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German Pages 292 Year 1963
WISSEN U N D GEWISSEN Beiträge zum 200. Geburtstag Johann Gotttieb 1762 - 1814
Fichtes
DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN INSTITUT FÜR P H I L O S O P H I E
WISSEN U N D GEWISSEN Beiträge zum 200. Geburtstag Johann Gottlieb Fichtes 1762-1814
Herausgegeben von Manfred Buhr
AKADEMIE-VERLAG-BERLIN -1962
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W 8, Leipziger Straße 3—i Copyright 1962 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 .100/1/62 .Gesamtherstellung: BBS Rudi Arndt, Berlin C 2,1.2 6376 Bestellnummer: 5488 . ES 3 B 2 . Preis: 12,50 DM
VORBEMERKUNG
Die im Buch unter dem Titel Wissen und Gewissen vereinigten Beiträge entstanden in dem Bestrebein, das Werk und Wirken Johann Gottlieb Fichtes aus Anlaß d e r 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 19. Mai 1962 in seinem progressiven und vorwärtsweisenden Gehalt kritisch zu würdigen. Fichte ist einer der hervorragendsten Vertreter des klassischen bürgerlichen deutschen Humanismus. Uberschaut m a n sein Werk und Wirken, so bietet sich das Bild eines aufrechten und unerbittlichen Streiters gegen die reaktionären feudal-absolutistischen Gewalten seiner Zeit und f ü r die Durchsetzung menschlicher und menschenwürdiger Verhältnisse in und auf dieser Welt. In den Jahren nach 1806/07 krönt Fichte sein Denken mit der Idee eines einheitlichen deutschen Nationalstaates auf bürgerlich-demokratischer Grundlage. Fichtes subjektiv-idealistische philosophische Theorie sowie die kleinbürgerlichen Illusionen, denen er im Verlaufe der Entwicklung unterlag, beschneiden zwar in vielem die gesellschaftliche Durchschlagskraft der von ihm entwickelten Ideen, verhindern aber in keiner Phase seines Schaffens die Wirksamkeit des tiefen humanistischen Grundanliegens in seinem Werk und Wirken. Das konnte deshalb der Fall sein, weil Fichte mit dem historischen Fortschritt einherging, sich — wie gleich ihm die anderen Vertreter der klassischen deutschen Philosophie und Literatur — an der aus der Französischen Revolution hervorgegangenen fortgeschrittenen Entwicklungsetappe der bürgerlichen Gesellschaft der Zeit orientierte. Indem er ihre Probleme in seine philosophischen, sozial-politischen und historischen Reflexionen einbezog, konnte er die engen „deutschen Zustände"
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Vorbemerkung
um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit seinem Denken übersteigen und in seinem Werk Aussagen machen, deren kritischer humanistischer Sinn auf eine höhere Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung hinweist. Dergestalt finden die tiefsten Intentionen des Fichteschen Denkens erst unter sozialistischen Bedingungen die Basis ihrer Verwirklichung. So wie der deutsche Staat der Arbeiter und Bauern allgemein der Erbe, Bewahrer und Gestalter des reichen progressiven Gedankeninhalts des gesamten deutschen bürgerlichen Humanismus ist, ist die Deutsche Demokratische Republik auch die Heimstätte, in der das humanistische Anliegen Fichtes ideell gepflegt und durch den Aufbau des Sozialismus praktisch vollzogen wird. Das Bekenntnis von Friedrich Engels aus dem Jahre 1882, daß w i r deutschen Sozialisten stolz darauf sind, auch von Fichte abzustammen, bewahrheitet sich im Jahre 1962 durch die Existenz des ersten deutschen sozialistischen Staates und seiner sozialistischen Kultur. Die nachstehenden Beiträge sind deshalb keine bloße Erinnerung an ein historisches Datum, sondern verpflichtende Besinnung auf ein vorwärtsweisendes humanistisches Erbe, das es zu erhellen, zu bewahren und sozialistisch zu gestalten gilt. Damit ist ihr Tenor angezeigt: kritische Würdigung des Werkes Fichtes und Fruchtbarmachung seines progressiven Gehaltes im Hinblick auf den weltweiten Prozeß des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus—Kommunismus — in Fortführung und Realisierung des Vermächtnisses, das der große Denker hinterlassen hat: zu errichten „ein wahrhaftes Reich des Rechtes, wie es noch nie in der Welt erschienen ist..., ohne Aufopferung der Mehrzahl als Sklaven ...: für Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt". Manfred
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JOHANN GOTTLIEB FICHTE SKIZZE SEINES LEBENS UND SEINER PHILOSOPHIE
I n s e i n e r S c h r i f t „Drei Q u e l l e n u n d d r e i B e s t a n d t e i l e d e s M a r x i s m u s " w i e s L e n i n a u f d i e B e d e u t u n g d e r klassischen d e u t schen P h i l o s o p h i e f ü r d i e B e g r ü n d u n g d e s M a r x i s m u s h i n . „ M a r x " , schrieb Lenin, „blieb nicht b e i m M a t e r i a l i s m u s d e s 18. J a h r h u n d e r t s stehen, e r e n t w i c k e l t e d i e P h i l o s o p h i e w e i t e r . E r b e r e i c h e r t e sie d u r c h d i e E r r u n g e n s c h a f t e n d e r d e u t s c h e n klassischen P h i l o s o p h i e u n d b e s o n d e r s d e s Hegeischen S y s t e m s , d a s seinerseits z u m M a t e r i a l i s m u s F e u e r b a c h s g e f ü h r t h a t t e . Die wichtigste d i e s e r E r r u n g e n s c h a f t e n ist d i e Dialektik, d . h . d i e L e h r e v o n d e r E n t w i c k l u n g i n i h r e r vollständigsten, t i e f s t e n u n d v o n Einseitigkeit f r e i e s t e n Gestalt, d i e L e h r e v o n d e r R e l a t i v i t ä t des menschlichen Wissens, d a s u n s e i n e W i d e r s p i e g e l u n g d e r sich e w i g e n t w i c k e l n d e n M a t e r i e gibt." 1 Diese W o r t e L e n i n s w e i s e n auf d a s E l e m e n t i n d e r klassischen d e u t s c h e n P h i l o s o p h i e hin, d u r c h welches sie v o r w i e g e n d u n d i n e r s t e r L i n i e z u m F o r t s c h r i t t der Philosophie beitrug: die systematische Ausarbeitung d e r Dialektik. Sie e r f o l g t e i n d e r klassischen d e u t s c h e n P h i l o s o p h i e in idealistischer F o r m , a b e r d i e s e F o r m v e r h i n d e r t e nicht, d a ß in sie e i n g e b e t t e t d i e w i c h t i g s t e n Seiten d e s d i a l e k t i s c h e n D e n k e n s als r a t i o n e l l e r K e r n e n t h a l t e n w a r e n . I h r e v o l l s t ä n d i g s t e A u s a r b e i t u n g e r f u h r d i e D i a l e k t i k in idealistischer H ü l l e bei Hegel. Das S y s t e m Hegels b i l d e t jedoch n u r „ d e n A b s c h l u ß d e r g a n z e n B e w e g u n g seit K a n t " , w i e Engels b e m e r k t , u n d e s w ä r e d a h e r e i n F e h l e r , d a s S t u d i u m d e r klassischen d e u t s c h e n P h i l o sophie a l s geistiges -Erbe n u r a u f Hegel z u b e s c h r ä n k e n . D i e g r o ß e n idealistischen S y s t e m e K a n t s , Fichtes, Schellings u n d Hegels sind m i t e i n a n d e r d u r c h e n g e logische Z u s a m m e n h ä n g e v e r b u n d e n . J e d e s d i e s e r S y s t e m e stellt i n g e w i s s e m S i n n e e i n e
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Weiterentwicklung des vorangehenden Systems dar, knüpft an dieses an und vertieft bereits gewonnene Erkenntnisse. In diesem Sinne ist die gesamte klassische deutsche Philosophie eine der theoretischen Quellen, aus denen unsere sozialistische Weltanschauung mit ihrer theoretischen Grundlage, dem dialektischen und historischen Materialismus, geschöpft hat, Die ideologische Bedeutung der klassischen deutschen Philosophie ist damit jedoch nicht erschöpft. Ein weiterer Gesichtspunkt ergibt sich aus der historischen Rolle dieser größten progressiven geistigen Bewegung der deutschen bürgerlichen Klasse in ihrer Zeit selbst. Bei aller Widersprüchlichkeit und bei aller engen Verknüpfung historisch progressiver und reaktionärer ideologischer Züge (in denen sich die Lage und historische Eigenart der bürgerlichen Klasse in Deutschland am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausdrückt) ist die klassische deutsche Philosophie theoretischer Reflex einer insgesamt fortschrittlichen historischen Bewegung, enthält humanistische und demokratische Züge, die ihre Aktualität bis zum heutigen Tage bewahrt haben. Der mehr als 100jährige Kampf der deutschen Arbeiterklasse gegen die reaktionären Kräfte der deutschen Geschichte ist die Fortsetzung einer langen Tradition des Kampfes progressiver Kräfte gegen die jeweilige historische Reaktion überhaupt. So wie in der gesamten internationalen Arbeiterbewegung demokratische und sozialistische Aufgaben sich entsprechend der Situation in den einzelnen Ländern gegenseitig bedingen, so auch in der deutschen Gegenwart. Die Vollendung des sozialistischen Aufbaus in der DDR und der nationale Kampf gegen den Imperialismus und Militarismus in Westdeutschland ist ein wechselseitiger, gegenseitig durchdringender Prozeß, der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, von der Ökonomie bis zur Ideologie umfaßt. Der sozialistische deutsche Staat verkörpert die Zukunft Deutschlands, weil in unserer Epoche alle Wege zum Sozialismus führen; er ist deshalb gleichzeitig legitime Heimstatt der demokratischen und humanistischen Traditionen
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unseres Volkes, die in d e r neuen Gesellschaftsordnung d e r DDR Wirklichkeit w u r d e n und allseitige Förderung e r f a h r e n . Die Pflege, das ständige Lebendigerhalten der großen fortschrittlichen geistigen Leistungen vergangener Generationen ist ein fester Bestandteil sozialistischer Kulturpolitik, ist ein Teil u n s e res Kampfes gegen d e n ideologischen Fäulnis- und Zerfallsprozeß des Imperialismus. Zu den Vertretern d e r klassischen deutschen Philosophie, dessen Leistungen im wesentlichen n u r den Fachleuten b e k a n n t sind und d e r meist n u r als großer N a m e in d e r Reihe d e r klassischen bürgerlichen Philosophen e r w ä h n t wird, gehört J o h a n n Gottlieb Fichte. Ein Blick in sein Leben u n d Lebenswerk zeigt u n s jedoch, d a ß Fichtes Wirken wertvolles nationales Erbe ist, an das zu e r i n n e r n nicht n u r d e r ins J a h r 1962 fallende 200. Geburtstag des großen Philosophen Anlaß sein sollte. J o h a n n Gottlieb Fichte (1762—1814) ist — wie jeder große Denker — Repräsentant seiner Zeit u n d seiner Klasse, des d a maligen deutschen Bürgertums. So w i e Kant, Schelling, Hegel u n d Feuerbach k a n n e r in seiner Philosophie nicht ü b e r jene Schranken hinwegkommen, ü b e r die seine Klasse im praktischen Leben nicht hinwegkommt. Er unterscheidet sich jedoch als Person wesentlich v o n anderen Denkern seiner Zeit, u n d bei keinem Vertreter d e r klassischen deutschen Philosophie ist d e r modifizierende Einfluß der Persönlichkeit und des Charakters auf das philosophische System so stark wie bei Fichte. S e h r treffend schreibt Heinrich Heine, d a ß bei Fichte nicht n u r eine Philosophie zu erörtern sei, sondern gleichzeitig ein Charakter, d e r diese Philosophie bedingt. 2 F ü r Fichte ist kennzeichnend eine Unbeugsamkeit, ja Starrheit, wie auch ein f e u r i g e r T a t e n durst, d e r auf d i e V e r ä n d e r u n g bestehender gesellschaftlicher u n d moralischer Verhältnisse gerichtet ist. Es sei müßig, ü b e r die Verdorbenheit d e r Menschen zu klagen, schrieb Fichte, sond e r n m a n müsse ihnen sagen, wie sie besser w e r d e n könnten; „Handeln! Handeln! das ist es, wozu w i r d a sind." 3 Diesem Tatendurst steht bei Fichte als Antithese ein t i e f e r
