Deutscher Wortschatz: Lexikologische Studien. Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag von seinen Marburger Schülern [Reprint 2011 ed.] 9783110848489, 9783110108927


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German Pages 958 [964] Year 1988

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Table of contents :
Vorwort
Eine wissenschaftsbiographische Skizze.
Als Betreuer von Promotionen und Habilitationen.
I. Allgemeine Wortschatzforschung
Motivation und Kommunikation
Original und Variation. Zur Kreativität bei der Benennung von Personen
Ist das Deutsche eine Mischsprache? Zur Stellung der Fremdwörter im deutschen Sprachsystem
Skizze eines semantischen Wortbildungsmodells
Zu einigen deutschen und englischen Dimensionsadjektiven. Eine vergleichende Analyse
II. Wortschatzwandel
Lexikalische Tendenzen in der Gesetzessprache des 18. bis 20. Jahrhunderts, dargestellt am Scheidungsrecht
Zur Vertikalisierung des Varietätenspektrums in der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen
Argumentationswörter. Sprachgeschichtliche Stichproben bei Müntzer und Forster, Thomasius und Wolff
Zur Wortgeschichte und lexikographischen Belegung von Text und Kontext
Obd. der Furm – eine etymologische Doublette von nhd. die Form. Zur Geschichte eines obsoleten Lehnworts
Besen und Bast
III. Historischer Wortschatz
Die Bezeichnungen der Himmelsrichtungen bei Luther
Textabhängige Wortverwendung in der Flugschriftensammlung „Bundesgenossen“ von Johann Eberlin von Günzburg
Zum Gebrauch des Genitivattributs in einem Fachprosatext des 16. Jahrhunderts
Zur Begrifflichkeit der Sprachgeschichtsschreibung: Der ,Dialekt‘ als Sprache des ,gemeinen mannes‘ und die Kodifikation der Sprache im 18. Jahrhundert
Regionalsprachliches in der historischen deutschen Studentensprache des 18. und 19. Jahrhunderts
Anstöße zur Begründung der Metasprachlichen Lexikographie
Fremdwörter im Umfeld der Literatur. Jiddisch im George-Kreis
IV. Wortschatz der Gegenwartssprache
Nazi-Verbrechen und öffentliche Sprachsensibilität. Ein Kapitel deutscher Sprachgeschichte nach 1945
gleich ist nicht gleich. Beobachtungen zu gleich-Wörtern in der BRD
Wortbildung und Wortwahl im heutigen Werbedeutsch
Zu Status und Funktion arealer Kennzeichnungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern
Die Wertung landschaftlicher Bezeichnungsvarianten in der deutschen Standardsprache
Sprach-Fossilien. Beobachtungen zum Gebrauch, zur Beschreibung und zur Bewertung der sogenannten Archaismen
V. Dialektwortschatz
Grundzüge der großräumigen bairischen Wortgeographie
Zur Struktur und Arealtypologie alltagssprachlicher Worträume in Hessen
Großlandschaftswörterbuch und Handwörterbuch. Zu Darstellungsmöglichkeiten dialektaler Lexik des Niederdeutschen
Germania Romana im Deutschen Wortatlas. II. Die Bezeichnungen der Patenschaft
Zur wortunterscheidenden Funktion der rheinischen Schärfung
Zum lexikalischen Ausbau des Nordfriesischen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart
VI. Angewandte Wortschatzforschung
Was eigentlich ist Fachlexikographie? Mit Hinweisen zum Verhältnis von sprachlichem und enzyklopädischem Wissen
Man kann und sollte Bedeutungserläuterung und Sachbeschreibung im Wörterbuch trennen. Ein unpraktisches Plädoyer für Sprachwörterbücher
Stichwort Umgangssprache. Werkstattbericht zum neuen „Paul“
Wörter für einen Rechtschreib-Grundwortschatz
Bedeutung als Unterrichtsproblem im Muttersprachunterricht
Können Sie mir bitte 10 000 Lire ändern? Überlegungen zur Frage nach zweisprachiger Wortschatzarbeit im Unterricht Deutsch als Fremdsprache für Italiener
Worterkennung und Satzstruktur in der Künstlichen Intelligenz
Sachregister Erstellt von Andreas Garth
Adressen der Autoren
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Deutscher Wortschatz: Lexikologische Studien. Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag von seinen Marburger Schülern [Reprint 2011 ed.]
 9783110848489, 9783110108927

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Deutscher Wortschatz

Deutscher Wortschatz Lexikologische Studien Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag von seinen Marburger Schülern

Herausgegeben von

Horst Haider Munske Peter von Polenz Oskar Reichmann Reiner Hildebrandt

w DE

_G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1988

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)

CIP-Titelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Deutscher Wortschatz : lexikolog. Studien ; Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag von seinen Marburger Schülern / hrsg. von Horst Haider Munske ... — Berlin ; New York : de Gruyter, 1988 ISBN 3-11-010892-5 NE: Munske, Horst Haider [Hrsg.]; Schmitt, Ludwig Erich: Festschrift

Copyright 1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 — Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Übersetzung, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Mit dieser Geburtstagsgabe zum 10. Februar 1988 ehren wir einen germanistischen Forscher und Universitätslehrer, der uns mit Zielstrebigkeit und Ausdauer drei Prinzipien der von den Brüdern Grimm begründeten Wissenschaft vorgelebt und bis heute ständig vor Augen gehalten hat: — Einheit des Faches Germanistik im umfassendsten Sinne — ungebrochene Kontinuität wissenschaftlicher Generationenarbeit — Verpflichtung zu sprachwissenschaftlicher Landesforschung. Solchem Vorbild sind viele von uns nur teilweise gefolgt. Eine akademische Nachwuchsgeneration, die durch geistige Erschütterungen um 1945 und nach 1968 zunehmend mobil und unruhig, innovationsfreudig und freiheitsdurstig geworden war, hat in den 60er und 70er Jahren den internationalen LinguistikBoom, die Entwicklung der Germanistik zum Massenfach und die Umstellung der Universitätslaufbahnen von Schüler-Protektionen auf den offenen Bewerbungsmarkt nicht ganz ohne Kontinuitätsbrüche überstehen können. Viele von uns mußten aus innerem wie äußerem Drang für unsere Wissenschaft und Lehre neue Aufgaben und Wege suchen, von denen wir hoffen, daß sie unser verehrter Meister wenigstens stillschweigend zu würdigen bereit ist. In der heutigen Konsolidierungsphase des Faches, angesichts seiner neuen Geschichtsbezogenheit, haben wir es andererseits zu schätzen gelernt, daß er uns durch seine traditionsbewußte Standfestigkeit vor manchen Einseitigkeiten und Ubertreibungen des technokratischen Entwicklungsschubs der Geisteswissenschaften bewahren half. Ludwig Erich Schmitt hat im Vorwort der von ihm herausgegebenen Festschrift für Walther Mitzka (Germanische Dialektologie, 1968) jene germanistischen Festschriften — für Wilhelm Streitberg, Otto Behaghel, Hermann Hirt und Alfred Götze — aufgeführt, „in denen ein einheitlicher, auf die geschlossene Behandlung eines Themas zielender Plan verwirklicht ist". In diese Tradition möchten wir auch unseren Lehrer stellen. Wir haben deshalb als Thema der Festschrift jenes Arbeitsgebiet des Jubilars gewählt, in dem er seine Marburger Schüler in besonderem Maße wissenschaftlich angeregt und befruchtet hat. Die vielseitigen Perspektiven, mit denen er zur dialektologischen und sprachhistorischen, kulturgeschichtlichen, volkskundlichen, soziolinguistischen und fachsprachlichen Interpretation des Deutschen Wortatlas angeleitet hat, und der Nachdruck, mit dem er auch Onomastik und Wortbildung, Stilistik und Lexikographie als Teilgebiete einer Wortschatzforschung in

VI

Vorwort

umfassendem Sinne vertreten hat, haben die künftigen Forschungsinteressen seiner Schüler wesentlich geprägt. Man könnte deshalb, ohne andere Anregungen und Leistungen L. E. Schmitts in den Hintergrund stellen zu wollen, von einer ,Marburger Schule der germanistischen Lexikologie' sprechen. Dies möchte die vorliegende Festgabe dokumentieren und damit zugleich auch an die Begründer dieser Tradition erinnern: die Schöpfer des Deutschen Wortatlas, Walther Mitzka und Bernhard Martin. Vierzig seiner Schüler, die heute an Universitäten der Bundesrepublik, Österreichs, der Niederlande, der USA, Großbritanniens und Finnlands tätig sind, haben sich daran beteiligt, um ihrem verehrten Lehrer ihre Dankbarkeit zu bezeugen. Zu ihnen gehört auch einer seiner ältesten Schüler, Horst Grünert (Kassel); ein schweres Leiden hat es ihm jedoch unmöglich gemacht, seinen Beitrag niederzuschreiben. Die Gliederung dieses Sammelbandes folgt bewährten Mustern: Von der allgemeinen Wortschatzforschung (I) herkommend, wird der Blick zunächst auf die Phänomene des Wortschatzwandels (II) und auf den historischen Wortschatz (III) gerichtet; er wendet sich dann dem Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache (IV) und dem Dialektwortschatz (V) zu, um mit der angewandten Wortschatzforschung (VI) zu schließen. Damit wird versucht, einen aspektreichen, zu weiterer Forschung anregenden Überblick über Methoden, Richtungen und Ergebnisse der germanistischen Lexikologie zu geben. Januar 1988

Die Herausgeber

Inhalt Vorwort

V

Ludwig Erich Schmitt. Eine wissenschaftsbiographische Skizze. Von Peter von Polenz und Horst Haider Munske

XI

Ludwig Erich Schmitt als Betreuer von Promotionen und Habilitationen. Zusammengestellt von Norbert Nail XXI

I. Allgemeine Wortschatzforschung GÜNTER BELLMANN

Motivation und Kommunikation

3

FRIEDHELM DEBUS

Original und Variation. Zur Kreativität bei der Benennung von Personen

24

HORST HAIDER MUNSKE

Ist das Deutsche eine Mischsprache? Zur Stellung der Fremdwörter im deutschen Sprachsystem

46

WOLFGANG PUTSCHKE

Skizze eines semantischen Wortbildungsmodells

75

MARTIN DURRELL

Zu einigen deutschen und englischen Dimensionsadjektiven. Eine vergleichende Analyse

93

II. Wortschatzwandel WOLFGANG BRANDT

Lexikalische Tendenzen in der Gesetzessprache des 18. bis 20. Jahrhunderts, dargestellt am Scheidungsrecht 119 OSKAR REICHMANN

unter Mitwirkung von

CHRISTIAN BURGI, MARTIN

KAUFHOLD u n d CLAUDIA SCHÄFER

Zur Vertikalisierung des Varietätenspektrums in der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen 151

Inhalt

VIII PETER VON POLENZ

Argumentationswörter. Sprachgeschichtliche Stichproben bei Müntzer und Forster, Thomasius und Wolff 181 H A N S O T T O SPILLMANN

Zur Wortgeschichte und lexikographischen Belegung von Text und Kontext 200 RUDOLF FREUDENBERG

Obd. der Furm — eine etymologische Doublette von nhd. die Form. Zur Geschichte eines obsoleten Lehnworts 210 J O R M A KOIVULEHTO

Besen und Bast

246

III. Historischer Wortschatz HERBERT WOLF

Die Bezeichnungen der Himmelsrichtungen bei Luther

261

MONIKA RÖSSING-HAGER

Textabhängige Wortverwendung in der Flugschriftensammlung „Bundesgenossen" von Johann Eberlin von Günzburg 279 GASTON V A N DER E L S T

Zum Gebrauch des Genitivattributs in einem Fachprosatext des 16. Jahrhunderts 321 U L R I C H KNOOP

Zur Begrifflichkeit der Sprachgeschichtsschreibung: Der ,Dialekt' als Sprache des .gemeinen mannes' und die Kodifikation der Sprache im 18. Jahrhundert 336 NORBERT N A I L

Regionalsprachliches in der historischen deutschen Studentensprache des 18. und 19. Jahrhunderts 351 HANS-DIETER KREUDER

Anstöße zur Begründung der Metasprachlichen Lexikographie . . . .

370

H A N S PETER A L T H A U S

Fremdwörter im Umfeld der Literatur. Jiddisch im George-Kreis . . 398

Inhalt

IX

IV. Wortschatz der Gegenwartssprache GEORG STÖTZEL

Nazi-Verbrechen und öffentliche Sprachsensibilität. Ein Kapitel deutscher Sprachgeschichte nach 1945 417 A L F SCHÖNFELDT

gleich ist nicht gleich. Beobachtungen zu gleich- Wörtern in der BRD . . 443 KURT REIN

Wortbildung und Wortwahl im heutigen Werbedeutsch

464

U L R I C H PÜSCHEL

Zu Status und Funktion arealer Kennzeichnungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern 490 JÜRGEN E I C H H O F F

Die Wertung landschaftlicher Bezeichnungsvarianten in der deutschen Standardsprache 511 DIETER CHERUBIM

Sprach-Fossilien. Beobachtungen zum Gebrauch, zur Beschreibung und zur Bewertung der sogenannten Archaismen 525

V. Dialektwortschatz PETER WIESINGER

Grundzüge der großräumigen bairischen Wortgeographie

555

H A N S FRIEBERTSHÄUSER u n d H E I N R I C H J . DINGELDEIN

Zur Struktur und Arealtypologie alltagssprachlicher Worträume in Hessen 628 DIETER STELLMACHER

Großlandschaftswörterbuch und Handwörterbuch. Zu Darstellungsmöglichkeiten dialektaler Lexik des Niederdeutschen 647 REINER HILDEBRANDT

Germania Romana im Deutschen Wortatlas. II. Die Bezeichnungen der Patenschaft 661 GEORG H E I K E

Zur wortunterscheidenden Funktion der rheinischen Schärfung . . . 677 NILS ÄRHAMMAR

Zum lexikalischenAusbau des Nordfriesischen vom 16.Jahrhundert bis zur Gegenwart 687

X

Inhalt

VI. Angewandte Wortschatzforschung HERBERT ERNST WIEGAND

Was eigentlich ist Fachlexikographie? Mit Hinweisen zum Verhältnis von sprachlichem und enzyklopädischem Wissen 729 WALTHER

DIECKMANN

Man kann und sollte Bedeutungserläuterung und Sachbeschreibung im Wörterbuch trennen. Ein unpraktisches Plädoyer für Sprachwörterbücher 791 HELMUT HENNE

Stichwort Umgangssprache. Werkstattbericht zum neuen „Paul" . . . CARL LUDWIG NAUMANN u n d FRANK

SCHINDLER

Wörter für einen Rechtschreib-Grundwortschatz HEINRICH

813 827

SCHLEMMER

Bedeutung als Unterrichtsproblem im Muttersprachunterricht

....

848

LOTHAR JUNG

Können Sie mir bitte 10000 Lire ändern? Überlegungen zur Frage nach zweisprachiger Wortschatzarbeit im Unterricht Deutsch als Fremdsprache für Italiener 865 WERNER H .

VEITH

Worterkennung und Satzstruktur in der Künstlichen Intelligenz . . . 878 Sachregister Erstellt von Andreas Garth

905

Adressen der Autoren

922

Ludwig Erich Schmitt Eine wissenschaftsbiographische Skizze

Der Weg unseres Jubilars zur Erforschung deutscher und germanischer Sprach- und Literaturgeschichte ist schon von Lehrern seiner Schulzeit in Dillenburg und Wetzlar und seiner Studienzeit in Gießen und Leipzig gebahnt und vorgezeichnet, von der Studienstiftung des Deutschen Volkes geebnet worden. Sein besonderes Interesse für die Ausfüllung der empfindlichen Lücke deutscher Sprachgeschichte zwischen Mittelalter und Neuzeit verdankte er seit seinen ersten Gießener Semestern (ab 1928) Otto Behaghel und Alfred Götze, seine fruchtbar damit verbundene Neigung zur Sprachgeographie und Sprachsoziologie Friedrich Maurer. Dieser beschloß 1929 seine Vorlesung „Volkssprache" mit einem Ausflug nach Marburg zum damals noch sehr kleinen, aber durch Ferdinand Wrede schon als neue Hoffnung der deutschen Sprachgeschichtsforschung bekannten „Deutschen Sprachatlas". Hier gewann Schmitt fortan in vielen Arbeitsaufenthalten Ideen und Material von unschätzbarem Wert für seine weiteren Studien. Er ließ sich aber während seiner Leipziger Schülerschaft (ab 1931) und Assistententätigkeit bei Theodor Frings (ab 1934) nicht dazu verleiten, das mühsame Quellenstudium durch großzügige Interpretation der Dialektgeographie zu ersetzen. Auch in seiner bei Frings abgeschlossenen Promotion (1934) und Habilitation (1941) blieb er der von seinen Gießener akademischen Lehrern übernommenen Verpflichtung auf die philologische Germanistiktradition treu. Deren reiches Instrumentarium stand ihm in der von Eduard Sievers geschaffenen einzigartigen Leipziger Institutsbibliothek bis zu ihrer Vernichtung (1943) zur Verfügung. Aufgrund eines Behaghelschen Auftrags, der 1935 von einer kulturpolitischen Akademiekommission institutionalisiert wurde, plante Schmitt zusammen mit Frings eine 4 —6bändige umfassende „Geschichte der deutschen Sprache". Zur Bewältigung dieser weitgespannten Aufgabe mußte er zunächst in umfangreichen Archivstudien zwei dringende Desiderate der Forschung aufarbeiten: die deutsche Urkundensprache in der Prager Kanzlei Karls IV. und die Geschäftssprache der Wettinischen Städte im 14. und 15. Jahrhundert. Die Ergebnisse seiner Studien zur Prager Kanzleisprache sind bereits in den späten 30er Jahren beachtet worden; sie schienen mit ihrer Widerlegung von Thesen Konrad Burdachs den Weg freizumachen für den großen Erfolg der Fringsschen ,Meißnischen Siedelraum these', die damals auch zeitgeschichtlich

XII

Ludwig Erich Schmitt — Eine wissenschaftsbiographische Skizze

opportun erschien und — erstaunlicherweise — nach 1945 noch lange in der Germanistik der Sozialistischen Länder gerühmt wurde, obwohl sie von Sozial- und Wirtschaftsgeschichte weit entfernt war. Daß aber Schmitts Untersuchungen über die thüringisch-obersächsische Geschäftssprache eine quellenkritisch fundierte Widerlegung der Fringsschen Kontinuität von Meißnischer Siedlerausgleichssprache zur neuhochdeutschen Schriftsprache darstellten, konnte bedauerlicherweise erst rund zwanzig Jahre später wahrgenommen werden 1 : Da der größte Teil der Druckbogen und alle sprachgeographischen Karten in der Leipziger Bombennacht am 4. Dezember 1943 und der Stehsatz 1946 in Halle durch Demontage des Niemeyer-Verlags zerstört wurden, war es ihm erst 1966 möglich, eine Neufassung seiner „Untersuchungen" zu publizieren. Inzwischen hatten auch zahlreiche neuere Arbeiten über westund süddeutsche Kanzleien und Druckorte in ähnlicher Weise wie Schmitt die deutsche Sprachgeschichte des 14. bis 16. Jahrhunderts, vor allem die Entstehung der nhd. Schriftsprache, auf eine solidere, differenziertere Basis gestellt 2 . Über diese Wende in der Auffassung des Ostmitteldeutschen hinaus wies Schmitts Hauptwerk noch in anderer, methodologischer Weise in die Zukunft: „Es legt Zeugnis ab von der Kraft und der Entwicklungsfähigkeit der germanistischen Sprachgeschichte, von ihrem Fortschritt im Finden neuer Fragestellungen und in der Erprobung neuer Methoden, die in der Auseinandersetzung mit den älteren, nicht in deren Unkenntnis oder Mißachtung gewonnen sind" (H. Kolb). 3 Wenn wir uns heute zur Überwindung positivistischer und strukturalistischer Beschränkungen um eine soziolinguistische und sprachpragmatische Neufundierung der Sprachgeschichtsforschung bemühen, wird deutlich, daß L. E. Schmitt hierin ein Vorläufer war. Wie sich schon an seiner Einführung des Begriffs Geschäftssprache statt Urkundensprache zeigt 4 , verlagerte er die Perspektive vom institutionellen Text auf die vielfaltigen Tätigkeiten der städtischen Schreiber, die oft zugleich Protokollanten, Berater, Vollzugsbeamte, Gesandte, Zeugen, Archivare, Chronisten, Lehrer, Literaten und Sammler waren. Die notwendige Abhängigkeit der „inneren" von der „äußeren Sprachgeschichte", die Schmitt in diffizilen Untersuchungen lokaler und regionaler Personenbeziehungen des 14. und 15. Jahrhunderts prakti1

Vgl. Herbert K o l b in seiner Rezension. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 223, 1971, 254.

