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German Pages 288 Year 1982
Johann Gottlieb Fichte Einführung in seine Philosophie
Joachim Widmann
w DE
1982
Walter de Gruyter • Berlin • New York
SAMMLUNG GÖSCHEN 2219 Dr. Joachim Widmann Landeskirchenmusikdirektor, München
CIP-Kurztitelaufhahme der Deutschen Bibliothek Widmann, Joachim: Johann Gottlieb Fichte : Einf. in seine Philosophie / von Joachim Widmann. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1982. (Sammlung Göschen ; 2219) ISBN 3-11-007783-3 NE: GT
© Copyright 1982 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals G. J. Göschen' sehe Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., 1000 Berlin 30 - Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (duren Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden - Printed in Germany - Satz und Druck: Kupijai 8c Prochnow, Berlin - Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe GmbH, Berlin
Abkürzungen GA
SW
Johann Gottlieb Fichte - Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Herausgegeben von Reinhard Lauth, Hans Jacob und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Johann Gottlieb Fichte - Sämmtliche Werke. Herausgegeben von Immanuel Hermann Fichte. Band I-VIII Berlin 1845-1846. Band IX-XI: Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke I-III. Bonn 1834-1835.
WL
Wissenschaftslehre
WL 1801/02
Johann Gottlieb Fichte - Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02. Herausgegeben sowie mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Reinhard Lauth. Hamburg 1977.
WL 18042
Johann Gottlieb Fichte - Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804. Gereinigte Fassung. Herausgegeben von Reinhard Lauth und Joachim Widmann.
Schulz
Johann Gottlieb Fichte - Briefwechsel (2 Bände). Herausgegeben von Hans Schulz. Leipzig 1930 (Nachdruck: Hildesheim 1967).
Joachim Widmann Widmann, Grundstruktur Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre 1804 2 . Hamburg 1977. Joachim Widmann Widmann, Gedanken
„ . . . denn wohlverstanden hat er recht" Gedanken zu Fichtes Jenaer Bemerkungen über Leibniz. In: Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte. S. 4 5 6 - 4 7 8 . Herausgegeben von Klaus Hammacher und Albert Mues. Stuttgart-Bad Cannstatt 1979.
Bei Fichte-Zitaten sind in der Regel die auch in der GA vermerkten Seitenzahlen der SW angegeben. Die Lesart folgt jedoch den neuesten kritischen Ausgaben. Um der leichteren Verständlichkeit willen sind Orthographie und Interpunktion behutsam den heutigen Gepflogenheiten angepaßt.
Inhalt Abkürzungen Einleitende Übersicht Fichtes Leben
3 9 13
Persönlichkeit und Werk
19
Fichtes Konzeption der Philosophie
26
Lehre vom Wissen
29
1. Fichtes Arbeit an der Wissenschaftslehre a) Die Problemstellung b) Die Schwierigkeiten der Ausführung
29 29 33
2. Fichtes Schriften über die Wissenschaftslehre
38
3. Fichtes Einführungskollegs in die Wissenschaftslehre
43
4. Die „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" (1794/95) a) Analyse der Tathandlung b) Das Wesen endlicher vernünftiger Naturen c) Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit d) Die Reflexionsform des individuellen Selbstbewußtseins .
46 46 54 54 60
5. Der Vortrag der Wissenschaftslehre im Frühjahr 1804 a) Phänomenologie des Wegs zur Vernunft- und Wahrheitslehre b) Die Vernunft- und Wahrheitslehre c) Phänomenologie des Wegs zur Erscheinungslehre
65 67 71 72
6. Zum „mathematischen Verfahren" der Wissenschaftslehre .
79
Angewandte Philosophie
85
1. Teil: Die Grundlagen der Anwendung
85
A. Das Applikationsproblem 1. Die formale Aufgabenstellung der Applikation 2. Das inhaltliche Problem der Applikation 3. Zur Begriffsdichotomie der Applikation 4. Fremdbewußtheit und Selbstbewußtheit
85 85 88 92 97
6
Inhalt
B. Interpersonalität
101
C. Exkurs: Die Konstitution der Objekte 1. Analyse der Einbildungskraft 2. Das Phänomen der Grenze 3. Die elementaren Binnengrenzen des Bewußtseins 4. Die kategorialen Grenzbegriffe a) Die Kategorien der Relation b) Die Kategorien der Modalität c) Die Kategorien der Quantität d) Die Kategorien der Qualität 5. Der Begriff vom Raum 6. Das Problem der Zeit
104 106 109 111 113 113 117 119 121 122 125
D. Die Reflexionsformen und ihr Zusammenhang
128
2. Teil: Die Anwendungsbereiche
131
I.
131 135 139 140 143 147
Natur 1. Anorganische Natur 2. Organische Natur 3. Animalische Natur 4. Menschliche Natur 5. Die Natur der Sprache
II. Recht, Staat und Gesellschaft 1. Grundlage des Naturrechts (1796/97) 2. Die Rechtslehre von 1812 3. Die Staatslehre von 1813 4. Politische Schriften 5. Die Reflexionsform des Rechts 6. Die Idee der vollkommenen Gesellschaft
152 157 161 163 169 172 174
III. Ethos und Geschichte 1. Das System der Sittenlehre von 1798 2. Der erste Geschichtsentwurf (1805) 3. Das Problem der idealen Erziehung 4. Die Uberwindung der Negationsdialektik 5. Das tatbegründende Wissen der Ideen 6. Sittenlehre und Geschichtsdenken 7. Der zweite Geschichtsentwurf (1813) 8. Die Reflexionsform des Ethos
178 179 187 195 202 209 213 217 224
Inhalt
7
IV. Religion 1. Versuch einer Critik aller Offenbarung (1792) 2. Der Atheismusstreit 1798/99 3. Die Absolutheit Gottes 4. Die Religionslehre (1806) 5. Der Sohn Gottes 6. Die Realität des Himmelreichs 7. Der Begriff der Kirche 8. Die Reflexionsform der Religion 9. Die religiöse Fundierung der Ehe
229 229 234 236 240 244 248 255 261 263
Anhang: Zur Problemorientierung more geometrico
266
Zeittafel
277
Literaturhinweise
279
Stichwortverzeichnis
282
Einleitende Übersicht
9
Einleitende Übersicht Fichtes zwanzigjähriges philosophisches Wirken glich der Bahn eines gewaltigen Meteors: Urplötzlich strahlte es auf, stand binnen kurzem im Zenith seiner stärksten Leuchtkraft, bis seine Bahn ebenso rasch aus dem Blickfeld der Zeitgenossen entschwand. Der Nachwelt blieb das Rätsel, was von seiner Energie in dieser historischen Feuerbahn sich verzehrte und mit ihr verglühte - und was sich als potentielle, von den Nachkommen zu entbindende Kraft hinter dem Nachthorizont seiner Zeit in das Erdreich der Geschichte bohrte. So blieb auch lange die postume Auseinandersetzung mit Fichte von privaten oder kollektiven Vor-Urteilen über die vitale Bedeutung dieses Rätsels geprägt: Man grub so tief, wie man es für lohnend hielt. Und jeweils schien der Ertrag die Erwartungen zu bestätigen, ob sie nun flach oder tief waren - denn natürlicherweise lag näher an der Oberfläche, was leichteres Gewicht hatte, während das Schwerste in die untersten Schichten gedrungen und entsprechend schwierig zu gewinnen war. Schwer zu erschließen waren aber gerade jene Bereiche, in denen nach Fichtes oft wiederholter Auskunft der Verständnisschlüssel zu seiner gesamten Philosophie liegt: die Texte zur „Wissenschaftslehre". Fichte hat zeitlebens mit unverändertem Nachdruck betont, nur durch sie lasse sich auch in den scheinbar leicht und populär zugänglichen Dokumenten seines Denkens dem Verstehen die tragende Bedeutungsschicht eröffnen. Das Wort eines Menschen ernst zu nehmen, dürfte wie im sozialen Miteinander auch in der Philosophie die humanste Haltung sein. Wir werden einigen Gewinn davon haben, wenn wir einem so durchdringenden und genialen Denker wie Fichte zubilligen, daß er für solche Aussagen Gründe haben konnte, deren Tragweite unsern Vorurteilen und prominenten Kronzeugen nicht genügend bewußt sein mag.
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Einleitende Übersicht
Auf unser eigenes kritisches Nachdenken brauchen wir bei einer solchen Haltung keineswegs zu verzichten. Im Gegenteil: Kritische Philosophiezu deren herausragenden Erscheinungen die Fichtesche gehört, läßt sich weder aneignen noch verständlich machen, wenn auf den Gebrauch der eigenen Urteilsfähigkeit verzichtet wird. Zur Urteilsfähigkeit gehört allerdings auch Einsichtsfähigkeit, die sich dem besseren Argument nicht verschließt, sondern öffnet. Unkritisch ist nicht Erkenntnisbereitschaft, sondern eine Rundumverteidigung mit Schlagworten, die im Effekt kaum zu mehr taugt, als Schlagworte mit Schlagworten zu erschlagen, - um so nachhaltiger aber am Selbstdenken hindert. Fichtes Philosophie gegenüber hat es an solchen Schlagworten nicht gefehlt. Begriffe wie Ichphilosophie, subjektiver Idealismus, Reflektiersystem, Nihilismus wurden gegen sie ins Feld geführt, und man glaubte sie darin fassen und erledigen zu können. Später meinte man sie auch mit einander so widerstrebenden Nomenklaturen wie revolutionär, bürgerlich, anarchisch, totalitär, mystisch klassifizieren zu können. Wir wollen keiner dieser Etikettierungen das Wort reden, sondern das Wort der Philosophie Fichtes und ihren zentralen Denkbewegungen lassen. Dabei gilt es zwei charakteristische Eigenarten in Fichtes Schaffen zu beachten. Fichte hat seine Philosophie fast ausschließlich im lebendigen Kontakt mit einer Hörerschaft vorgetragen, und ihre didaktische Anlage hat stets diese lebendige Situation berücksichtigt. Auch was er selber in Buchform erscheinen ließ, war nur selten im Blick auf ein anonymes Lesepublikum entworfen; zumeist waren es von seiner Hand besorgte Druckfassungen von Vorlesungsmanuskripten. Daß Fichte sich in ungewöhnlichem Maß auf den Verständnishorizont seiner jeweiligen Hörerschaft einstellte, gibt seinem philosophischen Nachlaß eine natürliche Gliederung: Die Texte zwischen 1794 und 1800 sind auf das studentische Auditorium der damaligen Jenaer Universität zugeschnitten. Von 1800 bis 1810 lebte Fichte - von den kurzen akademischen
Einleitende Übersicht
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Zwischenspielen in Erlangen und Königsberg abgesehen - als Privatgelehrter in Berlin. Er nutzte diese Privatzeit zunächst zur vertieften Durchklärung der Wissenschaftslehre und arbeitete ab 1804 auf dieser Basis die großen „populären" Vortragszyklen aus, zu denen sich das geistig interessierte Publikum Berlins in erstaunlicher Vielfalt einfand. Die Texte zwischen 1810 und 1814 hingegen konzentrieren sich wieder ausgesprochen auf die Lehrpraxis an der neugegründeten Berliner Universität. Von dieser didaktischen Außenprägung seines Werks hebt sich merkbar die Akzentuierung der inneren Problemgeschichte des Fichteschen Denkens ab. Sie präsentiert sich in ihrer Genesis als ein von 1792 bis 1814 durchlaufender dynamischer Arbeitsprozeß,, der nur während Fichtes schwerer Erkrankung 18081810 aussetzte und von Fichtes Tod jäh abgebrochen wurde. Als durchgehenden Hauptstrang hat die Gedankengeschichte der Fichteschen Philosophie die Arbeit an der „Wissenschaftslehre". Neben ihr laufen die Entfaltungen der „angewandten Philosophie". Dabei liegt von 1793-1805 das Hauptgewicht auf der Durchklärung der „Wissenschaftslehre". Dieser Klärungsprozeß hat markante Zwischenstadien. Doch kann über deren Profil keinesfalls die konsequente Kontinuität übersehen werden, die vom Urkonzept der „Eignen Meditationen über ElementarPhilosophie" 1793 und der Ich-Analyse der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" 1794 zur Absolutheitsphilosophie führte, wie sie sich mit den Vorträgen von 1804/05 konsolidierte. Bei der Ausarbeitung der „angewandten Philosophie" liegen die Schwerpunkte während der Jenaer Zeit von 1794-1799 deutlich auf dem Feld der Rechtsphilosophie und der Ethik. Ab 1799 rücken die Fragen der Religionsphilosophie in den Mittelpunkt und verbinden sich eng mit den Entwürfen zur Geschichtsphilosophie. Dabei entwickelt sich zwischen 1805 und 1812 ein eigentümliches Spannungsfeld ihrer konkreten Dynamik zur Wissenschaftslehre, in dem die innerlich dramatischsten Prozesse von Fichtes Philosophie wurzeln. Sie kulminieren 1812 und leiten mit ihrer Lösung 1813 das wichtigste Stadium in Fichtes praktischem Philosophieren ein.
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Einleitende Übersicht
Fichtes angewandte Philosophie ist nicht einfach eine deduktive Fortschreibung der „Wissenschaftslehre in specie". Beide verhalten sich vielmehr zueinander wie beispielsweise reine Mathematik und Physik. Aus dem Verständnis einer mathematischen Formel geht nicht zugleich die Erkenntnis mit hervor, welche physikalische Realität mit dieser Formel beschreibbar ist. Niemand hat vor Einstein gewußt, daß die schlichte Formel a = bc2, die jedes Schulkind spielerisch bilden und in ihrer mathematischen Bedeutung „verstehen" kann, in der Deutung als E = mc2 eine Urstruktur des physikalischen Universums darstellt. Ähnlich sind in Fichtes Werk die Erarbeitung der Wissenschaftslehre und ihre Anwendung auf die konkrete Praxis durchaus zu unterscheidende Arbeitsprozesse. Allerdings gab es zwischen beiden auch spezifische Wechselwirkungen: Die Probleme der angewandten Philosophie waren für Fichte zugleich der Prüfstein, ob die inneren Konsequenzen der Wissenschaftslehre in einem für die gesamte Praxis hinreichenden Maße ausgezogen waren. Angesichts dieses Baugefüges dient es der überschaubaren Kürze einer Einführung, wenn wir Fichtes Philosophie nicht einfach in der Reihenfolge ihres historischen Entstehens, sondern nach jenen Sachgebieten darstellen, die er selbst als konstitutiv nannte: 1 Wissenschaftslehre in specie Natur Recht Ethos Religion Fichte verfuhr in seiner Lehrtätigkeit zyklisch, so daß die einzelnen Bereiche in Intervallen zur erneuten Behandlung anstanden. Wir können uns daher ohne Wiederholungen auf die wesentlichen Innovationen ihrer Bearbeitung konzentrieren, wenn wir lediglich innerhalb dieser Sachgebiete dem historischen Ablauf folgen. Nur bei der Wissenschaftslehre in specie schien es uns ratsam, die für die Analyse des Ich und die Klärung der Absolutheitsphilosophie besonders repräsentativen Darstellungen von 1794 und vom Frühjahr 1804 im ganzen zu umreißen. i SW XI S. 8
Fichtes Leben
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Mit einer fast unüberwindlichen Schwierigkeit hat jede kurzgefaßte Darlegung von Fichtes Philosophie zu kämpfen: Fichtes Texte gehören zu den dichtesten der ganzen Philosophiegeschichte. Dadurch läuft jede weitere Verdichtung Gefahr, wichtige Differenzierungen zu verwischen. Insbesondere bestehen die wesentlichen abstrakten Gedankengänge aus operativen Einzelschritten, deren notwendige Anzahl nicht vermindert werden kann, ohne den verstehenden Nachvollzug illusorisch zu machen. Gedankengänge dieser Art sind aber nicht allein zum verstehenden Nachvollzug der Wissenschaftslehre erforderlich, sondern spielen auch für die Grundlegung von Fichtes angewandter Philosophie eine elementare Rolle. Letztlich kann hier nur die eigene Lektüre der Originaltexte den zureichenden Informationsgehalt liefern. Um aber dennoch wenigstens eine anschauliche Orientierung für diese abstrakten Bereiche zu ermöglichen, haben wir zum Hilfsmittel einer geometrischen Analogie gegriffen. Dies Prinzip ist speziell im Fichteschen Philosophieren nicht ungewöhnlich. Er selbst hat, wie seine Hörer bezeugen, sich ständig der übersichtlichen Erläuterung durch an die Tafel gezeichnete Diagramme bedient. Unsere Analogie zu den Kegelschnitten der euklidischen Geometrie hat jedoch den von Fichte benutzten einfachen Symbolen gegenüber den Vorzug, daß sie jenen wesentlichen Übergang von abstrakten mathematischen Operationen und Formeln zu den anschaulichen und pragmatischen Reflexionsgesetzen der physikalischen Optik mit einschließt. Darüber hinaus erlaubt sie uns am Ende, sinnbildlich sowohl die fundamentalen Zusammenhänge der gesamten Philosophie Fichtes, als auch ihre bis zuletzt ungelöst offen gebliebenen, von Fichtes transzendentalem Ansatz her jedoch lösbaren zentralen Problemteile deutlich zu machen.
Fichtes Leben Für den 19. Mai 1762 verzeichnete das Kirchenbuch des sächsischen Dorfes Rammenau in der Oberlausitz Geburt und Taufe
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Fichtes Leben
von Johann Gottlieb Fichte. Dort waren die Vorfahren schon seit langem ansässig. Den Namen Fichte führt die Familienüberlieferung auf einen schwedischen Wachtmeister zurück, der sich im Dreißigjährigen Krieg in Rammenau niedergelassen haben soll. Johann Gottliebs Vater Christian Fichte (1737-1812) hatte in der Nachbarstadt Pulsnitz das Handwerk eines Band- und Leinwandwebers erlernt. Nach der Heirat mit der Tochter seines Lehrherrn, Johanna Maria Dorothea geb. Schurich (1739-1813), baute er sich in seinem Heimatort ein Haus und betrieb dort eine Bandwirkerei. Dem ersten Sohn der jungen Eheleute folgten bald weitere Geschwister nach. Die traditionelle Lebensform eines handwerklichen Kleinunternehmens in bäuerlicher Umgebung, die frühe Beteiligung der Kinder an der Arbeit, den Sorgen und Freuden des Alltags prägte den ersten Lebensabschnitt Fichtes, über den verläßliche Einzelheiten kaum erhalten sind. Die Anfangsgründe des Lesens lernte der Junge schon in frühem Alter vom Vater. Um das Jahr 1770 wurde bei einem zufälligen Besuch in Rammenau der Freiherr Ernst Haubold von Miltitz (1739-74) auf die ungewöhnliche Intelligenz des Bandwirkersohnes aufmerksam und beschloß, für seine Ausbildung zu sorgen. Er gab ihn zunächst in die Obhut von Pfarrer Gotthold Leberecht Krebel in Niederau bei Meißen, der ihn mit den alten Sprachen vertraut machen sollte. Fichte erlebte bei dem kinderlosen Ehepaar die schönste Zeit seiner Jugend. Etwa im zwölften Lebensjahr trat er in die Stadtschule von Meißen ein und wechselte bald darauf in die altberühmte Fürstenschule Pforta bei Naumburg über. Mit dem Abgangszeugnis von Pforta bezog er im Herbst 1780 die Universität Jena als Student der Theologie. Bereits 1781 siedelte er an die Leipziger Universität um. Das Berufspensum eines künftigen Pfarrers scheint nicht ausschließlich im Mittelpunkt seiner Studieninteressen gestanden zu haben. Er legt kein Abschlußexamen ab und begründet diesen Umstand damit, daß er zwar über die meisten Gegenstände der Theologie gedacht, geredet und gearbeitet hätte, aber gestehen müsse, daß er in einzelnen Zweigen, besonders im Hebräischen, Lücken habe. Starke Anziehungskraft übte die Rechtswissenschaft auf ihn aus. Er hörte schon seit Jena juristische Kollegs und äußerte gelegent-
Fichtes Leben
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lieh, er habe in der Jurisprudenz bei weitem nicht so beträchtliche Lücken wie in der Theologie. Die Hinderungsgründe für einen regulären Studienabschluß lagen jedoch wesentlich in wirtschaftlicher Not. Die Familie Miltitz hatte ihre Zuwendungen allmählich eingestellt, so daß Fichte seinen Unterhalt ab 1784 in wechselnden Stellungen als Hauslehrer verdienen mußte. 1788 erschien seine finanzielle Lage so aussichtslos, daß er sogar den Gedanken erwog, seinem Elend selbst ein Ende zu machen. Das Angebot einer Hauslehrerstelle bei der Familie Ott in Zürich rettete ihn aus dieser verzweifelten Situation. In Zürich lernte er durch La vater auch Marie Johanne Rahn (1755-1819), seine spätere Frau, kennen, eine Nichte Klopstocks. Im Frühling 1790 kehrt er nach Leipzig zurück, um nochmals den Versuch zu machen, es aus eigener Kraft „sehr hoch zu bringen". Aber seine vagen Projekte scheitern wieder alle. Der Zwang, seinen Lebensunterhalt durch Stundengeben zu fristen, bringt ihm gleichwohl die entscheidende philosophische Begegnung: Er übernimmt es, einen Studenten in Kants „Kritik der reinen Vernunft" einzuführen, muß sie dazu selbst erst studieren - und wird unwiderstehlich in den Bannkreis dieser Denkwelt gezogen. Nachdem er vollends die „Kritik der praktischen Vernunft" kennen gelernt hat, fühlt er sich „in einer neuen Welt" und empfindet „das glücklichste Leben": Kants Moral- und Freiheitsphilosophie habe eine unbegreifliche Revolution in seiner ganzen Denkungsart bewirkt und ihn vom Determinismus befreit. Eingehend befaßt er sich auch mit der im selben Jahr erschienenen „Kritik der Urteilskraft". Zum Sommer 1791 reiste Fichte nach Warschau, um eine Hauslehrerstelle anzutreten. Die Sache zerschlug sich jedoch, und er beschloß, einen Abstecher zu Kant nach Königsberg zu machen. Kant nahm beim ersten Besuch kein sonderliches Interesse an ihm. Um seine Aufmerksamkeit zu erregen, verfaßte Fichte eine „Kritik aller Offenbarung" und überbrachte sie Kant. Diese Schrift hatte ungeahnte Folgen. Kant empfahl sie freundlich an den Verleger Härtung. Dieser veröffentlichte das Buch
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Fichtes Leben
zunächst (außer in Königsberg selbst) absichtlich ohne Angabe des Verfassers - und Publikum wie Kritiker hielten es weithin für die mit Spannung erwartete Religionsphilosophie Kants. Als der wahre Verfasser bekannt wurde, war Fichtes Name mit einem Schlag berühmt. Fichte traf nach einjähriger Hauslehrertätigkeit bei der Familie des Grafen von Krockow in der Nähe Danzigs im Sommer 1793 wieder in Zürich ein. Am 22. Oktober 1793 heiratete er Marie Johanne Rahn. Im Hause des Schwiegervaters, des wohlhabenden und geistig aufgeschlossenen Wagmeister Johann Hartmann Rahn (1721-95), konnte er nun erstmals sorgenfrei seinen schriftstellerischen und philosophischen Interessen nachgehen. Unter dem Eindruck der Vorgänge in Frankreich, inspiriert von Kants Freiheitslehre, hatte er nach seiner Flugschrift „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens" noch in der Danziger Zeit den „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution" begonnen und in Zürich fortgesetzt. Daneben hatte aber auch die literarische Diskussion um die Aporien der Kantischen Philosophie seine Aufmerksamkeit gefesselt. Vor allem beschäftigte ihn Reinholds Postulat, eine wissenschaftlich fundierte Philosophie müsse aus einem einzigen Grundprinzip einleuchtend und begreifbar ausgewiesen werden. Im Spätherbst 1793 kam ihm blitzartig die Idee, wie dieses Problem zu lösen sei. Die erste Ausarbeitung des entdeckten Ansatzes, das Gedankenstenogramm der „Eignen Meditationen über ElementarPhilosophie", ist als Geburtsprotokoll einer neuen Philosophie eines der ungewöhnlichsten Dokumente der Geistesgeschichte. Damit hatte Fichte gefunden, was er später die eigentliche Aufgabe seines Lebens nannte: die Philosophie in ihren wesentlichen Verzweigungen aus ihrem entdeckten Grundpunkte zu entfalten. Obwohl er spürte, daß zur Bewältigung dieser Aufgabe nichts förderlicher sein konnte als einige Jahre unabhängiger Muße, folgte er bald darauf einem Ruf auf den vakanten Lehrstuhl für Philosophie in Jena, den Reinhold innegehabt hatte. Fichte kam im Mai
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1794 dort an und begann neben seinen öffentlichen Pflichtvorlesungen sogleich auch die Entfaltung des entdeckten Erkenntnisprinzips in Privatvorlesungen vorzutragen. Und um seinen Hörern Verständnis und Nacharbeit zu erleichtern, arbeitete er das Manuskript dieser Privatvorlesungen zugleich als Druckvorlage aus und ließ es bogenweise als „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" erscheinen. Dem triumphalen Erfolg seiner akademischen Wirksamkeit in Jena gesellten sich ebenso rasch öffentliche und verborgene Widrigkeiten bei. Die Kirchenbehörden nahmen Anstoß an seinem Versuch, zur sonntäglichen Gottesdienstzeit moralische Vorlesungen zu halten. Fichtes Kampf gegen das Unwesen halbkrimineller studentischer „Orden" endete damit, daß er sich und seine Familie vor deren tätlichen Angriffen 1795 für einen Sommer auf dem Land in Sicherheit bringen mußte. Ende 1798 flammte mit einem „Confiscationsrescript" der benachbarten kursächsischen Regierung in Dresden gegen zwei Artikel in Fichtes und Niethammers „Philosophischem Journal" alte und neue Animositäten zu einem „Atheismusstreit" hoch. Fichtes berechtigte Verteidigung gegen die Vorwürfe war nicht sehr glücklich. Der Hof in Weimar, beraten unter andern von Goethe, nahm eine Demissionsdrohung Fichtes zum Anlaß, ihn im April 1799 zu entlassen. Auf den Rat von Freunden hin entschloß sich Fichte, Berlin als neuen Wohnort zu wählen. Dort konnte er sich auch niederlassen, nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm III. befunden hatte, es komme dem Staat nicht zu, über Fichtes religiöse Grundsätze zu entscheiden. Anfang 1800 holte Fichte seine Frau mit dem Sohn Immanuel Hermann (1796-1879) nach und führte einige Jahre das zurückgezogene Leben eines Privatgelehrten. Seine Arbeit konzentrierte er vor allem auf das Kerngebiet der „Wissenschaftslehre", der bis dahin noch die „höchste Synthesis" gefehlt hatte, die philosophia prima. Mit dem Resultat dieser speziellen Studien trat er 1804 in drei Vortragszyklen an die Öffentlichkeit. Und wohl noch nie in der Geschichte fand sich bei einem Philosophen eine so große Zahl von Ministern, Gesandten, hohen Staatsbeamten und Persönlichkeiten des öffentlichen
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Fichtes Leben
Lebens neben interessierten Bürgern, Frauen, Studenten und Professoren ein wie zu diesen Vorlesungen in der Berliner Commandantenstraße 9. Zum Sommersemester 1805 wurde Fichte als Professor für Philosophie an die damals preußische Universität Erlangen berufen, mit der Vergünstigung, den Winter in Berlin zu verbringen. Der 1806 ausgebrochene Krieg gegen Napoleon ließ Fichte dem geschlagenen preußischen Heer bis Königsberg folgen. Dort las er ab Neujahr 1807 für die Königsberger Studenten in der Art seiner Berliner Vorträge. Kurz vor dem Einmarsch der Franzosen verließ er auch diese Stadt auf dem Seewege und kehrte später nach einem Aufenthalt in Kopenhagen zu seiner Familie ins besetzte Berlin zurück. Ungeachtet der Gefährdung durch die aktuelle politische Brisanz seiner Ausführungen legte er dort im nächsten Winter in öffentlichen Sonntagsvorträgen unter dem Titel „Reden an die deutsche Nation" seine Gedanken über den durch Erziehung möglichen „neuen Menschen" dar. Im Frühjahr 1808 warf ihn eine schwere Krankheit nieder, von der er, der bis dahin von unverwüstlich robuster Gesundheit schien, sich in langen Monaten nur mühsam erholte. Damit verbundene Lähmungserscheinungen klangen zwar ab, verschwanden aber nie mehr ganz. Noch im Sommer 1810 mußte er zugunsten einer Kur in Teplitz auf Vorlesungen verzichten. Mit Errichtung der Berliner Universität 1810 war Fichte die Professur für Philosophie zugesprochen worden. Seine Lehrtätigkeit begann er am 21. Oktober. Zum Herbst 1811 wurde er als Rektor gewählt, trat aber schon im Februar 1812 von dem Amt wieder zurück. Eine hoffnungsvolle neue Entwicklung in der Darlegung und Vermittlung seines Denkens wurde 1813 zunächst vom Ausbruch des Befreiungskrieges gegen Napoleon unterbrochen. Trotzdem hoffte Fichte, den lebenslang erstrebten Durchbruch zur endgültigen Fassung der Wissenschaftslehre, jener „Aufgabe seines Lebens", in Kürze verwirklichen zu können. Aber am 29. Januar 1814, morgens um fünf Uhr, erlag er der Typhusepidemie, die der Krieg in die Stadt geschleppt hatte.
Persönlichkeit und Werk
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Persönlichkeit und Werk Der junge Fichte hat erst spät erkannt, daß seine Lebensaufgabe auf dem Feld der Philosophie lag. Auch formte sich die Grundidee dieser Aufgabe nicht allmählich in seinem Geist, sondern trat blitzartig mit jenem Einfall auf, von dem er im Dezember 1793 an einen Freund schrieb, er habe ein „neues Fundament" entdeckt, aus dem sich die ganze Philosophie entwickeln lasse. Von diesem Augenblick machte er sich aber auch mit der ihm eigenen Energie und Entschiedenheit daran, die „ganze Philosophie" tatsächlich aus diesem Fundament zu entwickeln. In der ersten Entdeckerfreude glaubte er, diese Aufgabe sei „sehr leicht" zu lösen. Die praktische Realisierung belehrte ihn bald und immer nachdrücklicher eines andern. Daß jedoch die Lösung von dem entdeckten Fundament aus möglich sei, war ihm zeitlebens völlig gewiß. Nur sah er ein, ihr ganzer Umfang könne nicht von einem einzelnen, sondern nur von der „Republik der Gelehrten" bewältigt werden. Er konzentrierte daher seine eigene Arbeit immer intensiver auf dem Kernbereich der Wissenschaftslehre und behandelte den Bereich der „angewandten Philosophie" in akzentuierter Auswahl. Wir haben deshalb im Blick auf das Fichtesche Gesamtwerk ausdrücklich zwischen der leitenden Gesamtidee und ihrer realen Ausarbeitung zu unterscheiden. Das stellt uns vor einige charakteristische Probleme. Fichte beansprucht, das entdeckte Fundament mache Philosophie als exakte und kritisch nachprüfbare Wissenschaft möglich. Hierfür gebraucht er gerne die Analogie zur Mathematik und deren operativer Nachprüfbarkeit. Diese Analogie schließt einen Aspekt ausdrücklich ein: Für die Nachprüfung einer mathematischen Theorie ist es unerheblich, Psyche und Biographie ihres Autors zu kennen. So wäre auch eine Betrachtung, die sich rein
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mit der gedanklichen Stringenz des Fichteschen Philosophierens beschäftigt und die Spuren seiner Persönlichkeit außer acht läßt, durchaus im Einklang mit einem oft geäußerten Postulat Fichtes. Eine derartige Betrachtungsweise ist aber keineswegs leicht durchzuführen. Fichte hat nämlich bei der Darlegung seiner Denkoperationen wichtige pragmatische Voraussetzungen nicht erfüllt, die in der Mathematik jene Nachprüfbarkeit gewährleisten. Beispielsweise hat er eine Präzisionssprache und ein exaktes Formelsystem für die eigentlich wissenschaftliche Endform seiner „Wissenschaftslehre" wohl in Aussicht gestellt, aber nie geliefert. Warum er dies nicht tat oder nicht tun konnte, hat seine Gründe gerade nicht in der tatsächlichen Stringenz seiner Methodik, sondern teils im wissenschaftlichen Entwicklungsstand seiner Zeit, teils in Charakterzügen seiner Persönlichkeit. Die objektiv gegebene Eigengesetzlichkeit der entdeckten Methodik traf ja nicht auf ein unentfaltetes Bewußtsein, sondern auf einen Mann von einunddreißig Jahren. So sehr, vielleicht sogar so einmalig Fichte von seinem Wesen her für die auf ihn wartende Pionierarbeit prädestiniert sein mochte, bleibt doch unverkennbar, daß die Eigendynamik der ergriffenen Aufgabe auch in ein mannigfaltiges Spannungsverhältnis zur Dynamis seiner individuellen Persönlichkeit trat. Die Prägungen aus Herkunft und Erziehung, stark entfaltete Neigungen und Abneigungen taten das ihre, um den Arbeitsprozeß zu komplizieren. Wie Prägung und Neigung sich unbewußt auswirkten, läßt sich anschaulich an Fichtes Kantrezeption verfolgen. Fast ein Jahrzehnt nahm er so gut wie keine Notiz von der Diskussion um Kant, dessen „Kritik der reinen Vernunft" 1781 erschienen war. „Aus Verzweiflung mehr, denn aus Geschmack" befaßt er sich schließlich mit ihr. Ihre befreiende Wirkung auf seinen Geist ist ungeheuerlich. Dennoch setzt er diesen umstürzenden Einfluß zunächst auf eine für den studierten Theologen höchst typische Weise um: Er schreibt eine „Kritik aller Offenbarung". Ähnlich passen die anschließenden „Revolutionsschriften" in ein charakteristisches Verhaltensmuster seiner Psyche. Er hatte zeitlebens die Neigung, wichtige Erkenntnisse möglichst rasch in Taten umzusetzen und „außer sich" wirksam werden zu lassen.
Persönlichkeit und Werk
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Sein ureigenstes „Revolutionserlebnis" war aber nicht das Blutgeschehen in Frankreich, sondern der Zusammenprall mit Kants Freiheitslehre im Jahr 1790. So sind auch die „Revolutionsschriften" vom Impuls her viel eher die Umsetzung dieser Gedankenrevolution in aktuelle „äußere Wirksamkeit", als unmittelbarer Widerhall des Sturms auf die Bastille von 1789 und dessen, was auf diesen folgte. Damit rücken manche seiner späteren Korrekturen an ihren Gedankengängen in den einfachen Kontext der kritischen Aufarbeitung des Kantischen Anstoßes. Jener Drang „außer sich zu wirken" gehört zu den bemerkenswertesten Kennzeichen von Fichtes Persönlichkeit. Wie sehr sich darin ein kräftiger Schuß des physischen Naturells Fichtes manifestierte, belegt die Diagnose seines Arztes Hufeland, der ihm „Überkraft (Hypersthenie)" in einem selten zu beobachtenden Maße attestierte. Fast noch wichtiger ist zu sehen, daß dieser Tätigkeitsdrang keineswegs unspezifisch war, sondern mit Vorliebe in eine besondere Richtung drängte: in die Wirksamkeit durch Reden. Fichte war ein Redner von Geblüt und hohen Graden. Das kindlich-ernsthafte Predigtspiel in Rammenau hatte ihm die Gunst seines Mäzens Miltitz gewonnen und den Weg seines Lebens schicksalhaft erschlossen. Keine seiner Anlagen manifestierte sich früh so eindeutig wie sein rhetorisches Talent. Er pflegte es dazuhin systematisch und gründlich. Seine großen akademischen Lehrerfolge basierten zu nicht geringem Maße auf dieser Gabe. Vermutlich war ihm - wie übrigens auch die tiefdringende Auseinandersetzung mit Gegnern - der intuitive Kontakt zu einer Hörerschaft schöpferisch unerläßlicher Kontrapunkt zur Gedankenarbeit in der Studierstube. Gleichwohl nimmt die Ausschließlichkeit, mit der er nach 1800 bedeutendste und schwierigste Resultate seines Denkens nur noch dem mündlichen Vortrag anvertraut, fast monomanische Züge an. Dem lesenden Publikum empfiehlt er beispielsweise seine „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" 1806 mit der Vorbemerkung, er habe ihm nichts weiter zu sagen, als daß er ihm nichts zu sagen habe.
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Vom ideellen Anspruch seiner Philosophie her betrachtet ist dieser Vorgang nahezu unverständlich. Nur eine Erklärung könnte hier über den Bannkreis psychologischer Motivationen hinausreichen: Fichte betrachtete seinen Hörsaal als Experimentierraum, um sich der wirksamsten Darstellungsweise für seine Kernphilosophie zu versichern, ehe er mit ihr in endgültiger Buchform vor die Öffentlichkeit trat. Der Sohn Immanuel Hermann bezeugt, daß Fichte den Plan einer abschließend authentischen Publikation der „Wissenschaftslehre" verfolgte. Da Fichtes plötzlicher Tod dies Vorhaben verhinderte, liegt sein Werk als zerklüftetes Fragment vor der Nachwelt, eingegossen in unterschiedliche Vortragsformen und Vorlesungszyklen. Hieraus entspringen auch die eigentümlichen Schwierigkeiten für die Auseinandersetzung mit Fichtes Gesamtwerk. Fichte hat seine Gedanken nur in den seltensten Fällen einfach in der Form vorgetragen, wie er sie für sich selbst erarbeitete. Die Hörer hätten einer solchen Konzentration praktisch nicht folgen können. Er strebte deshalb stets danach, die Vortragsart so stark wie möglich auf die geistige Ausgangsbasis abzustellen, die er bei seinem jeweiligen Publikum voraussetzen konnte. So kommt es, daß bei ihm dieselben Gedankeninhalte unter ganz unterschiedlichen Ausdrucksweisen und Redewendungen begegnen können. Das bringt uns heute vor allem in den abstrakten Texten ein „Dechiffrierproblem" ein, das oft nur unter Einsatz subtilster historischer und methodologischer Forschungsweisen aufzuschlüsseln ist. Erschwerend tritt noch hinzu, daß Fichte viel gelesen hat, aber bei Zitierung, Kritik und Polemik zumeist ohne Namensvermerk, geschweige denn genauer Angabe der relevanten Fundstelle verfährt. Mit der konsequent mündlichen Vortragsform unterstellte sich Fichte auch permanenten didaktischen Vermittlungszwängen, die in manchen Fällen mit den eigenständigen Entfaltungsgesetzen der Gedankeninhalte kollidieren mußten. Der Gedankeninhalt eines Vortrags muß, soll er optimal vermittelt werden, in ungleich beengenderer Weise der psychologischen Aufmerksamkeitskurve eines Hörerkreises angepaßt werden, als das bei einem Textentwurf erforderlich ist, der zum Druck vorgesehen wird.
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Auch zerschneidet ein Vorlesungszyklus das Sachgebiet in eine Grobstruktur von Stundensegmenten, die sich keineswegs immer mit der differenzierten Binnenstruktur des Sachgehalts synchronisieren läßt. Das alles überlagert das eigentliche Informationsgefüge der philosophischen Gedankenführung mit fremden Gestaltungsprinzipien. Fichte entwickelte allerdings eine unerhörte Beweglichkeit innerhalb dieses Darstellungsrahmens. Besonders die großen populären Berliner Vortragszyklen sind Meisterwerke nicht nur an Gedankentiefe, sondern ebenso an geistiger Dramaturgie und kühner Formgebung, denen die Philosophiegeschichte seit Piatons Dialogen wenig an die Seite zu stellen hat. Mit einer Bachs „Kunst der Fuge" vergleichbaren Verlebendigung strengster Formgebung variiert Fichte 1804/05 das eine Thema und den einen Inhalt der „Wissenschaftslehre" in viermaliger Fassung, wobei jeder Zyklus seine ganz eigene Sprache spricht. Und sucht man unter Fichtes Zeitgenossen nach Entsprechungen für die geniale Meisterschaft motivischer Komposition und den Einfallsreichtum der formalen Verarbeitung, so bieten sich eigentlich nur die großen Symphonien Beethovens als musikalische Gegenpole zu den Fichteschen Gedankenkompositionen in den „Anweisungen zum seligen Leben", den „Reden an die deutsche Nation" und der „Staatslehre" (1813) an. Gleichwohl hatte der nach 1800 bewußt gefaßte Entschluß, sich seinem Zeitalter nur noch mündlich mitzuteilen, philosophiegeschichtliche Folgen, deren ganzes Ausmaß sich erst heute bei der umfassenden Aufdeckung von Fichtes Nachlaß abzuzeichnen beginnt. Eine verhängnisvolle praktische Folge dieses Entschlusses war, daß die philosophische Öffentlichkeit weitgehend von der Kenntnis über die zentrale Entwicklung des Fichteschen transzendentalen Ansatzes ausgeschlossen wurde. Nur noch die jeweiligen Hörer erfuhren vom aktuellen Stand seines Denkens. Aus ihnen ging jedoch keiner hervor, der diese Kenntnis lehrend weitergegeben hätte. Fichte hat zu Lebzeiten mit seinem Philosophieren keine Schule im eigentlichen Sinne gebildet. Seine akademische Lehrtätigkeit
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in Jena und Berlin war insgesamt kürzer als die Zeit, in der er als Privatgelehrter an seiner Philosophie baute. An der Berliner Universität zeigten sich zwar alle Voraussetzungen zu einer klassischen Schulbildung. Doch war die Zeit dafür mit ihren kaum vier Jahren viel zu kurz, dazuhin unterbrochen von den Kriegsereignissen, die viele von Fichtes Studenten nicht mehr in den Umkreis der Universität zurückkehren ließen. Das Projekt einer Schule der Wissenschaftslehre noch über der Universität konnte nie verwirklicht werden. Hätte die Familie seine Manuskripte nicht sorgfältig bewahrt, so wären möglicherweise wichtigste Resultate seines (in vielem unerreichten) Denkens auf immer verlorengegangen. Mit seiner Publikationsverweigerung schloß sich Fichte aber auch aus der philosophischen Diskussion seiner Zeit aus. Gewiß brachte er sich durch gelegentliche Veröffentlichungen der allgemeinverständlichen, „populären" Vortragszyklen eindrucksstark in Erinnerung; mit den „Reden an die deutsche Nation" von 1808 dürfte er sogar die breiteste und aktuellste Wirkung seiner gesamten Tätigkeit erzielt haben. Aber für sein zentrales Philosophieren blieb jene Zeit auf die „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" von 1794 angewiesen, und in dem Maße, wie deren öffentliche Diskussion zurückging, schwand auch das eigentliche Anliegen Fichtes, die Philosophie als exakte Wissenschaft, aus dem Bewußtsein der intellektuellen Öffentlichkeit. Nähere literarische Kenntnisse von Fichtes zwanzigjähriger Arbeit am Kern seiner Philosophie wurde erst eine Generation später möglich, als sein Sohn in den drei Bänden der „Nachgelassenen Werke" 1834/35 ausgewählte Manuskripte erstmals zugänglich machte - wovon jene Zeit aber weiter keine Notiz nahm. Auch sind bedeutende Texte dieses Zentralbereichs bis heute noch nicht veröffentlicht. Allerdings wird diesem Mangel durch die vorbildliche Editionspraxis der Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften bald abgeholfen sein. Die breite Unkenntnis über die eigentliche Entfaltung des Fichteschen Denkens sowie dessen Fehldeutung machten es Hegel und seiner Schule leicht, Fichtes Philosophie als auf Kant folgende Ent-
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wicklungsstufe zu interpretieren, die in Hegels Idealismus überboten und erledigt worden sei. Unter dem Einfluß dieser Doktrin fanden die schwierigen Manuskripte zur Wissenschaftslehre im 19. Jahrhundert kaum Aufmerksamkeit und noch weniger Verständnis. Erst die neuere Forschung entdeckte, daß sich in ihnen ein Denkansatz entfaltet hatte, der von Hegel durchaus nicht überholt wurde, sondern umgekehrt Inhalte birgt, die elementar über Hegel hinausweisen. Aber selbst unter diesen historischen Gegebenheiten können die innovatorischen Impulse, die von Fichte auf das 19. Jahrhundert ausgingen, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Kreis der Romantiker um die Gebrüder Schlegel hatte in der Jenaer Zeit engste Verbindung mit Fichte; Novalis, der junge Hölderlin standen unter seinem Bann. Die Philosophien Schellings und Hegels verdanken Fichtes philosophischer Grundlegung wesentliche Züge. Schopenhauer, der Berliner Kollegs von Fichte hörte, empfing stärkere Anstöße, als er zuzugeben bereit war. Spezifische Auswirkungen auch auf Marx sind erkennbar. Und eine eigentümliche Linie läuft vom Nihilismusvorwurf, den Jacobi gegen Fichte erhob, zu Nietzsche und dem späteren Existentialismus. Weit trug auch die Wirkung, die von Fichtes Freiheitsethos auf seine Hörer ausging und von diesen lebendig tradiert wurde. Kein Philosoph hat der individuellen Freiheit der Menschen so hohen Rang zugesprochen und sie zugleich so unbedingt dem sozialen Denken verpflichtet wie Fichte. Hinter diesen direkten Auswirkungen blieb die akademische Auseinandersetzung mit Fichte lange Zeit unverhältnismäßig zurück. Als sie schließlich in Gang kam, wurde sie vielfach überzeugender und systematischer in Frankreich geleistet als in Deutschland. Erst in jüngerer Zeit, nicht zuletzt vom Erscheinen der Gesamtausgabe seines Werks begünstigt, bahnt sich auch bei uns ein tiefgreifender Wandel in der Beurteilung Fichtes wie in der Erschließung seines philosophischen Vermächtnisses an.
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Fichtes Konzeption der Philosophie
Fichtes Konzeption der Philosophie Sehen wir von den Schriften ab, die vor den „Eignen Meditationen zur ElementarPhilosophie" (1793) entstanden, so ist Fichtes gesamtes philosophisches Werk von der Idee der Wissenschaftslehre geprägt. Fichte war überzeugt, daß er dank jener Entdeckung vom Spätherbst 1793 die Philosophie als exakte Wissenschaft begründen und entfalten könne. So äußert er noch im Jahr vor seinem Tod: „Philosophie darum bedeutet eigentlich nichts; erst wenn sie Wissenschaftslehre wird, wird ihre Aufgabe bestimmt angezeigt. Das Wort könnte wohl anders gebildet werden; aber ein anderer Begriff kann der seit Jahrtausenden dunkel gestellten Aufgabe nicht unterlegt werden." 1 Seine Vorstellungen vom detaillierten systematischen Bau einer solchen wissenschaftlichen Philosophie sind allerdings von ihm selber nie in einer tabellarischen Ubersicht zusammengefaßt worden. Eine umfassende Sicht seines Philosophiebegriffs läßt sich darum nur gewinnen, wenn man sowohl die im Gesamtwerk verstreuten Hinweise, wie auch das systematische Gefüge von Fichtes Lehrtätigkeit zu Rate zieht. Wie Reinhard Lauths Untersuchungen 2 zeigen, hat die Disziplin der Philosophie für Fichte drei wesentliche Bereiche abzudecken: 1. Philosophische
Propädeutik
Grund- und Ausgangspunkt aller Philosophie muß das reale Leben sein. Die im Leben ruhenden Potenzen der freien Selbstverwirklichung entfalten sich aber nur durch den Entschluß, sie zu 1 2
SW IV S. 373 f. Reinhard Lauth, Zur Idee der Transzendentalphilosophie. München 1965. S. 7 3 - 1 2 3 .
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realisieren, und durch die Umsetzung dieses Entschlusses in die Tat. Der Entschluß wiederum bedarf einer Zielvorstellung - und soll die Selbstverwirklichung des Bewußtseins optimal sein, so muß ihm eine optimale Zielvorstellung von sich selbst vermittelt werden. Diese Vermittlung geschieht bei Fichte in ihrer allgemeinsten Form zunächst durch die Klärung der „Bestimmung des Menschen" als eines „vernünftigen Wesens". Aus ihr wiederum läßt sich die Zielvorstellung des Menschen entwickeln, der seine Wissensfähigkeit bewußt zu entfalten sucht. Fichte nennt das die „Bestimmung des Gelehrten" - wir würden heute von Ethos und Haltung des „Wissenschaftlers" sprechen, in der Praxis zugleich ausgerichtet auf Ausbildung in wissenschaftlichem Denken und Verfahren. Ist der Weg bis hierher geklärt, so ist der spezielle Übergang zur Philosophie als „Einführung in die Wissenschaftslehre" zu vollziehen. Das schließt ein: die Hinführung zum eigentlich transzendentalen Standpunkt, die Vermittlung seiner technisch-praktischen Regeln und eine „Vorübung" durch erkenntnismäßige Durchdringung der „Tatsachen des Bewußtseins". Die philosophische Propädeutik endet schließlich in der Aufstellung des Zielbegriffs der „Wissenschaftslehre". 2. Wissenschaftslehre Ihre Vermittlung umfaßt drei Hauptmomente: a) Sie hat als „Grundlage" die „Phänomenologie" des Bewußtseins zu liefern, indem sie die Gesamtheit seiner fundamentalen „Tathandlung", d.h. die Grundstruktur seiner genetischen Potenz aufzeigt. b) Auf dieser Grundlage ist von ihr das Verhältnis der „Erscheinung" zum „Absoluten" zu bestimmen (philosophia prima). c) Sie hat die Prinzipien zur Ermittlung der materialen Disziplinen der Wissenschaft aufzuweisen. 3. Angewandte
Philosophie
Wie die Zielvorstellung eines „Begriffs der Wissenschaftslehre" den Übergang in den Bau der Wissenschaftslehre vermittelt, so
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Fichtes Konzeption der Philosophie
gibt nun umgekehrt die differenzierte Selbstbestimmung der Wissenschaftslehre als einer wissenschaftlichen Spezialdisziplin das Grundmuster einer Spezialdisziplin der Wissenschaft ab. Von diesem Muster ausgehend läßt sich eine Differenzierung der theoretischen Wissenschaften ermitteln und auf ihrer Basis wiederum die Praxis der Philosophie konkret begründen: Einmal in der Anwendung ihrer Erkenntnisse auf die schrittweise Ausbildung des Bewußtseins (Pädagogik im weitesten Sinne), zum andern als „Vernunftkunst" in der Umsetzung ihrer Erkenntnis zur höchsten Erfüllung des Lebens. Die Philosophie geht so nicht nur vom realen Leben aus, sie muß auch unbedingt wieder zu ihm zurückkehren, soll ihre Tätigkeit Sinn erhalten. Diese Rückkehr vollzieht sich jedoch in der Art einer Spirale: Die Philosophie leistet nach Fichte nicht bloß eine theoretische Erhellung und Bestätigung des vorgefundenen Lebens, sondern legt mit ihrer Arbeit zugleich auch die verborgenen Möglichkeiten einer sinnvollen Entwicklung des menschlichen Lebens und seiner Welt frei. Wir geben nachstehend Reinhard Lauths Übersicht zu Fichtes Konzeption von der Philosophie als einer wissenschaftlichen Disziplin: 3 A: B1: C1: D1:
Leben Bestimmung des Menschen Bestimmung des Gelehrten Einführung in die Philosophie a) Hinführung zum transzendentalen Standpunkt (evtl. durch Realeinleitung) b) technisch-praktische Regeln c) Bearbeitung der Tatsachen des Bewußtseins E 1 : Begriff der Wissenschaftslehre F: Wissenschaftslehre a) Grundlage b) Lehre des Verhältnisses der Erscheinung zum Absoluten c) materiale Disziplinen 3 Lauth ebd. S. 123.
Fichtes Arbeit an der Wissenschaftslehre
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E 2 : Ableitung der Wissenschaftslehre in specie D 2 : Angewandte Philosophie (theoretisch) a) Philosophie der Geschichte b) technisch-praktische Wissenschaften c) einzelwissenschaftliche Erkenntnisse und deren philosophisches Verständnis C 2 : Angewandte Philosophie (praktisch): a) Pädagogik B 2 : Angewandte Philosophie (praktisch): b) Vernunftkunst A: Leben
Lehre vom Wissen I. Fichtes Arbeit an der Wissenschaftslehre a) Die Problemstellung Mit der Entdeckung des „neuen Fundaments" von 1793 sah sich Fichte in der Lage, das Problem der wissenschaftlichen Form der Philosophie seiner Lösung zuzuführen. Dies Problem hatte sich in der Diskussion um die drei Kritiken Kants besonders artikuliert. Reinhold erhob dabei das Postulat, Philosophie müsse sich aus einem einzigen Prinzip entfalten lassen, solle sie der Forderung nach Wissenschaftlichkeit Genüge leisten können.1 Er versuchte auch, dieser Forderung mit seiner „Elementarphilosophie" zu entsprechen. Fichtes enger Anschluß an diese Diskussionslage äußert sich augenfällig in dem Titel „Eigne Meditationen über ElementarPhüosophie", den er der ersten konstruktiven Durchklärung seiner Entdeckung gab. Auch das terminologische Gewicht, das er der Formel eines „ersten Grundsatzes" beimißt, steht ganz unter dem Einfluß des Reinholdschen Postulats: „Es muß ein allgemein geltender Satz als erster Grundsatz möglich seyn, oder die Philosophie ist als Wissenschaft unmöglich." 2 1
2
Philosophie aus einem Prinzip - Karl Leonhard Reinhold. Hrsg. v. Reinhard Lauth. Bonn 1 9 7 4 . S. 115. ebd.
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Die unverwechselbare Eigenart seines neuen philosophischen Weges dokumentiert Fichte aber schon bald darauf durch die Bezeichnung „Wissenschaftslehre". Worum geht es ihm mit diesem Terminus? Zunächst um eine Ortsbestimmung der Philosophie: Ihr auszeichnendes Spezifikum ist für Fichte, daß sie „Wissenschaft vom Wissen" zu sein hat. Sofern das Wissen in den unterschiedlichsten Wissenschaften entfaltet wird, ist sie mithin auch „Wissenschaft von den Wissenschaften" und insofern Theorie („Lehre") von der Wissenschaft und ihrer Gliederung in Einzelwissenschaften. Nach Fichte und abgelöst von seiner Konzeption wurde diese Bezeichnung denn auch vornehmlich für vergleichende und typisierende Beschreibung des akademischen Wissenschaftsbetriebs gebraucht. Das entspricht jedoch bloß in beschränkter Weise der Fichteschen Idee von einer Wissenschaft des Wissens. Der Unterschied macht sich vor allem am methodischen Weg geltend, den Fichte einschlägt. Fichte fragt zunächst nicht, was das Besondere sei, durch das sich die eine Wissenschaft von der anderen - etwa die Biologie von der Mathematik - unterscheidet. Er fragt umgekehrt nach dem gemeinsamen Moment, das die Wissenschaftlichkeit in den Wissenschaften ausmacht. Dies Moment sucht er wiederum nicht so zu bestimmen, daß er alle Einzeldisziplinen auf Gemeinsamkeiten hin durchforscht und diese aufzählt. Er folgt einer ganz anderen Überlegung: Er untersucht das „medium" aller Wissenschaften. Dies Medium aller Wissenschaften und alles konkreten Wissens ist das Bewußtsein: Die Wissenschaften arbeiten damit, daß sie Phänomene und Zusammenhänge bewußt machen, in begreifbarer Form dokumentieren und vermitteln. Der Unterschied der Einzeldisziplinen liegt dabei nicht nur in ihren unterschiedlichen Objektbereichen, sondern auch in der unterschiedlichen Ausrichtung des Bewußtseins beim einzelnen Wissenschaftler. Ein Mathematiker wird dadurch zum Mathematiker, daß er sein Bewußtsein in spezifischer Weise auf jene Erkenntnisprozesse ausrichtet, in denen sich das Wissen der
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Mathematik manifestiert. Der Biologe spezialisiert die Erkenntnisprozesse seines Bewußtseins auf die Erfordernisse der biologischen Forschung. Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der Wissenschaften sind nicht allein von ihren Objektbereichen bestimmt, sondern sind ebensosehr Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bewußtseinsprozessen. Aber auch hier beschreitet Fichte nicht den Weg der psychologischen oder physiologischen Bewußtseinsforschung, sondern geht den direktesten aller Wege: den der Selbstbewußtwerdung des Bewußtseins in seiner Wesensgegebenheit und in seinen fundamentalen Möglichkeiten. Was bedeutet das praktisch gesehen? Fichte setzt nicht pauschal am Faktenbefund des Bewußtseins an, sondern an einem ganz bestimmten Phänomen: an dem Tatbestand, daß wir uns unseres Bewußtseins bewußt sind. Hat das Bewußtsein aber Bewußtheit von sich, so ist es darin „Bewußtsein-von-sich" - in der Kurzformel „Selbstbewußtsein" genannt. Fichte hat diese Form, in der das Bewußtsein sich reflektiert, „Ich" genannt. Daß man seine präzise Definition des Ich-Begriffs nicht in derselben Präzision nahm, wie sie in Fichtes Transzendentalphilosophie fungiert, sondern glaubte, man könne seinen IchBegriff beliebig gegen irgend eine Definition des „homo sapiens" eintauschen, gab einen Hauptanlaß zu unzähligen, bis heute zäh gepflegten Mißverständnissen. Mit dem „natürlichen" Tatbestand, daß unter den verschiedenartigsten Bewußtseinsdaten auch das Phänomen der „Selbstbewußtheit" erscheint, verknüpft Fichte eine fundamentale Überlegung zur Kreativität des Bewußtseins: Wenn sich im Bewußtsein eigenständige Prozesse abspielen, ist es dann nicht die nächstliegende und natürlichste Sache, daß das Bewußtsein seine Bewußtheit-von-sich selbst realisiert, selbst „erzeugt"? Ja, eine andere Herkunft des Selbstbewußtseins ist gar nicht denkbar - denn bei Licht besehen existiert und besteht Se/fo/bewußtsein nur dann, wenn das Bewußtsein sich und nicht etwas anderes reflektiert. Die Reflexion eines „anderen" führt durchaus zu Fremdbewußtheit und keineswegs zu Se/fcibewußtsein.
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Daran schließt sich Fichtes nächste Grundüberlegung: Wenn das Bewußtsein seiner selbst bewußt werden kann, warum sollen dann Bedingung und Verlauf dieses Prozesses nicht ihrerseits bewußt gemacht werden können? Und genau an dieser Stelle beginnen die grundlegenden Untersuchungen seiner „Wissenschaftslehre". Wesentlich an der Form dieser Untersuchungen ist das kontrollierte Gedankenexperiment. Das bedeutet: Der Erkenntnisprozeß in der Wissenschaftslehre rollt keineswegs, einmal in Gang gesetzt, mechanisch bis zu seinem Ziel ab. Er setzt sich vielmehr aus einer kontinuierlichen Kette von Teilproblemen zusammen, deren Lösung im „Gedankenexperiment" ausgemittelt werden muß. Die „Kontrolle" besteht dabei - ähnlich wie bei algebraischen oder geometrischen Aufgaben - in der Überprüfung, ob die Gedankenoperation tatsächlich jenes Resultat erbracht hat, das die Problemstellung zu ihrer Lösung forderte. Die Gesamtkontrolle speziell muß darin bestehen, daß der Prozeß an seinem Ende tatsächlich und nun in durchgeklärt-bewußter Weise in jenem Datum mündet, von dem als bloß rätselhaft Vorgefundenem ausgegangen wurde: dem Selbstbewußtsein. Was dabei formell nach Zirkel aussieht, ist inhaltlich durchaus Produktion von zuvor noch nicht dagewesener Bewußtheit: Am Anfang stand das bloße, nicht weiter durchschaute Faktum von Selbstbewußtheit, eingebettet in eine Vielzahl anderer Fakten. Am Ende steht dagegen die bewußte Kenntnis, wie die Selbstbewußtheit innerhalb des Bewußtseins in distinkten genetischen Stadien zustande kommt. Gewonnen wird im vollständigen Durchlaufen dieser genetischen Stadien auch Einsicht in das kreative System des Bewußtseins und seiner grundlegenden Entfaltungsprinzipien. Durch die genetischen Teilprozesse werden die fundamentalen Erkenntnisverfahren des Bewußtseins sichtbar und beschreibbar. Zwar geschieht das in höchst abstrakter Form. Gleichwohl läßt sich von diesem abstrakten Befund aus untersuchen, welche Erkenntnisverfahren nicht nur für die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch welche für die existentielle Differenzierung des Lebens konstituierend, maßgebend und erhellend sind.
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Konkret bedeutet das beispielsweise die kritische Klärung, welcher spezifische Bewußtseinsprozeß am Werk ist, wenn es um die Erarbeitung naturwissenschaftlicher Einsichten geht, - welcher andere erforderlich ist, um interpersonale Informationen zu verstehen, - oder welcher Bewußtseinsprozeß ethische Zielsetzungen faßt und welcher religiöse Einsichten ermöglicht. Damit schließt Fichtes Idee der Wissenschaftslehre auch das Programm einer vollständigen Systematik aller Möglichkeiten des Wissens ein. Aber wohlgemerkt nur seiner Möglichkeiten: Sie legt zwar das System der „genetischen Grundformeln" des Bewußtseins frei - konkretes Wissen wird aber erst durch die reale Wirksamkeit der in diesen Formeln erfaßten Prinzipien, nicht schon durch deren bloße Beschreibung. In dieser scheinbaren Armut abstrakter Formeln liegt gerade der entscheidende Vorzug von Fichtes Wissenschaftslehre gegenüber material ausgefüllten Wissenssystemen. Denn das Aufzeigen reiner genetischer Möglichkeiten fesselt den Blick nicht an fertige Resultate schon vorausgegangener Genesis, sondern öffnet ihn für die Freiheit zukünftiger Realität. Darin liegen heute noch kaum abzusehende Implikationen, die den von Fichte ertasteten Rahmen der Anwendung weit überschreiten dürften. Fichte hat das Fundament einer ausgesprochen zukunftsoffenen Philosophie gelegt. Ihre volle Aktualität erschließt sich darum auch nur, wenn sie in dieser Ausrichtung verstanden, nicht als abgeschlossene Vergangenheit, sondern als vitale Herausforderung begriffen wird, mit den erschlossenen Möglichkeiten etwas „anzufangen". b) Die Schwierigkeiten der Ausführung Nach Fichtes Programmschrift „Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre" von 1794 sollte die Wissenschaftslehre in der konsequenten Umsetzung ihrer Erkenntnisformeln „allen Wissenschaften ihre Grundsätze geben". Welche Schwierigkeiten bei diesem Vorhaben aus dem Weg zu räumen waren, wurde ihm bald bewußt. So erklärte er vier Jahre später, es sei für die Vollendung des Programms „noch unbeschreiblich viel zu tun". Er seinerseits werde in dieser Richtung auch vorerst nicht weiter
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fortschreiten, sondern erst das Erarbeitete klarer darzustellen suchen. Die Schwierigkeiten, von denen hier die Rede ist, bezogen sich nicht nur auf die Umsetzung der Wissenschaftslehre in die angewandte Philosophie, sondern ebenso auf vielschichtige Probleme ihrer Darstellung selbst. Die erste und - wie sich ergab - einzige Fassung der Wissenschaftslehre, die Fichte vollständig in den Druck gegeben hat, erschien 1794/95 unter dem Titel „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" als „Handschrift für seine Zuhörer". Sie blieb nicht, wie ursprünglich gedacht, auf den Kreis der Studenten beschränkt, die in Jena Fichtes erstes, privat gelesenes Kolleg über die Wissenschaftslehre besuchten, sondern errang im Gegenteil breite und spektakuläre Aufmerksamkeit. Das erregte Pro und Contra gereichte jedoch dieser Fassung auch zum Verhängnis, denn es konzentrierte sich fast ausschließlich auf den „Ersten Teil" mit den drei „Grundsätzen" - den bloßen Vorraum des eigentlichen Systems - und fixierte die öffentliche Meinung über Fichte für fast zwei Jahrhunderte auf dessen Inhalt. Fichtes so prägnante wie riskante Terminologie trug ungewollt einiges dazu bei. Ganz richtig nannte er definitorisch das seiner selbst bewußte Bewußtsein ein „Ich". Doch schon diese definitorische Präzisierung der von der Umgangssprache radikal subjektivistisch vereinnahmten Vokabel überforderte das Abstraktionsvermögen des Publikums bei weitem. Noch schlimmer erging es Fichtes Kunstbildung „Nicht-Ich". Studentische Biertischkrawalle zwischen Ichianern und Nichtichianern waren zwar grellfarbige Manifestationen des Unverständnisses, aber die feinsinniger artikulierten Mißverständnisse, z. B. von Goethe und Baggesen, verfehlten Fichtes philosophische Intention letztlich um nichts weniger. Ähnlich forderte seine Gegensatzterminologie von „Tun" und „Leiden" zu psychologisierender Fehldeutung heraus. Doch Schmerz und Seelenkummer liegen weit ab von der Funktion, die das Wort „Leiden" in der „Grundlage" von 1794 hat. Dahinter stand etwas ganz anderes: der Versuch, einen - in unserer
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Sprache eigentlich nicht vorhandenen - Ausdruck für ein „negatives" Maß an Tätigkeit zu gewinnen, das sich zu „positiver" Quantität von Tätigkeit analog so verhält, wie in der Zahlentheorie die „negativen" Zahlen zu den „positiven". Fichte selber war überdies unzufrieden damit, daß er die eigentliche Leistung seines Grundansatzes, nämlich die Vermittlung von Theorie und Praxis, in der äußeren Form der „Grundlage" zu wenig zur Geltung hatte bringen können. So suchte er die Schwächen der „Grundlage" in einer Fassung „nova methodo" zu vermeiden, die er bereits 1796 im Vorlesungsverzeichnis ankündigte. Bei ihr blieb es nicht. Auf der Suche nach der optimalen Vermittlungsform der „Wissenschaftslehre" arbeitete er stets neue mündliche Vorlesungsfassungen aus. Damit schuf er der Nachwelt einen der vertracktesten Problemkomplexe der ganzen Philosophiegeschichte. Denn Fichte suchte hierbei auch ständig die Terminologie zu verbessern. Das hieß praktisch, daß er die Kernstrukturen der Wissenschaftslehre unter immer neuen Formulierungen und Ausleuchtungen zur Darstellung brachte. Das allein macht eine differenzierte Synopse der einzelnen Fassungen zu einer horriblen Aufgabe. Fast abgründig wird sie dadurch, daß den - ja nur für Fichtes persönlichen Kolleggebrauch bestimmten - nachgelassenen Manuskripten in der Regel jede Kennzeichnung fehlt, wo frühere Darlegungen in der Umarbeitung bloß neu formuliert, und wo ganz neue, erläuternde oder ergänzende, Gedankengänge eingefügt sind. Und ein ergänzender Ausbau gegenüber der Druckfassung von 1794 erfolgt in der Tat zumindest bis 1805. Fichte selbst erwähnt gegenüber Schelling 1801, er habe noch die „höchste Synthesis" der Wissenschaftslehre zu erarbeiten.3 Was meinte er mit dieser Bemerkung? Seine anfänglichen Ausarbeitungen waren stark bestimmt von dem instrumentellen Anspruch, den die Aufklärung an eine „Wissenschaft von den Wissenschaften" gestellt hatte: klärender und ordnender Überbau für die wissenschaftlichen Spezialdisziplinen zu sein. Im den3 Schulz II S. 3 2 3 , Nr. 4 7 6 .