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Hang zur philosophischen Spekulation gegenüber. In einem seiner Briefe trifft er sogar die Feststellung, daß der Philosoph den unmittelbar ins Leben eingreifenden Gebieten aus dem Wege gehen sollte.4 Fichtes philosophische und politische Haltung wird durch seinen äußeren Lebensweg maßgeblich beeinflußt. Er ist der Sohn eines dörflichen Leinewebers, ein Proletarierkind. Die Sorge um das tägliche Brot im Elternhaus begleitete seine Jugend im kleinen Dörfchen Rammenau bei Kamenz. Hier hütete er die Gänse, und der Gutsherr eröffnete mit herablassender Großmut dem Gänsejungen Fichte den Weg zur Bildung. Fichte besuchte die Fürstenschule in Schulpforta und begann mit dem Studium der Theologie. Da die materielle Unterstützung durch die gutsherrliche Familie eingestellt wurde, konnte er sein Studium nicht beenden, und er verdiente 12 Jahre lang seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer. Auf der Suche nach Hauslehrerstellen hat Fichte fast ganz Deutschland — größtenteils zu Fuß — durchwandert und dabei die anachronistischen deutschen Verhältnisse im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gründlich kennengelernt. „Er lernte die Welt so kennen wie arme Leute: von unten, als eine Macht, die man sich nicht fortphantasiert, von der man verflucht abhängig ist" — schreibt seine Biographin Bäumer.5 1794 wird Fichte als Professor der Philosophie nach Jena berufen, nachdem er durch eine Anzahl politischer und philosophischer Schriften in der Öffentlichkeit bekanntgeworden war. In Jena, wo er bis 1799 wirkt, entstehen seine bedeutendsten philosophischen Arbeiten. Fichtes demokratische Haltung führte in Verbindung mit dem sogenannten „Atheismus-Streit" zu seiner Entfernung von Jena. Er geht nach Berlin, lebt dort als Privatgelehrter und wird nach einer vorübergehenden Tätigkeit als Professor in Erlangen (1805) erster gewählter Rektor der Berliner Universität. Während der Jahre 1806—1813 nahm Fichte unmittelbaren Anteil an der bürgerlichnationalen Befreiungsbewegung gegen die napoleonische Fremdherrschaft in Deutschland. Er wurde zu einem bürgerlichen Theoretiker der nationalen Frage. Der bekannteste Ausdruck
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dieser Tatsache sind seine berühmten Reden an die deutsche Nation. 1813 beteiligte Fichte sich — trotz schlechtem Gesundheitszustand (er w a r teilweise gelähmt) — an den Übungen des Landsturmes. Fichte wurde selbst indirekt ein Opfer des Krieges. Fichtes Frau, die in Berliner Krankenhäusern Verwundete pflegte, erkrankte a n einer der in den Lazaretten ausgebrochenen Seuchen (vermutlich Typhus), übertrug die Krankheit auf ihren Mann, und Fichte erlag der Seuche; er starb am 29. J a n u a r 1814. Fichte betritt die Bühne der Öffentlichkeit in Deutschland als überzeugter Vertreter der Kantischen Philosophie u n d begeisterter Anhänger der Französischen Revolution. Der junge Fichte ist bürgerlicher Demokrat und ein scharfer sozialer Kritiker des kleinstaatlich-fürstlichen Absolutismus in Deutschland. Die Fürstenmißwirtschaft hatte er auf seinen Wanderungen durch Deutschland ausreichend in ihren Auswirkungen auf das Volk kennengelernt. Die bedeutendsten beiden Schriften, in denen sich seine politische und philosophische Überzeugung zu Beginn seines Wirkens ausdrückt, sind die „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten" und die „Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution". Drei Gesichtspunkte sind f ü r die Denkweise des jungen Fichte bedeutsam: 1. seine scharfe Sozialkritik; 2. seine Befürwortung der Französischen Revolution, die weitaus konsequenter w a r als (von den deutschen Jakobinern abgesehen) bei den meisten seiner Zeitgenossen aus den Reihen der Ideologen des damaligen Bürgertums; 3. seine philosophische Betrachtungsweise der historischen Ereignisse und die sich daraus ergebenden Konsequenzen hinsichtlich der ihm vorschwebenden Ideale der b ü r gerlichen Revolution in Deutschland. Fichte geißelt mit scharfen Worten die Fäulniserscheinungen der feudal-absolutistischen Ordnung. Als Hauptübel betrachtet e r die absolute Monarchie selbst und meint, daß das menschliche Geschlecht in keiner Weise verpflichtet sei, sich all die Übel und Mißstände absoluter Monarchie gefallen zu lassen. Er wendet sich gegen die stän-
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digen Feudalkriege, gegen Verschwendung und maßlose P r u n k sucht, geißelt die Unterdrückung der Denk- u n d Redefreiheit u n d b e k ä m p f t die Leibeigenschaft. Fichtes B e f ü r w o r t u n g d e r Französischen Revolution erfolgt u n t e r d e m spürbaren Einfluß der französischen Aufklärer, besonders Rousseaus. Erst in späteren J a h r e n n i m m t Fichte gegenü b e r Rousseau edne veränderte Haltung ein. In den beiden Revolutionsschriften dient ihm die Rousseausche Vertragstheorie z u r Begründung von Verfassungsänderungen, d. h. in d e r Konsequenz zum Nachweis d e r Rechtmäßigkeit gesellschaftlicher Revolutionen. Der rationelle Kern, d e r in seinen Überlegungen enthalten ist, ist d e r Versuch, die Rechtmäßigkeit historischer Ereignisse a m Kriterium des geschichtlichen Fortschritts (natürlich vom S t a n d p u n k t d e r damals progressiven bürgerlichen Klasse aus) zu messen. Fichte schwebt als positives P r o g r a m m gegen die von ihm abgelehnten Feudalverhältnisse die nach den Prinzipien des „Gesellschaftsvertrages" organisierte bürgerliche Gesellschaft vor. Der Weg, w i e e r sie zu erreichen hofft, ist allerdings nicht die Revolution, sondern die allmähliche A u f k l ä r u n g , die U m w a n d l u n g des Bewußtseins. Es ist bekannt, d a ß von den Wortf ü h r e r n des damaligen deutschen Bürgertums das politische Problem d e r bürgerlichen Revolution vorwiegend in ein Erziehungsproblem verwandelt w u r d e . Die politische Zerrissenheit u n d ökonomische Schwäche des deutschen B ü r g e r t u m s w i r k t e sich dahingehend aus, d a ß die eigentlich notwendigen Taten in den Bereich d e r G e d a n k e n verlegt w u r d e n . In der „Deutschen Ideologie" weisen M a r x u n d Engels darauf hin, d a ß die d e u t schen Bürger es n u r bis zum „guten Willen" Kants brachten, dessen Verwirklichung im Jenseits lag. 6 Fichte steht — wie e r w ä h n t — am A n f a n g seiner Entwicklung absolut u n t e r d e m Einfluß Kants. Er betrachtete d i e Wirklichkeit v o r allem vom Blickwinkel des Kantschen Sittengesetzes aus. Fortschritt ist f ü r ihn im K e r n allmähliche Realisierung des kategorischen Imperativs in d e r Sinnenwelt. Fichtes Ziel ist die sogenannte
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„Kultur zur Freiheit". Er versteht d a r u n t e r ein solches Verhalten, durch das alles ausgeschaltet wird, „was nicht w i r selbst, unser reines Selbst ist". Auf diesem Wege k ä m e die Menschheit dem Endziel des Fortschritts, d e r völligen Übereinstimmung des einzelnen Willens „mit d e m Gesetz der V e r n u n f t " näher. >Es ergibt sich somit, d a ß u n t e r d e m Einfluß des Ideaidsmus d e r klassischen deutschen Philosophie Fichtes „Handelnwollen" sich ausschließlich auf das Bewußtsein richtet u n d d a durch — wie d e r Idealismus ü b e r h a u p t — kontemplativ bleibt. Der idealistische S t a n d p u n k t , d e n Fichte einnimmt, erweist sich als ein Hemmnis seiner revolutionär-demokratischen Gesinnung. Es ist d a h e r auch erklärlich, d a ß Fichte einerseits z w a r die Französische Revolution begrüßt, andererseits jedoch erklärt, d a ß ihm „allmähliches Fortschreiten" zu vollkommeneren gesellschaftlichen Verhältnissen besser u n d sicherer erscheine als eine Revolution. Die R e f o r m ist ihm in d e r Endkonsequenz sympathischer als die Revolution, u n d seine H a l t u n g ist dalier widersprüchlich — eine Erscheinung, die sich im Verlaufe von Fichtes weiterer Entwicklung noch wesentlich verstärkt. In den ersten Schriften, mit denen Fichte a n d i e Öffentlichkeit trat, zeichnen sich auch bereits die Anfänge seines späteren eigenen philosophischen Standpunktes ab, m i t d e m er in d e n Entwicklungsprozeß des Idealismus der klassischen deutschen Philosophie eingriff. Immanuel K a n t h a t t e in d e r „Kritik d e r reinen V e r n u n f t " eine philosophische Position eingenommen, die f ü r die Entwicklung d e r Philosophie bedeutsame Gesichtsp u n k t e enthielt. K a n t untersuchte das menschliche Erkenntnisvermögen u n d stellte die f ü r die Entwicklung d e r Philosophie bedeutsame F r a g e nach der Gewißheit unserer Erkenntnis. Er w a n d t e sich gegen die idealistische These, d a ß Erkenntnisse möglich seien, die nicht auf d e m Wege d e r Erfahrung, u n a b hängig durch die Vermittlung d e r Empfindung, gewonnen w ü r den. Einzige Quelle d e r Erkenntnis seien die Empfindungen, die durch die Einwirkung d e r objektiven Realität auf unsere Sinnesorgane hervorgerufen w ü r d e n . Dieser materialistische Ansatz
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w u r d e jedoch von K a n t nicht weitergeführt. Er k o m m t zu einer Vermischung von Materialismus u n d Ideaidsmus. Diese besteht darin, d a ß Kant die objektive Realität (die sogenannten Dinge a n sich) z w a r als Ursache der Empfindungen ansieht, a b e r f ü r prinzipiell u n e r k e n n b a r , transzendent erklärt. Gleichzeitig erk e n n t er zwar E r f a h r u n g u n d Empfindung als Quelle d e r Erkenntnis, bezeichnet jedoch die logischen Begriffe des Verstandes, mit deren Hilfe d i e Empfindungsangaben geordnet werden, als apriorische, d e r V e r n u n f t innewohnende Begriffe, u n a b hängig von aller E r f a h r u n g u n d d e r objektiven Wirklichkeit. Lenin hat die fortschrittlichen und idealistisch-reaktionären Züge d e r Kantschen Philosophie meisterhaft gekennzeichnet. E r schreibt: „Wenn K a n t annimmt, d a ß seinen Vorstellungen etwas a u ß e r uns, irgendein Ding a n sich, entspreche, ist er Materialist. Wenn er dieses Ding an sich f ü r u n e r k e n n b a r , transzendent, jenseitig erklärt, t r i t t er als Idealist auf. Indem K a n t die E r f a h r u n g e n und Empfindungen als die alleinige Quelle unserer Kenntnisse anerkennt, gibt e r seiner Philosophie die Richtung zum Sensualismus u n d ü b e r den Sensualismus hinaus u n t e r bestimmten Bedingungen auch zum Materialismus. Indem K a n t die Apriorität von Raum, Zeit, Kausalität usw. anerkennt, gibt e r seiner Philosophie die Richtung zum Idealismus." 7 F ü r Fichte w a r eine solche Zwiespältigkeit unerträglich. Er will handeln, die Welt v e r ä n d e r n und ist bürgerlicher Demokrat in einem Lande, wo keine breite bürgerlich-revolutionäre Bewegung vorhanden ist. Die Freiheitsforderungen d e r Französischen Revolution, die Fichte begrüßt, stehen in ausgeprägtem Gegensatz zur deutschen Wirklichkeit. Fichte empfindet diesen Gegensatz, spiegelt ihn philosophisch wider, a b e r er will sich d a m i t nicht abfinden. So k o m m t er zu einer idealistischen F o r m d e r philosophischen Begründung d e r Freiheit. Er ist b e m ü h t , restlos u n d absolut die Souveränität des menschlichen Willens, des Ichs, philosophisch zu sichern. Nach seiner Meinung darf es, u m tätig sein zu können, nichts geben, w a s d e r V e r f ü g u n g s gewalt des Ichs nicht unterliegt. Kants Agnostizismus befrie-
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digte Fichte nicht, u n d e r kritisierte daher K a n t „von rechts", reinigte die Kantsche Philosophie von i h r e r materialistischen „Inkonsequenz". Fichte leugnet d i e Existenz d e r Dinge a n sich und kommt so zum subjektiven Idealismus. Die einzige Realität, die Fichte anerkennt, ist das Ich, als Bewußtsein gef aßt, und dieses Ich wird von i h m vergöttMcht, f ü r eine allmächtige schöpferische K r a f t erklärt, Fichtes Wendung zum subjektiven Idealismus, d i e Beseitigung der in Kants Philosophie noch v o r handenen materialistischen Keime, ist eine r e a k t i o n ä r e Wendung, bedeutet hinsichtlich d e r grundlegenden philosophischweltanschaulichen Position, die eingenommen wird, einen Rückschritt. Lenin bezeichnet Fichte als klassischen Vertreter des subjektiven Idealismus und stellt ihn in eine Reihe m i t Berkeley u n d Hume. Lenin läßt keinen Zweifel a n dem prinzipiell wissenschaftsfeindlichen u n d gesellschaftlich reaktionären C h a r a k t e r des subjektiven Idealismus; nicht n u r im 20. J a h r h u n d e r t , i m Zeitalter d e r Krise d e r bürgerlich-imperialistischen Ideologie, sondern auch in d e r Vergangenheit, als die bürgerliche Klasse noch progressive historische Aufgaben zu erfüllen hatte. Fichte t r a t als Gegner des philosophischen Materialismus auf, b e k ä m p f t e den Materialismus u n d betrachtete die materialistische Philosophie im Geiste d e r reaktionären Überheblichkeit des philosophischen Idealismus als primitiv. Fichte leugnete als s u b jektiver Idealist die Existenz d e r objektiven Realität u n d bem ü h t e sich, ein spekulatives philosophisches System a u f z u bauen. Die Hauptarbeit dazu leistet e r w ä h r e n d seiner Tätigkeit an d e r Universität Jena, wo er in umfangreicher Weise mittels logischer Deduktionen seine Philosophie, die e r Wissenschaftslehre nennt, verkündet. Drei Grundsätze seiner Wissenschaftslehre werden von ihm aufgestellt: 1.Das Ich setzt sich in reiner a b s t r a k t e r T a t h a n d l u n g selbst (Thesis); 2. das Ich setzt das Nicht-Ich (Antd-Thesis); 3. Ich setze im Ich d e m teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich e n t gegen (Syn thesis).