2

Vgl. Klaus Mattheier, Wege und Umwege zur neuhochdeutschen Schriftsprache. In: Z G L 9, 1 9 8 1 , 274—307; Werner Besch, Die Entstehung und Ausformung der neuhochdeutschen Schriftsprache/Standardsprache. In: Sprachgeschichte 1781 — 1810. In beiden Artikeln sind Schmitts „Untersuchungen" unverständlicherweise nicht berücksichtigt.

3

Kolb, a. Λ .Ο., 262.

4

Ludwig Erich Schmitt, Untersuchungen zu Entstehung und Struktur der neuhochdeutschen Schriftsprache. I. Band: Sprachgeschichte des Thüringisch-Obersächsischen im Spätmittelalter. Die Geschäftssprache v o n 1300 bis 1500. Köln/Graz 1966, S. X L V f .

Ludwig Erich Schmitt — Eine wissenschaftsbiographische Skizze

XIII

zierte, entspricht im Prinzip schon den heutigen exemplarischen Fallstudien über soziale Kontexte von Sprachwandel. Methodik und Spürsinn für solche sozialpragmatischen Fragestellungen verdankte er interdisziplinärer Kooperation mit Landes-, Sozial- und Wirtschaftshistorikern, vor allem Rudolf Kötzschke in Leipzig in gemeinsam mit Frings betriebenen Projekten. Darauf vorbereitet war er durch landeskundlich-volkskundliche Studien in Gießen bei Hermann Aubin und Friedrich Stroh. Mit der Herausarbeitung intensiver Autonomie der Schreib- und Lesekultur in der spätmittelalterlichen Stadt war Schmitt der erste, der die heute für die Schriftsprachentwicklung seit dem 15. Jahrhundert anzunehmende Eigensystematik des Schreibens gegenüber dem Sprechen erkannte 5 und zugleich mit der „Umkehrung der Fringsschen Hierarchisierung" auch das junggrammatische „Primat der gesprochenen Sprache" überwinden half (E. Bremer) 6 . Wenn heute im Zeichen der .pragmatischen Wende' die Wiedergewinnung der narrativen Struktur der Sprachgeschichtsschreibung gefordert wird 7 , so ist hier anzumerken, daß sie bei L. E. Schmitt nie verloren war. Die tausend Geschichten und Geschichtchen, mit denen er seine stark assoziativ gestalteten Vorlesungen aus seinem unerschöpflichen Gedächtnis anreicherte, waren immer Geschichten von sprechenden und schreibenden Menschen, von ihren Beziehungen zueinander, ihren Tätigkeiten, ihren Leistungen, Schwächen und Schicksalen. Eine Beschränkung von Forschung und Lehre auf hermetisch eingegrenzte, vom menschlichen Handeln abstrahierte Systeme lag L. E. Schmitt ganz fern. Obwohl er seine von Behaghel übernommenen eigenen Forschungsziele unbeirrt mit weitreichenden Planungen verfolgte, war er als Universitätslehrer und Förderer des wissenschaftlichen Nachwuchses immer offen und vielseitig. Schon in seiner Leipziger Lehrtätigkeit, die er von 1939 bis 1943 wegen politischer Schwierigkeiten mit einem Lehramt in Groningen unterbrechen mußte, Schloß seine Sprach- und Literaturwissenschaft gleichmäßig umfassende Germanistik auch Spezialitäten ein wie Volkskunde, Rechtsgeschichte, Paläographie, Kalligraphie, Typographie, Phonetik, Dialektologie, Onomastik, Niederländisch, Sprachphilosophie, Wissenschaftsgeschichte. Als nach 5

Vgl. Oskar Reichmann, Editionsprinzipien für deutsche Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Sprachgeschichte 693 — 703, bes. 695; Ernst Bremer, Das Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache im Frühneuhochdeutschen. In: Sprachgeschichte 1 3 7 9 - 1 3 8 8 .

6

Bremer, a. a. O., 1380 f. Schmitts letzte Habilitandin Elisabeth Feldbusch hat in ihrer Habilitationsschrift (Geschriebene Sprache. Untersuchungen zu ihrer Herausbildung und Grundlegung ihrer Theorie. Berlin/New York 1985) dieses Prinzip weiter ausgeführt und nachgewiesen.

7

Brigitte Schlieben-Lange, Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung. Stuttgart 1983, 31 ff.

XIV

Ludwig Erich Schmitt — Eine wissenschaftsbiographische Skizze

dem Krieg schlimme Lücken zu füllen waren, förderte er mit intensivem persönlichem Engagement seine Doktoranden und nahm sich gern viel Zeit für ausgedehnte Gespräche, auch bei sich zu Hause. Viele, die später oft pauschal der Frings-Schule zugerechnet wurden, haben von ihm ihre entscheidenden Anregungen erhalten für eine neue Serie von Arbeiten zur ostmitteldeutschen Dialektgeographie (Peter v. Polenz, Rudolf Große, Helmut Protze, Günter Bellmann) und zur Onomastik (Horst Grünert, Hans Walther, Horst Naumann, Herbert Wolf). Die inzwischen international renommierte Leipziger Namenforschergruppe ist aus der „Forschungsstelle für slawisch-deutsche Namenforschung" entstanden, die L. E. Schmitt zusammen mit dem Slawisten Reinhold Olesch 1948 in Leipzig aufgebaut hatte. Auf dem Höhepunkt seines offensichtlichen Lehrerfolgs, als die ersten von ihm selbständig betreuten Promotionen zum Abschluß kamen, als ihm endlich eigene Forschungsmittel bewilligt wurden, als unter seiner begeisternden Leitung erste Exkursionen möglich wurden, kam über Nacht am 14. Oktober 1952 das Lehrverbot, wohl die bitterste Erfahrung seines stets optimistischem Planen hingegebenen Lebens. Diese Maßnahme kam nicht allein von der politischen Obrigkeit, sie hing auch mit dem unausweichlichen Konkurrenzverhältnis zu seinem Lehrmeister zusammen, das seinen nach beiden Seiten hin orientierten Schülern längst hintergründig bewußt geworden war. Die Leipziger germanistische Sprachwissenschaft konnte es dann unter Theodor Frings, Rudolf Große, Wolfgang Fleischer und Gerhard Heibig zu hohem weltweitem Ansehen bringen; sie hätte es aber nicht nötig gehabt, Schmitts Anteil an ihr so weitgehend im Schatten des staatlich geehrten Meisters zu verdrängen. Unter schmerzlichen menschlichen und materiellen Verlusten mußte Schmitt im Winter 1952/53 Leipzig verlassen. Viele seiner Schüler gingen früher oder später den gleichen Weg. Es war kein Zufall, daß dabei der Marburger Sprachatlas als erste Rettungsinsel und Kontaktstelle eine Rolle spielte. 1956 trat Schmitt, nachdem er zunächst von Lehraufträgen gelebt und 1955 eine Professur in Gießen erhalten hatte, die Nachfolge von Walther Mitzka als o. Professor für Germanische und Deutsche Philologie und (ehrenamtlicher) Direktor des deutschen Sprachatlas an. Die Philipps-Universität hatte damals etwa 6000 Studenten; die Fächer der Philosophischen Fakultät hausten malerisch in den aus der Gründerzeit geerbten historischen Gebäuden des Stadtkerns, wobei der Sprachatlas auf 140 m 2 ein Gastrecht der mittelalterlichen Geschichte im Kugelhaus genoß. Mit zwei Assistenten, einer Sekretärin und einer kleinen Handbibliothek verwaltete Mitzka dort ein großes Erbe, die in verblasssenden Farben gezeichneten Blätter des DSA, und arbeitete mit einer Schar freiwilliger, begeisterter Studentinnen und Studenten an der Fertigstellung seines neuen Werkes, des Deutschen Wortatlas.

Ludwig Erich Schmitt — Eine wissenschaftsbiographische Skizze

XV

Der herzlich polternde, lange Reden verabscheuende, stets aufs Konkrete blickende Ostpreuße Mitzka und der eher bedächtig wirkende, zu rhetorischen Exkursen neigende Hesse Schmitt schienen denkbar polare Gegensätze. Tatsächlich verbanden die beiden jedoch wesentliche Eigenschaften: breite Beherrschung germanistischer Philologie und Sprachwissenschaft — über die Grenzen eines nationalen Rahmens hinaus —, Verantwortungsbewußtsein gegenüber der wissenschaftlichen Tradition des Faches, verbunden mit Vorausblick auf künftige Aufgaben, und dazu ein auf Energie und Ausdauer gründendes Durchsetzungsvermögen. Schmitt, der aus seiner wissenschaftlichen Heimat Vertriebene, schickte sich an, in der Heimat seiner Jugend ein zweites Leipzig zu schaffen, ein internationales Forschungs- und Ausbildungszentrum der Sprachgermanistik, mit der Kernzelle des Deutschen Sprachatlas, den er programmatisch in „Forschungsinstitut für Deutsche Sprache Deutscher Sprachatlas" umbenannte. Zunächst galt sein Planen den Voraussetzungen für Forschung: Räume, Geld und Personal. 1960 bezog der DSA die alte Landwirtschaftsschule am Kaffweg (640 m 2 ), 1967 gewann Schmitt im Germanistenturm der neuen geisteswissenschaftlichen Gebäude, die auf sein Antreiben als Mitglied und Geschäftsführer des Bauausschusses der Universität errichtet worden waren, Räume in gleichem Umfang hinzu. Ebenso vervielfältigten sich Personal und Finanzen: 1964 erreichte der DSA einen Personalstand von 50 Mitarbeitern, 1974 einen Gesamtetat aus Landes- und Bundesmitteln von fast 1,5 Millionen DM. Diese beeindruckende Expansion, die sich auch im Ausbau des Bücher- und Zeitschriftenbestandes zur bedeutendsten dialektologischen Bibliothek in Deutschland niederschlug, war das Ergebnis zielstrebig forschungsbezogener und personeller Planung. Schmitt hatte erkannt, daß die Grundlagenforschung im Bereich deutscher Regionalsprachen nicht mehr quasi in Heimarbeit zu bewältigen sei, nachdem die Publikation des Pionierwerkes der Sprachgeographie, Wenkers Laut- und Formenatlas, in Personalnot und mangelhafter Ausstattung steckengeblieben war. Der Entfaltung des Sprachatlas kam entgegen, daß die Studentenzahlen nun rapide zu steigen begannen, für neue Professorenstellen jedoch der Nachwuchs fehlte. Woher kamen die vielen Schüler mit 80 Promotionen und 16 Habilitationen? In seinen Vorlesungen und Seminaren, die von der höfischen Dichtung und den Volksbüchern bis zur Stilistik und den modernen Fachsprachen reichten, von den klassischen Gegenständen der Sprachwissenschaft, Sprachgeschichte, Namenkunde und Dialektologie bis zu den Gründungsvätern der neueren Linguistik und den Entwicklungen der Gegenwartssprache, verstand es Schmitt, die Begabtesten zu entdecken und zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit anzuregen, sie zu fördern, zu drängen — ohne sie jedoch am Gängelband zu führen. Hinzu kamen Schüler, die der Emeritus Mitzka in seinen Altnordisch-Kursen entdeckte, in seinem Schlesischen Wörterbuch

XVI

Ludwig Erich Schmitt — Eine wissenschaftsbiographische Skizze

unterbrachte und an den Sprachatlas weiterreichte. Bereichert wurde das heimische Reservoir durch Stipendiaten aus allen Regionen der Bundesrepublik, aus Osterreich, Großbritannien und den USA, den Niederlanden, Belgien, Skandinavien und Japan. Gleichzeitig fanden zahlreiche ehemalige Leipziger aus der Frings/Schmitt-Schule willkommene Aufnahme in Marburg. Das Arbeitszentrum des Sprachatlas war der neue, technisch angemessen ausgestattete Zeichensaal. Schon Mitzka hatte in Helmut Scholz, einem ehemaligen Wehrmachtskartographen, einen wissenschaftlichen Zeichner gewonnen, der für den DWA und alle folgenden sprachgeographischen Werke erstklassige Grundkarten entwarf und fortan die Professionalität der Kartenherstellung garantierte. Die Arbeit am Wortatlas wurde jetzt mit einer wachsenden Zahl von studentischen Hilfskräften/Doktoranden vorangetrieben und mit dem Fortschreiten des Werkes, das 1980 mit dem 22. Band von Reiner Hildebrandt abgeschlossen wurde, entstanden sprach- und kulturwissenschaftliche Interpretationen der Wortkarten, die L. E. Schmitt in der neu gegründeten Reihe „Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen" (1958—1972), in den „Beiträgen zur deutschen Philologie", in den „Marburger Beiträgen zur Germanistik" und der traditionellen Sprachatlas-Reihe „Deutsche Dialektgeographie" herausgab. Die Fortführung der Atlas-Tradition konzipierte Schmitt auf drei Ebenen: 1. Neuausgabe des alten Laut- und Formenatlas, der inzwischen ein historisches Dokument geworden war, in datenmäßig ausgewählter Form. Dieser Plan wurde inzwischen von seinen Schülern Wolfgang Putschke und Werner H. Veith, nunmehr computerunterstützt, ausgeführt und steht vor dem Publikationsabschluß. 2. Wiederaufnahme der Feldforschung auf regionaler Basis, dabei vordringlich der Dokumentation der Mundarten der deutschen Ostgebiete. Von diesen „Regionalatlanten" sind erschienen: Siebenbürgisch-sächsischer Sprachatlas (3 Bände), Luxemburgischer Sprachatlas (1 Band), Tiroler Sprachatlas (3 Bände), Schlesischer Sprachatlas (2 Bände), Linguistic Atlas of Texas German. Weitere befinden sich in Arbeit oder wurden von seinen Schülern in Angriff genommen. 3. Anregung und Mitbegründung des Europäischen Sprachatlas (Atlas Linguarum Europae). Auch hier haben seine Schüler (Hildebrandt, Putschke, Ärhammar) inzwischen die Stafette übernommen. .Europa' war für Schmitt kein leerer Begriff. Er konkretisierte sich für ihn in der Gemeinsamkeit des lateinischen Mittelalters, aus der die Universitäten hervorwuchsen, dem Aufbruch des Humanismus, der wechselseitigen Durchdringung der Literaturtraditionen und wissenschaftlichen Konzeptionen — dies alles Lieblingsthemen seiner Vorlesungsexkurse. Er konkretisiert sich ebenso im Blick auf die kleineren germanischen Sprachen, denen — voran

Ludwig Erich Schmitt — Eine wissenschaftsbiographische Skizze

XVII

das Niederländische — seine Aufmerksamkeit galt, indem er entsprechende Interessen seiner Schüler, sei es für das Friesische oder Jiddische, die skandinavischen Sprachen oder die Minoritätensprachen in Amerika, bestärkte und förderte. 1962 verbrachte er mehrere Monate in den USA und knüpfte zahlreiche Kontakte, die fortan zu einem regen Export Marburger Germanisten in die Neue Welt führten. Noch bevor der Name von Noam Chomsky in aller Munde war, ließ er über die „Syntactic Structures" referieren, noch vor Eintritt ins Computerzeitalter schickte er eine Gruppe von Mitarbeitern zu einem Programmierkurs ins Mathematische Institut, damit sie an einer Zuse 23 die Grundlagen für einen geplanten (1970 erschienenen) Büchner-Index erlernten. Aus dieser Anregung erwuchs die Marburger Computerlinguistik. Ein sichtbarer Ausdruck der Wirksamkeit des Sprachatlas unter L. E. Schmitt war die Durchführung des 2. Internationalen Dialektologenkongresses in Marburg 1965, dessen Kongreßbände Schmitt als Präsident herausgab. Ein Hang zum Enzyklopädischen war Schmitt stets eigen. Nur ein Teil des Entworfenen und Geplanten ließ sich realisieren. Dies jedoch hat Bestand: Zum 80. Geburtstag seines Amtsvorgängers Walther Mitzka brachte er eine Festschrift heraus, die erneut Anspruch und Verantwortung des Sprachatlas dokumentierte: „Germanische Dialektologie" (2 Bände, 1968). Wenige Jahre danach erschien der „Kurze Grundriß der Germanischen Philologie bis 1500" (2 Bände, 1970 f.) von Werner Betz geplant, von Schmitt weitergeführt. Daneben seien die großen, von Schmitt begründeten Dokumentationsreihen „Documenta linguistica. Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts" (1962 ff.) und die „Bibliothek der deutschen Sprache" (1970 ff.) genannt. Dies Vorbild, den Stand der Forschung einer Disziplin umfassend und durch die kompetentesten Wissenschaftler zu dokumentieren, damit dies Wissen sich verbreite und zur Grundlage gemeinsamer Weiterarbeit werde, hat unter L. E. Schmitts Schülern lebhafte Nachfolge gefunden. Aus heutiger Sicht erscheint der Sprachatlas als das große Wirkungsfeld von L. E. Schmitt, in dem seine Leistungen unverwechselbar hervortreten und lange in die Zukunft nachwirken werden. Diese Gewichtung wird jedoch seiner Wirksamkeit als Direktor des Germanistischen Instituts und als leitendes Mitglied zahlreicher Gremien der Philipps-Universität noch nicht gerecht. Hervorzuheben sind hier seine Aktivitäten als Schriftführer des Universitätsbundes, in dessen Ägide das Christian-Wolff-Heim für Studierende errichtet wurde, als treibende Kraft in Bauausschüssen der Universität und der Philosophischen Fakultät und als langjähriges Mitglied der Kommission für die Verleihung des „Brüder-Grimm-Preises". Von seinem Erfolg als akademischer Lehrer im Massenfach Germanistik legt die lange Reihe nichtdialektologischer Dissertationen aus einer Vielzahl verschiedener Arbeitsgebiete beredtes Zeugnis ab.