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kerischen Ausbau der erschlossenen Wissenschaftslehre wurde Fichte jedoch immer klarer bewußt, daß sich ihre tiefste Rechtfertigung darin nicht erschöpfen konnte. Bardiiis Ansatz bei der „absoluten Identität", Schellings genialischer Umgang mit dem Begriff des „Absoluten", Einflüsse des neuen Weltgefühls der Romantiker mochten das ihre dazu beitragen: Fichte wandte sich immer intensiver der Frage nach dem letzten und höchsten Sinn des Wissens zu. Die in Berlin ausgearbeitete Fassung von 1801/02 4 - einer der Angelpunkte von Fichtes Gedankengeschichte - zeigt bedeutende Einsichten in diese Frage. Aber Fichte war damit noch nicht zufrieden. Er gab die bereits begonnene Ausformung zu einer Buchpublikation wieder auf und verbrachte weitere zwei Jahre mit der vertieften Ausarbeitung und Einschmelzung dieses Problemkomplexes in die Wissenschaftslehre. Anfang 1804 glaubte er die Aufgabe gelöst und kündigte öffentliche Vorträge der Wissenschaftslehre mit dem Hinweis an, diese sei nun auch in ihrer äußeren Form vollendet. Doch wieder stürzt er sich in das Ausloten durch Umformung und Neufassung: In unglaublicher Dichte folgen in dem einen Jahr 1804 dem ersten Zyklus zwei „wiederholende" Vorlesungsreihen mit stets neu gefaßtem Text. Einen vierten, wiederum durchgehend in neue sprachliche Form gegossenen Entwurf legt er einem Erlanger Privatissimum im Sommer 1805 zugrunde. Die Königsberger (Fragment gebliebene) Fassung von 1807 gehört in denselben Zusammenhang intensivster Suche, fast Jagd nach dem „großen Fund", der ihm greifbar nahe schien und die Darstellungsfrage der Wissenschaftslehre endgültig lösen sollte.5 Krieg und Krankheit stellten sich Fichte in den Weg. Erst 1810 ist er wieder in der Lage, über die Wissenschaftslehre Vorlesungen zu halten. Den Schlußvortrag läßt er mit dem Bemerken drucken, es könnte den Lesern „hier ein Licht aufgehen, welch einen verkehrten Begriff sie sich bisher von der Wissenschaftslehre gemacht" hätten. Ob sich damals solche Leser fanden, mag Erstmals vollständig veröffentlicht als „Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02". Hamburg 1977. s Schulz II S. 596, Nr. 645.
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man angesichts dieses „vielleicht konzentriertesten Textes der Philosophiegeschichte" 6 füglich bezweifeln. Einigermaßen genesen arbeitet Fichte sich wieder zäh an sein altes Darstellungsproblem heran. Die Vorlesungen über die Wissenschaftslehre von 1812 dokumentieren sowohl die Anstrengung wie auch die errungene Sicherheit, mit der er seine tiefsten Gedanken Sprache werden läßt. Gegen 1813 fühlt er sich dem ersehnten Ziel wieder zum Greifen nahe. Und in der Tat atmen die Vorlesungen ab Herbst 1812 neue Energie, einen geradezu befreienden Aufbruch zu klassischer Klarheit und Einfachheit. Die Wissenschaftslehre von 1813 hätte alle vorangehenden überstrahlt, wäre Fichte ihre Vollendung gegönnt gewesen; er findet in ihr erhellende Eingangs- und Entwicklungsformulierungen, wie sie ihm bis dahin noch nicht geglückt waren. Aber die Kriegsereignisse des Jahres sorgen wieder für jähen Abbruch. Die Vorträge von 1813 bleiben Fragment. Wir wissen darum nicht, welche Perspektiven Fichte vorschwebten, und ob der erstrebte Durchbruch zur endgültigen Gestalt der „Wissenschaftslehre" bevorgestanden hat. Der Eingangstorso, den die Vorlesungen über die Wissenschaftslehre von 1814 ausmachen, läßt hier keine Rückschlüsse zu. Durchaus möglich ist, daß Fichte nach der durchdringenden Konfrontation mit Schelling nun auch zu fundamentaler Auseinandersetzung mit Hegel ansetzte, dessen erster Band der „Wissenschaft der Logik" mit ihrer bekannten Reduzierung des Fichteschen philosophischen Ansatzes auf den Verständnishorizont der Hegelschen Dialektik 1812 erschienen war. Manche Eigentümlichkeiten im Text der „Transzendentalen Logik" und besonders der „Tatsachen des Bewußtseins" (1813) legen die Annahme einer geschlüsselten Replik Fichtes auf Hegels Konzeption nahe. So bleibt die konzentrierte Statik der Vorträge von 1812 das letzte geschlossene Dokument zu Fichtes Arbeit an der Wissenschaftslehre und ihrer „höchsten Synthesis". 6
Kurt Schilling, Geschichte der Philosophie II, S. 302. München 1953.
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1804/05 hatte Fichtes Sinnsuche die Wissenschaftslehre in eine „Gotteslehre" münden lassen und klargemacht, daß sie allein in dieser Funktion und keiner andern sonst sich absolut erfüllen kann. Seitdem war der Gottesbegriff ihr zentrierendes Thema. Die Darlegung der genetischen Entfaltungsprinzipien, die Vermittlung von Theorie und Praxis, von Subjektivität und Objektivität blieb unter diesem höchsten Begriff in allen wesentlichen Details erhalten. Nur war nicht mehr ihre genetische Ausfaltung der entscheidende Skopus, sondern ihre Heimholung und erkennende Einbettung in das Eine Sein Gottes. „Wirklich" ist ihr seitdem alles Bewußte und alles Bewußtsein nur, sofern es „Dasein" Gottes ist. Das Dasein Gottes bewußt zu machen, wurde final zur höchsten und umfassenden Aufgabe der Wissenschaftslehre. Und alle ihre sonstigen Aufgabenstellungen und Erkenntnisprozesse enthüllen sich in diesem Licht als notwendige Stufen der Genesis dieses Bewußtseins.
2. Fichtes Schriften über die Wissenschaftslehre Fichte hat das Programm der „Wissenschaftslehre" erstmals in einer kleinen Publikation vorgetragen, die als Einladungsschrift zu seinen Jenaer Vorlesungen 1794 erschien und den Titel trug Heber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie Jede Einzelwissenschaft hat einen speziellen Problembereich, dessen Klärung und Erforschung eben ihre wissenschaftliche Arbeit ausmacht. Nun besteht ein sehr grundlegendes Problem in der Frage: Was ist „Wissenschaft" überhaupt? Denkt man sich eine Disziplin, die sich speziell mit dieser Frage und ihrer Aufarbeitung befaßt, so würde sie durch diese Ausrichtung zur „Wissenschaft von der Wissenschaft überhaupt" und in ihren Resultaten zur „Lehre von der Wissenschaft" oder, wie Fichte kurz formuliert, zur „Wissenschaftslehre". Was wäre ihr erstes Untersuchungsobjekt? Das Grundprinzip der Wissenschaftlichkeit, kraft dessen es möglich ist, eine Einzeldisziplin, ungeachtet ihres speziellen Forschungsbereichs, als „Wissenschaft" zu betrachten und zu betreiben. Dieses Grundprinzip
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wäre auszumitteln und zu formulieren. Seine Formulierung bezeichnet Fichte dem damaligen Sprachgebrauch gemäß als „Grundsatz". Ein solches Grundprinzip kann nicht wieder in einem andern Prinzip begründet werden, denn dann wäre nicht es, sondern das andere das „Grundprinzip" der Wissenschaftlichkeit. Insofern kann es selbst nicht weiter „begründet" werden. Vielmehr muß seine Legitimation dadurch aufgezeigt werden, daß es sich als notwendige und hinlängliche Bedingung aller besonderen wissenschaftlichen Prinzipien ausweisen läßt. Die Wissenschaftslehre hat darum die weitere Aufgabe, die Verknüpfung des Grundprinzips mit allen denkbaren besonderen Prinzipien des Wissenschaftsbereiches aufzuzeigen. Das führt in der Folge zu einer prinzipiellen Systematik der Wissenschaften. Insofern kann Fichte umfassend sagen: Das Objekt der Wissenschaftslehre ist das „System des menschlichen Wissens". Wie aber läßt sich ein solches System ermitteln, wenn es sich nicht aus bloßer Katalogisierung des jeweiligen Wissenschaftsbetriebs ergeben, sondern aus den prinzipiellen Möglichkeiten des Wissens ableiten lassen soll? Nur als Ermittlung der fundamentalen Möglichkeiten des menschlichen Geistes und seiner Struktur, gewissermaßen durch die Selbsterforschung des Bewußtseins in seiner ganzen Gesetzmäßigkeit. Wie verfährt die Wissenschaftslehre in dieser Arbeit? „Sie darf sich ausdrücken und Schlüsse machen, gerade wie jede andere Wissenschaft; sie darf alle logischen Regeln voraussetzen, und alle Begriffe anwenden, deren sie bedarf." 1 Nur - und das macht ihre Besonderheit aus - müssen alle diese Operationen ausdrücklich in widerspruchsfreiem und konsekutorischen Bezug zu dem aufgezeigten Grundprinzip stehen. Die Erste und Zweite Einleitung in die
Wissenschaftslehre
Diese Artikel eröffneten 1797/98 den - Torso gebliebenen „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre" in i SW I, 7 9 (GA 1,2 S. 148).
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Fichtes „Philosophischem Journal". Die seit 1794 vorgetragene und publizierte Wissenschaftslehre war mittlerweile Gegenstand eines ebenso breiten, wie von buntesten Mißverständnissen durchzogenen Interesses geworden und hatte die verschiedenartigsten Gegner auf den Plan gerufen. So mischt sich auch affektgeladene Apologie in Fichtes Anliegen, das Vorhaben der Wissenschaftslehre von den falschen Vorstellungen zu befreien, die sich darüber verbreitet hatten. Die Erste Einleitung galt dem philosophisch weiter nicht vorbelasteten Leser. Fichte sucht zunächst das Wesen des „transzendentalen Idealismus" am Gegensatz des objektivistischen „Dogmatismus" deutlich zu machen: Der Dogmatiker ist in seiner Erkenntnis abhängig von einer letztlich nicht mehr hinterfragbaren vorgegebenen Objektivität - der transzendentale Idealist bezieht darüber hinaus ausdrücklich auch das Phänomen des Selbst-Bewußtseins, also die Selbsterkundung des Bewußtseins, in den Erkenntnisbereich ein. Die Erforschung des Selbstbewußtseins aber drängt sich nicht auf wie eine mechanische Erfahrung, sondern geschieht überhaupt nur, wenn das Bewußtsein sich dazu entschließt. Es steht dem Bewußtsein frei, sich selbst erkennend zu durchdringen oder dies zu unterlassen. Entschließt es sich zur Selbsterkenntnis, so muß es sich allerdings einer besonderen Forderung fügen: Es muß von den Phänomenen der Objektwelt absehen und seine eigenen Handlungen in den Blick fassen und beobachten. Dabei entdeckt es, daß es notwendige Gesetze der Intelligenz gibt. Und so wird es zu einer spezifischen Aufgabe der Wissenschaftslehre, diese Gesetze exakt und vollständig zu beschreiben. Diese Abstraktion von der Erfahrungswelt hat sich jedoch am Ende wieder mit deren Konkretionen zu verbinden - denn „stimmen die Resultate einer Philosophie mit der Erfahrung nicht überein, so ist diese Philosophie sicher falsch". 2 Die Zweite Einleitung behandelt die Hauptgedanken der ersten „für Leser, die schon ein philosophisches System haben". Dabei 2 SW I, S. 447.
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Fichtes Schriften über die Wissenschaftslehre
erörtert sie eingehend das Verhältnis der Wissenschaftslehre zu Kants Philosophie, betont die wesentliche Übereinstimmung in der kritischen Haltung und schließt ein bemerkenswertes Bekenntnis zu Leibniz ein, der „wohlverstanden" recht gehabt habe. 3 Eine besonders ausgewogene und kunstvoll als Dialog in sechs „Lehrstunden" gearbeitete Hinführung zur Wissenschaftslehre erschien 1801 unter dem Titel Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum eigentliche Wesen der neuesten Philosophie
über
das
Zur Erläuterung entscheidender Züge seiner Wissenschaftslehre bedient Fichte sich hier der Analogie zur Mathematik. Heute würden wird sagen: Wie die mathematische Grundlagenforschung der Idee einer widerspruchsfreien Gesamtwissenschaft der Mathematik, so folgt die Wissenschaftslehre der Idee von der Philosophie als einer widerspruchsfreien Fundamentalwissenschaft vom Wissen überhaupt. Als Fundamentalwissenschaft hat sie auch Grundlagenwissenschaft für die Mathematik zu sein und ist damit im strengen Sinn eine metamathematische Disziplin. Gleichwohl bedarf sie zu ihrer exakten Darstellung des „mathematischen Verfahrens" ebenso wie der ausweisbaren logischen Form. Fichte postuliert für die so verstandene Wissenschaftslehre ausdrücklich ein exaktes Regel- und Symbolsystem, „dessen Zeichen nur ihre Anschauungen und die Verhältnisse derselben zueinander, und schlechthin nichts außer diesen" zu bedeuten hätten. Solange dies nicht geschaffen sei, habe sie das „schwierige Unternehmen zu bestehen, von der Verworrenheit der Wörter aus" zu diesen präzisen Denkoperationen anleiten zu müssen. Mit der Mathematik gemeinsam ist der Wissenschaftslehre aber auch das Verfahren der Konstruktion. Wenn z. B. in der euklidischen Geometrie aus gegebenen zwei Seiten und dem eingeschlossenen Winkel ein Dreieck konstruiert wird, so läßt sich aus dem Resultat mehr ablesen, als isoliert in diesen drei Gegeben3 S W I , S. 514.
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heiten lag. Ganz entsprechend liegt in den Resultaten der gedanklichen Konstruktionen der Wissenschaftslehre stets mehr, als die vorgegebenen Konstruktionselemente für sich darstellen. Wie in der Mathemaik erfolgt diese Konstruktion auch nicht so, daß aus einem Konstruktionsschritt der nächste von selbst entspringt. Wie jeder aus seiner Schulzeit weiß, konstruiert sich keine Geometrieaufgabe von selber weiter, wenn man nach dem ersten Schritt nicht mehr weiter findet. Analog in der Wissenschaftslehre: Sie treibt ihre Synthesen nicht mechanisch aus sich selber heraus; zu all ihren Detailproblemen muß vielmehr stets die spezifische konstruktive Lösung gefunden und angewandt werden. Insofern fordert sie systematisch auch den prinzipiellen Spielraum der kreativen, genetischen Potenz des Bewußtseins zu aktiver Entfaltung heraus. Daß die Lösung gefunden werden muß und von jedem individuellen Bewußtsein in gleicher Weise gefunden werden kann, bedeutet: Wohl hängt dies konstruktive Verfahren davon ab, daß sich das einzelne Bewußtsein zur Realisierung entschließt - dennoch ist die Konstruktion und ihr Resultat nicht subjektive Erfindung, sondern realiter Nachkonstruktion des „gemeinsamen Bewußtseins aller vernünftigen Wesen". 4 Noch ein weiterer Grundzug der Wissenschaftslehre tritt durch diese Analogie heraus: Wie man die Mathematik nur „verstehen" lernen kann, indem man ihre konstituierenden Denkoperationen nachvollzieht, so kann man sich auch nur auf diesem einen Weg vom Inhalt der Wissenschaftslehre „verständliche" Kenntnis verschaffen - man muß ihn sich im gedanklichen Nachvollzug aneignen. Angesichts der zuletzt skizzierten sachlichen Unmöglichkeit, authentische Kenntnis vom Inhalt der Wissenschaftslehre zu vermitteln, ohne dabei die Wissenschaftslehre selbst zu entfalten, gab Fichte es später auch auf, weitere programmatische Schriften zur Wissenschaftslehre erscheinen zu lassen. Er publizierte lediglich noch im Jahr 1810 unter dem Titel Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen « S W II, S. 3 7 9 .
Umrisse
Fichtes Einführungskollegs in die Wissenschaftslehre
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eine Inhaltszusammenfassung, mit der er eine Berliner Vorlesungsreihe zu diesem Thema beschlossen hatte. Zur Eigenart der Orientierungsschriften gehört, daß sie nicht wie man erwarten möchte - eine systematische Übersicht zum Gesamtplan der „Wissenschaftslehre" vorlegen, sondern primär auf die Hinführung zu einer ganz bestimmten Fassung der „Wissenschaftslehre in specie" angelegt sind. Der „Begriff der Wissenschaftslehre" galt der Vorbereitung auf die „Grundlage" von 1794. Die „Erste und Zweite Einleitung" von 1797 sollte die (nach dem ersten Kapitel wieder abgebrochene) „Neue Darstellung der Wissenschaftslehre" von 1797 eröffnen. Auch der „Sonnenklare Bericht" dürfte zur publizistischen Vorbereitung jener geplanten Neufassung der Wissenschaftslehre gedacht gewesen sein, die Fichte 1801/02 in Berlin vortrug und deren erste fünfzehn Paragraphen er schon zum Druck eingerichtet hatte. So erweisen sich diese Schriften in wesentlichen Zügen als Widerspiegelung von Fichtes propädeutischen Gepflogenheiten in der mündlichen Lehrpraxis. Fichte hat auf diese Propädeutik von Anfang an großen Wert gelegt, denn „es gibt eine Menge Fragen, welche die Philosophie erst zu beantworten hat, ehe sie Wissenschaft und Wissenschaftslehre werden kann".5 3. Fichtes Einführungskollegs in die Wissenschaftslehre Der philosophischen Orientierung in allgemeinster Form dienten jene Kollegs für Hörer aller Fakultäten, die Fichte bei der Aufnahme seiner akademischen Lehrtätigkeit sowohl in Jena, wie in Erlangen und Berlin über Die Bestimmung des Gelehrten gehalten hat. Zur differenzierteren Einweisung in das Problemfeld der Philosophie griff Fichte im Wintersemester 1794/95 eine in Jena übliche Form auf, der sich schon seine Vorgänger Reinhold und E. Schmid bedient hatten: Er hielt Vorlesungen über „Logik und s SW VI, S. 301.
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Metaphysik ". Als Leitfaden dazu benutzte er Emst Platners „Philosophische Aphorismen", ein seinerzeit vielgebrauchtes Standardwerk. An dieser Gewohnheit hielt er bis 1812 fest. Seine kommentierenden, teils kritischen, teils ergänzenden Anmerkungen, die er im Laufe der Jahre zu der Platnerschen Vorlage niederschrieb, stellen eine informative Quelle für manche philosophische Gedanken Fichtes dar, die er in seinem eigenen Werk nicht weiter ausgeführt hat. In den Berliner Universitätsjahren 1810-1814 wurde ihm die sorgfältige Hinführung seiner Studenten auf das Verständnis der Wissenschaftslehre durch vorbereitende denkerische Einübung immer wichtiger. Zu diesem Zweck stellte er den eigentlichen Einleitungsvorlesungen zur „Wissenschaftslehre" Kollegs über „Die Tatsachen des Bewußtseins" voran. Und 1812 schickte er auch diesem Kolleg noch eine eigene, die kommentierende Lesung von Platners Aphorismen ersetzende, Vorlesungsreihe unter dem Titel „Ueber das Verhältniß der Logik zur Philosophie oder Transzendentale Logik" voraus. Die Einführungskollegs von 1812/13 sind philosophiegeschichtlich von zusätzlichem Interesse. 1812 erschien Hegels „Wissenschaft der Logik" mit ihrem systematischen Angriff auf Fichte. Auch wenn Fichte das Werk und seinen Verfasser namentlich nicht erwähnt, dürfte es kein Zufall sein, daß er im selben Jahr erstmals eigene Vorlesungen zum „Verhältnis der Logik zur Philosophie" ausarbeitete. Allerdings blieb dabei von der Sache her die Abwehr Hegels nur ein Randphänomen. Die Logik ist zwar nicht, wie der greise Kant bei Fichte mutmaßte, der eigentliche Inhalt einer Wissenschaft der Philosophie, denn diese hat „zum Objekt das ganze Wissen" aber sie ist ein echtes Element der Wissenschaftslehre, weil sie „einen Teil"des Wissens, „das Denken"zu ihrem Objekt hat 6 . Sie kann für Fichte darum angemessen auch nur aus der transzendentalen Sicht der Wissenschaftslehre selbst entfaltet und behandelt werden.
« S W I X , S. 106.
Fichtes Einfiihrungskollegs in die Wissenschaftslehre
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Da Hegel seine „Wissenschaft der Logik" aus einer einfachen Beobachtung dialektischer Bewegungen an den Fakten des Bewußtseins zu gewinnen sucht, transzendentale Einsicht aber erst durch doppelte Reflexion entsteht, hatte Fichte bei der konstruktiven Entfaltung der „Transzendentalen Logik" keinen Anlaß, Hegels Ebene näher zu berücksichtigen. Der natürliche Ort, sich mit den philosophischen Ansprüchen des Hegeischen Systems, dessen Begrenztheiten und Aporien auseinanderzusetzen, waren hingegen die „Tatsachen des Bewußtseins", die Fichte Anfang 1813 behandelte. Auch hier war es wie in der Transzendentalen Logik um das „sich Bewegen des Verstehens" und die „geschlossene Reihe" seiner Momente zu tun. Aber nicht mit dem Ziel der doppelten, die eigentliche Genesis bewußt machenden Reflexion, sondern als sorgfältige Beobachtung des Gewußten und seines Gefüges - also der „Tatsachen" des Bewußtseins und ihrer gegebenen Verzahnungen untereinander. Das Resultat einer solchen „geordneten Selbstbeobachtung des Wissens" kann wohl „ein vorzügliches und Achtung gebietendes Kunstwerk geben" - doch eine „wirkliche Wissenschaft" des Wissens kommt dadurch noch nicht zustande. Wer darum „eine solche Ubersicht aufstellte, der täte, wenn er auch Alles täte, in einer unrichtigen Form, was eine andere Wissenschaft neben und über ihm noch in einer richtigen Form zu tun hätte" 7 . Diese Bemerkung, die für alle philosophische Systematik gilt, in der das „sich Bewegen des Verstehens" nur in der dialektischen Verklammerung seiner Stadien und ihrer „historischen" Abfolge ausgemittelt wird, benutzt Fichte auch zur topologischen Einordnung der von ihm behandelten Vorlesungen über die „Tatsachen des Bewußtseins": Auch wenn hier die ursprünglichen Fakten des Bewußtseins und seines einfachen Selbstwissens vorgestellt und nach ihrer logisch-dialektischen Bedingtheit durchlaufen werden, so ist dies nicht schon „Wissenschaftslehre", sondern die intensivste Form der Hinführung zur Wissenschaftslehre, die Fichte im Lauf seiner akademischen Lehrtätigkeit entwickelt hat. 7
SW IX, S. 410 u. 4 0 5 .
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4. Die „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" 1794/95 a) Analyse der Tathandlung Die erste und einzige Buchveröffentlichung Fichtes zur „Wissenschaftslehre in specie" ist nach Form und Sprache von zwei wesentlichen Aspekten der damaligen philosophischen Situation geprägt. Kant hatte mit seiner kritischen Philosophie fundamentale transzendentale Zusammenhänge des Bewußtseins aufgehellt. Doch war es ihm, wie seine rastlose Arbeit am sog. opus postumum dokumentiert, nicht gelungen, den letzten Zusammenhang zwischen „reiner" und „praktischer" Vernunft sichtbar zu machen. Hier setzte die Forderung Reinholds an, die Philosophie müsse diese Spaltung überwinden und sich aus der Einheit des Wissens entfalten. Dabei könne sie dem Anspruch wissenschaftlicher Form nur genügen, wenn sie das Prinzip dieser Einheit in einem „Grund-Satz" formuliere, aus dem sich das System aller ihrer übrigen Sätze deduktiv gewinnen lasse. Von Seiten der skeptischen Kritik war vor allem auf einen wesentlichen Widerspruch bei Kant hingewiesen worden: Nach seiner Erkenntnistheorie ist das „Ding an sich" unerkennbar; erkennbar ist nur seine - von ihm zwar bewirkte, aber zugleich von den apriorischen Bewußtseinsformen bestimmte - „Erscheinung". Wie aber, so fragte man, kann Kant überhaupt wissen, daß den Erscheinungen im Bewußtsein außerhalb des Bewußtseins existente „Dinge an sich" zugrunde liegen, wenn er deren gänzliche „Unerkennbarkeit" behauptet? In der Gewißheit, mit der „Wissenschaftslehre" diese Fragen lösen zu können, verstand Fichte sie zunächst einfach als Vollendung der Kantischen Transzendentalphilosophie. Daraus ergab sich jener, für die „Grundlage" kennzeichnende, starke Rückbezug auf Kants denkerische Positionen. Ebenso sicher war sich Fichte, mit jener Entdeckung vom Spätherbst 1793 die Philosophie „zum Range einer evidenten Wissenschaft" erheben zu können. Das sollte in der „Grundlage" auch
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äußerlich im Befolgen des Reinholdschen „Grundsatz"-Postulats zum Vorschein kommen. So ergab sich eine Gesamtanlage; in der aus einem „schlechthin unbedingten Grundsatz" und zwei, ihm nachgeordneten, „teilweise bedingten" Grundsätzen zuerst die „Grundlage des theoretischen Wissens" und dann die „Grundlage der Wissenschaft des Praktischen" entwickelt wird. Erster Teil: Die drei Grundsätze Der erste Grundsatz soll jene „Tathandlung" des Bewußtseins ausdrücken, in der alle je möglichen Erkenntnisbewegungen des Bewußtseins ihren Ursprung haben. Wir könnten heute auch sagen: Er soll das operative Grundverfahren des Bewußtseins formulieren. Fichte gewinnt die Beschreibung dieses Grundverfahrens aus dem Phänomen des Selbst-Bewußtseins, also dem merkwürdigen Faktum, daß das Bewußtsein von sich selbst weiß. Von hier aus baut sich die Fichtesche Theorie aus der so einfachen wie genialen Konsequenz auf: Wenn das Bewußtsein im Phänomen des Selbst-Bewußtseins sein eigener Erkenntnisgegenstand ist, muß es auch Gegenstand einer eindringenden, systematisch und exakt geführten wissenschaftlichen Untersuchung sein können. Der erste Schritt dieser Untersuchung wird von der Frage geleitet: Welches fundamentale Verfahren des Bewußtseins kommt im Phänomen des Selbst-Bewußtseins zum Ausdruck? Fichtes Antwort : das Phänomen eines schöpferischen Vorgangs. Warum ? Das Bewußtsein von Dingen kann man hypothetisch damit zu erklären versuchen, daß diese Dinge auf das Bewußtsein einwirken und dadurch ihre Bewußtheit bewirken. Aber diese Deutung versagt beim Selbst-Bewußtsein: Hier liegt das „Objekt" dieser Erkenntnis nicht „außerhalb" des Bewußtseins, sondern ist dies Bewußtsein selber - und nur wenn das Bewußtsein sich selbst realiter erkennt, entsteht Selbst-Bewußtsein. Das Bewirkte (das SelbstBewußtsein) ist somit die Wirkung der eigenen Erkenntnisaktivität des Bewußtseins: Das Bewußtsein erschafft die Bewußtheit von sich aus eigener Kraft.
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Diesen schöpferischen Vorgang, den Fichte später Genesis nennt, bezeichnet er in der „Grundlage" als Tathandlung. Der Akt, der alle wissenschaftliche Untersuchung des Bewußtseins überhaupt erst möglich macht, ist die Tathandlung der Selbstbewußtwerdung. Wortsymbol für ein seiner selbst bewußtes Wesen ist aber bei Fichte der Ausdruck „Ich". Und so kann er die ursprüngliche Tathandlung, durch die das Bewußtsein seiner selbst bewußt, also „Ich" ist, auf die Formel des „Ersten Grundsatzes" bringen: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein." Oder abgekürzt: „Das Ich setzt sich selbst." Wie aber unterscheidet das Bewußtsein sich von den Phänomenen, die ihm gleichfalls bewußt sind, aber durchaus nicht als es selbst erscheinen? Durch eine andere ursprüngliche Handlung, mittels deren es sein Ich-Bewußtsein mit dem Bewußtsein von etwas, das ein „Nicht-Ich" sein soll, konfrontiert. So formuliert Fichte als „Zweiten Grundsatz", dem Ich werde „schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ich". Eine solche Entgegensetzung im Bewußtsein ist aber nur möglich, wenn das Bewußtsein in sich teilbar (ohne seine Einheit zu verlieren aufteilbar) ist. Dies führt zum „Dritten Grundsatz", daß „schlechthin das Ich sowohl als das Nicht-Ich teilbar gesetzt" werden. Den prinzipiellen Inhalt der drei Grundsätze faßt Fichte in der „Formel" zusammen: „Ich setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen." Zweiter Teil: Grundlage des theoretischen Wissens Die bewegende Frage der weiteren Untersuchungen geht nun vom Phänomen des Nicht-Ich aus: Ist dies Phänomen lediglich ein vom Bewußtsein selbst produziertes Phänomen - oder liegt seiner Erscheinung eine Realität außerhalb des Ich zugrunde? Fichte geht die Frage Schritt um Schritt an. Zunächst gilt: Was immer bewußt wird, erscheint damit innerhalb des Bewußtseins. Es hilft sonach wenig, stets neue Fakten bewußt zu machen, die ein „außerhalb" des Bewußtseins beweisen sollen - sie dokumentieren doch stets nur, daß sich der betreffende Wissenszuwachs „innerhalb" des Bewußtseins ereignet.
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Eine Realität „außerhalb" des Bewußtseins ließe sich nur auf dem Wege nachweisen, daß innerhalb des Bewußtseins Ereignisse (nicht bloß Fakten) aufgezeigt werden, die nur dann erklärbar werden, wenn eine solche „äußere Realität" angesetzt wird. Es müßte also gezeigt werden, daß im Ich sich Vorgänge ereignen, bei denen das Ich sich nicht aktiv, sondern passiv verhält - die aktive Ursache somit notwendig im Nicht-Ich zu suchen ist. Streng genommen liegt ein derartiger Vorgang schon darin, daß das Ich sein Selbstbewußtsein als abgegrenzt von jenen Bewußtseinsinhalten erlebt, mit denen es sich nicht unmittelbar identifizieren kann. In der Erkenntnis dieser Grenze setzt das Ich „sich selbst als beschränkt durch das Nicht-Ich". Die genaue Untersuchung, wie das Ich sich zu dieser prinzipiellen Einschränkung verhält, macht den theoretischen Teil der „Grundlage" aus. In fünf großen Untersuchungsschritten, von Fichte als „Synthesen" A - E bezeichnet, wird geklärt, daß und wie Erkenntnis als passive Reaktion des Bewußtseins einer Aktivität des „Nicht-Ich" zu korrespondieren vermag8. In der anschließenden „Deduktion der Vorstellung" wendet sich die Aufmerksamkeit dem eigentümlichen Grenzzustand zwischen Ich und Nicht-Ich zu. Hier „schwebt" das Bewußtsein gewissermaßen genau in der Mitte, im „Medium" zwischen der Aktivität des Nicht-Ich und der Rezeptivität des Ich. Hier, im Übergang vom einen zum andern, ist der Ort jener genetischen Kraft, die aus den einwirkenden Impulsen die Bilder der bewußtseinsimmanenten Vorstellungen schafft. Fichte spricht daher vom „Schweben der Einbildungskraft" und definiert den Verstand sehr anschaulich als das, was aus dem Fließen der im Grenzübergang wirkenden Kräfte das Begreifen ihrer Gebilde zu-stande bringt. Er definiert dabei den Verstand „als die durch Vernunft fixierte Einbildungskraft"; dieser vermöge seinerseits die lebendig-bewegliche „Anschauung"des Bewußtseins zu fixieren. „Urteilskraft"wiederum ist das „freie Vermögen, über schon im Verstände gesetzte Objekte zu reflektieren oder von ihnen zu abstrahieren". Von „allem Objekte überhaupt zu abstrahieren" setzt ein „absolutes 8
Näheres s. u. in Das Prinzip der
Widerspruchsfreiheit.
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Abstraktionsvermögen" voraus, in dem sich die Vernunft manifestiert.9 Dritter Teil: Grundlage der Wissenschaft des Praktischen Dem dritten, beschließenden Teil der „Grundlage" von 1794 liegt keine geringere Aufgabe zugrunde als zu zeigen, „die Vernunft könne selbst nicht theoretisch sein, wenn sie nicht praktisch sei; es sei keine Intelligenz im Menschen möglich, wenn nicht ein praktisches Vermögen in ihm sei; die Möglichkeit aller Vorstellung gründe sich auf das letztere" 10. Ein so fundamental verstandenes praktisches Vermögen läßt sich keineswegs durch eine bloße Untersuchung technischer Machbarkeit erschöpfen. Fichte klärt vielmehr gleich eingangs, daß bewußtes und zu verantwortendes Wirken nur möglich ist, wenn vorgängig eine Zielvorstellung, ein „Ideal" der angestrebten Wirkung existiert. Eine Wissenschaft des Praktischen hat es darum nicht nur mit der faktisch gewonnenen Wirklichkeitserkenntnis einer intelligenten Welterschließung, sondern ebenso mit der „Reihe des Idealen", mit den Problemen von Ethos und Sinn des menschlichen Wirkens zu tun. Leitsatz dieser fundamental „praktischen" Untersuchung ist die Formel „Das Ich setzt sich als bestimmend das Nicht-Ich". Er führt auf zwei wohl zu unterscheidende Problembereiche: 1. Wie muß das Ich sich setzen, damit ihm eine vorstellende Bestimmung des Nicht-Ich möglich ist? 2. Wie geht eine solche Bestimmung technisch-praktisch vor sich? Die detaillierte Beantwortung des zweiten Problemkreises ist nicht Sache der „Wissenschaftslehre in specie" als einer Grundlagendisziplin, sondern genuine Aufgabe der angewandten Einzelwissenschaften. Die Wissenschaftslehre hat vielmehr ihre spezifische Aufgabe in der Beantwortung des ersten Problembereichs. » SW I, S. 233, 242, 244. io SW I, S. 264.
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Dessen gedankliche Hauptlinien legt Fichte im ersten großen Untersuchungsabschnitt, dem „Zweiten Lehrsatz", dar: Aufgabe des Handelns ist, Übereinstimmung von Ich und Nicht-Ich zu verwirklichen. Diese „Forderung, daß alles mit dem Ich übereinstimme, alle Realität durch das Ich schlechthin gesetzt sein solle, ist die Forderung dessen, was man praktische Vernunft nennt." 11 Damit jedoch das individuelle Ich sein Wirken nach diesem Ziel ausrichten kann, braucht es sowohl ein Zielbild (Ideal), wie auch die Kenntnis seiner eigenen Handlungsmöglichkeiten. Das Zielbild eines schöpferischen Handelns, das die Objektwelt in vollkommener Übereinstimmung mit der Selbstbestimmung des Ich zu gestalten vermag, tritt im Bewußtsein auf als Bild vom Wirken eines „absoluten leb". Damit klärt sich, weshalb die „Grundlage" von einem alles setzenden Ich ausgehen kann: In ihr ist „gar nicht die Rede von dem im wirklichen Bewußtsein gegebenen Ich, [...] sondern von einer Idee des Ich"'12. Die weiteren Überlegungen, die Fichte vom dritten bis achten Lehrsatz vorträgt, sind auf dieser Basis geleitet von der Frage: In welchem Verhältnis steht das individuelle Ich zur Idee des absoluten leb? Ihren Weg nehmen sie über die transzendentale Deduktion des dem individuellen Ich Unbewußten. Das individuelle Ich ist sich angesichts der Idee eines absolut vollkommenen Ichs keineswegs unmittelbar bewußt, wie diese Idee in ihm zustande kommt. Andererseits ist sie Teil des Bewußtseins und erscheint insofern nicht ohne dessen Mitwirkung. Wenn aber diese Mitwirkung des individuellen Bewußtseins ohne dessen Kenntnis geschieht, so muß es sich um eine Aktivität des Bewußtseins handeln, die zwar zur Bewußtheit jener Idee führt, nicht aber selber reflexiv mit bewußt gemacht ist. Fichte nennt diese Aktivität das Streben des individuellen Ichs nach vollkommener Bewußtheit und freier Selbstbestimmung. Ein solches Streben ist nur sinnvoll, wenn das Ich den Grad seiner 11 12
S W I , S. 2 6 3 f. S W I, S. 2 7 7 .
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Bewußtheit und Selbstbestimmung tatsächlich steigern kann. Dafür muß es zuförderst sich seiner Unvollkommenheit und Unfertigkeit bewußt werden: Es muß über sich selbst reflektieren können. Das verborgene Streben manifestiert sich daher zunächst als Trieb zur Reflexion. Dieser Reflexionstrieb richtet sich ursprünglich nicht etwa auf eine Widerspiegelung von schon bekannten und begriffenen Bewußtseinsinhalten, sondern zielt schöpferisch auf Bewußtmachung der noch nicht in die Bewußtheit getretenen Aktivitäten und Möglichkeiten des Bewußtseins. Er nimmt auch der Intelligenz des begreifenden Ich die Erkenntnisarbeit nicht ab, fordert sie vielmehr heraus, indem er sie mit dem realen Zustand des Individuums durch das Medium des Gefühls konfrontiert. Die ursprüngliche Reflexion des Bewußtseins hat es daher mit der Bewußtmachung von Gefühlen zu tun. Das gilt auch für die Diskrepanz zwischen dem Ideal unabhängiger Selbstbestimmung und dem konkreten Zustand abhängiger Fremdbestimmtheit: Diese reale Diskrepanz erscheint zunächst als Gefühl eines unbestimmten Sehnens. An diesem Sehnen erst setzt das schöpferisch erkennende Begreifen an und entwirft mögliche Zielvorstellungen, die dieser Sehnsucht entsprechen könnten. Hierdurch entsteht, was Fichte die „Reihe des Idealen" nennt. Diese Reihe verdankt sich wiederum einer Wechselwirkung von Gefühl und Idee-Entwurf: Die Reflexion prüft jeweils, ob die entworfene Wertvorstellung dem ursprünglichen Sehnen des Ich Genüge zu leisten vermag oder nicht. Höchstes reales Kriterium ist dabei das Gefühl der Befriedigung des Sehnens. Solange das entworfene Ziel dem Sehnen nur teilweise entspricht, spaltet sich das Gefühl: Es entsteht Gefallen an jenem Aspekt der entworfenen Wertvorstellung, der in Richtung des ersehnten Ziels weist, und Mißfallen an jenen Aspekten, die dem ursprünglichen Sehnen nicht genügen. Aus dem Bestreben, dem ureigensten Sehnen immer adäquatere Zielvorstellungen zu bilden, lassen sich so immer höhere und umfassendere Ideale bewußt machen. In nüchterner moderner
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Sprache wäre die formale Seite dieser schöpferischen Reflexion im individuellen Bewußtsein durchaus als „idealer Regelkreis" anzusprechen. Dieser ideale Progreß, den Fichte um seines ethischen Charakters willen in den späteren Wissenschaftslehren gerne als „Aufsteigen" anspricht, geht jedoch nicht endlos weiter, sondern vollendet sich in jener Idee des „absoluten Ich" - also in dem Gedanken eines Selbst-Bewußtseins, in dem alles Sehnen erfüllt ist, das in vollkommener Übereinstimmung mit sich und allem Wirklichen lebt. Durch diesen idealen Progreß wird zugleich im erhellenden Nachvollzug die ursprüngliche Genesis aufgeklärt, der sich die faktische Idee eines absolut sich selbst setzenden Ich verdankt, von der die Wissenschaftslehre als ihrem obersten „Grundsatz" ausgehen konnte. (Der Reflexionsgang der Wissenschaftslehre kehrt damit in seinen Ausgangspunkt zurück.) Von dem inneren Aufbau einer solche „Reihe des Idealen" samt der Erkenntnis ihrer Gesetzmäßigkeit ist wohl zu unterscheiden der reale Progreß, durch den das individuelle Ich die erkannten Ideale in die Tat seiner konkreten Selbstverwirklichung umsetzt. Sie erst macht die reale Geschichtlichkeit des Individuums aus gehört von daher allerdings auch in den Bereich des „angewandten Wissens". Doch gilt der „Regelkreis" der Reflexion auch hier. Nur spielt er sich in diesem Bereich ab zwischen Handlungsentwurf und Handlungsausführung. Die „Reihe des Idealen" als Wegbild der Sinnerfüllung hat dabei eine andere Funktion: Sie liefert zum einen den ethischen Maßstab, ob der jeweilige Handlungse«itf«//dem entspricht, was durch das Individuum verwirklicht werden soll oder nicht verwirklicht werden soll; also den Maßstab, ob das Ich ethisch verantworten kann, was es in reale Tat umzusetzen gedenkt. Zum anderen gibt sie aber auch Auskunft über die prinzipiellen schöpferischen Möglichkeiten des Ich - denn das elementare Streben des Ich ist ineins Ausdruck der potentiellen Kraft des Ich. Sein Sehnen nach voller Selbstverwirklichung schließt den Wunsch nach voller Entbindung dieser Kraft ein. Von daher bildet die „Reihe des Idealen" zugleich die Stadien und die Formen vor,
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in denen die schöpferische Kraft des Ich sich stufenweise entfalten läßt. b) Das Wesen endlicher vernünftiger Naturen Im Rahmen des „Zweiten Lehrsatzes" faßt Fichte thesenartig zusammen, wie der Prozeß der Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung „endlicher vernünftiger Naturen", also des individuellen Bewußtseins, sich vom Ansatz der „Grundlage" her darstellt 13 : 1. Ursprüngliche Idee unseres absoluten Seins. 2. Streben zur Reflexion über uns selbst nach dieser Idee; 3. Einschränkung, nicht dieses Strebens, aber unseres durch diese Einschränkung erst gesetzten wirklichen Daseins durch ein entgegengesetztes Prinzip, ein Nicht-Ich, oder überhaupt durch unsere Endlichkeit; 4. Selbstbewußtsein und insbesondre Bewußtsein unseres praktischen Strebens; 5. Bestimmung unserer Vorstellungen danach (teils mit Freiheit, teils ohne Freiheit); 6. durch diese Vorstellungen Bestimmung unserer Handlungen, d. h. der Richtung unseres wirklichen sinnlichen Vermögens; 7. stete Erweiterung unserer Schranken ins Unendliche fort. c) Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit Die Funktion des „Widerspruchs" in Fichtes Wissenschaftslehre hat von Anfang an viele Fehldeutungen erfahren. Daß Fichte, der geniale Redner, gerade in der „Grundlage" 1794 exemplarische Widersprüche, die zur philosophischen Behandlung anstanden, des öfteren dramatisch akzentuierend einführte, mag dabei mitgewirkt haben. Doch das eigentliche Problem liegt an anderer Stelle und greift tief in wissenschaftstheoretische Fragestellungen ein. 13
SW I, S. 278.
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Als Wissenschaft vom Bewußtsein kann die „Grundlage" einerseits an einem so elementaren Bewußtseinsphänomen wie dem „Widerspruch" unmöglich vorbeigehen. Sie muß dessen Faktizität vielmehr ausdrücklich thematisieren, um sie in wissenschaftlich korrekter Form als Untersucbungsgegenstand greifbar haben zu können. Überdies war es von der historischen Situation her ihr erklärtes Ziel, die an Kants Transzendentalphilosophie kritisierten ungelösten Widersprüche als durchaus lösbar aufzuzeigen. Fichte muß andererseits ebenso darauf beharren, daß die Argumentationsführung der Wissenschaftslehre auch in der Behandlung des Widerspruchsphänomens der Forderung auf Widerspruchsfreiheit ihrer eigenen logischen Operationen genügen müsse. Andernfalls fiele alle Wissenschaft dahin. Nun kann man einen bestimmten Widerspruch nur dadurch thematisieren, daß man widersprechende Aussagen und Argumentationen einander konfrontiert. Die Argumentationsgänge in der Wissenschaftslehre, die der Problemdemonstration dienen, müssen somit wohl unterschieden werden von jenen Gedankengängen, in denen die Problemlösung vorgetragen wird. Für die argumentativen Lösungsoperationen gilt ausdrücklich sowohl der Satz der Identität „A ist A", wie auch der Satz des Widerspruchs „A ist nicht gleich Nicht-A". Inhaltlich geht die Lösungsarbeit so vor sich, daß für die kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen der Problemdemonstration eine vermittelnde dritte Aussage gesucht wird, die zu den beiden ersten nicht in einem kontradiktorischen Verhältnis steht und dadurch das durch die unmittelbare Kontradiktion gegebene ausschließendeMoment des Widerspruchs zu überbrücken vermag14. Um ein schlichtes Beispiel zu nehmen: Die Zahl 3 ist nicht gleich der Zahl 2; darum wäre die Behauptung 3 = 2 ein unverträglicher Widerspruch. Doch ein solcher Widerspruch wäre kein Argument dafür, daß die Existenz beider Zahlen nicht in Bezug zueinander gesetzt werden könnte: So unzulässig die Behauptung 3 = 2 ist, so zulässig ist etwa die Relation 3 = 2 + 1. 14
SW I, S. 143.
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Daran wird eine wesentliche Einsicht der Wissenschaftslehre deutlich: Ein Widerspruch entspringt stets aus bestimmten, angebbaren Denkoperationen - und er läßt sich vermeiden, wenn es möglich ist, andere verbindende Denkoperationen zu finden, die dem Satz der Identität nicht widerstreiten. Solche nicht widersprüchliche logische Lösungsoperationen zu finden, macht einen wesentlichen Aspekt der kreativen Gedankenarbeit in der Wissenschaftslehre aus. Wie Fichte dabei vorgeht, läßt sich für die rein formale Seite dieser Gedankenoperationen gut an einer algebraischen Umsetzung ihrer Struktur demonstrieren. Wir wollen dabei den Satz der Identität ausdrücken durch „x = x". Wir setzen ferner „y ¥= x"; diese Ungleichung befaßt als Sonderfall die Möglichkeit „y = - x " in sich und schließt damit durch ihre Geltung die Möglichkeit einer kontradiktorischen Gleichsetzung von „x" und ,,-x" aus. Erlaubt sind im übrigen alle verknüpfenden Operationen zwischen „x" und „y", soweit sie die festgesetzten Geltungen nicht verletzen. Wir können nun x als Symbolausdruck für die Tätigkeit des „Ich" und y als Symbolausdruck für die Tätigkeit des „Nicht-Ich" nehmen. Wir sehen dann aufgrund von Fichtes eindeutigen Definitionen sehr klar, wie er die scheinbar so psychologisierenden Ausdrücke „Tun" und „Leiden" verstanden haben will: „Tun" ist positiv bestimmbare Tätigkeit (+x); „Leiden" dagegen ist nur in Negativwerten des Tuns angebbar (y = -x). Beide stehen also in einer wechselseitigen Zuordnung, wie in der Zahlentheorie die Reihe der positiven und der negativen Zahlen. Nun geht die „Grundlage des theoretischen Wissens" in Fichtes Werk von 1794 spezifisch von dem Verhältnis aus, daß einem „Tun" des Nicht-Ich exakt ein gleiches Maß an „Leiden" des Ich entspreche. In unserer symbolischen Umsetzung wäre das die Geltung y = - x . Wir können das auch schreiben x + y = 0 oder x - x = 0 und sehen daran sehr schön, in welchem Sinne Fichte die Feststellung meint, widersprechende Elemente müßten sich gegenseitig „aufheben" oder, wie er zuweilen dramatisch formuliert, „Vernich-
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ten". Nüchtern heißt das nur: die Nullform einer legitim möglichen Gleichung herstellen. Das aber ist keineswegs ein „Widerspruch" in logischer Hinsicht. Aus der Nullgleichung läßt sich die Umkehrung x = - y gewinnen. Damit wird die Behauptung möglich, auch dem „Tun" (+x) des Ich korrespondiere ein gleiches Maß an „Leiden" (-y) des Nicht-Ich. Fichte nennt die Geltung beider Relationsformen y = - x und x = - y das Prinzip der gegenseitigen Wechselbestimmung von Ich und Nicht-Ich 15. Riskant wird die Situation, wenn wir mit der Potenzierung arbeiten, denn die geradzahligen Potenzen sind für positive und negative Zahlen gleich positiv. In x 2 = y 2 geht demnach die für unser Symbolsystem entscheidende Differenz zwischen + x und - x verloren. Wir können auch umgekehrt sagen: Aus der Form x 2 = y 2 lassen sich vier Wurzelgleichungen ausziehen, von denen zwei (x =—y und y = -x) in unserm Symbolsystem widerspruchslos möglich sind - die beiden andern (x = y und - x = -y) sich jedoch als unverträglich mit dem System erweisen, weil sie die Geltung x =1= y verletzen und somit zum systemzerstörenden Widerspruch führen. Wir haben damit quasi die legitime operative Quelle des „Widerspruchs" aufgedeckt: Sie liegt in der prinzipiell durchaus erlaubten Radizierung. Ob es zum logikzerstörenden Widerspruch kommt, liegt nicht daran, ob überhaupt radiziert wird, sondern für welche denkmögliche Wurzel man sich praktisch zum Fortgang der Operation entscheidet. Um die logisch verträgliche Entscheidung fällen zu können, braucht es somit die Kenntnis von der Auswirkung der einzelnen Wurzel. Fichte nennt darum die Überlegung, die dieses Differenzschema logischer und alogischer Operationsentscheidungen herausarbeitet, die „Synthesis der Wirksamkeit (Kausalität)" 16. Eine eigene Operation wiederum macht es aus, die - im mathematischen Sinne - absoluten Werte von Ixl und lyl gegenüber den positiven (+x; +y) oder negativen (-x; -y) abzugrenzen. An 15 16
SW I, S. 125-131. ebd. S. 131-136.
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dieser Operationsform vollzieht sich Fichtes Klärung der „Substantialität" 17. Ist der „absolute" Wert von der „positiven" oder „negativen" Bestimmtheit des x und y abhebbar, so wird es auch möglich, mit der Operation - (xy) gewissermaßen in der Schwebe zu lassen, welchem der beiden Faktoren die positive oder negative Bestimmtheit zuzuordnen ist. Dieser multiplikative Schwebezustand läßt sich in einer präzisen Gleichung einfangen: (+x) (-y) = (-x) (+y). Das läßt sich in eine Divisionsgleichung umformen und erbringt das Resultat (-x) (+y) _ 1 (+x) (-y) ' Und in letztere „Formel" mündet symbolisch gesehen die „Synthetische Vereinigung des zwischen den beiden aufgestellten Arten der Wechselbestimmung stattfindenden Gegensatzes" am Ende von Fichtes fünfgliedriger Analyse der „Grundlage des theoretischen Wissens" 18. Die anschließende „Deduktion der Vorstellung" 19 befaßt sich mit der transzendentalen Legitimität der Umkehrung dieser Formel zu (+x) (-y) (-x) (+y) ' All das sieht unscheinbar und vermeintlich trivial aus. Aber sehen wir davon ab, daß es sich in unserer Analogie nur um die mathematische Widerspiegelung höchst komplexer metamathematischer Gedankenführungen handelt, so macht der mathematische Prozeß auch einen bemerkenswerten Aspekt sichtbar: Er zeigt, wie aus der „Null-Form" x + y = 0 widerspruchsfrei eine „Einheits-Form'* gewonnen werden kann. " ebd. S. 136-145. is SW I, S. 145-227. i' SW I, S. 227-246.
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Im Feld der transzendentalen Denkoperationen ist dieser Prozeß von höchster Bedeutung. Denn er macht logisch einsichtig, daß das bloß additive Verhältnis von Gegensätzen, in dem sie sich zu Null aufheben, keineswegs der Weisheit letzter Schluß ist - daß sich vielmehr gleichermaßen Bedingungen aufzeigen lassen, unter denen sie gemeinsam eine Einheit bilden. Daß dies prinzipiell möglich und logisch korrekt ist, zeigt Fichte im theoretischen Teil der „Grundlage" an dem Sonderfall y = - x , also für jenen Fall, daß die Tätigkeiten von Ich und Nicht-Ich sich gegenseitig restlos neutralisieren. Wir können diesen Sonderfall leicht an einem cartesischen Koordinatensystem anschaulich machen (Abb. 1): Die Gerade g versinnbildlicht die „Einheit" aus x und y, die unter der Bedingung y = - x möglich und realisierbar ist. +y 9
Wie aber steht es mit den unabsehbar mannigfachen Fällen, in denen sich x und y nicht absolut entsprechen, für die vielmehr Ixl+Iyl gilt? Lassen sich auch hier prinzipielle Bedingungen aufzeigen, die eine Einheitsbeziehung zwischen beiden ermöglichen? Mit diesem Problem beschäftigt sich 1794 die „Grundlage der Wissenschaft des Praktischen". Ihr Resultat, daß auch dies operativ widerspruchsfrei möglich sei, spiegelt sich in unserer mathematischen Analogie so: Eine Einheitsform läßt sich widerspruchsfrei dann herstellen, wenn die Ungleichung Xn+yn durch eine zweite Ungleichung x m + y m „aufgehoben" wird, d. h. wenn gilt (Xn) (Xm)
(yn) (ym)
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Was damit gewonnen ist, läßt sich wiederum am cartesischen Koordinatensystem anschaulich machen: Während durch die „reine Theorie" nur die Widerspruchsfreiheit all der Werte von x und y zu sichern war, die der Gleichung y — x genügen, ist jetzt auch die Widerspruchsfreiheit beliebig vieler Werte von x und y zu sichern, die dieser Gleichung nicht genügen - sofern die Bedingung eingehalten wird, daß jedem Wert (xn; yn) ein „symmetrischer" Wert (xm; ym) entspricht, für den die Gerade g (y = -x) die Symmetrieachse darstellt (Abb. 2).
Nun braucht einer positiven Tätigkeit (+y) des Nicht-Ich keineswegs mehr eine negative Tätigkeit (-x) des Ich zu korrespondieren; beide können vielmehr positiv sein, ohne daß daraus ein Widerspruch entsteht (etwa: x n = 2; yn = 1; x m = l ; ym = 2). Nur ein Verhältnis bleibt nach wie vor unmöglich: die Gleichsetzung x = y (in Abb. 2 die Gerade g w ). Wohl ist praktisch jede beliebige Annäherung an dies Verhältnis möglich. Aber Widerspruchsfreiheit des Systems ist nur möglich, wenn die Ungleichung x=t=y ohne jede Einschränkung gilt und nie durch die Behauptung x = y aufgehoben wird. d) Die Reflexionsform des individuellen Selbstbewußtseins Zum Verständnis der für das ungeschulte Auge oft verwirrend und verwickelt erscheinenden Reflexionsstrukturen in Fichtes Wissenschaftslehre leistet eine andere mathematische Analogie, die zur Geometrie der Kegelschnitte, wertvolle Hilfe. Die Selbstreflexion des Bewußtseins läuft nämlich nicht in der einfachen Form ab, nach der unser Auge sich erblickt, wenn es sich
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direkt in einem Spiegel anschaut. Sie entspricht vielmehr dem „doppelten" Reflexionsverhältnis, das entsteht, wenn wir unser Spiegelbild in einem zweiten Spiegel betrachten 20 . Fragen wir uns, welches übergeordnete Reflexionsprinzip hinter dieser doppelten Spiegelungsart steht, so stoßen wir auf das Reflexionsgesetz der Ellipse: Ein Lichtstrahl, der vom Brennpunkt Fi einer Ellipse ausgeht, wird nicht direkt, sondern über zwei Brechungspunkte Pi und Pi zu seinem Ausgangspunkt zurückgeworfen (Abb. 3). Das Besondere dabei ist, daß alle von Fi ausgehenden Strahlen, in welcher Richtung auch immer sie Fi verlas-
Nehmen wir Fi symbolisch als das Erkenntnissubjekt, von dem alle Reflexionsakte ausgehen und in dem sie sich wieder vereinigen, so kann F2 als „Bild" dieses ursprünglichen Vorgangs angesehen werden: Denn wie in ihrem Ursprung Fi sind auch in F2 die schöpferischen Akte der Reflexion, wenngleich mittelbar, zusammengefaßt und strahlen ähnlich wieder auseinander. Mit dem wesentlichen Unterschied freilich: Fi als Erkenntnissubjekt erzeugt die Reflexionsakte; F2 dagegen wird erst durch die reflexive Zusammenfassung der von Fi ausgehenden Akte manifest, ist nicht selber Ursprungspunkt dieser Akte, sondern reflexive Nachbildung des Ursprungspunktes. 20
Vgl. GA IV,2, S. 86. „Das Ich schaut sich nämlich selbst an als anschauend etwas anderes."
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An dem Ellipsenmodell läßt sich auch das Verhältnis von bewußter und unbewußter Aktivität, das Fichte im praktischen Teil der „Grundlage" nachdrücklich herausarbeitet, anschaulich machen, wenn wir annehmen (Abb. 4), die Primarreflexion (in P) geschehe unmittelbar unbewußt, unmittelbar bewußt sei dagegen die Sekundarreflexion (in P').
P*
P
Abb. 4
Für die einfache unmittelbare Bewußtheit sieht es dann so aus, als sei F2 die ursprüngliche Quelle all der Phänomene, die von Fi rezipiert werden; was eben jenem Verhältnis entspricht, das Fichte mit der Formel ausdrückt: „Das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich" 21. Soll auch die Primarreflexion zur Bewußtheit kommen, so kann dies nur heißen: Sie muß im Bereich des „objektiv" Bewußten, d.h. im Bereich der Sekundarreflexion sichtbar gemacht, also „nachgebildet" werden. Dieses projizierende Sichtbarmachen des für sich Unsichtbaren durch Transposition in den Bereich der objektiven Bewußtheit macht einen wesentlichen Aspekt der transzendentalen Arbeit aus. a) Nun ist das Eigentümliche an der elliptischen Reflexion, daß die Winkelverhältnisse der Sekundarreflexion sich, von einer Ausnahme abgesehen, nicht mit denen der Primarreflexion decken. Nur in dem Sonderfall, bei dem der Reflexionsstrahl lotrecht in F2 auf die Hauptsache der Ellipse trifft, entsteht innerhalb einer durchlaufenden Gesamtreflexion eine Form des Sekundarteiles, 21
SW I, S. 127.
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die ein kongruentes Symmetriebild ihres Primarteiles abgibt (Abb. 5).
An diesem Sonderfall läßt sich innerhalb des Bereichs der objektiven Bewußtheit unmittelbar die Gestalt des ersten Reflexionsteils F1P1F2 ablesen, die sich in ihrem objektiviert-bewußten Teil F2P2F1 spiegelt. Das macht diesen Spezialfall vorzüglich dafür geeignet, mit der Analyse seiner objektivierten Struktur zugleich eine Strukturanalyse des ihn bedingenden anfänglichen Reflexionsaktes zu gewinnen. Dem Reflexionsmuster des wirklichen Bewußtseins, das diesem geometrischen Sonderfall entspricht, gelten denn auch folgerichtig die einleitenden Untersuchungen der „Grundlage" 1794 in den Synthesen A-E der „Grundlage des theoretischen Wissens"22. b) Doch auch wenn die Formmuster der beiden Reflexionsabschnitte hier deckungsgleich sind, in einer Hinsicht steht das Sekundarbild im Widerspruch zum Primärmuster F1P1F2: Wenn F2 im Sekundärmuster als Bild für Fi fungieren soll, dann müßte der von F2 ausgehende Strahl auch denselben Winkel wie der von Fi ausgehende Strahl haben. Soll das objektive Sekundarbild also nicht nur die Form3 sondern auch die Funktionsverhältnisse des Primarteils der Reflexion sichtbar machen, so muß das Muster F1F2P2 „umgekehrt" werden zum Muster F1F2P3, das die Formund Funktionsverhältnisse der Teilreflexion F1P1F2 „realistisch" wiedergibt. Das allerdings ist nicht innerhalb desselben Refle" s w I, S. 125-227.
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xionszusammenhangs F1P1P2F1 möglich; vielmehr läßt sich dies „realistische" Funktionsbild nur durch einen neuen Reflexionsstrahl erzeugen, dessen Primarteil so in F2 einfällt, daß er von P3 aus lotrecht zur Hauptachse auf Fi trifft (Abb. 5). Die Notwendigkeit dieser „realistischen" Symmetriebildung im Bereich der objektiven Bewußtheit liefert in der „Grundlage" Fichte den Anlaß zu den Untersuchungen für die „Deduktion der Vorstellung"23. c) Auch die Problemkonstellation läßt sich an unserm Ellipsenmodell formal umrißhaft anschaulich machen, die Fichtes Untersuchungen im Dritten Teil der „Grundlage", in der „Grundlage der Wissenschaft des Praktischen" bestimmt. Hier geht es ebenfalls um das mit dem obigen Sonderfall schon berührte Phänomen der Symmetriebildung: Im Bereich der Sekundarreflexion läßt sich jedem einzelnen Reflexionsmuster ein symmetrisches „Gegenbild" zuordnen; jeder denkbare Reflexionspunkt hat seinen symmetrischen Gegenpunkt, wobei die Nebenachse der Ellipse als Symmetrieachse fungiert. Davon gibt es wieder eine Ausnahme: Der Reflexionspunkt D, der von Fi und F2 gleich weit entfernt ist, hat innerhalb des Sekundarbereichs keinen zugehörigen Symmetriepunkt; ebensowenig hat das mit ihm gebildete Teilmuster F1F2D dort ein symmetrisches „Gegenbild" (Abb. 6).
Realität
A
•. F:
D
Idealität
•C Abb. 6
Die Reflexionsstruktur mit diesem Punkt D unserer Analogie bedeutet in der Reflexionswirklichkeit des Bewußtseins die «
SW I, S. 2 2 7 - 2 4 6 .
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Grenze zwischen „idealer" und „realer" Bewußtheit. Dieses besondere Reflexionsmoment trennt die Reflexion der empirischen, aposteriorischen Realität von der Reflexion ihrer transzendentalen, apriorischen Idealität24. Zugleich trennt es sie nicht nur, sondern verbindet in sich beide unmittelbar: Es ist in seiner Singularität unmittelbare Einheit von Ideal und Leben - ist das Urbild „idealer Realität".
5. Der Vortrag der Wissenschaftslehre im Frühjahr 1804 Im Laufe des Jahres 1804 trug Fichte die Wissenschaftslehre dreimal vor. Der zweite Zyklus mit seinen 28 Vorlesungen 2 5 geriet ihm dabei zu einem Meisterwerk „an Energie des Denkens, wie an Kraft und Virtuosität vielbeweglicher Darstellung und glücklicher Blicke" 2 6 . Er zählt zu den größten klassischen Texten der Philosophiegeschichte. Zwar war der Text für Fichte selbst nur ein Versuch unter vielen, der Darlegung der Wissenschaftslehre immer größere Klarheit und Einfachheit zu verleihen - eine Vorarbeit zu ihrer angestrebten endgültigen Darstellungsform, die sowohl leichter Faßlichkeit wie strenger Wissenschaftlichkeit Genüge leisten sollte. Doch kommen in dieser Ausarbeitung jene Ergänzungen besonders markant zur Geltung, deren die Wissenschaftslehre im Anschluß an die „Grundlage" von 1794 noch bedurfte, um „in sich selber rein abgeschlossen" und in ihrer „äußern Form vollendet" zu sein 2 7 . Fichtes Arbeit an der Wissenschaftslehre zwischen 1795 und 1804 war von zwei Hauptanliegen geprägt: 1. Einfachere, klarere und stringentere Vermittlung der mit der „Grundlage" erschlos24 25
26
"
SW I, S. 2 7 7 . Im folgenden abgekürzt W L 1 8 0 4 2 . Seitenangaben nach SW X , Zitate nach „Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1 8 0 4 . Gereinigte Fassung" Hamburg 1975. Fichte, I. H., Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie, Sulzbach 1841, S. 531. GA 111,5 Nr. 6 5 7 .
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senen Inhalte - 2. Ergänzung dieser Inhalte um die dort noch fehlende „höchste Synthesis" der Interpersonalität. Fichte war schon früh deutlich geworden, daß die didaktische Gliederung der „Grundlage" von 1794 in einen Bereich des „Theoretischen Wissens" und einen solchen der „Wissenschaft des Praktischen" seiner zentralen Lehre von der unauflösbaren Verbindung zwischen Theorie und Praxis wenig adäquat und dienlich war. Schon 1796 kündigte er seine Jenaer Vorlesungen mit dem Hinweis an, er werde die Wissenschaftslehre „nova methodo", nach einer neuen Art, vortragen. Diese neue Methode unterscheidet sich von der in der „Grundlage" angewandten insbesondere dadurch, daß Fichte nicht mehr das Phänomen des Widerspruchs zum Ausgangspunkt und seine schrittweise Aufhebung zum Leitfaden nimmt, sondern nach dem methodischen Modell einer geometrischen Konstruktion verfährt: Er stellt die Formulierung einer „Hauptaufgabe" voran und zeigt von ihr aus, durch welche Gedankenoperationen die Aufgabe Schritt um Schritt ihrer Lösung zugeführt wird 28 . Die Arbeit am Widerspruch ist damit nicht im mindesten ausgeklammert; aber sie läßt sich nun der einheitlichen Lösungsform der Gesamtaufgabe einbetten. Die neue Methode bringt jedoch auch ein neues Problem mit sich: Fichte muß für die „Hauptaufgabe" der Wissenschaftslehre eine Formulierung finden, aus der sich möglichst einleuchtend und auf möglichst einfachem Wege alle Teilprobleme und Lösungsprozesse der ganzen Wissenschaftslehre entwickeln lassen. Sein lebenslanges Ringen „nach Einfachheit und Klarheit" in der Wissenschaftslehre wurde darum zugleich zu einem Ringen um die geeignetste „Ausgangsformel". In gewisser Weise kann man Fichtes Problem mit den Versuchen eines Bergführers vergleichen, die günstigste Route an einem unerschlossenen, besonders schwierigen Berg zu finden; auch wenn er dabei immer wieder einen andern Einstieg wählt und unterschiedliche Aufstiegsrouten erprobt, so bleibt doch das 28 Vgl. GA IV,2 S. 14.