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Mit diesen Sätzen verlegt Fichte die ganze Wirklichkeit in das subjektive Ich hinein. Um die Unsinnigkeit dieser A u f f a s s u n g zu verdecken (denn in d e r Konsequenz zu Ende gedacht bedeutet sie, d a ß Fichte n u r sich selbst als real existierend ansieht), ist Fichte zu sophistischen Konstruktionen gezwungen. Er betont, d a ß das sich selbst setzende Ich nicht mit d e m individuellen Bewußtsein identisch sei, sondern „alle I n d i v i d u e n . . . in d e r einen großen Einheit des reinen Geistes eingeschlossen" seien. Eine solche spekulative Ausweitung des Ichs zum absoluten Ich f ü h r t bis dicht an d e n objektiven Idealismus heran, und Fichte .bereitet damit d e n Übergang zum objektiven Idealismus Hegels logisch vor. Fichtes idealistische Spekulationen k ö n n e n jedoch nicht verhindern, d a ß einzelne dialektische Ansätze in ihnen e n t h a l t e n sind, die als Keime f ü r die weitere Ausarbeitung d e r Dialektik in d e r klassischen deutschen Philosophie bedeutsam sind. Bereits Fichtes in den drei a n g e f ü h r t e n Grundsätzen d e r Wissenschaftslehre zum Ausdruck k o m m e n d e S y s t e m s t r u k t u r enthüllt i m Ansatz einen dialektischen Gedanken, nämlich das Prinzip der Negation d e r Negation, das später auch f ü r den A u f b a u des idealistischen Systems Hegels wesentlich w u r d e . Ein a n d e r e r Keim dialektischer Erkenntnis bei Fichte ergibt sich aus folgenden Zusammenhängen: K a n t h a t t e auf Fichte vor allem durch seine praktische Philosophie gewirkt. Die absolute Verfügungsgewalt des Ichs über alles Existierende, die Fichte dadurch erreicht, d a ß alles zum Bestandteil des absoluten Ichs gemacht w i r d (das Ich setzt sich selbst), soll einem moralischen Zweck dienen, d e r V e r w i r k lichung des Kantschen Sittengesetzes. Damit das Ich moralisch handeln kann, m u ß e t w a s da sein, worauf diese Handlung sich richtet. Diesen Gegenstand d e r Handlung schafft das Ich in Gestalt des Nicht-Ichs (das Ich setzt das Nicht-Ich), wobei, damit k e i n e logische Negierung des Ichs erfolgt, Ich und Nicht-Ich sich i m Rahmen des absoluten, alles umfassenden Ichs gegenseitig einschränken, gegenseitig bestimmen. Das Ich wird als bestimmt d u r c h das Nicht-Ich gesetzt, wie auch umgekehrt das Ich als das
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Nicht-Ich .bestimmend aufgefaßt wird. (Ich setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen.) Diese spekulative Konstruktion, so abstrakt-idealistisch sie angelegt ist, enthält in mystischer Form eine dialektische Erkenntnis. Es geht um die Bedeutung der Praxis f ü r die Erkenntnis und Geschichte überhaupt. Indem Fichte das Ich das Nicht-Ich setzen läßt, u m auf dieses einzuwirken, umgekehrt wiederum das Nicht-Ich das Ich bestimmen läßt, erfaßt er in idealistischer Weise die Tatsache, daß die Welt vom Menschen n u r im Prozeß d e r p r a k tischen Veränderung der Wirklichkeit erkannt wird und uijigekehrt die praktische Veränderung den Menschen selbst verändert. Indem d e r Mensch, schreibt Karl Marx, durch seine Arbeit „auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur". 8 Natürlich spielt sich bei Fichte dieses dialektische Wechselverhältnis n u r im Bewußtsein a b und ist noch nicht so umfassend entwickelt wie später im objektiven Idealismus Hegels, aber es besteht dessenungeachtet als „rationeller Kern" im Fichteschen Idealismus. Marx hat diesen rationellen Kern in den idealistischen Systemen der klassischen deutschen Philosophie hervorgehoben, indem er in seiner ersten Feuerbach-These schrieb, daß im Gegensatz zum mechanischen Materialismus d e r Idealismus die „tätige Seite" ausarbeitete, aber abstrakt, da der Idealismus die wirkliche sinnliche Tätigkeit nicht kennt. — Fichtes Philosophie hat im Verlauf seiner Entwicklung verschiedene Wandlungen erfahren. Immer wieder hat er Neufassungen seiner Wissenschaftslehre erarbeitet, wobei sie in der Berliner Zeit einen zunehmend mystischen Charakter annehmen und der ursprüngliche Standpunkt n u r noch verschwommen sichtbar ist. Fichte bemüht sich um eine Synthese zwischen seiner Philosophie u n d der Religion. Die von ihm gewählten Begriffe werden immer verschwommener, u n d das „Ich", welches Eichte ursprünglich als spekulativer Startpunkt seines Systems dient, verwandelte sich in eine allgemeine göttliche Idee mit mystischen Zügen. 2
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In Fichtes Berliner Zeit fällt der beginnende nationale Widerstand gegen die französische Besetzung und damit auch Fichtes Wirksamkeit als Patriot und Theoretiker d e r nationalen Frage. Er ist derjenige u n t e r den Vertretern d e r klassischen deutschen Philosophie, d e r sich am eingehendsten m i t nationalen Problem e n beschäftigte und durch seine theoretischen Arbeiten und sein persönlich tapferes Auftreten im Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft den historischen Entwicklungsprozeß zur bürgerlichen Nation in Deutschland maßgeblich mit beeinflußte. Fichtes Interesse f ü r die nationale Frage in Deutschland setzt bereits vor seiner Berliner Zeit ein. In den „Beiträgen z u r Berichtigung d e r Urteile des Publikums ü b e r die Französische Revolution" und in anderen Schriften finden sich einzelne B e m e r k u n gen zu nationalen Problemen. Fichte ist Weltbürger i m Sinne d e r humanistischen weltbürgerlichen Ideale d e r deutschen Klassik. Von diesem S t a n d p u n k t ausgehend — und d a r i n besteht sein Verdienst — erhebt e r die Forderung nach Lösung d e r nationalen F r a g e im damaligen Deutschland im bürgerlichen Sinne u n d begründet die Notwendigkeit eines bürgerlichen Nationalstaates. Er entsprach damit, w e n n auch im einzelnen in verzerrt idealistischer Form, d e r historischen Notwendigkeit seiner Zeit. Fichtes nationales Interesse wird wesentlich beeinflußt durch die historischen Ereignisse. Die Niederlage Preußens 1806, die nationale Befreiungsbewegung gegen Napoleon, die im Freiheitskrieg 1813/14 gipfelt, bestimmen seine Haltung maßgeblich. Unter d e m Eindruck d e r preußischen Niederlage beginnt Fichte sich mit d e m Verhältnis des preußischen, reaktionären, feudal-absolutistischen Staatsgebildes zur deutschen Nation zu beschäftigen. Er ist mit diesem Problem weder 1806/07 noch später w ä h r e n d d e r Freiheitskriege fertig geworden. Auf d e r einen Seite sah e r d e n Widerspruch zwischen den bürgerlich demokratischen Forderungen u n d der preußischen Wirklichkeit, empfand den Gegensatz zwischen den deutschen Nationalinteressen u n d d e m P r e u ß e n t u m (er verspottet den preußischen Hurra-Patriotismus), auf
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der anderen Seite glaubt er in Preußen einen Staat zu sehen, wo eine wenigstens teilweise irdische Verwirklichung seiner Wissenschaftslehre vorliege. Diese widersprüchliche Haltung w a r auch Anlaß dafür, daß Fichte von der neukantianischen PhilosophieGeschichtsschreibung unter Ignorierung der progressiven, demokratischen Seiten seiner Haltung als Kronzeuge der unter F ü h rung Preußens erfolgenden Herstellung der deutschen Einheit „von oben" herangezogen wurde. Das bedeutendste Dokument der Fichteschen Theorie der nationalen Frage sind seine „Reden an die deutsche Nation". In ihnen zieht e r in gewisser Hinsicht die Konsequenzen aus dem Zusammenbruch des reaktionär-verfaulten preußischen Staates 1806 und tritt als Patriot und Verkünder der nationalen Idee, des bürgerlichen Nationalstaates, der im Kampf gegen Napoleon errungen werden sollte, auf. Fichte hielt diese Reden im f r a n zösisch besetzten Berlin im Winter 1807/08. Es gehörte, nachdem der Buchhändler Palm auf Befehl Napoleons erschossen worden war, zweifellos persönlicher Mut dazu, zum Kampf gegen die französische Besetzung, wenn auch verschleiert, aufzurufen. Fichtes Reden machten auf die Zuhörer einen großen Eindruck, und sie wurden auch nach erheblichen Schwierigkeiten mit der preußischen Zensur gedruckt. Nach dem Freiheitskrieg, unter den Bedingungen der feudalen Reaktion wurde ihre Neuauflage verboten, ein indirekter Beweis der großen patriotischen Bedeutung der Reden. Zwei Gesichtspunkte sind f ü r die Einschätzung der „Reden an die deutsche Nation" bedeutsam. 1. Die politische Zielsetzung. Einheitliche deutsche Nation, einheitlicher bürgerlicher deut-/ scher Nationalstaat. 2. Erziehung des deutschen Volkes zum Patriotismus — Aufruf zum Kampf gegen Napoleon. Ein solches Auftreten unter damaligen Verhältnissen, wo die nationale Frage in Deutschland kaum in der offiziellen öffent-, liehen Meinung eine Rolle spielte, w a r ein außerordentlich k ü h ner Vorstoß. Fichte erkennt in seinen Reden, d a ß die Entwicklung zur Nation f ü r Deutschland historisch notwendig w a r u n d 2«
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es dazu einer staatlichen Organisation, eines selbständigen politisch unabhängigen Nationalstaates als ergänzender Bedingung bedarf. Fremde Unterdrückung hemmt den Bildungsprozeß einer -Nation. In scharfer Weise kritisiert er die verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber nationalen Angelegenheiten, vor allem die „Selbstsucht" (er versteht darunter Preußen), die sich selbst zugrunde gerichtet habe. Fichte ist jedoch philosophischer Idealist, und daher wird die Kategorie der Nation von ihm unter dem Gesichtspunkt seines in der Berliner Zeit sich stärker einer objektiv-idealistischen Mystik nähernden philosophischen Systems interpretiert. Dies erfolgt vor allem in der 8. Rede, wo er bemüht ist, die Nation als „Hülle des Ewigen" zu bestimmen, ihr gewissermaßen einen Platz in seinem idealistischen Weltbild zuzuweisen. In dieser Spekulation ist jedoch als rationeller Kern die Erkenntnis enthalten, daß die Herausbildung bürgerlicher gesellschaftlicher Verhältnisse unlösbar mit der Entwicklung der bürgerlichen Nationen verbunden ist. Oberstes Ziel der Menschheit ist für ihn nach wie vor das sittliche Vernunftsreich (d. h. idealistisch verzerrt die bürgerliche Gesellschaft). Dieses Ziel kann jedoch nur über den Weg einer besonderen nationalen Gemeinschaft erreicht werden. Fichte ahnt die historische, objektive Notwendigkeit, ohne sie exakt erfassen zu können, weil dafür die objektiven und subjektiven Voraussetzungen fehlen. Er erkennt dabei auch sehr richtig, daß die Entwicklung der Nation ein langer historischer Prozeß ist und zu seiner Zeit hinsichtlich der deutschen Nation erat begonnen hatte. Fichte versucht in den Reden auch die (besonderen Wesensmerikmale der deutschen Nation zu bestimmen. Er gelangt dabei zu nationalistischen Überbewertungen, zu 'einer Art romantischer Deutschtümelei. Das deutsche Volk erscheint ihm allen anderen Völkern überlegen, es ist ihm ein „Urvolk" und ¡berufen, die Welt zu verbessern, worunter Fichte im Grunde die Verwirklichung seiner Philosophie, d. h. die Errichtung eines bürgerlichen Vernunftsreiches verstand. Man hat Eichte — vor allem während der Jahre 1933 bis 1945 — ideologisch für den
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faschistisch-deutschen Chauvinismus mißbraucht. Fichte ist jedoch, aus seiner Zeit heraus und in seiner Zeit gesehen, kein engstirniger nationaler Chauvinist. Trotz der nationalen Überheblichkeit hatten seine Gedanken zur nationalen Frage f ü r die damalige Zeit eine in der Hauptsache progressive Bedeutung, und nur, wenn m a n sie aus ihrem historischen Zusammenhang herauslöst — eine beliebte Methode der Fälschung des nationalen Erbes f ü r reaktionäre Zwecke —, finden sich Ansatzpunkte f ü r einen nationalistischen Mißbrauch Fichtes. In Fichtes Weltbild nehmen Erziehungsprobleme einen breiten Raum ein. In den „Reden an die deutsche Nation" verkündet er die Idee einer nach. Pestalozzis Methode gestalteten umfassenden Nationalerziehung, die zum Patriotismus und damit zur Kampfbereitschaft gegen die französischen Eroberer erziehen solle. Bei zahlreichen anderen Anlässen hat Fichte sich gleichfalls zu Erziehungsfragen geäußert, Pläne zur Reorganisation der Universitäten entworfen und vor allem dem Gelehrten die Pflicht auferlegt, als Erzieher und Vonbild seiner Nation zu wirken. Fichtes Begeisterung f ü r Erziehungsfragen ergibt sich bis zu einem gewissen Grade aus seiner philosophischen Weltansicht. Fichte will handeln, sein Handeln ist jedoch — wie w i r darstellten — auf die Veränderung des Bewußtseins gerichtet. Im Grunde möchte — u m es einfach zu formulieren — Fichte jedem Menschen den Inhalt seines philosophischen Standpunktes vermitteln, d. h. ihn zu einer den Forderungen d e r Wissenschaftslehre und des sittlichen Vernunftsreiches entsprechenden geistigen Haltung erziehen. In Fichtes Erziehungsplänen steckt eine Fülle wertvoller; humanistischer Überzeugung entspringender Gedanken. Allein die Idee einer umfassenden, gleichmäßigen Nationalerziiehung, die ohne Unterschied des Standes und d e r Herkunft alle Bürger in gleicher Weise erfassen solle, ist — in den „Reden a n die deutsche Nation" verkündet — ein f ü r d a malige Verhältnisse revolutionärer Gedanke. Fichtes h u m a nistische und demokratische Überzeugung läßt ihn hier Forderungen aufstellen, zu deren Verwirklichung seine Zeit, ja über-