XVIII

Ludwig Erich Schmitt — Eine wissenschaftsbiographische Skizze

Auch ein zweiter Eindruck ist zu korrigieren: so viel Schmitt von sich, seinen Mitarbeitern und Schülern forderte, so gerne er an die asketische Tradition der Benediktiner erinnerte — er verstand auch etwas von der Geselligkeit in Festen und Feiern. Im Sprachatlas wurde der Keller für solche Zwecke ausgebaut. Zur Gemeinschaft des Arbeitens gehörte die Gemeinschaft des Umtrunks. Institutsgäste und -schüler wurden regelmäßig von Frau Schmitt zu Kaffee und Kuchen oder zum großen Schnittchen-Essen eingeladen. Auf zahlreichen wissenschaftlichen Exkursionen entpuppte sich der durch Kinderlähmung Körperbehinderte als ein ausdauernder Wanderer. Mit dem Stock bergauf, bergab zeigte er den Jungen, wie ein starker Wille schwere Handicaps überwinden kann. Als Direktor des Germanistischen Instituts veranstaltete er die weitläufigen Institutsfeste im Park von RauischHolzhausen. Wo sind sie geblieben, diese gemeinsamen Veranstaltungen von Lehrenden und Lernenden? Der Erfolgskurs von L. E. Schmitt wurde 1970 jäh gebremst. Das auf seine Autorität gegründete, von seiner Triebkraft lebende Forschungsinstitut geriet ins Kentern, als das Hessische Universitätsgesetz die Demokratisierung der Wissenschaft befahl, dem Sprachatlas ein Leitungskollektiv verordnete und dieses einem drittelparitätisch besetzten Fachbereichsrat unterstellte. Politische Kämpfe schüttelten die Alma Mater Philippina; sicher geglaubte Traditionen des Wissens und Forschens gerieten ins Abseits. Jetzt wurde sichtbar, daß das sprachgeographisch-sprachhistorische Paradigma, das der Sprachatlas in drei Generationen mitgeformt hatte, der Erschließung neuer Aufgabenfelder im Wege gestanden hatte und für die stürmisch einsetzende internationale Orientierung der Sprachwissenschaft zu eng geworden war. Schmitt hatte einer solchen Entwicklung schon Anfang der 60er Jahre durch die Gewinnung eines Strukturalisten (Jan Goossens) und eines Phonetikers (Georg Heike) zuvorkommen wollen, doch wurden beide alsbald wegberufen. Seine unversehens zur Verantwortung gerufene Marburger Schülerschaft suchte sich nun mühsam einen Weg zwischen Bewahrung und Neuanfang. Die von L. E. Schmitt ironisch als Kulturrevolution' apostrophierte Wendung der deutschen Universitätsgeschichte, die in Marburg mit all dem Bekehrungseifer, dem Verrechtlichungswahn und all der humorlosen Grundsätzlichkeit, deren wir Deutsche fähig sind, ausgetragen wurde, ließ für Männer wie L. E. Schmitt und für die kontinuitätsbedürftigen Arbeiten eines Forschungsinstituts nur wenig Raum. Das Institut zerfiel in seine Teile, die Schmitt als organische Einheit konzipiert hatte, verlor — trotz achtbarer Weiterführung begonnener Unternehmungen — seine Ausstrahlung und erscheint heute als Ruinen-Denkmal hochschulpolitischer Zerstörungskraft. Schmitt, der anderthalb Jahrzehnte all sein Streben und seine Lebenskraft darauf verwandt hatte, dem Sprachatlas eine zentrale Stellung in der deutschen und internationalen Sprachgermanistik zu verleihen und der dabei die Fortset-

Ludwig Erich Schmitt — Eine wissenschaftsbiographische Skizze

XIX

zung seiner in Leipzig begonnenen grundlegenden Untersuchungen zur deutschen Sprachgeschichte der Institution geopfert hatte, sah sich um sein Lebenswerk betrogen. Der Emeritus zog sich in die Großseelheimer Straße zurück. Er baute sein Haus zu einem Ein-Mann-Institut um, dessen ausgedehnte Bibliotheksräume er per Fahrstuhl in 4 Stockwerken benutzt. Die Großen seines Faches vor Augen, die in hohem Alter bleibende Leistungen vollbrachten, begann er seine sprachhistorischen Forschungen wiederaufzunehmen. Dem von vielen Schülern geäußerten Wunsch, der einzigartige Kenner deutscher Universitätsgeschichte möge dies Wissen niederschreiben, kam er 1980 mit einem ersten Bericht über seinen Lehrer „Alfred Götze (1876—1946) als Germanist in Leipzig, Freiburg und Gießen" nach. Möge dem Vater zweier Germanistengenerationen in Leipzig und Marburg der Abschluß noch manchen Planes gelingen! Inzwischen werden die Methoden und Ergebnisse der Arbeiten seines dritten und vierten Lebensjahrzehnts wiederentdeckt. Eine neue Wirkungsphase durch das geschriebene Wort hat begonnen. Peter von Polenz Horst Haider Munske

Ludwig Erich Schmitt als Betreuer von Promotionen und Habilitationen zusammengestellt von Norbert Nail

Vorbemerkungen Für ergänzende Auskünfte dankt der Bearbeiter sehr herzlich Herrn Prof. Dr. Ludwig Erich Schmitt sowie Frau Priv.-Doz. Dr. Inge Auerbach (Hessisches Staatsarchiv Marburg). Hinweise auf Promotionen bzw. Habilitationen bei Ludwig Erich Schmitt konnten für die Marburger Zeit den zwischen 1956 und 1967 erschienenen Jahresberichten des Forschungsinstituts für deutsche Sprache „Deutscher Sprachatlas" entnommen werden; zur Verfügung stand ferner die Dissertations- und die Habilitationskartei des Fachbereichs „Allgemeine und Germanistische Linguistik und Philologie" der Philipps-Universität Marburg. Eine wichtige Quelle war darüber hinaus der „Catalogus professorum academiae Marburgensis. Die akademischen Lehrer der Philipps-Universität Marburg" (Zweiter Band: Von 1911 bis 1971. Bearbeitet von Inge Auerbach. Marburg: Elwert [in Komm.] 1979). Im übrigen konnten — bis auf eine Ausnahme — alle Dissertationsexemplare und die gedruckten Habilitationsschriften in den Bibliotheken der Philipps-Universität eingesehen werden. Bei den Promotionen in Leipzig und Marburg wurden die ordnungsgemäß abgewickelten Verfahren berücksichtigt, an denen Ludwig Erich Schmitt als Betreuer/erster Gutachter mitgewirkt hat. Anzumerken ist, daß die Promotionen Große und Grünert nach Schmitts Weggang aus Leipzig unter Theodor Frings abgeschlossen wurden und daß einige Dissertationsthemen der Marburger Jahre 1956 und 1957 noch vom vorherigen Lehrstuhlinhaber und Direktor des „Deutschen Sprachatlas", Walther Mitzka, angeregt worden waren, Ludwig Erich Schmitt dann für die verfahrensmäßige Betreuung einschließlich der Drucklegung der Dissertation in der Verantwortung stand. In der Übersicht bleiben die Fälle der sogenannten „Umhabilitation" ausgespart, da die für das Verfahren entscheidende wissenschaftliche Leistung in der Hauptsache anderenorts begründet ist. Aus bibliographischen Gründen werden die Dissertationen und die Habilitationsschriften in ihrer gedruckten, der Öffentlichkeit zugänglichen Fassung angeführt.

XXII

Ludwig Erich Schmitt als Betreuer v o n Promotionen und Habilitationen

Promotionen Name, Datum der Promotion, Titel der Arbeit LOTHAR J . SCHEITHAUER:

1952

Rhythmus und Volkslied. Ein Beitrag zum methodischen Problem der Rhythmusanalyse. Phil. Diss, [masch.] Leipzig 1952. PETER VON POLENZ:

1953

Die Altenburgische Sprachlandschaft. Untersuchungen zur ostthüringischen Sprach- und Siedlungsgeschichte. Tübingen: Niemeyer 1954 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 1). RUDOLF GROSSE:

1954

Die Meißnische Sprachlandschaft. Dialektgeographische Untersuchungen zur obersächsischen Sprach- und Siedlungsgeschichte. Halle (Saale): VEB Max Niemeyer 1955 (Mitteldeutsche Studien, Bd. 15). HORST GRÜNERT:

1955

Die Altenburgischen Personennamen. Ein Beitrag zur mitteldeutschen Namenforschung. Tübingen: Niemeyer 1958 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 12). M A R G R E T SPERLBAUM: 2 5 . 7 . 1 9 5 6

Tiernamen mit k-Suffix in diachronischer und synchronischer Sicht. Glessen: Schmitz 1957 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 16). HANS HÖING: 3 0 . 1. 1 9 5 7

Deutsche Getreidebezeichnungen in europäischen Bezügen, semasiologisch und onomasiologisch untersucht. Glessen: Schmitz 1958 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 20) und in: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, Bd. 1. Glessen: Schmitz 1958. S. 117 — 190. M A R I A TALLEN: 3 0 . 1. 1 9 5 7

Wortgeographie der Jahreszeitennamen in den germanischen Sprachen. Glessen: Schmitz 1963 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 24) und in: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, Bd. 2. Glessen: Schmitz 1963. S. 1 5 9 - 2 2 9 . CHRISTA FÖRSTER: 2 7 . 2 . 1 9 5 7

Deutsche Wortgeographie von Naturerscheinungen (Synonyme für blitzen und hageln). Phil. Diss, [masch.] Marburg 1956. FRIEDHELM DEBUS: 3 1 . 7. 1 9 5 7

Die deutschen Bezeichnungen für die Heiratsverwandtschaft. Glessen: Schmitz 1958 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 19) und in: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, Bd. 1. Glessen: Schmitz 1958. S. 1-116. KURT REIN: 31. 7. 1 9 5 7

Die Bedeutung von Tierzucht und Affekt für die Haustierbenennung. Untersucht an der deutschen Synonymik für ,capra domestica'. Glessen:

Ludwig Erich Schmitt als Betreuer von Promotionen und Habilitationen

XXIII

Schmitz 1958 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 21) und in: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, Bd. 1. Glessen: Schmitz 1958. S. 191-296. HERBERT WOLF:

11. 12. 1 9 5 7

Studien zur deutschen Bergmannssprache in den Bergmannsliedern des 16. —20. Jahrhunderts, vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen. Tübingen: Niemeyer 1958 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 11.). HANS-FRIEDRICH FOLTIN: 1 9 . 7. 1 9 6 1

Die Kopfbedeckungen und ihre Bezeichnungen im Deutschen. Glessen: Schmitz 1963 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 26) und in: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, Bd. 3. Glessen: Schmitz 1963. S. 1-296. DIETER M Ö H N : 2 6 . 7. 1 9 6 1

Die Struktur der niederdeutsch-mitteldeutschen Sprachgrenze zwischen Siegerland und Eichsfeld. Bd. 1: Textband, Bd. 2: Kartenband. Marburg: Elwert 1962 (Deutsche Dialektgeographie, Bd. 47a, 47b). J O H N THIESSEN: 2 7 . 7 . 1 9 6 1

Studien zum Wortschatz der kanadischen Mennoniten. Marburg: Elwert 1963 (Deutsche Dialektgeographie, Bd. 64). GÜNTER SCHILLING:

18. 12. 1961

Die Bezeichnungen für den Rauchabzug im deutschen Sprachgebiet. Glessen: Schmitz 1963 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 31). MARIE-LUISE LINN: 20. 12. 1961

Studien zur deutschen Rhetorik und Stilistik im 19. Jahrhundert. Marburg: Elwert 1963 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 4). REINER HILDEBRANDT: 2 1 . 1 2 . 1 9 6 1

Ton und Topf. Zur Wortgeschichte der Töpferware im Deutschen. Glessen: Schmitz 1963 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 30) und in: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, Bd. 3. Glessen: Schmitz 1963. S. 297-441. KURT KEHR:

28. 2. 1962

Die Fachsprache des Forstwesens im 18. Jahrhundert. Eine wort- und sachgeschichtliche Untersuchung zur Terminologie der deutschen Forstwirtschaft. Glessen: Schmitz 1964 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 32). EDDA SCHRÄDER: 2 8 . 2 . 1 9 6 2

Die räumlichen und historischen Schichten in der Synonymik für .Mohrrübe'. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, Bd. 4. Glessen: Schmitz 1964. S. 3 5 5 - 4 7 0 . HORST HAIDER MUNSKE:

18. 7. 1 9 6 2

Das Suffix *-inga/-unga in den germanischen Sprachen. Seine Erscheinungsweise, Funktion und Entwicklung dargestellt an den appellativen Ableitungen. Marburg: Elwert 1964 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 6).

XXIV

Ludwig Erich Schmitt als Betreuer von Promotionen und Habilitationen

ROLF MÜLLER:

25. 7. 1962

Die Synonymik von ,Peitsche'. Semantische Vorgänge in einem Wortbereich. Marburg: Elwert 1966 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 14). ALFRED SCHÖNFELD: 2 5 . 7 . 1 9 6 2

Räumliche und historische Bezeichnungsschichten in der deutschen Synonymik des Schlächters und Fleischers. Phil. Diss. Marburg 1965 [sie]. RENATE HILDEBRANDT-GÜNTHER:

19. 12. 1962

Antike Rhetorik und deutsche literarische Theorie im 17. Jahrhundert. Marburg: Elwert 1966 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 13). BRUNHILDE REITZ:

19. 12. 1962

Die Kultur von ,brassica oleracea' im Spiegel deutscher Sprache. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, Bd. 4. Glessen: Schmitz 1964. S. 4 7 1 - 6 2 8 . ELSE HOFMANN: 2 7 . 2 . 1 9 6 3

Sprachsoziologische Untersuchung über den Einfluß der Stadtsprache auf mundartsprechende Arbeiter. In: Marburger Universitätsbund. Jahrbuch 1963. Bd. 2. Marburg: Elwert [in Komm.] 1963. S. 2 0 1 - 2 8 2 . ANNELIESE SCHILLING-THÖNE:

27. 2. 1963

Wort- und sachkundliche Untersuchung zur Synonymik des Backtrogs. Ein Beitrag zur Typologie der Gefäßbezeichnungen. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, Bd. 4. Glessen: Schmitz 1964. S. 1—200. G E O R G STÖTZEL: 2 7 . 2 . 1 9 6 3

Die Bezeichnungen zeitlicher Nähe in der deutschen Wortgeographie von ,dies Jahr' und ,voriges Jahr'. Marburg: Elwert 1963 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 5). BERNHARD PETERS: 2 2 . 5. 1 9 6 3

Onomasiologie und Semasiologie der Preißelbeere. Marburg: Elwert 1967 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 10). WALTHER DIECKMANN: 2 4 . 7. 1 9 6 3

Information oder Überredung. Zum Wortgebrauch der politischen Werbung in Deutschland seit der Französischen Revolution. Marburg: Elwert 1964 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 8). BERND K R A T Z : 2 4 . 7 . 1 9 6 3

Zur Bezeichnung von Pflugmesser und Messerpflug in Germania und Romania. Glessen: Schmitz 1966 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 34). ELLI KRINGE: 2 4 . 7. 1 9 6 3

Sprach- und kulturgeschichtliche Untersuchungen im deutschen Wortbereich von ,Brot', dargestellt an der Synonymik für bestrichene .Brotscheibe'. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, Bd. 4. Glessen: Schmitz 1964. S. 2 0 1 - 3 5 3 .

Ludwig Erich Schmitt als Betreuer von Promotionen und Habilitationen

XXV

K U R T E R I C H SCHÖNDORF: 2 4 . 7 . 1 9 6 3

Die Tradition der deutschen Psalmenübersetzung. Untersuchungen zur Verwandtschaft und Ubersetzungstradition der Psalmenverdeutschung zwischen Notker und Luther. Köln, Graz: Böhlau 1967 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 46). W E R N E R M E T Z L E R : 2 1 . 1. 1 9 6 4

Die Ortsnamen des nassauischen Westerwaldes. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen. Marburg: Elwert 1966 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 15). HELMUT HENNE: 2 6 . 2 . 1 9 6 4

Hochsprache und Mundart im schlesischen Barock. Studien zum literarischen Wortschatz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Köln, Graz: Böhlau 1966 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 44). PETER KEYSER: 2 7 . 5 . 1 9 6 4

Michael de Leone ( f l 3 5 5 ) und seine literarische Sammlung. Würzburg: Schöningh [in Komm.] 1966 (Darstellungen aus der fränkischen Geschichte, Bd. 21). GISELA SIEBERT-HOTZ: 2 9 . 7 . 1 9 6 4

Das Bild des Minnesängers. Motivgeschichtliche Untersuchungen zur Dichterdarstellung in den Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Phil. Diss. Marburg 1964. DIETMAR WÜNSCHMANN: 2 9 . 7 . 1 9 6 4

Die Tageszeiten. Ihre Bezeichnung im Deutschen. Marburg: Elwert 1966 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 16). OSKAR REICHMANN: 1 6 . 12. 1 9 6 4

Der Wortschatz der Siegerländer Landwirtschaft und Haubergswirtschaft. Bd. 1: Textteil, Bd. 2: Karten- und Bildteil. Marburg: Elwert 1966 (Deutsche Dialektgeographie, Bd. 48a, 48b). ANTHONY STANFORTH: 1 6 . 1 2 . 1 9 6 4

Die Bezeichnungen für ,Groß', ,Klein', ,Viel' und ,Wenig' im Bereich der Germania. Marburg: Elwert 1967 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 20). ERHARD BARTH: 24. 7. 1 9 6 5

Die Gewässernamen im Flußgebiet von Sieg und Ruhr. Glessen: Schmitz 1968 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 39). JÜRGEN E I C H H O F F : 9 . 2 . 1 9 6 6

Die Sprache des niederdeutschen Reepschlägerhandwerks. Köln, Graz: Böhlau 1968 (Niederdeutsche Studien, Bd. 16). W I L F R I E D STOLLE: 9 . 2 . 1 9 6 6

Der Vokalismus in den Mundarten der Iglauer Sprachinsel. München: Lerche 1969 (Wissenschaftliche Materialien und Beiträge zur Geschichte und Landeskunde der böhmischen Länder, H. 11).

XXVI

Ludwig Erich Schmitt als Betreuer von Promotionen und Habilitationen

H A N S PETER A L T H A U S : 6 . 7 . 1 9 6 6

Die Cambridger Löwenfabel von 1382. Untersuchung und Edition eines defektiven Textes. Berlin, New York: de Gruyter 1971 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F. 42 [166]). EKKEHART MITTELBERG: 6. 7. 1 9 6 6

Wortschatz und Syntax der ,Bild'-Zeitung. Marburg: Elwert 1967 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 19). WERNER HEINRICH VEITH: 6. 7. 1 9 6 6

Die schlesische Weinbauterminologie in ihren ostmittel- und gesamtdeutschen Bezügen. Semantische, soziologische, historische Untersuchungen. Phil. Diss. Marburg 1966. — Die lexikalische Stellung des Nordschlesischen. In ostmittel- und gesamtdeutschen Bezügen. Unter besonderer Berücksichtigung der Weinbauterminologie. Köln, Wien: Böhlau 1971 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 66). ECKHARD LUDWIG WILKE: 6. 7. 1 9 6 6

Der mitteldeutsche Karl und Elegast. Studien zur vergleichenden Literaturwissenschaft. Marburg: Elwert 1969 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 27). WOLFGANG PUTSCHKE: 3 0 . 11. 1 9 6 6

Entwurf eines worttopologischen Darstellungsmodells. Ein Beitrag zur strukturellen Onomasiologie (Teildruck aus der Dissertation: Worttopologische Untersuchungen im Sach- und Nennstrukturat der Landfahrzeuge). Hildesheim: Olms 1970 (Germanistische Linguistik 5/70). — Sachtypologie der Landfahrzeuge. Ein Beitrag zu ihrer Entstehung, Entwicklung und Verbreitung. Berlin, New York: de Gruyter 1971 (Schriften zur Volksforschung, Bd. 4). DIETHELM BRÜGGEMANN:

11.2.

