vermittels Sprache. Marti zeichnet diese in einem seiner bekanntesten Gedichte als Erniedrigung und damit analog zu Abstieg und Erniedrigung des Gottessohnes. und ALSO wurde das wort Gott zum letzten der wörter zum ausgebeutetsten aller begriffe zur geräumten metapher zum proleten der sprache65 Die Funktionalisierung des Wortes »Gott« macht aus dem Wertvollsten das Wertloseste. Das Wort wird erniedrigt, indem es seiner Metaphorik beraubt und als Begriff ausgebeutet wird. Das »ALSO« ruft Friedrich Nietzsches Zarathustra auf und setzt über diesen letzten Teil des Gedichts die Überschrift des Nihilismus. Dieser droht nicht erst dort, wo Gott für tot erklärt wird, sondern wo besonders viel von ihm gesprochen, wo Gott zur Legitimation von Macht und Gewalt herangezogen wird und das Wort »Gott« als Garant der bestehenden (sprachlichen) Ordnungen auftritt. Soweit würde Marti wohl in Nietzsches Kritik einstimmen.

64 Knut Wenzel: Sakramentales Selbst. Der Mensch als Zeichen des Heils. Freiburg i. Br. 2003, S. 361. 65 Kurt Marti: die passion des wortes GOTT. In: abendland. gedichte, Darmstadt 1980, S. 11.

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Entgegen dieser nietzscheanischen Bewertung als Garant des Begriffs, nimmt Marti das Wort »Gott« gerade als dessen konsequente Infragestellung. Es markiert eine Grenze der Sprache, die nicht einfach am Ende dessen liegt, was sich sagen lässt. Vielmehr durchzieht diese Grenze unser gesamtes Sprechen und macht im Sagbaren das stets Entzogene bewusst. Alle Beschreibungen der Welt, berührt von diesem Wort »Gott«, geraten dadurch in Bewegung. Sie werden hineingezogen in das Begehren, den Eros, in dem die Sprache nach Sinn strebt, ohne ihn verbürgen zu können. Dieser Dynamisierung entspricht Martis »Wunsch – Daß Gott ein Tätigkeitswort werde«.66 In seiner Dichtung wird das Sprechen von Gott als Tätigkeit kenntlich – als performative Sprache, im Vokativ. Das Wort »Gott« ist in striktester Weise Anrede. Sie kommt an kein Ende, da sie nicht wesentlich Inhalt, sondern Beziehung ist. Sie ist ein Vollzug von Sprache, in dem das etwas sagen in den Hintergrund tritt zugunsten des Sprachgeschehens selbst. Dafür stehen die vielen Formen und Bilder, in denen Martis Dichtung sich ausstreckt auf »das Ganze, die Fülle (auch von Weiblichkeit, Männlichkeit)«.67 Darin wird das Wort »Gott« zu einem Ausdruck der Hoffnung: Trotz der Infragestellung von Bedeutung und Sinn, die Martis Dichtung nicht negiert, sondern in sich aufnimmt, vermag Bedeutung dennoch zu gelingen. So ist es bei Marti das Wort »Gott«, das als ihre Grenze und ihr Ziel den Worten insgesamt ihre Würde zurückzugeben vermag: »der nicht bedeutet: er schenkt bedeutung!«68

66 Marti, Zärtlichkeit und Schmerz, S. 135. 67 Marti, Gottes Sein blüht gesellig, S. 96. 68 Kurt Marti: lobpreis. In: gott gerneklein, S. 47.

Stefanie Leuenberger

Von Bürgern und Riesen Verschlungene Wege durch Kurt Martis Prosa

Sunt lacrimae rerum: Unter diesem Titel wurde im November 1989, drei Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl und dem Großbrand beim Chemiekonzern Sandoz in Schweizerhalle, von Schülern des Städtischen Gymnasiums Bern-Neufeld und zahlreichen Musikern im Berner Münster ein ökologisches Oratorium für den Planeten des Lebens aufgeführt. Dorothee Sölle, Adolf Muschg und Kurt Marti hatten dafür Texte verfasst, die sie selbst rezitierten, die Musik stammte von Daniel Glaus. Dass gerade die Schüler des Neufeldgymnasiums die Veranstaltung mitinitiierten, überraschte nicht, denn sie galten allgemein als politisch engagiert und umweltbewusst und als unermüdliche GSoA-Aktivisten. Die Aufführung des Oratoriums fand am selben Wochenende statt wie die Abstimmung über die Volksinitiative zur Abschaffung der Armee. Während die Arbeit Dorothee Sölles in der Frauen-, Friedens- und Ökologiebewegung, ihr Wirken für eine »Befreiungstheologie im europäischen Kontext« und ihre »Theopoesie«1 in dieser Zeit an manchen Gymnasien im Philosophieunterricht thematisiert wurde, bildeten Kurt Martis Texte offenbar keinen Bestandteil des Schullektürekanons; im Deutschunterricht wurden sie kaum gelesen. Warum nicht, müsste man fragen – warum nicht in einer Zeit, die gerade von vielen Jugendlichen intensiv als politisch bewegt erlebt wurde, in der das Bewusstsein für die Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber der Umwelt zunahm und alternative Lebensweisen nicht nur in Gedanken entworfen, sondern auch erprobt wurden? In Bern führte damals die Auseinandersetzung um diese Thematik zu starken Spannungen und einer Polarisierung innerhalb der Bevölkerung.2

1 Vgl. Martis Würdigung der mit ihm befreundeten Sölle, die zusammen mit ihm, Wolfgang Fietkau und Arnim Juhre ab 1967 den Almanach für Literatur und Theologie herausgab, in: Kurt Marti: Notizen und Details 1964-2007. Beiträge aus der Zeitschrift Reformatio. Mit dem Verein Reformatio hg. v. Hektor Leibundgut / Klaus Bäumlin / Bernard Schlup. Zürich 2010, S. 13431348, S. 1346 und 1343. 2 Vgl. zum Folgenden: Heinz Nigg (Hg.): Wir wollen alles, und zwar subito! Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen. Zürich 2001, S. 423-430.

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Das »Freie Land Zaffaraya«, ein Zelt- und Wagendorf, war im Sommer 1985 im Zuge der Proteste Jugendlicher nach der Schließung und polizeilichen Räumung des »Autonomen Begegnungszentrums« in der Berner Reithalle auf dem Gaswerkareal im Marzili errichtet worden. Neben Reithalle, Dampfzentrale und Gaskessel stand das Zaffaraya für die Forderung nach Freiräumen für junges, alternatives Leben. Die Befürworter des Anliegens sowie Kulturschaffende, die das Begehren unterstützten – etwa die Band Züri West sowie Polo Hofer und Stefan Eicher –, standen Teilen des Berner Gemeinderats gegenüber in einer Debatte, die mit zunehmend radikaleren Mitteln geführt wurde. Die gewaltsame polizeiliche Räumung des Zaffaraya im November 1987 rief große Demonstrationen mit vielen sehr jungen Teilnehmern hervor, an zahlreichen Schulen wurde gestreikt. Der massive Protest war gegen das Vorgehen von Polizei und Gemeinderat gerichtet, zielte zugleich aber viel allgemeiner auf die Überreglementierung des Lebens und die Repression Andersdenkender und -lebender, auf die Verschmutzung der Umwelt durch Abgase und Atommüll sowie auf die Teilnahme der Schweiz an der Ausbeutung der Dritten Welt. Damit verbunden war bei vielen ein Misstrauen gegenüber dem kapitalistischen System überhaupt. Hatten Martis Texte in diesen Jahren also vielleicht einen zu hohen Aktualitätsgrad und wurden deshalb an den Schulen nicht gelesen? Fürchtete man, eine Lektüre würde einseitig ausfallen, da die Möglichkeit einer Distanznahme fehlte, die oft Dimensionen eines Textes erkennbar werden lässt, die bei größerer Unmittelbarkeit verdeckt bleiben? Heute ist diese Distanz gegeben, und sie ermöglicht es, Martis literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1960 und 1990 im Überblick zu betrachten. Dabei wird die Breite an Themen, Gattungen und Formexperimenten deutlich, die diese Texte aufweisen, deren literarhistorische Bedeutung und zeitgeschichtlicher Bezug sich erst aus dieser Perspektive beschreiben lässt. Gemeinsam ist ihnen, so die These des vorliegenden Beitrags, die Reflexion über die »menschlichen Angelegenheiten, die Geist und Herz bewegen«, wie sie im Vergil-Zitat »sunt lacrimae rerum«3 anklingt, das dem Oratorium für den Planeten des

3 »[S]unt hic etiam sua praemia laudi, / sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt.« In: Publius Vergilius Maro: Aeneis: lateinisch-deutsch. In Zusammenarbeit mit Maria Götte hg. u. übers. v. Johannes Götte. München / Zürich 81994, I, 461 f., S. 32.

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Lebens den Titel gab. Die Szene bei Vergil ist folgende: Als Aeneas, in Karthago angekommen, auf einem Wandbild in einem Tempel den verheerenden Trojanischen Krieg und den Tod seiner Gefährten dargestellt sieht, findet der Trauernde einen gewissen Trost, indem er erkennt, dass auch fern von Troja das, was den Menschen dort geschehen ist, zu Tränen rührt und dass die menschlichen Angelegenheiten überall das Herz bewegen. Die Vergil-Stelle zeigt, dass es die Literatur ist, die die Aufgabe übernimmt, diese Einsicht zu transportieren: Was dem Menschen, was der Welt angetan wird, geschieht nicht ohne Resonanz; es gibt eine Aufmerksamkeit für die Leidenden und eine Auseinandersetzung mit den verheerenden Ereignissen. Die Literatur nach 1945 entsteht in einer Zeit, die auf eine Epoche folgt, in der das Zerstörungspotential ideologiegeleiteten menschlichen Handelns deutlicher wurde denn je zuvor. In Reaktion auf diese Erfahrung wie auch auf den von marxistischer Seite erhobenen Vorwurf, die künstlerischen Avantgardebewegungen der Moderne, besonders der Expressionismus, hätten, wenn auch unbeabsichtigt, dem Faschismus zum Sieg verholfen,4 entwickelte sich eine der intellektuellen Debatten der Nachkriegszeit um die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Autonomie der Kunst und ihrem Engagement. Adorno, neben Sartre einer der prominentesten Beiträger in dieser Diskussion, vertrat die Auffassung, Literatur könne nur dann »für den Menschen da« sein, »wenn sie nicht sich gebärdet, als ob sie ihm hülfe«:5 Beispielhaft seien Texte, in die »die Politik eingewandert« sei, obwohl oder gerade weil sie sich »politisch tot stellen, so wie Kafkas Gleichnis von den Kindergewehren, in dem die Idee der Gewaltlosigkeit mit dem dämmernden Bewußtsein von der heraufziehenden Lähmung der Politik fusioniert ist«.6 Diesen Werken eigne eine Offenheit und Deutungsbedürftigkeit, wie etwa in der Kunst Klees Angelus Novus, »der von Karikatur und Engagement kein offenes Emblem mehr trägt, aber beides weit überflügelt. Mit rätselhaften Augen zwingt der Maschinenengel den Betrachter zur Frage, ob er das vollendete Unheil verkünde oder die darin verkappte Rettung.«7 Martis Texte lassen erkennen, dass er selbst ein anderes Konzept vertritt. Sie sind innerhalb des Nachkriegsschaffens Teil einer Literatur,

4 Vgl. dazu Hans-Jürgen Schmitt / Sonja Herrmann (Hg.): Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Frankfurt a. M. 1973. 5 Theodor W. Adorno: Engagement. In: ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 2003, S. 409-430, S. 429. 6 Ebd., S. 430. 7 Ebd.

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die sich dezidiert auf die unmittelbare Gegenwart bezieht und damit auf eigene Weise Stellung nimmt zur Frage nach den Möglichkeiten des »Engagements« der Literatur und nach dessen geeigneter Form. Dies zeigt sich anhand verschiedener Bereiche seiner Arbeit. Marti war in den 1960er-Jahren einer der wichtigsten Anreger für andere »modern mundart«-Autoren wie Ernst Eggimann, Fritz Widmer, Franz Hohler, Walter Vogt und Mani Matter. Deutlich wird dies bereits im experimentellen apero-Heft, im Politerarischen Aperiodikum vom Dezember 1967, das der »modern mundart« gewidmet ist. Neben Gedichten Martis erschienen dort u. a. füüf bäärndütschi thägxte von Walter Vogt, Mani Matters Chansontext mit den Eingangsversen »Dene wos guet geit / giengs besser« und Ds Totemügerli von Franz Hohler.8 Das Heft bot einen Ausgangspunkt für die neue Mundartliteratur und wies einer Entwicklung den Weg, die fruchtbar war für eine andere Art des Umgangs mit dem Dialekt in der Lyrik, die sich von jeder Verbindung mit der Heimatliteratur dezidiert absetzen wollte. Werner Weber hat dies in der bekannten Rezension zu Martis 1967 erschienenem Gedichtband rosa loui betont: Die Röseli- und die Gemüsegartenmissverständnisse, die Küsschenschämigkeiten und die Scheiden-tut-weh-Schleichereien: der ganze Trauerwonnezauber, in welchem die Mundart für den Dichter nicht einmal mehr dichtet und denkt, sondern nur selbsttätig abschnurrt – es ist überwunden.9 Martis Gedichte sind in diesem Zusammenhang deshalb wichtig, weil viele von ihnen an die Konkrete Poesie anknüpfen, besonders an Arbeiten Eugen Gomringers, der seinerseits den Dialekt als Ausgangspunkt für einige seiner Gedichte gewählt hatte, etwa für den bekannten Text schwiizer. Die von Max Frisch diagnostizierte »Geschichtslosigkeit«10 der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelt sich hier im Schweigen und Abwarten: »nöd rede / sicher sii / nu luege«.11 Gomringer wiederum wurde von der Wiener Gruppe rezipiert, die die Avantgarde vor dem Zeiten Weltkrieg wiederentdeckte und ver-

8 Apero. Politerarisches Aperiodikum, Heft 2, Dezember 1967, S. 20-23, 38 und 12-14. 9 Auszug aus der in der NZZ erschienenen Rezension, wiederabgedruckt in: Apero, Heft 2, Dezember 1967, Umschlagrückseite. 10 Max Frisch: Vorsatz. In: Tagebuch 1966-1971. Gesammelte Werke Bd. VI. Frankfurt a. M. 1976, S. 12. 11 Aus: Eugen Gomringer: schwiizer. In: Dieter Fringeli: Von Spitteler zu Muschg. Literatur der deutschen Schweiz seit 1900. Basel 1975, S. 119.

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suchte, deren Verfahren für eine Nachkriegsliteratur anschlussfähig zu machen – gerade auch durch an expressionistische Lautpoesie erinnernde Dialektgedichte. Das plötzliche Eindringen politischer Begriffe und Schlagworte in die Mundartlyrik, etwa in Kurt Martis 8 x vietbärn aus dem Band rosa loui,12 wirkte irritierend und hatte Sprengkraft. Die 1975 an Eugen Gomringer gestellte Frage: »Wie konkret kann Konkrete Poesie sich engagieren?«13 ist offensichtlich eine Frage, die auch Kurt Marti stets bewegt. Von hier aus lässt sich der Entwicklung der Deutschschweizer Mundartliteratur bis in die Gegenwart nachgehen, in der eine neue Begeisterung für Dialekttexte erkennbar ist: Gerade das performative Element wird nun stark gemacht – etwa bei Bern ist überall, im Rahmen der jährlich in Solothurn stattfindenden Mundartnacht Gägäwärt und auf zahlreichen Slam-Poetry-Veranstaltungen. Die besten Texte dieser neuesten Dialektwelle stehen in der Tradition der Mundartlyrik seit den 1960er-Jahren, die der Dialektliteratur neue Felder jenseits der Heimatliteratur erschloss, etwa das der Randständigen in der Hauptstadt: »Am Wuchenänd nimeni aube zwüschine wieder e chli Gift.«14 Die an manchen Aspekten der Konkreten Poesie orientierte moderne Mundartlyrik kann derjenigen Literatur zugezählt werden, die sich dem Spiel mit dem Alphabet widmet. Texte, die die Buchstaben herausstellen und dabei etwa Verfahren der Kombination und Permutation einsetzen, gibt es seit der Antike. Häufig wurden diese Verfahren als manieristische, semantisch leere formale Spielerei angesehen. Es gibt jedoch die Möglichkeit einer alternativen Lektüre: Die These wäre dann, dass in zahlreichen Texten, die die alphabetische Ordnung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, die Arbeit mit den Buchstaben nicht als selbstreferentielle Reflexion über die Sprache und die Produktionsverfahren von Texten zu verstehen ist. Sie dient vielmehr der Auseinandersetzung mit der Sprache als einem der Ordnung der Dinge entsprechenden Zeichensystem. Buchstabenspielerische Texte entstehen in Zeiten krisenhafter Brüche und thematisieren die Auflösung und die Rekonstitution von Ordnung. Sie fragen damit auch nach dem Verhältnis von Sprache und Welt und nach den Möglichkeiten und Grenzen der poetischen Kraft

12 Kurt Marti: 8 x vietbärn. In: ders.: rosa loui. vierzg gedicht ir bärner umgangsschprach. Neuwied 41972, S. 25-28. 13 Vgl. Eugen Gomringer / Ekkehard Juergens: Wie konkret kann Konkrete Poesie sich engagieren? In: Konkrete Poesie II: kritische Ansätze zur Konkreten Poesie. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 21975, S. 43-47. 14 Pedro Lenz: Der Goalie bin ig. Roman. Luzern 22010, S. 168.

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des Menschen. Diskutiert wird damit nicht zuletzt die Rolle, die die jeweiligen literarischen und künstlerischen Avantgarden diesbezüglich einnehmen, das Problem der Repräsentation des Undarstellbaren sowie das Verhältnis von Geschichte, Erinnerung und Politik. Diese Texte zeugen von der Dialektik der Säkularisierung und haben in der europäischen Neuzeit eine entscheidende historische, theologische und politische Signifikanz. Martis Lyrik nimmt eine wichtige Stellung in beiden Kontexten ein, und zwar gerade aufgrund ihrer Bezugnahme auf gesellschaftspolitische Themen und auf die Frage nach der Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber der Umwelt. Was aber bedeutet bei Marti »Engagement«? Zum Verhältnis von Autonomie und Engagement der Literatur bei Marti ist schon einiges gesagt worden: Dass sich das »christliche Bewußtsein« Martis »vom politischen nicht lösen läßt«,15 wie Christof Mauch schreibt, ist auch der Tenor von Peter Bichsels Reflexionen zu Marti: Für uns Schweizer aber gehört Marti zu den konsequentesten politischen Denkern, für uns ist er eine Hoffnung und für die sogenannten Etablierten ist er ein rotes Tuch. Das Phänomen übrigens, daß für fremde Leser Politisches in der Literatur der Schweizer nicht erkennbar ist, hat mit ihrer selbstverständlichen Nähe zur Politik zu tun, und vielleicht auch mit dem prinzipiellen Mißtrauen der Schweizer gegenüber allem Kulturellen. Die Schweiz war noch zur Zeit der Reformation total bildungsfeindlich, wer Bildung beziehen wollte, hatte sie im Ausland zu beziehen, wer gebildet war, war ein Fremder. Das Schimpfwort Intellektueller ist in der Schweiz ab und zu fast gleichbedeutend mit Ausländer. Das selbstverständliche politische Engagement der Schweizer Autoren hat vielleicht auch damit zu tun, daß sich jene »Ausländer« nützlich machen wollten, mit dabei sein wollten, erklären wollten, daß Kultur auch etwas mit diesem Land zu tun haben könnte. Sich nützlich machen wollen, das könnte auch eine Formel sein für das Werk Martis, aber da steht wieder die Selbstverständlichkeit des Pfarrers im Weg. Die stand einem Mörike nie im Weg, er soll ein schlechter Pfarrer gewesen sein, und einem Jeremias Gotthelf auch nicht, er muß ein ganz gewöhnlicher konservativer Pfarrer gewesen sein. Und vielleicht ist es genau das, der Beruf von Marti gab jene

15 Christof Mauch: Poesie – Theologie – Politik. Studien zu Kurt Marti. Tübingen 1992, S. 27.

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Legenden nicht her, mit denen man sich in der Literaturszene einen Namen machen muß.16 Erhellend sind dazu besonders auch Martis eigene Ausführungen – nicht zu seinen eigenen Texten, sondern zur Konkreten Poesie Gomringers: In der Konkreten Poesie, so Marti, werde das »Eindringen des Schweigens in den Text«17 deutlich. Dies zeige zugleich auch ihre »entscheidende Schwäche«: Sie ist den gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber indifferent und unkritisch. Sie entsozialisiert den Leser und führt ihn in die Stille der Meditation. Ihr eignet ein Gefälle zum Schweigen. Die weisse, unbeschriebene Fläche einer Seite wird in das visuelle Bild der Konstellation miteinbezogen. Ein Rückzug ins Private, ja ins Privatissimum, als welches das meditative Schweigen wohl gelten darf, ist unverkennbar und hat auch seinen guten Sinn […].18 So sei »in totalitären Gesellschaftssystemen […] das Schweigen oft die einzige Möglichkeit, ›bei sich selber‹ […] zu bleiben«.19 Dennoch bringe »Literatur mit ihrer Erkundung unserer Sprach- und Ausdrucksgrenzen stets von neuem in Erinnerung, dass Sprache als Mit-Teilung nur heissen kann und heissen muss: das Schweigen brechen ›wie ein Stück Brot‹, um im Wort und durch das Wort mit dem Nächsten zu teilen«.20 Marti selbst, kann man aus der zitierten Stelle schließen, versteht seine Arbeit, in genauer Umkehrung zu Gomringers Ansatz, als Versuch einer ›Sozialisierung des Lesers‹, als Versuch, das Schweigen zu überwinden durch das Wort. Dies gilt nicht nur für Martis Lyrik, sondern auch für die Prosa, mit der sich die Forschung bisher nur wenig beschäftigt hat. Martis Prosawerk umfasst unter anderem die Dorfgeschichten 1960, den Roman Die Riesin und die Bürgerlichen Geschichten. Welche Bedeutung kommt diesen Texten zu, die in der Zeit zwischen 1960 und 1983 erschienen?

16 Peter Bichsel: Passen Sie auf, der Tisch wackelt. In: Kurt Marti. Texte, Daten, Bilder. Hg. v. Christof Mauch. Mit einem Vorwort von Walter Jens. Frankfurt a. M. 1991, S. 71-75, S. 74. 17 Kurt Marti: Moderne Literatur. In: ders. / Kurt Lüthi / Kurt von Fischer: Moderne Literatur, Malerei und Musik. Drei Entwürfe zu einer Begegnung zwischen Glaube und Kunst. Zürich / Stuttgart 1963, S. 15-168, S. 67. 18 Ebd., S. 62 f. 19 Ebd., S. 65. 20 Ebd., S. 73.

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Was thematisieren sie, und sind sie ähnlich anschlussfähig für eine heutige Lektüre wie die Gedichte? Diesen Fragen gilt es hier zunächst im Hinblick auf den Roman Die Riesin21 nachzugehen. Danach ist das an diesem Text Beobachtete anhand einiger Überlegungen zu den Dorfgeschichten 1960 und den Bürgerlichen Geschichten zu prüfen.

Die Riesin Die Riesin ist eine Wucht, in jeder Hinsicht. Der 1975 veröffentlichte Text unterscheidet sich in struktureller wie thematischer Hinsicht erheblich von Martis übrigen Prosaarbeiten, ist jedoch mit einigen von ihnen durch intertextuelle Verweise verknüpft. Während die Erzählungen als kleine, formal konventionell gehaltene Einheiten meist ein einzelnes Thema verhandeln, nutzt Die Riesin die Möglichkeiten der Gattung Roman, um verschiedene Themenbereiche miteinander zu verschränken und unterschiedliche Genres und Darbietungsformen zu vereinen. Die Riesin kann insofern als postmoderner Text angesehen werden, als die Rekonstruktion der erzählten Welt zwar nicht verhindert, aber doch erschwert wird, um den Vorgang der Rekonstruktion als solchen bewusst zu machen. Da der Roman seine eigene Struktur explizit thematisiert, wird klar, dass dies auch eine ironische Volte darstellt: Der Text bezieht sich auf die postmoderne Literatur mit ihrer Pluralität an Formen und der Instabilität ihrer Welten und positioniert sich dabei zugleich innerhalb und außerhalb dieser Schreibversuche; er tritt bereits in Distanz zu Texten, die sie unhinterfragt affirmieren. Und diese Distanznahme geschieht auf ganz eigene Weise: Der Text führt einen Ich-Erzähler ein, dem im Traum eine blaue kahle Riesin erscheint, von der er nicht genau weiß, was oder wer sie ist, inwiefern sie existiert und ob sie das, was ihr zugeschrieben wird, wirklich getan hat – ob sie also, wie im Traum nahegelegt wird, tatsächlich den kleinen, schwächlichen, stets ängstlichen Egon verschlungen hat, der die Gemeinschaft und Vermählung mit ihr anstrebte. Das Verschlungenwerden durch die Riesin bleibt also auf der Inhaltsebene unsicher und bloße Vermutung. Dagegen, und dies wird im Folgenden zu zeigen sein, ist es der Text selbst, der das Verschlingen

21 Kurt Marti: Die Riesin. Roman. Durchgesehene Neuausgabe des zuerst 1975 veröffentlichten Romans. Stuttgart 1990.

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vornimmt. Wie er dies tut und was dies für die hier zu untersuchende Lektüre bedeuten kann, darauf soll nun genauer eingegangen werden. Der Roman lässt zwei Lesarten zu, die nicht nebeneinander bestehen, sondern sich gegenseitig aufheben, verschlingen. Hier zunächst die erste Spur: Der Romanbeginn inszeniert das Erwachen des bürgerlichen Körpers aus einem Traum, dem das Erwachen des Geistes nur zögerlich folgt. Die anschließende Reflexion bringt ans Licht, dass im zeitgenössischen Bürgertum der Traum von einer Vereinigung mit dem Mächtigen, Großen, Riesenhaften besteht: Durch diese Vereinigung hofft das sich oft klein und zurückgesetzt fühlende Ego sich aufzurichten. Sie ist aber zugleich ambivalent besetzt und mit starker »Angstlust«22 verbunden. Denn das Mächtige, überwältigend Große ist immer auch das, was das einzelne Subjekt zu verschlingen, was die Individualität auszulöschen droht. Um Genaueres über die Identität dieser Riesenmächte zu erfahren, wird vom Ich-Erzähler, der selbst Historiker ist, ein seit der Aufklärung in Fällen der radikalen Verunsicherung unter Gebildeten erprobtes Mittel angewandt: die Deutung des Phänomens auf der Grundlage wissenschaftlicher Analyse. Zu deren Vorbereitung wird zunächst der Weg rekonstruiert, auf dem man zu diesen ambivalent besetzten Mächten gelangt, und es ergibt sich, dass sie sich genau dort nicht finden lassen, wo der Körper in glücklicher Vereinigung mit einem anderen Körper ganz bei sich selbst ist. Dies zeigt sich im Romankapitel Madlens Quartier, in dem zwei inhaltlich und formal unvereinbare Texte ineinander verzahnt sind: Der eine berichtet von der Suche nach der Riesin; der andere, kursiv gedruckt und damit graphisch davon abgesetzt, erinnert an die glückliche Zeit mit Madlen, der Jugendliebe des Protagonisten. Die darauf folgende wissenschaftliche Analyse des Traumbilds von der Riesin beginnt mit einer Historisierung. Dass die Vorstellung riesenhafter und ambivalent besetzter Mächte die Menschheit seit ihren Anfängen beschäftigt, dass also die blaue Riesin ein »Findling aus mythischer Urzeit«23 ist, wird schnell deutlich: Der Protagonist, der bei einer altehrwürdigen Bibliothek angestellt ist, studiert mehrere Werke, die auf mythische Vorstellungen von Riesen eingehen. Übertragen auf metaphysische, politische, soziale und ökonomische Mächte, wirken diese Vorstellungen bis in die Gegenwart. Im Gespräch mit anderen Bibliotheksmitarbeitern erörtert der Protagonist die Implikationen dieser Erkenntnis. Mit ihr geht die Feststellung einher, dass die bürgerliche Welt der mitteleuropäischen

22 Ebd., S. 25. 23 Ebd., S. 63.

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Nachkriegszeit gerade aufgrund ihrer blinden Verfallenheit an die verschiedenen Riesen in einer Krise stecke. Diese spiegelt sich in den Spannungen innerhalb der Ehe des Ich-Erzählers, in der ein friedliches Sich-aneinander-Gewöhnthaben herrscht und in der man aufgehört hat, Träume und Wünsche mit dem Partner zu teilen. Dies führte zur vorübergehenden Trennung des Paares und zur intensiven Reflexion des Ich-Erzählers über seine Lage. Mit einem weiteren Traum, in dem er zusammen mit Madlen der bürgerlichen Kunst-Welt über die Dächer der Stadt entfliegt, beginnt seine »Wiedergeburt«:24 die Entfernung von der Riesin, der Ausbruch aus der täglichen Routine seiner Arbeit und die Prüfung der Möglichkeiten eines alternativen ›richtigen‹ Lebens. Cornelia Hermanns schrieb in ihrer Lektüre des Romans, als »Waffe gegen die Riesen« werde schließlich, am Roman-Ende, das »befreiende Lachen […] empfohlen«, denn eine »humorvolle Absage an alle übermächtigen, überindividuellen, das Alltägliche ideologisierenden, und damit pervertierenden Riesen aller Art in und um uns ermöglicht Freiheit und Souveränität«.25 Ein versöhnlicher Schluss also, die Möglichkeit eines Auswegs des reflektierenden Individuums aus der Bedrohungssituation ist es, was diese Interpretation nahelegt. Hierbei könnte man es bewenden lassen, wenn man nicht den Eindruck hätte, dass über diese erste inhaltliche Spur im Roman eine zweite Spur gelegt wurde – was einen weiteren Lektüreschritt notwendig macht. Man könnte diese zweite Spur die Spur der intertextuellen und intermedialen Bezüge nennen. Sie bewirkt, dass der Text beginnt, sich gegen seine eigenen Aussagen zu wenden – dass er beginnt, sich selbst zu verschlingen. Wie aber ist dies zu verstehen? Schon auf der ersten Textseite zeigt sich, dass der Romantext ein Konglomerat von Zitaten und Verweisen ist, dass das Leben und die Erfahrungen des spätbürgerlichen Protagonisten immer schon durch die Literaturgeschichte und durch die mediale Kultur des 20. Jahrhunderts hindurchgegangen sind: Es sind somit Erfahrungen aus zweiter Hand. Das »Erwachen« des Körpers zu Beginn des Romans wird vermittelt durch Reminiszenzen an das Erwachen des in den bürgerlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts gefesselten Körpers um 1900, in der Zeit der Décadence, der Lebensphilosophie und der entstehenden Lebens-

24 Ebd., S. 94. 25 Cornelia Hermanns: Im Schatten der Riesen. Kurt Martis Roman »Die Riesin«. In: Kurt Marti. Texte, Daten, Bilder, S. 189-197, S. 196 f.

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reformbewegung. Das literarische Referenzwerk bilden Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig wie auch Viscontis Verfilmung von 1971. An Thomas Manns Text erinnert der Gedankenstrom des Ich-Erzählers beim Aufwachen, der den Erzählfluss, das Versmaß, den hohen Stil, die Bildwelt und die epitheta ornantia antiker Epen nachahmt: Schön wär’s, entspannt und wohlig sich treiben zu lassen vom Strom des Halbschlafs, der Bilder – wozu denn immer erwachen? So kann freilich nur denken, wer sich insgeheim für unsterblich hält, einem der ewig tändelnden Götter gleich. Solchem Wahn stellt sich alsbald der rührige Muskel des Mannes entgegen, der Unlust und träge Widersetzlichkeit austreibt, befehlend: hopp, auf jetzt! Es ist wieder heute!26 Während der Geist sich weiter den Träumen hingeben möchte, »weiß es der sterbliche Körper, seit jeher, auch heute«,27 besser: Er erinnert daran, dass es gilt, tätig zu werden, »wie’s die Welt nun einmal von einem Mann glaubt erwarten zu dürfen, erst recht, wenn keine Frau neben ihm liegt«.28 Der Ich-Erzähler stellt sich die Frage, ob die Vision von der Riesin als Anzeichen eines schizophrenen Schubs zu deuten sei, kann dies aber nicht beantworten. Mit den zu sich selbst gesprochenen Worten »Gib’s auf, komm zu dir«,29 einer weiteren Anspielung auf einen bekannten Text der deutschsprachigen Literatur, beginnt er die Rekonstruktion der Ereignisse vom Vorabend und damit die Suche nach der Riesin. Dabei erweist sich der Imperativ »Gib’s auf« im Hinblick auf diese Suche als Vorahnung, denn wie sich herausstellt, ist nirgends in der ganzen Umgebung eine Riesin gesichtet worden. Die Publikationen, die der Protagonist dann im Rahmen seiner gigantologischen Studien durcharbeitet, um dem Wesen der Riesen auf die Spur zu kommen, verorten deren Ursprung im Bereich des mythischen Denkens: Die behandelten Beispiele reichen vom antiken Kampf der Titanen – einem Thema von ungebrochener Faszinationskraft, wie die amerikanischen Verfilmungen von 1981 und 2010 erkennen lassen –, über die biblischen Riesen und Rabelais’ große Fresser, die Vorstellung von Automatengöttern und Übermenschen, von menschengeschaffenen, sich gegen ihren Schöpfer wendenden künstlichen Wesen wie

26 Marti, Die Riesin, S. 7. Diese Passage lässt sich ebenso in Hexametern skandieren wie einige Stellen in Thomas Manns Erzählung. 27 Marti, Die Riesin, S. 7. 28 Ebd., S. 8. 29 Ebd., S. 9.

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Frankensteins Monster bis zu »King-Kong«, der, wie einer der konsultierten Titel suggeriert, den »Horror im Kapitalismus«30 verkörpere, was im Hinblick auf ökonomische Aspekte die menschenverachtenden Auswüchse der freien Marktwirtschaft bezeichnen dürfte, in Hinsicht auf Gesellschaftspolitik und Massenpsychologie dagegen auf den Umgang mit Formen von Alterität und auf die Nachtseite der sich als zivilisiert verstehenden Welt verweist. Was diese mythischen Riesenfiguren verbindet, ist das ambivalente Verhältnis des Menschen ihnen gegenüber, die »Angstlust«. Erkennbar ist einerseits die Furcht, vom Riesen, vom Moloch gleich einem Menschenopfer verschlungen zu werden, andererseits eine starke Faszination: Sich mit dem Riesen zu verbinden und zu verbünden, ihm ähnlich zu werden, sich selbst möglichst viel, wenn nicht sogar die ganze Welt und den gesamten Kosmos einzuverleiben, scheint ein Wunsch zu sein, der mit der Hoffnung auf Macht-, Status- und Lustgewinn einhergeht. Die Identität und der Einflussbereich der Riesen wird denn auch von den verschiedenen Gesprächspartnern des Protagonisten je nach Interessenlage unterschiedlich verortet, etwa im Bereich von Religion, Psychologie oder Politik: So wird Gott, der »König der Welt«, als der »größte Riese«31 bezeichnet, und auch »Madame La Mort«, die »Große Mutter […] in ihrem Todesaspekt«,32 wird genannt. Manche Bürger sehen »überall Riesen, die uns, die immer Kleinen, umstellen, bedrohen, gigantische Ungeheuer voll Freßlust«!33 Je nach politischem Standpunkt werden sie anders situiert, etwa wird der »rote Riese im Osten«34 von Zeitgenossen, die die Ideologie der ›geistigen Landesverteidigung‹ verinnerlicht haben, für besonders gefährlich erachtet: »Goliath gegen David, man sehe sich vor: die Steinschleuder allein tut es nicht, man muß auch geistig, moralisch gerüstet sein.«35 Dass offenbar mehrere Leute die Vision der blauen Riesin geteilt haben, ist also nicht weiter erstaunlich: »Auch Kollektive haben Riesen, vor denen sie sich fürchten.«36 Alle diese Riesen sind Phantasmagorien, die in der mythischen Erzählung entstanden, in (literarischen) Texten feste, ausdifferenzierte

30 31 32 33 34 35 36

Ebd., S. 59. Ebd., S. 61 f. Ebd., S. 75. Ebd., S. 56. Ebd. Ebd. Ebd., S. 64. Dasselbe vermutet später Nobs, wenn er erklärt, »Massensuggestion« (S. 104) habe zur Vision der Riesin geführt, denn »mit Suggestion ist viel zu machen« (S. 105).

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Formen annahmen und Teil der kulturellen Überlieferung der westlichen Gesellschaft wurden. Dem Hinweis darauf, dass diese Wesen Produkte der Imagination sind, wird im Roman zusätzliches Gewicht verliehen durch den Umstand, dass, wie der Leser durch eigene Recherchen leicht herausfinden kann, die vom Protagonisten für seine Studie verwendeten wissenschaftlichen Werke mit zwei Ausnahmen Erfindungen sind. Konsultiert man dazu noch Kurt Martis alternativen Brockhaus Abratzky mit seinen zahlreichen fiktiven Lemmata, so findet man unter dem Eintrag »Kosmophagen« die Behauptung, Kosmophagen seien die »Anhänger einer sehr alten, nach ihrer historischen Herkunft noch nicht geklärten Lehre, derzufolge es die Aufgabe des Menschen ist, die Welt zu verzehren und zu essen«.37 Möglicherweise sei Rabelais ein Kosmophage gewesen, ganz sicher aber der Walliser Säumer Sebastian Weger, der es unter Napoleon bis zum Hauptmann gebracht habe und der das ihm zugedachte Geschenk einer Aussteuer ausschlug, da er der Ansicht war, er brauche nicht zu heiraten, denn ihm gelinge »das Weltauffressen allein und ohne Kinder«.38 Das Hervorgehen des »modernen Konsumdenkens« aus der kosmophagischen Tradition wird in diesem Artikel als wahrscheinlich angenommen.39 Im Zentrum von Martis Roman steht also weniger die Vorstellung, dass sich die Riesenfigur auf einen bestimmten Archetypus zurückführen lasse, obwohl im Gespräch der Romanfiguren diese Deutung einmal dadurch nahegelegt wird, dass C. G. Jung und der Begriff der »Großen Mutter«40 erwähnt werden.41 Hervorgehoben wird vielmehr der Fiktionalitätscharakter der Riesengestalten: Der Fokus liegt also auf dem Erzählen, auf der Narration. Denn die Riesen sind immer schon, seit der Antike, Teil eines Narrativs, in dem es um Mächtige und Ohnmächtige, Sieger und Unterlegene geht, um die Überwältigung und Vernichtung anderer, die Übernahme von Macht und Kontrolle. Der Text befasst sich mit der Funktion und Wirkung solcher Narrative, die insofern Herrschaftsinstrumente darstellen, als sie immer die Möglichkeit bieten, von Individuen oder Gruppen bewusst und mit der

37 Kurt Marti: Abratzky oder Die kleine Brockhütte. Lexikon in einem Band. Neuwied 1971, S. 53 f. 38 Ebd., S. 54. 39 Ebd. 40 C. G. Jung: Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus. In: ders.: Archetypen. C. G. Jung Taschenbuchausgabe in elf Bänden. Hg. v. Lorenz Jung auf der Grundlage der Ausgabe ›Gesammelte Werke‹. Bd. 6. München 1990, S. 75-106, S. 75. 41 Marti, Die Riesin, S. 75.

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Absicht der Manipulation und Instrumentalisierung sowie zur Diffamierung anderer auf eine bestimmte Weise geformt und ausgestaltet und damit auch adressiert zu werden.42 Im vorliegenden Fall sollen sie bei den Adressaten den Wunsch auslösen: »Aufgehen in etwas, das stärker, das größer ist als man selbst. Eingehen in etwas Umfassendes, Bergendes.«43 Suggeriert wird ihnen damit die Möglichkeit der Teilhabe an der Macht und der Gewinn an Vermögen, Prestige und Lust. Die bürgerliche Nachkriegsgesellschaft ist, wie der Text zeigt, ein Ort besonderer Anfälligkeit für diese Art von Massensuggestion – auch darin unterscheidet sie sich nicht von früheren Epochen, sondern wiederholt diese nur. Die Diagnose, die dem Bürgertum nun gestellt wird, lautet, dass es »nicht mehr fähig ist, die Probleme der Zukunft zu lösen«.44 Es ist überfressen, es versinkt in Gier und dekadent-sinnlosen Ritualen, wie die häufige Erwähnung zeitgenössischer Filme wie Marco Ferreris La grande bouffe und Buñuels Le charme discret de la bourgeoisie im Text andeutet. Allerdings wäre »Marxismus«, so der Bibliotheksmitarbeiter Schertenleib, die ungeeignetste Therapie, das beweisen hiesige Kommunisten so gut wie die Ostblockländer – Kleinbürgerei allenthalben! Privater Monopolkapitalismus wird ersetzt durch staatlichen Monopolkapitalismus – c’est tout! Der Spießer aber bleibt, im Osten wird er als Bürokrat sogar zur Stütze des ganzen Systems, zur bestimmenden Figur, die den dortigen Sozialismus, um es jetzt so zu sagen, in eine gräßliche Riesin verwandelt, die sich mit dem kapitalistischen Riesen besser versteht als wir glauben. […] Nein, von der kapitalistisch-bourgeoisen Moral der kannibalischen Spießer führt kein Weg zu einem humanen Sozialismus. Eher neige ich zum Anarchismus, der tendenziell im Kapitalismus ja vorhanden ist, beschönigt, verheimlicht allerdings. […] Eine Renaissance also des Anarchismus! Erst sie wird uns den Weg zu einem Sozialismus öffnen können, der anti-etatistisch, anti-zentralistisch, anti-monopolistisch etcetera und deshalb human ist. Dabei wären die anarchischen Prinzipien von Kommune und Föderation erst noch gut schweizerisch, knüpfen an oft beschworene Traditionen an.45

42 Als Riese wird schließlich jedes Prinzip bezeichnet, das »der freien Selbstentfaltung, der Menschwerdung des Menschen im Wege steht, sie verhindert, verbiegt, unterdrückt«, und somit »wimmelt’s in unserer Zivilisation von Riesen«. Ebd., S. 63. 43 Ebd., S. 73. 44 Ebd., S. 88. 45 Ebd., S. 77 f.

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Die Bereitschaft des Protagonisten zum Ausbruch aus der spätbürgerlichen Welt wird durch seinen zweiten Traum angekündigt, in dem er mit der lachenden Madlen über die Dächer der Altstadt entschwebt. Doch den Bildern der Glückseligkeit und des Sonnenscheins sind immer zugleich Trübungen und Misstöne beigemischt. Denn der Flug mit der Geliebten im Arm erinnert an Gemälde Chagalls und damit an Szenen aus einer untergegangenen, im 20. Jahrhundert vernichteten Welt. Nachdem sich der Ich-Erzähler angesichts des schönen Frühlingswetters von seinem Arbeitsplatz weggestohlen hat, setzt er sich in ein Café. In seinem Unbewussten formiert sich der Slogan »Tod den Riesen!«,46 und er beobachtet zwei spanische Kellner, die fröhlich ihre Gäste bedienen, was ihn dazu inspiriert zu murmeln: »Venceremos.«47 Diese Parole passt kaum zum harmlosen »Schwänzen« der Arbeit sowie zum friedlichen Frühlingstag mit den flanierenden Menschen. Sie verweist auf den Titel des bekannten, von Víctor Jara interpretierten Songs aus der Wahlkampfkampagne von Salvador Allende, der zur Hymne der Unidad Popular wurde bis zum Militärputsch von 1973, mit dem in Chile die Pinochet-Diktatur begann.48 Im Café wird der Protagonist von einem rotbärtigen, sommersprossigen jungen Mann angesprochen, der in perfektem Hochdeutsch leise sagt: »Die Wiedergeburt.«49 Er trägt eine Reisetasche und macht mit der Hand eine »vage Bewegung«, wobei er meint: »Wozu sonst geht man auf Reisen, wenn nicht, um ein anderer zu werden?«50 Diese Figur verweist zurück zum Anfang des Romans und schließt insofern den Kreis, als sie an den rothaarigen, von weit her kommenden Reisenden mit Wanderstab und gekreuzten Füßen erinnert, der Aschenbach am Nördlichen Friedhof begegnet und der, Hermes-, Dionysos- und Todesfigur zugleich, in der Erzählung stets wieder auftaucht, als rothaariger greiser, geschminkter Geck und Bänkelsänger: Er zieht Aschenbach immer stärker in den Strudel seiner amourösen Verstrickung und Todesverfallenheit und weist zuletzt als Psychopompos in eine weite Ferne voraus. Die »Wiedergeburt« ist um 1975 also nur noch Zitat einer früheren Renaissance um 1900, kein originärer Aufbruchsversuch zu einem »besseren Leben«. So bleibt auch der Ausbruch des Protagonisten einer aus zweiter Hand, bleibt im Rahmen der bürgerlichen kleinen Fluchten: Mit seinem

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Ebd., S. 99. Ebd. Vgl. Joan Jara: Victor. An Unfinished Song. London 1998, S. 140 und 241. Marti, Die Riesin, S. 94. Ebd., S. 94 f.

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Bekannten Nobs unternimmt er eine Fahrt aufs Land, isst in einer Beiz, besucht die Roxybar, macht Bekanntschaft mit der Nackttänzerin Fränzi und besäuft sich bis zur Besinnungslosigkeit. Später folgt ein Gespräch mit seiner Bekannten Viviane, die sich dem Tantrismus zugewendet hat und ihn lehren will, »wie aus Körpererfahrung Seelenerfahrung« wird und »inwiefern Ekstase und Meditation einander bedingen«.51 Der Text legt nahe, dass der Protagonist auch in dieser synkretistischen Lehre mit ihrem ostentativen »Irrationalismus« nur einen weiteren Riesen vermutet: »Schiwa, Schakti, Wadschra, Tantrismus, Vivianismus, panta rhei und alles geht über in alles, wandelt, verwandelt sich.«52 Martis Lexikon Abratzky führt unter dem Lemma »Dieu bleu« an, dies sei der Titel des 1968 erschienenen »Erstlingsromans« der jungen Hippie-Aussteigerin Guschla Kalow und zugleich das »Kennwort für Zustände intensivsten Glücks und mystischer Bewußtseinserweiterung«,53 erfahren unter dem Einfluss von Drogenkonsum und freier Liebe. So bleibt als Alternative zum Lächeln der erleuchteten Tantriker nur das Lachen – in der Zeit, die dem Menschen überhaupt noch zugemessen ist, denn bald könnte die »Erde ein toter, erinnerungsloser Planet sein, nichts als Sand und Stein und Wasser«.54 Die Botschaft der Biologen und Ökologen sei »Lasciate ogni speranza«, man gehe »mit raschen Schritten dem totalen Erlöschen entgegen, dem Ende, der Selbstzerstörung des Lebens, dem Tod der Welt«.55 Das Lachen ist hier demnach kein erlösendes Lachen, kein Ausdruck der »humorvolle[n] Absage« an »alle übermächtigen […], das Alltägliche ideologisierenden, und damit pervertierenden Riesen«,56 sondern es ist das Lachen der Verzweiflung, Ausdruck der Aporie, der Resignation. Das wird besonders deutlich durch die Tatsache, dass die letzten Romankapitel, in denen dies thematisiert wird, als Briefe an Raoul Paraburi bezeichnet sind. Paraburi wurde bereits in Martis so betiteltem Gedichtband von 1972 besungen, dort ist er ein Klangchaotiker und Ironiker, oder vielmehr weniger eine Figur als ein Prinzip: die Liebe zum Spiel und zur Dissonanz, zum freien Wort, zum Widersinn und zur Phantasie – und zum Lachen. Im Roman nun ist Paraburi der Freund, Förderer und Herausgeber der Werke des Protagonisten. An diesen Freund richtet sich das offene Wort des Ich-Erzählers, ihm gegen-

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Ebd., S. 131. Ebd., S. 132. Marti, Abratzky, S. 28. Marti, Die Riesin, S. 128. Ebd., S. 128. Hermanns, Im Schatten der Riesen, S. 196 f.

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über wird die Verzweiflung zugegeben – und Paraburi antwortet nicht, wie sonst, mit einem Witzwort, sondern schweigt. Wie lässt sich nach diesem Romanschluss weiterschreiben, wenn sogar Paraburi das Lachen im Hals steckenblieb? Vielleicht, indem man trotz allem die »Sozialisierung des Lesers« weiterbetreibt, indem man ihn noch expliziter anspricht und ihn die Implikationen eines bestimmten Denkens und Handelns erlesen lässt?

Bürgerliche Geschichten Auf drei von Martis 1983 erschienenen Bürgerlichen Geschichten möchte ich hier abschließend kurz eingehen: Es sind die Erzählungen Franz Widerkehr verteidigt seinen Ruf oder Oft hilft ein Sachzwang gern sowie Ossip und Der Fürst. Mit den Bürgerlichen Geschichten schloss Marti formal und thematisch an die Dorfgeschichten 1960 an: In kleinen Szenen von großer Tiefenschärfe wurde dort schlaglichtartig die Lebenssituation einer oder mehrerer Personen erhellt, die paradigmatisch ist für eine Existenz im »Dorf«: in einem räumlich eng begrenzten Lebensumfeld, das bewohnt wird von einer weitgehend geschlossenen Gesellschaft, die eine starke soziale Kontrolle über sich selbst ausübt. Es ist ein Raum, der für die einzelne Dorfgemeinschaft in dieser Epoche ebenso steht wie für die Schweiz als Gesamtgebilde: ein »Idyll«,57 in dem die Beschränktheit und mangelnde Empathie der Mitbürger manche Individuen zu rätselhaftem Verhalten und zu Fluchtversuchen verleitet. Diesem Erzählband war nicht zufällig das Jahr seines ersten Erscheinens im Titel eingeschrieben. Zum Thema wurden hier das Klima des Konservatismus sowie die Tendenz zur Abkapselung und Selbstgerechtigkeit, die sich in den Jahren des 2. Weltkrieges verstärkt hatte, einer Zeit, in der der »Mythos vom ›Sonderfall Schweiz«‹58 mit den Konzepten »›bewaffnete Neutralität‹ bzw. ›geistige Landesverteidigung«‹59 der Abwehr des Nationalsozialismus diente und später, im Kalten Krieg, gegen ein

57 Kurt Marti: Idyll und Perspektive. In: ders.: Dorfgeschichten 1960. Gütersloh 1960, S. 25-26, S. 25. 58 Nicole Peter: Halbstarke, Kellerpoeten, Studentinnen und Lehrlinge. ›1968‹ in der Schweiz. In: Joachim Scharloth / Angelika Linke (Hg.): Der Zürcher Sommer 1968. Zwischen Krawall, Utopie und Bürgersinn. Zürich 2008, S. 23-32, S. 23. 59 Ebd.

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neues Feindbild eingesetzt wurde. Verdichtet wurde in diesen Erzählungen eine Zeit, in der durch den unerwarteten Beweis technologischer Überlegenheit im Osten die geordnete Welt so aus den Fugen zu geraten schien, dass selbst ein gewöhnliches Objekt wie ein Weihnachtsbaum mit elektrischen Kerzen, die plötzlich aufleuchten, Erschrecken auslösen kann: »Es war, musste man wissen, die erste Adventszeit unter dem Sputnik.«60 Das Aufbruchgefühl der sich gegen die Verkrustungen in der europäisch-amerikanischen Gesellschaft wendenden Jugendbewegung, das sich in der Schweiz bereits vor 1968 in der Nonkonformisten-Szene manifestierte,61 nahm die Erzählung Mit Musik im Regen fliegen vorweg. Ein junges Mädchen im Sommerkleid und mit nackten Füßen lässt sich, anscheinend ohne Regen und Kälte zu spüren, auf einem Rummelplatz immer wieder von einer Schaukel in die Höhe schwingen. Der Betreiber der Schaukel, selbst ein Vertreter der Welt der fahrenden Schausteller, schwankt angesichts dieser Provokation zwischen Ordnungsdenken und Bewunderung für die Unkonventionalität: »So kannst du doch nicht zu den Leuten«, sagt er zum Mädchen, dem das nasse Kleid am Körper klebt, »du siehst unanständig aus«, während er denkt: »was für ein Kind, ein mickriges Kaff hier, aber was für ein Kind«.62 Das Mädchen aber hört einzig auf die »Musik in der Welt«,63 es ist ein selbstverständlich, leichtfüßig und fast unbewusst wirkender Widerstand gegen eine repressive Gesellschaftsmoral im Zeichen der Freiheit, der Lust am Fliegen und der Musik. Die Bürgerlichen Geschichten von 1983 führten diesen Ansatz weiter und fokussierten nun weniger auf die Enge der dörflichen Gemeinschaft als auf die durch Alltagsgewohnheiten abgestumpfte, in starren Denkmustern festgefahrene bürgerliche Gesellschaft. Der Text Franz Widerkehr verteidigt seinen Ruf oder Oft hilft ein Sachzwang gern thematisiert das politische Klima, in der die staatlich unterstützte Hetze gegen auch nur vermeintliche Kommunisten solche Ausmaße angenommen hat, dass ein aufrechter Bürger und begeisterter Pfadfinder in vorauseilendem Gehorsam einem seiner Mieter kündigt, obwohl nie

60 Kurt Marti: Unter dem Sputnik. In: ders.: Dorfgeschichten 1960, S. 35. 61 Vgl. Fredi Lerch: Begerts letzte Lektion. Ein subkultureller Aufbruch. Zürich 1996; ders.: Muellers Weg ins Paradies. Nonkonformismus im Bern der sechziger Jahre. Zürich 2001. 62 Kurt Marti: Mit Musik im Regen fliegen. In: ders.: Dorfgeschichten 1960, S. 43-45, S. 44. 63 Ebd., S. 45.

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jemand sich über ihn beklagt hat – nur weil er für die Revolutionäre Marxistische Liga für den Stadtrat kandidiert. Der zweite Text, überschrieben mit dem Titel Ossip, erzählt von einem Altersheimbewohner namens Ossgi, der beschlossen hat, die ihm verbleibenden Tage noch zu feiern, und der mit seiner unkonventionellen Art Leben in den Heimalltag bringt. Sein heimliches Revoluzzertum, seine nicht allen sympathische Unangepasstheit wird in Verbindung gebracht mit seiner Mutter, einer Russlandschweizerin, die für »einen schwarzäugigen Ossip im fernen Rußland geschwärmt«64 habe und ihren Sohn nach ihm habe benennen wollen, was der biedere Schweizer Vater aber ablehnte. Der schwarzäugige Ossip, der wohl ein Dichter gewesen sei, begleitet Ossgi nun auf wunderbare Weise. Mit ihm findet die Poesie den Weg ins Alltagsleben und ermöglicht den Widerstand gegen gesellschaftliche Normierungstendenzen. Bedenkt man Ossip Mandelstams wichtige Stellung als russischer Dichter und Regimekritiker und seinen Tod im Arbeitslager unter Stalin, erhält Ossgis Widerstand eine ganz eigene Dimension. Der dritte Text mit dem Titel Der Fürst handelt von einem Fremden, der beim Abendmahl in einer Kirche plötzlich auftaucht. Beschrieben wird er mit den Attributen eines Fürsten, und zwar so, dass auch die Deutung »Fürst der Finsternis« nahegelegt wird – eine unheimliche Figur, über deren Absichten die Predigtgemeinde sich nicht im Klaren ist. Schließlich stellt sich heraus, dass der Mann im weiten, etwas zerfetzten Mantel, der mit einer eigenartig würdigen Haltung um das Brot des Abendmahls bittet, in die Kirche gekommen ist, weil er Hunger hat. Die drei Erzählungen erweisen sich als weitere Versuche einer »Sozialisierung des Lesers«, als Versuche, das eingetretene Schweigen zu überwinden durch das Wort. Die vielen Helvetismen und Mundartausdrücke in Martis Prosa zeigen, dass diese Texte dezidiert im Deutschschweizer Kontext verortet und auf die »Sozialisierung« gerade auch derjenigen Leser gerichtet sind, die sich in diesem Kontext bewegen. Daher ist es an der Zeit, auch Martis Prosa mit heutigen Studierenden zu lesen – aus der mittlerweile eingetretenen Distanz von 25 Jahren und in der Zeit, die noch bleibt vor der Versandung der Welt.

64 Kurt Marti: Ossip. In: ders.: Bürgerliche Geschichten. Darmstadt 1983, S. 8491, S. 86.

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Lexikographie als Spiel mit Realität und Fiktion Kurt Martis Lexikon Abratzky oder Die kleine Brockhütte

1971 erschien in der Sammlung Luchterhand ein schmaler Band mit dem einigermaßen rätselhaften Titel Abratzky oder Die kleine Brockhütte. Lexikon in einem Band.1 Sein Autor, Kurt Marti, war damals als Lyriker bereits eine feste Größe – Gedichtbände wie republikanische gedichte (1959), rosa loui (1967) und leichenreden (1969) hatten Aufsehen erregt und Marti als sprachlich und theologisch innovativen Lyriker bekanntgemacht. Mit literarischer Prosa hingegen war Marti erst wenig in Erscheinung getreten. Bevor er insbesondere die Tagebücher und seine »Notizen« (Zärtlichkeit und Schmerz, 1979), »Aufzeichnungen und Ausschweifungen« (Ruhe und Ordnung, 1984) und »Sätze, Sprünge, Spiralen« (Im Sternzeichen des Esels, 1995) vorlegte, veröffentlichte er das angezeigte Lexikon. Auch wenn es zwischen dem Abratzky und seinen anderen Publikationen – vorwärts und rückwärts, formal und inhaltlich – vielerlei Bezüge gibt, ist das Lexikon doch ein Solitär in Martis Werk geblieben. Und nicht nur ein Solitär: Vielen Leser /innen und selbst Marti-Adepten ist der Band, ist Marti als Lexikograph schlicht unbekannt. Dies hat auch Johannes Maassen festgestellt: »Dieses herrliche Bändchen […] wurde leider zu wenig beachtet. Der homo ludens in Marti hat offensichtlich Spielfreude und spielerisches Vermögen der Leser überschätzt.«2 Zu einer ähnlichen Einschätzung, auch was die Gründe angeht, kommt Elsbeth Pulver: »Dass Phantasie und Spielfreude leicht von den gebräuchlichen Formen wegführen, das mag erklären, warum gerade zwei seiner eigenwilligsten und spielerisch-subversivsten Werke aus jener Zeit verhältnismässig unbekannt geblieben sind: Die

1 Kurt Marti: Abratzky oder Die kleine Brockhütte. Nachträge zur weiteren Förderung unseres Wissens. Lexikon in einem Band, Neuwied 1971. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 2 Johannes Maassen: Die Stadt am Ende der Zeit. Zur Prosa von Kurt Marti 1970-1985. In: Robert Acker / Marianne Burkhard (Hg.): Blick auf die Schweiz. Zur Frage der Eigenständigkeit der Schweizer Literatur seit 1970. Amsterdam 1987, S. 131-154, S. 148.

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Textfolge ›Paraburi‹ (1972) […] und das so köstliche wie beziehungsreiche Self-made-Lexikon ›Abratzky …‹.«3

Ein erster Blick auf die Welt des Abratzky Diese relative Unbekanntheit des Abratzky ist Grund genug, sich das Lexikon in einem Band etwas genauer anzusehen. Dabei zeigt sich zunächst, wenig überraschend, nichts anderes als – ein Lexikon. Formal ist nichts daran auszusetzen: Die üblichen Praktiken der Lexikographie werden eingehalten, Begriffe werden erklärt, Sekundärliteratur wird genannt, der Stil entspricht der Konvention. Die Lemmata umfassen Personen und Sachverhalte aller Art, künstlerische Werke, wissenschaftliche Theorien, gesellschaftliche Entwicklungen, religiöse Gruppierungen und erklärungsbedürftige Vokabeln. Sie bilden ein Sammelsurium, inhaltlich zu breit gefächert, um ein einzelnes Fachgebiet vertieft abzudecken, für eine allgemeine Enzyklopädie mit 113 Seiten aber viel zu dünn und zu selektiv. Hingegen bietet das Lexikon eine Sammlung von Fragmenten, es bietet – wie dies die titelgebende »kleine Brockhütte« (neben dem großen »Brockhaus«) nahelegt – Brocken aus allen Wissensgebieten. Der Autor zeigt sich dabei als neugieriger Sammler solcher Brocken oder als »Speicherling« – das Lexikon erklärt den Begriff »als Bildwort für einen Menschen […], der rastlos in Heften, Kartotheken, Registern und Brockhütten (→ Brockenhaus) nützliche oder auch unnütze Materialien speichert« (86). Marti selbst bezeichnet den Abratzky in einem Interview als »›fiktives‹ Lexikon«,4 und tatsächlich enthält das Buch hauptsächlich erfundene Einträge. Daneben oder dazwischen finden sich aber ebenso zutreffende Erklärungen von Gegenständen, die es auch außerhalb des Lexikons gibt. Gerade diese Mischung kennzeichnet den Abratzky: Er ist kein richtiges, verlässliches Lexikon, kein Brockhaus also; aber auch kein Lexikon, das eine gänzlich erfundene Welt ausbreitet, wie es bei der von Jorge Luis Borges erwähnten ersten und zweiten »Enzyklopädie

3 Elsbeth Pulver: »Play, man, Play!« Traum, Fest und Spiel bei Kurt Marti. In: Christof Mauch (Hg.): Kurt Marti. Texte, Daten Bilder. Darmstadt 1991, S. 174-188, S. 187. 4 [Gespräch mit Kurt Marti:] Form ist die Hebamme des Inhalts. In: Peter André Bloch (Hg.): Gegenwartsliteratur. Mittel und Bedingungen ihrer Produktion. Eine Dokumentation. Bern 1975. Abgedruckt in: Kurt Marti: Red’ und Antwort. Rechenschaft im Gespräch. Stuttgart 1988, S. 28-31, S. 29.

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von Tlön«5 der Fall ist; vielmehr: ein corpus mixtum, geprägt von der Mischung und Durchdringung von Fiktivem und Realem und vom Spiel mit Erfundenem und Gefundenem.

Strategien, Tonlagen, Effekte Die Einträge des Abratzky zeichnen sich aus durch den von Anfang bis Ende durchgehaltenen sachlichen Stil des Lexikographen. Eines parodierenden Lexikographen allerdings, der mit großer Lust am Sammeln und Erfinden, am Fingieren und Spielen am Werk ist und eine Vorliebe für Abseitiges und Absurdes, für Skurriles und Überraschendes hat. Beim zweiten Lesen zeigen sich aber – quer zu den traktierten Themen – Unterschiede zwischen den einzelnen Lemmata: Unterschiede im Charakter, in Machart und Vorgehensweise und damit verbunden auch in der Tonlage sowie im erzielten Effekt. Im Folgenden sollen vier dieser Charaktere herausgearbeitet werden. Die Liste ist keineswegs abschließend, weitere Charakteren ließen sich problemlos finden. Zudem ist eine eindeutige Zuordnung der Lemmata häufig nicht möglich: Viele Einträge kombinieren verschiedene Elemente und setzen die daraus entstehende Ambivalenz und die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretation auch gezielt ein.

Spielen mit der Sprache: Nonsense und überraschende Bedeutungen Vrenologie, die. Von »Vreni« [schweiz. Dialektform für »Verena«] und griech. »logos« [= Wort, Lehre]: die Lehre von Vreni. Schöpfer dieses Begriffs ist Roli (Roland) O. Rebsamen (geb. 1930), ein schweizerischer Autor, der unter dem Pseudonym ROR mit erotischen Romanen (Sommerspiel, 1958; Die Leidenschaft der Lehrerin, 1960; Süsse Kolibris, 1961; Das Fest, 1963; Vrénésie, 1967) und Gedichten (Gesang der Körper, 1960; Blondbuch, 1964; Sonja, 1966; Viel Vreni, 1969) einiges Aufsehen erregte. ROR definiert V. in »Vrénésie« als die »Summe aller Lehren Vrenis und über Vreni«, die die Spezialgebiete

5 Jorge Luis Borges: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius [1941]. In: ders.: Der Erzählungen erster Teil, hg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold (Gesammelte Werke in 12 Bänden, Bd. 5), München 2000, S. 99-119.

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der Vrenistik, Vrenosophie, Vrenophysik, Vrenopathie, Vrenophilie, Vrenethik, Vrenolatrie, Vrenästhetik in sich aufgenommen hat. Von »Das Fest« und »Vrénésie« wurden in Dänemark Schmalfilme hergestellt. (104) Das Lemma Vrenologie mag vielerlei sein: eine Persiflage erotischer Romane und Filme; ein Appetizer, der auf den einen oder anderen erwähnten Titel von Roli O. Rebsamen neugierig macht (wie klingen die Gedichte aus dem Band Viel Vreni?); oder auch eine ironische Kommentierung wissenschaftlicher Disziplinen und Subdisziplinen. Was den Eintrag aber vor allem auszeichnet, ist die kaum zu bändigende Lust am Spiel mit der Sprache. Die Definition von »Vrenologie« als »Summe aller Lehren Vrenis und über Vreni« (104) und die Reihung »Vrenologie, Vrenistik, Vrenosophie, Vrenophysik, Vrenopathie, Vrenophilie, Vrenethik, Vrenolatrie, Vrenästhetik, Vrénésie« (samt ihren Anklängen an Venerologie, frenetisch und Ähnliches) demonstrieren die Möglichkeiten der Sprache und zugleich die an der Konkreten Poesie geschulte und in der eigenen Lyrik vielfach demonstrierte sprachliche Experimentierfreude des Autors. Solche Spiele mit der Sprache, bei denen bestehende Wörter modifiziert und mit anderen kombiniert werden, finden sich im Abratzky zuhauf. Der Eintrag zu Pralladium präsentiert das »Aktions-, Verkaufsund Geselligkeitszentrum zur Pflege praller und pralloider Formen in Kunst und Leben« (74) und wartet mit Begriffen wie »Prallas Athene«, »Prallhalla«, »Pralletariat« oder »Prallinen« auf. Unter Lyhyrik wird die »unlustbetonte Form des Wortes Lyrik« (61) verstanden. Das vom Dichter und zeitweiligen Postboten Henri de Roqueville geprägte Wort Postalgie beschreibt »die Gefühle eines verliebten Mannes […], der ungeduldig Post von seiner Geliebten erwartet« (73). Und unter Klebetrude wird als eine von drei Bedeutungen ein »›anhängliches‹ Mädchen« genannt, »das sich nicht so leicht ›abschütteln‹ lässt« (52). Manchmal, wie bei der »Vrenologie«, handelt es sich bei den im Abratzky verzeichneten Neologismen um höheren Unsinn, um Nonsense, der weitgehend zweck- und verwertungsfrei bloß der Unterhaltung und dem Spiel verpflichtet ist. Nicht selten stellt sich aber als Nebeneffekt ein neuer Sinn ein: Die in Anlehnung an das Adjektiv ›lamentabel‹ gebildete Vokabel »parlamentabel« etwa ist zwar durchaus eine sprachspielerische Neuschöpfung, eröffnet aber – erst recht mit der Erläuterung, hier handle es sich um einen »Ausdruck für parlamentarische Sitten und Entscheide, die den APO-Vorwurf zu bestätigen scheinen, dass das Parlament eine Gruppe staatlich sanktionierter Lobbyisten ist« (71) – eine neue Perspektive auf den Parlamentsbetrieb.

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Ein Erkenntnisgewinn oder jedenfalls eine Anregung geht auch mit Lemmata wie Geschau (parallel zu »Gehör«) und Sehmal (parallel zu »Denkmal«) einher (39 f., 84). Ebenso verhält es sich mit dem Eintrag zu Zerzählung, der eine vom Autor Peter Lehner geschaffene Prosaform vorstellt, in der die sogenannte objektive Welt nicht einfach geschildert, sondern zerpflückt oder eben zerzählt wird (111). Lehner ist nun allerdings kein fiktiver Dichter, sondern ein Berner Schriftstellerkollege; von ihm übernimmt Marti den fraglichen Neologismus,6 und einen späteren Band Lehners – Was ist das. Zerzählungen – hat er in der Zeitschrift Reformatio rezensiert.7 Tatsächlich zeigt sich hier etwas, das Monika Schmitz-Emans in ihrem Kommentar zum Abratzky als »Grundeinfall« bezeichnet: »Man braucht nur über Sprache zu schreiben – und schon kommen die (teils skurrilen) Einfälle; die Rückwendung der Sprache […] auf sich selbst setzt als solche bereits kreative Potentiale frei.«8 Anders gesagt: Das kreative Potential der Sprache zeigt sich nicht zuletzt da, wo Sprachspiele und Neologismen unbeabsichtigt und ungefragt neuen Sinn erzeugen und einen semantischen Überschuss produzieren. Ist etwa die Vokabel »Kosmethik« erst einmal gefunden, stellen sich auch durchaus sinnvolle Erklärungen ein, in casu jene einer »Weltraum-Ethik« (53). Nicht ganz so häufig, aber doch mehrfach finden sich zwei weitere Formen sprachlicher Spielereien: zum einen lautmalerische Vokabeln wie »Glarz« (»glariger Glanz«, 40), »kliffern« (»scheppern in hoher Tonlage«, 52) oder »Urk« (eine mit Erde gefüllte Meditationsschale für Stadtbewohner, 98), zum anderen sprechende Personen- und Ortsnamen wie der unter Venuszeitalter erwähnte Publizist Wilhelm WerdmüllerEiferli (100), ein unter dem Pseudonym »von Versewitz« für »forsche Verse« bekannt gewordener preußischer Leutnant (101) oder das für seine Wasserradrennen berühmte Feriengebiet »Echseck« (31).

6 So wie er auch später die Wortschöpfungen Dritter gerne und akribisch verzeichnet – cf. die Einträge unter dem Titel »Wortwarenladen« in: Kurt Marti: Im Sternzeichen des Esels. Zürich 1995, S. 7, 16, 50, 75 f., 96, 183 f. 7 Kurt Marti: Notizen und Details 1964-2007. Zürich 2010, S. 492 f. (1, 1973). 8 Monika Schmitz-Emans: Enzyklopädie des Imaginären, 2010, http://www. actalitterarum.de/theorie/mse/enz/index.html, E, Brockhaus minimiert, 6 (11. 8. 2014).