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haupt eine Gesellschaft, in der die Ausbeutung des Menschen durch den ¡Menschen stattfindet, nicht fähig war. Auch der Inhalt d e r Fichteschen Erziehungspläne enthält nicht n u r die Idee, seine Philosophie zu vermitteln, sondern e r möchte vor allem Menschen heranbilden, die zu schöpferischer Tätigkeit fähig sind, den Mut haben — entsprechend d e r Losung der Aufklärung, die hier nachwirkt —, sich ihres eigenen Verstandes zum Begreifen ihrer Umwelt zu bedienen. Es schwebt ihm dabei nicht eine passive Widerspiegelung der Welt vor, sondern die schöpfe^ rische Tätigkeit, vorauszuschauen, Vorbilder zu schaffen, wie die Welt werden solle. Fichtes humanistisches Erziehungsideal und seine hohe Meinung vom Gelehrten, der als Erzieher der Gesellschaft wirken solle, f ü h r t e dazu, daß Fichte an der Jenaer und vor allem a n der Berliner Universität sich auch praktisch in Erziehungsfragen der Studenten einschaltete. Er stieß dabei mit den studentischen Verbindungen zusammen, gegen deren Paukböden und Duelle er sich als erster Wahlrektor d e r Berliner Universität aussprach. In den „Reden an die deutsche Nation" ist Fichtes Erziehungsstreben gleichzeitig mit unmittelbaren politisch-praktischen Aufgaben verknüpft. Fichte stellt die Forderung nach allgemeiner, demokratischer Volksbewaffnung und greift damit in Aufgaben ein, vor denen die patriotische Bewegung im damaligen Deutschland stand. — Zu dieser patriotischen Bewegung, zu Schamhorst, Gneisenau, v. Clausewitz unterhielt Fichte regelmäßige Kontakte. Er nahm, soweit es ihm bei seinem schlechten Gesundheitszustand möglich war, direkten Anteil am allmählichen Wachsen des nationalen Widerstandes, beschäftigte sich sogar mit militärtheoretiscben Studien und untersuchte als Demokrat und Humanist die Frage des Krieges und seiner Rolle im Leben der Gesellschaft. Fichte w a r von Anfang an ein entschiedener Gegner des Krieges mit seinen Greueln. Er teilte mit Kant die feste h u m a nistische Uberzeugung, daß ein ewiger Friede möglich sei, ein reales und lösbares Programm darstelle. Ein Völkerbund „ge-
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rechter Staaten", in denen wirklich das Volk üiber Krieg und Frieden entscheide, erschien Füchte als gangbarer Weg zu diesem Ziel. Auch hier w a r e r seiner Zeit voraus — denn mit bloßer Veränderung der Verfassungen, ohne gesellschaftliche Umwälzungen, ist der ewige Friede nicht zu sichern. Aber er förderte durch sein Auftreten in sedner Zeit dieses größte aller h u m a nistischen Ideale, deren Verwirklichung wir heiute erleben. Fichtes Gegnerschaft gegenüber dem Krieg war jedoch nicht in eine pazifistische Ablehnung jedes Krieges gekleidet. Er unterschied sehr exakt zwischen den feudalen Raubkriegen und einem theoretisch möglichen Krieg eines gerechten Völkerbundes gegen Friedensstörer. In solchen Fällen betrachtete Fichte den Krieg als Mittel der Verteidigung, ja als Mittel zum Frieden. Einer eingehenden philosophischen Analyse unterwirft Fichte den Freiheitskrieg 1813/14. Bekanntlich trug die Befreiungsbewegung gegen Napoleon widersprüchlichen Charakter. Die deutsche Bourgeoisie verdankte ihre soziale Emanzipation, soweit sie erreicht war, der napoleonischen Fremdherrschaft. Andererseits w a r sie gezwungen, ihren „Befreier" zu bekämpfen, da e r als Eroberer a u f t r a t und das nationale Dasein der bürgerlichen Klasse in Deutschland bedrohte. Die patriotischen Kreise erkannten dies, und diese Einsicht befähigte — wie Lenin schrieb — „einige Handvoll Adliger und einige Häuflein bürgerlicher Intellektueller", Geschichte zu machen. Der deutsche Nationalstaat, der historisch auf der Tagesordnung stand, ließ sich jedoch ajuch in einem Befreiungskrieg ohne Lösung der sozialen Frage, der bürgerlichrevolutionären Beseitigung der Feudalverhältnisse, nicht zustandebringen. F ü r die Bewältigung der sozialen Probleme fehlten aber damals die objektiven und subjektiven Voraussetzungen, die bürgerliche Klasse in Deutschland war dazu zu schwach. Daraus resultiert ein Kompromiß mit den Feudalkräften und somit ein tiefer Widerspruch in der patriotischen Bewegung überhaupt. Er war objektiv unlösbar und bestimmte als solcher weitgehend die genannte Widersprüchlichkeit der ideologischen
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Haltung Fichtes sowohl in d e r nationalen F r a g e als auch in seiner Philosophie. Charakteristisch f ü r d e n Demokraten ist, d a ß er sich dieser Widersprüchlichkeit bei seiner Analyse des Freiheitskrieges bis zu einem gewissen G r a d e bewußt wird. Er unterscheidet zunächst zwischen d e r „landläufigen Ansicht" vom Krieg u n d d e m „ w a h r h a f t e n Krieg". U n t e r „landläufiger A n sicht" versteht e r die Haltung des B ü r g e r t u m s gegenüber den preußischen Feudalkriegen. Das Interesse d e r breiten Schichten des Klein- u n d Mittelbürgertums a n diesen Kriegen des Absolutismus m u ß t e notwendigerweise außerordentlich gering sein. Beim „ w a h r h a f t e n Krieg" sei dies jedoch e t w a s anderes. Hier ginge es nicht u m die Angelegenheiten des Herrschers, sondern des ganzen Volkes, dessen weitere nationale Entwicklung bed r o h t ist. Als „ w a h r h a f t e n Krieg" bezeichnet Fichte einen „Volkskrieg", u n d e r sieht i m Freiheitskrieg 1813/14 einen solchen. Dabei w i r d die historische Erscheinung des Freiheitskrieges von Fichte u n t e r d e m Gesichtspunkt d e r von i h m a n gestrebten Verwirklichung des sittlichen Vernunftsreiches gesehen, und der Freiheitskrieg ist d a h e r f ü r Fichte in letzter Instanz sogar ein Mittel z u m ewigen Frieden. Mit scharfem Blick e r k e n n t e r dalbei die i n n e r e Widersprüchlichkeit d e r patriotischen Bewegung u n d w a r n t v o r der Gefahr, d a ß „nach Errett u n g im K a m p f e abermals die Selbständigkeit der Nation d e m Vorteile d e r Herrscherfamilien aufgeopfert w ü r d e . . . " . U n t e r deutlicher Anspielung auf P r e u ß e n bezeichnet Fichte einen Staat, in dem so etwas eintreten würde, als im Zustande der Verstockung befindlich. Ein solcher S t a a t h ä t t e öffentlich das „Siegel d e r V e r w e r f u n g " sich selbst aufgedrückt. Fichtes vorwiegend d e n Problemen d e r nationalen Erhebung gewidmete Arbeiten aus d e m J a h r e 1813 sind seine letzten Schriften. Nachdem e r seine patriotische Haltung durch die Tat u n t e r Beweis gestellt hatte, a n d e n Übungen des Landsturmes teilnahm u n d direkt v o m Exerzierplatz schwer bewaffnet in d e n Hörsaal eilte, u m dort im Sommersemester 1813 seine Vorlesungen zu halten, w a r e n ihm n u r noch wenige Lebensmonate v e r -
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gönnt. Sein Sohn berichtete, daß er am Albend, als die Siegesnachricht von der Völkerschlacht bei Leipzig eintraf, sein ganzes Haus festlich schmückte. Aus Berichten seines Sohnes wissen wir auch, daß damals Fichte sich öfters mißbilligend über den Fortgang des Krieges aussprach, weil er deutlich sah, daß die Kraft des Volkes den Zwecken der „Selbstsucht" aufgeopfert würde. Johann Gottlieb Fichte steht damit vor uns als ein Denker und aufrechter Charakter, der durch seine theoretischen Leistunigen einen würdigen Platz in der Reihe der Vertreter der klassischen deutschen Philosophie einnimmt. Er stand als Demokrat und Humanist in seiner Zeit auf der Seite des historischen Fortschritts. Als Patriot verdient er Achtung und Anerkennung, als Theoretiker der nationalen Frage hatte er Anteil am ideologischen Prozeß der Bildung des bürgerlichen Nationalbewußtseins in Deutschland. Notwendig waren in seinen Schriften alle Widersprüche seiner Epoche und der Klasse, die er repräsentierte, enthalten. Das ändert jedoch nichts daran, daß wir in ihm einen der großen Verkünder fortschrittlicher, humanistischer Gedanken verehren.
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ANMERKUNGEN
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Lenin, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Berlin 1959, Bd. I, S. 8. Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Ausgewählte Werke, hrsg. von H. Jess, Leipzig o. J., Bd. IV, S. 281/82. Johann Gottlieb Fichte, Sämtliche Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Leipzig 1844fr., Bd. VI, S. 345. Pichtes Briefwechsel, hrsg. von H. Schulz, Leipzig 1925, Bd. II, S. 385. Gertrud Bäumer, Fichte und sein Werk, Berlin 1021, S. 8. Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin 195®, S. 190/199. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1057, S. 187f. Marx, Das Kapital, Berlin 1947, Bd. I, S. 185.
Manfred
Buhr
SPEKULATION UND HANDELN GRUNDTHEMA DER PHILOSOPHIE JOHANN GOTTLIEB FICHTES
i Johann Gottlieb Fichte gehört zu den hervorragendsten Ideologen, die das deutsche Bürgertum in seiner progressiven Entwicklung hervorgebracht hat. Das vor allem darum, weil seine Philosophie tief im historischen Prozeß der Zeit, der in der Französischen Revolution und ihren Auswirkungen auf die europäischen Staaten seinen sichtbaren Ausdruck findet, wurzelt und von der Grundhaltung einer Persönlichkeit getragen wird, die auf die Veränderung der gegebenen gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse ausgeht. Fichte vertritt mit seinem Denken die Interessen der fortgeschrittenen Klassenfraktionen des deutschen Bürgertums, speziell die des demokratischen Kleinbürgertums, und darüber hinaus die von plebejischnbäuerlichen Schichten des Volkes, denen er entstammte. Fichtes Geburt fällt mit zwei historischen Ereignissen ineins, die — sieht man sie als Momente des geschichtlichen Gesamtprozesses — symbolisch für die spätere Entwicklung des Philosophen sind. Er ist 1762 geboren. Im gleichen Jahre erschien Rousseaus „Contrat social", und der Siebenjährige Krieg neigte sich seinem Ende zu. Die Ideen vom Gesellschaftsvertrag werden das Denken Fichtes weitgehend beeinflussen, ihre praktische Manifestation im Jakobinerstaat wird seiine durch sie bestimmte revolutionär-demokratische Überzeugung festigen. Doch der unter dein Einfluß Rousseaus und der Folgen kühn anhebende Gedankenflug des Phiolosophen wird durch jene „deutschen Zustände" und ihre ideologischen Verklärungen beschnitten werden, in deren Rahmen der Siebenjährige Krieg niur ein Ereignis einer Kette historischer Anachronismen der deutschen Geschichte des 18. Jahrhunderts darstellt.
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Fichtes Denken und Wirken ist so eingebettet in den historischen Prozeß der Zeit. Dieser ist es, der seine Philosophie und seine Handlungen weitgehend (bestimmt und seine Persönlichkeit vornehmlich formt. Nur von diesem her gewinnt man den Zugang zu Fichtes Persönlichkeit und Philosophie. Die Philosophie Fichtes hat ihre Schicksale und war nicht selten Mißverständnissen ausgesetzt. Zunächst wurden die subjektiv-idealistischen Überspitzungen seiner Lehre immer wieder als Hauptsache und Ausgangspunkt der Interpretation gesetzt, obwohl sie Folge eines Versuchs — freilich eines von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuchs waren, dem Menschen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft ein menschenwürdiges Dasein zu garantieren. Es wurden weiter die Illusionen, denen Fichte im Verlaufe seiner Entwicklung unterlegen ist, zum Gegenstand der bloßen Kritik und des Spottes, obwohl sie ideologische Verhüllungen unfertiger, historisch-aniachronistischer Zustände sind. Und schließlich nahm man die Eigenheiten und Eigenwilligkeiten der Persönlichkeit Fichtes zum Anlaß psychologisierender Betrachtungen, obwohl sie, indem sie von Fichte als aUgemeinmenschliche Normen gesetzt wurden, auf den in der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu lösenden Widerspruch von Citoyen und Staatsbürger hindeuten. An diesen Mißverständnissen scheint Fichte selbst die Schuld zu halben. Über weite Strecken ist das sicher auch so. Aber ein Blick in die überkommene bürgerliche Fichte-Literatur zeigt, daß diese Mißverständnisse nicht aiuf ihre Voraussetzungen zurückgeführt und von da aus erklärt, sondern als Tatbestände angesehen worden sind. Das resultiert daraus, daß sie versuchte, Fichte vorwiegend aus der Geschichte der Philosophie, d. h. aus der bloßen .geistigen Bewegung der Zeit zu erklären. Im Unterschied zu einem solchen Vorgehen der bürgerlichen Philosophiegeschichtsschreibung ist es für eine marxistische Betrachtung der Fichteschen Philosophie angezeigt, Fichte nicht aus der Geschichte der Philosophie, sondern aus der Geschichte zu erklären. Die für Fichtes Entwicklung bedeutungsvollen