1967

Die sächsische Komödie. Studien zum Sprachstil. Köln, Wien: Böhlau 1970 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 63). HELGA GLOMBIK-HUJER:

10. 5. 1 9 6 7

Lachen und Weinen in deutscher Sprache. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, Bd. 5. Glessen: Schmitz 1968. S. 1—266. JOHANNA GÜNTHER:

10. 5. 1 9 6 7

Freude. Studien zum lyrischen Wortschatz des Spätbarock. Phil. Diss. Marburg 1967. SIGRID SCHWENK:

10. 5. 1 9 6 7

Zur Terminologie des Vogelfangs im Deutschen. Eine sprachliche Untersuchung auf Grund der deutschen didaktischen Literatur des 14. bis 19. Jahrhunderts. Phil. Diss. Marburg 1967. OTTO DÖHNER: 5 . 7. 1 9 6 7

Georg Büchners Naturauffassung. Phil. Diss. Marburg 1967.

Ludwig Erich Schmitt als Betreuer von Promotionen und Habilitationen

XXVII

WOLFGANG BRANDT: 6. 12. 1 9 6 7

Die Erzählkonzeption Heinrichs von Veldeke in der ,Eneide'. Ein Vergleich mit Vergils ,Aeneis'. Marburg: Elwert 1969 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 29). GISELA WILKENDING:

6. 12. 1 9 6 7

Jean Pauls Sprachauffassung in ihrem Verhältnis zu seiner Ästhetik. Marburg: Elwert 1968 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 22). MONIKA RÖSSING-HAGER:

7. 2. 1968

Syntax und Textkomposition in Luthers Briefprosa. 2 Bde. Köln, Wien: Böhlau 1972. INCI AKIDIL:

10. 7. 1 9 6 8

Formelhafte Wendungen in deutschen und türkischen Volksmärchen. Eine Studie zur vergleichenden Märchenforschung. Phil. Diss. Marburg 1968. SEMAHAT §ENALTAN:

10. 7. 1 9 6 8

Studien zur sprachlichen Gestalt der deutschen und türkischen Sprichwörter. Phil. Diss. Marburg 1968. HERBERT ERNST WIEGAND:

10. 7. 1 9 6 8

Studien zur Minne und Ehe in Wolframs Parzival und Hartmanns Artusepik. Berlin, New York: de Gruyter 1972 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F. 49 [173]). HELMUT MELZER:

8. 2. 1 9 6 9

Trivialisierungstendenzen im Volksbuch. Ein Vergleich der Volksbücher ,Tristrant und Isalde', ,Wigoleis' und ,Wilhelm von Österreich' mit den mittelhochdeutschen Epen. Hildesheim: Olms 1972 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken. Reihe B: Untersuchungen zu den deutschen Volksbüchern, Bd. 3). HEINRICH SCHLEMMER:

8. 2. 1 9 6 9

Semantische Untersuchungen zur verbalen Lexik. Verbale Einheiten und Konstruktionen für den Vorgang des Kartoffelerntens. Göppingen: Kümmerle 1971 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 29). RENATE WIEMANN:

8. 2. 1 9 6 9

Die Erzählstruktur im Volksbuch Fortunatus. Hildesheim, New York: Olms 1970 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken. Reihe B: Untersuchungen zu den deutschen Volksbüchern, Bd. 1). W A L T H E R V. H A H N :

14. 5. 1 9 6 9

Die Fachsprache der Textilindustrie im 17. und 18. Jahrhundert. Düsseldorf: VDI-Verlag 1971 (Technikgeschichte in Einzeldarstellungen, Nr. 22). HEINZ-GÜNTER SCHMITZ:

14. 5. 1 9 6 9

Physiologie des Scherzes. Bedeutung und Rechtfertigung der ,Ars Iocandi' im 16. Jahrhundert. Hildesheim: Olms 1972 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken. Reihe B: Untersuchungen zu den deutschen Volksbüchern, Bd. 2).

XXVIII

Ludwig Erich Schmitt als Betreuer von Promotionen und Habilitationen

HANS OTTO SPILLMANN:

14. 5. 1 9 6 9

Untersuchungen zum Wortschatz in Thomas Müntzers deutschen Schriften. Berlin, New York: de Gruyter 1971 (Quellen und Forschungen zur Sprachund Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F. 41 [165]). U T A GOSEWITZ:

11.7.

1969

Viola. Eine semantische Untersuchung. Phil. Diss. Marburg 1969. BERND S. M Ü L L E R :

13. 12. 1 9 6 9

Computergestützte Untersuchungen zur Wortbildung am Beispiel von deutschen Zeitungstexten des 19. und 20. Jahrhunderts. Τ. 1, 2. Phil. Diss. Marburg 1969. GISELA HARRAS:

14. 2. 1 9 7 0

Semantische Modelle diatopischer Teilsysteme. Zur Begriffs- und Bezeichnungsstruktur lexikalischer Teilparadigmen im Ostlothringischen. Marburg: Elwert 1972 (Deutsche Dialektgeographie, Bd. 75). EBERHARD HILDENBRANDT:

14. 2. 1970

Versuch einer kritischen Analyse des ,Cours de linguistique generale' von Ferdinand de Saussure. Marburg: Elwert 1972 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 36). HANS-DIETER KREUDER:

9. 7. 1 9 7 0

Milton in Deutschland. Seine Rezeption im latein- und deutschsprachigen Schrifttum zwischen 1651 und 1732. Berlin, New York: de Gruyter 1971 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F. 43 [167]). MARTIN DURRELL:

10. 7. 1 9 7 0

Die semantische Entwicklung der Synonymik für ,warten'. Zur Struktur eines Wortbereichs. Marburg: Elwert 1972 (Deutsche Dialektgeographie, Bd. 77). HANS DIETER KROPPACH:

9. 2. 1 9 7 1

Die Sportberichterstattung der Presse. Untersuchungen zum Wortschatz und zur Syntax. Phil. Diss. Marburg 1970. SUSANNE M U M M :

9. 3. 1 9 7 1

Die Konstituenten des Adverbs. Computer-orientierte Untersuchung auf der Grundlage eines frühneuhochdeutschen Textes. Hildesheim: Olms 1974 (Germanistische Linguistik 3 — 4/74). U L R I C H KNOOP: 2 8 . 3 . 1 9 7 2

Das mittelhochdeutsche Tagelied. Inhaltsanalyse und literarhistorische Untersuchungen. Marburg: Elwert 1976 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 52). H E I N Z - R U D I SPIEGEL: 2 5 . 7 . 1 9 7 2

Zum Fachwortschatz des Eisenhüttenwesens im 18. Jahrhundert in Deutschland. Düsseldorf: VDI-Verlag 1972 (Technikgeschichte in Einzeldarstellungen, Nr. 24).

Ludwig Erich Schmitt als Betreuer von Promotionen und Habilitationen

XXIX

ECKART UHLIG: 2. 8. 1 9 7 2

Studien zu Grammatik und Syntax der gesprochenen politischen Sprache des Deutschen Bundestages. Ein Beitrag zur deutschen Sprache der Gegenwart. Marburg: Elwert 1972 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 40). WOLFGANG N Ä S E R : 2 2 . 1 2 . 1 9 7 2

Die Sachbeschreibungen in den mittelhochdeutschen ,Spielmannsepen'. Untersuchungen zu ihrer Technik. Marburg: Elwert 1972 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 42). FRANCIS R A W L I N S O N : 1 0 . 3 . 1 9 7 3

Semantische Untersuchung zur medizinischen Krankheitsterminologie. Marburg: Elwert 1974 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 46). ELISABETH FELDBUSCH: 2 7 . 1 . 1 9 7 6

Sprachförderung im Vorschulalter. Eine kontrastive soziolinguistische Analyse zur Überprüfung des Einflusses vorschulischer Maßnahmen auf das Sprachverhalten von Unterschicht-Kindern. Marburg: Elwert 1976 (Deutsche Dialektgeographie, Bd. 81). D I E T R I C H SCHÜMER:

11. 10. 1979

Kontrastbedingte Sprachschwierigkeiten deutschlernender Japaner. Ein Beitrag zur Didaktik des Deutschen als Fremdsprache. Phil. Diss. Marburg 1979. GÜNTHER HAMPEL: 2 4 . 3 . 1 9 8 0

Die deutsche Sprache als Gegenstand und Aufgabe des Schulwesens vom Spätmittelalter bis ins 17. Jahrhundert. Glessen: Schmitz 1980 (Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 46).

Habilitationen Name, Datum der Habilitation, Fachgebiet, Titel der Arbeit 24 .6. 1959. Deutsche Philologie Landschafts- und Bezirksnamen im frühmittelalterlichen Deutschland. Untersuchungen zur sprachlichen Raumerschließung. 1. Band: Namentypen und Grundwortschatz. Marburg: Elwert 1961. RUDOLF FREUDENBERG: 1 5 . 1 2 . 1 9 6 5 . Deutsche Philologie Der alemannisch-bairische Grenzbereich in Diachronie und Synchronic. Studien zur oberdeutschen Sprachgeographie. Marburg: Elwert 1974 (Deutsche Dialektgeographie, Bd. 72). GEORG H E I K E : 1966. Phonetik Suprasegmentale Analyse. Marburg: Elwert 1969 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 30). PETER VON POLENZ:

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Ludwig Erich Schmitt als Betreuer von Promotionen und Habilitationen

Deutsche Philologie Die Sprache des Johannes Mathesius. Philologische Untersuchung frühprotestantischer Predigten. Einführung und Lexikologie. Köln, Wien: Böhlau 1969 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 58). G Ü N T E R B E L L M A N N : 8 . 6 . 1 9 6 8 . Deutsche Philologie Slavoteutonica. Lexikalische Untersuchungen zum slawisch-deutschen Sprachkontakt im Ostmitteldeutschen. Berlin, New York: de Gruyter 1971 (Studia Linguistica Germanica, Bd. 4). PETER W I E S I N G E R : 2 3 . 4 . 1 9 6 9 . Deutsche Philologie (unter besonderer Berücksichtigung der Sprachwissenschaft und Dialektologie des Deutschen) Phonetisch-phonologische Untersuchungen zur Vokalentwicklung in den deutschen Dialekten. Bd. 1: Die Langvokale im Hochdeutschen, Bd. 2: Die Diphthonge im Hochdeutschen. Berlin: de Gruyter 1970 (Studia Linguistica Germanica, Bd. 2/1, 2/2). H O R S T H A I D E R M U N S K E : 11.2. 1970. Germanische und Nordische Philologie Der germanische Rechtswortschatz im Bereich der Missetaten. Philologische und sprachgeographische Untersuchungen. Berlin, New York: de Gruyter 1973 (Studia Linguistica Germanica, Bd. 8/1). J O A C H I M G Ö S C H E L : 8 . 7 . 1 9 7 0 . Linguistik des Deutschen und Phonetik Strukturelle und instrumentalphonetische Untersuchungen zur gesprochenen Sprache. Berlin, New York: de Gruyter (Studia Linguistica Germanica, Bd. 9 ) . H O R S T G R Ü N E R T : 1 8 . 1 2 . 1 9 7 0 . Linguistik und Didaktik des Deutschen Sprache und Politik. Untersuchungen zum Sprachgebrauch der ,Paulskirche'. Berlin, New York: de Gruyter 1974 (Studia Linguistica Germanica, Bd. 1 0 ) . H E L M U T H E N N E : 18. 12. 1970. Germanistische Linguistik und Philologie Semantik und Lexikographie. Untersuchungen zur lexikalischen Kodifikation der deutschen Sprache. Berlin, New York: de Gruyter 1972 (Studia Linguistica Germanica, Bd. 7). R E I N E R H I L D E B R A N D T : 1 8 . 1 2 . 1 9 7 0 . Deutsche Philologie Summarium Heinrici. Bd. 1: Textkritische Ausgabe der ersten Fassung. Buch I —X. Berlin, New York: de Gruyter 1974 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F. 61 [185]). W O L F G A N G P U T S C H K E : 20. 1. 1971. Linguistik des Deutschen, insbesondere linguistische Datenverarbeitung W E R N E R H E I N R I C H V E I T H : 8 . 1 2 . 1 9 7 1 . Linguistik des Deutschen Intersystemare Phonologie. Exemplarisch an diastratisch-diatopischen Differenzierungen im Deutschen. Berlin, New York: de Gruyter 1972. N I L S Ä R H A M M A R : 3 0 . 1 . 1 9 7 4 . Germanische Philologie mit besonderer Berücksichtigung des Friesischen und Niederdeutschen. HERBERT WOLF: 2 1 . 12. 1 9 6 6 .

Ludwig Erich Schmitt als Betreuer v o n Promotionen und Habilitationen

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ERNST-DIETER STELLMACHER: 25. 6. 1975. Germanistische L i n g u i s t i k mit be-

sonderer Berücksichtigung des Niederdeutschen und des Niederländischen Studien zur gesprochenen Sprache in Niedersachsen. Eine soziolinguistische Untersuchung. Marburg: Elwert 1977 (Deutsche Dialektgeographie, Bd. 8 2 ) . ELISABETH FELDBUSCH: U G H Paderborn 4. 4. 1984. Germanistik/Linguistik

Geschriebene Sprache. Untersuchungen zu ihrer Herausbildung Grundlegung ihrer Theorie. Berlin, New York: de Gruyter 1985.

und

I. Allgemeine Wortschatzforschung

GÜNTER

BELLMANN

Motivation und Kommunikation 1. Motivation: Zur Problem- und Forschungslage 2. Motivationstypen 3. Motivation und Idiomatizität (Exkurs zu Motivationstyp 2) 4. Die Motivationslehre als ein Element der kommunikativen Lexikologie 4.1. Zuständigkeitsfragen 4.2. Benennung und Nomination 4.3. Nomination und Motivation 4.4. Quantitative Variation der Motivierung Literatur

1. Motivation: Zur Problem- und Forschungslage Wer feststellt, ein sprachlicher Ausdruck sei so oder so motiviert, macht im allgemeinen eine metasprachliche Aussage über das Vorhandensein und die Art einer dem Sprecher nachvollziehbaren Zuordnungsbeziehung zwischen sprachlicher Ausdrucks- und Inhaltsseite. F. de Saussure, durch den Motivation/Motiviertheit (motivation, vgl. auch le motive, limitation de l'arbitraire — Saussure 1916/1972, 181 — 183) in die Terminologie der neueren Sprachwissenschaft eingeführt wurde, hat keineswegs damit zugleich auch einen ausreichend klaren Begriff festgelegt. In seiner Sicht ist Motivation ein selten und nur graduell existierender Ausnahmezustand der sonst charakteristischen Nichtmotiviertheit oder, wie er es nannte, der Arbitrarität des Sprachzeichens. Die Schwierigkeiten der Interpretation sind zum Teil schon deshalb so erheblich, da Saussure mit dieser Unterscheidung sicher auf ein Kriterium der Synchronic zielte, der er zu einem Durchbruch verhelfen wollte, während andererseits gerade die in seinen Augen überzeugendste Ausprägung von Motivation, nämlich die relative, auf der etymologischen Beziehung beruht und damit deutlich von synchroner Sicht wegführt. Neben der methodischen Unklarheit mußten Fragen beunruhigen, wie die nach der Rolle der Natürlichkeit und der Kausalität, der Betroffenheit von sprachlichem Einzelzeichen oder Textzeichen, von lexikalischem und grammatischem Zeichen und andere. Dabei war das Kernproblem, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, seit der Antike von den Denkern, wenn auch mit

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Günter Bellmann

unterschiedlicher Akzentuierung, so doch im wesentlichen kontinuierlich erörtert und tradiert worden. Hierzu liegt seit kurzem die sehr instruktive Zusammenfassung Η. H. Christmanns (1985) vor. Die sprach- und zeichentheoretischen Aspekte, wie sie sich aus der neueren Forschung ergeben, hat C.-P. Herbermann (1981) einer ausführlichen kritischen Sichtung unterzogen. Die theoretische Diskussion ist, wenn ich recht sehe, zuletzt von Forschern in der D D R weitergeführt worden. So ist R. Conrad (1985) für eine Neuinterpretation des Saussureschen Begriffes ,Arbitrarität' im Sinne von gesellschaftlicher Konventionalität eingetreten. Auch W. U. Wurzel (1984a, 203) spricht von „der vermeintlichen Arbitrarität" und betrachtet Motivation u. a. unter universellen versus [einzel-]sprachspezifischen Gesichtspunkten, wodurch er zu einer völlig neuen Klassifikation und insgesamt einer beträchtlichen Ausweitung des „Motivationspotentials" (1984a, 206) kommt, so ζ. B. durch starke Berücksichtigung von motivationalen Aspekten der Flexions- und der Derivationsmorphematik. Wurzel untersucht die Motivation als Erscheinung des Sprachsystems und interessiert sich von da aus für die Rolle, die sie bei Sprachwandelprozessen spielt. Um Vorgänge auf der Sprachsystemebene ging es — trotz des Rekurses auf das Sprachbewußtsein — letztlich auch schon bei H.-M. Gauger (1971), der in seiner Untersuchung „Durchsichtige Wörter" einen Beitrag „Zur Theorie der Wortbildung" beabsichtigt. In dieser Hinsicht bleiben die Autoren F. de Saussure und dessen langue-Konzept nahe, so weit sie sich auch sonst von ihm entfernen mögen. In eine gewisse Nähe zu H.-M. Gaugers Buch sind die ausführlichen, materialreichen einschlägigen Abschnitte von L. Drozd/W. Seibicke (1973) zu stellen, die die Rolle der Motivation im Zusammenhang der sprachnormenden Terminibildung und in diesem Rahmen als „grundlegendes Wortbildungsprinzip" (1973, 135) der Fach- und Wissenschaftssprachen sehen. Durch den hier stark betonten Anwendungsaspekt fallt auch einiges Licht auf kommunikative Funktionen der Motivation, so daß ich mehrfach Anlaß haben werde, auf diese Schrift zurückzukommen. Neben der positiven Bilanz, die ich stichpunktartig nur eben andeuten konnte, hat das Thema Motivation in weiten Bereichen der germanistischen Sprachwissenschaft wenig oder keine Beachtung gefunden. Das gilt in erster Linie, soweit ich dies zu überblicken vermag, theoriebedingt für die generativistisch orientierten Arbeiten. Auszunehmen ist hier allenfalls der Fragenbereich der Idiomatizität, die in diesem Zusammenhang gewissermaßen als Epiphänomen der Motivation und vermeintlicher Störfaktor der Generativen Grammatik eine Rolle gespielt hat (vgl. ζ. B. U. Weinreich dt. 1970, besonders 77 ff.). Unbeachtet bleiben die Fragen der Motivation erstaunlicherweise in dem sonst reichhaltigen „Handbuch der Lexikologie", herausgegeben von

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Ch. Schwarze / D. Wunderlich (1985). Stichwörter wie Motivation!Motiviertheit, Arbitrarität und Verwandtes sucht man unter den Titeln der Beiträge und der Abschnitte sowie im Register vergeblich.