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Überspitzen und verfremden: Satiren (kritisch nach allen Seiten) Venuszeitalter, das. Zukunftsvision, mit der der Feind das natürliche Selbstgefühl und die innere Widerstandskraft der Schweizer unmerklich auszuhöhlen trachtet. Zu diesem Zwecke lancierte er in der Schweizer Presse die Meldung, dass ein amerikanischer Psychologe auf Grund zahlreicher Testversuche festgestellt habe, dass wir uns dem V. nähern, d. h. »einem Zeitalter, in dem sich das weibliche Prinzip durchsetzen wird. Das würde bedeuten, dass man auch bei uns die Mittel statt für Kriegsrüstungen ausschliesslich für humanitäre und karitative Zwecke einsetzen würde.« (Zivilverteidigung, hg. vom schweizerischen Bundesrat, 1969; Wilhelm Werdmüller-Eiferli: Venus ante portas!, 1969; Günter Ort: Kriterien der Wehrbereitschaft, in: Schweizerische Militär-Revue, 2 /1970) (100) Dass ein neues Zeitalter und mit ihm die Durchsetzung des weiblichen Prinzips bevorstehe, ist das eine. Das andere aber ist der hier behauptete Umstand, »der Feind« der Schweiz setze diese Vision zur Aushöhlung von Wehrbereitschaft und Widerstandskraft ein und habe die entsprechende Meldung mit eben dieser Absicht in der Presse verbreiten lassen. Die vermeldete Aussicht auf das Venuszeitalter würde, so die Binnenlogik dieser Argumentation, den Aufstieg weiblicher Werte befördern und so – im Sinn einer self fulfilling prophecy – tatsächlich zu einem Rückgang der Wehrbereitschaft und zu einer Reduktion oder sogar zu einer Einstellung der Ausgaben für die Armee führen. Instruktiv sind auch die Literaturangaben: Da ist nicht nur ein Publizist namens Werdmüller-Eiferli verzeichnet, der – wohl in einem seinem Namen alle Ehre machenden Stil – das Schreckgespenst der Venus heraufbeschwört, sondern auch eine von der schweizerischen Regierung herausgegebene Schrift mit dem Titel Zivilverteidigung. Dieses Buch gab es tatsächlich. Es wurde vom Bundesrat breit gestreut, warnte vor dem Feind aus dem Osten samt seinen Agenten unter den einheimischen Künstlern, Intellektuellen und Journalisten und leitete zur Wachsamkeit und auch gleich zum konkreten Widerstand im Fall einer Invasion an. Das Buch gab damals auch unter AutorInnen zu großen Debatten Anlass, da der Präsident des Schweizerischen Schriftstellerverbandes an der französischen Bearbeitung des Buches beteiligt war; dies führte 1971 zur Gründung der alternativen Autorenvereinigung »Gruppe Olten«, an der Marti beteiligt war. Das Lemma geht von diesem tatsächlich existierenden Buch und von einer nicht weniger realen, weitverbreiteten Haltung aus. Diese Haltung

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wird verfremdet, gesteigert und in ihrer paranoiden Struktur auf die Spitze getrieben, dabei aber sachlich und ernsthaft wiedergegeben. Gerade dadurch wird die Satire erkennbar: eine Satire auf die im Kalten Krieg verharrende offizielle Schweiz und auf die dominierende Mentalität, die sich vor dem Feind nicht weniger fürchtet als vor den Frauen. Zum selben thematischen Bereich gehören auch die Einträge zu den Lemmata Igeldressur und Uniformkur: Ersteres beschreibt die öffentlich geförderte Widerstands- und Igelmentalität (47), Letzteres eine Therapieform, die gehemmten und an Minderwertigkeitskomplexen leidenden Patienten dadurch zu mehr Selbstbewusstsein und Sicherheit verhilft, dass sie sie Uniformen tragen lässt (97). Zudem werden im Abratzky auch zwei nationale Ikonen satirisch traktiert bzw. demontiert: Der Eintrag Zogor (112) stellt eine skipetarisch-albanische Sagengestalt vor, einen Rebellen, der zur Strafe seinem Vater einen Apfel vom Kopf schießen muss – der Nationalheld Wilhelm Tell wird hier zum Epigonen, die Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft zu einer eingewanderten Sage. Entsprechende Thesen, Befunde und Interpretationen (allerdings mit dem Verweis auf nordische Sagen) wurden zur Zeit der Abfassung des Lexikons auch von anderen vertreten, von den sogenannten staatstragenden Kreisen aber als Provokation aufgefasst: Im selben Jahr wie der Abratzky erschienen Max Frischs Wilhelm Tell für die Schule und die Schweizer Geschichte für Ketzer des Historikers Otto Marchi, zu der Marti ein Nachwort verfasste.9 Der zweite Ikonoklasmus ist im Lemma Schrobi zu finden, das auf die Hauptfigur eines sozialpädagogischen Science-Fiction-Comics verweist, die als sympathischer und tapferer Held das Gute, Wahre und Schöne gegen die perfiden Angriffe von Ungeheuern aus dem »asiatischen Satanistan« verteidigt. »Schrobi« erinnert allerdings deutlich an die in der Schweiz äußerst populäre Comic-Figur »Globi«, womit der Eintrag als satirischer Kommentar zu diesem für die Sozialisation in der Schweiz wichtigen ComicHelden lesbar wird: Wie Schrobi gilt auch für Globi, dass er alle Werte verkörpert, »die sozialkonform sind und dem gesunden Volksempfinden entsprechen« (83). Ein ähnliches Vorgehen – existierende Positionen und Verhaltensweisen werden mehr oder weniger stark verfremdet und modifiziert, gesteigert und auf die Spitze getrieben, dabei aber sachlich und in bestem Lexikonstil beschrieben und gerade dadurch als absurd erkennbar, der Lächerlichkeit Preis gegeben und kritisierbar – findet sich im Abratzky

9 Max Frisch: Wilhelm Tell für die Schule. Frankfurt a. M. 1971; Otto Marchi: Schweizer Geschichte für Ketzer. Zürich 1971.

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noch und noch und auch zu ganz anderen Themen. Der Eintrag zum Stichwort Therapie-Gruppe etwa nimmt die Selbsterfahrungswelle aufs Korn, indem er die in diesen Gruppen als Befreiungsakt üblichen körperlichen Berührungen in regelrechten »Touch-Festivals« gipfeln lässt (90 f.). Die auch in der kritischen Linken zu beobachtende Idolisierung von Ikonen und Führergestalten wird in einem Lemma zum Thema, das den Mädchennamen Sartrine vorstellt, der von Jean-Paul Sartre abgeleitet und erstmals von einer Anhängerin Sartres für ihre Tochter verwendet worden sei (80). Ein letztes Beispiel – eine Satire auf den mit dem wissenschaftlichen Fortschritt verbundenen Optimismus – findet sich in den miteinander verknüpften Einträgen Psychometrie und Quebec-Strahlen. Unter Letzteren werden Strahlen verstanden, die durch intensives Denken erzeugt werden und deren physikalische Messung erstmals 1967 in Quebec gelang. Das entsprechende Messgerät soll es künftig erlauben, echte von unechten Meditationspraktiken zu unterscheiden und die Intensität von rationalen Denkprozessen zu überprüfen (was allerdings bei Kritikern die Furcht vor einer totalitären Kontrolle des Denkens wachruft).10 Diese Satiren oder satirischen Miniaturen bieten beste Unterhaltung, dienen aber zugleich der Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, Entwicklungen und Positionen. Marti erweist sich dabei als würdiger Nachfolger früherer satirischer Lexika, etwa der Charlatanerien (1781) von August Friedrich Cranz.11

Imaginieren: Utopien (Abteilung Gesellschaft) Hypnarchie, die. [Griech. »Herrschaft des Schlafes«]. Vom spätantiken Dichter Theodolet (ca. 395-456) in seinem Kleinepos Der Hypnarch beschriebene Möglichkeit einer Regierungsweise: der Herrscher regiert im Schlaf, d. h. er regiert, in dem er nicht regiert, oder, wenn Regierungsmassnahmen unvermeidlich sind, sich von seinen Träumen beraten und leiten lässt. Ungeklärt ist die Frage, ob Theodolets

10 Cf. Walter Vogt, der etwa zur gleichen Zeit einen satirischen Roman über psychologische Forschung publiziert: Walter Vogt: Der Wiesbadener Kongress. Zürich 1972. Erforscht werden dort zwar nicht »Quebec-«, dafür aber – unter anderem – »Somastrahlen«. 11 August Friedrich Cranz: Charlatanerien in alphabetischer Ordnung, als Beyträge zur Abbildung und zu den Meynungen des Jahrhunderts. Berlin 1781.

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Kleinepos als Satire oder als utopisches Gedicht aufzufassen sei. 1932 übersetzten zwei Anhänger der surrealistischen Bewegung in Paris, Pierre de Reilles und Guy Lapp, den Hypnarch ins Französische. (Jakob Nippoldt: Theodolet, ein fast vergessener Poet des Hellenismus, 1886; Louis Hatvany: Le Royaume du sommeil, 1939) (45) Das Lemma Hypnarchie befasst sich mit dem Werk eines spätantiken Dichters und über diesen Umweg mit einer Regierungsform, die als »Herrschaft des Schlafes« bezeichnet wird und die sich durch zweierlei auszeichnet: Zum einen regiert der Herrscher, indem er nicht regiert. Zwar wird das nicht weiter ausgeführt, man wird sich aber vorstellen dürfen, dass sich die Menschen während des Schlafes ihres Herrschers selbst organisieren und dass es sich um eine freiheitliche Gesellschaft handelt, die auf staatliche Zwangsmittel und Herrschaft nicht angewiesen ist. Zum anderen aber, in Ausnahmesituationen, regiert der Herrscher, indem er sich statt von Interessen und machtpolitischem Kalkül von seinen Träumen leiten lässt. Dabei darf sowohl an jene Träume gedacht werden, die sich im Schlaf ungefragt einstellen, wie auch an die von Phantasien und Utopien befeuerten Tag- und Wachträume. (Die Bedeutung solcher Träume wird auch anderswo im Lexikon betont, so im Artikel Hürz, der als Literaturangabe zwei Werke mit sprechenden Titeln nennt: »Raymond Hürzeler: Die Verkümmerung der Phantasie als Krankheitsursache: 1930; Wer träumt, ist gesund, 1932«; 44 f.) Im Lemma Archisten wird eine Gruppierung beschrieben, für die die Herrschaft von Menschen über Menschen unumgänglich ist (12 f.). Ganz anders der vorliegende Eintrag: Hier erdenkt sich der Autor eine Regierungsform ohne Regierung; er imaginiert eine herrschaftsfreie Gesellschaft, in der Entscheidungen aufgrund von Träumen gefällt werden. Indem das Lexikon diesen Gedanken in die Welt setzt, wird die »Archie«, die Herrschaft von Menschen über Menschen sichtbar – Marti in einem Interview: »Erst ein Ausblick auf mögliche Nicht-Entfremdung […] macht die Entfremdung artikulierbar.«12 Indem das Lexikon den Gedanken formuliert, wird ein anderer Zustand vorstellbar; es wird möglich, den entsprechenden utopischen Gedanken zu denken; die beschriebene Gesellschaftsform wird aus dem Unmöglichkeits- in einen

12 [Gespräch mit Kurt Marti:] Religion und Kunst. In: Horst Schwebel (Hg.): Glaubwürdig – Fünf Gespräche über heutige Kunst und Religion mit Joseph Beuys, Heinrich Böll, Herbert Falken, Kurt Marti, Dieter Wellershoff. München 1979. Abgedruckt in: Kurt Marti: Red’ und Antwort. Rechenschaft im Gespräch. Stuttgart 1988, S. 38-59, S. 54.

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Möglichkeitsraum versetzt. Man wird daher – erst recht, wenn man sich die im Lemma Lexi-Fiktion wiedergegebene Kennzeichnung eines fingierten Lexikons als »Bestandesaufnahme ›neuer, möglicher und möglicherweise auch nützlicher Dinge«‹ (59) vor Augen hält – beim vorliegenden Lemma durchaus an Robert Musil denken dürfen und von einer Einübung in den Möglichkeitssinn sprechen können: »So liesse sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.«13 Allerdings ist diese utopisch-affirmative Deutung der Hypnarchie bloss eine Lesart; sie kann auch anders verstanden werden. Auf diese Möglichkeit – und somit auf die Ambivalenz des Artikels – verweist das Lexikon auch selber: »Ungeklärt ist die Frage, ob Theodolets Kleinepos als Satire oder als utopisches Gedicht aufzufassen sei.« (45) Eine Einschätzung, die im Übrigen nicht nur für das Epos von Theodolet, sondern auch für andere Lemmata des Abratzky gelten wird. Ähnlich wie hier geht Marti auch bei anderen Einträgen vor: Unter dem Stichwort ZOOM informiert er über eine christliche Kommune in Amsterdam, die »nach dem Vorbild der Jesus-Kommune (Lukas 8, 1-3)« lebt, intern das Privateigentum abgeschafft hat, die Ehe nicht als exklusives Besitzverhältnis versteht, Gestrandete jeden Alters aufnimmt und »auf Gesellschaftsreform im Sinn des libertären Anarchismus« abzielt (112). Auch wenn man in der Beschreibung – zumindest aus heutiger Sicht – auch satirische Züge zu erkennen vermag, steht hier die Imagination eines anderen Christentums im Zentrum. Beim Lemma Entordner wird ein Funktionär privater und öffentlicher Betriebe und Organisationen vorgestellt, dessen Aufgabe darin besteht, »ein lähmendes Übermass an Ordnung wieder zu lockern, ohne dass Unordnung und Chaos entstehen« (33). Vor Augen geführt wird damit die Möglichkeit einer anderen Organisation der Arbeit – die Literaturangaben verweisen auf Management- und Organisationstheorien – und eines anderen Umgangs mit Ordnung. Das Stichwort »Entordnung« nimmt Marti später wieder auf, dann weniger auf Organisationen als auf das Denken bezogen.14 Das Stichwort Bukoliker schließlich stellt den 1966 in der Schweiz gegründeten »Bund zur Kommunalisierung des Bodens (Bukobo)« vor, als dessen Bezeichnung und Selbstbezeichnung der Name »Bukoliker« gebräuchlich ist. Der hier vorgeführte Gedanke – dass der Boden kom-

13 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [1930]. Reinbek 1987, S. 17. 14 Kurt Marti: Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Darmstadt 1979, S. 37.

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munalisiert werden und dass damit die zunehmende »Feudalisierung des Grundbesitzes« vermieden werden kann – ist allerdings weniger weit hergeholt als jener der Hypnarchie: Entsprechende Postulate wurden in der Schweiz etwa in der Genossenschaftsbewegung oder in den Schriften von Leonhard Ragaz schon länger aufgestellt. 1967 wurde zudem über eine Volksinitiative zum Bodenrecht abgestimmt, die Marti in der Zeitschrift Reformatio übrigens kommentiert hat, mit teilweise ähnlichen Formulierungen wie im Abratzky – das Stichwort Feudalisierung etwa findet sich an beiden Orten.15 Diese Forderung mag auch außerhalb des Lexikons erhoben werden – ihrer Umsetzung haftet dennoch etwas Utopisches an, und eben dieses kommt im vorliegenden Lemma zum Ausdruck. Die realen Diskussionen dieser Frage in der schweizerischen Politik lenken den Blick aber zugleich auf jenes Element des Lemmas, das gänzlich erfunden ist: Der Titel des Eintrags stellt die Protagonisten der Bodenrechtsreform bei aller Sympathie für deren Anliegen als romantische, dem beschaulichen Landleben zugewandte, vormoderne Bukoliker vor – was dem Eintrag noch keine satirische, aber doch eine mild-ironische Note verleiht.

Spekulieren: merkwürdige Theorien und Argumente Jetztel, das. Teil eines Augenblicks (eines »jetzt«). Bei seinen Untersuchungen zur Frage »Wann ist jetzt?« stellte der Psychologe Andreas Stade (1869-1919) fest, dass jedes erlebte »Jetzt« in unendlich viele und unendlich kleine (Mikro-)Jetzte teilbar ist, für die er die Bezeichnung »Jetztel« vorschlug. Stade gelangte zur Überzeugung, dass der Begriff »Jetzt« als Summe unendlich vieler J. bereits eine Abstraktion ist, weshalb das menschliche Bewusstsein nie ein »Jetzt« realisieren kann, während das J. als das reale »Jetzt« dem zu groben Zeitmesser des Bewusstseins nicht fassbar wird. (Andreas Stade: Wann ist jetzt? 1907) (48) Jetztelianer, die. Religiöse Gemeinschaft, begründet vom Uhrmacher Abraham Grob (1882-1938) in Heimisried, der sich auf Andreas Stades Schrift Wann ist jetzt? berief und, diese popularisierend, die Lehre entwickelte, dass die Ewigkeit nicht ausgedehnte Zeit, sondern das vom Bewusstsein voll realisierte »Jetztel« sei. Nach Grob bedeutet

15 Marti, Notizen und Details, S. 205-208 (1967, 9); cf. auch Marti, Zärtlichkeit, S. 124.

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Sünde die dauernde Vergewaltigung des göttlich-ewigen »Jetztels«. Die religiöse Praxis der J. besteht in einer geheim gehaltenen Arkandisziplin individueller Meditation und kollektiver Ekstase, wodurch die J. bei ihrer Umwelt oft in Verruf kamen. Nach ihrem Begründer wurden die J. deshalb als »Grobianer« verspottet. Andreas Stade distanzierte sich energisch von den J., weil sie seine Philosophie in Misskredit brachten. Die Mitgliederzahl der J. ist unbekannt. Nach dem Tode Abraham Grobs übernahm Frau Annadora Ehrenzeller die Leitung der Gemeinschaft, um die es in den letzten Jahren stiller geworden ist. (Abraham Grob: Gott im Jetztel, gefolgt von einigen Jetzteliaden, 1921; Annadora Ehrenzeller: Kurzgefasste Verteidigung der Jetztelianier wider Gerücht und Verleumdung, 1952) (48 f.) Das erste Lemma präsentiert eine psychologische oder philosophische Theorie, der zufolge sich das »Jetzt« in unendlich viele »Jetztel« teilen lässt, die für das menschliche Bewusstsein nicht fassbar sind. Das zweite bietet eine religiöse Weiterentwicklung dieser Theorie und kombiniert diese Lehre mit religiösen Praktiken, die zur Ekstase oder zu einer Art mystischen Ergriffenheit führen, bei der das Bewusstsein etwas erfährt, das es anders nicht erfahren kann: die Ewigkeit, Gott, das Jetztel. Beide Lemmata gehen von einem Einfall aus, auf dessen Grundlage in spekulativer Weise eine Theorie bzw. eine Lehre skizziert werden. Im Grunde spekuliert der Abratzky darüber, wie sich dieser Einfall zu einer Theorie ausbauen ließe, wie eine solche Theorie aussehen könnte und wie sie zu benennen wäre, und jedenfalls kann das Resultat als Basis für weitere Spekulationen dienen. Die Lemmata wirken – verstärkt durch die karikierende Schilderung der Sekte der »Jetztelianer« – ziemlich abseitig. Ganz so weit hergeholt sind sie aber dennoch nicht; sie sind anregend, sie sind ›merkwürdig‹ im doppelten Sinn. Marti jedenfalls hat sie sich gemerkt und später, nun nicht mehr im Kleid des fiktiven Lexikons, Zitate und Gedanken notiert, die als Fortführung des »Jetztelianismus« gelesen werden können. So finden sich in Im Sternzeichen des Esels in den mit »Augenblicke« und »Ewigkeit« überschriebenen Abschnitten ein Dialog zum »ewigen Augenblick«, eine in Ostpreußen in einer Kirche entdeckte Inschrift (»Memento momenti – ex momento aeternitas«) sowie eine Notiz, in der der Ewigkeit als »Immer-Zeit« eine als »NichtZeit« gedachte Ewigkeit gegenübergestellt wird, um dann fortzufahren: »Vermutlich ist unser Denken sogar unfähig, Nicht-Zeit zu denken. Dennoch geschieht es – viele Zeugnisse sprechen dafür –, dass sie aufblitzt (diskontinuierlich!) in Visionen, Epiphanien, im Sátori auch.«16

16 Marti, Sternzeichen, S. 185-189.

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Auch sonst bereichert der Abratzky die Welt des Wissens mit zahlreichen religiösen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Theorien, Lehren und Argumenten: Mit den Kosmophagen stellt das Lexikon die Anhänger einer alten Lehre vor, »derzufolge es die Aufgabe des Menschen ist, die Welt zu verzehren und zu essen« (54). Die Toposophie ist die vom philosophierenden Globetrotter Erich Ellwein postulierte »Weisheit und Kunst«, sich der Lebensart fremder Gegenden verstehend anzupassen. Die Spiel-Kult-Theorie des Ethnologen Robert Vockhausen sieht Kult und Spiel (und mit dieser auch die Sexualität) als die »anthropologisch konstitutiven Elemente der menschlichen Kultur«, schätzt die Hochschätzung der Arbeit hingegen als »Ersatz-Kult« ein (102). Das Lemma Theophilanthropen präsentiert eine aus der Renaissance stammende Geistesrichtung, »für die Gottesliebe und Menschenliebe identisch sind« (90). Hitlawahut wird als Begriff aus dem Chassidismus vorgestellt, unter den »alle ekstatischen Phänomene subsumiert werden, die von der Gottesliebe erregt werden« (43). Der Eintrag Christik präsentiert den vom Schriftsteller Claus Henneberg geprägten Namen für einen »auf sich zurückgewendeten Heiland« (23), einen Christus der inneren Emigration, der in jedes herrschende System einfügbar ist und daher nicht gekreuzigt zu werden braucht. Im Eintrag zu Uchimuri, Kanzo wird dessen aus der radikalen Ablehnung aller kirchlichen Formen gespeiste Lehre der »Mu-Kyoki« erwähnt, der Nicht-Kirche bzw. »der Kirche für die, die keine Kirche haben können« (95). Das Lemma Kriegsbeweis stellt das Argument vor, mit dem Moses ben Nachman Gerundi anlässlich einer Disputation im Jahr 1263 die Messianität Jesu widerlegte, wobei er dem für die messianische Zeit vorhergesagten Ende des Krieges die Gewalttaten der Gegenwart gegenüberstellte. (55) Der schwedische Mystiker Lars Johannes Egil lehrt »die Versonnung des Menschen durch Gottes lebendiges Licht« (31), was zu einem Hinweis auf das Lemma Heliolalie führt. Viele dieser Theorien, Lehren und Argumente sind erfunden oder spekulativ entwickelt. Einige gibt es aber auch in der Welt außerhalb des Abratzky, so Henneberges »Christik« oder den »Kriegsbeweis« – Letzteren hat Marti in einer späteren Publikation aufgegriffen und ausführlicher dargestellt.17 Die meisten sind mehr oder weniger merkwürdig – sonderbar also, gelegentlich absurd, aber häufig zugleich inspirierend. Marti skizziert hier, so jedenfalls mein Eindruck, eine Reihe von Ideen, die er selber anregend findet und die er, ohne sie in jedem Fall zu teilen,

17 Kurt Marti: Kriege und Messias. In: ders.: Fromme Geschichten. Stuttgart 1994, S. 61-64.

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im Medium des fiktiven Lexikons ausprobiert. Gut vorstellbar, dass er auch die erfundenen Theorien – wenn es sie denn gäbe – mit Interesse studieren und da und dort in seinen Notizbüchern zitieren und kommentieren würde. Jedenfalls ist dieses Interesse nicht nur im Abratzky greifbar. Marti zeigt auch in seinen anderen Werken eine Vorliebe für Gegenströmungen und Außenseiter, für abseitige Positionen und für theologische Inspiratoren ohne theologische Lizenz. In Zärtlichkeit und Schmerz (1979) etwa wird Jakob Boehmes Theorie der adamischen Sprache thematisiert.18 In Ruhe und Ordnung (1984) ist nicht nur die bereits erwähnte »Heliolalie« zu finden,19 sondern auch die Sprachtheorie von Jean-Pierre Brisset, der das Fragewort »Quoi?«, eine Nachbildung des Quakens der Frösche, von denen der Mensch abstamme, für das erste Wort der Menschen hielt.20 Besonders ergiebig ist Im Sternzeichen des Esels (1995): Hier verweist Marti auf »spekulative Köpfe, fromme Querdenker und wilde Bibeldeuter« in den Voralpen- und Alpentälern, oftmals Handwerker oder Bauern wie Samuel Weissenfluh, der zum Schluss kam, dass nach dem Verlust der göttlichen Sprache des Paradieses das erste Wort der menschlichen Sprache ein klagendes »Ach« gewesen sei.21 Im selben thematischen Zusammenhang wird Christian Hinrich Wolke erwähnt, dem zufolge im Paradies bereits deutsch gesprochen worden sei, allerdings einzig das Wort »Wunderhalm«, aus dem alle Sprachen hervorgegangen seien.22 Dazu kommen die mittelalterlichen Schwestern und Brüder vom Heiligen Geist, die das Evangelium radikal antihierarchisch auslegten und mystische Nacktgottesdienste feierten,23 oder Christian Wagner, Kleinbauer und Selbstdenker aus Württemberg, und sein Evangelium Die möglichste Schonung alles Lebendigen.24

18 Marti, Zärtlichkeit, S. 23. 19 Kurt Marti: Ruhe und Ordnung. Aufzeichnungen, Abschweifungen 19801983. Darmstadt 1984, S. 79. 20 Ebd., S. 20. 21 Marti, Sternzeichen, S. 11. 22 Ebd., S. 12. 23 Ebd., S. 29 f. 24 Ebd., S. 118 f.

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Spiel mit Realität und Fiktion Bei vielen, wenn auch längst nicht bei allen Einträgen im Abratzky bleibt unklar, ob und wieweit es sich um erfundene oder um tatsächliche Gegenstände und Erklärungen handelt. Echt und sachgerecht, auch im Blick auf die Welt außerhalb des Abratzky und mindestens in der Kernaussage, dürften zum Beispiel die Einträge zu Kriegsbeweis, Zweidrittelswelt, Restaurant, Zerzählung oder Bimini sein. Allerdings: Der für die Benennung des Restaurants als Restaurant entscheidende lateinische Spruch über der Tür des Bouillonund Geflügelhändlers Boulanger wird anderswo in abweichender Form wiedergegeben. Und bei der Legende von Bimini und der Suche Ponce de Leons nach dem Jungbrunnen ist zumindest die eine Literaturangabe erfunden und das Erscheinungsjahr des gleichnamigen Epos von Heinrich Heine mit 1896 statt 1869 angegeben. Aber hier beginnen die Fragen bereits: Sind das nun Fehler, von anderen Quellen gedeckte Versionen oder bewusste und bedeutungsvolle Abweichungen, sozusagen fiktive Einsprengsel in einem ansonsten vertrauenswürdigen Text? Die meisten Einträge dürften hingegen fiktiven Charakter haben – dass es je ein »Urk«, eine in denaturierten Großstädten beliebte Schale mit einem Häufchen Erde, und dazu auch ein »Spiel-« und ein »KultUrk« gegeben hat (ganz abgesehen von der Literaturangabe »Alfons Gödel: Zen und Urk, in: Religionspsychologie VII/1968«, 99), ist genauso wenig anzunehmen wie der große Erfolg der Comic-Figur »Schrobi« oder die Existenz der künstlichen Weltsprache »Kippik«. Wobei auch das nicht ganz so eindeutig ist: Auch offensichtlich fiktive Einträge beinhalten häufig reale Kontextinformationen. Zudem werden die Angaben nicht selten durch die Nennung bzw. Zitierung von hinlänglich bekannten Personen und deren Publikationen verbürgt. Und selbst dort, wo solche Realitäts-Marker fehlen, bleiben noch Zweifel: Schließlich gibt es auch in der wirklichen Welt überraschende Dinge, verrückte Personen oder eigenartige Bücher, und nicht selten stellt sich gerade das, was zunächst unwahrscheinlich erscheint, eben doch als das Reale heraus. Was für die einzelnen Lemmata gilt, wiederholt und potenziert sich auf der Ebene des Lexikons insgesamt. Das Buch kommt zunächst wie ein richtiges Lexikon daher, sodass Leser/innen im ersten Moment geneigt sein könnten, auch ein richtiges Lexikon zu erwarten. Allerdings finden sich bereits auf dem Umschlag genügend Fiktions-Marker, zudem spricht das vorangestellte Motto – ein Zitat von Raymond Hürzeler (der im Abratzky unter dem Stichwort Hürz ebenfalls vorgestellt wird): »Der Fiktionsgehalt der Realität und der Realitätsgehalt der Fiktionen sind korrelativ.« (5) – eine deutliche Sprache, und wer die ersten Einträge

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gelesen hat, wird das Werk schnell als Fiktion erkennen. Bloß tauchen dann früher oder später einige Lemmata auf, bei denen es sich ganz offensichtlich um echte Erklärungen handelt. Sind die Leser /innen so weit gelangt, werden sie auch bei vorher als Fiktion rubrizierten Einträgen zu zweifeln beginnen und sich fragen, ob der Realitätsgehalt des Lexikons nicht doch größer ist als zunächst gedacht. Dieses Dilemma beschreibt Johannes Maassen wie folgt: Bei allem Vergnügen, das die Lektüre dieses Lexikons bereitet, »fühlt sich der Leser doch zugleich fundamental verunsichert. Wenn Wissenschaftlichkeit so eingängig und überzeugend vorgetäuscht werden kann, woran sich dann noch halten?« Um die anstehenden Fragen zu klären, »wird der Leser ein Lexikon zu Rate ziehen müssen. Damit befindet er sich aber in einem Teufelskreis.«25 Indem die kleine Brockhütte ganz offensichtlich Erfundenes und Phantastisches auftischt, das Fiktive dabei als Reales darstellt und durch die Form der Darstellung ebendies zu bestätigen vorgibt, darüber hinaus aber immer wieder ganz oder teilweise Reales einstreut – indem sie dies tut, erzielt sie zwei Effekte: Zum einen verlieren traditionelle Formen der Wissensvermittlung ihren unhinterfragten Status. Wenn Fiktives problemlos als Reales dargestellt werden kann, erscheint das anderswo in derselben Weise dargestellte und verbürgte Reale zunehmend als möglicherweise fiktiv. Die Folge dieses virtuosen Spiels ist eine Verunsicherung oder auch ein Misstrauen in konventionelle Formen des Wissens und ihre Darstellung. »Subversion durch Phantasie«26 nennt Schmitz-Emans dieses poetische Programm. Sie folgert: »Durch die Parodie konventioneller Praktiken von Wissensvermittlung wirkt der Lexikontext subversiv; er stellt sowohl diese Praktiken als auch die Gegenstände des Wissens ironisch in Frage.«27 Zum anderen verliert die Unterscheidung von Fiktion und Realität überhaupt ihre Eindeutigkeit. Reales wird in Zweifel gezogen und Fiktives für real gehalten, zumindest aber für möglich – für die Einübung des Möglichkeitssinns eine sinnvolle Strategie –, sodass am Schluss die Kategorien »real« und »fiktiv« selbst in Mitleidenschaft gezogen werden. Auf diese Problematik verweist Marti selbst in einem Interview, unter direkter Bezugnahme auf den Abratzky: »Unter Realität verstehe ich nicht nur Dinge (= res) und Fakten, sondern auch das Bewusstsein, durch das Dinge und Fakten erst real werden. Zum Bewusstsein gehört

25 Maassen, Stadt am Ende der Zeit, S. 148. 26 Schmitz-Emans, Enzyklopädie, S. 1. 27 Ebd., S. 5.

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auch die Fiktion. Darum: die Realität ist eine Fiktion des Bewusstseins. Daraus folgt: Realität ist nie definitiv und abgeschlossen.« Und kurz darauf: »Gerade dadurch aber erweist sich die Fiktion selbst als eine Realität. Die Grenze zwischen Fiktion und Realität ist deshalb imaginär und ihre definitive Festlegung nur als Gewaltakt einer entfremdenden Ideologie möglich (worauf mein ›fiktives‹ Lexikon ›Abratzky oder Die kleine Brockhütte‹ hinzuweisen versuchte).«28 Dieses Spiel mit Fiktion und Realität und der ebenso trügerische wie verunsichernde Status der Lexikon-Beiträge können aber nicht nur von außen konstatiert werden. Auch im Abratzky selbst finden sich mehrere Hinweise und explizite Thematisierungen dieser Problematik, was das Lexikon zu einer eminent selbstreflexiven Unternehmung macht. Bereits der erste Eintrag des Lexikons, jener zu Abratzkiden, ist hier von Bedeutung. Der Begriff bezeichnet eine Geheimgesellschaft, die 1897 mit dem Tod des Schornsteinfegers Abratzky erlosch. Was es mit dieser Geheimgesellschaft auf sich hat, bleibt auch nach der Lektüre der Erläuterungen im Dunkeln. Der Eintrag besteht zur Hauptsache in einem Stammbaum, der im Nachlass des Schornsteinfegers gefunden wurde. Er beginnt mit den Worten: »Und Abratzky zeugte Beomar. Und Beomar zeugte Toliuw« – und endet mit: »Und Dekunz zeugte Malop, das ist der Schornsteinfeger, der die steile Wand der Feste Königstein erstmals erklomm.« (9) Daran schließt sich der Hinweis an, dass Malop identisch sei mit dem 1897 verstorbenen Schornsteinfeger Abratzky. Schmitz-Emans weist darauf hin, dass solche Genealogien nach alttestamentlichem Muster normalerweise der Herleitung von Späterem aus Früherem und damit der Begründung dienten. Genau dies funktioniert hier aber nicht: Die Generationenfolge beginnt mit Abratzky und endet mit Malop / Abratzky – sofern man nicht annimmt, dass es sich um zwei verschiedene Personen desselben Namens handelt, liegt hier eine zirkuläre Genealogie vor, die dort beginnt, wo sie endet. Für SchmitzEmans signalisiert diese parodistische Verwendung des genealogischen Modells, »dass es in der Abratzky-Welt nichts logisch zu begründen gibt, dass sie sozusagen im Bodenlosen schwebt«.29 Da es sich hierbei um den Namensgeber des Lexikons handelt, wird man die »Abratzky-Welt« sicher auf das ganze Lexikon beziehen dürfen. Und wer will, kann sich von der zirkulären Genealogie und vom fehlenden festen Boden auch an den erwähnten Teufelskreis des Regresses auf weitere Lexika, deren Status aber ebenfalls unsicher ist, erinnern lassen.

28 [Gespräch mit Kurt Marti] Form, S. 28 f. 29 Schmitz-Emans, Enzyklopädie, S. 2.

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Eher augenzwinkernd wird dieselbe Thematik beim Stichwort Archiblabla eingespielt: Archiblabla, der. Aus griech. »archi« [= Erz-] und franz. »blabla« [= Geschwätz]. Hauptfigur des gleichnamigen, angeblich spätlateinischen Epos, das Reinhard Seeboll jedoch als geschickte Fälschung entlarvte. Der A. ist in diesem Epos ein unermüdlicher Schwätzer, ein lebenslustiger Nichtsnutz und Frauenheld. (Reinhard Seeboll: Archiblabla – eine gekonnte Fälschung, 1929) (12) Wenn der Archiblabla ein unermüdlicher Schwätzer ist, so mag dasselbe auch für den Lexikographen gelten, dem man somit ebenfalls nicht alles glauben darf. Allerdings wird nun gerade das vermeintlich spätlateinische Epos, das diese Figur vorführt, als Fälschung entlarvt, womit auch den Informationen über den Archiblabla nicht mehr vertraut werden darf, auch nicht jener, dass er ein Schwätzer ist. Dies aber lesen wir in einem fiktiven Lexikon – der Regress führt auch in diesem Fall tendenziell ins Bodenlose, und wem wir Glauben schenken können, ist nachgerade nicht mehr klar. Weder verklausuliert noch augenzwinkernd, sondern geradezu programmatisch ist das Lemma Lexi-Fiktion. Der Begriff wird auf den elsässischen Schullehrer, Volkskundler und Verfasser phantastischer Schriften Theodor Obermann zurückgeführt. Er bezeichnet ein von Obermann konzipiertes »Lexikon[…] mit erfundenen Stichworten, Definitionen, Beschreibungen und Illustrationen ohne ersichtlichen Realitätsbezug« (59). Dass auch hier kein fester Boden zu gewinnen ist, verdeutlicht spätestens die Fortsetzung: Die Methode der Lexi-Fiktion »erlaubt die Herstellung beliebig vieler und beliebig verschiedenartiger Lexika, die aber nie ›fertig‹ oder ›vollständig‹ sein können« (59). Dass es aber nicht nur darum geht, die Realität mit den Mitteln des Fingierens und Phantasierens zu unterminieren, sondern dass umgekehrt auch die Fiktion Realitäten schaffen kann, zeigt sich, etwas versteckt, im Eintrag zum Stichwort Bimini. Der Eintrag ist weitgehend zutreffend, bis auf eine Literaturangabe, die meines Wissens fiktiv ist und die gerade deshalb – als einziges fiktives Element in einem ansonsten sachlichen Artikel – besonders zu beachten ist. Die Angabe lautet: »Ulrich Wensdörfer: Von der Sage zur Realität. Zur geographischen Namensfindung, 1927«. Im Kontext des Lemmas geht es darum, dass der spanische Seefahrer Ponce de Leon die legendäre Insel Bimini zwar vergebens gesucht habe, dass aber später wegen der Legende zwei kleine Inseln tatsächlich den Namen Bimini erhielten. Dies und der Titel Von der Sage zur Realität behauptet genau jene Bewegung, bei der die Realität mittels Fiktion verändert wird.

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Schluss Martis Lexikon in einem Band ist nicht nur ein selbstreflexives Unternehmen und eine vergnügliche Lektüre. Es enthält zugleich in dem einen Band auch den Grundstock für eine ganze Reihe weiterer Bücher: Viele Ideen und Gedanken aus dem Abratzky hat Marti später anderswo wieder aufgenommen und ausgeführt. Einige der skizzierten fiktiven Bücher und Biographien können als Entwürfe für mögliche, noch zu schreibende Bücher verstanden werden – so die Biographie des (übrigens historisch verbürgten) Schornsteinfegers Abratzky samt der Geschichte der Abratzkiden oder eine Sammlung mit Gedichten aus der verzeichneten poetischen Gattung des Dienerlobs. Die Lemmata über Künstler und Autorinnen könnten zu einer Enzyklopädie imaginärer Schriftsteller ausgebaut werden, wie sie Pedro Lenz mit Das Kleine Lexikon der Provinzliteratur vorgelegt hat.30 Die Einträge zu Neologismen und gefundenen Vokabeln ließen sich zu einem entsprechenden Wörterbuch erweitern – ein solches hat René Gisler unter dem Titel Der Enzyklop verfasst.31 Und die skizzierten wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen könnten – ein letztes Beispiel – in ein Manual über künftige bzw. alternative Technologien eingehen, etwa in der Art von Stanislaw Lems Kompendium erfundener zukünftiger Wissenschaften.32 Die Abratzky-Welt, das zeigt sich hier noch einmal, ist ebenso vielfältig wie merkwürdig – und in weiten Teilen noch zu entdecken.

30 Pedro Lenz: Das Kleine Lexikon der Provinzliteratur. Zürich 2005. 31 René Gisler: Der Enzyklop. Ein Wörterbuch. Berlin 2001. 32 Stanislaw Lem: Imaginäre Größe [1973]. Frankfurt a. M. 1996.

Magnus Wieland

Zärtliche Quartiere. Kurt Martis Notizen lippenstift-notiz zärtlechkeit schneit und schneit uralt i ne wält wo fallt und vergeit Kurt Marti

Der Begriff ›Notiz‹ evoziert zunächst die Vorstellung von mehr oder weniger spontanen Niederschriften, die dazu dienen, eine Information oder einen Gedanken festzuhalten, wie wir es täglich tun, etwa bei Telefongesprächen, Sitzungen, bei Vorträgen oder beim Einkaufen. Notieren ist eine alltägliche Tätigkeit – auch und gerade für Schriftsteller bei der Konzeption ihrer Texte. Spuren davon befinden sich in der Regel als Entwurfsstufen im Nachlass oder Archiv eines Autors, das Rückschlüsse über den kreativen Prozess bietet. Wer deshalb beim Titel Kurt Martis Notizen erwartet, dass hier ein Einblick in das Archiv des Autors geboten wird, um Martis Schreiben von seiner materiellen Seite zu betrachten, der wird zwangsläufig enttäuscht werden. In Martis Archiv sind praktisch keine Manuskripte vorhanden, schon gar nicht Entwürfe, Aufzeichnungen, Skizzen oder Notizen, die Aufschluss über den kreativen Schreibprozess geben könnten, über den Weg von ersten flüchtig notierten Gedanken zum fertig ausformulierten Text. Neben wenigen disparaten Werkdokumenten besteht Martis Archiv hauptsächlich aus selektiv vorhandener Korrespondenz, einigen Lebensdokumenten sowie umfangreichen Sammlungen von Zeitungsartikeln, Rezensionen und den eigenen Pressebelegen, die chronologisch in Alben abgelegt bzw. eingeklebt sind.1 Im Archivbestandteil E, den Erweiterungen aus dritter Hand, findet sich aber eine Karte, die Aufschluss über die spärliche

1 Siehe das von Lukas Dettwiler erstellte Inventar im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA), Bern: http://ead.nb.admin.ch/html/martikurt.html (14. 7. 2014).

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Manuskriptlage gibt. Sie stammt von Hektor Leibundgut, dem ehemaligen Redaktor der Zeitschrift reformatio, in der auch Kurt Marti publizierte, und ist an den Archivar Lukas Dettwiler gerichtet, der Martis Materialien im Schweizerischen Literaturarchiv betreut und dem hier ausdrücklich für seine Hilfestellung zu diesem Beitrag gedankt sei. In dieser Karte schreibt Hektor Leibundgut: »Lieber Lukas, Kurt Marti hat Dich mit Mss. sehr kurz gehalten. Hier wenigstens mal eine Kopie des einzigen bei mir noch aufgetauchten Originals. Dazu besitze ich noch zwei kopierte Notizen. Ich suche noch bei Kolleginnen. Dir alles Gute und liebe Grüsse, Hektor«.2 Das Fehlen von Notizen und Werkmanuskripten ist also nicht etwa irgendeinem Überlieferungsverlust geschuldet, sondern muss – so sehr es aus philologischer Perspektive zu bedauern ist – als Entscheid des Autors selbst akzeptiert werden, der sich entschlossen hat, die Vorstufen zu seinen gedruckten Texten nicht aufzubewahren. In einem Interview mit Christof Mauch gab Kurt Marti einmal zu Protokoll: »Vieles landet im Papierkorb«, erwähnt im selben Atemzug aber auch seine »Notizbücher«, die »Gedichte, Prosastücke, Aphorismen« enthalten, aber offenbar nur für die Dauer, bis die Notate weiterverwendet bzw. publiziert werden können.3 Das hängt mit Martis Schreibprozess zusammen, wie er ihn in dem kurzen Essay Spiel des Schreibens erläutert: Es kommt darauf an, mich zum Schreiben zu bringen. Wie das geschieht, ist egal. Was ich fürs erste schreibe, ist nicht von Belang. Sofort streiche und ändere ich nämlich, was ich geschrieben habe, stelle Sätze um, entwerfe neue dazu und komme so, schreibend und das Geschriebene verändernd, auf neue Gedanken, auf andere Wörter, auf unerwartete Sätze […].4 Der Schreibakt des ersten Notierens besitzt für Kurt Marti bloß subsidiären Charakter. Es ist eine Art Initiationshandlung, um den Schreib- und Gedankenstrom überhaupt in Gang zu setzen. Anders als wir es im Alltag tun, greift Marti also nicht zur Feder, um bereits gefasste Gedanken oder Einfälle festzuhalten, sondern um Ideen im Akt des Schreibens erst hervorzubringen. Nachdem dieses Ziel erreicht worden ist, verlieren

2 Begleitkarte vom 15. 4. 2010; Archiv Kurt Marti, SLA-K.MARTI-E-01-a. 3 »Ich hüte mich, mich einem Prinzip zu verschreiben«. Kurt Marti im Gespräch mit Christof Mauch. In: Kurt Marti. Texte, Daten, Bilder. Hg. v. Christof Mauch. Frankfurt a. M. 1991, S. 37-52, S. 50. 4 Kurt Marti: Spiel des Schreibens. In: zart und genau. Reflexionen, Geschichten, Gedichte, Predigten. Hg. v. Siegfried Bräuer / Hansjürgen Schulz. Berlin 1985, S. 51-52, S. 51.

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die Notate ihre Funktion und werden für den Autor selbst wertlos, nicht länger aufbewahrenswert. Mit Walter Benjamin ließen sich diese Notizbücher somit als die »zartesten und saubersten Quartiere« bezeichnen, worin die »wechselnden und ungleich gearteten Gedanken so vieler Jahre immer wieder gastfreundlich« aufgenommen werden.5 In diesem Verständnis markieren Notizbücher einen transitorischen Ort mit vorübergehenden (und damit eben auch nicht dauerhaften) Niederschriften.6 Wenn Benjamin die Notizbücher zudem als »zarteste« Quartiere bezeichnet, so verwendet er einen Ausdruck, der auch für Kurt Martis Schreiben ganz zentral ist.7 Man muss hier nur an eines der wohl »meistgelesenen« und »oft neu aufgelegt[en]«8 Werke Kurt Martis erinnern: an Zärtlichkeit und Schmerz (erstmals 1979 erschienen), eine gegliederte Sammlung von Gedanken, Aphorismen, Zitaten und parabelhaften Kurztexten,9 die insgesamt als »Notizen« ausgewiesen sind. Nanu, also doch Notizen!? Das führt uns zunächst vor eine begriffliche Verlegenheit, was wir unter »Notizen« bei Kurt Marti genau zu verstehen haben. Denn obwohl vom Autor nahezu keine handschriftlichen Notate vorhanden sind, hat er doch zahlreiche Notizen publiziert oder zumindest gewisse Texte als solche bezeichnet, darunter auch die unter dem Titel Notizen und Details erschienenen Kolumnen in der Zeitschrift reformatio. Es scheint fast so, als sei die Notiz ein bevorzugtes Konzept Martis, das gattungsübergreifend auf verschiedene Textsorten – vom literarischen Aphorismus bis zur Zeitungskolumne – Anwendung findet. Mehr noch weist selbst die Lyrik, für die Marti besonders bekannt ist, eine gewisse Inklination

5 Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Hg. v. Theodor W. Adorno Archiv. Frankfurt a. M. 1998, Bd. 4, S. 153. 6 Vgl. dazu Erdmut Wizisla: Zarteste Quartiere. Notizbücher. In: Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen. Hg. v. Walter Benjamin Archiv. Frankfurt a. M. 2006, S. 120-135, S. 122. 7 Er diente etwa Ernst Rudolf Rinke als Leitbegriff für seine Studie über die Theologie und Poesie der Zärtlichkeit bei Kurt Marti (Der Weg kommt, indem wir gehen: Theologie und Poesie der Zärtlichkeit bei Kurt Marti. Stuttgart 1990). 8 So die Herausgeberin Elsbeth Pulver in der bibliographischen Notiz zur Werkauswahl in fünf Bänden. Zürich 1996, Bd. 2, S. 262. 9 Eine überblicksartige Charakterisierung dieser Notizen, die insgesamt zu kurz, mithin verkürzend ausfällt, unternimmt Johannes Maassen: Die Stadt am Ende der Zeit. Zur Prosa von Kurt Marti 1970-1985. In: Blick auf die Schweiz. Zur Frage der Eigenständigkeit der Schweizer Literatur seit 1970. Hg. v. Robert Acker / Marianne Burkhard. Amsterdam 1987 S. 131-154, 143 f.

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zur Notiz auf.10 Wenn man sich etwa als Extremform die alfabeete vor Augen führt, die mit Gestalt und Funktion von Stichwortlisten und Exzerpten spielen, also auf notierende Verfahrensweisen zurückgreifen. Aber auch die gedichte am rand geben sich wörtlich als Marginalien (i. e. kommentierende Rand-Notizen) zu Bibelstellen zu verstehen.11 Überhaupt erwecken die kurzen, metrisch ungebundenen Gedichte Martis mitunter fast den Anschein einer Zettelnotiz, so wie Marti selbst auch bei dem berühmten Gedicht This is just to say (1923) von William Carlos Williams an eine »Zettelnachricht« denken muss, die nichts als eine »nackte Aufzeichnung«, eine »Banalität des Alltags«12 enthält. Doch sieht Marti gerade darin den Keim der Literatur, den er als ein »Aufblitzen des Wunders« im Alltag beschreibt: eine Art »Epiphanie«, in der das »›Gewöhnliche‹ plötzlich in einem Moment überwältigender Helligkeit transparent wird auf Ungewöhnliches, Ungewohntes hin«.13 Ausgehend von diesem Befund gilt zwischen zwei Bedeutungsaspekten von »Notiz« zu unterscheiden: zwischen der Notiz als Resultat eines Schreibaktes, das heißt als grapho-motorisches Ereignis, und der Notiz als literarische Form. Während für Marti die Notiz als Schreibakt über den Moment der Niederschrift keine weitere Relevanz besitzt und deshalb auch nicht überliefert ist, zeigt sich in seiner schriftstellerischen Tätigkeit hingegen eine deutliche Affinität zur Notiz als Textsorte bzw. als eigenständige Prosaform.

10 So konstatiert auch Hugo Dittberner: Arche Nova. Aufzeichnungen als literarische Lebensform (Göttingen 1998, S. 16 f.), dass die Notiz »dem essayistischen Fragment und dem Gedicht benachbart« sei und die Fähigkeit besitze, »lyrische und essayistische Energien und Potentiale zusammenzuführen«. 11 Kurt Marti: geduld und revolte. die gedichte am rand. Stuttgart 1984, S. 75: »wie ihr name anzeigt, sind diese gedichte am rand der evangelien entstanden und verweisen auf evangelientexte.« Näher dazu siehe Rinke, Der Weg kommt, indem wir gehen, S. 75-79. 12 Kurt Marti: Versuch einer theologischen Definition der Literatur. In: Der Gottesplanet. Aufsätze und Predigten. Darmstadt 1988, S. 109-131, S. 109. (Williams’ Gedicht lautet wie folgt: »I have eaten / the plums / that were in / the icebox // and which / you were probably / saving / for breakfast // Forgive me / they were delicious / so sweet / and so cold«). 13 Ebd., S. 110.

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Notizen als literarische Form Diese Differenz und insbesondere das konzeptuelle Verständnis der Notiz als Prosaform lässt sich im Anschluss an Thomas Lappes Studie über Die Aufzeichnung etwas präziser fassen. Lappe begreift die Aufzeichnung als eine typische »literarische Kurzform im 20. Jahrhundert« und rechnet explizit auch Zärtlichkeit und Schmerz (1979) von Kurt Marti diesem Paradigma zu.14 Gegen diese historische Festlegung auf das 20. Jahrhundert ließe sich einwenden, dass Pascal (1623-1662) im 17. Jahrhundert seine Pensées schrieb, Lichtenberg (1742-1799) im 18. Jahrhundert die Sudelbücher und Goethe zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine Maximen und Reflexionen, um nur ein paar der bekanntesten Beispiele zu nennen. Diesem Einwand ist entgegenzuhalten, dass es sich in den genannten und den meisten anderen Fällen um persönliche Aufzeichnungen (für private Zwecke) handelt, die nicht zwingend zur Veröffentlichung vorgesehen waren und erst postum ediert worden sind. Erst im 20. Jahrhundert bildet sich die Aufzeichnung als genuin literarisches Genre heraus, das sich zur literarischen Form eine private, ursprünglich nicht zur Publikation gedachte Notationsweise wählt und gerade aus diesem medialen Widerspruch ihre intellektuelle Spannung zieht. Neben der Prosaform der Notiz zählt zu dieser neuen Aufzeichnungsliteratur auch das öffentliche Tagebuch, dessen sich – in direkter Nachfolge von Max Frisch – Kurt Marti ebenfalls bediente.15 Sein politisches Tagebuch Zum Beispiel Bern 1972 erschien genau ein Jahr nach Frischs zweitem Tagebuch 1966-1971.16 Die Mischform zwischen

14 Thomas Lappe: Die Aufzeichnung. Typologie einer literarischen Kurzform im 20. Jahrhundert. Aachen 1991, S. 48: »Hinzuzuzählen ist hier […] Kurt Marti mit den Bänden Zum Beispiel Bern 1972, Ruhe und Ordnung und Zärtlichkeit und Schmerz.« Randbemerkung: Ruhe und Ordnung erschien in den ersten Ausgaben aufgrund eines Verlagsirrtums unter diesem Titel, der richtig Ruhe und Unordnung heißen sollte. Siehe Elsbeth Pulver: Kurt Marti. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 69. Nlg. (10 /01), S. 1-16, S. 13. 15 Nicht von ungefähr wurden Martis Notizen Zärtlichkeit und Schmerz vom Aufzeichnungscharakter her mit dem politischen Tagebuch verglichen. Charles Linsmayer: Aphorismen eines beunruhigten Zeitgenossen. Zu Kurt Martis Zärtlichkeit und Schmerz. In: Badener Tagblatt (12. 5. 1979). Ebenso Elsbeth Pulver: Kurt Marti. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 69. Nlg. (10 /01), S. 1-16, S. 8. 16 Lappe, Die Aufzeichnung, S. 48, rechnet neben Zärtlichkeit und Schmerz explizit auch das politische Tagebuch Zum Beispiel Bern 1972 zur Aufzeichnungsliteratur – wie natürlich auch die Tagebücher von Max Frisch

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persönlicher diaristischer Aufzeichnung und öffentlicher Mitteilung kommt einem Denken wie demjenigen Kurt Martis entgegen, das sowohl engagiert, zugleich aber vollkommen undogmatisch ist, weil es die persönliche Überzeugung nicht zur allgemeingültigen Norm erklärt: »Jeder Terror rechtfertigt sich mit objektiven Notwendigkeiten«, heißt es in einer Notiz: »Um so mehr gilt es, unbeirrt subjektiv zu sein.«17 In diesem Sinne hat Kurt Marti mit Zum Beispiel: Bern 1972 seine politische Auseinandersetzung nicht etwa als »Pamphlet«, sondern »als Tagebuch konzipiert«.18 Der objektive Terror tritt darin in Gestalt von Major Cincera und seiner Kampagne gegen die ›linke Subversion‹ auf, der auch Kurt Marti zum Opfer fiel.19 Martis kritische Auseinandersetzung mit dem Cincerismus in seinem Tagebuch provozierte zum Teil heftige Reaktionen und brachte dem Autor sogar einen Prozess ein.20 Ironisch reagierte Marti darauf mit einer »Warnung vor dem Publizieren von Tagebüchern« in seiner Kolumne Notizen und Details: »Publizieren Sie nie ein Tagebuch, in dem Sie frisch von der Leber weg notieren, was Sie denken, beobachten und erleben!«,21 heißt es dort, womit nicht nur das Schreibprinzip der Notiz benannt wird, sondern auch die spezifische Publizität des Privaten, wie sie für die literarische Aufzeichnung nach Thomas Lappe insgesamt ausschlaggebend ist. Lappe setzt die Geburtsstunde dieser modernen (von Anbeginn zur Publikation bestimmten) Aufzeichnungsliteratur 1928 mit Walter Benjamins Einbahnstraße an, die vom Autor selbst als »Notizbuch«22 bezeichnet wird. Mit »Walter Benjamin«, aber auch mit »den ›Minima Moralia‹ Theodor W. Adornos« sind Kurt Martis Notizen schon verglichen und sein politisch engagiertes Denken entsprechend in die Nähe

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(ebd., S. 8). Martis Tagebuch behandelt (mit einem kurzen Vergleich zu den stilistisch-thematischen Unterschieden in Frischs Tagebuch) die Studie von Christof Mauch: Poesie – Theologie – Politik. Studien zu Kurt Marti. Tübingen 1992, S. 130-133. Kurt Marti: Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Darmstadt / Neuwied 1979, S. 35. Elsbeth Pulver: Engagement und Innerlichkeit. Zu einem neuen Buch von Kurt Marti. In: Schweizer Monatshefte (Juli 1979), S. 569-572, S. 570, sowie nochmals in Aargauer Tagblatt (29. 9. 1979), S. 9. Siehe Mauch, Poesie – Theologie – Politik, S. 131. Pulver, Kurt Marti, S. 7. Hektor Leibundgut / Klaus Bäumlin / Bernhard Schlup (Hg.): Kurt Marti: Notizen und Details 1964-2007. Beiträge aus der Zeitschrift Reformatio. Zürich 2010, S. 513 [10-1973]. Wizisla, Zarteste Quartiere, S. 121.

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der »Kritischen Theorie« gerückt worden.23 Im Kontext der sogenannten Schweizer Literatur drängt sich hingegen noch ein anderer Vergleich auf, dem der Autor mit dem Titel seiner Kolumne »Notizen und Details« in der Zeitschrift reformatio selbst vorgearbeitet hat. 1964, im selben Jahr als Martis Kolumne unter dem Titel »Notizen und Details« erstmals erschienen ist, wurden auch Ludwig Hohls Nuancen und Details von 1939 als Walter-Druck Nummer 3 neu aufgelegt. In einem Interview anlässlich der Gesamtausgabe der Notizen und Details bekennt Marti unumwunden, der Kolumnentitel sei »halb geklaut bei Ludwig Hohl«.24 Das ist allerdings wiederum nur die halbe Wahrheit, denn der Titel ist vielmehr doppelt geklaut und zusammen montiert aus Hohls Nuancen und Details und seinem – 1944 und 1954 in zwei Bänden erschienenen – Hauptwerk Die Notizen oder von der unvoreiligen Versöhnung. Obwohl Kurt Marti dem Genfer Kellerphilosophen in seinen »Notizen und Details« ein ausführliches und liebevolles Porträt widmet, wo er die Formel von der »unvoreiligen Versöhnung« zustimmend als Antithese zur »helvetischen Ideologie« der Konkordanz, das heißt zur voreiligen »Versöhnung um jeden Preis« erkennt,25 und darin durchaus auch eine gewisse Gemeinsamkeit zu seiner eigenen kritischen Denkhaltung in den Notizen und Details – obwohl Kurt Marti also Hohls literarische Bedeutung durchaus würdigt, wehrt er in dem eben erwähnten Interview die Frage nach einer literarischen Verwandtschaft zu Hohl doch dezidiert ab. Und das zu Recht, besitzen Kurt Martis Notizen doch einen gänzlich anderen Charakter, ganz abgesehen davon, dass der Unterschied zwischen den beiden Autoren kaum größer sein könnte. Hohls angestrengtes und mitunter anstrengendes Denken besitzt einen Hang zum Absoluten,26 was sich nicht nur in einer gravitätischen, gelegentlich

23 W. Martin Lüdke: »Gesucht sind Macher, nötig wären Verhinderer«. In: Frankfurter Hefte (Mai 1980), S. 76 f. 24 In der Radiosendung 52 beste Bücher vom 25. April 2010 auf SRF 2 Kultur. 25 Kurt Marti: Notizen und Details, S. 219: »Wenn ein Schweizer diese Wendung als Devise ausgibt, so zersetzt er die helvetische Ideologie an einer scheinbar unauffälligen, tatsächlich jedoch zentralen Denk-Stelle. Prinzipielle Versöhntheit (oder: Versöhntheit im Prinzipiellen) gilt dieser Ideologie als fundamental, Versöhnung um jeden Preis wird deshalb als erstes Gebot unserer Konkordanzdemokratie postuliert.« Diesen helvetischen Bezug macht Ludwig Hohl in Die Notizen (IX,10) selbst explizit: »Die Schweiz leidet an vorzeitigen Versöhnungen, was, genau gesehen, nichts anderes ist als Oberflächlichkeit.« 26 So betont auch Friedemann Spicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis. Tübingen 2004, Hohls »Wille zu Totalität und System« (S. 561).

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geschraubten Diktion artikuliert, sondern sich allein schon im Titel zeigt, der Die Notizen mit definitem Artikel lautet, also auf Definitives und Endgültiges hinzudeuten scheint. Hohl versteht seine Notizen deshalb auch als »Werk« und betont mehrfach dessen »Einheitlichkeit«, insbesondere legt er Wert darauf, dass es sich nicht um »eine Sammlung von Aphorismen«27 handelt. Bei Kurt Marti hingegen ist von einem solchen Absolutheitsanspruch wenig zu spüren, wie ich am Beispiel des Bandes Zärtlichkeit und Schmerz zeigen möchte, das schlicht »Notizen« enthält, denen zudem eine Nähe zum Fragment und zum Aphorismus attestiert wird.

Ein Netzwerk von Notizen Das Buch Zärtlichkeit und Schmerz ist eine Sammlung von Notizen, die über die Jahre hinweg entstanden sind und streckenweise bereits in der Kolumne Notizen und Details der Zeitschrift reformatio erschienen sind. Unter der Überschrift Aus meinem theologischen Notizbuch veröffentlichte Kurt Marti von 1974 bis 1978 sporadisch verschiedene Notate, die später in Zärtlichkeit und Schmerz eingegangen sind. In seinem Archiv befinden sich etliche (insgesamt 43) solcher Alben, in denen der Autor sorgfältig alle seine Zeitungsartikel eingeklebt und verzeichnet hat. Diese Alben bilden somit nicht nur das Herzstück seines ansonsten schmalen Archivs; sie stellen in gewisser Hinsicht auch sein Gesamtwerk dar, das jedes Fitzelchen seiner literarischen und journalistischen Produktion umfasst, zieht man in Betracht, dass viele Gedichte und Essays des Autors, die später in Buchform erschienen sind, zuerst in Zeitungen veröffentlicht wurden. So auch eine Vielzahl seiner Notizen, wie diese hier, die schließlich in den Band Zärtlichkeit und Schmerz eingehen. Man sieht, es sind Notizen von unterschiedlicher Länge, manche füllen eine ganze Spalte aus, andere tendieren wiederum zu aphoristischer Kürze. Während die Notizen in der Kolumne noch ungeordnet nacheinander folgen, werden sie für die Buchfassung durch weitere Notizen ergänzt und neu – in insgesamt fünf Abteilungen – gruppiert, die folgende Überschriften tragen:

27 Ludwig Hohl: Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung. Frankfurt a. M. 1984, unpag. [S. 6].

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Wo gesprochen wird (beinhaltet weitgehend sprachkritische Notizen) II Schon wieder heute? (beinhaltet weitgehend zeit- bzw. alltagskritische Notizen) III Das männliche Spiel (beinhaltet weitgehend gesellschafts- bzw. kapitalismuskritische Notizen) IV Hader mit Leibniz (beinhaltet weitgehend thanatologische Notizen) V Unter der Hintertreppe der Engel (beinhaltet weitgehend theologische Notizen)28 Die fünf Abteilungen sind jedoch thematisch nicht so strikt voneinander abgegrenzt, wie das auf Anhieb den Anschein machen könnte. Jede Abteilung setzt zwar einen Akzent, der mitunter aber andernorts wieder aufgegriffen wird, sodass die fünf Fragekomplexe insgesamt den Notizenband quer zu seiner Einteilung durchziehen. Die Notizen bilden untereinander, so könnte man sagen, ein Netzwerk (oder moderner sogar: einen Hypertext), das/der keineswegs eine lineare Lesart voraussetzt, sondern verschiedene Lektürepfade und selektive Zugangsweisen erlaubt. Die einzelnen Notizen können isoliert gelesen werden; sie bilden aber auch manche Zweigstellen und Querverweise aus, die ein Hinund Herlesen motivieren. Es lassen sich, anders gesagt, verschiedene Spuren durch die Notizen verfolgen. Einer solchen Spur will ich nun nachgehen, indem ich versuche, eine poeto-theologische Lesart zu entwickeln. Das heißt, es geht mir darum zu zeigen, inwiefern das theologische Verständnis, das in den Notizen zum Ausdruck gelangt, auch mitbestimmend für das Darstellungsverfahren der Notizen ist. Dazu halte ich mich an zwei Wendungen, die am meisten wiederholt werden und in verschiedenen Konstellationen auftreten: zum einen die Wendung »unter der Hintertreppe der Engel«, zum anderen die Wendung »zart und genau«. Die erste bezeichnet dabei den Ort, die zweite die Art des notierenden Ichs, wobei sich beide gegenseitig bedingen.

28 Siehe das Inhaltsverzeichnis in Marti, Zärtlichkeit und Schmerz, S. 136. Zitiert wird hier nach der Erstausgabe von 1979 bei Luchterhand, da diese Notizen nur in gekürzter und überarbeiteter Form in den Band der Werkauswahl bei Nagel & Kimche aufgenommen wurden, der aber unter dem, wie nachfolgend gezeigt wird, insgesamt signifikanten Titel Unter der Hintertreppe der Engel erschienen ist.

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Wie die kurze inhaltliche Übersicht bereits verdeutlicht haben mag, berührt Marti mit seinen Notizen ganz zentrale Lebensthemen,29 also mithin dasjenige, wovon man – wie Wittgenstein am Ende seines Tractatus logico-philosophicus postuliert – nicht sprechen kann, sondern worüber man schweigen muss, weil es sich nicht mehr logisch fassen lässt.30 Dazu gehört nicht zuletzt die religiöse Erfahrung, die Wittgenstein in das Gebiet des »Unaussprechlichen«, ins »Mystische«31 verlegt. Züge dieser sprachskeptischen Auffassung finden sich auch in Kurt Martis Notizen. Vielleicht ist der »Wunsch« am Schluss von Zärtlichkeit und Schmerz, »[d]aß Gott ein Tätigkeitswort werde«,32 als Antwort auf das berühmte Schlusspostulat von Wittgenstein zu verstehen. Über Gott lässt sich nicht sprechen, er kann nur performativ erlebt oder vielmehr gelebt werden. Jedenfalls betont Marti in Zärtlichkeit und Schmerz mehrfach, wie schwer es ihm fällt, das Wort Gott »im Gespräch zu verwenden«, das er zudem als »Verwirrwort« bezeichnet, weil es »für alles und nichts stehen kann […] und […] fähig ist, widersprüchlichste Vorstellungen, Erwartungen aufzunehmen, auszuhalten« (106). Diese Fähigkeit, Widersprüche aufzunehmen und auszuhalten, ist nun nicht nur dem Wort ›Gott‹ eigen, sondern entspricht auch der Grundstruktur der Notizen, die insgesamt von der Denkfigur des Oxymorons getragen sind, einer Denkfigur, die bereits im Titel Zärtlichkeit und Schmerz verankert ist, der zwei Gegensätze zusammenführt, die für Kurt Marti jedoch beide als synästhetischer Ausdruck für die »Liebe Gottes«33 aufeinander bezogen sind.34

29 Godehard Schramm: Eine grüne Libelle. Notizen aus dem Frühlings-Bücherwald. In: Nürnberger Zeitung (26. 5. 1979), nennt das »Lebenssinnbedürfnis«, das Martis Notizen ansprechen. 30 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a. M. 1969, S. 115 (§ 7). Vgl. dort auch § 6.52: »Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.« (S. 114) 31 Ebd., S. 115 (§ 6.522). 32 Marti, Zärtlichkeit und Schmerz, S. 135. Nachfolgende Zitate werden mit direkter Seitenangabe im Text nachgewiesen. 33 Maassen, Die Stadt am Ende der Zeit, S. 143. 34 Vgl. »Gott ist, was er ist: Liebe, Zärtlichkeit, Schmerz« (67).

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Fragmentarisches Schreiben In einem Brief vom 12. Januar 1980 schreibt Kurt Marti: »Wahrscheinlich schreibe ich überhaupt nur, weil ich voller Widersprüche bin. Schreibend suche ich einen Weg durch den Wald meiner Widersprüche. Darum sind gerade die ›Notizen‹ in ihrer Chaotik ein sehr subjektives Buch.«35 Diese Aussage könnte nun vorschnell zur Ansicht verleiten, dass die Wahl zur disparaten Aufzeichnung der Notizen aus einem subjektiven Unvermögen resultiert. Betrachtet man aber das Motto, das Kurt Marti seinen Notizen voranstellt, dann zeigt sich darin vielmehr ein programmatischer Entscheid, der durch eine zeitbedingte Notwendigkeit begründet wird. Es handelt sich um eine Aussage, die dem AvantgardeKünstler Marcel Duchamp zugeschrieben wird: »Dies ist nicht eine Zeit, um irgend etwas zu vollenden. Dies ist eine Zeit für Fragmente.« Die oft zitierte Passage stammt aus dem Tagebuch der Anaïs Nin vom September 1934, die dort einen Besuch bei Marcel Duchamp schildert: Er [sc. Marcel Duchamp] zeigte mir eine Mappe, eigentlich eine Kassette, die das fertige Buch ersetzen soll. »Dies ist keine Zeit, um etwas fertig zu machen«, sagte er. »Es ist eine Zeit für Fragmente.« Die Kassette enthält ein unfertiges Buch. Bruchstücke von Zeichnungen auf irgendeinem alten Papier, Notizen aus einem Notizbuch, Abfälle, halbfertige Kommentare […], Elemente eines Buches, das er nie schreiben wird. Ein Symbol der Zeit […].36 Hier gelangt ein emphatisch modernes Verständnis des Fragmentarischen zum Ausdruck, welches das gewollt Unvollendete, Bruchstückhafte zum Fragment erklärt.37 Im antiken Verständnis meinte ein

35 Schweizerisches Literaturarchiv (SLA), Bern. Archiv Kurt Marti, Konvolut D-05-j. 36 Die Tagebücher der Anaïs Nin. 1931-1934. Hg. v. Gunther Stuhlmann, übers. v. Herbert Zand. München 1979, Bd. 1, S. 358. Im englischen Original lautet der Satz: »›This is not a time in which to complete anything‹, he said. ›It is a time for fragments.‹« Und weiter heißt es: »This box contained an unfinished book. Scraps of drawings on any old paper, notes torn from a notebook, odds and ends.« Gunther Stuhlmann (Hg.): The Dairy of Anaïs Nin. 1931-1934, Harcourt 1980, S. 357. 37 Nach Rüdiger Bubner: Gedanken über das Fragment. Anaximander, Schlegel und die Moderne. In: Merkur 47 (1993), S. 290-299, besteht der »gemeinsame Nenner der modernen Produktionen und gerade auch der Avantgardebewegungen« gerade »im Verzicht auf die herkömmliche Werkform« (S. 295).

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Fragment hingegen noch die Überreste und Relikte eines ehemaligen Ganzen, das nicht vollständig erhalten geblieben ist. Erst im Zuge der Romantik verschiebt sich der Begriff allmählich zur Chiffre eines nicht (mehr) oder noch nicht realisierten Ganzen.38 Der Romantiker Friedrich Schlegel konstatiert diesen Bedeutungsumschlag eigens in einem seiner berühmt gewordenen Athenäums-Fragmente: »Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung.«39 Gleichwohl bleibt der romantische Fragmentbegriff an eine Ganzheitsvorstellung gebunden, allerdings eine prospektive, insofern er teleologisch auf eine Totalität ausgerichtet ist, die aber nur pars pro toto im unvollendeten Einzelstück aufscheint. Das Fragment wird gewissermaßen »als Relikt eines Zustandes gedacht«, »auf dessen Verwirklichung es selbst noch angelegt ist«.40 Das Unvollendete verweist in dieser Hinsicht auf ein künftiges Stadium der Vollendung, es ist, anders ausgedrückt, ein Vor- oder Anzeichen dieses noch ausstehenden Stadiums. Kurt Marti weiß um diese Bedeutungsnuancen, wenn er in vager Unentschiedenheit schreibt: »›Fragmente‹ nannten die Romantiker ihre Aphorismen: Bruchstücke eines verlorenen oder noch ausstehenden Ganzen.«41 Hier stehen die retro- wie die prospektive Definition beide gleichwertig nebeneinander. Wie ist es deshalb zu verstehen, wenn Marti seine eigenen Notizen nicht nur als fragmentarisch ausweist, sondern ihnen zudem eine Tendenz zum Aphoristischen attestiert: »Eine Notiz, sprachlich gefeilt, gedanklich zugeschliffen, wird zum Aphorismus.«42 Die Frage stellt sich also nach der Tragweite von Duchamps Motto in Bezug auf Martis Notizen: Gelangt darin allein die Resignation über

38 Eberhard Ostermann: Das Fragment. Geschichte einer Idee. München 1991, S. 13. 39 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: Kritische und theoretische Schriften. Hg. v. Andreas Huyssen. Stuttgart 1978, S. 76-142, S. 79. 40 Eberhard Ostermann: Der Begriff des Fragments als Leitmetapher der ästhetischen Moderne. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 189-205, S. 194. 41 Leibundgut u. a. (Hg.), Kurt Marti: Notizen und Details, S. 805 [6 /1986]. Dass »Fragment und Aphorismus […] seit den Tagen der Romantik in einem bemerkenswerten Nebeneinander stehen« betont auch Friedemann Spicker: Journal, Aufzeichnung, Fragment. Der Aphorismus in der Gegenwartsliteratur. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Zeitenwende. Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Hg. v. Peter Wiesinger, Bd. 7: Gegenwartsliteratur. Hg. v. Helmut Kiesel / Corina Caduff. Bern 2002 (Jahrbuch für Internationale Germanistik 59), S. 87-93, S. 92. 42 Leibundgut u. a. (Hg.), Kurt Marti: Notizen und Details, S. 805 [6 /1986].

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eine Zeit zum Ausdruck, die nur noch fragmentarische Erkenntnisse zulässt, oder steckt darin nicht zugleich auch die (romantische) Hoffnung auf eine kommende Zeit, in der sich die Vollendung erst einstellen wird?43 Sind den Notizen, also anders gefragt, eine Art Ganzheitsideal unter negativen Vorzeichen oder vielmehr sogar eschatologische Züge eingeschrieben?44 Im Sinne der Bibelstelle in Johannes 6,12: »Sammelt die übrigen Brocken, daß nichts umkommt«, die allegorisch dahingehend ausgelegt wird, dass die christliche Lehre aus den verstreuten Brosamen Jesu buchstäblich zusammengelesen werden muss. Immerhin ist auch bei den Romantikern, gerade bei Schlegel, die »moraltheologisch inspirierte Einsicht« erkennbar, »die überlieferten wie die selbstverfertigten Texte seien Stückwerk, das es für den Tag der Erlösung zu sammeln gelte«.45

Theologische Obdachlosigkeit Eine mögliche Antwort auf diese Frage ergibt sich vielleicht, wenn wir uns vergegenwärtigen, wo sich das notierende Ich situiert. Unter dem Stichwort Andere Wörter heißt es: So gut wie nie drang unter der Hintertreppe der Engel das Wort »Gott« an meine Ohren. Andere, teils alltägliche, zum Teil noch nie vernommene Wörter, Sätze schienen auf ständig wechselnde, jedoch immer vollkommene Weise das ausdrücken und mitteilen zu können,

43 Diese doppelte Lesart bemerkt sehr luzide schon I. B.: Unter der Hintertreppe. Texte von Kurt Marti. In: Neue Zürcher Zeitung (14. 5. 1979), S. a19: »Als Fragmente stellt Kurt Marti seine ›Notizen‹ vor und deutet damit die doppelte Möglichkeit an, dass keine Zeit mehr bleibt, etwas zu vollenden, oder dass etwas Neues, das sich erst abzuzeichnen beginnt, noch Zeit braucht, Gestalt zu gewinnen.« 44 Vgl. Klaus Bümlein: Das Ganze im Fragment – Gedanken zu einer theologischen Sprachform. In: Theodor Schaller (Hg.): Bewahren und erneuern. Speyer 1980, S. 99-115, S. 112: »Indem Martis Notizen die unverbundene Skizzenform äußerer Fragmente wagen, verweisen sie auf die Eigenart dieser Hoffnung«, dass »in einer offenen Sentenz die unverfügbare Ganzheit einleuchten kann«. 45 Justus Fletscher: Anbrüche. Vorgeschichte und Programm der Fragmentpoetik. In: Die Endlichkeit der Literatur. Hg. v. Eckart Goebel / Martin von Koppenfels. Berlin 2002, S. 62-84, S. 62.