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philosophiehistorischen Momente, etwa der Einfluß Kants, werden durch ein solches Herangehen nicht in Abrede gestellt. Aber sie werden nicht ausschließlich für die Entstehung, Entwicklung und Entfaltung der Fichteschen Philosophie betrachtet. Die energische Hinwendung zur Geschichte ist im Fall Fichte schon allein deshalb geboten, weil die Fichtesche Philosophie dem historischen Prozeß der Zeit wesentlich verbunden ist und auf diesen abzielt, die Theoretisierung eines geschichtlichen Bewußtseins darstellt, wie Hegel einmal treffend bemerkte. Dieses Moment ist dem Denken Fichtes weitaus stärker eigen als den Philosophien Kants, Hegels oder gar Schellimgs. Fichtes Bemühungen laufen in letzter Instanz darauf hinaus, von der Spekulation über das absolute Ich einen Übergang zum handelnden Ich, das sich in der Welt der Erscheinungen entfalten und bewähren soll, zu finden. Mit anderen Worten: Das Verhältnis von Spekulation und Handeln ist das Grundthema der Reflexionen Fichtes. Es führt zum Kern seiner Philosophie, die sich als Versuch einer Problemlösung dieses Verhältnisses darstellt. ii Die Problematik Denken und Tun, Spekulation und Handeln durchzieht wie ein roter Faden Fichtes gesamtes Werk. Fichte sucht ständig nach neuen Ansätzen, nach immer neuen Zugängen, sein Denken zu verwirklichen. Besonders in seiner „praktischen Philosophie" ist das augenscheinlich. Insofern ist der „praktische" Teil der Fichteschen Philosophie von zentraler Bedeutimg für ihre Gesamteinschätzung. Die Knotenpunkte der Entwicklung der Philosophie Fichtes sind zunächst weniger die zahlreichen — veröffentlichten und leider zum Teil noch immer unveröffentlichten — Darstellungen der „Wissenschaftslehre"1, sondern die geschichtsphilosophdsch-rechtsphilosophjschen Werke im weiteren Sinne und politischen Dokumente. Jene Werke und Dokumente also, in deinen Fichte zu den hervorragenden gesellschaftlich-historischen Ereignissen seiner Zeit Stellung nimmt
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und in denen er diese philosophisch zu durchdringen und zu verallgemeinern sucht: der „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" (1793)2, die „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" (1796), insbesondere ihr zweiter Teil 3 , „Der geschlossene Handelsstaat" (1800)4, die Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794, 1805, 1811)5, die Rezension zu Kants Schrift „Zum ewigen Frieden" (1796)6, die Universitätspläne 7 , „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" (1806)8, „Die Reden an die deutsche Nation (1808)9, das Gespräch „Der Patriotismus, und sein Gegenteil" (1807)10, das Nachlaßstück „Die Republik der Deutschen" (1806/07)11, schließlich die Vorlesung „Uber den Begriff des wahrhaften Krieges" (1813)12 und der Vortrag bei Abbrechung der Vorlesungen über die „Wissenschaftslehre" (1813)13. Diese im weiteren Sinne geschichtsphilosophischrechtsphilosophischen Werke und politischen Dokumente sind es vornehmlich, die die Knotenpunkte der Fichteschen Entwicklung repräsentieren. Davon ausgehend sind die jeweiligen Neuformulierungen der „Wissenschaftslehre" zu untersuchen und ihre Wandlungen zu begreifen. Sie sind Produkte jener historisch ereignisreichen Zeit, in die Fichte hineingeboren wurde, und stellen als solche die philosophische Durchdringung und Verarbeitung des revolutionären Zeitalters dar, in dem Fichte wirkte. Nur wenn der Zusammenhang, und zwar der unmittelbare Zusammenhang zwischen diesen Werken und den verschiedenen Entwürfen der „Wissenschaftslehre" gewahrt bleibt, wird man zum eigentlichen Wesen von Fichtes Philosophie vordringen können. Denn Fichtes fortlaufende Bemühungen u m eine immer bessere Ausgestaltung der „Wissenschaftslehre" sind nichts weiter als der ständig erneuerte Versuch, sein Denken in der gesellschaftlichen Praxis fruchtbar machen zu wollen. Die als Universitätslehrer, freier Schriftsteller und Redner sowie die bei der Anwendung der Prinzipien der „Wissenschaftslehre" auf die praktischen Bereiche der Philosophie (Recht, Moral, wirt-
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schafts- und sozialpolitische Fragen) gemachten Erfahrungen werden dabei von Fichte im Hinblick darauf berücksichtigt, einen erfolgversprechenderen theoretischen Ansatz zur Verwirklichung seiner Philosophie zu finden. Handeln ist f ü r Fichte eine Grundvoraussetzung jedes w a h r haften Philosophierens, und zwar dergestalt, d a ß d e r spekulativen Beschäftigung das Handeln voranzugehen hat, auf dieses bezogen wird und bleibt und zu diesem hinstrelbt. Deshalb hat Fichte die Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten auf jeder Universität vorgetragen, auf der er längere Zeit wirkte, in Jena, in Erlangen und in Berlin. Deshalb bemühte er sich, seine Philosophie nicht nur in einem abstrakten Gewände, sondern auch in allgemeinverständlichen und populären Schriften, wie etwa in d e r „Bestimmung des Menschen", auszuführen, mit dem Ziel, einen möglichst breiten Publikumskreis anzusprechen und z>u gewinnen. 14 Kuno Fischer leitet seine Fichte-Darstellung mit d e r Feststellung ein: „Fichte ist unter den Philosophen der neuen Zeit eine Charaktererscheinung einzig in ihrer Art, denn es vereinigen sich in ihm zwei Faktoren, die sonst einander abstoßen: die nach innen gekehrte Liebe zur Spekulation und ein feuriger auf den Schauplatz der Welt gerichteter Tatendurst." 1 5 Nun hat die Geschichte bewiesen, daß diese „Faktoren" durchaus keine Gegensätze zu sein brauchen, d a ß im Gegenteil jene Denker um so größer anzusehen sind, bei denen beide „Faktoren" eine Einheit bilden oder der Versuch unternommen wurde, diese zu vereinigen. Fichtes Werk und Wirken war ein großangelegter, wenn auch mißlungener Versuch, beide „Faktoren" zur Einheit werden zu lassen, wobei die von Fischer getroffene Feststellung, daß Fichte einer „nach innen gekehrten Liebe zur Spekulation" anhing, nur zum Teil richtig ist. Fichtes Ideal war, Spekulation und Handeln in Einklang zu sehen. Und wenn die historische Situation dergestalt war, daß der Spekulation das Nachsehen gegeben werden mußte, dann w a r Fichte sofort bereit, auf sie zu verzichten, um so dem Zug der Zeit, der ein unmittelbar
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praktisches Handeln erforderte, ganz zu gehorchen. Es darf nicht sein, so schärft er seinen Studenten bei Abbruch der Vorlesungen über die „Wissenschaftslehre" am 19. Februar 1813 ein, „daß jeder ohne Ausnahme nur als Massenkraft wirke, es gibt ja da so viele andere Geschäfte; nur dies scheint gefordert zu werden, daß jeder, mit Bedseitesetzung weit aussehender Zwecke, seine Kräfte dem dargebotenen großen Momente widme, zu jedem, wozu sie in diesem Momente am tauglichsten sind".16 Und Fichte fährt fort: „Ernsthafte und tiefe Beschäftigung mit der Wissenschaft bedarf der Ruhe, der äußeren, in den Umgebungen, der inneren in den Gemütern. Bis jetzt ist es mir für meine Person gelungen, die letzte über mich zu erhalten. Sie werden es nicht als Tadel ansehen — wie unibillig wäre dieser! — sondern bloß als Geschichtserklärung ..., daß sie durch alle Bewegungen, die in uns vorgegangen sind, in den letzten Stunden doch einige Male ein wenig unterbrochen worden ist. In der Zukunft, nachdem so viele unserer geliebten Freunde und Bekannten abgegangen sind, ... nachdem auf alle Fälle entscheidende Vorgänge vorfallen müssen, ... wie könnten wir die zu dieser Abstraktion der Wissenschaftslehre nötige Fassung behalten? Ich selbst wenigstens ... traue es mir nicht zu. Dies ist die entscheidende Betrachtung, die mir den schweren Entschluß abgenötigt hat, dermalen diese Betrachtung zu unterbrechen. Schon einmal, im Jahre 1806, bin ich durch den Krieg genötigt worden, eine sehr glückliche Bearbeitung der Wissenschaftslehre abzubrechen. — Jetzt hatte ich von neuem eine Klarheit errungen, wie noch nie, und ich hoffte diese in der Mitteilung an Sie . . . zur allgemeinen Mitteilbarkeit zu erheben. Es tut mir weh, diese Hoffnung weiter hinauszuschieben. Aber wir müssen alle der Notwendigkeit gehorchen, und dieser muß denn auch ich mich fügen."17 So hielt es Fichte immer. Wenn es die historische Stunde erforderte, „seine Kräfte dem dargebotenen großen Momente" zu widmen, war er bereit, auf die spekulative Beschäftigung zu verzichten. „Die Philosophie wirkt", so stellt Fichte in anderer Bezie-
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hurag fest, „auf unsere praktische Gesinnung, auf Übereinstimmung mit uns selbst im Denken und Handeln." 19 Und im Zusammenhang mit dem „Atheismusstreit" wirft er einmal die Frage auf: „Was soll denn nun die Philosophie und wozu bedarf es der spitzfindigen Zurüstungen derselben, wenn sie gesteht, daß sie für das Leben nichts Neues sagen, ja dasselbe nicht einmal als Instrument bilden kann, daß sie nur Wisse nslehre, keineswegs Weisheitsschule ist?", um zu antworten: „Ihr Hauptnutzen . . . ist negativ und kritisch . . . Mittelbar, d. i. inwiefern ihre Kenntnis mit der Kenntnis des Lebens sich vereinigt, hat sie aber auch einen positiven Nutzen: sie ist für das unmittelbar Praktische pädagogisch in weitester Bedeutung dieses Worts. Sie zeigt aus den höchsten Gründen, eben weil sie den ganzen Menschen begreifen lehrt, wie man die Menschen bilden müsse, um moralische und religiöse Gesinnungen auf die Dauer in ihnen zu bilden und nach und nach allgemein zu machen . . . Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt aber ist darin zu finden, daß sie ihm Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt, indem sie zeigt, daß es und sein ganzes Schicksal lediglich von ihm selbst abhange, — indem sie den Menschen auf seine eigenen Füße stellt."1* Zu dieser Auffassung der Philosophie, als einer auf praktische Obliegenheiten hinführenden wissenschaftlichen Disziplin, gesellt sich Fichtes Drang, seinen „Platz in deir Menschheit durch Taten zu bezahlen", wie er in jungen Jahren einmal an seine Braut schrieb. „Ich habe große, glühende Projekte, — nicht für mich ... Mein Stolz ist der, meinen Platz in der Menschheit durch Taten zu bezahlen, an meine Existenz in die Ewigkeit hinaus für die Menschheit, und die ganze Geisterwelt Folgen zu knüpfen: ob ich's tat, braucht keiner zu wissen, wenn es nur geschieht." 20 Solchen und ähnlichen Formulierungen begegnen wir immer wieder in Fichtes Werken und Briefwechsel. „Ich wünschte zu wirken, so viel ich nur irgend konnte" 2 1 , heißt es ein anderesmal, und 1798 bekennt Fichte in einem Brief an Franz Wilhelm Jung: „Ich möchte wirken, solange ich es ver-
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mag, durch Wort und Schrift: dies ist der Zweck meines Lebens. Wo ich den besseren Wirkungskreis finde, da bin ich am liebsten."22 Aius diesen Zeugnissen, die beliebig vermehrt werden könnten, spricht eine Persönlichkeit, die „außerhalb der Norm des Alltäglichen" steht23, spricht ein Denker, für den Denken nicht nur Spekulation, sondern Voraussetzung und Folge praktischer Tätigkeit sein soll. Freilich, in letzter Instanz unterliegt Fichte der Spekulation, verfällt er ihr, auch dort, wo er sich am praktischsten dünkt, wo der Anlaß seiner Ausführungen unmittelbare historische Begebenheiten sind, wie etwa in den „Reden an die deutsche Nation" — doch ist dies kein Beweis dafür, daß Fichte seinem Wollen je untreu geworden wäre, sondern dafür, daß der Ansatzpunkt seines Denkens und damit der Ausgangspunkt seines Wirkens ein verkehrter war. Die Geschichte brach nicht den Stab über die zu Handlungen drängende Persönlichkeit Fichte, sondern über ihre subjektiv-idealistische Philosophie. Die für Fichte charakteristische, auf praktische Wirksamkeit ausgehende Haltung wird besonders an einem Vergleich mit Kant deutlich. Während in Fichtes akademischer Tätigkeit die Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten immer wiederkehren und so gleichsam den Tenor seiner Wirksamkeit an der Universität ausmachen, ist gleiches bei Kant mit den Vorlesungen über Physische Geographie der Fall. Fichte identifizierte sich mit jedem seiner Werke, ja jedem seiner Worte, betrachtete jeden Angriff auf seine Schriften als gegen seine Person gerichtet, kämpfte, stritt und — wenn es sein mußte — litt für sein geschriebenes und gesprochenes Wort bis zum äußersten, besonders wenn der Angriff auf dieses von den staatlichen Gewalten geführt wurde, wie sein Verhalten in dem von der feudal-klerikalen Reaktion in Szene gesetzten „Atheismusstreit" nachdrücklich unterstreicht. Kant betrachtete dagegen seine Werke als bloßes literarisches Produkt, auf das man jederzeit verzichten kann, wenn die Obrig-