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Ziel stets ein und dasselbe: auf den Gipfel dieses Berges zu führen 29 . Mit der methodischen Umstellung in der didaktischen Entfaltung der Wissenschaftslehre verschränkte sich zusehends das Problem der „höchsten Synthesis", d. h. die Frage nach dem Absoluten. Die „Grundlage" hatte dies Problem wohl tangiert, aber nicht expressis verbis durchgearbeitet. Wieviel hier noch zu klären war, zeigt sich eindrücklich daran, daß Fichte erst zehn Jahre später die Zeit gekommen sah, seine Antwort auf diese Frage einer breiteren Öffentlichkeit vorzutragen. Die „Grundlage" hatte den Unterschied zwischen „absolutem Ich" und „endlichem Vernunftwesen" (dem seiner selbst bewußten individuellen Ich) herausgearbeitet. Die Theorie der Interpersonalität im „Naturrecht" (1796) hatte klar gemacht, daß die Existenz „mehrerer" endlicher Vernunftwesen denknotwendig ist und eine „Welt" als gemeinsame Sphäre ihrer Wirksamkeit und Kommunikation existieren muß. Was aber ist der letzte Grund dieser Vielfalt, worauf beruht ihr absoluter Zusammenhalt? a) Phänomenologie des Wegs zur Vernunft- und Wahrheitslehre Fichte gewinnt die „Problemformel", die er dem zweiten Vortragszyklus von 1804 zugrunde legt, aus der Frage nach der letzten und höchsten Wahrheit: Die Hauptaufgabe der Wissenschaftslehre wird formuliert als „Alles Mannigfaltige zurückzuführen auf absolute Einheit". Die Lösung dieser Aufgabe führt zur Darstellung der Einheit der Wahrheit30. Vom Wahrheitsbegriff aus entfaltet Fichte auch die Dialektik zwischen veränderlichen und unveränderlichen Bewußtseinsdaten. Das Bewußtsein selbst ist Kronzeuge dieser Antithetik: Es ändert sich mit jedem neu auftretenden Inhalt - und doch bleibt es stets „Bewußtsein". Demnach muß in ihm eine „organische Einheit" solcher Gegensätze verborgen liegen. Worin besteht sie? Die Fak29
30
Vgl. J. Widmann, Das Problem der veränderten Vortragsformen von Fichtes Wissenschaftslehre; in: Der Transzendentale Gedanke, hrsg. v. K. Hammacher. Hamburg 1981. S. 1 4 3 - 1 5 1 . Vgl. die eingehende Analyse der operativen Stadien in Joachim Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre 1 8 0 4 2 . Hamburg 1977.
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tizität, ihr einfaches Vorkommen im Bewußtsein ist das, was beiden trotz aller sonstigen Gegensätze oder Unvereinbarkeiten gemeinsam ist. Doch woher wissen wir das, wenn die Vereinigung des Unvereinbaren „logisch" gar nicht möglich scheint? Wir sehen das Beisammensein unvereinbarer Gegensätze - es leuchtet uns ohne weitere Begründung ein, daß es so ist. Also gibt es ein „Licht" in unserm Bewußtsein, das etwas vermag, was dem Begreifen unmöglich erscheint und dessen äußersten Widerspruch herausfordert. Aber die Grenze, auf die der Begriff hier stößt, hemmt sein Begreifen nicht absolut, sondern öffnet ihm zugleich eine neue Möglichkeit: Sie erlaubt seine Selbstreflexion, macht es ihm möglich, sich von einem „anderen", das nicht „begreifen" ist, abzugrenzen und zu unterscheiden. Fichte nennt diesen Vorgang das „Begreifen des Unbegreiflichen". Er wird ihm zum Tor in die innersten genetischen Bezirke des Bewußtseins. Denn näher betrachtet ist das Phänomen der Unbegreiflichkeit keineswegs so lähmend, wie es dem bloßen Faktenbewußtsein vorkommt: Was als „nicht begriffen" begegnet, braucht darum noch nicht absolut unbegreiflich zu sein - es könnte ebensowohl lediglich noch nicht Begriffenes sein. Und nun hakt Fichte an zwei Punkten ein: Um überhaupt zu einer sicheren Unterscheidung von „begreiflich" und „absolut unbegreiflich" kommen zu können, muß geklärt sein, was überhaupt „begreifen" und was „absolut" bedeutet. Zunächst wird erörtert, was „begreifen" sei: Der operativen Form nach ein - wie Fichte eigenwillig und treffend zugleich formuliert - „Durch-ein-ander". Das will besagen: „eines" wird „durch" ein „anderes" erfaßt. Für die reale Lebendigkeit des Bewußtseins heißt das ganz umittelbar: Ohne Akt des Begreifens kein Begriffenes - und ohne Begreifbares kein aktuales Begreifen. Kann ich also begreifen, was „unbegreiflich" bedeutet, so muß an dem vermeintlich „absolut" Unbegreiflichen sehr wohl etwas Begreifbares, von mir nur nicht distinkt und deutlich Begriffenes sein.
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Doch wie erzeugt sich überhaupt meine Erkenntnis, etwas erscheine als unbegreiflich? Wäre es wirklich unbegreiflich, so könnte ich nicht einmal begreifen, daß es „unbegreiflich" ist. Absolut unbegreiflich wäre also nur, was mir nicht begrifflich bewußt sein und auch nie bewußt werden kann. Ein Sein also, das, wie Fichte sagt, für das Begreifen „ewig gleich Null" ist, radikal von allem ausgeschlossen ist, was je bewußt „sein" wird. Mit dieser Antithetik von „Sein" und „Nichtsein" hat Fichte den „Anfang" aller Bewußtseinsgenesis freigelegt. Jahre später wird auch Hegel diesen Anfang seiner „Logik" voranstellen. Anders jedoch als Hegel untersucht Fichte in seiner Wissenschaftslehre nicht nur die Richtung vom Anfang zu den bewußt werdenden Resultaten, sondern ebenso die gegenläufige Bewegung, mit der das Bewußtsein die Anfangsstruktur reflektiert. Der bewußt gemachte Anfang ist darum bei Fichte nicht nur Ausgangspunkt für die bewußte Nachzeichnung aller genetischen Prozesse und Resultate, sondern ebenso absoluter Wendepunkt für die Selbstreflexion des Wissens. Folgerichtig bezeichnet Fichte die zu diesem Punkt führenden acht ersten Vorlesungen als „Prolegomenen": Sie hatten die Voraussetzungen zu klären, unter denen die eigentliche Anfangssituation zu reflexiver Bewußtheit kommt. Wiederum anders als Hegel, der in seiner „Logik" sofort dem Strom des Werdens zu folgen sucht, verharrt Fichte zunächst bei diesem „Anfangs"-Bewußtsein und seiner antithetischen Struktur. Insbesondere lenkt er den Blick auf das Moment der Bewegungsumkehr: Der Begriff von seinem eigenen Anfang ist der „Urbegriff" des Bewußtseins, vor dem kein anderer Begriff liegen kann - denn sonst wäre er ja nicht der „Anfangs"-Begriff des Bewußtseins. Die Selbstreflexion des Bewußtseins kann äußerstenfalls zum Anfang des Bewußtseins zurückgreifen, nicht darüber hinaus. Dort aber berührt sie zugleich den Ursprungspunkt der Bewußtseinsgenesis, dem sie ihre eigene Existenz verdankt - jenen Punkt, in dem die rück-läufige reflexive Bewußtseinsbewegung wieder in die vor-läufige Bewegung der Genesis „übergehen" kann. Die Anfangsvermittlung zeigt sich darin als ultimate Form einer
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Doppelbewegung: Genetisch von „nichts" hin zur Erzeugung von „etwas" - reflexiv zurück von „etwas" zum anfänglichen „nichts". Fichtes entscheidende Frage lautet nun: Liegt der bewußt gemachte Anfang vor dem „Sein" überhaupt, so daß auch das Sein selbst erst aus ihm erzeugt wird - oder ist der reflektierte Anfang nur Anfang der Bewußtheit, so daß ihm sehr wohl ein reines und absolutes Sein vorausliegen könnte? In dieser Frage liegt ein eigentümlicher Doppelsinn: Ist der aufgezeigte Anfang Ursprung auch des absoluten Seins und seiner Selbstentfaltung, so erschöpft sich alle bewußte Reflexion in der einfachen Nachzeichnung dieser „werdenden" Seinsvorgänge. Liegt dagegen das absolute Sein dem Anfang der Bewußtseinsgenesis voraus, so erhält die reflexive Rückkehr zum genetischen Ausgangspunkt den Charakter einer bewußten Berührung mit dem absoluten Sein. Damit aber tritt zur bloß reflexiven Reproduktion geschehener Genesis ein neuer genetischer Akt hinzu: Das Bewußtsein wird sich seines Ursprungs in einem absoluten, seinem eigenen Anfang vorausliegenden Sein direkt bewußt. Beides stellt Fichte als alternative Denkmodelle hin, deren Berechtigung in einem dialektischen Prozeß geklärt werden muß. Fichte führt diesen Prozeß in Form einer Dialogstrategie zwischen „idealistischer" und „realistischer" Seinsansicht. Der Realist geht von einem „objektiven Sein" aus, gegenüber welchem alle Bewußtseinsprozesse bloße Widerspiegelungsfunktion haben. Der Idealist wendet dagegen ein, der Realist könnte nie von einem objektiven Sein reden, wenn es ihm nicht durch sein Bewußtsein vermittelt worden wäre - daher sei das eigentlich Absolute der Vermittlungsprozeß, durch den sowohl objektives Sein wie subjektives Bewußtsein abgesetzt werden. In dieser Vermittlung und ihrem „Durch" (dem „dia" der Dialektik) liege die wesentliche Einheit des Ganzen, nicht aber in einer isolierenden und spaltenden Differenzierung nach „Objekt" und „Subjekt". Darauf argumentiert der Realist, keine Vermittlung sei ohne Vermitteltes denkbar, darum auch keine absolute Vermittlung ohne ein absolut Vermitteltes. Der Idealist könne daher Absolutheit der Vermittlung nur behaupten, wenn er auch Absolutheit des
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Vermittelten behaupte - also ein „an sich" existierendes Sein annehme, von dem die Vermittlung absolut bestimmt wird. Der Idealist antwortet hierauf mit dem Gedanken einer Sichdurchdringung des Absoluten, durch die das Absolute seiner selbst bewußt wird. Dabei sind alle Objektivität, alle Subjektivität und alle Vermittlung nichts anderes als Momente dieser absoluten Selbstbewußtwerdung. Fichte nennt dies die Idee des „absoluten Ich". Denn da nach seiner klaren Definition „Ich" als „Bewußtsein-von-sich-selbst" zu fassen ist, so muß das Absolute, sobald es von sich weiß, als „absolutes Ich" begriffen werden. Ist jetzt die Frage nach der Bestimmung des „Absoluten" entschieden? Fichte sagt nein. Denn dies Ich ist nur der Idee nach absolute Einheit - realiter gliedert es sich in die Vielzahl der Momente, die seine Selbstreflexion konstituieren. Absolut einfache Einheit ist es nur in seinem genetischen Grund, aus dem erst all seine selbsterzeugte Vielfalt entspringt - also nur dort, wo noch kein Selbst-Bewußtsein, kein „Ich" realisiert ist. b) Die Vernunft- und Wahrheitslehre Wenn der Begriff des Ich nur Vieleinheit repräsentiert, welcher Begriff repräsentiert dann die wahre, ungeteilte Einheit des Absoluten? Fichte: das „esse in mero actu", das rein aktuale „sein". Das Substrat jenes „ist", das unterschiedslos von allem ausgesagt werden kann, was im Bewußtsein erscheint, sei es Idee, sei es Faktum, sei es das Bewußtsein und das Ich selbst. Jedes Objekt und jedes Subjekt, jeder Vermittlungsakt im Bewußtsein und Selbstbewußtsein „ist". Und dieses „ist" bleibt, was es „ist" - wie sehr auch immer die Fakten und Aktionen untereinander differieren, sich logisch sogar ausschließen mögen. Das „esse in actu", die Unmittelbarkeit lebendigen Seins also ist es, was dem von Fichte im einleitenden Vortrag aufgestellten Wahrheitskriterium der „Einheit und Unveränderlichkeit" der Ansicht entspricht: Wie immer ein Datum des Bewußtseins anzusehen sein mag - unveränderlich und einheitlich gilt von jedem, daß es bewußt ist, von „sein" umflossen, durchdrungen und getragen ist.
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So kann Fichte die Frage, ob es denn eine ewig wahre, in allem Wandel unveränderliche Erkenntnis gebe, mit dem „Grundsatz" der „Vernunft- und Wahrheitslehre" des 15. Vortrags beantworten: „Das Sein ist durchaus ein in sich geschlossenes Singulum unmittelbaren lebendigen Seins, das nie aus sich heraus kann" 3 1 . Gänzlich mißverstanden wäre die negative Wendung am Schluß dieses Satzes, wollte man daraus auf einen Widerstand schließen, den das „sein" nicht zu überwinden vermag. Fichtes Formulierung bezieht sich auf einen ganz anderen Umstand: Das „sein" kann deshalb nicht aus sich „heraus", weil es absolut unbegrenzt ist, und um dieser absoluten Unbegrenztheit willen die Vorstellung eines „herauskönnens" sinnwidrig ist. Auch formuliert Fichte so mit einer besonderen Absicht. Es geht ihm um die Schlußfolgerung: Wenn das grenzenlose, ewig lebendige „sein" nicht aus sich heraus kann, dann können auch wir nicht aus dem „sein" heraus - es sei denn um den Preis der absoluten Selbstvernichtung. Denn sind wir nicht im absoluten „sein", so „sind" wir absolut nicht. Nun muten wir uns in der Tat eine solche „Selbstvernichtung" mit dem Gedanken eines absolut einfachen Seins zu: Nicht nur unsere Welt, die Vielfalt unseres Bewußtseins, auch wir müßten ja in der unterschiedslosen Einheit des „esse" verschwinden, uns in ihr restlos auflösen. Dieser höchst existentielle Widerspruch führt zu einem neuen dialektischen „Aufstieg" der Argumentation, der von der Basis dieser „Seinslehre" aus die „Phänomenologie" der Wissenschaftslehre, ihre hehre von der Erscheinung zu entfalten hat. Seine Grundfrage ist: Wie kommt es - unbeschadet der absoluten Einheit des lebendigen „seins" - zur unabsehbaren Vielfalt der Wirklichkeit? c) Phänomenologie des Wegs zur Erscheinungslehre Wieder folgt Fichte zunächst der reflexiven Bewegung: Er sucht die Wurzel des Widerspruchs zu bestimmen, der die Alternative 31
SW X , S. 2 1 2 ; „in sich geschlossen" hat hier den Sinn von „nicht unterbrochen", keinesfalls aber den von „umschlossen".
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einer Selbstvernichtung der Vielheit angesichts der absoluten Einheit ins Spiel bringt. Eine solche Alternative entspringt offensichtlich einer ideellen Quelle, denn in der Praxis unseres lebendigen Bewußtseins herrscht ja keineswegs ein „vernichtender" Widerspruch zwischen dem „sein" und der Mannigfaltigkeit - das lebendige „sein" trägt vielmehr alle Mannigfaltigkeit und durchdringt sie, wo immer sie uns bewußt ist: Es vernichtet sie keineswegs, sondern erfüllt sie vielmehr. Woher also der Widerspruch? Er existiert gar nicht in der Ursprünglichkeit des lebendigen Seins, sondern entsteht erst, wenn das aktual lebendige, unbegrenzte „sein" objektiviert und auf den Begriff gebracht wird. Durch seine Objektivation entsteht im Bewußtsein ein „Bild" vom Sein: die Idee des Seins. Diese Idee des Seins wiederum ist ein Bild unter vielen anderen Bildern. Und sie unterscheidet sich nicht nur von diesen anderen Bildern, sondern auch von der lebendigen Unmittelbarkeit des „esse" selber. Denn während das lebendige „sein" unbegrenzt, unbegrenzbar und allgegenwärtig ist, ist sein Bewußtseinsbild, die Idee des Seins, ein Teil innerhalb des Bewußtseins, abgegrenzt von anderen Teilen, an einen bestimmten Ort im Begriffsgefüge des Bewußtseins gebunden und auf diesen Topos beschränkt. Welchen Sinn hat dann die Seinsidee, wenn sie die Unmittelbarkeit des lebendigen Seins nur beschränkt auszudrücken vermag? Welche Funktion kommt ihr im Bewußtsein zu? Ihre Aufgabe ist nicht, die unmittelbare Fülle des „seins" zu repräsentieren, sondern sie hat die schlechthinnige Allgemeinheit des lebendigen Seins bewußt zu machen und ist insofern auch leer von jeder besonderen Bestimmtheit der übrigen Mannigfaltigkeit. Sie nimmt für sich in Anspruch auszudrücken, was allem besonderen Seienden unterschiedslos gemeinsam ist. In diesem absolut geltenden Anspruch wurzelt auch, was Fichte das „absolute Soll" nennt: Wie in der Besonderheit der Idee des Seins (als einer besonderen Idee unter anderen Ideen) die allgemeine Einheit des Seins bewußt gemacht wird, so soll auch der lebendige Zusammenhang in der besonderen Vielfalt des Bewußtseins bewußt gemacht werden.
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Was ist die Wurzel der Differenzierung in ein „ideales" und ein „reales" Sein, der Unterscheidung von „Idee" und „Realität" des Seins? Offensichtlich ist es das absolute Sein selbst, das sich in der Allgemeinidee des Seins objektiviert - denn anders wäre das Sein, das sich in der Idee des Seins präsentiert, nicht das absolut wahre Sein. Aber das Sein präsentiert sich in der Idee nicht in seiner absoluten Fülle, sondern nur in einem besonderen Aspekt: dem seiner schlechthin allgemeinen Selbstbestimmung. Die Allgemeinheit der Idee ist von der lebendigen Allgemeinheit des Seins geprägt. Die Bestimmtheit der Idee hat einen bestimmten Ursprung, der nicht in ihr, sondern in der schlechthinnigen Realität des Seins liegt. Was ist dieser Ursprung, aus dem sowohl die Allgemeinidee des Seins, wie auch dessen allgegenwärtige Aktualität hervorgehen, und durch welchen beide vereint sind? Das absolute Leben des Seins, dessen unsichtbare Einheit allen Wandel durchdringt und verbindet. Fichte beschreibt seine Form als „Von im Von": das heißt als Ursprung der Ursprünge, als Grund aller Spontaneität der Genesis und ihrer Erzeugnisse. Nun trennen sich trotz des gemeinsamen Ursprungs Idee und unmittelbares Leben des Seins in zwei sich gegenseitig ausschliessende Erscheinungsformen: Die Idee, das sichtbare Bild des Seins, erscheint als „unwandelbar", als enthoben dem lebendigen Fluß des aktualen Seins und dessen Fülle - die Unmittelbarkeit des Seins ist umgekehrt „bildlos", lebt ihre Allgegenwart unsichtbar und läßt sich durch kein noch so erfülltes Bild erschöpfend darstellen. Woher rührt der Unterschied dieser sich gegeneinander abgrenzenden Formen? Aus der Struktur des Verstehens. Das „verstehen" als Operation „ist" lebendiger actus. Im Verstehen der Seinsidee verbindet sich darum unmittelbar das „sein" des Verstehens mit der Idee des „seins". Der Unterschied liegt nicht im „esse", dem absoluten Sein, das sich in beiden manifestiert, sondern im Unterschied zwischen verstehendem und verstandenem Sein.
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Das bedeutet: Das Erscheinen des absoluten Seins hat die Form des Verstandes. Und da das absolute Sein in dieser Form sich darstellt, handelt es sich hier um die Form des absoluten Verstandes. Die Lebendigkeit des absoluten „esse" ist es, die hier Verstehen und in ihm Verstehen ihrer eigenen schöpferischen Absolutheit bewirkt. Doch der Verstand, auch in seiner absoluten Form, ist nicht ursprünglich schöpferisch, sondern nur nachschöpferisch. Er braucht die Vorgabe eines Verstehbaren. Wo dann liegt der Ursprung der Gesamtgenesis des Verstehens sowohl als auch das Verstehbaren?Nicht in der Idee des absoluten Seins, sondern im lebendigen VJesen des Seins: in der absoluten Vernunft. Die in der absoluten Vernunft lebendige Urgenesis ist der Einheitsgrund aller entstehenden und je möglichen Vielfalt. Das Verstehbare wird dabei zur unmittelbaren Setzung aus der Vernunft, auf die sich die Spontaneität des Verstehens frei zubewegt. Aus dem Verstehbaren Verstandenes zu machen, ist die schöpferische Tat der anderen Setzung der Vernunft: des Verstehens. Die von ihm frei geleistete Genesis wird „Bild" für die unsichtbar bleibende absolute Genesis: Der Verstand stellt die ursprüngliche Vernunfteinheit mittelbar wieder her, indem er das Verstehbare versteht. Für den Verstand äußert sich die Übereinstimmung seiner genetischen Nachkonstruktion mit der ursprünglichen Vernunftgenesis als unmittelbare Gewißheit. Sie ist das Indiz dafür, daß die genetische Energie des Verstehens sich vereint mit der absoluten Schöpfungsenergie, die das Verstehbare erzeugt. Eine solche Vereinigung ist jedoch nur möglich, wenn die getrennten Glieder - das aktuale Verstehen und das von ihm zu Verstehende - von der Urgenesis her so aufeinander angelegt sind, daß sie sich im Verstehen restlos zusammenfügen und zu einer wirklichen Einheit ergänzen. Nur - wie kann der Verstand sich dem Verstehbaren zuwenden, wenn er von diesem erst dann klare Bewußtheit hat, nachdem er es verstanden hat? Soll das Verstehen nicht blind herumtappen
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Lehre vom Wissen
und ziellos experimentieren müssen, so muß ihm von der absoluten Genesis ein Leitprinzip mitgegeben sein, das in prästabilierter Harmonie die Richtung auf das Verstehbare weist: ein Gesetz für sein eigenschöpferisches Handeln. Was ist das für ein Gesetz? Das Gesetz des Bildes: Das Verstehen bildet die absolute Genesis nach. Und in diesem lebendigen Nachbilden fungiert es selber als schöpferisches Bild der genetischen Lebendigkeit des Absoluten. Damit ist der Zentralbegriff der Fichteschen „Phänomenologie" erreicht: Das Bewußtsein ist in seinem Wesen Bild. Darum kann es auch nicht selbst das Absolute sein - denn das Absolute ist nicht Bild für ein anderes, sondern schlechthin ursprüngliches Sein. Ebenso ist die Genesis des Absoluten nicht Nachbildung einer anderen Genesis, sondern absolut ursprüngliche Setzung, Erschaffung und Erzeugung. Mit der Einsicht, daß das Wesen des Bewußtseins „Bild" sei, ist jedoch nicht auch schon geklärt, wessen Bild es denn sei. Sicher ist,
daß das absolute Selbstbewußtsein des „absoluten Ich" sich als Bild des Absoluten
versteht.
Aber diese Konsequenz ist nicht einfach auf das individuelle Bewußtsein der „endlichen Vernunftwesen" übertragbar. Denn zu welchem Bild sich ein individuelles Bewußtsein gestaltet, hängt entscheidend von seiner Freiheit ab. Sicher ist für das individuelle Bewußtsein nur, daß es sich nach dem Bild des absoluten Ich bilden soll und kann, um als Bild des absoluten Ich Bild der Erscheinung des Absoluten zu sein. Die „Wissenschaftslehre in specie", wie sie sich 1804 darstellt, hat es primär mit der Erhellung des Verhältnisses der „absoluten Erscheinung" zum „Absoluten", also des „absoluten Wissens" zum „absoluten Sein" zu tun. Die Frage des Verhältnisses des individuellen Bewußtseins der „endlichen Vernunftwesen" zur „absoluten Erscheinung" dagegen ist in seiner detaillierten Klärung Sache der „angewandten Philosophie". Die Grundlegung des Übergangs aus der Absolutheitsphilosophie in die angewandte Philosophie fällt aber noch in den Aufgabenbereich der „Wissenschaftslehre in specie". Sie hat zwar nicht die
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faktischen Einzelheiten, aber doch die prinzipielle Möglichkeit darzulegen, wie das individuelle Bewußtsein Bild des absoluten Bewußtseins werden kann. Diese höchste Aufgabe aller praktischen Philosophie geht Fichte mit einer vermittelnden Analyse der Evidenz an. Er gebraucht dabei den Ausdruck „Sehen" als Sammelbezeichnung für die einfache Wahrnehmung von Phänomenen im Bewußtsein, welcher Art immer sie sein mögen: optisch, gefühlsmäßig, abstrakt, operativ, statisch, lebendig usw. In diesem allgemeinen Sinne ist auch seine Leitfrage zu fassen: Was geschieht, wenn das Bewußtsein „sieht"? Zunächst ist erforderlich, daß dies „Sehen" sich selbst völlig „durchsichtig" macht. Anders würde es sich selber den Blick auf das Phänomen in unkontrollierbarem Maße trüben und durch seine eigenen Beimengungen verfälschen. Soll also das Phänomen rein und unverfälscht sichtbar sein, so muß das Sehen für sich selbst „unsichtbar" sein, darf selbst nicht als Objekt in Erscheinung treten. Nun gehört aber zum Phänomen des Selbst-Bewußtseins, daß auch die Wahrnehmung des Bewußtseins sich wahrnimmt, also das „Sehen" sich „sieht". Das ist unter der eben erörterten Voraussetzung nur so möglich, daß es sich in dieser Reflexion in ein betrachtendes „durchsichtiges" und ein erblicktes „sichtbares" Sehen spaltet. Das „Sichtbare" des Sehens wird so durch einen „unsichtbaren" Akt des Sehens vermittelt, geht aus dem Unsichtbaren hervor: es entsteht. Umgekehrt „verschwindet" das Sichtbare aber auch in der Grenze zur unsichtbaren Vermittlung: es vergeht. Beides muß jedoch wechselseitig geschehen - denn sonst sähe sich das Sehen nicht in seiner Gesamtheit, sondern nur in einem seiner Teile. Das bedeutet: Beide Teile des Sehens sind wirkliches „sehen" - der eine „sieht" jeweils den anderen. Und durch dieses Alternieren wird die lebendige Einheit des Sehens durchaus als Ganzes sichtbar. Unsichtbar, das heißt „durchsichtig", ist sich selber nur jeder isolierte Teil. Aber auch er vermag sich mittelbar in dem Bild zu sehen, das der andere Teil von ihm als einem „sehen" erzeugt, indem er ihm dies „sehen" sichtbar werden läßt.
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Lehre vom Wissen
Dieser Sachverhalt hat außerordentliche Konsequenzen in der Interpersonaltheorie Fichtes. Denn das Bewußtsein eines Individuums ist nur Teil des Gesamtbewußtseins. Als solcher Teil kann es sich selbst nicht „sehen", d. h. nicht zu konkretem Bewußtsein seiner selbst kommen, wenn ihm nicht seine „Sichtbarkeit", also die Wahrnehmung seines individuellen Selbst, durch ein anderes Individuum, ein „Du", vermittelt wird. In seinen Vorträgen von 1804 2 beschränkt sich Fichte darauf, nur das allgemeine Prinzip darzulegen, nach dem sich Evidenz- und Begriffsstruktur im konkreten Erkennen durchdringen: Das aktuale Verstehen kann das Verstehbare nur fassen, sofern es sichtbar gemacht, d. h. im Bewußtsein objektiviert ist. Will es nun unterscheiden, was am Erkenntnisobjekt ursprüngliche Seinssetzung und was Zutat seiner Verstehenstätigkeit ist, so muß es sich den reinen actus seines „verstehens" selbst sichtbar machen, objektivieren. Dadurch entsteht ihm neben dem ursprünglich sichtbaren Objekt ein Objekt, in dem nur die Eigentümlichkeit des Verstehens abgebildet ist. Und jetzt läßt sich im Vergleich beider Objektivationen sichtbar machen, was ihre Differenz ausmacht: Von der ursprünglichen Verschmelzung objektiver und subjektiver Elemente im ersten Objekt kann nun der im zweiten Objekt bewußt gemachte subjektive Anteil abgezogen werden - was dann übrigbleibt, ist die nicht vom Verstehen erzeugte, sondern dem Verstehen vorgegebene Realität des Wahrgenommenen. Auf diesem Hintergrund wird das prinzipielle Verhältnis der „Wissenschaftslehre in specie" zu den übrigen Wissenschaften deutlich: Die Wissenschaftslehre hat die reflexive Selbstobjektivation des Verstehens zu erbringen. Die konkrete Verstehensarbeit an der Mannigfaltigkeit aller übrigen Objekte ist Sache der angewandten Wissenschaften. Ehe wir aber die Funktion der „Wissenschaftslehre in specie" in diesem Verhältnis zum corpus der Wissenschaften näher betrachten, wollen wir noch einen Blick auf das Problem ihrer operativen Präzision werfen, d. h. uns der Frage des sogenannten „mathematischen Verfahrens" ihrer Begriffsbestimmungen zuwenden, auf das Fichte sich immer wieder beruft.
Zum „mathematischen Verfahren" der Wissenschaftslehre
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6. Zum „mathematischen Verfahren" der Wissenschaftslehre Fichte hat von Anfang an betont, die Wissenschaftslehre verfahre in ihren Gedankenoperationen mit einer Strenge und Präzision wie die Mathematik. Auch die Vorträge von 1804 kündigte er mit dem Hinweis an, sie würden ihren Inhalt mit „mathematischer Evidenz" entfalten. Unsere heutigen Erwartungen gehen dabei auf ein Symbol- und Formelsystem, wie es in den modernen Formalwissenschaften gefordert ist. Fichte scheint ähnliches tatsächlich erwogen zu haben. Er äußerte programmatisch, die Wissenschaftslehre bedürfe zu ihrer wissenschaftlich-präzisen Wiedergabe eines „ihr durchaus eigentümlichen Zeichensystems", für das er eines Tages sorgen wolle 32 . Auch erhob er den Anspruch, durch die Wissenschaftslehre sei Leibniz' Idee einer „Characteristica universalis" realisierbar geworden. In seinen Kollegs machte er in ungewöhnlichem Maße von „Zeichen" Gebrauch. Aber seine Manuskripte lassen erkennen, daß es sich bei diesen „Zeichen" hauptsächlich nur um eine Art von Übersichtsdiagrammen handelt, mit deren Anschaulichkeit er die Orientierung in schwierigen abstrakten Zusammenhängen erleichtern wollte. Die kontinuierliche Nachzeichnung der Gedankenführung in einer eigenen Formelsprache, die der Formelsprache der Mathematik adäquat wäre, treffen wir dagegen nicht an. Die Texte der Wissenschaftslehre präsentieren sich vielmehr als grandioser Versuch, die geforderte Präzision dem Wortschatz, den Regeln und der schöpferischen Kraft der deutschen Sprache abzuringen. Fichte hat sich im Lauf der Jahre eine Sprache erarbeitet, die Prägnanz des Ausdrucks, lebendige Rede und Klarheit des Denkens bewundernswert intensiv verschmilzt. Er wurde mit ihr zu einem der großen Meister wissenschaftlicher Prosa, deren Auszeichnung Schopenhauer in der Kunst sah, das Ungewöhnliche mit gewöhnlichen Worten sagen zu können. 32 SW II, S. 384.
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Lehre vom Wissen
Angesichts der von Fichte selbst nicht eingelösten Forderung eines eigenständigen „Zeichensystems" für die Wissenschaftslehre stellt sich der kritischen Nachprüfung dieses Anspruchs die Aufgabe, den Verlauf seiner Gedankenführung in die Präzision einer Formelsprache zu übertragen. Prinzipiell erfüllt der Argumentationsgang der Wissenschaftslehre die Voraussetzung zu einer modernen Formalisierung, da er nach Fichtes Theorie in endlich vielen Schritten aus endlich vielen Grundformeln nach endlich vielen Kalkülregeln hergestellt ist 33 . Allerdings überschreitet die Wissenschaftslehre bei einem solchen Unterfangen in eigentümlicher Weise den üblichen Umfang mathematischer und logischer Systematik: Als Metatheorie aller Wissenschaften hat sie auch die Metatheorie von Mathematik und Logik zu klären. Bei dieser speziellen Aufgabe kann sie sich des Präzisionsinstrumentariums der beiden Disziplinen nicht einfach bedienen, sondern hat darüber hinaus den transzendentalen Ursprung, das genetische Prinzip aller solcher Präzision sichtbar zu machen. Hier verstärken sich die Forschungsschwierigkeiten. Denn wohl hat sich Fichte in der „Transzendentalen Logik" von 1812 diesem Bereich genähert. Aber die Ausarbeitung einer expliziten Theorie der Mathematik war, wie ein Brief belegt, zu dieser Zeit allenfalls für später projektiert 34 . Wir sind daher auf spezifische Interpolationen verstreuter Äußerungen angewiesen, wenn wir dahinter kommen wollen, was Fichte genau unter dem „mathematischen Gang" seiner Wissenschaftslehre verstand. Wichtigste Anhaltspunkte liefert hierzu das Urkonzept der Wissenschaftslehre, die „Eignen Meditationen über ElementarPhilosophie" von 1793. An ihnen springt so deutlich wie später kaum mehr ins Auge, welche fundamentale Rolle das mathematische Prinzip der Permutation spielt, verbunden mit einer genialen Anwendung des dyadischen Prinzips, in das schon Leibniz große philosophische Hoffnungen gesetzt hatte.
33 3
Vgl. zu diesem Problemkreis Widmann Grundstruktur, S. 15-31. " Schulz II, S. 583.
Zum „mathematischen Verfahren" der Wissenschaftslehre
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Im Unterschied zu Leibniz arbeitet diese dyadische Methode Fichtes aber nicht mit numerischen Symbolen (1; 0), sondern mit der dialektischen Dualität von Position und Negation. Die Gegensetzung von „Ich" und „Nicht-Ich" ist ein typisches Beispiel für diesen Ansatz. Auch die Gegensetzung von „Tun" und „Leiden" in der „Grundlage" von 1794 basiert formal auf diesem dyadischen Prinzip. In der permutativen Arbeit ergaben sich für Fichte bei der verbalen Darlegung besondere Schwierigkeiten durch die Inhaltsbesetzung der Wortbegriffe, auf die er die Dualität von Position und Negation anwandte. Die hochkomplexe Bedeutungsfracht etwa, die auf dem Wort „Ich" lastet, hat Fichtes formale Konzeption dieses Terminus bei Lesern und Hörern mehr als überschattet und die Legion der Mißverständnisse nachgerade provoziert. So stand hinter dem späteren Wandel der Terminologie auch Fichtes Suche nach Ausgangsbegriffen, die größtmögliche Klarheit und Transparenz der Permutationsoperationen gewährleisten sollten. Als ein besonders günstiges Beispiel zur Analyse der konstitutiven Permutationsstruktur in der Wissenschaftslehre bietet sich die Fassung vom Frühjahr 1804, deren inhaltliche Stadien wir oben umrissen hatten. In ihr werden die dialektischen Permutationsoperationen mittels der Begriffe „Genesis" und „Einheit" durchgeführt. Dieser Ansatz hat für ein exakt formuliertes System, wie es Fichte als Ziel vorschwebte, außergewöhnliche Vorzüge. Eine exakte Wissenschaft kann ja nicht nur mit der Erforschung von Qualitäten arbeiten, sie muß auch quantifizieren können. Hierfür aber braucht sie ein Einheitselement, das die zu betrachtenden Bezüge durchgängig kommensurabel macht. Während die Formalwissenschaften in der Regel mit inhaltsleeren Einheitselementen arbeiten, benutzt Fichte den Begriff der Einheit selbst als quantitatives Basiselement. Der Vorteil dieses Verfahrens wirkt sich in zweifacher Hinsicht aus. Zum einen läßt sich unter den Begriff der Einheit naturgemäß jede erdenkliche spezielle „Einheit" formal subsumieren. Er fungiert also automatisch als die „Einheit der Einheiten".
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Lehre vom Wissen
Zum andern löst dieser Kunstgriff auch die Aporie des Inhaltsbezugs, die alle bloßen Formalwissenschaften plagt. Denn Fichtes Einheitselement ist nicht bloß beliebiger Inhalts träger wie ein Symbol „p" oder „q", sondern hat einen unablösbaren eigenen Inhalt, eben den Begriffsinhalt „Einheit". Aber das Besondere dieses speziellen Inhalts besteht darin, daß er seine eigene quantitative Form qualitativ faßt: „Einheit" zu sein und als solche zu fungieren. Dadurch verbinden und verschränken sich Form und Inhalt, ohne daß eines von beiden durch eine „fremde" Zutat verunklart würde. Die „Qualität" dieses Begriffs „quantifiziert" sich selber, indem sie zum Inhalt nur die - beliebig oft vollziehbare - Reproduktion seiner Form hat: die Begriffseinheit für das, was als „Einheit" begriffen ist. „Qualität" und „Quantität" transformieren sich in diesem Begriff wechselseitig ineinander und liefern somit zugleich das strukturelle Grundmodell für den Übergang von Quantität zur Qualität und umgekehrt. Der Begriff der Genesis wiederum erlaubt, die möglichen Geschehensrelationen zwischen „einheitlichen" und „uneinheitlichen" Phänomenen auf elementare Formeln zu bringen. Da wir in unserm Zusammenhang lediglich einen schlaglichtartigen Einblick in das erstaunliche innere Formgefüge der Wissenschaftslehre vermitteln wollen, sei das ihr zugrunde liegende Permutationsgeschehen nur in seinen elementaren Zügen umrissen 35 . Auf die Frage nach der genetischen Verknüpfung von affirmierten und negierten Einheiten gibt es vier denkbare Begründungsmodelle: 1. Die Position einer Einheit (e) ist erzeugt aus der Position einer andern Einheit (Symbol: ee), 2. oder sie stammt aus Nichteinheit (Symbol: ee); 3. Nichteinheit (e) kann ihre Ursache in einer Einheit haben (Symbol: ee), 4. oder sie kann in Nichteinheit gründen (Symbol: ee). 35
Die detaillierte Analyse ist ausgeführt in Widmann Grundstruktur, S. 3 1 - 2 0 1 .
Zum „mathematischen Verfahren" der Wissenschaftslehre
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Diese vier genetischen Verbindungsmodi treten ihrerseits in einen dialektischen Permutationsprozeß: jeder von ihnen läßt sich affirmieren (Symbol: T) oder negieren (Symbol: O). Das ergibt 16 permutative Grundmuster, die wir „Grundterme" nennen. Wie die Analyse erbringt, entsprechen die Gedankengänge Fichtes in der Wissenschaftslehre 1804 2 diesem genetischen Permutationsmuster in der Reihenfolge: Tabelle der genetischen Grundterme
1.0 1.1 1.2 1.3 2.0 2.1 2.2 2.3
ee
ee
ee
ee
T O T O T O T O
O T T T O O T 0
O T O T T O T O
T O T T T T T O
Bewußtsein Faktum Licht Begriff Freiheit Dialektik Objekt Subjekt
36
3.0 3.1 3.2 3.3 4.0 4.1 4.2 4.3
ee
ee
ee
ee
O T O T O T O T
O T T O T O O T
T T O O O T T O
O O O O T O T O
Soll Selbst Wille Leben Genesis Energie Gesetz Bild
Das Gesetz, das hinter dieser analytisch ermittelten Reihenfolge der 16 Grundterme steht, wird sichtbar, wenn wir den vier genetischen Modi Zahlenwerte zuordnen: ee = 1, ee — 2, ee = 4, ee = 8. Addieren wir die Zahlenwerte der affirmierten Modi eines Grundterms, so bekommen wir für jeden Grundterm eine Kennzahl zwischen 0 und 15. Wenn wir des weiteren die Grundterme 1.0-2.3 aus der ersten Hälfte der WL 1804 2 , dem zur „Vernunftund Wahrheitslehre" führenden Argumentationsgang, paarweise mit den Grundtermen 3.0-4.3 aus ihrer zweiten Hälfte, dem zur „Erscheinungslehre" führenden Argumentationsgang, zusammenordnen, so lassen sich zwischen diesen Paarzahlen überraschende Relationen aufdecken: 1.0: 1.1: 1.2: 1.3: 36
9 6 11 14
3.0: 4 3.1: 7 3.2: 2 3.3: 1
9 6 11 14
+ + + -
4 7 2 1
= = = =
13 13 13 13
Widmann Grundstruktur, S. 287. Die permutative Verlaufsstruktur der 16 Grundterme stellt ihrerseits das genetische Strukturmuster des formalen Ich-Begriffs dar.
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Lehre vom Wissen
2.0: 13 2.1: 8 2.2: 15 2.3: 0
4.0: 10 4.1: 5 4.2: 12 4.3: 3
13 8 15 0
- 10 = 3 5 = 3 - 12 = 3 + 3 = 3
Dieses merkwürdige Doppelresultat von 3 und 13 läßt sich sogar in einen einheitlichen Ausdruck fassen, wenn wir schreiben t/25 + 2 3 . Durch die Quadratwurzel hat dieser Ausdruck zwei Lösungen: + 5 + 8 = 13 und - 5 + 8 = 3 . Die scheinbare Spielerei mit der Umformung zur Quadratwurzel legt wiederum eine erstaunliche Querverbindung zu Fichtes Applikationstheorie offen: Fichte - der von unserer modernen Formalisierung und Quantifizierung seiner Resultate nichts wissen konnte - hebt immer wieder auf die fundamentale Bedeutung der „Fünffachheit" im transzendentalen Bereich ab und stellt fest, daß es „fünf und zwanzig Hauptmomente und ursprüngliche Grundbestimmungen des Wissens" gebe 3 7 . Das dargelegte Permutationssystem der Begriffe durchdringt sich in der Wissenschaftslehre dazuhin mit dem andersartigen Permutationssystem der Grundevidenzen38. Dabei wird ein weiteres Bezugsgefüge zwischen den Grundtermen sichtbar, das sich am dreidimensionalen Modell eines Kubus darstellen läßt 3 9 (Abb. 7). 3.0
3.2
3.3
4.0 2.2
2.1
r
2.0
Abb. 7 1.0
1.3
SW X , S. 313 f. 38 Widmann Grundstruktur, S. 2 2 7 - 2 4 5 . 39 ebd., S. 2 8 7 .
Angewandte Philosophie
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Angewandte Philosophie 1. Teil: Die Grundlagen der Anwendung A. Das Applikationsproblem Die „Wissenschaftslehre in specie" entfaltet nicht schon die konkrete Fülle des Wissens, sondern hat als spezifische Aufgabe die Ermittlung und Darlegung der Grundgesetze des Wissens überhaupt. Wie sich diese Grundgesetze im konkreten Wissen auswirken, das ergibt einen eigenen Untersuchungsbereich: den der Applikation, Er ist das eigentliche Bindeglied zwischen der Wissenschaftslehre und allen übrigen Wissenschaften - aber auch zwischen Transzendentalphilosophie und praktischem Leben des einzelnen Menschen wie der Gesellschaft. Da jede neue Ausarbeitung der „Wissenschaftslehre" neue Akzente auch für das Applikationsproblem mit sich brachte, enthält Fichtes philosophisches Vermächtnis entsprechend unterschiedliche Ansätze zur Klärung dieses Bereichs. 1. Die formale Aufgabenstellung der Applikation Nach seinem ursprünglichen Arbeitsplan wollte Fichte von der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" aus zunächst das „System des menschlichen Wissens" in seinen wesentlichen konkreten Entfaltungen im Umriß darlegen Der erste Schritt dazu war der „Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen", der 1795 zugleich mit dem letzten Teil der „Grundlage" veröffentlicht wurde und die Konstitution der Außenobjekte aufzeigt. Er sollte überdies eine Brücke zwischen dem Standpunkt Kants und den Innovationen Fichtes schlagen, denn Kant geht, wie 1
SW I, S. 50.
86
Angewandte Philosophie
Fichte am Schluß anmerkt, „von dem Reflexionspunkt aus, auf welchem Zeit, Raum und ein Mannigfaltiges der Anschauung [...] schon vorhanden sind. Wir haben dieselben jetzt a priori deduziert [...] und wir setzen unsern Leser vor jetzo gerade bei demjenigen Punkte nieder, wo Kant ihn aufnimmt" 2 . Bei den ersten beiden großen Dokumenten seiner angewandten Philosophie, der „Grundlage des Naturrechts" (1796) und dem „System der Sittenlehre" (1798), modifizierte Fichte das Verfahren jedoch. Statt eine allgemeine Applikationstheorie vorauszuschikken, arbeitete er die Überleitung von der Wissenschaftslehre zu diesen spezifischen Anwendungen in die Darlegung der beiden Gebiete selbst ein: In beiden Werken wird im „Ersten Hauptstück" jeweils das „Prinzip" ihres Gegenstandsbereichs von der Wissenschaftslehre her deduziert; im „Zweiten Hauptstück" wird, als Deduktion ihrer „Anwendbarkeit", die Theorie ihrer spezifischen Applikation geklärt; erst im „Dritten Hauptstück" wird ihre „systematische Anwendung" praktiziert. Inzwischen vollzog sich aber in der Darstellung der Wissenschaftslehre selbst eine einschneidende Veränderung. Die „Grundlage" von 1794 war so angelegt, daß von ihrem „System der Tathandlungen", also der genetischen Prinzipien, zum „System der Tatsachen" 3 übergegangen werden sollte. Der „Grundriß des Eigenthümlichen" von 1795 war der, in dieser Form nicht fortgeführte, Ansatz zu diesem Übergang. Die „Wissenschaftslehre nova methodo" der Jenaer Jahre ab 1796 dagegen verfährt umgekehrt: Ihr „Erster Teil" stellt das System der „Tatsachen des Bewußtseins" vor und ihr „Zweiter Teil" bringt das „System der Tathandlungen", der genetischen Prinzipien, die diese Tatsachen erzeugen4. Die applikative Relation zwischen „Fakten" und „Prinzipien" ist somit hier direkt in die Darlegung der Wissenschaftslehre eingearbeitet. Nur wird das Verhältnis beider in entgegengesetzter Richtung erarbeitet: Der faktische Befund wird auf seine prinzipielle Genesis re-duziert während im Anschluß an die „Grundlage" die Formen der 2 SW I, S. 4 1 1 . 3 GA 1,3, S. 133. ^ GA IV,2, S. 178.
Die Grundlagen der Anwendung
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Faktizität aus den genetischen Prinzipien de-duziert werden sollten. Die Fassung der Wissenschaftslehre von 1801/02 entwickelt diese Einbettung der Applikationsbezüge weiter, aber sie vertauscht dabei die Arbeitsgänge: Ihr „Erster Teil" reduziert die Vielfalt der Wissensformen auf die eine Grundform des „absoluten Wissens". Der „Zweite Teil" deduziert aus diesem absoluten Prinzip die ursprünglichen Verzweigungen der genetischen Lebendigkeit und verknüpft sie mit den von diesen immer schon erzeugten - also bereits vor dieser reflexiven Deduktion existenten - „Tatsachen des Bewußtseins": Raum, Materie, Zeit, die Individualität mit ihrer Sinnenwelt usw. 1804 dagegen wird die Wissenschaftslehre wieder ohne den Kontext dieser Applikationen entfaltet. Die Mannigfaltigkeit des Wissens wird in einem ersten „Aufstieg" in der differenzlosen Einheit des Absoluten aufgehoben. Der Widerspruch zwischen der Realität des absolut Einen und der Faktizität von Vielfalt im Wissen führt mittels seiner Aufhebung durch einen zweiten „Aufstieg" zum Grundprinzip der Erscheinung. Aus diesem Grundprinzip muß dann deduktiv die applikative Entfaltung des Wissens gewonnen werden. Das geschieht in diesen Vorträgen nur in Form eines gedrängten Ausblicks am Ende des Vorlesungszyklus, „kurz und streng die Hauptpunkte durchdringend"5. Jedoch hält Fichte vom Februar 1805 an in Berlin eine 23 stündige Vortragsreihe über „Die Prinzipien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre"mit dem erklärten Ziel der „Anwendung" der Wissenschaftslehre auf eine erkenntnismäßige Grundlegung dieser drei Bereiche. Die wiederholten Arbeitsunterbrechungen durch Kriegsereignisse, das Exil in Königsberg, die schwere Krankheit machen es schwierig, für das letzte Lebensjahrzehnt Fichtes ein deutliches Bild von der weiteren Entwicklung der formalen Seite des Applikationsbereichs zu gewinnen. Jener SchlußVortrag, den Fichte 1810 als "Umriß" der Wissenschaftslehre publizierte, ist inhaltlich genau besehen eine Fundamentalapplikation, ausgerichtet als Lebens- und Weisheitslehre. s SW X, S. 307.
88
Angewandte Philosophie
Dem Fragment der Wissenschaftslehre von 1813 geht nicht nur eine ausgebaute Vorlesungsreihe über die „Tatsachen des Bewußtseins", sondern auch ein eigenes Kolleg über „Transzendentale Logik" voraus - was wiederum, in vertiefter Form, dem Grundmuster des Verfahrens „nova methodo" der Jenaer Universitätszeit entspräche. 2. Das inhaltliche Problem der Applikation Wie am Experimentieren mit der formalen Seite der Applikationsfrage deutlich wird, mußte sich Fichte die wesentlichen Erkenntnisse auf diesem Feld schrittweise und zum Teil in schwierigen und komplexen Prozessen erarbeiten. Sehr bald war Fichte klar, daß die Theorie der Interpersonalität von entscheidender Bedeutung für die Behandlung des Applikationsproblems ist. Das wird schon im Sommer 1794 ausgesprochen 6. Ihre erste klassische Formulierung findet diese Theorie in der „Grundlage des Naturrechts" von 1796. Weit ausholend wird sie auch im „System der Sittenlehre" von 1798 behandelt. Von der WL nova methodo an wird sie zum Angelpunkt aller von der Wissenschaftslehre direkt ausgehender Applikation, denn nur „an das Reich vernünftiger Wesen schließt sich die übrige Welt der Erfahrung und Sinnenwelt an" 7. Bestimmenden Einfluß auf die Ausrichtung von Fichtes angewandter Philosophie übte dann vor allem seine Lehre vom Absoluten aus, die um 1804 ihre Grundgestalt fand. In ihrem Licht erscheint das System des angewandten Wissens nicht mehr als neutral-gleichgültiges Nebeneinander möglicher Anwendungsbereiche, sondern als Stufung, ausgehend von einem niedrigsten Entwicklungsstand des individuellen Wissens bis zum Standpunkt höchster Erkenntnisfähigkeit. Fichte trägt in der WL 1804 2 die Hauptstadien dieser Stufung in prägnanter Kürze so vor: 1. Prinzip der Sinnlichkeit, Glaube an die Natur, Materialismus. 6
'
SW VI, S. 3 0 2 ff. GA IV,2, S. 143.
Die Grundlagen der Anwendung
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2. Glaube an Persönlichkeit, und, bei der Mannigfaltigkeit derselben, an die Einheit und Gleichheit der Persönlichkeit, Prin-
zip der Legalität.
3. Standpunkt der Moralität, als eines rein aus dem stehenden Ich des Bewußtseins hervorgehenden Handelns, fortgehend durch die unendliche Zeit. 4. Standpunkt der Religion, als Glaube an einen in allem Zeitleben allein wahrhaft und innerlich allein lebenden Gott 8 . Mit diesen inhaltlichen Bestimmungen sind Überlegungen zur strukturellen Grundentfaltung des Wissens verbunden, die am Reflexionsphänomen der „Fünffachheit" ansetzen. Latent gab dies Strukturphänomen schon die Fünfzahl der Synthesen A - E in der „Grundlage des theoretischen Wissens" von 1794 ab 9 . Die W L nova methodo spricht bereits ausdrücklich von einem „synthetischen Periodum, der immer ein 5faches sein muß" 10 . In der WL 1812 ist das ganze Kapitel II der „Deduktion der Fünffachheit in der Form der Erscheinung" gewidmet n . Die WL 1804 2 erklärt die fünf konstituierenden Momente der Reflexion so: Die Reflexion ist ein „Schweben" (1) von A (2) nach B (3) und auch ein umgekehrtes Schweben (4) von B (3) nach A (2). Beides macht aber zugleich einen einheitlichen Vorgang aus: Die Einheit des ganzen Vorgangs (5) hält sich ihrerseits in der Schwebe zwischen den entgegengesetzten Reflexionsbewegungen 12 . In der Grundapplikation der oben dargelegten vier „Standpunkte" entstehen daraus „fünfundzwanzig Hauptmomente und
ursprüngliche Grundbestimmungen des Wissens":
Jeder Standpunkt reflektiert nämlich nicht nur sich als herrschende Substanz, sondern auch die übrigen drei als Attribute zu dieser Substanz. So zeichnet sich durch seine lebendige Einheit und ihre vier inhaltlichen Reflexionen an ihm die Fünffachheit der » ' i" 'i i2
SW X, S. 312. SW I, S. 1 2 5 - 2 2 7 . GA IV,2, S. 190. S W X , S. 350. SW X, S. 121.
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Angewandte Philosophie
Reflexion ab. Die Addition dieser individuellen Momente der vier Standpunkte ergibt 20 differente Grundmomente der Wissensentfaltung. Nun tritt aber neben diese konkrete Entfaltung des Wissens die frei zu leistende transzendentale Reflexion der Wissenschaftslehre, die im Durchlaufen der vier Standpunkte diese differenziert reflektiert und als Resultat ihre eigene Einheit erzeugt - also wiederum fünf Momente erbringt, die zu den vorgegebenen addiert eine Gesamtzahl von 25 möglichen Hauptmomenten erbringt 13 . Fichte legt darin eine klare und eindrucksstarke Grundkonzeption vom gesamten - sowohl transzendentalen als auch empirischen - System des Wissens vor. Im „System der Sittenlehre" von 1812 stellt er die fünf wissenschaftlichen Hauptbereiche heraus 14 : Naturlehre, Rechtslehre, Sittenlehre, Religionslehre, Wissenschaftslehre. Diesem Schema scheinen auch die Hauptwerke Fichtes zu entsprechen. Schon das Urkonzept zur „Practischen Philosophie" von 1793 notiert Naturrecht, Moral, Religionslehre als Hauptausrichtungen der praktischen Vernunft 15 . Die Jenaer Veröffentlichungen folgten - sogar in gleichmäßigem Arbeitsrhythmus dieser Skizze: Nach der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" von 1794 erschien 1796 die „Grundlage des Naturrechts" und 1798 das „System der Sittenlehre". Offenbar war anschließend die Darstellung der Religionslehre geplant; denn Fichte äußert in einem Brief, er hätte wegen der Machenschaften des Atheismusstreites, die ihn seine Professur kosteten, die „höchste Synthesis" auf der Grundlage der Wissenschaftslehre nicht wie beabsichtigt durcharbeiten und vorlegen können 16. i3 S W X , S. 3 1 3 f. i" S W XI,8. '5 G A 11,3, S. 2 3 8 . Schulz II, S. 3 2 3 , Nr. 4 7 6 .
Die Grundlagen der Anwendung
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Die geplante Religionslehre trug er nicht nur in populärer Form in den elf Vorlesungen von 1806 über die „Anweisung zum seligen Leben" vor. Er verflocht sie ab 1805 auch aufs innigste mit den Vorträgen der Wissenschaftslehre, denn „Gottes-Lehre" sei „in gewisser Beziehung gleich Wissenschaftslehre" 17 . Zunehmend wurde die Religionslehre auch zum Grundklang von Fichtes Geschichtstheorie. Daß Fichte die verstreut in unterschiedlichen Zusammenhängen behandelten Prinzipien zur Naturlehre in einer geschlossenen Darstellung vereinen wollte, belegt die Auskunft an den Berliner österreichischen Gesandten vom Mai 1812, er werde „späterhin eine Philosophie der Natur, vielleicht auch eine Philosophie der Mathematik vortragen" 18 . Allerdings ist die transzendentale Problematik eines Systems der Wissenschaften sehr viel komplexer, als sie an diesem Fichteschen Gesamtentwurf zutage tritt. Wie so oft war Fichte selbst der erste, der den kritischen Punkt ins Auge faßte. Kaum hatte er nämlich jene Konzeption der WL 1804 2 appliziert, da wandte er sich mit den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" um die Jahreswende 1804/05 der transzendentalen Fundierung einer neuen Disziplin zu, die in jener Aufstellung expressis verbis nicht erwähnt war: der Geschichtstheorie. Das Moment der Geschichte ist in Fichtes Denken allerdings tief verwurzelt. Schon in der „Grundlage" von 1794 hieß es: „Die Wissenschaftslehre soll sein eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes" Aber wenn die Geschichte das System der konkreten menschlichen Handlungen im Fortgang der Zeit befaßt, wie verhält sie sich dann zur Ethik, die ebenfalls für alle Handlungen die sittlichen Gesetze zu erschließen hat? Fichte hat um diese Fragen zutiefst gerungen, aber er hat ihre Behandlung nicht zu systematisch eindeutiger Form vollendet. Wenn wir daher eine systematische Orientierungshilfe für die 17
19
Die Prinzipien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre. Fichte-Nachlaß der Preußischen Staatsbibliothek, Kasten III, Nr. 9.2. Schulz II, S. 5 8 3 , Nr. 6 3 7 . SW I, S. 2 2 2 .
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transzendentale Topologie innerhalb der Fichteschen Philosophie geben wollen, so müssen wir einige Konsequenzen ausziehen, die in ihr zwar angelegt sind, aber von Fichte nicht bis zu ihren gedanklichen Schnittpunkten durchgeführt wurden. 3. Zur Begriffsdichotomie der Applikation Die Wissenschaftslehre hat, wie Fichte 1804 formuliert, die Aufgabe, alles Mannigfaltige zurückzuführen auf absolute Einheit. Sie löst diese Aufgabe, indem sie zu immer umfassenderen Einheitsbegriffen aufsteigt, um so den höchsten denkbaren, den absoluten Einheitsbegriff auszumitteln. Da, wie schon Heraklit sagte, der Weg hinauf und hinab ein und derselbe ist, ergibt sich in der umgekehrten Richtung das Bild der Entfaltung des Mannigfaltigen aus seiner absoluten Einheit. Bei diesem Verfahren zeigt sich jedoch ein charakteristischer Unterschied zwischen der Wissenschaftslehre in specie und ihrer Applikation. Die Wissenschaftslehre in specie verfährt bei der Ermittlung ihrer ureigensten Inhalte, der „Grundterme", auf eine dialektische Weise, die große Verwandtschaft mit Piatons Diairesis aufweist, jener Ideenteilung, die sein Dialog Sophistes behandelt. Fichte bestimmt zu einem transzendentalen Moment jeweils seinen Gegensatz, der im genauen Widerspruch zu ihm steht. Dann sucht er jenes begriffliche Moment auf, in dem dieser Gegensatz aufgehoben, vereint ist. Dasselbe geschieht nun an dem neuen Einheitsmoment: Wieder wird sein zugehöriger Gegensatz, das, was im genauen Widerspruch zu diesem Einheitsmoment steht, bestimmt - und anschließend wird auch hier wieder dasjenige höhere Moment gesucht, in dem dieser spezifische Widerspruch aufgehoben ist. Wollen wir uns dies Verfahren mit Punkten anschaulich machen (Abb. 8), so symbolisiert das Punktepaar in gleicher Höhe .. die
Abb. 8
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gegensätzlichen Momente, der über ihm liegende Punkt.'. jenes Einheitsmoment, in dem ihr Gegensatz aufgehoben ist. Wird auch der Gegensatz des letzteren bestimmt, so entsteht bildlich eine aufsteigende Reihe von Gegensatzpaaren, die so lange fortgeht, bis jenes Einheitsmoment erreicht ist, zu dem kein denkbarer Gegensatz mehr existiert. In der WL 1804 2 beispielsweise ist diese gegensatzlose höchste Einheit in der „Vernunft- und Wahrheitslehre" des 15. Vortrags beschrieben 20 . Während also hier auf jeder dialektischen Stufe nur ein Gegensatzpaar existiert, bietet das Stufungsprinzip der Applikation ein anderes Bild: Hier wächst die Zahl der auf gleicher Stufe liegenden Momente mit der Reihe der Dichotomiestufen. Zwar folgt auch hier auf den gegensatzlosen Einheitsbegriff zunächst eine einfache Gegensetzung - aber schon auf der dritten Dichotomiestufe treten drei gleichgeordnete Momente auseinander, auf der nächsten vier, und so fort (Abb. 9).
Abb. 9
Diese Entfaltung der applikativen Grundstruktur geht allerdings in ihren Hauptmomenten nicht unbegrenzt fort, denn sie ist in gewisser Weise die „Quadratur", die 2. Potenz jener acht Stufen, zu denen sich die Gegensatzpaare der Grundterme formieren. Die applikative Entfaltung geht darum von der achten Stufe symmetrisch wieder zurück. Man kann ihr Bild als Disjunktionsnetz aus 64 Disjunktionspunkten bezeichnen, das zwischen der Doppelreihe der Grundterme (die in Abb. 10 parallel zur linken oberen und rechten unteren Grenzlinie zu denken sind) ausgespannt ist. Wir wollen dies Dichotomienetz in unserem Zusammenhang nicht durchbestimmen, da es in verschiedener Hinsicht über den Stand hinausgeht, auf dem Fichtes Arbeit das transzendentale Applikationsproblem hinterlassen hat. Es soll uns lediglich dazu dienen, einige schwierige Aspekte der angewandten Philosophie Fichtes übersichtlich demonstrierbar zu machen. 20
Widmann Grundstruktur, S. 91.
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Zunächst läßt sich an unserm Diagramm (Abb. 10) der wichtige Unterschied von „Disjunktion" und „Synthesis" gut ablesen: Durch die Disjunktion ergibt sich eine Begriffsverzweigung - in der Synthesis treffen Begriffsverzweigungen zusammen und bilden eine neue Einheit. Synthesis ist also nur aufgrund einer vorausgesetzten Disjunktion möglich. Hxistcnz
Einheit
Die ursprüngliche „Existenz" des Bewußtseins ist so gesehen reine Disjunktionseinheit, nicht Synthesis. Umgekehrt ist ihr Gegenpol, die Identität der „Einheit", in der alle Disjunktionen des Bewußtseins zusammenlaufen, reine Einheit der Synthesis - in der Fülle ihrer Lebensqualität durchaus abhängig davon, wieweit das Bewußtsein seine formale Entfaltung mit Inhalt und Sinn erfüllt hat. Auch der Unterschied zwischen transzendentaler Analyse und transzendentaler Synthesis ist leicht erkennbar: Geht man vom Entfalteten reduktiv zurück zum schlechthin Allgemeinen der ursprünglichen Existenz, so ist der Gang analytisch: Das entfaltete Besondere wird im Aufsteigen auf von Stufe zu Stufe immer
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allgemeinere Begriffe reduziert, bis am Ende herausanalysiert ist, was allen besonderen Disjunktionsentfaltungen unterschiedslos gemeinsam ist: die Existenz des Bewußtseins. Der umgekehrte Weg ist demgegenüber genetisch-synthetisch: Aus der lebendigen Existenz des Bewußtseins geht das Ordnungs-und Bezugsgefüge der fundamentalen Besonderheiten des Wissens und deren elementare Synthesen hervor. Wobei dies der Weg ist, den die reale schöpferische Lebendigkeit des Bewußtseins bereits vor aller wissenschaftlichen Beschreibung seiner Struktur entfaltet hat. Die Philosophie kann ihn darum nur nachzeichnen, wenn sie sich zunächst auf seinen Ausgangspunkt zurückversetzt - letzteres aber läßt sich allein durch die vorhin umrissene Analyse bewerkstelligen. Fichtes Redewendung vom „aufsteigenden Gang" in der Wissenschaftslehre meint diese analytisch-reduktive Durchklärung des Wissens, die den Rückbezug des Besonderen auf das schlechthin Allgemeine zu erhellen hat. Das „Herabsteigen" der Applikation dagegen hat zu zeigen, in welches Entfaltungsgefiige des Bewußtseins das nicht deduzierbare Besondere der konkreten genetischen Existenz, deren qualitative Selbstverwirklichung und empirische Erfahrung erfüllend, eintritt. Auch das ist für das Verständnis von Fichtes Philosophie von großer Wichtigkeit: Die applikativen Deduktionen des Wissens liefern nur das Strukturschema des Bewußtseins, d. h. die differenzierte Gliederung der Bereiche, in denen sich konkrete Bewußtheit ereignet - aber sie liefern nicht schon das konkret zu Erlebende der Bewußtheit mit. Das Ansinnen, die Philosophie habe konkrete 7w/wtededuktionen zu liefern, konterte Fichte ironisch mit der Bemerkung, nur alberne Menschen verlangten, daß man ihnen ihre Feder und die Albernheiten, die sie schreibt, deduziere. Wir haben deshalb unser Dichotomiediagramm als ein System von Begriffsbereicben zu verstehen, innerhalb dessen sich das wirkliche, konkrete, alltägliche wie wissenschaftliche Begreifen ereignet. Als solches System stellt es zudem nur den Rahmen der Bewußtseinsgliederung vor. Die Begriffsfelder lassen sich in sich
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wieder durch sekundäre und tertiäre usw. Disjunktionen untergliedert denken. Genau genommen hat jedes konkret sich ereignende Begreifen seinen bestimmten Topos in diesem transzendentalen Bezugsrahmen. Von daher wäre es die eigentliche Aufgabe einer transzendentalen Topologie, das Disjunktionsnetz so durchzudifferenzieren, daß zumindest jeder existentiell wesentliche Begriff von ihm hinreichend genau bestimmt wird. Von Bedeutung für unsern Zusammenhang ist jedoch hauptsächlich zu sehen, daß die fundamentalen Begriffsbereiche sowohl in spezifischer Weise begrenzt sind, als sich auch synthetisch durchdringen. Der Ursprung des Begriffs „Religion" liegt beispielsweise außerhalb des Disjunktionsbereichs der „Geschichte". Das heißt konkret: Es ist transzendental nicht möglich, die Ursprungsgenesis von „Religion" geschichtlich zu erklären. Doch bedeutet das keineswegs, daß die Religion nicht eine geschichtliche Erscheinungsform habe: Denn der eine ihrer Disjunktionsarme durchdringt den kategorialen Bereich der Geschichte und synthesiert sich ihm. Andererseits liegt der Ursprung des Rechtsbegriffs innerhalb des Geschichtsbegriffs, kann darum in keiner seiner Konkretionen aus der Form eines geschichtlichen Datums herausgelöst werden. Dennoch können die inhaltlichen Bestimmungen des Rechtsbegriffs unmöglich zureichend „geschichtlich" erklärt werden, denn dieser Begriff vereinigt in sich auch eine aus dem Logos-Begriff stammende Disjunktion und liegt überdies mit im Disjunktionsbereich des Sinn-Begriffs. Logos, Geschichte und Sinn aber sind gleichgeordnete Ursprungsdisjunktionen, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen - so daß der Grundbegriff des „Rechts" nur im Zusammenwirken aller drei Begriffe zulänglich bestimmbar wird, keineswegs aber nur durch einen oder nur durch zwei von ihnen. Der Grundzug der synthetischen Komplexität des Applikationsgefüges erklärt einige markante Schwierigkeiten von Fichtes angewandter Philosophie. Fichte hat zwar das Prinzip der wechselseitigen Durchdringung von Begriffsbereichen in der Wissenschafts-
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lehre treffend erfaßt. Im Applikationsbereich aber scheint ihm der genaue Verlauf dieser Synthesen nicht durchwegs deutlich geworden zu sein. Beispielsweise läßt sich nur unter dieser Annahme sein Versuch verstehen, den Begriff des „Staates" allein auf den Rechtsbegriff aufzubauen und in seine Konstituierung nicht auch den Begriff des Ethos mit einzubeziehen. Demgegenüber weist transzendental einiges darauf hin, daß der Begriff des Staates die ursprüngliche Synthesis der Rechtssphäre mit der Sphäre des Ethos darstellt. 4. Fremdbewußtheit
und Selbstbewußtheit
Eine wichtige Eigenheit des faktischen Bewußtseins ist die Binnentrennung zwischen Fremdbewußtheit und Selbstbewußtheit. Die „Wissenschaftslehre in specie" setzt am gegebenen Phänomen der Selbstbewußtheit an und nimmt dies zu ihrem ursprünglichen Untersuchungsfeld. Unser vorgefundenes Bewußtsein birgt jedoch neben diesem Phänomen der Selbstbewußtheit noch eine Fülle von Phänomenen, mit denen wir uns keineswegs identifizieren: Wir empfinden sie unmittelbar durchaus nicht als Momente unseres „Ich", sie erscheinen uns vielmehr als unserer Ichheit „fremd", als wesenhaft „Nicht-Ich", unterschieden von unserer Ichbewußtheit. Diese Trennung zwischen Ichbewußtheit und der Bewußtheit anderer Phänomene innerhalb unseres Bewußtseins ist der „natürliche" Grund, eine Welt außerhalb unseres individuellen Seins anzunehmen: Unser vorgefundenes Bewußtsein trägt in sich selbst das Bild einer über unser individuelles Sein hinausreichenden Wirklichkeit. War es Aufgabe der WL in specie, am Bewußtheitsbild unseres individuellen Ichs die Struktur des „Ich", der Selbstreflexion des Bewußtseins zu ermitteln, so ist es nun Aufgabe der Applikation, an dem Verhältnis dieses Ich-Bildes zu den andersartigen Bildern innerhalb unseres Bewußtseins das grundlegende Verhältnis unseres individuellen Seins zu der es umfassenden, es übergreifenden und insofern sehr wörtlich „trans-szendierenden" Wirklichkeit auszumitteln.