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was unsereiner plump mit dem abgegriffenen Wort »Gott« bezeichnet. (108) Mit der Situierung »unter der Hintertreppe der Engel«46 ist zugleich der allegorische Schreibort des notierenden Ich benannt. Es sitzt dort und lauscht einer vollkommenen Sprache, die ihm selber aber unzugänglich bleibt oder zumindest nicht in die Alltagssprache übersetzbar ist. Denn sein Platz ist zugleich ein prekärer Ort, der eine doppelte Randständigkeit markiert: sowohl »hinten« wie »unten«, und misst damit die Distanz aus, die ihn vom vollkommenen Verstehensraum (der göttlichen Offenbarung) trennt.47 Zugleich verweist sein Platz unterhalb der Hintertreppe auf eine weitere Dislokation, auf eine zeitbedingte Ortlosigkeit des theologischen Denkens. Darauf deutet jedenfalls eine Notiz hin, die ebenfalls mit Unter der Hintertreppe überschrieben ist und die mit der Feststellung beginnt: »Theologisches Denken hat keinen sozialen Ort mehr, auch nicht in der Kirche«, und mit dem Befund endet: »Ohne sozialen Ort steht theologisches Denken jetzt eben im Abseits.« (125) Diese lapidare, fast schon mit einem Achselzucken geäußerte Bemerkung wird von einer Notiz mit der Überschrift Im Abseits ein paar Seiten weiter aufgenommen, die mit der Frage endet: »Abseits auch der Aufenthalt unter der Hintertreppe der Engel? Im Fußball allerdings ist Abseits eine zu avancierte Position.« (127) Hier öffnet sich eine Ambivalenz, die typisch für Martis Sprachsensibilität ist. Wer sich im Abseits befindet, muss nicht zwingend zurückliegen oder an den Rand gedrängt sein, er kann auch weit, zu weit voraus sein. Wie verhält es sich da mit dem Aufenthalt unterhalb der Hintertreppe der Engel? Ist dieser Ort schon so weit in eine göttliche Nähe gerückt, dass er gesellschaftlich ins

46 So lautet gleichfalls die Überschrift der fünften Abteilung von Zärtlichkeit und Schmerz, die später auch als Titel für den Band mit Wortstücken und Notizen im Rahmen der fünfbändigen Werkausgabe verwendet wurde. Dem Titel kommt aufgrund dieser prominenten Platzierung ein nicht geringer Signalwert zu. 47 Diesen Zusammenhang zwischen Engelamt für die Offenbarung erwähnt Karl Barth in seiner – von Kurt Marti (aufgrund seiner zahlreichen Anstreichungen in seinem Leseexemplar zu urteilen) intensiv rezipierten – Angelologie. Vgl. Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik (III, 3, §51). Zürich 1992 (Studienausgabe, Bd. 18), S. 527: Die Engel stehen deshalb »im Dienste der irdischen Kreatur: nicht um ihr irgend eine Hilfe zu leisten in Dingen, in denen diese sich selbst oder durch den Dienst von ihresgleichen helfen könnte, wohl aber als des Heilandes Gottes himmlische Zeugen und Botschafter, nämlich als die besonderen Verkündiger seines Geheimnisses als der notwendigen Form und Gestalt seiner Offenbarung und seines Werkes«.

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Abseits gerät? Eine weitere Notiz mit der Überschrift Im Abfall scheint diese Auffassung zu verneinen: »Nur ein Narr wird den Ort unter der Hintertreppe für eine der Vorstädte Gottes halten. Noch kauern wir hier im Staub, im Abfall unserer Schuld.« (129) Es handelt sich also keineswegs um eine Vorstadt, sondern allenfalls – wie der Namen schon besagt – um das Souterrain von einem Hintereingang. Vielleicht wird dieser Ort damit als Gegenmetapher zur biblischen Jakobsleiter (oder auch Himmelsleiter) in Genesis 28,11 lesbar, die dort den direkten Zugang zu Gottes Himmelreich symbolisiert.48 In der Übersetzung nach Luther heißt es: »Vnd jm [sc. Jakob] trewmet / Vnd sihe / eine Leiter stund auff erden / die rüret mit der spitzen an den Himel / Vnd sihe / die Engel Gottes stiegen dran auff und nider.«49 Das hebräische Wort ›sullam‹ muss nicht zwingend mit Leiter übersetzt werden. Sullām meint ursprünglich eine Treppe oder Rampe, erst die antiken Übersetzungen (LXX: klîmax; Vulgata: scala) lassen an eine Leiter mit Sprossen denken.50 So heißt es in der ökumenischen Einheitsübersetzung: »Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder.«51 Diese Treppe oder Leiter steht als Ideal für eine direkte Verbindung zu Gott als umittelbare angelische Kommunikation, die im Aufenthalt unter der Hintertreppe der Engel indes verwehrt bleiben muss und deshalb die Kommunikationsform fragmentarischer Notizen provoziert. Man könnte in Anlehnung an Georg Lukács (statt von einer transzenden-

48 Damit argumentiere ich anders als I. B.: Unter der Hintertreppe. Text von Kurt Marti. In: Neue Zürcher Zeitung (14. 5. 1979), S. a19, der in seiner Rezension als Einziger zwar auf das Sinnbild der Hintertreppe eingeht, diese aber als Sinnbild »eines direkten Zugangs zur himmlischen Welt« versteht, was sich m. E. durch die Notizen Martis nicht belegen lässt. Diese formulieren gerade aus einer Situation hinaus, in der ein direkter Zugang nicht mehr gesichert ist. 49 Hans Volz (Hg.): Martin Luther: Biblia. Das ist die gantze Heilige Schrift. München 1974, Bd. 1, S. 75. 50 Jörg Lanckau: Himmelsleiter. In: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 21230/q [14. 7. 2014]. Vgl. auch den Eintrag zur Himmelsleiter im Lexikon Christliche Ikonographie, begründet v. Engelbert Kirschbaum. Sonderausg. Rom u. a. 2004, Bd. 2, S. 283: »In der spätma. erbaulichen Druckgrafik ist die H. [Himmelsleiter] auch umgedeutet worden in das Bild der Ht. [Himmelstreppe] mit 9 Stufen.« 51 Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Psalmen und Neues Testament. Ökumenischer Text. Hg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz u. a. Stuttgart 1980, S. 41.

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talen) von einer ›theologischen Obdachlosigkeit‹ sprechen.52 Lukács bescheinigt dem modernen Roman eine »Gesinnung zur Totalität«, die dieser aber als »Epopöe einer gottverlassenen Welt« nicht mehr oder nur in fragmentarischer »Zerrissenheit«53 einzulösen vermag. In Analogie dazu scheint sich in Martis Notizen eine ›Gesinnung zu Gott‹ zu artikulieren, die aber gleichfalls nur bruchstückhaft, in vereinzelten Fragmenten zur Sprache gelangen respektive so überhaupt noch ihren adäquaten Ausdruck finden kann. »Das Fragmentarische«, schreibt Klaus Bümlein im Hinblick auf Zärtlichkeit und Schmerz, »bleibt ein Merkmal aller theologischen Erkenntnisbemühung: nicht aus einer epochalen Ratlosigkeit heraus […], sondern aus dem Wissen um die uneinholbare Eigenart des versprochenen Ganzen«.54

Denken in Gegensätzen In seiner Studie über die Aphoristik arbeitet Gerhard Neumann gerade diese Mangelerfahrung als spezifische Grundkonstellation des aphoristischen Denkens heraus. Die Einbuße eines idealen Verstehensraums sei ein verbreiteter Topos in Aphorismen-Sammlungen, die ihrerseits nur noch verstreute, splitterhafte Erkenntnis ermöglichen.55 Mehr noch reflektiere der Aphorismus beständig diese Kluft, die ihn von einer idealen Sprache trennt, in der die »ursprüngliche[n] Einheit von Fühlen und Denken, Bild und Begriff«56 gegeben wäre, wie sie etwa der adamitischen Ursprache zugeschrieben oder eben auch der Sprache der Engel attestiert wird.57 Es ist das Ideal einer Sprache der Unmittelbarkeit,

52 Vgl. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1914]. München 1994, S. 32. 53 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 47 u. 11. 54 Bümlein, Das Ganze im Fragment, S. 112. 55 Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976, S. 804 f. 56 Ebd., S. 807 57 Antje Ehmann: Die Sprache der Engel. Zu angelologischen Quellen und Motiven moderner Lyrik. In: Erfahrung und System. Mystik und Esoterik in der Literatur der Moderne. Hg. v. Bettina Gruber. Opladen 1997, S. 136-156, hier 136: »In nachbarschaftlicher Verwandtschaft mit den uralten Spekulationen über eine ›Adamitische Sprache‹, ›Natursprache‹ bzw. ›Ursprache‹ steht die Konzeption einer Sprache der Engel.«

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»einer vollständigen, fehlerfreien und intuitiven Kommunikation«,58 welche den Hiatus zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen Gefühl und Geist, zwischen Leib und Seele überwindet. In einem Aufsatz über Lavaters Himmelssprache (1952) behandelt Kurt Marti die Vorstellung einer solchen Sprache, wie sie der Zürcher Physiognom in seinen Briefen an Johann Georg Zimmermann entwickelt, eine Sprache, die »ganz natürlicher, unmittelbarer, wesentlicher Ausdruck der Empfindungen und inneren Gemüthszustände«59 sei. Marti sieht in dieser Vorstellung eine »allgemein-menschliche […] Sehnsucht« und bemerkt zudem, dass diese Sehnsucht auch in den »künstlerischen Ausdrucksbemühungen«60 akut wird. Dabei fügt er jedoch relativierend die eschatologische Perspektive an, dass dieser Zustand »erst in der Unendlichkeit, aber für den Christen in einer erreichbaren Unendlichkeit, im Himmel, Ereignis werden wird«.61 Nach Gerhard Neumann ist es nun gerade die fragmentarisch-aphoristische Denkform, die vom Konflikt um diese vergebliche Sehnsucht nach einer vorerst uneinholbaren Vollkommenheit getragen wird, indem sie diesen Konflikt in einem Widerspiel von rationalen und sensualen Komponenten ausagiert. Der Aphorismus stehe unter einem »Spannungsgesetz«, das zwischen Geist und Gefühl, Begriff und Bild, abstrahierter Darstellung und sinnlichem Detail oszilliere, und gerade aus diesem Spannungsverhältnis seinen Erkenntnisleistung ziehe.62 Entsprechend sieht Marti in der »Aphoristik« die »Möglichkeit, in Antithesen zu denken, ohne sich sogleich zu Synthesen verführen zu lassen. Mit Synthesen beginnt der Schwindel und, schlimmer, der Terror der Systeme. Der Aphorismus ist eine antihegelianische Form.« (20) Marti misstraut der Synthese als Resultat eines rein systematischen Denkens,

58 Ehmann, Die Sprache der Engel, S. 136-156, S. 142. Ebenso Yves Cattin / Philippe Faure: Die Engel und ihr Bild im Mittelalter. Regensburg 2000, S. 122: »Während das Scheitern der menschlichen Sprache inhärent ist, weil sie ja immer relativ unfähig ist, zu sagen, was sie sagen will, fällt in der Sprache der Engel das Sagen unmittelbar und immer mit dem Sagen-Wollen zusammen.« 59 Zit. n. Kurt Marti: Lavaters Himmelssprache. In: Kurt Marti: Grenzverkehr. Ein Christ im Umgang mit Kultur, Literatur und Kunst. Neukirchen 1976, S. 108-115, S. 108. 60 Ebd., S. 115. 61 Ebd. 62 Gerhard Neumann: Ideenparadiese 1976, S. 745. Zur »Paradoxie als dem wichtigsten Formelement des Aphorismus« siehe auch Friedemann Spicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis. Tübingen 2004, S. 565.

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das Dualitäten und Gegensätze nicht etwa aushält, sondern im Keim erstickt. Mehr noch versteht Marti die Synthese deshalb als »Schwindel«, als falsche, weil gewaltsam erzwungene Einheit, die überdies suggeriert, dass die Widersprüche des Daseins und des Denkens überwunden werden können. Diese Ablehnung von Systematik begründet im Gegenzug die Wahl der aphoristischen Notiz.63 Für sie ist nicht die Denkfigur der Synthese, der Aufhebung von Gegensätzen, charakteristisch, sondern die des Oxymorons: der Verbindung von Gegensätzlichem. Und für ein solches Denken, das aus der Erfahrung resultiert, dass mangels einer vollkommenen Sprache keine Ganzheit erzwungen werden kann, steht auch der allegorische Ort unter der Hintertreppe der Engel: »Unter der Hintertreppe der Engel lernte ich: Gewalt bleibt plump und summarisch, Liebe wird zart und genau.« (128) Das Adjektivpaar »zart und genau« benennt präzise die dialektische Spannung zwischen sinnlicher und intelligibler Denkweise, zwischen Gefühl und Verstand, das in der aphoristischen Notiz eben nicht plump und gewaltsam aufgehoben, sondern in seiner Dualität zusammen gedacht werden soll.64 Der Aphorismus ist einerseits Ausdruck eines bildhaften, vortheoretischen Denkens, zugleich vermag er eine Erfahrung, eine Erkenntnis kurz und prägnant vorzubringen. Er ist also insofern genau, weil er einen Gedanken pointiert auf die Spitze treibt, insofern aber zart, weil seine Formulierung trotzdem semantisch offenbleibt, den Gedanken also nicht definitorisch festschreibt, und entspricht daher Martis Forderung »genau am Ungenauen zu bleiben« (14). Das lässt sich beispielsweise anhand der Notiz zum Titelbegriff der Zärtlichkeit demonstrieren: »Zärtlichkeit ist gleichermaßen Sinnlichkeit, die intelligent, wie Intelligenz, die sinnlich macht.« Die Formulierung besticht zwar durch ihre prägnante chiastische Figur, die übers Kreuz Intelligenz

63 Gegen den möglichen und vermutlich berechtigten Einwand, aus Martis Notizen ließe sich sehr wohl eine Art Systematik erkennen bzw. rekonstruieren, insofern sich nämlich viele Notizen in ihrem Aussagegehalt dogmatisch verorten lassen, sei hier präzisierend angefügt, dass im vorliegenden Text die Begriffe ›System‹ bzw. ›systematisch/unsystematisch‹ ausschließlich in Bezug auf die aphoristische Darbietungsform und Denkstruktur, nicht aber in Bezug auf die Denkinhalte selbst verwendet werden. So wäre es denn auch keine Unmöglichkeit und entspräche sogar Martis Vorliebe für Oxymora, die Dogmen der systematischen Theologie eben unsystematisch in Form von Notizen und Gedankensplittern zu entfalten. 64 Vgl. dazu auch (ebd., S. 15): »Immerzu tut man dergleichen, als lese ein Mensch direkt mit seinem Geist. Irrtum: Wir lesen mit den Augen, mit Sinnesorganen. Lesen ist zunächst ein sinnlicher Akt.«

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und Sinnlichkeit einander zuordnet, dadurch aber eine semantische Ambivalenz erzeugt, die nicht aufzulösen ist und auch nicht aufgelöst werden soll. Es geht gerade darum, dass die beiden konträren Begriffe spannungsreich aufeinander bezogen bleiben.

Zärtlichkeit als Notationsprinzip Auf die Art und Weise, wie sich die Notizen ihrem Gegenstand nähern, erfüllen sie also selbst das Kriterium, gleichermaßen zart und genau, intelligent und sinnlich zu sein. Mit anderen Worten: Martis Notizen lassen sich als angewandte Zärtlichkeit lesen. Umso mehr als Kurt Marti »zart und genau« auch als ästhetische Kategorien begreift: »Zart und genau: das sind ästhetische Kategorien. Nicht weniger sind es theologische.« (116) Es geht deshalb abschließend darum zu zeigen, inwiefern sich in den Notizen die theologische Kategorie auch als ästhetische realisiert, und zwar als spezifisches »Kennzeichen einer Erkenntnishaltung«.65 Wenn Marti hier von Ästhetik spricht, dann ist das im Wortsinn von aisthesis als Wahrnehmung zu verstehen. Denn zur theologischen Kategorie erklärt er die Zärtlichkeit deshalb, weil sie für ihn Ausdruck einer göttlichen Qualität der Aufmerksamkeit ist, und zwar einer vollkommenen Aufmerksamkeit, die deshalb – so müsste man hinzufügen – auch sehr genau ist. Indem Marti aber »Zärtlichkeit als intensivste Form der Aufmerksamkeit« (68) zu verstehen gibt, irritiert er unsere gewöhnliche Vorstellung von Zärtlichkeit und denkt in dieser Formulierung erneut zwei gegensätzliche Aspekte (Aktivität und Passivität) zusammen. Während Aufmerksamkeit in erster Linie eine rezeptive, wahrnehmende Haltung voraussetzt, äußert sich Zärtlichkeit gemeinhin in Sprechakten und Gesten: in einer zärtlichen Berührung oder in zärtlichen Worten. Zärtlichkeit wird, in welcher Form auch immer, geäußert, wo die Aufmerksamkeit zunächst einmal wahrnehmender Natur ist. Doch Marti spricht nicht von einer gewöhnlichen Aufmerksamkeit, sondern von einer »universelle[n], zugleich engagierte[n] Aufmerksamkeit« (67). In Martis Verständnis besitzt die göttliche Aufmerksamkeit also keine einseitig-rezeptive, sondern eine aktiv-empfangende Qualität. Das gilt taliter qualiter auch für das menschliche Beobachten und Wahr65 Vgl. den Eintrag »zart; zärtlich« im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter / Karlfried Gründer. Basel / Stuttgart 1971-2007, Bd. 12, Sp. 1149-1155, Sp. 1153.

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nehmen, das Marti andernorts ebenfalls zur »Quelle der Zärtlichkeit« erklärt: »Zuhören – empfangen anstatt selber senden! – ist durchaus eine Aktivität, aber eine unaufdringliche und eben darum: eine zärtliche!«66 Indem er dergestalt für die Seite des Empfangenden plädiert, macht Kurt Marti zugleich eine weibliche Komponente geltend, zumal im Empfangen hintergründig auch das weibliche Prinzip der Empfängnis mitanklingt, das dem aufdringlichen männlichen Impetus des Aussendens entgegengesetzt ist. In dieser Hinsicht nennt Marti die Zärtlichkeit auch »subversiv«, insofern sie es darauf anlegt, »das männliche Spiel zu beschämen, zu verwirren«, ja sogar dazu zwingt, »es abzubrechen und ein anderes, besseres zu beginnen« (66).67 Zugleich richtet sich die Kritik am Primat des Sendens gegen eine Inspirationstheorie, der zufolge wahre Erkenntnis nur durch eine vertikal ausgerichtete Eingabe von oben entstehen kann. In einer Notiz zur Verbalinspiration heißt es entsprechend: »Die Vorstellung, Gott habe die Bibel wortwörtlich inspiriert, verrät ein subalternes Denken, das sich Außergewöhnliches nur als hierarchisches Diktat zu erklären vermag.« (126) Das hier eindeutig negativ konnotierte Diktat gehorcht dem männlichen Spiel, das auf Hierarchien baut, Systeme errichtet, Befehle und Vorschriften erteilt. In seiner vertikalen Ausrichtung von oben nach unten ist es mit dem ebenfalls als Negativfolie verwendeten Bild der Himmelsleiter vergleichbar, von dem sich Marti, wie gezeigt, indirekt durch das Gegenkonzept der Hintertreppe distanziert. Auf der Himmelsleiter verkehren die Engel gleichsam als Boten, die das göttliche Diktat weitertragen – eine Vorstellung, der schon Karl Barth mit Skepsis begegnet ist.68 Was für Barth an

66 Kurt Marti: O Gott! Essays und Meditationen. Stuttgart 1986, S. 30. Eine ähnliche oxymorale Denkfigur, nur theologisch weitaus zugespitzter, entwickelt Marti auch in seinem Essay Passion als Aktion. In: Der Gottesplanet. Predigten und Aufsätze. Darmstadt 1988, S. 135-139, siehe etwa hier S. 138: »Sollte es also doch stimmen: daß es keine stärkere Aktion gibt als Ohnmacht und Passion? Daß Gott durch nichts die Welt so radikal zu verändern vermag als durch die Ohnmacht und das gewaltlose Opfer des Glaubens?« 67 Für Marti ist deshalb Gott als weibliche Entität bzw. als weibliches Prinzip oder zumindest mit weiblichen Attributen versehen nicht unvorstellbar: »Vermutlich ist in der Herrschaft Gottes, wie Jesus sie verkündet hat, mehr Frauschaft, als wir bisher denken wollten.« (133) Vgl. dazu Rinke, Der Weg kommt, indem wir gehen, S. 37: »An mehreren Stellen seines Werkes setzt Kurt Marti dem Herren-, Vater- und Herrschaftsbegriff die weiblichen Entsprechungen entgegen.« 68 Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik, Studienausgabe, Bd. 18, S. 579. Martis Leseexemplar weist auch an dieser Stelle Anstreichungen auf. Der Autor markiert sich randseitig u. a. die Passage, beginnend mit dem Satz: »Auch

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den Engeln stattdessen »allein interessant ist«, sei das, »was Augustin als das officium angelicum bezeichnet hat, ihr Werk und Amt nämlich«.69 Barth bezieht sich damit auf die Vorstellung von der göttlichen Buchführung, die einen anderen angelischen Typus imaginiert als die Boten und Mittler, nämlich die »Buchhalterengel«, die alles, was geschieht, getreu protokollieren »bis zur Aufzeichnung des alltäglichen Gesprächs«.70 Mit diesem Bildbereich wird zugleich ein alternatives Schriftprinzip zum Diktat aufgerufen: dasjenige der Notiz. Die Buchhalterengel diktieren nicht, sondern notieren, sie senden nicht, sondern empfangen, indem sie selbst alltägliche Geschehnisse aufzeichnen und dabei jene minutiöse, ja intensivste Aufmerksamkeit walten lassen, die Kurt Marti für seinen Begriff der Zärtlichkeit statuiert. Die himmlische Buchführung erscheint somit nicht nur als Gegenbild zum göttlichen Diktat, sondern gleichsam als Modell für Martis eigene Poetik der Notiz. Die Notiz richtet sich nach keinem Diktat von oben, sondern besitzt eine horizontale Erfahrungsdimension, die auf die Lebenswelt ausgerichtet ist, die in Form von alltäglichen Beobachtungen und Wahrnehmungen in die Notate einfließen und darin reflektiert werden.71 Und zwar gefiltert durch die Subjektivität des Notierenden, weshalb sie keiner objektiven Norm gehorchen. Dem Diktat als autoritäter Vor-Schrift steht also das Verfahren des Notierens als subjektive Realisation des Nach-Denkens gegenüber. So heißt es in einer Notiz: »Wer schreibt, denkt nach: über sich selbst, über die Welt, über seine Arbeit.« (18)72 Im aktiven und aufmerksamen Mitschreiben des Alltags in Form von Notizen, Tagebüchern oder anderen Aufzeichnungsarten äußert sich eine adäquate Schreibhaltung, die unter angelologischer bzw. theologischer Perspektive nicht zuletzt einer »differenzierten Handhabung der eschatologischen Gerechtigkeit dient«.73 Zu-

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die oft gehörte Redeweise, daß der Dienst der Engel, darin bestehe, zwischen Gott und der irdischen Kreatur zu vermitteln, darf also nur unter größtem Vorbehalt angewendet werden.« Bis zur Konklusion, die Marti mit Lineal unterstreicht: »Sie sind nur eben als die himmlischen Kreaturen, die sie sind, dabei gewesen.« Ebd., S. 443. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1983, S. 26. Zur spezifischen Ausrichtung auf den Alltag von Aufzeichnungsliteratur siehe speziell die Studie von Susanne Niemuth-Engelmann: Alltag und Aufzeichnung. Untersuchungen zu Canetti, Bender, Handke und Schnurre. Würzburg 1998. Vgl. auch Kurt Marti: Notizen und Details, Zürich 2010, S. 806: »Ich denke nach. Wer dachte vor?« Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, S. 28. Dass mit dieser eschatologischen Vorstellung immer auch eine »Theorie der Macht« einhergeht, die in den

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mindest wird das fragmentarische Schreiben indirekt von der Hoffnung oder gar dem Glauben getragen, dass selbst die geringfügigste Beobachtung irgendwann an Bedeutsamkeit gewinnen wird, dass sich aus den disparaten Notaten letztlich ein geschlossenes Gesamtbild ergibt. Auch wenn sich die Poetik der Notiz im irdischen Alltag einer fragmentarischen Erkenntnisform verschrieben hat, ja angesichts der beschränkten Erkenntnismöglichkeit verschreiben muss, arbeitet sie sub specie aeternitatis doch an der Vorstellung eines übergeordneten Sinnzusammenhangs mit. Ausgehend von diesen Bemerkungen können Kurt Martis Notizen deshalb – in Anlehnung an Walter Benjamins Formulierung – als ›zärtliche Quartiere‹ bezeichnet werden: Sie erzwingen nichts und zwängen nicht ein. Sie schreiben auf, aber sie schreiben nichts vor. Sie errichten schon gar kein System, sondern versammeln auf unsystematische Weise fragmentarische Gedanken und alltägliche Beobachtungen, in der stillen Hoffnung auf eine sich daraus einst ergebende Gesamtsicht. Es handelt sich bei den fragmentarischen Notizen also keines Falls um tote Relikte, sondern um das schriftliche Zeugnis einer regen Denk-, Beobachtungsund Reflexionstätigkeit. Damit partizipieren sie an jenem intensiven Grad an Aufmerksamkeit, der für Martis Verständnis der Zärtlichkeit bestimmend ist.74 Darauf deutet allein schon die Etymologie des Wortes »Notiz« hin, das abgeleitet vom lateinischen Verb notare auch so viel wie »wahrnehmen, bemerken, beobachten« bedeutet. Zur Zärtlichkeit im Sinne Martis gehört mithin (auch) die Kunst, Notiz zu nehmen.

Engeln eine »Verkörperung der Weltregierung« erblickt, bemerkt Giorgio Agamben: Die Beamten des Himmels. Über Engel. Frankfurt a. M./Leipzig 2007, S. 69. In extremis könnte die himmlische Buchführung deshalb auch Assoziationen an Praktiken in totalitären Überwachungsstaaten wecken, deren rigiden Kontrollorganen kein Subjekt entgeht. Jüngere Studien haben jedoch gezeigt, dass gerade die heutige Überwachungstechnologie letztlich auch eschatologische Bedürfnisse nach einer transzendenten Leitgröße (wie Gott) stimuliert. Siehe Uwe Justus Wenzel: Nie wieder allein sein! Jeremy Benthams »Panopticon« und Zygmunt Baumans Thesen zur heutigen Überwachungstechnologie. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 279 (30. 11. 2013), S. 63; sowie Jan-Heiner Tück: Über das Auge Gottes in Zeiten der Überwachung. In: Neue Zürcher Zeitung (22. 6. 2014), der besonders den tröstlichen Gedanken der Vorstellung einer universalen göttlichen Aufmerksamkeit »als Schutz und Begleitung« akzentuiert. 74 Zur literarischen Notiz als Zeichen der Aufmerksamkeit siehe auch das Kapitel Exercices d’attention in Ariane Lüthi: Pratique et Poétique de la note chez Georges Perros et Philippe Jaccottet. Paris 2009, S. 70-74.

Ralph Kunz

»die wörter fallen, das wort bleibt aus« Eine Rede zu Kurt Martis Homiletik »Die Sprache überwinden und zugleich aus ihr schaffen, das ist das Paradoxon, an dem die Dichtung geprüft wird.« Elazar Benyoëtz1

VorWort Die Grenze, die man kennt, hat man bereits überschritten – sagt Elazar Benyoëtz. Ich habe vor, die Grenzen zwischen Homiletik und Poetik zu überschreiten und ihnen im Werk des Predigers und Dichters Kurt Marti nachzufahren. Es soll mir gehen, wie anderen Fahrenden in diesem Grenzverkehr: Sie fahren den Vorfahren vor und nach und verfahren sich dann doch. Denn es ist nicht immer so klar, wer die Vorfahrt hat – der Dichter oder der Prediger. Wer bestimmt eigentlich, wo Dichtung anfängt und wo Verkündigung aufhört und umgekehrt? Bei Marti herrscht ein reges Hin und Her. Ist er beides zugleich? Er wurde ja auch – notabene ohne Abstand und Bindestrich – Dichterpfarrer genannt. Das hat hierzulande nur Gotthelf geschafft. Ist es ein Zufall, dass Marti und Bitzius aus dem Bernbiet stammen – dem Land der Dichter und Bänkelsänger? Ich bin ein Halbappenzeller im Exil, der seine Harfe an den Ufern der Limmat spielt und in der Stadt der Wichtigtuer und Banker die Studierenden Predigtkunst zu lehren versucht. Ich frage solidarisch mit den Zürchern und neidisch auf die Berner: Geht uns diesseits der Reuss die Lust zum Fabulieren ab? Sind wir Großmäuler ohne Sinn fürs Knappe? Ich will den Reussgraben nicht weiter vertiefen und widme mich in freundeidgenössisch-tintenblauer Harmonie einer anderen Grenze. Wenn der Prediger vom Dichter etwas lernen kann, ist es die Konzentration auf das Wort. Das heischt nach einer Begründung. Denn am Anfang war das Wort Gottes, aber Predigten schreibt man auf und hält

1 Elazar Benyoëtz: Worthaltung. München 1977, S. 52.

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man in Sätzen, die sich zu einer Rede fügen. Wie kommt der Prediger von der Kleinsteinheit Wort zu seinem Text? Hat der Dichter dazu etwas zu sagen? Man hört die Warnung: Was hülfe es dem Prediger, wenn er mit seiner Sprachkunst die ganze Welt gewönne, aber das Wort Gottes dabei Schaden nähme? Die Grenze zwischen Poesie und Homilie ist ein Gedankenstrich. Auf ihm möchte ich hin und her flanieren, vielleicht auch balancieren. Sie merken: Ich habe keinen akademischen Marsch im Stechschritt geplant, aber gleichwohl einen Parcours vor Augen. Er führt uns zuerst zum Homiletiker und dann zum Prediger Kurt Marti, zu seinem Lehrer Karl Barth, zur Dichtung und wieder zurück zur Predigt. Dabei interessiert auch, wie Marti im Fachdiskurs rezipiert wurde. Geleitet wird dieser Gang entlang der Grenze von der Frage, was die Aufmerksamkeit für die Kleinsteinheit Wort zum Gelingen der Predigt beitragen kann.

Kurt Marti als Homiletiker Von Kurt Martis »Homiletik« zu sprechen, ist irreführend. Er hat allerhand geschrieben, aber kein Buch über Predigtkunst. Immerhin gibt es einen Essay zum Thema im Band Grenzverkehr. Sein Titel ist bezeichnend. Zwei Fragen, die getrennt und unvermischt nebeneinanderstehen: Wie entsteht eine Predigt? Wie entsteht ein Gedicht?2 Die Antwort auf die Fragen ist denn auch klipp und klar: Es geht um zwei verschiedene sprachproduktive Vorgänge. Das ist naheliegend und doch erstaunlich. Man hätte erwarten können, dass der Dichterpfarrer Befürworter einer lyrischen Homiletik – oder irgendetwas in der Art ist. Aber Marti bleibt in Sachen Predigt prosaisch. Wer ihn kennt, unter seiner Kanzel gesessen oder seine Auslegungen – zum Beispiel des Markusevangeliums3 – gelesen hat, ist nicht überrascht. Weshalb? Marti unterscheidet streng zwischen dem Auftrag der Kirche, dem der Prediger zu gehorchen hat: nämlich »Gottes Wort nach dem Zeugnis der Bibel zu verkünden« und dem Lyriker, dem weder Text noch Thema

2 Kurt Marti: Wie entsteht eine Predigt? Wie entsteht ein Gedicht?. In: ders.: Grenzverkehr. Ein Christ im Umgang mit Kultur, Literatur und Kunst. Neukirchen-Vluyn 1976, S. 54-73. 3 Kurt Marti: Das Markus-Evangelium. Ausgelegt für die Gemeinde. Zürich 1985.

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vorgegeben ist. Da der Diener des göttlichen Wortes, der eine Rede hält, hier der Schöpfer der Worte, der sein Publikum sucht und eine begeisterte oder erboste Leserschaft findet. Die Predigerin hört auf das Wort im Medium des biblischen Textes, die Lyrikerin spricht ihr eigenes Wort. Grund und Stoff des dichterischen Wortes ist also nicht die Gottesoffenbarung, sondern ihr subjektives Welterleben – auch und gerade dann, wenn sie von Gott redet. Weiter ist die Predigt im Unterschied zum Gedicht verständliche Rede. Sie zielt auf ein Einverständnis und ist konventionelle Sprache. Sie ist mündlich und darum nie fertig, weil sie auf einen Dialog mit der Hörerschaft aus ist. Anders wieder die Lyrikerin, die sich gegen die herrschende Sprache stemmt, etwas erschafft und in Buchform herausgibt. So setzt [sich] der Dichterpfarrer [mit] Predigt und Lyrik auseinander. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich von Martis Homiletik mit der Homiletik, die Marti rezipiert.4 Während Marti auf die Unterschiede zwischen Predigt und Lyrik hinweist, nehmen andere den Dichterpfarrer beim Wort und machen den theopoetischen Zusammenhang stark. Ich werde darauf später eingehen und widme mich zunächst dem Prediger Marti.

Kurt Marti als Prediger Diesem Thema könnte man sich streng wissenschaftlich mit einer Analyse des vorhandenen Opus annähern. Wie kommt Lyrisches in der Predigt zur Geltung? Was passiert unter der Kanzel eines so sprachgewaltigen Theologen? Ich wähle den anderen Weg und halte Ausschau nach Verkündigung im lyrischen Werk. Erstens würde die Berücksichtigung beider Einflüsse den Rahmen des Beitrags sprengen. Zweitens hat Marti selber – wie gesehen – eine gewisse Distanz zur »Theopoesie« in der Predigt.5 Das gilt es zu respektieren. Zum Prediger Marti zitiere ich Anekdotisches aus dem Topf voll Zeit – der 2008 erschienen Teilbiographie der Jahre 1928 bis 1948.6 Marti

4 Zum Beispiel – siehe unten – Karl-Heinrich Bieritz: Predigt-Kunst? Poesie als Predigt-Hilfe. In: ders.: Zeichen setzen. Stuttgart u. a. 1995, S. 159-173. 5 Zum Begriff und zur Sache vgl. den Band von Henning Schröer / Gotthard Fermor / Harald Schroeter (Hg.): Theopoesie. Theologie und Poesie in hermeneutischer Sicht. Rheinbach 1998. 6 Kurt Marti: Ein Topf voll Zeit 1928-1948. München 2008.

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erzählt in der dritten Person von einer ersten Predigtvertretung als Kandidat der Theologie. Das war ante Bologna der Status des Studenten nach dem Propädeutikum. Er kommentiert: »Anfängerpredigten versteht sich. Zuweilen müssen sie Geduld und Langmut der sonntäglichen Kirchgängerinnen, Kirchgänger ziemlich strapaziert haben.«7 Er schildert seine Zweifel. »War er überhaupt zum Prediger berufen?« Und erzählt einen Zwischenfall. Der Student soll in Meikirch um Viertel nach 9 predigen, doch sein Fahrrad – der Pneu – gibt den Geist auf. Zuerst hinten und dann vorn fährt er auf den Felgen; er kommt zu spät, schweißnass und atemlos und bepredigt die geduldig ausharrende Gemeinde – vier Frauen und einen Mann. Nach dem Gottesdienst flickt der Küster das Rad. Pneumatisch aufgerüstet radelt er zurück nach Bern. Marti: »Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie komisch, zum Lachen komisch alles gewesen war. Das machte seine Predigt freilich nicht besser.«8 Knapp wird das skizziert. Und gerade das ist bezeichnend. Man leidet mit dem schwitzenden Prediger und seinen harrenden Hörern. Und man schmunzelt mit Marti, der selbstironisch berichtet, wie er – nach diesem Schlüsselerlebnis – vom Lehrling wieder zum Lernenden wurde und vor allem unter der Kanzel Albert Schädelins Predigten hörte.9 »Überdies vertiefte er sich jetzt in Karl Barths Lehre vom Wort Gottes (Band I,1 der Kirchlichen Dogmatik), die, neulich erschienen, seinem Bibel- und Predigtverständnis neue Horizonte eröffnete, ihn erleuchtete und in die eben angefangene zweite Studienphase frischen Schwung brachte.«10 In dieser Lehrlingszeit war also zweierlei prägend: die Erfahrung der tiefschürfend bibel- und lebensnahen Predigten Schädelins und der große Lehrer Barth, der ihn, so Marti, mit Skepsis imprägniert habe: mit Skepsis gegenüber den Herrschenden, aber auch gegenüber dem religiösen Betrieb samt Predigt. Der hohle Ton, das langweilige Gewäsch und der Kanzeljargon – daran leidet und dagegen protestiert der Theologe Marti ein Leben lang!

7 Ebd., S. 154. 8 Ebd., S. 155. 9 Albert Schädelin (geb.1879) war von 1911 bis 1952 Pfarrer am Berner Münster und von 1928 bis 1950 ao. Prof. für Praktische Theologie in Bern. In den 1910er-Jahren stand er der religiös-sozialen Bewegung nahe. Ab 1915 wurde der Weggefährte Karl Barths zum führenden Vertreter der dialektischen Theologie in Bern. Schädelin war Dr. theol. h. c. der Universität Zürich (Angaben auf der Grundlage von Peter Aernes Schädelin-Artikel im Historischen Lexikon der Schweiz, online: http://www.hls-dhs-dss.ch/ textes/d / D10818.php [12. 12. 2015]). 10 Marti, Ein Topf voll Zeit, S. 156.

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Im Bestseller leichenreden wird die Predigtkritik lyrisch produktiv. Es ist sicher kein Zufall, dass es diese ungeschönten Reden sind, die den Pfarrer als Dichter bekannt machen. Es ist ein Protest im Namen Gottes, aus dem es einzelne Verse zum Schlager gebracht haben. »Es hat Gott ganz und gar nicht gefallen, dass Gustav E. Lips«11 durch einen Verkehrsunfall starb. Wer Ohren hat zu hören, hört Amos sagen: »Eure Lieder stinken mir.« (Am 5,21-24) Der Wechselschritt zwischen Schreibtisch und Kanzel ermöglicht dem Dichterpfarrer den sprachlichen Widerstand gegen pastorale Konventionen und den Aufstand gegen tröstliche Phrasen. Es ist ehrliche und schonungslose, aber auch liebevoll präzise Rede, die gegen die tote Sprache aufsteht und für die Lebenden und die Toten einsteht – und darum echter Trost und darum aus der Seele gesprochen. liebe gemeinde wir befehlen zu viel wir gehorchen zu viel wir leben zu wenig.12 Zorn und Trauer über unerfülltes Leben machen sich Luft. So wünscht man sich Predigt: betrauern wir diesen Mann nicht weil er gestorben ist betrauern wir diesen mann weil er niemals wagte glücklich zu sein weil er nie auf das urteil anderer pfiff.13 Wer Ohren hat zu hören, hört in der Trauerrede das Evangelium. Glücklich, wer lernt auf das Urteil anderer zu pfeiffen: Er lebt als gerechtfertigter Sünder. Zwischen den Zeilen hören wir den Protest des Dichters gegen den falschen Ton einer leichenstarren Sprache. Und doch – so zart und genau kann nur ein Pfarrer dichten, der einmal atemlos, verschwitzt und auf den Felgen an seiner eigenen Predigt gelitten hat. Peter Bichsel bringt es im Vorwort zur Neuauflage der Leichenreden schön auf den Punkt: Kurt Marti war halt eben ein Pfarrer – ein netter Mensch also, ein bisschen tapfer und ein bisschen harmlos. So wollten seine Interpre-

11 Kurt Marti: Leichenreden. Zürich 22001, S. 27. 12 Ebd., S. 39. 13 Ebd., S. 35.

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ten das immer wieder sehen – ein Pfarrer, der schreibt. Dass dieser Pfarrer ein Theologe hätte sein können, ein Mann, der mit Sprachen umgeht, Latein und Griechisch und Hebräisch und Aramäisch, ein Mann, der an das Wort glaubt, an die Schrift glaubt – mit der Schrift umgeht, mit der Heiligen Schrift zum Beispiel, interessierte nur wenige. Man versuchte immer wieder den sprachgewaltigen Expressionisten ins Biedermeier zurückzudrängen. […] Beim Wieder- und wieder- und wiederlesen von Martis »Leichenreden« – sie haben mich ein Leben, ein halbes Leben lang, begleitet – sind sie mehr und mehr zur Sprache an und für sich geworden, zum unbestechlichen ›Es steht geschrieben‹. ›Welche Wohltat / einmal auch sagen zu dürfen: / nein er war nicht tüchtig …‹, da atmet nicht einfach nur ein lügengeplagter Pfarrer auf, sondern eine lügengeplagte Sprache: Klartext – Tod, das gibt es.14

Karl der Große und kurt der kleine Marti, sagt Bichsel, sei weder Lehrer noch Guru, eher »etwas wie die Mitte« für sie gewesen. Für sie: Das ist ein Kreis trotziger Gegenwartsliteraten in den 70er-Jahren. Über ihn sagt er: Er ist der große Meister dieser Literatur. »Am Anfang war das Wort – er kann nicht anders.« Wer Ohren hat zu hören, hört in Bichsels Vorwort den Prolog und die protestantische Sentenz. Bichsel kann auch ganz anders. Aber hier trifft er den Nagel auf den Kopf. Was er als »reine Form«, als »Sprachgewalt« und »Meisterschaft« lobt, klingt nicht zufällig ›theologisch‹. Der Ruf zur Sache, der Wille zur Klarheit und der Mut, ungeschminkt zu sprechen, das ist das ideale Profil des Predigers. Man hört das Mundwerk Karl Barths, der mitspricht. Ihn, den Marti immer wieder seinen Lehrer nennt,15 ist sicher nicht sein Guru, aber einer, den er für seinen Mut bewunderte und der ihm wohl auch so etwas wie eine theologische Mitte wies, auf die er sich ausrichtet und die ihm half, im Nebel des Zeitgeists nach dem klaren Wort zu suchen. Karl Barth war der Lehrer, aber Marti nicht zeitlebens sein Schüler. Barths Theologie der reinen Form wird bei Marti schöpferisch unrein. Zum Geist kommt Fleisch. Genau das riet der Vikariatsleiter dem jungen

14 Peter Bichsel:Vorwort. In: Marti, Leichenreden, S. 6. 15 Marti, Ein Topf voll Zeit, S. 182-187.

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Vikar nach der ersten Predigt: »Mach weiter so … es fehlt höchstens ein bisschen Fleisch am Knochen, aber das wird dir zuwachsen im Umgang mit der Gemeinde.«16 Ein wahres Wort! Martis Verkündigung – ich verwende bewusst den weiten Terminus – inkarniert. Sie wird konkret, lädt Schuld auf sich und kommt zur Welt: Sie wird politisch, parteiisch und häretisch – und bleibt doch gerade darin, dass sie mitunter zum Alltagswort wird, WortGottes-Theologie. Aus der Beschäftigung mit der größeren Gemeinde erwächst auch ein neuer Widerwille gegen das Religiöse. Glocken dröhnen ihren vollsten Ton und Photographen stehen knipsend krumm. Es braust der Hochzeitsmarsch vom Mendelssohn. Ein Pfarrer kommt. Mit ihm das Christentum. Im Dome knien die Damen schulternackt, noch im Gebet kokett und photogen. Indes, die Herren, konjunkturbefrackt, diskret nach ihren Armbanduhren sehn. Sanft wie im Kino surrt die Liturgie, zum Fest von Kapital und Eleganz. Nur einer flüstert leise: Blasphemie! Der Herr. Allein. Ihn überhört man ganz.17 Predigtkritik wird in diesem Gedicht zur Ritual- und Christentumskritik. Es ist keine große Lyrik. Im Stil mahnt es an eine moralische Schelte à la Kästner. Es ist gereimt, aber mit feinen Pointen am Schluss, die einen Rhythmuswechsel in die Coda bringen, der alles aus dem Takt brächte, wenn man ihn beim Lesen beachten würde. »Der Herr.« – Punkt – »Allein.« – Punkt – »Ihn überhört man ganz.« Punkt. »Allein!«, sagt Marti an anderer Stelle, bedeutet, nimmt man’s wörtlich: »ungespalten, ganz eins, alles in einem. Oder mit Silbenumstellung: ein All. Für einmal aber narrt uns die Sprache. Kein Mensch vermag als ein All sich selbst zu genügen.«18 Der Herr allein spricht Gottes Wort. Aber sein geflüstertes: »Blasphemie!« geht unter im Gottesdienst. Und bleibt doch nicht unerhört. Das Gedicht macht das Flüstern hörbar. Marti verwandelt die kritische Sichtweise der dialektischen Theologie auf den religiösen Betrieb in

16 Ebd., 201. 17 Kurt Marti: In: Kirchenbote für das reformierte Volk des Aargaus 69 /4 (1959), S. 27. 18 Kurt Marti: Im Sternzeichen des Esels. Zürich 1995, S. 192.

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sprachliche Pro-Vokation und leiht dem Herrn seine Stimme – eine viva vox evangelii –, wenigstens geflüstert. Protestantische Kritik wird so produktiv und der Grenzverkehr offensichtlich fruchtbar.19 Mehr noch: es braucht die surrende Liturgie als Hintergrundsmusik, um die theologische Melodie zu Gehör zu bringen. Erst die falsche Produktion des Religiösen provoziert die religio vera und lockt sie hervor. Aber sie weckt weder JHWH, der auf dem Horeb Götzen samt Priester abfackelt, noch den irdischen Jesus, der den Tempel reinigt, sondern einen Herrn, der flüstert. Erst die Leere macht auf das Vermisste aufmerksam. In atemberaubender Redundanzverknappung kommt Kurt Marti in einem anderen Gedicht zum selben Schluss: der ort versammelt die lieder klingen die wörter fallen das wort bleibt aus20 Der Vorbehalt gegen das religiöse Geplapper – der Verdacht des WortDurchfalls21 –, er ist nicht nur Motiv der Kritik an Wörtern, sondern motiviert auch die Frage nach dem Wort. Produktive Kritik ist ein protestantisches Prinzip. Wenn das Wort ausbleibt, fällt uns wieder ein und fällt auf: Da fehlt doch etwas. Wenn Leere zugelassen wird, eröffnet sich ein Raum für ein Wort, das trifft. Wenn die Dunkelheit nicht kaschiert wird, kann sie durch das Wort erhellt werden. Auf diese Leere und Dunkelheit verweist die kritische Theologie. Und kommt das Wort? Die Liste derer, die skeptisch sind, ist lang. Reden wir Klartext. Natürlich steht auch die Kritik in der Gefahr, in Phrasen zu verfallen. Sie kann sich in der Pose gefallen und sich an der eigenen Großartigkeit ergötzen. Eine Predigt, die nur das Versagen der menschlichen Rede bespricht, würde umso mehr zum leeren Versprechen. Wer nur Leere ankündigt

19 Das gilt auch für den eingangs zitierten Elazar Benyoëtz, der im Gespräch mit dem Theologen Chr. Gubritz sagt: »Ich sagte, ein Aphoristiker dürfe kein Prediger sein. Das könnte er auch kaum, seine Skepsis dürfte ihn daran hindern. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass Kohelet der Prediger ist und ich in allem wie er, vor allem – wie er – gegen ›gute Worte‹ und billigen Trost bin.« Zitiert nach: Christoph Gubritz: Der israelische Aphoristiker Elazar Benyoëtz. Tübingen 1994, S. 206. 20 Kurt Marti: gott gerneklein. Stuttgart 1995, S. 64. 21 Vgl. dazu Paul Zulehner: Wie Musik zur Trauer ist eine Rede zur falschen Zeit (Sir 22,6). Wider den kirchlichen Wort-Durchfall. Ostfildern 1998.

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und nicht auch die Erwartung auf das Wort weckt, das lebendig macht, das sich ereignet und das kommt, hält besser den Mund. Darum braucht auch die ›Wort-Gottes‹-Predigt neben Gottvertrauen die Zuversicht in das Mundwerk der Schreiber und das Handwerk der Redner. Natürlich ist vice versa das Lyrische keine Masche, mit der man die Leere füllen könnte, die [auch] in uns gähnt oder eine Methode, um das Loch aufzuhellen, das uns [nicht immer aber immer öfters] anschwärzt. So wie die Kritik zum theologischen Theaterdonner auf der Kanzel werden kann, kann die Bewunderung für die Sprachkunst in die Selbstergötzung einer poetischen Predigerin kippen. Warum kommt mir das nie in den Sinn, wenn ich Marti lese? Warum freue ich mich, wenn er über Gott und Welt fabuliert? Ich wage zu sagen: weil nicht nur eine lügengeplagte Sprache aufatmet! Da hat einer etwas zu sagen, das zwar nicht allen ganz und gar gefällt, aber wer Ohren hat zu hören, hört dann und wann Gott, der sein Wort spricht oder wenigstens ein Wörtchen mitredet und manchmal auch nur aufseufzt! Marti hat von Barth nicht nur die Aufklärung der Religionskritik, sondern auch Licht für seinen Weg bekommen. Es ist der Weg der Sprache, ein Weg, auf dem Gott zur Welt kommt. Marti ist Wort-GottesTheologe geblieben, aber als Diener des göttlichen Wortes auch Dichter für »Gott« geworden. Nicht nur für den tonnenschweren Wortbrocken, der im zehntausendseitentiefen Krater der Kirchlichen Dogmatik liegt – auch für gott gerneklein, dem er dann und wann ein »psälmlein« stiftet. So spricht sich Gott herum.

Von der Predigt zur Dichtung und wieder zurück Zum Verhältnis von Karls ›Gott‹ und Kurts ›gerneklein‹ gäbe es noch manches zu sagen. Wie gesellig sind sie? Jedenfalls hatte Marti keine Mühe, sich mit den ungeliebten Schülern von Karl dem Großen – inklusive einer verlorenen Tochter, die auch zur Dichterin neigte – auf neue Wege einzulassen. Der Marti ist halt eben ein Linker – ein netter Mensch also, ein bisschen tapfer und ganz und gar nicht harmlos für die Schultheologie. Er hat feministische, ökologische und soziale Themen aufgenommen – immer verlässlich, immer biblisch, immer protestantisch. Er ist sich und seiner Berufung treu geblieben. Das hört sich an nach einer Hommage und ist es wohl auch – aber es spielt nicht nur auf den Mann. Ich glaube, es ist hier wirklich ein Prinzip am Werk. Was bei Marti homiletisch und poetisch produktiv wird, ist das

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Ineinander von Religionskritik, Glaubensmut und Schreibwut. Das wird gesellig und fördert den Antrieb, im Widerspruch und Einspruch für das Unsagbare neues Sprachland zu erschließen. Spricht der eine: »Alles, was man über Gott sagen kann, ist Gott.« Spricht der andere: »Alles, was man sagen kann, ist nicht Gott.« Spricht Meister Eckhart: »Beide reden wahr.« Und ich denke: So zart ist also die Gottheit. Die Zangen der Logik fassen sie nicht.22 Es spielt die Kritik mit dem Gedanken der Konstruktion. Das Versagen der logischen Zangen wird vielsagend. Das Gedicht ist Bildersturm und Ikone zugleich, weder destruktiv noch kreativ, sondern kreatorisch: schöpferisch oder eben poietisch.23 Der eine hört da Gott im Werk, die andere den Autor am Werk. Beide hören recht. Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott.

Kurt Marti als Predigt-Helfer Gehen wir weiter zur Theoriegeschichte der Homiletik. Theopoesie war in den 1980er-Jahren ein regelrechtes Modethema. Marti hat das Seine dazu beigetragen – mit seinen Texten, nicht aber als Homiletiker. Für den wissenschaftlichen Diskurs waren Impulse aus dem Dialog mit der Hermeneutik, Poetik, Rhetorik und Semiotik wichtig. Sie flossen in die Homiletik ein. Es ist kein Zufall, »-tikt« es. Die Endung »-tik« markiert Wissenschaftlichkeit und erinnert an das Erbe der Antike. Man spricht in der Praktischen Theologie von der empirischen Wende nach den 1960er-Jahren. Das hat einmal einer in die Welt gesetzt und wird seitdem immer nachgeplappert. Empirie im streng sozialwissen-

22 Kurt Marti: Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde. 80 ausgewählte Texte mit einem Vorwort von Eberhard Jüngel. Stuttgart 2000, S. 104. 23 Zum Begriff »kreatorisch« siehe Winfried Engemann: Predigt als Schöpfungsakt. Zur Auswirkung der Predigt auf das Leben eines Menschen. In: ders.: Theologie der Predigt. Grundlagen – Modelle – Konsequenzen. Leipzig 2001, S. 71-92.

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schaftlichen Sinne war aber im Bereich der Predigtlehre nie ein großes Thema. Erfahrung hingegen schon. In dreifacher Hinsicht: – Wir sehen in dieser Zeit eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit mit Blick auf gesellschaftliche und lebensweltliche Kontexte; – wir erkennen eine beherzte Zuwendung zur Wahrnehmung mit Hilfe der Sprache, anderer Medien und mittels einer elaborierten Hermeneutik; – und wir nehmen ein zunehmendes Interesse wahr an unterschiedlichen Erlebensweisen der religiösen aber auch kulturellen Erfahrung. Das hat alles weniger mit harter Empiristik und mehr mit der Hermeneutik der weichen Geisteswissenschaften zu tun. Ich würde deshalb von einer hermeneutischen Wende sprechen, die zwar den Anschluss an die moderne Wissenschaft sucht, sich aber auch als eine Art tik-Renaissance des Klassischen interpretieren lässt. Es war der Aufstand der Söhne, die sich gegen die Homiletik der Väter richtete und eine Aufwallung der Kunst, die den Bann der Antirhetorik überwand, unter dem die Wort-Gottes-Theologie nach dem Trauma der faschistischen Propaganda gestanden hatte. Drei Wiederentdeckungen belebten die Theorie der reinen Kanzelrede: die Kunst der guten Rede, die Sprechakttheorie und das Offene Kunstwerk. In der Mitte – die Theorien überbrückend – finden wir das Thema der lebendigen Metapher. Das Kraftwerk der Bedeutung, das durch den semantischen Bruch mit der Konvention Überraschung auslöst oder in Staunen versetzt und ein neues Sehen schenkt. Rudolf Bohren, Gert Otto und Paul Kurz, Marcel Martin, Albrecht Grözinger und Ende der 1990er-Jahre Henning Schröer, Gotthard Fermor und Harald Schröter sind Zeugen für diesen Aufbruch und Stimmen einer Diskussion, die in den USA eigene Wege ging, um von dort als »New Homiletics« über die Vermittlung Martin Nicols wieder in den kontinentalen Diskurs einzufließen. In dieser Diskussion redete Kurt Marti – wie schon erwähnt – nicht als Akademiker mit. Vielleicht hätte er es, wäre er 1972 zum Professor gewählt worden. Gott sei Dank verhinderte die bürgerliche Regierung die Berufung des »linken Pfarrers«. Marti wurde bewahrt vor einem grausigen Schicksal: einer akademischen Existenz. So blieb ihm Zeit zum predigen und dichten. Marti redet also nicht mit, wurde aber rezipiert, weil er dichtete. Ich will hier nicht extensiv auf das Binnengespräch der Homiletik eingehen, aber wenigstens eine Stimme zitieren, die intensiv und sensibel zugleich das homiletisch Inspirierende in Martis Kunst herausarbeitete. Karl Heinrich Bieritz schrieb 1984 einen luziden Essay unter dem

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Titel Predigt-Kunst? Poesie als Predigt-Hilfe. Er fasst den Gewinn des literarisch-homiletischen Grenzverkehrs sehr schön zusammen und wählt sich Marti als Predigt-Helfer. Bieritz geht von der gewöhnlichen Predigt aus – ja er spießt sie regelrecht auf. Kritisiert wird der Spielplan, der aus einem bestimmten mechanischen Regelwerk besteht und wiederum die Produktion und Rezeption der Kanzelrede bestimmt.24 »Gewöhnlich« heißt die Redestrategie, weil der Prediger dem Hörer gewohnheitsmäßig auf den Leib rückt und ihm früher oder später auf den Geist geht: »Das Spiel, so kunstvoll angelegt und eingeleitet, versandet schon nach den ersten Zügen in Langeweile. Der Hörer weiß, wie es weitergeht und endet, und fühlt sich – je nach Einstellung und Erwartung – beglückt oder betrogen.«25 Auf der Folie der gewöhnlichen Predigt wird erkennbar, was Bieritz von der Predigt-Kunst erwartet. Sie hat »Gott in menschlicher Sprache Raum zu schaffen, nicht nur Texte, sondern auch Wörter und WortBilder so miteinander ins Spiel zu bringen, dass sich ein Überschuss an Sinn, ein Überschuss an Erfahrung ergibt, in dem Gott zu Worte kommt.«26 Das wiederum heißt: Je strenger sich die Predigt an zeitgenössische rhetorische Konventionen hält, um so überflüssiger macht sie sich selbst. Sie leidet am Übermaß an standardisierten, einverständigen und ungebrochenen Bildern – mit andern Worten: Sie ist kitschig und klebrig, statt knackig und frech. Bieritz’ Strategie ist offensichtlich: Er plädiert dafür, dass auch die gewöhnliche Predigt überraschen soll. Als Beispiel dient ihm weihnachten von Kurt Marti. Es ist ein Gedicht, aber zugleich eine Predigt. weihnacht damals als gott im schrei der geburt die gottesbilder zerschlug und zwischen marias schenkeln runzelig rot das kind lag.27 24 25 26 27

Bieritz, Predigt-Kunst?, S. 159. Ebd. Ebd., S. 161. Marti, Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde, S. 125.

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weihnacht heißt die Überschrift, die in hehrer Kürze die Konvention anzeigt, die erst einmal da sein muss, bevor man sie stören kann. Ohne Wohnort keine Befremdung, ohne Irritation keine Überraschung. Und dann das zweite Wort: damals. Es steht ganz allein. Es steht für Geschichte. Jetzt wird sie erzählt. Aber was wird erzählt? Eine Gegengeschichte kommt zwischen den Zeilen der bekannten Geschichte zu stehen. Die bekannte lautet: »und sie gebar ihren Sohn und wickelte ihn in Windeln.« Der Dichter setzt eine andere hinein: »schrei der geburt, marias schenkel, runzelig rot«. Er hätte auch »holder Knabe im lockigen Haar« schreiben können. Das wäre ein anderer Zwischentext, den wir schon kennen. Nun spielt aber auch Gott in der ungewöhnlichen Predigt mit: »als gott im schrei der geburt die gottesbilder zerschlug«. Gott wird im Schrei des Neugeborenen aktiv. Im Schrei? Da wird etwas zerschlagen! Das Glas splittert und der Rahmen bricht. Gott ist in dieser Kurzgeschichte kein Zuschauer. Er befreit sich und – verhüllt und enthüllt sich zugleich – zeigt sich überaus konkret, zornig einerseits, rot und runzelig andererseits. Bieritz warnt vor falschen Schlüssen. Zwar ›predigt‹ dieses Gedicht, aber eine Predigt ist kein Gedicht. Wer genau hinhört, lernt von der poetischen Arbeit, wie man einen alten Text auslegt und einen neuen Text so zwischen die Zeilen hineinlegt, dass der alte in einem neuen Licht erscheint. Mehrsinnig sollen wir predigen, nicht eindeutig, Mut zum Detail und Sensibilisierung für Rhythmus, Strukturierung und Gliederung entwickeln. Da gäbe es wieder manches zu entfalten. Ich greife nur einen Aspekt heraus: das, was ich vorhin im Prinzip zum Prinzip erklärt habe. Am Anfang war das Wort. Nicht die Wörter. Das Wort. Aber auch nicht allein. Es war bei Gott. Es sind von Anfang an zwei Prinzipien im Spiel: Reduktion und Geselligkeit. Kommen sie zusammen, entsteht etwas Drittes, etwas das zur Welt kommt und ans Licht drängt. Am Anfang also: Beziehung. Am Anfang: Rhythmus. Am Anfang: Geselligkeit. Und weil Geselligkeit: Wort.28 Die aphoristisch verknappte Predigtkritik – die wörter fallen, das wort bleibt aus – bringt die Hoffnung, die in der Leere aufblitzt, ex negativo

28 Aus: Kurt Marti: Die gesellige Gottheit am Werk. In: ders.: Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde, S. 168.

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zum Vorschein. Wir haben schon gesehen, dass diese Leere eigentlich eine Offenheit anzeigt, die nötig ist, damit gottgerneklein sich zeigen kann. Wenn mich die Predigt überrascht, kommt Gott nicht als vorgefasster Gedanke – als Regel, Gesetz, als absolutes und nacktes Prinzip – vor. Darum hört man zwischen den Zeilen die wörter fallen, das wort bleibt aus den Subtext: es gibt ›wörter‹, die bleiben und ein ungewöhnliches ›wort‹, das auffällt. Darum höre ich mir Predigten an. Darum predige ich noch. Weil sie Gottes Wort entbirgt.

Woher kommt das Wort? Aber wie kommt man zu diesem Wort? Wie erfasst man es? Ich erlaube mir, Elazar Benyoëtz als Beistand anzurufen.29 Der israelische Aphoristiker fragt: Wo ist es? Und sagt: Ich lausche auf etwas in, vielleicht sogar zwischen den Worten. Es macht mich aufhorchen, es lässt auch aufblicken. Es ist Einzahl, nicht Mehrzahl, einfältig und nicht zwiespältig. Und doch: Das Geheimnis des Wortes ist seine offenbare Zweideutigkeit. Es ist das erlösende Wort – das entbindende. Aber ich muss draufkommen und ich muss mich entbinden lassen, damit ich es finde. Wenn ich es ergriffen habe, muss ich es loslassen. Das Wort bricht, wird es lange gehalten. Sprechen heißt, der Sprache sein Wort geben. Das ist etwas anderes, als groß daherreden. Auch der Hörer weiß: mit großen Worten wird man kurzgehalten. Ein großes Wort kann oft gebrochen werden. Der Theologe sagt ein Wort von Gott, der Dichter spielt mit der Sprache und entlockt ihr Worte, die etwas über ihren Ursprung verraten. Es ist die Sprache, die sich das einbildet und ausdenkt. Leihst du der Sprache dein Ohr, schenkt sie dir ihr Gehör. Was mir die Sprache nicht zeigt, wird mir Gott kaum offenbaren. Sie ist Gehalt des Seins und Halt des Seienden. Noch ehe wir den Mund zum Sprechen öffnen, öffnet die Sprache uns die Augen. Die Sprache überwinden und zugleich aus ihr schaffen, das ist das Paradoxon, an dem Dichtung geprüft wird. Soweit der israelische Dichter. Ich habe seine Worte zu einem Text zusammengestellt – etwas, das er selber nicht macht. Denn es ist das Wort, das trifft. Im Satz hält die Sprache das Wort zurück und hebt es auf. Es ist offensichtlich: Der Dichter, der ein Wort sucht, beginnt an dem Punkt, wo er mit seiner Weisheit am Ende ist. Das ist die Pointe.

29 Der Abschnitt enthält Sprüche aus Elazar Benyoëtz: Die Eselin Bileams und Kohelets Hund. München 2007.

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Und doch macht auch er Worte. Was das Wort beleuchtet, muss ein Satz erhellen. Sonst müsste er nicht dichten. Er redet von etwas, das sich ihm mitteilt und teilt es aus: Sonst könnten wir es nicht mit ihm teilen. Gehen wir vom Dichter zurück zum Pfarrer und Theologen, der weiß, wie prekär das Verhältnis von Wortereignis und Predigt ist. Das war es von Anfang an. Das in der Schrift gehaltene Wort ist gefährdet durch die, die es aus der Schrift hervorheben wollen. schriftgelehrte … gotteserörterer … peter hille sie örtern wir örtern gott vergeblich mit wörtern doch er ist der geist und lässt sich nicht örtern er ist das wort und lässt sich nicht wörtern.30 Was ist die Predigt anderes als der Versuch, Gott zu wörtern? Es ist vergeblich Müh. Oder in einer der schönsten Übersetzungen von Kohelet – uf züritüütsch: Es isch schiiterig.31 Die kritische Weisheit des Kohelet weiß, dass sie von Gott nicht reden kann. Es ist ihre Aufgabe, darüber zu wachen, dass es die Predigerin nicht vergisst und unversehens zum Plappermaul wird. Sie soll auch daran erinnert werden, dass sie den Mund nicht halten darf. Schließlich ist auch die kritische Weisheit eine Sophia. Die Predigenden sollen beides wissen: ihr Sollen und Nicht-Können und Gott die Ehre geben. Man kann sich mit diesem Diktum eine Art Halsstarre und Schreibkrampf

30 Marti, Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde, S. 49. 31 Viktor Schobinger: De versamler, de Prediger Salomo us em hebrèische uf züritüütsch übersetzt vom Viktor Schobinger. Zürich 1985.

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angewöhnen. Marti hat sich anders entschieden und sich auf Sophia eingelassen. Sie … … umspielte, was er geschaffen, und schlug, leicht hüpfend von Einfall zu Einfall, neue Erschaffungen vor.32 Wie viel Lust da drin ist. Wie viel Wortwitz sich Bahn bricht. Ein melodischer Urknall, dem Wirbel, Bewegungen, Töne entspringen. Es ist das sich freudig ausdehnende All, der Anfang des Universums. Elsbeth Pulver, aus deren wunderbar kompakten Einführung zum ersten Band der fünfbändigen Werkauswahl ich ganz viel über das literarische Multiversum Martis gelernt habe, schreibt: »Marti ist nicht einfach ein Wortspieler, er ist auch lebenslang ein Wortjäger, Wortsammler geblieben, getrieben von einer zugleich etymologischen und spielerischen Neugier nach dem, was im Wort steckt.«33 Sie weist auf den Titel des schmalen Gedichtbändchens gedichte alfabeete cymbalklang. Alfabeet ist wörtlich zu verstehen. Ein Beet, aus dem »nicht einfach Wörter, sondern Dichterwörter wachsen«. Dabei geht es nicht um die Alternative gemacht oder geschenkt. Das Bild weist über sich hinaus. Es weist zurück auf den Buchstaben. Am Anfang war die Silbe. Und es weist den Autor als Züchter aus: »… kein Schöpfer, aber auch kein Macher, er ist, bescheidener, angewiesen auf das, was der Boden hervorbringt, was aber, komplizierter, doch nicht einfach Wildwuchs ist, sondern von ihm geplant, gepflegt, künstlich verändert wird.«34

Verteidigung der Redundanz Gilt das nicht genauso von der Predigt? Ich finde Frau Pulvers Bild vom Wortzüchter wunderbar sprechend. Es macht auf den Überfluss aufmerksam. Wir wüssten nichts vom Einen, das nötig ist, ohne den Überschuss des Unnötigen. Das Gleichnis braucht die Konvention und die Rede braucht Redundanz. Wenn keine Worte wegfallen, fällt auch kein Wort auf. Die, die wegfallen, müssen aber nicht nur leere Worte oder Killerphrasen sein. Es dürfen auch wunder-

32 Aus: Marti, Die gesellige Gottheit am Werk, S. 168. 33 Elsbeth Pulver: Ein literarisches Multiversum. In: Kurt Marti: Erzählungen, Werkauswahl in fünf Bänden. Zürich 1996, S. I-XVIII, S. X. 34 Ebd.

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bare Wortgezüchte darunter sein, die zart und genau die Welt unter der Sonne loben, aber zum Verbrauch gemacht sind. Das Sprach- und Bildmaterial ist also nicht in dem Sinn überflüssig, als es durch den Sprachfluss weggeschwemmt würde und dann am Ende nur das Wort bliebe. Es ist nicht das Holz der Skulptur, das der Bildhauer wegschlägt, um zur Gestalt zu kommen. Es ist kein Sinnabfall. Es ist das kostbare irdene Gefäß, das den Schatz des Wortes hält. Es ist der Speicher. Denn der Logos wurde Fleisch. Es muss als Tintenhügel oder Schallwelle über Seh- und Hörnerven einen Impuls auslösen und so in unseren Leib eindringen. Und doch verklingt und zerfällt es. Warum macht das Sinn? Weil Name nicht Schall und Rauch ist. Weil mit dem Namen Geschichten verbunden sind und mit den Geschichten ein Bund und mit dem Bund ein ewiges Gedächtnis gestiftet wird. Nenn es Religion! Wie hältst du’s mit dem Namen? Benyoëtz sagt: Nicht nur das Wort, auch der Sinn hat einen Klang. Das klingt nach Marti. ich sann nach sinn ich hörte klang ist klang der sinn? auch rhythmus schwang: bin der ich bin – all sinn verscholl der klang schwingt voll.35 So wie das Gedicht Gott in die Sprache aufhebt, wird die Predigt zur Sprechstunde für Gott, der gesellig ist. Dafür steht der Name und das ruft er hervor. Wortliebhaber sind keine Schwätzer, sondern Sänger, die auf das Lied in allen Dingen hören. Es waren auch Sänger, die ihre Liebe zur unerreichbaren Dame des Herzens in Bilder kleideten, die Vorbilder für die Mystik lieferten. Die Minne überwindet die Grenze des Standes. Der Minnesänger besingt eine Vereinigung, die er fühlt. Er kann seinen Mund nicht halten. Also kann es auch der Gottdichter nicht. Die Zangen der Logik können die zarte Gottheit nicht fassen. Die spitzen Finger der Homiletik und die Samthandschuhe der Poetologie vermögen es auch nicht. Es ist gut, zieht Marti eine Grenze. So entsteht das, was Eberhard Jüngel eine »beziehungsreiche Nachbarschaft« nennt. Es kommt das eine zum andern. Wie sollte es auch anders sein!? Marti räumt in seinem Essay ja auch ein, dass der Dichter zwar zur Welt und von der Welt

35 Kurt Marti: Namenszug mit Mond. Zürich 1996, S. 309.

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spricht, aber dabei eine eigene Form der religiösen Rede pflegen kann, die Gott preist – frei vom Auftrag. Eberhard Jüngel nennt ihn einen Sehenden, weil er in einer äugigen Welt den Durchblick wahrt und im Dampf des Spirituellen einen klaren Kopf behält.36

Wortschluss Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Aber ich will zum Schluss kommen. Marti fragt: Wie entsteht eine Predigt? Wie entsteht ein Gedicht? und ich frage: Wie vergeht eine Predigt? Wie vergeht ein Gedicht? Hilde Domin sagt: Das Gefieder der Sprache streicheln Worte sind Vögel mit ihnen davonfliegen.37 Gilt das nicht auch für die Predigt? Sie ist ein flüchtiges Wort, ein Klang, der verhallt und wenn wir Glück haben, können die Zuhörenden ein wenig mit ihren Worten davonfliegen. Das Nebeneinander von Predigt und Lyrik als zwei unterschiedliche Sprachvorgänge ist durch eine Grenze verbunden, die man schon überschritten hat, wenn man sie kennt. Predigt weckt den Glauben, Lyrik macht hellhörig für das Wort, das sie bespricht. In einem Interview mit der Berner Zeitung, meint der 89-jährige, er habe keine Lust, sein Leben zu bilanzieren oder seine Texte zu archivieren.38 Man glaubt es ihm. Es spricht der Prediger. Gesprochene Sprache ist dazu bestimmt, davonzufliegen. Aber Gott sei Dank sind Martis Wortzüchtungen im Sprachboden gepflanzt und verwurzelt. So bleibt das Gesagte als Aufgeschriebenes im Gedächtnis bewahrt. Marti hat viel dafür getan, dass auch Texte von anderen nicht vergessen gehen. Ein Büchlein heißt Fromme Geschichten. Eine Erzählung hat es mir besonders angetan. Sie soll am Schluss stehen.

36 Eberhard Jüngel: Vorwort, aus: Marti, Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde, S. 15. 37 Hilde Domin: Abel steh auf. Gedichte, Prosa, Theorie. Stuttgart 1979, S. 36. 38 Interview mit der Berner Zeitung am 3. 4. 2010: http://www.bernerzeitung.ch/ kultur/buecher / Ich-glaube-nicht-dass-ich-auferstehe/story/10805641BZ (12. 12. 2015).