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keit es verlangt. Kant resignierte in der Regel. Ein Angriff auf seine Anschauungen von staatlicher Seite aus veranlaßte ihn immer zum Nachgeben. Seine Reaktion auf das königliche Handschreiben vom 1. Oktober 1794 zeigt dies sehr deutlich. Dieses Handschreiben machte Kant zum Vorwurf, seine Philosophie „zur Entstellung und Herabwürdigung mancher Hauptund Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums mißbraucht" zu haben, und befahl, sich künftighin nichts dergleichen zuschulden kommen zu lassen. Der Anlaß zu diesem Schreiben war die gegenüber d e r „Kritik der reinen Vernunft" mehr als zahme, kompromißlerische Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" von 1793.24 Kant wich zurück. Seine Haltung gibt eindrucksvoll eine im Zusammenhang mit dem königlichen Handschreiben gemachte Notiz wieder. Kant vermerkte: „Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig; aber Schweigen in einem Fall wie der gegenwärtige, ist Untertanenpflicht; und wenn alles, was m a n sagt, wahr sein muß, so ist d a r u m nicht auch Pflicht, alle Wahrheit öffentlich zu sagen." 25 Noch m e h r Aufschluß gibt ein Brief Kants aus dieser Zeit. In ihm heißt es: „Wenn die Starken in der Welt im Zustande eines Rausches sind, er mag nun von einem Hauche der Götter oder einer Mufette herrühren, so ist einem Pygmäen, dem seine Haiut lieb ist, zu raten, daß er sich ja nicht in ihren Streit mische, sollte es auch durch die gelindesten und ehrfurchtsvollsten Zureden geschehen; a m meisten deswegen, weil er von diesen doch gar nicht gehört, von andern aber, die die Zuträger sind, mißgedeutet werden w ü r d e . . . Und auf den gemeinen Haufen ? D,as wäre verlorene, ja wohl gar zum Schaden desselben verwandte Arbeit. In diesem Reste eines halben Lebens ist es Alten wohl zu ratenj das ,non defensoribus istis tempus eget' und sein Kräftemaß in Betrachtung zu ziehen, welches beinahe keinen anderen Wunsch, als den der Ruhe und des Friedens übrig läßt." 26 Resignation und Kompromißbereitschaft sind ein Grundzug von Kants Charakter, aber auch seiner Philosophie. 27 Es ist dies 3*
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ein P u n k t der Kantschen Philosophie, den Fichte als eine ihrer Schwächen schnell e r f a ß t hat. Fichte versucht d e n n auch, die „kritische Philosophie" von dieser Schwäche zu befreien, sie a u s d e m Gebiet bloßer Spekulation, in d e m sie bei Kant selber verblieb, wegzuführen u n d in das Gebiet praktischer Handlungen hinüberzuleiten. Daß Fichte dieser Versuch nicht gelungen ist, von den Grundprinzipien der Kantschen Philosophie her, auch in seiner Zeit und vom Standpunkt seiner Klasse aus gar nicht gelingen konnte, schließlich mit den subjektiv-idealistischen Konsequenzen, die e r aus d e r „kritischen Philosophie" zog, nicht zu bewältigen war, steht auf einem anderen Blatt. Wichtig bleibt in diesem Zusammenhang festzuhalten, d a ß Fichte d e n Übergang von d e r „kritischen Philosophie" zur „Wissenschaftslehre" nicht als einen n u r spekulativen Vorgang verstanden wissen wollte, sondern als Bemühung, den tiefsten Intentionen d e r Kantschen Philosophie, die von ihm als richtig e m p f u n d e n w u r den, eine praktische Note zu verleihen. Dieser B e m ü h u n g stand K a n t verständnislos gegenüber. Die u m die Wende vom 18. zum 19. J a h r h u n d e r t zwischen K a n t und Fichte g e f ü h r t e unglückselige Polemik hat u. a. ihre Ursache in Kants Verständnislosigkeit gegenüber diesem Fichteschen Vorhaben. 2 8 Resignation u n d Kompromißbereitschaft w a r e n f ü r Fichte eines Philosophen u n w ü r d i g e Verhaltensweisen u n d widersprachen d a r ü b e r hinaus dem Wesen seiner Philosophie. Scheu vor jeder Verwicklung in die „Welthändel", wie K a n t sie hatte, w a r ihm f r e m d — so fremd, d a ß er vielen seiner Zeitgenossen rätselhaft erschien, sie durch seine Handlungen m e h r als einmal zu Kopfschütteln veranlaßte, ihnen andererseits wied e r Bewunderung a b r a n g und oftmals auch Schaudern bei ihnen erzeugte. Mehrfach haben Fichtes Zuhörer darauf hingewiesen, d a ß e r seine Vorlesungen nicht als die Erledigung ü b e r n o m m e n e r öffentlicher Verpflichtungen ansah, sondern als eine Art Mission betrachtete, die er, Fichte, zu erfüllen b e r u f e n sei. K a r l Forberg z. B. zeichnete a u f : „ . . . d e r Grundzug seines (Fichtes — M. B.) Charakters ist die höchste Ehrlichkeit. Ein solcher C h a r a k -
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ter weiß gewöhnlich wenig von Delikatesse und F e i n h e i t . . . : sein Trefflichstes hat immer den Charakter der Größe und der Stärke. Der Ton, in welchem er gewöhnlich spricht, ist schneidend und beleidigend. Auch spricht er eben nicht schön, aber alle seine Worte haben Gewicht und Schwere . . . Seine Grundsätze sind streng, und wenig durch Humanität gemildert. Gleichwohl verträgt er . . . Widerspruch, und versteht . . . Scherz. Sein Geist ist ein unruhiger Geist ; er dürstet nach Gelegenheit, viel in der Welt zu handeln. — Fichtens öffentlicher V o r t r a g . . . rauscht daher, wie ein Gewitter, das sich seines Feuers in einzelnen Sätzen entladet. Er rührt nicht, . . . aber er erhebt die Seele . . . Fichtens Auge ist strafend, und sein Gang ist trotzig . . . Fichte will durch . . . (seine Philosophie) den Geist des Zeitalters leiten: er kennt dessen schwache Seite, drum f asset er ihn von Seiten der Politik." 29 Ein anderer Zuhörer, Johann Georg Rist, gibt seinen Eindruck, den Fichte in Jena auf ihn machte, in seinen „Lebenserinnerungen" mit folgenden Worten wieder: „Das Rücksichtslose und Imperative seiner (von Fichtes — M. B.) Deduktionen und Sätzen sagten mir wohl zu; aber dem eisernen Zwang, der um der Folgerichtigkeit willen sich über alle Verhältnisse des Lebens legen wollte, konnte sich wieder mein freier Sinn nicht fügen. Fichte w a r wirklich ein gewaltiger Mensch; ich haibe ihn oft scherzend den Bonaparte der Philosophie genannt, und viele Ähnlichkeit ließ sich an beiden auffinden. Nicht ruhig wie ein Weltweiser, sondern gleichsam zornig und kampflustig stand der kleine, breitschultrige Mann auf seinem Katheder, und ordentlich sträubten sich seine schlichten braunen Haare um das gefurchte G e s i c h t . . . Wenn er stand auf seinen stämmigen Beinen, oder hinschritt, so w a r e r festgewurzelt in der Erde, w o er ruhte, und im Gefühl seiner K r a f t sicher und unbeweglich. Kein sanftes Wort ging über seine Lippen und kein Lächeln; er schien der Welt, die seinem Ich gegenüberstand, den Krieg erklärt zu haben, und durch Herbigkeit den Mangel an Anmut und Würde zu verbergen." 30 Selbst in den Urteilen von Fichte feindlich gesinnten Zeitgenossen, w i e Anselm Feuerbach,
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wird, wenn auch mit negativem Vorzeichen, Fichtes „unruhiger Hang zu Tätigkeit und Wirkenwollen" hervorgehoben. Feuerbach charakterisierte Fichte einem Freunde gegenüber mit folgenden Sätzen: „Ich bin ein geschworener Feind von Fichte, als einem unmoralischen Menschen, und von seiner Philosophie, als d e r abscheulichsten Ausgeburt des Aberwitzes, die die Vernunft verkrüppelt und Einfälle einer gärenden Phantasie f ü r Philosophie v e r k a u f t . . . Daß du von diesem Urteile über Fichte nichts bekannt werden lassest, bitte ich dich angelegentlichst. Er ist ein unbändiges Tier, das keinen Widerstand verträgt und jeden Feind seines Unsinns f ü r einen Feind seiner Person hält. Ich bin überzeugt, d a ß er fähig wäre, einen Mahomet zu spielen, wenn noch Mahomets Zeit wäre, und mit Schwert und Zuchthaus seine Wissenscbaftslehre einzuführen, wenn sein Katheder ein Königsthron wäre." 31 Schließlich noch das Urteil Hölderlins. Im November 1794 schreibt e r an Neuffer: „Fichte ist jetzt die Seele von Jena. Und gottlob! daß ens ist. Einen Mann von solcher Tiefe und Energie des Geistes kenn' ich sonst nicht. In den entlegensten Geibieten des menschlichen Wissens die Prinzipien dieses Wissens, und mit ihnen die des Rechts aufzusuchen und zu bestimmen, und mit gleicher K r a f t des 'Geistes die entlegensten kühnsten Folgerungen aus diesen Prinzipien zu denken und trotz der Gewalt d e r Finsternis sie zu schreiben und vorzutragen, mit einem Feuer und einer Bestimmtheit, deren Vereinigung mir Armen ohne dies Beispiel vielleicht ein unauflösliches Problem geschienen hätte." 32 Kurze Zeit später spricht Hölderlin in einem Brief am Hegel von Fichte „als einem Titanen, der f ü r die Menschheit kämpfe und dessen Wirkungskreis gewiß nicht innerhalb der Wände des Auditoriums bleiben werde." 55 Hölderlins Urteil ist sicher nicht frei von Übertreibung. Es wird noch getragen von jener Begeisterung, die er als junger Student des Tübinger Stifts gemeinsam mit Hegel und Schelling f ü r die Französische Revolution empfand. Er sah auf der Grundlage dieser Begeisterung folgerichtig in Fichte eine Persönlich-
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keit, die in Wort, Schritt und Tat den Idealen der Französischen Revolution in Deutschland Ausdruck verlieh. Und er hatte damit nicht Unrecht. Von dieser Warte aus mußte ihm Fichte als ein „Titan" erscheinen, „der für die Menschheit kämpfe". Denn Fichte überragte in dieser Hinsicht die Mehrzahl seiner Zeitgenassen um ein ganzes Stück. Seine positive Stellungnahme zur revolutionären Umwälzung jenseits des Rheins war nicht nur vorübergehender Art. Daß die Geschichte an Hölderlins Urteil, wie auch an den anderen, manches korrigiert hat, ist Fakt. Doch kommt es darauf hier nicht an, sondern auf die Tatsache, daß Fichte im Unterschied zu der Mehrzahl der deutschen Ideologen seiner Zeit gesonnen war, mit seiner Philosophie in den Gang der Geschichte einzugreifen, mit ihr praktisch wirksam zu werden.34 Es ist über diese Haltung Fichtes viel gespottet worden, und man hat ihretwegen mit Vorwürfen gegen ihn nicht gespart. Sicher in vielen Fällen zu recht. Allein dieser Aspekt seiner Persönlichkeit ist nicht bloß psychologisch interessant, sondern in erster Linie deshalb von Bedeutung, weil er einen wesentlichen Zugang zu Fichtes Philosophie darstellt. Denn zwangsläufig mußten für eine auf unmittelbar praktische Wirksamkeit ausgehende Persönlichkeit die großen historischen Ereignisse der Zeit eine vorrangige Bedeutung erhalten. In der Tat empfängt Fichte von ihnen jeweils nachhaltige Eindrücke und legt auf ihre theoretische Durchdringung großes Gewicht. Das gilt in ausnehmendem Maße von dem historischen Ereignis der Zeit, der Französischen Revolution. Ihr Anliegen, ihre Errungenschaften und ihre Folgen stehen in Fichtes Bemühungen an zentraler Stelle, zumindest bis zum Jahre 1800 ist das so.35 Aber auch danach bleibt Fichtes Denken der Revolution verbunden, was nur deshalb der Fall sein konnte, weil die Revolution gleichsam den Ursprung darstellt, aus dem dieses Denken herausgewachsen ist. Ein Hörer von Fichtes letzten Vorlesungen in Berlin berichtet über deren Grundidee: „Die Grundidee Fichtes in seinen Vorlesungen war, zu demonstrieren, daß Napoleon,
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durch Unterdrückung des in der Französischen Revolution errungenen Gedankens der Freiheit, die Welt um dieses hohe Gut betrogen habe . . . Er erkennt der Französischen Revolution eine welthistorische, und was noch mehr sagen will, eine sittliche Berechtigung zu; daß Napoleon die Sache der Revolution verraten, erklärt er für seine schwerste Schuld."36 Dieses Zeugnis rührt an den Nerv der Fichteschen Philosophie. Insofern kann man ihr kaum gerecht werden, wenn man ihre Beziehungen zur Französischen Revolution außer acht läßt.37 m Fichte selber war sich dieses Zusammenhangs irgendwie bewußt. In einem Brief an Baggesen aus dem Jahre 1795 schreibt er: „Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation (die französische — M. B.) von den äußern Ketten den Menschen losreißt, reißt mein System ihn von den Fesseln der Dinge an sich... Es ist in den Jahren, da sie mit äußerster Kraft die politische Freiheit erkämpfte, durch innern Kampf mit mir selbst, mit allen eingewurzelten Vorurteilen entstanden; nicht ohne ihr Zutun; ihr valeur war, der mich noch höher stimmte, und jene Energie in mir entwickelte, die dazu gehörte, um dies zu erfassen. Indern ich über diese Revolution schrieb, kamen mir gleichsam zur Belohnung die ersten Winke und Ahndungen dieses Systems."38 Diese Briefstelle ist sehr aufschlußreich. Denn tatsächlich besteht zwischen Fichtes Schrift über die Französische Revolution und dem Entstehen der „Wissenschaftslehre" ein enger Zusammenhang. Mehr noch: Den Zugang zur „Wissenschaftslehre" findet man nur über die Ideenwelt des „Beitrags", nur von ihr her kann zum Verständnis der Fichteschen Lehre vom Ich, das das Nicht-Ich setzt, um zum Bewußtsein seiner selbst zu kommen, die ganze Außenwelt in sich hineinnimmt, um sie der freien sittlichen Tat des Menschen zu unterwerfen, vorgestoßen werden. Etwas vergröbert formuliert: Die Fichtesche Ich-Lehre ist der albstrakt-theoretische Ausdruck der