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Fichte hat für diese Binnentrennung in der WL nova methodo 2 1 das einfache Anschauungsbild (Abb. 11) zweier Kreise gebraucht:
Abb. 11
Die „Sphäre" des gesamten Bewußtseinsinhalts symbolisiert der größere Kreis A, in ihm grenzt ein kleinerer Kreis B die „Sphäre" der individuellen Ichbewußtheit ein; der zwischen dem großem und dem kleinen Kreis liegende Ring wird so zum Phänomenbereich des „Nicht-Ich", d. h. dessen, was der individuellen Ichbewußtheit als fremd und anders erscheint. In unserem differenzierter strukturierten Dichotomiediagramm bildet sich die in unserm Bewußtsein natürlich vorgegebene Ichbewußtheit terminologisch als Begriffsbereick des,Menschen"ab. Das mag verfänglich sein, wenn man für „Mensch" keinen höheren Begriff aufbringen kann als den des obersten Primaten, des höchstentwickelten Tieres. Aber die systematische Differenzierung zwischen „Tier" und „Mensch" macht in unserem Diagramm so schlicht wie unmißverständlich klar, daß wir hier deutlich unterscheiden, und transzendental der Ursprung der „Menschheit" nicht im Ursprung der „Tierheit" gesucht werden kann, sondern beides unverwechselbar eigenständige „natürliche" Seinsprinzipien sind, die sich nicht aus einander erklären lassen. Wohl synthesiert sich unserer natürlichen Selbstbewußtheit disjunktiv auch das Prinzip des „Tiers", wie sich ihr von der andern Seite das Prinzip des „Rechts" synthesiert (Abb. 10). Dennoch bleibt zwischen diesen beiden Synthesen ein natürlicher Freiraum des „reinen" Menschseins. Dieser eigentümliche Freiraum in allem „gewöhnlichen" Bewußtsein - sei dies faktisch noch so unerfüllt - ist die unversiegbare Quelle aller innersten Weigerung, GA IV,2, S. 7 4 .
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sich als bloßes Tier zu fühlen, oder ausschließlich im Rechtsbegriff eines Staatsbürgers aufzugehen. Dieses Bewußtseinsfeld „reiner Menschheit" - in der Mitte, im „Herzen", der gesamten Bewußtseinsentfaltung (Abb. 10) gelegen - ist der Ausgangspunkt alles natürlichen Freiheitsgefühls und Freiheitsstrebens. In seiner Reinheit ist es zugleich „leer", der Konzentrationsort für alles Nirvana- oder Tao-Erleben, von außen unbezwingbares Refugium einer nur ihrem Bewußtseinszentrum zugewandten Individualität, die all ihre übrige Bewußtheit ausblendet. Darauf aber beschränkt die Wissenschaftslehre dies zentrale Feld des natürlichen Bewußtseins nicht. Für sie ist es nicht schon jene Wirklichkeit selber, in der sich die individuelle Genesis erfüllt, sondern deren Urbild. Nicht etwa, sich in diesem Bewußtheitsbild zu verlieren und zu vergessen, ist nach ihr der Sinn des menschlichen Daseins - sondern umgekehrt: sich aufgrund dieses Bildes selbstschöpferisch und frei zu erfüllter und erfüllender Wirklichkeit zu „erheben". Sie faßt es als Bild vom Ziel der individuellen Genesis, nicht als schon dies Ziel selbst. Was nun ist dies Bild, das in der Mitte des Bewußtseins und an der Spitze der ursprünglichen Selbstbewußtheit steht? Um den häufigen Ausdruck Fichtes zu gebrauchen: das Bild des „vernünftigen Wesens". Und zwar durchaus in der unspezifischen Allgemeinheit, die dieser Fichtesche Ausdruck treffend charakterisiert: Es ist Bild im Sinne einer unpersönlichen Idee von einem „vernünftigen Wesen", enthält nur die wesentlichen Merkmale eines „vernünftigen Wesens". Um die Bedeutung dieses Sachverhalts richtig zu verstehen, müssen wir zunächst bedenken, daß der Begriffsbereich „Mensch", mit dem wir uns unmittelbar identifizieren und der durch unser natürliches Selbstgefühl als „Ich" erlebt wird, sehr viel ausgedehnter als dieses Teilphänomen des „vernünftigen Wesens" ist. Wohl empfinden wir, da es von der Einheit unseres Selbstgefühls mit durchzogen ist, auch dieses Teilphänomen unserer Bewußtheit als Teil unseres empirischen Ichs - doch eben nur als Teil eines Ganzen, das sich ebenso in andere, unmittelbar keineswegs so „vernünftig" sich darbietende Bereiche gliedert.
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Das besagt: Wir finden uns als empirisches Ich durchaus nicht als insgesamt so „vernünftig" vor, wie dieser ideale Teil unseres Selbst es ist. Sollen und wollen wir diesem idealen Urbild des „Menschseins" insgesamt entsprechen, so müssen wir seine Vernunft erst in allen anderen Bereichen unseres empirischen Ichs schöpferisch in Wirklichkeit umsetzen. Für unsere eigene Individualität hat also dies Urbild des Menschen die Bedeutung des Vorbilds, des ursprünglichen Entwurfbildes für eine volle und freie Verwirklichung unserer selbstschöpferischen Möglichkeiten. Die unspezifische Allgemeinheit dieses Urbildes hat aber noch zwei andere, ebenso fundamentale Bedeutungen: Sie ermöglicht es, daß wir unter der Vielfalt der empirischen Wahrnehmungen jene Phänomene als Erscheinungen „anderer vernünftiger Wesen unseresgleichen" erkennen und identifizieren können, die den allgemeinen Merkmalen dieses Urbilds entsprechen. Und sie erlaubt darüber hinaus, daß wir uns ein Bild von der Einheit der „Vernunft überhaupt" machen können. Alle diese drei elementaren Funktionen des natürlichen Urbildes ruhen wohl der Potenz nach in ihm. Aber - und dies zu beachten ist höchst wichtig - wir werden nicht einfach vernünftiger so, wie wir ohne unser Zutun älter werden, sondern wir werden es nur in dem Maße, als wir die Potenz der Vernunft in freiem Entschluß für uns schöpferisch entbinden und verwirklichen. Wir kommen mit einem Du nur dann in wahrhaft „menschlichen" Kontakt, wenn wir den anderen in freier Zuwendung als „vernünftiges Wesen unseresgleichen" anerkennen. Und wir kommen zur Bewußtheit einer unser individuelles Sein transzendierenden absoluten Vernunft nur, wenn wir uns diesem Erkenntnisprozeß aus freien Stücken zuwenden und uns in freier Hingabe von seiner transzendierenden Gesetzlichkeit ergreifen lassen. Erst diese drei Erkenntnisprozesse zusammen erlauben dem individuellen Bewußtsein, sich durchdringende Einsicht in das Gesamtgefüge der Wirklichkeit zu erschließen. Dabei kommt dem interpersonalen Erkenntnisprozeß insofern die Eingangsfunk-
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tion zu, als die Selbstfindung des individuellen Ich nur in der interpersonalen Kommunikation möglich ist, und die Selbstinterpretation eines empirischen Ich als eines „vernünftigen Wesens" erst dann durchführbar wird, wenn es sich selbst im „Vernehmen" des anderen als vernünftig erfährt. B. Interpersonalität Zu den bedeutendsten Leistungen von Fichtes Philosophie zählt die transzendentale Analyse der Interpersonalität. Kein Denker vor ihm hat diese buchstäblich humanste aller Fragen in vergleichbarer philosophischer Klarheit aufgeworfen - und merkwürdigerweise auch keiner nach ihm. Dabei hat Fichte das Gewicht dieses Problems in zwei Veröffentlichungen ausführlich dargelegt: In der „Grundlage des Naturrechts" (1796) für die Struktur aller zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt, im „System der Sittenlehre" (1798) als Fundament jeder realitätsbezogenen Ethik 11 . Wie wir sehen werden, reicht diese Analyse noch über jene beiden Bereiche hinaus und bildet auch den Kulminationspunkt der Frage, ob es denn überhaupt ein „außerhalb" des individuellen Bewußtseins realiter gebe. Nicht von ungefähr lautet eine der bündigsten Formulierungen Fichtes für den transzendentalen Fragenkreis der Interpersonalität: „Wie komme ich zur Annahme vernünftiger Wesen außer mir?" 23 Die Kantische Auskunft, daß sie mir eben empirisch erscheinen, reicht hier keineswegs aus. Aber auch das begriffliche Instrumentarium der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" von 1794 war von Fichte - im Unterschied zu den meisten späteren Fassungen der Wissenschaftslehre - noch nicht expressis verbis zu diesem Punkt ausdifferenziert worden. Die meisten Leser mochten darum annehmen, das „Nicht-Ich" in der „Grundlage" meine nur den Bereich der „Sachen", sei bloß ein Ersatzbegriff für Kants aporetisches „Ding an sich". 22
"
Neben diesen bekannten Darlegungen sei auch auf Fichtes Behandlung des Themas in den „Tatsachen des Bewußtseins" von 1810 hingewiesen. GA IV,2, S. 142.
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Wohl erscheint uns ein Stück Lava vom Mond als nicht identisch mit unserm persönlichen „Ich" und darum als „nicht ich". Aber ebenso erscheint uns ein anderes „vernünftiges Wesen unseresgleichen" als nicht identisch mit unserer persönlichen Individualität und deshalb auch als „nicht ich" - trotzdem anerkennen wir es als ein seinerseits ichhaftes Wesen, das von sich auf dieselbe Art „ich" sagen kann wie wir von uns. Kann also hinter unserer subjektiven Erfahrung eines „Nicht-Ich" sowohl ein „Ding" wie auch das „Ich" eines andern Individuums stehen, dann spitzt sich die Frage auf den Kernpunkt zu: Wie unterscheide ich zuverlässig die Erscheinung eines anderen „vernünftigen Wesens meinesgleichen" von allen sonstigen Erscheinungen, mit denen mein Bewußtsein zu tun hat? Fichtes Antwort ist von elementarer Einfachheit: Daran, daß es mich meinerseits als ein vernünftiges Wesen behandelt. Was heißt das praktisch? Wir werden in dieser Begegnung nicht als eigentumsfähige Sache, als organischer Regelkreis oder lenkbares und nutzbares Tier behandelt, sondern als autonome Existenz von unverwechselbarer Eigenart, freier Entscheidungskraft und der Fähigkeit zu schöpferischer Selbstverwirklichung. Das aber reicht noch nicht aus, denn diese Merkmale ließen sich auch aus bloßer individueller Selbstspiegelung erklären. Fichtes letzter und tiefster Gedanke überwindet jedoch gerade dieses Argument, indem er es benützt: Spiegeln kann sich das individuelle Bewußtsein überhaupt nur mittels eines andern individuellen Bewußtseins. Das bedeutet: Die Selbstreflexion unserer individuellen Existenz, unser persönliches Ichbewußtsein ist nur ermöglicht durch die kommunikative Begegnung mit einer anderen individuellen Existenz. Unser reflexives Ichbewußtsein geht darum nicht der konkreten Begegnung mit einem anderen Wesen unseresgleichen voraus, sondern ist die schöpferische Folge einer solchen, schlechthin realen Kommunikation. Daß wir überhaupt individuelles Ichbewußtsein haben, ist somit entscheidendes Indiz für die reale Existenz eines anderen vernünftigen Wesens „außer" mir.
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Die Funktion dieser Einsicht für Fichtes gesamte angewandte Philosophie kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie ist auch der eigentliche Schlüssel zur Applikationstheorie. Denn erst durch sie erhält die Annahme einer Wirklichkeit außerhalb des individuellen Bewußtseins ihre unwiderlegliche Bestätigung. Durch sie auch wird die faktische Frage nach der Erkennbarkeit dieser „Außenwelt" zur im höchsten Grade notwendigen und sinnvollen Frage. Von ihr aus wird zudem deutlich, wie Fichte die Gewichte im Verhältnis des Individuums zu der es umgebenden Welt verteilt: Nicht die Dinge stehen ihm an oberster Stelle, sondern der Mensch. Und hier wiederum gilt: Der Begriff des Menschen ist nicht Begriff eines Einzelnen, sondern der der „Gattung" - denn „der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch" 24 . Die Selbstwerdung des individuellen Bewußtseins durch die reale Wechselwirkung mit anderen hat nun eine eigentümliche Struktur. Sie vollzieht sich nicht als mechanisches Ereignis, das durch den anderen in Gang gesetzt wird und dann als Kausalprozeß abrollt - denn dessen Resultat wäre nicht selbstbestimmtes, sondern fremdbestimmtes Bewußtsein. Vielmehr ist das Grundmuster dieser schöpferischen interpersonalen Aktion die erfahrene „Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit"25. Ihr Impuls weckt das Bewußtsein der ureigensten Schöpferkraft und ihrer ersten Manifestation, des „Sehnens" nach Selbstverwirklichung. Im Spiegel des Anderen erblickt das erwachende Ich den Anfang seiner eigenen Seinsmöglichkeit und wird sich bei ihrem Anblick seiner Freiheit bewußt, sie mit selbständigem Wollen in die Tat umzusetzen. Von da an ist es auch Sache seines freien Entschlusses, wie weit es diese Möglichkeiten entfaltet. Niemand kann es dazu zwingen. Die fundamentale interpersonale Aktion erschöpft sich jedoch in diesem Anfangsimpuls zur freien Selbstverwirklichung keineswegs. Genau genommen setzt jeder Schritt der Selbstverwirklichung eine entsprechende intersubjektive Reflexion voraus, in der seine spezifische Möglichkeit hell und greifbar wird. "
SW III, S. 39. ebd.
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Auch sind die Impulse nicht einseitig, sondern bilden ein Geflecht von Wechselwirkungen durch das ganze „Reich vernünftiger Wesen" 26 . Der Mensch wird nicht bloß allein unter Menschen ein Mensch - er kann seine Selbstverwirklichung auch nur in der lebendigen Wechselwirkung mit andern Menschen durchführen und dem ersehnten Ziel näher bringen. Aus dieser unauflösbaren Einbindung der individuellen Selbstverwirklichung in die Selbstverwirklichung aller gehen die zentralen Problemstellungen von Fichtes angewandter Philosophie hervor: Zunächst die Frage nach der „Welt" des gemeinsamen, aufeinander angewiesenen Lebens, nach ihrer Organisation, ihren Erscheinungsformen und Gesetzmäßigkeiten. Dann die Frage, wie und nach welchen Gesetzen eine interpersonale Wechselwirkung so möglich ist, daß die freie Selbstentfaltung der Individuen sich nicht gegenseitig hindert oder gar ausschließt, sondern sich optimal fördert. Und schließlich die Frage, wie beide Bereiche in all ihrer je denkbaren und erscheinenden Vielfalt in der Einheit des absoluten Daseins gründen und aufeinander zugeordnet sind. C. Exkurs: Die Konstitution der Objekte Mit der Frage, wie Fichtes Philosophie die Konstitution der Außenobjekte klärt und erklärt, geraten wir an einen Bereich, dessen Erörterung nachgerade ein Sonderstatus an exorbitanter Schwierigkeit zukommt. Abgesehen von dem hohen Grad konzentrierter Abstraktion ist seine Bearbeitung bei Fichte zudem derart auf verschiedene Zusammenhänge verstreut, daß ihre mosaikartige Zusammenfügung den Rahmen unserer Einführung bei weitem sprengen würde. Andererseits ist die klassische Streitfrage der Philosophie um die Realität der Objekte von solcher Bedeutung und Fichtes Weg zu ihrer Lösung von so genialer Originalität, daß wir unmöglich auf eine Darstellung verzichten können. Und dies nicht nur aus histo"
GA IV,2, S. 143.
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rischen Gründen: Fichtes konsequenter und prinzipieller Ansatz bei den energetischen Vorgängen im Bewußtsein ist sachlich nicht zuletzt für die moderne Grundlagendiskussion der Naturwissenschaften von überraschender Aktualität. Wir wollen diesen Bereich deshalb in Form eines Exkurses behandeln, den der Leser übergehen kann, wenn ihm vorwiegend an einer kursorischen Orientierung über das Gesamtfeld von Fichtes Philosophie gelegen ist. Für denjenigen, der sich mit diesem so schwierigen wie aktuellen - in der traditionellen Fichteforschung bisher fast nicht beachteten - Aspekt in Fichtes Vermächtnis vertraut machen will, müssen wir eine Erläuterung zu unserem Verfahren vorausschicken. Fichte hat diesen Problemkomplex u. a. relativ ausführlich in die Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 eingearbeitet 27 . Wir werden uns zur Aufschlüsselung der Thematik jedoch an den „Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen" halten, in dem Fichte sich speziell mit der Grundlegung der Kantischen Kategorienlehre und der Anschauungsformen von Raum und Zeit befaßte. Dieser Text, den Fichte 1795 „als Handschrift für seine Zuhörer" drucken ließ, ist nach Didaktik und Sprachform nicht besonders glücklich angelegt; auch machen viele Verkürzungen der Gedankengänge den Nachvollzug des hohen Abstraktionsniveaus noch schwieriger. Aber die Schrift ist nicht nur die einzige spezielle Monographie Fichtes zu dieser Thematik, an ihr läßt sich auch trotz der erwähnten Einschränkungen Fichtes Lösungsansatz besonders gut erhellen und in seinem konstruktiven Prinzip erfassen. Wir können uns dabei wieder der Analogie zum mathematischphysikalischen Reflexionsprinzip der Ellipse bedienen, denn diese Schrift macht speziell nichts anderes zu ihrem Gegenstand als die energetischen Aspekte der in der „Grundlage" von 1794 ermittelten Strukturen. Allerdings zeigt sich dabei, daß Fichte sie im 27
Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02. H a m burg 1977. S. 101-226. - Z u m Problem der „Energie" vgl. Widmann, Grundstruktur S. 132-152.
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„Grundriß" nicht in systematischer Vollständigkeit behandelt hat. Er beschränkt sich vielmehr auf die Hauptlinien, deutet die übrigen systematischen Konsequenzen nur mehr oder weniger an, läßt sie teils ganz beiseite. Um die systematische Topologie dieses wichtigen Bereichs sichtbar machen zu können, müssen wir daher zum Teil interpolierend verfahren und Konsequenzen systematisch ausziehen, die dort nur angedeutet bzw. im prinzipiellen Rückbezug auf die „Grundlage" angelegt sind. Das gilt vor allem für den Zusammenhang zwischen Fichtes energetischem Prinzip und den Kantischen Kategorien. Der Leser wird sich jedoch anhand der Belegstellen in den Anmerkungen stets informieren können, wo bei diesem besonderen Verfahren unseres Exkurses die Grenzen zwischen Fichtes Gedankengut und unserer konstruktiven Fortführung seines operativen Prinzips verlaufen. 1. Analyse der Einbildungskraft Die Einsichten der Wissenschaftslehre entspringen der Reflexion des Bewußtseins auf sich selbst. Diese Reflexion geht auf Phänomene, die ihr durch eine „ursprüngliche Tätigkeit" des Bewußtseins gegeben sind: Ihre „Objekte" sind die faktischen Besonderheiten des Bewußtseins selber. Wie aber vollzog sich deren ursprüngliche Bewußtwerdung im Bewußtsein und für das Bewußtsein? Bewußtwerdung eines Objekts ist nicht ohne energetisches Geschehen denkbar. Erscheint etwas, wo vorher nichts wahrgenommen wurde, so muß eine bewirkende Kraft im Spiele sein. Fichte bezeichnet sie mit dem damals üblichen Wort „Einbildungskraft". Das will ohne allen psychologisierenden Beiklang ganz nüchtern sagen: Es handelt sich um eine Kraft, die in die Bewußtheit hinein ein Bild erschafft und dies dort auch erhält. Später gebrauchte Fichte dafür auch den Ausdruck „Bildekraft". Diese Kraft hat eine spezifische genetische Richtung: Ihr Angriffspunkt liegt außerhalb der unmittelbaren Bewußtheit - ihr Zielpunkt, das fertige Bild, liegt in der unmittelbaren Bewußtheit. Da im Selbstbewußtsein, von dessen Objektivation die WL ausgeht, all dies vom Bewußtsein selbst bewirkt sein muß, kann es
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sich letztlich nur um ein und dieselbe Kraftäußerung handeln - die allerdings verschiedene Stadien, d. h. verschiedene Richtungen durchläuft, also auf ihrem Gesamtweg mehrere Zielpunkte passiert. Man kann bei diesen Stadien auch von verschiedenen „Potenzierungen" in dem Sinne sprechen, daß in jedem neuen Stadium sich eine weitere „Potenz" der Ursprungskraft äußert: 1. Sie ist zunächst „reine", noch nicht weiter spezifizierte, sich äußernde Kraft; sie wird 2. von ihrem ersten, sie umlenkenden Zielpunkt aus energetisches Geschehen der Anschauung und 3. vom zweiten Zielpunkt aus energetisches Geschehen der Empfindung, deren Zielpunkt dann der ursprüngliche Fokus der gesamten Äußerung ist 28 . Das ist gut an der Ellipsenanalogie demonstrierbar, die uns bei der Formanalyse der „Grundlage" von 1794 dienlich war (Abb. 12):
xion in P n wird aus ihr die Potenz der „Anschauung" entbunden und ineins damit wird dem Geschehen des „Anschauens" eine eigene Richtung b gegeben: es zielt auf PA, das durch dies Anschauen zum „Angeschauten" wird. In PA wiederum wird die Potenz der „Empfindung" ausgelöst und deren energetischem Geschehen die Richtung (T auf den Kraftfokus F gegeben: Das „bewußtseinslos" Angeschaute wird so durch die „Empfindung" dem Reflexionsfokus vermittelt und dort als „Empfundenes" bewußt. 28 SW I, S. 335-375.
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Mit „Anschauung" und „Empfindung" bedienten wir uns der zeitgenössischen Ausdrucksweise Fichtes. Neutraler und angemessener wäre es, statt von Anschauung von (einfacher) Wahrnehmung zu sprechen: Das „Angeschaute" ist dann einfach das Wahrgenommene, d.i. das Objekt der Wahrnehmung. Denn „Objekt" in diesem Sinn ist schlechthin und ausnahmslos alles, was je im Bewußtsein wahrgenommen wird, seien dies Dinge, Ideen, Gefühle im engeren Sinne, Farben, Töne usw. Und was Fichte „Empfindung" nennt, ist in ebenso umfassender Bedeutung die Bewußtwerdung des Objekts durch die qualitative Reaktion des Bewußtseins auf die Besonderheiten und Eigenheiten des jeweils Wahrgenommenen. Erst durch diese vermittelnde Reaktion des Bewußtseins auf das Wahrgenommene „erscheint" dieses als Objekt in der Bewußtheit und ist für dieses „da", d. h. ist bewußt da. Ist das Objekt in diesem bewußten Dasein auch schon begriffenfja und nein. Nein - sofern sein bewußtes Dasein die Voraussetzung für die jetzt erst mögliche und zu leistende Arbeit des Begreifens ist, was denn dieses spezielle Objekt mit seinen Besonderheiten für sich und im Zusammenhang mit allem anderen sei. Ja - sofern das eine, aber auch nur dies, gleichzeitig mit seinem anfänglichen Dasein begriffen ist: Daß es „etwas", daß es - wissenschaftlicher ausgedrückt - „Objekt" ist. Dabei müssen wir zwei Sonderfälle des Reflexionsgeschehens in unsere Betrachtung einbeziehen. Geht das energetische Geschehen von F aus direkt in Richtung der Hauptsache unseres Analogiemodells (Abb. 13), so wird es unmittelbar, ohne zweiten Reflexionspunkt auf F zurückgeworfen. Das bedeutet, daß der Vektor der „Anschauung", d. h. der Vektor, der die eigentliche Objektivation bewirkt, Null ist und somit kein Objekt zustande kommt trotzdem muß Bewußtheit entstehen, doch welche?
A
A Abb. 13
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In der einen Richtung, in der die Nullanschauung den Fokus Fo der Objektivation passiert, entsteht kein umgrenztes Objekt, sondern die Objektivation der Grenze selber: Es entsteht Bewußtheit der Begrenzung, ohne daß damit Bewußtheit eines Begrenzten oder Begrenzenden verbunden wäre; man kann sie reine Endbewußtheit nennen. In der anderen Richtung, in der sich das Ursprungsgeschehen unmittelbar, ohne das Zwischenmoment des Objektivationsfokus, reflektiert, entsteht reine Freiheitsbewußtheit - Reflexion unbedingten Anfangsgeschehens, durch die die Potenz, schöpferisch frei beginnen zu können, zur Bewußtheit kommt. 2. Das Phänomen der Grenze Das Ich könnte nicht von sich selbst wissen, wenn seine Selbstreflexion nicht dadurch möglich und wirklich wäre, daß das Reflexionsgeschehen durch eine für dies Geschehen undurchdringliche Grenze umgelenkt und zum Reflexionsfokus zuriickgeleitet wird. Das bedeutet: Gerade weil erst die Undurchdringlichkeit der Grenze die Re-flexion, die Rückleitung, bewirkt, ist diese Grenze selber dem reflexiven Objektivationsakt „undurchdringlich". Daran knüpfen sich zwei wichtige Überlegungen: a) Ein energetisches Geschehen kann nur durch ein anderes energetisches Geschehen in seiner Richtung geändert werden. Dies andere Geschehen muß aus einer anderen Energiequelle stammen - denn die Energiestrahlen, die vom Fokuspunkt ausgehen, entfernen sich konstant voneinander und können sich nur schneiden, wenn sie aus ihrer ursprünglichen Bahn abgelenkt werden. Sollen die energetischen Gründe des ganzen Reflexionsgeschehens aufgedeckt werden, so muß auch diese andere Energiequelle entdeckbar sein. b) Nun bedeutet aber die für eine vollständige Selbstreflexion notwendige vollständige Umgrenzung des Reflexionsgeschehens, daß die Quelle der „anderen", die Grenzumlenkung bewirkenden Energie außerhalb des Umgrenzten, also jenseits dieser Grenze liegen muß. Da jedoch die Grenze eben der objektivierenden Reflexion den Zugang zu dieser andern Quelle versperrt, kann diese unmöglich objektiviert werden. Was sich daran objektivie-
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ren läßt, ist nur das von ihr verursachte Produkt: die Grenze selber. Am Zustandekommen dieser Grenze muß in gleicher Weise jedoch auch ein energetisches Geschehen des Ichbewußtseins beteiligt sein - denn in der Grenze wird auch jenes äußere energetische Geschehen aufgehalten und am weiteren Vordringen gehindert. Die Grenze ist in ihrer Stabilität das genaue Gleichgewicht gegengerichteter Energien.29 Damit zeigt sich ein Weg, innerhalb des umgrenzten Ichbewußtseins den Energieanteil - den „Grenzwert" - jener andern Energiequelle an der gemeinsamen Grenze zu bestimmen. Er muß dasjenige sein, was an der Grenze übrigbleibt, wenn das formende Ich seinen eigenen Energieanteil von ihr abzieht. Die Frage ist nur, wie dies Verfahren möglich sei. Unmittelbar kann das Bewußtsein jedenfalls seinen Grenzanteil nicht bestimmen, denn diese Außengrenze bildet eben jenes homogene Ganze, das seiner reflexiven Erkenntnis undurchdringlich ist - und zwar undurchdringlich auch im Blick auf ihre energetische Zusammensetzung. Aber es bleibt dem Ich ein mittelbarer Weg: Es kann seine eigene genetische Potenz der Grenzbildung eigenständig innerhalb seiner selbst, losgelöst von ihrer Einbindung in die Außengrenze, entfalten und zum Gegenstand seiner objektivierenden Erkenntnis machen. Zerlegt es dann sein inneres Grenzziehen in dessen genetische Bestandteile, so kann es quasi experimentell herausfinden, welche dieser Faktoren es selber in die äußere Grenzgenesis eingebracht hat - denn gelingt es ihm, diese Faktoren dort zu ändern, so muß sich auch der Zustand der Außengrenze ändern. Damit bekommt die anfangs theoretische Fragestellung eine unablösbare praktische Komponente: Denn weiß das Ich, wie es in der Grenzbildung genetisch verfährt, so kann es seinen Anteil an der Außengrenze letztlich auch ganz rückgängig machen. Da die Grenze aber nichts anderes als das stabilisierte Gleichgewicht seines und des fremden Energieanteils ist, löst es dadurch die gege29 SW I, S. 3 4 2 - 3 4 6 .
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bene Grenze auf. Zwar kann es die Grenzsetzung nicht prinzipiell aufgeben, da hierfür die außer ihm liegende Energie als solche verschwinden müßte - aber es kann die Grenze in unbegrenztem Maße verschieben30. Daß die Energiekonstellation in der Grenze veränderbar ist, macht auch erklärbar, wie auf das Ich eingewirkt werden kann, ohne daß fremde Energie in das Ich einzudringen braucht: Ändert sich das energetische Geschehen in einem bestimmten Grenzsektor, so kann das Gleichgewicht nur dadurch erhalten bleiben, daß das Ich sein energetisches Geschehen dieser Änderung spontan anpaßt - also sein Energiepotential in diesem Sektor erhöht oder erniedrigt. Durch die Wahrnehmung der eigenen Gegenreaktion entsteht im Ich nicht nur objektive Bewußtheit von energetischem Geschehen innerhalb seiner selbst - dies energetische Geschehen muß überdies das genaue Äquivalent des äußeren Geschehens sein, wenn sich am objektivierten Zustand der Grenze nichts ändert, also das vorgegebene Gleichgewicht genau erhalten bleibt. Das Ich bildet auf diese Weise durch Entbindung eigener energetischer Potenz jenen äußeren energetischen Vorgang, seinen vektoriellen Angriffs- und Zielpunkt in sich exakt nach. Ist die Ursache eines solch „begrenzten", also besonderen, Wirkvorgangs nicht ein anderes individuelles Ich, so muß sie notwendig als „Ding", als Nicht-Ich im essentiellen Sinn begriffen werden. Das Ding, das durch seine äußere Wirkung auf das individuelle Bewußtsein erkennbar wird, ist das „wirkliche Ding" 31 . 3. Die elementaren Binnengrenzen des Bewußtseins Soll das Ich eine objektivierte Binnengrenze begrifflich bestimmen können, so kommt es mit einer Grenzsetzung in seinem Innern nicht aus - denn „bestimmen" ist dem operativen Verfahren nach gleichbedeutend mit „umgrenzen". Das steckt hinter Fichtes Ausdruck „die Grenze ihr selbst entgegensetzen"32. Außerdem dür30 SW I, S. 3 5 2 . 31 SW I, S. 3 8 6 . 32 SW I, S. 3 5 3 .
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fen diese Binnengrenzen für die Erkenntnis nicht absolut, sondern nur relativ undurchdringlich sein. Gibt es solche Grenzen oder Grenzmöglichkeiten im Bewußtsein? Sie existieren in der Tat, sowohl effektiv als auch potentiell. Und zwar ist ihre relative Undurchdringlichkeit so gelagert, daß konstitutive Grenzmomente, die in der einen Grenzart unerkennbar sind, in der anderen erkennbar werden, und umgekehrt. Dadurch lassen sich zwar an keiner der fundamentalen Binnengrenzen des Bewußtseins alle Grenzkonstituenten zugleich erkennen - aber die an den einzelnen Grenzarten erkennbaren Konstituenten lassen sich insgesamt zum vollkommenen Bild einer durchbegriffenen Grenzgenesis zusammenfügen. Und - was durchaus nicht unwesentlich ist - auch die herausanalysierten, als undurchdringlich übriggebliebenen Momente an den fundamentalen Grenzarten lassen sich ihrerseits zum geschlossenen Bewußtheitsbild einer undurchdringlichen Grenze zusammenfügen. Erst diese letztere Möglichkeit macht erklärbar, wie das Ich überhaupt den bestimmten, d. h. umgrenzenden Begriff einer „undurchdringlichen" Grenze haben kann. Die beiden wesentlichen inneren Grenzziehungen des Bewußtseins kennen wir schon aus der Darstellung der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre": 1. Die Grenze zwischen den Bereichen des „Idealen" und des „Realen" und 2. die Grenze zwischen dem Bereich des unmittelbar, d. h. objektiviert Bewußten und dem nur mittelbar bewußt zu machenden der Primarreflexion. Die erste ist in unserer elliptischen Analogie symbolisiert durch die Nebenachse, die zweite durch die Hauptachse der Ellipse (Abb. 14). Realität
Idealität
Abb. 14
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Mit dieser Durchkreuzung der beiden elementaren Binnengrenzen des Bewußtseins befaßt sich im „Grundriß des Eigentümlichen" von 1795 Fichtes „endliche Auflösung unsrer Frage" nach der Grenzgenesis und ihrer Konstituenten 3 3 . 4. Die kategorialen Grenzbegriffe a) Die Kategorien der Relation a.l) Fichte geht aus vom Bereich der objektivierten, bewußten Idealität, den er A nennt (Abb. 14). In ihm stellt sich die Idee des Ich dar als das alle Bewußtheit Umfassende. Achtet das Ich nur auf diese Idee, so blendet sich die übrige Bewußtheit aus, und das Ich kann ohne weiteres das Postulat nachvollziehen, daß das ideale Ich die Totalität alles Bewußten darstelle. Geht das Ich aber zur Betrachtung seiner Realität über, so muß es feststellen, daß deren Erscheinung etwas ist, was nicht allein aus der bloßen Ich-Idee kommt, sondern auch etwas ist, das „von außen" zu deren Idealbild hinzutritt. Wenn wir die ideale Identifizierung des Ich mit der Totalität alles Bewußten formelhaft als T = A fassen, dann müßte die realistisch bedingte Totalitätsformel nun T = A + B lauten. Die Grenze zwischen objektivierter Idealität und objektivierter Realität zeigt somit die Konstituente des relativ Verbindenden zwischen zwei Bereichen. An dieser Verbindung wird jedoch eine spezifische Ungleichheit zwischen dem Verbundenen erkennbar: Den Begriff der Totalität entnahm das Ich seiner Idee. Um ihn überhaupt aufrechterhalten und weiter anwenden zu können, mußte es beim Bewußtwerden der Realität B ihn auf diese ausdehnen. Dadurch widerfuhr B eine Einordnung. B war in dieser Einordnung das Passive, das „Leidende" - das Ich, das sich mit A identifizierte, dagegen das Aktive, das „Handelnde". Aber auch dem Ich, das sich für A hielt, widerfuhr durch das Bewußtwerden von B jener Anstoß, „seine" Totalität auf B auszudehnen - so daß auch das Ich „Leidendes" und die bewußt gewordene Realität „Handelndes" war. Das Grenzverhältnis besteht somit aus dem der doppelseitigen „Wechselwirkung zwischen dem Handelnden 33 SW I, S. 381.
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und Leidenden", das Kant die Relationskategorie der „Gemeinschaft" nennt 3 4 . a.2) Nun wird eine Idee nicht einfach durch eine Realität außer Kraft gesetzt, die zu ihr nicht paßt. So auch nicht das Postulat, im idealen Ich müsse alles durch das Ich selbst bewirkt sein. Überlegt man näher, so zeigt sich in der Tat eine Denkmöglichkeit, die das Postulat T = A trotz der objektiv realen Existenz von B in Kraft läßt: Wenn B nämlich Resultat einer exakten Reaktion des Ich auf eine äußere Einwirkung ist, die durch eine nicht objektivierte andere Reaktion des Ich nach der Formel T = A + B - B im Augenblick ihres Geschehens wieder ausgeglichen ist, dann bleibt T = A ohne weiteres in Geltung. Voraussetzung dafür ist, daß im Bereich des Idealen ein nicht objektivierter Teilbereich (-B) möglich ist, der für die Geltung von T = A nicht von substantieller, sondern bloß akzidenteller Bedeutung ist und außer Betracht gerät, sobald er durch einen ebenso bloß akzidentellen Gegen-Teil (B) im realistischen Bereich kompensiert wird. Damit zeigt sich im Bereich des Idealen eine andere Art von Grenze: die des kategorialen Unterschieds von Substanz und Akzidens35. a.3) Als Akzidens ist - B allerdings in ein besonderes Verhältnis eingebunden und kann nur aufgehoben werden, wenn das Verhältnis aufgehoben wird; was formelhaft als (A: -B) - (-A : B) = 0 darstellbar wäre. Das besagt in unserm Fall: Die Aufhebung von B ist nur dann möglich, wenn es genau wie - B ein Akzidens ist und einer Substanz zugehört, die genau A entspricht. Das trifft für - A zu, denn dies Symbol entsteht exakt dadurch, daß die Gleichung A = A in die Nullgleichung A - A = 0 umgewandelt wird, das eine A sozusagen auf die Seite des andern „übertragen" wird. Aber die eigentliche Überlegung gilt nicht der Nullformel von A, die nur eine Zwischenoperation darstellt, um zu zeigen, daß die 34
SW I, S. 382-383; vgl. dazu hier und im Folgenden die „Tafel der Kategorien" in Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A S. 80 (s. u. Abb. 15). 35 SW I, S. 385.
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mögliche Aufhebung von B auch an die Identität des absoluten Werts lAl in +A und -A gebunden ist. Die zentrale Aufmerksamkeit gilt einem andern Umstand: Eine Substanz braucht nicht notwendig ein Akzidens. Die für B notwendige Substanz -A könnte auch ebensogut ohne dies B bestehen. Wenn aber die Objektivität von B ebensogut sein wie nicht sein kann, dann muß es zwischen ihm und der Substanz -A ein nicht objektiviertes Verbindungsglied geben, das ebensowohl sein oder nicht sein kann, von dem aber die Objektivation des B abhängig ist: nämlich das Moment einer „Wirksamkeit" der unsichtbaren Substanz - A 3 6 . Aus dieser Wirksamkeit resultiert nicht nur die Existenz von B samt ihrer Objektivation, sondern gleichzeitig auch die notwendige Bestimmung des -A als der „Ur-Sache" zu der „Sache" B. Wichtig daran ist besonders: Die Wirksamkeit der Substanz bewirkt diese besondere Notwendigkeit ihrer Selbstbestimmung als einer Ursache durch denselben Akt, mit dem sie die Existenz eines Objekts bewirkt. Es ist daher nicht subjektive Willkür, sondern im Bewußtsein selber angelegte Notwendigkeit, nach der Ursache eines Objekts zu fragen, sobald ein Objekt bewußt ist. Allerdings besagt dies Verhältnis auch unmißverständlich: Eine Substanz ist nicht „an sich" Ursache. Sie ist es nur unter zwei Bedingungen: Wenn sie selber wirksam wird, und wenn ihre Wirksamkeit in einem realen Objekt resultiert. Fichte geht „bei diesem höchst wichtigen Punkte" distinkt auf die skeptischen Einwände Maimons und Humes gegen das kategoriale Grenzverhältnis von Ursache und Wirkung ein 37 . a.4) Die Bestimmung des noch übrigen Grenzverhältnisses zwischen -A und - B hat eine spezielle Schwierigkeit zu überwinden: Diese Grenze verläuft nicht im Bereich der objektivierten Bewußtheit. Soll sie überhaupt objektiviert und dadurch bewußt werden können, so muß sie innerhalb der objektiven Bewußtheit nachgebildet werden. 3' SW I, S. 386. 37 SW I, S. 388.
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Wiederum darf sie dort nur so gebildet werden, daß sie als Grenzbezug erscheint, der zwar existiert, aber nicht als positiv objektives Phänomen - mithin kann sie nur als negatives Phänomen dargestellt werden. Das heißt praktisch: Ihr Bild muß die Negation der ihr genau entsprechenden Grenze innerhalb des Objektbereichs sein. Letzteres ist die Grenze zwischen objektiver Idealität und objektiver Realität, zwischen dem A und B in Fichtes Symbolik. Wie ist diese bestimmte Negation zu denken? Die idealreale Grenze ist (wie unter a.l ermittelt) „Wechselwirkung". Nun kann an ihr das Moment der Wechselseitigkeit nicht aufgehoben werden, weil eine Grenze nur durch die Getrenntheit von mindestens zwei Momenten überhaupt zustande kommt; durch diese Aufhebung ginge gerade das Grenzbild verloren, das wir zur Nachbildung der Grenze -A/-B brauchen. Aufgehoben werden kann also nur das Moment der „Wirkung". Übrig bleibt durch deren Negation dann die Beziehung eines bloßen, nicht mehr weiter spezifizierten, Verhältnisses: das Moment der Relation; dargestellt als Relation zwischen der Notwendigkeit einer negativen Substanz (-A) und der Zufälligkeit eines negativen, einer andern Substanz (+A) zugehörigen Akzidens (-B). Da aber die negative Substanz -A keinen ursächlichen Zusammenhang mit dem negativen Akzidens - B bewirkt, kommt die Darstellung der reinen Relation aus dem einfachen Gegenüber von bloßer Notwendigkeit und bloßer Zufälligkeit zustande38. Durch die fundierende Relationsbestimmung der elementaren Binnengrenzen des Bewußtseins ist nun die Bestimmung ihres Schnittes möglich geworden: des „Punktes", in dem sich alle vier Teilgrenzen tangieren. Fichte führt an dieser Stelle darum auch definitorisch den Terminus „Punkt" für den weiteren Überlegungsgang ein 39 . Jedoch ist der „Punkt" in diesem Argumentationsstadium lediglich „relativ" zu dem „etwas" der Objektivation, nämlich als „Nullpunkt" definierbar, als topologische Bestimmung jenes 38 SW I, S. 390. SW I, S. 391.
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„nullum", zu dessen Äquivalent sich die Gleichungen A = A und B = B a l s A - A = 0 und B - B = 0 umformen lassen. Soll sich der „Punkt" als mehr erweisen können - nämlich als Ort der zentralen Energiequelle des Ich so muß dies durch eine weitere Uberlegung zu den Binnengrenzen und ihrer konstituierenden Energetik erbracht werden. Bis jetzt ist durch sie lediglich eine zweidimensionale Anschauungsfläche konstituiert; gezeigt werden muß aber ebenso, wie es zur Bewußtheit eines dreidimensionalen „Raumes" kommt und welche konstitutiven Faktoren dies bewirken. Fichte geht denn auch von hier aus im „Grundriß" von 1795 direkt das transzendentale Problem des Raumes und seiner Ausdehnung an. Wir können die besonderen Eigenheiten dieses hochabstrakten und komplexen Argumentationsganges in unserm Rahmen nicht wiedergeben. Worum es dabei geht, läßt sich aber auch mit Begriffen der Vektorrechnung deutlich machen. Dazu müssen wir allerdings - was Fichte selbst im Grundriß nicht tut - Fichtes energetischen Ansatz bei den Relationskategorien auf das ganze transzendentale Kategoriengefüge ausdehnen. Obwohl das in diesem Exkurs nur in gedrängter Skizze geschehen kann, wird dadurch zugleich auch ein ungewohntes Licht auf die inneren Bezüge der Kantischen Kategorientafel (Abb. 15) fallen. Abb. 15
Tafel der Kategorien
40
1. Der Quantität: Einheit Vielheit Allheit
3. Der Relation: Substanz und Akzidens Ursache und Wirkung Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden)
2. Der Qualität: Realität Negation Limitation
4. Der Modalität: Möglichkeit - Unmöglichkeit Dasein - Nichtsein Notwendigkeit - Zufälligkeit
b) Die Kategorien der Modalität In dem Relatiwerhältnis der vier Elementarbereiche der Selbstreflexion entdeckt sich noch ein anderes kategoriales Verhältnis, 40
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. A 80.
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das naturgemäß erst faßbar wird, wenn die formal konstituierenden Grenzrelationen erfaßt sind. Um ihnen auf die Spur zu kommen, müssen wir bedenken, daß es keine Relation ohne (mindestens zwei) Relata gibt. Demnach kann es auch keine kategoriale Relation geben, wenn es nicht zugleich kategoriale Momente gibt, deren Verhältnis durch die formalen Relationskategorien auf den Begriff gebracht ist. Entsprechend den vier Momenten der Relationsgruppe (drei Kategorienpaare mit ihrem Einheitsbegriff der „Relation") muß es sonach auch vier Paare solcher kategorialen Relata geben. Eine Paarbildung findet sich in der Kantischen Kategorientafel nur noch bei den Modalitätskategorien. Sie demnach müßten es sein, wodurch die elementaren Relationsgrenzen im Bewußtsein dem jeweils angrenzenden Bereich vermittelt werden. Man kann auch sagen: In ihnen muß das spezifische Quäle des Übergangs aus der jeweiligen Elementargrenze in den von ihr begrenzten Elementar bereich des Bewußtseins begriffen sein. Der Kürze halber verwenden wir zur Kennzeichnung der jeweiligen Grenzziehung wieder Fichtes Buchstabenbezeichnung (vgl. Abb. 14). b.l) A/-B A ist positive Substanz, vermittelt als daseiend. - B ist negatives Akzidens, vermittelt als nichtseiend. b.2) B/-A B ist positiv Bewirktes; es als Akzidens einer unsichtbaren Substanz -A zu denken, ist möglich. Eine in ihrer Existenz negierte Substanz (-A) als Ursache vorzustellen, ist unmöglich. b.3) - A / - B Die kategorialen Relata des reinen Relationsbegriffs haben sich oben (vgl. a.4) als Notwendigkeit und Zufälligkeit entdeckt. b.4) Die Gemeinschaft als „Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden", d. h. als wechselseitige Fremdbestimmung zwischen einer Substanz und dem bewirkten
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Akzidens einer anderen Substanz, wird nach beiden Seiten vermittelt als Modalität, als Einheitsbegriff dieser Kategoriengruppe. Bildlich gesprochen sind die modalen Kategorienpaare Flußlinien des Übergangs, die doppelseitig, rechts und links der konstitutiven Trennlinie der elementaren Grenzrelation verlaufen. Insofern haben sie auch keinen Schnitt-„Punkt", sondern „fließen" um den Schnittpunkt der kategorialen Relation zu einer infinitesimal kleinen Kreisfläche zusammen - der „Urfläche" gewissermaßen - , ohne daß sich dabei eine bestimmbare Peripherie bildet. Da es für die folgenden Überlegungen hilfreich sein wird, sei ein Diagramm der relativen Elementarbinnengrenzen und ihrer modalen Bereichsvermittlungen eingefügt (Abb. 16). Gemeinschaft (leidend handelnd) Modalität
Modalität
möglich
Dasein
Wirkung
Substanz
Ursache
Akzidens Nichtsein
unmöglich
notwendig
zufällig Relation
c) Die Kategorien der Quantität Die Ausgangsbasis für die Deduktion der andern beiden Kategoriengruppen, die Kant im Unterschied von den dargelegten „dynamischen" die „mathematischen" nannte, liegt in jenen Überlegungen Fichtes, die sich mit dem Verhältnis von Verhältnissen befassen. Er entwickelt sie an dem Verhältnis der „angeschauten", d.h. bewußt gemachten Elementargrenzen des Bewußtseins untereinander (wobei er im „Grundriß" von 1795 allerdings
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nur die Relationen entfaltet, die der Kategoriengruppe der Qualität korrespondieren) 41 . Da diese Grenzen energetische Trennlinien sind, bedeutet das die Untersuchung des möglichen Zusammenwirkens der vier Elementarvektoren, die die vier inneren Elementargrenzen des Bewußtseins, energetisch gesehen, darstellen. Ein solches Verhältnis kann zu einem additiven oder multiplikativ-faktoriellen Resultat gebracht werden.
•y
•X
-X
Abb. 17
-y Die Addition der Vektoren läßt sich im Rahmen unserer elliptischen Analogie durch die Diagonale von Kräfteparallelogrammen darstellen (Abb. 17). Begrifflich ergibt sich für den kategorialen Zusammenhang im einzelnen: c. 1) Die vektorielle Addition der Grenzvektoren von A stellt sich dar als Kategorie der Einheit (Addition von Gemeinschaft und Substanz). c.2) Die Addition der Grenzvektoren von - B ergibt die Kategorie der Allheit (Summe von Akzidens und Relation). c.3) Für B schafft die Vektorenaddition von „Wirkung" und dem passiven Aspekt der „Wechselwirkung" die Kategorie der Vielheit. c.4) Die Vektorenaddition von „Ursache" und „Relation", den Formalgrenzen von -A, erzeugt den Begriff der Quantität, den Bezugsbegriff dieser kategorialen Gruppe. "1 SW I, S. 3 9 1 - 4 1 1 .
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An dem Kräfteparallelogramm (Abb. 17) wird unmittelbar anschaulich, weshalb die kategorische Annahme einer „Außenwirklichkeit" sich für das individuelle Bewußtsein zwingend ergibt: Die additive Vektorenkomponente wird in ihrem wirklichen Verhältnis zu den Binnenvektoren der Relationsgrenzen nur dann „vorstellbarwenn in ihrer Abbildung jene Reflexionsgrenze durchbrochen wird, die das individuelle Selbstbewußtsein konstituiert. Das heißt mit Fichtes Ausdrucksweise: Die Kategorien der Quantität kommen im Bewußtsein nur dadurch zustande, daß dieses in der inneren Nachbildung seines Verhältnisses zur Gesamtwirklichkeit „idealiter aus sich herausgeht", was besagt: In seiner inneren Selbstabbildung einen Außenbereich und dazu ein energetisches Geschehen ansetzt, das vom Angriffspunkt der zentralen Energiequelle des Ich ausgehend einen Zielpunkt jenseits der Reflexionsgrenze der Selbstbewußtheit setzt. d) Die Kategorien der Qualität Die wechselseitige Multiplikation der vier elementaren Binnengrenzvektoren des Bewußtseins führt zu hochinteressanten Konsequenzen. Betrachten wir im ersten Schritt die entstehenden Vektorprodukte. Zur schematischen Kennzeichnung benützen wir wie bei den Modalkategorien Fichtes Buchstabensymbole (vgl. o. Abb. 14 u. 17); die Schreibweise B/A/-B bezeichnet die zwischen den Bereichen B/A und A/-B verlaufenden Vektoren, usw. d.l) B/A/-B Das Produkt aus Modalitäts- und Daseinsvektor ist der Begriff der Qualität. d.2) A/B/-A Das Produkt aus Modalitäts- und Möglichkeitsvektor ist die Kategorie der Realität. Das bedeutet: Ihr Begriff ist die Realitätsform schlechthin und in allgemeinster Erscheinung. d.3) B/-A/-B Hier geht es um das Produkt eines „unmöglichen" Vektors mit einem „notwendigen" Vektor. Nun ist ein unmöglicher Vektor ein imaginärer Vektor. Es geht also um ein Produkt,
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in dem ein imaginäres und ein notwendiges Element zu einer Einheit verschmolzen sind, das Imaginäre quasi notwendig geworden ist. Ein solches Produkt ist eben die Limitation, die Begrenzung selbst - denn eine Grenze für sich allein, ohne jedes Begrenzte, ist schlechthin imaginär: Eine Grenze läßt sich immer nur durch den Übergang von einem Begrenzten zu seinem Begrenzenden und umgekehrt repräsentieren, d. h. objektiviert darstellen. d.4) A/-B/-A Hier kommen wir auf das Feld, von dem das Phänomen der Tautologie seinen Ausgang nimmt. Denn wenn wir zunächst thetisch sagen, das Produkt eines „nichtseienden" Vektors mit einem Zufallsvektor sei die Negation, so dynamisieren wir eben ein Teilmoment, das wir zur Bildung des Ausdrucks „Nichtsein" schon gebrauchten. Aber der Akt der Negationsbildung ist seiner Genesis nach in der Tat nicht anders zu erklären als durch ursprüngliche Thesis: Er ist gewissermaßen das Grenzminimum an gerichteter energetischer Äußerung der zentralen Kraftquelle des Bewußtseins, das nicht unterschritten werden kann, ohne daß eine Kraftäußerung überhaupt erlischt und unterbleibt. Das Begreifen des Negationsaktes, das in der Begriffskategorie der Negation resultiert, ist dagegen Produkt aus zwei besonderen Negationsakten: eines bestimmten Negationsaktes, der sich im Grenzbegriff des Nichtseins manifestiert und eines unbestimmten Negationsvorganges, der sich hinter dem Begriff des Zufälligen verbirgt. Letzterer ermittelt sich als das Allgemeinprodukt der doppelten Negation: Das Zufällige ist nicht einfach Negation des Notwendigen, denn diese könnte auch bloßes Nichts zur Folge haben - es ist vielmehr Produkt aus der Negation des Notwendigen und des Nichts: ein Produkt, das deshalb notwendig nicht Nichts sein kann, sondern nicht notwendiges „etwas" sein muß eben das „Zufällige". 5. Der Begriff vom Raum An unserer Darstellung der Qualitätskategorien tritt ein wesentliches Moment für die Raumkonstitution in Erscheinung: Ein Vek-
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torprodukt ist geometrisch seinen Vektoren nicht komplanar, d. h. es bildet sich nicht in derjenigen Ebene ab, die von seinen faktoriellen Vektoren konstituiert wird, sondern steht lotrecht auf dieser Ebene. Für unsere Überlegungen besagt das: Während die Quantitätskategorien die Überschreitung (Transzendierung) jener Grenzen repräsentieren, die in der Anschauungsebene der elementaren Grenzvektoren verlaufen, verläßt (transzendiert) das kategoriale Vektorprodukt diese ganze Begrenzungsebene selber und eröffnet eine ganz neue, eigenständige, dritte Dimension. Formelhaft wäre neben den beiden Koordinatenachsen x und y (Abb. 17) dafür eine dritte Koordinate z einzuführen. Allerdings geht jedes Vektorprodukt von der Vektorenebene aus stets nur in eine Richtung, entweder nach „oben" oder nach „unten" - kann also allein keine nach beiden Seiten unbegrenzte Dimension bilden. Aber wenn wir in unserm Fall das Vektorprodukt des Qualitätsbegriffs den positiven Werten der z-Achse und das Vektorprodukt der Realitätskategorie deren negativen Werten zuordnen, so bilden beide zusammen die nach beiden Seiten unbegrenzte Gerichtetheit der fraglichen dritten Dimension ab. Um diesen Zusammenhang zweier entgegengesetzter Richtungen geht es nun wesentlich in Fichtes Überlegungen zur Raumkonstitution im „Grundriß" von 1795. Das Moment, in dem sie zusammenhängen, darf nämlich nicht derart sein, daß sie zu einer ununterbrochenen Linie zusammenfließen, weil dadurch ihre Unterscheidbarkeit verschwände. Fichte löst dieses Problem durch den Begriff eines unendlich kleinsten Raumes: „Der unendlich kleinste Teil des Raums ist immer ein Raum, etwas, das Continuität hat, nicht aber ein bloßer Punkt oder die Grenze zwischen bestimmten Stellen im Räume" 42 . Hängen also die entgegengesetzten Richtungen der Elementargrenzen und Dimensionskonstituenten des Bewußtseins nicht unmittelbar, sondern vermittels eines Minimalraums zusammen, so sind sie durch dessen „Continuität" verbunden, ohne daß sie sich als Linien selbst gegenseitig berühren. 42
SW I, S. 400.
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Der Gedanke eines „kleinsten" Raumteiles bedingt, daß in ihm weiter keine Teilung mehr denkbar ist, also auch keine Aufteilung im Sinne irgend einer Differenzierung. Damit repräsentiert dieser Gedanke zugleich die Idee des „reinen" und bloßen Raumes. Fichte unterscheidet von daher in der WL 1801/02 strikt zwischen dem Raum als solchem und Konstruktionen im Raum, die diesen Raum erst differenzieren und bestimmbar machen. Alle Vielfalt und Differenzierung hält „der stätige Raum, [...] der als solcher gar nicht geteilt wird, sondern in welchem bloß geteilt wird." 43 Der Raum als solcher ist darum auch nicht etwa auf den gedachten Minimalteil beschränkt, sondern wird durch dessen spezielle Grenzbetrachtung erst in seinem eigentlichen Wesen greifbar. Dies Wesen wiederum ist „die stehende absolute Anschauung"; kennen wir darum diesen Raum, „so kennen wir unsere Anschauung" 44 . Wodurch kommt es zu dieser eigentlichen Raumrealität? Das individuelle Bewußtsein und Selbstbewußtsein „ist der Form nach ein Wissen von Äußerung der Kraft" der Genesis 45 . Eine Kraft aber kann nicht gesetzt werden, „ohne als sich äußernd gesetzt zu werden; [...] sie kann sich aber nicht äußern, ohne eine Sphäre ihrer Äußerung zu haben". Der Anschauungsraum ist eben diese „Sphäre": das durch die genetische Kraftäußerung und ihre „Produkte erfüllte oder zu erfüllende." Er ermöglicht die äußere Ordination unterscheidbarer und unterschiedener Phänomene, ihre „Stellung" zueinander: Dasjenige, „was den Dingen so zukommt, daß es ihnen, und gar nicht dem Ich zugeschrieben wird, aber doch nicht zu ihrem innern Wesen gehört, ist der Raum, den sie einnehmen". Alle solche ordinative Raumbestimmung setzt einen teilweise erfüllten Raum voraus. Sie kann jedoch stets nur eine relative Ortsbestimmung sein, denn der „erfüllte Raum ist doch immer ein endlicher", der zum unendlichen kein bestimmbares Verhältnis haben kann 46 .
« WL 1801/02, S. 132. 44 ebd. S. 117. « ebd. S. 172. SW I, S. 401-402.
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6. Das Problem der Zeit Zu den fundamentalen Erkenntnissen Fichtes in der Behandlung des Zeitproblems gehört, daß Raum und Zeit nur durcheinander gemessen werden können 47 . Das besagt: Zeitereignisse werden an Ordinationsveränderungen im Raum abgelesen (z. B. an den verschiedenen Stellungen eines Uhrzeigers); umgekehrt werden Ordinationsveränderungen im Raum durch Zeitvorgänge erklärt („früher" stand der Uhrzeiger oben, „jetzt" steht er unten). Wie können dann Zeit und Raum überhaupt exakt voneinander im Bewußtsein unterschieden werden, obgleich die exakte Bestimmung des einen immer nur mittels des anderen erfolgen kann? Unter anderem dadurch, daß in der Bestimmung der Zeitfolge die prinzipielle Umkehrbarkeit der Richtungen im Raum aufgehoben wird. So definiert Fichte im „Grundriß" von 1795 die „Zeit-Reihe" als „eine Reihe von Punkten, [...] wo jeder von einem bestimmten andern abhängig ist, der umgekehrt von ihm nicht wieder abhängt" 48 . In der WL 1801/02 wird dies ausführlich aus dem energetischen Prinzip der Genesis abgeleitet: Alle wahrnehmbare und wahrgenommene Differenzierung im als solchem undifferenzierten Anschauungsraum ist Resultat einer bestimmten Äußerung der genetischen Energie. Jeder „gegenwärtige" Zustand ist somit abhängig von dem genetischen Akt, der zu ihm führt und ihm dabei unmittelbar vorausgeht - doch dieser bewirkende Akt ist umgekehrt in seiner Existenz nicht abhängig von dem, dessen Existenz er erst bewirkt. Überdies endet die Bestimmtheit dieser einseitigen Abhängigkeit mit dem Moment der jeweiligen Gegenwart - und macht damit die freie Bestimmung der zukünftigen Momente möglich: Denn im Moment der Gegenwart existiert der an sie anschließende künftige Moment noch gar nicht - der gegenwärtige Moment ist darum zeitlich „nur abhängig, ohne einen andern zu haben, der von ihm abhängt" 49 . Welcher künftig gegenwärtige Moment von V SW I, S. 411. "8 SW I, S. 408. 4 9 SW I, S. 409.
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ihm abhängen wird, „läßt sich nicht schließen, man wird es wissen erst in dieser Zeit. [...] Eine wirkliche Wahrnehmung ist ein durchaus neues für das Wahrnehmen selbst, und ein nicht a priori zu erfindendes." 50 Von der Freiheit her gesehen ist diese einsinnige Bedingungsfolge der Zeit-Reihe „ein Handeln, ein in vermittelnde Akte sich spaltender Plan". Durch die von daher gegebene prinzipielle Zukunftsgerichtetheit der Gegenwartsform tritt „eine unendliche Zeit ein, denn jeder Moment schließt sich innerhalb einer unendlichen Anschauung, die künftige Momente fordert".51 Auf diesem Hintergrund wird in der WL1801/02 der Begriff der Richtung zum entscheidenden Ansatz für die Enträtselung des Zeitphänomens 52 . Der „Realgrund der Richtung" entdeckt sich dabei im ethischen Bereich 53 : Die Freiheit soll sich nicht blindlings, sondern in der Richtung ihrer absoluten Möglichkeit verwirklichen. Wie aber - was die formal-abstrakte Seite des Zeitproblems ausmacht - entsteht im Bewußtsein überhaupt das Wissen, der Begriff von „Richtung"? Im Rückgriff auf unsere Vektoranalogie bei den Qualitätskategorien können wir bildlich gesprochen sagen: Die ursprüngliche Bewußtheit von „Richtung" stammt aus dem Vektorprodukt der „Limitation" (Begrenzung). Dieser kategoriale Vektor hat einen bestimmbaren Angriffspunkt, von dem aus er seine Richtung nimmt: er geht als Produkt aus der Vereinigung der kategorialen Vektormomente des „Notwendigen" und des „Unmöglichen" hervor (vgl. o. Qualitätskategorie d.3). Er kann aber sein Wesen als „Begrenzungsprinzip" nur so repräsentieren, daß er auch einen Zielpunkt bei sich führt, der seine Erstreckung idealiter begrenzt und bestimmt. Das heißt praktisch: Der an ihm erscheinende Zielpunkt darf kein endgültiger, sondern nur ein die Richtung bestimmender und markierender vorläufiger Grenzpunkt sein. Das ist er, indem er als Wiederholung, als Nachbildung des ursprünglichen Angriffspunktes erscheint. 50 WL 1801/02, S. 177. si WL 1801/02, S. 216. 5 2 Vgl. die Deduktion des Dimensionsbegriffs in Reinhard Lauth, Die Konstitution der Zeit im Bewußtsein. Hamburg 1981. S. 25. 53 WL 1801/02, S. 123.
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Wirkliches „Nachbild" aber bedeutet, daß er selbst wiederum effektiver Angriffspunkt zu einer Fortsetzung der Vektorlinie in der ursprünglich eingeschlagenen Richtung sein muß. Er artikuliert und quantifiziert somit die Erstreckung in die durch ihn bestimmte Richtung, ohne sie definitiv zu beenden. Jedes weitere Nachbild tut dies ebenso, so daß eine potentiell unendliche Reihe von Nachbildungen des ursprünglichen, absoluten Angriffspunktes dieser kategorialen Vektorrichtung entsteht. Konkreter gesprochen heißt das: Der Zeitfluß ist gequantelt54. Dabei führt jeder Gegenwartsmoment des Bewußtseins ein Zielbild (eine „Idee") des nächsten Gegenwartsmomentes, das zu verwirklichen ist, bei sich. Ebenso ist jede Bewußtheitsgegenwart die Verwirklichung des in der vorangegangenen - und jetzt vergangenen - Gegenwart gesetzten Zielpunktes. Damit ist zwar die progressive Bestimmbarkeit der Zeit aufgeklärt, doch macht unsere Analogie deutlich, daß wir noch nicht alle relevanten Aspekte des Zeitphänomens erhellt haben können. Im Zusammenhang der Raumanalyse bedachten wir, daß erst die beiden kategorialen Vektorprodukte der Qualität und Realität zusammen die den Raum konstituierende dritte Dimension über die Vektorebene hinaus bilden. Entsprechend müßte auch die Zeit „als solche" erst im Zusammenhang des kategorialen Vektors der „Limitation" mit dessen Gegenvektor der „Negation" rein zu fassen sein. Da die beiden keineswegs ein und denselben, sondern verschiedene Angriffspunkte haben müssen - sonst wären sie ununterscheidbar - , so müssen ihre Angriffspunkte in einem „Medium" verbunden sein, das weder als „begrenzt" bezeichnet werden kann (es liegt ja „vor" dem Angriffspunkt aller Begrenzung), noch als „Negation" (denn es trennt den Ansatzpunkt der Negation von dem der Limitation): Dies Verbindende wäre eben „reine", schlechthin unbegrenzte, nicht negative, mithin absolut positive Zeit. Dabei sei - da dies über den historischen Stand von Fichtes Untersuchungen hinausweist - nur angedeutet, daß die in dieser Verbindung und als diese Verbindung erscheinende Dimension der 54 Vgl. Widmann, Grundstruktur, S. 147.