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Rabbi Chama, ein frommer Mann, hat in seinem Leben viele kluge Schriften verfasst. Von seinem 36. Lebensjahr an, begann er, alles, was unzulänglich ausgedrückt oder zu unsicher war, auszutilgen. Das machte er so schonungslos, dass er alles, was er einst geschrieben hat, wieder vernichtet hat. Die Schüler weinten, als er sämtliche Schriften verbrannte, der Alte aber tanzte – trotz seiner Schwäche mit kleinen leichten Schritten ums Feuer. Wenig später starb Rabbi Chama. Die Schüler fanden einen Zettel im Nachlass. Darauf stand gemalt: Der Name, geheiligt sei er! Alsbald erkannten die Schüler den Sinn des Vermächtnisses: Im EINEN und heilig-unaussprechlichen Namen Gottes, blieb alles bewahrt und gegenwärtig, was ihr Lehrer gelebt, geglaubt, gedacht hatte.39

39 Kurt Marti: Fromme Geschichten. Stuttgart 1994, S. 69.

Andreas Mertin

Kurt Marti – Befreiung zur Profanität Zeithistorische Einordnung »Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun. Heute aber setzt die Vergangenheit sich fort …«1

Für einen kurzen Moment bestand Ende der 1950er-, Anfang der 1960erJahre des vergangenen Jahrhunderts die Hoffnung, dass die evangelische Theologie und die evangelische Kirche sich von der trivial gewordenen Kirchenkunst ab- und den profanen Künsten zuwenden würden. Während sich zwischen 1933 und 1945 die protestantischen Theologen selbst der Bekennenden Kirche in Kunstfragen noch weitgehend auf der gleichen Linie wie die Nationalsozialisten befanden (sieht man einmal von Ausnahmen wie Paul Tillich2 und Karl Barth3 ab) und kirchliche Institutionen sogar maßgeblich am Vernichtungswerk der sogenannten »Entarteten Kunst« beteiligt waren,4 hätte man hoffen können, dass nach 1945 zumindest in der Kirche ein Umdenken beginnt. Diese Hoffnung wurde nicht eingelöst. Eine Generation von Theologen und Funktionären, die ihre Impulse während des Nationalsozialismus erhalten hatte, hat – wie wir heute wissen – ihre Ideologie auch nach 1945 durchgesetzt und jede alternative Sicht im Keim erstickt. Ein Nationalsozialist wie der Architekt Winfried Wendland schrieb zuerst 1930 die Programmschrift Nationalsozialismus und Kunst,5 1940 dann das Buch Die Kunst der Kirche,6 das er 1953 mit ein paar Streichungen

1 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 142003, S. 5. 2 Paul Tillich: Kult und Form [1930]. In: ders.: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur. Gesammelte Werke Band 9. Stuttgart 21975, S. 324-327. 3 Karl Barth: Gesamtausgabe II, Akademische Werke, Ethik II. Vorlesung Münster, WS 1928 /29, Bonn, WS 1930 /31. Zürich 1978. 4 Hans Prolingheuer: Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche & Kunst unterm Hakenkreuz. Berlin 2001. 5 Winfried Wendland: Nationalsozialismus und Kunst (Die grünen Hefte der »NS-Briefe« 4). Berlin 1930. 6 Ders.: Die Kunst der Kirche. Berlin 1940.

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antisemitischer und völkischer Passagen und einigen Umformulierungen einfach wieder auflegte.7 Im nicht-kirchlichen Bereich ließ sich Analoges beobachten: Der Kunsthistoriker und frühere Nationalsozialist Hans Sedlmayr war mit seinem Buch Verlust der Mitte8 ein wichtiger Impulsgeber der Nachkriegszeit. Sein Werk – von Umberto Eco spöttisch als Form des Cogito interruptus9 charakterisiert – erlebte über siebzehn Auflagen, nicht zuletzt, weil er die profane Kunst der Moderne verdammte. 1958, im Jahr meiner Geburt, schrieb Kurt Marti in der Evangelischen Theologie einen kleinen Text, der geradezu als Gegenentwurf zu Hans Sedlmayrs kulturapokalyptischer Diagnose gelesen werden kann, entzog er doch dessen Kernthese von Gott als der notwendigen Mitte aller Kunst die Grundlage. Martis Text trug den Titel Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität.10 Es war ein Titel, der in Fachkreisen geradezu sprichwörtlich wurde und Aufnahme in verschiedene theologische Reflexionen der Kunst fand,11 auch wenn sich seine Perspektive auf Dauer bedauerlicherweise nicht durchgesetzt hat. Die zentrale Aussage des Textes lautete: Mit Jesus Christus entfällt für die bildenden Künste die Notwendigkeit einer sakralen Mitte. Und zwar nicht deshalb, weil sie ohne Gottesbezug wären, wie Sedlmayr der neueren Kunst unterstellte, sondern weil die Idee des Sakralraumes als Bezugspunkt obsolet wurde. Kurt Marti stand mit seiner These vom Ende des Sakralraumes keinesfalls alleine da. Was einige Jahre später unter dem Stichwort der »Sakralmüdigkeit«12 zusammengefasst wurde, war Ende der 1950er-

7 Ders.: Die Kunst der Kirche. Berlin 21953. 8 Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Berlin 171991. 9 Umberto Eco: Vom Cogito interruptus (1967). In: ders.: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen. München 31985, S. 245-265. 10 Kurt Marti: Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität. In: Evangelische Theologie 8, 1958, S. 371-375. Im Folgenden zitiere ich den Text nach der späteren Ausgabe Kurt Marti: Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität. In: ders.: Grenzverkehr. Ein Christ im Umgang mit Kultur, Literatur und Kunst. Neukirchen-Vluyn 1976, S. 178-184. 11 Hans-Eckehard Bahr: Poiesis. Theologische Untersuchung der Kunst. Stuttgart 1961, S. 245 ff.; Kurt Lüthi: Moderne Malerei. In: Kurt Marti / Kurt Lüthi / Kurt von Fischer: Moderne Literatur, Malerei und Musik. Drei Entwürfe zu einer Begegnung zwischen Glaube und Kunst. Zürich 1963, S. 169-332, S. 181 ff. 12 Herbert Schade: Gestaltloses Christentum? Perspektiven zum Thema Kirche und Kunst. Aschaffenburg 1971.

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Jahre die Erkenntnis, dass das unter dem Stichwort »sakral« verhandelte Phänomen im Sinne eines abgegrenzten Bezirks des Heiligen nicht länger Bestand haben konnte: Das Sakrale stieß auf Widerspruch,13 Kunst und Religion befanden sich in der Verwandlung.14 Nachzudenken war vielmehr darüber, wie »Kirchen in nachsakraler Zeit«15 aussehen könnten. »Seit einigen Jahrzehnten«, so schrieb der Schweizer katholische Kunstschriftsteller Karl Ledergerber 1961, »ist ein bis heute noch nicht beendeter Streit um die kirchliche Kunst im Gange. Es geht dabei um den Versuch, die seit über hundert Jahren unschöpferisch und lebensfremd gewordene Tradition zu verlassen und den Anschluß an die weltliche Kunst zu finden.«16 Tatsächlich ist dieser Konflikt bis heute nicht gelöst – ich werde am Ende noch darauf zurückkommen. Obwohl immer deutlicher wurde, dass die Bildgeschichten der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst17 vorbei waren, wurde und wird an der Idee einer christlichen Kunst festgehalten.

Lektüre: Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität Kurt Marti geht in seinem Text in zwei Schritten vor. Er fragt zunächst nach den alt- und neutestamentlichen Bezugspunkten einer christlichen Haltung zum Bild bzw. zur Kunst, um daraus in einem zweiten Schritt grundsätzliche Schlussfolgerungen zu ziehen.

1. Ausgangspunkt der Überlegungen ist das Vorkommen bildender Künste in der hebräischen Bibel. Während einerseits Kunst im Sinne von

13 Theodor Bogler (Hg.): Das Sakrale im Widerspruch. Gesammelte Aufsätze. Maria Laach 1967. 14 Karl Ledergerber: Kunst und Religion in der Verwandlung. Köln 1961. 15 Hans-Eckehard Bahr (Hg.): Kirchen in nachsakraler Zeit. Hamburg 1968. 16 Ledergerber, Kunst und Religion, S. 9. 17 Wolfgang Schöne: Die Bildgeschichten der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst. In: Das Gottesbild im Abendland. Hg. v. Wolfgang Schöne / Johannes Kollwitz / Hans Freiherr von Campenhausen. Witten 1957, S. 7-56.

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Götterbildern verboten ist, gilt religiöses Kunsthandwerk bei Stiftszelt oder Tempel als erlaubt und geboten. »So ist von Kunst und Kunsthandwerk fast nur im Zusammenhang mit Stiftszelt und Tempel positiv die Rede. Kristallisationspunkt der Künste ist der Kultbau. Von dieser Sakralaufgabe her empfangen die Künste ihre Legitimation und Würde.« (178) »Der Tempel (resp. das Stiftszelt) ist Gottes irdische Residenz.« (179) In neutestamentlichen Zeiten hatte die Bedeutung des Tempels durch die Synagogen bereits abgenommen, mit der Lehre des Christentums tritt dann noch eine weitere Änderung ein: »War bis zu Jesus Christus Gottes aktuelle irdische Residenz, in die er nicht gebannt war, in der es ihm aber gefiel, seinem Volke je und je zu begegnen, eine lokale Residenz (Stiftszelt, Tempel), so wählt Gott von nun an eine personale Residenz (Jesus Christus).« (180) Daraus folgert Marti: »Mit dem Wechsel von der lokalen zur personalen Residenzweise Gottes auf Erden, wird den Künsten nicht nur ein bisheriger, sakraler Aufgabenbereich, sondern ihr Kristallisationspunkt überhaupt entzogen. Die bildenden Künste verlieren ihre sakrale Mitte.« (180) Sie sind nun »in die Profanität verwiesen«. Theologisch kommt ihnen keine funktionale Aufgabe mehr zu. »Aus diesem Grunde ist das Neue Testament denn auch, was die bildenden Künste betrifft, kunstindifferent.« (182) Bemerkenswert finde ich an diesem ersten Schritt, dass sich Marti für die biblische Bestandsaufnahme vor allem auf den Kultbau und das religiöse Kunsthandwerk im Rahmen des Tempelbaus konzentriert. Denkbar wäre ja im Blick auf die bildenden Künste die Auseinandersetzung mit dem wirkungsmächtigeren Bilderverbot gewesen. Auch dieses lässt sich für die Befreiung zur Profanität fruchtbar machen. Zumindest hat die moderne bildende Kunst das so verstanden und sich im 20. Jahrhundert weniger auf Christus als vielmehr auf das zweite Gebot bezogen.18 Bei Marti scheint bei diesem Text jedoch die Opposition zu Hans Sedlmayrs ebenfalls architekturbezogener These von Gott als der notwendigen Mitte aller Kunst im Vordergrund gestanden zu haben. Marti geht es aber auch um Indizien für eine grundsätzlich positive Sichtweise der Künste in der hebräischen Bibel: Bilder sind nicht ver-

18 Bruno Latour / Peter Weibel: Iconoclash. Beyond the image wars in science, religion, and art. Cambridge, MA 2002. Vgl. dazu Andreas Mertin: Die Hand Gottes oder die Rückkehr der Priester. Das Ende der Kunst als Exekutivform des Bilderverbots?, in: tà katoptrizómena 4, 2002; www.theomag.de/17/ am61.htm (5. 6. 2015).

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boten!19 Und tatsächlich wird ja die besondere künstlerische Gestaltung an sich nicht verworfen, sondern gerade im Rahmen des Tempelbaus positiv gewürdigt. Und das so sehr, dass Salomo 20 Dörfer an die Phönizier abtritt, um im Gegenzug an qualitätvolles Kunsthandwerk zu kommen. Gerade das zeigt aber auch, dass hier an Kunsthandwerk im weiteren Kontext des Tempelbaus gedacht war und nicht an Kunstwerke, die eine kultische bzw. darstellende Funktion im engeren Sinne hatten.20 Wichtig ist für Marti der Rekurs auf die hebräische Bibel, weil das Neue Testament in dieser Frage nicht unmittelbar Stellung bezieht: »Da das NT keine eigene Stellungnahme zum alttestamentlichen Bilderverbot bietet, ist die Bilderfrage christlich immer auf dem Hintergrund der Grundfrage nach dem Verhältnis von AT und NT sowie der Gültigkeit des AT für die Christen zu sehen.«21 Interessant an Martis neutestamentlichen Überlegungen finde ich, dass er die klassische inkarnationstheologische Argumentation (Christus als ei¬kœn toû jeoû), die dann für die Orthodoxie im byzantinischen Bilderstreit eine so große Rolle spielen wird, außen vor lässt. Die orthodoxen Theologen, allen voran Johannes von Damaskus, entgegneten allen Bildskeptikern, dass die Ikonen quasi »Beweise« der Inkarnation Christi seien. Nur wenn Gott wirklich Mensch und damit auch darstellbar geworden sei, könne man von der Inkarnation Gottes auf Erden sprechen. Wer die Möglichkeit und Notwendigkeit sakraler Bilder also bestreite, der bestreite zugleich die Inkarnation Gottes. Marti verweist stattdessen auf die nun gültige personale Repräsentanz Gottes. Wenn die Gemeinde nach Paulus selber der neue Tempel Gottes ist (181), werden die sakralen Bilder überflüssig. Es bedarf also keiner verdinglichten Form der Vergegenwärtigung.

19 Jürgen Harten / Marianne Heinz / Ulrich Krempel: Bilder sind nicht verboten. Kunstwerke seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit ausgewählten Kultgeräten aus dem Zeitalter der Aufklärung, Ausstellungskatalog. Düsseldorf 1982. 20 Ich bin mir nicht sicher, wie stark die These von der Legitimation der Kunstwerke durch den Sakralbau wirklich ist. Man müsste wissen, welche Bedeutung derartiges Kunsthandwerk außerhalb des Tempelbaus im Leben des Volkes Israel hatte. Im Blick auf den Schmuck vgl. Sabine A. Kersken: Art. Schmuck. In: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, www.wibilex. de; www.wibilex.de/stichwort/schmuck/ (5. 6. 2015). 21 Christoph Dohmen: Religion gegen Kunst. Liegen die Anfänge der Kunstfeindlichkeit in der Bibel? In: … kein Bildnis machen. Kunst und Theologie im Gespräch. Hg. v. Thomas Sternberg / Christoph Dohmen. Würzburg 1987, S. 11-23, S. 23. Marti, Das zweite Gebot und die konkrete Kunst.

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Halten wir fest: Kunst im Sinne der Ausstattung wird in der hebräischen Bibel nicht abgelehnt, sondern geschätzt. Sie findet ihren Ort im Kontext des Tempelbaus. Insofern die lokale Residenz Gottes im Neuen Testament durch eine personale ersetzt wird, wird die Bindung der Kunst aufgehoben, und sie wird profan.

2. Im zweiten Schritt geht es darum, wie die wahrnehmbare »Kunstindifferenz« des Neuen Testaments nun bewertet werden kann. Es lassen sich ja verschiedene Deutungen denken. Etwa, dass dadurch, dass nichts gesagt wird, sich auch nichts ändert. Das Bilderverbot bleibt in Kraft, und nur der Sakralraum wird aufgegeben. Das ist die Lösung des Urchristentums und später der bilderlosen Traditionen des Christentums. Man könnte die Kunstindifferenz aber auch in der konkreten Naherwartung des Urchristentums begründet sehen, die dann mit fortschreitender Zeit neue Lösungen in einer heidnischen Umwelt erforderte, weshalb das Bilderverbot zunächst gelockert, dann aufgehoben wurde, was später zu den bekannten »sakralen« Bildlösungen führte. So richtig diese Beschreibung des historischen Ablaufs ist, so problematisch ist sie theologisch, denn dann müsste man, wie Marti schreibt, »der Tradition Offenbarungscharakter konzedieren« (182), also eine katholische Lösung wählen. Freilich ist auch das Judentum zeitweise diesen Weg gegangen, wie das historische Beispiel der Synagoge von Dura Europos mit dem größten Gemäldezyklus aus der Antike zeigt.22 Die Lockerung des Bilderverbots ist kein spezifisch christliches Problem. Marti geht einen anderen Weg als den der Anpassung an die historische Entwicklung. Für ihn ist »die Kunstindifferenz des Neuen Testaments […] nicht eine Peinlichkeit, die zu entschuldigen, oder ein Mangel, der nachträglich zu beheben ist, sie ist überhaupt kein Negativum, keine Not, im Gegenteil, sie ist eine Befreiung – die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität«. (182) Warum kann der Wegfall des Sakralraums als Befreiung begriffen werden? Dazu schreibt Marti: »Es gibt im Alten Testament von Gott gebotene Kunst. Im Neuen Testament fällt das Gebot weg, nicht aber […] die Kunst als eine menschliche Tätig-

22 Joseph Gutmann: Early Synagogue and Jewish Catacomb Art and its Relation to Christian Art. In: Religion. Hellenistisches Judentum in Römischer Zeit: Philon und Josephus (Aufstieg und Niedergang der römischen Welt). Hg. v. Hildegard Temporini / Wolfgang Haase. Berlin 1984, 1328-1330.

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keit und als Element der Weltgestaltung.« (183) Auch wenn ich die Tendenz dieser Deutung sympathisch finde und teile, bleibt sie aber dennoch begründungsbedürftig. Denn so einfach erschließt sich nicht, inwiefern neutestamentlich die Kunst wirklich positiv »als eine menschliche Tätigkeit und als Element der Weltgestaltung« wahrgenommen wird und dies nicht ex negativo von Marti nur so gedeutet wird. Wohl aber führt die Kunstindifferenz des Neuen Testaments indirekt dazu, dass die Kunst frei von spezifischen Vorgaben arbeiten kann. Wenn man das so deutet, dann ergeben sich daraus Konsequenzen. Denn dann gibt es, wie Marti zu Recht schreibt, »keine Gebote zur Herstellung christlicher Kunstwerke und noch weniger Vorschriften darüber, wie solche christlichen Kunstwerke allenfalls gestaltet sein müßten oder nach welchen Kriterien sie zu beurteilen wären« (183). Dennoch geht Marti explizit vom Fortbestand christlicher Kunst aus, allerdings unterliegt sie nun den Regeln des »Betriebssystems Kunst«.23 Marti schreibt: »Es ist also durchaus legitim, daß die Kriterien, welche für die profane Kunst Geltung haben, auch auf die christliche Kunst angewendet werden. Christliche Kunst hat keinen Anspruch auf Sonderbehandlung und Sonderbewertung. Sie ist grundsätzlich nichts anderes und nicht mehr als die profane Kunst.« (183) Das liest sich einfacher als es ist, denn de facto genügt kaum ein Werk der kirchlichen Kunst den Kriterien der weltlichen Kunst – zumindest nicht im Bereich der bildenden Künste. Konsequenter wäre mir an dieser Stelle erschienen, bei bildender Kunst ganz auf das Epitheton »christlich«24 zu verzichten und entweder von religiösem Kunsthandwerk bzw. Design oder aber nur von Kunst zu sprechen.

23 Vgl. Betriebssystem Kunst (Kunstforum International 125). Ruppichteroth 1994. 24 »In der Regel verwenden wir […] das Eigenschaftswort ›christlich‹ für rein menschliche Belange, die dann in dem jeweils folgenden Hauptwort benannt werden. Wenn man heute an die ›christliche Seefahrt‹ erinnert, springt die Merkwürdigkeit dieser Verbindung ins Auge. Wird hingegen von ›christlicher Politik‹, ›christlicher Erziehung‹, ›christlichem Menschenbild‹ oder ›christlicher Moral‹ gesprochen, ist schon nicht mehr mit dem gleichen Unbehagen zu rechnen. […] Ein allgemeinverständlicher Begriff soll jeweils mit dem Adjektiv ›christlich‹ näher gekennzeichnet werden. […] Da es jedoch im Grunde nur Christus selbst gebührt, etwas als ›christlich‹ zu erkennen, sollten wir uns größte Askese im Umgang mit diesem Eigenschaftswort auferlegt sein lassen.« Michael Weinrich: Kirche in der Säkularisation. In: Die Kirche im Wort. Arbeitsbuch zur Ekklesiologie. Hg. v. Eberhard Mechels / Michael Weinrich. Neukirchen-Vluyn 1992, S. 222-246, S. 242.

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Entschieden setzt sich Marti auch von allen romantischen Bestrebungen einer Kunstreligion ab: »Umgekehrt ist von dieser Sicht her aber auch die Sakralisierung der profanen Kunst ausgeschlossen, etwa in Richtung auf eine idealistische Kunstreligion und eine von dieser ›heilig‹ gesprochenen Kunst. Hüben und drüben gilt dann ein und dasselbe; Kunst ist grundsätzlich ein ›weltlich Ding‹, ist grundsätzlich profan.« (184) Das ist sozusagen das theologische Tabu gegenüber der Kunst. Und schließlich sieht er auch innerästhetische Konsequenzen, die sich aus der Deutung der grundsätzlichen Profanität der Kunst ergeben, nämlich die Bestreitung der Möglichkeit eines verbindlichen Stils: »Erst die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität bedeutet die prinzipielle Desavouierung jedes normativen Stils, jedes sich als definitiv gebärdenden Klassizismus, jedes sich als sakrosankt gebenden ästhetischen Prinzips, die alle als Anmaßung entlarvt werden.« (184) Und Marti schließt seinen Text mit einer weiteren Abgrenzung gegenüber Hans Sedlmayr: »Wenn es heute den Anschein hat, wir bewegten uns auf einem Trümmerfeld, auf dem Trümmerfeld gestürzter ästhetischer ›Heiligkeiten‹, zerbrochener ästhetischer Gesetzestafeln, so ist das nicht einfach dem ›Verlust der Mitte‹ zuzuschreiben […], sondern es ist dies ebensosehr ein Zeichen dafür, daß der Mensch aufgerufen ist, Herr über die Kunst zu sein und sich immer wieder von neuem als solcher zu beweisen und zu bewähren.« (184) Die Kunst ist eine menschliche Angelegenheit.

Nach-Lese Ich möchte nun den Blick kurz erweitern auf einige Aspekte, die Kurt Marti an anderer Stelle zur bildenden Kunst eingebracht hat. In dem Sammelband Grenzverkehr. Ein Christ im Umgang mit Kultur, Literatur und Kunst gibt es weitere Texte, die unsere Thematik präzisieren. Aus der Zeit des gerade besprochenen Textes stammt Das zweite Gebot und die konkrete Kunst,25 in dem Marti explizit das Bilderverbot aufgreift und auf dessen Koinzidenz zur zeitgenössischen Kunst eingeht. Und er macht auf einen Aspekt aufmerksam, den schon Karl Barth 1929 in seiner (freilich erst 1978 publizierten) Vorlesung zur Ethik als wesentliches Element der Kunst benannt hatte: das Spiel. In den Worten Karl

25 Kurt Marti: Das zweite Gebot und die konkrete Kunst [1958]. In: ders.: Grenzverkehr, vgl. Anm. 10, S. 173-177.

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Barths: »Kunst bezieht sich als reines Spiel auf Erlösung. […] Wird das Spiel ernstgenommen – und wo das nicht der Fall wäre, da hätten wir es ja gar nicht mit wirklicher Kunst zu tun –, da wird es vielmehr selber den Charakter der Entscheidung bekommen, da wird die Problematik der Gegenwart gerade darum und darin ernstgenommen, daß sie in ihrer Beschränktheit eingesehen, daß sie in der Aisthesis grundsätzlich überboten wird.«26 Aus dem Jahr 1970 stammt das Plädoyer für die Entsakralisierung der kirchlichen Kunst,27 in dem Marti nicht nur die Kirchen als mögliche »Spiel-Räume der Kunst« betrachtet, sondern auch die Temporalisierung der Präsentation von Kunst im religiösen Versammlungsraum vorschlägt. Ob das allerdings, wie er meint, tatsächlich für die Gemeinden auf die Dauer preiswerter ist als die Einrichtung permanenter Kunst würde ich als Kurator zeitgenössischer Kunstausstellungen jedoch stark bezweifeln. Richtig ist aber am Vorschlag der zeitlichen Begrenzung von Kunstpräsentationen, dass dadurch die Experimentierfreude und Phantasie der Gemeinde viel mehr angeregt wird als durch die dauerhafte Präsentation einzelner Werke. Grundlegend ist schließlich der dritte Text zur Phantasie als Produktivkraft28 aus dem Jahr 1972. Darin geht Marti nicht nur den kritischen Aspekten des Betriebssystems Kunst nach (»Kunst ist, ums böse zu sagen, der Zoo oder der Bärengraben, in dem das Publikum die aus seinem Alltag vertriebene Phantasie und Freiheit bestaunen und genießen kann«), sondern stellt auch die Kategorie des Möglichen als Grundkategorie der Kunst vor, die erklärt, warum wir uns überhaupt mit Kunst auseinandersetzen. In meiner nun 30-jährigen Beschäftigung mit Kunst im Kontext Kirche war die Kategorie des Möglichen im Gespräch mit den Künstlerinnen und Künstlern immer die wichtigste. In den 2010 publizierten Notizen und Details mit seinen Beiträgen aus der Zeitschrift Reformatio29 geht Kurt Marti noch einige Male auf das Verhältnis von Kunst und Kirche ein. Gibt es nicht doch ein theologisches Interesse an einem Sakralraum? fragt er Anfang 1981, nachdem nach einer Demonstration die Polizei in eine Kirche Flüchtende festgenommen hatte. Wäre das nicht mit einem

26 Barth, Ethik II. 27 Kurt Marti: Plädoyer für die Entsakralisierung der kirchlichen Kunst [1970]. In: ders.: Grenzverkehr, S. 185-189. 28 Kurt Marti: Phantasie als Produktivkraft [1972]. In: ders.: Grenzverkehr, S. 11-21. 29 Ders.: Notizen und Details 1964-2007. Beiträge aus der Zeitschrift Reformatio. Zürich 2010.

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anderen Modell eines starken Sakralraums zu verhindern gewesen? Aber Marti hält dem entgegen: Stärken müsse man die Idee der Sakralität der Gemeinde und jeder ihrer Gläubigen, nicht aber die des Raumes an sich.30 1993 besucht Kurt Marti eine von Kurt Lüthi in Wien veranstaltete Tagung zum Thema Kirche und Kunst31 und zeigt sich in seinen Notizen besorgt über den Stand der Gespräche. Allerdings schätzt er dabei den aktuellen Stand im Gespräch von Kunst und Kirche doch zu kritisch ein. Sicher ist der Alltag in der Begegnung von Kunst und Kirche nicht immer befriedigend, allerdings gibt es inzwischen doch zahlreiche Beispiele einer gelingenden Begegnung – und das nicht nur im kritischen Sinne eines Diskussionsteilnehmers, den Marti so zitiert: »Die Gefahr besteht heute nicht mehr im Scheitern, sondern in einer erbärmlichen Art des Erfolgs.«32 Nein, so ist es nicht. Im Bereich der Musik wäre auf die Kasseler Musiktage »Neue Musik in der Kirche« unter Klaus Martin Ziegler zu verweisen, die richtungsweisend nicht nur für die Kirche, sondern auch für die zeitgenössische Musik wurden. Im Bereich der bildenden Kunst wäre auf das »Modell Öflingen«33 an der deutschschweizerischen Grenze zu verweisen, bei dem der im selben Jahr wie Kurt Marti geborene Paul Gräb seit den 1960er-Jahren zusammen mit zahlreichen Vertretern der klassischen Moderne und der Gegenwartskunst ein diakonisches Zentrum aufgebaut hat.34 Dazu hat er einen Kunstverein gegründet, der seit fast fünfzig Jahren Ausstellungen in Anerkenntnis der Profanität der Künste veranstaltet und Gegenwartskunst an die Gemeinden vermittelt.35

30 31 32 33

Ebd., S. 667-671. Ebd., S. 1012-1016. Ebd., S. 1015. Paul Gräb (Hg.): Unbequeme Kunst – unbequeme Autonomie. Erster Bericht zum ›Modell Öflingen‹. Öflingen 1980. 34 Stiftung Hanna & Paul Gräb et al. (Hg.): Netze. Hanna & Paul Gräb – Ein Lebenswerk. Freiburg i. B. 2012. 35 Karl-Christoph Epting / Paul Gräb (Hg.): Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung, Ausstellungskatalog. Karlsruhe 1990; Paul Gräb (Hg.): Wege, Ausstellungskatalog. Karlsruhe 1993; Paul Gräb (Hg.): Kunst zum Kirchentag ’95, Ausstellungskatalog. Maulburg 1995; Ivo Kranzfelder (Hg.): Weder gut noch böse. Kirche-Kunst-Diakonie. Die Sammlung Paul und Hanna Gräb, Ausstellungskatalog. Wehr-Öflingen 1997; Reinhard Valenta / Ulrich Fischer / Johannes Stockmeier (Hg.): Begegnungen, Ausstellungskatalog. Wehr-Öflingen 2006.

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Nach-Wirkungen Ich habe schon darauf hingewiesen, dass Martis Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität seinerzeit unmittelbare Verbreitung fand. Insbesondere die 1961 erschienene Dissertation Poiesis von HansEckehard Bahr,36 des späteren Leiters des EKD-Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, schloss sich Martis Ausführungen an: »Schließlich ist daran zu erinnern: die Entheiligung des Kosmos und die Befreiung zur humanen Weltlichkeit durch Christus betrifft nicht nur den Künstler, sondern alles menschliche Sein und Tun. Die Eröffnung der Profanität als Bewährungszone und Spielraum des Menschen gehört ja zu den universalen Implikationen der Menschwerdung Gottes, die ›allem Volke widerfahren‹ soll. (Lk. 2, 10 b)«37 Und auch Kurt Lüthi verweist in dem 1963 erschienenen Sammelband Moderne Literatur, Malerei und Musik. Drei Entwürfe zu einer Begegnung zwischen Glaube und Kunst auf die grundsätzliche Bedeutung des Artikels, der, wie er schreibt, im Protestantismus einen Durchbruch bedeutete.38 Genauer müsste man aus heutiger Sicht sagen: einen Durchbruch hätte bedeuten können. Denn schon bei Hans Eckehard Bahr wird deutlich, warum sich der Ansatz von Marti zumindest im Bereich der lutherischen Kirchen nicht durchsetzen konnte. Solange man an der Idee spezifisch kirchlicher Kunst und hier insbesondere des Christusbildes festhält, entsteht in der Moderne notwendig ein Problem. Denn sich an der Autonomie zu orientieren und zugleich eine konkrete Gestaltung religiöser Inhalte zu erwarten, führt zu einem Paradox: Entweder geht man konsequent dazu über, nur noch von religiösem Kunsthandwerk oder religiösem Design zu sprechen (also ehrlicherweise auf den Kunstanspruch zu verzichten), oder man verliert die darzustellenden religiösen Gehalte. Zugespitzt gesagt: Auch ein profanes Christusbild ist nur ein profanes Bild und kein Christusbild. Der dargestellte Christus ist nur das außerästhetische Substrat, anhand dessen das Bild strukturiert wird. Das hat der Kunsthistoriker Erich Franz in einem Aufsatz über die zweite Revolution der Moderne präzise beschrieben: »Man sah […] im Bild nicht mehr Menschen, Landschaften, Dinge, gebildet mit Farben, Flächen und Linien, sondern man sah: Farben, Flächen und Linien, anhand von Menschen, Land-

36 Bahr, Poiesis, S. 245-248. 37 Ebd., S. 248. 38 Lüthi, Moderne Literatur, insbes. S. 181-183.

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schaften und Dingen in der Fläche organisiert.«39 Das hat weitreichende Folgen auch für die »religiösen« Bilder, ihr Darstellungsgehalt kann nur gegen die Intention der Moderne zur Geltung gebracht werden. Die Reformierten hätten dagegen auf der anderen Seite mit Martis These von der Befreiung der Künste zur Profanität ein Instrument an der Hand gehabt, um zeitgenössische Kunst in ihren Versammlungsräumen zuzulassen und zu zeigen, wie eine an der Profanität orientierte fortschrittliche Kunst- und Kulturpraxis aussieht. Sie haben dies aber – zumindest soweit ich es überblicke – von wenigen Ausnahmen abgesehen aus ihrer historisch entwickelten Bildskepsis heraus unterlassen. Die Gefahr, dass sich aus der profanen Kunst doch wieder so etwas wie eine Kunstreligion oder auch kultisch verehrte Bilder entwickeln könnten, schien ihnen wohl zu groß zu sein. Genauso problematisch finde ich es allerdings, wenn – wie ich es mehrfach erlebt habe – im reformierten Kontext dann bei Kunstausstellungen einfach das Bilderverbot illustriert wird oder statt künstlerischer Lösungen ein Teppich aus Worten präsentiert wird, sozusagen »Gottes Wort in Wasserfarben«. Dann hat man weder die Sprache der Bilder in der Kirche des Wortes40 noch die Befreiung der bildenden Künste zur Profantät wirklich verstanden und hat die katholische Illustration der Heilsgeschichte nur durch die reformierte Illustration des Wortes ersetzt. Im Bereich der konkreten Ausstellungspraxis sieht es daher gemischt aus. Während oftmals Ausstellungen präsentiert werden, die nach dem Abendmahl, dem Christusbild, dem Wort etc., also nach dem Eigenen in der Kunst fragen und sich so gerade nicht der profanen Kunst öffnen, gibt es auch Beispiele, die sich fragen, was uns die Kunst der Gegenwart zu sagen und zu zeigen hat. Die Documenta-Begleitausstellungen der Evangelischen Kirche in Deutschland, die zwischen 1982 und 2007 durchgeführt wurden, sind zumindest seit 1997 erkennbar am Ansatz von Kurt Marti orientiert und benennen das auch expressis verbis.41 Hier orientiert man sich tatsäch-

39 Erich Franz: Die zweite Revolution der Moderne. In: ders.: Das offene Bild. Aspekte der Moderne in Europa nach 1945. Stuttgart 1992, S. 11. 40 Eilert Herms: Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes. In: Die Kunst und die Kirchen. Der Streit um die Bilder heute. Hg. v. Rainer Beck / Rainer Volp / Gisela Schmirber. München 1984, S. 242-259. 41 Andreas Mertin: Zwischen Ikonographie und Autonomie. Die Evangelischen Begleitausstellungen zur documenta 7-12 (1982-2007). In: Kunst, Kirche, Kontroversen. Der Streit um die kirchlichen Begleitausstellungen zur documenta 2013. Hg. v. Josef Meyer zu Schlochtern / Horst Schwebel, Kunstausstellungen in Kirchenräumen am Beispiel der documenta-Begleitausstel-

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lich an der Profanität der Kunst und auch wenn der Versammlungsraum bzw. der Kirchenraum jeweils der Ausstellungsraum ist, so geht es doch nicht um Sakralität, sondern um die Begegnung mit der profanen Kunst der Gegenwart. Wer das am konkreten Kunstwerk überprüfen will, kann das im Kunstmuseum von Bern tun, denn dort steht ein Kunstwerk des Schweizer Künstlers Yves Netzhammer, das zuvor in der reformierten Karlskirche in Kassel zeitgleich zur documenta XII präsentiert worden war.42

Modifikationen – oder: Was heute anders zu akzentuieren wäre Einiges von dem, was Kurt Marti 1958 schrieb, wird man heute unter dem Eindruck neuer Forschungsergebnisse und aktueller Entwicklungen modifizieren müssen. Das betrifft zum einen den Beginn des Bildschaffens, zum zweiten die Einordnung des Bilderverbots, zum dritten die Differenzierung von Bild und Kunst und schließlich die Bewertung der Autonomie der Kunst.

Am Anfang Bildproduktion liegt vielen anderen kulturellen Aktivitäten des Menschen voraus. Irgendwann zwischen 100.000 und 40.000 vor heute setzt der Homo sapiens Mitglieder seiner Gruppe frei, damit sie Bilder anfertigen können. Bilder, wie wir sie etwa in der Höhle von Chauvet sehen, dienten keinen kultischen Zwecken, keiner Dingmagie, waren kein früher Jagdzauber; sie waren Kulturerzeugnisse, die den Menschen – in Abgrenzung zum Neandertaler – erst zum modernen Menschen machten.43 Das wird man stärker in eine theologische Betrachtung einbeziehen müssen, als dies in den 1960er- und 70er-Jahren geschah, als

lungen. In: Szenografie in Ausstellungen und Museen 01. Hg. v. Gerhard Kilger / Wolfgang Müller-Kuhlmann / Ursula Warnke. Essen 2004, S. 116-123. 42 Yves Netzhammer: Yves Netzhammer. Ostfildern 2008, S. 30 ff. 43 Andreas Mertin: Am Anfang war das Wort. Eine kurze Notiz zur Schwierigkeit, nicht nur ›Am Anfang‹ zu sagen. In: tà katoptrizómena 15 (2013): http://www.theomag.de/81/am421.htm; ders.: Am Anfang. Chauvet und die Folgen. In: tà katoptrizómena 15 (2013), http://www.theomag.de/81/am422. htm (5. 6. 2015).

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die Bilder der Höhle von Chauvet noch nicht bekannt waren. Das, was wir dagegen sakrale Kunst nennen, umfasst nur einen 20-cm-Abschnitt auf einer 10 Meter langen Entwicklungslinie des Bildschaffens. Profane Kunst ist die Regel, nicht die Ausnahme.

Das Bilderverbot Der zweite Punkt betrifft das Bilderverbot und seine Bedeutung. Wir wissen zum einen dank der Studien von Othmar Keel und seiner Schule viel mehr über die Genese und die Bedingtheit des Bilderverbots. »In Israel gab es Bilder«44 ist aktuell ein common sense alttestamentlicher Forschung. »Das Bilderverbot ist […] untrennbar mit dem Monotheismus Israels verbunden. Beide sind indes eine recht junge Entwicklung der Religionsgeschichte Israels. Es handelt sich um seit der Exilszeit Mitte des 6. Jhs. v. Chr. ausgeprägte theologische Konzepte.«45 Wenn das Bilderverbot aber erst späten Datums ist, wäre noch einmal zu reflektieren, welche Bedeutung ihm heute als Kultbildverbot zukommt. Da Marti sich aber auf die durch Christus bewirkte Veränderung bezieht, ist er in seiner Argumentation davon weniger betroffen als etwa Calvin in der Institutio.46 Auf der anderen Seite ist in der jüngsten Diskussion im Anschluss an Jan Assmanns Buch Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur (1998)47 das Bilderverbot in ganz anderer Weise problematisiert worden. So konnte Assmann das Bilderverbot zum einen als Gründungsakt Europas beschreiben und als »mosaische Unterscheidung« bezeichnen: »Der Raum, der durch diese Unterscheidung ›getrennt oder gespalten‹ und dadurch zuallererst geschaffen wird, ist der Raum des jüdisch-christlich-islamischen Monotheismus. Es handelt sich um einen geistigen oder kulturellen Raum, der durch diese Unterscheidung konstruiert und von Europäern nunmehr seit fast zwei Jahrtausenden

44 Silvia Schroer: In Israel gab es Bilder. Nachrichten von darstellender Kunst im Alten Testament. Freiburg, Schweiz / Göttingen 1987. 45 Michaela Bauks: Art. Bilderverbot (AT). In: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: www.wibilex.de, www.wibilex.de/stichwort/bilderverbot/ (5. 6. 2015). 46 Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion [Institutio Christianae religionis], üs. v. Otto Weber. Neukirchen-Vluyn 51988. 47 Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München 1998.

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bewohnt wird.«48 Diese mosaische Unterscheidung ist aber zum anderen wie insbesondere Assmanns Jünger hervorheben, nicht folgenlos: »Die moderne Malerei […] ist die Exekutivform des Bilderverbots – nichts anderes als eine unendliche Geschichte von Austreibung und Zerstörung, Aufschlitzen und Abwracken, Entzaubern und Eliminieren.«49 Auch wenn in der jüngsten Diskussion um die Assmann-Thesen im Perlentaucher50 einiges zurückgenommen und modifiziert wurde, bleibt die Frage, in welcher sachlichen Verbindung der »Iconoclash« der künstlerischen Moderne51 zum Bilderverbot steht. Hier müsste theologisch noch weitergearbeitet werden.

Bild und Kunst Was heute auch bedacht werden müsste, wäre im Anschluss an Studien des Kunsthistorikers Hans Belting die präzisere Differenzierung zwischen Bild und Kunst.52 Die bis in die 80er-Jahre noch unproblematische Rede von der Kunst in Zeiten des Alten und Neuen Testaments ist durch die kunstgeschichtliche Forschung stark infrage gestellt worden. Deshalb hat sich hier eher der Bildbegriff durchgesetzt. Von Kunst sprechen wir erst bei Werken des späten 15. Jahrhunderts, als das künstlerische Subjekt in den Vordergrund tritt und die Bilder ihre kultische Funktion zunehmend verlieren. Diese Differenzierung ist auch sehr hilfreich, weil sie in der Sache mit dem übereinstimmt, was Kurt Marti gemeint hat: Christus wäre dann zu deuten als die Befreiung der Bilder zur Kunst.

48 Ebd., S. 18. 49 Thomas Assheuer: Im ersten Kreis der Hölle. In: Die Zeit (2002), http://www. zeit.de/2002 /20/Im_ersten_Kreis_der_Hoelle (6. 6. 2015). 50 Thierry Chervel: Monotheismus-Debatte im Perlentaucher, www.perlen taucher.de/essay/monotheismus-debatte-im-perlentaucher.html (6. 6. 2015). 51 Bruno Latour / Peter Weibel: Iconoclash. 52 Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 62004.

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Infragestellung der Autonomie / Rückkehr des Heiligen Der Renaissance der Ästhetik53 und hier insbesondere der Kant’schen Philosophie in der Kunstdiskussion,54 die in den 1970er-Jahren einsetzte, verdanken wir, dass Profanität als Voraussetzung der Kunst sehr viel selbstverständlicher war als noch zu Zeiten, in denen Hans Sedlmayr mit seinem »Verlust der Mitte« das Sagen hatte. Was aber ist, wenn die Künstlerinnen und Künstler von sich aus wieder »das Heilige« suchen, wenn sie als »Gottsucherbande«55 auftreten und eine neue Kunstreligion propagieren? Es sollte zudem nicht verschwiegen werden, dass es seit einigen Jahren im Zuge der Diskussion um die »Wiederkehr des Heiligen«56 auch Diskussionen um die angeblich nicht aufgebbare Sakralität der Kunst gibt und die Frage nach der Plausibilität einer radikalen Profanierung. Jene konservativen Katholiken, die forderten, die Kunst solle wieder zur Sakralität zurückkehren bzw. sich auf ihre Sakralität besinnen,57 sind ja nicht einfach nur Exoten, sondern durchaus auch ein Spiegel des Zeitgeistes (in Deutschland etwa mit dem Namen Martin Mosebach verknüpft)58. Sie artikulieren ein Unbehagen an der Kultur, das bearbeitet werden muss. Denn wenn alle die Profanität loben, ist es attraktiv, das Sakrale zu betonen. Und deshalb ist auch in den Ateliers der jungen Künstlerinnen und Künstler die Frage nach dem Verhältnis von »Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen« äußerst virulent.59

53 Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990. 54 Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a. M. 1989. 55 Bazon Brock: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande, Schriften 1978-1986. Köln 1986. 56 Manfred Josuttis: Erscheinungen des Heilig-Unheimlichen. Religion, Kunst und Kirche: ein ungeklärtes Verhältnis, in: Lutherische Monatshefte 10, 1991, S. 451-452. 57 Appell an Seine Heiligkeit Papst Benedikt XVI. für die Rückkehr zu einer wirklich katholischen sakralen Kunst 2009. 58 Martin Mosebach: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind. München 2007. 59 Silvia Henke / Nika Spalinger / Isabel Zürcher (Hg.): Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen. Ein kritischer Reader. Bielefeld 2012.

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Schlussfolgerungen Kurt Marti hat mit seinem kleinen programmatischen Text 1958 den Weg gewiesen, bildende Kunst in christlicher, genauer: in protestantischer Perspektive endlich als grundsätzlich profane und autonom gewordene wahrzunehmen und theologisch einzuordnen. Ich sage endlich, weil Marti mit seinen Überlegungen einen Gedanken wieder stark gemacht hat, den schon Karl der Große 792 in den sogenannten Libri Carolini von seinen Hoftheologen formulieren ließ: Dass es bei der Beurteilung der Kunst nicht auf das religiöse Sujet, sondern nur auf die künstlerische Qualität des Kunstwerks, auf das Ingenium des Künstlers ankomme.60 Johannes Calvin wird in der Institutio61 darauf verweisen, dass Karl der Große eindrucksvoll gezeigt habe, wie unaufgeklärt die die Sakralität der Kunst vertretenden byzantinischen Bilderfreunde waren und wie wichtig es sei, eine aufgeklärte Position in Kunstfragen einzunehmen. Man wird dem Kunsthistoriker Bazon Brock zustimmen können, wenn er zur Wirkungsgeschichte der Libri Carolini schreibt: »Es ist sicherlich nicht unrichtig zu behaupten, dass diese Wesensbestimmung der Kunst als ars mundana einen entscheidenden Einfluss auf die Überwindung der sakralen Bindung der Kunst hatte.«62 Es ist also wichtig, auch heute noch und immer wieder an die grundsätzliche und unaufgebbare Profanität der Kunst zu erinnern. So unbestreitbar die bildende Kunst in den letzten 700 Jahren profan geworden ist, so wenig Aussicht gibt es aber, dass die kirchliche Perspektive auf die Kunst sich dem offen stellt. Hat es schon über 750 Jahre gedauert, bis Karl der Große im Christentum die Idee einer grundsätzlich weltlichen Kunst aufbrachte und noch einmal über 750 Jahre bis Johannes Calvin sie im Rahmen der Reformation positiv aufgriff, so steht zu befürchten, dass auch 455 Jahre später die Kirche in Sachen Profanität der Künste immer noch die Augen verschließt. Wir werden das im Rahmen der Luther-Dekade beim Themenjahr »Bild und Bibel« erleben können. Denn auch da wird es wieder nur darum gehen, die Botschaft durch Bilder zu vermitteln, sprich: nicht profane, sondern kirchliche Kunst vorzustellen. Für die Kirche sind Bilder keine eigenständige

60 Theodulfus / Ann Freeman / Karl: Opus Caroli Regis contra synodum (Libri Carolini) (Concilia 2, Suppl. 1). Hannover 1998. 61 Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. 62 Bazon Brock / Karla Fohrbeck (Hg.): Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten. Köln 1977, S. 327.

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Wirklichkeit, sondern nur funktional anzuwendende Kommunikationsmittel im Rahmen einer Mediengesellschaft. Das muss aber nicht heißen, auf die Wahrheit zu verzichten, die in dem Gedanken steckt, dass Christus die Befreiung der Künste zur Profanität ist. Es hat unter dem Einfluss der Kirche bis zur Frührenaissance gedauert, bis die Kunst von sich aus den Gedanken ihrer Profanität selbstbewusst aufgegriffen und dauerhaft durchgesetzt hat. Die Stationen von Giotto, Masaccio und Brunelleschi über Leonardo, Dürer und Caravaggio bis zu Friedrich, Cézanne und van Gogh lassen sich unschwer nachzeichnen. Im 20. Jahrhundert sind die bildenden Künste nahezu vollständig säkular.63 Das ist mit allen seinen Konsequenzen in der kirchlichen Reflexion noch nicht angekommen. Ganz im Gegenteil. Aber auch wenn zurzeit innerkirchlich die Sehnsucht zurück zu den Fleischtöpfen des »Heiligen« und des Sakralraumes und damit auch zu den heiligen Bildern übermächtig zu sein scheint, so führt doch kein Weg an den gesellschaftlichen Realitäten vorbei und natürlich auch nicht an den theologischen Erkenntnissen. Und bei alldem geht es nicht um eine Verlustbeschreibung, sozusagen um eine Abschreibung ursprünglich vitaler religiöser Kultur, sondern – wie Marti zu Recht herausgearbeitet hat – um eine Freiheitserfahrung. Wenn Christus die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität ist, dann sollte sich dies auch im Handeln der Kirche wahrnehmen lassen. Deshalb sei abschließend zusammengefasst, warum die Wendung zur Profanität der Kultur nicht aufgebbar ist, wie sie sich theologisch begründet und was das Ziel einer Begegnung von Kunst und Kirche ist. Die Hinwendung zur profanen Kunst bedeutet nicht nur die Lösung aus sakralen Bindungen, sondern vor allem eine Hinwendung zu den spezifisch menschlichen Möglichkeiten. Hier können wir als »die ersten Freigelassenen der Schöpfung« unserer »Freude an der Freiheit« Ausdruck verleihen. Kunst sakral zu binden, bedeutet dagegen, genau diesen Freiheitsmoment der Schöpfung wieder einzuschränken. Theologisch kann man das so verstehen, dass der Bereich der Kunst ein uns von Gott geschenkter Frei-Raum ist, der nicht von theologischen Regeln bestimmt wird. Die Welt der Kunst existiert nur für den Menschen, sie ist das dem Menschen Eigentümliche.64 Der Bereich der Kunst ist gerade

63 Julius Morel: Säkularisierung und die Zukunft der Religionen. In: FunkKolleg sozialer Wandel. Hg. v. Theodor Hanf. Frankfurt a. M. 1975, S. 237-254. 64 Andreas Mertin: Eine protestantische Sicht auf die Kunst. Zehn Grund-Sätze. In: tà katoptrizómena (2012), www.theomag.de/77/am391.htm (6. 6. 2015).

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als ein solcher Frei-Raum aber auch für die Kirche wichtig. Denn in der Begegnung mit Kunst in der Kirche wird nicht zuletzt deutlich, wie viel Spiel, wie viel Freiheit in der Kommunikation der Kirche möglich ist. Vor 55 Jahren hat Kurt Marti mit Christus, die Befreiung der Künste zur Profanität die Grundlagen dafür gelegt, Kunst theologisch als freie wahrzunehmen. Jetzt kommt es nur noch darauf an, dies auch konsequent zu tun. Denn »[n]icht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.« Das ist nun unsere Aufgabe.

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Kreativität und Kritik – oder die ›Verteidigung des Individuums‹ Zu den theologischen Grundlagen von Martis Literaturtheologie Der folgende Beitrag wendet sich den theoretischen Beiträgen Martis bis 1974 zu, mit dem Akzent auf der großen literaturtheologischen Abhandlung Moderne Literatur von 1963. Der Zusammenhang dieser Schriften und ihre theologische Grundlegung sind in der Literatur zu Marti kaum behandelt.1 Es wird sich zeigen, dass entgegen der auch von Marti selbst verbreiteten Annahme,2 dass seine Theologie an die Barths

1 Christof Mauchs zentrale Arbeit (Christof Mauch: Poesie – Theologie – Politik. Studien zu Kurt Marti. Tübingen 1992) widmet sich explizit nur den Gedichten. Zu den theologischen und theoretischen Überlegungen Martis findet sich nur der Satz: »Während Kurt Martis literaturtheologische Überlegungen kaum Beachtung fanden, machten seine Gedichte Schule.« (S. 73) Hier wird die eigene methodische Entscheidung schon als Faktum der Rezeptionsgeschichte ausgegeben. 2 So zuletzt Erich Garhammer: Theopoesie mit Zeitindex. Der Pfarrer und Literat Kurt Marti. In: Geist und Leben 86, 2013, S. 253-261, S. 253: »Martis Kritik an einer veräußerlichten Frömmigkeit basiert auf Barths Unterscheidung von Religion und Glaube.« Allerdings gibt es neben Karl Barth viele Traditionen der evangelischen Theologie in der Moderne, die eine ›veräußerlichte Frömmigkeit‹ kritisieren, gerade auch in der liberalen Lehrart in der Schweiz. Garhammers beiläufig geäußerte, aus diesem Barth-Bezug abgeleitete Phasenbeschreibung (1. Phase: affirmative Gottesrede, 2. Phase: Kritik an der Gottesrede, 3. Phase: neue symbolische Rede von Gott) ist so in den theoretischen Texten nicht erkennbar, vielmehr geht Marti hier von Anfang an von der Geltung aller drei Elemente aus. Bei Marti selbst findet sich durchaus auch Kritik an Barth. Vgl. Kurt Marti: Woher? Wohin? Gespräch mit Hans Ester [1981]. In: ders.: Red’ und Antwort. Rechenschaft im Gespräch. Stuttgart 1988, S. 65: »Darin ist mir Barth ein Vorbild geblieben, auch wenn ich in manchen theologischen Fragen inzwischen anders denke als er.« Vgl. dazu auch Kurt Marti: »Vor Synkretismus habe ich keine Angst.« Gespräch mit Klaus Nientiedt [1985]. In: ders.: Red’ und Antwort, S. 110: »Vereinfachend, sogar salopp gesagt, habe ich eine barthianische und eine synkretistische Seite. Für die erste ist Gott ›der ganz Andere‹, für die zweite ist er nicht bloß in verschiedenen Religionen, sondern in der Schöpfung überhaupt ›der ganz Hiesige‹, der radikal Immanente.«

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anknüpfe, eine andere Interpretation zu bevorzugen ist: Die tragenden Überzeugungen Martis beruhen auf liberalen, individualitätsbezogenen, existentialistischen und religionskritischen Ansichten, deren Grenzen von Marti mit Hilfe einer eigenwilligen Funktionalisierung von äußerlich von Barth übernommenen Sätzen der Eschatologie aufgezeigt und die so für die ideologiekritische Situation der Nachkriegszeit modernisiert werden. Diese eigenwillige religiöse Modernisierung betrifft auch Martis Literaturverständnis, das gerade nicht zur unbefangenen Wahrnehmung einer autonomen modernen Dichtung hinführt.3 3 Vgl. insbesondere das Werk Elsbeth Pulvers zu Marti. Als Beleg bei Marti selbst z. B.: »Ich schreibe engagierte Lyrik eher widerwillig, nur unter dem Druck von Zuständen und Verhältnissen, die mich empören. Im Grunde träume ich vom absoluten Gedicht, von der ›poésie pure‹.« Kurt Marti, Woher? Wohin?, S. 78. Hier markiert Marti im Zusammenhang der Äußerung allerdings seinen Unterschied zu Dorothee Sölle. Mit seinem absoluten Gedicht ist in diesem Zusammenhang nicht so sehr die freie selbstbezügliche Poesie gemeint, sondern die Sprache einer vorweggenommenen Eschatologie, von der aus die Gesellschaftskritik an der Gegenwart legitimiert wird. Sölle legt hier eine andere Begründung von kritischer (christlicher Gegenwarts-) Kunst vor, indem sie den Bultmann’schen Glaubensbegriff sozial und geschichtlich (handlungstheoretisch) erweitert und in dieser Erweiterung zu einem allgemeinen anthropologischen Grunddatum erklärt. (Vgl. Dorothee Sölle: Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann. Stuttgart 1971, sowie dies.: Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung. Darmstadt / Neuwied 1973.) Marti stellt sich an vielen Stellen seines Werkes gerade gegen ein rein kunstimmanentes Kunstverständnis und hält dies nicht nur für eine Flucht aus der Gegenwart, sondern auch für ein prinzipielles Abgeschlossensein gegenüber dem göttlichen Ziel der Welt (oder aber ein Missverständnis). Vgl.: »Unrecht haben aber jene Lyriker, die dieses Spiel mit dem Möglichen nur als Kunst um der Kunst willen betrieben haben wollen.« Kurt Marti: Wie entsteht eine Predigt? Wie entsteht ein Gedicht? [1968] In: ders.: Grenzverkehr. Ein Christ im Umgang mit Kultur, Literatur und Kunst. Neukirchen-Vluyn 1976, S. 54-73, S. 72. Vgl. Elisabeth Grözinger: Dichtung in der Predigtvorbereitung. Zur homiletischen Rezeption literarischer Texte – dargestellt am Beispiel der »Predigtstudien« (1968-1984) unter besonderer Berücksichtigung von Bertolt Brecht, Max Frisch und Kurt Marti. Frankfurt a. M. 1992, die die zu Beginn dieser Anmerkung zitierte Aussage Martis benutzt, um ihn von gesellschaftskritischer Literatur abzugrenzen (s. dort, S. 285) – um dann aber gerade das ethische Engagement Martis zu betonen, das schließlich in die »Tendenz zur Rebellion gegen alle Diktate nur übernommener Konvention« (ebd., S. 287) eingeordnet wird. Diese Rebellion kann man aber sowohl ästhetisch als auch theologisch oder politisch verstehen. So zeigt sich das zentrale Problem der Marti-Interpretation, einmal zu überlegen, wie das Verhältnis dieser drei Felder nun genau aussieht und worin es letztlich begründet ist.

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Die frühen theoretischen Texte Martis beschäftigen sich mit kunstund literaturtheologischen Themen im Rahmen von geschichts- und kulturphilosophischen Grundannahmen. Marti hat in seinen Selbstkommentierungen den Anspruch dieser Überlegungen immer nur als beiläufig beurteilt und hinter die unmittelbare Textproduktion in Dichtung und Predigt zurückgestellt.4 Gleichwohl machen – so sei hier behauptet – diese Gedanken einen zentralen Teil seiner theologischen Gesamtanschauung aus. Aus ihnen sind theoretische Zusammenhänge zu gewinnen, die das schwierige Verhältnis von Kunst und Religion in seinen Texten klären helfen.

Einführung: Zur Literaturtheologie Martis5 Kunst- und Literaturtheologie lebt zentral von der Übernahme des kritischen Gestus gegenüber der christlichen Kultur, der christlichen Literatur und christlichen Dichtung. Marti hat sich für die Berechtigung dieser Kritik immer wieder auf Elisabeth Langgässer und ihre theoretischen Äußerungen bezogen und die neue Weise ›christlicher‹ Literatur in der Strömung der katholischen Erneuerung (renouveau catholique) für vorbildlich erklärt. Insbesondere die (protestantische) christliche Dichtung gelehrt-antiquierter Form, die sich bewusst gegen die moderne Welt abschottet wie bei Rudolf Alexander Schröder, sieht Marti als unmodern an.6 Sie ist immer nur in der Kirche verständlich und hat

4 Besonders prominent in dem Vorwort zur Aufsatzsammlung Grenzverkehr von 1976: »Die Theorie des Kunstwerks manifestiert sich in der Praxis. Metakünstlerische Theoriebildung dagegen missrät allzubald zur Ideologie, die Kreativität und Produktivität eher verbaut als fördert.« Marti, Grenzverkehr, S. 5. 5 Einen Überblick über Leben, Werk und Sekundärliteratur vermittelt etwa der Eintrag »Kurt Marti« in: Munzinger Online / Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, www.munzinger.de/document/16000000380 (2. 2. 2015). Vgl. Kurt Marti: Texte, Daten, Bilder. Hg. v. Christof Mauch. Frankfurt a. M. 1991. 6 Solche Kultur wurde auch publizistisch hochgehalten durch Zeitschriften wie den Eckart: nationalistisch (bis 1933), fromm, konservativ und ästhetisch aus dem 19. Jahrhundert stammend, findet sich hier ein reiches Anschauungsmaterial für das, was Marti auf keinen Fall wollte, mit Autoren wie Carossa, Kolbenheyer, Wiechert, Goes, dem Katholiken Bergengruen, aber auch heute kaum noch bekannten wie Ruth Schaumann, Siegbert Stehmann u. a. Vgl. Rudolf Stöver: Protestantische Kultur zwischen Kaiserreich und Stalingrad, Porträt der Zeitschrift Eckart 1906-1943. München 1982.

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der Welt nichts zu sagen. Gerade darauf aber, den allgemeinen Anspruch des christlichen Glaubens in der modernen Welt kommunizierbar zu machen, muss es christliche Dichtung anlegen. Daran ist bereits zu sehen, dass die Probleme, die Marti bewegen, anders gelagert sind als in der Generation des Kampfes gegen den Nationalsozialismus. Zwar rezipiert Marti gerade die barthianische christologisch-eschatologische Theologie einer generellen Entgegensetzung Gottes gegen die Mächte der Welt, wie sie z. B. in der Barmer Theologischen Erklärung zum Ausdruck gebracht worden ist.7 Aber es geht nicht mehr um die Konstruktion und Konstitution der theologischen Gegenwelt (diese wird vielmehr als Tatsache vorausgesetzt), sondern um die Funktion dieser Gegenwelt für die Kultur. Genau für dieses Problem aber finden die Dichter, die wie Schröder (mit Marti gesprochen) aus der Welt in die Kirche kommen (sich also zur Welt hin abschotten), keine Lösung. Für Marti gilt es dagegen, aus der Kirche in die Welt zu gehen, also von der Voraussetzung des Evangeliums und seiner Botschaft aus die Welt und die Wirklichkeit zu deuten. Nicht die christliche Fassade der Literatur ist damit das Entscheidende, sondern die Fähigkeit des Dichters, das in der Religion Gemeinte für die moderne Welt allgemeingültig auszusagen. So weit gibt Marti Langgässer recht, gleichwohl verschärft er ihre Sicht der christlichen Literatur entscheidend.8 Langgässer ging davon aus, dass die Modernität der christlichen Botschaft in ihrer anthropologischen Allgemeingültigkeit liege. Insofern wird der Kern der christlichen Sicht auf den Menschen, der in dem Komplex von Sünde, Sündenerfahrung und Heilsverlangen besteht, nicht entmythologisiert. Bei Marti wird aber mit Bonhoeffer die Profanität der Welt zum entscheidenden Durchgangspunkt der theologischen Deutung der Literatur. Literatur ist Ausdruck menschlicher Kreativität. Diese ist Schöpfungsgabe an den Menschen, also von Gott gewollt und in diesem Wollen durch die Inkarnation Christi letztgültig bestätigt. Literatur als Ganzes hat deshalb keine unmittelbar religiöse Funktion. Damit wird der Allgemeingültigkeit von Religion im

7 »Es geht um die Bezeugung der Tatsache, daß auch die Macht der Dichtung einbezogen ist in die eschatologische Herrschaft Jesu Christi über alle ›Gewalten und Mächte‹.« Kurt Marti: Singet dem Herrn ein neues Lied. Christliche Dichtung und ihre Kritik [1953]. In: ders.: Grenzverkehr, S. 131-141, S. 141. 8 Diese Unterscheidung, die Marti in seinen Texten aufrechterhält, hat Paul Konrad Kurz in der Darstellung von Martis Abneigung gegen die Tradition nivelliert. Vgl. z. B. ders.: Ohne die Akustik der Kirche. Barfüßige Sprechtexte vor dem Hintergrund ›Christliche Literatur‹. In: Kurt Marti: Texte, Daten, Bilder. Hg. v. Christof Mauch. Frankfurt a. M. 1991, S. 148-161.

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Menschen, wie sie Langgässers Reformulierung der christlichen Literatur beherrscht, literaturtheologisch strikt widersprochen. Es ist nicht die Aufgabe der Literatur, eine hinter der Fassade liegende Religiosität des Menschen, seine religiöse Innerlichkeit anzusprechen, sie aufzudecken oder zu bedienen. Literatur ist frei für weltliche Aufgaben. Allerdings fordert Marti nicht den Verzicht auf die Ebene der hinter der Fassade liegenden ›Eigentlichkeit‹. Vielmehr liegt der Fortgang darin, dass diese Eigentlichkeitsebene der Literatur anthropologisch zugestanden wird. Alle Kunst ist in einer Weise ›gemeint‹, die aus den Inhalten nicht unmittelbar zu erschließen ist. Diese anthropologisch allgemeine Ebene der Literatur besteht bei Marti in der unaufgebbaren Suche nach Freiheit und Kreativität des Einzelnen. Diese Freiheit und Kreativität lässt sich autonom-psychologisch auffassen, dazu bedarf es nicht christlicher Vokabeln wie Sünde oder Gnade. Hier bleibt Marti auf den französischen Existentialismus und seine Beanspruchung der Freiheit des Menschen bezogen. Die Verschärfung, die Marti nun der Langgässer’schen Konzeption (spät-)barthianisch verschafft, besteht in der theologischen Aufrichtung einer unabhängig von der menschlichen Selbstdeutung existenten Deutungsebene hinter der anthropologischen Suche nach Freiheit. Diese Deutungsebene liegt in der theologisch (nicht: religiös) notwendigen Behauptung der Setzung der Freiheit durch Gott im Akt der Inkarnation im Gekreuzigten. Mit dieser Inkarnation offenbart Gott seine eschatologische Macht über die Welt in einer bestimmten – nämlich gerade allgemein unerkennbaren – Weise. Zwar wird der Mensch dieser endgültigen Durchsetzung Gottes nicht entkommen. Aber sie ist im Kontext der Welt begrenzt durch die Hingabe Gottes an das Kreuz. Darin liegt die Anerkennung der Freiheit des Menschen. Die Freiheit wird damit zugleich zugestanden und begründet, aber auch theologisch eingefangen und gedeutet. Diese Setzung wird bei Marti weder begründet noch bezweifelt. Sie ist der bildliche Ausgangspunkt einer Literaturtheologie, die selbst inhaltlich der Frage nachgeht, wie von diesem Ausgangspunkt aus die Pluralität der menschlich-kulturellen Deutungsmöglichkeiten in der modernen Welt verstanden werden kann. Damit zeigt sich, dass die religions- und ideologiekritische Anlage der neuen (christlichen) Literatur verallgemeinert wird und tillichsche Züge der bis zum Ende durchzuführenden Dogmen- und Inhaltskritik annimmt.9 Dies kann aber nur deshalb geschehen, weil die theologi-

9 Georg Langenhorst: Theologie und Literatur. Ein Handbuch. Darmstadt 2005, S. 26, stellt deshalb Martis Ansatz mit dem 1961 erschienenen Buch Poiesis

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sche Grundvoraussetzung von Gottes endgültiger Bestimmung der Geschichte der Welt bereits feststeht. Zu fragen ist, wie Marti auf der Grundlage dieser Konstruktion eines eigenen Drei-Ebenen-Modells (traditionelle christlich-religiöse Fassade und Oberfläche – dahinterliegende Profanität der Kultur im Sinne der Freiheit – theologische Deutung dieser profanen Welt als umfangen von Gott als Schöpfer und als Ziel) die untergründige Beziehung des Schöpfergottes zu der literarischen und künstlerischen Tätigkeit des Menschen sieht. Dabei kommt es hier nicht auf eine inhaltliche Kritik der theologisch gemachten Voraussetzung an. Vielmehr wird das Machen der Voraussetzung als eine strukturelle Entscheidung der Theologie behandelt und funktional analysiert. Martis Ausführungen zur Zärtlichkeit Gottes und seiner Liebe sind keine inhaltlich zu verhandelnden Neubestimmungen der Gotteslehre, sondern funktionale Ergebnisse einer Konstruktion, die die Allgemeingültigkeit moderner Profanität der Welt mit der theologischen Behauptung der endgültigen Bestimmungsmacht Gottes über die Geschichte in Form einer untergründigen entwicklungsgeschichtlichen Tendenztheorie verbindet, aber zugleich auf der inhaltlichen Nichtnachweisbarkeit dieser Tendenz beharrt. Zärtlichkeit ist der Ausdruck für eine kosmologisch-eschatologische Durchsetzung Gottes, die unabweisbar ist, aber in der Gegenwart (noch) Raum für menschliche selbstbestimmte Freiheit lässt. Zugleich gibt es auf der theologischen Deutungsebene wiederum keinen Zweifel daran, dass auch dieser Freiraum letztlich (eschatologisch) der sich durchsetzenden Macht Gottes untersteht. Zärtlichkeit kann deshalb verstanden werden als die besondere Weise der Realisierung der Allmacht Gottes, die in der Gegenwart als Zulassung der Freiheit des Menschen geschieht und diese Zulassung zugleich will und (christologisch) begründet.

(Poiesis. Theologische Untersuchung der Kunst, Stuttgart 1961) von HansEckehard Bahr zusammen. Bahr verweist dort, S. 245, auf Martis Aufsätze von 1958. Vgl. ebenso Albrecht Grözinger: Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der Praktischen Theologie. München 1987, S. 85.

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Grundlegung I: Hermeneutik und Eschatologie Der theologische Ausgangspunkt der kosmologischen Eschatologie liegt bereits vor in Martis frühesten theologischen Stellungnahmen aus den Jahren 1952 und 1953. Zugleich ist aber hier auch der existentialistische Ausgangspunkt von Martis Denken erkennbar, die Bindung der Weltbewältigung an das Selbstverständnis des Einzelnen. Marti hat über das dahinterstehende liberale Verständnis des Glaubens, nach welchem Glauben eine Fähigkeit des oder ein Geschenk an den Einzelnen ist, niemals Auskunft gegeben, ebenso wenig wie er je einen allgemeinen Religionsbegriff definiert hat. Deshalb kann dieser nur aus den Konsequenzen dieser doppelten Voraussetzung für die Wahrnehmung der Welt in der Kultur und Kunst des Menschen herausgearbeitet werden.

Der Beginn der eschatologischen Literaturkritik – die Suche nach einer Kommunikation der Eigentlichkeit Die Grundannahme besteht in einer kritischen Generalthese, die zugleich existentialistisch und gegenwartsdiagnostisch gewendet ist: Seit dem Sündenfall gelingt menschliche Kommunikation nicht mehr richtig, weil sie (mit der augustinischen Zeichentheorie gedeutet) unmittelbare Wirklichkeit und unmittelbares Erleben auf dem Umweg über sprachliche Symbole verschlüsselt und deshalb keine unmittelbare Teilhabe an dem Gemeinten eröffnet. Diese Kritik sieht Marti theologisch bereits artikuliert in dem Gegenentwurf gegen diese misslingende Kommunikation, nämlich Lavaters Bild der Himmelssprache.10 Doch in der Gegenwart erfüllt die moderne Kunst die gleiche Funktion, auf die existentiale Unerfülltheit einer Kommunikation hinzuweisen, die ihre Stärken in der Sachbeziehung der Sprache und insofern in einer naturwissenschaftlich-technizistischen Weltbeherrschung hat. Denn Sprache ist ihrem eigentlichen Wesen nach nicht Mitteilung, sondern Ausdruck11 und Unmittelbarkeit – ein Wissen, das in der Gegenwartskunst überlebt.

10 Kurt Marti, Lavaters Himmelssprache [1952]. In: ders., Grenzverkehr, S. 108115. 11 Marti träumt von »unbegrenzten Ausdrucksmöglichkeiten« (ebd., S. 113) einer Sprache der Unmittelbarkeit, die den gegenwärtig nur möglichen »Zuruf […] von einer Einsamkeit in die andere« (ebd., S. 114) überwindet.

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Damit hat die Kunst heute die notwendige allgemeine Funktion einer Kritik an der verfehlten Kommunikation der Menschen. Indem sie dies tut, weist die Kunst den Menschen auf die sündenbesetzte Situation der Gegenwart hin (in der Kommunikation eben nicht unmittelbar, sondern auf dem Umweg über ›Inhalte‹ erfolgt). Sie erfüllt damit eine christlichtheologische Funktion, von der sie nicht unbedingt etwas wissen muss. Denn diese Funktion repräsentiert eine untergründige Tendenz der Schöpfung, nämlich dass ihre ursprüngliche gute Intention von Gott am Ende der (menschlichen Sünden-)Geschichte wiederhergestellt wird. Diese Tendenz offenbart sich zugleich in einer »allgemein-menschlichen Sehnsucht«,12 die dann insbesondere in der freien Kunst der Gegenwart als »heimliche[s] [!] Fernziel aller künstlerischen Ausdrucksbemühungen«13 zutage tritt. Die gegenwartsbezogene Ideologiekritik eint christlichen Glauben und gegenwärtige Kunst und ist das gedanklich verbindende, allgemeingültige Element. Sie ist damit die »aller Kunst immanente Tendenz«14 hin zur erneuerten Schöpfung. Die Differenz besteht dabei hier noch darin, dass diese Tendenz von ›normalen Menschen‹ für unerfüllbar gehalten wird, während Christen aufgrund der vorlaufenden Offenbarung Gottes in Christus um ihre tatsächliche Realisierung wissen. Hier scheint mir noch eine vorsichtige Inanspruchnahme der Eschatologie für eine human einsichtige allgemeine Kommunikationskritik vorzuliegen, die (auch) auf ihre liberale geschichtstheologische sowie existentialhermeneutische Deutung zurückgeführt werden kann. Es geht um eine religiöse Deutbarkeit auch der nichtchristlichen Kunst der Gegenwart und insofern um eine allgemeingültige Ausweitung des Religionsbegriffs. Diese Ausweitung erfolgt über die Idee einer allgemeinen Bestimmung des Menschen, für die die christliche Schilderung der Lage zwischen Sündenfall und himmlischem Reich nur ein Bild ist. Allerdings findet sich auch hier schon grundsätzliche Kritik an einer rein funktionalen Bedeutung des Bildes. Denn es gibt nicht, wie in der Reich-Gottes-Vorstellung des 19. Jahrhunderts, eine direkte Verbindung zwischen der Geschichte der Welt und dem Einbruch des himmlischen Reichs.15 Insofern handelt es sich bei der Eschatologie auch um eine

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Ebd., S. 114. Ebd. Ebd. S. 115. Marti schränkt ein, die dadaistische Literatur sei »sicher eine satanische Karikatur, eine frevelhafte Vorwegnahme der endzeitlichen Sprache« (ebd., S. 109).

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Kritik an allen irdischen ›Tendenzen‹ und geschichtlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Welt. Diese Differenz wird sich in der Folgezeit verschärfen und das harmonisch-funktionale Bild der Allgemeingültigkeit der menschlichen Sehnsucht nach dem Reich Gottes (als religiöser Grundtatsache) aufspalten.