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Lehre vom freien, bindungslosen Individuum des „Beitrags", wie umgekehrt die Individuums-Lehre der Revolutionsschrift die Anwendung der Ich-Konzeption auf Fragen des Staates und der Gesellschaft ist. Beide Theoreme sind nur verschiedene Seiten ein und desselben Sachverhalts und finden ihren allgemeinen Grund im Faktum der Französischen Revolution. Im „Beitrag" finden sich Sätze, die ebensogut in den ersten Entwürfen der „Wissenschaftslehre" und auch in ihren späteren Konzeptionen stehen könnten — ihrem theoretischen Gehalt nach tatsächlich auch stehen. Wenn keine wörtlichen Übereinstimmungen festzustellen sind, so liegt das daran, daß Fichte besonders in den anfänglichen Entwürfen der „Wissenschaftslehre" bemüht ist, seine theoretische Philosophie in eine strenge, an die Mathematik erinnernde Darstellung zu kleiden.39 Allein der Kern der Fichteschen Bemühungen ist hier wie dort offensichtlich: theoretische Befreiung des Individuums von allen irgendwie gearteten Bindungen zium Zwecke der Gestaltung der Gesellschaft durch den autonomen Menschen, des Nicht-Ich durch das Ich. Fichte schreibt: „ . . . die Menschheit muß und soll und wird nur einen Endzweck haben, und die verschiedenen Zwecke, die Verschiedene sich vorsetzen, um ihn zu erreichen, werden sich nicht nur vertragen, sondern auch einander gegenseitig erleichtern und unterstützen... — es ist nicht bloß ein süßer Traum, nicht eine bloß täuschende Hoffnung, der sichere Grund beruht auf dem notwendigen Fortgang der Menschheit — sie soll, sie wird, sie muß diesem Ziele immer näher kommen."40 An anderer Stelle: „Unter das Joch der Autorität, als euer Nacken noch ain biegsamsten war, eingezwängt, mühsam in eine künstlich erdachte Denkform, die der Natur widerstreitet, gepreßt, durch das stete Einsaugen fremder Grundsätze, das stete Schmiegen unter fremde Pläne, durch tausend Bedürfnisse eures Körpers entselbstet, für einen höheren Aufschwung des Geistes, und ein starkes hehres Gefühl eures Ich verdorben könnt ihr urteilen, was der Mensch könne? — sind eure Kräfte der Maßstab der menschlichen Kräfte überhaupt? Habt ihr den
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goldenen Flügel des Genius je rauschen gehört? — nicht dessen, der zu Gesängen, sondern dessen, der zu Taten begeistert. Habt ihr je ein kräftiges: ich will eurer Seele zugeherrscht, und das Resultat desselben... nach jahrelangem Kampf hingestellt und gesagt: hier ist es? Fühlt ihr euch fähig, dem Despoten ins Angesicht zu sagen: töten kannst du mich, aber nicht meinen Entschluß ändern? . . . Der Mensch kann, was er soll; und wenn er sagt: ich kann nicht, so will er nicht."41 Auf der Grundlage dieser opitimistischen Haltung entwickelte Fichte seine Philosophie, die er selber als „das erste System der Freiheit"42 bezeichnet, und die nichts anderes sein soll als theoretische Begründung freier menschlicher Entscheidung, Proklamierung weitgehender Unabhängigkeit des Menschen von jedweder Autorität. Und eben dazu finden sich im „Beitrag" bereits durchaus klar umrissene, theoretisch durchdachte Thesen, so daß von hier aus — um etwas zu übertreiben — die „Wissenschaftslehre" als eine breitere theoretisch-philosophische, das philosophische Gedankenmaterial der Zeit verarbeitende systematisch-philosophische Begründung dieser Thesen erscheint. Gegen die Behauptung der Fopularpihilosophie der Aufklärung, daß die Menschheit die Geschichte unter anderem auch deshalb brauche, um die Weisheit der Vorsehung in Ausführung ihres großen Planes zu bewundern, die noch in der Geschichtsphilosophie Kants eine Rolle spielte, wendet Fichte, indem er auf die schöpferische Tat des Menschen verweist, ein: „Aber das ist nicht w a h r . . . Man könnte mit ungleich größerer Wahrscheinlichkeit in dem bisherigen Gange der Schicksale der Menschheit den Plan eines bösen menschenfeindlichen Wesens zeigen, das alles auf das höchstmöglichste sittliche Verderben und Elend derselben angelegt hätte. Aber das wäre auch nicht wahr. Das einzig Wahre ist wohl folgendes: daß ein unendlich Mannigfaltiges gegeben ist, welches an sich wieder gut noch böse ist, sondern erst durch die freie Anwendung vernünftiger Wesen eins von beiden wird, und daß es in der Tat nicht eher besser werden wird, als wir besser geworden sind."43 Der Mensch kann aber nur durch sein
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eigenes Tun besser werden. Hieraus entspringt Fichtes Auffassung, daß alles auf die freie schöpferische Tat des Menschen ankommt — eine Überzeugung, die er vor allem im Zusammenhang mit seiner Betrachtung der Französischen Revolution gewinnt. Nachdem Fichte einmal zu dieser Überzeugung gekommen war, richtete er sein Bemühen darauf, für diese Überzeugung auf der Basis der Kantschen Philosophie eine theoretische Grundlegung zu liefern. Die Ausarbeitung der „Wissenschaftslehre" ist vornehmlich diesem Vorhaben gewidmet. Der Ausgangspunkt der „Wissenschaftslehre" ist verstiegen. An den Anfang stellt Fichte das absolute Ich, das alle Tätigkeiten der Vernunft und die Mannigfaltigkeit der Außenwelt aus sich heraus entwickelt. Das aibsolute Ich ist nicht das individuelle Ich. Das individuelle Ich ist zwar jene Bestimmimg, in der das absolute Ich als Besonderes in Erscheinung tritt, in der es gleichsam die Genesis der Tätigkeiten der Vernunft und der Mannigfaltigkeit der Außenwelt vornimmt — allein in der „Wissenschaftslehre" hat sich — das ist Fichtes strenge Forderung — das individuelle Ich zu vergessen. 44 Anders verhält es sich im „Naturrecht" und in der „Sittenlehre". Im „Naturrecht" wird das absolute Ich, das in der „Wissenschaftslehre" in der intelligiblen Welt verbleibt, zu einem Sinnenwesen, das an der Natur (und an der Gesellschaft) seine Schranke findet. Diese Schranke ist verantwortlich diafür, daß das absolute Ich im Bereich des „Naturrechts" noch nicht zur uneingeschränkten Autonomie vordringt, d. h. seine eigentliche Bestimmung noch nicht erfüllen kann, die ihm von der „Wissenschaftslehre" zugewiesen worden ist. D,ie Realisierung seiner eigentlichen Bestimmung erreicht das absolute Ich in der „Sittenlehre". Im Bereich der* „Sittenlehre" wird die Schranke, die dem absoluten Ich im „Naturrecht" durch die Natur (und Gesellschaft) gesetzt ist, aufgehoben, indem diese der menschlichen Freiheit unterworfen werden. 45 Es ist deutlich, daß Fichtes Philosophie als Ganzes genommen werden muß. Die Herauslösung der „Wissenschaftslehre" aus
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diesem Ganzen führt nicht zu ihrem Wesen. Auch ist die „Wissenschiaftslehre" nicht die Hauptsache, zu der das „Naturrecht" und die „Sittenlehre" lediglich im Verhältnis der Ausführung stünden: „Wissenschaftslehre", „Naturrecht" und „Sittenlehre" bilden eine Einheit, sind drei Momente ein und derselben Sache. Nimmt man Fichtes „Hang nach Tätigkeit und Wirkenwollen" hinzu, so ist leicht zu erkennen, welchem der drei Momente Pichte den Vorzug gab, und die „Wissenschaftslehre" erscheint dann nicht als Hauptsache, sondern als theoretische Vorbereitung auf das „Naturrecht" und die „Sittenlehre". Die in der „Wissenschaftslehre" entwickelten abstrakten Gedankengänge sind deshalb für Fichte nicht Selbstzweck, keine bloße theoretische Angelegenheit, stellen nicht nur Prinzipien dar, die auf die intelligible Welt beschränkt bleiben, sondern sollen in der Welt der Erscheinungen Geltung erhalten. Die „Wissenschaftslehre" erreicht erst im „Naturrecht" und in der „Sittenlehre" ihre Bewährung. Erinnert man sich in diesem Zusammenhang, welcher Art die Ausführungen im „Naturrecht" und in der „Sittenlehre" sind, dann kommt Fichtes Grundanliegen deutlich zum Vorschein: theoretische Begründung autonomer Tätigkeit des Menschen zum Zwecke der Herstellung menschenwürdiger, d. h. mit dem Sittengesetz übereinstimmender gesellschaftlicher Verhältnisse. Die abstrakten und auch verstiegenen Gedankengänge der „Wissenschaftslehre" dürfen über diesen Sachverhalt nicht hinwegtäuschen. Daraus erklärt sich auch, daß für Fichte alle Intelligenz, alles Bewußtsein vor allem ein Handeln ist. Dieses Handeln hat für Fichte in der „Wissenschaftslehre" den Charakter, daß alles Erkennen zunächst wesentlich Anschauung ist. Will man dem Wesen der Handlungen des Bewußtseins näherkommen, so hat ihre Untersuchung, insofern die „Wissenschaftslehre" als erstes das reine, das von allen Objekten absehende Denken zum Gegenstand hat 16 , durch intellektuelle Anschauung zu erfolgen. Das „dem Philosophen angemutete Anschauen seiner Selbst im Vollziehen des Aktes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intel-
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lektuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewußtsein, daß ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue." 47 Durch die intellektuelle Anschauung wird — nach Fichte — das absolute Ich nicht als Sein und damit als Ruhe, Unbewegtheit, sondern als Handeln und damit als Tätigkeit, Bewegtheit erkannt. Deshalb ist das absolute Ich nicht Tatsache, sondern Tathandlung. Die Tathandlung geschieht in zwei Formen: durch das Sätzen und Entgegensetzen. Da es außer dem Ich nichts Höheres gibt, so wird in beiden Fällen das Ich gesetzt oder entgegengesetzt. Im ersten Fall setzt das Ich sich selbst, im zweiten Fall setzt sich das Ich sich selbst entgegen, d. h., das Ich setzt das Nicht-Ich.48 Es ist in den verschiedenen Entwürfen der „Wissenschaftslehre" immer wieder interessant zu beobachten, wie sich Fichte bemüht, nachzuweisen, daß ich nur „etwas weiß, weil ich es tue", und daß ich nur dann in der Lage bin, etwas zu tun, wenn es „durch die Freiheit unseres nach einer bestimmten Richtung hin wirkenden Geistes" geschieht.4" Handeln, Tätigkeit sind für Fichte das Erste. Der Gegenstand der „Wissenschaftslehre" ist „nicht ein toter Begriff, der sich gegen ihre Untersuchung nur leidend verhalte, und aus welchem sie erst durch ihr Denken etwas mache, sondern es ist ein Lebendiges und Tätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst Erkenntnisse erzeugt, und welchem der Philosoph bloß zusieht. Sein Geschäft in der Sache ist nichts weiter, als daß er jenes Lebendige in zweckmäßige Tätigkeit versetze, dieser Tätigkeit desselben zusehe, sie auffasse, und als Eins begreife." 50 Oder im „System der Sittenlehre": Das Ich setzt die „absolute Tätigkeit zufolge des Postulats, als — sich selbst; verstehe, als identisch mit sich, dem intelligenten. Jene Absolutheit des reellen Handelns wird sonach hierdurch Wesen einer Intelligenz, und koimmt unter die Botmäßigkeit des Begriffs; und dadurch wird sie eigentlich Freiheit: Absolutheit der Absolutheit, absolutes Vermögen, sich selbst absolut zu machen. — Durch das Bewußtsein seiner Absolutheit
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reißt das Ich sich selbst — von sich selbst — los, und stellt sich hin als selbständiges Die Intelligenz hat hier nicht bloß das Zusehen, sondern sie selbst, als Intelligenz, wird — für sich (wie sich dies versteht, denn nach einem anderen Sein wird hoffentlich niemand fragen) absolute reelle Kraft des Begriff es. Das Ich, als absolute Kraft des Bewußtseins, reißt sich los — vom Ich, als gegebenem absoluten, ohne Kraft und Bewußtsein."51 Hier wird das Zweite von Fichtes Grundidee deutlich: Zur „absoluten reellen Kraft des Begriffes" kann die Intelligenz nur unter der Bedingung der Freiheit der Vernunft werden. Hinzu kommt ein Drittes, das oft übersehen wird. Das Handeln unter der Bedingung der Freiheit des Geistes drängt bei Fichte nach Realisierung, nach Bewährung. Das Reich solcher Bewährung aber ist für Fichte immer das Nicht-Ich, der konkrete Fall, das bestimmte Objekt52, in der Sprache des Systems: die Bereiche des „Naturrechts" und der „Sittenlehre". Denkt man daran, in welchem Ausmaß Elemente des Zeitbewußtseins gerade in Fichtes „Naturrecht" und „Sittenlehre" eingegangen sind, dann wird offensichtlich, daß auch die „Wissenschaftslehre" eine Form theoretischer Verarbeitung des historischen Prozesses der Zeit darstellt. Hegel bewies einen klaren Blick, wenn er Fichtes Philosophie als Theoretisierung eines geschichtlichen Bewußtseins ansah.53 IV
Fichtes subjektiv-idealistische Philosophie ist oft als Perversion menschlichen Denkens bezeichnet worden.54 Zweifellos besteht dieser Vorwurf zu Recht und soll nicht bestritten werden» Er erweist sich vor allem dann als völlig zutreffend, wenn man ihn innerhalb des erkenntnistheoretischen Bereichs erhebt. Eine Theorie, die in der Behauptung gipfelt, daß der Außenwelt kein wirkliches Sein zukommt, daß nur das Ich wirklich existiert, kann in der Tat als Perversion menschlichen Denkens bezeichnet werden.