2. Motivationstypen Um die Klassifizierung der Motivationserscheinungen haben sich im Anschluß an Saussure (1916/1972) vor allem Romanisten und der Romanistik nahestehende Forscher bemüht: S. Ulimann knüpft mit der p h o n e t i s c h e n und der m o r p h o l o g i s c h e n Motivation an Saussure an (Typen 1 und 2) und erweitert zugleich dieses Konzept um einen dritten Typ, den der sog. semantischen Motivation (Ulimann 1951/1957, 8 7 - 8 9 , dt. 1972, 8 1 - 8 3 ) . Phonetische Motivation schließt Onomatopoetica und Lautsymbolik ein. Hierzu vgl. Jakobson/Waugh 1979. Morphologische Motivation hat die nach Saussure (181) relativ motivierten (relativement motive[s]) Zeichen zum Gegenstand, wozu in der Übersetzung für das Deutsche Beispiele wie dreizehn (gegenüber e l f ) und Schäf-er angegeben werden (Saussure 156—157). Die wichtige Neuerung, die mit Ulimanns drittem Typ hinzutritt, betrifft Metaphorik und Metonymie. Dieses erweiterte Modell erscheint auch bei K. Baldinger (1957, 174), der damit sicher wesentlich zu dessen Verbreitung in der deutschsprachigen Forschung beigetragen hat. Ähnliches gilt für Ullmann nach der Ubersetzung von dessen „Principles" in das Deutsche. Durch Baldinger werden diese Motivationstypen — von ihm numeriert mit 1 — 2a — 2b — den ,,unmotivierte[n] Wörter[n]" gegenübergestellt. Ich übernehme diese Typen, gezählt als 1 bis 3. Allerdings werde ich, O. Käge (1979, 6) folgend, anstelle von semantischer von f i g u r a t i v e r Motivation sprechen, um den Eindruck zu vermeiden, als spiele semantische Beziehung nur hier eine Rolle. Die Auflistung der Motivationstypen ist damit noch nicht vollständig. J. Erben (1972, 43) weist anschließend an seine Erörterung der morphologischen auf die zusätzliche Beteiligung einer „Motivierung aus dem .Wortfeld'" hin: Bürger erhalte Motivierung heute nicht in erster Linie durch seine Zugehörigkeit zu dem „Wortstand" von Burg sondern „aus der inhaltlichen Nähe von ,Partnerwörtern' wie Städter, Stadtbewohner, Einwohner, Gemeindemitglied". Die Auffassung von der Existenz einer Wortfeld-Motiviertheit kann sich auf die der strukturalen Semantik geläufige Annahme von semantischen Merkmalen und Merkmalkollektionen stützen, die zeichenübergreifend die onomasiologischen Paradigmen konstituieren (vgl. ζ. B. Wiegand 1970, 350 — 352) und die darüber hinaus auf Grund von Merkmalskorrespondenzen die gegenseitige Selektierung der Kontextpartner verschiedenen syntaktischen Status steuern (vgl. ζ. B. Hundsnurscher 1970, 13 ff.).

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Günter Bellmann

Diese Auffassung, die in das Modell generativer Grammatiken Eingang gefunden hat, hat ihre Vorläufer bei P. Grebe (1966, 361—364) und bei Ch. Bally (1940, besonders 195—196). Das sehr eigenständige Konzept Ballys hat ungeachtet seiner Erwähnung durch K. Baldinger (1957, 154) in der Germanistik kaum Beachtung gefunden. Die wesentliche Vorstellung ist bei Bally (195) die des „champ associatif". „Zum assoziativen Feld gehört alles, was ein Wort an Ideenassoziationen wachrufen kann" (Baldinger, 154). Dies wird von Bally an Hand der „Assoziationsbezirke" (dieser Ausdruck bei Baldinger, 154) von franz. boeuf veranschaulicht. Wichtig ist dabei der „abstrahierende Bezirk, der Begriffe wie Ausdauer, geduldige Arbeit, auch Schwerfälligkeit, Passivität usw. umschließt", und die von den bildhaften Verwendungen ausgehende semantische Rückwirkung im gegebenen Falle auf boeuf, wodurch insgesamt das Assoziationsfeld — im Französischen übrigens anders als im Deutschen — konstituiert wird. Die von Bally am angegebenen Ort angeführten und von Baldinger kommentierten Beispiele für franz. boeuf zeigen, daß die Assoziationsbezirke als Teilmengen von Ausdrücken des Assoziationsfeldes vorzustellen sind, die Begriffsfeldern unterschiedlicher Ausrichtung und Dimension (ζ. B. Tier selbst; Mensch — Tier usw.) zugeordnet werden. Die Assoziationsfelder Ballys sind somit umfassender und komplexer als die Wort- und Bezeichnungsfelder J. Triers (1931/1973), indem sie ζ. B. Antonyme einschließen (boeuf — vache) und Vernetzungen jeweils mehrerer Wortfelder darstellen. Ihre Komplexität kommt in besonderer Weise dadurch zum Ausdruck, daß von Bally auch die syntaktisch-semantische Assoziierbarkeit ζ. B. zwischen Subjekt und Prädikat (boeuf — ruminer) ausdrücklich berücksichtigt ist. Ich nenne diesen vierten Motivationstyp die Motivation durch das Z e i c h e n f e l d , die die Wortfeldmotivation J. Erbens also einschließt und, was den Terminus betrifft, durch die Vermeidung des Ausdrucks Association einer Kollision mit dem als nächstem und letztem zu besprechenden Typ aus dem Wege geht. Die Gemeinsamkeit von figurativer („semantischer") und Zeichenfeldmotivation besteht darin, daß es sich bei beiden um einzelzeichenexterne Motivationsbeziehungen handelt, wobei — das ist der Unterschied zwischen ihnen — die figurative Motivation die typische Mehrleistung erbringt, die in der auf „transfer of features" und „host representation" beruhenden metaphorischen Spannung ihre Grundlage hat (Levin 1977, 3 8 - 4 4 ) . Schließlich halte ich es für angebracht, mit einem fünften Motivationstyp, dem der s i t u a t i v e n Motivation, zu rechnen. Dieser besteht darin, daß durch Sprachzeichen ein bestimmtes, besonders ausgeprägtes Milieu assoziiert wird, genauer: daß Sprachzeichen durch den außersprachlichen Bereich auf dem Wege über die entstehenden Texte eine spezifische Situationsprägung erhalten können, die auch außerhalb der originären Situation nachwirkt, und zwar mindestens dadurch, daß sie Angemessenheitsfragen aufwirft. Man erinnert

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sich, daß nach dem Ende der nationalsozialistischen Zeit bestimmte Ausdrücke wie Boden, Blut und auch Volk sensiblen Autoren nicht mehr ohne weiteres verwendbar erschienen. In diesem Zusammenhang ist die Auseinandersetzung zu sehen, die gegen Ende des Jahres 1986 in der Bundesrepublik und darüber hinaus über die Verwendbarkeit des Ausdrucks Konzentrationslager bei Referenz auf Strafanstalten in der Deutschen Demokratischen Republik geführt worden ist. Dem Meinungsstreit lag offensichtlich die Tatsache zugrunde, daß unter den Verwendern des Deutschen bezüglich dieses Ausdrucks kein Konsens über eine noch wirksame Situierung ,NS-spezifisch' besteht.

Außer Ideologien sind es sonst vor allem Sozialschichten und Fachlichkeit, die situativ motivierend in Erscheinung treten können. Die Semantik rechnet in diesen Fällen mit Konnotationen. Die Liste der von mir erörterten Motivationstypen, die zu den drei klassischen' die weniger bekannte vierte und eine von mir hinzugefügte fünfte enthält, umfaßt somit 1. 2. 3. 4. 5.

phonetische Motivation morphologische Motivation figurative Motivation Zeichenfeldmotivation situative Motivation.

Nicht selten begegnen Überlappungen durch gleichzeitige Zugehörigkeit zu mehreren Motivationstypen. So ist Konzentrationslager außer durch Typ 5 auch durch die Typen 2 und 4 motiviert. Nach der Erweiterung der Typenliste kann Motivation insgesamt nunmehr bestimmt werden als ein Netz von Beziehungen, in dem das einzelne Sprachzeichen zeichenintern und in unterschiedlichem Grade zeichenextern steht und die, wovon in Kap. 4 die Rede sein soll, dem Sprachverwender nachvollziehbar sind oder sein können. 3. Motivation und Idiomatizität (Exkurs zu Motivationstyp 2) Die morphologische Motivation ist in Kapitel 2 nur genannt, nicht aber näher ausgeführt worden. Auch eine Skizzierung nur ihrer wichtigsten Besonderheiten bedarf einer gewissen Ausführlichkeit, die dort den Rahmen gesprengt hätte. Unter morphologisch oder — nach Saussure — relativ motivierten werden allgemein solche Ausdrücke zusammengefaßt, die aus einer Anreihung durchsichtiger Formelemente (des elements formatifs transparente — Saussure 1916/1972, 181) bestehen, also morphologische Konstruktionen, Nicht-Simplicia. Es geht somit um die Wortbildungstypen der Komposition und der Derivation. Hinzuzufügen sind die Phraseologismen (festen Wortverbindungen, Wortgruppenlexeme). Denn diese sind zwar syntaktisch konstruierte, jedoch stabile Einheiten des Lexikons und als solche ebenfalls in ihm gespei-

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Günter Bellmann

chert, lexikalisiert (vgl. Fleischer 1982, 67). Sie stellen, was ihre Ausdrucksseite betrifft, eine extreme Form der Durchsichtigkeit und der relativen Motivation dar. Sprachhistorisch ist mit der auf Herstellung morphologischer Durchsichtigkeit zielenden Tendenz — einschließlich des damit verbundenen bedeutsamen Ökonomisierungseffektes eine wichtige, aber doch nur e i n e Entwicklungsrichtung der lexikalischen Sprachmittel angezeigt. Andere Tendenzen wirken in die entgegengesetzte Richtung: Soweit die sprachliche Ausdrucksseite betroffen ist, wird davon in Kapitel 4.4 die Rede sein. Hier sind in Kürze die wichtigsten inhaltsseitigen Erscheinungen aufzuführen, die dem Prinzip der morphologischen und damit auch morphologisch-semantischen Transparenz zuwiderlaufen, so daß in diesem Zusammenhang von D e m o t i v i e r u n g gesprochen worden ist (Drozd/Seibicke 1973, 139; Schippan 1984, 95). Einerseits besteht namentlich auf Seiten der lexikographischen Praktiker die Auffassung, daß „sich viele [morphologisch motivierte] Bildungen aus ihren Kompositionsteilen von selbst erklären" (WDG 1,018). Man schreibt ihnen Selbstdeutigkeit zu. Sie seien semantosyntaktisch regelhaft synthetisierbar (vgl. Herbermann 1981, 182 ff. und die dort referierte Literatur). So sind Temperaturerhöhung und vielleicht auch Flüssiggas in die attributiven Gruppen Erhöhung der Temperatur bzw. flüssiges Gas „regulär" rücktransformierbar und damit semantisch voll erschließbar. Die Gegebenheit einer solchen „regelmäßige[n] morphologische[n] Motivation" (Drozd/Seibicke 1973, 135) stellt eine der Grundlagen der modernen sprachnormenden Terminologiebildung dar. Zur Bildung regulär motivierter Termini für die technischen Fachsprachen sind „Motivationsmodelle" erarbeitet worden (vgl. Reinhardt u. a. 1978, 2 6 - 3 7 ) . Dieses ideale Aufgehen der Konstituentenbedeutungen in der Gesamtbedeutung des morphologisch motivierten Ausdrucks ist jedoch keinesfalls die Regel. 1 Dies gilt selbst für die Fachsprachen: „Durch die fortschreitende Lexikalisierung wird die einstige regelmäßige morphologische Motivation verdünnt, so daß die ursprüngliche spontane logische Beziehung zwischen der Benennungsstruktur und dem semantischen Inhalt beeinträchtigt werden kann." (Drozd/Seibicke 1973, 140). Das Ergebnis ist ein semantischer Wandel, der mehr oder weniger ausgeprägt dazu führt, „daß Oberflächenstruktur und semantische Struktur auseinandergedrängt" werden (Chafe 1976, 17). Nach

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Dieser semantische Aspekt der Komposita ist den Schulgrammatikern und Sprachdidaktikern des 19. Jhs. bereits geläufig. So ζ. B. unterscheidet Mager (1840, X V I , auch 1 6 0 ff.) „Composite, die dem Unkundigen als Einfache erscheinen" und solche, „deren Bedeutung dem Unkundigen unbekannt ist". — Rümelin (1887, 20) sieht die zahlreichen Kompositionsbildungen schon in Hinsicht auf die „unbestimmt bleibende Beziehung" der Konstituenten als eine strukturelle Schwäche des Deutschen an, die durch die Hereinnahme von Fremdwörtern zu Recht behoben werde.

Motivation und Kommunikation

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Herbermann (1981, 347 u. passim) wird die Gesamtbedeutung einer komplexen Wortbildungskonstruktion durch die Bedeutung der Konstituenten „allenfalls indiziert, nicht jedoch determiniert". Daher seien „durchsichtige Bildungen tatsächlich durchsichtig nur für den [...], der ihren Inhalt schon kennt" (Herbermann 1981, 196), d. h. für den Insider. Eine erste Semantisierungsbarriere ζ. B. für ausländische Sprachlerner ist beispielsweise die im allgemeinen den Komposita implizite Relationskomponente, die das logische Verhältnis der Konstituenten regelt und ein wichtiges Element der Gesamtbedeutung ausmacht. Dürerporträt ist ein Porträt, das von Dürer gemalt wurde, aber auch eines, das ihn darstellt. (Hierzu Käge 1980, 12 ff.). Auf einer weiteren Stufe sind es die Bedeutungen der Konstituenten selbst, die kaum mehr — auch nicht mehr indizierend — zur Gesamtbedeutung beitragen (Bleistift, Fingerhut, Junggeselle, blinder Passagier). Alle diese irregulär morphologisch motivierten, nicht synthetisierbaren Bildungen repräsentieren in unterschiedlichen Graden den Zustand der I d i o m a t i z i t ä t . Idiomatische Ausdrücke der Wortbildung und der Phraseologie sind bei erhaltener morphologischer Motivation der Ausdrucksseite semantisch verdunkelt und daher semantisch nicht regulär erschließbar. Für sie sehen die späteren Generativisten eine neben dem Lexikon bestehende Idiomenliste vor (vgl. Weinreich dt. 1972, 450 — 451). Zur Abgrenzung von regulär motivierten gegenüber idiomatischen Komposita hat die nicht-generative strukturale Grammatik den syntagmatischen Substitutionstest der zweiten Komponente entwickelt (vgl. Herbermann 1981, 184).

4. Die Motivationslehre als ein Element der kommunikativen Lexikologie 4.1. Zuständigkeitsfragen Spätestens nach diesem Überblick stellt sich aufs neue die Frage, welche Teilbereiche der Sprachwissenschaft sich für die Untersuchung der Motivationsproblematik als zuständig anzusehen haben. Das Interesse Saussures, des Begründers der Linguistik des Systems, an Fragen der Motivation und der Arbitrarität weist in eben die Richtung, die anschließend auch von der späteren Forschung vor allem eingeschlagen wurde. Vornehmlich hat sich die Motivationslehre, wie in Kapitel 1 schon angedeutet, zu einer Domäne der Wortbildungslehre, also einer Systemwissenschaft, entwickelt. Auffällig ist die sehr unbedeutende Rolle, die Fragen der Motivation gerade in den als modern betrachteten linguistischen Richtungen spielen, so daß sich der Verdacht einstellen kann, es handle sich um ein obsolet-abseitiges Interessenund Arbeitsgebiet. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß für eine

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ansehnliche Reihe gerade solcher Themen, die eine große Öffentlichkeit angehen und die von der Öffentlichkeit mit Anteilnahme und Engagement diskutiert werden, die Motivationslehre Ansatzpunkte und Erklärungsgrundlagen bieten kann. Zu den Themen, für die dies gilt, gehören die Sprachverwendung durch den Nationalsozialismus und das durch die Teilung Deutschlands entstandene sogenannte sprachliche Ost/West-Problem. Es gilt dies ebenso für den sprachlichen Umgang mit der Atomenergie und in geradezu exemplarischer Weise für die Anliegen des Feminismus, soweit diese sich in der Sprache ausdrücken. Diese zum Teil sehr aktuellen Themen führen im einzelnen auf verschiedene Weise hin zu den in den Kapiteln 2 und 3 genannten Stichworten etwa der Motivationstypzugehörigkeit, der Lexikalisierung und der Demotivierung von meist ideologisch sensitiven Ausdrücken, soweit es sich dabei nicht um sogenannte Fremdwörter oder Kunstwörter aus lateinisch-griechischem Morphemmaterial handelt, die, da sie im allgemeinen motivationsfrei sind, hier bestimmte Vorzüge entfalten. Ihre aktuellen Aspekte offenbart die Motivationslehre namentlich bei der Anwendung und Zugrundelegung in der K o m m u n i k a t i o n , d.h. wenn es um die Frage geht, wie und mit welchem womöglich unterschiedlichen Effekt ein und dieselbe Bezugnahme auf ein Referenzobjekt realisiert wird, wenn als Referenzausdruck ein so oder ein anders oder auch ein nichtmotivierter Ausdruck verwendet wird. Das heißt, der kommunikative Aspekt kommt u. a. dann zur Geltung, wenn unterschiedlich motivierte Ausdrücke als lexikalische Varianten untersucht werden und wenn eine solche Untersuchung das Gefüge der Wertungsbeziehungen und der sonstigen außersprachlichen Faktoren berücksichtigt. Für die kommunikative Untersuchung von Texten sowie für Arbeiten zur lexikalischen Theorie, die gegenüber der Kommunikativität offen ist, gibt es vereinzelte Ansätze. Es fallt auf, daß Arbeiten dieser Art vor allem in der DDR unternommen werden, wo es eine erklärte Aufgabe der Sprachwissenschaft ist, die Sprache und sprachliche Texte unter dem Parteilichkeits-, sprich: Wertungsaspekt zu behandeln. Ich nenne als Beispiele für eine derart ausgerichtete Arbeitsweise einerseits M. Schröder (1982) sowie C. Krahl/M. Schentke/B. Hansen (1986), die englische Pressetexte zum Nordirlandproblem lexikalisch-kommunikativ interpretieren, und andererseits die „Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache" von Th. Schippan (1984). Diesen Arbeiten ist gemeinsam, daß sie den Gesichtspunkt des den lexikalischen Varianten gegenüber selektiv vorgehenden Sprachverwenders und Interaktanten in den Mittelpunkt stellen und dabei die Reichweite der traditionellen Stilistik überschreiten. Ein Zugang dieser Art ist sonst allenfalls Domäne von Psycholinguisten. So sind Regularitäten der, wie es bei ihnen heißt, „adäquaten Objektbenennung" von Th. Herrmann/W. Deutsch (1976) in einer ergebnisreichen Studie dargestellt worden. Über die begrifflich-

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semantische Unterscheidung hinaus werden von diesen Autoren mit den Prinzipien der Evaluation, der Erwartungskonformität und der Ökonomie wichtige Selektionskriterien herausgearbeitet. 4.2. Benennung und Nomination Es ist noch die Frage, auf welchen Ebenen der Sprache und der Sprechtätigkeit, eingeschränkt auf die Lexik, die Motivationsproblematik anzugehen sei. Ein dichotomisches Modell genügt hier nicht. Ich halte es für richtig, in Anlehnung an die Nominationsforschung (vgl. ζ. B. Arutjunova 1982) zwischen Benennung und N o m i n a t i o n zu trennen. Ich gehe auf diese wichtige Unterscheidung ein, obwohl mir bewußt ist, daß deren Anwendung in meinem weiteren Text nur fragmentarisch möglich sein wird. Es stört, daß wichtige Arbeiten oftmals gerade bezüglich Benennung und Nomination den notwendigen terminologisch-begrifflichen Grundkonsens vermissen lassen, ja selbst beide Termini als bloße Stilvarianten verwenden. Ich will zuerst versuchen, die störende mehrfache Ambiguität des Ausdrucks Benennung wenigstens teilweise zu beseitigen. Wenn der Tätigkeit der Sprachnormenausschüsse „Benennungsgrundsätze" (Drozd/Seibicke 1973, 135) oder „Benennungsregeln" (Fluck 1976, 119) zugrunde gelegt werden, so meint Benennung hier ohne Zweifel den Vorgang, durch den dem Begriff eines (technischen) Objektes ein sprachlicher Ausdruck (Terminus) erstmalig und mit hoher Verbindlichkeit zugeordnet wird. In diesem Sinne scheint der Ausdruck Benennung außer in der Terminologienormung auch in der Onomastik und in der praktischen außerterminologischen Namengebung geläufig zu sein (vgl. auch Ramge 1985, 665). Um der Klarheit willen weiche ich für diesen Fall auf den provisorischen Terminus Erstbenennung aus. 2 Was den größten Teil der nichtterminologischen appelativen Lexik betrifft, so liegen die „Erstbenennungs"-Vorgänge für uns allerdings im Dunkeln. Wir spüren davon noch einiges, wenn wir in der Sprachgeschichte auf Epochen stoßen, in denen infolge kultureller Neuerungsschübe Erstbenennungsaktivitäten deutlicher hervortreten und faßbar werden, meist im Zusammenhang mit Kultur- und Sprachkontakten, wobei beispielsweise an die Wirkung der Romania und des Lateins zu denken ist. Insgesamt haben wir schon hier statt mit Erstbenennungsakten eher mit lang andauernden, variablen, sich allmählich devariabilisierenden Benennungsprozessen zu rechnen (vgl. zur Flurnamengenese Ramge 1985, 665). So müssen wir der faktischen, uns greifbaren Erstbenennung der neueren Zeit und der Gegenwart deren anders geartete Vorstufen als hypothetische Projektion in die Historie voranstellen,

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Wimmer (1979, 110 ff.) spricht von „Referenzfixierung" und meint die Fixierung von Ausdrücken, die zum Referieren verwendet werden können.