Die kritisch-eschatologische Tendenz der Kunst Welche christliche Dichtung ist unter der eschatologischen Aufwertung der modernen Kunst möglich? Dieser Frage geht ein Beitrag von 1953 nach.16 Die Kritik an der konventionellen Oberfläche christlicher Dichtung wird eschatologisch gerechtfertigt: Christliche Dichtung im klassischen Sinn will bestimmte religiöse Inhalte und Sprachbilder als Repräsentanten des Ewigen festschreiben. Dagegen wird die allgemein notwendige Ideologiekritik aufgeboten: Solche veränderungsfesten (kulturellen) Gehalte gibt es nicht. Damit wird die Kritik an der christlichen Dichtung protestantischer Autoren der Nachkriegszeit weitergeführt. Das führt auf eine selbstkritische Form von Gegenwartsbezogenheit. Christliche Dichtung ist gleichsam Aktionskunst, die auf die Veränderungsnotwendigkeit der Welt hinweist. Kritisch sieht Marti hier (noch) die Orientierung der christlichen Kunst an den Hörgewohnheiten der Gemeinde. Dagegen wird die Phantasie des einzelnen christlichen Dichters gestellt, der sich von der Tradition »resolut frei macht«.17 Die Gemeinde als ideale Größe ist die Gemeinschaft derer, die ihre Freiheit von Konvention und Tradition als Offenheit für das eschatologische Reich üben. Marti stimmt referierend in die linke Kritik an der ›Lüge des Normalen‹, an der »Selbstbestätigung und Selbstberuhigung [des Publikums] im Schlager«18 ein und erweitert sie um die theologische Kritik an der Erbaulichkeit christlicher Literatur. »[E]schatologische Ausrichtung«19 wird damit zu einem Schlagwort, das die ideologische Kritik an allen traditionellen und kulturellen Gehalten einerseits und die grundsätzliche theologische Kritik an der Welt überhaupt überwölbt und zusammenhält. Die Christen müssen sich (auch) »in Dingen der Kunst und Literatur« »als Boten des kommenden Reiches«20 verstehen und können deswegen die Modernisierungen der

16 17 18 19 20

Marti, Singet dem Herrn ein neues Lied. Ebd., S. 140. Ebd., S. 137. Ebd., S. 136. Ebd., S. 133.

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Kunst als Hinweise auf dieses Kommende verstehen, während die Nichtchristen die Erneuerung und Modernisierung der Kunst nur um ihrer selbst willen betreiben. Denn »der christliche Dichter« soll »die Relativität unseres Aeons und damit die Bewegungen der Zeit mitvollziehen und in diesem Mitvollzug das bezeugen, wofür der Nichtchrist blind ist [!], nämlich daß diese Welt vergeht mit ihrer Lust und Literatur, mit ihren Traditionen und Modernitäten, weil der Herr kommt«.21 Letztlich läuft diese Parallelisierung darauf hinaus, die christliche Dichtung äußerlich an die moderne Poesie anzupassen, ihr aber einen theologischen Hintersinn anzudichten, der den modernen Autoren normaler ›weltlicher‹ Gesinnung abgesprochen wird und der sich an den funktionalen Aspekt der Kritik an aller traditionellen Inhaltlichkeit anhängt. Moderne Dichtung dient also unbewusst der Tendenz der Welt auf ihre Bestimmung hin, und die Christlichkeit der Dichtung ist nicht inhaltlich als solche kenntlich, sondern liegt in der theologischen Bewusstheit über ihre Funktion für das Reich Gottes.22 Es ist aber kritisch zu fragen, ob und wie diese Bewusstheit selbst zum Ausdruck kommen soll und wer sie als das eigentlich ›Gemeinte‹ der Kunst konstruiert. Die behauptete Differenz zwischen der theologischen Deutung und der normalen dichterischen Unbewusstheit steht damit der anderen Behauptung einer schöpfungstheologischen Sachtendenz der Welt entgegen, die die Wirklichkeit mit der christlichen Sicht der Dinge verbindet. Allerdings zeichnet sich hier bereits ab, dass Marti die Differenz von nun an immer höher bewerten wird. Literatur, so die Forderung, sei (unter dem kritischen theologischen Aspekt) einzubeziehen in den »Zusammenhang […] mit den ›Mächten und Gewalten‹, die diesen Kosmos regieren«.23 Denn, das ergibt sich aus der kritischen Nachfrage, Kunst ist inhaltlich gesehen ein Produkt des Menschen. Insofern gehört sie zur

21 Ebd., S. 135 f. 22 Georg Langenhorst hat Martis Ansatz deshalb als rezeptionsästhetisch gekennzeichnet, ihn damit aber zu sehr modernisiert. (Vgl. ders., Theologie und Literatur, S. 27: »›Christlichkeit‹ wird hier also nicht zum produktionsästhetischen Kriterium, vielmehr zum Phänomen der Rezeptionsästhetik.«) Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass Marti die theologische Deutung der Kunst nur deshalb für möglich hält, weil er sie für sachangemessen hält. Nur für das theologiegeschichtliche Verstehen der Position Martis ist der Schritt zur Durchsichtigmachung der theologischen Setzung bzw. Voraus-Setzung der Sache notwendig. Kunst ist Teil der Schöpfung – der Schöpfungsgedanke ist aber selbst ein Deutungselement der Theologie und damit des theologischen Verständnisses der Kunst. 23 Marti, Singet dem Herrn ein neues Lied, S. 141.

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Welt. Zugleich aber ist sie theologisch zu deuten als Ort einer Tendenz hin zur Erfüllung der Welt. Marti lässt beides unverbunden nebeneinander stehen, weil er die Verbindung von theologischer Deutung und allgemeiner Kunsttheorie nicht zulassen will. Er kann sie nicht zulassen gerade wegen der behaupteten Allgemeingültigkeit der Tendenz. Das Wissenkönnen darf nicht reflexiv an die Kunst zurückgegeben werden, weil es sonst (neben der Frage, woran diese Reflexivität in der Kunst zu sehen wäre) zu einer Aufteilung in religiöse Kunst und normale Kunst kommen würde bzw. die reflexive religiöse Kunst zugleich als Ziel und Spitze der Kunst allgemein angesehen werden müsste. Gerade diesen letzten Machtsanpruch aber will Marti zugunsten einer Teilhabe des christlichen Dichters an der allgemeinen Dichtung vermeiden. Und deshalb verlegt er ihn auf die Ebene der theologischen Deutung.

Die christologische Verschärfung der eschatologischen Literaturkritik in der grundsätzlichen Anerkennung der Profanität der Kunst In zwei Beiträgen aus dem Jahr 1958 lässt sich verfolgen, wie Marti die Kritik an der konventionellen christlichen Kunst verschärft und mit Hilfe grundsätzlicher Gegenstandskritik jede weitere christliche Kunst für unmöglich erklärt. Die eschatologische Ausrichtung, die vorher der christlichen Kunst noch zugeordnet war (ohne dass hier genauere Auskunft gegeben wurde), wird nun selbst für ein in der Kunst grundsätzlich nicht erkennbares Merkmal gehalten. Die Idee christlicher Dichtung im ›traditionellen‹ Sinn wird damit aufgehoben. Nicht nur die überlieferte Kunst des Abendlandes und der deutschen Dichtung, die auf einer kulturellen Christlichkeit beruhte, sondern auch die Entwicklung einer eigentlichen ›christlichen‹ Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert, die gegen die profane Kunst gerichtet ist, wird von Marti theologisch kritisiert. Marti nimmt damit die Kritik an den Inhalten der Religion, wie sie in der liberalen Theologie geübt und von Tillich verschärft und kulturtheologisch zugespitzt wurde, in einer eigenen Weise auf und überträgt sie auf die Literatur. Diese theologische Kritik funktioniert wieder auf dem Hintergrund einer verschärften Kritik an der Kultur überhaupt. Jede Anknüpfung an die Tradition nämlich verstärkt in der Gegenwart die Tendenz der ›normalen‹ Gebrauchskultur, die lebendige Innerlichkeit zu verdecken und stattdessen eine Oberfläche der Funktionalität, der materiellen und (psycho-)hygienischen Verzweckung und der ideologischen Vernebelung der Warenförmigkeit der Welt aufzurichten. Die wahre kritische mo-

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derne Kunst24 kämpft gegen Tradition und Ideologie, indem sie sich von ihrer Geschichte abwendet und eine freie neue kreative Kunst schafft, die es ermöglicht, die Tendenzen der Gegenwart zu durchschauen. In dieser Funktion kommen (wahre) Kunst und (wahre) Religion zusammen – und müssen überhaupt erst entdeckt und verbreitet werden. Dazu dient sowohl die christliche Verkündigung als auch die kritische Kunst. Marti parallelisiert also die Kritikfunktion des wahren Gottesgedankens25 innerhalb der Religionsgeschichte mit der ideologiekritischen Funktion der modernen Kunst.26 Entscheidend ist aber die christologische Verbindung und Vertiefung beider Kritikfunktionen. Diese wird erreicht durch eine kulturhistorische Reflexion auf die Funktion der Eschatologie, die dann christologisch-inkarnationstheologisch begrifflich festgehalten wird. Marti nimmt die Diskussion um die Kulturbedeutung des Christentums auf. Bereits bei Troeltsch findet sich die kulturtheologische (Teil-)These, dass die apokalyptische Eschatologie im Urchristentum ein positives Verhältnis zur Welt verhindert habe. In den

24 Marti findet zu der theologischen These in Form einer kunstkritischen Erläuterung der Bedeutung des Werks von Max Bill und seiner Forderung nach Produktion von »Gegenständen für den geistigen Gebrauch«, vgl. Kurt Marti: Das zweite Gebot und die konkrete Kunst [1958]. In: ders.: Grenzverkehr, S. 173-177, S. 174. 25 Mit einer fast tillichsch anmutenden Formulierung: »Gott ist lebendig. Als lebendiger transzendiert er grundsätzlich alle Vergegenständlichungen.« (Ebd., S. 173.) Oder an anderer Stelle: »Das Leben ist reicher als jede Lehre! […] Gott ist größer als jede objektivierende Formulierung des Glaubens.« (Marti, Woher? Wohin?, S. 66) Dieses Zitat und sein Kontext zeigen, dass bei Marti die grundsätzliche Kritik am Begriff von Gott nicht wie bei Barth selbst in einem neukantianischen Konstitutionsproblemhorizont von religiösem Bewusstsein steht, sondern (insofern eher klassisch liberal geprägt) in dem einer Individualisierung und Verinnerlichung von ›Glauben‹. Marti hat insofern darauf hingewiesen, als er seine Objektivitätskritik selbst in den Kontext seiner frühen Freud-Lektüre stellt – hier geschieht die Kritik an der rationalen Oberfläche der Deutung im Interesse einer unbewussten individuellen Tiefenschicht. Auch die Fortsetzung des gerade gegebenen Zitats macht dies deutlich: »[Gott] ist gleichsam das unendliche Ich (›Ich bin, der ich bin‹), dessen Entsprechung das endliche Ich mit all seinen Gedanken, Erfahrungen, Gefühlen, Wünschen, Träumen ist.« (Ebd.) Barth sieht die Exodusgeschichte gerade als Gottes Erschließungsgeschehen für den Menschen, nicht als Analogieerweis hinsichtlich des individuellen Seins. 26 »Wie das biblische Bilderverbot das lebendig-geistige Verhältnis des Einzelnen zu Gott, so will die moderne Kunst das lebendig-geistige Verhältnis des Einzelnen zu seiner Mitwelt anregen.« Marti, Das zweite Gebot und die konkrete Kunst, S. 174.

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1940er- und 1950er-Jahren ist im Anschluss an Albert Schweitzers Betonung der urchristlichen Eschatologie die Funktion der nachlassenden apokalyptischen Naherwartung für die Aufrichtung einer christlichen Kultur beschrieben worden, insbesondere durch den Berner Theologen Martin Werner.27 Marti will (mit Barth gegen Werner) gegen diese Inkulturationsgeschichte und die daraus resultierende kulturprägende Funktion der Religion zurückkehren zur weltkritischen Eschatologie des Urchristentums. Denn hier sei Jesus Christus als das Ende jeder bildhaften Vergegenständlichung Gottes geglaubt worden.28 Kultur wird damit von Marti in der Christologie nicht inhaltlich-historisch verstanden, sondern als theologisches Bewusstsein dessen, was sie grundsätzlich in ihrer Freiheit ermöglicht. Christus ist in dieser Funktion nicht ein kultureller Gegenstand wie andere, sondern die Grundlage der Möglichkeit von Kultur überhaupt.29

27 Vgl. Martin Werner: Die Entstehung des christlichen Dogmas problemgeschichtlich dargestellt. Bern / Leipzig 1941. Vgl. zu Werner und den liberalen Traditionen der schweizerischen Theologie: Lucius Kratzert: Theologie zwischen Gesellschaft und Kirche. Zur nationalen Prägung von Gesellschaftslehren deutscher und schweizerischer Theologen im 20. Jahrhundert. Zürich 2013. Bei der Kritik Martis an der kulturgeschichtlichen Verwendung der Eschatologie handelt es sich um den Kern von Martis ›Barthianismus‹: Die existentielle Innerlichkeit des Subjekts ist kulturell nicht bestimm- oder verrechenbar, und genau diese Idee wird durch die grundsätzliche Kritik vom Eschaton her theologisch verdeutlicht. Die Oberfläche der Kultur (-geschichte), auf der Werner argumentiert, wird mit der Suche nach dem wahren Kern der Religion kritisiert. Damit wird allerdings Barths eschatologische Theologie inhaltskritisch gelesen, und nicht als Begründungsebene einer handlungsstrukturtheoretischen Theologie. Die neukantianischbewusstseinstheoretischen (begründungsbezogenen) Funktionen der Theologie Barths fallen damit aus und werden schöpfungstheologisch-weltlich objektiviert. 28 Marti nimmt die Debatte uminterpretierend auf: »Wir tun das, indem wir aus den bisherigen Ausführungen eine positive Schlussfolgerung ziehen und sagen: Die Kunstindifferenz des Neuen Testaments ist nicht eine Peinlichkeit, die zu entschuldigen, oder ein Mangel, der nachträglich zu beheben ist, sie ist überhaupt kein Negativum, keine Not, im Gegenteil, sie ist eine Befreiung – die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität.« Kurt Marti: Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität [1958]. In: ders.: Grenzverkehr, S. 178-184, S. 182. 29 Später hat Marti auch diesen Gegensatz herausgestellt und die Christologie als Hauptmotor der kolonialen Weltherrschaft des Abendlandes kritisiert. Dann muss die Begründung der Möglichkeit der Kultur wieder über andere Darstellungsmittel (Geist, Trinität, kirchliche Gemeinschaft etc.) funktionie-

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Deshalb, so lässt sich schließen, ist in Jesus Christus das Ende der durch die Sünde hervorgerufenen Gegenstandskommunikation der Menschen anzuschauen. Die christliche Kritik an der Gegenständlichkeit religiöser Vorstellungen wird generalisiert und zur Kritik aller möglichen Kultur überhaupt gemacht. Jede Kultur und Kunst hat (unter den Bedingungen des Sündenfalls bzw. unter der Struktur zeichenhafter Kommunikation) die Tendenz zur Vergegenständlichung des eigentlich Gemeinten, nämlich des unmittelbaren Mensch-zu-Mensch-Austauschs. Die Durchsichtigkeit der religiösen Kritikfunktion der Christologie vernichtet deshalb für Marti jetzt die Möglichkeit einer eigenen religiösen Kunst. Es gibt damit nach Christus (und Christus gelesen als Fortsetzung des Bilderverbots aus dem Alten Testament) keine ›christliche Kunst‹ mehr. Martis Kritik an der Tradition christlicher Kunst und an der protestantischen Dichtung der Gegenwart ist damit kulturtheoretisch prinzipiell geworden. Es handelt sich nicht nur um ein Anwendungsproblem einer sich säkularisierenden modernen Kultur, sondern um eine grundsätzliche Befreiung des Menschen zu sich selbst in jeder denkbaren Kultur. Ideologiekritik als Kritik an jeder Form der Gegenständlichkeit ist der notwendige Durchgangspunkt einer jeden wahren Kultur. Diese soll der je eigenen Menschwerdung (bzw. der Menschlichkeit) des Menschen dienen. Die Möglichkeit dazu wird in der Inkarnation geschaffen, weil hier die Oberfläche der Kultur ein für alle Mal durchbrochen, für unwichtig erklärt wird. Martis kunsttheoretische Funktionalisierung der Inkarnation (oder umgekehrt: seiner inkarnationstheologischen Heiligung der autonomen menschlichen Kultur) hat damit zwei gleich wichtige Ergebnisse: Zum einen hebt sie die Differenz von christlicher Kunst und Kunst überhaupt auf. Die Rede von einer in besonderer Weise christlichen Kunst oder Literatur ist sinnlos und unmöglich, weil sie immer nur über Inhalte erfolgen könnte, die es gerade ideologiekritisch abzubauen gilt. Zum anderen legt sie die (wahre) Kunst auf ihre grundsätzliche ideologiekritische Funktion fest. Wie zwischen Religion und Christentum, so lässt sich jetzt unterscheiden zwischen ideologischer Kunst, die den Markt und die oberflächlichen Bedürfnisse nach Zerstreuung und Unterhaltung bedient, und wahrer kritischer moderner Kunst, die auf Aufklärung und Kritik zielt.30

ren. Die inhaltliche Verschiebung der theologischen Aussageformen ändert aber nichts an ihrer Grundstruktur. 30 Marti übersetzt geradezu die eine Behauptung von der Profanität aller Kunst in die andere ihrer Kritikfunktion: »Kunst ist grundsätzlich ein ›weltlich

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Der Mensch bedient sich der Kunst, um seine eigene Befreiung auszudrücken. Es installiert sich damit aber der Rahmen einer theologischen Theorie um die Kultur, die diese Funktion der Kultur in sich zur Darstellung bringt. Und es konzentriert sich der Sinn der Kunst auf die individuelle Ausdrucksfähigkeit des Einzelnen. Phantasie, Kreativität und Spiel werden zum neuen Konstitutionsfaktor menschlicher Kommunikation. Ihr Maß ist die Hervorbringung von Neuem. Damit wird die Dauerkritik an allen bisherigen Ausdrucksformen zum immanenten Aufbauelement ›wahrer‹ Kunst.31 (Es zeigt sich damit, dass eine eigentliche autonome Ästhetik, die kunstimmanenten Betrachtungsformen und Gesetzen folgt, so nicht formuliert werden kann – aber auch gar nicht soll.) Und die gegenständliche Religionskritik des Barthianismus wird weitergeführt als eine Form kulturkritischer Repsychologisierung existentialistischer Innerlichkeit: Alle Inhalte und Gegenstände der Kultur sind Ausdrucksphänomene, Spiel- und Darstellungselemente der Kreativität des Einzelnen, mit welcher er sich zugleich von allen erlernten und ererbten Festlegungen befreit. Allerdings, und dies bleibt für die Weiterführung wichtig, beharrt Marti auf der Existenz einer Instanz, die diese Ausdrucksfunktion durchschaut und selbst gegenständlich-begrifflich-theoretisch weiß und formuliert. Dieses Wissen ist nämlich notwendig, um die Aufgabe des freien Ausdrucks zu bestimmen. Kritik geschieht nicht um ihrer selbst willen, sondern im Sinne einer Geschichte der Freiheit, einer zunehmenden Realisierung des Ziels von Gottes Schöpfung. Und gerade weil die Aufgabe unter irdischen Bedingungen nicht abschließend gelöst werden kann, bleibt sie als Aufgabe immer bestehen. Das Wissen um die Notwendigkeit dieser Aufgabe ist deshalb ein eschatologischtheologisches.32

Ding‹, ist grundsätzlich profan. Diese Tatsache kann nur bedauern, wer nicht sieht, was sie für unermeßliche Möglichkeiten enthält. Erst die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität bedeutet die prinzipielle Desavouierung jedes normativen Stils […].« Ebd., S. 184. 31 »Am Vorwurf, der gegen jede neue, überlieferte Gesetze stürzende Manifestation der Kunst erhoben wurde und wird, ihr sei nichts mehr ›heilig‹, ist etwas durchaus Richtiges […], denn die grundsätzliche Profanität der Künste führt notwendigerweise zum Sturz der immer neu sich etablierenden, illegitimen ›Heiligkeiten‹.« Ebd. 32 »›Gegenstände für den geistigen Gebrauch‹ werden deshalb Voraussetzungen jeder Produktion von ›Gegenständen für den praktischen Gebrauch‹ bleiben. Man erlaube wiederum einen biblischen Hinweis: Zu Gottes schaffender Weisheit gehört das Spiel …« Ebd., S. 177.

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Grundlegung II: Christologie und Ethik Martis großes literaturtheologisches Werk von 1963 steht auf der Grenze zwischen einer hermeneutischen Theologie der Sprache, die sich aus den eschatologischen und kulturtheologisch-säkularisierungstheoretischen Überlegungen der 1950er-Jahre ergibt, und einer gesellschaftskritischen ethischen Bewusstseinsarbeit, die die Aufgabe der Kunst seit den frühen 1960er-Jahren ist. Beides wird durch die Relativierung und Ausrichtung der Welt in der Eschatologie zusammengehalten. Wie dieses Zusammenhalten im Einzelnen theoretisch bewältigt wird, muss im Durchgang durch die Elemente – zwischen schöpfungstheologischen Allaussagen und glaubensbezogenen Realisierungen der Kritik – aufgezeigt werden.

Die individualistische Anwendung der christologischen Literaturkritik Zuvor sollen deshalb die kleineren Arbeiten aus den Jahren 1964 und 1965 herangezogen werden, in denen die ethische Umwendung der Kunsttheologie sichtbar wird, und zwar auf dem Hintergrund der dargestellten These von der grundsätzlichen Profanität der Kunst. Die ethische Wendung der Ideologiekritik geschieht auf dem Wege einer Analyse der Produktionsbedingungen von Kunst: Die individuelle Spontaneität und Kreativität, die die ideologisch verstellte Wirklichkeit durchbricht und zur auf Zukunft und Erneuerung gestellten Wirklichkeit hinleitet, soll durch die Ausdruckskommunikation allgemein werden, von allen nachvollzogen werden und so die neue Gesellschaft prägen.33 Marti vertieft die Unterscheidung zwischen der schlechten, oberflächlichen, Ideologie verfestigenden Kunst und der neuen, in die Tiefe der Existenz reichenden, Ideologie aufbrechenden und Zukunft eröffnenden ›wahren‹ Kunst. Damit wird die alte Funktion der Eschatologie direkt in die Kunsttheorie übernommen. Dies ist das Ergebnis der Auflösung der religiösen Kunst in die Kunst hinein. Oberflächliche Kunst, so wäre zu

33 »Das Publikum ist konkret immer in einer Gruppe von Individuen.« In: Kurt Marti: Schöpferisches Publikum? [1964]. In: ders.: Grenzverkehr, S. 24-27, S. 27.

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sagen, ist eigentlich gar keine ›richtige‹ Kunst, sie ist vielmehr höchstens Kunsthandwerk, das ideologischen Zwecken dient.34 Diese Unterscheidung verdeutlicht Marti in einer gegen Adornos Interpretation des Jazz gerichteten Verteidigung35 dieser Musikrichtung. Marti bestreitet dabei nicht den Adorno’schen Interpretationsansatz, vielmehr bestätigt er ihn gerade. Er bestreitet allein die Anwendbarkeit der Vorwürfe auf den Jazz und schlägt andere Referenten vor: Adornos ideologiekritische Kunstbetrachtung träfe in Wahrheit den Schlager, der zur Beruhigung der Massen und zur Affirmierung der von der politischen und ökonomischen Macht gesteuerten Interpretation der Wirklichkeit da sei. Der Jazz ist zu hören als »das Recht des einzelnen auf Selbstverwirklichung«,36 diese Selbstverwirklichung des Einzelnen ist aber nur möglich, indem er die Fassade der Tradition und der Gesellschaft durchbricht und seine wahren Wünsche und Träume ausagiert. Marti zitiert zustimmend Volker Braun: »Das ist die Musik der Zukunft: jeder ist ein Schöpfer!«37

34 Dies ist nicht Martis Verständnis von Kunsthandwerk – er plädiert gerade für eine angewandte Form der Kunst, die dem Leben des Menschen dient und von dieser dienenden Funktion aus ihre inhaltlich-ästhetisch-normative Festlegung bekämpft. Vgl. ebd., S. 184 mit S. 176. 35 Vgl. Kurt Marti: Das Geheimnis des Jazz [1965]. In: ders.: Grenzverkehr, S. 2833. Parallel geht es um eine Uminterpretation der Kunst von 1972, als Marti erotische Inhalte der Literatur (er hat hier das Werk des Amerikaners Henry Miller vor Augen) gegen den Vorwurf der Pornographie verteidigt: »Die Grenze zwischen Pornographie und erotischer Literatur ist nicht leicht zu ziehen. Als Pornographie würde ich eine Literatur mit Warencharakter bezeichnen, die die Sprache nur als Verpackungsmaterial und als lieblos behandelt. Man spekuliert darauf, daß sich der Inhalt von selbst verkauft, es deshalb auf die Sprache als Verpackung nicht ankommt. Anders die erotische Literatur: Weil sie ein erotisches Verhältnis des Autors zur Sprache verrät, suggeriert sie den Krämerdualismus von Verpackung und Inhalt nicht. Die Sprache ist die Sache.« Kurt Marti: Das erotische Verhältnis des Schriftstellers zur Sprache [1972]. In: ders.: Grenzverkehr, S. 42-53, S. 47. Ebenso: »Autoren, die ein sprachliches Verhältnis zur Erotik suchen, weil sie ein erotisches Verhältnis zur Sprache je schon haben, sind oft und müßten wohl immer sozial und politisch engagierte Autoren sein. Pornographen, wie wir sie definierten, sind in diesem Sinn nie engagiert. Sie repräsentieren das Bestehende und benutzen allenfalls politische oder soziale Motive, Moden, Vorwände genauso, wie sie auch Sexualität ›benutzen‹ und behandeln: als gewinnbringende Ware. Veränderung in Richtung erotischer Kultur ist der schlimmste Feind des Pornographen. Die erotische Kultur würde sein Geschäft zerstören.« Ebd., S. 49. 36 Marti, Das Geheimnis des Jazz, S. 33. 37 Ebd., S. 28.

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Marti verbindet damit die Aufnahme der allgemeinen Adorno’schen Ideologiekritik mit einer Rückbindung dieser Kritik an seine existentialistische Ausgangsposition. Das Individuum ist es, das zu sich selbst und zu seinem Schöpfertum befreit werden muss und kann. Die eschatologische Hoffnung realisiert sich so in der Kunst als Rebellion gegen die gesellschaftliche Oberfläche, aber diese Rebellion geschieht im Namen des Individuums, das zur kreativen Phantasie befreit und zum schöpferischen Ausdruck befähigt werden muss. Aus der existentialistischen Ausgangsposition, in der Kommunikation als Ruf aus den Einsamkeiten verstanden wurde, wird ein individualistischer Essentialismus, der das kreative Selbstbewusstsein des Einzelnen als Ausgangspunkt des sozialen, ästhetischen und theologischen Denkens setzt. Diese Grundfunktion individueller Selbstverwirklichung, die in der Kunst geübt wird, stellt Marti 1964 in einem kurzen Text vor. Von seinem eigenen Beruf als Schriftsteller aus wird Das Spiel des Schreibens zum zentralen kulturkonstitutiven (d. h. wahre kritische Kultur konstitutierenden) Moment des Bewusstseins. Es kommt dabei nicht auf die Anregung, nicht auf den Inhalt und nicht so sehr auf das Ergebnis an. Wichtig ist der Vorgang der Kritik, der durch das Anfangen mit dem Spiel des Schreibens in Gang gesetzt wird. Sprachbewusstsein ist nicht nur kritisches Bewusstsein (als Kritik an einem bestimmten Inhalt), sondern die Aufrichtung der Kritik als eines Dauervollzugs. Sprachliches Spiel ist das Spiel der Kritik an den Umständen, ist Vollzug von Freiheit als Grundlage der Persönlichkeit. So kann Marti darauf hinweisen, dass damit nicht nur kunsttheoretische, sondern »spielerische, erzieherische und in vieler Hinsicht anregende Möglichkeiten«38 angelegt sind. Der kritische Prozess der Dichtung, der die eschatologische Kritik an der Welt in sich aufgenommen hat, wird zum zentralen Konstitutionsmoment einer Freiheit realisierenden Kultur. Es sei darauf hingewiesen, dass die Funktion des Individuums als des eigentlichen begründenden Elements der Kritik an der Oberfläche der Kultur zwar deutlich ist. Aber wie dies genau gedacht werden soll, bleibt weitgehend unklar. Die Kreativität wird von Marti zu einer gegen ihre eigenen kulturellen Produkte kritischen Größe erklärt. Kreativität wird durchsichtig, indem der Einzelne kreativ tätig ist. Bildungsprozesse führen auf diese Kreativität im Innern des Einzelnen zurück. Die Notwendigkeit des Zusammenhangs dieser Kreativität mit den kulturellen Gehalten, an denen sie sich ausdrückt, wäre aber zu klären.

38 Kurt Marti: Das Spiel des Schreibens [1964]. In: ders., Grenzverkehr, S. 4041, S. 41.

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Und dann ergibt sich erst recht die Frage, wie von der Kreativität selbst als einem kritikfesten Punkt hinter den Inhalten geredet werden kann. Möglicherweise handelt es sich selbst um ein Konstrukt der modernen Kultur? Um einen ›Inhalt‹, dessen Bedienung zur Bestätigung der gesellschaftlichen Zwangsordnung dient? Entsprechend ist auch die Funktion des Aufrufs zur kreativen Innerlichkeit letztlich unklar. Wenn aufgerufen werden muss, ist sie nicht verwirklicht. Dann gibt es eine Instanz, von der her aufgerufen wird, ein Wissen um das tatsächliche Bestehen der Kreativität hinter der Verdeckung durch die Oberfläche. Oder aber die Kreativität wird als Grundlage für das Bestehen von kulturellen Inhalten überhaupt betrachtet. Dann müsste aber die Möglichkeit der Differenz zwischen falscher und wahrer Inhaltlichkeit erst eigens begründet werden, also eine Theorie des reflexiven Sündenfalls, bei dem Wort und Produktivkraft des Wortes auseinandergefallen sind. Sodann müsste wiederum ein theoretischer Ort benannt werden, von dem aus diese Situation des Sündenfalls prinzipiell erkannt werden kann, ohne dass dieser Ort selbst unter den Bedingungen der Verdeckung liegt. Marti hat diese Erkenntnisprobleme unter der Forderung nach einer Pädagogik der Kreativität verborgen. Hier beruft er sich auch nicht auf ein theologisches Deutungswissen. Umso mehr zeigt sich das Grundproblem seiner Theorie, von einem Ort der Erkenntnis aus zu sprechen, der einer selbstreflexiven Einordnung in den Inhalt der Theorie nicht zugänglich ist. Die Kulturtheorie, die auf der Kreativität des Einzelnen aufruht, jede wirkliche Kultur aber zunächst als ideologischen Verblendungszusammenhang betrachtet, kann als Postulat verstanden werden: Sie nimmt individuelle Kreativität als Faktum der Freiheit in Anspruch, ohne es ausweisen zu können. Deshalb wird die ethische Anwendung unsicher. Marti fordert eine Kultur, die auf die Befreiung des Einzelnen zielt. Der Anspruch dieser Forderung ist allgemein. Aber wer kann ihn erheben? Begründung und Einforderung der Kritik passen nicht zusammen. Marti geht in seiner Theorie von der eigenen Situation aus: Wie schreibt man christliche Dichtung in der Gegenwart, wenn man sich sowohl als moderner Künstler sieht und die freie autonome und abstrakte Kunst der Gegenwart gut findet als auch ein frommes Subjekt ist? Martis Gegenbild ist die zugleich sprachlich antiquierte wie theologisch konservative ›christliche Dichtung‹ Rudolf Alexander Schröders. Er sucht nach einer ihn selbst befriedigenden christlichen Kunsttheorie für die Gegenwart. Zu klären ist, warum die klassische christliche Dichtung in der Gegenwart nicht (mehr) funktioniert. Damit werden säkularisierungstheoretische Fragen aufgerufen, wie sie u. a. von Gogarten und Löwith

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verhandelt wurden. Einer der zentralen Kontexte, in denen diese Frage zur Sprache kam, war die Funktion der apokalyptischen urchristlichen Eschatologie für das Weltverhältnis des Christentums. Marti verbindet seine kosmologisch-religionskritische Aufnahme der barthianischen Eschatologie mit einer Revitalisierung ihrer neutestamentlichen kulturkritischen Funktion. Die Säkularisierungsproblematik kann so überführt werden in eine grundlegende Kulturtheologie. Die Inkarnationschristologie wird zum Ausdruck der vollständigen Auflösung der Religion in die kulturimmanenten Kritikmuster. Eschatologie ist damit die grundsätzliche Tendenz, sich von der kulturellen Oberfläche zu lösen und die dahinterstehende kreative Freiheit immer neu zum Ausdruck zu bringen. Damit schließlich wird die gesellschaftliche Kritik mit der ursprünglichen hermeneutischen Sprachtheorie zusammengeschlossen. Denn die Suche nach einer ausdrucksunmittelbaren und ursprünglichen Sprache, die die Individuen und die Wirklichkeit unverfälscht zusammenkommen lässt, wird über die Kunst- und Kulturkritik verallgemeinert und damit einem Ergebnis zugeführt, das die Freiheit des Individuums als Grundlage einer jeden zukünftigen menschlichen (wahren) Kultur behauptet. Zugleich besteht diese Freiheit in der Gegenwart nur im Modus ihrer Verdeckung.

Die ethische Verallgemeinerung der kritischen Kreativitätsforderung Damit kann die Zusammenfassung der theoretischen Situation, wie sie Martis ausführlicher Schrift über die moderne Literatur zugrunde liegt, abgeschlossen werden. Bevor an die Analyse dieser Schrift gegangen wird, soll noch ein Ausblick auf die Darstellungen von Kultur und Entfremdung aus den frühen 70er-Jahren unternommen werden. Es ist bereits gesagt worden, dass die hermeneutisch-säkularisierungstheoretische Frage nach der angemessenen modernegemäßen Formulierung des Christlichen in der Gegenwart einer grundsätzlichen ideologiekritischen Verdächtigung aller Kultur als Verdeckung des individuellen und kreativen Kerns der Persönlichkeit weicht. Weiter ist gezeigt worden, dass die Theologie für sich beansprucht, diese Verdeckung durchsichtig zu machen. Zugunsten der Allgemeinheit der ideologischen Vernebelungsbehauptung allerdings verzichtet Marti darauf, die Möglichkeit des theologischen Wissens selbst noch einmal vor dem skizzierten kulturtheoretischen Hintergrund zu begründen. Das führt notwendig dazu, dass die Differenz von wahr und falsch bzw. von

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Kreativität ermöglichend und Kreativität verdeckend zu einem relativ frei anwendbaren (theologischen) Instrumentarium wird, um Stellungnahmen zur Kultur zu produzieren. Alle kulturellen Phänomene können verstanden werden als oberflächenorientiert und dazu geschaffen, den wahren Austausch der Individuen zu verhindern. Andererseits können aber auch die(selben) kulturellen Phänomene in einer tiefenbezogenen Sicht gedeutet werden, die ihnen jenseits ihrer Oberfläche eine wahre Funktion hinsichtlich der Aufdeckung und des Bedienens von Kreativität und Freiheit zuspricht. So schränkt Marti 1974 seine eigene Entdeckung der Bildung des Einzelnen als Ort der Kreativität kritisch ein – auch Bildung kann benutzt werden, um die Menschen der Gegenwart in der Unmündigkeit zu fesseln und sie den Interessen der Systeme und der Mächtigen untertan zu machen.39 Es gibt sogar eine innere Selbstzensur, der der Einzelne damit unterzogen wird.40 Damit wird es noch notwendiger, die Bedingungen für die Aufdeckung dieser alles vereinnahmenden Oberfläche, die den Menschen auf Eindimensionalität reduziert, zu klären. Marti setzt dafür seine eigene Selbstklärung in der Literaturproduktion ein, die dann auf die Gesellschaft insgesamt zu übertragen wäre. Aber das kann nicht zweifelsfrei als geschehend behauptet werden. Denn z. B. auch die Theologie ist nicht uneingeschränkt der Ort, an dem nur ein aufklärender Bezug auf die Gegenwart zu finden wäre.41 Schon von Anfang an waren die traditionellen Ausdrucksweisen der Sprache des Glaubens ein Hauptgegner der neuen Authentizitätsforderung. Die kritische Form des Barthianismus mit seiner Religionskritik schien ein Garant für die theologisch mögliche Überwindung dieser antiquierten Rede. Aber jetzt

39 »Recht auf Bildung? Durchaus. Aber vermitteln unsere Schulen – insbesondere die ›höheren‹ – noch Bildung? Sie vermitteln Stoff, vermitteln Kenntnisse, stopfen den Kopf voll mit Dingen, die nicht mehr, schon gar nicht kritisch verarbeitet und verdaut werden können. Diese Methode macht nicht mündig, sondern erhält unmündig, macht nicht frei, sondern unfrei – u. a. auch im Umgang mit Literatur!« Kurt Marti: Schriftsteller und Demokratie [1974]. In: ders., Grenzverkehr, S. 37-39, S. 38 f. 40 »Und Selbstbestimmung wiederum setzt, soll sie gesellschaftlich produktiv werden, die Möglichkeit voraus, die eigenen (nicht nur materiellen) Bedürfnisse zu erkennen und zu äußern – ohne äußere und innere (Selbst-) Zensur.« Ebd., S. 39. 41 Eine der kritischsten Aussagen, die wiederum die Frage nach ihrer Möglichkeit auslöst: »Entfremdung ist somit nicht ein mögliches Thema auch der Theologie, sie ist die Situation der Theologie selbst. Nur hat es diese noch kaum bemerkt.« Kurt Marti: Entfremdung und Erfahrung in Theologie und Literatur [1975]. In: ders., Grenzverkehr, S. 92-107, S. 96.

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weist Marti darauf hin, dass auch die gegenwärtige Theologie selbst in weiten Teilen dem System dient. Gegen diese ›Normaltheologie‹ entwickelt er als neues Kriterium nun die ethische Ausweitung der Individualitäts- und Kreativitätsforderung: Es geht nicht nur darum, die eigene Kreativität freizulegen, sondern es geht darum, die Darstellung dieser Kreativität in den gesellschaftlichen Befreiungsprozess einzubringen und auf die allgemeine Realisierung dieser Kreativität in der Geschichte zu hoffen.42 Damit ist gleichsam der kritische Tiefpunkt in Martis Theorie erreicht. Denn auch das die kreative Schicht des Individuums freilegende Spiel mit den Möglichkeiten der Sprache steht selbst in einem Umfeld, in dem es nicht unmittelbar erkennbar ist. Entfremdung ist damit letztlich überall, und damit kann sie auch da sein, wo Kreativität, Individualität, Spiel und Freiheit eingeklagt werden: Nichts garantiert, dass es sich hierbei nicht selbst nur um eine ›bürgerliche‹ Rede handelt, die dazu dient, die Menschen in bestimmten Milieus ruhigzustellen und die gesellschaftlichen und ökonomischen Machtinteressen zu bewahren. Doch genau diese Verallgemeinerung des Entfremdungsverdachts führt auf der anderen Seite in Martis Theorie zu einer entsprechenden Verallgemeinerung des ›Heilsgeschehens‹. Lässt sich die Aufdeckung nicht mehr zweifelsfrei an bestimmten bewussten Akten festmachen (und hält man trotzdem daran fest, dass sie möglich ist), dann ist sie prinzipiell genauso allgemein möglich, wie der Entfremdungszusammenhang allgemein ist. »Schon jetzt birgt jede [!] menschliche Beziehung und Erfahrung die noch unerschlossene Zukunft und Dimension der Gotteserfahrung in sich. Das gilt selbst von Sünde und Schuld.«43 Damit gibt es keine pietistische Lösung von der Sünde durch Umkehr mehr.44 Vielmehr gilt es anzuerkennen, dass Sünde allgemein ist, dass aber in ihr unerkannt das Angebot der Gnade Gottes bereits enthalten ist. Die Formulierungsnöte ergeben sich auch daraus, dass das Wort Gott selbst sowohl in einem verdeckenden, entfremdenden Sinn als auch im Sinne einer neuen, die Gesellschaft verändernden Weise gebraucht werden

42 »Reich Gottes ist ein gesellschaftlicher Zustand, der nicht individuell, der nur gemeinschaftlich angeeignet werden kann. Der Einzelne ist erst erlöst, wenn alle erlöst sind.« (Ebd., S. 102.) Damit nimmt Marti die Anregungen durch Sölle, aber auch die anderen Theologen auf, die in den 1960er-Jahren auf eine Überwindung des individuellen Glaubensverständnisses zielen. 43 Ebd., S. 98. 44 »Das ist eine Folge der Entfremdung, die der Einzelne nicht für sich allein überwinden kann, wie das ein individualistisches Bekehrungschristentum vortäuscht […].« Ebd.

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kann. Aber eine Theologie, die diese unerkannten Angebote der Gnade, die die immer schon vorausgesetzte Anwesenheit Gottes in der Erfahrung der Menschen gegenwartsangemessen aufdecken und aussprechen kann, wäre erst zu formulieren. Damit aber wird das ethische Geschehen der befreienden Zuwendung zum Nächsten, das im Prozess der Realisierung von Gottes Reich gemeint ist (auch wenn das Reich Gottes wiederum nicht dadurch hergestellt werden kann), zum Ort der eigentlichen Religion. Sprache, die diese Funktion hatte, insofern in ihr die Arbeit des Einzelnen kritisch produktiv geschehen konnte, die auf die Kreativität hinzielt, wird jetzt zu einem Mittel dieser Realisierung. Die Kunsttheorie weicht einer auf die trinitarische Verwirklichung des Reiches Gottes in Welt und Geschichte, in Ökologie und gesellschaftlicher Verantwortung gerichteten theologischen Ethik.45 Es gehört mit zum Spiel mit den verschiebbaren Kritikgrenzen, wenn Marti hier die Kunst als experimentellen Freiraum innerhalb der Gesellschaft beschreibt.46 Nur fragt er nicht nach der Möglichkeit dieses Freiraums und seiner Darstellbarkeit, sondern kritisiert die Abtrennung des Freiraums aus der übrigen Gesellschaft. Sein Ziel ist deutlich: Das, was er hier interpretierend der Kunst unterstellt, nämlich die Kultur auf Kreativität hin durchsichtig machen zu können, soll auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden. Das ist gleichsam das Programm der Marti’schen Äußerungen zur Kunst und zur Literaturtheologie: die Forderung einer Kritik, die immer auf einen kulturell schmalen Kern woanders zurückgeschoben wird, für das Ganze zu erheben.47 Dieses Schema verbindet die Kritik an der Gesellschaft, die Kritik an der Kunst,

45 Vgl. die späte Kritik: »Sartre glaubte, den Heideggerschen Begriff ›Entschlossenheit‹ mit ›Engagement‹ wiedergeben zu können. […] Der ›Entschlossenheit‹ fehlt die mitmenschliche, die soziale Komponente des ›Engagements‹.« Kurt Marti: Im Sternzeichen des Esels. Sätze, Sprünge, Spiralen. Zürich 1995, S. 143. 46 »Die sich immer verfeinernde Arbeitsteilung erlaubte es sogar, Kunst als einen anerkannt autonomen Produktionsbereich zu etablieren, in dem kultiviert werden konnte, was andern Produktionsbereichen […] versagt werden mußte, nämlich die freie Entfaltung individuell-kreativer Phantasie. […] Kunst ist, ums böse zu sagen, der Zoo oder Bärengraben, in dem das Publikum die aus seinem Alltag vertriebene Phantasie und Freiheit bestaunen und genießen kann.« Kurt Marti: Phantasie als Produktivkraft [1972]. In: ders.: Grenzverkehr, S. 11-21, S. 12. 47 »Wo kämen wir hin, wenn jedermann seine individuelle Phantasie frei entfalten und an verschiedensten Materialien kreativ anwenden wollte?« Ebd., S. 13.

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die Kritik am Individuum und die Kritik an der Theologie. Immer muss gegenüber dem, was gerade zur Sache steht, die Forderung der Befreiung und Verallgemeinerung von woanders her erhoben werden.

Durchführung: Moderne Literatur (1963) Martis hermeneutisches Programm, das einmal als Befreiung der christlichen Sprache begann und dazu auf eine theologische Vereinnahmung der Kunst und der Dichtung zurückgriff, hat sich damit in einer Weise verallgemeinert und radikalisiert, dass nun die Kritik sich gegen alle gesellschaftlichen Phänomene der Entfremdung richtet und selbst keinen bestimmten Ort mehr findet. Zwar bleibt die Forderung nach Befreiung von (sprachlicher) Konvention als Inhalt der ›neuen‹ Sprache bestehen, aber es ist nicht mehr bestimmbar, welcher Inhalt diese Forderung überhaupt tragen kann. Der Ausgriff auf die Kunst ist möglich und wahrscheinlich, aber nicht mehr zwingend. Der Akt der Befreiung selbst bleibt der tragende Kern dieser Theorie. Aber die Kultur und die Gesellschaft als der Ort, an dem sich die Befreiung realisiert, werden zum Durchgangsmaterial einer Anwendung des Deutungsschemas von Entfremdung und Aufdeckung. Marti hält aber an der Anwendung entschieden fest. Denn Gott ist nicht jenseits der Welt, in einer begrifflichen Gegen- oder Überwelt zu finden, sondern er hat sich in der Inkarnation seines Sohnes gerade in diese Befreiungsprozesse in der Welt hineingegeben. Die Eschatologie wird zum Wissen um dieses Bleiben Gottes in den Akten des Kampfs gegen die Entfremdung. Sie behauptet die Allgemeingültigkeit der Gnade Gottes, verweigert aber prinzipiell ihre Erkennbarkeit und Identifizierbarkeit. Damit kann nun als letztes Element für die Weiterführung der Literaturtheologie in Martis Sicht seine eigene theologische Deutung der Literatur analysiert werden. Es geht dabei um das, was Marti selbst den »Versuch einer theologischen Definition der Literatur«48 nennt, und um die Frage, welche Literatur hier eigentlich gemeint ist. Wie ist in der theologischen Definition von Literatur das alte Problem der ›christlichen Literatur‹ bzw. der ›christlichen Dichtung‹ noch enthalten?

48 So die Überschrift des 5. Kapitels von Kurt Marti: Moderne Literatur. In: Kurt Marti / Kurt Lüthi / Kurt von Fischer: Moderne Literatur, Malerei und Musik. Drei Entwürfe zu einer Begegnung zwischen Glaube und Kunst, Zürich / Stuttgart 1963, S. 146.

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Ästhetik als Kulturtheorie Im ersten Kapitel geht es um den Literaturbegriff bzw. das Wesen der Dichtung. Zunächst ist Literatur ein Teil der Textwelt – Marti weicht damit einer rein ästhetischen Theorie von Dichtung aus und versteht Literatur als Teil der Kultur. Und diese Kultur ist im Rahmen der ethischen Verantwortung des Menschen in der Geschichte zu bestimmen. Denn Texte dienen der Verständigung des Menschen über die unmittelbare Situation der Kommunikation hinaus. Die spezifische Differenz von literarischen Texten besteht auf diesem Hintergrund darin, reiner Ausdruck zu sein, reine Gestik. Marti meint dies wörtlich, will also daraus keine reflexive Inhaltlichkeit herleiten. Das heißt: Nicht ›Ausdruck zu sein‹ ist Inhalt der Literatur, sondern es handelt sich um eine theoretische Bestimmung von außen. Als reiner Ausdruck kann Literatur interpretiert werden als Beweis der Lebendigkeit und Produktionsfähigkeit des Menschen. Eine ästhetische Norm wiederum hat dieser Ausdruck an der Erhaltung der Sprachfähigkeit in der Geschichte. Diese ästhetische Norm ist funktional, nicht werkbezogen oder bewusstseinsbezogen verfasst. Es geht darum, die Sprache lebendig zu halten: »Unsere Welt ist ja nicht Status, sondern Prozess. Parallel dazu ist auch unser Bewusstsein und mit ihm unsere Sprache nicht Status, sondern Prozess.«49 Als lebendige kann die Sprache ein geschichtliches Verständigungsmittel der Menschen bleiben.50 Ästhetik wird damit zu einem Epiphänomen der geschichtlichen und ethischen Existenz des Menschen in der Welt. Sie ist ein Ergebnis der vernünftigen Bearbeitung der Wirklichkeit durch den Menschen in der Geschichte, und sie reinigt und hält das Mittel (die Sprache) bereit, mit dem die Wirklichkeit verantwortlich bearbeitet werden kann. Diese ethisch-geschichtsphilosophische Einordnung der Ästhetik zeigt sich auch daran, dass Marti Bezug nimmt auf Gen 1,28 und damit in bonhoefferscher Weise die Schöpfungsverantwortung als theologisch-ethische Grundlegung benutzt.

49 Ebd., S. 28. 50 »Der ›Trost‹, den die Literatur geben kann, liegt in den Möglichkeiten der Sprache. Gewiss: kein endgültiger (= eschatologischer), aber doch ein vorläufiger (= geschichtlicher) Trost, der Trost des Mit-dabei-bleiben-könnens, obschon es zunächst aussah, als werde der Mensch und seine Sprache von illiteraten Mächten hoffnungslos überrundet.« Ebd., S. 33.

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Gegenwartsbezug der Literatur im Rahmen der Geschichtsphilosophie In ähnlicher Weise geht das zweite Kapitel mit der Analyse der modernen Literatur um. Hier geht es – trotz der vielen Beispiele – nicht um eine geschichtliche Herleitung und Darstellung der faktischen modernen Literatur, sondern um eine geschichtsphilosophische Bestimmung von Modernität als eines Grundfaktors menschlichen Handelns: Modernität ist das Zeichen für die Gegenwartsbeziehung von Handeln überhaupt. Diese Gegenwartsbeziehung nimmt die Situation ernst, in der der Mensch jeweils handelnd steht. Dieses Ernstnehmen ist ein Erbe der christlichen Geschichtsphilosophie, nämlich des Eingespanntseins zwischen der Inkarnation als einem bereits geschehenen einmaligen Ereignis, und dem Warten auf das Eschaton als einer grundsätzlichen Relativierung aller einzelnen geschichtlichen Ereignisse. So kann sich der Mensch ganz einlassen auf die Notwendigkeiten der Lage, ohne sich ihnen jedoch endgültig hinzugeben. Modernität wird dadurch in der Anwendung auf die Literatur zur Auflösung eines klassischen Werke- und Normenkanons überhaupt; sie wird zur Beschreibung der Anpassungsleistung der Arbeit am sprachlichen Ausdruck. Die Auflösung des christlichen Kanons ist ein Teil dieser Modernität, sie führt zu einer synkretistisch-pluralistischen Öffnung auch des religiösen Ausdrucks.51 Die Bestimmung des Wesens der Kunst (bzw. Literatur) im Kontext von Modernität führt also zu einer Produktionstheorie kultureller Gegenwartsbewältigung. Marti bezieht als gegenwärtiges Problem der Gegenwartsbeziehung die Frage nach der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst ein, die im Anschluss an Benjamins berühmten Aufsatz diskutiert wurde. Marti will einem romantischen, naturlyrischen und innerlich-erlebnisbezogenen Verständnis von Literatur ausweichen (wie es vielleicht noch weitgehend das Literaturverständnis der konservativen christlichen Kreise beherrscht).52 Sprache und deutendes Bewusstsein sind für ihn in der Gegenwart der Gegenpol zu einer technisch machbaren und beherrschten Wirklichkeit, die der (Kreativität der)

51 »Theologisch steht ›Alexandrien‹ für den Versuch und – trotz aller damit verbundenen Gefahren und Versuchungen! – die Notwendigkeit, das Evangelium in einer Welt hochentwickelter und pluralistisch differenzierter Kultur denkerisch zu entfalten.« Ebd., S. 42. 52 »Und so möchte der Christ heute wenigstens die Sprache den experimentellen Methoden und Praktiken entzogen wissen.« Ebd., S. 51.

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Sprache eigentlich nicht mehr bedarf bzw. sie vollständig als Mitteilung von Sachverhalten funktional beansprucht. Doch will Marti dabei gerade zeigen, dass entgegen der normal-christlichen Abneigung gegenüber der modernen Literatur deren experimenteller Umgang mit der Sprache53 die Intentionen einer auf freien Ausdruck der existentiellen Situation der Einzelnen gerichteten christlichen Religion aufbewahrt. Auch und gerade das technische Experiment mit der Sprache ist der Ort der Bewahrung der Kommunikation vor Erstarrung und Sklerose. Die reflexive Aufrichtung von Moderne-Deutung an der Literatur als Gegenwartsbezug nimmt also einerseits eine prinzipielle Wendung – das Lebendighalten der Sprache war schon immer und wird immer ein geschichtliches Problem bleiben –, andererseits ›macht‹ die moderne Literatur das einfach, indem sie auf technische Methoden der Gegenwart zurückgreift.

Der Gesellschaftsbezug der Literatur im Rahmen einer existentialistischen Ethik Im ersten Teil des dritten Kapitels entwickelt Marti die Grundlegung einer individualitätsgestützten Gesellschaftskritik. Es geht dabei um die Kritik an der Allgemeingültigkeitsforderung der klassischen Ethik, die über die Forderung der Entwicklung einer universalen Sprache eingespielt wird.54 Marti hält dies für Ideologie. Dagegen setzt er das Schweigen, das aus der Verweigerung des Einzelnen gegenüber der universellen Ideologie resultiert. Denn dieses Schweigen führt in die Tiefen der ursprünglichen individuellen Verantwortung, aus der überhaupt nur ethischer Anspruch resultiert.55 Doch diese Rückführung der Begründung darf nicht allein stehenbleiben, vielmehr muss von diesem

53 »Den Sprachprozess dem im Zeitalter der Technik beschleunigten Weltprozess nachzuführen ist eine Aufgabe, die sowohl Sprachphantasie wie Sprachtechnik erheischt.« Ebd., S. 55. 54 »Sprache nun, die sich in Texten manifestiert, zielt auf Erweiterung des gesellschaftlichen und geschichtlichen Horizontes des Einzelnen auf das Ganze menschlicher Gesellschaft und Geschichte hin. Sie stellt den Menschen, sei es als Autor oder als Leser, in jene umfassende Verantwortung, die ihm von Gott zugedacht ist.« Ebd., S. 58. 55 »Auf alle Fälle gilt, dass, wer kein Schweigen zu ›brechen‹ hat, weil er des Schweigens nicht fähig oder dazu nicht willens ist, sich auch nicht mitteilen kann. Er reicht Redensarten, Schlagworte und Parolen herum, aber er teilt nicht sich mit.« (Ebd., S. 65.) Dialekt und gesprochene Sprache »bringen den Menschen als einen Mikrokosmos eigenen Rechts zur Geltung«. Ebd., S. 72.

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Ort aus Verantwortung in die Gesellschaft eingebracht werden, und zwar – wieder – im Modus grundsätzlicher Kritik. Erst die sprachliche Artikulation, die dem Rückgang in die Individualität folgt, ist die Form der Nächstenliebe, der Zuwendung zum Anderen.56 Damit wird der Existentialismus zur Begründung einer allgemeinen Ethik (der Kritik) gemacht. Der zweite Abschnitt des Kapitels gilt der Frage nach dem Inhalt dieser Ethik. Die Dauerform der Kritik soll erwiesen werden als ihr einzig möglicher zu bestimmender Inhalt. Die Durchführung dieser These erfolgt in Form einer Betrachtung der gesellschaftlichen Funktion der Literatur. Ausgangspunkt und prägendes Exempel ist der Dadaismus als internationale Form des Expressionismus.57 Jeder gesellschaftliche Zweck neigt zur Bestimmung einer Utopie und zur Beherrschung der Menschen. Marti hat hier z. B. den Kommunismus im sowjetischen Russland vor Augen. In die prototypische Verwendung des Dadaismus für »Einsichten, die grundsätzliche, allgemein menschliche Sachverhalte betrafen«,58 baut Marti eine kleine nationalsprachenbezogene europäische Literaturgeschichte der Moderne ein. Zweck des Ganzen ist eine Ethik, die einerseits als Kritik an allen ethischen inhaltlichen Idealen verläuft, andererseits nicht bei dieser Kritik stehenbleibt, sondern »einen Weg der Hoffnung absteckt«.59 Im Kontext der Kritik ist zu sagen, dass auch die Feier des Individuums als Hort der Freiheit möglicherweise falsch liegt. Insofern kann die angezielte ideologiekritische existentialistische Ethik nicht einfach vom Individuum ausgehen, auch wenn dieses der einzige Ort der weltlichen Freiheit ist. »Der Mensch, auch der christliche Mensch, ist am Ende, hat sich selbst kompromittiert.«60 Deshalb wird die Sicht des Individuums christologisch formuliert. Christus ist der wahre Mensch. Marti sieht dies – denn auch ›Christologie‹ wäre nur eine christliche Ideologie – notwendigerweise als eine im

56 »Literatur […] hilft mit, die Sprache […] unermüdlich zum Vehikel wirklicher Mit-Teilung zu erneuern.« (Ebd. S. 72 f.) Es gilt, dass »Sprache als MitTeilung nur heissen kann und heissen muss: das Schweigen brechen ›wie ein Stück Brot‹, um im Wort und durch das Wort mit dem Nächsten zu teilen«. Ebd., S. 73. 57 »Der Dadaismus ist für das Verhältnis der modernen Literatur zur Gesellschaft insofern symptomatisch, als hier […] Literatur gegen die Gesellschaft manifestierte [sic], […] in der spontanen, ungebärdigen Freiheit des schöpferischen Akts […].«Ebd., S. 85. 58 Ebd., S. 103. 59 Ebd., S. 104. 60 Ebd., S. 105.

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»Christus-Ereignis«61 verankerte Tatsachenbeschreibung. Das Christusereignis (bzw. seine Behauptung) verweist demnach auf die Unausführbarkeit der Kritik in inhaltlicher Hinsicht; es dient dazu, eine Kritik ohne Inhalt auf Dauer und den individuellen kreativen Begründungspunkt dieser Kritik in eine eschatologische Perspektive der Hoffnung zu stellen. Die ersten Textabsätze des vierten Kapitels gehören noch mit in den beschriebenen Kontext, beziehen sich allerdings auf die gegenwärtige Literatur der Nachkriegszeit. Die moderne Literatur (Grass, Andersch, Frisch, Böll, Arno Schmidt, Bachmann) wird in den Abwehrkampf gegen die Gefahr gesellschaftlicher Ideologien eingestellt. Existentialismus der Literatur und christlichen Orientierung am inkarnierten Gott werden dabei eng geführt. Von daher sei es, so Marti, »legitim, Schriftsteller und Kirche auf den gemeinsamen Nenner ›Verteidigung des Individuums‹ zu bringen«.62 Die existentialistische Theologie, die sich christologisch rechtfertigt, wird als Deutung der modernen Literatur in Anschlag gebracht: Ja, gerade heute ist es dringend nötig, diesen Aspekt der Inkarnation zu sehen und zur Geltung zu bringen: dass sich Gott nicht in einem Kollektiv, nicht in einer der ›Mächte und Gewalten‹ (Epheser 1,21), geschweige denn in einer Weltanschauung oder Ideologie offenbart, sondern dass er in Jesus Christus eben ein einzelner, einmaliger, geschichtlich-konkreter Mensch geworden ist.63

Eine Theorie (christlicher) Literatur in christologischem Rahmen Das zeigt die Anlage des Kapitels, die im Anschluss an die moderne Literatur übergeht zu den »modernen christlichen Autoren«64 und damit eine Theorie christlicher Literatur der Gegenwart unmittelbar parallelisiert mit den Beobachtungen zur modernen Literatur überhaupt, z. T. werden auch dieselben Autoren noch einmal verhandelt (T. S. Eliot, Langgässer, Dürrenmatt, Djuna Barnes, Böll). Marti geht von zwei gegensätzlichen Beobachtungen aus: Zunächst ist alle Literatur des Abendlands christlich beeinflusst. Und zum zweiten 61 62 63 64

Ebd., S. 106. Ebd., S. 114. Ebd. Ebd., S. 123.

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gibt es keine christliche ›Literatur‹ im eigentlichen Sinn, weil christliche Texte (im Sinne von: Verkündigungstexten) immer Sachtexte sind und die literarische Form deshalb nur zufällig sein kann. Daraus resultiert der eingeschränkte Ausgangspunkt der Behandlung von ›christlicher Literatur‹, der darin besteht, dass es Schriftsteller gibt, die selbst als Personen Christen sind. Mit dieser Personalisierung geht Marti zwar hinter den Theoriestand zurück, denn dass es in christlicher Literatur nicht um die Darstellung persönlicher Frömmigkeit gehen kann, war eine der Gründungsgewissheiten der modernen kulturtheologischen Fragestellung. Aber auch Marti geht es nicht um die Darstellung der persönlichen Frömmigkeit. Vielmehr ist der Ausgang von der Existenz christlicher Schriftsteller nur die Möglichkeit, eine ihren Inhalten nach nicht als religiös bzw. christlich erkennbare Literatur theologisch zu begreifen. So dient der in den Werken selbst gerade nicht erkennbare Unterschied von ›weltlichen‹ und christlichen Dichtern in der Gegenwart dem Nachweis, dass letztlich alle Literatur theologisch gedeutet werden kann. Damit nimmt Marti die christliche Literaturtheologie auf, wendet aber ihre anthropologische Anbindung (über den Sündengedanken) gegenwartsgemäß um in eine universal-weltbezogene Aufgabenbestimmung für die ›Kirche‹ bzw. das Christentum. Sein Kampf gegen eine ›kirchenbezogene‹, frömmigkeitsmilieuaffine und insofern auf abgestandenen und verbrauchten sprachlichen Bildern aufbauende Literatur dient der Universalisierung des Anspruchs des Christentums, für alle Menschen da zu sein. Für Marti, und das macht den entscheidenden Unterschied aus, muss dieser Anspruch nicht gegengezeichnet werden. Langgässer ging noch davon aus, dass die christliche Literatur, die sie für die Welt schreibt, die modernen Menschen dazu bringen soll, sich zu bekehren und ihre christlichen Wurzeln in der neuen Zeit einzusehen und zu leben. Diesem Anspruch steht Marti kritisch gegenüber. Seine theologische Deutung der Literatur in der Gegenwart funktioniert auch dann, wenn ›die Welt‹ nichts von Christus wissen will. Die zeitgleiche theologisch-ethische Parole einer ›Kirche für die Welt‹ wird von Marti entschieden mitgetragen und hier im Feld der Literaturtheologie bedacht. Seine ideologiekritische Theorieanlage muss sich darin selbst als universal, über den Gegensatz von Kirche und Welt hinaus, erweisen. Deshalb versteht er christliche Literatur als eine solche, die an dieser Universalität teilhat. Kirche als ›Christentum‹ ist selbst nur ein Teilbereich, eine geschlossene ideologische Anstalt.65 Christliche

65 »Es geht nicht um die Selbstbehauptung der Kirche, sondern um die Erlösung der Welt: das ist das […] ›Thema‹ dieser christlichen Autoren. Deshalb

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Literatur darf keine literarischen Texte für ein Milieu schreiben wollen, das sich gerade gegenüber der allgemeinen ethischen Forderung abschließt und einer verdorbenen Welt gegenüber auf sein gutes Gewissen pocht. Wie sieht die Literatur dieser christlichen Autoren aus? Sie beharren auf der Antwort gegenüber den Problemen der modernen Welt, dass es keine Antwort geben kann. Damit wird die Ideologiekritik begründet, auf Dauer gestellt und selbst ideologiekritisch abgesichert. Ideologiekritik geschieht nicht im Namen einer neuen Ideologie, nicht im Namen eines menschlichen Versuchs einer Antwort. Deshalb dreht Marti den Nihilismusvorwurf insbesondere der konservativen christlichen Gesellschaft gegenüber der modernen Literatur um. Er wird selbst zum Ausdruck ›nihilistischer‹ Gesinnung, weil er sich auf die befreiende, ins Ungewisse der Welt stellende Botschaft Gottes nicht einlässt. ›Nichts bleibt‹ – diese kritische Botschaft der Dichter (Dürrenmatt, Langgässer) enthält den eigentlichen christlichen Kern, in dem das Christusereignis umgeformt wird zu einer ideologiekritischen Dauerhaltung in der Welt. Diese Beziehung der kritischen Literatur auf das Christusereignis, das die Kritik begründet und auf Dauer stellt, muss aber in der Literatur selbst nicht genannt werden. Sie muss auch, darin besteht dann der Zusammenhang mit der weltlichen Literatur, weder gewusst noch überhaupt gemeint sein. Ob und inwiefern ›das Volk‹ von den ›unangenehmen‹ letzten Dingen etwas wissen will, ob und inwieweit in ihm wirklich adventliche Sehnsucht lebt – das ist eine zweitrangige Frage. Für den Glauben, mithin auch für den christlichen Autor, ist es eine Tatsache, dass die Welt das Heil und die Gnade, dass sie Christus braucht, ganz abgesehen von der subjektiven Bedürfnisfrage.66 Die Bedingungen des Menschseins erweisen den Bezug auf Christus. Es geht um das Sich-Einlassen der Religion auf die Welt, das mit Christus deshalb verbunden wird, weil er für dieses Prinzip der Inkarnation steht.

ihr Misstrauen gegen […] ›das‹ Christliche überhaupt, mit dem letzten Endes doch immer wieder ein spezieller Bereich in der Welt abgesteckt werden soll, der aber durchaus auch ohne Christus bestehen kann, wenn nur die ›christlichen‹ Werte erhalten bleiben […].« Ebd., S. 122. Martis Aufnahme der Bemerkung, dass »Christus hier zum Christik wird« (ebd.), zeigt, dass auch die Christologie nur dann gegen ihr ideologisches Verständnis gesichert ist, wenn sie sich auf das Christusereignis selbst zurückbezieht. Dieses allerdings muss dann theologisch gesetzt und behauptet werden. 66 Ebd., S. 124.

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Die Menschen brauchen davon nicht zu wissen. »Texte, die gegen den totalitären Herrschaftsanspruch […] demonstrieren, leisten der Botschaft von der alleinigen Herrschaft Christi ungewollt [!] Schützenhilfe.«67 Jede Freiheitsbeanspruchung, jede Kritik an Ideologie und Vereinnahmung wird damit, unabhängig von ihrem Inhalt, Christus als ihrem Prinzip zugeordnet. Christus ist die Möglichkeit und Begründung dafür, Kritik an der Welt in ihr bis zum Ende durchzuhalten. Diese Kritiknotwendigkeit hängt mit dem Bestehen der Welt zusammen; sie existiert solange, wie es diese Welt in ihrer jetzigen Form gibt. Damit ist es deutlich, dass die christologische Deutung, die die christliche Literatur mit der modernen Literatur überhaupt zusammenhält, auf einer theologischen Deutungsebene oberhalb der Inhalte und oberhalb jedes normalen menschlichen Bewusstseins verläuft. Die für den Christen feststehende Tatsache des Christusereignisses muss nicht selbst erkenntnisbezogen ausgewiesen werden, sie steht einfach fest. Marti reflektiert nicht, dass diese Behauptung des Ereignisses seiner eigenen ideologischen Kritik ebensowenig entkommt, wie die von ihm kritisierte oberflächliche Christlichkeit. Allerdings entkommt er damit eben auch der Nachfrage nach der Allgemeingültigkeit der Behauptung und kann diese als moderne Ausrichtung des Christentums zugunsten der ganzen Welt ausgeben.

Die eschatologische Relativierung der Literatur Martis Theorie der Literatur ist also zentriert in einer christologischen Deutung der Freiheit des Einzelnen, welche der Ausgangs- und Begründungspunkt für die Kritik an der Gesellschaft und ihrer Ideologie ist. Marti lässt sich im Sinne der Inkarnation weit auf die Beanspruchung der Freiheit durch den Menschen ein. Zwar sieht er auch deutlich die Gefahr einer menschlichen Selbstermächtigung. Doch bleibt die Aussage bestehen, dass die Kirche und das Christentum heute ihr Gegenüber in der Suche nach Freiheit haben. Theologisch gilt, dass die Freiheit trotz Missbrauch immer die »Verheissung von Gott her«68 hat. Im Letzten ist Freiheit gar nicht missbrauchbar, da Gott alle Versuche solcher Freiheit eingemeindet und mit eschatologischem Sinn versieht. Der »Horizont der Gnade bleibt«,69 ihm kann der Mensch nicht entkommen. Marti

67 Ebd., S. 128. 68 Ebd., S. 144. 69 Ebd.

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nennt dies Gottes Liebe und Zärtlichkeit. Ohne auf seine vielen kritischen Überlegungen zum überlieferten christlichen und theologischen Gottesbild einzugehen, wäre an dieser Stelle doch zu sagen, dass die Liebe bei Marti letztlich als eine relationale Arbeitsweise von Gottes Allmacht in Beziehung auf die Welt gedacht wird. Sein Kampf gegen die Allmachtsvorstellung greift nicht das dahinterstehende Gottesbild selbst an, sondern nur die Frage, wie sich diese Allmacht im Kontext der Welt realisiert. Dass Gott doch im traditionellen Sinn alle Macht über diese Welt hat, zeigt sich in der eschatologischen Begrenzung der Welt. Ein letztes Kapitel verheißt in der Überschrift eine theologische Deutung der Literatur. Hier geht es um ihre letztgültige Beurteilung, gleichsam vom eschatologischen Sehepunkt Gottes aus. Marti geht inhaltlich davon aus, dass im Eschaton die Sprache als Ausdruck der Suche nach Freiheit ein Ende findet. Die Sprache des Himmels ist gegenständlich, weil sie Gott unmittelbar benennen kann und dies in Form unendlichen Lobes tut. Damit nimmt Marti frühe Motive seiner Suche nach einer christlichen Literatur(theorie) auf.70 Gegen den Text und seine Überschrift ist aber davon auszugehen, dass das Zentrum der theologischen Beurteilung der Literatur in der inkarnatorischen Christologie liegt, die zu einer positiven Besetzung des Freiheitsausdrucks des Einzelnen im gesellschaftlichen Kontext ideologischer Verblendung führt. Existentialistisches Freiheitsbewusstsein, adornosche Ideologiekritik, liberale Religionskritik in barthianischer Verschärfung, bonhoeffersche Säkularisierungstheorie und allgemeinanthropologischer Anspruch gehen hier eine enge Verbindung ein und führen zur Beanspruchung eines Christusereignisses in einer Theorie, die das Wissen um dieses Ereignis nicht noch einmal begründet, gerade weil sie es als im weltlichen Sinne allgemeingültig (und nicht vom Wissen der Menschen abhängig) behaupten will. Die eschatologische Relativierung der Literatur kann gedeutet werden als Eingeständnis der theoretisch problematischen Anlage der Theorie selbst. Denn die inkarnatorische Christologie dient gerade dazu, die Freiheit der Welt, das Einlassen auf die Welt zu begründen. Die Allgemeingültigkeitsforderung für die (christliche) Religion bringt ihre Erkennbarkeit in der Welt zum Verschwinden. Die Theologie wird zu einem Arkanwissen von der eigentlichen Ausrichtung der in sich autonom verlaufenden weltlichen Angelegenheiten. Die Eschatologie bringt diese Ausrichtung dann öffentlich erkennbar für alle zur Realisierung. Damit löst sie den Gegensatz von theologischer Deutung und anthropologischer

70 Vgl. den Bezug auf Lavater, ebd., S. 163.

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Selbstsicht endzeitlich auf. Das christologische Lob der Sprache, das auf ihre immanente (unbewusst gegebene) Tendenz zur Bewahrung der Freiheit gründet, wird zu einer eschatologischen Sprache des Lobes. Freiheit muss dann nicht mehr bewahrt werden, weil es keine gesellschaftlichen Zusammenhänge der Verdeckung mehr gibt. Die Geschichte findet ihr Ende. Das theoretische Problem der Ausgrenzung eines selbst kritikfreien Raums der Begründung der Kritik zeigt sich in Martis Literaturtheologie immer an den Stellen, an denen unvermittelt die gegenständliche Ausrichtung der religiös-christlichen Rede von Gott, die unmittelbare inhaltliche Ausrichtung der Botschaft am Wort Gottes behauptet wird. Marti meint die Freiheit, die dem Einzelnen in der Gottesbegegnung des Glaubens als Evidenz zufällt. Diese Instanz wird nicht selbst der Kritik ausgesetzt, sondern gegenständlich als gegeben angesehen. Deshalb kann dann auch theologisch in gegenständlicher Weise davon geredet werden. Diese Sprache ist mit der allgemein-humanen Sprache der Dichtung, die immer im Kontext möglicher ideologischer Verdeckung verläuft und die ihre Freiheit immer erweisen und durcharbeiten muss, nicht kompatibel. Die Theologie beansprucht hier ein theoretisches Wissen (das sie mit der gegenständlichen Sprache des Glaubens verbindet), das nicht den Bedingungen des Wissens untersteht, das sie in sich rekonstruieren will. Die theologische Dichtungstheorie steht selbst auf einem nicht ausweisbaren Standpunkt. Damit wird die eschatologische Konstruktion zum Eingeständnis dessen, dass unter den Bedingungen der Moderne das Christentum seine kulturelle Allgemeingültigkeit verloren hat. Es ist nicht mehr allen Menschen zuzumuten, auch wenn die Kirche es als gesellschaftliche Gruppe aufbewahrt. Die Aufschiebung der Durchsetzung des Programms der Kirche für die Welt auf Gottes Vollendung der Welt weist auf seine gegenwärtigen denkerischen Schwierigkeiten hin.