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Ze/í wohl unterschieden werden muß von jenen drei Dimensionen, die den idealen Anschauungsraum konstituieren. Sie ist im strengen Sinn darum als eine vierte Dimension zu fassen 55 . Als solche kann sie innerhalb des Anschauungsraumes nur projektiv abgebildet werden. Dabei darf ihre dimensionale Richtung in dieser Abbildung nicht so erscheinen, als wäre sie an eine bestimmte unter den den Raum konstituierenden Dimensionen gebunden. Das bedeutet: Sie erscheint in ihrer Abbildung im Anschauungsraum als Freiheit und Ungebundenheit des Richtungnehmens und Richtungsetzens, somit an jeder Bewegung in all den vorstellbaren Richtungen innerhalb des dreidimensionalen Anschauungsraums. D. Die Reflexionsformen und ihr Zusammenhang Mit der Analogie zur Geometrie der Ellipse haben wir bisher nur eine unter den möglichen Reflexionsformen des Bewußtseins dargelegt: die Form, unter der das organische Zusammenwirken von Begriff und Evidenz im individuellen Selbstbewußtsein - das evidente Sichbegreifen der individuellen Existenz - reflektiert wird. Wir werden im weiteren Verlauf sehen, daß die Erkenntnisbereiche des Rechts, des Ethos und der Religion durch andere Reflexionsformen des Bewußtseins erschlossen und konstituiert werden. Die Verknüpfung dieser distinkten Reflexionsformen des Bewußtseins läßt sich exakt nur über die Theorie eines vierdimensionalen Bezugssystems herstellen56. Gleichwohl treten die Bilder dieser Reflexionsformen anschaulich faßbar an der Analogie der Kegelschnitte heraus. An dieser Analogie läßt sich auch augenfällig dokumentieren, daß mehrere Reflexionsformen im Bewußtsein durchaus nebeneinander ohne Konfusion unter der Voraussetzung existieren können, daß jede einem spezifischen Reflexionsbereich inhärent ist - wobei diese Bereiche zwar voneinander wohlunterschieden sind, aber dennoch alle einen gemeinsamen Bezugs- und Schnittpunkt haben können:
Vgl. Widmann, Gedanken S. 4 6 5 . 56 Vgl. u. S. 2 6 9 ff. 55
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S
Abb. 18
Legen wir durch einen geraden Kreiskegel (Abb. 18) mit der Spitze S eine Schnittebene orthogonal zur Kegelachse, so entsteht ein Kreis. Neigen wir nun die Schnittebene kontinuierlich um einen Drehpunkt D, so entstehen zunächst Ellipsen, dann - wenn die Ebene parallel zu einer Mantelgeraden verläuft - das Schnittbild einer Parabel, darauf die Schnittbilder von Hyperbeln. Analog gibt es im Bewußtsein Grenzübergänge von der Form der individuellen Selbstreflexion zu den elementaren anderen Reflexionsformen des Rechts, des Ethos und der Religion. Verbunden sind diese Reflexionsbereiche in der Gegenwart des Bewußtseins durch das Bezugsnetz des genetischen Begreifens, dessen Verknüpfungsmomente die einzelnen Begriffe sind. Dieses Bezugsnetz ist nicht wie das Reflexionsgeschehen der „Anschauung" und „Empfindung" - d. h. der objektivierenden Wahrnehmung und Bewußtmachung - durch das Mittel eines Reflexionsfokus konstituiert, sondern durch die Nachbildung seiner zentralen Energiequelle: Die einzelnen Begriffe als quasi „Knotenpunkte" oder - wie Fichte zu sagen pflegt - „Konzentrationspunkte" von energetischen Linien des aktualen Begreifens sammeln diese Linien nicht nur in sich, sondern strahlen sie auch wieder aus und ermöglichen so neue Verknüpfungspunkte, d. h. neue besondere Begriffe. Durch dieses Hervorgehen neuer energetischer Begreifenslinien werden die „Konzentrationspunkte" der Begriffe alle zu Bildern ihrer ursprünglichen, zentralen Energiequelle, deren energetischer „Äußerung" sich sowohl ihre di-
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stinkte Existenz wie das lebendig geschehende „begreifen" überhaupt verdanken. Dabei bilden sich energetische Hauptlinien des Begriffsgeschehens aus, aus denen sich Nebenlinien abzweigen, von denen wiederum Nebenlinien ausgehen können usw.: das Schema der aus der Logik bekannten Gliederung in Ober- und Unterbegriffe. Unser Dichotomieschema (Abb. 10) stellt einen Sonderfall dieser allgemeinen Begriffsverknüpfung dar: In diesem Begriffsnetz ist mit den Mitteln der Begriffsverknüpfung das genetische Bedingungsverhältnis zwischen der zentralen Energiequelle (dem „Nullpunkt") des Bewußtseins und dem energetischen Fokus seiner Reflexion abgebildet. Die zentrale Energiequelle ist dabei begriffen als der Dasein begründende Akt der „Existenz": des Heraustretens, des sich „Außerns" der Kraft der Genesis. Der energetische Fokus der objektivierenden Reflexion ist begriffen als Ursprung des besonderen Mensch-Seins, der sich im Begriffszusammenhang der Existenz darstellt als ursprünglicher Schnittpunkt von Natur- und Sinngeschehen. An diesem Begriffsbild ist jedoch wohl zu beachten, daß es die Begriffshierarchie der prinzipiellen Existenzbedingungen darstellt - nicht etwa eine kausale Abfolge der Existenzverwirklichung. Es macht im Gegenteil unmißverständlich deutlich, daß nach einer kausal-zeitlichen, d. h. „historischen" Abfolge der Existenzgenesis legitim nur innerhalb des Dichotomiebereichs der „Geschichte" gefragt werden kann. Was außerhalb dieses Bereiches liegt, ist keine genetische Setzung in geschichtlicher Form; lediglich die objektivierende Erschließung dieser Bereiche, die abbildhaft innerhalb des individuellen Bewußtseins des „Menschen" geschieht, hat notwendig die Form einer geschichtlichen Abfolge, weil ihr Ort von der Dichotomie des Geschichtsprinzips umschlossen ist.
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2. Teil: Die Anwendungsbereiche I. Natur Fichte hat seine Gedanken zur transzendentalen Grundlage des Phänomenbereichs der Natur nie zu einer eigenständigen Vorlesungsreihe oder Buchveröffentlichung ausgearbeitet. Dabei fehlte es seit den „Eignen Meditationen" von 1793 keineswegs an eindringenden Untersuchungen zu ihrer zentralen Thematik, teils eingearbeitet in andere Vorlesungen und Veröffentlichungen teils in Form von Notizen. Die auf den ersten Blick merkwürdige Zurückhaltung hat jedoch tiefe systematische Gründe: Das Phänomen der „Natur" wurzelt in der absolut-faktischen Voraussetzung der Reflexion. Seine erkenntnismäßige Begründung kann deshalb nur von einer durchgeklärten Absolutheitsphilosophie her eingeholt und durch deren Applikation entfaltet werden. „Den Grund zu diesem Allen" sah Fichte in zureichendem Maße aber erst mit der Ausarbeitung der „Transzendentalen Logik" von 1812 gelegt 2 . Allerdings kam sein im gleichen Jahr geäußertes Vorhaben, in seinen Berliner Universitätskollegs späterhin auch eine Philosophie der Natur vorzutragen 3 , nicht mehr zur Ausführung. Es spricht für seine kritische Vorsicht und sein hohes wissenschaftliches Ethos, daß er bis dahin allen Versuchungen widerstand, die noch nicht bis zu ihrem letzten Grund durchgeklärten Überlegungen in geschlossene Form zu bringen. An äußerer Dringlichkeit war aller Anlaß gegeben. Denn schon Kants Philo-
Z. B. an so unerwarteter Stelle wie im „System der Sittenlehre" von 1798 (im II Hauptstück). 2 SW VII, S. 5 9 4 . 3 Schulz II, S. 5 8 3 , Nr. 6 3 7 . 1
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sophie empfahl sich nicht zuletzt mit dem Anspruch, den aufblühenden Naturwissenschaften die kritische Sicherung der Erkenntnis zu geben. Schelling vollends glaubte, der empirischen Mühsal naturwissenschaftlicher Forschung durch absolutistische Deduktionen vorgreifen und abhelfen zu können. Für Fichte dagegen war und blieb Natur der Bereich des bloß Empirischen, zu dem es ohne empirische Erfahrung und Forschung schlechthin keinen Zugang gibt. Hierin unterscheidet er sich mit Kant wesentlich von Schelling und Hegel, die eine rein „apriorische" Naturerkenntnis für möglich hielten und zu praktizieren suchten. Das hat zur Konsequenz, daß für Fichte eine „deduktive" Naturwissenschaft, die empirische Ereignisse vorauszuberechnen und auf Gesetze zu bringen vermag, nur insoweit möglich ist, als der Intellekt seine Gesetzmäßigkeit auf die Natur induktiv zu übertragen weiß. Dies auf die doppelte Weise, daß der Intellekt in einer Art feed-back-Beziehung 1. gedankliche Erklärungssysteme für die empirischen Vorgänge entwirft und diese 2. solange an den Naturfakten zu prüfen und zu modifizieren hat, bis ihm eine zureichende Übereinstimmung des Geschehens mit seinen vorausberechneten Erwartungen gegeben scheint. Transzendental ist eine solche freie Verknüpfung deduktiver Entfaltungen mit rein empirischen Wahrnehmungen nur möglich, wenn sie in der Selbstwahrnehmung des Ich mit angelegt ist. Das Ich selber muß in dem Sinne ein „natürliches" Wesen sein, daß ihm seine eigene Faktizität zunächst nur empirisch, d.h. in objektivierter Form begegnet und erst aufgrund dieser objektivierten Bewußtheit erkenntnismäßig durchdrungen werden kann. Diese intelligente Selbstdurchdringung der eigenen Natur wird im individuellen Ich zum Modellfall einer möglichen Erschließung der außer ihm liegenden Natur. Aus ihm lassen sich transzendental die Grundzüge der Naturerschließung überhaupt gewinnen. Wie das individuelle Bewußtsein notwendig zur Annahme einer Außenwirklichkeit kommt, haben wir oben bei der Konstitution der Objekte, speziell im Zusammenhang der Quantitäts- und Qualitätskategorien, gesehen. Jetzt zielt die Frage darauf ab, wie
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der spezielle Begriff einer „Natur" seiner genetischen Konstituierung nach zu fassen ist. Hier gilt zunächst: Der Begriff der Natur ist wesenhaft Begriff eines „Nicht-Ich". Das bedeutet zum einen: Kein ichhaftes, d. h. kein vernünftiges Wesen kann allein durch den Begriff der Natur erschöpfend erkannt werden. Das gilt für das absolute Ich wie für jedes individuelle Ich. Andererseits muß das Substrat der Natur als unmittelbare Setzung aus der absoluten Erscheinung betrachtet werden, das zwar in seiner Realität und seiner Gesetzmäßigkeit auf die Existenz der Individuen zugeordnet, aber nicht von diesen erzeugt, sondern ihnen vorgegeben ist. Dieses Verhältnis wird von Fichte endgültig in den „Exkursen zur Staatslehre" (1813) geklärt 4 . Jedoch ist dies Substrat der reinen Natur nur Setzung durch das Dasein des Absoluten, keineswegs etwa das Dasein des Absoluten selber. Und völlig unmöglich wäre es, die Natur mit dem unmittelbaren Sein des Absoluten identifizieren zu wollen. Transzendental ist somit die Natur als Inbegriff dessen zu verstehen, was nicht „Ich" ist und auch aus sich heraus kein „Ich" zu bilden vermag. Doch erbringt das nur eine negative Bestimmung und Umgrenzung des Naturbegriffs. Konstruktiv muß die transszendentale Fragestellung lauten: Wie bildet das individuelle Bewußtsein den Begriff der „Natur"? Die formale Konstitution der Objekte ergab sich, wie wir oben sahen, durch die Zerlegung der für die Reflexion undurchdringlichen Außengrenze in erkenntnismäßig durchdringbare, relative Binnengrenzen. Die materielle Konstitution der empirischen Gehalte von Außenobjekten wird dadurch möglich, daß die erkannten Teilfaktoren der Grenzbildung nun insgesamt auf das Phänomen der Außengrenze angewandt werden. Leitend ist dabei die Überlegung, daß die Außengrenze nur dann zustande kommt und ihre für eine durchgeführte Selbstreflexion notwendige stabile Form erhält und beibehält, wenn dem energetischen Geschehen auf Seiten des Ich ein genau gleichartiges energetisches Geschehen auf seiten des Nicht-Ich entspricht. < SW VII, S. 582-596.
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Diese Überlegung macht die Übertragung der kategorialen Grenzbestimmungen auf das energetische Außengeschehen erforderlich. Das besagt: Den Momenten, die die elementaren Binnengrenzen konstituieren, müssen ebensolche Momente mit ihren spezifischen Verhältnissen auf der „andern" Seite der Außengrenze entsprechen. Es müssen somit alle Kategorien, in denen diese Binnenkonstituenten auf den Begriff gebracht sind, auch dort Geltung haben. Mit dieser Übertragung der kategorialen Verhältnisse auf die Außengrenze und ihre Außenwirklichkeit verbindet sich die Möglichkeit einer Vertauscbung der kategorialen Relata. Beispielsweise kann bei der Wechselwirkung zwischen Ich und Nicht-Ich je nachdem das Ich oder das Nicht-Ich als das ursächlich Handelnde gesetzt werden; entsprechendes ist bei der Zuordnung der anderen Kategorienpaare möglich. Durch diese Übertragung der kategorialen Geltungen auf die Außenwirklichkeit der Reflexionsgrenze konstituiert sich das apriorische Erkenntnismuster dessen, was Fichte die Sinnenwelt nennt. Ihre empirische Wahrnehmung geschieht durch die Sinnesorgane. Diese Sinnesorgane haben nicht nur die Aufgabe, die energetischen Außenaktionen an der Grenzsynthesis durch die spontanen Ausgleichsreaktionen der Bewußtseinsenergie zu registrieren, sondern haben wesentlich auch die Funktion, sie als Außengescbehnisse innerhalb des Bewußtseins zu projizieren und objektiv darzustellen. Fichte leitet dabei die klassische Fünfzahl der elementaren Sinnesbereiche aus der prinzipiellen „Fünffachheit" des Wissens ab. Bei der Übertragung der kategorialen Geltungen nehmen die Kategorien der Quantität die formale Schlüsselstellung ein. Genau genommen können sie nicht so wie die andern Kategoriengruppen „übertragen" werden, denn sie kamen ja genetisch überhaupt dadurch zustande, daß sie als die additiven Komponenten der elementaren Grenzvektoren die Außengrenze durchbrachen und damit überhaupt die Annahme einer Außenwirklichkeit konstituierten. Bei ihnen hat darum die Fragestellung eine andere Form. Nicht ihr eigenes Hinausgetragenwerden steht hier im Vordergrund, son-
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dem die Frage, welche Zielpunkte mit diesen grenzüberschreitenden Vektoren in die Außenwirklichkeit gesetzt werden. Von daher hat die Übertragung, die an den Quantitätskategorien erfolgt, ihre besondere Form: Sie geschieht als Vertauschung der vektoralen Angriffs- und Zielpunkte. Die Stabilität dieser grenzdurchdringenden Vektoren ist nur möglich, wenn in ihnen eine gegenläufige Kraft wirksam ist, deren Angriffspunkt der zentrifugale Zielpunkt des Vektors und deren Zielpunkt der zentrale Ausgangspunkt des quantitativen Vektors ist; diese gegenläufige, außerhalb der Grenze ansetzende Kraft ist darum innerhalb des Bewußtseins zentripetal gerichtet. Aus diesen zentripetalen Gegenkräften der vier zentrifugalen Quantitätsvektoren lassen sich innerhalb des Bewußtseins vier äußere Ursprungsformen dieser Gegenvektoren ermitteln (vgl. dazu Abb. 17): 1. Zielpunkt des Quantitätsbegriffs und Angriffspunkt seines Gegenvektors ist das Energiefeld der Natur überhaupt (natura naturans). 2. Zielpunkt des kategorialen Vektors der Vielheit und Angriffspunkt seiner stabilisierenden Gegenkraft ist das anorganische Substrat der Natur, die Materie. 3. Zielpunkt des kategorialen Vektors der Einheit und Angriffspunkt seiner konstitutiven Gegenkomponente ist das Strukturprinzip des Organismus der Natur, ihrer organischen Konstituente. 4. Zielpunkt des kategorialen Vektors der Allheit und Angriffspunkt ihrer zentripetalen Stabilitätskomponente ist die Steuerungsenergie der animalischen Natur. 1. Anorganische Natur Fichtes letzte und tiefste Auseinandersetzung mit der Frage der Natur erwuchs aus einem äußerlich unphilosophischen Anlaß. Vielleicht wegen der verbliebenen Behinderungen aus seiner schweren Krankheit interessierte sich Fichte im Dezember 1813 für Mesmers Heilverfahren des „animalischen Magnetismus". Er
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suchte Professor Wolfart auf, der in Berlin danach praktizierte, und beobachtete einige Behandlungen. Darüber machte er sich Notizen, die er um Exzerpte aus Büchern zu dieser Thematik erweiterte. Seine aufmerksamen und kritischen Anmerkungen wandelten sich bald zu einer neuen Behandlung des Phänomens Natur 5 , die er an mehreren Punkten als tiefer und richtiger gegenüber seinen früheren Entwürfen empfand. Sie sind auch deshalb von besonderem Gewicht, weil inzwischen mit der „Transzendentalen Logik" von 1812 die erforderliche Verankerung in der Absolutheitsphilosophie zureichend möglich geworden war. Bedeutend war in Fichtes Augen vor allem der neugefaßte Ansatz beim Begriff der „Kraft". Schlechthin alles, was existiert, das lebendige Sein der Individuen wie das der Welt, ist Äußerung und Manifestation der Urkraft der absoluten Erscheinung. Diese Urkraft ist auch Erzeugungsgrund einer „ewigen Zeit". Sie wirkt in zwei fundamentalen Formen: 1. als Genesis einer ihrer selbst nicht bewußten Natur und 2. als Genesis des freien Selbstbewußtseins vernünftiger Wesen. Da es beidemal dieselbe Urkraft ist, so ist ihr Naturbewirken ebenso verstehbar wie ihr Verstandeswirken. Fichte postuliert von da aus das System einer „dynamischen Physik" als notwendiger Grundlagenwissenschaft zur bloß mechanischen Physik seiner Zeit. Alles „Feste" in der wahrgenommenen Welt ist nicht eigentliches „Sein", sondern eine partielle Stabilisierung von Energie. Auch die Bausteine des Festen, die Atome, müssen aus dem „allgemeinen Agens" der Energie erklärt werden; sie können zudem innerlich nicht starr gedacht werden, vielmehr muß ihr Inneres ebenfalls als in Bewegung angenommen werden 6 . Starres Sein erscheint als Resultat einer neutralisierenden Kraft, durch die eine Energiekonfiguration sich innerhalb einer andern S W XI, S. 2 9 5 - 3 4 4 . Wir extrahieren im Folgenden nur die naturwissenschaftlichen Hauptgedanken aus diesem sehr komplexen Gedankenstenogramm, in dem sie eng mit Überlegungen zur Absolutheitsphilosophie verknüpft sind. 6 SW XI, S. 3 2 4 und 3 2 8 .
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in ihrer Eigenständigkeit und Gestalt behauptet. Eine solche wahrnehmbare Energieformation ist stets Ausdruck und Indiz eines organisierenden Prinzips. Dieses gestaltende Prinzip stammt zwar ebenfalls aus der Urkraft der Erscheinung, ist aber nicht von Anfang an dem Fluß der bloßen Naturkraft beigemischt, sondern tritt spontan, als diskontinuierliches Ereignis in ihn ein und kann ebenso spontan wieder aus ihm verschwinden. Solange es wirksam ist, bildet und erhält sich die energetische Formation in der Zeit. Verschwindet es wieder, so strebt die Naturkraft in ihren ursprünglich ungestalteten Zustand zurück: sie „zerfließt". Die Existenz einer besonderen Energiekonfiguration bedeutet Energiedifferenz in doppelter Hinsicht: quantitative und qualitative Differenz. Das formierte System muß quantitativ ein höheres Energieniveau haben als seine unmittelbare Umgebung, denn es muß der Auflösung, dem „Zerfließen" in diese Umgebung hinein widerstehen können, wozu es eben einen spezifischen Kraftaufwand braucht. Die formierende Kraft muß qualitativ anderer Art sein als die formierte Energie; wäre dieser Unterschied nicht, würden beide undifferenziert und formlos ineinander zerfließen. Gäbe es die formierende Kraft nicht, so wäre die Energie ein absolut gleichmäßiges Kontinuum, in dem sich keine Differenz - auch nicht zwischen Bewegung und Ruhe - ausmachen ließe, das auch keine Grenzformierung hätte: der Gedanke des reinen, unendlichen (weil grenzenlosen) Raumes - Raum als „Materialität mit Abstraktion von aller Qualität"7. In diesem Raum erscheinende materiale Qualität entsteht durch „Kontraktion" des bloßen energetischen Kontinuums. Die Qualitäten sind von einander unterschieden durch Form und Art dieser Energieverdichtungen. Prinzip der Bildung materialer Grundqualitäten ist somit die „vis centripetalis", die „Anziehungskraft" 8. Das Prinzip ihres Gegensatzes, der „Abstoßungskraft", liegt in der Zeitgenesis. Während die vis centripetalis einen gegebenen Anziehungspunkt hat, setzt die zeitschaffende Kraft, die sich in Rich' SW XI, S. 335. 8 SW XI, S. 329.
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tung einer material erst zu bestimmenden Zukunft bewegt, selbst ihre relativen Bezugsmomente: die „Zeit-Punkte". Diese Gegenwartspunkte sind die zeitliche Form der Energie-Kontraktion9. Die Zeit ist das Bindeglied zwischen „Princip" und „Principiat", d. h. zwischen der bewirkenden, diskontinuierlichen Spontaneität der Urkraft und der wirkenden Kontinuität der Urkraft. Die elementare Vereinigung beider gibt ihr gewissermaßen das Verlaufsmuster kontinuierlicher Diskontinuität im regelmäßigen Setzen diskreter Gegenwartspunkte. Der von der Urkraft gesetzte, absolut ungeformte energetische „Stoff" des Universums wird durch das Medium der Zeit formbar. Dieser Stoff trägt keine eigene Formierungstendenz in sich; sich selbst überlassen wäre er nichts als ein kontinuierliches, gänzlich konturloses „Zerfließen" bloßer Energie. Zur steuernden Formung innerhalb dieses energetischen Grundgeschehens kommt es durch die andere Erscheinungsart der Urkraft: ihre diskontinuierlich-spontane Wirksamkeit. Die räumlichen Kontraktionspunkte, die materiale Qualität und Energiegefälle im Universum schaffen, sind eine Folge dieser differenzierenden Steuerung. Auch ihre relative Ortsveränderung zueinander - ihre „Bewegung" - ist ein Resultat dieser Steuerung. Die „vis centripetalis" eines bewegten Energiesystems behält dabei ihren energetischen Bezugspunkt innerhalb ihres Systems bei. In diesem Punkt materialisiert sich die Identität des Systems unbeschadet aller Bewegung durch die Zeit und den Raum und aller Veränderungen in Gestalt und Struktur des Systems selbst. In diesem Punkt materialisiert sich gewissermaßen das Steuerungsprinzip des Systems selber, sein Werdensgesetz, seine Entwicklungsformel. Ein solches, im Raum und in der Zeit bewegliches Identitätszentrum eines partiellen Geschehensprozesses braucht nicht als ewig gedacht zu werden. Hat der Prozeß einen endlichen Zweck, so besteht auch die Identität des Prozesses nur so lange, bis das Geschehensziel erreicht ist. Dann aber erlischt die zentrale Bindungskraft des Systems, es löst sich in seine Bestandteile auf. ' SW XI, S. 335 und 340.
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Fichte konnte diese Überlegungen nicht mehr zu Ende führen. Das Manuskript bricht bei der Fragestellung ab, wie die Grundüberlegungen auf die Prinzipien des pflanzlichen, tierischen und menschlichen Phänomenbereichs anzuwenden seien. Wir sind deshalb zur Darstellung von deren Thematik auf andere Texte Fichtes angewiesen. 2. Organische
Natur
Die WL1801/02 faßt das anorganisch-materielle Sein als die Erscheinungsform des schlechthin Veränderlichen der Wirklichkeit. Von daher sind auch die feststellbaren Energiekonfigurationen des materiellen Bereichs letztlich nur statistische Größen, die die prinzipielle Inkommensurabilität zwischen faßbarer Form und energetischem Substrat nur annäherungsweise eingrenzen können 10 . Im Unterschied zu der elementaren Mischung von Chaos und Regel, Zufall und Notwendigkeit in der Konstitution der Materie sind die Vorgänge auf der nächsten Stufe des „Naturplans" erkennbar organisiert. Fichte nennt stichworthaft zwei Hauptmerkmale: Kreislauf und Wachstum. Auch im Bereich der anorganischen Natur gibt es die gesetzmäßige Entwicklung eines Geschehensprozesses. Aber während das System der anorganischen Natur aus der Wechselwirkung sich kreuzender, jedoch einsinnig von Ursache zu Wirkung verlaufender Kausalprozesse besteht, ist die organische Wechselwirkung höherer Art: Hier wirkt das Geschehen gezielt auf den verursachenden Geschehensträger zurück. Durch dies Geschehen bezieht das organische System Elemente der außerhalb seiner liegenden Umgebung in sich ein, vereinigt sie mit seinem Organismus und verändert diesen dadurch. In den „Sätzen zur Erläuterung des Wesens der Thiere" (ca. 1800) exemplifiziert Fichte diese organische Wechselwirkung am Leben der Pflanze: Sie zieht „aus der sie umgebenden Natur das ihr homogene an, stößt das durch die Tendenz ihres Durchdringens abgewiesene aus, und greift so als Ganzes ein in die umgebende io W L 1 8 0 1 / 0 2 . Hamburg 1977. S. 178 (SW II, S. 123).
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chemische Natur, soweit ihr Wirkungskreis nur irgend reicht" 1 In dieser selektiven Wechselwirkung des organischen Regelkreises wird eine andere kausale Wirkungsreihe nur dann in die eigenen kausalen Wirkungsreihen einbezogen, wenn sie sich deren besonderem Wirkungsmuster fügt. Zyklisch ist dieser rein organische Prozeß darum, weil er über verschiedene Veränderungsstufen des wirkenden Systems schließlich die Ausgangssituation seines eigenen Verlaufs reproduziert: Die Pflanze erzeugt beispielsweise einen Samen, von dem aus sich wiederum die prinzipiellen Stadien des Pflanzenwachstums wiederholen. Wirkendes Prinzip ist hierbei ein Naturtrieb, der auf die Reproduktion seiner selbst geht. Unsere Sprache redet bei ihm daher sehr angemessen von „Fortpflanzungstrieb". Fichte nennt die Wirkungssphäre einer Pflanze einen steten „ Wirbel einer chemischen Attraction und Repulsion, dessen Mittelpunkt die Eine Kraft der Pflanze selbst" ist. Der Ausdruck „Wirbel" veranschaulicht gut die Unschärfe, die der zyklische Prozeß gegenüber seinem abstrakten Prinzip durch seine Abhängigkeit vom zufälligen Vorkommen brauchbarer Materialien erhält. Aus dem Phänomen dieses zentrierten Kräftewirbels entnimmt Fichte noch ein anderes wesentliches Merkmal der organischen Natur: „Die PflanzenSeele ist sonach nicht nur Prinzip einer bestimmten Organisation, Durchdringung und Vereinigung verschiedener chemischer Kräfte, sondern auch Prinzip einer Bewegung in der Natur. Bewegendes Prinzip."11 3. Animalische Natur Die sich selbst reproduzierenden Veränderungszyklen des bloß Organischen stellen - mit Nietzsche zu reden - in ihrem Prinzip eine „Wiederkehr des Gleichen" dar. Sie sind in ihrer Vielfalt nur die Wiederholung in sich geschlossener Gestaltungszyklen in Raum und Zeit. Davon unterscheidet sich jenes Naturprinzip, das Fichte als „Wesen der Tiere" faßt. 11 GA 11,5, S. 425 (SW XI, S. 365). 12 GA 11,5, S. 428 (SW XI, S. 366).
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Das Besondere dieses Prinzips ist, daß in ihm die neben- und durcheinanderlaufenden geschlossenen Systeme des Organischen zu einem offenen System gerichteter Entwicklung zusammengebunden werden. Hierbei kommt es auf einen wichtigen Umstand an: Dies Prinzip bewirkt zwar echte, weder mechanischkausal beschränkte noch zyklisch fixierte, Entwicklung - aber es läßt die Richtung dieser Entwicklung „frei" in dem Sinne von: Es überläßt sie dem Zufall. Damit hält sich der „chaotische" Aspekt durch, der in der Konstitution der Materie nicht beseitigt, sondern nur reguliert wird, in den organischen Systemen zu statistisch faßbaren zyklischen Wiederholungen gebändigt ist - jetzt zu gerichteter Entwicklung gebündelt wird, wobei er weiterhin in der Vielzahl zufälliger Entwicklungsrichtungen durchschlägt. Fichte kennzeichnet das „Tier" als: „System von PflanzenSeelen. Seine Seele: die durch Natur entstandene Einheit derselben. Seine Welt: teils die der Pflanzen (Nahrung durch Synthesis aus vegetabilischer, durch Analysis aus animalischer Natur), teils der Tiere" Durch dieses Prinzip werden durchaus neue, noch nicht dagewesene Verbindungs- und Kombinationsmuster organischer Einheiten hervorgebracht. Aber die Einheitlichkeit geht nicht so weit, daß alle Entwicklungsstränge dasselbe Ziel hätten. Man kann sagen, die Tendenz dieses Prinzips geht darauf aus, die „Summe" aller Teilbereiche und Teilmomente der organischen Natur wirksam werden zu lassen, nicht aber das integrale „Ganze" der Natur zu bilden. Fichte spricht gelegentlich vom Werkzeug-Charakter dieses Naturprinzips. Das bedeutet: Es ist nicht Selbstzweck, sondern das natürliche Mittel für eine integrale Zielsetzung und ZweckVerwirklichung. Die Richtung seiner Prozesse läßt sich steuern und wird sie nicht gesteuert, so bleibt sie dem Zufall überlassen. Wird aber der Entwicklungsvorgang auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet, so wird seine Erscheinung durch diese Ausrichtung artikuliert. 13
GA 11,5, S. 4 2 7 (SW XI, S. 366).
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Das Merkmal der „Artikulation" hebt den Unterschied zum bloß organischen Prinzip hervor. Während dessen „Organisation" für Fichte Ausdruck des Selbsterhaltungssystems ist, dient „Artikulation" zur Benennung jener darüber hinausgehenden Spezifizierung der Systemanlage, die der Erreichung eines bestimmten, sei es auch nur einmaligen, Zweckes dient. Als Beispiel führt Fichte die „freie" Bewegung an, deren ein Tier im Unterschied zur Pflanze fähig ist, und für die spezielle Organe ausgebildet sind. Wie die Pflanze zeigt, ist Fortbewegung an einen anderen Ort für die Selbsterhaltung eines Lebewesens nicht unbedingt erforderlich - die Ausbildung von Gehwerkzeugen ist also Artikulation der besonderen Intention zur Bewegung im Raum. Während man der Pflanze nur „Selbstbildungstrieb" zusprechen kann, gehört zum Triebwesen des Tieres der Instinkt, und auf diesem gründet, was Fichte den „Kunsttrieb" des Tieres nennt. Dieser Trieb geht darauf, etwas außerhalb des eigenen Organismus Liegendes für die eigenen Zwecke insofern „künstlich" zu gestalten, als dies sich von selber nie dazu gestaltet haben würde. Als Beispiel weist Fichte auf die von den Bienen geformten Zellen ihrer Waben hin.14 Daran wird noch etwas anderes sichtbar: Das Tier greift in die kausal-mechanische Wechselwirkung der anorganischen Natur ein, „dekliniert" diese, indem es aus deren pluripotentieller Anlage bestimmte Kausalprozeßrichtungen wirklich werden läßt und die Verwirklichung anderer Kausalmöglichkeiten dafür verhindert. Bis zu einem gewissen Grade tut das auch schon die Pflanze. Aber während die Pflanze die anorganischen Wechselwirkungen nur dekliniert, um bestimmte Kausalprozesse ihrem Organismus einzufügen oder von ihm abzuhalten, geht das wesenhafte Triebgeschehen der tierischen Natur darauf aus, die kausale Wechselwirkung auch außerhalb seines eigenen Organismus zweckgerichtet zu steuern: Es sucht die „Werkzeugbildung", die sich innerhalb des einzelnen Tieres als Ausbildung von Freß-, Sinnes-, Gehwerkzeugen usw. manifestiert, auch in seine Außenwirklichkeit zu übertragen.
i" GA 11,3, S. 2 6 3 .
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Hinter diesem Phänomen steht eine wesentliche Besonderheit der animalischen Natur. Die Triebstruktur eines pflanzlichen Organismus kreist in ihrer individuellen Konkretion, und ihre chemischen Prozesse von „Analyse" und „Synthese" 15 betreiben zielhaft nur die Fortpflanzung dieses ihres konkreten Zyklus durch die Zeit hindurch. Die animalische Natur beruht dagegen auf einem Triebverbund, ihr Geschehen ist triebhafte Wechselwirkung zwischen Triebsystemen. Der einzelne animalische Trieb erschöpft sich nicht in sich selbst, sondern ist darauf angelegt, zugleich einen oder mehrere andere Triebe zu befriedigen. Deshalb konstituiert sich das einzelne Tier nur aus einem Verbund von mindestens zwei unterschiedlichen Trieben. Ein solcher Verbund hat gewissermaßen ein Polaritätsprofil: Die Triebe ergänzen sich mehr oder weniger, stehen aber auch zugleich in größerem oder geringerem Spannungsverhältnis zueinander, können sich untereinander nicht restlos ausgleichen. Daher sucht das einzelne Tier automatisch auch nach einer Befriedigung seiner Triebe außerhalb seiner selbst, d. h. mittels anderer Triebstrukturen. Das bedeutet: Das Tier hat nicht nur Triebziele, die innerhalb seines individuellen Systems liegen, sondern auch solche, die außerhalb davon gesucht werden müssen. Es hat natürliche Triebe, einem Bedürfnis nicht nur in sich selbst, sondern auch in einem andern abzuhelfen; es ist darauf angewiesen, daß Triebe anderer Wesen seine Triebziele ermöglichen. 4. Menschliche Natur Eine integral-einheitliche Zielsetzung des Naturgeschehens wird erst auf der vierten und letzten Stufe des „Naturplans" faßbar: in der Erscheinung des „Menschen". Was unterscheidet sein Naturprinzip von den vorhergehenden? Wir tun zum Verständnis des Folgenden gut daran, uns vor Augen zu halten, daß mit „Mensch" bei Fichte das natürliche individuelle Bewußtsein gemeint ist - und zunächst nichts weiter. Die'5 GA 11,5, S. 426 (SW XI, S. 365).
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ses Bewußtsein befaßt in seiner besonderen Existenz auch die drei ersten Naturstufen: Es ist „materiell" im Sinne einer bestimmten energetischen Konfiguration; es ist „organisch" als geschlossenes, sich bei allem Wechsel seiner Inhalte und akuten Prozesse als deren Träger identisch durchhaltendes System; es ist „animalisch" durch die Wechselwirkung seiner Triebe und „artikuliert" sich in seinen differenzierten Zwecksetzungen. Was es von Natur über die andern drei Stufen hinaushebt, klingt im ersten Augenblick paradox: Leere und Nichts. Welcher Sinn steht hinter diesem Befund? Die Natur geht im Menschen zu Ende - und was sie in ihm über die Konkretion ihrer dritten, der tierischen Stufe hinaus darstellen kann, ist nur die einfache Bewußtheit dieses Endes, die sich als unbegreifliche Leere inmitten aller konkreten natürlichen Seinsbewußtheit vorfindet. So gesehen steht der natürliche Mensch - wie Fichte besonders in den Nihilismus-Untersuchungen der WL 1805 herausstellte im Übergang vom Sein zum Nichts. Das ist seine alleinige „natürliche" Auszeichnung vor den andern Naturerscheinungen. Aber gerade durch diese Situation erscheint die absolute Chance des Menschen. Denn die Natur stößt ihn keineswegs ins Nichts sie ermöglicht durch ihr Zuendegehen vielmehr erst die Konfrontation mit der absoluten Herausforderung seiner Potenz zur creatio ex nihilo. Greift er diese Heraus-Forderung auf, so verwandelt sich die scheinbar tote Leere: Sie wird zum unabsehbar weiten Freiraum für die Entwürfe der schöpferischen Selbstverwirklichung. Darum kann Fichte sagen:,Jedes Tier ist, was es ist; der Mensch allein ist ursprünglich gar nichts. Was er sein soll, muß er werden und - da er doch ein Wesen für sich sein soll - durch sich selbst werden. Die Natur hat alle ihre Werke vollendet, nur vom Menschen zog sie die Hand ab und übergab ihn gerade dadurch sich selbst." Der Mensch als individuelles Bewußt-Sein ist nicht schon von Natur aus durchgebildet, sondern „Bildsamkeit als solche": Die ihm natürlicherweise offen gehaltene Möglichkeit der Selbstverwirklichung und Selbstgestaltung „ist der Charakter der
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Menschheit" 16. Der Weg dazu ist der der Freiheit, das Mittel der Begriff 17 der transnatürlichen Realität. Durch seine unmittelbare Verknüpfung mit der Natur steht der Mensch aber auch in Wechselwirkung mit ihren Konkretionen. Zu dieser Wechselwirkung bedarf er eines differenzierten und artikulierbaren Organs. Dieses Organ ist der „Leib" des individuellen Bewußtseins. Er ist beides: Wahrnehmungsorgan (Sensus, System der Sinne) und Handlungsorgan. Die Sinnesanlage ist im Grundzug fünffach 18. Ihr muß eine analoge Strukturierung des Leibes als Wirkungsorgan entsprechen, da nur so eine Wechselwirkung mit dem sinnenhaft Wahrgenommenen denkbar ist. An dieser Stelle legt sich eine terminologische Unterscheidung zwischen „Leib" und „Körper" nahe, um Verständnisschwierigkeiten der Fichteschen Überlegungen zu erleichtern. Wir können „Leib" als das intrabewußte Vermittlungsorgan betrachten, das von der Grenzenergie des individuellen Bewußtseins gebildet und getragen, also sein ureigenstes Gebilde ist. „Körper" dagegen wäre das extrabewußte Vermittlungssystem, das von der Außenenergie gebildet und in der Grenzsynthesis genau dem Leib angepaßt ist. Der so definierte Körper liegt dann außerhalb der Reflexionsgrenze des individuellen Bewußtseins und ist damit auch kein mögliches Phänomen der Selbstreflexion des kontingenten Ich, sondern allein empirisch erfahrbar. Er gehört zwar zu dieser und keiner andern Individualität sonst, ist ihr „natürliches Eigentum", weil er das spezielle Vermittlungssystem ist, das die Außenenergie für dieses individuelle Bewußtsein bildet - aber er ist in keiner Weise konstitutiver Teil der Individualität selber. Darum lassen auch Beobachtungen und Untersuchungen des „Körpers" eines Menschen allenfalls Rückschlüsse auf seinen wirklichen „Leib" und dessen reale Organisation zu; doch die Übergänge dieses Körpersystems zu anderen Systemen der Außennatur sind gerade i« SW III, S. 80. 17 GA 11,4, S. 277. is SW IX, S. 241.
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nicht dessen Übergänge zum „Leib" des Bewußtseins. Die eigentliche Vermittlungsfunktion des Körpers zum Bewußtsein läßt sich nur vom Bewußtsein und seiner Selbst-Bewußtheit her erfassen. Und letzteres ist eben der Weg, den Fichte in seinen Untersuchungen einschlägt. In der „Grundlage des Naturrechts" von 1796 wirft er in diesem Zusammenhang die Frage auf, wie es kommt, daß zwar physische GewalteinWirkung auf den Körper möglich ist - aber nicht jede Einwirkung auf den Körper den Charakter physisch-kausaler Veränderungen hat. Im Körper können ohne Zutun und Willen des Individuums Reaktionen hervorgerufen werden; ein Mensch kann am normalen und natürlichen Gebrauch seines Körpers durch äußere Einflüsse gehindert werden. Umgekehrt soll der interpersonale „Aufruf" eine Wirkung auf das Individuum sein, die keine kausale Veränderung im Lebensprozeß des Individuums zur Folge hat, wenn nicht das Individuum selbst durch seinen freien Willen diese Kausalität in Gang setzt. Fichte begegnet diesem Problem mit der Hypothese einer „groben" und einer „subtilen" Materie: Die Einwirkung der groben Materie soll kausale Wirkungen beim Individuum haben, die Einwirkung der subtilen Materie soll dagegen keine physische Kausalität haben 19 . Aber das löst das eigentliche Problem nicht, denn eine Einwirkung, die keinen kausalen Effekt hat, bewirkt überhaupt nichts - und damit auch keinen „Aufruf". Lösbar wäre dies Problem nur von der energetischen Konzeption des Tagebuches vom Dezember 1813 her: Das Energiepotential des freien Bewußtseins muß jeder äußeren Einwirkung so überlegen sein, daß es deren energetisches Geschehen innerhalb der Grenzsynthesis derart aufzufangen vermag, daß sich im Innern des Bewußtseins wie an der Grenzform nicht das Geringste ändert. Die äußere Einwirkung endet dann in jedem Fall im „Körper" des individuellen Bewußtseins. Das hindert nicht, daß das Bewußtsein die energetische Veränderung in seiner Grenzsynthesis wahrnehmen und darauf reagieren kann - aber eine solche, i ' SW III, S. 69-72.
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den bloßen Energieausgleich übersteigende Reaktion ist dann in keinem Fall von der äußeren Einwirkung erzwungen. 5. Die Natur der Sprache Fichtes Philosophie mißt dem Phänomen der Sprache außerordentliche Bedeutung bei, da „weit mehr die Menschen von der Sprache gebildet werden, denn die Sprache von den Menschen". 2 0 Die einzige Monographie zu diesem Thema, der frühe Jenaer Aufsatz „Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache" (1795), wird ihrem transzendentalen Anspruch allerdings nur im interpersonalen Ansatz gerecht. Friedrich Schlegel nannte sie nicht zu Unrecht „ein dürftiges Ding"; jedoch sei „der erste Gedanke doch gut", denn „wer nicht zeigt, wie die Sprache entstehn mußte, der mag zu Hause bleiben. Träumen, wie sie entstehen konnte, kann jeder". 2 1 Fichte hat das Ungenügende offenbar selber stark empfunden, denn bereits im folgenden Jahr arbeitete er die Notizen zur Sprachtheorie für seine Platner-Vorlesungen neu aus und vertiefte sie nicht unwesentlich 22 . Im Anschluß an Platners Kapitel „Von der Sprachfähigkeit" befaßt sich Fichte mit dem transzendentalen Kern in den Streitfragen, ob die Sprache angeboren oder von den Menschen erfunden sei: 1. Von „angeboren" kann man in dem Sinne reden, als die Sprache im Wesen des Menschen absolut liegt. 2. „Gelehrt" muß die Sprache dem Menschen durch die lebendige Realität dessen sein, was Fichte 1813 den „göttlichen Verstand" nennt. Denn „Vernunft wird nur durch Vernunft hervorgebracht": Darum kann die kontingente menschliche Vernunft samt ihrer Sprachfähigkeit sich nur entwickeln „auf Veranlassung einer Aufforderung zur freien Tätigkeit durch Einwirkung eines vernünftigen Wesens", das im Stadium nascendi der Menschheit nur das absolute Wesen der Vernunft selber sein konnte. M SW VII, S. 314. Fichte im Gespräch. Specula 1,1, S. 332 f. Stuttgart-Bad Cannstatt 1978. 2 2 GA 1,3, S. 95. 21
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3. „Erfunden" werden muß die Sprache von den Menschen insofern, als diese die Konkretisierung und Erschließung ihrer von der absoluten Vernunft erweckten Sprachfähigkeit selbständig und frei zu leisten haben.23 Während die Frage nach der absoluten Genesis der Sprache nicht historisch, sondern allenfalls am Mythos eines „Urpaares" oder wie in der späteren Geschichtstheorie Fichtes - eines „Urvolks" aufgegriffen werden kann, ist die historische Frage nach dem „Ursprung der besonderen Art von Zeichen", deren sich die Sprachen bedienen, durchaus möglich: Man kann sich mit der geschichtlichen Bedingtheit ihres Wortschatzes, ihrer Grammatik, ihrer Schrift wissenschaftlich befassen. Transzendental zentrale Bedeutung hat bei aller Sprachbetrachtung dasjenige, was Fichte den „zeichenhaften" Charakter der Sprache nennt. Er ist durch den spezifisch interpersonalen Bedingungszusammenhang geprägt: Die individuelle Menschwerdung ist nicht möglich ohne bewußte Erkenntnis eines anderen Menschen „außer mir". Auf ein „freies Wesen außer mir" kann ich aber nur schließen, wenn dieses mir Erkenntnis von sich ermöglicht und vermittelt. Erkenntnisse können aber nicht unmittelbar aus dem einen in das andere Bewußtsein übertragen werden, sondern „eine Erkenntnis läßt sich nur mitteilen durch ein Zeichen". Den Vollzug der Erkenntnis habe ich immer selber in mir zu leisten; die Mitteilung kann darum nur Anleitung zu diesem spezifischen Erkenntnisvollzug sein, den der andere mir anmutet. Der andere kann in seiner Mitteilung „nur verfahren wie die Natur: mir ein Objekt geben". Der Charakter der Sprache besteht deshalb wesentlich darin, daß ihre „Zeichen" die freie Reflexion des einzelnen Menschen leiten, daß sie hindeuten auf genau das, was selbständig erkannt werden muß, seine Be-deutung vermitteln. Das vernünftige Sprechen will „den andern zur Erkenntnis bringen". Grundbedingung eines vernünftigen Sprachzeichens ist, „daß es nur durch Freiheit hervorgebracht werden kann" 24 . Dadurch unterscheidet sich die Sprache « GA 11,4, S. 1 5 8 - 1 6 5 . *» GA 11,4, S. 1 6 5 - 1 6 6 .
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der „vernünftigen Wesen" - das eigentlich Menschliche an der Sprache - von allen Vermittlungssystemen, deren Informationstransport lediglich der mechanischen oder biologischen Steuerung von Lebensvorgängen und Triebprozessen dient. Die erkenntnisleitende Funktion der Sprache spielt eine fundamentale Rolle in den Erörterungen, die Fichte 1808 im vierten Vortrag seiner „Reden an die deutsche Nation" zum „Wesen der Sprache überhaupt" anstellt 25 . Er faßt dort die Sprache nicht nur als Mittel der interpersonalen Kommunikation freier Wesen, sondern darüber hinaus auch als das eigentümliche Vermittlungssystem zwischen sinnenhaften und geistigen, aposteriorischen und apriorischen Erkenntnisprozessen. Da die Sprache in ihrem Vernunftkern Anleitung zur Erkenntnis ist, wäre es ausgesprochen unvernünftig, wenn zwischen Erkenntnisprozeß und Vermittlungsprozeß keine gesetzmäßigen, quasi „natürlichen" Beziehungen bestünden. Fichte kommt von dieser Hintergrundsüberlegung zu der Konsequenz: „Die Sprache überhaupt und besonders die Bezeichnung der Gegenstände in derselben [...] hängt keineswegs von willkürlichen Beschlüssen und Verabredungen ab", vielmehr gibt es „zuvörderst ein Grundgesetz, nach welchem jedweder Begriff" ein ihm eigenes, natürlich vorgegebenes Vermittlungszeichen haben muß. Denn „nicht eigentlich redet der Mensch, sondern in ihm redet die menschliche Natur und verkündiget sich andern seinesgleichen. Und so müßte man sagen: die Sprache ist eine einzige und durchaus notwendige." Der Menschen „ewiger Vermittler und Dolmetscher" ist „die aus ihnen allen sprechende gemeinsame Naturkraft." Die historischen Unterschiede der Sprachen sind dadurch bedingt, daß die Sprachentfaltung ein Freiheitsprozeß ist, und die Sprachgemeinschaften unterschiedliche Wege eingeschlagen haben. Aber wie die Bilder in einem Zerrspiegel nicht außerhalb der optischen Gesetze stehen, so sind auch diese Abweichungen von ihren äußeren Umständen her gesetzmäßig bedingt. In der 25 SW VII, S. 314-320. " SW VII, S. 314-316.
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Betrachtung dieser Gesetzmäßigkeiten kommt Fichte - fernab von aller Rassentheorie - zu seiner Definition des Terminus „Volk": Menschen, „die unter denselben äußeren Einflüssen auf das Sprachwerkzeug" stehen „und in fortgesetzter Mitteilung ihre Sprache" fortbilden, sind als „ein Volk" anzusehen27. Die Einsicht in die erkenntnisleitende Funktion der Sprache hat keine besonderen Schwierigkeiten, solange es um Erkenntnis sinnenhaft faßbarer, äußerlich vorzeigbarer Phänomene geht. Wie aber, wenn es um abstrakte, rein bewußtheitsimmanente Phänomene geht, die nicht durch die Sinne vermittelt sind und von Fichte darum als „übersinnlich" bezeichnet werden? Hier muß die Sprache mit dem Mittel der Analogie, der Entsprechung von Verhältnissen arbeiten: Geistige Phänomene können „in der Sprache nur dadurch bezeichnet werden, daß gesagt werde, ihr besonderes Verhältnis zu ihrem Werkzeuge sei also, wie das Verhältnis der und der bestimmten Gegenstände zum sinnlichen Werkzeuge" der Erkenntnis. Dabei ist zudem erforderlich, „daß in diesem Verhältnis ein besonderes Übersinnliches einem besonderen Sinnlichen gleichgesetzt, und durch diese Gleichsetzung sein Ort im übersinnlichen Werkzeuge durch die Sprache angedeutet werde". Aber „weiter vermag in diesem Umkreise die Sprache nichts; sie gibt ein sinnliches Bild des Übersinnlichen bloß mit der Bemerkung, daß es ein solches Bild sei; wer zur Sache selbst kommen will, muß nach der durch das Bild ihm angebenenen Regel sein eigenes geistiges Werkzeug in Bewegung setzen" 28 . Das ist von elementarer Konsequenz nicht nur für den Einzelnen, sondern für jede Sprachgemeinschaft: Denn die „sinnbildliche Bezeichnung des Übersinnlichen" richtet sich „jedesmal nach der Stufe der Entwicklung des sinnlichen Erkenntnisvermögens unter dem gegebenen Volke". Und von daher fällt „der Anfang und Fortgang dieser sinnbildlichen Bezeichnung in verschiedenen Sprachen sehr verschieden aus, nach der Verschiedenheit des Verhältnisses, das zwischen der sinnlichen und geistigen Aus« SW VII, S. 315. 28 S W V I I , S. 3 1 6 f.
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bildung des Volkes" stattgefunden hat und fortwährend stattfindet. Wie es Phänomene gibt, die nur durch einen einzigen Sinn und nicht durch mehrere Sinnesorgane wahrgenommen werden etwa wie der Regenbogen nur durch das Auge und nicht durch Ohr oder Geruch wahrgenommen wird - , so gibt es auch geistige Phänomene, die nicht „durch das dunkle Gefühl des Geistes, wie manches andere, sondern allein durch das Auge desselben, die klare Erkenntnis, erfaßt werden". Und entsprechend kann eine Sprachgemeinschaft ihre Analogiebeziehungen zwischen sinnlicher und geistiger Erkenntnis klar aus Sinnbildern des wachen Wahrnehmens entwickeln oder auch bloß zum Traume ihre Zuflucht nehmen, „um ein Bild für eine andere Welt zu finden". Deshalb gilt: „Alle Bezeichnung des Übersinnlichen" richtet sich „nach dem Umfange und der Klarheit der sinnlichen Erkenntnis desjenigen, der da bezeichnet". Das Sinnbild drückt „das Verhältnis des Begriffenen zum geistigen Werkzeuge" der Erkenntnis aus „durch ein anderes unmittelbar lebendiges Verhältnis zu seinem sinnlichen Werkzeuge". Durch dieses Wechselverhältnis bekommt umgekehrt auch die sinnenhafte Erkenntnis eine „neue Klarheit", die wiederum niedergelegt wird in der Sprache - „und so wird denn die unmittelbare Klarheit und Verständlichkeit der Sinnbilder niemals abgebrochen". Die „Bezeichnung durch die Sprache" hat für geistige Phänomene noch eine weitere wesentliche Funktion: Sie versetzt „das Unbildliche auf der Stelle in den stetigen Zusammenhang des Bildlichen zurück; und so bleibt auch der stetige Fortgang der zuerst als Naturkraft ausgebrochenen Sprache ununterbrochen, und es tritt in den Fluß der Bezeichnungen keine Willkür ein. Es kann darum auch dem übersinnlichen Teile [der] Sprache seine Leben anregende Kraft auf den, der nur sein geistiges Werkzeug in Bewegung setzt, nicht entgehen. Die Worte einer solchen Sprache in allen ihren Teilen sind Leben und schaffen Leben." 2 9
29 SW VII, S. 3 1 8 - 3 1 9 .
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II. Recht, Staat und Gesellschaft Das besondere Interesse, das Fichte zeitlebens den gesellschaftspolitischen Grundfragen entgegenbrachte, ist von unterschiedlichen Einflüssen geprägt. Es birgt unstreitig auch subjektive, sozialpsychologisch erklärbare Triebfedern. Dazu setzte die kantianische Ausgangsbasis seiner sogenannten „Revolutionsschriften" von 1793 Akzente, die von der erst danach erschlossenen Wissenschaftslehre her unhaltbar waren. Allerdings macht die Ablösung und transzendentale Aufarbeitung der vorkritischen Festlegungen auf dem Feld des Rechts- und Staatsdenkens einen besonders schwierigen Komplex in Fichtes Gesamtwerk aus, dessen Probleme bis in die „Staatslehre" von 1813 reichen. Gleichwohl war es nicht subjektiver Impuls, sondern in der transzendentalen Systematik begründete Notwendigkeit, wenn Fichte sich in der planmäßigen Ausarbeitung seiner angewandten Philosophie als erstes mit der Grundlegung des Rechts befaßte und nicht etwa mit der Applikation der Ethik oder der Natur begann. Der reale Ubergang von der „Wissenschaftslehre in specie" zur angewandten Philosophie vollzieht sich nämlich nicht in einer bloß theoretischen Konstitution einer außerindividuellen Wirklichkeit, sondern in der Beantwortung der Frage: „Warum faßt sich das Wissen, da es ja doch Eines und sich selbst gleich ist, sich nicht als Eines, sondern scheidet sich in mein Wissen und dein Wissen und eines Dritten Wissen?" 1 Von der Beantwortung dieser fundamental interpersonalen Fragestellung hängt letztlich sogar die Beantwortung der Frage ab: „Warum scheidet sich das objektive Sein im Räume, die Welt der Materie, das doch wohl auch Eins ist, in mancherlei Gestalten?" 2 Fichte verfuhr darum höchst konsequent, wenn er den eigentlichen Übergang von der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" in den systematischen Ausbau seiner angewandten Philosophie mit der Untersuchung der Interpersonalbeziehung in der „Grundlage des Naturrechts" von 1796 eröffnete.
1 WL 1801/02, S. 145 (SW II, S. 108). 2 ebd.
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Die dortige Analyse der Interpersonalität ist allerdings von einem verborgenen „Fehler" in jenem Sinne geprägt, als ihrem ansonst richtigen Gedankenverlauf noch ein Element „fehlt": Sie setzt die Interpersonalität als Faktum voraus, ohne dazuhin die transzendentale Schlüsselfrage aufzuwerfen und zu beantworten: „Woher eigentlich seinem tiefsten allgemeinen Grunde nach dieses Ich und Du und dieser Dritte?" 3 Damit blieb eine unüberbrückte Kluft zwischen philosophia prima und ihrer Rechtsanwendung, die „der Rechtslehre bedeutende Nachteile gebracht" hat, wie Fichte bekannte, als er sie 1812 in revidierter Form vortrug 4 . Diese Schwachstelle des Ansatzes von 1796 schimmert bereits in einer Unschärfe der Einleitungsformel durch, in der der Begriff vom Recht als der „Begriff von dem notwendigen Verhältnis freier Wesen zueinander" gefaßt wird 5 . Zum „notwendigen" Verhältnis gehört auch die „Natur" des interpersonalen Raumes, in der die Menschen leben; sie aber macht, wie 1812 eindeutig geklärt wird, einen eigenständigen Bereich aus, der sich dem Bereich des Rechts zwar notwendig verbindet, aber ihn nicht konstituiert. Hätte die Rechtswissenschaft schlechthin alles zu untersuchen, was „notwendig" ist, damit Menschen miteinander in Verbindung sein können, so müßte sie auch Naturwissenschaft sein. Doch ihre konstitutive Fragestellung ist spezifischer: Sie zielt darauf, wie Menschen in der vorgegebenen Natur sich zueinander so zu verhalten haben, daß sie als freie Wesen nebeneinander und miteinander bestehen und leben können. Hier wiederum wird zugleich eine Abgrenzung gegenüber der Ethik erforderlich: Denn wie der Mensch handeln und leben soll, gehört insgesamt zu deren Untersuchungsbereich. Während Fichtes erste Rechtskonzeption von 1796 - was schon ihre Bezeichnung „Naturrecht" augenfällig macht - die Grenze zwischen Recht und Natur nicht mit letzter Schärfe durchzog, wurde die Trennungslinie zur Ethik um so schroffer markiert: Rechtslehre und Sittenlehre seien als Wissenschaften „völlig ent3 ebd. " SW X, S. 498. s SW III, S. 8.
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gegengesetzt", und das Recht müsse „sich erzwingen lassen, wenn auch kein Mensch einen guten Willen hätte". 6 Die „Rechtslehre" von 1812 läßt dagegen die einseitige Verklammerung von Natur und Recht fallen. Hier antwortet Fichte auf die Frage nach dem transzendentalen Ort des Rechtes: Das Rechtsgesetz ist „weder ein Naturgesetz, noch ein Sittengesetz" - es ist seinem Wesen und seiner lebendigen Funktion nach vielmehr „das Mittelglied zwischen beiden" 7 . Sehr anschaulich schildert Fichte das Grundproblem des Rechts im „Geschloßnen Handelsstaat" (1800): „Es lebt beisammen ein Haufen von Menschen in demselben Wirkungskreise. Jeder regt und bewegt sich in demselben und geht frei seiner Nahrung und seinem Vergnügen nach. Einer kommt dem andern in den Weg, reißt ein, was dieser baute, verdirbt, oder braucht für sich selbst, worauf der rechnete." 8 Wie läßt sich einem solchen sinnlosen Durcheinander freier Kräfte abhelfen? Doch nur, indem sich alle Beteiligten über den Gebrauch ihrer Freiheit verständigen und sich miteinander „vertragen". Dieser Gedanke ist die eigentliche Wurzel der Vertragstheorie, die in Fichtes Rechtsdenken einen zentralen Platz einnimmt. Empirisch farbige Beispiele können allerdings den transzendentalen Kernpunkt des Fichteschen Rechtsdenkens nicht ersetzen. Um ihn zu fassen, müssen wir das Problem auf die Grundformel bringen: Wie können sich Natur und Freiheit miteinander „vertragen"? Offensichtlich allein so, daß die Natur in ihrer Gesetzmäßigkeit Freiheit möglich macht - und umgekehrt die Freiheit nicht gegen die Natur und deren Gesetze zu handeln versucht, sondern sich ihrer so bedient, daß beide durch einander zu optimaler Sinnerfüllung gelangen. Die Struktur eines solchen Erfüllungsverhältnisses zwischen Natur und Freiheit gäbe das Grundmuster für jede einzelne konkrete Lösung eines Problems, das aus dem Zusammentreffen freiheitlicher Interessen und natürlicher Gegebenheiten entspringt. SWIII, S. 5 4 f. 7 SW X , S. 4 9 6 und 4 9 7 . 8 SWIII, S. 4 0 0 .
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Diese notwendige Bedingung ist aber noch nicht hinreichend, um den interpersonalen Begriff des Rechts zu definieren; denn in dieser allgemeinen Form ist es ja auch für das isolierte Individuum notwendig, daß sich seine Interessen mit seinen natürlichen Anlagen und Möglichkeiten „vertragen". Im interpersonalen Verhältnis tritt eine andere Notwendigkeit hinzu: Die Individuen müssen sich, damit sie sich „vertragen" können, über ihre Interessen verständigen. Darin liegen mehrere Momente: 1. Sie müssen sich gegenseitig über ihre Interessen und Absichten informieren. Echte Willensfreiheit bedeutet ja, daß man nicht wissen oder vorausberechnen kann, wozu sich der einzelne entschließen wird. Und auch wenn seine Entscheidung gefallen ist, können die anderen sie nur erfahren, wenn er sie ihnen mitteilt. 2. Sie müssen zur wechselseitigen Abstimmung und Einigung ihren Verstand gebrauchen. Nur über die gemeinsame ratio läßt sich eine ausgewogene Interessenverteilung sine ira et studio erreichen. 3. Sie müssen die getroffene Vereinbarung in die Praxis umsetzen. Der schönste Vertrag nützt nichts, wenn keiner sich in seinem persönlichen Handeln daran hält. Im Zusammenwirken dieser Faktoren konstituiert sich der Fichtesche Rechtsbegriff auf dem Fundament einer zur Freiheitsverwirklichung hin offenen Natur. Dabei tritt - was zum richtigen Erfassen von Fichtes politischem Denken besonders wichtig ist - in Fichtes früher wie später Rechtskonzeption das Moment (2) der vernünftigen Interessenverteilung in einer Konkretion auf, deren innere, quasi operative „Vernünftigkeit" genau besehen nur postuliert, nicht transzendental durchstrukturiert wird: als Staat. Der Staat soll bei Fichte die Funktion des überlegenen allgemeinen Verstandes ausüben, der alle Einzelinteressen „vernünftig" und sinnvoll zu einem Ganzen vereint. Aber dazu müßte der Staat
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selbst ein „Vernunftwesen" sein - denn nur ein Vernunftwesen, ein „Ich", kann vernünftig handeln. Diese Konsequenz jedoch, daß der Staat selbst ein geschlossenes Ich sei, kann Fichte unmöglich zugestehen. Sie würde für die Problemkonstellation auch nichts erbringen: Denn als „vernünftiges Wesen" könnte er den anderen „vernünftigen Wesen" und deren Freiheit nur beigeordnet, nicht aber übergeordnet werden. Aber andererseits entwickelt Fichte die einzig sinnvolle Alternative zu einem egoifizierten Staat nicht deutlich genug: den Staat als ein offenes System von vernünftigen Wesen. Vielmehr erliegt er immer wieder - teils aus unkontrollierter Neigung, teils aus negativer Konsequenz - der Versuchung, den Staat als eine zwingend geschlossene Struktur zu konstruieren. Herausragendes Beispiel dafür ist sein Entwurf eines „Geschloßnen Handelsstaates". Auch seine anderen Versuche, den Staat konkret durchzudenken, resultieren in einem Gesetzesnetz, dessen Maschen paradoxerweise sich immer enger um die individuelle Freiheit schließen, je mehr sie deren Entfaltung garantieren wollen. Erst in den späten Berliner Jahren wird die Einsicht führend, daß der Staat einer eigenen konstruktiven Idee der Freiheitsverwirklichung bedarf und sich nicht allein durch die negative Aufgabe definieren läßt, die Freiheit vor ihrem möglichen Mißbrauch zu schützen. Der Staat soll nach Fichtes Grundansatz das Regelsystem repräsentieren, durch das die freie Selbstverwirklichung der Menschen möglich wird. Nun gibt es unabsehbar viele Aspekte der Selbstverwirklichung, die sich nur im lebendigen Zusammenwirken mit anderen Menschen verwirklichen lassen. Das gemeinsame Regelsystem kann sich darum unmöglich in der isolierenden Absicherung von Einzelinteressen erschöpfen, sondern muß ebenso auf die allgemeinen Regeln des differenzierten, freien Zusammenwirkens der Individuen ausgelegt sein 9 . Wird das konstruktive Regelsystem des interpersonalen Zusammenwirkens transzendental nicht tief genug fundiert, so muß sein 9 SWVII, S. 577 f.
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ursprünglich freiheitlicher Aspekt auf dem Wege eines faktischen Zwangs in den Staatsentwurf eingeführt werden, um diesen angesichts des praktischen Lebens überhaupt funktionsfähig zu machen. Genau das macht das Kernproblem von Fichtes erster Grundlegung des Rechts aus, die 1796/97 im Zusammenhang mit seinen Jenaer Rechtsvorlesungen erschien.
1. Grundlage des Naturrechts (1796/97) Die eigentliche „Rechtslehre" dieser Veröffentlichung beginnt mit einer Deduktion ihrer Einteilung. In ihr geht Fichte davon aus, daß „mehrere vernünftige Wesen als solche, d. i. als freie Wesen" nur dann nebeneinander bestehen können, wenn „jedes freie Wesen es sich zum Gesetze mache, seine Freiheit durch den Begriff der Freiheit aller übrigen einzuschränken". Da sich die Freiheit nicht zwingen läßt, kann ein solches Gesetz nur dadurch Geltung erlangen, daß jeder es sich freiwillig auferlegt. Dieses „Gesetz der Freiheit" erlaubt nur solche Handlungen nicht, „die Freiheit und Persönlichkeit eines anderen unmöglich" machen - „zu allen übrigen freien Handlungen" aber hat jeder das
Recht io.