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Allein mit einer solchen Feststellung ist über die Fichtesche Philosophie konkret noch nichts avisgesagt.55 Zunächst ist das eben Gesagte zu engänzen: Für Fichte existiert, wie wir eben sehen konnten, das Ich nicht als bloßes Ich schon wirklich, sondern nur, sofern es handelt. Fichtes Ich ist ein Tat-Ich und sucht sein Kriterium in der Tathandlung. Gerade deshalb aber ist es notwendig. Fichtes Philosophie nicht bloß erkenntnistheoretisch zu beurteilen, wie es gemeinhin geschieht und was immer nur die Feststellung von der Perversion menschlichen Denkens bestätigen kann, sondern im Rahmen der Gesamtproblematik der Zeit zu sehen. Das Grundproblem der Fichteschen Epoche ist das Phänomen der Revolution. Fichte bezieht dieses wie kaum ein anderer deutscher Denker jener Zeit in seine philosophischen Betrachtungen ein. Er versucht, die von der klassischen bürgerlichen Revolution aufgeworfenen historisch-politischen Fragen in philosophische Kategorien umzusetzen. Vor allem eine Frage stellte sich durch die Französische Revolution energisch der Reflexion: wie ist geschichtliche Entwicklung, wie ist die Ablösung einer historisch gewordenen Form der Gesellschaft durch eine andere eigentlich möglich, und wie kann sie philosophisch «-klärt werden? Offenbar stehen sich hier zwei Erscheinungen schroff gegenüber, deren Vermittlung unmöglich zu sein scheint: auf der einen Seite die objektiven, vom menschlichen Bewußtsein und Willen unabhängigen Gesetze des Geschichtsprozesses — auf der anderen Seite die ihn durchbrechende menschliche Aktivität und Tätigkeit. In der philosophischen Sprache der Zeit ausgedrückt: die Erklärung des Gegensatzes von Notwendigkeit (objektive Gesetze des Geschichtsprozesses) und Freiheit menschliche Aktivität, Tätigkeit) wurde für Fichte zum Hauptproblem seiner philosophischen Bemühungen. Die Fichtesche Lösung ist bekannt: die gesamte Außenwelt ist Produkt des Geistes, seine freie sittliche Tat. Man kann fragen, ob der von Fichte gezogene Schluß in dieser Verstiegenheit notwendig war — ab es notwendig war, die ge-
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samte Außenwelt ins Bewußtsein zu verlegen. Ideengeschichtlich gesehen hatte Fichte kaum eine andere Wahl. Indern Fichte von Kant ausging, stand er auf der Höhe der Zeit. Ein Zurückgehen auf vorkantische Lösungen war nicht möglich, ein Stehenbleiben auf dem Standpunkt Kants ebensowenig. Erhard Albrecht stellt fest: „Die Tendenz hinsichtlich der Fortentwicklung der Kantschen Philosophie mußte zwangsläufig auf eine Überwindung des sich bei Kant so schroff offenbarenden Gegensatzes zwischen der Erscheinungswelt... und der Welt der Dinge an s i c h . . . hinauslaufen. Allerdings war eine Anknüpfung an vorkantische Anschauungen nicht gut m ö g l i c h . . . Kant war es gewesen, der sehr tiefgründig in seiner ,Kritik der reinen Vernunft' die Schwächen dieser (der vorhergehenden — M. B.) Systeme aufgedeckt hatte, wenn er auch nicht den Weg aufzeigen konnte, der zu ihrer Überwindung hätte führen können." 56 So war Fichte gezwungen, von Kant auszugehen, konnte aber unmöglich bei ihm stehenbleiben, um so weniger, als er seine Theorie im Hinblick auf die akute Revolution und unter ihrem Eindruck entwickelte. Das Verhältnis Kant — Fichte ist das von vorrevolutionärem und revolutionärem Stadium der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn Marx einmal die Philosophie Kants als „die deutsche Theorie der französischen Revolution" bezeichnete 67 , so trifft das in einem viel weiteren Sinne auf Fichte zu. Fichte entwickelt direkt eine Theorie der bürgerlichen Revolution als System des geschlossenen Vernunftstaates, entwirft gleichsam einen Katalog der „natürlichen Rechte" des Menschen als Citoyen in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Möglichkeit ihrer Verwirklichung konnte er nur dadurch versprechen, daß er das Ich des Citoyen absolut setzte. Daß Fichte damit theoretisch den geschichtlichen Sollstand übersprang und überspringen mußte, ist offensichtlich. Aber auch die Revolution selbst hatte ihn im Jakobinerstaat übersprungen. 58 Sie wurde durch den Thermidor auf ihren Normalwert zurückgeführt. Die Zurückführung Fichtes auf den Normalwert unternahm Hegel als Denker des nachrevolutionären Stadiums. Anders: So wie
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die historische Entwicklung in Frankreich mit dem Thermidor auf den geschichtlichen Sollstand zurücksprang, führte Hegel die Theorie, die mit Fichte über diesen Sollstand hinausgegangen war, wieder auf ihren Normalwert zurück — freilich unter Preisgabe ihrer revolutionären Inhalte: der Katalog der „natürlichen Rechte", das System des geschlossenen Vernunftstaates Fichtes wird von Hegel durch die Analyse der Formen und Inhalte des „geistigen Tierreichs" ( = der kapitalistischen Gesellschaftsordnung) ersetzt. Es ist nicht zufällig, daß an die Stelle der von Kant und noch mehr von Fichte geübten Rousseau-Interpretation bei Hegel historische und ökonomische Studien treten, obwohl auch er dem Genfer Citoyen verbunden bleibt. Damit ist schon gesagt, daß Fichte wohl eine Problemlösung gegeben, das Problem selber aber nicht gelöst hat. v Fichtes Philosophie ist als die Vereinigung des Ich denke der „Kritik der reinen Vernunft" mit dem Ich will der „Kritik der praktischen Vernunft" bezeichnet worden.59 Das ist richtig — allerdings unter der Voraussetzung, daß die Vereinigung des Kantschen Ich denke und Ich will durch Fichte in Beziehung zum konkreten historischen Prozeß der Zeit gesetzt und in ihrer Spezifik als aus ihm geboren aufgewiesen wird. Denn die Art und Weise dieser Vereinigung, der ihr immanente Sinn und das mit ihr verfolgte Ziel sind keine bloß mögliche Form theoretischer Ausgestaltung und Weiterentwicklung vorgefundenen Gedankenimaterials, sondern ideologischer Reflex eines historischen Prozesses und weisen auf den Unterschied zwischen Kant als einem Denker des vorrevolutionären und Fichte als einem Denker des akuten revolutionären Stadiums der bürgerlichen Gesellschaft hin. Alexander Abusch hat in seinem „Irrweg einer Nation" in großen Zügen die beiden Seiten der dem Fichteschen Denken eigenen Dialektik festgestellt. Er macht mit Recht darauf aufi
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merksam, d a ß Fichte i m Unterschied zu Kant „stärker und realistischer dem deutschen Leben zugewandt w a r . . . , obwohl sein philosophisches System die höchste Steigerung des suibjektivistaschen Idealismus w a r : die A n e r k e n n u n g alles Seins n u r durch das Bewußtsein des .Ich', die Leugnung der objektiven Realität". Und Albusch macht weiter kenntlich: „Fichtes .Reden an die deutsche Nation' richteten sich nicht gegen die aus F r a n k reich kommenden Ideen, denen er selbst anhing; e r hatte bei seiner Verjaigung aus J e n a 1799 sich selbst .einen verschrieenen Demokraten' genannt. Fichte wollte das Tyrannische in Napoleon, dessen Europa u n t e r w e r f e n d e ,Universalmanarchie', zerstören helfen. Während d e r junge preußische Dichter Heinrich von Kleist zeitweilig (im historischen G e w ä n d e seiner H e r mannsschlacht') einem nationalistischen Taumel gegen den f r e m d e n Eroberer verfallen konnte, leuchtete stets durch Fichtes gewaltige Sprache sein tiefes menschenibrüderliches Gefühl f ü r die wirkliche,Bestimmung des Menschen'." 00 In Fichtes Denk e n k o m m t in d e r Tat ein realistischer Zug zum Vorschein, der m i t einem tiefen humanistischen Anliegen vereinigt ist. Aus ihm spricht Sinn f ü r historische Realitäten u n d Tendenzen, v e r b u n d e n m i t einem unerschütterlichen Glauben an die Größe des Menschen. Vom letzten h e r gesehen, ist Fichtes Werk in seinem Grundbestand „eine wuchtige Quader im Bau des deutschen Humanismus". 6 1 Dias ist die eine Seite. Die a n d e r e Seite: „Als Fichte im S t r o m e d e r Zeit trieb u n d oft von seinen Wellen überspült wurde, mochten sich die Proportionen in seinem Wollen manchmal etwas verschieben . . ,"82 Die Proportionen verschieben sich vor allem in Fichtes theoretischer Philosophie im engeren Sinne, der „Wissenschaftslehre", u n d hier in erster Linie in ihren erkenntnistheoretischen P a r tien. Es liegt der Versuch nahe, mit Fichtes subjektivem Idealismus, m i t seinen erkenntnistheoretischen Verstiegenheiten sein ganzes Denken zu verwerfen. Allein es m u ß betont werden, d a ß der Fichte des subjektiven Idealismus nicht d e r ganze Fichte,
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sondern nur ein Moment der komplexen Erscheinung Fichte ist. Andererseits geht es nicht an, die realistischen Momente in Füchtes Denken zu isolieren, aus ihren subjektiv-idealistischen Verstrickungen herauszulösen und sie dadurch zu überschätzen. Es ist das dialektische Ineinander beider Seiten, die diametral entgegengesetzt zu sein scheinen, zu beachten. Beide Seiten sind als zu einem System gehörig anzusehen; ihre Einheit und ihre nur aus den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit erklärbaren Besonderheiten sind in Beziehung aufeinander zu erfassen und darzustellen. Nur so wird man Fichte Gerechtigkeit widerfahren lassen, und nur so wird in Fichites Philosophie das Große vom Mäßigen, Kleinen und wohl auch Kleinlichen geschieden werden können. Ein solches Vorgehen ist nichts weiter als Bloßlegung und Darstellung der Fichtes Denken selbst immanenten Dialektik. In diese Problematik spielt auch Fichtes Verhältnis zur Wirklichkeit hinein. Mario Rossi hat jüngst darauf aufmerksam gemacht, daß bei Hegel „ein entschiedenes Ja-sagen zur Welt" an die Stelle des bei Kant im Ansatz und bei Fichte vorhandenen „Willens zu ihrer Veränderung" tritt.63 Dieses Ja-sagen Hegels zur Wirklichkeit hängt eng mit dem Perspeiktivwechsel zusammen, der Hegel als einem Denker des nachrevolutionären Stadiums der bürgerlichen Gesellschaft, im Unterschied zu Fichte, aufgegeben ist. Fichte hatte trotz der ihn umgebenden elenden deutschen Wirklichkeit eine gesellschaftlich-soziale Perspektive, die er vornehmlich im „Naturrecht" und der „Sittenlehre" entwickelte. Fichte konnte diese Perspektive haben, weil er noch in der Lage war, sich an den durch die Französische Revolution umgewandelten gesellschaftlichen Zuständen zu orientieren. Dieses Orientieren am französischen Vorbild — verbunden mit einer rationalistischen naturrechtlichen Vertragstheorie — involviert, wenn es in Beziehung auf die deutschen Verhältnisse der Zeit geschieht, was bei Fichte der Fall ist, revolutionäre, auf die Veränderung des gegebenen gesellschaftlich-sozialen Schemas ausgehende Inhalte — freihich unter ihrer Abbiegung ins A b -
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Manfred Buhr
strakt-Idealis tische: Fichtes Ethik des Sollens ist das beste Beispiel dieser Abbiegung. Es ist nun bezeichnend, daß Hegel zwar den abstraikt-idealistischen Charakter der Fichteschen Sollens-Ethiik klar gesehen und ihre theoretischen Fundamente scharf kritisiert hat, die unter der abstrakt-idealistischen Hülle verborgenen revolutionären Inhalte jedoch nicht erkannte. Der Grund hierfür ist, daß es Hegel nicht mehr möglich war, sich am französischen Vorbild zu orientieren, und ihm demzufolge, zumindest in seiner frühen Zeit, eine gesellschaftlich-soziale Perspektive fehlte. Dieser Tatbestand ist verantwortlich dafür, daß Hegel die Fichtesche Sollens-Ethik zwar theoretisch zerschlug, aber niemals aufgehoben hat. Denn ihre theoretische Zerschlagung erfolgte, indem ihre revolutionären Inhalte preisgegeben wurden. Rossi vermerkt, daß es sich im Unterschied zu Fichte für Hegel nicht mehr darum handeln wird, „auf die Wirklichkeit einzuwirken, um sie zu verändern, da das wahre Ziel der Weisheit und also die Aufgabe der Philosophie im Gegenteil darin besteht, zur Begreifung von ,dem was ist' zu gelangen". Nachdem Hegel diesen Standpunkt einmal gewonnen hatte, und er gewann ihn sehr früh, ist seine „Kritik der Kantschen und Fichteschen Philosophie stets von der Kritik und der verächtlichen, oft sogar auch unwilligen Ablehnung des Sollens begleitet".64 Der geschilderte Vorgang demonstriert deutlich, daß das Problem des Eribes in seiner ganzen Kompliziertheit und Komplexität in letzter Instanz von der Warte der bürgerlichen Ideologie aus nicht zu lösen ist. Das Problem des Erbes kann nur auf dem Boden des Marxismus-Leninismus folgerichtig gestellt und gelöst werden, weil der Marxismus-Leninismus als Ideologie der Arbeiterklasse eine konkrete gesellschaftlich-soziale Basis und Perspektive zugleich hat, den Sozialismus-Kommunismus. Fichte hat von dem abstrakt-idealistischen Charakter seiner Ethik und der damit zusammenhängenden Problematik nach 1800 etwas geahnt. Daher das starke Schillern der aus dieser Zeit stammenden Entwürfe der „Wissenschaftslehre". Vor allem
Spekulation und Handeln
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k o m m t dieses in einem jetzt in Fichtes Denken sichtbaren Zug zum objektiven Idealismus zum Avisdruck. Die Literatur h a t diesen Sachverhalt bis h e u t e nicht genügend geklärt. Die einschlägige bürgerliche philosophiehistorische Literatur des 19. J a h r h u n d e r t s w u ß t e davon noch. 65 Sie brachte Fichtes A n sätze zum objektiven Idealismus nach 1800 meist mit Schelling in Zusammenhang, w ä h r e n d d e r winkliche G r u n d das n u n m e h r auch f ü r Fichte fehlende französische Vorbild war, w a s d e r Philosoph n u r ungern, n u r m i t Widerwillen u n d niemals d i r e k t zugab. Aber i m m e r h i n w a r die bürgerliche philosophiehistorische Literatur des 19. J a h r h u n d e r t s , indem sie den F a k t v e r merkte, d e r Wahrheit n ä h e r als die d e r J a h r h u n d e r t w e n d e u n d alle spätere, die nichts m e h r von der aufgezeigten Problematik weiß, sie — auch faktenmäßig — nicht m e h r kennt, — oder g a r die gegenwärtige, die d i e großen philosophischen S y s t e m e d e r Vergangenheit u n d i h r e Schöpfer einer zweifelhaften Psychologie überantwortet. Wir zitieren f ü r sie stellvertretend Max Wundt, einst ein f ü h r e n d e r bürgerlicher Fichte-Forscher: In d e m „geschichtlichen Hin und Her treten sich offenbar auch v e r schiedene seelische Grundhaltungen gegenüber, die eine größere Beständigkeit besitzen, als geschichtliche Bewegungen. J e d e r Denker w ä h l t die Richtung, die seiner G r u n d h a l t u n g e n t spricht . . . So gesehen, springt alsbald in d i e Augen, d a ß w i r es hier (der AJbfolge der philosophischen Systeme in d e r Vergangenheit — M. B.) mit d e m Gegensatz des A u s w ä r t s - und Einwärtsgewandten zu t u n haben, den — übrigens im Anschluß an Schiller — besonders Carl Gustav J u n g herausgearbeitet hat. Dem einen verkörpert sich sein Denken ohne weiteres im Sein, u n d d e r Begriff ist ihirn d a h e r Ausdruck des Seienden selber, w ä h r e n d d e r a n d e r e m i t d e r Denkibewegung seines I n n e r e n beschäftigt ist Das Neue wird alt, a b e r das Alte wird auch •wieder neu, u n d so lebt in vergänglichen Gestalten d e r gleiche unvergängliche iGeist". 66 Es erübrigt sich, darauf etwas zu e r widern : das Orgianon echter Philosophiegeschichtsschreiibung ist nicht die Psychologie, sondern die Geschichte.
ANMERKUNGEN
Fichte schrieb bzw. trug in Vorlesungen vor nicht weniger als neun verschiedene Fassungen der „Wissenschaftslehre": 1794 in Jena (erschienen 1794, Auflage 1802), 1797 in Jena (erschienen 1797 die zwei Einleitungen und ein Bruchstück, eine Vorlesungsnachschrift wurde 1937 von H. Jacob herausgegeben), 11801 in Berlin (1845 von I. H. Fichte herausgegeben), 18021/03 in Berlin (noch nicht veröffentlicht), 1604 in Berlin