Zusammenfassung Zu beachten bleibt, dass der folgende Versuch einer systematisierenden Zusammenfassung sich auf die besprochenen frühen theoretischen und literaturtheologischen Texte bezieht. Martis spätere Überlegungen zu einer schöpfungstheologischen Erweiterung des Geistverständnisses oder seine Überlegungen zu einer geselligen Gottheit, die die kommunikationsbezogene existentialistische Fragestellung weitertreiben, bleiben unberücksichtigt.

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1. Martis Theologie geht aus vom Sein des einzelnen Individuums. Hierin zeigt sich seine zeitgenössische Prägung durch den Existentialismus, die die theologische Prägung durch Karl Barth überdauert. Existentialistisch kann Martis Sicht auf das Individuum genannt werden, weil er keine selbstbewusstseinstheoretische oder subjektivitätstheoretische Klärung dessen anstrebt, was Individualität ausmacht und wie davon gewusst werden kann. Außerdem wird er immer davon ausgehen, dass der Kern dieser Individualität in der freien (kreativen) Selbstbestimmung besteht. 2. Am Anfang steht die Suche nach einer erfüllenden Kommunikation der Individuen. Damit nimmt Marti hermeneutische Fragestellungen auf, verbindet sie aber mit der existentialistischen Grundlegung. Er fragt nach dem Transfer von innerlicher Personalität in der Sprache. Theologisch gesehen kann hier die hermeneutische Besinnung auf den Anredecharakter der Botschaft, also das Verhältnis von Glaube und Kerygma, als Hintergrund genannt werden. Anders als in der entsprechenden Theologie zieht Marti den Kirchenbegriff aber nicht mit in die Überlegungen ein. Die Kirche bleibt bei ihm ein institutioneller und zeitbezogener Rahmen der Kommunikation, was die Kritik an der kirchlich misslingenden Kommunikation in grundsätzlicher Weise verstärkt. Marti bleibt hier einem liberalen Kirchenverständnis verhaftet, gleichsam als Gegenseite seines existentiellen Individualismus. Predigt ist bei ihm die Rede des Pfarrers an die Gemeinde, auch da, wo sie gelingende Kommunikation zu werden beginnt. 3. Da es keine theologischen Grundlagen der geschehenden Kommunikation in der Kirche (oder der menschlichen Gemeinschaft) gibt, verschärft Marti die Kritik an allen Inhalten einer solchen möglichen Kommunikation. Er übt besonders Kritik an der oberflächlichen kirchlichen Rede und an der traditionellen christlichen Dichtung (literaturkritisch mit Langgässer). Damit erinnert er an Tillichs grundsätzlich inhaltskritische Theologie, die ebenso das liberale Erbe der Dogmenkritik weiterträgt auf der Suche nach einer eigentlichen, hinter der Oberfläche der Dogmen liegenden Religion. Zeitgenössisch verbreitert Marti die theologische Kritik an der Kirche durch eine Übertragung auf die humane Kritik an der Gesellschaft. Damit wird Adornos ideologiekritische Reflexion der modernen Welt theologisch eingeholt. 4. Marti verallgemeinert die Kritik durch das Einlassen auf die Weltlichkeit der Welt. In der Welt gibt es keinen freien sakralen Bereich einer besseren Religion. Radikale Säkularität ist das Ergebnis der liberalen Religionskritik, doch kann diese Kritik (mit Bonhoeffer) theologisch ausgesagt und formuliert werden: Die Christologie wird als bewusste Inkarnation Gottes in die Form der Welt, als Entäußerung in die Pro-

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fanität gedeutet. Hier steht die Säkularismusdebatte im Hintergrund – Tillichs Bestätigung des Rechts der modernen Welt auf Autonomie, Löwiths geschichtstheoretische Suche nach den christlichen Wurzeln der modernen Weltsicht, Gogartens Aufteilung des christlichen Erbes zwischen den rechten und den falschen Elementen der Säkularität sowie die ältere liberale Suche nach der kulturgeschichtlichen Bedeutung des christlichen Glaubens im Angesicht der weltabgewandten urchristlichen Eschatologie. 5. Die radikale Verallgemeinerung der Kritik bei gleichzeitiger radikaler Vertiefung der inhaltlichen Kritik an allen Gehalten führt zu einer Behauptung der Kritik als Dauerhaltung des Individuums. Die Begründung der Möglichkeit dieser Dauerkritik vom Individuum aus führt zur Entdeckung des Kerns der Produktion von Gehalten. Symbol-, Sprachund Kunstproduktion ist der Ort der kreativen Freiheit des Menschen; sie gilt es durch alle Gehalte hindurch immer wieder freizulegen. Damit wird die allgemeine Kritik an den Gehalten existentialistisch-individualistisch enggeführt. Die Freiheit des Einzelnen wird als Grundpunkt der Theorie einfach vorausgesetzt – noch in der Forderung ihrer Freilegung. 6. Diese Freiheit wird jedem zugeschrieben, ebenso wie jeder mit der Forderung nach je persönlicher Freilegung der Freiheit konfrontiert ist. Deshalb wird die Kommunikation jetzt verändert, sie ist nicht mehr Suche nach gelungener sprachlicher Verständigung der Einzelnen, sondern Suche nach gesellschaftskritischer Ansprache an jeden zur Freilegung des kreativen Kerns der Persönlichkeit. Die Kommunikation der Freiheit verliert damit ihren letzten ästhetischen Anflug und wird zur permanenten ethischen Forderung an die gesellschaftliche Kommunikation. 7. Kunst und Literatur werden so der ethischen Forderung nach Aufdeckung der je individuellen Kreativität unterstellt. Die ›hohe‹ Kunst wird – entgegen den früheren Ansätzen zur Suche einer christlichen Kunst auf der Höhe der gegenwärtigen Ästhetik – zum überflüssigen, selbst ideologischen Spiel des bürgerlichen, von der Gesellschaft in einem eigenen Freiraum ruhiggestellten Künstlers. 8. Predigt und christliche Rede in Kirche und Gesellschaft übernehmen damit die Aufgabe der Kunst, kommunikativ-ethisch zu sein ohne ästhetische Selbstisolierung. Zugleich sind sie der einzige Ort, an dem der vorausgesetzte Grund der Freiheit in der Kreativität der Einzelnen kritikfrei ausgesagt und gewusst werden kann. Die Eschatologie wird zum Bild dieser kritikfreien Begründung der Kritik. Sie ist der Ort von andersher, der im Diskurs zwar vorausgesetzt, aber nie unter historischweltlichen Bedingungen direkt ausgesagt werden kann.

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folkart wittekind

9. Martis Barthianismus sagt deshalb mehr aus über die Rezeptionsbedingungen der Theologie Barths in den 1940er-Jahren als über diese selbst. Die Naivität der theologischen Behauptung von Voraussetzungen ist nur mit dem zugleich radikal kritischen Gestus gegenüber den Inhalten erklärbar. Der eschatologische Gottesgedanke Barths wird benutzt, um die Brüche der eigenen Theoriebildung, die im Hinblick auf die Voraussetzung des Seins freier Individualität doppelt blind verfährt (sowohl methodisch als auch inhaltlich), zusammenzuhalten. 10. ›Theopoesie‹, wie Marti später sein Tun charakterisiert, soll die christliche Tiefendeutung der autonomen modernen Literatur zum Ausdruck bringen, besser als der moderne Künstler, dessen Kritik an der Gesellschaft ortlos, unbegründet und unverständlich ist. Der Pfarrer wird zum eigentlichen Poeten, indem er die Bedingungen von Kommunikation weiß, kommuniziert und allgemein macht. Aber was unterscheidet nun die äußere Gestalt dieser Theopoesie noch von der am Anfang bekämpften schlechten christlichen Dichtung?

Andreas Mauz

Seinen Tod sterben Kurt Martis exemplarische Sterbeerzählung Neapel sehen (1960) Martis exemplarische Sterbeerzählung »Neapel sehen«

»Stirbt, um sich nicht mehr zu beschweren.«

Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod (2014)1

Für Karl Pestalozzi

Neapel sehen 1Er hatte eine Bretterwand gebaut. 2Die Bretterwand entfernte die Fa-

brik aus seinem häuslichen Blickkreis. 3Er hasste die Fabrik. 4Er hasste die Maschine, an der er arbeitete. 5Er hasste das Tempo der Maschine, das er selber beschleunigte. 6Er hasste die Hetze nach Akkordprämien, durch welche er es zu einigem Wohlstand, zu Haus und Gärtchen gebracht hatte. 7Er hasste seine Frau, sooft sie ihm sagte, heut nacht hast du wieder gezuckt. 8Er hasste sie, bis sie es nicht mehr erwähnte. 9Aber die Hände zuckten weiter im Schlaf, zuckten im schnellen Stakkato der Arbeit. 10Er hasste den Arzt, der ihm sagte, Sie müssen sich schonen, Akkord ist nichts mehr für Sie. 11Er hasste den Meister, der ihm sagte, ich gebe dir eine andere Arbeit, Akkord ist nichts mehr für dich. 12Er hasste so viele verlogene Rücksicht, er wollte kein Greis sein, er wollte keinen kleineren Zahltag, denn immer war das die Hinterseite von so viel Rücksicht, ein kleinerer Zahltag. 13Dann wurde er krank, nach vierzig Jahren Arbeit und Hass zum ersten Mal krank. 14Er lag im Bett und blickte zum Fenster hinaus. 15Er sah sein Gärtchen. 16Er sah den Abschluss des Gärtchens, die Bretterwand. 17Weiter sah er nicht. 18Die Fabrik sah er nicht, nur den Frühling im Gärtchen und eine Wand aus gebeizten Brettern. 19Bald kannst du wieder hinaus, sagte die Frau, es steht jetzt alles in Blust. 20Er glaubte ihr nicht. 21Geduld, nur Geduld, sagte der Arzt, das kommt schon wieder. 22Er glaubte ihm nicht. 23Es ist ein Elend, sagte er nach drei

1 Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. München 2014, S. 301.

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Wochen zu seiner Frau, ich sehe immer das Gärtchen, sonst nichts, nur das Gärtchen, das ist mir zu langweilig, immer dasselbe Gärtchen, nehmt einmal zwei Bretter aus der verdammten Wand, damit ich was anderes sehe. 24Die Frau erschrak. 25Sie lief zum Nachbarn. 26Der Nachbar kam und löste zwei Bretter aus der Wand. 27Der Kranke sah durch die Lücke hindurch, sah einen Teil der Fabrik. 28Nach einer Woche beklagte er sich, ich sehe immer das gleiche Stück der Fabrik, das lenkt mich zu wenig ab. 29Der Nachbar kam und legte die Bretterwand zur Hälfte nieder. 30Zärtlich ruhte der Blick des Kranken auf seiner Fabrik, verfolgte das Spiel des Rauches über dem Schlot, das Ein und Aus der Autos im Hof, das Ein des Menschenstromes am Morgen, das Aus am Abend. 31Nach vierzehn Tagen befahl er, die stehengebliebene Hälfte der Wand zu entfernen. 32Ich sehe unsere Büros nie und auch die Kantine nicht, beklagte er sich. 33Der Nachbar kam und tat, wie er wünschte. 34Als er die Büros sah, die Kantine und so das gesamte Fabrikareal, entspannte ein Lächeln die Züge des Kranken. 35Er starb nach einigen Tagen.

Fokus: Erzählung und Sterbeerzählung Die Erzählung Neapel sehen, erstmals erschienen in den Dorfgeschichten 1960,2 gehört vermutlich zu den bekanntesten Prosatexten Kurt Martis. Sie hat, genauer, den Rang einer »klassischen« Kurzgeschichte der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. So ist sie denn nicht nur in vielen Anthologien dieser Art zu finden,3 sondern auch in den

2 Kurt Marti: Dorfgeschichten 1960. Gütersloh 1960, S. 60-62. Erneut und mit einer Illustration versehen in der erweiterten Ausgabe des Bandes: Wohnen zeitaus: Geschichten zwischen Dorf und Stadt. Zürich 1965, S. 33-35. Ich zitiere den Text nach diesem Zweitdruck. Er unterscheidet sich in einigen Details (u. a. der Ersetzung des »ss« durch das »ß«) von der Fassung, die aktuell rezipiert wird (s. u. a. Anm. 3). Für die Stoßrichtung meines Beitrags sind diese allerdings nicht von Belang. 3 Vgl. u. a.: Volker Krischel: Beliebte Kurzgeschichten interpretiert. 18 der beliebtesten Kurzgeschichten analysiert und interpretiert. Mit Originaltexten und Strukturskizzen. Hollfeld 2015; Werner Bellmann (Hg.): Klassische deutsche Kurzgeschichten. Stuttgart 2003, S. 249-252; Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Erfundene Wahrheit. Deutsche Geschichten,1945-1960. München 1984, S. 456.

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meisten Auswahlausgaben von Martis Werk.4 Diese Wahrnehmbarkeit im Primärliterarischen wird flankiert von einer äußerst intensiven schulischen Rezeption des Textes.5 Aber auch dort, wo die Erzählung im engeren Kontext der Literaturwissenschaft auftaucht, sind in der Regel pädagogische Zusammenhänge im Hintergrund.6 Der Anlass, Martis Erzählung hier einem close reading zu unterziehen, ist ein anderer: Sie soll als Sterbeerzählung in den Blick kommen, wobei ausdrücklich beiden Teilen dieser Bestimmung Rechnung getragen wird. Zunächst steht der Text als Erzählung zur Debatte, in Hinsicht auf die Eigenarten seiner narrativen Gestaltung. In einem zweiten Schritt wird erörtert, inwiefern diese für die Erzählung als Sterbeerzählung von Belang ist. Das setzt eine vorläufige Verständigung über diesen Gattungsbegriff voraus. Die im Einzelnen zu begründende These wird lauten, dass Neapel sehen als exemplarische Sterbeerzählung gelten kann – exemplarisch, weil sie durch die Reduktion und Präsentation des biographischen Materials pointiert die Frage nach dem Zusammenhang der dargestellten Lebensphasen aufwirft. Genauer: Die Weise, wie dieses Leben bzw. Lebensende zur Darstellung kommt, aktiviert das biographische Kontinuitätsmodell eines »Sterbens des eigenen Todes«; es nötigt dazu, normativ Position zu beziehen: zu bewerten, ob und inwiefern dieses Sterben ein »gutes« ist. Diese Zusammenhänge im Einzelnen zu erschließen, scheint über den engeren Horizont der Einzeltextanalyse hinaus von Interesse angesichts der aktuellen Debatten über die Bedeutung des Erzählens am bzw. vom Lebensende, seien sie nun literatur- und kulturwissenschaftlich orientiert (und also tendenziell auf das literarisch-fiktionale

4 U. a. Kurt Marti: Wen meint der Mann? Gedichte und Prosatexte, Auswahl und Nachwort von Elsbeth Pulver. Stuttgart 1990, S. 78 f. Im Kontext der Werkauswahl aus Anlass von Martis 75. Geburtstag lieferte Neapel sehen zugleich den Titel für den Band der ausgewählten Erzählungen. Vgl. Kurt Marti: Neapel sehen. Erzählungen, Werkauswahl in fünf Bänden, ausgewählt von Kurt Marti und Elsbeth Pulver, Bd. 1. Zürich 1996. S. 16 f. Eine ähnlich intensive Einzelrezeption findet, wie mir scheint, allenfalls noch die gleichfalls den Dorfgeschichten 1960 entnommene Erzählung Happy End. 5 Das zeigt bereits eine kurze Google-Suche. Vgl. aber auch die ausführliche Diskussion des Textes auf dem Youtube-Kanal »Deutschstunde online«: https://www.youtube.com/watch?v=lnzQ_C93AnQ (15. 1. 2016). 6 Lothar Bredella: Lesen als »gelenktes Schaffen«: Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht. In: Die Unterrichtspraxis / Teaching German, 1987, 20, 2, S. 166-184; Elsbeth Pulver: Neapel sehen. In: Werner Bellmann (Hg.): Klassische deutsche Kurzgeschichten. Interpretationen. Stuttgart 2004, S. 240-245.

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Erzählen konzentriert)7 oder aber palliativmedizinisch, psychologisch, ethisch oder praktisch-theologisch (also tendenziell konzentriert auf das lebensweltlich-faktuale Erzählen)8.9

Narratologische Analyse Neapel sehen ist eine Kurzgeschichte in einem strikten Sinn.10 Sie umfasst nicht mehr als 35 meist kurze Sätze, und sie wird ›gerade‹ runtererzählt. Der Text weist keine strukturierenden Abschnitte auf; die zeitliche Ordnung des Erzählten folgt im Wesentlichen der Chronologie. Um die Finessen der erzählerischen Komposition in den Blick zu bekommen, muss sie allerdings im Detail untersucht werden. Diese

7 Nur einige Titel aus der neueren und sehr breiten Forschung zu Tod / Sterben und Literatur: John J. Han; C. Clark Triplett (Hg.): The Final Crossing. Death und Dying in Literature. New York 2015; Martin Kubaczek (Hg.): Stimmen im Sprachraum: Sterbensarten in der österreichischen Literatur. Beiträge des Ilse-Aichinger-Symposions Tokio. Tübingen 2015; Outi Hakola / Sari Kivistö (Hg.): Death in Literature, Cambridge 2014. Für eine subtile narratologische Analyse einer ausdrücklich so bezeichneten »Sterbeerzählung« vgl. Matías Martínez: Das Sterben erzählen – Über Leo Perutz’ Roman ›Zwischen neun und neun‹. In: Tom Kindt / Jan-Christoph Meister (Hg.): Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung. Tübingen 2007, S. 23-34. 8 Auch hier nur einige wenige Titel: Yasmin Gunaratnam; David Oliviere (Hg.): Narrative and Stories in Health Care: Illness, Dying and Bereavement. Oxford 2009; Johanna Shapiro: Illness narratives: reliability, authenticity and the empathic witness. In: Medical Humanities 2011, 37, S. 68-72; Ellen McGee: Hospice Narratives of Good Dying. In: Bioethics Forum 1997, 13, 3, S. 36-40. 9 Mein Aufsatz steht im Kontext eines Forschungsprojekts zu Sterbenarrativen, das derzeit an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich durchgeführt wird (Nationales Forschungsprogramm 67: Lebensende, Teilprojekt: »Hermeneutik des Vertrauens am Lebensende – Imaginatives Erleben und symbolische Kommunikation in Todesnähe«, Bonus of Excellence »Sterbenarrative«). Ich danke dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) für die Finanzierung meiner Forschung und dem Projektleiter Simon Peng-Keller für seine kritische Kommentierung der ersten Fassung dieses Beitrags. Vgl., wenn erschienen, auch unseren Sammelband Sterbenarrative. Erzählen am/ vom Lebensende (Berlin 2016). 10 Zum Gattungskontext: Manfred Durzak: Die Kunst der Kurzgeschichte. Zur Theorie und Geschichte der deutschen Kurzgeschichte. München 1994; ders.: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart: Autorenporträts, Werkstattgespräche, Interpretationen. Würzburg 32002.

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Untersuchung orientiert sich am Instrumentarium der Narratologie; sie bewegt sich, en gros, entlang der drei grundlegenden Parameter von Erzähltexten: dem Erzähler, dem Erzählen (dem Diskurs) und dem Erzählten (der Geschichte).11

Der Erzähler Der Erzähler, der nach dem bedeutungsschweren Titel (dazu später) das Wort ergreift, gehört selbst nicht der erzählten Welt an. Er ist ein heterodiegetischer Erzähler, der das Geschehen innerhalb der erzählten Welt von außen wahrnimmt und schildert. Dies tut er allerdings in ausgesprochen diskreter Weise. Weder führt er sich ausdrücklich ein, noch stellt er seine Werthaltungen und seinen Erzählanlass ausdrücklich vor, und auch die Adressierung seines Erzählens – für wen wird hier erzählt? – bleibt im Dunkeln. Er entspricht insofern klar dem Typus des covert narrator. Seiner diskreten Präsenz korrespondiert eine Dominanz der Handlungs- bzw. Ereignisdimension; der Erzähler bleibt ganz nah am Tun und Empfinden der Figuren, insbesondere dem des Protagonisten. Der Fokus liegt so stark auf ihm, dass sich die Erzählung mit minimalem Aufwand in eine Ich-Erzählung transformieren ließe, in eine autodiegetische

11 Ich folge dabei in erster Linie dem narratologischen Entwurf Silke Lahns und Jan Christoph Meisters (Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart 2 2013), allerdings ohne die jeweiligen analytischen Unterscheidungen und Begrifflichkeiten jedes Mal ausdrücklich auszuweisen. Zu den systematischen Pointen bei Lahn / Meister gehörte gerade die Aufwertung der Instanz des Erzählers, der in vielen Fällen unter die Diskursaspekte subsumiert wird (vgl. ebd., S. 59, dort auch die folgenden Zitate). Dass die Dimension des Erzählers als »eigenständiger Phänomenbereich neben denen von Diskurs und Geschichte« gestellt werden sollte, wird plausibel, wenn man sich klarmacht, dass der Erzähler eben »nicht ein Parameter unter anderen« darstellt. Da es die Geschichte nie ›an sich‹ gibt, sondern immer nur in Gestalt einer Erzählung, konstruieren wir sie aus der Rede des Erzählers. Der Erzähler ist »der aktive Produzent, aus dem der Leser die Elemente der Geschichte erschließen kann«. Die »systematisch-hierarchische Überordnung des Erzählers« zeigt sich überdies aber auch im Sprachgebrauch: Nach dem Erzähler kann direkt gefragt werden – ohne Rekurs auf die beiden anderen Dimensionen. Ist dagegen von letzteren die Rede, so muss zwangsläufig auch die Instanz des Erzählers thematisiert werden. Lahn / Meister tragen dieser Zwischenrolle bildhaft Rechnung, wenn sie den Erzähler als »janusköpfige Instanz« darstellen, der »nach rechts auf die Geschichte« blickt, »die er zugleich nach links sprachlich kommuniziert« (ebd., S. 16).

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retrospektive Darstellung der Ereignisse durch den kranken Arbeiter selbst: »Ich hatte eine Bretterwand gebaut. Die Bretterwand entfernte die Fabrik aus meinem häuslichen Blickkreis. Ich hasste die Fabrik« etc. (Vorgreifend: Für die Erzählung als Sterbeerzählung ist das Faktum der Heterodiegese allerdings von erheblicher Bedeutung. Die autodiegetische Erzählung, in der retrospektiv erzählt wird, käme unweigerlich an eine Grenze. Der Schlusssatz bliebe so unerzählbar.)

Das Erzählen Wie ist der Diskurs dieses Erzählers nun im Einzelnen beschaffen? Zunächst zum zentralen Aspekt der Erzählperspektive, also zu den Wahrnehmungsbedingungen des Erzählers und zur Weise, wie er das Wahrgenommene zur Darstellung bringt: In der Begrifflichkeit von Genettes Fokalisierungsmodell lässt sich sagen, dass der Erzähldiskurs dem Typus der internen Fokalisierung (der erzählerischen Mitsicht) folgt. Der Erzähler weiß weder mehr noch weniger als die Figur; seine Wahrnehmungs- und Wissensmöglichkeiten befinden sich vielmehr mit ihr ›auf Augenhöhe‹.12 Und dieser Fokalisierungstyp wird auch durchgehalten.13 Von besonderem Interesse scheint, wie innerhalb dieser Fokalisierung die Figurenrede und die mentalen Prozesse der Figuren repräsentiert werden, in welcher Weise und in welchem Grad der Erzähler sie gestaltend überformt. Gerade weil der Diskurs des Erzählers grundsätzlich nah an der Hauptfigur bleibt, muss auffallen, dass ihre Rede im Sinn des ›authentischen‹ Typus der zitierten Figurenrede14 gleichsam aufgespart wird. Während die Nebenfiguren – die Ehefrau, der Arzt, der Meister –

12 Wobei Genette zur Bestimmung der internen Fokalisierung gerade den Ersetzungstest – die Transposition einer Passage in die erste Person Singular – als Hilfsmittel bestimmt. Gérard Genette: Die Erzählung, aus dem Französischen v. Andreas Knop, mit einem Nachwort hg. v. Jochen Vogt. München 21998, S. 137. 13 Vorgreifend: Die Stärke der Erzählung liegt u. a. wohl gerade in dieser Konsequenz. Am Textende hätte eine Umstellung sicher starke Effekte erzeugen können, sei es durch den Modus der Nullfokalisierung (ein Erzählen, das keinerlei Begrenzung der Sicht unterliegt und also auch Details aus dem psychischen Haushalt der Figur kennt) oder aber durch eine externe Fokalisierung (eine Außensicht auf die Figur, die sich in Mutmaßungen des Erzählers äußert, denen sich der Interpret an- oder verschließen kann). 14 Es handelt sich hier nur um eine Quasi-Authentizität, da die Aussage ja nie an sich greifbar wird, sondern durch ihre angebliche erzählerische Wiedergabe entsteht. Quasi-authentisch ist sie aber auch, weil wesentliche Elemente

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sofort mit kurzen Originaltönen zu Wort kommen (vgl. die direkten Reden in den Sätzen 7, 10, 11), fällt die erste und lange wörtliche Rede des Protagonisten erst nach der entscheidenden Zäsur seiner Erkrankung (Satz 13), genauer: erst, nachdem er weder den optimistischen Reden des Arztes noch seiner Frau Glauben schenkt. »Es ist ein Elend […], ich sehe immer das Gärtchen, sonst nichts, das ist mir zu langweilig, immer dasselbe Gärtchen, nehmt einmal zwei Bretter aus dieser verdammten Wand, damit ich was anderes sehe.« (Satz 23) Allerdings unterscheiden sich die verba dicendi, die diese Reden des Arbeiters einleiten, in entscheidender Hinsicht: Während der eben zitierte Originalton durch ein maximal neutrales »sagte er« eingeführt wird, erscheint in den beiden folgenden Fällen das Verb »beklagen« (Sätze 28 und 32). Und dies ist nun doch eine spürbare erzählerische Bewertung, da diese Prädikation eben deutlich mehr einschließt als den bloßen Sachverhalt einer Verlautbarung. Die Rede von einem »beklagen« verweist, ohne im Sprachhaushalt der Figur angelegt zu sein, auf komplexe Motivationslagen und Erwartungshaltungen, die die Aussage begleiten. Diese subtil eingesetzten äußeren Reden setzen sich fort in einer ähnlichen Enthaltsamkeit des Erzählers bezüglich der inneren Reden, i. e. der Repräsentation der mentalen Prozesse der Figur. Was der Protagonist denkt, kommt, typologisch betrachtet, primär im Modus der transponierten Gedankenrede zur Darstellung. Es handelt sich also um eine Rede des Erzählers, die die sprachliche Gestaltung der Gedanken der Figur anpassend (etwa punkto Pronomina oder Tempus) in die eigene Aussage überträgt. Das wird besonders deutlich an Satz 12, der stark mündlich anmutet. Die erzählerische Überformung erscheint minimal, nämlich nur als transponierte Wiedergabe des von direkter Betroffenheit zeugenden Gedankens: »Ich hasse so viele verlogene Rücksicht, ich will kein Greis sein, ich will keinen kleineren Zahltag, denn immer ist das die Hinterseite von so viel Rücksicht, ein kleinerer Zahltag.«15 Im Fall der kürzeren Sätze ist eine typologische Unterscheidung allerdings kaum verlässlich zu machen. Ein Satz wie »Er glaubte ihr nicht« kann ebenso gut gewertet werden als aus dem Denken der Figur transponiert wie als erzählte Gedankenrede, das heißt als summarische Wiedergabe des Erzählers, die vom Sprachstil der Figur abgehoben ist. (Die Gedan-

mündlicher Rede – Sprechtempo, Intonation etc. – im Medium der Schrift nicht oder nur unzulänglich codierbar sind. 15 Es handelt sich, genauer gesagt, um den Typus der autonomen indirekten Gedankenrede, in der die inneren Vorgänge der Figur nicht explizit angekündigt und begrenzt werden.

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kenrede könnte in diesem Fall etwa auch lauten: »Sie lügt mich an. Was soll dieser billige Trost. Ich weiß, daß ich nie mehr hinausgehen werde.«) Aufmerksamkeit verdienen ferner auch die Zeitrelationen zwischen Diskurs und Geschichte, wie sie in einem ersten Schritt in der Beziehung von erzählter Zeit und Erzählzeit gefasst werden können (d. h. dem Verhältnis zwischen der Zeit, über die erzählt wird, und der Zeit, in der erzählt wird). Die erzählte Zeit – die Zeit der Geschichte – lässt sich nur näherungsweise bestimmen: Das früheste erzählte Ereignis ist der Antritt der Arbeitsstelle durch den Protagonisten. Diese Tätigkeit (in Satz 13 polemisch als gleichursprünglich ausgewiesen mit dem Hass auf ebendiese) dauert 40 Jahre lang. Irgendwann im Verlauf dieses Zeitraums erfolgt der Bau der Bretterwand. Ausdrückliche Zeitangaben fehlen in diesem Fall, doch kann der Bau in etwa datiert werden durch Folgerungen aus anderen Daten der erzählten Welt. Da der Besitz des Hauses mit Gärtchen ermöglicht wird durch die jahrelange Akkordarbeit, ist der Zaunbau kaum am Anfang dieser Zeitspanne anzusetzen, sondern eher in ihrer Mitte oder gegen ihr Ende. Sehr genau datiert – wenn nicht absolut, so doch relativ – sind dagegen die Ereignisse, die auf diese 40 Jahre folgen.16 An die Erkrankung schließt zunächst eine Phase von drei Wochen an, in der dem Protagonisten – entgegen den Beteuerungen seiner Umgebung – klar wird, dass es sich um eine Krankheit zum Tode handelt.17 Das Herauslösen der ersten beiden Bretter aus der Wand bietet dann eine Woche lang hinreichend Ablenkung; der Rückbau der Hälfte der Wand eröffnet eine Aussicht, die ihn weitere zwei Wochen befriedigt; ihre vollständige Entfernung gewährt ihm schließlich noch »einige[…] Tage« einen Ausblick, der ihm zusagt (Sätze 23, 28, 31, 35). Die erzählte Zeit ist damit insgesamt auf rund 40 Jahre und knapp zwei Monate zu veranschlagen.18 Diese Zeitspanne wird innerhalb der gedrängten Erzählzeit, die sich verräumlicht näherungsweise objektivieren lässt in den rund zwei Druck-

16 Eine absolute Zeitangabe liefert allerdings der weitere Publikationskontext, der Titel der Sammlung: Dorfgeschichten 1960. 17 Obwohl von einem Arzt die Rede ist, dringt der medizinische Diskurs in keiner Weise in die Erzählung ein. Wir erfahren keine Diagnose. Welche Krankheit den Protagonisten derart schnell zu Tode bringt, kann nur durch eine leserseitige Inferenz entsprechender Wissensbestände vermutet werden. 18 Mit Ausnahme der »einigen Tage« gilt für alle diese Zeitangaben, dass sie auffallend rund sind – für eine Wahrnehmung, die an den lebensweltlichen Wahrscheinlichkeiten Maß nimmt, vielleicht sogar zu rund, um ›realistisch‹ zu sein.

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seiten19 – oder eben: den 35 Sätzen –, offensichtlich mit einer starken Konzentration auf die letzte Lebensphase repräsentiert. Fast die gesamte erzählte Zeit, der biographische Hintergrund eines 40-jährigen unbefriedigenden Arbeitslebens, wird in 12 Sätzen exponiert. Die verbleibenden 23 Sätze gelten dagegen den Ereignissen innerhalb der letzten beiden Lebensmonate. Dieses markante Verhältnis lässt sich nun anhand der drei von Genette exponierten Grundformen der Zeitbehandlung – der Ordnung, der Dauer und der Frequenz –20 näher beschreiben. Der Aspekt der Ordnung meint die basale Differenz eines Erzählens im ordo naturalis (d. h. der Chronologie der Ereignisse auf der Ebene der Geschichte folgend) oder im ordo artificialis (d. h. diese Chronologie in eine Anachronie dieser oder jener Art überführend). Wie eingangs bemerkt, folgt der Erzähldiskurs grundsätzlich der natürlichen Zeitordnung. An entscheidender Stelle, nämlich in den ersten Sätzen, wird der Regelfall des chronologischen Erzählens jedoch gebrochen. Die Darstellung beginnt nicht mit den negativen Aspekten des Arbeitsalltags des Protagonisten; sie beginnt mit dessen Selbstbehauptung angesichts dieser Umstände. Die zeitlich frühere Ursache der Wirkung – der Errichtung der Bretterwand – wird erzählerisch nachgereicht. Systematisch betrachtet handelt es sich bei dieser Anachronie um eine interne Analepse; die Ereignisse, die nachgetragen werden, um ›Lücken‹ in der Basiserzählung zu füllen, liegen nach deren Auftakt (und nicht vor ihm, wie es bei der externen Anachronie, sei sie ana- oder proleptisch, der Fall wäre). Der Aspekt der Dauer bezieht sich auf das Verhältnis zwischen der Zeit, das ein Erzählgeschehen in Anspruch nimmt, und der Zeit, die seiner Schilderung eingeräumt wird. In Frage steht, anders gesagt, der Gesichtspunkt des Erzähltempos, genauer: dessen Variation in Form erzählerischer Beschleunigung bzw. Verlangsamung. Vor dem Hintergrund der Hinweise zum Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit liegt auf der Hand, dass die Erzählung grundsätzlich dominiert wird durch eine massive Zeitraffung; die erzählte Zeit übertrifft die Erzählzeit um ein vielfaches. Diese Raffung betrifft nun in erster Linie die summarisch erzählten Lebensumstände vor der tödlichen Erkrankung des Protagonisten. Oder reformuliert mit Bezug auf den Frequenz-Aspekt: Wir haben es mit einem iterativen Erzählen zu tun; es wird nur einmal erzählt,

19 So im Zweitdruck, auf den ich mich beziehe (die mittlere dritte Seite ist der Illustration vorbehalten). 20 Vgl. Genette, Erzählung, S. 21-114.

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was mehrfach geschehen ist.21 Erst der Einbruch der Krankheit in diese Regularität führt zu einer deutlichen Verlangsamung des Erzähltempos. Nun wird – unter anderem – singulativ erzählt; was (hypothetisch) einmal geschieht, wird auch einmal erzählt, etwa die dreifach gestufte Klage des Protagonisten und die korrespondierenden Handlungen der Ehefrau bzw. des Nachbarn, aber auch das finale Ereignis »Er starb nach einigen Tagen«.

Das Erzählte Über die Parameter der Geschichte, das Was, wurde beiläufig bereits allerlei gesagt, wenn vom Wie des Diskurses die Rede war. Einige Punkte sind aber noch nachzutragen, an erster Stelle zu den Aspekten des Handlungs- bzw. Geschehenszusammenhangs und, mit diesem unmittelbar gekoppelt, des Figurenensembles. Schließlich muss auch die räumliche Struktur des Erzählten in den Blick kommen. Dabei können textnahe beschreibende Beobachtungen schließlich auch stärker als bislang gekoppelt werden mit zurückhaltend interpretierenden Aussagen (die dann natürlich immer auch zum Erzähldiskurs zurückführen). Wenn die Handlung bereits der Textsorte der Kurzgeschichte entsprechend nur begrenzt komplex sein kann, so sticht im gegebenen Fall eine programmatisch scheinende Reduktion ins Auge. Es handelt sich um eine sehr überschaubare Haupthandlung, der das gesamte Figurenhandeln untergeordnet ist. Was auch immer von einer Figur erzählt wird, es bleibt im engsten Kontext des einen Konflikts der Hauptfigur, der die Erzählung überhaupt erzählungswürdig macht. So spielen etwa der Beruf oder der Name des Nachbarn keinerlei Rolle, und auch seine innere Haltung zu der Bitte, die an ihn herangetragen wird, bleibt im Dunkeln; relevant ist nur, dass er tut, was er tun soll: die Bretterwand entfernen. Aber auch der Protagonist selbst bleibt, mit Forsters einprägsamer Metapher, ein »flacher Charakter«.22 Auch wenn die entscheidende und noch eigens zu diskutierende Pointe der Erzählung in seinem Gesinnungswandel liegt, verfügt er über keinen ausgebauten psychologischen Haushalt, der ihn – Forsters Kriterium entsprechend – dazu befähigte,

21 Und das wiederum heißt: Der eben diskutierte prinzipiell zeitdeckende Originalton ist auch in dieser Hinsicht eine Abstraktion aus einem imaginierten Pool faktischer Äußerungen mit dieser Grundaussage. 22 Edward Morgen Forster: Aspects of the Novel. London 1927, S. 67-82.

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überraschend zu agieren.23 Die Erzählung zieht ihren ambivalenten Reiz vielmehr gerade daraus, dass seine Veränderung eine lineare ist. Der Gesinnungswandel des Protagonisten führt nicht aus den jahrzehntelang eingeschärften Koordinaten seines bisherigen Lebens; er modifiziert nur (und auch dies in schematischer Gestalt) die emotionale Besetzung des corpus delicti der Fabrik. Sein Leben ist, obwohl er zumindest auch eine Liebes- oder zumindest Ehebeziehung unterhält, wesentlich ein Arbeitsleben, und dies eben auch über sein krankheitsbedingtes vorzeitiges Ausscheiden aus der Arbeitswelt hinaus. Es gibt aber kein Gegenprinzip oder keine Gegenprinzipien, die das Profil der Figur ›runden‹ würde(n).24 Dieser Linearität entspricht die rudimentäre Ausgestaltung des Handlungsraums, der prominent – nämlich im ersten Satz – in Gestalt seiner Differenzsetzung eröffnet wird. Die Bretterwand, die der Protagonist in einem Akt der Selbstbehauptung errichtet, zeigt innerhalb der erzählten Welt gerade die fatale Durchlässigkeit, die zwischen den beiden handlungsbestimmenden Teilräumen besteht. Die Differenz zwischen dem öffentlichen Bereich der Arbeit (der »Fabrik«) und dem kleinbürgerlichen Privatbereich (»Haus und Gärtchen«, Satz 6)25 wird zu einer schlechten Differenz, weil sie einseitig allzu durchlässig ist: weil die Arbeitswelt massiv in das Privatleben eindringt. Und die Selbstbehauptung des Arbeiters durch die Errichtung der Bretterwand akzentuiert eben eher die Macht dieser Invasion, als dass sie tatsächlich in der Lage wäre, sie zu begrenzen. Die bloße Bereinigung des »häuslichen Blickkreis[es]« (Satz 2) erscheint als hilflose Maßnahme angesichts des massiven Übergriffs in den psychischen Haushalt des Arbeiters, der im nächtlichen Zucken der Hände kenntlich wird (wobei das Produktionsprinzip des Akkords die Schnittstelle darstellt, die Privatleben / Wohlstand und Lohnarbeit verklammert)26. Wie drastisch dieser Übergriff ist,

23 »The test of a round character is whether it is capable of surprising in a convincing way. If it never surprises, it is flat. If it does not convince, it is a flat pretending to be round.« Ebd., S. 78. 24 Damit entspricht Martis Arbeiter tatsächlich sehr genau Forsters literaturgeschichtlich hergeleiteter Bestimmung des »flat character«: »We may divide characters into flat and round. [/] Flat characters were called ›humours‹ in the seventeenth century, and are sometimes called types, and sometimes caricatures. In their purest form, they are constructed around a single idea or quality: when there is more than one factor in them, we get the beginning of the curve towards the round. The really flat character can be expressed in one sentence […].« Ebd., S. 67 f. 25 Das Diminutiv »Gärtchen« wird konsequent durchgehalten. 26 Vgl. prägnant: Pulver, Neapel sehen, S. 242.

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zeigt sich in der Konsequenz dieses Tagesrests innerhalb der Paarbeziehung. Er höhlt sie aus; das Paar kann dem Zucken bzw. dessen Ursachen nicht anders begegnen als durch Tabuisierung. Bemerkenswert scheint nun, dass der Protagonist zum Zeitpunkt seines absehbaren Todes die Bedeutung der Bretterwand zunächst mit einem gewissen understatement belegt. Zwar liefert er ausdrücklich Gründe für ihre schrittweise Entfernung, im ersten Schritt sind diese aber nur negative. In seiner Rede wird nur ausdrücklich, was durch den Rückbau vermieden, nicht aber, was durch ihn erreicht und sichtbar werden soll. Der Blick auf das Gärtchen – »immer das Gärtchen, […] nur das Gärtchen, […] immer dasselbe Gärtchen« (Satz 23) – sei zu langweilig. Dass es der Anblick der Fabrik ist, der diese Langeweile aufheben kann, bleibt implizit.27 Die Asymmetrie dieser Begründung zu registrieren, scheint von Bedeutung, weil der positive Grund beim Appell zur Entfernung der restlichen Stücke der Wand dann ausdrücklich wird (Sätze 28 und 32). Die Annäherung des Protagonisten an die Fabrik dokumentiert sich damit bis hinein in die Formulierungen, die nötig sind, um diese im Sinn eines Sichtkontaktes zu ermöglichen. Zu erwähnen bleibt schließlich nur noch das Textende. Hier kommt der Regelfall des chronologischen Erzählens in besonderer Weise zur Geltung: Das letzte Ereignis innerhalb der Geschichte ist der Tod des Protagonisten, und mit ihm endet, in einer performativen Geste, auch die Erzählung. Sie scheint klar auf dieses Ereignis hin erzählt. Und die Frage, die diese finale Koinzidenz aufwirft, ist die ihrer globaleren Interpretation und Bewertung: Was soll man als LeserIn anfangen mit dem Blick des Moribunden, der zuletzt »zärtlich« auf »seiner [!] Fabrik« ruht? Was tun mit dem »Lächeln« des Protagonisten angesichts des gänzlich unverstellten Blicks auf die Fabrik? Und wie ist dieses auf den Schlusssatz zu beziehen, auf sein Sterben »nach einigen Tagen«?

Interpretationsoptionen Mit den Hinweisen der letzten Abschnitte steht uns die Erzählung in ihrer Machart einigermaßen genau vor Augen, und es deutete sich auch an, worin ihr inhaltlicher Reiz liegt. Die eben genannten Fragen sind nicht leicht und sicher auch nicht nur in einer Weise beantwortbar. Einer der Gründe für den Interpretationsbedarf insbesondere der strukturell

27 Man vergleiche aber die Erzählerrede in Satz 18.

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kardinalen letzten Sätze liegt sicher in der genannten erzählerischen Diskretion, in der Selbstbeschränkung des Erzählers zugunsten der Figur. Er bleibt auch hier, am Ende, der relativ neutrale Chronist und verzichtet auf deutliche Eingriffe wie etwa psychische Introspektion oder eine Bewertung des Lächelns. Auch die Frequenz-Regel wird weiter eingehalten. Das Sterben des Protagonisten kommt nicht etwa zweimal zur Darstellung, ein zweites Mal z. B. – den Rapport des Erzählers relativierend – mit Bezug auf die Gefühlslage der Ehefrau. So entstehen große interpretatorische Spielräume, in die der Leser / die Leserin eintreten kann und muss, will er / sie denn dem Ende des Lebens des Protagonisten wie der Erzählung einen Sinn beilegen. Wenn im Folgenden drei Interpretationsoptionen, die in der Literatur zu finden sind, referiert und kurz diskutiert werden, dann nicht, um diese kritisch zu evaluieren und ihnen eine bessere vierte an die Seite zu stellen. Die rein beschreibend ansetzende Sichtung zuhandener Interpretationen hat vielmehr eine Scharnierfunktion hin zum zweiten Fokus des Beitrags: der Wahrnehmung der Erzählung als Sterbeerzählung. Die drei Interpretationen sind einem Aufsatz des Literaturdidaktikers und Sprachwissenschaftlers Lothar Bredella entnommen, der sich seinerseits auf Material bezieht, das von StudentInnen entwickelt wurde.28 Interpretation 1: »Wenn der Kranke die Bretterwand, die die Wirklichkeit ausschließt, niederreißt, zeigt dies, daß er bereit ist, die Wirklichkeit anzunehmen, wie sie ist. Er befreit sich von seiner illusionären Wunschvorstellung. Der Traum von dieser anderen Welt hat ihn davon abgehalten, das Leben im Hier und Jetzt zu bejahen. Er erkennt, daß er sich verrannt hat. Er gibt seinen falschen Traum auf, und seine Verkrampfung löst sich. Die Fabrik ist nicht sein Feind, sondern ist das, an dem er mitgeschaffen hat. Sie ist auch sein Werk, auf das er stolz sein kann. Es sind unsere zu hohen Erwartungen, die uns verlocken, die Welt, in der wir leben, als freudlos und zerstörerisch zu empfinden.« Interpretation 2: »Eine andere Interpretation deutet das entspannte Lächeln dahingehend, daß der Arbeiter in der Fabrik die Erfüllung findet. Er überwindet nicht seine Illusion, sondern sieht in der Fabrik, was wir sonst mit Neapel verbinden, nachdem er die trennende Wand hat niederreißen lassen und die Fabrik unverstellt wahrnehmen kann. Auch in der Fabrik kann man Schönheit und Erfüllung finden, wenn man die ganze Wirklichkeit annimmt.«

28 Vgl. Bredella, Lesen als »gelenktes Schaffen«, S. 179.

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Interpretation 3: »Eine weitere Deutung lehnt die zuletzt angeführte als zu optimistisch ab und betont, daß erst der Kranke in der Lage ist, die Bretterwand, die seine private Welt von der Fabrik trennt, niederzureißen. Solange der Mensch in der Fabrik arbeitet, kann er sie nicht mit einem entspannten Lächeln betrachten. Nur wenn er nicht mehr dort arbeitet, kann er es sich leisten, die Fabrik ›ästhetisch‹ zu betrachten. Insofern wirft der Schluß der Geschichte auch ein ironisches Licht auf den Leser, der vielleicht allzu schnell bereit ist, der zweiten Deutung zu folgen. Man darf nicht das entspannte Lächeln überbetonen, sondern soll sich dessen bewußt bleiben, daß es das Lächeln eines Todkranken ist, den die Fabrik zerstört hat.« An den drei Interpretationsvorschlägen muss zunächst auffallen, dass sie alle einen deutlichen Zug ins Positive haben, die ersten beiden freilich stärker als der dritte. Sie beschreiben die Entwicklung des Protagonisten affirmativ als Lernprozess – ganz einerlei, ob diese (wie im letzten Satz von Interpretation 1) zusätzlich als generelle Tugend ausgegeben wird (»Du sollst keine illusionären Wunschvorstellungen haben«), oder ob diese (wie in Interpretation 2) kleinräumiger ausfällt. Interpretation 3 fordert am deutlichsten die Rückbindung an die Gesamtheit der Erzähldaten, weshalb sie denn auch den ambivalentesten Deutungsvorschlag macht. Mehr noch: Interpretation 3 operiert von vornherein in einem kritisch vergleichenden Horizont. Sie ist zumindest auch als Deutungsalternative angelegt, als Einspruch gegen die harmonisierenden Tendenzen v. a. der zweiten Interpretation. Allein in Interpretation 3 werden daher der spezifische Zeitpunkt und die situativen Umstände des Sinneswandels des Protagonisten thematisiert und – autorintentional argumentierend – als »ironisches Licht« auf antipizierte Versöhnungsbedürfnisse seitens des Lesers dargestellt. Was die drei Vorschläge nun unabhängig von diesen (und weiteren) Differenzen verbindet, ist ein und dasselbe Grundmuster der Interpretation, das die Erzählung offensichtlich provoziert. Die referierten Interpretationen operieren alle innerhalb eines eher rigiden biographischen Kontinuitätsschemas. Damit ist nicht nur die schlichte Bezogenheit der beiden dargestellten Lebensphasen gemeint, der Umstand, dass die zweite (kurze) Lebensphase zwangsläufig aus der ersten (langen) Lebensphase verständlich wird bzw. zu verstehen ist und vice versa. Ein Kontinuitätsschema spielt auch in der emotionalen Befrachtung ihres Zusammenhangs. Die hohe Emotionalität innerhalb der ersten Lebensphase – der starke Affekt des Hasses – innerhalb der erzählten Welt springt gleichsam über auf die Interpreten, die diese in die zweite Phase hinein verlängern. Das zeigt sich daran, dass sie sofort bereit sind, in

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starken Lesarten weit über die deskriptive Ebene hinauszugehen. Wo die Erzählung (der Protagonist) von Langeweile spricht und vom Wunsch, die Fabrik zu sehen – also von prinzipiell temporär-reversiblen Befindlichkeiten –, sprechen die Interpretationen von einer fundamentalen und irreversibel anmutenden Zäsur innerhalb der Selbst- und Weltwahrnehmung des Protagonisten: von dessen (Selbst-)Befreiung von einer »illusionären Wunschvorstellung«, vom Erwachen aus einem »falschen Traum« (Interpretation 1) bzw. von »Erfüllung« (Interpretation 2). Der innerfiktionale Anlass dieses ausgeprägten Kontinuitätsdenkens scheint nun leicht erkennbar. Dass es ins Spiel kommt, dürfte sehr direkt damit zusammenhängen, dass hier nicht irgendwelche zwei Lebensphasen in ihrem Auf- und Auseinander-Folgen zur Debatte stehen, sondern die allerletzte – in ihrer Fundierung in der vorletzten. Das Gewicht der biographischen Erzählung an der Grenzlage des Lebensendes mobilisiert umfassende Integrationsmuster vom Typ »Erfüllung«, »Befreiung von einer illusionären Wunschvorstellung«. Anders gesagt: Die drei referierten Interpretationen lesen sich ihrerseits als Varianten einer allgemeineren und sehr verbreiteten Denkfigur: der Vorstellung, dass Menschen faktisch ihren »eigenen Tod« sterben oder idealerweise sterben sollten.29 Damit ist der Punkt erreicht, um nach der Eigenart von Neapel sehen als Sterbeerzählung zu fragen.

29 Statt von einer Denkfigur könnte hier wohl auch von einem »Sterbenarrativ« die Rede sein – im Sinn eines basalen Organisationsmusters narrativer Thematisierungen des Lebensendes. Im Hintergrund steht, wie auch immer man diese Denk- und Darstellungsstruktur bezeichnen mag, die Intuition, die auch für viele sozialpsychologische und philosophische Entwürfe einer »narrativen Identität« zentral ist: Zu einer Lebensgeschichte gehört, so die Überzeugung, wesentlich der Tod. Denn erst der Tod – als ihr letztes Kapitel – erlaubt es, deren Einheit und auch damit auch Güte zu bestimmen. Diese Vorstellung bildet zugleich die Voraussetzung der Annahme, dass ein unsterbliches Leben nicht lebenswert sein könnte. Die menschliche Sterblichkeit sei nicht als Übel zu sehen, sondern als Gut; nur durch seine Befristung kann es eine Geschlossenheit und damit auch ein bestenfalls gelingendes Leben geben. Für eine systematisierende Übersicht der Debatte mit starken Argumenten gegen diese verbreiteten Grundannahmen: Marianne Kreuels: Über den vermeintlichen Wert der Sterblichkeit. Ein Essay in analytischer Existenzphilosophie. Berlin 2015, S. 138-180.

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Sterbeerzählungen: gattungspoetische Überlegungen Wenn Martis Erzählung bislang ohne Umschweife als eine Sterbeerzählung bezeichnet wurde, so kann die Plausibilität dieser Zuschreibung natürlich auch angezweifelt werden, und dies in mindestens doppelter Weise. Eine kritische Anfrage könnte sich etwa darauf berufen, dass das Sterben »im engeren Sinn« ja nur im letzten der 35 Sätze Erwähnung finde und nur eine minimale Ausgestaltung zeige (nämlich die rein formale relative Zeitbestimmung »nach einigen Tagen«). Der Sterbeprozess selbst – die einschlägigen leiblichen und/oder psychischen Vorgänge30 – komme dagegen in keiner Weise zur Sprache. Die Zuschreibung der Bezeichnung sei daher, wenn nicht unberechtigt, so zumindest diskutabel. Noch grundsätzlicher setzte eine Kritik an, die – vielleicht wiederum anhand des genannten Mangels – auf die Unterbestimmtheit der Genrebezeichnung selbst verwiese. Ob Neapel sehen als Sterbeerzählung gelten könne, sei nur zu entscheiden auf der Grundlage einer Klärung der Eigenschaften, die ein Text aufweisen muss, um als Exemplar dieser Erzähltextsorte gelten zu dürfen. Diese Anfragen wären sehr berechtigt. Wenn die Thematisierung der Erzählung als Sterbeerzählung aussagekräftig sein soll, so muss zunächst die Genrebezeichnung an sich in den Blick kommen. Eine ausführliche Diskussion kann hier angesichts der Fülle verwandter Begriffe allerdings nicht geleistet werden, und die Vorläufigkeit der Hinweise muss sich insbesondere auch auf den ersten Teil des Kompositums beziehen. Was unter »Sterben« zu verstehen ist, steht – wie der erste fiktive Einspruch zeigte – keineswegs immer schon fest. Der Begriff läßt sich vielmehr legitimerweise in mehr als einer Art verstehen, nicht

30 »Der Sterbeprozess bezeichnet die letzte Phase des Lebens eines organischen Individuums, in der die Lebensfunktionen unumkehrbar zu einem Ende kommen. […] Der natürliche Sterbevorgang durchläuft mehrere Phasen: Zunächst wird die Wahrnehmung durch verringerte Hirnaktivität eingeschränkt; Seh- und Hörvermögen lassen nach bzw. erlöschen, und die Atmung verflacht. Danach tritt der Herzstillstand ein, dem innerhalb weniger Minuten infolge des Funktionsverlusts der Hirnzellen der Hirntod folgt.« Dominik Groß / Jasmin Grande: Art. Sterbeprozess. In: Héctor Wittwer et al. (Hg.): Handbuch Sterben und Tod. Stuttgart 2010, S. 7583, S. 75. Zu den innerpsychischen Dynamiken im Sterbeprozess: Allan Kellehear: The Inner Life of the Dying Person. New York 2014.

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anders natürlich als der zweite Wortteil, »Erzählung«.31 Die folgenden Hinweise überspringen diese Vorfragen und begnügen sich mit der hinreichenden alltagssprachlichen Klarheit der Terme, um gleich direkt nach der Art und Weise zu fragen, wie in einer wiederum narratologisch informierten Perspektive das Sterben zum Identifikationsmoment eines Erzähltypus werden kann. An erster Stelle ist das Unterscheidungskriterium ausdrücklich zu machen, das im Hintergrund steht, wenn Sterbeerzählungen als ein bestimmter Typus aus dem Kosmos der Erzählungen ausgesondert werden. Das Kriterium, das dabei im Spiel ist, scheint – analog etwa zur Kriminalerzählung – ein thematisches zu sein (und nicht etwa ein formales, wie im Fall der Langerzählung, ein pragmatisches wie im Fall der Nacherzählung oder ein qualitatives wie im Fall der Meistererzählung). So wie Kriminalerzählungen von wenigstens einem kriminellen Akt und seinen Folgen handeln, handeln Sterbeerzählung von den Umständen wenigstens eines Sterbeprozesses. Thema dieses Erzähltypus ist das oder ein Sterben. Diese Bestimmung kann allerdings nur eine vorläufige sein, lässt sie doch sofort die Folgefrage aufbrechen, was unter diesem »Handeln-von« bzw. »Thema-Sein« genauer zu verstehen ist. Damit eröffnet sich wiederum eine andere Hintergrundsdebatte: die der literaturwissenschaftlichen Thematologie bzw., in traditionellerer Diktion, der Stoff- und Motivforschung. Diese Theoriebildungen aus praktischen Gründen in der komprimierten Fassung eines einführenden Referats wahrzunehmen,32 kann dazu helfen, die Rede von Sterbeerzählungen als thematisch identifiziertem Erzähltypus genauer zu fassen. Dabei scheint es instruktiv, zunächst über das »Thema« hinaus auch den Begriff des »Stoffs« heranzuziehen, der im literaturwissenschaftlichen Vokabular gleichfalls als summarischer Terminus »für die Un-

31 Nur jeweils ein Hinweis zu den betreffenden breiten Diskussionen: Gian Domenico Borasio / Franz-Josef Bormann (Hg.): Sterben: Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens. Berlin 2012; Matthias Aumüller (Hg.): Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung. Berlin 2012. 32 Ich halte mich aufgrund ihres narratologischen Theorierahmens auch hier an die Darstellung von Lahn und Meister, Erzähltextanalyse, S. 204-209. Zur Diskussion u. a.: Christine Lubkoll: Thematologie. In: Jost Schneider (Hg.): Methodengeschichte der Germanistik. Berlin 2009, S. 747-762; Beatrix MüllerKampel: Thema, Stoff, Motiv. Eine Propädeutik zur Begrifflichkeit komparatistischer und germanistischer Thematologie. In: Compass 2001, 4, S. 1-20; Werner Sollors (Hg.): The return of thematic criticism. Cambridge 1993.

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tersuchung des Gesamtkomplexes des erzählten Gegenstandes in seiner übergreifenden Bedeutung«33 kursiert. Thema und Stoff lassen sich, Ulrich Mölk folgend,34 plausibel unterscheiden in Hinsicht auf ihren Abstraktionsgrad. So bezeichnet der Stoff »in relativ konkreter Form den Gegenstand (den ›Inhalt‹, das ›Sujet‹, das Geschehen) einer Erzählung hinsichtlich Figuren und Figurenkonstellation, Schauplatz, Ausgangssituation, Konflikt, Geschehensverlauf und Ausgang«.35 Das Thema dagegen bezeichnet »mit abstrakten Begriffen die sich im dargestellten Stoff manifestierende Idee, d. h. das die Gesamtstruktur des Erzähltextes organisierende Problem« (204).36 Die Differenz ist am Exempel klassischer Stoffe leicht nachvollziehbar: Während der Daedalus-undIkarus-Stoff dem Thema der »reife[n] Umsicht des Alters gegenüber jugendlichem Übermut im Umgang mit einer revolutionären Erfindung« gilt, ist das Thema des Faust-Stoffs das »Verlangen nach umfassender Erkenntnis und Lebensgenuss ohne religiöse Beschränkung«.37 Diese Unterscheidung lässt sich weiter schärfen in Bezug auf die narratologische Basisdifferenz von Erzähltem und Erzählen: Denn der Stoff-Begriff rekurriert klar auf der Ebene der Geschichte; er benennt »das Material, das vom Erzähler auf eine bestimmte Weise im Diskurs vermittelt und strukturiert wird«. Das Thema dagegen ist in erster Linie der Diskursdimension zuzuordnen. »Das Thema bezeichnet die durchgängige Idee einer Erzählung, die ›genetisch‹ (in der Komposition des Werkes) und ›analytisch‹ (in der Rezeption und Interpretation) betrachtet werden kann. In genetischer Hinsicht ist das Thema als die formende Idee zu verstehen, die den konkreten Einzelheiten von Handlungsentwicklung, Figurenkonstellation und Schauplatzwahl zugrundeliegt und sie in ihren Zusammenhängen bestimmt, in analytischer Hinsicht als die Gesamtbedeutung, die durch starke Abstraktion von den konkreten Einzelheiten herausgearbeitet wird.«38

33 Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, S. 204. 34 Ulrich Mölk: Art. Motiv, Stoff, Thema. In: Ulfert Ricklefs (Hg.): Das FischerLexikon Literatur. Frankfurt a. M. 1996, Bd. 2., S. 1320-1337. 35 Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, S. 204. 36 Mit dem gleichen Akzent Christine Lubkoll (Thematologie, S. 751): »Im Gegensatz zu den relativ konkreten, aufgrund der genannten Kanonisierungsprozesse auch eingrenzbaren Begriffe ›Stoff‹ und ›Motiv‹, die an bestimmte Ereigniszusammenhänge und klar strukturierte Konstellationen gebunden sind, bezeichnet das ›Thema‹ eine Abstraktion, die Grundidee oder auch den Gehalt eines Textes.« 37 Meister / Lahn, Erzähltextanalyse, S. 205. 38 Ebd.

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Dieser Differenzierungsvorschlag ist von Interesse, weil er die Primavista-Plausibilität einer »thematischen« Bestimmung des Genus der Sterbeerzählung produktiv aufraut. Versteht man »Thema« in diesem Sinn, so scheint es eher fraglich, ob die Rede von Sterbeerzählungen tatsächlich thematisch zu fassen ist. Als handfester Vorgang verweist das Sterben zunächst auf die Dimension der Geschichte, die, diesem Modell gemäß, ja primär dem »Stoff« vorbehalten sein soll. Aber »Sterben« ist kein Stoff wie »Dädalus und Ikarus« einen darstellt; das »Sterben« ist als Stoff gleichsam ›zu klein‹, weil es ohne weitere Angaben eben nicht die angezielte Konkretionsebene erreicht (wer wo unter welchen Umständen und mit welchen Folgen stirbt). Denkt man bei Stoffen in erster Linie an »klassische«, meist über die Figuren(en) identifizierte Stoffe, wie sie in den einschlägigen Handbüchern verzeichnet werden (von »Abälard und Heloïse« zur »Witwe von Ephesus«)39, so regt sich Widerstand. Es bietet sich daher an, dennoch beim intuitiv passenderen Begriff des Themas zu bleiben, die narratologischen Implikationen der Stoff-Thema-Differenz aber dennoch ernst zu nehmen. Wenn das Thema auf einer allgemeineren Ebene angesiedelt wird, als »die sich im dargestellten Stoff manifestierende Idee«,40 so macht das Thema »Sterben« deutlich, dass die Rede von einer »Idee« ihrerseits unterschiedliche Abstraktionsgrade einschließen kann. Und die »Idee« des Sterbens zeigt dabei eben eine erhebliche Schwerkraft zum Konkreten hin: Sie lässt sich nicht ablösen von einem Vorgang; sie ist ›von Hause aus‹ wesentlich näher am narratologischen Parameter der Geschichte als etwa »die reife Umsicht des Alters gegenüber dem Übermut beim Umgang mit einer revolutionären Erfindung«.41 Das Ergebnis dieser kurzen Diskussion: Es liegt nahe, die Zuschreibung des Begriffs »Sterbeerzählung« thematisch zu fundieren, dies aber in einer Weise, die das Thematische nie auf die Dimension des Erzählten reduziert, sondern immer und zentral auch dessen diskursiver Gestaltung Rechnung trägt. Eine Begriffsbestimmung in einem strengen Sinn ist mit dieser Regel längst nicht gewonnen, doch lässt sich der Begriff

39 Allen voran: Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur: ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 102005. Vgl im Gegenzug das »thematisch« und »motivisch« orientierte Handbuch: Horst S. Daemmrich / Ingrid G. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Tübingen 21995. 40 Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, S. 204. 41 Diese Tendenz zeigt sich aber auch bei einer Kontrastierung der Themen »Sterben« und »Tod«.

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auf dieser Grundlage doch klarer konturieren – in mindestens viererlei Hinsicht: 1. Um von einer Sterbeerzählung zu sprechen, ist es sicher nicht hinreichend, wenn im fraglichen Erzähltext gestorben wird. Das ist in Erzählungen einer gewissen Länge die Regel. Würden sie alle als Sterbeerzählung bezeichnet, verlöre das Label gerade die Distinktionsfunktion, die es innerhalb der literaturwissenschaftlichen wie multidisziplinären Sterbeforschung haben könnte. 2. Das Ereignis des Sterbens muss, so lässt sich folgern, nicht nur ›vorkommen‹. Es muss innerhalb der diskursiven Präsentation des Erzählten ›eine (oder die) tragende Rolle spielen‹. 3. Dass das Sterben vorkommen und eine tragende Rolle spielen muss, schließt wiederum nicht zwangsläufig ein, dass innerhalb der erzählten Welt eine Figur tatsächlich stirbt. Es mag Sterbeerzählungen geben, in denen nicht gestorben wird, weil eine tragende Rolle des Sterbethemas auch ohne akuten Sterbefall denkbar ist – etwa in Gestalt intensiver Imagination eines künftigen Lebensendes. 4. Die letzte Bemerkung gibt schließlich Anlass zu typologischen Binnenunterscheidungen. Man könnte tentativ den Subtypus der reflexiven Sterbeerzählung einführen, der vom Typus der präsentativen Sterbeerzählung zu unterscheiden, nicht aber zwingend zu trennen wäre.42 Zweifellos gibt es Erzählungen, die der Darstellung des Sterbens ›im engeren Sinn‹ (also einschließlich deskriptiver Aussagen zur leiblichen und/oder psychischen Befindlichkeit des oder der Betroffenen) nicht weniger Raum geben als dessen Reflexion – ausgespannt etwa zwischen Erwägungen zur Möglichkeit postmortaler Existenz und ganz und gar irdischen Erörterungen des Erbrechts. Die vagen Kriterien des »Vorkommens« bzw. des Spielens einer »tragenden Rolle« müssen genauer gefasst werden. Dies soll nun abschließend am konkreten Beispiel von Martis Erzählung geschehen, und zwar in doppelter Hinsicht: einerseits im Bezug auf den Paratexttypus des Titels,43 andererseits im Bezug auf eine paradigmatische Charakteristik

42 Diese Begrifflichkeit in freier Anlehnung an die Symbolphilosophie Susanne K. Langers: vgl. dies.: Philosophy in a New Key: A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art (1941). Cambridge 1951 (Kap. 4: »Discoursive and Presentional Forms«). 43 Der Begriff des Paratextes verweist auf den Umstand, dass Texte (im Fall Genettes, der den betreffenden Forschungszweig eröffnet hat, in erster Linie literarische) immer gerahmt erscheinen von einem mitunter üppigen »Beiwerk« aus Umschlag, Klappentexten, Gattungsbezeichnungen, Vorworten,

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des Erzähldiskurses. Diese beiden Aspekte liefern auch Gründe – wenngleich nur sekundäre –, weshalb Neapel sehen als eine exemplarische Sterbeerzählung gelten kann.

Seinen Tod sterben: der exemplarische Charakter von Martis Erzählung Ein starkes Motiv für die Wahrnehmung einer Erzählung als Sterbeerzählung liefert die Institution des Werktitels als zentrales Element eines möglicherweise umfangreichen paratextuellen Apparats. Nicht nur im Fall des Sterbethemas lässt regelmäßig bereits der Titel – der auch typologisch »thematische Titel«44 – erkennen, was die Leserin/ den Leser erwartet, »worum es geht«. Man denke nur an zwei kanonische Exempla: Thomas Manns Der Tod in Venedig und Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch (wobei letztere Erzählung, wie gelegentlich bemerkt wird, tatsächlich auch oder eher Das Sterben des Iwan Iljitsch heißen könnte).45 Ein analoges paratextuelles Signal setzt auch der Titel von Martis Erzählung. Dieses ist, anders als bei den genannten Texten, allerdings nur ein mittelbares, da es eine Vertrautheit der Leserin / des Lesers hierarchisch gestuften Titeln, Reihenbezeichnungen, vorangestellten Motti, Widmungen etc., die den Lektüreprozess maßgeblich mitbestimmen (sollen). Gérard Genette: Paratexte. Das Buch zum Beiwerk des Buches, mit einem Vorwort v. Harald Weinrich, aus dem Franz. v. Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2001. 44 Ebd., S. 82. 45 Dass diese Signalfunktion auch in der Gegenwartsliteratur intensiv genutzt wird, lässt sich anhand einer Sammelrezension aktueller Romane zeigen: »Schon die Titel dieser Bücher sagen es, direkt oder indirekt. ›Aller Tage Abend‹ heißt der Roman von Jenny Erpenbeck, ›Soutines letzte Fahrt‹ eine Erzählung von Ralph Dutli, ganz ungeschminkt ›Geschichten vom Sterben‹ die Koproduktion der Ärztin Petra Anwar und des Autors John von Düffel. ›Außer sich‹ von Ursula Fricker und ›Nur ein Schritt bis zu den Vögeln‹ von Christof Hamann verschleiern ihr Thema nur halb.« Burkhard Müller: Wenn der letzte Rest Zukunft verbraucht ist. Sterben und Tod als literarisches Thema. In: Süddeutsche Zeitung, 28. April 2013; http://www. sueddeutsche.de/kultur/sterben-und-tod-als-literarisches-thema-wenn-derletzte-rest-zukunft-verbraucht-ist-1.1660134 (15. 1. 2016). Auf der Basis der Grundannahme »Gestorben wird immer, darüber gesprochen immer ungern« formuliert der Autor auch bemerkenswerte Thesen zu den Gründen, die dem »existenziellen Dauerbrenner« zu seiner aktuellen Konjunktur verhelfen.

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mit der intertextuellen Referenz voraussetzt, die er ins Spiel bringt: dem Sprichwort »Neapel sehen und sterben« (»Vedi Napoli e poi muori!«), das sich wohl u. a. durch einen Hinweis Goethes in der Italienischen Reise (Eintrag vom 2. März 1787) im deutschsprachigen Kulturkreis etabliert hat. Der allgemeine Sinn des Ausspruchs ist der, dass eine Erfahrung derart unübertrefflich sein kann, dass ein zeitnah folgender Tod kein Übel wäre. Was auch immer an Erfahrungen noch kommen sollte, es vermöchte keine größere Erfüllung zu geben.46 Durch diesen Intertext ist der Erzählung also von Anfang an eine – zurückhaltend formuliert – Beziehung sowohl zum Thema des Sterbens als auch zu dem eines gelingenden Lebens mitgegeben. Wie diese Beziehung genauer zu fassen ist, wie Sprichwort und Erzählung auf einander zu beziehen sind, liegt allerdings nicht auf der Hand. Mit dem Hinweis, dass das ›Neapel‹ des Protagonisten die Fabrik sei (so ja bereits die oben zitierte Interpretation 2), ist noch sehr wenig gesagt. Unklar bleibt etwa, ob dieses ›Neapel‹ eines Arbeiterlebens die Erfüllung bedeutet, die das Sprichwort verspricht – oder, »ironisch«, »natürlich« nicht.47 Unklar bleibt aber auch, ob, in die gegenläufige Richtung argumentierend, durch die Erzählung vielleicht eher das Versprechen des Sprichworts als problematisch überschießend entlarvt werden soll (etwa im Sinn der Anfrage: Kann die Behauptung einer derart singulären Erfüllungserfahrung mehr sein als bloße Rhetorik?). Wie auch immer man hier Stellung bezieht: Die Implikationen des Titels steigern auf jeden Fall erheblich die Notwendigkeit – und wohl auch: die Schwierigkeit –, sich zum Gesinnungswandel des Protagonisten zu verhalten. Neapel sehen als Sterbeerzählung zu bezeichnen, scheint also auch motiviert durch den klandestinen thematischen Titel. Die Plausibilität der Bezeichnung steht und fällt aber sicher nicht mit diesem, da es – was hier nicht der Fall ist – Titeln selbstverständlich freisteht, eine relativ eindeutige Lektüreerwartung gerade zu verhindern oder auch gezielt falsche Fährten zu legen (in Ionescos Stück La Cantatrice chauve kommt eine kahle Sängerin bekanntlich fast gar nicht vor). Wie prägnant der

46 Oder mit Elsbeth Pulvers Paraphrase der »landläufigen Deutung« des Diktums (Neapel sehen, S. 243): »der Inbegriff des Lebens, das Schönste, Wichtigste, das man vor dem Tod sehen will«. 47 Eine Interpretation, die etwa im aktuellen Wikipedia-Artikel zur Erzählung vertreten wird: »Der Titel ist jedoch ironisch zu verstehen, da die Arbeitswelt des Arbeiters in krassem Gegensatz zu Neapel steht. Der Arbeiter hat das wirklich Schöne nicht kennenlernen können und ist daher in seiner Ausgeliefertheit an die Arbeit, die ihn bis in den Tod hinein bestimmt, zu bedauern.« https://de.wikipedia.org/wiki / Neapel_sehen (15. 1. 2016).