Den Inbegriff dieses Rechts bezeichnet Fichte als „Urrecht" und definiert ihn als „das absolute Recht, in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein". Durch dies Urrecht hat die individuelle Persönlichkeit Anspruch auf eine „fortdauernde Wechselwirkung zwischen ihrem Leibe und der Sinnenwelt", die lediglich durch die freie Zwecksetzung des Individuums gestaltet werden soll. Darin liegt beschlossen das Recht auf „Unantastbarkeit des Leibes" und das Recht „auf die Fortdauer unseres freien Einflusses in die gesamte Sinnenwelt". Mit der Konstatierung dieses Unrechts ist jedoch über die relativen Rechte, die erst eigentlich das freie Zusammenleben im einzelnen regulieren, noch nichts gesagt. Denn „wenn einer dem andern sagt, tue das nicht, es stört meine Freiheit, - warum sollte der >o SW III, S. 9 2 - 9 4 .
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andere ihm nicht antworten: und es stört die meinige, es zu unterlassen?" 11 In einem solchen Konfliktfall müssen sich die beiden „vergleichen" und das erzielte „Gleichgewicht des Rechts" durch einen Vertrag sanktionieren. Mit einem solchen Vertrag erkennen sie sich als Personen gleichen Rechts an, was automatisch auch die gegenseitige Bestätigung ihrer Urrechte einschließt. Letzteres ist wichtig, weil in Fichtes Theorie ein reales Rechtsverhältnis nur durch einen konkreten Rechtsvertrag zustande kommt. Insofern wird auch ein „Urrecht" erst wirksam, wenn ein konkreter Rechtsvertrag geschlossen wird. Wer überhaupt kein ausdrückliches Rechtsverhältnis einzugehen bereit ist, der hat auch keinerlei konkretes Recht; umgekehrt kann aber der, der mit ihm ein Rechtsverhältnis eingehen möchte, ihm gegenüber ein Zwangsrecht geltend machen, d. h. Gewalt gegen ihn anwenden, falls der andere die Urrechte verletzt. Das Zwangsrecht setzt jedoch ein gerechtes Urteil voraus, ob überhaupt ein Recht verletzt wurde: „Kein Zwangsrecht ohne ein Recht des Gerichts." Außerdem gibt es „nur ein Recht zu zwingen, dessen man sich bedienen darf oder auch nicht, keineswegs aber eine Pflicht zum Zwange" 12. Der Anlaß zum Zwangsrecht hat allerdings eine eigene Konsequenz. Wer Vereinbarungen überhaupt nicht anerkennt oder willkürlich bricht, zeigt damit, daß seinem Willen zur Anerkennung der Freiheit anderer nicht zu trauen ist. Zudem führt die Ausübung des Zwangsrechts nur zu einem Machtkampf und keineswegs zur Wiederherstellung des zerstörten Vertrauens. Auch wenn der Kampf mit der Unterwerfung des Friedensstörers endet, bleibt die Frage der langfristigen Sicherheitsgarantie ebenso offen, wie wenn er Vertragstreue gelobt - denn was gewährleistet, daß er sich auf Dauer daran halten wird? Fichte sieht 1796 hier nur die Lösung, daß die erzwingende Macht möglichen Störungen des Rechtsverhältnisses gegenüber „über>1 SW III, S. 112-121. >2 SW III, S. 9 5 - 9 6 .
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mächtig" sein muß. Die Individuen müssen daher ihre individuelle Macht zu einem Schutzbund vor Freiheitsverletzungen vereinen und zugleich ihr Recht des Richtens an eine neutrale Institution dieses Bundes, ein gemeinsames „Gericht", delegieren. Mit diesem Vorgang vollzieht sich eigentlich die Geburt des „Staates". Sein Kennzeichen: die Übermacht über den einzelnen. Sein Recht: das Urteilen und die Durchführung des Urteils. Sein Fundament: das Mißtrauen. Fichte formuliert letzteres in aller Deutlichkeit: „Der Staat [ . . . ] ist auf das allgemeine Mißtrauen aufgebaut, auch wird ihm selbst nicht getraut, und ist ihm nicht zu trauen." 13 Damit jedoch kehrt die Frage des Freiheitsschutzes in viel schwierigerer Form wieder - denn wer schützt den einzelnen Bürger vor einem Mißbrauch der Übermacht des Staates? Fichte sucht die Lösung in einer Staatsform, bei der die Gefahr dieses Machtmißbrauchs durch differenzierte Sicherungen möglichst klein gehalten ist. Die stärkste Sicherheitsgarantie scheint für Fichte gegeben, wenn die exekutive Gewalt getrennt wird vom „Recht der Aufsicht und Beurteilung, wie dieselbe verwaltet werde". Diese Rechtsaufsicht über die Exekutive nennt er „Ephorat". Die „Ephoren" haben eine „absolut prohibitive Gewalt": Sie können im Notfall „die öffentliche Gewalt gänzlich und in allen ihren Teilen suspendieren". Eine solche Suspendierung der Machtträger wäre das „Staatsinterdikt". Im Staatsinterdikt fällt alle Entscheidung über eine neue Vergabe der Macht an die Bürger des Staates zurück 14 . In seiner Rechtslehre von 1812 verwirft Fichte diesen Weg der institutionalisierten Revolution wieder, den das Staatsinterdikt der Ephoren eigentlich darstellt: Denn - und hier hat Fichte ohne Zweifel Frankreichs Erfahrung mit Napoleon vor Augen - „der Regent einer Nation, die revolutioniert hat, wird seine Macht nur um so fester gründen, damit sie es nicht wiederhole" 15 . SW III, S. 244. i" SWIII, S. 171 f. 's SW X, S. 634.
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Der Staat, wie Fichte ihn 1796 dachte, hat zur praktischen Voraussetzung eine sehr bestimmte Haltung seiner Bürger: Sie haben sich 1. zu einem bestimmten Gebrauch ihrer Freiheit zu entscheiden und sie müssen sich 2. konsequent an ihre getroffenen Entscheidungen halten. Darin aber liegen zwei ebenso elementare Gefahrenquellen: 1. Die Mitglieder des Staates können „unbesonnen" handeln aus Unkenntnis und Unwissenheit falsche Entscheidungen fällen, die ganz anderes als beabsichtigt bewirken, weil nicht alle realen Folgen der Entscheidungen und ihrer Ausführung bedacht waren; 2. sie halten sich nicht oder nicht konsequent genug an ihre getroffenen Entscheidungen, brechen die Verträge, weichen sie auf oder biegen sie um, suchen den Partner zu täuschen oder zu übervorteilen15a. Das allgemeine Mißtrauen, auf dessen Problem Fichtes erste Staatskonzeption so vorrangig abgestellt ist, basiert wesentlich auf der Möglichkeit dieser beiden Fehlhaltungen. Gänzlich ausschalten ließe die Quelle dieses Mißtrauens sich jedoch nur, wenn die Möglichkeit freier Entscheidung selber ausgeschaltet würde. Das aber ist für einen Versuch wie den Fichtes, den Staatsentwurf auf die Idee der Freiheit zu gründen, schlechthin undenkbar. Legt man Freiheit zugrunde, dann schließt das auch in letzlich unberechenbarer Weise die individuelle Freiheit ein, nicht genügend zu denken und zu überlegen, oder bewußt inkonsequent und vertragsbrüchig zu handeln. In einem tiefen Sinne ist darum der bloße Sicherheitsstaat eine Vorwegnahme des denkbaren Unrechts und aller vorstellbaren Freiheitsstörungen. Je differenzierter und konsequenter er dem möglichen Mißbrauch der Freiheit mit einer Vorbeugungsmechanik zuvorkommen will, desto effektiver bewirkt er die Freiheitsbehinderungen selber, vor denen er schützen sollte. Fichte glaubte zunächst, mit seinem Staatsbild von 1796 denpragmatiis» S W III, S. 1 4 0 - 1 4 5 .
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sehen „Notstaaten" der Geschichte entkommen zu können 16 aber in Wahrheit stellte er ihnen nur das konsequente Urbild des „Notstaates" selbst entgegen. 2. Die Rechtslehre von 1812 An der Berliner Universität trug Fichte seine Rechtsphilosophie im Sommer 1812 vor. Die verschiedenen Verweise seines z.T. nur stichwortartig formulierten Manuskripts 17 auf die „Grundlage des Naturrechts" von 1796 machen deutlich, daß er keinen Neuentwurf beabsichtigte. So fußen die Grundüberlegungen wie die Einzelausführungen, etwa über das persönliche Recht, den Eigentumsvertrag, die Wirtschaft, durchaus auf den früheren Gedankengängen, beleuchten sie teilweise neu und machen Schwachstellen zum Gegenstand scharfsichtiger neuer Erörterungen. Dabei kommt es zu einem „dramatischen Wendepunkt in der Gedankenbewegung" 18 . Das Kardinalproblem der Jenaer Staatskonzeption wird von Fichte selbst auf die Formel gebracht: „Durch die Vorkehrungen, die wir treffen, die Freiheit zu schützen, sehen wir gerade das Gegenteil erfolgen, ihre Vernichtung." i' Ebenso bündig wird die neue, konstruktive Lösung ausgesprochen: „Das einzige drum, wovon sich Besserung erwarten läßt, ist der Fortschritt der Bildung zu Verstand und Sittlichkeit." 2 0 In diesen wenigen Worten ist die entscheidende Kehre in Fichtes Staatsdenken konzentriert: Die fundierende Aufgabe des Staates ist nicht negativ, bloße Kanalisierung des allgemeinen Mißtrauens in prohibitive Abwehr von Freiheitsmißbrauch - sondern positiv, Stärkung des Vertrauens der Menschen zueinander durch Ent16 17
18
19
"
SW III, S. 3 0 2 . Der Originaltext ist zugänglich als „Rechtslehre. Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1 8 1 2 " , Hamburg 1 9 8 0 . Der Abdruck in S W X weist erhebliche sprachliche Ergänzungen von I. H. Fichte auf. Vgl. die vorzüglich erhellende Inhaltsübersicht von R. Schottky in ,J. G. Fichte, Rechtslehre", Hamburg 1 9 8 0 . S. XXIII. Rechtslehre, S. 4 6 (SW X , S. 535). ebd. S. 154. (SW X , S. 634).
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wicklung ihres Wissens und ihres ethischen Verantwortungsbewußtseins. Dieses zentrale Element der späten Staatstheorie Fichtes muß allerdings mit adäquater Klarheit verstanden werden: Fichte postuliert nicht etwa, der Staat habe seinen Bürgern nun „positive" Auflagen zu machen und habe „positive" Leistungen wie einen Steuertribut einzufordern. Ein Staat, der „alle Kräfte einem gemeinsamen fremden Willen" - gebe der sich noch so positiv unterwirft, mag vielleicht glauben, „daß er das rechte Band der Ordnung und des Friedens Aller untereinander finde und anwende. Was sind denn nun aber alle, als Sklaven seiner Willkür? Wozu ist der Friede und die Rechtlichkeit unter ihnen selbst, als damit er das Mittel sei, sie zu tauglicheren Sklaven zu machen?" 21 Der Staat hat gerade nicht die Aufgabe, „willensbewegendes Prinzip" zu sein. Die Grundkonstitution muß vielmehr auf eine Entwicklung angelegt sein, deren orientierende Zielidee darin besteht, „daß der Staat als willensbewegendes Prinzip wegfällt. Er geht drum darauf aus, sich aufzuheben" 22 . Der kurzschlüssige Weg bloßer Anarchie kann allerdings nicht zu diesem Ziel führen. Denn ein wesentlicher Aspekt gemeinschaftlicher Daseinsbewältigung besteht darin, den Arbeitsaufwand für die natürlichen Lebensbedürfnisse in sinnvoller Aufgabenteilung so rationell zu gestalten, daß möglichst viel Zeit für die eigentlich freien Zielsetzungen gewonnen wird. Staatlichkeit ist hierfür solange die notwendige Form des Rechtszustandes, als die Konkretion dieser Zielsetzungen nicht anders gewährleistet werden kann. Nur wenn die Realisierung dieser Zielsetzungen auch ohne Staat gesichert ist, kann die Selbstaufhebung des Staates der Verwirklichung der Freiheit dienen. Der Weg von den „Notstaaten" zu einem Reich der Freiheit wird dadurch zu einem zielorientierten geschichtlichen Prozeß. Diesen Prozeß voranzubringen, gehört zu den wesentlichen Aufgaben des Staates. Er kann - dies eine weitere wichtige Korrektur gegenüber dem Jenaer Entwurf von 1796 - eigentlich „nicht sichern 21
"
ebd. S. 50 (SW X, S. 539). ebd. S. 53 (SW X, S. 542).
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eine Freiheit, die nicht ist; er kann nur sichern die Möglichkeit ihres Werdens". Dies m u ß geschehen durch Institutionen „zur Bildung der Freiheit für alle, und dadurch, daß man alle in die Möglichkeit setzt, sie zu benutzen". 2 3 Mit diesen Gedanken zieht Fichte letztlich die pragmatischen Konsequenzen aus der transzendentalen Einsicht, daß der Staat nie Selbstzweck sein kann. Eigener Zweck kann nur ein Ich sein der Staat aber ist nicht egoifizierbar. Er ist vielmehr eine gemeinsame und notwendige Idee der „vernünftigen Wesen" von dem instrumentellen Mittel', das zur Verwirklichung gemeinschaftlicher Freiheit erforderlich ist. Nur in der Ausrichtung auf diesen Zweck hat der Staat Rechte und ist selber Recht. Wendet er sich gegen diesen Zweck, so verletzt er „den Mittelpunkt des Rechtes und ist selbst unrechtlich; er ist bloßer Zwang und Unterjochung" 24 . Eine solch fundamentale Relativierung des Staates, seine Entkleidung vom Anschein eines selbständigen und selbstherrlichen Naturzwecks, dehnt die entscheidende Diskussion über seine Gestalt nicht nur auf das Feld der Geschichte und der Ethik aus, sondern dringt unabdingbar auch zur Sinnfrage der menschlichen Existenz - dem traditionell der Metaphysik zugeschriebenen Bereich - vor. 3. Die Staatslehre von 1813 Die endgültige Klärung der Frage nach der Legitimität der Staatsmacht zeichnet sich in den „Vorträgen verschiedenen Inhalts aus der angewendeten Philosophie" ab, die Fichte im Sommer 1813 an der Berliner Universität hielt, und die erstmals 1820 unter dem Titel „Die Staatslehre oder das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche" veröffentlicht wurden. Absoluter Zweck der Staatsidee und ihrer Realisierung kann nur die Freiheit sein, denn „sie ist das einzige, was dem Leben selbst Wert gibt", und „ohne Freiheit bleiben wir ohne Gott und in dem 23 24
ebd. S. 51 (SW X, S. 540). ebd. S. 50 (SW X, S. 539).
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Nichts" 2 5 . Mit prohibitivem Zwang allein kann die Freiheit weder durchgesetzt noch wirksam geschützt werden. Doch zugleich gilt für die Ausübung der Staatsmacht mit ebensolchem Gewicht: Nur „um des Mißbrauchs willen den Gebrauch aufheben, heißt eben die Menschheit dazu verurteilen, daß mit ihr alles beim alten bliebe".26 Aber die Macht legitimiert sich nicht durch sich selbst; auf der blinden Ebene von Gewalt und Gegengewalt bleibt immer die Gleichgültigkeit der Gewalt siegreich. Wodurch dann muß sich sinnvoller Machtgebrauch legitimieren? Vernünftige Machtanwendung ist die Notwehr der Vernunft gegen unvernünftige Gewalt. Die Not des Staates ist die Macht der Unvernunft. Verlegt er sich nur auf deren Eindämmung durch Gewaltmittel, so wird die eigentliche Not nicht beseitigt - „und wer diese Not verewigen will, der will das Unrecht um seiner selbst willen" 27 . Genau an diesem Punkt der passiven Hinnahme des tiefsten Ursprungs des Unrechts liegt die virulente Problematik der menschlichen „Notstaaten", ihre innerste geschichtliche Gefahrdung, in „Lumpenstaaten" 2 8 umzukippen. Signum der Vernunft ist jedoch nicht sekundäre Reaktion, sondern ursprünglich-genetische Aktion. Die lösende Fragestellung kann deshalb einzig darauf ausgehen, worin jene Vernunßgenesis besteht, die allein - und auf keine mögliche andere Weise - durch den Zusammenschluß vernünftiger Wesen zu einem rechtlichen Gemeinwesen verwirklicht werden kann: In der Schaffung der äußeren Voraussetzungen für die schöpferische Selbstverwirklichung der vernünftigen Wesen. Soll der Staat diese seine genuine Aufgabe erfüllen können, so müssen seine Träger wissen, worum es dabei fundamental zu tun ist. Vernunftgenesis ist zwar mehr als bloße Verstandesgenesis, aber die Entwicklung des Verstandes ist notwendiges und unerläßliches Mittel zur Selbstverwirklichung der menschlichen Veras SW IV, S. 4 1 0 und 417. "
SW IV, S. 399.
"
SW IV, S. 398.
2« SW VII, S. 603.
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nunft. Da nun „Grundgesetz dieser Welt ist, daß die Menschen geboren werden mit unentwickeltem Verstände" 29 , so ist es zentrale Aufgabe des Staatswesens, die äußeren Bedingungen für die Entwicklung von Verstand und Einsicht zur freien Selbstverwirklichung seiner Menschen zu schaffen. Daraus entspringen zwei elementare Aufgabenrichtungen: Die Bewältigung des Problems der „Natur" und die Einrichtung und Unterhaltung geeigneter Bildungsmöglichkeiten für „alle ohne Ausnahme, die da geboren werden" 30 . Das Urmodell aller gesellschaftlichen Zwangssysteme ist, genau besehen, der Mechanismus der Naturgesetze. Hier hat die Menschheit - tertium non datur - allein die Alternative: Die Naturgesetze sinnvoll für ihre Freiheitsverwirklichung in Gebrauch zu nehmen - oder von deren blindem Walten beherrscht zu werden. Jedes Gemeinwesen, das der Freiheit dienen soll, muß daher auf einen Abbau der äußeren Naturzwänge ausgehen: Naturbeherrschung durch Wissenschaft und Praxis anstreben31. Solange keine vollkommene Naturherrschaft der Menschen erreicht ist, kann umgekehrt um seiner Naturverhaftung willen kein menschliches Gemeinwesen zwangsfrei sein. Aber auch vollkommene Beherrschung der Naturmechanismen würde in einem menschlichen Staat noch nicht vor interpersonalen Zwangsstrukturen bewahren. Die Beherrschung der Naturgesetze kann allenfalls „den Ausbruch des rechtswidrigen Willens in die Tat" hindern, aber den „inneren bösen Willen" nicht aufheben 32 . Die interpersonale Gemeinschaft des Staates muß sich daher auch die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit eines funktionierenden freien Zusammenlebens erschließen: Sie muß zur Einsicht in die transzendentale Struktur des „Rechts" überhaupt kommen, diese Einsicht allen ihren Gliedern vermitteln und in die Praxis umsetzen. 2' 30 31 32
SW IV, S. 583. ebd. S W I V . S . 590. SW IV, S. 435.
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Dabei kann sie wiederum nicht ohne Zwang auskommen: Zwang wird sich als natürlicher Effekt unvollkommener Rechtseinsicht und unvollkommener Rechtspraxis ergeben und auch solange unvermeidbar sein, als noch irgend eine Kluft zwischen transzendentaler Idee und empirischer Realität des freien Zusammenlebens und Zusammenwirkens der vernünftigen Wesen herrscht. Das bedeutet allgemein gesprochen: Kein Staat kann, solange der Befreiungsprozeß der Menschheit nicht vollendet ist, ohne Zwang auskommen. Die bloße Existenz von Zwang ist darum noch kein Bemessungskriterium für einen Staat. Die Unterschiede zwischen einem machtgierigen „Lumpenstaat" und einem sittlich verantwortlichen „Notstaat" liegen in der effektiven Tendenz ihrer Zwangsstrukturen. Die Tendenz der Zwangssituation im verantwortlichen Notstaat charakterisiert Fichte so: „Nur zum Rechte darf gezwungen werden; jeder andere Zwang ist durchaus widerrechtlich (abscheulich, teuflisch)." Dazu gehört unablösbar: „Kein Zwang, außer in Verbindung mit der Erziehung zur Einsicht in das Recht." Nur dadurch wird die geschichtliche Staatsentwicklung zur Freiheit nach der Formel „mehr Einsicht und guter Wille, weniger Zwang" möglich 33 . In diesen Zusammenhang fügt sich die Lösung eines Problems, das 1796 unbeantwortet geblieben war: Wie sich Staat und Recht im Bereich des Ethos verbinden. Sittlich handeln kann nur ein „Ich"; der Staat und seine Rechtsstruktur sind aber kein „Ich". Insofern ist Fichtes frühe Feststellung, daß Recht und Sittlichkeit zwei wohl zu unterscheidende Begriffe sind, völlig korrekt. Trotzdem kommt eine reale und faktisch unablösbare Verbindung zwichen Recht und Sittlichkeit zustande: in den Personen, die den Staat tragen. Ein Staat kann entwicklungsmäßig und technokratisch weit fortgeschritten sein - sittlich ist er effektiv stets nur soweit, wie die Handlungen seiner Träger und Mitglieder sittlich sind. Soll aber der Staat das gemeinsame Mittel zur Freiheitsverwirklichung sein, so muß seine Leitung bei einem „sittlich gemeingülti33 SW IV, S. 437-439.
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gen Verstand" liegen; denn nur dann kann von ihm erwartet werden, daß er eine uneingeschränkte sittlich verantwortliche Erziehung aller zur Freiheit ermöglicht. In letzter Konsequenz kann dies aber nur die Vollkommenheit des „göttlichen Verstandes" leisten 34 . Mit dieser Konsequenz schlägt Fichte nicht nur die Brücke zwischen Recht und Religion, sondern auch zwischen Natur und Freiheit: Die Natur ist in der absoluten Erscheinung und deren „göttlichem Verstand" auf die Selbstverwirklichung der sittlichen Freiheit hingeordnet, sie erfüllt sich durch die Freiheitsverwirklichung der vernünftigen Wesen. Umgekehrt hat die Freiheit sich an der Natur und in der erkennenden Unterscheidung von ihr zu entdecken. Das führt in der ersten Phase zu einem Lernprozeß an der Natur: Die Staaten der „Alten Welt" suchten die Organisationsformen der Natur nachzubilden. Das geschah zunächst als naive Nachahmung unter der Form eines unreflektierten „Naturglaubens". Die Reflexion führte dann zu einer Selektion autoritativer Muster, deren Behauptung Fichte „Autoritätsglauben" nennt. Aus der Dialektik beider Prinzipien erwuchs zunehmend die verstandesmäßige Beurteilung herrschender Staatsformen, ihre evolutionäre und revolutionäre Umgestaltung. Dabei wuchs aber auch die innere Staatsentfremdung: Der Staat wurde „zu einem Übel". An diesem Wendepunkt beginnt die Phase der „Neuen Welt": In der Fortentwicklung des Verstandes wird der zunächst verworfene Staat als Mittel erkannt „und als Vorbereitung der Bedingungen, um die für die freie Kunst entstandene Aufgabe - die Errichtung des Reiches - zu lösen" 35 . In dieser zweiten Phase, deren Ziel die Aufhebung des Staates im „Vernunftreich" vollkommener Freiheit ist, wird der erste Lernprozeß an der Natur abgelöst durch einen absolut neuartigen Lernprozeß: Der göttliche Verstand der absoluten Erscheinung tritt selbst als der „Lehrer" der vernünftigen Wesen in die SW IV, S. 4 4 8 und 4 6 6 . 35 SW IV, S. 4 9 6 .
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interpersonale Realität ein. Mit ihm erscheint unter dem Bild des „Himmelreichs" nicht nur der eigentliche Zielbegriff der zu verwirklichenden Freiheitswelt, sondern auch die Lehre vom Weg zur vollendeten Freiheit. Diese Lehre, die von den Menschen freie und freiwillige Annahme und Befolgung erwartet, geht aus auf eine „durchgreifende historische Umschaffung des Menschengeschlechts bis hinein in die Wurzel". Sie „setzt sich die Aufgabe, zu bilden den Verstand des Menschen, und zwar den aller Menschen ohne Ausnahme, zu einer gewissen Einsicht, zur absoluten, des Verhältnisses der Menschheit zu Gott". 3 6 Auf Fichtes Identifizierung dieser Lehre mit dem wohlverstandenen Christentum werden wir in unserer Behandlung seiner Religionsphilosophie eingehen. Für unsern Zusammenhang wichtig sind die hauptsächlichen politischen Folgerungen Fichtes. Die Staaten der Alten Welt waren insofern „Theokratien", als für jene Epoche das Wesen einer Gottheit in der Äußerung als „Zwangsgewalt" lag 3 7 ; auch war „die Ungleichheit ursprünglich" 38 . Durch das Christentum dagegen wurde Gott erkennbar als „ein durch sein inneres Wesen bestimmtes Heiliges ohne alle Willkür"; und für die Menschen gilt jetzt: „Schlechthin alles, was Mensch ist, ist gleich in Absicht der Freiheit: das Christentum darum das Evangelium der Freiheit und Gleichheit: der ersteren nicht bloß im metaphysischen, sondern auch im bürgerlichen Sinn" 39. Das Christentum in diesem Verständnis ist keineswegs eine Utopie, sondern seit seiner Stiftung real wirksame, zentrale Kraft der Geschichte. Als geschichtlicher Prozeß vollzieht sich seine Entwicklung in Epochen. Sein innerster Kern ist die Freisetzung des Wissens. Insofern ist auch die Selbstreflexion des Wissens durch die Wissenschaftslehre eine konsequente Folge des lebendigen Christentums, durch die wiederum dessen Wesensgehalt aus der Form des Glaubens in die Form sicheren Wissens überführt wird. 3« 37 38 3'
SW IV, S. 525-527. SW IV, S. 504 und 522. ebd. S. 508. ebd. S. 523.
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Das Christentum ist aber „nicht nur Lehre, sondern Verfassung, Bestimmung des wirklichen Seins des Menschengeschlechts" 40 . Die Funktion der Lehre hat es nicht „in seiner letzten Bedeutung", sondern als Leitbild des Entwicklungsprozesses der Freiheit in ihrer Selbstverwirklichung, „beginnend von einer faktischen Herrschaft [...], einer Theokratie des Glaubens, als der alten Zeit, fortlaufend bis zu einem für jedermann verständlichen und verstandenen Reich Gottes auf der Erde, als dem neuen und zweiten Weltalter" Auf diesem Hintergrund ist es konkrete Aufgabe einer realistischen Staatsphilosophie wie einer sittlich verantwortlichen Staatsführung, zu erkennen, was innerhalb dieses Entwicklungsprozesses als „nächste Aufgabe" an der Zeit ist. 4. Politische Schriften Von den fundamentalen Applikationen der „Rechtslehre" unterscheidet Fichte die Wissenschaft der Politik. Eine transzendentale Rechtslehre hat die Struktur der Idee des Rechtes und des Rechtsstaates zu ermitteln und darzutun - Politik in Fichtes Sinn hat es dagegen mit der Umsetzung dieser Idee in die konkrete Wirklichkeit zu tun. In ihrem höchste Verständnis wäre Politik die „Kunst", den konkreten geschichtlichen Prozeß auf das Freiheitsziel aller Staatenbildung auszurichten und ihn diesem Ziel praktisch näher zu bringen. Eine Wissenschaft von der Politik hätte sich mit der Erforschung dieser „Kunst" und ihrer Gesetzmäßigkeiten zu befassen 42 . Fichte selbst hat sich jedoch nicht in so streng systematischer Weise mit der Politik beschäftigt. Seine politischen Schriften sind mehr zufällig entstanden, veranlaßt und inspiriert von äußeren Impulsen, oft rasch und leidenschaftlich zu Papier gebracht, doch selten getragen von jener bohrenden Intensität, die seine Arbeiten zur transzendentalen philosophia prima auszeichnet. Das spiegelt 40 41
«
ebd. S. 5 2 7 . ebd. S. 5 2 8 . SWIII, S. 3 9 7 f.
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sich auch in der schwankenden, meist modisch akzentuierten Aufmerksamkeit, die ihnen zugewandt wurde. Man mag sich beispielsweise fragen, ob den „Zufälligen Gedanken in einer schlaflosen Nacht" von 1788 mehr Bedeutung für das politische Denken Fichtes zukommt, als ihr Titel 4 3 signalisiert. Anders ist das bei den anonymen politischen Flugschriften vom Beginn der neunziger Jahre. Fichte hat in ihnen mit einiger journalistischer Brillanz Gedanken geäußert, die ein Eigenleben gewannen und behielten, wie immer sich sein späteres politisches Denken wandeln und selbstkritisch klären mochte. Zwar fand die „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten" kaum zeitgenössische Resonanz. Dafür erregte der umfangreiche „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution" (1793) um so mehr Aufsehen. Der „Beitrag" ist in einer Hinsicht durchaus typisch für Fichte: Sein lebenslanger Drang, aus wichtigen theoretischen Einsichten rasch praktische Konsequenzen zu ziehen, suchte hier im Brükkenschlag zwischen der geistigen Revolution durch Kants Philosophie und dem politischen Umsturz in Frankreich Normen für „den großen Text: Menschenrecht und Menschenwert" 44 . Aber in einem andern Betracht ist der „Beitrag" auch wieder atypisch für Fichte: Er steht außerhalb jenes ungeheuren dialektischen Prozesses, der in Fichtes Denken mit der Entdeckung der Wissenschaftslehre Ende 1793 begann und in zutiefst verwandelnder Konsequenz erst die eigentliche „Revolution" der Fichteschen Philosophie ausmacht. Ein paradigmatisches Teilstück dieses innersten Kampfes zwischen transzendentaler Erkenntnis und Fichtes politischem Faktenwissen präsentiert „Der geschloßne Handelsstaat" von 1800. Diese Schrift versteht sich ausdrücklich als Anhang zur „Grundlage des Naturrechts" und entwickelt aus dessen Prinzipien in
« GA 11,1, S. 99 ff. "" SW VI, S. 39.
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großer Folgerichtigkeit das Modell einer sozialistischen Planwirtschaft 45 . An erster Stelle steht die Sicherung und Gewährleistung des materiellen Lebensunterhalts für alle. Der Staat hat Produktionspläne für mehrere Jahre zu erstellen, um Schwankungen - etwa naturbedingte Ernteausfälle - durch Produktionsüberschüsse ausgleichen zu können. Planmäßig festgeschrieben werden muß auch die Verteilung der Arbeitskräfte. Zwar weist nicht der Staat die Tätigkeit dem einzelnen Bürger zu - die Berufswahl bleibt frei doch muß sich der Bürger die Wahl seines Berufs staatlich genehmigen lassen; dabei existiert ein durch den Plan errechneter Numerus clausus für die einzelnen Berufe. Leitgedanke aller Planung muß sein: „Das Entbehrliche ist überall dem Unentbehrlichen oder schwer zu Entbehrenden nachzusetzen." Der anzustrebende Vorteil einer rational effektiven Organisation, die Verminderung der Arbeitsbelastung für alle, soll ebenso allen Bürger zur „Muße" für Freiheit und Bildung zugute kommen 4 6 . Grundlage einer wirtschaftlichen Sicherung dieser Art ist die Überschaubarkeit und Berechenbarkeit der wirtschaftlichen Faktoren. Darum sucht Fichtes Wirtschaftsmodell von 1800 die Planung gegen die unberechenbaren Schwankungen des Weltmarkts zu „schließen": Der Staat soll wirtschaftlich autark sein; Außenhandel darf allenfalls im Staatsmonopol betrieben werden. Geschichtlich gesehen hat Fichte mit seinem „Geschloßnen Handelsstaat" einer Reihe von Entwicklungen vorgegriffen, die erst Jahrzehnte später aus anderen Quellen politisch relevant wurden. Ihre gedankliche Stringenz macht diese Schrift in mancher Hinsicht geradezu zu einem Kompendium der Schwierigkeiten, die sich weniger bei einer gleichmäßigen Verteilung von materiellem Überfluß, als vielmehr bei einem gerechten gemeinsamen Kampf gegen den Mangel einstellen. 45
Vgl. zur Problematik das ausführliche Vorwort v. Hans Hirsch in der Ausgabe Hamburg 1979. « SW III, S. 422-427.
4
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Im Rahmen von Fichtes Gesamtwerk liegt die eigentlich transszendentale Problematik dieser Schrift in der Tendenz ihres Lösungsversuches: Im Konfliktfall zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheitsideal wird stets zugunsten der Naturnotwendigkeit entschieden - das Netz der Zwänge wird von Konsequenz zu Konsequenz enger geknüpft, das ursprünglich grandiose Bild der Freiheit immer unkenntlicher eingesponnen. Was in dieser Phase des Fichteschen Denkens fehlt, ist eine ebenso tiefschürfende und sich konkret exemplifizierende Untersuchung, wie die Freiheit jener Tendenz eines immer feiner diffundierenden Reglementierungsmechanismus widersteht, und wie sich dieser Widerstand in der Dynamik eines gemeinsamen Kampfes gegen den Mangel zu artikulieren hat. Von daher ist es um so bedauerlicher, daß Fichte nicht mehr die Zeit hatte, die fundamentalen Korrekturen der „Rechtslehre" von 1812 und die neuen Züge seines Staatsdenkens von 1813 in - wie es der „Handelsstaat" hatte sein wollen - einer neuen „Probe einer künftig zu liefernden Politik" 4 7 auszuarbeiten. Die verstreuten Gedanken zwischen 1806 und 1814 zu politischen Fragen im engeren Sinn - etwa zu den Ideen Machiavellis oder „Über den Patriotismus und sein Gegenteil" - bieten allenfalls Splitter, die sich nicht zu einem solchen ausgeformten Bild fügen lassen. 5. Die Reflexionsform des Rechts Vor dem Übergang zu Fichtes Geschichtsphilosophie dürfte die Einschaltung einer anschaulichen Orientierungshilfe sinnvoll sein. Denn die Reflexionsstruktur, unter der das Phänomen des Rechts bewußt wird, ist von prinzipiell anderer Art als die Reflexionsform bei der Bewußtmachung geschichtlicher Phänomene. Und hier gilt für den maßgebenden transzendentalen Hintergrund, was Fichte einmal in anderem Zusammenhang sagte: Bei einem solchen Übergang „nun sich nicht zu verwirren und das unendlich Ahnliche [...] zu unterscheiden, ist das schwerste Stück der philosophischen Kunst" 4 8 . 47
So der Untertitel des „Geschloßnen Handelsstaates". W L 18042, s w X , S. 2 6 3 .
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Zur Erläuterung der individuellen Selbstreflexion hatten wir uns der Analogie zur euklidischen Ellipse bedient, die ein „geschlossenes" Reflexionssystem bietet. Wie wir oben feststellten, läßt sich die Struktur der interpersonalen Verhältnisse, die transzendental alle Rechts- und Staatsverhältnisse fundiert, nur im Modell eines prinzipiell „offenen" Reflexionssystems fassen. Zu dessen Erläuterung eignet sich in besonderer Weise die Analogie zur euklidischen Parabel. Die Konstruktionsformel y 2 = 2px der Parabel ist um nichts weniger eindeutig als die Bauformel der Ellipse. Nur geht aus ihr statt eines geschlossenen ein in ganz bestimmter Weise „offenes" Reflexionssystem hervor (Abb. 19). Wie die Ellipse hat die Parabel einen Brennpunkt (F) - doch sie hat nur einen einzigen Brennpunkt. Aus ihm kommende Strahlen werden von der Parabel nicht so reflektiert, daß sie auf den Brennpunkt zurückfallen (ausgenommen den Strahl zum Scheitelpunkt), vielmehr werden sie in der Reflexion parallel zur Parabelachse ausgerichtet und entfernen sich in stets gleichem Abstand voneinander ins Unabsehbare.
Abb. 19
Außerdem werden auch nicht wie in der Ellipse schlechthin alle Strahlen aus dem Brennpunkt an der Parabel reflektiert; Strahlen, die auf die „Öffnung" der Parabel gerichtet sind, treffen nie auf Parabelpunkte, die sie umlenken könnten. Die Parabel ist somit ein System, in dem Brennpunktstrahlen nur teilweise, doch nie in ihrer Totalität durch die Kontinuität des Systems selber reflektiert werden können.
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Sollen die ausgesandten Strahlen je zu ihrem Ursprungspunkt zurückkehren und eine in sich geschlossene Reflexionskette bilden können, so müssen sie durch „fremde" Reflektoren dorthin zurückgelenkt werden. Diese vielfältigen Möglichkeiten einfacher oder komplizierterer Rückspiegelungen können wir in unserm Zusammenhang nicht weiter untersuchen. Für unsere Belange besonders interessant ist jener Sonderfall einer solchen Rückspiegelung, bei dem der Reflexionsweg durch den Brennpunkt einer anderen Parabel führt (Abb. 20), denn er liefert ein in mancher Hinsicht augenfälliges Vergleichsbild für die wechselseitige Reflexion „vernünftiger Wesen ihresgleichen".
Ein geschlossener Reflexionszusammenhang zwischen zwei Individuen ist nicht wie im in sich geschlossenen Reflexionssystem der Ellipse starr vorgegeben, sondern bildet sich nur, wenn beide in ganz besonderer Weise aufeinander ausgerichtet, einander zugewandt sind. Einen Menschen als Wesen derselben Art zu erkennen und zugleich die eigene Individualität durch ihn - also von „außerhalb" des eigenen Reflexionssystems - reflektieren und erkennen zu können, fällt in dem sich frei schließenden Reflexionskreis dieses Modells in der Tat zusammen. 6. Die Idee der vollkommenen Gesellschaß Mit Hilfe des Analogiemodells einer in sich geschlossenen doppelt parabolischen Reflexion (vgl. Abb. 20) läßt sich eines der schwierigsten Probleme der Fichteschen Interpersonaltheorie sinnfällig machen. Fichte griff dies Problem - das in der „Staatslehre" von 1813 in den finalen Begriff des „Vernunftreichs" eingeschmolzen ist - mit stupender Intuition bereits in seiner frühesten öffentlichen Äuße-
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rung zur Interpersonalität auf. In der zweiten Stunde seines Jenaer Antrittskollegs - als auch die „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" erst bogenweise im Entstehen war - formuliert er die zentrale Erkenntnisfrage der Interpersonalität: „Wie kömmt der Mensch dazu, vernünftige Wesen seines Gleichen ausser sich anzunehmen und anzuerkennen, da doch dergleichen Wesen in seinem reinen Selbstbewußtsein unmittelbar gar nicht gegeben sind?" Das verknüpft er direkt mit seiner Definition von „Gesellschaft" als „die Beziehung der vernünftigen Wesen aufeinander". Mit verblüffend ähnlicher Entschiedenheit wie in der Spätphilosophie heißt es dann weiter: „Das Leben im Staate gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Menschen", der Staat ist lediglich das praktisch erforderliche „Mittel zur Gründung einer vollkommenen Gesellschaft" 49 . Als in seinem Wesen „Mittel" kann ein Staat nie Selbstzweck sein, sei seine Form noch so sinnvoll gestaltet: „Es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig zu machen." Dagegen ist die Gesellschaft als „die Beziehung der vernünftigen Wesen aufeinander [...] in Wechselwirkung durch Freiheit" in der Tat „ihr eigener Zweck" 50 . Das leuchtet insofern spontan ein: Wenn der einzelne Mensch nicht Mittel, sondern selber Zweck ist, muß auch die Gesamtheit aller Menschen Zweck sein und nicht Mittel. Auch ist die Logik zwingend, daß die Vernunft, die sich im Zusammenwirken der Menschen realisiert, nicht weniger Vernunft sein kann als die, die sich im Selbstbewußtsein des einzelnen reflektiert. Das Abgründige des Problems, das Fichte zwei Jahrzehnte lang durch die Höhen und Tiefen der Spekulation riß, liegt jedoch in der Frage: Wie manifestiert sich die Vernunft in ihrer außer- und überindividuellen Wirksamkeit? «» SW VI, S. 302 und 306. (Vervollständigte Ausgabe durch R. Lauth herausgegeben, Hamburg 1971, als „Von den Pflichten der Gelehrten". S. 12 und 16). so SW VI, S. 307.
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Fichtes Behauptung, daß die Gesellschaft als Wechselwirkung aller Menschen untereinander „ihr eigener Zweck sei", hieß im Kontext jener Vorlesung von 1794, daß sie ihrerseits ein „Ich" sein müßte: denn Fichte hatte definitorisch festgelegt, daß nur ein „Ich" sein eigener Zweck sein könne 51 . Seine damalige Antwort, daß die Gesellschaft faktisch keineswegs ein sich reflektierendes „vernünftiges Wesen" sei, sondern dies durch die freie Vereinigung der individuellen vernünftigen Wesen erst in einem unendlichen Prozeß werden solle, ließ das eigentliche Problem nur in dem ungelösten Widerspruch einer „vollendeten Unendlichkeit" kulminieren. Der Kern dieses Problems liegt in der Frage, was eigentlich das ausschlaggebende Merkmal eines sich wissenden Wissens ist: Jede in sich geschlossene, zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrende doppelte Reflexion - oder nur die Reflexionsform des individuellen Selbstbewußtseins. Wir haben an unserem parabolischen Analogiebeispiel gesehen, daß nur die erste Antwort die eigentlich schlüssige sein kann. Denn sogar das individuelle Selbstbewußtsein ist nicht auf jene bloße Sichreflexion eingeschränkt, die wir am Analogiebild der elliptischen Reflexion exemplifizierten - vielmehr läßt sich seine interpersonale Selbstreflexion durch die andersartige Form der „offenen" parabolischen Reflexion darstellen. Von daher hieße die Antwort, ob die Gesellschaft je - und sei es in einer „vollendeten Unendlichkeit" - die Ichform des individuellen Selbstbewußtseins annehmen könne, eindeutig Nein. Aus einer Parabel wird nie, so weit man sie auch wachsen ließe, eine Ellipse. Denn wenn man sie als Kegelschnitt betrachtet, so liegt die Neigung ihrer Schnittebene genau zwischen den Schnittebenen der Ellipsen und denen der Hyperbeln (vgl. Abb. 18), ergibt weder eine Ellipse noch eine Hyperbel, sondern ist der exakte Grenzfall zwischen beiden. In dieser Hinsicht korrespondiert unsere Parabelanalogie genau mit Fichtes Einsicht von 1812, das Rechtsgesetz sei weder Natur- noch Sittengesetz, sondern „das Mittelglied zwischen beiden" 5 2 . 51 SW VI, S. 2 9 5 - 2 9 7 . 52 SW X , S. 497.
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Aber - und dies beleuchtet die fragliche Situation von einer anderen Seite - es ist überhaupt nicht erforderlich, daß die interpersonale Reflexion als Ganze die Form eines individuellen Selbstbewußtseins anzunehmen braucht, um eine ichhafte, in sich geschlossene Reflexionsform bilden zu können. Unsere Analogie dokumentiert, daß letztere auch durch die „freie" Verbindung zweier „offener" Reflexionssysteme zustande kommen kann. Die übliche Interpretation, Fichte habe die Reflexionsform des Individuums für die alleinige Reflexionsweise der Vernunft überhaupt gehalten, erliegt nicht nur einem fundamentalen Irrtum, sondern auch ihrer unreflektierten eigenen Neigung, die Eigenheiten des individuellen Bewußtseins auf alles zu projizieren, was als „Ich" definiert wird. Die wesentliche Leistung von Fichtes zwanzigjährigem Ringen um die „Wissenschaftslehre" bestand gerade darin, daß er dieser triebhaften Neigung nicht bloß zähesten Widerstand entgegensetzte, sondern ihren Projektionsmechanismus selbst Schritt um Schritt aufklärte und dadurch erst der Philosophie zu exakt faßbaren und kritisch ausgewiesenen Unterscheidungen zwischen „individuellem", „allgemeinem" und „absolutem" Wissen verhalf. Konkret heißt das Resultat: Die „Gesellschaft" als die interpersonale Gemeinschaft aller „vernünftigen Wesen" ist im transszendentalen Verstand ein prinzipiell „offenes" System, das dann und nur dann „funktioniert", wenn die einzelnen Individuen sich die Vernunft seiner Gesetze freiwillig zu eigen machen in nachschöpferischer Erkenntnis und in schöpferischem Handeln. Die „Offenheit" dieses Systems in eine „Geschlossenheit" nach Art der individuellen Selbstbewußtheit umfunktionieren zu wollen, um das System als „vollendet" denken zu können, wäre ähnlich sinnlos, wie sich eine „vollendete" Parabel vorstellen zu wollen: Der Begriff einer „vollendeten" Parabel ist ohne Sinn, weil jede vorstellbare Parabel die Veranschaulichung eines konstruktiven Verfahrensprinzips ist, das die Konstruktion nie wie beim Kreis oder der Ellipse zum Ausgangspunkt zurückführt und damit „vollendet".
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Doch diese konstruktive Offenheit schließt nicht im mindesten aus, sich die Realisation der Parabel als in jedem ihrer Teilstücke vollkommen denken zu können: Die Vollkommenheit einer Parabel erscheint nicht durch eine unausdenkbare Erschöpfung ihrer immanenten Konstruktionsmöglichkeit, sondern in der realen Entsprechung zu ihrem Konstruktionsgesetz. Analog ist die Idee einer vollkommenen Gesellschaft nicht kongruent mit der Idee einer final in sich „geschlossenen" Gesellschaft. „Vollkommenheit" kann jederzeit im interpersonalen Bezugsgeflecht auftreten. Ob das geschieht, ist nicht eine Frage ihrer abstrakten Möglichkeit, sondern Sache des konkreten Verhaltens der Individuen und ihrer Willensentscheidungen. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß das einzelne Individuum seinen unverwechselbaren und unaustauschbaren freien Beitrag im notwendigen Umfang liefert. Die Individuen können jedoch ihre Handlungen nur dann „vollkommen" koordinieren, wenn sie sich zuvor über ihre gemeinsamen Handlungsziele verständigt haben. Somit wird es zur quasi technischen Vorbedingung einer in allen realen Bezügen vollkommenen Gesellschaft, daß sie sich ihres gemeinsamen und nur gemeinsam zu verwirklichenden Zieles bewußt ist. Mit anderen Worten: Sie muß sich und ihr Handeln nach einer Idee vom Sinn ihrer gemeinsamen Existenz ausrichten können. Diese Vereinigung der individuellen Zielsetzungen mit der allgemeinen Zielsetzung einer freien Menschheit ist das zentrale Thema von Fichtes Geschichtsphilosophie. III. Ethos und Geschichte
Das wesentliche Problem aller konkreten Rechtskonstitution war, daß die gleichwertige Freiheitsverwirklichung aller nur dann bestehen und gedeihen kann, wenn der einzelne seine Handlungen entsprechend entwirft und ausführt. Wie aber kommt der einzelne überhaupt zu Handlungszielen und insbesondere zum Ziel selbsttätiger Freiheitsverwirklichung? Mit dieser Frage betreten wir jenen Bereich, den Fichte in seiner „Sittenlehre" untersucht.
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1. Das System der Sittenlehre von 1798 Fichte hatte in Jena im Sommer 1796 erstmals „Ethicen secundum dictata" gelesen. Im Winter 1797/98 bediente er sich des schon bei der „Grundlage" von 1794 beobachteten Verfahrens: Er ließ den Stoff bogenweise für seine Vorlesungsstunden drukken und veröffentlichte das fertige Werk im Frühjahr 1798 unter dem Titel „Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre", versehen mit einer nachträglichen kurzen Einleitung, die als Meisterwerk an Konzentration die Hauptmomente seiner praktischen Philosophie umreißt. Im „Ersten Hauptstück" dieses Werkes geht es zunächst um das Prinzip der Sittlichkeit. Zu bestimmen und zu klären ist das rein selbständige - und dadurch auch selbstverantwortliche - Wirken des Ich. Das bedeutet als erstes die Untersuchung: Wie kommen wir überhaupt zum Gedanken eines „selbständigen" Ich? Fichte leitet den Leser zur Antwort durch ein kleines Experiment: Er soll „sich selbst, bloß als sich selbst, d.h. abgesondert von allem, was nicht [er] selbst ist", denken. Als freies Wesen wird er dies Experiment aber nur anstellen, wenn er es will. Führt er es aus, so ereignet sich damit dreierlei: 1. Er vollzieht den Gedanken seiner selbst, weil er dies will - 2. er identifiziert sieb mit dem Gedachten, weil anders das Gedachte nicht er selbst wäre - 3. er erkennt sich in diesem Selbstdenken als ein wollendes Ich, denn eben das ist er in dieser willentlichen Zuwendung zu sich selbst. Aus der vollzogenen Selbstbeobachtung ergibt sich: Wenn das Ich in der ausschließlichen Zuwendung zu sich selber von allem anderen absehen kann, so nicht von dem einen: seinem Wollen. Im Gegenteil - durch die ausschließliche Zuwendung zu sich selber wird ihm erst sein Wollen überhaupt rein sichtbar, genauer noch: Das Ich wird sich darin als Wille zu sich selber sichtbar. Dem Bewußtsein „sichtbar" sein, heißt wiederum: In „objektiver" Form erscheinen. So kann Fichte des weiteren sagen: Da das Denken ursprünglich kein „Objekt", sondern Lebensakt des Bewußtseins ist, ist das Wollen die einzige ursprünglich objektivierte Äußerung des Bewußtseins - es ist die vermittels des Denkens bewußt gemachte Selbsttätigkeit des Bewußtseins.
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Nun ist aber das Ich mehr als dies Objektivierte - es ist auch das unsichtbar Objektivierende. Darum muß zusätzlich noch von der Einseitigkeit dieser Objektivation eines konkreten Wollens abgesehen werden, damit das reine Selbstsein des Ich gedacht werden kann. Als Resultat dieser weiteren Operation ergibt sich: „Der wesentliche Charakter des Ich, wodurch es sich von allem, was außer ihm ist, unterscheidet, besteht in einer Tendenz zur Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen; und diese Tendenz ist es, was gedacht wird, wenn das Ich an und für sich ohne alle Beziehung auf etwas außer ihm gedacht wird." 1 Vor jedem bestimmten Wollen, das sich in einer realen Handlung manifestiert, liegt somit die reine Tendenz zur absoluten Tätigkeit. Schaut das Ich diese Tendenz an und identifiziert sich mit ihr, so setzt es sich als frei, d. h. es setzt sich als ursprüngliche Potenz zu einer „Kausalität". Und zwar zu einer schöpferischen Kausalität, deren Wirkungsform nicht als Glied einer vorausgehenden Kausalkette bestimmt ist, sondern die allein und ursprünglich durch ein Begriffsbild des Ich in Gang gesetzt - also „angefangen" - und geprägt wird 2 . Die spezielle Frage in der Grundlegung der Sittenlehre ist nun, wie das Ich sich seiner Tendenz zur Selbsttätigkeit begrifflich bewußt wird. Die Tendenz zur Selbsttätigkeit äußert sich zunächst als Trieb. Doch nicht als ein Trieb, der auf einen Teil des Ich, sondern der auf das ganze Ich gerichtet ist. Diese Gesamtausrichtung hat zur Folge, daß aus dem Trieb nicht ein Gefühl erfolgt, wie nach der in der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" dargelegten allgemeinen Regel zu erwarten wäre 3 . Die Existenz eines Gefühls setzt Abhängigkeit des Subjektiven von einem Objektiven voraus. Im Trieb zur unabhängigen Selbsttätigkeit ist jedoch der Sonderfall gegeben, daß eine solche Abhängigkeit gerade nicht statthat. Was erscheint dann als Folge dieses besonderen Triebes? Ein „reiner Gedanke, dem nicht das geringste von Gefühl oder sinnlicher Anschauung beigemischt sein kann". > SW IV, S. 1 8 - 2 9 . 2 SW IV, S. 3 0 - 3 5 . 3 Vgl. Grundlage 1794, § 7 - 1 1 .
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Dieser Gedanke ist „durch gar nichts außer sich, weder durch ein Sein, noch durch ein Denken, sondern absolut durch sich selbst bestimmt und bedingt. Er ist ein erstes, unmittelbares Denken". Durch dessen unbedingten Anfangscharakter wird das Denken überhaupt seiner Form nach absolut. Es ergibt sich von ihm aus eine Reihe, die schlechthin mit einem Gedanken anhebt, welcher selbst auf nichts anderes gründet und an nichts anderes angeschlossen wird. Er ist daher „principium" in der Wortbedeutung eines wirklichen „Anfangs", durch dessen Wesen alles von ihm Ausgehende bestimmt wird. Fichte legt diesen Gedanken in der Formel dar: „Das Prinzip der Sittlichkeit ist der notwendige Gedanke der Intelligenz, daß sie ihre Freiheit nach dem Begriffe der Selbständigkeit schlechthin ohne Ausnahme bestimmen solle." Er erläutert dazu: „Der Inhalt dieses Gedankens ist, daß das freie Wesen solle, denn Sollen ist eben der Ausdruck für die Bestimmtheit der Freiheit; daß es seine Freiheit unter ein Gesetz bringen solle; daß dieses Gesetz kein anderes sei als der Begriff der absoluten Selbständigkeit (absolute Unbestimmbarkeit durch etwas außer ihm); endlich, daß dieses Gesetz ohne Ausnahme gelte, weil es die ursprüngliche Bestimmung eines freien Wesens enthält." 4 Im „Zweiten Hauptstück" geht es im wesentlichen um die Möglichkeit der Erfolgskontrolle beim Befolgen des sittlichen Prinzips. Denn das unmittelbare Datum der sittlichen Forderung ist die Idee einer zu verwirklichenden Realität: „Ideen sind Aufgaben eines Denkens."5 Damit eine Erfolgskontrolle möglich ist, müssen verschiedene Momente erfüllt sein: 1. Das freie Ich muß die Aufgabe wirklich in Angriff nehmen - 2. es muß die Aufgabe tatsächlich lösen 3. die Lösung der Aufgabe muß ihm bewußt werden. Setzen wir beim 3. Moment an. Das Ich macht sich sein Handeln und dessen Resultat bewußt, heißt praktisch: das Ich reflektiert sein Handeln und dessen Ergebnis. Dabei genügt es nicht, daß das Ich sich lediglich das Resultat bewußt macht. Denn daß dies " SW IV, S. 3 9 - 5 9 . s SW IV, S. 65.
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Resultat tatsächlich von ihm und nicht von einem andern bewirkt ist, kann ihm nur sicher sein, wenn ihm sein gesamtes genetisches Verfahren vom Anfang bis zum vollendeten Ergebnis bruchlos bewußt ist. Daran wird deutlich, daß das sittliche Prinzip so, wie es in seiner unbedingten Allgemeinheit formuliert wurde, nur vom „absoluten Ich" erfüllt werden kann. Denn nur vom absoluten Ich ist denkbar, daß es schlechthin alles Erscheinende allein durch seine eigene Tätigkeit erzeugt. Für das individuelle Ich, das als eins unter vielen „vernünftigen Wesen seinesgleichen" lebt, ist die Erfüllung einer Forderung dieser Allgemeinheit undenkbar. Es kann unmöglich weder die reale Existenz der andern Individuen, noch die Außenwirklichkeit des interpersonalen Raums aus sich allein hervorbringen. Beide beschränken apriori die Freiheit des Individuums und sind insofern die „Widerstände", die sich einem schrankenlosen Freiheitsdenken des Individuums entgegenstellen. Diese vorgegebenen Widerstände haben jedoch nicht nur den negativen Charakter der „Hemmung", wie es der triebhaften Willensexpansion des Individuums erscheint, sondern transzendental wesentlicher den Charakter von „Reflexionsflächen". Eine Handlung, die vom Individuum nach „außen" geht, kann in ihrem beabsichtigten Erfolg ja nur wahrgenommen werden, wenn ihr „Reflex" zum handelnden Individuum zurückkehrt. Ein solcher Reflex kann aber nur entstehen, wenn etwas existiert, das eine „Rückmeldung" bewirkt. Von daher wird verständlich, weshalb Fichte im „Zweiten Hauptstück" eine relativ ausführliche Naturkonzeption entwirft. Denn nur unter ihrer Berücksichtigung kann er die Reflektierbarkeit sittlicher Handlungen erklären. Dabei wird zugleich deutlich: Wäre das sittliche Handeln allein auf empirische Reflexion angewiesen, um sich seiner selbst bewußt und sicher sein zu können, so müßte es über empirisch vollständige Naturerkenntnis verfügen. Damit wäre es jedoch in einem hoffnungslosen Zirkel gefangen: Denn alle seine Naturerfahrung ist immer Resultat seines erkennenden Handelns. Eine Erkenntnis, die sich erst als Folge einer Handlung einstellt, kann aber unmöglich in jenem
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Moment als Entscheidungsgrundlage dienen, in dem es um die Frage geht, ob und wie ihre erschließende Handlung ausgeführt werden soll. Das Ich muß darum, ehe es seine Handlung ausführt, zuverlässig ermessen können, ob dieses Geschehen und sein Resultat überhaupt „erfolgen" soll. Wie aber kann es eine noch gar nicht in Gang gesetzte Handlung auf ihren gleichfalls noch nicht existenten Effekt und seine Verantwortbarkeit überprüfen? Fichte setzt bei der Notwendigkeit an, daß auf jeden Fall im Ich selbst sich etwas tun muß, wenn durch das Ich in der Außenwelt etwas geschehen soll: „Meine Welt wird verändert" heißt zugleich „ich werde verändert" 6 . Nun hat das individuelle Ich selbst teil an der Natur, auch wenn es in seiner Gesamtheit mehr als nur Naturwesen ist. Darum kann es, noch ehe es auf die äußere Natur handelt, in sich selber prüfen, ob die geplante Handlung mit den Möglichkeiten der Natur überhaupt und speziell mit den Besonderheiten seiner eigenen Natur übereinstimmt - denn „der Grund des Zusammenhangs der äußeren Erscheinungen mit unserem Wollen ist der Zusammenhang unseres Wollens mit unserer Natur" 7. Im Individuum gibt es „ein ursprünglich bestimmtes System von Trieben und Gefühlen" 8 . Wir können alles, wozu wir die natürliche genetische Potenz haben. Schlechthin unmöglich ist uns dagegen, wozu uns die Natur „nicht treibt" - wozu wir keine entsprechende energetische und kreative Potenz haben - , „sondern wozu wir uns [illusionär] mit regelloser Freiheit der Einbildungskraft entschließen." Aber die natürliche Potenz zum Handeln ist noch keineswegs eine Garantie für die Sittlichkeit der Handlung, denn „wir vermögen ja auch unmoralische Entschließungen auszuführen". 9 Es muß daher neben der „natürlichen" Handlungspotenz noch eine andere Potenz des Bewußtseins geben, die allein sittliche Hand
Vgl. SW VII, S. 2 3 1 - 2 3 4 .
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drucks (-/-e) 2 — e , also eine negative endliche Größe. Eben eine solche Erscheinung aber haben wir in dem Hyperbelast vor uns, der in unserm Beispiel links vom Nullpunkt, also mit negativen x-Werten verläuft. Durch diese Überlegung wird denkbar, daß ein Reflexionsstrahl, der die potenzierte Unendlichkeit durchmißt, sich am andern Hyperbelast reflektiert, erneut die potenzierte Unendlichkeit durchläuft und zu seinem Ursprungspunkt zurückkehrt. Diesem Gedanken scheint das Argument entgegenzustehen, daß er dafür mehr als unendlich viel Zeit brauchen müßte. Aber dies Argument fällt in sich zusammen, wenn ein Reflexionsvorgang als solcher überhaupt keine Zeitdauer in Anspruch nimmt. Dann nämlich benötigt er auch für die Uberbrückung einer unendlich großen Entfernung ebenfalls keine Zeit. Was braucht dann aber „Zeit" unter dieser Annahme? Der Wechsel der ursprünglichen Ausrichtung des Reflexionsstrahls, sein Wandern von einem Punkt auf dem Hyperbelast zum nächsten Punkt. Damit erhalten wir eine für unsere gewohnten Vorstellungen zwar schwierige, aber in sich stimmige Analogiezuweisung: Der Hyperbelast ist Bild für die Zeit, die zur konkreten Verwirklichung des Sittengesetzes erforderlich ist - aber auch nur er, und keine andere Linie sonst in diesem hyperbolischen Analogiebild, ist Zeitbild. Alle anderen Linien sind Bilder für Relationen, die „außerhalb" der eigentlichen Zeit der Genesis liegen. Wir haben somit in der Tat, was wir zur Veranschaulichung der ethischen Reflexionsform suchten: ein Bild für den gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen dem Zeitmoment (veranschaulicht an der unendlich möglichen konstruktiven Realisierung des Hyperbelastes) - und den unzeitlichen apriorischen Momenten 69 der ethischen Gesetzmäßigkeit, repräsentiert in den andern Linien unseres Analogiebildes. Auch zeigt dies Analogiebild zur „Zeitformel" des ethischen Geschehens die Möglichkeit einer unabsehbaren Vielfalt indivi«» Vgl. SW IV, S. 227.
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duell verschiedener und unverwechselbarer „Freiheitsformeln", die dennoch alle demselben formalen Grundgesetz der ethischen Genesis entsprechen. Wir können die Konstanten a und b in der Hyperbelgleichung als Parameter der Individualität betrachten, die für jedes Individuum eigene, von allen übrigen wohlunterschiedene Größen ausmachen. Dann drückt jede solche Formel sowohl das allgemeine sittliche Verwirklichungsgesetz wie auch die absolut einmalige individuelle Konstanz in der Selbstverwirklichung eines jeden individuellen Bewußtseins aus 70 . IV. Religion 1. Der „Versuch einer Critik aller Offenbarung" (1792) Fichte verdankte seinen plötzlichen Ruhm in der gelehrten Welt seinem „Versuch einer Critik aller Offenbarung". In der Vorrede dazu schrieb er: „Dieser Aufsatz heiß't ein Versuch, nicht als ob man bei Untersuchungen der Art blind herumtappen und nach Grund fühlen müsse, und nie ein sicheres Resultat finden könne; sondern darum, weil ich mir noch nicht die Reife zutrauen darf, die dazu gehören würde, dies sichere Resultat hinzustellen." 1 Man kann diesen Satz in einem tiefen Sinne für Fichtes gesamte Erkenntnisarbeit am Thema der Religion bis 1813 in Anspruch nehmen. Und es berührt eigenartig, daß das letzte geschlossene Dokument seines Lebens - der Vorlesungstext zur sogenannten „Staatslehre" von 1813 - zum Hauptthema des Erstlingsbuches zurückkehrt und erst eigentlich das „sichere Resultat" nach zwanzigjährigem, innersten Reifungsprozeß erbringt. Von ihm aus enthüllt sich die kritische Frage nach der „Offenbarung" geradezu als die geheime Klammer von Fichtes philosophischem Lebenswerk. Gewiß bilden die „Eignen Meditationen zur ElementarPhilosophie" von 1793 die Grundlegung und den Eingang zu Fichtes Systemgebäude. Dennoch finden sich in dem unter einer Verkettung von äußeren Umständen und wirtschaftlicher Not zustande gekommenen, innerhalb eines Monats zu Papier gebrachten 70 1
Vgl. Widmann, Gedanken S. 476. SW V, S. 12.
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genialen Entwurf des „Versuchs einer Critik aller Offenbarung" nahezu sämtliche Problem- und Themenstellungen von Fichtes späterer Philosophie wie in einem Generalplan vereint. Die Schrift baut sich unmittelbar auf Kantische Denkpositionen auf - bei oberflächlicher Betrachtung scheint es sogar, als ob sie diese unbesehen übernähme. In Wirklichkeit leitet sie mit höchstem Scharfsinn jene für Fichte eigentümliche konstruktive Kritik an Kants Philosophie ein, die deren Aporien aus der tieferen Kraft der von Kant entdeckten transzendentalen Methode überwinden sollte. Das zeigt sich unmittelbar schon in der gedanklichen Ausrichtung des „Versuchs". Kant konnte nicht erklären, worin die erlebte Disharmonie zwischen empirischer Erfahrung und sittlicher Idee ihren transzendentalen Grund hatte; er versuchte ihn über den primär passiven Rezeptionsmechanismus des „Urteilens" in der Erfassung vorgegebener Verhältnisse aufzuklären. Fichte beschritt zur Lösung desselben Problems einen Weg, der anfangs nur geringfügig von Kant abzuweichen schien: Er zerlegte zunächst das Phänomen der existentiell erlittenen Disharmonie von Natur und Ideal analytisch und setzte bei der einfachen Beobachtung an, daß man an einer erfahrenen Disharmonie nicht leiden könnte, wenn es nicht eine ursprüngliche existentielle Sehnsucht nach Harmonie gäbe. Diese Sehnsucht spricht Fichte im Sprachgebrauch seiner Zeit als Drang nach „Glückseligkeit" an. Glück ist in dieser erstrebten Einheit der Anteil, der aus der sinnlichen Erfahrung stammt, aus dem undeduzierbaren Bereich der aposteriorischen Natur „zufällt". Seligkeit dagegen rührt aus der erlebten Ubereinstimmung mit dem apriorischen sittlichen Ideal. In der Sehnsucht nach leidensfreier Glückseligkeit liegt darum auch der Wunsch, die Natur so steuern zu können, daß sie mit unserem Ideal der Selbstverwirklichung übereinstimmt. Ein Wesen, das sowohl der absoluten Herrschaft über die Natur, als auch idealer Sittlichkeit fähig ist, könnte somit absolut „glückselig" sein. Nun sind wir Menschen erfahrungsgemäß nicht in der Lage, die Natur zu einer stets beglückenden Übereinstimmung mit unserer
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Sehnsucht zu bewegen. Jenes die Natur allmächtig beherrschende Wesen könnte jedoch dafür sorgen, daß uns dies Glück wunschgemäß zufällt. Daraus motiviert sich der „natürliche" Gottesbegriff der Menschen und ihr eigentümlicher Trieb zur „Religion" als Suche nach einem solchen Wesen, nach Verbindung mit ihm, ja nach Einwirkung auf dieses Wesen. Soll ein solches Wesen leisten können, was die Menschen in ihrer leidbestimmten Sehnsucht von ihm erwarten, so muß es zum einen „über" der Natur stehen, darf nicht seinerseits von ihr beherrscht werden oder gar einer ihrer untergeordneten Teile sein, sondern muß sie in freier Souveränität bestimmen und bewegen können. Zum andern muß es aber auch ein sittlich ideales Wesen sein - denn nur so kann von ihm vertrauensvoll erwartet werden, daß es gerecht ist, also der idealen Seligkeit des sittlichen Handelns das entsprechende Maß an realem Glück zukommen läßt. Beides, Allmacht über die Natur und vollkommene Sittlichkeit, muß überdies in ihm ursprünglich vereint sein: Natürliches und sittliches Handeln müssen bei Gott ungestört eines sein - ihre Harmonie muß „heil" sein, um die von den Menschen erlittene Disharmonie „heilen" zu können. Und so kann Fichte folgern: Soll die Sehnsucht nach Ubereinstimmung von Natur und Sittlichkeit erfüllbar sein, so muß es „ein ganz heiliges, ganz seliges, allmächtiges Wesen geben" 2 . Daran knüpft sich eine weitere Überlegung: Dieses Wesen muß alle Möglichkeiten des natürlichen Seins kennen, um sie sinngemäß einsetzen zu können; ebenso muß es alle sittlichen Ideale und alles reale Handeln der Menschen kennen, um beides gerecht beurteilen zu können. Darum „müssen wir Gott allwissend denken". Fast beiläufig fügt Fichte noch eine Überlegung hinzu, die in Wirklichkeit die ganze geschlossene Konsequenz dieses Gottespostulats aus den Angeln zu heben droht: Weil die Menschen, solange sie als „endliche Wesen endlich bleiben, [...] die völligste Congruenz der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit durch sich 2 GA 1,1, S. 20.