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die ich hier allerdings auf sich beruhen lassen kann. Die aus den Erstbenennungsvorgängen herrührenden sprachlichen Ausdrücke finden, indem sie die struktureingliedernde Lexikalisierung durchlaufen, in das Lexikon des Sprachsystems Eingang, an dem der einzelne nach Maßgabe seiner individuellen Sprach- und Fachkompetenz teils aktiv, teils passiv teilhat. Die Erstbenennung kann mit W o r t b i l d u n g einhergehen, sie kann und wird aber im allgemeinen die Produkte vorausliegender Wortbildungsvorgänge nutzen. Der herkömmliche Ausdruck Benennung ist mit einer weiteren Unscharfe insofern behaftet, als er in der Literatur sowohl dem Vorgang des Benennens als auch dem daraus resultierenden sprachlichen Ausdruck gilt, eine Bisemie, die bei -««^-Ableitungen verbreitet auftritt. Ich werde anstelle der zweiten Verwendungsmöglichkeit von Benennung von sprachlichem Ausdruck oder auch von Terminus sprechen. Erstbenennung ist ein referentieller Akt nur insofern, als einem Objekt bzw. dessen Begriff ein Ausdruck zu künftiger Verwendung zugeordnet wird. Man wird darin einen eingeschränkten, einen metakommunikativen Referenzakt zu sehen haben. Dem steht die außersprachlich orientierte, kommunikative Referenz gegenüber als die aktuelle Bezugnahme des Schreibers/ Sprechers auf Objekte bzw. Begriffe von Objekten, die in einem gegebenen Text und in einer Situation stattfindet (vgl. Wimmer 1979, 12 — 13). Diese kommunikative Referenz setzt — in den meisten Fällen — die Erstbenennungen voraus, indem sie mit dem durch diese entstandenen Zeichenreservoir, dem Lexikon, arbeitet. In der Literatur kann man für diese ,echte' Referenz wie auch für die Erstbenennung in gleicher Weise den Ausdruck Benennung verwendet finden. (Vgl. „Objektbenennung" im Titel bei Herrmann/Deutsch 1976.) Der begrifflichen und terminologischen Klarheit zuliebe schließe ich mich der in der Nominationsforschung (vgl. ζ. B. Arutjunova 1982) mehr oder weniger konsequent befolgten Konvention an und spreche ebenfalls von Nomination. Unter ,Nomination' verstehe ich das kommunikative Referieren unter Selektion eines nominalen Ausdrucks, der aus dem Paradigma der stilistischen, soziopragmatischen, sprachlandschaftlichen, funktiolektalen und eben der motivationalen Varianten dieses Ausdrucks entnommen wird. Kürzer: Nomination ist kommunikative Referenz unter Verwendung von ausgewählten nominalen Mitteln. Die Selektion erfolgt auf Grund der kommunikativen Kompetenz des Sprechers, seiner Intention und der von ihm vorgenommenen Situations- und Beziehungsdefinition. Lexikon ist im weiteren Sinne gemeint, sowohl die lexikalisierten Phraseologismen als auch den Namenschatz einschließend. Das beigegebene Modell soll der Einschränkung der Ambiguität von Benennung dienen. Es soll außerdem den Standort der Nomination darstellen, und es soll darüber hinaus beiläufig zum Ausdruck bringen, daß Nomination

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Motivation und Kommunikation „Benennung" =

(kommunikative) Referenz

Erstbenennung Lexikon

J

Benennung"

J

Pronomination

J

Paraphrasierung

\

Gestik

Nomination

nur e i n Verfahren der Realisierung v o n Referenz ist. Referiert wird außer durch Nomination (der Fahrdienstleiter) auch, namentlich in mündlich realisierter Sprache, durch aktuell konstruierte (nicht-lexikalisierte) Paraphrasen (der Beamte mit der roten Mittle), durch realdeiktisch (der da) und anaphorisch verwendete Pronomina, wofür ich — zur Unterscheidung von der Pronominalisierung der Generativen Transformationsgrammatik — den Ausdruck Pronomination vorgeschlagen habe (vgl. Bellmann 1987), sowie schließlich auch durch paralinguale (gestische) Mittel. 4.3. Nomination und Motivation Ich greife nunmehr das referentielle Verfahren der Nomination auf, um zu fragen, o b und in welcher Weise die dabei verwendeten motivationalen Varianten über die allgemeine, nomenspezifische Referenzfunktion hinaus erkennbare Zusatzleistungen erbringen können. Unter motivationalen Varianten verstehe ich Einheiten des Lexikons derselben lexikalischen Bedeutung, die ein Paradigma mit der Charakteristik ,durch Α motiviert' / .durch Β motiviert' / ,durch η motiviert' bilden, wobei der Fall ,Null-motiviert' einbezogen sein soll. Paradigmen dieser Art repräsentieren die q u a l i t a t i v gestufte Motivation. Von der quantitativ gestuften Motivation, die der lexikalischen K ü r z u n g zu G r u n d e liegt, wird in Kapitel 4.4 die Rede sein. Vertreter einer traditionell strukturalistisch/generativistisch orientierten sprachwissenschaftlichen Richtung werden vermutlich eine Frage wie die nach der semantischen Funktion vorhandener Motivierung als im K e r n verfehlt zurückweisen. Mit der zweiten Welle des europäischen Strukturalismus waren erstmals „Inhaltsfiguren" als eine Art semantischer Merkmale (Hjelmslev 1943/dt. 1961, 50. 70 f.) postuliert worden. Seit vor allem durch R. J a k o b s o n die Merkmalslinguistik von den U S A aus Verbreitung gefunden hat, gilt es als wissenschaftliche opinio communis, daß Bedeutungen als K o m p l e x semantischer (und syntaktosemantischer) Merkmale zu beschreiben sind, und zwar als begriffliche Merkmale, die v o n der Begriffsstruktur und nur von dieser entlehnt werden. Im Hintergrund steht dabei — indirekt bestätigend — die Arbitraritäts-These Saussures, wenn diese dahingehend interpretiert wird, daß die Sprechtätigkeit als Sprachzeichenverwendung im Prinzip motivationsfrei zu funktionieren in der L a g e ist, so daß vorhandene Motivation (Nichtarbitrarität) als überschüssige Z u g a b e , als redundante Infor-

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mation erscheinen muß, — was jedoch nicht zu bedeuten brauchte, daß Motivation dort, wo sie vorhanden ist, funktionslos wäre. Das Baumdiagramm, das die Merkmale (marker/distinguisher) der Einzelbedeutungen und die Bedeutungsstruktur(en) des polysemen Ausdrucks engl, bachelor darstellt, ist berühmt geworden (Katz/Fodor 1963/dt. 1970, 231). Doch wird man fragen müssen, ob die hier mitgegebene figurative Motivation semantisch so völlig irrelevant und folgenlos ist, wie die Darstellung dies zum Ausdruck bringt, und ob die vier Einzelbedeutungen tatsächlich nur über das grammatische Merkmal „Nomen" in Verbindung stehen. Die entsprechende Frage stellt sich erst recht im Zusammenhang mit morphologischer Motivation. Auch wo das Blickfeld des Semantikers sich weitet, wenn ζ. B. J. Katz (1972, 4 — 6) 15 sehr detaillierte Antworten auf die Frage „What is meaning?" gibt, findet sich ebenso wenig ein Eingehen auf die Existenz motivational bedingter Bedeutungsbestandteile. In dem Umstand, daß im Englischen, wie Saussure (1916/1972, 183) mit dem Deutschen vergleichend festgestellt hat, das Unmotivierte einen höheren Rang einnimmt, möchte ich keinen Grund für das diesbezügliche Desinteresse der englischsprachigen Forscher — und in deren Gefolge ihrer Rezipienten deutscher Muttersprache — sehen. Während also, soviel ich sehe, die linguistische Theorie die semantische Relevanz vorhandener Motivationen gleichsam unausgesprochen in Abrede stellt, zeigt die angewandte Semantik, besonders die der Terminologienormung, ein anderes Bild. Generell gilt: Die vollständige Vielzahl der erkenntnismäßig gegebenen Begriffsmerkmale kann etwa im zweigliedrigen Kompositum nur unter äußerster Reduktion, also notwendigerweise defektiv, berücksichtigt werden. In Kapitel 3 wurde bereits referiert, daß regulär motivierte Komposita die Bedeutung der motivierenden Komponenten nur stichworthaft andeutend in die Gesamtbedeutung einbringen, ein Verfahren, das die Terminologienormung mit Bedacht bei Erstbenennungen einsetzt (Drozd/ Seibicke 1973, 135 ff.). Der Effekt der Motivierung erschöpft sich hier in einem lemökonomischen und gedächtnisstützenden Zusatznutzen, der, da spezielle Terminikenntnis überwiegend als Teil der Berufsausbildung, also ziemlich spät, erworben wird, nicht gering zu veranschlagen ist. Eine neben der Terminologie wichtige weitere Gruppe sind die morphologisch motivierten Ausdrücke, die wie Termini durch mehr oder weniger planvolle Erstbenennung von im weitesten Sinne technischen Neuerungen entstehen, die aber nicht auf einen engen Spezialistenkreis beschränkt bleiben, sondern auf Grund der Aktivität der Medien und der Betroffenheit einer großen Öffentlichkeit in kurzer Zeit allgemeinsprachlich werden. Diese Halbtermini gehören jenen lexikalischen Innovationen an, bei denen zu fragen ist, auf welchem Wege die Sprachverwender deren Bedeutungen lernen. Neben den in Nachrichtensendungen und Kommentaren mitgegebenen Bedeutungsexplikationen in Form vereinfachter Begriffsdefinitionen sind die s p o n t a n e n

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S e m a n t i s i e r u n g e n wichtig, durch die das Sprecher-Hörer-Individuum aus den Bedeutungen der motivierenden Konstituenten unter Zuhilfenahme von sprachlichem Kontext und außersprachlicher Situation eine u. U. abweichende ad-hoc-Bedeutung ableitet. So ergibt sich ein Widerspruch zwischen der intendierten, lexikalischen Bedeutung und den nicht-intendierten, erschlossenen Motivationsbedeutungen (vgl. O. Käge 1980, 62 ff.). Die letzteren sind semantische Notlösungen, die vor allem in Anfangssituationen zustande kommen, und zwar besonders bei der Neueinführung von sprachlichen Ausdrükken (zusammen mit der Neueinführung der Objekte), aber auch individuell bei Sprachlernern im Kindes- und frühen Jugendlichenalter. Ein Beispiel für den wichtigeren ersten Fall, die Neueinführung v o n Sache, Begriff und Ausdruck, hat die Bundespost geliefert, als für den Fernsprechverkehr die gegenwärtig praktizierte Koppelung von (praktisch) erweitertem Ortsnetz und gleichzeitiger Begrenzung des niedrigsten Tarifs auf achtminütige Sprechzeit vorbereitet wurde. „Was unter dem Titel ,Zeittakt' Bürgerinitiativen auf den Plan rief, Proteststürme auslöste und geschwätzige Langtelefonierer das Fürchten lehrte, ist nun unter der Bezeichnung .Nahdienst' zu einer A r t Markenzeichen für Lebensqualität geworden. Die Schuld daran, daß diese an und für sich vernünftige Sache dem Bundespostminister zunächst um die Ohren geschlagen wurde, [...] lag an der falschen Informationspolitik der Post." (Allgemeine Zeitung Mainz 7. 12. 1978, S. 1).

Obwohl von der Identität der lexikalischen Bedeutung der Ausdrücke Zeittakt und Nahdienst auszugehen ist — die Bedingungen der Telefongebührenberechnung wurden, unbeschadet der Umbenennung, in keinem Punkte verändert — und obwohl nichts unterlassen worden war, um die Besonderheit der bevorstehenden Umstellung bekannt zu machen, womit auch die lexikalische Bedeutung von Zeittakt hinreichend vermittelt worden sein dürfte, haben die Sprachverwender auf Grund der motivierenden Konstituenten von Zeittakt erfolgreich eine konkurrierende Motivationsbedeutung aufgebaut und diese der Nomination der postamtlichen Verlautbarungen unterstellt. Die Konstituente -takt mag über ihr semantisches Merkmal ,Takt' Assoziationen in Richtung auf,fremdbestimmter Lebensrhythmus' oder ähnliches und entsprechend negativ bewertende Konnotationen ausgelöst haben, die zu den eingetretenen Abwehrreaktionen führen konnten. Der semantische Kurzschluß wurde behoben, indem die Post eine Umbenennung vornahm und ein Synonym anbot, das nunmehr sogar affirmative Interpretation und semantische Verwertung der motivierenden Konstituentenbedeutungen ermöglichte. Mir scheint Zeittakt ein bemerkenswertes Exempel für die spezielle Kommunikativität von Motivationsbestandteilen und motivierten Ausdrücken zu sein. Es ist zu vermuten, daß es also unter entsprechenden Voraussetzungen zur Ausbildung einer s e k u n d ä r e n B e d e u t u n g auf Grund semantischer Merkmale kommen kann, die durch Interpretation der Motivationsbasis der Konstituenten zustande kommt. Die sekundäre Bedeutung kann, wie sich zeigt, gegenüber der primären zur Dominanz tendieren. Es genügt sicher

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nicht, in diesem Zusammenhang nur auf den Gegensatz von lexikalischer und aktueller Bedeutung im Sinne W. Schmidts zu verweisen, vor allem wenn, wie in dem Beispiel, die Sekundärbedeutung usuell geworden ist. Es ist da eher an eine Form i n s t a b i l e r H e t e r o s e m i e zu denken. Grundlage dieser Erscheinung ist der Umstand, daß motivierende Konstituenten ζ. B. einer Komposition mit deren Lexikalisierung semantisch durchaus nicht eliminiert sind. Die Wortzusammensetzung bildet zwar ein Wort, jedoch eines, „in dem inhaltlich zwei Wörter lebendig sind" (Gauger 1971, 150). Lebendigkeit hätte zu bedeuten, daß unter entsprechenden motivationalen Voraussetzungen die Möglichkeit gegeben ist, eine nach Lexikalisierung und Ausbildung einer einheitlichen lexikalischen Bedeutung an der Oberfläche getilgten Konstituentenbedeutung auch wieder zu r e a k t i v i e r e n , zu „heben", so wie G. Jäger (1975, 98 Fußnote. 127) dies, allerdings für die figurative Motivation, im Rahmen der Übersetzungsproblematik erwogen hat. Der Mechanismus der Reaktivierung motivationaler Elemente wird auch wirksam bei der Entidiomatisierung von Metaphern, von irregulär motivierten Komposita und idiomatischen Phraseologismen, wie sie etwa als Kennzeichen des Spiegel-Stils genannt worden sind. Vgl. Hosen-Träger .männliche Person', ein „transmotivierendes Wortspiel" nach Käge (1980, 101 — 107). Zu Heterosemie führen übrigens auch die feministischen Bemühungen um eine maskulinisierende Reaktivierung bereits generalisierter Personenbezeichnungen mit dem Ziele der Zurückweisung dieser Bezeichnungen (vgl. auch v. Polenz 1985, 151-155). Wie besonders deutlich Zeittakt gelehrt hat, kann sich der semantischmotivational begründete kommunikative Konflikt im linguistischen Rahmen der Heterosemie abspielen (Zeittakt I vs. Zeittakt II). Durch die Neubenennung, die amtliche Ersetzung des Ausdrucks, kommt es synchron gesehen nicht zu einem Stadium echter Synonymie Zeittakt Νs. Nahdienst. Die Konkurrenz besteht zwischen zwei Bedeutungen eines Ausdrucks, nicht zwischen zwei Ausdrücken. Ungleich häufiger ist der weitere Fall, die motivational begründete Synonymie/Homoionymie. O. Käge (1980, 64 ff.) hat in seiner Mainzer Dissertation eine Reihe von Beispielen geordnet und diskutiert. Ich wähle daraus aus und ergänze auch einige: Alkoholiker vs. Alkoholkranker, Rauschgift vs. Droge, Putzfrau vs. Raumpflegerin, Menschenhandel vs. Fluchthilfe, Vertriebener vs. Flüchtling vs. Umsiedler vs. Neubürger, Mauer vs. antifaschistischer Schut^wall.

Man sieht, daß bei diesen Beispielen noch deutlicher als vorher der Bereich allgemein der einstellungsbezogen-wertenden Auseinandersetzung und Agitation, besonders der Ideologien, einschließlich des sogenannten Ost-/WestProblems betroffen ist. Hier ersetzt nicht der B-motivierte Ausdruck den Amotivierten, sondern es koexistieren beide (bzw. mehrere) als lexikalische

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Varianten, indem sie der parteilichen Nomination dienen, indem sie diese auf Grund ihrer aktivierbaren Motivationselemente gleichsam argumentativ unterstützen und damit zugleich als Ideologiemarker fungieren. Käge (1980, 64 ff.) hat herausgearbeitet, wie die motivationsunterschiedenen Varianten in spezifischer Weise ein Potential an Perspektivität, Wertung und Persuasivität entfalten können. Dabei ergibt sich wieder das besondere semantische Phänomen der V i r t u a l i t ä t , daß nämlich die agitatorisch nutzbare Zusat2wirkung realisiert werden kann, aber nicht realisiert werden muß. Ob das ζ. B. in Menschenhandel, Fluchthilfe und den anderen morphologisch motivierten Ausdrücken enthaltene „Persuasionspotential" bei der Nomination aktiviert wird oder nicht, hängt nach Käge (1980, 69. 74) von der „Kenntnis der pragmatischen Umstände" und „dem Reflexionsvermögen des jeweiligen Sprachteilhabers" ab, nach W. Rohde (1986, 56 — 57), der die semantische Aktivierung von Motivationselementen als Erscheinungsweise der Volksetymologie betrachtet, von der „Sprachbewußtheit" und der „Sprachsensibilität" des einzelnen. Die motivationssemantische Sensibilität ist sicherlich steuerbar. Gleichwohl: „Ein Zwang, ihr Referenzobjekt nach Maßgabe der motivierenden Konstituentenbedeutung zu sehen, kann von einer Zusammensetzung nicht ausgehen." (Käge 1980, 74). Zu ergänzen ist noch, daß das Gesagte auch für figurative und situative Motivation zu gelten hat, zu der letzteren vgl. Konzentrationslager (s. oben Kapitel 2) und profitieren (vgl. Faulseit 1971, 120 — 121). In diesem Sinne schlage ich vor, G. Augsts (1975) Konzept einer „Synchronen etymologischen Kompetenz" der Sprachteilhaber, das von ihm lediglich als eine Art Wortfamilien-Durchschaubarkeit aufgefaßt wird, dahingehend zu erweitern, daß das Potential der semantischen De- und Re-Aktivierung von Motivationselementen einbezogen ist. Das strukturalistische Modell des Sprachzeichens sollte um einen Platzhalter Μ — Motivation ergänzt werden, der den Charakter eines V i r t u e m s hat und die gegebenenfalls vorhandenen motivierenden Elemente des Zeichens aufnimmt und zur Aktivierung und Umsetzung in denotative und konnotative semantische Merkmale verfügbar hält. Den Ausdruck Virtuem übernehme ich von B. Pottier (1967, 27), der damit die neben Semantem und Klassem dritte Komponente des Semems bezeichnet hat. Weitere Aufschlüsse über die semantische und kommunikative Funktion der Motivationselemente sind von Informantenbefragungen und Bewertungstests zu erwarten. (Vgl. ζ. B. Fill 1980, 47 ff.). 4.4. Quantitative Variation der Motivierung F. Tschirch (1965, 162) hat darauf aufmerksam gemacht, daß den ahd. Reihen hundj^0haj(h)welf und α'idarjoujlamb in der heutigen Alltagssprache HundjHündin)Hündchen bzw. Schaflockj MutterschafjSchäfchen entsprechen.