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Titel von Martis Erzählung ist, zeigt sich vielmehr erst retrospektiv, wenn das stille initiale Signal am Textende unüberhörbar laut wird. Die eingeforderte »tragende Rolle« des Themas dokumentiert sich hier diskursiv in der Reservation der signifikanten Funktionsstelle des Schlusssatzes für die ausdrückliche Benennung des Sterbeereignisses.48 Diese Anlage ist allerdings – was angesichts ihres Effekts kaum erstaunt – eine recht konventionelle. Auch Tolstois und Manns klassische Erzählungen zeigen diese Struktur, nicht anders als John Williams’ Stoner, Kafkas Der Proceß, Joseph Roths Radetzkymarsch und unzählige weitere literarische, aber auch filmische Erzählungen.49 Im Fall Martis hat diese Anlage freilich eine bestimmte Pointe: Die Stimme des Erzählers verstummt mit der Figur, deren Wahrnehmung und Wertung er, wie ausgeführt, prinzipiell folgt. Auch abschließend soll nun nicht Position bezogen werden für dieses oder jenes Verständnis der letzten Sätze der Erzählung bzw. der Erzählung im Ganzen. Mit Nachdruck sei aber betont, dass sie als exemplarische Sterbeerzählung gelten muss. Und dieser Status verdankt sich nur in zweiter Linie dem paradigmatischen Titel und Schlusssatz. Der entscheidende Anlass, sie so zu bewerten, liegt in der Radikalität, mit der in den 35 Sätzen ein Problem zur Darstellung kommt, das zum Grundbestand des biographischen ›Auserzählens‹ eines Lebens gehört: eben jenes der biographischen Kontinuität in extremis, der Art und Weise, wie ein »eigener Tod« gestorben wird, ein Sterben, das – mit dem Stichwortgeber Rilke – »aus jenem Leben geht, / darin er Liebe hatte, Sinn und Not«.50

48 Man könnte, Lugowskis grandiose Formel ins Unreine heranzitierend, von einer »Motivation von hinten« sprechen. Vgl. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Berlin 1932. Zum systematischen Problem: Harald Haferland: ›Motivation von hinten‹. Durchschaubarkeit des Erzählens und Finalität in der Geschichte des Erzählens. In: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research 2014, 3, 2, 2014, S. 66-95. 49 Die letzten Exempla werten die Frage auf, ob die Textsorte »Sterbeerzählung« auch hier gerechtfertigt sei – als Bezeichnung des Gesamttextes. Sie ist es sicher nicht. Ich sehe aber keinen Grund, den Begriff nur auf integrale Texte anzuwenden. Williams’ Stoner ist, wenn einem »Roman« nicht genügt, am ehesten ein »Universitätsroman«, der mit einer bemerkenswerten Sterbeerzählung endet. 50 Rainer Maria Rilke, Das Stunden-Buch. In: ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Rilke-Archiv, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1975, S. 347.

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Weil nun das Leben des Arbeiters, da es so erzählt wird, wie es erzählt wird, nicht von »Liebe« und »Sinn« durchdrungen war, sondern von »Not« und »Hass«, fordert die Darstellung besonders nachdrücklich dazu heraus, die Ereignisse zu bewerten, für sich und in ihrem Zusammenhang. Diese Herausforderung ist nachdrücklich, da das biographische Material maximal reduziert wird: zwei Lebensphasen und eine sich wandelnde Wahrnehmung der ersten aus der Sicht der zweiten, der Aufbau und schrittweise Rückbau der Bretterwand als Manifestation des Wandels, das Sehen seines ›Neapels‹. Die Möglichkeit, den Konflikt breiter zu situieren, besteht mangels weiterer Daten nicht; eine dritte und potentiell moderierende Lebensphase (etwa die Kindheit) kommt nicht zur Sprache. Trotz dieser Machart, die zu einem Positionsbezug drängt, ist die Position, die bezogen werden soll, nicht deutlich markiert. Wenn die Frage Ist das ein gutes Sterben? aufbrechen muss, so scheint durch die Frage nicht immer schon die richtige Antwort hindurch.51 Wenn die Bewertung des Arbeitslebens für sich genommen noch relativ einhellig ausfallen wird, müssen an der Wahrnehmung des Gesinnungswandels des Protagonisten angesichts seines nahen Todes zwangsläufig Differenzen aufbrechen. Dies zeigten bereits die referierten Interpretationen. Das Sterben des Protagonisten im Angesicht »seiner Fabrik« ist zweifellos ein Sterben seines eigenen Todes. Ob dieses Sterben deshalb ein gutes ist, bleibt zugleich höchst fraglich. (Dies zu erwähnen ist auch deshalb nicht trivial, weil in Rilkes Gedicht selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass der eigene Tod ein guter ist. Andernfalls müsste der »Herr« nicht um ihn gebeten werden.)52

51 Zum Komplex des guten Sterbens zuletzt und umfassend: Peggy Sturman Gordon: Psychosocial Interventions in End-of-Life Care. The Hope for a »Good Death«. New York 2016. 52 Es hat daher eine gewisse Komik, wenn der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio in einem Interview festhält, der eigene Tod sei »[i]m Grossen und Ganzen« die Regel, um zugleich zustimmend Rilke zu zitieren: »[Frage:] Was passiert, wenn jemand stirbt? [Antwort Borasio]: Wenn ich etwas gelernt habe in den vergangenen 20 Jahren, in denen ich Sterbende begleite, dann dies: mich immer mehr zurückzuziehen mit meinen eigenen Vorstellungen, was ein gutes Sterben ist. Das Sterben ist, wie das Leben, ein hochindividueller Prozess. Jeder Mensch stirbt anders. Und im Grossen und Ganzen kann man sagen, dass die Menschen so sterben, wie sie gelebt haben. […] Wer sein Leben lang ein Kämpfer war, wird eher nicht friedlich bei Kerzenschein im Beisein seiner Angehörigen einschlafen. Wir hatten mal eine Patientin, die war Opernsängerin, die hat aus ihrem Sterben eine riesige Show gemacht. Das passte sehr gut zu ihrem Leben. Es gibt keine Vorschrif-

martis exemplarische sterbeerzählung »neapel sehen« 249

Was aber wäre angesichts dieses Lebens ein gutes Sterben? Ist es ein Sterben, das mit der Fabrik versöhnt ist? Wenn ja: versöhnt im Sinn von Interpretation 1 oder von Interpretation 2 oder in einem anderen? Oder sollte man den Wandel, anders als diese, gar nicht affirmieren? Vollendet die finale Versöhnung nicht in fataler Weise die Entfremdung des Arbeiters? Ist der Rückbau der Wand nicht das Zeichen einer bedauerlichen Resignation? Oder ist das Sterben des Protagonisten allenfalls dennoch ein gutes, weil ihm – Entfremdung hin oder her – auch die falsche Versöhnung zu einem leichten Sterben verhilft? Ist das leichte Sterben ein gutes, weil es für ein schlechtes Leben kompensiert? Aber stirbt der Arbeiter überhaupt leicht? Wie eng dürfen die beiden letzten Sätze aufeinander bezogen werden? Kann das Lächeln des Protagonisten in den letzten Satz hinein verlängert werden oder hieße dies, einer post hoc fallacy zu erliegen, der Stiftung eines Kausalzusammenhangs, wo keiner ist – wo, schlimmer noch, immer auch die Option eines äußerst qualvollen Sterbens offenbleibt? Dass sie diese Fragen aufbrechen lässt, macht Martis an sich bemerkenswerte und zu Recht klassische Erzählung zu einer exemplarischen Sterbeerzählung.

ten, wie man sterben soll. Niemand hat das besser gesagt als Rainer Maria Rilke, der schrieb: ›O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not‹.« Palliativmediziner Borasio: »Jeder Mensch stirbt anders.« In: Aargauer Zeitung, 12. 9. 2013; http:// www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/palliativmediziner-borasiojeder-mensch-stirbt-anders-127157034 (15. 1. 2016).

III.

Lukas Dettwiler

Der Briefwechsel Ernst Merz – Kurt Marti Eine Annäherung Seit ein Gespräch wir sind Und hören können voneinander. Hölderlin1

Der von 1937 bis 1963 dauernde Briefwechsel2 kennt eine Präambel: Hans Marti (1915-2003),3 der ältere Bruder Kurt Martis, hat mit Ernst Merz von 1934 bis 1939 eine Korrespondenz geführt, der sich der jüngere 1937 anschloss und die er nach zwei Jahren allein weiterpflegte. Mithin ist es dieser Inkubationszeit geschuldet, dass die epistolare Verständigung zwischen Ernst Merz und Kurt Marti so gedeihlich verlief. In der Lektüre eröffnet sich eine Freundschaftsgeschichte,4 wobei Hans als ihr guter Geist und Initiator zunehmend in den Hintergrund tritt. In der Übergangszeit wird er noch häufig erwähnt, so auch im zweiten Brief des 16-jährigen Gymnasiasten Kurt Marti mit der Anrede »Sehr verehrter Herr Merz!«5 vom 28. Juli 1937, dessen letzter Abschnitt mit einem bezeichnenden »Wir« einsetzt und den Worten schließt:

1 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Hg. v. Friedrich Beißner. Stuttgart 1970 (Unveränderter reprographischer Nachdruck der 1. Aufl. 1951), Bd. 2.1, Gedichte nach 1800 – Text, Die Vaterländischen Gesänge, Entwurf mit dem Incipit »Versöhnender, der du nimmergeglaubt …«, Dritte Fassung, S. 157. Die letzten vier Zeilen: »Viel hat erfahren der Mensch. Der Himmlischen viele genannt. / Seit ein Gespräch wir sind / Und hören können voneinander«. 2 Vom 29. 4. 1937 bis 27. 10. 1963. Der erste und der letzte Brief stammen von Ernst Merz (= EM; Kurt Marti = KM). 3 Seine 23 Briefe behandeln mehrheitlich juristische Fragen. Für eine Würdigung, vgl.: Prof. Hans Marti 75jährig. Notar, Fürsprecher, Wissenschafter und höchster Militärrichter. In: Der Bund, 13. 1. 1990. 4 Eine kommentierte Briefausgabe würde diese Aussage bestätigen; sie bildet vorerst ein Desiderat. 5 Das Ausrufezeichen in Merz’ Anrede ist in den Briefen von Kurt Marti oft anzutreffen. Gegen Ende der Korrespondenz heißt es öfter »Verehrter, lieber Herr Merz«. Der erste Brief von KM an EM, datiert Bern, 24. 5. 1937, nimmt Bezug auf einen vorangegangenen: »Zuerst möchte ich Ihnen noch danken

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Wir sind hier in Bern ziemlich faul und träge (denn die Hitze dörrt uns förmlich aus) und geniessen die Ferien. Auch ich bringe gegenwärtig nicht die Kraft auf, etwas zu lesen, über das man ein wenig nachdenken muss, oder um das man sich wirklich ein wenig bemühen muss. Ich blättere da ein bisschen in einem Roman von Jak. Schaffner herum, mach aber sonst im grossen ganzen etwas Leseferien, liege an der Sonne und züchte mir allerlei müssige Gedanken. Sobald also mein Bruder genau Bescheid weiss, wird er es Ihnen mitteilen. Indessen hoffen wir beide das Beste. Herzliche Grüsse, auch von meinem Bruder, Kurt Marti. Unüberhörbar sind die Korrespondenzhaltung6 und die Reife des Sechzehnjährigen, der dem um 25 Jahre älteren in St. Abbondio von Beginn weg7 erstaunlich ebenbürtig zu antworten versteht.8 1963, mit dem letzten Brief von Ernst Merz, endet ihre Korrespondenz – beinahe hundert Briefe sind insgesamt über die Alpen befördert worden.9 41 davon hat Kurt Marti geschrieben, 58 gehen auf Ernst Merz zurück. Beide wechseln nach anfänglich mit Feder und Tinte verfassten Briefen zur Schreibmaschine, ein Umstand, den auch Martis Brief vom 24. Mai 1956 festhält: »Sehr geehrter, lieber Herr Merz, / doch: ich bin noch am Leben und die Schreibmaschine war auch nicht verpfändet.«

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für die Hinweise und Erläuterungen Ihres letzten Briefes«. Dieser Brief ist nicht (mehr) vorhanden oder war an Hans Marti gerichtet. Ich entlehne den Begriff dem Sammelband von Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis und Objekt. Tagung, Frankfurt a. M. 2010. (›Korrespondenzhaltung‹ zeugt beim ›Absender‹ von seinem Bewusstsein über seine Rolle als Briefschreiber, gepaart mit dem Wissen über den Briefempfänger.) Ich verdanke dem Band eine Vielzahl von Anregungen zur Textsorte ›Brief‹. In Martis allererstem Brief an EM (datiert vom 24. 5. 1937) manifestiert sich dies in seinem höchst bedeutsamen Kommentar zur »Berufungsfrage« des Dichters (veranlasst durch die Lektüre von Rilkes Geschichten vom lieben Gott, die bei ihm Ratlosigkeit aufkommen lassen): »Und da frage ich mich denn, wieso er Sachen veröffentlicht, die nur für speziell mit Rilke vertraute Leute deutbar sind. So komme ich auf die Frage, ob ein Dichter überhaupt notwendig sei, und wozu er berufen sei.« Rückblickend (mit dem Wissen, dass hier ein angehender Dichter sich mitteilt) scheint das ›normal‹. Weitere, z. T. umfangreiche Brief-Korrespondenzen (allerdings ohne Gegenbriefe KMs) im Archiv Kurt Marti stammen u.a von Walter Vogt, Franz Wurm, Friederike Mayröcker, Dorothee Sölle. Sie harren der Sichtung. Keine von ihnen setzt jedoch so früh ein wie jene mit Merz (und konnte den Heranwachsenden also prägen).

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Die Briefe von Hans und Kurt Marti an Merz sind in dessen Nachlass unter den Signaturen B-2-MARH resp. B-2-MARK abgelegt, jene von Ernst Merz an Kurt Marti unter B-2-MERZ im Archiv Kurt Marti.10 Im Briefkorpus von Ernst Merz sind zusätzlich ein gutes Dutzend Post- und Ansichtskarten überliefert mit spontanen Mitteilungen, Kurzkommentaren (etwa zu Zeitungsartikeln),11 doch haben diese am buchstäblich in Briefen geführten eigentlichen Diskurs weniger teil. Den Briefen Martis liegen einige Gedichte bei (als Manuskripte oder Typoskripte). Soviel als erste Übersicht zu diesem einzigartigen Dokument, das eine doppelte éducation spirituelle12 erzählt und worin Puzzlesteine zur Genese des Schriftstellers Kurt Marti mit Elementen seiner intellektuellästhetischen Sozialisation und Biographie verbrieft sind, um nur zwei Facetten herauszuheben. Anhand der nachfolgenden Briefe und Briefausschnitte versuche ich den Verlauf dieser Entwicklung exemplarisch aufzuzeigen, doch nur der integrale Briefwechsel vermöchte ein ganzes Bild zu vermitteln.

Impuls Nietzsche, Rilke, George Ein biographisches Faktum sei den Betrachtungen vorangestellt. Ernst Merz ist 1896 geboren, beim Ausbruch des ersten Weltkriegs war er somit 18-jährig, gleich alt wie Kurt Marti (*1921) beim Ausbruch des zweiten Weltkriegs 1939. Ein Altersunterschied, ein ›Vorsprung‹ von einer ganzen Generation an Lebens- und Welterfahrung, trennt die beiden und macht sich, bis auf die originäre Rollenzuteilung, dennoch nur wenig bemerkbar.

10 ›Archiv‹ ist der im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern verwendete terminus technicus für einen zu Lebzeiten übernommenen ›Nachlass‹. 11 Es gibt auch Ausnahmen, wenn es in der Karte vom 24. 7. 1954 etwa heißt: »In meinem letzten Brief bin ich leider nicht eingegangen auf den von Ihnen erwähnten Berner Dramatiker Dürrenmatt. Schon öfters hat sich Franz Bäschlin für ihn eingesetzt. Leider las ich noch nichts von ihm, doch scheint er mir nach der Kritik in Zürich auf sein Es steht geschrieben ein starkes Talent zu sein. Sein Zwinglibild ist vielleicht richtiger, als das offizielle der Zürcher Kirche. Auf alle Fälle ist die Behandlung der Täufer ein dunkles Blatt der Reformation. Aus dem Äquatorial-Tessin in das nun auch warm gewordene Alemannien grüsst Sie herzlich Ihr Ernst Merz.« 12 ›Spirituell‹ in einem sehr weiten Sinn (inspirierend, philosophisch, geistig und geistlich, belebend).

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Schüler Marti tritt Mentor Merz gelassen gegenüber und nimmt dessen Hinweise und Lektüre-Anregungen ohne Unterwürfigkeit auf. Merz haftet nichts Lehrerhaftes an. Unsichtbar und mit jedem Brief begeben die beiden Ungleichen sich – ein Ich und ein Du – schreibend in einen gemeinsamen Denkraum, einander zugewandt nach dem dialogischen Prinzip Bubers –13 in asymptotischer Annäherung. Der Briefverkehr ist ihnen ein intimes Forum zur Besprechung von Literatur ebenso wie für die brennenden politischen Fragen oder (später) Kirchengeschichte und Gemeindepolitik. In stillem Einvernehmen ist an ihren Gesprächen unausweichlich immer auch ein weiterer Adressat anwesend: »Sprache ist der Tatbestand, dass ein einziges Wort ständig vorgebracht wird: Gott.«14 Über Ernst Merz war zeitlebens wenig Biographisches bekannt, im Gegensatz zu Kurt Martis Leben und Werk, das im Bewusstsein der literarisch-theologischen Öffentlichkeit fest verankert und breit dokumentiert ist.15 Deshalb seien hier die wichtigsten Angaben zur Vita von Merz erwähnt: Ernst Merz wurde am 10. September 1896 als Sohn eines Arztes in Menziken (Aargau) geboren. Nach seiner Gymnasialzeit in Aarau studierte er zuerst Philosophie, dann Theologie an den Hochschulen von Basel, Zürich und Paris. Studienreisen durch Deutschland und Italien erschlossen ihm das Wissen um deren Kulturen. Ein kurzes Vikariat in Arlesheim bei Basel leitete zu seiner Amtstätigkeit über. Während der Jahre 1923-1929 amtete Ernst Merz als Pfarrer in der Kirchgemeinde Rein bei Brugg. Um sich besser seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmen zu können, legte er sein Amt nieder und wurde Religionslehrer am Gymnasium in Zürich und Pfarrhelfer in Zürich-Höngg. Im Jahre 1937 siedelte er in den Tessin über, um dort im kleinen Kreise seine Ideen verwirklichen zu können.16 13 Vgl. Martin Buber: Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954; ders.: Ich und Du. Stuttgart 2013 (Nachdruck). Mit einem Nachwort von Bernhard Casper; ders., Zwiesprache, Berlin 1932. 14 Emmanuel Lévinas: Roger Laporte und die Stimme tiefsten Schweigens. In: ders.: Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur. Textauswahl und Nachwort von Felix Ph. Ingold. Aus dem Französischen von Frank Miething. München 1988, S. 80-84, S. 84. 15 Vgl. etwa den Eintrag von Elsbeth Pulver zu Kurt Marti (in: KLG 10 /01, 69 Nlg.; Stand: 1. 8. 2001) oder den Materialienband von Christof Mauch (Hg.): Kurt Marti. Texte, Daten, Bilder. Mit einem Vorwort von Walter Jens. Frankfurt a. M. 1991. 16 Aus: Ernst Merz: Gottestaat. Die neue Erde. Bern 1945 (Klappentext). Für eine ausführlichere Biographie vgl. Berti Amman: In memoriam Ernst Merz. Der Sonnengesang des San Francesco. Übers. von Otto Karrer auf

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Im Sommer 1937 beginnt nicht nur der Schriftverkehr der beiden; der ›Südländer‹ Merz schickt zugleich das Programm für seinen ersten Ferienkurs, was auch das »es« im oben einleitend zitierten Brief Martis vom 28. Juli erklärt. (Die beiden Brüder waren sich über die Teilnahme noch nicht im Klaren.)17 Maieutiker Merz mit seiner »sokratischen Methode« des Fragens und Lehrens bringt Marti das Werk Stefan Georges und Nietzsches näher, animiert ihn zum Schreiben, parallel dazu wird die angespannte Weltlage verhandelt, wie hier im Abschnitt aus dem Brief, den Merz, zurück aus Frankreich, am 20. März 1939 an Kurt Marti richtet (Merz fühlt und denkt hier nicht das erste und letzte Mal empathisch für den Dichter Marti): Nach reichen Erlebnissen in der Metropole Paris: Maine de Biran, Pascal, Fénelon, Lavelle, Renan, Gide, Valéry – und nach einer Pilgerfahrt durch die deutsche Schweiz, wo ich meine Freunde besuchte, finde ich hier in St. Abbondio Ihren lieben Brief und die grosse Überraschung Ihrer schönen Gedichte.[18] […] Ich hoffe also von Ihnen weitere Dichtungen zu empfangen. Der Anfang verspricht viel. […] Vorläufig geht die Expansion des brutalen Dritten Reiches nach Osten mit dem Ziel: Schwarzes Meer, Krim. Aber wer weiss, ob es einst den beiden Diktatoren einfällt, unser Land aufzuteilen. Eben ist die Sonne strahlend über die fernen Berge und den weiten See untergegangen und nun legt sich die blaugrüne Dämmerung in solcher Schönheit über die Landschaft, dass mich ein mächtiges Grund der altitalienischen Originalfassung von 1225. Ascona 1993. Unpublizierte Schriften von EM: vgl. das Inventar ead.nb.admin.ch/html/merz.html (7. 6. 2015). 17 Das Programm für den »Ferienkurs« ist eine Beilage zum Br. v. EM an KM vom 29. 4. 1937; annonciert werden auch die humanistischen Ideale sowie die Methode, auf die EM baut. 18 Es handelt sich um das Manuskript (auf gelblichem Canson-Papier) mit den beiden Gedichten Nach einem Feste im Winter und Nachts der Wache. Ihr Wortlaut: »Nach einem Feste im Winter // Das Licht erlischt. In Säulennischen / verfärbt der rot und gelbe Flitter / und in dem Gang von Lorbeerbüschen / vertönt das Grün, ein lau Gezitter. // Die Stille schwebt durch alle Hallen / wo kaum versprüht Scherz und Musik / und die papiernen Blüten fallen / leis knisternd dem Parkett zurück. // Eil! Eh der frühe Schein die Scheiben, / den letzten Duft, die Leere überfällt, / dich aus dem Gleiss und Glanz zu treiben / in Schnee und eis’gem Sturm auf Weg und Feld.« – »Nachts der Wache // Von Dächern tropft vertraute Trauer, / jemand kehrt müden Schrittes heim, / und durch die Strasse stösst ein Schauer, / trägt unsre Wünsche insgeheim.«

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Gefühl der Allverbundenheit mit allen Wesen und Dingen ergreift. Sicher würde Ihnen jetzt ein Gedicht gelungen sein. Mit dem zwanzigsten transalpinen Schreiben vom 16. November 1939, mit Merz’ religiösem Bekenntnis, kommt der Wunsch auf nach einer ›bildlichen‹ Offenbarung Martis. Auch Merz kommentiert nun die für ihn ungewöhnliche Wahl seines Schreibgeräts (die, wie bei Marti, aber immer üblicher wird): Da ich ständig an meiner Maschine sitze, um die Deutung der Offenbarung des Johannes herauszuarbeiten, muss ich Sie bitten, die technische Schrift zu entschuldigen. Da Sie, wie Sie mir schreiben einen Vortrag über Stefan George halten wollen und zudem eine schwere Frage über das Maximin-Erlebnis stellen, möchte ich Ihnen gleich antworten. […] Machen Sie sich keine Sorge, dass Sie in diesen Jahren von dem, was heute Christentum genannt wird, abgedrängt werden. Das ist ein allgemeiner Vorgang unserer geistigen Entwicklung. Wenn die Zeit kommt, wo wir uns unsere Lebenshaltung und Weltauffassung aufbauen, dann können wir nicht mehr mit den Kategorien, die wir von Kirche und Schule bekommen haben, denken und handeln. Die Krisis, die Entscheidung zwingt uns, auch an die höchsten alten Werte unsere Sonde der Kritik anzulegen. Später wird man durch die Erfahrung des Lebens und durch radikales und mutiges Weiterdenken zu den Ursprüngen zurückkehren, aber diese dann in einer Form und einer Art und Weise formen und gestalten, die unserer Persönlichkeit entspricht. Mir hat in ihrem Alter als auch ich mich von allem lossagte, was mir gelehrt wurde, der Denker Spinoza viel geholfen, das Religiöse in einer neuen Art zu fassen und zu erleben. Ich lege Ihnen hier noch einige Stimmen über George bei. Darf ich Sie bitten, diese Deutungen rasch zu lesen und sie mir bald wieder zuzusenden. Gut sind die Deutungen vom Norweger Brodersen und von Nohl, die Erinnerungen von Bondi lege ich Ihnen nur bei, weil darin die Literatur von und über George enthalten sind. Ob Sie die grossen Bücher von Gundolf und Wolters kennen, weiss ich nicht. Das Gedicht Nach einem Feste im Winter[19] ist von ganz besonderer Zartheit. Die Empfindung ist von grösster Feinheit. Es scheint, dass Sie das Fest nur als ferner Betrachter erlebt hätten, auf leisen Sohlen schleicht sich die Seele davon. Nur hat der letzte Vers fünf statt nur vier Hebungen. Also:

19 Vgl. Anm. 18.

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»In Schnee und Sturm auf Weg und Feld.« Ich warte also sehnlichst auf ein Lichtbild von Ihnen. Welch eigenartiges Gefühl, seit Jahren stehe ich mit Ihnen im Briefwechsel und weiss nicht, wer Sie äusserlich sind … [hs.:] Ihr Ernst Merz Die Dichtung Georges,20 verknüpft mit Glaubensfragen, verbindet die beiden miteinander. George ist lange Zeit der Fixstern am gemeinsamen Bücherhimmel, ab und an heller und dunkler in ihre Stuben leuchtend.21 Ein ›Lichtbild‹ sollte Ernst Merz nun nächstens auch die Person Kurt Martis erhellen. Im Brief vom 8. Juni 1940 verdankt Merz das »sehnlichst« erwartete Bild Martis im letzten Absatz: Noch muss ich Ihnen danken für das reizende Bild der jungen Berner Generation. Grüssen Sie mir alle herzlich, wie gerne würde ich mich im Kreise dieser »Wehrmänner« aufhalten. Und von Ihnen habe ich nun nach vielen Jahren endlich das äussere sichtbare Bild Ihres Wesens. Wie immer Ihr Ernst Merz Offensichtlich hat Marti ein Foto von sich unter Wehrmännern verschickt. Ein Porträt vervollständigt nun Ernst Merz’ Vorstellung von Martis »Wesen« (denn noch sind sich die beiden nie leibhaftig begegnet). Die Bemerkung von Merz, wie gerne er sich »im Kreise dieser ›Wehrmänner‹ aufhalten« würde, ist wohl so zu verstehen, dass der Erzieher in ihm, positiv angeregt durch das Kennenlernen und die Resonanz Martis, seine Mission22 noch weiter hätte ausdehnen und breiter ›an den (Wehr-)Mann bringen‹ wollen – ähnlich dem im Briefwechsel mehrfach erwähnten »Erzieher« Stefan George. Tatsache ist, dass der Ausbruch des zweiten Weltkriegs nun auch im (schulischen) Alltag von Bern Folgen zeitigt. Marti eröffnet seinen Brief vom 26. September, drei Wochen nach Hitlers Überfall auf Polen, folgendermaßen:

20 Kurt Marti dazu: »Wie ein erleuchtender Blitz trafen mich im Deutschlesebuch zwei Gedichte von Stefan George, die im Unterricht unbehandelt blieben, mir aber zeigten, was Poesie sein kann.« Kurt Marti über Kurt Marti, Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik 1997 an Kurt Marti. Hg. v. Michael Hepp im Auftrag der Kurt-TucholskyGesellschaft. Berlin 1997. 21 Insgesamt wird ›George‹ (oder ›Georges‹) in der Korrespondenz 83 mal angeführt. 22 Die Grundzüge sind u. a. zusammengefasst in seiner Schrift Macht und Geheimnis der Erziehung (Lachen 1937).

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Sehr verehrter Herr Merz! Nun hat der Krieg (durch Hilfsdienste und erhöhtes Tempo in der Schule) sowohl meinen Brief verzögert wie auch den Plan einer Tessinreise unmöglich gemacht; den ich jedoch für eine ruhigere Zeit aufsparen möchte. […] An unserer Schule unternehmen verschiedene Lehrer den Versuch, ein neues Verhältnis zu ihren Schülern zu finden, indem sie (meist Anhänger der Oxford-Bewegung)[23] ihre Fehler bekennen, uns dann auffordern, diese ebenfalls zu tun […] Ja, einer ging so weit, dass er allwöchentliche Listen einsammelte, in denen der einzelne Schüler alle seine (auch privaten) »Sünden« einzutragen hatte. Deshalb ist mir die ganze Oxford-Welle mehr als nur unsympathisch, ist sie doch nur das verzweifelte Aufzucken sich selbst nicht genügender Seelen. Ein Aufzucken, kein Weg. Aber schon scheint auch diese Welle abzuebben, insbesonders jetzt, da der Krieg rücksichtslos alles Unehrliche und Schwache beiseiteschiebt und wesenlos macht. Ich wenigstens erhoffe von ihm diese eine, segenbringende Wirkung, wenn es schon fast nach Lästerung aussieht. Mein Bruder ist, unbekannten Aufenthalts, an der Grenze und hat mir aufgetragen, Sie von ihm zu grüssen. Mit ebensolchen Grüssen, Ihr Kurt Marti Merz hatte darauf im oben zitierten Brief (vom 8. Juni 1940) mit dem folgenden Passus erwidert: Ich gebe Ihnen recht, dass der Krieg wie ein reinigendes und verheerendes Gewitter über alles, was müde, falsch und dekadent ist, hereinbrechen kann. Aber vergessen wir dabei nie, dass die Besten der jungen Generation auf den Schlachtfeldern vernichtet werden oder aber als Krüppel in ihre Heimat zurückkehren. Der Krieg ist wie eine Geissel, wie ein Gericht, das über falsche Zeiten und Völker hereinbricht. Er ist, so furchtbar in seinen Wirkungen und Folgen, 23 Die auf das Jahr 1833 in Oxford zurückgehende Bewegung nahm sich die Erneuerung der anglikanischen Kirche durch die (Wieder-)Einführung vermehrt katholischer Prinzipien vor. Mit dem Schlagwort ›Moralische Aufrüstung‹ erlebte die international tätige Organisation, die einen Ableger in Caux / VD hatte, in veränderter Form und mit vornehmlich Studenten als ›Zielgruppen‹ in den 1920er- und 1930er-Jahren einen Höhepunkt.

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das sichtbare Zeichen eines gewaltigen Umbruchs, der modernen Völkerwanderung. ›Umwertung der Werte‹, dieses Nietzsche-Wort steht auf dem Tor zwischen dem vergangenen 19. und dem jetzigen 20. Jahrhundert. Im Brief vom 9. September 1940 erweist Kurt Marti dem Wort Maturand alle Ehre, wenn er die Widersprüche der Existenz (insbesondere in Kriegszeiten) u. a. so reflektiert: Ich stehe gegenwärtig in einer achttägigen Atempause zwischen schriftlicher und mündlicher Matur. Zum letzten Mal ein bisschen Grimm, ein bisschen fluchen über die vertrackten Mathematik-Ableitungen, über den Stapel Jahreszahlen aus Geschichte. […] Dennoch, [e]in Erfreuliches ist unter meinen Matur-Vorbereitungen: Die Lektüre des Buches Besoin de grandeur von Ramuz.[24] Genau besehen gibt er uns nichts als Widersprüche, ungelöste Fragestellungen, zweifelhafte Andeutungen. Oder vielleicht ist es gerade das, was es mir lieb macht: Denn erst eigentlich in ihren Widersprüchen und im ehrlichen, besorgten Fragen nach dem, was verborgen bleibt, lernen wir die ursprüngliche, wahre Persönlichkeit kennen. Zudem spricht aus dem Buch eine wirkliche, tiefempfundene Sorge um unsere geistige Existenz, z. B. in den Sätzen: ›Rien de grand ne se fait sans le désespoir [sic]: nous n’avons pas assez désespéré.‹ – ›Il faut rendre d’abord l’homme malheureux, non pas seulement de ce qu’il n’a pas, mais encore de ce qu’il n’est pas.‹ […] Gestern sah ich mir einen deutschen Fliegerfilm[25] an: Er handelt in einem Fliegerhorst in Friedenszeiten und ist ein Hymnus auf die Kameradschaft und die Pflichterfüllung. Teilweise gewiss packend und überzeugend. Doch bleibt am Schluss eine gewisse Beklemmung und das Gefühl, dass hier ein Leerlauf sei. Diese jungen Leute leben nur im Dienst: ›Im Dienst gibt es keine Privatangelegenheiten!‹ ruft ihr Kommandeur. ›Denn wir müssen bereit sein, wenn der Führer

24 Charles Ferdinand Ramuz’ berühmter und vielfach wieder aufgelegter religiöspolitischer Essay von 1936 (Ed. d’Aujourd’hui), kam 1938 von Werner J. Guggenheim erstmals ins Deutsche übersetzt als Bedürfnis nach Grösse heraus in der Verlagsbuchhandlung Stauffacher, Zürich. 25 KM war, wie er in seinen autobiographischen Aufzeichnungen berichtet (Ein Topf voll Zeit. 1928-1948. München 2008, S. 63-67), als JugendhilfsdienstSpäher bei der FLAB (Fliegerabwehr) der Schweizer Armee auf einem Fliegerbeobachtungs- und Meldedienstposten im Einsatz und hatte die Aufgabe, den Himmel über Bern nach feindlichen Flugzeugen abzusuchen und gegebenenfalls zu alarmieren. Der Film hatte ihn somit persönlich bewegt.

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uns ruft!‹ Ersteres ist ja klar. Aber das zweite: Arme Jugend, die nur noch Werkzeug ist; die sich bereit hält, damit einer sie ergreife und mit ihr zuschlage, d. h. dass damit sie selbst geschlagen wird. Da wird einem die ganze Armseligkeit dieses Systems klar – man muss Mitleid haben. Diese Jungens leben und sterben für ein Vaterland, das sie mit einem Führer identifizieren, dessen Ruhm gleich Macht, dessen Ansehen gleich Macht ist. Der analytische Blick, seine außerordentliche Beobachtungs- und Formulierungsgabe hätten Marti genauso erfolgreich, wie das Bruder und Vater vormachten, »Juristerei« studieren lassen können. Doch hat er nach »zwei Schnuppersemestern an der juristischen Fakultät der Universität Bern«26 erst das (universitäre) Studium der Theologie begonnen. Im Brief vom 31. 12. 1942 beschreibt er seine ersten Eindrücke vom »Betrieb«: Verehrter Herr Merz! Mein Bruder und ich danken Ihnen für Ihre Glückwunschkarte und wir wünschen auch Ihnen ein Jahr beglückender Arbeit. Dass ich Ihnen solange nicht schrieb, ist in gewissem Sinne nicht ohne Grund, aber eben doch nicht zu entschuldigen. Ich hätte Ihnen ja doch von meinem Studium sagen müssen. Aber das ist sehr schwer. Vom ersten Tage an, als ich die theolog. Fakultät besuchte, fragten mich die meisten Bekannten in die Kreuz und quere aus, wie »es mir nun gefalle«. Das war sehr peinlich. »Wie« es mir gefällt, kann ich ja bis jetzt noch kaum sagen. Wie es mir »gefällt«, darauf scheint mir eine Antwort überflüssig. Denn schliesslich sitze ich nicht als Zuschauer im Hörsaal, um dann nach Schluss der Vorlesung ein Urteil abzugeben, wie es mir nun »gefallen« habe. Ich könnte die Situation vielleicht und in aller Vorläufigkeit so beschreiben: Der Betrieb (Vorlesg. und Dozenten, Kommilitonen etc.) ist wohl, wie an jeder Fakultät: Etwas ermüdend, interessant manchmal, aufregend, aber auch schülerhaft, schläfrig. Wertvoll wird er aber erst durch die Anregungen, Hinweise, die man da und dort vermittelt findet und die einen erst zur eigentlichen Arbeit locken. Das größtenteils in Bern absolvierte Studium führt Marti kurz vor dem Abschluss 1945 /46 zu Karl Barth nach Basel, um es, zurück in Bern, mit der Akzessarbeit bei Wilhelm Michaelis Der Lohngedanke bei Jesus, zu beenden. 1947-48 verbringt er als Mitarbeiter der Ökumenischen 26 In: Kurt Marti über Kurt Marti.

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Kommission für die Seelsorge an (deutschen) Kriegsgefangenen in Paris – zwei prägende Jahre (die auch in Ein Topf voll Zeit gut dokumentiert sind). Nach der Ordination zum Pfarrer (1949) wirkt Marti in der Gemeinde Rohrbach (BE) ein Jahr lang als »Unterweisungspfarrer«. Von 1950, dem Jahr seiner Heirat mit Johanna Morgenthaler, bis 1960 steht er mit einer vollamtlichen Anstellung als Pfarrer der Gemeinde Niederlenz vor, »wo Frank Wedekind einst seine Jugend verbracht hatte«.27 Zwischen den beiden Briefpartnern bestehen in diesen Jahren große Unterschiede in der Berufs- und Lebenssituation: Während Marti an seiner »Karriere« arbeitet und für eine Familie mit vier Kindern zu sorgen hat, bekleidet der ehemalige Pfarrer Merz von 1940-1944 das Nebenamt als Sindaco28 der Gemeinde St. Abbondio, zieht sich aber sachte zurück, arbeitet als freischaffender Publizist und Südschweiz-Korrespondent (für den Winterthurer Landboten und die Neue Zürcher Zeitung) in franziskanischer Abgeschiedenheit als »eremo« in St. Abbondio, von wo er den Lauf der Welt aus einer gewissen Distanz betrachtet.

Funkstille und Neuanfang Zwischen September 1943 bis Januar 1952 trat ›Funkstille‹ ein zwischen den beiden. Sie hat ihre Gründe, die in Martis Brief, datiert vom 9. 6. 1943, zur Sprache kommen: Ich wusste gar nicht, dass mein Bruder Ihnen neue Artikel zugesandt hat: Mir ist das nämlich insofern unlieb, als besonders der meine nur als Entgegnung zu verstehen ist; nur so durfte ich mit dieser Schroffheit schreiben, denn ich wollte eben gegenüber dem früheren Artikel die ganze Schwere und Eindeutigkeit des Sachverhalts beto-

27 In: Kurt Marti über Kurt Marti. In Niederlenz plagt ihn zudem die »Pfarrhausfrage«, die über längere Zeit Dauerthema ist, bis KM im Brief vom 2. 6. 1956 vermelden kann: »Zweieinhalb Wochen wohnen wir nun bereits hier, in grösserer Ruhe und auch mit mehr Raum als bisher. Das neue Haus ist unmittelbar neben der Kirche und schaut auf das Dorf zu seinen Füssen herab. Weit geht der Blick von hier aus zur Jurakette und hinüber zum Staufberg. Vom Studierzimmer sehe ich direkt auf das Schloss Lenzburg.« 28 Dazu EM im Brief vom 20. Okt. 1952: »Sie fragen mich, ob ich das dornenvolle Amt des Sindaco noch verwalte. Ich amtete nur eine Amtsperiode während des Krieges von 1940-44, dies genügte mir vollkommen, wenn ich auch vieles gelernt habe. Ich fand es besser, wenn nicht ein Fremder, sondern wieder ein Tessiner der Gemeinde vorstehe […].«

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nen, um meinem Farbenbruder[29] eine etwas weniger gemütliche, exponiertere Position anzudeuten und zu zeigen, dass man Religion nicht zur behaglichen Einrichtung seiner selbst zu der Welt heranziehen kann, worauf der Artikel, den ich erwiderte (und der übrigens von einem »Alten Herrn« stammte!), schlussendlich hinauslief.30 Marti hatte Kritik geübt an Merz’ Der Gottesstaat. Das war möglicherweise nötig – als symbolische Ablösung von der ›Vaterfigur‹. Ernst Merz war von dieser Kritik, wie sein Antwortbrief zeigen wird, mächtig irritiert. Erst Martis »Bußbrief« vom 21. Januar 1952 vermag das versiegte Gespräch wieder in Gang zu bringen: Ich habe sehr hochmutig, sehr jugendlich-unverschämt und von oben herab über Sie geurteilt, resp. über Ihre Theologie, sowohl brieflich[31] wie dann auch in einer bösen Rezension über Ihr Buch Gottesstaat (in den Schweizer Annalen).[32] Entschuldigungen und Motivierungen,

29 Kurt Marti war, wie sein Bruder Hans, Mitglied der (juristischen) Studentenverbindung Concordia Bern. 30 Fürsprecher Hans Marti schreibt schon am Ende seines Briefes vom 24. 6. 1939: »Ihrem Gottesstaat wünsche ich recht bald einen regsamen Verleger. Ich werde mich jedenfalls freuen, das Buch zu Gesicht zu bekommen.« Es sollte noch sechs Jahre dauern, bis es 1945 erscheinen konnte. 31 Im NL Ernst Merz ist kein Brief oder Dokument (von 1943) mit dem inkriminierten Inhalt aufzufinden; es gibt nur die Erwähnung eines »Artikels« im Brief vom 9. 6. 1943 sowie die Rezension von 1946; vgl. Anm. 32. 32 Die Rezension des Buches erschien unter dem Titel Der Christ und die Welt. Civitas humana – Civitas Dei, in: Schweizer Annalen, 3. Jg., Nr. 3, August 1946, S. 164. Marti begründete seine negative Kritik am Buch u. a. mit diesen Argumenten: »Der Staat ist, biblisch gesehen, durchaus eine Notstandsordnung, nicht mehr. Aber als solche ist er notwendig und uns (Christen und Nichtchristen!) als Aufgabe aufgegeben, doch nicht so, wie Merz es sieht, der Civitas humana und Civitas Dei (= Reich Gottes, nach Merz) gegeneinander ausspielt: Entweder – Oder! […] Es ist kein Zufall, dass Merz an einigen Stellen Stefan George zitiert. Auch er sprach ja von einem ›neuen Reich‹ und meinte damit ein inneres Reich des Geistes, wie es seinen Kreis durchmächtigte. Auch er richtete von da aus mit aller Schärfe seine Zeit. Doch ist seine Haltung durch seine besondere dichterische Sendung bestimmt und kann zu keinem Rezept verallgemeinert werden. Gerade das scheint aber Merz zu tun, indem er dieses Reich des Geistes mit dem Reich Gottes der Evangelien in einer Linie sieht (mit Absicht?). Damit wird das Christ-Sein als Sein ›zwischen den Zeiten‹, in der Spannung Civitas humana – Civitas Dei entspannt zum Sein, das über die beiden Civitates als eigene Möglichkeiten verfügt, und das deshalb diese gegen jene ausspielen muss. [/] So interessant das Buch von Merz ist, so sieht man doch gerade an ihm, wie eine falsche

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weshalb ich so ungerecht und eingebildet urteilte, wären wohl diese und jene anzuführen. Aber das ist nicht so wesentlich. Es bleibt einfach bei der Tatsache, dass mein Verhalten nicht nur ungehörig und pfäffisch-süffisant war, sondern dass es auch sachlich weder anständig noch gerecht war, denn Sie haben mir von Ihrem Standpunkt aus viel Wertvolles mitgegeben und es wäre wahrlich nur von Nutzen gewesen, wenn ich Ihr Anliegen ernster genommen und besser darauf gehört hätte. Das ist mir erst nach und nach zum Bewusstsein gekommen, obwohl oder vielleicht gerade weil sich meine grundsätzliche theologische Einstellung seit damals vielleicht gewandelt, aber im Entscheidenden nicht geändert hat. Beide beweisen Großmut, denn umgehend entgegnet Merz zwei Tage darauf erleichtert mit dem panoramatischen Brief, der hier in seiner Gänze wiedergegeben wird, und der einen Neuanfang und eine Vertiefung der (Brief-)Freundschaft bewirkt: S. Abbondio-Ranzo, den 23. I. 1952 Lieber Kurt Marti, Sie haben am 21. Januar in Ihrem Pfarrhaus zu Niederlenz einen ausserordentlichen Brief geschrieben, der mich ebenso ausserordentlich und tief gefreut hat. Zuvor aber empfangen Sie meine von Herzen kommenden Wünsche für Ihr Amt in der neugegründeten Kirchgemeinde meines Heimatkantons, wo Sie ein Neues pflügen werden und wo, wie ich gehört habe, eine neue Kirche gebaut worden ist, in der mein Freund und Vetter Paul Eichenberger aus Beinwil a / See ein Bild oder ein Graphito geschaffen hat. Sehen Sie, wer Bücher schreibt und diese veröffentlicht, muss gewärtig sein, dass seine Gedanken und Anliegen kritisiert und abgelehnt werden. Da Sie mich aber vor so vielen Jahren in St. Abbondio besucht hatten, und ich Sie gleich ins Herz geschlossen habe, dazu beim Verleger Haupt in Bern den Wunsch äusserte, dass im Kanton Bern nur Sie über mein Buch Gottesstaat berichten sollten, war dann das Lesen Ihrer Kritik von wehmütigen Gefühlen begleitet. Da Sie das Buch radikal ablehnten, konnte ich Ihnen nicht mehr schreiben,

Exegese – so wenig wichtig sie für den Nichttheologen sein mag, in ihrer konkreten Auswertung verhängnisvoll werden kann.« Martis zusätzlicher Einwand, »dass Merz an einigen Stellen Stefan George zitiert« – der (zeitweilige) Dichtergott beider –, muss wohl die massive Kränkung und damit die Funkstille ausgelöst haben, war Marti doch zudem sein Wunschrezensent.

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da Buch und Kritik und somit die beiden Menschen allzu weit in ihren Anschauungen auseinandergingen. Heute aber liegt alles so weit hinter uns, dass ich mich an das Divergierende nicht einmal mehr erinnere; leicht und gern werden solche Dinge vergessen oder verdrängt. Aber nun, lieber Freund – ich darf Sie doch so nennen – haben Sie einen so edlen und herzlichen Brief an mich geschrieben, dass ich mit Freuden Ihre Hand ergreife und Ihre »Jugendsünde«, wie Sie Ihren einstigen Artikel nennen, im Lago Maggiore versenke, d. h. das Heft der Annalen habe ich an Wolfgang Frommel in Holland verschenkt, weil darin vom Bildhauer Alexander Zschokke die Rede war. Wie gut erinnere ich mich an meine jugendlichen Jahre, in denen ich Bücher, die ich nicht mochte, radikal ablehnte und sie beiseite legte, mit dem einzigen Unterschied, dass ich damals nicht wagte, Bücher zu besprechen. Heute schicke ich das Buch, das mir nicht liegt, oder das ich nicht schätze, an Verlag oder Zeitung zurück, um nicht ungerecht zu sein. Es war auch von mir gefehlt worden, dass ich von Ihnen, der damals noch Student war, eine Besprechung wünschte. Aber Sie sehen daraus, wie sehr ich Sie schätzte und Ihnen vertraute. Sie wirken also in der weithin sich dehnenden Ebene von Niederlenz, die von den beiden Bergburgen von Lenzburg und Staufberg und im Norden von den Jurabergen umrahmt ist, wo einst in fernster Vergangenheit die Habsburger die deutschen Kaiser auf der Lenzburg empfangen hatten, bevor sie selbst zu dieser Würde aufgestiegen sind, und wo in Othmarsingen Strindberg schrieb,[33] der den mitschaffenden schwedischen Dichter Heidenstam auf Brunegg besuchte. Und im selben Othmarsingen wirkte fast ein halbes Jahrhundert der Patriarch Pfr. Dr. Heiz, dessen Patenkind, die Dichterin Hämmerli-Marti, den Dichter Spitteler ins Pfarrhaus führte. Und auf dem Staufberg erglänzen die schönen alten Fenster aus welcher Kirche man einst einen der tüchtigsten Prediger, Viktor Ganz, vertrieben hatte, der bis heute noch in unseren Gegenden genannt wird. Mit dem Aargau, d. h. mit lieben Freunden meiner alten Heimat, stehe ich immer noch in regem brieflichem Verkehr, so mit meinem ehemaligen Deutschlehrer vom Gymnasium, Hans Kaeslin, von dem Sie im Aargauer Tagblatt hin und wieder einen Artikel oder ein Gedicht lesen werden, obschon er schon 84 Jahre alt ist. Nächstens

33 Der spätere Nobelpreisträger (1916) Verner von Heidenstam (1849-1940) hatte sich auf Schloss Brunegg eingemietet, während August Strindberg in Othmarsingen große Teile seiner »Autobiographie« Der Sohn der Magd zu Papier brachte.

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wird von ihm anlässlich des 150. Jubiläums des Standes Aargau eine Abhandlung über die Geschichte unserer Kantonsschule erscheinen. Mit Leuten aus Brugg, Baden, Menziken, Beinwil, Burg stehe ich in ständiger Verbindung. In Lenzburg und Boniswil leben meine Vettern Buhofer, die aber meistens tüchtige Geschäftsleute sind, deren Arbeit und Wirken ich zu wenig verstehe. Theodor Buhofer war und ist, wenn ich mich nicht irre, Bezirksrichter, mit dem Sie vielleicht in Amtsgeschäften zusammentreffen werden. Sehr schätze ich den Architekten Bächler in Lenzburg, den ich seinerzeit mit einer geb. Schwarz in der Kirche in Lenzburg getraut hatte. Frau a. Pfr. Hänni, auch eine Bernerin, war vor einiger Zeit hier in St. Abbondio in den Ferien, deren Tochter und Bühne Sie vielleicht kennen. Doch meine Erinnerungen gehen schon Jahrzehnte in die Vergangenheit zurück, während Sie jetzt mitten in der Gegenwart Land und Leute kennen und sicher den Zugang zum etwas schwerfälligen und verschlossenen Menschen finden werden. Als Berner werden Sie unser Volk besser verstehen, als die vielen Basler Praedikanten, die zu meiner Zeit im Aargau gewirkt hatten. Ich hoffe sehr, dass Ihnen die in meiner Heimat anzutreffende kirchliche Indifferenz nicht allzu viel zu schaffen macht. Es ist möglich, dass der alte Liberalismus des letzten Jahrhunderts die religiös empfindenden Menschen die Sekten und Gemeinschaften aufsuchen liess. Ich werde mich immer freuen, von Ihnen und Ihrer Arbeit zu hören. Und wenn Sie wieder in den Tessin kommen, so hoffe ich sehr, Sie mit Ihrer lieben Frau in meiner Klause empfangen zu dürfen, denn gross und nicht alltäglich ist ein solches sich wieder Finden. In alter Verbundenheit bin ich [hs.] Ihr Ernst Merz Auf das langjährige Schweigen folgte in den nächsten Jahren ein um so offenerer und angeregter Gedanken- und Meinungsaustausch. Dem Brief vom 5. Mai desselben Jahres (1952) legte Marti ein »Aufsätzlein« bei mit dem Hinweis: In den letzten Sommerferien hatte ich beim Antiquar Rosenbusch in der Casa Serodine in Ascona eine 8-bändige Lavater-Ausgabe von 1844 erworben. Darin herumlesend wurde ich angeregt, die Äusserungen Lavaters über die Dichtkunst zu einem Aufsätzlein[34]

34 Marti verwertete seine Gedanken zu Lavater in einem Zeitungsartikel: vgl. ders.: Lavaters Himmelssprache. Ein Beitrag zum surrealistischen Denken. In: Basler Nachrichten, 46. Jg., Nr. 39, 5. 10. 1952.

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zu verarbeiten, das ich Ihnen beilege und das Sie gleichsam als Erwiderung Ihres Seetal-Aufsatzes ansehen mögen. Es ist eine vielleicht etwas abenteuerlich – besonders in den über Lavater hinaus angedeuteten Perspektiven –, vielleicht sogar verzeichnete Darstellung ohne Anspruch auf philologische und literarhistorische Bedeutung. Nehmen Sie’s einfach als eine kleine Arabeske zum Thema »Christliche Dichtung«. Der Bann ist gebrochen. Die beiden senden sich nun vermehrt eigene Artikel oder Veröffentlichungen oder Hinweise zu. Auf diesem Weg wird Merz auch den Dramatiker Dürrenmatt besser kennenlernen. (Die vielen Erwähnungen von Friedrich Dürrenmatt und seinem Schaffen in der Merz-Martischen Korrespondenz erforderten eine eigene Arbeit.) Stellvertretend sei hier nur der Dank von Merz angeführt, der für beide spricht wie auch für das Klima der (damaligen) Schweiz: Ueber Ihres Freundes Dürrenmatts Drama bin ich durch den Landboten orientiert worden, aber die Art, wie Sie Inhalt und Thema des Stückes beschreiben, gibt mir einen viel klareren Ein- und Ueberblick über »Ein Engel kommt nach Babylon«. Bei aller Anerkennung der notwendigen Kritik, die auch für den Schriftsteller wichtig sein kann, sollte man sich in der Schweiz darüber freuen, dass ein so starkes Talent in unserem Lande schafft und wirkt, da meines Wissens die dramatische Kunst bis heute keine ausserordentlichen Leistungen hervorgebracht hat. Andere Völker verstehen es besser als wir, ihre valori nazionali herauszustellen und diese zu propagieren, während bei uns so oft die Kritik wertvolle Leistungen bemängelt und herabsetzt.

Aufbruch in die Literatur und Rückkehr nach Bern Mit Boulevard Bikini, vermittelt durch Jörg Steiner (1930-2013), debütiert Kurt Marti als Dichter. 1960 folgen seine Dorfgeschichten 1960, desgleichen die Vorbereitungen zum Umzug nach Bern, wo er 1961 seine legendäre Tätigkeit als »Nydeggpfarrer« aufnimmt, die bis zu seiner (etwas vorgezogenen) Pensionierung im Jahr 1983 dauert, eine äußerst arbeitsintensive Zeit, von der Marti schreibt: »[D]ie schriftstellerische Tätigkeit erweitert und beschleunigt sich. Engagement im Kampf gegen Atomwaffen, gegen Atomkraftwerke, gegen die US-Intervention in Vietnam. Mitbegründer der ›Erklärung von Bern‹, die sich für die Rechte

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der Dritten Welt einsetzt. Mitbegründer der dissidenten Autorengruppe Olten.«35 Mit dem Beginn der »Berner Zeit« nimmt die Korrespondenz zwischen Kurt Marti und Ernst Merz rapide ab. Von Marti gibt es aus dieser Zeit nur noch einen einzigen Brief an Merz, von Merz deren drei. Im Brief vom 30. November 1960 teilt dieser Marti mit: Lieber Kurt Marti Vielen Dank für Ihren Brief und Ihre gestanzten und geformten Gedichte. Dass Sie noch mitten im Sturm und Drang der Züglete Zeit finden für andere, muss ich Ihnen hoch anrechnen. Ja, ja, »es ist wirklich etwas dran«. Fahren Sie resolut auf diesem Wege fort. Schon deshalb sind diese religiösen oder neutestamentlichen Gedichte am Rand, die Sie schreiben, gut, weil mit dem alten Sentimentalismus aufgeräumt wird. Mir persönlich sagten »Der Zimmermann« und »Tanz und Musik des Herrn« sehr viel. Die Literatur hat ihren anfänglich prominenten Platz in der Korrespondenz längst wieder eingenommen. Als wüsste Ernst Merz, dass dies sein letzter Brief an Kurt Marti sein werde und damit das Ende der Korrespondenz mit dem Briefpartner in Bern, hält er in diesem Brief Rückblick auf ihr beinahe drei Jahrzehnte währendes Ferngespräch. Dankbarkeit spricht aus dem Schreiben, das zum Abschluss hier integral wiedergegeben wird: St. Abbondio, den 27.X.1963 Lieber Kurt Marti Sie haben mich mit Ihren Gaben, Ihren Gedichten und Moderne Literatur[36] reich beschenkt, für alles meinen besonderen Dank. Nahe ging mir Ihre Widmung, in der Sie eines meiner Worte aus meinem Buch aufschrieben. Als ich Ihre Sendung erhalten hatte, stieg ich zuerst in meine Bücher- und Briefkammer hinauf, um die historia amicitiae nostrae zu erfahren. Aus der Brieftruhe entnahm ich ein umfangreiches Paket, auf dem die Namen stehen: Hans Marti – Kurt Marti. Und ich suchte nach Ihrem ersten Brief, er stammt aus dem Jahre 1937. Aber wie alt war denn der jetzige Pfarrer und Dichter

35 In: Kurt Marti über Kurt Marti. 36 Kurt Marti / Kurt Lüthi / Kurt von Fischer: Moderne Literatur, Malerei und Musik. Drei Entwürfe zu einer Begegnung zwischen Glaube und Kunst. Zürich 1963.

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in Bern? In unserem schwarzen Fahndungskalender finde ich den Jahrgang 1921. Somit waren Sie also sechzehn Jahre alt, als die Briefe zwischen Bern und St. Abbondio hin- und hergingen. Ich hoffe sehr, dass einst das Briefpaket zu Ihnen zurückkehrt, wenn ich das Zeitliche segne, besser: wenn ich um die Ecke verschwinde. Doch nun soll nicht über Vergangenheit, sondern über das Gegenwärtige, das Sie geschaffen haben, geredet werden. Wie vieles haben Sie durchgearbeitet, so manches, das auch mir völlig unbekannt ist. Durch Sie angeredet, möchte [ich] nun doch einmal Joyce und Miller lesen, die ich mir immer vornahm und immer wieder zurücklegte. In Ihrer Schrift Moderne Literatur ist soviel enthalten, dass ich nur auf Weniges eingehen möchte, das mich zu freudiger, ja, zujubelnder Zustimmung aufruft. Da sind einmal Ihre Ausführungen von Seite 31 an, in denen Sie mit Recht darauf hinweisen, wie sich »Bestimmte Dinge und Geschehnisse der Wortwerdung entziehen«. Dies empfand ich immer schmerzlich nicht nur im Literarischen, sondern auch im Religiösen. Wie soll ich die mir einst geschenkte Begegnung eines lieben Toten in Worte fassen? Wie kann man mit unsern nackten und groben Ausdrücken etwas über »Jenseitiges« aussagen? Ein zweites, das mich an Ihrer Schrift begeisterte, ist Ihr Lobpreis auf die Freiheit. Seite 128 »grundsätzliche Ablehnung jeder Form staatlicher Zensur«. Dahin gehört wohl auch der leidige und erbärmliche Index verbotener Bücher der katholischen Kirche. Es war wohl immer die Tragik der Kirche, dass sie sich ins Schlepptau der weltlichen Mächte nehmen liess und ihren ureigenen Auftrag vergass und verleugnete. Wie wahr ist das Wort, das Sie von Priestley zitieren (136). Interessant ist, wie Sie das, was der Christ und was der Dichter ist, auseinanderhalten. Einige Stellen wirken wie eine Confessio Ihrer eigenen Stellung als Pfarrer und Schriftsteller. Und wichtig erscheint mir, dass Sie die Dichter zu würdigen wissen, in denen die religiösen Chiffren fehlen, denn manch einer sagt mit sog. weltlichen Worten mehr aus über den Glauben und über das, was not tut, als einer, der mit »Herr, Herr« um sich schlägt. Vieles ist [in] Ihrer Schrift zu überdenken und zu meditieren, sowohl von Theologen als auch von Literaten, so der plastische Satz: »Literatur ist Lob der Sprache. Moderne Literatur ist im besonderen: Lob der Sprache vor dem Horizont der Sprachlosigkeit.« Ihre Gedichte lagen auf meinem Schreibtisch, als mich mein tessinischer Freund Eros Ratti besuchte, sie aufschlug und, obschon er Mühe mit der deutschen Sprache hat, begeistert ausrief: Ecco

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la vera modernità! Chi è questo tipo, questo poeta? Und ich musste ihm viel von Ihnen erzählen. Er gehört Ihrer Generation an, geb. 1924, deshalb fand er gleich den Zugang zu Ihren Gedichten. Wenn Sie auf Bergengruen zu sprechen kommen, so haben Sie mit Ihrem Urteil recht. So sehr ich einige Romane dieses Mannes schätze, so bewegt er sich in seiner Lyrik in der ausgefahrenen Bahn der Tradition. Jede Zeit hat ihre Form und ihre Zunge des Ausdruckes. Abgesehen von George liebe ich die Gedichte von Eichendorff, aber wenn nun ein moderner Mensch in seiner Art dichten würde, müsste ich dies ablehnen. Auch mein Freund Wolfgang Frommel erzog seine Schüler, im Stil Stefan Georges zu dichten, was aber immer epigonenhaft wirkt. Man muss auch hier seine eigene Stimme finden. Wie schön, dass Sie in Ihrer Art die Grundtatsachen der Evangelien neu sagen. Was immer in gleichen und abgegriffenen Worten gesagt wird, kann keine Wirkung mehr ausüben. Erst das Ungewohnte lässt aufhorchen und nachsinnen. Sie haben mir so verstehend über die Einleitung in Die Seele des Abendlandes geschrieben. Ich habe das Manuskript keinem Verleger vorgelegt, weil ich diese Leute nicht liebe. Und die Auflage werde ich grösstenteils verschenken. Ich habe dem Drucker Ihr Urteil über das äussere Kleid des Buches mitgeteilt, was ihn sicher sehr freuen wird. Ich frage mich immer, ob man bei dem heutigen Buchbetrieb und Geschäft nicht auch neue Wege gehen sollte. Da ich von 1932 bis vor kurzem alles Journalistische dem Landboten in Winterthur anvertraute, so konnten Sie von mir nichts lesen, da diese Zeitung nicht bis nach Bern reicht. Aber diese Tätigkeit betrachte ich nun als abgeschlossen. Andere Manuskripte werden erst nach meinem Tode veröffentlicht werden. Lassen Sie mich noch meine besondere Freude sagen, dass ich in dem sechzehnjährigen Jüngling das Schöpferische wenn nicht erkannte, sondern nur erahnte, das ist für einen alten Mann ein grosser Trost. In aller Herzlichkeit grüsst Sie und Ihre liebe Frau [hs.] Ihr Ernst Merz Der Briefwechsel Kurt Marti – Ernst Merz ist ein Gespräch, es beginnt und endet im freundschaftlichen Gesprächston, bewegt sich streckenweise wie in einem zeitlosen ›Nu‹ oder Jetzt. Mitunter lesen sich ihre Briefe wie zwei Blätter aus einem Buch. Ihre gemeinsame Korrespondenz ist stetige Lobrede auf das kritische Denken, während sie im gleichen Zug Einblicke gewährt in Pfarrhäuser, Dorfpolitik, Lokalgeschichten, Einsichten und Ansichten, Geschichten zu Gott und der Welt (ein-

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mal ganz wörtlich verstanden). Andauernde Annäherung im Austausch des lebendigen (selbst wenn geschriebenen) Worts. Der Theologe Kurt Marti schreibt in einer Besprechung eines Romans 1954: Nicht zufällig heisst ja die in Christus sich mit den Seelen vereinigende Gottheit »das Wort«, nämlich das ewige Wort, das im Anfang war und das am Ende sein wird. Wie sollte da das Menschenwort nicht in der unbeschränkten Kommunikationsfähigkeit jenes Urwortes seine eschatologische Erfüllung finden?37

37 KM in seiner Rezension von Olov Hartmans Roman Heilige Maskerade. In: Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, 109 Jg., Nr. 6, 19. 3. 1953. Kurt Marti berichtet in seinem Brief vom 29. März 1954 begeistert von seiner Lektüre des Romans des schwedischen Autors (1906-1982), Pfarrers und Schriftstellers. Heilige Maskerade (Orig.: Helig maskerad, 1949) erschien 1950 in der Übersetzung von Helmut Faust in Frankfurt a. M. beim Verlag der Frankfurter Hefte (2. Aufl.: Wittig, Hamburg 1961). Das Buch wird ebenso in Martis Essay Moderne Literatur auf den Seiten 125, 152 und 162 besprochen (der Name des Autors ist dort nicht ganz korrekt als »Hartmann« geschrieben).

Fredi Lerch

Nicht Existentialist, sondern Barthisan Zum Engagement des Schriftstellers Kurt Marti

Kurt Marti ist knapp zehn Tage vor seinem 93. Geburtstag ein aufmerksamer Gastgeber. Wir haben an diesem 22. Januar 2014 zum Mittagessen im Elfenaupark abgemacht, nachdem ich ihm am Telefon gesagt hatte, ich möchte etwas wissen zu seinem Engagement als Schriftsteller. Hier, im Süden Berns, lebt er, seit im Herbst 2007 seine Frau Hanni MartiMorgenthaler gestorben ist. Als ich zwei, drei Minuten vor zwölf Uhr auf den Haupteingang zugehe, sehe ich, wie er sich hinter der automatisch öffnenden Glastür eben aus einem Stuhl erhebt, um mich stehend zu begrüßen. Dann führt er mich am Empfang und am Kiosk vorbei durch die Cafeteria des Wohnheims in den kleinen Speisesaal für die Bewohner und Bewohnerinnen. Gleich rechts neben dem Eingang hat er einen Zweiertisch reservieren lassen. Noch bevor wir bestellen, fragt er mich, was genau ich denn auf dem Herzen habe. Ich hätte den Auftrag, erkläre ich, einen Aufsatz zu schreiben über das gesellschaftspolitische Engagement des Schriftstellers Kurt Marti, insbesondere während der 1960er Jahre. Als ich über das Thema nachzudenken begonnen habe, hätte ich gemerkt, dass mir da etwas grundsätzlich unklar sei: Ich wisse zwar von seinem vielfältigen publizistischen und gesellschaftspolitischen Engagement, seit er mit seiner Familie 1961 aus dem aargauischen Niederlenz in sein Elternhaus nach Bern zurückgekehrt und seine Arbeit als Pfarrer an der Nydeggkirche aufgenommen habe. Und ich wisse auch, dass es in jenen Jahren in fortschrittlichen Kreisen Mode gewesen sei, von den Autoren und Autorinnen in der konformistisch-engen Schweiz gesellschaftspolitisches Engagement einzufordern. Aber was ich nicht wisse: »Schrieb der Schriftsteller Kurt Marti eigentlich eine Art Littérature engagée? Verstand er sich damals als Existentialist?« »In meinem Fall«, beginnt Marti, »hängt das gesellschaftspolitische Engagement mit der Theologie zusammen. Eigentlich ist es ja klar, dass die Kirche selber ein gesellschaftspolitisches Faktum ist. Und als Theologe ist man Angestellter einer Kirche. Also kann man sich um die gesellschaftspolitischen Fragen eigentlich nicht herumschleichen … Das heisst, man kann schon, aber es ist nicht ganz ehrlich. Von Karl Barth habe ich gelernt, dass sich Theologie nicht auf die theologische Fakultät

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beschränkt, sondern dass sie auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung hat. Später habe ich bei meiner Arbeit als Pfarrer dann erlebt, dass der Einbezug des Gesellschaftspolitischen in der Kirche nicht immer willkommen ist. Nicht alle hören es gern, wenn man betont, dass das Christentum, dass die christliche Botschaft, die Bibel auch gesellschaftspolitisch relevant sein könnte. Sollte. Müsste.«1

Martis Wintersemester 1945 /46 in Basel Im Januar und Februar 1945 ist der Basler Theologieprofessor Karl Barth als Vortragsredner landauf, landab unterwegs.2 Sein Thema: Die Deutschen und wir. Die Nationalsozialisten führen in diesen Wochen einen hoffnungslos gewordenen Zweifrontenkrieg gegen die Alliierten im Westen und gegen die Rote Armee im Osten. Für »die Deutschen«, die Europa in den Zweiten Weltkrieg gezwungen und Millionen von Menschen in den Tod getrieben haben, ist die Niederlage unausweichlich geworden. In dieser Situation sagt Barth, ein Mann von zweifellos antinazistischer Gesinnung und Praxis: »Was wir den Deutschen schuldig sind, ist dies, ihre richtigen, aufrichtigen Freunde zu sein«; »unbedingt für sie« zu sein, ohne Vorbedingungen und mit der »schlichten Bereitschaft, ihre Sache zu unserer eigenen zu machen«. Allerdings postuliert Barth eine Freundschaft im »doppelten Sinn«: Er listet eine ganze Reihe von Punkten auf, von denen »Wege rückwärts« führen könnten, »die die Deutschen jetzt auf keinen Fall begehen wollen sollten. In allen diesen Punkten wird man ihnen also in aller Freundschaft […] widersprechen müssen.« Barths Engagement in diesen letzten Kriegsmonaten meint dies: Während viele mit »den Deutschen« insgesamt nichts mehr zu tun haben wollen und ihnen das Elend gönnen, in dem sie versinken, schlägt er vor, »reinen Herzens« und ohne pädagogisierende Besserwisserei im Namen von Jesus Christus als dem »wirklichen Herr[n] der Geschichte« auf sie zuzugehen, für sie da zu sein und ihnen in kritischer Solidarität zu widersprechen, wo immer es nötig werden sollte.3 Als Kurt Marti beim Mittagessen im Elfenaupark von Barth zu erzählen beginnt, erwähnt er genau dieses Referat von Barth und fasst es aus der Erinnerung mit den Worten zusammen: »Barth hat den Schweizern

1 Im Folgenden stammen alle mündlichen Marti-Zitate aus diesem Gespräch vom 22. 1. 2014. 2 Martin Leiner / Michael Trowitzsch (Hg.): Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis. Göttingen 2008, S. 83. 3 Karl Barth: Die Deutschen und wir. Zürich 1945, S. 24 ff.

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auch ein bisschen ins Gewissen geredet: Meint jetzt bloss nicht, dass ihr die Sieger wäret. Davon kann keine Rede sein. Sondern helft nun den Deutschen, da sie am Boden liegen. Das ist jetzt unsere Aufgabe, ihnen zu helfen.« Im Januar und Februar 1945 leistet der 24-jährige Kurt Marti als Korporal Aktivdienst, einquartiert in einem Hotel in Kiental, und er ersucht in diesen Tagen um Urlaub, um als Theologiestudent rechtzeitig zu Beginn des Sommersemesters wieder an der Universität Bern zu sein.4 Während dieses Semesters entschließt er sich, das folgende Wintersemester 1945 /46 bei Karl Barth in Basel zu studieren. Mag sein, wegen dieses Referats Die Deutschen und wir. Oder wegen Barths antitotalitärer Erklärung, die an der ersten Barmer Bekenntnissynode vom 29. bis zum 31. Mai 1934 zum theologischen Fundament der Bekennenden Kirche wurde. Oder wegen Barths Weigerung im selben Jahr 1934, als Professor der Universität Bonn den Führereid auf Hitler zu leisten, was ihn Lehrerlaubnis und Anstellung kostete. Marti beim Mittagessen: »Barth hätte damals viele Gründe gehabt, diesen Eid auf das Hitler-Regime zu verweigern. Aber das entscheidende Argument, um nein zu sagen, war für ihn die Zumutung, sich auf eine Person verpflichten zu sollen.«5 Sicher ist: Barths Beispiel hat dem Theologiestudenten damals großen Eindruck gemacht, weil es zeigte, dass Theologie und die Ablehnung des Nazitums in Theorie und Praxis sehr wohl zusammengingen. Im Herbst 1945 ist Marti in Basel, hört bei Barth Vorlesungen zur kirchlichen Dogmatik, besucht sein Seminar zu Calvin-Texten und pro Woche einmal in dessen Haus auch den kleinen Kreis – »die so genannte Sozietät«, sagt er –, in dem Adolf von Harnacks Das Wesen des Christentums diskutiert wird. Marti erinnert sich: »Er wohnte irgendwo auf dem Bruderholz in einem Haus. Unten wurde man von Frau Barth, seiner legitimen Frau, empfangen und im ersten Stock dann von Frau von Kirschbaum, seiner Mitarbeiterin und Geliebten.« In der kleinen Gesprächsrunde hat ihn vor allem beeindruckt, wie Barth, von dem er wusste, dass er Harnacks Gottesverständnis in den frühen zwanziger Jahren scharf kritisiert hatte, jetzt sokratisch als dessen Anwalt auftrat, um die Studenten zur differenzierten und vorurteilslosen Lektüre zu verlocken. Obwohl für ihn in jenem Winter in Basel Karl Barth das

4 Kurt Marti: Ein Topf voll Zeit 1928-1948. München 2008, S. 161. 5 Die Formel jenes Treueeids lautete: »Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.« (http://de.wikipedia.org/wiki / Führereid) (15. 1. 2016).

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»Zentralgestirn« war, würdigt er im Rückblick daneben auch Albert Béguin, der im folgenden Jahr nach Paris gegangen und Redaktionsleiter der linkskatholischen Zeitschrift Esprit geworden sei, »eines Gegenstücks gleichsam zu ›Les Temps modernes‹, der Zeitschrift Sartres und der Existentialisten«.6

Jean-Paul Sartre in der Berner Schulwarte Im Sommersemester 1946 ist Kurt Marti wieder in Bern. Am 3. Juni folgt er einer Einladung der Freistudentenschaft Bern, die in die Schulwarte am Helvetiaplatz einlädt. Dort referiert an jenem Abend Jean-Paul Sartre zur Frage Qu’est-ce que l’existentialisme?7 Marti erinnert sich so: »Den Studenten hatte vor allem die äussere Erscheinung des rasch berühmt gewordenen Mannes verblüfft: kleinwüchsig und eher rundlich, rötlich das Haar, hinter den Brillengläsern höchst irritierende Schielaugen. Alles andere als ein Apoll. Aber soll nicht auch Sokrates ziemlich hässlich gewesen sein? Vom Vortrag hatte der Jungtheologe wenig begriffen, nicht so sehr wegen der französischen Sprache als wegen der ihm unvertrauten, offenbar von Heidegger inspirierten Terminologie.«8 Auf Heidegger verweist auch das Berner Tagblatt in seiner Besprechung des Abends: Heidegger sei – »auch heute in seinem unfreiwilligen Ruhestand« – für eine »Legion von Anhängern« der »geistige Vater« des Existentialismus. Der Rezensent spielte mit diesem Seitenhieb darauf an, dass Heidegger als eingeschriebenem Mitglied der NSDAP eben letzthin, am 19. Januar 1946, an der Universität Freiburg i. B. die Lehrbefugnis entzogen worden war.9 An jenem Abend scheint Sartre den Existentialismus vor allem in seiner ethischen Dimension charakterisiert zu haben. Durch die Freiheit

6 Marti, Ein Topf voll Zeit, S. 182-186. 7 Anzeiger für die Stadt Bern, 31.5. / 3. 6. 1946. Marti schreibt, Sartre habe seinen Essay L’existentialisme est un humanisme vorgetragen (Marti, Ein Topf voll Zeit, S. 203). Tatsächlich ist gut möglich, dass Sartre seinen Ausführungen diesen Essay zugrunde legte. Er hatte ihn am 28. Oktober 1945 erstmals vorgetragen und im Februar 1946 in leicht veränderter Fassung drucken lassen. Am 13. April 1946 hatte die Literaturbeilage von Le Figaro zudem einen Beitrag Sartres unter dem Titel À la recherche de l’existentialisme: M. Jean-Paul Sartre s’explique veröffentlicht (nach http://www.sartre.ch / Die% 20Werke%20Sartres.pdf) (15. 1. 2016). 8 Marti, Ein Topf voll Zeit, S. 203. 9 http:/a/de.wikipedia.org/wiki / Martin_Heidegger#Nationalsozialismus (15. 1. 2016).