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selbst nie hervorbringen können", so muß Gott als unendlich gedacht werden, um den Menschen das vermitteln zu können; was allein dies Hindernis vor jener „Congruenz", die Endlichkeit; aufzuheben vermag: unendliche, ewige Existenz.3 Damit jedoch ist das Ausgangsmotiv des Gottespostulats, die Idee realer Entsprechung von Glück und sittlicher Leistung, praktisch in unendliche Ferne gerückt. Was aber wäre das für ein Gott, der den sinnlichen Lohn für sittliche Leistung, den er gewähren könnte, auf eine unbestimmte Zeit vorenthält? Gewährte er ihn nicht, obwohl er es nach dem Sittengesetz sollte, so wäre er ein unsittliches Wesen und in Wahrheit gar nicht der in der Idee gedachte und gesuchte Gott. Entspräche aber seine Realität der gedachten Idee, dann könnte das nur bedeuten, daß die Übereinstimmung von sinnlichem Glück und sittlicher Seligkeit gar keine sittliche Forderung ist - er würde sie ja kraft seiner sittlichen Vollkommenheit unbedingt erfüllen. Und genau diesem Gedanken korrespondiert nun jene andere Überlegung, die Fichte in den nächsten Jahren mit der äußersten Energie seines kritischen Denkens in allen Verästelungen ihrer Konsequenz verfolgt: Ein „Glück", das nicht unmittelbar aus dem eigenen sittlichen Tun entspringt, sondern Produkt eines fremden Wirkens ist, kann nur passiv hingenommen und erlebt werden - ist also letztlich immer nur „erlittenes" Glück. Damit aber zeigt sich, daß die Annahme einer passiven Beglückung auch in ihrer höchstmöglichen Form das Problem des Leidens keineswegs löst, sondern umgekehrt in seiner radikalsten Zuspitzung sichtbar macht: Dem höchstmöglichen „objektiven" Glück, das einem Menschen widerfährt, entspricht notgedrungen ein analoges Höchstmaß an Passivität, also an „subjektivem" Leiden. So ist unter der Oberfläche Fichtes „Critik aller Offenbarung" von fundamentaler Ratlosigkeit gegenüber dieser Konsequenz des Kantischen Gottesbeweises aus der „Kritik der praktischen Vernunft" geprägt. Nur verfällt Fichte nicht in die resignierte Distanz der skeptischen Kritiker Kants, sondern mobilisiert alle Denk3
SW V, S. 4 1 .
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energie, um einen konstruktiven Ausweg zu finden. Das schlägt sich in diesem seinem Erstlingsbuch vor allem in dem Bestreben nieder, die denkmöglichen Alternativen aufzusuchen und kritisch zu durchleuchten. Dabei zeichnet sich schon der spätere Weg seiner Absolutheitsphilosophie vor. Fichte erkennt klar, daß Kants Gottesbegriff auf der Absolutheit des Sittengesetzes gründet. Diese Absolutheit steht höher als die der theoretischen Vernunft, „weil der practischen Vernunft allerdings eine Machtgewalt über die theoretische" zuzuschreiben ist 4 . Ein so gedachter Gott ist dann letztlich identisch mit der Einheit der Vernunft, was eine „reine Vernunftreligion"zur Folge hat. Die praktizierende Einsicht in diese Vernunftreligion setzt allerdings „höchste moralische Vollkommenheit des Menschen [...] und völlige Freiheit" voraus. Ob dazu irgend ein Mensch fähig sei, ist „bei gegenwärtiger Lage der Menschheit gar nicht wahrscheinlich". Die Regel unter den Menschen kann darum allenfalls „Naturreligion" sein, die dem Menschen, der im Widerstreit von sinnlicher Neigung und Pflichtgefühl steht, durch die Idee eines sittlich vollkommenen Wesens „die Antriebe des Sittengesetzes verstärkt". Allerdings ist auch denkbar, daß Menschen derart von der Sinnlichkeit beherrscht sind, daß sie überhaupt „unfähig zur Vorstellung der Ideen" und damit der sittlichen Gesetze sind. In einer solchen Situation könnte das Sittengesetz nur noch von außen, also über die Sinne, an sie gebracht werden: Es müßte ihnen als eine „Offenbarung" durch andere Menschen gesagt werden, um sie dadurch anzuleiten, auf ihr eigenes Gewissen zu hören und zu lernen, „die Stimme der Pflicht vor dem Schreien der Neigung" zu vernehmen. Das wäre die notwendige Situation einer „Offenbarungsreligion". Insgesamt läßt sich von diesen drei denkmöglichen Arten von Religion sagen: „Die reine Vernunftreligion sowohl als die natürliche gründen sich auf Moralgefühl; die geoffenbarte hingegen soll selbst erst Moralgefühl begründen" 5 . • S W V , S. 49. 5 SW V, S. 84-106.
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Mit der Entdeckung und Ausarbeitung der „Wissenschaftslehre" war Fichte zunächst der Ansicht, daß jener Ubergang von der „Naturreligion" zur unmittelbaren Rückbindung an das Sittengesetz in einer „reinen Vernunftreligion", der ihm 1792 noch unwahrscheinlich war, vollziehbar geworden sei. Entbehrlich schien ihm damit auch ein „entäußerter" Gottesbegriff, d. h. die „Übertragung" der moralischen Gesetzgebung „in ein Wesen außer uns" 6 . Denn das „absolute Ich", wie es in der „Grundlage" von 1794 gedeutet wurde, ist die bloße Idee von der Absolutheit des Ich, der kein reales Ich „außer uns" entspricht; seine Realität soll vielmehr durch die Gesamtheit der realen Iche in einem unendlichen Prozeß der Gemeinschafts- und Einheitsbildung verwirklicht werden. In dieser ersten Phase der Wissenschaftslehre hat Fichte die Bedeutung der Religion vornehmlich in einer Propädeutik zur Sittlichkeit gesehen. Noch die „Sittenlehre" von 1798 nennt die Ethik die höchste Disziplin der angewandten Philosophie 7. Und wie dem Staate das Recht, so weist Fichte der Kirche die Beförderung der Sittlichkeit als ihre besondere Domäne zu. Dabei entspricht der entwicklungsbedürftigen „Notverfassung" eines geschichtsbedingten Staates das „Notsymbol" der Kirche, in dem sich ihre gemeinschaftliche Glaubensüberzeugung ausdrückt 8 . 2. Der Atheismusstreit
1798/99
Die Reduzierung der Religion auf das Phänomen der Sittlichkeit schlug sich sehr pointiert in einem beiläufig entstandenen Artikel „Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt-Regierung" nieder, den Fichte 1798 veröffentlichte. Dort heißt es: „Unsre Welt ist das versinnlichte Materiale unserer Pflicht; dies ist das eigentlich Reelle in den Dingen, der wahre Grundstoff aller Erscheinung. Der Zwang, mit welchem der Glaube an die Realität derselben sich uns aufdringt, ist ein moralischer Zwang. [...] Als das Resultat einer moralischen Weltordnung angesehen, kann 6
SW V, S. 55. ^ S W I V , S. 218. 8 SW IV, S. 241 f.
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man das Prinzip dieses Glaubens an die Realität der Sinnenwelt gar wohl Offenbarung nennen: Unsre Pflicht ist's, die sich in ihr offenbart. Dies ist der wahre Glaube. [...] Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines andern Gottes, und können keinen andern fassen. Es liegt kein Grund in der Vernunft, aus jener moralischen Weltordnung herauszugehen, und vermittelst eines Schlusses vom Begründeten auf den Grund noch ein besonderes Wesen als die Ursache desselben anzunehmen". Der wahre Glaube „wird construiert durch das Rechttun. Dieses ist das einzig mögliche Glaubensbekenntnis: fröhlich, und unbefangen vollbringen, was jedesmal die Pflicht gebeut, ohne Zweifel, und Klügeln über die Folgen." So kann auch nicht „zweifelhaft bleiben, daß der Begriff von Gott, als einer besondern Substanz, unmöglich und widersprechend ist." 9 Speziell die Passagen, aus denen diese Sätze entnommen sind, haben Fichte jenen Vorwurf des Atheismus eingetragen, der schließlich aus politischen Gründen zu seiner Entlassung in Jena führte. In seiner „Appellation an das Publikum" (1799) verteidigt sich Fichte: Wer wegen seiner Weigerung, Gott zu veräußerlichen, ihm sage, „du glaubst keinen Gott, sagt mir: Du bist zu dem, was die Menschheit eigentlich auszeichnet und ihren wahren Unterscheidungscharakter bildet, unfähig; Du bist nicht mehr als ein Tier." io Was aber ist unter „Gott" zu verstehen? Fichte bekennt, er müsse zur Beantwortung dieser Frage erst seine „Grundsätze noch weiter auseinandersetzen, noch tiefer begründen, noch eingreifender anwenden" 1 A n dem Fragment „Rückerinnerungen, Antworten, Fragen" von Anfang 1799 wird deutlich, daß Fichte für sich selbst jenen Teil seiner angewendeten Philosophie, der diese Frage und mit ihr den systematischen transzendentalen Topos der „Religion" zu behandeln hat, noch keineswegs zureichend erarbeitet hatte. Im Abdruck „Aus einem Privatschreiben", den Fichte im Januar 1800 veröffentlichte, heißt es hierzu: » SW V, S. 185-188. >° SW V, S. 194. " SW V, S. 200.
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„Ich habe ein Geschäft, das in seiner ganzen Bestimmtheit keiner vor mir übernommen hat, und das insofern etwas neues ist: ich habe es mit der Ableitung (Deduction) [der] Religion aus dem Wesen der Vernunft zu tun." 12 Die Erschließung dieses Bereichs wäre nach Fichtes Arbeitsplan im Anschluß an die Fertigstellung der „Sittenlehre" an der Reihe gewesen. Wie bei der „Grundlage" 1794 und der „Sittenlehre" 1798 wollte Fichte im Sommer 1799 nach einem Buchmanuskript über Religionsphilosophie lesen. Der Atheismusstreit und die Entlassung durchkreuzten dies Vorhaben nicht nur - beides verlieh seiner philosophischen Zuwendung zu den Grundfragen der Religion einen existentiellen Ernst, der in der Folge auch den Rahmen seiner subjektiven Zeitpläne zerbrach. Von jetzt an kehrte sich das Verhältnis um: Nicht Fichte griff, wie bei der Rechts- und Sittenlehre, nach diesem Thema das Thema der Religion ergriff ihn. 3. Die Absolutheit Gottes Das Schlüsselproblem, das kategorisch über die rein moralische Deutung des Religionsphänomens hinausweist, wird schon Anfang 1799 in den „Rückerinnerungen, Antworten, Fragen" umrissen: Auch die klarste Erkenntnis des Sittengesetzes sagt nur, was geschehen solle - aber sie vermag nicht zu verbürgen, daß es auch wirklich geschehe. Wer darum allein auf das Sittengesetz baut, kann nie wissen, ob sein sittliches Handeln außerhalb seiner subjektiven Individualität auch tatsächlich bewirkt, was es bewirken soll. Ohne eine zusätzliche Erkenntnisquelle, die ihm in derselben unmittelbaren Gewißheit wie das Sittengesetz begegnet, kann er lediglich glauben, daß sein sittliches Handeln den erwünschten Erfolg hat, aber er kann es nicht wissen. Alles ethische Wollen und Handeln ist darum in seiner Wurzel von einem unreflektierten Glauben an seine effektive Sinnbaftigkeit getragen. Diesen Glauben zu reflektieren und in Wissen zu verwandeln, stellt für Fichte die ureigenste Aufgabe der religiösen Erkenntnis dar. 12
SW V, S. 386.
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Fichte formuliert 1799 den sinntragenden und sinngebenden Glauben alles ethischen Handelns so: „Ich und alle vernünftigen Wesen und unsere Verhältnisse zueinander [...] sind durch ein freies, intelligentes Prinzip erschaffen, werden durch dasselbe erhalten und unserem Vernunftzwecke entgegengeführt; und alles, was nicht von uns abhängt, um jenen höchsten Zweck zu erreichen, geschieht, ohne all unser weiteres Zutun, durch die weltregierende Macht desselben ohne allen Zweifel." 13 Diese Überlegungen breitet Fichte eindringlich aus in der „Bestimmung des Menschen", die er 1800 veröffentlicht. Ihre Einteilung in drei „Bücher" hat die bezeichnende Überschriftenfolge „Zweifel - Wissen - Glaube". Das dritte Buch „Glaube" kann man in gewisser Weise als einen ersten geschlossenen Entwurf zu der geplanten Religionslehre ansehen. Die „außerhalb aller endlichen Wesen liegende Kraft", durch die „ein moralischer oder intelligibler Zusammenbang, oder System, oder Welt"14 bewirkt und gesichert wird, ist hier gefaßt als „ein Wille, der rein und bloß als Wille wirkt, [...] der absolut durch sich selbst zugleich Tai ist und Produkt, [...] auf den man sicher und unfehlbar rechnen kann, [...] in welchem der gesetzmäßige Wille endlicher Wesen unausbleibliche Folgen hat; aber auch nur dieser ihr [ethischer] Wille; indem er für alles andere unbeweglich, und alles andere für ihn so gut als gar nicht vorhanden ist" 15. Streng genommen war mit der Aufdeckung des sinntragenden Glaubens der Ethik aber erst der transzendentale Ansatz der Religionslehre exponiert. Denn in der durchdringenden Reflexion zeigt sich, daß dieser Glaube den Sinn des ethischen Handelns nicht ursprünglich erzeugt, sondern nur ursprünglich und anfänglich vermittelt: Die ethische Tat kommt nicht dadurch zu sinngemäßem Erfolg, daß das Individuum dies glaubend erhofft, sondern allein dadurch, daß die geglaubte außerindividuell wirkende Macht effektiv existiert. '3 SW V, S. 366. i" SW V, S. 392. 's SWII, S. 297 f.
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Der Glaube an eine Macht, die sich des realen Erfolgs ihres Tuns absolut gewiß ist, erschließt somit zugleich ein Bild absoluter Gewißheit. Der sinngebende Glaubensakt zeigt sich daran als der Vorgang, der diese absolute Gewißheit zwar nicht erschafft, wohl aber ursprünglich sichtbar macht. Der Urglaube weist über sich hinaus auf eine Realität, in der er selber „aufgehoben" ist: Gott wäre anthropomorph gedacht, würde man annehmen, daß er wie der Mensch einen realen Erfolg, eine ihr Ziel absolut sicher erreichende Durchführung seines Wirkens nur glaubend erhoffen könne - Gott muß vielmehr so gedacht werden, daß er sich der Wirkung seines Tuns unmittelbar und absolut gewiß ist. Fichte wendet sich von daher zwischen 1800 und 1805 mit äußerster Konsequenz der Untersuchung jener Idee zu, in der sich der Sinn des Glaubens birgt: der Idee des absoluten Wissens. Einen tiefschürfenden und auch applikativ weit ausgreifenden Ausdruck finden diese Bemühungen im Vortrag der Wissenschaftslehre von 1801/02. Doch treibt die innere Konsequenz Fichte über die Reflexion des absoluten Wissens hinaus zur Frage nach dem Absoluten überhaupt. Die Antwort, wie das Absolute sich darstellt, erhält ihre klassische Form in der WL 1804 2 : als „esse in mero actu" - als lebendiges „sein" 16 . Das Wissen muß „sein", soll es absolute Gewißheit haben können. Das Ich muß „sein", soll es sich reflexiv als Selbstbewußtheit fassen können. Der Anspruch des Sittengesetzes muß „sein", damit er als absolut vernommen werden kann. Ja alles, was wahrgenommen wird, muß „sein", damit es in der Wahrnehmung und für die Wahrnehmung erscheinen kann: Die Erfahrung muß „sein", die Ideen müssen in der Bewußtheit „sein" - die Akte des Wahrnehmens und Erkennens müssen selber „sein", damit sich überhaupt Bewußtheit konstituieren kann. An dieser Aufzählung wird aber auch deutlich, als was sich die Absolutheit nicht darstellt: als das Seiende. Das Absolute läßt sich vielmehr nur begreifen als das stets unsichtbare, rein lebendige „sein" alles sichtbaren und denkbaren Seienden. Es ist das, SW X, S. 206.
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wodurch die Existenz und die Erscheinung eines Seienden überhaupt möglich wird. Anders läßt es sich nicht beschreiben. Aber auch diese Beschreibung ist nur die Beschreibung der Unmittelbarkeit seiner Erscheinung. Was das Absolute „jenseits" und „vor" seiner Erscheinung ist, bleibt schlechthin unbegreiflich und unbeschreibbar. Doch selbst diese Unbegreiflichkeit ist nicht eine „Eigenschaft" des Absoluten, sondern nur der Reflex des unsinnigen subjektiven Versuches, das Absolute ohne seine Erscheinung, d.h. ohne daß es in der Erkenntnis und für die Erkenntnis „erscheint", erkennen zu wollen. In seiner Erscheinung ist das Absolute, genau gedacht, das unendlich Begreifliche: Es ist die Realität, die das lebendigste und höchste Begreifen in alle Ewigkeit nicht auszuschöpfen vermag. Bei allem endlich Begreifbaren kommt das Begreifen irgendwann zu einem Punkt, wo es alles begriffen hat, was daran zu begreifen ist - bei der Erscheinung Gottes nie. Und weil Gottes „sein" immer an Seiendem erscheint, wird auch das endlich Begreifbare der Erscheinung nie aufhören: Es wird in alle Ewigkeit stets neu zu Begreifendes, vorher noch nie Begriffenes, stets neue, vorher noch nie dagewesene konkrete Erscheinungen geben. In der Wissenschaftslehre vom Sommer 1805 vertieft Fichte mit großem Ernst eine andere Konsequenz: Da das Absolute der Eine Möglichkeitsgrund aller Erscheinungswirklichkeit ist, wäre eine reale Trennung zwischen Absolutem und seiner Erscheinung radikal wirklichkeitsvernichtend. Die gedanklich trennende Unterscheidung zwischen Absolutem und seiner Erscheinung kann daher nur den Sinn haben: Zu erkennen, daß das Absolute unendlich mehr ist als seine Erscheinung - die Erscheinung umgekehrt absolut nichts wäre, wollte sie ihre Bindung an das Absolute (ihre re-ligio) lösen. Alles, was die Erscheinung je „sein" kann, ist sie nur, sofern sie Erscheinung des Absoluten ist - aber nicht, sofern sie lediglich und allein Erscheinung ihrer selbst sein will. Das hat höchsten Sinn für die Freiheit des individuellen Ichs: Ihr ist anheimgestellt, Erscheinung der Wirklichkeit und Wirksamkeit Gottes - oder bloße Erscheinung ihrer selbst zu sein. Im ersten Fall ist sie Verwirklichung ihrer absoluten Seinsmöglich-
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keit - im andern Fall ist sie effektive Vernichtung ihrer Seinsmöglichkeit und damit reale Zerstörung ihrer vorgegebenen Daseinswirklichkeit. Aber worin besteht die unlösbare Verbindung zwischen Absolutem und Erscheinung? An dieser Frage gerät die W L 1 8 0 5 in nihilistische Aporien, denn sie sucht den Verbindungsgrund in der Dialektik von Sein und Nichts zu finden. Die Lösung bringt erst jene Berliner Vortragsreihe von 1806, die Fichte ausdrücklich als die Darstellung seiner „Religionslehre" bezeichnet: „Die Anweisung zum seeligen Leben".
4. Die Religionslehre
(1806)
Die Grundbedingung der Religion läßt sich sehr einfach ausdriikken: Die individuelle Freiheit kann an Gott nur dann ein absolutes Interesse haben, wenn Gott an ihr ein absolutes Interesse hat. Wiederum muß dies absolute Interesse Gottes schlechterdings vorausgehen und unabhängig davon sein, ob die Freiheit es reflektiert und erwidert. Damit sammelt sich das Grundproblem der Religion in der Frage: Wie wird dies absolute Interesse Gottes an ihm und seiner Freiheit vom einzelnen Menschen wahrgenommen? Als Liebe. Diese Liebe ist der Hauptgedanke und ihre Erhellung das Hauptthema in Fichtes Anweisung zum seeligen Leben", die man als eines der reifsten und tiefsten Werke der gesamten Literatur der Menschheit bezeichnet hat. Die Liebe ist nicht nur der tiefste Inhalt, sondern auch der Eine Beweggrund der wahren Religion. Die Liebe ist dasjenige, wodurch das absolute Sein übergeht in absolutes und unendliches Leben. Sie macht die erfüllende Wahrheit dieses unendlichen Lebens aus. Sie ist die Quelle der Genesis, ist der „Ursprung", aus dem alle je mögliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit entspringt und auf den sie zurückbezogen ist. Darum ist die Liebe „höher denn alle Reflexion", in der die entsprungene Mannigfaltigkeit ihre Gestalt gewinnt. Und indem die Liebe nicht auf diesen Ursprungspunkt beschränkt bleibt, sondern „mit und neben der Reflexion ausbricht", ist ihre unmittelbar lebendige Wahrnehmung nicht an eine vollendete Reflexion gebunden, sondern
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ereignet sich schon als erkennender Anfang aller Reflexion und begleitet alles Werden in der Reflexion und für die Reflexion 17. Sie ist - „endlich klar ausgesprochen" - sogar „höher denn alle Vernunft, und sie ist selbst die Quelle der Vernunft, und die Wurzel der Realität, und die einzige Schöpferin des Lebens, und der Zeit" 's. So ist sie auch die tiefste Triebkraft unserer Sehnsucht sowohl als unseres Handelns. Das wahrhafte Handeln entfließt „der Liebe, so wie das Licht der Sonne zu entfließen scheint, und so wie der inneren Liebe Gottes zu sich selbst die Welt wirklich entfließt". Deshalb ist es letztlich auch „durchaus vergeblich, dem der nicht in der Liebe ist, zu sagen: handle moralisch; denn nur in der Liebe geht die moralische Welt auf, und ohne sie gibt es keine". Aber gerade darum gilt auch umgekehrt: Wenn „jemand nicht handelt, so liebt er auch nicht. [...] Wer da sagt, ich liebe Gott, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner", ein bloßer „Phantast", und die Liebe „ist nicht die Wurzel seines wahren Lebens, sondern er mag sie sich höchstens nur vorbilden".19 Deshalb ist „von dieser religiösen Menschenliebe nichts entfernter, als jenes gepriesene [...] alles gut sein lassen" - das ist vielmehr „absolute Flachheit, und innere Zerflossenheit eines Geistes, der weder zu lieben vermag, noch zu hassen". Alle geistige Wahrnehmung vollzieht sich durch Reflexion, und „der eigentümliche Affekt der Reflexion ist Billigung oder Mißbilligung, [...] die um so leidenschaftlicher wird, je liebender der Mensch überhaupt ist". Während die verbrämende Teilnahmslosigkeit „nur armes Sünderwerk ist", formiert sich aus dem „Fanatismus der Verkehrtheit, welcher [...] alles ebenso nichtswürdig zu machen strebt, als er selbst ist", die Idee des „Teufels", das personifizierte Idol „des von sich selbst Begeisterten, [...] den jeder Anblick eines Bessern
" SW V, S. 5 4 0 ; vgl. auch Widmann, Grundstruktur S. 2 0 6 - 2 0 8 . is SW V, S. 541 f. >9 SW V, S. 5 4 4 f.
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außer ihm innig empört und zum Haß aufreizt" und der will, daß ihm „von allen Seiten und in allen Richtungen ewig fort nur das Bild seiner eigenen Nichtswürdigkeit entgegenstrahle". Dieser aktive Haß auf das Gute stammt letzten Endes „aus Neid", weil man „selbst es nicht an sich zu bringen vermag". 20 Diese Zitate entstammen der zehnten Vorlesung, in der Fichte die zentralen Elemente seiner Religionslehre „in Einem Blick" zusammenfaßte. Er empfand die „Anweisung zum seeligen Leben" selber als einen „Gipfel und hellsten Lichtpunkt" seiner „unablässigen Fortbildung an derjenigen philosophischen Ansicht, die [ihm] schon vor dreizehn Jahren zuteil wurde" 21 . Fichte hat in der ihm verbliebenen Lebensspanne keine ähnlich umfassende Darstellung seiner Religionslehre mehr gegeben. Hätte er dazu Anlaß gehabt? Der grandiose Gedankenbau der „Anweisung" ist keineswegs an allen Stellen so stimmig, wie ihn Fichtes geniale Sprach- und Formkunst erscheinen läßt. Das tritt vor allem an zwei Problemkreisen heraus. Der erste zeichnet sich hinter einer seltsamen Beobachtung ab. Wie Fichte in den „Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre" von 1805 äußerte, ist die „Gotteslehre in gewisser Beziehung gleich Wissenschaftslehre" 22 . Trotzdem spielt in den späteren Durchdringungen der Wissenschaftslehre mit ihrer Gotteslehre der Begriff der Liebe nicht entfernt die Rolle, die man nach seiner Exposition in der „Anweisung" erwarten sollte. Dafür gibt es in der „Anweisung" wohl eine formale Erklärung: Sein, Leben und Liebe sind lediglich unterschiedliche Ausdrücke für die eine, ungeteilte Realität des Absoluten 23 . Liebe ist dabei der angemessene Ausdruck auf dem „Standpunkte der Religion", der vierten Stufe der menschlichen Geistesentwicklung. Auf dem abschließenden fünften Standpunkt wird für die Vernunftwissenschaft „genetisch, was für die Religion nur ein absolutes Faktum 20 S W V, S. 5 4 5 - 5 4 7 . S W V, S. 3 9 9 . 2 2 Fichte-Nachlaß Preußische Staatsbibliothek, Kasten III, 9, p. 2r. « S W V, S. 4 0 1 - 4 0 3 . 2>
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ist", denn dieser „hebt allen Glauben auf und verwandelt ihn in Schauen". 24 Es wäre daher formaliter plausibel, wenn Fichte auf diesem, der Wissenschaftslehre eigenen Standpunkt statt des religiösen Ausdrucks die scientifischen Ausdrücke Sein und Leben zur Kennzeichnung der absoluten Realität gebraucht. Aber Sein, Leben und Liebe sind ja nicht einfach nur unterschiedliche Wortausdrücke, sondern Bezeichnungen für real unterschiedene Phänomene im Bewußtsein. Als solche können sie unmöglich einfach identifiziert werden, sondern müssen philosophisch sowohl in ihrer spezifischen Differenz wie in ihrem spezifischen Verhältnis zueinander beschrieben werden. Daß dazu im „populären" Rahmen der „Anweisung" kein Anlaß war, ist verständlich - daß Fichte diese transzendentale Durchklärung nicht nachgeholt hat, bleibt allerdings unverständlich. Fast sieht es so aus, als habe Fichte die Lösung für eines der schwierigsten Probleme seiner Absolutheitsphilosophie in der Hand gehalten und unerkannt wieder beiseite gelegt. Die Liebe ist nämlich eben jenes Phänomen, durch das die unlösbare Verbindung von absolutem Sein und absolutem Leben, auf der Fichtes ganze Philosophie gründet, in ihrer Notwendigkeit und Struktur unmittelbar einsichtig wird: Die Liebe kann nicht ohne Liebendes und Geliebtes gedacht werden. Ist darum das Sein Gottes in seinem Wesen Liebe, so liegt in dieser Liebe der bewegende Grund für die Äußerung Gottes, die Genesis der Erscheinung, zu der sich das Sein Gottes verhält wie das Liebende zum Geliebten. Das absolute Leben ist der göttliche Existentialakt, der seinen Grund im absoluten Sein der göttlichen Liebe hat. Mit dieser systematischen Integration des Liebesbegriffs in die Wissenschaftslehre in specie würde sich auch eine andere Schwierigkeit Fichtes heben: Der Begriff des absoluten Seins ist nicht nur „gleichgültig" gegenüber dem Seienden, sondern - wie es am radikalsten in der WL 1805 durchbricht - in seiner Reinheit auch „vernichtend" für alles relative Sein bis hin zum Dasein des absoluten Wissens selber. Ganz anders beim Begriff der absoluten Liebe: Sie hat ein absolutes Interesse am Dasein des Geliebten, ist SW V, S. 470-472.
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Erschaffung und Erhaltung seiner Existenz. Durch sie erhält die Relativität des Geliebten wie auch dessen Besonderheit absoluten Wert. Sein und Leben sind als Begriffe vergleichgültigende Elemente des Bewußtseins - eine transzendentale Deduktion des Besonderen läßt sich darum nicht durch sie, sondern allein durch die dargelegte besondere Struktur des Liebesbegriffs führen. Damit hängen Fichtes Schwierigkeiten in der Deduktion der Individualität - des schlechthin Besonderen der einzelnen menschlichen Existenz zusammen. Fichte geht in der „Anweisung" auf das Phänomen der Individualität unter zwei Aspekten ein: In der neunten Vorlesung befaßt er sich mit ihrer allgemeinen Verankerung in seiner Absolutheitsphilosophie; in der sechsten Vorlesung sucht er die Ubereinstimmung seiner Religionsphilosophie mit dem Christentum vor allem durch die transzendentale Rechtfertigung der absoluten Besonderheit Jesus von Nazareth als des „eingebornen und erstgebornen Sohnes Gottes" darzutun 25 . Zum eigentlichen inneren Zusammenhang beider Aspekte dringt er jedoch erst 1813 durch. 5. Der Sohn Gottes Fichte hatte sich in den „Grundzügen" von 1805 für die wesentliche Übereinstimmumg zwischen Wissenschaftslehre und Christentum auf den Evangelisten Johannes bezogen 26 . Er bekräftigt in der „Anweisung", insbesondere der Prolog dieses Evangeliums sei „anzusehen als der Auszug und der allgemeine Standpunkt aller Reden Jesu", als „der Geist und die innigste Wurzel von Jesu ganzer Lehre" 2 7 . Philosophisch stellt sich Fichte der Gehalt der ersten drei Verse dieses Prologs so dar: „Ebenso ursprünglich als Gottes inneres Sein ist sein Dasein, und das letztere ist vom ersten unzertrennlich, und ist selber ganz gleich dem ersten: und dieses göttliche Dasein ist in seiner eigenen Materie notwendig Wissen: und in 25 s w V, S. 4 8 4 . 26 7. und 13. Vorlesung. " SW V, S. 4 7 8 f.
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diesem Wissen allein ist eine Welt, und alle Dinge, welche in der Welt sich vorfinden, wirklich geworden." 2 8 Das christliche Dogma, daß „jenes absolut unmittelbare Dasein Gottes, das ewige Wissen oder Wort" mit Jesus von Nazareth „in einem persönlich sinnlichen und menschlichen Dasein sich dargestellt" hat, deutet Fichte dahin, daß „die Einsicht in die absolute Einheit des menschlichen Dasein mit dem göttlichen" absolut erstmalig in Jesus sich vollzogen hat, und er dadurch der „erstgeborne Sohn Gottes ist". 1806 sieht Fichte darin zwar einen historisch-faktischen Zusammenhang mit der Wissenschaftslehre, denn wir alle wären nicht, „was wir sind, wenn nicht dieses mächtige Prinzip in der Zeit vorhergegangen wäre" - gleichwohl gilt für ihn, „daß der Philosoph [ . . . ] ganz unabhängig vom Christentume dieselben Wahrheiten findet" 2 9 . Das ändert sich wesentlich, als Fichte sich 1813 erneut und vertieft mit dem Verhältnis der Wissenschaftslehre zum Christentum befaßt. In der „Anweisung" hatte er sich damit begnügt, es als ein „ungeheures Wunder" hinzunehmen, wie Jesus ohne jede äußere Anleitung als erster „die tiefste Erkenntnis, welche der Mensch erschwingen kann" 3 0 , fand. 1813 fragt er sich, inwiefern überhaupt in transzendentalem Sinne von einem „Wunder" geredet werden kann. Wunder im gewöhnlichen Verständnis, daß Naturgesetze auf mirakulöse Weise von Gott außer Kraft gesetzt würden, lehnt Fichte entschieden ab. „Gottes Erscheinen ist kein Probieren und Versuchen", seine Gesetze brauchen darum nicht nachträglich geändert und korrigiert zu werden 3 1 . Etwas ganz anderes ist jedoch die prinzipielle Möglichkeit der genetischen Freiheit, innerhalb der Natur und ihrer Gesetze ursprünglich etwas anzufangen, was dort zuvor nicht existent war. Die Existenz dieses Neuen muß dem, der nur die Natur und 28 29 30 31
SW V, S. 4 8 1 . SW V, S. 4 8 2 - 4 8 5 . SW V, S. 4 8 3 , 4 8 4 . S W I V , S. 471.
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ihre Gesetze kennt, als ein Wunder erscheinen. Aber dieses Neue tritt nicht durch einen gesetzlosen Willkürakt ein, sondern verdankt sich den ewigen Gesetzen des „göttlichen Weltplanes zur sittlichen Bildung des Menschengeschlechts" 32 . Auch erscheint es nicht als Naturereignis, sondern in der Form der „Idee": als neues und höheres Zielbild für die sukzessive Genesis der Freiheit. Seine Auswirkung auf die Natur ergibt sich erst dadurch, daß die individuelle Freiheit sich zur realen Verwirklichung dieser Idee entschließt. Dabei handelt die Freiheit nicht gegen die Naturgesetze, sondern bedient sich ihrer. Will man diese Erschließung neuer genetischer Möglichkeiten innerhalb der Geschichte im Blick auf ihre absolut über-natürliche Wurzel als Wunder bezeichnen, so gibt es zwei Arten von Wunder als Manifestationen der göttlichen Erscheinung: 1. Jenen Anfangsimpuls, der die Entwicklung der Freiheit beginnen ließ 2. das Auftreten neuer Freiheitsziele, „um die Erhaltung und Vervollkommnung des Menschengeschlechts auf alle Ewigkeit zu sichern". Das erste Wunder ist ein für allemal geschehen, „und seit der Zeit ist die Entwicklung der Freiheit eingetreten in ihren natürlichen Gang. Das letztere Wunder dauert fort, so daß [...] von Zeit zu Zeit Äußerungen desselben in der Menschengeschichte vorkommen mögen". 33 Das Hauptwunder war dabei nicht der Anfangsimpuls, der nur die Voraussetzung zur eigentlichen Freiheitsverwirklichung schuf, sondern das Erscheinen des vollkommenen Menschenbildes mit Jesus von Nazareth. Seine Vollkommenheit besteht in der Vollkommenheit seines Verhältnisses zu Gott. Das absolut Neue gegenüber allem früheren menschlichen Verhalten zu Gott besteht darin, daß er diese Vollkommenheit lebt - sie nicht nur erhofft und erstrebt, wie andere vor ihm. Durch diesen Einklang seines Lebens und Wollens mit Gott lebt Gott und Gottes Wollen unmittelbar in ihm. Darin besteht das zentral Vorbildhafte seiner Existenz für alle andern Menschen: Er weiß unmittelbar, worin die Einheit des Menschen mit Gott besteht, und vermag darum als ursprünglich erster und anfänglich 32 SW IV, S. 466. 33 SW IV, S. 472.
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einziger, dieses Wissen den andern Menschen zu vermitteln und ihnen dadurch zum selben vollkommenen Verhältnis zu Gott zu verhelfen. Verwirklichen muß jeder Mensch sein vollkommenes Verhalten zu Gott in freier Entscheidung und eigenem Tun selber. Aber keiner könnte dies ohne das Wissen, das mit Jesus von Nazareth in die Realität der Interpersonalität eintrat. Insofern ist Jesus der absolute „Mittler" zwischen Menschheit und Gott. Im lebendigen Einklang mit Gott erfüllt sich durch Jesus auch erstmals der absolute Sinn der individuellen Existenz: nicht bloß Erscheinung und Produkt der Naturwirklichkeit, sondern Erscheinung, Bild des Daseins Gottes zu sein. Dadurch verwandelt sich der natürliche Begriff des „Sohnes" in die Bezeichnung für die Selbstdarstellung des göttlichen Bewußtseins in einem und durch ein individuelles Bewußtsein. Erst dadurch erfüllte sich in einem geschichtlichen Akt die natürliche Existenzform menschlicher Individualität mit absolutem Wert und absoluter Bedeutung. 34 Gerade diese Deutung war 1806 noch unzugänglich gewesen. Ohne die - erst 1813 vollzogene - Annahme eines eigenständigen, für sich realen göttlichen Verstandes konnte Fichte das einzelne Bewußtsein der Individuen nur als Mittel zum unendlichen Werden eines absoluten Verstandes interpretieren. Die zentrale Aporie dieser Interpretation hing nicht etwa am Gedanken der Unendlichkeit, sondern lag an ganz anderer Stelle: Eine Existenz, die selber nicht absoluter Zweck, sondern absolut nur Mittel eines solchen Zwecks ist, kann in sich die Idee eines absoluten Zwecks gar nicht fassen - und darum a priori niemals auf den Gedanken kommen, ihn zu realisieren, geschweige denn dies in unendlicher Anstrengung zu erreichen suchen. Auf der neuen Basis von 1813 dagegen kehrt sich das Verhältnis vom Unmöglichen zum Möglichen um: Der göttliche Verstand ist absolute Wirklichkeit und hat sich von Ewigkeit her verstanden. Damit ist in Fichtes Philosophie von den Individuen die unmögliche Aufgabenlast genommen, den göttlichen Verstand in unendlicher gemeinsamer Anstrengung zu erschaffen. Statt dessen stellen sie sich nun als ursprungshaft frei dar, sich selber - in ihrer Vgl. Widmann, Grundstruktur S. 2 0 9 .
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individuell-unverwechselbaren Besonderheit wie in ihrer vollkommen lebendigen Gemeinschaft - so zu verstehen und zu verwirklichen, wie sie von Ewigkeit her in ihrer Idee und ihren unendlichen genetischen Möglichkeiten durch den absoluten Verstand des göttlichen Daseins verstanden sind. 6. Die Realität des Himmelreichs Die Erscheinung von Jesus als der „Hauptperson" der Geschichte erschöpft sich nicht in der absoluten Freisetzung der Individualität. Diese ist vielmehr Bedingung wie Folge seiner absoluten Aufgabe, „Stifter des Himmelreichs" zu werden: „Die Offenbarung dieses Reiches, die Einladung, Glieder desselben zu werden, und die allgemeine Anweisung, wie dies zu machen, das ist das Wesen des Christentums, sein absoluter, ewiger, von der Zeit unabhängiger Zweck für alle Zeit." 35 Was ist darunter zu verstehen? „Himmel" ist für Fichte kein räumlicher Gegensatz zur Erde oder zum Kosmos. Auch kann darunter kein Zeitabschnitt verstanden werden, der einer irdischen Zeit voranging oder nachfolgen wird. In Zeitbegriffen kann der Unterschied nur so ausgedrückt werden, daß „Himmel" das Ganze der Unendlichkeit umgreift, die alle endlichen Zeitereignisse nicht bloß umschließt, sondern ebenso durchdringt. Himmel ist streng verstanden bei Fichte überhaupt kein Ausdruck für einen Teil der Gesamtwirklichkeit, sei dieser noch so hoch und erhaben gedacht - sondern die Bezeichnung für die Wahrheit der einen Erscheinungswirklichkeit, außer der es überhaupt keine andere Wirklichkeit gibt. Wer darum zum „Himmelreich" durchdringt, der dringt nicht zu einer andern Wirklichkeit, sondern zur Wahrheit der Wirklichkeit durch. Es ist darum weder eine Frage ferner Zukunft noch eines fernen Ortes, „Bürger des Himmelreichs" zu sein - „dies kann jeder werden zur Stunde"! Und was bedeutet in diesem Zusammenhang „Reich" ? Auch das ist für Fichte kein topographischer, sondern ein interpersonaler Begriff, der allein durch den lebendigen Zusammenschluß „vernünftiger Wesen" zu einem Gemeinwesen konstituiert wird. Das 35 SW IV, S. 534 und 538.
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zu beachten hat außerordentliche Konsequenzen: Der „Himmel" ist nicht schon an sich ein „Reich", sondern er wird zu einem „Himmelreich" erst dadurch, daß er „Bürger" hat, die dieses Reich bilden. Mit der Sprache der Philosophie: In der einen, ungeteilten, ewigen Wahrheit der Wirklichkeit existiert ein „Reich" nur dann, wenn es durch die Freiheit der „vernünftigen Wesen" verwirklicht wird. Jesus nun war für Fichte der erste, der voll und ganz aus und in der Wahrheit der Wirklichkeit lebte: darum war er der „erste Bürger" des „Himmels". Zu einem „Reich", also zu einer Gemeinschaftsform, machte er den Himmel, die wahre Wirklichkeit, dadurch, daß er andere Menschen für die Erkenntnis und das Leben in der Wahrheit der Wirklichkeit gewann. So wurde er, der ursprünglich Einzige, der wahrhaft existierte, zum „Stifter" des Himmelreichs. An diesem Punkt wird sehr direkt der Inkarnationszusammenhang einsichtig, der diese Überlegungen durch Fichtes Annahme eines nicht nur idealen, sondern zugleich ebenso realen „göttlichen Verstandes" durchdringt: Der „göttliche Verstand", der Logos des Evangelisten Johannes, ist die einzige Verstandesrealität, in der von Ewigkeit her und gleichursprünglich der „Himmel", die Wahrheit der Wirklichkeit, vollkommen verstanden ist. Nur er konnte darum die absolute Wahrheit an den „unentwickelten Verstand" der endlichen vernünftigen Wesen vermitteln und in dieser Vermittlung der „Stifter" des einzig möglichen „wahren" Reiches, des „Himmelreiches" werden. Darum ereignete sich diese Inkarnation auch „nur einmal in der Zeit und wiederholt sich nicht". Die Gewißheit und Sicherheit der absoluten Wahrheit äußert sich mit darin, daß sie keine „Probe" geschweige denn eine „verfehlte" - braucht 36 : Was sie bewirken wollte und sollte, hat sie erreicht. Die Genesis des Reiches der Wahrheit, des „Vernunftreiches", ist durch sie ein für allemal begonnen und vollzieht sich seitdem unaufhaltsam. An der Kontinuität dieser Genesis offenbart sich ein weiterer Aspekt des göttlichen Daseins: die „Dreiheit in Einheit des erscheinenden Gottes". «
SW IV, S. 542.
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Gott ist in seinem Wesen jenseits aller Vielfalt der Erscheinung absolute, ungeteilte Einheit. Dieser Aspekt seiner absolut-ungeteilten Singularität offenbart sich innerhalb der Vielfalt der Erscheinungswelt und ihrer relativen Formen durch die singulare In-dividualität des Sohnes Gottes. Durch ihn wiederum wird die diese Erscheinung tragende Wirklichkeit Gottes als Vater verstehbar - als der Eine Grund aller Individuierung und insofern als das „der Spaltung der Individualität Vorhergehende in der Erscheinung". Als Geist wiederum offenbart sich diejenige Wirklichkeit Gottes, die als die Verbindung zwischen Vater und Sohn lebt. Diese trinitarische Selbstoffenbarung des Einen Gottes ist keine abstrakte, dogmatisch ersonnene Konstruktion, sondern Gott ist „in der T a t " so erschienen 37 . Wie aber geht die Kontinuität der Genesis des Himmelreichs vonstatten? „Daß nun aber jemand wirklich fähig sei, sich Gott zu nahen, dazu gehört, daß er die Lehre Jesu vom Himmelreich wisse"38. Dieses Wissen ist mitteilbar. Und so war es zwar unerläßlich notwendig, daß Jesus selbst es ursprünglich anderen Menschen, seinen Aposteln und - wie der griechische Urtext für „Jünger" sagt - Schülern, mitteilte. Aber jeder von diesen konnte von da an dies Wissen seinerseits weitervermitteln. Das wahrhaft Verständliche in der Ausbreitung dieses Wissens war der Geist des Vermittelten. Die eigentliche genetische Kontinuität in der Ausbreitung des Wissens von Gott besteht somit darin, daß unter der äußeren Lehrform der Geist Gottes sich selber vermittelt: Er wird „ihnen alles sagen, sie in alle Wahrheit leiten" 3 9 . Wie die Inkarnation des göttlichen Logos in der Erscheinungswelt ein historisches Ereignis ist, so ist auch die menschliche Reflexionserkenntnis des göttlichen Geistes ein geschichtlicher Prozeß. Zwar wurde die trinitarische Realität des göttlichen Daseins erst durch die Offenbarung des Sohnes in ihrer wesenhaften Einheit erkennbar - gleichwohl war sie in effectu vom Anbeginn der Zeit die absolute Form der Erscheinungsgenesis. So schuf der Geist die „Empfänglichkeit" für die Lehre Jesu: „Eine 37 SW IV, S. 552. 38 SW IV, S. 558. s» SW IV' S. 567'; Evang. Johannis 16,13.
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durch die Geburt in den Individuen liegende Anlage, Verwandtschaft zur Lehre vom Himmelreiche; dunkele und unentwickelte Ahnungen, welche nur in der Lehre Jesu ihre Lösung und Klarheit finden." « Die Reflexion dieser geistigen Empfänglichkeit hatte bereits Sokrates den Verstand „als eine eigentümliche und rein apriorische Quelle von Erkenntnissen" entdecken lassen. Das Christentum erfaßte den Geist zunächst als die verbindende und entflammende Kraft des Glaubens an die Lehre des Gottessohnes. In der durch diese Lehre bewirkten Umwandlung des Glaubens in Erkenntnis geschah durch Kant der Schritt, daß „jene Sokratik, jene Kunst des Verstandes, sich selbst erkannte, und sich von anderer, von dem Verstehen in der Anschauung unterscheiden lernte". Von jetzt an ist es möglich, nicht allein an den Geist Gottes zu glauben, sondern ihn als den Heiligen Geist erkennend zu verstehen. Seitdem bedarf es nicht mehr einer „gleichsam genialischen Verwandtschaft" auserlesener Menschen zum Christentum, um dessen Lehre zu fassen, sondern nun ist sie unterschiedslos allen zugänglich - weil sie sich anzuknüpfen vermag „an das, was eben allen gegeben ist, an den gemeinsamen Verstand aller".41 Was ist dabei die Sache der individuellen Freiheit? Sie soll die wahre Wirklichkeit verstehen und leben lernen. Das wiederum bedeutet: Wenn sie den Erkenntnisprozeß beginnt, so kann sie an seine Durchführbarkeit wie an sein Ziel nur glauben. Aber wagt sie den Prozeß, so wandelt sich durch ihn Schritt um Schritt dieser anfängliche Glaube in klare Erkenntnis. Fichte kann darum als das eigentliche Kriterium sowohl für die individuelle wie die kollektive Entwicklung des menschlichen Verstehens das Verhältnis von Glauben und Wissen aufstellen: „Glaube und Verstand sind die beiden Grundprinzipien der Menschheit, aus deren Wechselwirkung sich erzeugt die Geschichte." Eine Entwicklungsstufe ist nur dann begriffen, wenn man versteht, wieweit sie „bestimmt sei durch den Verstand, wieweit durch den Glauben" 42.
«
SW IV, S. 568. SW IV, S. 5 6 9 - 5 7 1 . SW IV, S. 493 f.
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Zu dem allem genügen jedoch theoretische Gedankengänge nicht entfernt: „Den Weg zur Seligkeit muß man geben: das ist's." Und dieser Weg führt über das radikalste existentielle Mittel: den „Tod der Selbstheit" 43 . Was meint Fichte damit? In der „Anweisung zum seeligen Leben" hieß es: „Was du liebest, das lebest du." 44 Wer in allem, was ihm begegnet, nur den Reflex seiner persönlichen Selbstheit liebt, ist unfähig, eine andere Liebe - und sei es die göttliche - zu fassen; diese Existenzform muß daher sterben, wenn er zur Liebe des wahren Lebens finden soll. Sie stirbt aber nur, wenn es zur Loslösung von schlechthin allem kommt, woran sich die reflexive Selbstbestätigung klammert. Das wiederum ist das äußerste, was ihm zustoßen kann denn wie soll er leben können ohne das, wovon er sein Leben abhängig gemacht hat? Und doch bleibt dieser Vorgang niemand erspart, der aus der „Schatten- und Nebelwelt", in die ihn seine natürliche Geburt brachte, in die Welt der Wahrheit und Freiheit gelangen will. Denn dieser durchlebte Verzicht auf alles Vergängliche ist die absolute Bedingung, um dasjenige rein erkennen zu können, was die unvergängliche Wurzel der individuellen Existenz ausmacht: die göttliche Liebe, der sie entstammt. Das ist das eigentliche Geheimnis dieses Todes: Er macht den Quellpunkt des unendlichen Lebens in seiner Reinheit sichtbar und erkennbar. Nur in dieser reinen Begegnung vermag der einzelne Mensch bewußt und frei seinen wahren Anteil an der göttlichen Realität zu erfassen. In ihr erst vollzieht sich darum seine wahre Geburt. Durch sie allein kann er „seine ihm eigentümliche Bestimmung" ergreifen und in Wirklichkeit leben, „was er, und nur er, sein kann, was er, und nur er, zufolge seiner höhern Natur, d. i. des Göttlichen in ihm, sein soll". Erst in dieser Begegnung vermag er zu reflektieren, was er „im Grunde wirklich will"- und wie könnte er von da an „jemals mit Unlust etwas tun, da er nimmermehr etwas anderes tut, als dasjenige, woran er die höchste Lust hat?" 45 «
44 45
SW IV, S. 5 4 5 . SW V, S. 4 0 3 . SW V, S. 5 3 2 .
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Hierdurch erfüllt sich auch - wie Fichte dies 1813 formuliert realiter „die durch Vernunft a priori eingesehene Voraussetzung, [ . . . ] daß jedem unter den freien Individuen im göttlichen Weltplane angewiesen sei seine bestimmte Stelle, die nicht sei die Stelle irgend eines anderen zu derselben Zeit, in demselben Ganzen Lebenden, indem der göttliche Wille nicht mit sich selbst streiten kann [ . . . ] Diese seine Stelle soll eben jeder klar erkennen, und so würden sie an derselben arbeiten zum gemeinschaftlichen Zwecke ohne allen Streit untereinander" 4 6 . Darin löst sich das schwierigste aller Freiheitsprobleme: Wie vollkommene Freiheitsverwirklichung für jede individuelle Existenz als möglich gedacht werden kann, ohne daß die einzelnen Freiheitsakte in Widerstreit geraten, sich gegenseitig behindern oder gar vernichten. Der gemeinsame Grund alles individuellen Freiheitsstrebens ist der absolut schöpferische Freiheitswille des göttlichen Dasein. Er ist die Wurzel der absoluten, unendlichen Potenz jedes individuellen Freiheitswillens. Will darum die einzelne individuelle Existenz absolut, vollkommen und unendlich frei werden und frei sein, so kann sie dies nur erreichen, wenn sie sich nicht an relative, eingeschränkte Freiheitsbilder klammert, sondern lernt, diese ihre absolute Freiheitspotenz zu erkennen und zu erschließen. Tut sie dies, so verbindet sich ihr Freiheitswille zugleich mit dem absoluten Freiheitsstreben aller andern - und so realisiert sich der absolut schöpferische Freiheitswille des Daseins sowohl als vollkommene Freiheit des einzelnen wie als vollkommenes Zusammenwirken und Ineinandergreifen der gemeinschaftlichen Freiheitsverwirklichung. Weil aber der absolute Freiheitswille des Daseins mit sich selbst übereinstimmt und in sich selbst eins ist, so können auch die Freiheitsakte der individuellen Existenzen nicht miteinander in Konflikt stehen, sobald sie vollkommene Verwirklichungen dieser ihrer absoluten Potenz sind 4 7 . Fichte faßt diesen Zustand der vollkommenen interpersonalen Freiheitswirklichkeit in religiöser Ausdrucksweise als die Reali« «
S W IV, S. 5 8 4 . Vgl. Widmann, Gedanken S. 4 7 7 f.
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tätsform des „Himmelreichs", in philosophischer Terminologie als „Vernunftreich". In diesem „Reich" ist die Freiheitslehre des Christentums übergeführt in gelebte Wirklichkeit: sie ist seine „Verfassung". Das besagt: Der schöpferische Freiheitswille des göttlichen Daseins vermittelt sich der gemeinsamen Freiheitsverwirklichung aller vernünftigen Wesen durch die Freiheitserkenntnis jedes einzelnen. Die „Not" des vorherigen Entwicklungsstaates, in dem die Macht der Vernunft den Machtmißbrauch der individuellen Unvernunft zu bestehen hatte, ist überwunden. Die Vernunft jedes einzelnen hat zu sich selbst und dadurch auch zur „Vernunft überhaupt" gefunden und ist so für eine vollkommen freie Gemeinschaft „mündig" geworden. Jeder Staatsapparat wird durch diese unmittelbare und freie Selbstvermittlung der Vernunft in der interpersonalen Gemeinschaft hinfällig. Damit ist auch jene Lehraufgabe des wahren Christentums vollendet, die den Weg des „unentwickelten Verstandes", mit dem jeder Mensch geboren wird, bis hin zur vollkommenen Erkenntnisfähigkeit jedes individuellen Verstehens zu vermitteln hat. An die Stelle des vernünftigen Zwangs - als der die Notwendigkeit jeder, auch der besten, Erziehungsleitung unentrinnbar begegnet - ist die Freiheit und Selbständigkeit der eigenen Erkenntnisfähigkeit mit ihren absolut unendlichen Möglichkeiten getreten. Zu diesem Reich kommt es mit absoluter Gewißheit: Denn „Gott erscheint nicht vergeblich, macht nicht einen mißlingenden Versuch des Erscheinens; also kommt es sicher zu diesem Reiche Gottes, und kann nicht nicht zu ihm kommen". Zwar ist seine Verwirklichung „nicht zu denken als eine einzige, momentane, blitzähnliche Begebenheit", denn sie geht seit der geschichtlichen Existenz von Jesus „ihren stillen, langsamen und der Welt unbemerkten Gang". Gleichwohl hat auch die christliche Weissagung vom Jüngsten Tag ihren absoluten Sinn. Sie betrifft „den eigentlichen Schlußstein und den Vollendungspunkt" dieses Werdens, stellt das Zielbild der von Jesus eingeleiteten Genesis vor - „daß schlechthin alle Menschen wahrhafte Christen und Bürger des Himmelreichs werden, und daß alle andere Herrschaft über die Menschen rein und lauter verschwinde".48 "8 SW IV, S. 5 7 9 - 5 8 2 .
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Die Anwendungsbereiche
7. Der Begriff der Kirche In einem Anhang zur „Sittenlehre" von 1812 hatte Fichtes früherer Begriff von der Kirche eine entscheidende Vertiefung und Durchklärung erfahren. Mit den Sommervorlesungen von 1813 fand er auch seine eigentliche Einordnung in den systematischen Zusammenhang. Der Idee nach bedeuten dort Himmelreich, Kirche, Vernunftreich ein und dasselbe. Diese Identifizierung in ihrem transzendentalen Kern richtig zu verstehen, ist allerdings nicht gerade einfach. Wir wollen uns deshalb die Orientierung mit Hilfe des Dichotomieschemas erleichtern, das wir im Übergang von der Wissenschaftslehre zu Fichtes angewandter Philosophie umrissen hatten (vgl. o. S. 94 Abb. 10). In seinem Rahmen stellen sich die Begriffszusammenhänge so dar: Recht \
Abb
-
23
Ethos
Allgemeinheit (Staat)
/
Religion \
Besonderheit (Individuum)
/
Gemeinschaft'^^ (Ecclesia)
Im einzelnen besagt dieses deduktive Schema: Der Staat konstituiert sich - worauf die Klärungen in Fichtes Spätphilosophie hinauslaufen - seiner Idee nach aus der Allgemeinheit des Rechts und der Allgemeinheit des Ethos. Diese Allgemeinheit haben die Mechanismen der geschichtlichen „Notstaaten" zu schützen. Aber weil dasjenige, was „allen gemeinsam" ist, der Besonderheit des Individuellen gegenüber gleich-gültig ist, sind diese Mechanismen jeder individuellen Besonderheit gegenüber entfremdet. Werden sie - wie Fichte dies an seiner ersten „Rechtslehre" erfahren mußte - allein aus dieser Notwendigkeit heraus entfaltet, so wirken sie letztlich „ausschließend" und damit „vernichtend" auf alle besonderen Freiheitsregungen. Auf der andern Seite konstituiert sich das Individuum aus der Besonderheit, mit der das Sittengebot gerade dessen unverwechselbare genetische Existenz fordert, und aus der Besonderheit, mit der seine reale Existenz im absoluten Dasein wurzelt.
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Angewandte Philosophie
Die Entfremdung zwischen Allgemeinheit und individueller Besonderheit läßt sich nun weder dadurch beheben, daß das Allgemeine das Besondere unterdrückt, noch dadurch, daß das Besondere das Allgemeine zerstört, sondern allein so, daß die Individuen eine Form des Zusammenlebens entwickeln, in der jede entfremdende Realisierung ihrer Allgemeininteressen überflüssig ist - ohne daß dadurch ihr echtes, unmittelbar gelebtes allgemeines Interesse an Gemeinschaft aufhören würde zu existieren. Das geschieht nicht in einem mechanischen Prozeß, bei dem die Individuen nur Zuschauer wären, sondern nur so, daß die Individuen in freier Entscheidung und freier Tat die Besonderheit des sie konstituierenden Ethos mit der Allgemeinheit des Ethos gemeinschaftlich vereinen. Eine solche Gemeinschaft freier Wesen hatte Fichte 1794 unter der - wenig charakteristischen Benennung - „Gesellschaft" vorgestellt 4 9 . In der Spätphilosophie bezeichnet er ihre Form als das „Reich" der Freiheit oder auch mit dem religionsgeschichtlichen Ausdruck als „Kirche". Fichte steht mit dieser Bezeichnung außerordentlich nahe an der ursprünglichen politischen Bedeutung des griechischen Wortes „Ecclesia", das „die durch den Herold zusammengerufenen Bürger in Freistaaten" meinte. Transzendental wesentlich ist an diesen Zusammenhängen dreierlei: 1. In der Idealform der „Ecclesia" sind Allgemeinheit und individuelle Besonderheit „aufgehoben" nicht etwa im Sinne einer Auslöschung, sondern im Sinne einer absoluten Versöhnung beider. Verschwunden ist in diesem Zustande etwas anderes: Die private („raubgierige") Selbstsucht der individuellen Unvernunft und ihr Widerpart, der entfremdende Staatsapparat. So gesehen kann darum Fichte sagen: „Die Zeitgeschichte, die mit einem absoluten Staate begann, sollte in einer absoluten Kirche enden." 5 0 2. Diese Idealform kann allein dadurch Wirklichkeit werden, daß das freie Handeln der Menschen im Einklang mit dem göttli«9 S W VI, S. 3 0 2 - 3 0 6 ; vgl. o. S. 1 7 5 ff. so S W IV, S. 5 9 3 .
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chen Grund des Daseins und seiner absoluten Freiheit steht. Deshalb läßt sich im Blick auf alle Entfremdungsformen „hinzusetzen, daß sie weichen werden nur Gott und seinem Sohne Jesu Christo" 5i. 3. Die Umsetzung dieser Idee in konkrete Wirklichkeit ist ein geschichtlicher Prozeß, der mit Jesus von Nazareth begonnen hat. Während die Grundlinien des ersten Aspekts in den Sommervorlesungen von 1813 ausgezogen wurden, und der zweite Aspekt seine systematische Erhellung in der „Anweisung zum seeligen Leben" von 1806 gefunden hatte, erwächst aus dem dritten Aspekt jene spezifische Aufgabe der angewandten Religionsphilosophie, die Fichte im Anhang zur „Sittenlehre" von 1812 aufgriff: zu zeigen, wie sich die empirisch-geschichtliche Erscheinung der Kirche zu ihrer leitenden Grundidee, ihrem Zielbild, verhält. Fichte erörtert dort zunächst, daß alles freie Zusammenwirken von einem „gemeinschaftlichen Prinzipe" ausgehen muß; denn „wo gar nichts dergleichen ist, da ist der Streit unendlich und die Verständigung ganz und gar unmöglich". Wie eine vorgegebene gemeinsame Natur muß es darum auch „ein gemeinschaftliches sittliches Grundbewußtsein des ganzen Geschlechts geben". Da aber dessen Einsichten von jedem einzelnen nur durch freie Erkenntniszuwendung erworben sein können, so bedeutet das Vorhandensein eines solchen Grundbewußtseins, „daß es gleichsam ein ewig lebendiges Gedächtnis des Geschlechts, das alles Neue mit dem Alten verknüpft, gebe" 5 2 . Die Form nun, in der dieser sittliche Grundkonsens aller sich darstellt, nennt Fichte ein Symbol. Fichte knüpft dabei zwar an den theologischen Sprachgebrauch an, der das Glaubensbekenntnis der Kirche „Symbolum" nennt, definiert diesen Terminus aber ausdrücklich umfassend: Das Symbol enthält „das durch das sittliche Bewußtsein gleichsam für das Auge Gegebene in irgend einer Gestalt". 51 SW IV, S. 5 9 9 . 52 SW XI, S. 103 f.
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Daran ist ein Moment von grundlegender Bedeutung: Der Grundkonsens beruht auf der geringstmöglichen Einsiebt in die gemeinsame sittliche Aufgabe. Darum kann sein Symbol auch nur das ausdrücken, „was der Geringste unter den Einverstandenen wirklich vernimmt und einsieht". Jedes Symbol ist daher ein „Notsymbol", das entwicklungsbedürftig ist. Entwicklungsfähig ist es aber stets nur in dem Maße, als sich der Minimalkonsens und die ihn tragende Einsicht aller erweitern. Umgekehrt muß ebensowohl erwartet werden, „daß in höchst verschiedenen Graden einzelne dasselbe besser verstehen und in höherer Klarheit und Vollkommenheit auffassen werden". Das bedeutet, „daß ein solches Symbol sehr tief stehe unter der eigentlichen durch die Offenbarung beabsichtigten Lehre". Wird sein Wahrheitsgehalt nicht durch vertiefte Einsicht, sondern „durch Unwissenheit und Unverstand weiter bestimmt", so kann dies auch „zu einem wirklichen Irrtume" führen. Das ist keineswegs eine im Symbol liegende Konsequenz, sondern das Werk der „symbolischen Menschen". Wer wirklich vertiefte Einsicht in den Wahrheitsgehalt des Symbols gewonnen hat, hält sich nicht an die irrige Auslegung, sondern an das, „was das Wahre daran ist". Er wird sich auch „mit seinem lebendigen Eifer" dafür einsetzen, daß dieser Wahrheitsgehalt zum Durchbruch kommt und allen einsichtig wird. Aber er wird dies nicht „auf die Gefahr hin [tun], selbst das Wahre, das mit dem Irrtum vermischt ist, wankend zu machen und umzustürzen", denn dadurch „wäre ein Gewinn, den die Gemeinde der Gläubigen schon gemacht hat, vernichtet [...] und so etwas kann der, der auf Sittlichkeit, nicht etwa bloß auf theoretische Klarheit und Konsequenz ausgeht, niemals vor seinem Gewissen verantworten"; er knüpft vielmehr „seinen Unterricht an das in der Mischung mit dem Falschen befindliche Wahre und erhebt dies höher". 53 Auf diese letztere Art wird das Symbol „sich immerfort erhöhen und der zu Grunde liegenden Offenbarungslehre und dem Glauben der Gebildeten immer näher kommen. Das Symbol ist perfectibel, und es ist der Hauptzweck der Kirche, daß es immerfort vervollkommnet werde". Um diesen Zweck befördern zu können, "
SW XI, S. 1 0 5 - 1 0 9 .
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muß die Theologie Wissenschaft sein. Ein Zweig ist dabei die historische Arbeit. Aber das genügt allein nicht, denn man sollte „es doch nicht für so schlechthin unmöglich halten, daß [der Stifter der Kirche] manches eingesehen haben könne, was wir trotz unserer Kultur und unserer Philosophie dennoch bis auf diese Stunde nicht wissen und von ihm lernen könnten". Deshalb bedarf es auch der Philosophie, deren zentrale Aufgabe die allgemeine Entwicklung der menschlichen Einsicht ist: „Der Philosoph ist darum und bleibt Mitglied der Kirche." 54 Fichte klärt in dieser Skizze scharfsinnig, wie es zu den widersprüchlichen Kirchenbildern kommt, die die christlichen Glaubensgemeinschaften in ihrem Äußern und in ihren Lehrgehalten bieten. Er vermerkt dabei auch mit Schärfe: „Die Symbole gewisser Kirchen scheinen statt dessen, worüber alle einig sind, vielmehr dasjenige zu enthalten, worüber alle streiten." 55 Dennoch fügen sich diese Erörterungen nur dann in den Kirchenbegriff der Sommervorlesungen von 1813, wenn ein entscheidender Gedanke hereingenommen wird, der 1812 unreflektiert blieb. Der Grundkonsens, auf den Fichte diese Überlegungen baut, kann nämlich keineswegs nur ein beliebiges Minimalquantum an gemeinsamer Einsicht sein. Er kommt allein dadurch zustande, daß das Prinzip der gemeinsamen Idee der „Kirche" begriffen wird. Erst wenn dieses Prinzip begriffen ist, sind überhaupt Entfaltungen von Einsichten möglich, die auf ihm beruhen. Das Prinzip einer Entwicklung wiederum ist dasjenige, was die Entfaltungen und Veränderungen dieser Entwicklung bestimmt und bewirkt - mit sich selbst aber absolut identisch bleibt. Dies Prinzip wird durch keine seiner Wirkungen überholt, sondern einzig durch die reale Vollendung seines Ideals eingeholt. Soweit darum das Symbol der Kirche den Grundkonsens über das Prinzip der Kirche ausdrückt, ist es weder entwicklungsfähig noch überhaupt entwicklungsbedürftig. Was durch die Wirksamkeit dieses Prinzips geschieht, ist etwas ganz anderes: Seine Idee bewahrheitet sich durch ihre geschichtliche Realisierung - und die Wahrheit 5" SW XI, S. 109-115. ss SW XI, S. 106.