Diese und zahlreiche weitere Einzelbeispiele belegen nach Tschirch eine historisch wirksame Tendenz, „die die Simplizia abtötet und die Komposita

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hervortreibt", also einen Zug zur Herstellung von Motivation. Auf Ausbildung von Motivation und Motivationsbeziehungen ist auch die sogenannte Volksetymologie gerichtet, indem diese für morphologisch isolierte Ausdrücke fremder aber auch einheimischer Etymologie motivationale Beziehungen herstellt wie etwa die von mlat. arcuballista zu mhd. armbrust. Dieser motivationsproduktiven Entwicklung von Teilen der Lexik steht eine entgegengesetzte Tendenz der Verminderung von Motivation gegenüber, deren Haupttypen unter dem Stichwort Wortkürzung durch Beispiele wie Wimper und Ölzweig vertreten werden können (vgl. W. Henzen 1965, 260 ff.). Zu erwähnen ist auch bei Determinativkomposita die okkasionelle Tilgung der Determinantien (Regenschirm vs. Schirm, Ansichtskarte vs. Karte) oder seltener von Determinanda (Hochdruckgebiet vs. Hoch), wo immer der vorgängige Text und/oder die Situation dies zulassen. Neben diesen spontanen Reduktionen der Ausdrucksstruktur stehen mehr oder weniger artifizielle Kürzungserscheinungen, die keineswegs nur der neueren und neuesten Sprachgeschichte angehören, wie das vielzitierte Beispiel griech. ichthjs (,Fisch'), das Kennwort der frühen Christen, belegt, eine akronymisch-akrostichische Kürzung aus der griechischen Version von Jesus Christus, Gottes Sohn, Retter. Nicht durchgängig, aber überwiegend hat sich für Kürzungen dieser und anderer Art, soweit sie auf Grund bedachten Zugriffs zustande kommen, der Ausdruck Kurzwort als Terminus des Oberbegriffs eingebürgert. Es handelt sich somit bei Kurzwörtern um Ergebnisse gezielter Eingriffe in die Wort- (bzw. Wortgruppen-)struktur, die nicht allein zu einer semantischen und nicht allein zu einer durch Merkmal-Senkung erreichten semantischen Demotivierung führen (Kap. 4.3), sondern um eine Demotivierung, die auch die Ausdrucksseite betrifft und verändert. Zur komplizierten Typologie der Kurzwortbildung und zu allgemeinen Fragen habe ich verschiedene Vorschläge gemacht (vgl. ζ. B. Bellmann 1980). Hier sollen einige motivationale Aspekte der Kurzwortbildung, der (Erst-) Benennung und der Nomination behandelt werden, die die im bisherigen Text gebotene Darstellung ergänzen können. Zunächst ist hervorzuheben, daß die originale, ungekürzte Ausdrucksform durch Kurzwortbildung und durch Kurzwort-Verwendung in der Regel nie ersetzt und eliminiert, sondern lediglich in ihrer Auftretenshäufigkeit eingeschränkt wird. Durch die Einführung und Verwendung von Kurzwörtern — als Appellative und als Namen — werden Mittel zu einer lexikalischen Variation besonderen Typs verfügbar gemacht. Der Ausdruck Kurzwort legt einen Akzent auf die Tatsache, daß es sich um gekürzte Wörter handelt, was auch zutrifft. Und es wird, nicht zu Unrecht, auf die ökonomische Eigenschaft der Kurzwort-Varianten hingewiesen. Zugleich wirkt sich aber die von mir unter 4.3 beschriebene Problematik der Komposita als punktuell-einseitig motivierender Ausdrücke zuungunsten

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meiner eigenen hier verwendeten Terminologie aus: Der Ausdruck Kurzwort könnte, soll aber nicht davon ablenken, daß die Kürzung als solche nur Vehikel zu der eigentlichen Besonderheit der Kurzwort-Varianten ist, nämlich der Reduktion morphologischer und damit zugleich semantischer Motivation zu dienen. Wer bei oder nach einer Benennung neben dem Original eine Kurzwort-Variante bereitstellt, sorgt nicht nur für einen kürzeren Ausdruck, der der durchschnittlichen Silbenzahl des deutschen Wortes näher kommt, sondern er sorgt zugleich dafür, daß für künftige, durch Nomination erfolgende Referenzakte eine semantische Aktivierung und Akzentuierung obsoleter oder sonst unerwünschter Motivationsbestandteile unterbleibt. Als Beispiel hierzu: Badische Anilin- und Soda-Fabrik vs. BASF. Dies ist eine firmen-offizielle (auctoriale) Kurzwortbildung. Für die übrigen, eher spontanen, gilt ebenfalls, daß die für die Referenz irrelevanten, womöglich sogar störenden Motivationsbestandteile unterdrückt werden können: Der Ausdruck Alphabetisierungskurs könnte die belastende Aktivierung zulassen, daß dort Erwachsene das Alphabet lernen. Davon ist Alpha-Kurs (Tageszeitung Sept. 1986) frei.

Es ist einsichtig, daß insbesondere im Falle von Namen, die ja nach der überwiegenden Meinung bedeutungsfrei sind, diese durch die Tilgung von Motivationsbestandteilen ihrem besonderen onomastischen Status und Ideal nahe gebracht werden. In der kommunikativen Praxis stehen sich zwei Bedürfnisse und Prinzipien gegenüber: einerseits das der (auch juristischen) Identifizierbarkeit, das der originalen Variante und einer Variante mit zurückhaltender Kürzung Gewicht verleiht, und andererseits das der bloßen Referenz, dem eine wenig oder unmotivierte Variante entgegenkommt. Jüngere Firmen- und Messenamen bewahren in ihren Kurznamen-Varianten eine mittlere bzw. Restmotivation (Bellmann 1986). Besonders deutlich wird die hier insgesamt vorliegende q u a n t i t a t i v e Variation der Motivierung im Falle der mehrfach gestuften Motivationstilgung bzw. -erhaltung, ζ. B. drei Varianten umfassend: Bundesgeset% über individuelle Förderung der Ausbildung vs. Bundesausbildungsförderungsgesetz^ vs. BAföG. Schon unter 4.3 ist gesagt worden, daß Motivation teils erwünscht, teils unerwünscht ist. Dabei ist Motivation nicht generell und schlechthin erwünscht oder unerwünscht, sondern je nach Situation und vor allem je nach Einstellung. Dies eben ist der Umstand, der sie zu einem kommunikativen Phänomen macht. Zum Schluß will ich noch zeigen, daß auch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Motivationstyp unerwünscht und die zu einem anderen erwünscht sein kann. Ich spreche dabei von M o t i v a t i o n s t y p wechsel. Dazu die Beispiele: Ein^elspaltrohr-Versuchs-Anlage vs. Eva, Berliner Elektronenspeicherring für Synchrotronstrahlung vs. Bessy, Pilotanlage Mol ^ur Erzeugung lagerfähiger Abfälle vs. Pamela, Mainzer Mikrotron vs. Mami, Initiative der engagierten arbeitslosen Lehrer vs. Ideal.

Diese häufiger werdenden Akrostichon-Kurzwörter nehmen den bereits erwähnten icbthjs-Typus wieder auf. Sie kommen nicht allein durch manipulie-

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rende Selektion der S e g m e n t e aus d e m Original zustande, s o n d e r n bereits durch eine auf das K u r z w o r t hin orientierte O r i g i n a l b e n e n n u n g , sind also auch d a d u r c h in gesteigerter Weise artifiziell: D i e ζ. T. umständlich deskribierende u n d prädizierende bis abschreckende m o r p h o l o g i s c h e M o t i v a t i o n der Originale w i r d in Zielrichtung auf eine f i g u r a t i v m o t i v i e r t e K u r z w o r t v a r i a n t e w e g g e k ü r z t . D i e k u r z w o r t b i l d e n d e D e m o t i v a t i o n ist in diesen Fällen mit einer Re- u n d T r a n s m o t i v a t i o n gekoppelt. D i e ζ. B. v o n den M ä d c h e n n a m e n „ H o m o n y m e n " ausgehende unmittelbar aktivierbare

figurative

Motivation

w i r k t semantisch p o s i t i v konnotierend. I m Falle e t w a v o n Pamela kann der M o t i v a t i o n s t y p w e c h s e l

demnach eine k o m m u n i k a t i v

(s. o.)

besonders

wirkungsvolle Umkonnotierung bewirken.

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Motivation und Kommunikation

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Wimmer, Rainer, Referenzsemantik. Untersuchungen zur Festlegung von Bezeichnungsfunktionen sprachlicher Ausdrücke am Beispiel des Deutschen. Tübingen 1979. (Reihe Germanistische Linguistik 19). Wurzel, Wolfgang Ullrich, Zur Dialektik im Sprachsystem: Widerspruch — Motiviertheit — Sprachveränderung. In: Deutsch als Fremdsprache 21, 1984, 2 0 2 - 2 1 1 [1984a]. Wurzel, Wolfgang Ullrich, Noch einmal: Widerspruch, Motiviertheit und Sprachveränderung. In: Zeitschrift für Germanistik 5, Leipzig 1984, 3 1 2 - 3 1 8 [1984b].

FRIEDHELM

DEBUS

Original und Variation Zur Kreativität bei der Benennung von Personen.

1. Hinführung und terminologische Vorklärung 2. Name und sprachlicher Schöpfungsakt 3. Kurz- und Kosenamen als besonderer Ausdruck sprachlicher Kreativität 4. Zur Beschreibung empirisch gesammelten Materials 5. Ergebnisse und Aufgaben künftiger Forschung Literatur

1. Hinführung und terminologische Vorklärung 1.1. Es war gleich in einer der ersten Vorlesungen bei dem an die Universität Marburg berufenen Ludwig Erich Schmitt, durch die ich einen tieferen Einblick in die grundlegende und wegweisende Bedeutung von Hermann Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte" gewann. Dieser durch die inspirierende Art des akademischen Lehrers vermittelte Einblick wurde zum Anlaß persönlicher Auseinandersetzung mit Pauls Werk und zur prägenden, das eigene Forschen über die Jahre hin begleitenden Erfahrung. Erst 1960 freilich — genau 80 Jahre nach der ersten und 40 Jahre nach der letzten, von Paul selbst noch betreuten fünften Auflage — wurden die „Prinzipien" wieder neu aufgelegt und damit für die jüngere Forschung fruchtbar gemacht (Paul 1960). Mit Recht hat Cherubim (1973, 311) dieses auch und gerade für die moderne Linguistik wesentliche Buch als „Klassiker" bezeichnet — bei aller Kritik, die es erfahren hat. Schon 1886 aber hat Paul (1960, III) in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Prinzipien" seinen Kritikern, die seine Darlegungen entweder „zu allgemein" oder „zu elementar finden" bzw. gar „etwas Geistreicheres wünschen", mit Entschiedenheit ins Stammbuch geschrieben: „Ich erkläre ein für allemal, daß ich nur für diejenigen schreibe, die mit mir der Uberzeugung sind, daß die Wissenschaft nicht vorwärts gebracht wird durch komplizierte Hypothesen, mögen sie auch mit noch so viel Geist und Scharfsinn ausgeklügelt sein, sondern durch einfache Grundgedanken, die an sich evident sind, die aber erst fruchtbar werden, wenn sie zu klarem Bewußtsein

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gebracht und mit strenger Konsequenz durchgeführt werden." Diese markant den eigenen Forschungsansatz charakterisierende Aussage ist, so scheint es zunächst, hypothesenfeindlich ausgerichtet. Das ist sie indessen nicht, sie wendet sich lediglich gegen übertrieben-verwickelte Hypothesen, denen klar definierte und empirisch nachprüfbare Grundlagen fehlen. Theoriebildung und Empirie in enger Verknüpfung, das ist nach Pauls einleuchtender Überzeugung — und sein Buch belegt es auf Schritt und Tritt — allein tragfähiges Fundament sprachwissenschaftlich-sprachgeschichtlicher Forschung. Insofern kann man mit Schmitt (1957, 274) Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte" ein „theoretisches Handbuch" nennen. 1.2. In diesem Buch widmet Paul der „Urschöpfung", die heute auch als „Wortschöpfung" bezeichnet wird, ein ganzes Kapitel (Paul 1960, 174 — 188). Dieser Vorgang, der die vorbildlose Schaffung von sprachlichen Einheiten aus dem lautlichen Urmaterial betrifft, kann nun gewiß nicht ohne Hypothesenbildung beschrieben werden. Denn wie sollen hierzu Einsichten gewonnen werden, wo es doch kaum möglich erscheint, an Hand singulärer Fälle 1 Rückschlüsse auf den in der Frühzeit des Sprachwerdens lebendigen Prozeß zu ziehen? „So schwebt denn über dem Vorgange ein gewisses mystisches Dunkel", bemerkt Paul (1960, 174), „und es tauchen immer wieder Ansichten auf, die ihn auf ein eigentümliches Vermögen der ursprünglichen Menschheit zurückführen, welches jetzt verloren gegangen sein soll." Paul urteilt, daß derlei Auffassungen entschieden zurückzuweisen seien: „Auch in der gegenwärtig bestehenden leiblichen und geistigen Natur des Menschen müssen alle Bedingungen liegen, die zu primitiver Sprachschöpfung erforderlich sind." (Ebda). Paul geht dann mit den neueren Wortbildungslehren 2 konform, wenn er den heutigen Mangel an Urschöpfungen mit dem fehlenden Bedürfnis nach solchen Bildungen bei gleichzeitig ausgeprägten Wortbildungsmöglichkeiten erklärt. Gleichwohl wagt er die „Behauptung", daß in den modernen Kultursprachen nicht nur die Fähigkeit zur Urschöpfung, sondern auch „die wirkliche Ausübung dieser Fähigkeit" selbst in der jüngsten Zeit feststellbar sein müsse (Paul 1960, 175). Es sind ihm, wie auch in der Regel wiederum den späteren Betrachtern, die Bildungen onomatopoetischen Charakters, die offenbar „das eigentliche Gebiet der sprachlichen Urschöpfung" darstellen 3 , dazu auch mit Einschränkung die Interjektionen. Mit zahlreichen Beispielen 1

Paul (1960, 174) erwähnt das in solchem Zusammenhang angeführte Wort Gas als Beispiel für eine „willkürliche Erfindung". Dieses Wort ist allerdings griech. xäoQjChaos nachgebildet und wurde vom Chemiker J . B. von Helmont in der uns geläufigen Bedeutung eingeführt, vgl. Kluge.Mitzka 1967, 234.

2

Ζ. B. Henzen 1965, 4ff.; Fleischer 1974, 10; Erben 1983, 17 f.

3

Paul 1960, 178; vgl. dazu auch die Wortbildungslehren, insbesondere Henzen 1965, 5 f. u. ö.; Fleischer 1974, 10; Erben 1983, 17 f.

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versucht Paul, diese These zu belegen, und er zählt auch die meisten Wörter der „Ammensprache" mit ihren charakteristischen Reduplikationsformen (ζ. B. Mama, Papa) hierzu. Mit Nachdruck muß freilich auf grundlegende Unterschiede zwischen den in der Urzeit und den in der jüngeren Zeit entstandenen Sprachschöpfungen hingewiesen werden. Auch hier hat Paul (1960, 183 ff.), teilweise in Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundt 4 oder diesem direkt folgend, mit feinsinnigen Beobachtungen über die gängigen Vorstellungen hinausgeführt. Der Hinweis auf die in einer Sprache bereits durch Auswahl etablierten Lautinventare und Lautkombinationsmöglichkeiten ist dabei besonders wichtig. Denn hier wird, im Gegensatz zur Urphase, der sprachschöpferische Akt in eingeschliffenen, mehr oder weniger festgelegten Bahnen weitgehend unbewußt gesteuert, wobei dann zusätzlich mannigfache, aus dem bestehenden System her wirkende Analogien anzunehmen sind. Insofern stellen auch die onomatopoetischen Bildungen „keine reinen Urschöpfungen" dar, wie Paul (1960, 186) richtig sieht. Am ehesten läßt sich die mit den im Frühstadium noch geringen Möglichkeiten der Sprechorgane operierende Kindersprache vergleichen, deren nachahmender Charakter sich an den früh erlernten Bildungen wie Mama, Papa, atta usw. oder an den entsprechend vereinfachten komplizierteren Wörtern beobachten läßt — weshalb Wundt (1911, 288 u. ö.) auch den Begriff „Echosprache" verwendet. Nach Paul (1960, 187) kann man „sich danach eine Vorstellung von der Wortgestaltung der primitivsten Sprachen machen". Dabei weist er zugleich mit Recht auf die offenbar beherrschende Rolle der Reduplikation für diese urtümliche Sprachschöpfung hin. Bemerkenswert und für unsere weiteren Überlegungen richtungweisend ist nun, daß sowohl Wundt (1911, 306) als auch Paul (1960, 187) die besondere Wichtigkeit der Personenbenennungen bzw. der Eigennamen in diesem Zusammenhang anführen. „Zunächst sind es Personen und Vorkommnisse der täglichen Umgebung, die das Kind zur Benennung anregen oder es veranlassen, ihm vorgesprochene Wörter in gleicher Bedeutung nachzusprechen..." (Wundt 1911, 289). Und die in Kindermund umgebildeten Namen gehen nach Paul (1960, 187) dann auch in die Erwachsenensprache über. Dafür nennt er als Beispiele Lili, Lulu, Mimi, oder er führt aus dem Sprachschatz eines zweijährigen Mädchens neben einer Reihe von entsprechenden Wortformungen auch zwei Namen an: tata = Martha (daneben täte = Tante) und ototte - Onkel Otto (daneben Ottel = Onkel). Auch Wundt (1911, 289) bringt aus dem Wortschatz eines etwa gleichaltrigen Mädchens neben Wörtern wie Oggo = Onkel oder Dada = Tante die Namen Eje = Marie und Wida = Friedrich als Belege.

4

Vgl. Wundt 1 9 1 1 ; Paul hat die 2. Aufl. Leipzig 1 9 0 4 benutzt.