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des autonomen Entscheids in jeder Situation sei der Mensch »von Gott getrennt«. Dieser Freiheit müsse – um Missbrauch zu verhindern – in jedem Moment das eigene Verantwortungsbewusstsein gegenüberstehen. Und deshalb könne der Existentialismus »der Unterstützung durch die Religion sich begeben«. – Im Übrigen hat der Rezensent des Tagblatts dem Auftritt Sartres mehr abgewinnen können als der Student Marti: »Neben dem Inhalt seiner Ausführungen bedeutete die Persönlichkeit des Redners in autonomem Ausmass einen einmaligen Eindruck für den Hörer. Die Subtilität der sprachlichen Gestaltung und der Reichtum an didaktischem Geschick verbanden sich mit der blendenden Eloquenz zu einer Vortragsweise von grösster Eindringlichkeit.«10

Marti zieht für knapp ein Jahr nach Paris »Vom Spätsommer 1947 bis im Sommer 1948 war ich dann zehn Monate in Paris als Mitarbeiter der Ökumenischen Kommission für die geistliche Betreuung der Kriegsgefangenen«, erzählt Kurt Marti nun im Speisesaal des Elfenauparks. »Der ökumenischen Rat in Genf war damals noch gar nicht offiziell gegründet und bildete erst eine lockere Organisation. Aber er unterhielt in Paris ein Büro für die deutschen Kriegsgefangenen. Es gab damals nach wie vor große Kriegsgefangenenlager, in denen sich unterdessen christliche Gemeinden gebildet hatten. Allerdings wollten die Gefangenen nichts mehr wissen von den hitlertreuen Feldpredigern der Wehrmacht. Darum ergriffen Leute aus der Mitte der Gefangenen die Initiative. Diese Lagergemeinden haben wir vom Büro her mit Literatur und anderen Hilfen unterstützt. Gleichzeitig befanden sich die Kriegsgefangenenlager bereits in langsamer Auflösung. Die Franzosen konnten aus den Lagern Arbeitskräfte rekrutieren, zum Beispiel für die Landwirtschaft, auch Handwerker für das Gewerbe. Solche rekrutierten Deutschen sind zum Teil dann geblieben und haben eine Französin geheiratet. Das war ein Anfang der späteren deutsch-französischen Freundschaft. Im Alltag und bei der Arbeit lernte man sich neu kennen und schätzen nach diesem grässlichen Krieg.« In einem Essay hat er damals seine Erfahrungen so zusammengefasst: »So ist eigentlich das Wichtigste, was ich mit heimgebracht habe von meiner nicht ganz einjährigen Arbeit […] die Gewissheit: Es gibt in Frankreich hinter den Stacheldrähten der Gefangenenlager lebendige, christliche Gemeinden.«11

10 Berner Tagblatt Nr. 153, 6. 6. 1946. 11 Kurt Marti: Kirche hinter Stacheldraht. In: Der Concordianer, Semesterblatt, Sommersemester 1949.

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Paris 1947 /48: »Und was tat der Student tagsüber im Büro? Las Briefe und Bestellungen aus den Lagern, fertigte zuhanden des Verpackers Willy Bücherlisten an. Oder empfing zusammen mit Frau Lindbom Lagerpfarrer, die kamen, um Wünsche mündlich zu deponieren.«12 Und abends? Klar habe er das »Café de Flore« gekannt und gewusst, dass das der Treffpunkt der Existentialisten gewesen sei. Und klar habe er deren Zeitschrift, Les Temps modernes, ab und zu gelesen. Oder in Arbeitspausen im Büro mit den Kollegen und Kolleginnen über »aktuell gespielte Theaterstücke von Sartre und Anouilh«13 geredet. »Aber ich war immer noch Theologiestudent, und die Existentialisten haben sich nicht für die Theologie, sondern für Heidegger interessiert«, sagt er jetzt beim Essen. Allerdings ging es ihm damals um mehr als um die Distanz zwischen der Theologie und dem Existentialismus – Marti misstraute Sartre: »Sein und Zeit hieß Heideggers Hauptwerk, L’Être et le Néant dasjenige Sartres, das ohne Zensurschwierigkeiten im deutschbesetzten Paris hatte erscheinen können. War Sartre ein Résistant gewesen?«14 Was Marti in seinen Monaten in Paris noch nicht wissen konnte, war, dass Sartre eben damals an seinem Essay Qu’est-ce que la littérature? arbeitete, in dem er mit Blick auf die »Situation des Schriftstellers im Jahr 1947« – so die Überschrift des abschließenden Kapitels – »eine Literatur der Praxis« einforderte: »Zum Beschreiben und Erzählen ist keine Zeit mehr; ebenso können wir uns nicht mehr aufs Erklären beschränken. […] Wenn die Wahrnehmung selbst Handeln ist, wenn für uns die Welt zeigen immer heisst, sie in den Perspektiven einer möglichen Veränderung enthüllen, dann müssen wir in dieser Fatalismusepoche dem Leser in jedem konkreten Fall seine Macht, etwas zu tun und etwas aufzuheben, kurz, zu handeln, offenbaren.«15 Als Sartre zwölf Jahre später in einem Interview nach dem Engagement des Schriftstellers gefragt wurde, antwortete er: »Die wahre Arbeit des engagierten Schriftstellers […] ist aufzeigen, nachweisen, entlarven, in einem kleinen kritischen Säurebad Mythen und Fetische zerstören.« Und: »Wenn die Literatur nicht alles ist, ist sie nicht der Mühe wert. Das will ich mit ›Engagement‹ sagen.«16 Für Sartre – kann man daraus ableiten – hat sich der Begriff des »Engagements« in den fünfziger

12 13 14 15

Marti, Ein Topf voll Zeit, S. 215. Ebd., S. 216. Ebd., S. 203. Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Schriften zur Literatur 2. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 221 f. 16 Jean-Paul Sartre: Was kann Literatur? Schriften zur Literatur 4. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 27 u. 13.

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Jahren von einer gesellschaftspolitischen zunehmend zu einer ästhetischen Kategorie gewandelt. Helmut Peitsch schreibt denn auch, Sartre habe »das Engagement auf der einen Seite immer weniger in der historisch-gesellschaftlichen Situation des Schriftstellers und immer mehr im Wesen der Literatur lokalisiert. Auf der anderen Seite wird das Schreiben von Literatur immer weniger mit Handeln gleichgesetzt und statt dessen als Alibi für Nicht-Handeln begriffen.«17

Die Barthianer im »Berner Kirchenstreit« Im Sommer 1948 kehrt Kurt Marti aus Paris in die Schweiz zurück. Nach einem Lernvikariat in der Kirchgemeinde Büren an der Aare wird er noch im selben Jahr im Berner Münster ordiniert, »d. h. in den evangelisch-reformierten Kirchendienst aufgenommen, zum VDM (Verbi Divini Minister; Diener am göttlichen Wort) ernannt«.18 Nach einer Hilfspfarrer-Stelle in Rohrbach und der Heirat mit Hanni Morgenthaler wird er 1950 Pfarrer von Niederlenz (AG). Für Marti ist damals Paris schnell sehr weit weg.19 »Das war ja damals auch die Zeit des berühmten Berner Kirchenstreits«, erzählt er jetzt: 1950 habe Markus Feldmann, Berner Regierungsrat der BGB (und ab Ende 1951 Bundesrat) den Hauptvertreter der sogenannten »dialektischen Theologie«, Karl Barth, öffentlich unter Kommunismusverdacht gestellt. »Feldmann warf Barth und den Barthianern vor, sie seien keine Christen, sondern Linke.« Diese Auseinandersetzung schlug vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs schweizweit hohe Wellen. Immerhin bildeten im Kanton Bern die Barthianer damals mit ihrer »Theologischen Arbeitsgemeinschaft« und der Fraktion der »Unabhängigen« in der Synode eine bedeutende theologische Opposition gegen den kirchlichen Liberalismus, der die Universität und damit die Lehre beherrschte. Marti verfolgte als Jungpfarrer in der aargauischen Industriegemeinde Niederlenz diesen bernischen Kirchenstreit genau und widmete ihm im Sommer 1952 im Rückblick einen großen Essay: »Der ›Kirchenstreit‹

17 Helmut Peitsch: Art. Engagement / Tendenz / Parteilichkeit. In: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Band 2. Stuttgart 2001, S. 178223, S. 208. 18 Marti, Ein Topf voll Zeit, S. 233. 19 Eine Tabelle von Martis biographischen Stationen findet sich in: Christof Mauch (Hg.): Kurt Marti. Texte, Daten, Bilder. Frankfurt 1991, S. 53 ff.

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ist ein Versuch, vom Staate her die reformierte (nur sie, nicht auch die katholische!) Kirche zu neutralisieren und zu entkonfessionalisieren.« Feldmanns Polemik gegen Barth sei eine Stellungnahme für den kirchlichen Liberalismus, dessen Willfährigkeit eine »bekenntnislose Kirche« zur Folge habe, »die keine andere Botschaft mehr zu verkünden hat als diejenige, es könne jeder nach seiner Façon selig werden«. Dagegen stellte Marti Karl Barth als »de[n] einflussreichste[n] Theologen der Gegenwart« dar, dessen verbindliche Theologie und dessen Gewissen ihn schon früh dazu gedrängt hätten, »auch Stellung zu aktuellen politischen Fragen zu nehmen«. Unter dem Zwischentitel Barth und der Kommunismus führte Marti aus, dass sich Feldmann und Barth während des Zweiten Weltkriegs in ihrem »schweizerischen Widerstandsgeist« gegen »die Nazigefahr« zweifellos einig gewesen seien. »Der Konflikt begann eigentlich in dem Moment, da Barth sich weigerte, ebenso laut wie vor dem Nationalsozialismus nun auch vor dem Kommunismus zu warnen.« Warum Barth die Gleichsetzung der antagonistischen Totalitarismen für falsch hielt, erklärte Marti so: »Indem […] der Kommunismus durch seine blosse Existenz auf ein echtes Problem hinweist, ist er ernster zu nehmen als der Nationalsozialismus, der die falsche Lösung zu einem falsch gestellten Problem anbot, während der Kommunismus wohl auch eine falsche Lösung, aber immerhin die falsche Lösung eines echten Problems darstellt.« Das echte Problem, das es »an der Wurzel« anzupacken gelte, sei »eine gerechte Lösung der sozialen Frage«, denn nur »wo unbefriedigende soziale Zustände herrschen, […] gedeiht der Kommunismus«.20 Dass Marti auch als Pfarrer die soziale Frage wichtig war, belegt seine Predigt, die er bereits zum 1. Mai 1950 in Niederlenz gehalten hatte. »Die Kirche ist«, führte er bei dieser Gelegenheit aus, »für alle Parteien da, von der äussersten Rechten über die Mitte bis zur äussersten Linken. […] Die Politik Gottes, die den Christen als Richtschnur gelten soll, lässt sich in zwei Worte zusammenfassen: Recht und Gerechtigkeit. […] Wo war die Kirche, als es galt, für das Recht der Lohnarbeiter und für soziale Gerechtigkeit einzustehen? War es die Kirche, die die soziale Besserstellung der Arbeiter erkämpft hat? Nein, es waren vor allem die Gewerkschaften und die sozialistische Partei. Die Kirche ist abseits gestanden.«21

20 Kurt Marti: Der Berner »Kirchenstreit«. Ein Rückblick. In: Der Concordianer, Semesterblatt, Sommersemester 1952. 21 Kurt Marti: Kirchenarbeit und 1. Mai, Kirchenbote für das reformierte Volk des Aargau Nr. 5, Mai 1950.

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»Unter dem Eindruck des Berner Kirchenstreits«, erzählt Marti im Speisesaal, »haben wir, eine Gruppe von Pfarrern, damals im Aargau eine Parallelorganisation zur bernischen theologischen Arbeitsgemeinschaft aufgezogen, die wir in Anlehnung an ihre Fraktion in der Synode ›Gruppe der Unabhängigen‹ nannten. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich sie sogar eine zeitlang präsidiert. Theologisch waren wir auf der Linie von Barth und von den Religiössozialen. Wobei … vor allem auf der Linie von Barth. Ich persönlich war immer überzeugt, das Anliegen der Religiössozialen sei in der Theologie von Barth mitenthalten. Einfach theologisch besser fundiert.«

Pfarrer Kurt Marti wird Schriftsteller Im Schweizerischen Literaturarchiv liegt in Kurt Martis Vorlass eine umfangreiche Sammlung chronologisch geordneter Zeitungsausschnitte.22 Darin findet sich als ungehobener Schatz seine in verschiedenen Zeitungen verstreute Publizistik – neben Essays und vielen Rezensionen auch die frühesten Gedichtveröffentlichungen. In einem dieser Gedichte aus dem Jahr 1947 – er arbeitete damals noch in Paris – hat er Karl Barths Name als Reimwort verwendet im Rahmen einer Aufzählung bedeutender Autoren, bemerkenswerterweise von Belletristen, nicht von Theologen: Die Neuen Erkenntnis zeugt, wer sie gewaltsam pflanzt und Zeichen wundersamer Art herrisch in abgegriffne Geister stanzt – Joyce, Kafka, Jünger, Barth. Gefühl entbindet, wer die alten sprengt und übers Dutzendkanapee noch unentziffert Visionen hängt – Picasso, Chagall, Klee.23 Zwar hat Kurt Marti seinen Pfarrerberuf sehr ernst genommen und betont auch jetzt beim Mittagessen, zur regelmäßigen Spracharbeit sei er nicht wegen literarischer Ambitionen, sondern durch das Schreiben der Predigten gekommen. Er habe seine Predigten zwar stets so frei wie

22 Schweizerisches Literaturarchiv, Inventar Kurt Marti, S-06-a bis -k. 23 Die Tat, Nr. 307, 8. 11. 1947.

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möglich vorgetragen, aber immer von A bis Z schriftlich vorbereitet. Allerdings habe er sich daneben schon auch immer für die Literatur und deren neuste Entwicklungen interessiert. Zum Beispiel für Arno Schmidt, dessen avantgardistische Schreibtechnik für ihn der Versuch gewesen sei, der deutschen Sprache den eingebrannten Nazismus auszutreiben. Beim Gespräch am 22. Januar 2014 hat Marti denn auch en passant an Arno Schmidt erinnert mit dem Hinweis, dass er in dieser Woche eben seinen hundertsten Geburtstag hätte feiern können. Literarische Versuche habe er in Niederlenz zwischenhinein unternommen, weil er dazu Lust hatte: »Predigten auszuarbeiten heisst ja immer, adressiert zu schreiben. Und sie danach vorzutragen ist ein adressiertes Reden: Du richtest dich an die jeweilige Hörergemeinde. Manchmal ist bei mir der Wunsch da gewesen: Ich möchte ohne Adressat schreiben, frei, nach meinem Gefühl oder nach meiner Lust. Das war wohl das Hauptmotiv.« Allerdings war ihm damals das freie Schreiben ein Bedürfnis, dem er nur selten nachgab: Erst 1959 ist mit dem Lyrikband Boulevard Bikini sein erstes literarisches Bändchen erschienen. Mit Sicherheit aber hat er die Debatten um die aktuellen Tendenzen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur regelmäßig mitverfolgt. Höchstwahrscheinlich in diesem Zusammenhang hat er nun auch Sartres Theorem von der »Littérature engagée« zur Kenntnis genommen. Das heißt: Er lernte in den fünfziger Jahren nicht die Bedeutungsverschiebung kennen, die der Begriff in Sartres Verständnis von den gesellschaftspolitischen zu den ästhetischen Konnotationen durchmachte, sondern den Sinn, den die deutsche Rezeption dem Sartre’schen Engagement gegeben hat. Der Begriff »Engagement« tauchte in den Debatten des Zweiten deutschen Schriftstellerkongresses auf, der am 18. und 19. Mai 1948 in Frankfurt stattfand (Marti war noch in Paris).24 Dort wurde nun neu von Engagement gesprochen, um ein Phänomen zu bezeichnen, das noch im Jahr zuvor, am ersten Kongress in Berlin, mit »Zeitnähe« bezeichnet worden war: Es ging um die Umschreibung der Notwendigkeit, »dass alle Literatur heute vor den Forderungen des Tages ›engagiert‹ erscheinen müsse, ob sie das nun wisse und wolle oder nicht« (Hans Mayer). Im Übrigen jedoch hatte man in Deutschland für die gesellschaftspolitisch engagierte Literatur den Begriff »Tendenzliteratur« entwickelt und verteidigte dagegen – auch unter dem Eindruck der Hitler-Diktatur – die Autonomie des Kunstwerks gegen jede politische Vereinnah-

24 Hier und im Folgenden nach: Peitsch, Art. Engagement / Tendenz / Parteilichkeit, S. 214-218.

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mung. Neben Theodor W. Adorno vertrat zum Beispiel Hans Magnus Enzensberger diese Position, wenn er 1962 die »gesellschaftliche Funktion autonomer Poesie in der Moderne« mit den Begriffen »Verweigerung, anarchistisch-subversive Kritik, Antizipation im Modus der Verneinung« umschrieb. Wichtig für Marti könnte in der Debatte um das literarische Engagement etwa die damalige Stellungnahme von Walter Jens gewesen sein, den er in unseren Gesprächen in den letzten Jahren verschiedentlich als intellektuelle Referenz erwähnt hat. Jens sah in Literatur und Politik (1963) für das Engagement des Schriftstellers keine andere Möglichkeit, »als sich […] unmittelbar, mit Hilfe von Manifesten und Pamphleten« zu äußern. Insofern sah Jens den Schriftsteller »als Partisan, Rebell und Widerstandskämpfer« und vertrat die Notwendigkeit des Engagements einerseits im Sinn des frühen Sartre, wollte es aber andererseits außerhalb des literarischen Werks realisiert sehen. Er plädierte demnach für eine Arbeitsteilung zwischen Künstler und Bürger. Realisiert worden ist die Idee des geteilten Engagements im deutschen Sprachraum zum Beispiel in den zeitgeschichtlich gewordenen öffentlichen Auftritten der Tabakpfeife rauchenden Großintellektuellen Grass, Frisch oder Muschg.

Das Engagement des Schriftstellers Kurt Marti Auch Kurt Marti lebte eine Variante dieses geteilten Engagements. Während er als Lyriker und Schriftsteller einem »Engagement der Erkenntnis« (Helmut Heißenbüttel) verpflichtet war, ließ er sein staatsbürgerliches Engagement auf der Kanzel regelmäßig in seine öffentlichen Stellungnahmen einfließen und erweiterte es immer mehr über sein berufliches Engagement hinaus: Marti engagierte sich gegen die hirnrissige Idee, die Schweiz zu einer militärischen Atommacht zu machen. Er engagierte sich gegen die Monopolisierung der eigenen Mundart durch die Ideologen der geistigen Landesverteidigung und der Kalten Krieger, indem er diese Sprache – wie Arno Schmidt die hochdeutsche – neu erfand. Er engagierte sich ab 1964 als Kolumnist der Zeitschrift Reformatio, indem er kulturkritischer Kommentator jener Welt wurde, in der er lebte. Er engagierte sich gegen den US-amerikanischen Eroberungskrieg in Vietnam. Er engagierte sich bei der Gründung der entwicklungspolitischen Organisation Erklärung von Bern. Er engagierte sich gegen Ende der sechziger Jahre vor einem Militärgericht als Verteidiger eines Dienstverweigerers aus Gewissensgründen. Er engagierte sich bei der Spaltung des Schweizerischen Schriftstellervereins (SSV) und bei der Gründung der Autoren- und Autorinnengruppe Olten. Wegen all dieser

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Engagements hat es danach der Berner Regierungsrat 1972 abgelehnt, ihn auf den Lehrstuhl für Homiletik der Universität Bern zu berufen, weil man ihn für einen pastoral verkappten Marxisten hielt. Das war er nie. Er war und blieb ein Barthisan. Aber wie hat Kurt Marti damals den Begriff »Engagement« selber gebraucht? In seinem Essay Die Schweiz und ihre Schriftsteller – die Schriftsteller und ihre Schweiz umschreibt er den Engagement-Begriff von Jens, wenn er vom »skeptischen Unglauben an unmittelbare, die Gesellschaft verändernde Wirkung der Literatur« spricht und von der »Tendenz, sich an der politischen Diskussion – wenn schon – nicht mit literarischen, sondern mit publizistischen oder anderen politischen Mitteln zu beteiligen«.25 In gleichem Sinn 1971: »Wenn man sich engagiert für ein politisches Thema, dann ist der direkte Weg doch der, dass man nicht einen Roman schreibt, man schreibt eine Abhandlung, ein Pamphlet, und das gehört zur politischen Fachliteratur.«26 Explizit verwendet Marti in diesem Essay den Begriff »Engagement« in außerliterarischem Zusammenhang, etwa wenn er vom »Engagement für Friedenserhaltung in der Welt« als Maxime einer »engagierten Neutralität« spricht,27 oder wenn er den Niedergang des »Eigenen« als »Absolutes« konstatiert und sagt, heute werde Eigenes »zum Gesamt des ›Anderen‹ und ›Fremden‹ in funktionelle Relation gebracht, also sinnvoll relativiert […]. Die ›Mitte‹, für die es sich zu engagieren gilt, ist das Ganze, Universale!«28 1972 hatte Kurt Marti die Frage zu beantworten: »Was verstehen Sie unter Engagement im allgemeinen, und was ist ihr ganz persönliches Engagement?« Er hat geantwortet: »Ich denke, Engagement heisst – ganz allgemein gesprochen –: sich für etwas einsetzen (für Menschen, Ideen, eine humanere Gesellschaft etc.) Soviel ich weiss, hat Sartre den Begriff geprägt. Bei ihm scheint Engagement ein Begriff zu sein, der den Einsatz für eine Gesellschaftsveränderung in einem marxistischen Sinne meint. […] Ich selber versuche, ein Christ zu werden und zu sein und daraus auch gesellschaftspolitische Konsequenzen zu ziehen. Dieses Engagement war und ist vorerst keine literarische Sache. Meine persönliche Lebensweise, meine Berufswahl, meine tägliche Arbeit, die Schwer-

25 Kurt Marti: Die Schweiz und ihre Schriftsteller – die Schriftsteller und ihre Schweiz. Zürich 1966, S. 73. 26 Werner Bucher / Georges Ammann: Schweizer Schriftsteller im Gespräch. Basel 1970 /71, S. 316. 27 Marti, Die Schweiz und ihre Schriftsteller – die Schriftsteller und ihre Schweiz, S. 55. 28 Ebd., S. 61.

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punktbildungen in dieser Arbeit sind ein Versuch, mein Engagement immer neu zu artikulieren und zu leben. Das Schreiben literarischer Texte kam erst nachträglich dazu und enthält, glaube ich, ebenfalls etwas von meinem Engagement, ohne dass man wahrscheinlich von ›engagierter Literatur‹ im strengen Sinne dieses Wortes wird sprechen können. Wenn ich schreibe, geht es mir nicht nur um die Gesellschaft, sondern primär um mich selbst, freilich um mich selbst in meiner Beziehung zur Gesellschaft und ihrer Zukunft. Schreiben ist für mich also ein Prozess der Selbsterkenntnis im Medium der Sprache.« Aus diesem Verständnis des Engagements wird auch klar, warum er sich mit Jörg Steiner und Frank Jotterand zusammen als Rädelsführer betätigt hat, als es darum ging, den Schriftstellerverein zu sprengen, nachdem sich dessen Präsident Maurice Zermatten dazu hergegeben hatte, mit seiner Übersetzung des Zivilverteidigungsbuchs die KalteKrieg-Hysterie im Land neu anzuheizen. Und ebenso klar wird, warum er drei Jahre später in der unterdessen gegründeten »Gruppe Olten« abseits stand, als eine Autorengruppe um Adolf Muschg und Hansjörg Schneider den 1971 von Mani Matter formulierten Zweckartikel des Vereins umformulieren wollte. Festzuschreiben sei, forderte diese Gruppe, dass der Verein sich »eine demokratische sozialistische Gesellschaft« zum Ziel setze. Der Zweckartikel ist tatsächlich in diesem Sinn abgeändert worden und – wenig erstaunlich – toter Buchstabe geblieben. 1978 ist Kurt Marti von der Literaturzeitschrift drehpunkt als Mitglied der »Gruppe Olten« gefragt worden, was für ihn »Schreiben im Blick auf eine demokratische sozialistische Gesellschaft« bedeute. »Wir sind keine Gruppe mehr«, hat Marti desillusioniert geantwortet, »sondern ein Verein. Gruppenerlebnisse haben wir anderswo, Erfahrungen mit Solidarität und Aktion machen wir nicht oder nicht mehr im Rahmen der Gruppe. […] Wer weiss, wenn wir einmal gefordert würden, könnte wieder Gegenwart werden, was zur Zeit Erinnerung ist.«29 Als ich Marti beim Kaffee, zu dem er eine Zigarette raucht, an diesem 22. Januar 2014 frage, ob er sich denn zum Beispiel gegen die militärische Atomaufrüstung der Schweiz oder im Disput mit dem Kommunisten Konrad Farner eher als Staatsbürger, als Schriftsteller oder als Pfarrer engagiert habe, hat er keinen Moment nachdenken müssen: »Als Staatsbürger. Als Staatsbürger, der sich an der Bibel, an der christlichen Botschaft orientiert. Aber klar, so genau habe ich das damals nicht unterschieden … Einfach als Kurt Marti, fertig.«

29 Kurt Marti: Ein Gerücht im Supermarkt – die Gruppe Olten. In: Drehpunkt. Schweizer Literaturzeitschrift, 40 /41, Oktober 1978, S. 24.

Eberhard Jüngel

Laudatio für Kurt Marti (2002)* Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel, der kommt … Der Himmel, der kommt, das ist der kommende Herr … Der Himmel, der kommt, grüßt schon die Erde …

Im Tübinger Stift wird das nicht gerade selten gesungen. Und den Berlinern ist das Lied ebenfalls vertraut. Wenn ein poetischer Text in ein Gesangbuch der Kirche Eingang findet und wenn das Lied dann auch rezipiert und also in den Gemeinden wirklich gesungen wird, dann hat es sich der Christengemeinde imponiert. Es muss dann nicht eigens gesagt werden, warum und wieso. Es ist so. Doch nicht nur ein einzelner Text, auch sein Autor kann sich mit allen seinen Texten und durch sie anderen Menschen imponieren. Und die sagen dann auch nicht, warum und wieso, sondern nur eben: es ist so. Dieses es ist so kann sich in unterschiedlichen Tonlagen artikulieren: zähneknirschend z. B., knurrend und murrend. So reagieren in der Regel – nicht immer – Professoren, wenn sich einer ihrer Kollegen der »scientific community« imponiert hat. Man kann dieses es ist so aber auch fröhlich und sogar einigermaßen festlich sagen. Und eben deshalb sind wir mit Kurt Marti hier heute zusammen. Wir feiern die Verleihung des Karl-Barth-Preises an einen der originellsten Schüler Barths, der es in seiner Originalität sogar fertiggebracht hat, Barths theologischen Ansatz mit den theologischen Einfällen von Dorothee Sölle zu einer palíntropov ¬armoníh zu vereinigen. Und das muss ihm erst einmal jemand nachmachen! Wir feiern. »Ein Fest«, schreibt Kurt Marti, »braucht nichts Großartiges zu sein, es bedarf keiner umständlichen Organisation. Es genügt, dass zwei oder mehr Menschen beisammensitzen, miteinander reden, trinken, scherzen.«1 Das Miteinandertrinken und Miteinanderscherzen

*

Anlässlich der Verleihung des Karl-Barth-Preises 2002 der Evangelischen Kirche der Union (EKU). Die Laudatio erschien erstmals in der Berliner Theologischen Zeitschrift 20, 2003, 2, S. 280-288. Der erneute Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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muss jetzt zwar noch ein wenig warten. Aber das Miteinanderreden – das fängt jetzt an. Freilich so, dass zunächst einmal nur einer redet – und das bin ich! –, während Sie, meine Damen und Herren, wohl oder übel hören müssen. Sie sind vorerst ecclesia audiens. Ich aber repräsentiere für die nächsten Minuten die ecclesia docens. Eine riskante Rollenverteilung! Quod deus bene vertat … Ich beginne mit einer wissenschaftstheoretischen Reflexion. Es gibt Sätze, die einer Begründung weder fähig noch bedürftig sind – die alte Wissenschaftstheorie nannte solche Sätze Axiome. Es gibt aber nicht nur Sätze, es gibt – und das hat die alte Wissenschaftstheorie nicht bedacht – auch Ereignisse, die einer Begründung weder fähig noch bedürftig sind: axiomatische Ereignisse sozusagen. Auch im Blick auf sie gilt, was einst Aristoteles seinen Zeitgenossen eingeschärft hatte und was auch heute nicht oft genug in Erinnerung gerufen werden kann: nämlich dass es Unerzogenheit oder Unbildung – auf Griechisch: a¬paideusía – verrät, wenn man nicht begreift, »wofür man Beweise suchen muss und wofür nicht«: e ¢sti gàr a¬paideusía tò mæ gignåskein tínwn deî zhteîn a¬pódeixin kaì tínwn ou¬ deî.2 Die Verleihung des Karl-Barth-Preises an Kurt Marti ist ein solches »axiomatisches Ereignis«. Sie ist einer Begründung weder fähig noch bedürftig. Und das nicht etwa deshalb, weil der mit Preisen und akademischen Ehrungen schon vielfach Gewürdigte heute noch einmal gewürdigt wird. Nein, der Karl-Barth-Preis ist schon etwas ganz Besonderes. Er steht für sich selbst. Das Ereignis seiner Verleihung an Kurt Marti ist es, von dem wir eingestehen müssen, dass es einer Begründung weder fähig noch bedürftig ist. Das zum Laudator des Preisträgers bestellte Subjekt wird sich folglich hüten, den Vorwurf der a¬paideusía auf sich zu ziehen, indem er vor dieser illustren Versammlung zu begründen oder gar zu beweisen versuchte, warum Kurt Marti heute als Empfänger des Karl-Barth-Preises in unserer Mitte ist. Das, meine Damen und Herren, muss Ihnen schon von selbst einleuchten. Und wem es partout nicht von selbst einleuchtet, der sollte wenigstens so tun, als ob es ihm einleuchten würde, damit nicht etwa auch er den Tadel der a¬paideusía auf sich ziehe … Was aber bleibt dem Laudator zu tun oder vielmehr zu sagen, wenn die Verleihung des Karl-Barth-Preises an Kurt Marti begründet zu wer-

1

Kurt Marti: Feste – Zeichen der Freiheit, der Versöhnung. In: ders.: Der heilige Geist ist keine Zimmerlinde. 80 ausgewählte Texte mit einem Vorwort von Eberhard Jüngel. Stuttgart 2000, S. 19. 2 Aristoteles: Met. G 1006a 6 f.

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den weder fähig noch bedürftig ist? Nichts anderes, als den Geehrten selber zu Wort kommen zu lassen und nur hier und da eine Bemerkung hinzuzufügen, eine Interlinearglosse, wenn man so will. Ich halte mich dabei für diesmal nicht nur, aber vor allem an den 1989 publizierten Diskurs: Die gesellige Gottheit, um mit diesen Texten Martis taufrische, die Weltleidenschaft Gottes bezeugende Sprache in Erinnerung zu rufen und seine pointensichere Vergegenwärtigung christlicher Überlieferungen, bei der theologische Provokation und sensible Poesie eine glückliche Verbindung eingehen: eine Verbindung, die sogar der liturgischen Sprache der Kirche neuen Atem einhaucht. »Marti hat sich von Anfang an nicht auf ein Thema oder eine Form beschränkt, sondern verschiedene Möglichkeiten der Innovation erkundet, hat immer wieder alte literarische Muster und Genres aufgenommen und umgeschrieben, und mit Vorliebe Traditionen lebendig bewahrt, indem er sie auf den Kopf stellte« – bemerkt treffend die wache Rezensentin Elsbeth Pulver. Ja, nicht selten hat er, was zuvor auf dem Kopf stand, wieder auf die Beine gestellt – darin Karl Kraus und noch mehr Kurt Tucholsky verbunden, dem Meister unerbittlicher Analyse und schnörkelloser Formulierung. An Karl Kraus befremdete ihn allerdings die »päpstliche Attitüde« des allemal »von oben herab« kritisierenden Wieners, während Kurt Tucholskys Einsicht, dass der Kritiker nur ja nicht glauben möge, dem Kritisierten überlegen zu sein, ein Grund mehr war, diesen zu lieben.3 Kurt Marti weiß, was das Wort axiomatisch ursprünglich bedeutet. Und der Theologe, der in allen seinen Dichtungen unbeirrbar vernehmbar ist und vernehmbar sein will, weiß natürlich erst recht, dass rechte Rede von Gott allemal axiomatische Rede ist. Marti sagt es auf seine – sich des Paradoxes bedienende – Weise so: der seinen beweisern beweist dass der bewiesene nie der zu beweisende ist4 – der ist es, der Gott genannt zu werden verdient. Und obwohl Marti, wie andere vor und neben ihm – ich nenne Martin Buber – darunter leidet, dass

3 Michael Hepp (Hg.): Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik 1997 an Kurt Marti. Berlin 1997, S. 35. 4 Kurt Marti: theolalie / reden von gott. In: ders.: Abendland. Gedichte. Darmstadt 1980, S. 65.

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… das wort GOTT zum letzten der wörter zum ausgebeutetsten aller begriffe zur geräumten metapher zum proleten der sprache5 wurde, traut er – darin wiederum Martin Buber verwandt – dem mit diesem Wort, dem mit der »geräumten metapher« Benannten immer wieder zu, sich selbst als der zu erweisen, der er ist. Und dabei auch das zum »proleten der sprache« gewordene Wort Gott neu und kräftig zur Geltung zu bringen. Und wie! Selbst im uralten trinitarischen Dogma entdeckt er lebendigste Wahrheit: Gottes Sein blüht gesellig … Dreieinigkeit? Ein Männerbund! empören sich Frauen. Zu Recht. Zu Recht. Und dennoch: entwarf diese Denkfigur die unausdenkbare Gottheit nicht als Gemeinschaft, vibrierend, lebendig, beziehungsreich? Kein einsamer Autokrat jedenfalls, schon gar nicht Götze oder Tyrann! Eine Art Liebeskommune vielmehr, einer für den andern, ›dreifach spielende Minneflut‹ (Mechthild von Magdeburg). Mich stellt’s jedenfalls auf, Gott als Beziehungsvielfalt zu denken, als Mitbestimmung, Geselligkeit, die teilt, mit-teilt, mit anderen teilt: ›Die ganze Gottheit spielt ihr ewig Liebesspiel.‹ (Quirinus Kuhlmann)

5 Marti, Abendland, S. 11.

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Und insofern: niemals statisch, nicht hierarchisch, actus purus, lustvoll waltende Freiheit, Urzeugung der Demokratie.6 Mit diesen Zeilen schließt übrigens eine der eindrücklichsten neuesten katholischen Monographien (bevor dann der fromme katholische Dogmatiker – darin nun allerdings doch Kurt Marti zutiefst missverstehend – sich der religiosa taciturnitas, sich der nur noch schweigend zu vollziehenden Verehrung des Unsagbaren anheimgibt).7 Gottes Sein blüht gesellig … beziehungsreich; Gott als Beziehungsvielfalt zu denken, als Mitbestimmung, Geselligkeit, die teilt, mitteilt, mit anderen teilt; lustvoll waltende Freiheit und in dem allen ein ewig Liebesspiel – muss man eigens darauf hinweisen, dass in solchen sprachlichen Wendungen sich die Theologie Karl Barths theopoietisch reflektiert? Barth hatte die im Protestantismus fast schon vergessene Trinitätslehre wieder zum Leuchten gebracht, und zwar nicht als ein zwar verehrungswürdiges, aber im Grunde doch museales Schaustück kirchlicher Überlieferung, sondern eben als Hinweis auf jene Beziehungsvielfalt, ohne die Leben nicht möglich ist und die auch unser gegenwärtiges Leben stets aufs Neue ermöglicht. Denn vom gesellig blühenden Sein Gottes her leuchtet nicht nur ein, dass Sein allemal Zusammensein und Leben allemal Zusammenleben ist. Dass isoliertes Leben stirbt und sich separierendes Sein eine Beute des Nichts wird, das weiß wohl jeder. Doch das gesellig blühende Sein des dreieinigen Gottes ist leidenschaftlich auf ganz anderes, ebenfalls geselliges Sein bedacht. Deshalb wird Welt. Und dieser Welt bleibt Gott in unüberbietbarer »Weltleidenschaft« treu – gibt Kurt Marti in immer neuen sprachlichen Wendungen zu verstehen: wohl wissend, dass der Glaube an den dreieinigen Gott dem Christentum sein ureigenes Gepräge gibt, das ihn von jedweder religiösen Verehrung eines höchsten Wesens oder eines unendlichen Nichts signifikant unterscheidet. Vielleicht hat der abendländische Atheismus – ich meine den Atheismus von Format! –, insofern er sich gegen die Fehlorientierung einer den Monotheismus als

6 Kurt Marti: Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs. Stuttgart 1989, S. 94 f. 7 Gisbert Greshake: Der dreieine Gott. Freiburg u. a. 42001, S. 556 f.; vgl. Kurt Marti: Gottes Sein blüht gesellig. In: ders.: Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs. Stuttgart 21993, S. 94-97.

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absolutistische Monarchie missverstehenden Gottesverehrung empört, vielleicht hat ein solcher Atheismus von Format noch am ehesten etwas davon begriffen, dass der Glaube an die dreieinige, an die gesellige Gottheit seine Zukunft noch vor sich hat. Nicht zufällig hat das älteste Christentum selber den Vorwurf des Atheismus auf sich gezogen. Den platten Atheismus indessen hat Kurt Marti vom Glauben an die gesellige Gottheit her heilsam relativiert: Was, ach, ist Atheismus verglichen mit der Nähe einer geselligen Gottheit, die im Menschen, dem gewagtesten, gefährlichsten Ihrer Geschöpfe auch scheitern kann?8 Das alles kann man allerdings nur so zur Sprache bringen, dass die Sprache das Werden – und deshalb auch das Vergehen – in Acht nimmt. Die Sprache der Metaphysik kann das nur sehr unzureichend. Denn sie ist am Bleibenden interessiert und orientiert: an dem, was gestern, heute und morgen dasselbe ist: am a¬eì o¢n. Für die Sprache der Metaphysik gilt, was Friedrich Nietzsche für die Sprache überhaupt behauptet hat: »die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das ›Werden‹ auszudrücken: es gehört zu unserm unablöslichen Bedürfnis der Erhaltung, beständig eine gröbere Welt von Bleibendem […] zu setzen«.9 Die trinitarisch inspirierte Sprache aber, sie kann’s. Und die Theopoetik Kurt Martis demonstriert, ohne demonstrieren zu wollen, dass sie es kann. Und jetzt Seine Auferstehung. … Etwas wird möglich …10 Das Mögliche galt der auf die Wirklichkeit fixierten Metaphysik als debiles Sein, als ens debilissimum. Ostern aber eröffnet inmitten unserer Wirklichkeit Möglichkeiten des Seins, die von weit her kommen. Das

8 Kurt Marti: Wagnis der Nähe. In: ders.: Die gesellige Gottheit, S. 20-22, S. 20. 9 Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht. Stuttgart 1959, Nr. 715, S. 483. 10 Kurt Marti: Brot und Wein. In: ders.: Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde, S. 129.

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aber »ohne spektakel wie unter der hand«.11 Fast meint man, hinter dem nüchternen Wirklichkeitssinn Karl Barths etwas vom tastenden Möglichkeitssinn Martin Heideggers aufscheinen zu sehen. Doch ich weiß nicht, ob Kurt Marti Heidegger je gelesen hat. Warum auch, wenn man von selbst zum Denker jener Möglichkeiten wird, die nicht von uns ermöglicht werden, sondern die sich uns zuspielen … Karl Barth aber hat er gelesen. 1945 begann der 1921 in Bern Geborene in Basel Theologie zu studieren, angezogen von eben jenem Theologen, »der von Basel aus zum Widerstand gegen das Dritte Reich aufrief und, mit anderen zusammen, gegen die Abweisung der Flüchtlinge protestierte. Barths politische Klarheit und Entschiedenheit« – so berichtet Marti in seiner Dankesrede für die Verleihung des Kurt-TucholskyPreises – »hat damals auch mich ermutigt, mich auf … seinen Glauben und seine Theologie derart neugierig gemacht, dass ich ein Studium aufnahm, das ich zuvor niemals in Betracht gezogen hatte, nämlich das der Theologie. Durch Barth bin ich ebenso politisiert wie theologisiert worden. Er war denn auch der Animator meiner späteren publizistischen Einmischungsversuche ins kirchliche und politische Geschehen«.12 Gehe ich fehl in der Vermutung, dass die Einmischungsversuche ins kirchliche und politische Geschehen – Einmischungsversuche, nebenbei bemerkt, wegen derer die Berner Kantonsregierung ihm einen Lehrauftrag an der dortigen Theologischen Fakultät verweigert hat –, gehe ich fehl in der Annahme, dass diese Einmischungsversuche sich ihrerseits Ereignissen und Gewissheiten verdanken, die einer Begründung weder fähig noch bedürftig sind? Immerhin hatte Karl Barth schon das erste Gebot als theologisches Axiom zu begreifen gefordert und von ihm her dann seine politische Ethik begründet. Der alte Barth hat dem Ereignis der Auferstehung Jesu diesen axiomatischen Rang zuerkannt und nun von diesem österlichen Ereignis her die Ethik des christlichen Lebens zu entfalten begonnen. Bei Kurt Marti sind die der derzeitigen gesellschaftlichen und kirchlichen Wirklichkeit geltenden Einreden ebenfalls von jenen axiomatischen Gewissheiten gesteuert. Aber diese Einreden werden niemals – und das unterscheidet sie von nicht wenigen die Freiheit eines Christenmenschen ideologisch vergewaltigenden Barthianern! – zu rücksichtslosen Imperativen. Eher schon zu Ausdrücken der Wut. Einem Wütenden aber kann man widersprechen. Dazu ermutigt Kurt Marti selbst, insofern seine Wut die Hoffnung nie fahrenlässt:

11 Kurt Marti: Was wird kommen? In: ders.: Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde, S. 210-211. 12 Hepp (Hg.), Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises, S. 34 f.

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Das, ach ja, behaupte ich ohne Beweis, ein alter Mann mit leeren Händen, halb wütend, halb hoffend, stets fragend: Ostern, war da nicht Ostern?13 »Stets fragend …« Wenn Fragen, wie Heidegger einmal behauptet hatte, die Frömmigkeit des Denkens ist, dann bezeugen die Texte Kurt Martis eine elementare Frömmigkeit. Aus ihnen spricht uns ein gleichermaßen weltliches und geistliches Staunen an: nicht jenes Staunen, von dem nach Platon und Aristoteles alle Philosophie herrührt. Denn das Ziel allen Philosophierens ist gerade das nil admirari, das Nicht-mehrStaunen-Müssen, ist die entzauberte Welt. Aus Kurt Martis Texten kommt uns ein anderes Staunen entgegen: ein Theologie und Poesie gemeinsames Staunen, das, wenn es ins Denken einfällt, immer noch staunenswerter wird. Je intensiver das Verstehen, desto größer das Staunen! Im Blick auf Gottes immer neue Formen und Gestalten erfindende »Weltleidenschaft« bemerkt Kurt Marti: »Zu erklären, zu begreifen ist diese Welt- und Formenleidenschaft nicht. Sie ist aber da. Uns bleibt das Staunen.«14 Staunen ist ein anderes Wort für Sich-Wundern. Von Albert Einstein stammt die in ihrer Einfachheit überwältigende Wahrheit: »Wer sich nicht wundern kann, ist seelisch bereits tot.« Nach dem Maßstab dieser Wahrheit ist Ihre Seele, verehrter Kurt Marti, quicklebendig. »Ostern, war da nicht Ostern?« Doch wenn da Ostern war, und wenn Ostern die Identifizierung des allmächtigen Gottes mit dem gekreuzigten, also dem schlechthin ohnmächtigen Galiläer war, dann ist auch der zur Weltleidenschaft Gottes gehörende und eben deshalb auf keinen Fall zu verschweigende Zorn Gottes über die Sünde nichts anderes als »das Brennende seiner Liebe« (Karl Barth). Und dann weckt Gott die Toten nicht schreiend auf, sondern zärtlich. Eine befehlende Ethik ist genauso fehlorientiert wie der Gedanke vom kommandierenden, vom schneidend befehlenden Gott. Ein schneidender Befehl – im Kriegsfall vielleicht, jedenfalls dann, wenn er klar ist, eine wirkliche Wohltat – ein Befehl passt nicht zu dem »zitternden Gott«, an den Kurt Marti immer wieder

13 Kurt Marti: Geschichte, Ostern. In: ders.: Die gesellige Gottheit, S. 53-56, S. 54. 14 Kurt Marti: Leihgabe. In: ders.: Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde, S. 55-57, S. 57.

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erinnert und von dessen Kommen er kündet. Wie, bitte, könnte aus einem Befehl auch je ein Gedicht hervorgehen oder auch nur ein wahres theologisches Urteil? Oder ein hin- und mitreißender Jazz, dessen Fan zu sein Kurt Marti – bei gleichzeitigem Eingeständnis kirchenmusikalischer Unbedarftheit – sich gern bekannt hat. Und so hat er denn auch den schöpferischen Jussiv der Genesis, so hat er auch das schöpferische Es werde … nicht als Kommando deuten mögen, sondern als ein lachendes Ins-Werk-Setzen der Schöpfung: „V Von Ur an: Gott in Geselligkeit, Gott mit Sophia, der Frau, der Weisheit, geboren, noch ehe alles begann. Sie spielte vor dem Erschaffer (SPRÜCHE 8,22-31), umspielte, was er geschaffen, und schlug, leicht hüpfend von Einfall zu Einfall, neue Erschaffungen vor: Warum nicht einen anmutig gekurvten Raum? Warum nicht Myriaden pfiffiger Moleküle? Warum nicht schleierwehende Wirbel, Gase? Oder Materie, schwebend, fliegend, rotierend? So sei es, lachte Gott, denn alles ist möglich, doch muss auch Ordnung ins Ganze – durch Schwerkraft zum Beispiel. Dazu aber wünschte Sophia sich ebensoviel Leichtigkeit. Da ersann Gott die Zeit. Und Sophia klatschte in die Hände. Sophia tanzte, leicht wie die Zeit, zum wilden melodischen Urknall, dem Wirbel, Bewegungen, Töne entsprangen, Räume, Zukünfte, erste Vergangenheiten – der kosmische Tanz, das sich freudig ausdehnende All. Fröhlich streckte Sophia Gott die Arme entgegen. Und Gott tanzte mit …

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Am Anfang also: Beziehung. Am Anfang: Rhythmus. Am Anfang: Geselligkeit. Und weil Geselligkeit: Wort. Und im Werk, das sie schuf, suchte die gesellige Gottheit sich neue Geselligkeiten. Weder Berührungsängste noch hierarchische Attitüden. Eine Gottheit, die vibriert vor Lust, vor Leben. Die überspringen will auf alles, auf alle.15 »Eine Gottheit, die vibriert vor Lust, vor Leben. Die überspringen will auf alles, auf alle« – kann sie anders denn als lachende Gottheit gedacht werden: gewiss, oft genug unter Tränen lachend, aber ihren eigenen Weltschmerz zu jener letzten Heiterkeit verarbeitend, mit der Gott auf uns wartet? Die dogmatische These, dass Jesus, weil sein Leben leidend ausklang, sich des Lachens enthalten habe – risu abstinuit –, hat Kurt Marti zu Recht in Zweifel gezogen. Sind doch »Schmerz und Lachen […] Zwillingskinder jener Liebe, die ebenso leidenschaftlich und geduldig, ebenso kämpferisch und leidensfähig ist wie Jesus, wie Gott selbst, ›denn Gott ist Liebe‹ (I Joh 4,8)«.16 Ein gewiss sehr irdisches, sehr weltliches Gleichnis solcher vor Lust und Leben vibrierender Gottheit, die überspringen will auf alles, auf alle, ein überaus irdisches, weltliches Gleichnis für das Beieinander und Ineinander von Schmerz und Lachen – das ist zweifellos der von Kurt Marti geliebte Jazz. Und mit ihm soll nun, nachdem Sie, meine Damen und Herrn, meine Worte erleiden mussten, das Miteinanderscherzen beginnen, dem das Miteinandertrinken ganz gewiss bald folgen wird.

15 Kurt Marti: Die gesellige Gottheit am Werk. In: ders.: Die gesellige Gottheit, S. 7-9. 16 Kurt Marti: Das Geheimnis des göttlichen Lachens. In: ders.: Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde, S. 89-96, S. 96.

Pierre Bühler

»gott gerneklein« Eine von Kurt Marti inspirierte Weihnachtspredigt1 Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Jedes Jahr, scheint es mir, gibt es noch mehr, noch früher und noch ausgeklügelter Advents- und Weihnachtsbeleuchtungen auf Straßen und Plätzen, an Häusern und in Gärten, auf den Bäumen. Lichter, wenn auch künstliche, im Dezemberdunkel. Lichter »im Land tiefsten Dunkels«. Ist das wie ein Rest der vorhin bei Jesaja gehörten Adventsverheißung: »Das Volk, das in der Finsternis geht, hat ein großes Licht gesehen«, sozusagen ein Lichtermeer? Licht im Dunkel, das ist die Grundthematik des Weihnachtsfestes. Nicht von ungefähr, denn im vierten Jahrhundert wurde das Weihnachtsdatum bewusst bei der Wintersonnenwende angesiedelt, um die römischen Feierlichkeiten zu ersetzen, die der im Himmel wieder aufsteigenden Sonne galten. Der sol invictus, die unbesiegbare Sonne, die jedes Jahr wieder das Dunkel besiegt, das war und das ist in christlicher Sicht Christus allein. Deshalb gibt es in den römischen Katakomben frühe Mosaiken, in denen Christus mit Kennzeichen des Sonnengottes Apollo dargestellt wird. Das Dunkel, das ist aber nicht nur die Finsternis der früh einbrechenden Nacht, der winterlichen Jahreszeit. Es ist auch das Dunkel dieser unserer Welt, in diesem zu Ende gehenden Jahr weit ausgebreitet: der andauernde Krieg in Syrien und anderswo, verheerender Taifun in den Philippinen, sterbende Kinder überall, ökonomische Krise in den Südländern Europas, sogenannte Sozialsuizide (in Griechenland 43 % mehr als im vorigen Jahr!), menschliches Leiden weltweit. Aber das Dunkel ist auch näher bei uns, und vielleicht sogar auch in uns: als Hoffnungslosigkeit, Resignation, Entmutigung oder auch als trotzige Revolte. Unstimmiges, Ungewisses, Betrübendes nagt an unserem Lebensmut. Dunkel ist deshalb manchmal auch unser Dünkel, das mit

1 Gehalten am 20. Dezember 2013 im Rahmen des Semesterschlussgottesdienstes der Theologischen Fakultät Zürich. Die Predigttexte waren: Jesaja 9, 1-6 und 2. Korinther 4, 6-10 (in der Fassung der neuen Zürcher Bibel von 2007). Eröffnet und abgeschlossen wurde der Gottesdienst mit den Stücken »Das Volk, das da wandelt im Dunkel« und »Denn es ist uns ein Kind geboren« aus Georg Friedrich Händels Messias; gezeigt wurde ein Weihnachtsgemälde von Rembrandt.

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künstlichen Lichtern oft nur überspielt, übertüncht wird. »Das Volk, das in der Finsternis geht«, das sind wir auch heute, in vielerlei Hinsicht. Vielleicht haben Sie vorhin beobachtet, wie tief der Bass-Solist mit der Stimme hinunter muss, um das Dunkel als »tiefstes Dunkel« zum Ausdruck zu bringen. Im Dunkel sitzt man tief, Dunkel ist auch Tiefe, und was geschieht dann? Man hofft auf Erlösung von oben, die uns aus diesem Tief hinausholt. Von dieser Erwartung ist auch der Prophet geprägt, der das Volk in Jesaja 9 zur Hoffnung aufruft. In eindrücklichem Stil wird das kommende Heil verkündigt: Über dem Volk im Dunkel leuchtet ein großes Licht; Freude darf herrschen wie in der Erntezeit; die Nation wird zahlreich; Joch, Stab und Stock, die unterdrückten, werden zerschmettert; die neue Herrschaft bricht an, auf der Schulter des verheißenen Sohnes, größer und größer, mit grenzenlosem Frieden, mit Recht und Gerechtigkeit gestützt, »von nun an für immer«: »Dies vollbringt der Eifer des Herrn der Heerscharen.« Unsere Adventserwartungen sind ebenfalls von dieser messianischen Heilserwartung getragen: Jesaja 9 wurde christlich rezipiert, und, wie wir es am Ende des Gottesdienstes hören werden, singen wir auch, an Jesus Christus denkend: »Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und auf seine Schulter ist die Herrschaft gekommen.« Ähnlich haben wir vorhin mit dem Psalm 24 gesungen: »Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit.« Und so verkünden es auch die Heerscharen der Engel: »Gloria in excelsis«. Auch in unserer zweiten Schriftlesung geht es dem Apostel Paulus darum, die Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi zu erkennen (2. Korinther 4, 6). Messianische Hoheits- und Herrlichkeitserwartungen überall? Aber eigentlich ist hier in christlicher Sicht eine radikale Brechung angesagt: Dieses messianische Kind, das uns geboren ist, das »Wunderbarer Ratgeber, Heldengott, Starker, Friedensfürst« heißt (Jesaja 9, 5), das ist das Kleinkind in der Krippe, von der Herberge vertrieben (nach Lukas), ins Exil nach Ägypten getrieben (nach Matthäus), das Kleinkind in der Ausgrenzung und auf der Flucht vor der Gefahr. Obschon ihm gehuldigt wird, sind in ihm unsere Herrlichkeitserwartungen zerschlagen. Um mit dem Berner Pfarrer und Dichter Kurt Marti zu sprechen, dem wir im November eine Tagung gewidmet haben: Es ist hier etwas »Gegenwendiges« enthalten. Unter diesem Titel Gegenwendig2 hat er einen Zweizeiler geschrieben, in dem die erste Zeile ganz groß und die zweite ganz klein geschrieben ist:

2 Kurt Marti: gott gerneklein. Gedichte. Stuttgart 2011, S. 10.

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Gegenwendig MENSCH GERNEGROSS

gott gerneklein Ähnlich hat das Rembrandt mit seinem Hell-Dunkel-Spiel zum Ausdruck gebracht: In seinen Weihnachtsgemälden gibt es meistens im Dunkel eine einzige Lichtquelle, und zwar nicht von oben herab, sondern von ganz unten her, vom Kleinkind, und so wird die ganze Szene von dort her, aus der Tiefe nach oben beleuchtet. Damit sind unsere Herrschafts- und Herrlichkeitsvorstellungen, und damit auch unsere üblichen Gottesbilder gebrochen. Kurt Marti hat das in einem Weihnachtsgedicht3 folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: weihnacht damals als gott im schrei der geburt die gottesbilder zerschlug und zwischen marias schenkeln runzelig rot das kind lag Der »gott gerneklein«, das ist dieses runzelig rote Kind zwischen Marias Schenkeln, der zutiefst Mensch gewordene Gott. Das verändert unsere Herrschaftsauffassungen. Das runzelig rote Kind wird später, wenn es erwachsen wird, von einer neuen Gottesherrschaft sprechen, die nicht in Macht und Gewalt besteht. Sie wirkt unter euch wie ein Sauerteig, der aufgeht, heißt die Botschaft; sie stiftet eine neue Dynamik in euren Leben, sodass ihr neu ins Leben geboren werdet. Mit einer Anspielung auf Weihnacht hat es die jüdische Philosophin Hannah Arendt folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Das ›Wunder‹ besteht darin, dass überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins […]. Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt worden als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien die ›frohe Botschaft‹ verkünden: ›Uns ist ein Kind geboren‹.4 3 Kurt Marti: geduld und revolte. die gedichte am rand. Stuttgart 1984, S. 8. 4 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 81996, S. 317.

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Diese neue Dynamik darf, als Dynamik der Liebe, ohne Herrschaft und Herrlichkeit auskommen. Was heißt das? In unserer zweiten Lesung hat es Paulus sehr leiblich zum Ausdruck gebracht: Nachdem er von der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi gesprochen hat, sagt er: »Wir haben diesen Schatz aber in irdenen Gefäßen.« Dieser Schatz ist nicht in einer vornehmen, unzugänglichen Schatztruhe. Er ist in unseren gebrechlichen Leibern, in unseren konkreten Existenzen. So leiblich-konkret meint es auch Kurt Marti, wenn er vom runzelig roten Kind zwischen Marias Schenkeln spricht. Deshalb sind wir nicht in allem erhaben, von allem bereits befreit, sondern »in allem sind wir bedrängt, aber nicht in die Enge getrieben, ratlos, aber nicht verzweifelt, verfolgt, aber nicht verlassen, zu Boden geworfen, aber nicht am Boden zerstört« (2. Korinther 4, 8 f.). Mit anderen Worten: Der »gott gerneklein« macht uns nicht zu Göttern und auch nicht zu Übermenschen. Die weihnächtliche Vollendung liegt vielmehr im Fragmentarischen, im Unvollendeten, im Ungewissen. Sie ist Ermutigung im Fragmentarischen, Ermutigung zum Fragmentarischen. Unter drei Aspekten möchte ich das noch kurz erläutern: Es gilt zunächst in Hinsicht auf unseren Umgang mit der Welt. Machen wir uns nichts vor und erliegen wir nicht falschen Hoffnungen: Schnell schon wird das neue Jahr dem alten ähneln, und die Welt, an der wir leiden, wird sich kaum bedeutend ändern. Das ist jedoch im Zeichen der weihnächtlichen Botschaft kein Grund zur Verzweiflung. Mit den Worten Dürrenmatts: »Gewiss, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine Antwort, die man auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluss etwa, die Welt zu bestehen, in der wir oft leben wie Gulliver unter den Riesen.«5 Zweitens: Der »gott gerneklein« ist auch gerne bei den Kleinen, unter den Kleinen. Deshalb warnt das Matthäusevangelium: »Seht zu, dass ihr nicht eins dieser Geringen verachtet! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel schauen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel.« (Matthäus 18, 10) Die Geringen sind an vielen Orten zu finden: die alte Person, die einsam in ihrer kleinen Wohnung dahinlebt; der gestrandete, nutzlos gewordene Arbeitslose; der Behinderte, der von der Leistungsgesellschaft ausgegrenzt wird; der Drogenabhängige, der sich im La-

5 Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme, in: ders.: Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden. Zürich 1998, Bd. 30, S. 63.

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byrinth seiner Sucht verloren hat; der Flüchtling, der sowohl in seiner Heimat als auch hier entwurzelt ist; die junge Mutter, die für den Verlust ihres dreijährigen, krebskranken Kindes keinen Trost findet. Im Zeichen von Weihnacht heißt die Dynamik der Gottesherrschaft der Weg der Nächstenliebe, als Liebe zu den Kleinen, zu den Geringen, zu den Verachteten und Ausgegrenzten, zu den Fremden, zu den Feinden. Von dieser Nächstenliebe spricht auch Luther in einer Weihnachtspredigt: Was hilft es deinem Nächsten, ob du eine Kirche aus lauter Gold bauen kannst? Was hilft ihm der Klang der großen und vielen Glocken? Was hilft ihm der große Glanz und Prunk in den Kirchen, mit Messgewand, Heiligtum, silbernen Bildern und Gefäßen? Was hilft ihm das Brennen und Rauchen vieler Kerzen? Was hilft ihm viel Getöne, Gemurmel, Gesang von Vigilien und Messen? Meinst du, dass Gott sich mit Glockenklang, Kerzenrauch, Goldglitzern und desselben Schwindels mehr begnügen wird? Davon hat er dir nichts geboten, sondern, sofern du deinen Nächsten siehst irren, sündigen, notleiden an Leib, Gut oder Seele, da, da sollst du hingehen, alles andere fahren lassen und dem helfen mit allem, was du bist und hast.6 Schließlich geht es um einen befreienden Umgang mit der Zukunft. Noch ist in unserem Leben vieles ungewiss, beunruhigend offen. Wie wird es uns gelingen, wie werden wir es bestehen? Noch ist die Prüfung nicht hinter uns, noch harzt die Seminararbeit, noch ist keine Arbeitsstelle gefunden, noch habe ich keine feste Beziehung aufbauen können, noch gibt es für meine Krankheit keine Heilungsperspektive. Demgegenüber verheißt der »gott gerneklein« die Möglichkeit, das Fragmentarische, das Unvollendete, das noch Offene mit Gelassenheit und Vertrauen in Empfang zu nehmen, als den Ort, an dem einer auf uns zukommt, der Adventus. Wörtlich: der, der da kommen soll und dem wir anvertrauen dürfen, was aus uns werden soll, jetzt und einst. Das meint vielleicht die Aufforderung in Jesaja 60,1: »Mach dich auf, werde licht! Denn dein Licht kommt.« In aller Unvollendetheit, in aller irdischen Zerbrechlichkeit könnte dann auf unserem Gesicht etwas von der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi aufleuchten! Angesichts solcher Herrlichkeit erbleichen die künstlichen Lichter der Dezemberzeit. Amen.

6 WA 10, 1, 1; 74, 22-75, 9.

Dank Der vorliegende Band basiert auf der gleichnamigen Tagung, die am 22.-23. November 2013 am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie (IHR) der Theologischen Fakultät der Universität Zürich stattfand. Das Zustandekommen der Veranstaltung und des Bandes war nur möglich durch die Unterstützung vieler Institutionen und Personen. Ihnen sei herzlichst gedankt. Unser besonderer Dank gilt den Referentinnen und Referenten der Tagung und allen Autorinnen und Autoren, die später einen Beitrag zum Band beigesteuert haben (und teils sehr lange Geduld haben mussten bis zu dessen Drucklegung); dem Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie (IHR) für die Möglichkeit, die Tagung in diesem institutionellen Rahmen durchführen zu können; dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und den Reformierten Kirchen Bern – Jura – Solothurn für die Übernahme eines Teils der Tagungskosten; dem Zürcher Literaturhaus, insbesondere Isabelle Vonlanthen, dem Autor Guy Krneta und den Musikern Ruedi Schmid, Mark Koch, Peter Fischer und Pascal Grünenfelder für den gelungenen Marti-Abend, der die wissenschaftliche Tagung flankierte; dem Zürcher Universitätsverein (ZUNIV), dem Kirchenrat der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich (Emil Brunner-Fonds), der Lang-Stiftung und dem Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie (IHR) für ihre Beiträge zur Finanzierung des Bandes; Kurt Marti, Matthias Hui (Neue Wege) und Stefan von Bergen (Berner Zeitung) für die Zustimmung zum Reprint ihrer Gespräche; Eberhard Jüngel für die Zustimmung zum Reprint seiner Laudatio auf Kurt Marti; dem Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) für die Druckrechte für das Porträt Kurt Martis und Lukas Dettwiler für die Bereitstellung von allerlei Materialien aus dem MartiArchiv und Gaby Staub vom Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie (IHR), die nicht nur wesentlich zum reibungslosen Ablauf der Tagung beigetragen hat, sondern auch intensiv in die Korrekturund Redaktionsarbeit involviert war. Nicht zuletzt danken wir Kurt Marti, der unserem Unternehmen kritischwohlgesonnen gegenüber stand. Wir hoffen, unser Band widerlegt wenigstens punktuell seinen in zeitlicher Nähe zur Tagung formulierten Aphorismus Man tagt und tagt, aber es dämmert nicht. Die Herausgeber

Zürich, im Januar 2016

Autorinnen und Autoren Pierre Bühler, geb. 1950, evangelischer Theologe und Philosoph, emeritierter Professor für Systematische Theologie, insbesondere Hermeneutik und Fundamentaltheologie, an der Theologischen Fakultät Zürich. Arbeitsgebiete: Theologie und Philosophie, Hermeneutik, Theologie und Literatur, Text und Bild. Aktuelle Publikationen: Hg. (mit Ingolf U. Dalferth und Andreas Hunziker): Hermeneutik der Transzendenz. Tübingen 2015; Hg. (mit Daniel Frey): Paul Ricœur: un philosophe lit la Bible. À l’entrecroisement des herméneutiques philosophique et biblique. Genf 2011. Lukas Dettwiler, geb. 1954, Nordist, Archivar am Schweizerischen Literaturarchiv (SLA), Bern, dort u.a. verantwortlich für das Archiv Kurt Marti, Übersetzer aus dem Schwedischen. Arbeitsgebiete: Lyrikübersetzung, Literatur der Schweiz. Aktuelle Publikationen (Übersetzung): Bengt Emil Johnson: Das Fest der Wörter. Aus dem Sumpf. Darmstadt 2015; Gunnar D. Hansson: Der Lomonossow-Rücken. Zürich 2012. Eberhard Jüngel, geb. 1934, evangelischer Theologe, emeritierter Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie der Universität Tübingen. Arbeitsgebiete: Hermeneutische Theologie, Trinitätslehre, Rechtfertigungslehre. Aktuelle Veröffentlichungen: Ausser sich: theologische Texte. Stuttgart 2011; Die Leidenschaft, Gott zu denken: ein Gespräch über Denk- und Lebenserfahrungen. Zürich 2009. Ralph Kunz, geb. 1964, evangelischer Theologe, Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich. Arbeitsgebiete: Liturgik und Homiletik, Seelsorge mit Schwerpunkt religionsbezogene Gerontologie, Gemeindeaufbau und Kirchenleitung. Aktuelle Publikationen: Aufbau der Gemeinde und Umbau der Kirche. Zürich 2015; Hg. (mit Thomas Klie et al.): Praktische Theologie der Bestattung. Berlin 2015. Mirja Kutzer, geb. 1974, katholische Theologin und Germanistin, derzeit Lehrstuhlvertretung Systematische Theologie an der Universität Kassel. Arbeitsgebiete: Literatur und Theologie, Gotteslehre, Liebe. Aktuelle Publikationen: So hätte es doch sein können. Über Sprache und Liebe in Anna Mitgutschs ›Wenn du wiederkommst‹. In: Alfred Bodenheimer / Jan-Heiner Tück (Hg.): Klage, Bitte, Lob. Formen religiöser Rede in der Gegenwartsliteratur. Ostfildern 2014, S. 66-87; In Wahrheit erfunden. Dichtung als Ort theologischer Erkenntnis. Regensburg 2006.

autorinnen und autoren

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Dieter Lamping, geb. 1954, Germanist und Komparatist, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsgebiete: Lyriktheorie, Gattungstheorie, Weltliteratur, jüdische und interkulturelle Literatur. Aktuelle Publikationen: Internationale Literatur. Eine Einführung in das Arbeitsgebiet der Komparatistik. Göttingen 2013; Hg.: Handbuch Lyrik: Theorie – Analyse – Geschichte. Stuttgart 2011. Fredi Lerch, geb. 1954, langjährige Tätigkeit als Journalist und Publizist (u. a. WOZ). Zahlreiche Publikationen zum Nonkonformismus, insbesondere in Bern, Mitherausgeber der Werkausgabe Carl Albert Looslis (Zürich 2006-2008). Aktuelle Publikationen: Lilly Keller. Künstlerin. Literarisches Porträt. St. Gallen 2015; Alles bestens, Herr Grütter. Zürich 2012. Stefanie Leuenberger, geb. 1972, Germanistin, Religionswissenschaftlerin, Oberassistentin an der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft der ETH Zürich. Arbeitsgebiete: Literaturen der Moderne und der Avantgarde, deutschsprachige Literatur der Schweiz, deutsch-jüdische Literaturdiskurse. Aktuelle Publikationen: Hg. (mit Simon Aeberhard und Caspar Battegay): dialÄktik. Deutschschweizer Literatur zwischen Mundart und Hochsprache. Zürich 2014; »Für eine neue Literaturgeschichte«. Zum »plagiat par anticipation« von Oulipo bis Pierre Bayard. In: Kodex. Jahrbuch der Internationalen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft 2014, 4, hg. von Christine Haug und Vincent Kaufmann, Wiesbaden 2014, S. 83-96. Andreas Mauz, geb. 1973, evangelischer Theologe und Germanist, Oberassistent am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Theologischen Fakultät Zürich, Arbeitsgebiete: Verhältnis Theologie / Literatur(-wissenschaft), Hermeneutik, Literaturen der Moderne und der Gegenwart. Aktuelle Publikationen: Machtworte. Studien zur Poetik des ›heiligen Textes‹. Tübingen 2016; Hg. (mit Ulrich Weber): »Wunderliche Theologie«. Konstellationen von Literatur und Religion im 20. Jahrhundert. Göttingen 2015. Andreas Mertin, geb. 1958, evangelischer Theologe, Kunsthistoriker und Philosoph, Ausstellungskurator und freier Mitarbeiter verschiedener kultureller, theologischer und religionspädagogischer Zeitschriften. Arbeitsgebiete: Theologie und Ästhetik, Kunst und Kirche. Aktuelle Publikationen: (mit Sabine Dreßler) Einsichten. Zur Szenografie reformierten Glaubens (im Druck, 2017); (mit Andreas Quade) Der Fisch auf

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autorinnen und autoren

dem Dach. Religiöse Spuren im Bremer Stadtbild. Bremen 2009; (mit Karin Wendt) Mit zeitgenössischer Kunst unterrichten. Göttingen 2004. Manfred Papst, geb. 1956, Germanist, Sinologe und Kunsthistoriker, Ressortleiter Kultur der NZZ am Sonntag. Arbeitsgebiete: Literatur der Schweiz (v. a. Friedrich Glauser), Literatur und Musik. Aktuelle Publikationen: Albin Zollinger, Gedichte, mit einem Nachwort von Manfred Papst. München 2013; (Hg., mit Thomas Sprecher) Vom weltläufigen Erzählen: die Vorträge des Kongresses in Zürich 2006 [Thomas MannStudien]. Frankfurt a. M. 2008. Adrian Portmann, geb. 1965, evangelischer Theologe, Geschäftsführer der Volkshochschule beider Basel. Arbeitsgebiete: Essen und Religion, Theologie und Kultur, Religionssoziologie. Aktuelle Publikationen: Hg. (mit Andreas Mauz): Unerlöste Fälle. Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur. Würzburg 2012; Schöne Fassaden und dunkle Geheimnisse. Das Pfarrhaus im Krimi. In: Sabine Scheuter (Hg.): Das reformierte Pfarrhaus: Auslauf- oder Zukunftsmodell? Zürich 2013, S. 72-79. Peter Utz, geb. 1954, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Arbeitsgebiete: Goethezeit, Jahrhundertwende (v. a. Robert Walser), literarisches Feuilleton, Schweizer Literaturen, literarisches Übersetzen. Aktuelle Publikationen: Kultivierung der Katastrophe: literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz. München 2013; Anders gesagt – autrement dit – in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München 2007. Magnus Wieland, geb. 1978, Literaturwissenschaftler, Philosoph, Kunsthistoriker, Bibliothekswissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Schweizerischen Literaturarchivs, Bern. Arbeitsgebiete: Buch- und Archivwissenschaft, Poetik und Ästhetik, Avantgarden. Aktuelle Publikationen: Vexierzüge: Jean Pauls Digressionspoetik. Hannover 2013; Hg. (mit Ulrich Weber und Irmgard Wirtz): Literatur – Verlag – Archiv. Göttingen 2015. Folkart Wittekind, geb. 1963, evangelischer Theologe und Philosoph, Professor für Systematische Theologie an der Universität DuisburgEssen. Arbeitsgebiete: Religionsphilosophie, Dogmatik, Kulturtheologie. Aktuelle Publikationen: Eschatologie. Zur Diskussion in neueren Sammelbänden. In: Theologische Rundschau, 2015, 80, 1, S. 14-55; Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909-1916). Tübingen 2000.