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des Prinzips tritt mit der Vollendung seiner Realisierung vollkommen in Erscheinung. Unvollkommen ist vor dieser Vollendung weder das Prinzip, noch seine ursprüngliche Einsicht, sondern die äußere Erscheinung seiner Wahrheit. Ausdrücklich löst sich 1813 zudem jener Schein auf, der den Überlegungen von 1812 anhaftet: die Kirche erwachse einfach aus dem „gemeinschaftlichen sittlichen Grundbewußtsein des ganzen Geschlechts". Dieses Grundbewußtsein artikuliert sich seinem Prinzip nach in der Idee des Staates. Auf ihm läßt sich in Ewigkeit nie etwas anderes als eine Staatsreligion gründen: Vergöttlichung der Zwangsgewalt des Allgemeinen gegenüber dem Individuellen. Ebensowenig läßt sich eine Kirche allein auf der rein innerlichen via negationis zur unio mystica des Subjekts mit seinem Seinsgrund bilden; sie bedarf unbedingt eines allgemeinen Bildes. Und daher ist es unumgänglich, „daß das Bild einmal Sache, Realität sei, schlechthin ursprünglich und grundanfangend in einer Person sich verwirkliche. Dies nun bei Jesus" 56 . Alle vorchristliche Religiosität ist gespalten und zerrissen zwischen Staatskult und Mystik, zwischen äußerer Unterwerfung und Verschwinden in der Innerlichkeit. Beide Pole aber tragen in sich nicht das Mittel zu ihrer Vereinigung. Der Grundkonsens, der der geschichtlichen Aufhebung dieser entfremdeten Polarität vorangeht, kann darum nicht, wie es bei Fichte 1812 noch scheint, ein gemeinsames konstruktives Bewußtsein davon sein, was getan werden muß, sondern kann nur ein gemeinsames Problembewußtsein sein. Dieses Problembewußtsein ist absolut nicht der Grund, auf den sich die christliche Kirche baut. Ihre Genesis geht idealiter wie realiter allein von dem schöpferischen Prinzip der Selbstoffenbarung des göttlichen Daseins aus, das erst dann in die menschliche Entwicklungsgeschichte eintritt, wenn das menschliche Verstehen den Stand erreicht hat, auf dem es fähig ist, das eintretende absolute Prinzip frei und verstehend zu erfassen. 56 S W I V , S. 5 4 1 .
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Das schöpferische Prinzip der Kirche geht nicht aus dem elementaren religiösen Problembewußtsein hervor, sondern es trifft durch seine Offenbarung auf dieses Problembewußtsein. In diesem Zusammentreffen wird es von dem problematischen Bewußtsein als die absolute Lösung seines Problems erkannt. Läßt das individuelle Bewußtsein es nicht nur bei der erkennenden Feststellung bewenden, daß dies die Lösung seiner Problematik wäre, sondern läßt es sich von der genetischen Wirklichkeit des erblickten Prinzips ergreifen und durchdringen, so wird es dadurch in die sich verwirklichende Realität der Kirche aufgenommen, seine schöpferische Selbstverwirklichung wird zu einem organischen Teilprozeß in der Genesis der Kirche. Kirche - nicht nur im religionsgeschichtlich-empirischen, sondern auch im transzendentalen Sinn als Ecclesia der vollen Gemeinschaft freier vernünftiger Wesen - gibt es darum erst seit der geschichtlichen Inkarnation des Sohnes Gottes. Durch diese erst realisierte sich der „Grund- und Einheitspunkt der Geschichte, zu welchem alles Vorhergegangene sich als Vorbereitung, und alles Künftige sich als Entwicklung verhält".57 8. Die Reflexionsform der Religion Urgrund der absoluten Erscheinung ist - wie Fichte in der „Anweisung zum seeligen Leben" klarlegt - die Liebe. Aus dem Urgrund der Liebe geht das Dasein der Liebe und die Liebe zu diesem Dasein hervor - und ebenso liebt das Dasein der Liebe seinen Urgrund. Mit dem Rückbezug auf diesen absoluten Urgrund hat es ursprünglich und zentral der „Standpunkt der Religion" zu tun. In dieser Umkehrbewegung vom Erschienenen hin zum absoluten Grund aller Erscheinung konstituiert sich zugleich die einfachst mögliche Form der Reflexion: das unmittelbare Zurückfließen der Evidenz in ihr selber - zentrifugale und zentripetale Bezugsrichtung in ein und demselben Evidenzakt und auf ein und derselben Evidenzbahn. SW IV, S. 550.
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In unseren bisherigen geometrischen Reflexionsanalogien ist uns diese Form bereits als jener Sonderfall begegnet, bei dem der Reflexionsstrahl in der elliptischen, parabolischen wie auch hyperbolischen Reflexion im Scheitelpunkt der Kurve unmittelbar auf den Brennpunkt zurückgelenkt wurde. Jetzt allerdings steht zur Frage, ob es eine geometrische Analogie gibt, bei der diese Reflexionsweise nicht Sonderfall, sondern Prinzip ist. Die Antwort ist leicht zu finden: Denkt man sich Strahlen, die vom Zentrum eines Kreises ausgehen, an der Kreisperipherie gespiegelt, so werden sie alle durch diese Spiegelung unmittelbar auf ihren Ursprung, den Kreismittelpunkt zurückgelenkt (Abb. 24).
An diesem Reflexionsmodell eines Kreises läßt sich das fundamentale Verhältnis der „Gleichheit" aller Menschen zu ihrer ebenso absolut gesetzten individuellen Besonderheit augenfällig machen: Wie in einem Kreis alle Peripheriepunkte dasselbe direkte Verhältnis, dieselbe Entfernung und den gleichen Reflexionsbezug zum Kreismittelpunkt haben, so auch alle „vernünftigen Wesen" zu ihrem absoluten Ursprung - aber wie zugleich jeder Kreispunkt seinen besonderen Ort und dadurch sein besonderes, unverwechselbares und unaustauschbares Verhältnis zu jedem anderen Kreispunkt hat, so ist auch das Verhältnis der „vernünftigen Wesen" untereinander und zueinander durch die absolute Besonderheit bestimmt, die jedem durch seine individuelle Stellung innerhalb der Gesamtheit der absoluten Erscheinung zukommt. In diesem Zusammenhang sei darauf aufmerksam gemacht, daß auf einer zweidimensionalen Ebene ein unmittelbar gleiches Bezugsverhältnis nur zwischen nicht mehr als drei Punkten möglich ist (gleichseitiges Dreieck), im dreidimensionalen Raum zwi-
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sehen nicht mehr als vier Punkten (Tetraeder); in beiden Fällen bringt jeder zusätzliche Punkt notwendig und unvermeidlich relative „Ungleichheit" in die Bezugsstruktur, da dann nicht mehr jeder Punkt zu jedem andern dieselbe Distanz hat. Gleichheit des Bezugs ist für beliebig viele Punkte nur möglich über die Vermittlung eines Zentralpunkts, zu dem jeder andere Punkt dieselbe Distanz hat (Prinzip des Kreis- bzw. Kugelmittelpunkts). Analog ist unter beliebig vielen Menschen Gleichheit der Beziehung aller zueinander nur so vorstellbar, daß sie durch einen absoluten Zentralpunkt vermittelt ist, zu dem jeder einzelne dem Prinzip nach in derselben Beziehung wie jeder andere steht.
9. Die religiöse Fundierung der Ehe Ein eigentümliches Problem stellt sich in Fichtes Philosophie bei der Frage nach der systematischen Einordnung des Phänomens der Ehe. Fichte hatte bereits 1796 im ersten Anhang zur „Grundlage des Naturrechts" eine „Deduktion der Ehe" zu geben gesucht. Dabei vermerkte er ausdrücklich, diese Deduktion sei eigentlich „nicht juridisch", denn „die Ehe ist gar nicht bloß eine juridische Gesellschaft wie etwa der Staat", sondern sei „eine natürliche und moralische Gesellschaft" 58 . Das nachfolgende „System der Sittenlehre" von 1798 gibt jedoch seinerseits keine eigene Ableitung aus dem Prinzip der Moralität, sondern verweist auf die Deduktion von 1796. Und dabei bleibt es merkwürdigerweise auch noch 1812: Als Fichte im Vortrag der „Sittenlehre" in jenem Jahr an den entsprechenden Abschnitt kommt, behandelt er ihn nicht, sondern empfiehlt seinen Studenten, jene früheren Ausführungen zu lesen 5 9 . Den entscheidenden Gedankenfortschritt bringt auch hier das Jahr 1813. Die Klärungen um den Begriff der „sittlichen Natur", die Fichte in den „Exkursen zur Staatslehre" leistet 60 , erhellen zugleich jene frühe Definition der Ehe als einer „natürlichen und moralischen Gesellschaft". In der „Staatslehre" von 1813 stellt Fichte dies Versa SW III, S. 304. 5» SW XI, S. 102. 60 SW VII, S. 5 8 6 f.
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hältnis so dar: „Die Eine Erzeugungskraft des Menschen, das menschenschaffende Naturprinzip [ist] getrennt in zwei Hälften und verteilt an zwei Individuen; in dem Verhältnisse, daß das eine enthält den bloßen Stoff, das andere das belebende und die Bildung erregende Prinzip dieses Stoffes: [...] soll es wirklich zur Erzeugung eines Menschen kommen, so muß Freiheit, und zwar vereinigte und einverstandene Freiheit zweier dazwischentreten. [...] Die Natur [gibt] den Stoff in beiden Geschlechtern, die den Stoff einigende Kraft ist erst die Freiheit; also die Natur verhält sich zur Freiheit selbst wie das Weib zum Manne." 6 1 Aber damit ist noch keineswegs die Institution der Ehe transzendental durchgeklärt. Fichte hatte schon 1796 mit großer Entschiedenheit erklärt, die Ehe könne nicht aus dem Zwecke der Zeugung hergeleitet werden, denn „die Ehe hat keinen Zweck außer ihr selbst; sie ist ihr eigener Zweck" 6 2 . Das „System der Sittenlehre" von 1798 hatte den Weg ihrer eigentlichen Herleitung gewiesen: „Im bloßen Begriff der Liebe ist der der Ehe [...] enthalten." Die Liebe aber erscheint und stellt sich innerhalb der Interpersonalität ursprünglich dar in der Liebe der Frau. Der Mann dagegen kann nicht aus sich selbst zur Bewußtheit der Liebe kommen: Was Liebe ist, muß er durch die Liebe der Frau erkennen - und was es heißt, selber zu lieben, muß er am Beispiel der ihm begegnenden Liebe lernen63. Das hat außerordentliche Konsequenzen: Vermag der Mann seine Fähigkeit zu lieben nur in dem Maße zu entfalten, als sie von der ihm begegnenden Liebe geweckt wird, so kann sich ihm seine ganze und vollkommene Liebesfähigkeit auch nur erschließen, wenn ihm ganze und vollkommene Liebe zugewandt wird. In diesem Gedanken ruht die eigentliche transzendentale Begründung für die Notwendigkeit der Ehe und ihren von Fichte mit größtem Ernst betonten Charakter der absoluten Bindung: Die vollkommene Entbindung der Liebesfähigkeit unter den Menschen ist nur auf dem individuellen Wege der vollkommenen liebenden Zuwendung zweier Menschen zueinander, ausgehend «i S W IV, S. 4 7 3 f. « SW III, S. 316. « SWIII, S. 3 1 0 ; IV, S. 3 3 0 f.
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von der liebenden Hingabe des einen, erwidert von der geweckten Gegenliebe 64 des anderen, möglich. Während in Fichtes Darlegungen der Jenaer Zeit dabei unklar bleibt, ob die Wahl des vollkommenen Partners die Form einer beliebigen Auswahl hat, rückt diese Frage 1813 eindeutig in den Kontext, „daß jedem unter den freien Individuen im göttlichen Weltplane angewiesen sei seine bestimmte Stelle" 6 5 . Das bedeutet, daß auch die „ewige Bindung der Willen" 6 6 , die die wahre Ehe konstituiert, nur unter der Voraussetzung möglich ist und vollzogen werden kann, daß sie dem absoluten Verhältnis der beiden zueinander entspricht. Fichtes Hinweis auf die jesuanische Haltung zur Ehe meint ohne Zweifel jene Auskunft im Evangelium des Matthäus, wo von der absoluten und prinzipiellen Zuordnung zweier Menschen zueinander die Rede ist. Dort tritt aber noch ein weiteres Moment hinzu, das Fichte mit demselben Nachdruck unterstreicht. Die Ungleichheit von „Mann" und „Frau" wird in der Sichtbarkeit des Vernunftreiches keinen Bestand haben: „In jenem Leben auch da Gleichheit. Ich erinnere daran, was Jesus Tiefes sagt!" 6 7 . Der Zusammenhang erhellt, wenn wir uns der oben dargelegten Kreisanalogie bedienen. Im Kreis haben die Punkte der Kreisperipherie nicht nur gleichen Abstand zum Kreismittelpunkt - sie haben auch je paarweise eine besondere Beziehung zum Kreiszentrum: Jeder Kreispunkt hat einen (und nur einen) Gegenpunkt auf dem Kreis, zu dem die Verbindungsgerade genau durch den Kreismittelpunkt führt. In unserem transzendentalen Zusammenhang besagt dies Bild: Die Kreispunkte stehen für die Individuen, der Mittelpunkt für das absolute Zentrum. Zwischen den einzelnen Individuen sind beliebig viele Verbindungslinien interpersonaler Reflexion denkbar. Aber es stehen jeweils immer nur zwei Individuen genau in dem Verhältnis zueinander, daß ihre interpersonale Erkenntnis«« « « «
SW SW SW SW
IV, IV, IV, IV,
S. S. S. S.
331. 584. 481. 4 7 8 ; vgl. Evang. Matthäus 19,5; 2 2 , 3 0 .
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beziehung, ihre wechselseitige Reflexion, zusammenfällt mit der Bahn ihrer existentiellen Grundreflexion im zentralen Bezugspunkt aller Existenz. Nur in dieser einzigartigen Partnerbeziehung schließt die interpersonale Reflexion in ein und demselben Akt auch die absolut-religiöse Reflexion jedes der beiden Partner ein. In allen andern Fällen sind beides unterschiedliche Akte, die in divergierende Reflexionsrichtungen gehen (vgl. Abb. 25).
D Damit wird auch unmittelbar anschaulich, wie die scheinbar beziehungslosen Momente der „Gleichheit" und der absolutbesonderen Zusammengehörigkeit je zweier Menschen zusammenstimmen: Durch das gleiche Verhältnis jedes Partners zum absoluten Existenzgrund, das sie mit allen Menschen überhaupt teilen, hat keiner der beiden eine bevorzugte Stellung gegenüber dem anderen. Aber unter allen übrigen Menschen sind die beiden in absolut besonderer Weise aufeinander angewiesen: Nur zwischen ihnen beiden ist jene Liebesbeziehung möglich, die den absoluten Freiheitsgrund ihrer Existenz erschließt und erkennend umfaßt.
Anhang Zur Problemorientierung more geometrico Fichte hat die Philosophie als Wissenschaft verstanden, deren konsequenter und lückenloser Ausbau nicht von einem einzelnen, sondern nur von der „Republik der Gelehrten" durchgeführt wer-
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den kann. Nimmt man diesen Anspruch ernst, so zeigt sich sein Werk als die geniale Grundlegung einer elementar zukunftsoffenen Philosophie. Was in seiner Arbeit Versuch, Fragment oder bloßer Ansatz geblieben ist, stellt sich in diesem Licht als Herausforderung an spätere Generationen dar, das Begonnene aufzugreifen und vollendend fortzuführen. Zu den Aufgaben, die von einer Wissenschaft der Transzendentalphilosophie erst noch zu leisten sind, gehört auch die Durchklärung des Verhältnisses von Philosophie und Mathematik. Fichtes Absicht, an der Berliner Universität späterhin „auch eine Philosophie der Mathematik" von der Wissenschaftslehre aus vorzutragen blieb durch seinen frühen Tod unausgeführt. Von diesem historischen Befund aus würde es den Rahmen unserer Einführung bei weitem überschreiten, wollten wir auf die mathematischen Hilfsmittel in unserer Darstellung mit einer eigenständigen Ableitung aus Fichtes transzendentalem Ansatz reflektieren. Wir müssen sie daher in diesem Buch im pragmatischen Gewand von Analogien stehen lassen, obschon sie im strengen Sinne mehr als das, nämlich spezifische Projektionsformen der zugrundeliegenden Bewußtseinsprinzipien darstellen. Um dem interessierten Leser aber wenigstens eine Orientierungshilfe geben zu können, sei anhangsweise auf einige Aspekte und Konsequenzen dieses „mathematischen Verfahrens" näher eingegangen. Zunächst mag es ungewöhnlich erscheinen, daß wir - ausgehend von Fichtes Formel A = A für den Satz der Identität - Fichtes Behandlung des Widerspruchs-Problems nicht in logistischer Symbolik, sondern mit konventionellen mathematischen Formeln abbildeten. Diese Wahl ist jedoch nicht nur durch pragmatische Vorzüge bestimmt, sondern hängt wesentlich auch mit dem prinzipiellen transzendentalen Verhältnis von Logik und Mathematik zusammen. Fichte was durchaus im Recht, wenn er in der „Grundlage" von 1794 den Satz der Identität in mathematisch-operativer Schreib1 Schulz II, S. 583, Nr. 637.
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weise als „A = A " - nämlich als Identitätsstiftung - aufstellte. Denn erst wenn durch diese operative Gleichstellung dafür gesorgt ist, daß zwei evidentermaßen getrennte Figuren als gleich gelten sollen, bleibt der Identitätssatz „A ist A " vor der unsinnigen Deutung geschützt, als ob dem Faktenbefund nach das erste A identisch mit dem zweiten A sei; die erste Figur A ist niemals „identisch" mit der zweiten Figur A, sondern bestenfalls annähernd isomorph zu ihr: „Identisch" kann nur die semantische Bedeutung beider sein. Die Identitätsbehauptung „A ist A" schließt darum die operative Gleichsetzung „A = A " ein. Fichtes Analyse der Identitätsbehauptung hat dies nicht nur scharfsinnig bemerkt, sondern auch durch die Einbeziehung der Formel A = A ausdrücklich innerhalb der Gedankenarbeit berücksichtigt. Am Beispiel dieser Identitätsanalyse tritt zugleich der charakteristische Unterschied zwischen mathematischer Operation und logischer Einsicht gut faßlich zutage: Der „mathematische" Anteil im Satz der Identität besteht für die transzendentale Bestimmung in der operativen Gleichsetzung zweier Phänomene. Der „logische" Anteil besteht in etwas anderem: in der Einsicht, daß beide durch diese Gleichsetzung zu Trägem ein und derselben Bedeutung werden. Durch die logische Äquivalenzstruktur ist das Bedeutungsprinzip den Bedeutungsträgem vermittelt. Man kann von daher zur transzendentalen Abgrenzung spezifisch logischer von spezifisch mathematischen Momenten innerhalb exakter Denkprozesse und ihrer Beschreibung sagen: Mathematischer Art sind die Möglichkeiten operativer Verknüpfungen zwischen einer beliebigen Vielfalt bloßer Bedeutungsträger - logischer Art dagegen ist das Verhältnis zwischen Bedeutungsträgem (samt deren operativen Verknüpfungen) und Bedeutungen. In Fichtes Sprache heißt das: Eine so verstandene Wissenschaft der Logik hat die möglichen prinzipiellen Beziehungsverhältnisse zwischen Idee (als der Bedeutungsquelle) und Realität (als dem Stoff, an dem die Bedeutung zum Tragen kommt) zu ihrem eigentlichen Untersuchungsfeld. Da jedoch logische Erkenntnisprozesse nur statthaben, wenn sie durchdacht, d. h. operativ realisiert werden, ist jeder logischen Erkenntnis ein für sie spezifischer mathematisch-operativer Vor-
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gang integriert. Insofern hatten unsere mathematischen Analogiebeispiele den Zweck, zentrale operative Momente der jeweiligen relevanten Bewußtseinsstrukturen sichtbar zu machen. Man darf dabei nur nicht der Meinung verfallen, mit ihnen schon die eigentlich logischen Beziehungen vor Augen zu haben; sie werden in unserm Zusammenhang erst greifbar durch die Bedeutung, die sie im Kontext der Analogiebeziehung gewinnen. Zu diesem Bedeutungsbezug gehört auch, daß sich an den formelhaft dargelegten operativen Elementen der Reflexionsstrukturen Fichtes These verdeutlichen läßt, daß die Reflexionsstrukturen des Bewußtseins ungeachtet und unbeschadet ihrer faktischen Verschiedenheit aus einem einzigen Grundprinzip herleitbar sind und daß dies Grundprinzip formulierbar sein muß; denn die dargelegten Reflexionsgebilde sind alles Kurven zweiter Ordnung und lassen sich somit auf deren allgemeine Gleichungsformel reduzieren: ax 2 + 2bxy + cy2 + 2dx + 2ey + f = 0. Ein pragmatisches Anliegen unserer Analogiebezüge war ferner, die abstrakten Reflexionsgesetze in buchstäblich „anschaulichen" Vergleichen faßlich werden zu lassen, ihre Gemeinsamkeiten und spezifischen Unterschiede am Analogiebild der Kegelschnittskurven augenfällig machen zu können. Dabei stellt sich beim Weiterdenken naturgemäß die Frage ein, wie denn das Gesamtverhältnis der Reflexionen im Bewußtsein vorzustellen sei. Auch hier müssen wir uns im Rahmen dieser Darlegung mit dem umrißhaften Hinweis auf eine Theorie begnügen, durch die sich diese Frage behandeln läßt. Dabei müssen wir allerdings Phänomene berücksichtigen, die theoretisch nicht zu bewältigen sind, wenn man von einer bloßen Dreidimensionalität des Bewußtseins ausgeht. Das bedingt wiederum, daß wir über den historischen Stand von Fichtes Arbeit hinausgehen müssen. Fichte ist auf jene Phänomene wohl gestoßen, konnte aber naturgemäß jenes Hilfsmittel ihrer Deskription nicht kennen, das die Mathematik erst von Riemann aus mit der Theorie der n-Dimensionalität entwickelte. Wenn wir es im Folgenden benutzen, so müssen wir vorausschikken, daß wir den Ausdruck „Dimension" in seiner allgemeinsten Bedeutung gebrauchen: Mit der „Anzahl von Dimensionen" mei-
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nen wir die Anzahl der Bestimmungsmomente, die zur sachgemäßen Kennzeichnung eines Bereichs notwendig und hinreichend sind. Unter diesem allgemeinen, unräumlichen Dimensionsbegriff können wir sagen, daß die Mannigfaltigkeit des Bewußtseins zu ihrer eindeutigen Bestimmung der folgenden vier „Bestimmungsmomente" oder „Dimensionen" bedarf 2 : 1. Der Dimension der Zeit: Die Genesis der Erscheinung ist zugleich Zeitgenesis. Darum ist jede Erscheinung im Bewußtsein eine zeitliche Erscheinung. Auch wenn „außerhalb" des individuellen Bewußtseins eine unzeitliche Realität denkbar ist, so kommt doch der Erscheinung dieser Realität im individuellen Bewußtsein ein bestimmter Stellenwert innerhalb der Gesamtzeit des Bewußtseins zu. 2. Der Dimension der Evidenz: Was bewußt ist, muß vom Bewußtsein wahrgenommen, „evidiert" sein - ob es sich nun um eine Idee, ein empirisches Faktum oder was immer für ein Phänomen sonst handelt. 3. Der Dimension des Begriffs: Mit jeder Wahrnehmung wird ineins ein Akt des Begreifens in Gang gesetzt. Ohne diesen Akt sei er noch so rudimentär - wird kein Phänomen „bewußt". Der Grad des Begreifens ist daher ebenfalls ein notwendiges und eigenständiges Bestimmungsstück für jeden Bewußtseinsinhalt. 4. Der Dimension der Ordnung: Jedes Phänomen und jede Veränderung im Bewußtsein steht in einer bestimmten Relation zu allen anderen Phänomenen und Geschehnissen im Bewußtsein, auch wenn darauf nicht ausdrücklich reflektiert wird. Jede einzelne Erscheinung ordnet sich so gesehen automatisch an einer bestimmten Stelle in die vorgegebene Struktur des Bewußtseins ein, nimmt einen ganz bestimmten Topos innerhalb der Bewußtseinsrealität ein 3 . 2 3
Vgl. Widmann, Gedanken S. 4 6 5 . Die prinzipiellen Bedingungen dieser Einordnung zu klären, wäre Aufgabe einer transzendentalen Topologie.
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Nun ist denkbar, daß eine Erkenntnisbewegung im Bewußtsein nur als Veränderung der Bestimmungswerte zweier oder dreier dieser „Dimensionen" in Erscheinung tritt. Man kann sich das an einem geometrischen Beispiel deutlich machen: Eine Bewegung, die genau auf der Vorderseite eines Würfels verläuft, äußert sich nur an den Veränderungen der Werte von Breite und Höhe des Würfels, im Blick auf die Tiefendimension des Würfels bleibt die Veränderung dagegen „Null". Entsprechend lassen sich spezifische Prozesse im Bewußtsein denken, bei denen die Veränderungen in Richtung einer oder zweier der Bestimmungsdimensionen prinzipiellen Nullwert haben und sich nur nach den Bestimmungswerten der anderen drei oder zwei Dimensionen bemessen. So gibt es angesichts der 4 Bewußtseinsdimensionen Zeit (Z), Evidenz (E), Begriff (B) und Ordo (O) insgesamt sechs „zweidimensionale" Kombinationsmöglichkeiten sich ändernder Erkenntnisbestimmung, die wir als die prinzipiellen „Reflexionsformen" bezeichnen: (1) ZE (2) EB (3) ZB
(4) BO (5) EO (6) ZO
Das entsprechende Kombinationsprinzip ergibt bei drei sich ändernden Bestimmungswerten insgesamt vier dreidimensionale Bezugsprinzipien: (1) ZEO (2) EBO
(3) ZEB (4) ZBO
Das besagt: Bei der einfachen Wahrnehmungbleibt die Konfiguration zweier Dimensionen konstant, die Konfiguration an den anderen beiden ändert sich. Die einfache Wahrnehmung ist aber noch kein vollständiges Begreifen; ein Begriff konstituiert sich erst, wenn noch eine dritte Bewußtseinsdimension an der sich ändernden Konfiguration beteiligt ist 4 . Um das am Beispiel von (2) EBO, dem idealen Anschauungsraum, zu verdeutlichen: Bei 4
Vgl. dazu die genetische Struktur des „Begriffs". Widmann, Grundstruktur S. 62.
Ili
Anhang
dieser Erkenntnisform bleibt ihre Zeitform unverändert dieselbe - nämlich „Gegenwart". Aber in dieser konstanten Gegenwartsform wächst die genetische Erkenntnis nach Evidenz, Begriff und Ordination. Da unser Bewußtsein empirisch offenkundig an diese Form gebunden ist, ergeben sich daraus im Lichte der späteren Geschichtsspekulation Fichtes ungewöhnliche Konsequenzen: Ist die „Welt dieser Gegenwartsform" ein notwendiges Stadium der Genesis, so erscheinen in ihr wohl die Möglichkeitsbilder, die „Ideen", von „höheren Welten" - aber der reale Überschritt der Erkenntnis in die nächsthöhere Welt wird erst vollziehbar sein, wenn die Erkenntnisgenesis dieser „Gegenwartswelt" sich vollendet hat 5 . Die jeweiligen drei Dimensionen, die einen Begriffsakt konstituieren, formen dabei unter sich jeweils auch drei Konfigurationen von zweidimensionalen Veränderungsbezügen. So sind beispielsweise im idealen Anschauungsraum EBO die drei Reflexionsformen EB, BO und EO unmittelbar mitkonstituiert, also „realiter" tragende Momente seiner Erkenntnisform, während die Reflexionsformen ZE, ZB und ZO in ihm „ideale", d. h. vom individuellen Bewußtsein mittelbar zu konstituierende Wahrnehmungsakte sind. Bringen wir die spezifischen Funktionen ins Spiel, die die sechs Reflexionsformen effektiv im Bewußtsein haben, so ergibt sich zugleich ein überraschender Einblick in die Problemgeschichte von Fichtes Philosophieren. Bei unseren Kegelschnittanalogien hatten wir vier Funktionszuordnungen von Reflexionsformen ermittelt. Streng genommen müssen wir bei diesem Zuordnungsverfahren aber auch die Negativformen der Kegelschnittsgleichungen mit berücksichtigen. In einem Fall haben wir das unvermerkt schon getan - und an seinem Beispiel sei kurz gezeigt, was wir unter diesen „Negativformen" verstehen. Wir hatten das Reflexionsprinzip des individuellen Selbstbewußtseins an der Strukturformel der Ellipse und das Reflexionsprinzip des Ethos an der Strukturformel der Hyperbel veranschaulicht. 5 S W I V , S. 4 9 3 ; S W X I , S. 7 3 f.
Zur Problemorientierung more geometrico
273
Stellen wir beide Formeln nebeneinander, so sehen wir: Ihr einziger Unterschied besteht darin, daß die positive Verbindung der x-Relation mit der y-Relation, die für die Ellipse charakteristisch ist, bei der Hyperbel in eine negative Verbindung umgekehrt ist: Ellipse ^ + ^ = 1
Hyperbel £ - ^
-1
Ein Umkehrverhältnis dieser Art existiert auch zwischen den Formeln von Kreis und gleichseitiger Hyperbel. Das wird deutlich, wenn wir beide in der folgenden Weise schreiben und dabei annehmen a = r: Kreis x 2 + y2 = r 2
Gleichseitige Hyperbel x 2 - y 2 = a2
Konsequenterweise läßt sich eine Negativform auch für die Formel der Parabel herstellen, wenngleich dadurch ein imaginäres Gebilde entsteht: Parabel y2 = 2px
Negative Parabel y2 = -2px
Die Zuordnung der inhaltlichen Bedeutungen und der geometrischen Reflexionsformen sieht dann insgesamt so aus 6 : (1) ZE Materie N. Gleichseitige HyperbePx
(4) BO Recht Positive Parabel
(2) EB Organismus (Pflanze) Ellipse
(5) EO Ethos Ungleichseitige Hyperbel
(3) ZB Instrument (Tier) / Negative Parabel
(6) ZO ^Religion Kreis
Daran wird sichtbar, daß die Reflexionsprinzipien, die den Begriffsraum der idealen Anschauung (EBO) konstituieren, dieselben sind wie die Prinzipien, die das Phänomen der Selbstreflexion des individuellen Bewußtseins und die Erkenntnisbereiche von Recht und Ethos konstituieren. Eben das aber ist jene Trias, 6
Vgl. dazu unser Dichotomieschema o. S. 94.
274
Anhang
an der Fichte analytisch ansetzte, und der die Hauptuntersuchungen in seinen Jenaer Jahren galten: Die Analyse der Selbstreflexion des Ich in der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" von 1794 und die Analysen von Recht und Ethos in der „Grundlage des Naturrechts" von 1796 und dem „System der Sittenlehre" von 1798. Die eigentümlichen Schwierigkeiten, die sich Fichte in der Folge bei der transzendentalen Erschließung des Phänomens der Religion stellten, erhellen, wenn wir die inhaltliche Bedeutung der dreidimensionalen Bezugsstrukturen im Bewußtsein betrachten. Die Konstitutiva im Begriff des idealen Anschauungsraumes haben wir schon mit EBO kennengelernt; dazu treten als die Ideen der anderen Bestimmungsstrukturen des genetischen Begreifens: die Idee der Natur (ZEO), die Idee der Geschichte (ZEB) und die Idee des Sinns (ZBO) 7 . Bei der Betrachtung des Erkenntnisprozesses, der in Fichtes Philosophieren gegen 1800 in Gang kam, müssen wir bedenken, daß Fichte mit ihm eben jene fundamentale Pionierarbeit erst zu leisten hatte, aufgrund derer wir heute solche Strukturphänomene durchklären und präzisieren können. Um so bewundernswerter ist, mit welcher Folgerichtigkeit Fichte bei dieser Aufgabe vorgingIn der - kritisch gegenüber Schellings Naturtheorie geführten Auseinandersetzung mit der Idee der Natur erspürte seine wache Intuition wohl die konstituierende Reflexionsform der Religion (nämlich das Bezugsmoment ZO innerhalb der Bezugsstruktur ZEO des Naturbegriffs). Bei dieser Zuwendung begegnete ihm aber ineins die Einsicht, daß in dieser Struktur eine eigenständige Bewegung des Begriffs (B) nicht wahrnehmbar ist, das Leben des Selbstbegreifens stagniert, das genetische Wachstum des Begriffs zu Null wird. Diese am Ideephänomen ZEO entdeckte Unsichtbarkeit von Begriffsgeschehen - erfaßt im „Begreifen des Unbegreiflichen" - wurde der eigentliche Ausgangspunkt Fichtes in der Begründung seiner Absolutheitsphilosophie. Ihre analytische Bindung an den Übergang bzw. die Differenz zwischen EBO und i Vgl. Widmann, Grundstruktur S. 1 8 2 - 2 0 1 .
Zur Problemorientierung more geometrico
275
ZEO bewirkte aber andererseits auch die radikale Nihilismusdialektik der Wissenschaftslehre von 1805. Die analytische Auseinandersetzung mit der Idee der Geschichte, die gegen 1805 mit Intensität einsetzt, erschloß wiederum den Weg, der aus jenen nihilistischen Aporien herausführte. Denn wie der Übergang von der sich begreifenden Idealität EBO zur Naturidee ZEO, so transzendiert auch der Übergang zur Geschichtsidee ZEB die Begreifensstruktur EBO - aber anders als in der ersteren Grenzbetrachtung bleibt in diesem anderen Übergang die eigenständige Bewegung des sich durchbegreifenden Begriffs (B) erhalten. Jedoch verlagert sich die Schwierigkeit bei diesem Übergang vom Bestimmungsprinzip EBO zum Bestimmungsprinzip ZEB auf ein anderes Problem: Die Veränderungsmöglichkeit des Ordinationswertes (O) ist in ZEB aufgehoben, er bleibt unwandelbar konstant und fällt damit als möglicher Indikator für das hier sich vollziehende genetische Geschehen weg. Das besagt: Das Ordinationsbild der Geschichte läßt sich nicht apriori aus der bloßen Idee der Geschichte ablesen („deduzieren"), sondern muß durch die Prozesse realer Zeit-, Evidenz- und Begriffsgenesis ermittelt, „in Erfahrung gebracht" werden. Für Fichtes Untersuchungen bedeutete dies, daß er nicht - wie er vielleicht gehofft hatte - durch die transzendentale Untersuchung der Geschichtsidee allein schon zur Aufdeckung des absoluten Ordinationsprinzips der Erscheinung gelangen konnte. Das führte ihn auch zur späteren Revision des ersten Geschichtsentwurfs der „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" von 1805 durch den zweiten Geschichtsentwurf in der „Staatslehre" von 1813. Aber durch seine Geschichtsanalysen hindurch und über ihr Erkenntnisprinzip hinaus konnte Fichte nun zur Idee des Sinns und deren elementarer Begriffsstruktur ZBO vordringen, an der sich beides vereint vorfindet: die Konstituente differenzierenden Begreifens (B) und die Reflexionsform der Religion (ZO). Damit erst war ihm möglich geworden, die 1806 in der „Anweisung zum seeligen Leben" freigelegte Reflexionsform der Religion - die mit ihrem Prinzip der Liebe eine eigentümlich isolierte Stellung ange-
276
Anhang
sichts der Begriffsarbeit der folgenden Jahre einnahm - der durchgehenden Begriffsvermittlung seiner Philosophie zu integrieren. Die systematische Durchklärung dieser entscheidenden Ansätze der Spätphilosophie blieb freilich mit dem plötzlichen Tod Fichtes in erheblicher Weise Fragment. So kam es auch nicht zu einer expliziten Durchklärung der Sinnfrage selbst8. Die Strukturphänomene, die wir in ihre dimensionalen Konstituenten zerlegt haben, gehören - um einen Ausdruck Fichtes zu gebrauchen - zu den „Tatsachen des Bewußtseins". Solche Tatsachen lassen sich naturgemäß erst analysieren, wenn sie zuvor in ihrer Faktizität überhaupt ermittelt sind. Fichtes Arbeit an diesem zuletzt erschlossenen Applikationsbereich aber brach ab, als er an wichtigen Punkten noch im Stadium der ersten Ermittlung ihrer Faktizität stand. Unsere Unterscheidung zwischen den dreidimensionalen Bezugsstrukturen des Bewußtseins und seinen zweidimensionalen Reflexionsformen ist demgegenüber eine Konsequenz ans dem methodisch-wissenschaftlichen Verfahren Fichtes, zu der Fichte selber noch nicht vorgedrungen war. An einer solchen Möglichkeit der Fortführung durch andere bewährt sich aber gerade der essentiell wissenschaftliche Charakter eines Werkes. Fichte sah die Aufgabe seines Lebens darin, die Philosophie zur Wissenschaft zu machen. Von dieser Aufgabe hat er das schwierigste Stück gelöst. Wohl hat er dabei den Bau der Philosophie als einer exakten Wissenschaft nicht vollendet - aber er hat ihn möglich gemacht und die Fundamente gelegt.
8
Vgl. Reinhard Lauth, Die Frage nach dem Sinn des Dasein. München 1953. S. 25.
Zeittafel
III
Zeittafel
der wichtigsten Arbeiten, Vorlesungen und Veröffentlichungen Fichtes
1 7 9 1 / 9 2 Versuch einer Critik aller Offenbarung 1793
Zurückforderung der Denkfreiheit Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution Eigne Meditationen über ElementarPhilosophie
1794
Practische Philosophie Rezension Aenesidemus Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre
1794/95 Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre Von den Pflichten der Gelehrten 1795
Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache
1796
Vorlesung über die Moral
1796/97
Grundlage des Naturrechts
Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre
1796/99 Wissenschaftslehre nova methodo 1797/98 Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre 1798
Das System der Sittenlehre Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche WeltRegierung
1799
Appellation an das Publikum
1800
Die Bestimmung des Menschen Der geschloßne Handelsstaat Theorie des Wechsel-Rechts Neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre Sätze zur Erläuterung des Wesens der Thiere
278 1801 1801/02 1803 1804
Zeittafel Sonnenklarer Bericht Darstellung der Wissenschaftslehre Privatissimum für G. D. Vortrag der Wissenschaftslehre (I) Jan.-März Vortrag der Wissenschaftslehre (II) April-Juni Vortrag der Wissenschaftslehre (III) Herbst/Winter
1804/05 Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 1805
Die Prinzipien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre (Berlin) Uber das Wesen des Gelehrten (Erlangen) Vortrag der Wissenschaftslehre (Erlangen)
1806
Die Anweisung zum seeligen Leben
1806/07 Der Patriotismus und sein Gegentheil 1807
Vortrag der Wissenschaftslehre (Königsberg) Ueber Machiavell
1807/08 Reden an die deutsche Nation 1809/10 Vortrag der Wissenschaftslehre 1810
Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse
1810/11 Vortrag der Wissenschaftslehre Die Thatsachen des Bewußtseyns 1811
5 Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten
1811/12 Rechtslehre 1811/13 Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre 1812
Vortrag der Wissenschaftslehre Transzendentale Logik (I) Sittenlehre Transzendentale Logik (II)
1813
Die Thatsachen des Bewußtseyns Vortrag der Wissenschaftslehre Vorträge verschiedenen Inhalts aus der angewendeten Philosophie (sogen. Staatslehre) Tagebuch über den animalischen Magnetismus
1814
Vortrag der Wissenschaftslehre
Literaturhinweise
279
Literaturhinweise 1. Die gesamte Literatur von und über Fichte bis 1967 ist nach Sachgebieten geordnet aufgeführt in: Hans Michael Baumgartner u. Wilhelm G.Jacobs,/. G. Fichte - Bibliographie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968. 2. Sammelwerke: a) Die umfassende Wiedergabe von Fichtes Gesamtwerk besorgt die J. G. Fichte- Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob f und Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Sie gliedert sich in vier Reihen: I Werke; II Nachgelassene Schriften; III Briefe; IV Kollegnachschriften. Die diplomatisch getreu wiedergegebenen Texte sind mit sorgfältigem kritischem Bericht und Vorworten über Entstehung und historische Eingliederung versehen. b) Die alte Sammelausgabe von der Hand des Sohnes Fichtes ist von relativer Zuverlässigkeit in der Wiedergabe der Veröffentlichungen Fichtes, jedoch ohne kritischen Bericht; im Abdruck der unveröffentlichten Handschriften Fichtes finden sich Ubertragungsfehler, sowie nicht gekennzeichnete Auslassungen oder Ergänzungen durch den Herausgeber: Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Herausgegeben von Immanuel Hermann Fichte. 11 Bände. Band I-VIII Berlin 1845-1846; Band IX-XI (ursprünglich als Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke I—III), Bonn 18341835. Unveränd. Nachdruck Berlin 1962. c) Unter denselben textlichen Vorbehalten steht die auf der Basis der „Sämmtlichen Werke" getroffene, nur um karge kritische Anmerkungen erweiterte Sammelauswahl: Johann Gottlieb Fichte. "Werke. Auswahl in sechs Bänden. Hrsg. u. eingeleitet von Fritz Medicus. Leipzig 1908-1911. Nachdruck, Darmstadt 1962. 3. Einzelausgaben der Werke Fichtes sind vorwiegend in der „Philosophischen Bibliothek" (früher Leipzig, jetzt Hamburg) erschienen. Wichtige Erstveröffentlichungen in Einzelausgaben neueren Datums sind: Von den Pflichten der Gelehrten. Jenaer Vorlesungen 1794/95. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob f u. Peter K. Schneider. Hamburg 1971. Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02. Hrsg.
280
Literaturhinweise
sowie mit Einleitung und Anmerkungen versehen v. Reinhard Lauth unter Mitarbeit von Peter K. Schneider. Hamburg 1977. Erste Wissenschaftslehre von 1804, aus dem Nachlaß hrsg. v. Hans Gliwitzky mit einem Strukturvergleich zwischen der WL 18041 und der WL 18042 v o n Joachim Widmann. Stuttgart 1969. Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April bis 8. Juni. Gereinigte Fassung, hrsg. v. Reinhard Lauth und Joachim Widmann unter Mitarbeit von Peter K. Schneider. Hamburg 1975. Rechtslehre. Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812. Nach der Handschrift hrsg. v. Hans Schulz. Leipzig 1920. 2. A. mit Einleitung, Anmerkungen und bibliogr. Hinweisen versehen von Richard Schottky. Hamburg 1980. Ueber das Verhältnis der Logik zur Philosophie oder transzendentale Logik. II. Vorlesung. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. Peter K. Schneider. Hamburg 1982. 4. Als auf Vollständigkeit angelegtes Standardwerk für das Bild Fichtes im Spiegel seiner Zeit gilt neuerdings die Sammlung: J. G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen. Hrsg. v. Erich Fuchs in Zusammenarbeit mit Reinhard Lauth und Walter Schieche. 4 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1978 ff. 5. Als bisher umfassendste und gründlichste Biographie gilt: Xavier Léon, Fichte et son temps. 2 Bde. Paris 1922/27. Neuauflage, Paris 1954,1958,1959. Die erste Lebensbeschreibung war Johann Gottlieb Fichtes Leben und litterarischer Briefwechsel. Hrsg. v. seinem Sohne Immanuel Hermann Fichte. Sulzbach 1830-31. 2. sehr verm. u. verb. Aufl., Leipzig 1862. 6. Eine repräsentative Übersicht zum Stand der Fichte-Forschung bis 1977 bietet: Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes. (Vorträge der internationalen Fichte-Tagung in Zwettl/Österreich 1977). Hrsg. v. Klaus Hammacher. Hamburg 1981. Eine wichtige Ergänzung dazu bringt die Sammlung Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte. Reinhard Lauth zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Klaus Hammacher u. Albert Mues. Stuttgart-Bad Cannstatt 1979. 7. Neuere Literatur zu Fichtes Wissenschaftslehre: Michael Brüggen, Fichtes Wissensckaftslehre. Das System in den seit 1801/02 entstandenen Fassungen. Hamburg 1979. Wolfgang Janke, Fichte. Sein und Reflexion - Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970.
Literaturhinweise
281
J. G. Fichte, Oeuvres choisies de philosophie première. Traduction par A. Philonenko. 2. A. Paris 1972. Joachim Widmann, Analyse der formalen Strukturen des transzendentalen Wissens inj. G. Fichtes 2. Darstellung der „Wissenschaftslehre" aus dem Jahre 1804.1. D. München 1961. -, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach J. G. Fichtes Wissenschaftslehre 18042. Hamburg 1977. -, La structure interne de la Doctrine de la science de 1804, in : Archives de Philosophie, Tome 25 (1962). Paris. -, Zum Strukturverhältnis der WL 18041 und 18041, in: J. G. Fichte, Erste Wissenschaftslehre 1804. Stuttgart 1969. -, Hegel critique de Fichte et la doctrine de la science de 1804, in : Archives de Philosophie, Tome 30. Paris 1975. -, „... denn wohlverstanden hat er recht". Gedanken zu Fichtes Jenaer Bemerkungen über Leibniz. In: Erneuerung der Transzendentalphilosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1979. -, La ordenacion del caos. In: Anuario filosofico. Vol. XI-2. Navarra 1978. -, Exact concepts. Fichte's contribution on a problem of tomorrow. In: Idealistic Studies, vol. Xl/no. 1/1981, Clark University Press, Worcester, Massachusetts 01610. -, Das Problem der veränderten Vortragsformen von Fichtes Wissenschaftslehre - am Beispiel der Texte von 18042 und 1805. In: Der transzendentale Gedanke. Hamburg 1981. -, Existenz zwischen Sein und Nichts. Fichtes Daseins-Analyse in der Wissenschaftslehre von 1805. In: L'héritage de Kant. Beauchesne Éditeur. Paris 1982.
Stichwortverzeichnis A. Personenregister Bach, J. S. 23 Baggesen 34 Bardiii 36 Beethoven 23 Einstein 12 Fichte, Christian 14 - , Immanuel Hermann 17, 24 - , Johanna Maria Dorothea 14 - , Marie Johanne, geb. Rahn 15 f. Franz II. 196 Friedrich Wilhelm III. 17 Goethe 17, 34 Härtung 15 Hegel 24 f., 37, 44 f., 69, 132, 202 f. Heraklit 92 Hölderlin 25 Hufeland 21 Jacobi 25 Jesus 221, 244 ff., 249 f., 254, 257, 265 Johannes (Evang.) 244 Kant 15, 20 f., 24, 29, 41, 44, 46, 55, 85 f., 101, 106, 119, 131 f., 152, 170, 230 ff., 251 Klopstock 15
Krebel 14 Krockow 16 Lauth 26, 28 La vater 15 Leibniz 41, 79 f., 201 f., 205 Machiavelli 172 Marx 25 Mesmer 135 Miltitz 14, 21 Napoleon 159, 195 f., 200 Niethammer 17 Nietzsche 25, 140, 224 Novalis 25 Ott 15 Pestalozzi 197, 200 Platner 44, 147 Piaton 23, 92 Rahn, J. H. 16 Reinhold 29, 46 f. Schelling 25, 36 f., 132 Schlegel (Gebr.) 25, 147 Schopenhauer 25, 79 Sokrates 251 Wolfart 136
Sachregister B. Sachregister (Aufgenommen sind nur die Hauptfundstellen, es ist keine Vollständigkeit angestrebt) Absolutes 27 f., 67, 76, 88, 133, 221, 238 f. Akzidens 114 Allgemeines 73, 206, 256 Allheit 120 Analyse 94 f., 141, 143 Anarchie 162 Anfang 33, 63, 69 f., 103, 109, 150, 223 Anschauung 4 9 , 1 0 7 f., 124,129 Applikation 84-101 Arbeit 171, 253 Artikulation 127, 141 f., 144 Atheismus(streit) 17, 90, 235 Atom 136 Aufforderung (Aufruf) 103, 146 Aufgabe 66 f., 169, 181, 276 Autorität 167, 189 Begriff 28, 39, 68, 83 f., 129 f., 270 ff. Begriffsdichotomie 92 ff. Beruf 171 Besonderes 95, 206, 244, 256 Bewegung 128, 140, 142 Bewußtsein 27, 30, 39, 42, 76, 83, 95, 270 ff. Bild 73, 76, 83, 106, 144, 150, 208 f., 212 Bildung 1 6 1 , 1 6 3 , 1 6 8 , 1 7 1 , 223 Binnengrenze 111 ff., 119 Christentum 168, 222 ff., 244 ff., 251, 254 Dasein 38, 54, 108, 118, 133, 243, 253, 261
283
Deduktion 49, 51, 87, 95, 132 Denken 44, 56 Denkfreiheit 170 Denkoperation 56 deutsch 196, 198, 201 f. Dialektik 37, 45, 67, 70, 83, 92, 170, 190 ff., 202 ff. Dimension 123, 128, 269 ff. Ding 46, 101, 111 Disjunktion 93-97 Du 78, 100, 153 Dyadik 80 Ehe 263 ff. Einbildungskraft 49, 106-109, 183 Einheit 46, 58 f., 67, 71, 81 ff., 92 ff., 104, 120 Eins 205 Ellipse 61, 107, 129, 176, 273 Empfindung 107 f., 129 Endlichkeit 109, 138, 144, 203 Energie 75, 83, 105-111, 125, 129 f., 133 ff, 127 f., 146 Entwicklung 28, 141, 167, 251, 261 Ephorat 159 Epoche 168, 188 Ethik 11, 101, 152 ff., 213 ff. Ethos 12, 50, 9 4 , 1 2 6 , 1 2 9 , 1 6 6 , 179 ff, 224 ff., 237,255,273 f. Erfahrung (Empirie) 40, 88,132, 275 Erscheinung 27 f., 46, 72, 75 f., 89, 239, 260 Erziehung 195 ff., 209 Evidenz 77, 79, 84, 270 ff. Existenz 69, 94, 102, 129, 163 Faktum 83, 86, 131 Fortschritt 161, 215, 224 Frau 264 f.
284
Sachregister
Freiheit 25, 76, 83, 103 f., 109, 128, 145, 148, 154 ff., 157, 1 6 0 - 1 6 4 , 168 f., 172, 215, 219 ff., 224, 2 4 6 Frieden 158, 162 Fünffachheit 5 8 , 8 4 , 8 9 , 1 3 4 , 1 8 8 Gefallen 5 2 Gefühl 52, 183 Gegenwart 125, 138 Geist 39, 2 5 0 f. Gelehrter 28, 43, 209 ff. Genesis 33, 38, 45, 48, 53, 69, 75 f., 81 f., 83, 99, 136, 250 Geometrie 13, 41, 2 6 6 ff. Gericht 159 Geschichte 29, 53, 91, 94, 96, 129, 162, 168, 190 ff., 213 f., 274 Gesellschaft 85, 1 7 4 - 1 7 8 , 256, 263 Gesetz 40, 76, 83, 104, 154, 157 Gewißheit 75, 236 Glaube 167, 222, 235 ff., 251 Gleichheit 168, 263, 265 f. Glück(seligkeit) 187, 230 ff. Gott 38, 89, 163, 167 ff., 212, 231 ff., 2 3 5 , 2 3 8 f., 2 4 6 f., 254, 257 Grenze 49, 65, 106, 109-113, 133 ff., 145 f. Grundsatz 29, 33 f., 39, 4 6 ff., 53 Grundterm 83, 92 Gutes 1 8 7 , 2 4 2 Handeln 51, 54, 145, 215 Handelsstaat 170 ff. Harmonie 189, 219, 231 Himmel(reich) 168, 248 ff., 254 Hyperbel 129, 176, 225 ff. 273
Ich 31, 34, 48, 56, 71, 81, 83, 9 7 , 1 5 6 , 166, 176 - absolutes 5 1 , 5 3 , 67, 7 6 , 1 8 2 , 192, 2 3 4 - individuelles 51, 67, 76, 102, 143 f., 153, 156, 179 ff. Ideal 50 ff., 65 Idealismus 40, 70 f. Idealität 64 f., 70 f., 112 Idee 51, 54, 73 f., 181, 2 0 8 , 2 1 2 , 214, 246, 268 Identität 36, 55 f., 2 0 4 ff., 216, 267 ff. imaginär 121, 204, 273 Individuum 53, 100, 145 f., 156, 177, 186, 192, 217, 221, 229, 244, 255 f., 265 Instinkt 189, 197, 213 Intellekt 132 Intelligenz 40, 50, 237 Interpersonalität 67, 78, 88, 101-104, 152 f. Kausalität 57, 115, 146, 180 Kategorien 1 0 6 , 1 1 3 - 1 2 2 , 134 f. Kegelschnitt 13, 60, 128 f., 269 Kirche 234, 255 ff. Körper 145 f. konkret 95, 207 Konstruktion 41 f., 66 Kontinuum 123, 138 Kraft 47, 49, 53 f., 106, 136 ff., 149, 168 Kreis 129, 139, 224, 2 6 2 f., 265 f., 273 Kritik 10, 1 5 , 2 0 , 117, 229 ff. Kultur 197 Kunst 142, 167, 169, 172, 189, 200, 218 Leben 26, 28 f., 32, 74, 83, 151, 1 6 3 , 2 1 6 , 2 2 3 , 2 4 0 ff., 2 5 2 , 2 6 5
Sachregister Legalität 8 9 Lehrer 1 6 7 f., 2 1 0 Leib 1 4 5 f . , 1 5 7 Leiden 3 4 f . , 5 6 , 2 3 2 Lernen 1 6 7 , 2 2 0 , 2 6 4 Licht 68, 83 Liebe 2 4 0 ff., 2 5 2 , 2 6 1 , 2 6 4 ff. Limitation 117, 1 2 2 , 127 Logik 3 7 , 3 9 , 4 3 f., 5 5 , 5 7 , 69, 80, 130 f., 1 3 6 , 2 6 8 Macht 1 5 8 f., 1 6 4 , 1 9 4 , 2 3 7 , 2 5 4 Mangel 171 Mann 2 6 4 ff. Mannigfaltigkeit 6 7 , 7 3 , 9 2 Materialismus 88 Materie 9 4 , 1 3 5 , 1 4 4 ff., 1 5 2 , 273 Mathematik 12, 19 f., 4 1 , 7 9 f., 2 0 5 , 2 6 7 ff. Mensch 2 8 , 9 4 , 9 8 ff., 103 f., 1 2 9 , 1 4 3 - 1 5 0 , 168 f., 1 7 4 , 251, 264 Metaphysik 4 4 , 163, 168 Methode 66 Mißfallen 5 2 Mißtrauen 159, 161 Mittel 1 4 1 , 2 4 7 Modalität 1 1 7 ff. möglich 118 Moral(ität) 8 9 f., 2 3 3 Mythos 191 ff., 2 1 9 f. Nachbild 1 2 6 f., 1 2 9 Nachkonstruktion 4 2 , 7 5 , 2 1 8 f. Nation 1 5 9 , 196 ff. Natur 12, 88, 9 0 , 1 3 0 - 1 5 5 , 1 6 5 , 167, 176, 1 8 2 , 1 9 0 , 2 1 7 ff., 230, 264 274 - -plan 1 3 9 , 143 - -recht 101, 1 5 7 ff. - -Wissenschaft 1 3 2 , 153
285
Negation 81 ff., 1 2 2 , 1 2 7 , 199,
202 ff.
Nicht-Ich 3 4 , 4 8 ff., 5 4 , 5 6 , 9 7 f., 102, 133 Nichts 7 0 , 122, 144, 1 6 3 , 211 f., 240 Nichtsein 69, 118 Nihilismus 2 5 , 144, 2 7 5 Normalvolk 1 9 3 ff., 2 0 0 , 2 1 9 Not 164 Notstaat 1 6 1 f., 1 6 4 , 1 6 6 , 2 5 5 Notwendig(keit) 118 Null(um) 5 7 , 5 9 , 117, 2 0 7 , 2 7 1 Objekt 3 9 , 4 0 , 4 7 , 6 1 , 7 0 , 7 8 , 83, 85, 1 0 4 - 1 2 8 , 148, 1 5 2 Objektivität 6 2 Offenbarung 2 2 3 , 2 2 9 ff., 2 5 8 ,
261
Ordnung 1 6 2 , 2 7 0 ff. Organisation 142, 2 2 0 Organismus 1 3 5 , 1 3 9 , 1 4 4 , 2 7 3 Pädagogik 2 8 f., 197, 2 0 9 Parabel 1 2 9 , 173 f., 1 7 7 f., 2 7 3 Passiv(ität) 4 9 , 2 3 2 Patriotismus 1 7 2 , 1 9 6 ff. Permutation 8 0 f., 84, (271 ff.) Person, Persönlichkeit 89, 157, 166, 2 2 1 , 2 2 6 Pflanze 9 4 , 139 ff., 2 7 3 Pflicht 1 5 8 , 186, 2 1 0 Phänomenologie 67, 7 2 , 7 6 Philosophie 1 3 , 1 6 , 1 9 , 2 4 , 2 6 ff., 4 3 f., 2 5 9 , 2 7 6 - Absolutheits-Ph. 11 f., 1 3 1 , 1 3 6 - angewandte 11 f., 19, 2 9 , 7 6 , 85 ff. - kritische 10 - philosophia prima 2 7 Physik 136 Plan(wirtschaft) 171
286
Sachregister
Politik 1 6 9 , 1 7 2 Potenz 4 2 , 100, 107, 2 2 7 f., 2 5 3 Prädetermination 185 Praxis 2 8 , 3 5 , 4 6 , 5 0 ff., 5 9 , 64, 66, 7 7 Prinzip 2 9 , 33, 3 8 , 4 6 , 7 8 , 86, 140, 1 6 2 , 1 7 9 , 1 8 6 , 2 0 8 , 2 1 7 , 237 Projektion 128 Punkt 1 1 6 Qualität 121 f. Quantität 119 ff., 1 3 4 f. R a u m 1 2 2 - 1 2 5 , 1 3 7 , 1 5 2 , 2 7 1 ff. realistisch 63 f., 6 5 , 7 0 f. Realität 4 9 , 51, 64 f., 7 4 , 7 8 , 104, 112, 121, 2 6 8 Recht 12, 14, 9 0 , 9 4 , 9 6 , 129, 1 5 2 - 1 7 8 , 273 Reden 2 1 , 198 ff. Reduktion 8 7 Reflexion 4 5 , 4 9 , 5 2 , 5 4 , 60 ff., 240, 269 - -sform 1 2 8 - 1 3 0 , 172, 2 7 1 ff. Reich 88, 104, 1 6 7 , 1 6 9 , 2 1 7 ff., 2 4 8 ff., 2 5 6 Relation 113 ff., 1 1 6 , 119 Religion 12, 89 ff, 9 4 , 9 6 , 129, 2 2 9 ff., 2 3 6 , 2 4 2 , 2 6 1 , 2 7 3 Republik 1 9 , 2 6 6 Revolution 2 1 , 1 5 2 , 1 5 9 , 1 7 0 , 2 1 1 Richtung 107, 1 2 5 ff. Romantik(er) 2 5 , 3 6 schöpferisch 31, 4 7 , 5 3 , 1 0 0 Seele 141 Sehen 7 7 Sein 4 8 , 5 4 , 69, 129, 163, 178, 205, 208, 220, 274 Seinslehre 7 2 Sehnen 5 2 , 103, 2 4 1
Selbst 83 - -bestimmung 5 1 f. - -bewußtsein 3 1 f., 4 0 , 4 6 , 5 4 , 7 6 f., 9 7 - 1 0 0 , 1 3 6 , 145, 176, 190 - -sucht 199 f. - -Verwirklichung 5 3 , 1 0 3 , 1 4 4 , 156, 164 f., 2 4 8 Seligkeit 2 3 0 , 2 4 0 ff. Setzen 4 8 Sinn(esorgan) 134, 145, 149 ff.,
212
Sinn(frage) 3 6 , 3 8 , 5 0 , 9 4 , 9 6 , 1 2 9 , 1 6 3 , 178, 2 0 5 , 2 0 8 , 2 2 0 , 274 Sinnlichkeit 88 Sittenlehre 9 0 , 1 0 1 , 1 7 9 ff., 213 ff. Sittlich(keit) 161, 1 6 6 , 181, 2 1 5 , 221, 257 Sohn Gottes 2 4 4 ff., 2 5 0 , 2 6 1 Soll 7 3 , 83, 181 Spiegel 61, 103 Sprache 1 4 7 - 1 5 1 , 2 0 0 ff. Staat 9 7 , 155 f., 1 5 9 - 1 7 2 , 2 5 4 f. Staatsinterdikt 159 Staatslehre 1 5 2 , 163 ff., 2 1 7 ff., (245 ff.) Stoff 138, 2 1 8 Streben 5 1 , 5 4 Subjekt 61, 7 0 , 83 Substanz 5 8 , 1 1 4 Symbol 2 3 4 , 2 5 7 ff. Symmetrie 63 ff. Synthesis 3 5 , 3 7 , 5 8 , 67, 9 4 f., 141, 143 System 3 2 ff., 39 f., 4 6 , 85, 1 3 8 , 141, 1 5 6 , 177, 2 3 7 Tathandlung 2 7 , 4 6 ff., 86 Tatsache 2 7 f., 3 7 , 4 4 f., 86, 2 7 6 Technik 5 0 Teilbarkeit (Quantitabilität) 48
Sachregister Teufel 2 4 1 Tier 9 4 , 9 8 , 102, 135, 1 3 9 - 1 4 4 , 187, 2 3 5 , 2 7 3 Theokratie 168 f. Theologie 1 4 , 2 5 9 Theorie 2 8 , 30, 3 5 , 4 6 , 4 8 ff., 59 f., 63, 66 Tod 252 Trägheit 187 transzendental 2 7 , 4 0 , 4 4 Trieb 5 2 , 1 4 2 ff., 180, 183 f. Trinität 2 5 0 f. Tun 56 Übel 1 8 7 Übersinnliches 150 f. Unbegreiflich(es) 6 8 , 2 0 5 Unbewußtes 5 1 ff., 6 2 Unendlich(es) 5 4 , 1 2 4 , 1 7 6 , 2 0 3 , 2 1 7 , 2 2 5 , 2 2 7 f. Ungleichheit 168, 2 6 3 , 2 6 5 unmöglich 1 1 7 f. Unsterblichkeit 2 1 6 Unvorstellbar(keit) 2 0 5 Urbegriff 69 Urpaar 148, 1 9 2 Urrecht 1 5 7 f. Ursache 4 9 , 115, 1 5 7 Ursprung 7 0 , 7 4 Urstaat 163, 2 1 7 ff. Urvolk 192, 2 1 9 Urteilskraft 4 9 Vater 2 5 0 Vektor 1 2 0 - 1 2 3 Verfassung 169 Vermittlung 3 5 vernichten 5 6 , 7 3 , 161, 2 0 7 Vernunft 4 6 , 4 9 ff., 7 5 , 1 0 0 , 1 4 7 , 164, 2 4 1 - -kunst 28 f., 189, 2 2 3 - -reich 167, 223, 2 4 9 , 2 5 4 f., 2 6 5
-
287
-religion 2 3 3 f. -wesen (endliches) 67, 7 6 , 100 ff., 1 3 6 , 1 5 6 , 1 6 3 f., 1 7 4 f. -Wissenschaft 1 8 9 , 1 9 7 ff., 2 0 8 ,
211
Verstand 4 9 , 7 5 , 136, 147, 1 6 1 , 164 f., 1 6 7 f., 2 1 0 , 2 1 7 , 2 2 4 , 251 - (göttlicher) 2 1 7 , 2 4 7 ff. Vertrag 154 f., 158 Vertrauen 1 5 8 , 161 Vielheit 117, 1 2 0 Volk 150 f. Vorbild 100, 2 0 9 ff. Vorstellung 4 9 f., 5 4 , 5 8 , 64 Wachstum 139 Wahl 1 8 5 , 2 1 5 Wahrheit 6 7 , 2 5 0 , 259 Wechselbestimmung 5 7 Wechselwirkung 113, 1 1 6 Welt 6 7 , 7 2 , 8 8 , 1 0 3 f., 1 3 4 , 1 5 2 , 157, 1 6 7 f., 183, 2 1 2 , 2 1 6 , 221, 237 Weltplan 1 8 8 , 2 2 3 , 2 4 6 , 2 5 3 Werkzeug 141 f., 150 f., 2 1 6 Wert 1 6 3 , 2 4 4 Widerspruch 5 4 ff., 66, 7 2 , 9 2 Widerspruchsfreiheit 5 4 - 6 0 Wilde 193 ff., 2 1 9 Wille 8 3 , 1 6 2 , 1 6 5 f., 1 7 9 , 2 3 7 , 2 5 3 Wirklichkeit 1 0 0 , 121 Wirkung 1 1 5 , 117 Wirtschaft 1 6 1 , 171 Wissen 29 ff., 4 4 ff., 152, 1 6 2 , 168, 1 7 7 , 193 ff, 2 1 0 Wissenschaft 2 4 , 2 6 , 3 8 , 4 5 f., 276 Wissenschaftslehre 9, 11 f., 17 f., 2 0 , 2 2 f., 2 6 - 8 8 , 170, 2 4 2 Wunder 2 4 5 f. Wurzel 5 7 , 7 4 , 2 0 3 f., 2 5 3
288
Sachregister
Zeichen 41, 79 f., 148 Zeit 125-128, 136 ff., 190, 215, 228, 270 ff. - -alter 187 ff., 199 Ziel(vorstellung) 27, 50 f., 112, 126, 135, 211 Zirkel 32
Zufall 117 f., 141 Zukunft 33, 125 f., 218, 223 Zwang 157, 163 f., 166, 168, 172 Zwangsrecht 158 Zweck 157,163,175 f., 218,247 Zweifel 237