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1.3. Alle Bildungen dieser Art — die onomatopoetischen, interjektionellen oder kindersprachlichen — sollten als spätere Formungen grundsätzlich nicht unter dem Begriff der U r s c h ö p f u n g gefaßt werden 5 . Bei dieser handelt es sich um Sprachschöpfung aus ungeprägtem lautlichen Urmaterial, bei jenen um W o r t - oder N a m e n s c h ö p f u n g in jeweils einzelsprachlich ausgeprägten Bahnen bzw. Lautstrukturen. Hermann Paul hat, wie dargelegt wurde, die Unterschiede zwar im wesentlichen herausgearbeitet, nicht zuletzt auch mit der sicherlich zutreffenden Bemerkung, daß die ältesten Bildungen „den vollkommenen Ausdruck einer Anschauung, wie sie später durch einen Satz wiedergegeben wird, mit interjektionellem Charakter verbinden." (Paul 1960, 184). Er hat aber den Schritt zur terminologischen Trennung bzw. Schärfung nicht vollzogen, und auch für die Wortbildungslehren gilt dies in aller Regel. Hier sei empfohlen — nicht zuletzt unter Berücksichtigung des letztgenannten Gesichtspunktes —, eine prinzipielle terminologische Unterscheidung zwischen der archaischen U r s c h ö p f u n g und der typologisch jüngeren W o r t ( N a m e n - ) S c h ö p f u n g vorzunehmen. Dabei sind beide Vorgänge dem allgemeineren Begriff S p r a c h s c h ö p f u n g unterzuordnen: Sprachschöpfung

Urschöpfung

Wort-/Namenschöpfung

Wie angedeutet, zeigt sich der sprachschöpferisch-kreative Aspekt der Sprache besonders deutlich im Bereich der Benennung von Personen, enger gefaßt im Bereich der Anthroponyme. Diesem insgesamt noch zu wenig beachteten Gebiet sollen die folgenden Überlegungen gelten, die zugleich dem verehrten Lehrer zum 80. Geburtstag gewidmet sein sollen, der seine Schüler auch in das weite Feld der Namenforschung eingeführt hat. 2. Name und sprachlicher Schöpfungsakt 2.1. Friedrich August Pott, einer der Begründer der deutschen Namenforschung, hat den Eigennamen früh nach seinen wesentlichen Merkmalen folgendermaßen charakterisiert: „Unzweifelhaft ist das Nomen proprium überhaupt vielleicht unter allen Wortclassen der Sprache am meisten aus subjectiver, des Objects zu wenig achtender Wahl resultirend und, schon weil es das zwar an logischem Umfang Engste, jedoch an Inhalt von Merkmalen Reichste gewöhnlich nur mit einem, jedenfalls einseitigen Merkzeichen umfas5

Vgl. zum Begriff „Urzeugung" 3.3.

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sen und fixiren soll, somit das willkürlichste Product sprachlicher Schöpfungsacte." (Pott 1853, 14). Es kann im vorliegenden Zusammenhang nicht auf die verschiedenen Aspekte dieser Charakterisierung des Eigennamens, insbesondere wiederum des Personennamens, e i n g e g a n g e n werden; dies ist in den vergangenen mehr

als hundert Jahren vielfältig getan worden 6 . Das nomen proprium ist ein in Form und Inhalt spezifisch geprägtes „Product", das im Vergleich zum nomen appellativum zweifellos eher als Ergebnis eines willkürlichen Schöpfungsaktes interpretiert werden kann. Ein Name hat zwar seine feste, auch in Normbüchern festgelegte Form, doch diese ist nicht — wie beim Appellativum — an einen bestimmten Wort-Inhalt zur „Verständigung" gebunden, sondern die „Bedeutung" ergibt sich eher und je neu durch die Bindung an den jeweiligen Träger des betreffenden Namens. Die nach unterschiedlichen Gesichtspunkten frei, jedoch nicht willkürlich gewählte Namenform ist gleichsam das Original, das dem Individuum im Namengebungsakt bleibend zugeordnet wird. In der Namen Verwendung kann dieses Original variiert wer-

den. Erfahrung und Erhebungen zeigen, daß diese Variation nicht nur häufig vorkommt, sondern auch recht vielfältig sein kann. Im einzelnen kann sie weit vom Original wegführen, insbesondere in kleineren Kommunikationsgemeinschaften oder wenn es sich um kindersprachliche Varianten handelt. Das belegen die schon genannten oder die noch zu nennenden Beispiele (vgl. 1.2. und 4.). Dazu werden nicht selten neben dem Originalnamen im Sprachverkehr auch ganz neue, unabhängige Formen geschaffen, die sich einbürgern und so den ursprünglichen Namen auf die bloße offizielle Funktion zurückdrängen können. Solche neuen Namenschöpfungen können aber auch durch bestimmte Namenträger etabliert werden und dann wieder offiziell als Originalformen im Namengebungsakt verliehen werden. Das trifft im übrigen auch für sehr zahlreiche Namenvarianten zu, die im Laufe der Zeit durch häufige Verwendung Originalcharakter angenommen haben und deshalb in Namenlexika neben den Ausgangformen lemmatisiert sind; ζ. B. stehen dann neben Nikolaus die Namen Klaus, Niko, Nick, Nickel, Nils u. a. Dabei ist nicht selten der Bezug dieser Namen zur Ursprungsform nicht mehr bewußt. Sie sind verselbständigt und ihrerseits zu Originalformen geworden, die wiederum in der Namenverwendung variierbar sind 7 . 2.2. Wie sehr die nichtoffizielle die offizielle Form bei Personenbenennungen zurückdrängen kann, ist immer wieder beobachtet und beschrieben worden, sowohl in synchronischer als auch in diachronischer Sicht. So hat dies schon 6 7

Vgl. dazu Debus 1980 mit Literaturhinweisen. Vgl. hierzu etwa Naumann 1976 und Nauman 1977.

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Bertsche (1905) in seiner bei Friedrich Kluge angefertigten Dissertation deutlich aufgezeigt, die im übrigen die erste Gesamtdarstellung der „volkstümlichen" Personennamen eines Ortes (Möhringen a. d. Donau) ist 8 . Die inoffiziellen Namen, die privaten und die volkstümlichen 9 , werden herkömmlich zur Klasse der Übernamen gerechnet, aus denen in der Vergangenheit nicht selten auch Familiennamen geworden sind (Debus 1987). Sie bieten für den Kenner zahlreiche situations- und sozialisationsspezifische Orientierungsmöglichkeiten. Innerhalb einer Gemeinschaft, ζ. B. einer Ortsgemeinschaft, bilden diese Namen insofern ein „informationelles Namensystem" (Schwedt 1973), das wiederum in verschiedene Subsysteme (nach Verwandtschaften, Freundschaften, Jugendgruppen, Vereinen, Ortsbereichen usw.) untergliedert sein kann. Die sprachlichen Formen dieser Namen zeigen eine große Mannigfaltigkeit, eine außerordentliche Kreativität der Namengeber. Seibicke (1982, 206 f.) hat diesen Aspekt zusammenfassend beschrieben: „Die Bildungsweisen der Übernamen sind von schier unerschöpflicher Vielfalt. Im G r u n d e ist alles möglich, kann jedes Lautgebilde zum Übernamen werden. Gern wird an dem/den Vornamen und am Familiennamen angeknüpft; sie werden verkürzt, umgestaltet, verdreht, .übersetzt' und dann erneut verkürzt und so fort. A b e r auch Eigenschaften und Eigenheiten der betreffenden Person werden benannt, aufs K o r n genommen, verspottet; Ereignisse aus dem Leben der Person innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft geben Anstöße zur Prägung von Übernamen [...]. Für Kosenamen steht ein reichhaltiges Repertoire entsprechender Ausdrücke zur Verfügung [...], das jederzeit erweiterbar ist. A u f die Motiviertheit der als Übername gewählten Bezeichnung kommt es dabei gar nicht so sehr an als vielmehr auf das emotionelle Gewicht, das den — manchmal ganz ,sinnlosen' — Lautgebilden beigemessen wird."

Die hier zuletzt angesprochenen Kosenamen bilden eine bedeutende Untergruppe in der Klasse der Übernamen. Sie sind nicht ohne Berücksichtigung der Kurznamen zu beschreiben. 3. Kurz- und Kosenamen als besonderer Ausdruck sprachlicher Kreativität 3.1. Kurznamen als verkürzte Formen von Eigennamen können entweder als solche Kosenamen sein oder die Ausgangsbasis für Kosenamenbildungen darstellen (Witkowski 1964, 42 f.). Die Gleichsetzung eines Kurznamens mit einem Kosenamen ist freilich schwierig insofern, als diese nicht nach formalen Kriterien allein vorgenommen werden kann, sondern immer nur in Verbindung mit pragmatisch-funktionellen Gesichtspunkten. Achim (von Joachim) 8

Vgl. ferner etwa Schwedt 1973, Neumann 1 9 7 3 oder Huber 1986, 779 ff.; jeweils mit weiterführenden Literaturangaben.

9

Bertsche 1905, 1 spricht v o n der ,,ungeheure[n] Fülle und Mannigfaltigkeit dieser urwüchsigen Schöpfungen der Volksphantasie und des Volkshumors".

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oder Chris (ζ. Β. von Christoph) oder Tina (z. B. von Martina) sind formal verkürzte Varianten der Original- oder Vollform, doch in der Namenverwendung kann damit durchaus — zeitlich begrenzt oder bleibend oder in bestimmten Situationen bzw. Kontexten — eine kosende Funktion verbunden sein. Diese Funktion kann sogar situationell der offiziellen Namenform eignen; denn auch diese kann „eine liebevolle, vertrauliche Beziehung zu jmdm. ausdrücken"; so erklärt DUDEN Wörterbuch (4,1978,1562) den Kosenamen. Selbst ausgesprochene Schimpfwörter können zu Kosenamen werden (Leisi 1980, 351). Die kosende Qualität von Kurznamen ist also für den Außenstehenden nicht ohne weiteres feststellbar. Hierzu sind genaue Beobachtungen des Gebrauchs oder Direktbefragungen erforderlich. Die Analyse indirekt, ζ. B. durch Fragebogenaktionen, gesammelten Materials ohne Motivbefragung (vgl. 3.3. und 4.) wird daher tunlichst Unterscheidungen oder Identifizierungen nach funktionalen Aspekten vermeiden oder nur vorsichtig vornehmen. Einfacher ist demgegenüber die Analyse von formal als Kosenamen deutlicher erkennbaren Bildungen. Dabei handelt es sich um zwei Hauptgruppen, die wir — ähnlich wie Frank (1975, 515) — bezeichnen: die P r i m ä r b i l d u n g e n , die mit dem/den Originalnamen des Trägers nichts zu tun haben, sondern neben diesen in kosender Funktion nach Appellativen oder Proprien primär gebildet wurden und im Prinzip inoffiziell in Gebrauch sind, sowie die S e k u n d ä r b i l d u n g e n , die Derivate der Originalnamen darstellen. Diese Derivate sind expressive Varianten, wobei die Originale im Sinne von 2.1. sowohl Vollformen als auch Kurzformen sein können. Sammlungen solcher Namenbildungen zeigen, daß ihre Vielfalt — und das heißt zugleich, die Kreativität der Namengeber — außerordentlich groß ist (vgl. 3.3. und 4.). Vor diesem Hintergrund erweist sich die Definition des Kosenamens bei Witkowski (1964, 42) als unzureichend. Nach ihm sind nämlich Kosenamen „deminutive Namen", weil sie „mittels Deminutivsuffixen gebildet" sind; die von uns als Primärbildungen bezeichneten Kosenamen sind für ihn „Gelegenheitsbildungen kosenden Charakters", die „besser als Koseworte bezeichnet werden". Einerseits bestehen Kosenamen, formal gesehen, nicht nur aus diminuierten Bildungen (vgl. 3.2. und 4.), und andererseits sind solche „Gelegenheitsbildungen" nicht nur von Appellativen abgeleitet; sind sie es doch — Witkowski (ebda) nennt als Beispiele Mausi, Schätzt), Männlein —, dann sind sie keine „Koseworte", sondern ihrer Funktion und teilweise auch ihrer Form nach wirkliche Namen. 3.2. Kurz- und Kosenamen hat es in der Sprachwirklichkeit offenbar stets gegeben, soweit wir die Uberlieferung überschauen können (vgl. ζ. B. Katz 1964, 91). Kaufmann (1965) hat den recht hohen Anteil solcher Bildungen bei den altdeutschen Rufnamen erstmals in systematisierendem Zugriff erfaßt

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und dargestellt. Wesentlich angeregt durch Karel Roelandts' Arbeiten zur expressiven Lautlehre 10 , widmet er die Hälfte seines Buches (170 Seiten) dem Einfluß der Kinder- und Gefühlssprache auf die Lautgestalt der Namen. Untersuchungsgegenstand sind ihm dabei „insbesondere die aus den Vollnamen entwickelten Kurz- und Kosenamen." (Vorwort). Aus verständlichen Gründen läßt er bei diesem historischen Material die pragmatischen Gesichtspunkte — „diesen Wechsel der Umstände und das Schwanken der persönlichen Einstellung" (Kaufmann 1965, 12) — außer Betracht 11 . So kommt er gegenüber der Vollform als der neutralen Grundform zu den verschiedenen, „von den Regeln der Gemeinsprache mehr oder weniger abweichenden" expressiven Varianten der Kurz- und Koseformen (Kaufmann, ebda). Diese sind entstanden insbesondere durch jeweils unterschiedliche Arten der Gemination, Inlaut- und Anlaut-Verschärfung, Auslaut-Verhärtung, Verkürzung und Erweiterung von Rufnamen-Stämmen (vor allem durch Suffigierung), expressive Veränderungen des Stammvokals, expressive Vokalhebung, Lallformen (Reduplikationen, Spielformen). Nun ist hierbei zu bedenken, daß Kaufmann nicht selten sein Material aus den mit Personennamen zusammengesetzten Ortsnamen gewinnt und gerade in diesem Bereich Kurzformen häufiger begegnen (vgl. Löffler 1977, 496), dazu mögen im einzelnen Korrekturen nötig sein. Gleichwohl sind damit Bildungsmittel genannt, die für die Entstehung von Kurz- und Kosenamen grundsätzlich zu allen Zeiten und nicht nur im Bereich der deutschen Sprache Gültigkeit haben und produktiv werden können. Es bleibt zu prüfen, ob und inwieweit es sich dabei um Universalien handelt. Daß schon früh Kurzformen als die sprechsprachlich-inoffiziellen Namen neben den offiziell-urkundlichen vorkommen, hat ζ. B. Sonderegger (1961) durch Vergleich erhaltener Vorakte mit den zugehörigen Reinschriften an St. Galler Urkundenmaterial nachgewiesen, und Löffler (1977) hat zudem an entsprechenden Quellen typische sozialrelevante Verteilungen herausarbeiten können. So zeigt sich, daß während des gesamten untersuchten Zeitraumes bei Hörigen mehr Kurzformen vorkommen als bei Höhergestellten (mit größerem Anteil bei den Frauennamen) und daß auch ganz bestimmte Bildungsmittel bzw. Bildungsweisen jeweils bevorzugt werden 12 . Man muß allerdings mit Bach (1952/1953, § 437) bedenken: „Auch die Vornehmen werden im vertrauten Verkehr in ihren Familien mit KF [ = Kurzformen] gerufen worden sein. In der Öffentlichkeit dagegen wurden sie mit dem feierlicheren vollen RN [ = Rufnamen] genannt, während der gemeine Mann 10

Vgl. die Literaturangaben bei Kaufmann 1965, 352.

11

Vgl. auch Kohlheim 1977, 2 4 f f . , der — wie andere (vgl. die Literatur ebda) — „ K u r z f o r m des Namens" prinzipiell gleichsetzt mit „Koseform". Vgl. ferner A n m . 13.

12

Vgl. hierzu auch besonders Kohlheim 1977, passim.

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auch hier die KF zu verwenden pflegte." 13 Besonders aufschlußreich sind in dieser Beziehung natürlich Quellen, die beide Namenformen nebeneinander mitteilen. So sind ζ. B. nach Huber (1986, 30) in den Pfarrbüchern von Cumbel/Graubünden a. 1792 eine Hjpolita vulgo Litta Kolomberg, von Valchava/Graub. a. 1803 ein Magnus von Capol vulgo Maini oder von Sched/Graub. a. 1830 ein Sein vel Simeon Flisch bezeugt. Huber (1986, 119) weist weiter auf die Vielfalt der Koseformen bei den germanischen Namen hin, die als vorwiegend kindersprachliche Bildungen schwer artikulierbare Konsonantenverbindungen umgehen (ζ. B. Buggo für Burkhart oder O f f o für Wolfram) — „so wie man heute im Engadin für Chatrina sagt Tina, Deia für Andreia, Deta für Malgiaritta" (ebda). Ferner lassen sich hier den Reduplikationsformen des Typs Dodo, Toto die italienischen Formen Beppo für Giuseppe, Tato für Renato oder schon im 13. Jahrhundert Cor so für Buonaccorso bzw. Cisti für Bencivenisti vergleichen. 14 3.3. Aus jüngerer Zeit sind mehrere empirische Untersuchungen zu nennen. Einen besonderen Kosenamenbereich hat Leisi (1980) untersucht (vgl. auch Leisi 1978). Eine Erhebung bei Zürcher Studenten zur Kosenamengebung bei Liebespaaren ergab gut hundert verschiedene Namen. Wiewohl diese Zahl nicht groß genannt werden kann, erlaubt sie dennoch einen ausnehmend guten Einblick in die Kreativität der Namengeber. Sekundärbildungen ergaben sich hierbei offenbar nicht, vielmehr spielt die metaphorische Namengebung die Hauptrolle. Dabei dominieren die Tierbezeichnungen, unter denen auch Bezeichnungen für gewöhnlich nicht beliebte Tiere wie Käfer, Frosch, Laus, Wurm begegnen (vgl. 3.1.). Auch die Mehrfachbenennungen als eine Art von Sprachspiel sind bemerkenswert. 15 Mit Recht hebt Leisi (1980, 352) aber die „etymologisch ungestützten Wörter" hervor, die er „etymologielose linguistische Urzeugungen' " nennt, „bei denen die Gestalt des Wortes ohne Umwege über andere Wörter direkt am Bezeichneten motiviert ist." Leisi gebraucht hier also nicht den Terminus „Urschöpfung" aus der Wortbildungslehre (s. o. 1.2.). Wenn damit nicht eine Gleichsetzung gemeint ist, kann dem im Sinne von 1.3. zugestimmt werden. Es handelt sich bei diesen und ähnlichen Kosenamen, wie bei kindersprachlichen Bildungen, um eine besondere Kreativität, die von derjenigen bei gängigen Wortbildungen aus vorhandenen Bauelementen zu unterscheiden ist. „Man kann deshalb wohl sagen, daß die

13

Ähnlich Schwarz 1949, 17. Vgl. zur Kurznamen-Bildung ausführlicher ebda, 16 ff. und v o r allem Bach 1952/1953, § 91 ff. u. ö. Auffällig ist, daß in Bachs Werk das Stichwort „Kosename" im Sachweiser ganz fehlt. A u c h hier wird „Kurzname" prinzipiell mit „Kosename" gleichgesetzt; vgl. A n m . 11.

14

Huber 1986, 1 1 9 mit weiterführenden Literaturangaben.

15

Zum Begriff „Sprachspiel" vgl. Leisi 1978, 4 6 ff.

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Paarsprache (nebst der Kindersprache) in einer besonderen Weise kreativ ist, so daß man von einem qualitativen, nicht nur quantitativen Unterschied sprechen kann." 16 Drei Untersuchungen sollen hier abschließend besonders hervorgehoben werden, weil sie dem eigenen Material (vgl. 4.) mehr oder weniger vergleichbar sind: Gansleweit (1971) sammelte und ordnete nach Bildungsarten die Übernamen von 189 Schülern einer Schule des Kreises Eisenhüttenstadt (DDR) 17 ; Naumann (1976/1977) führte eine schriftliche Befragung von mehr als 2200 Schülern aus 17 Orten im Süden der DDR durch und klassifizierte das umfangreiche Material vorbildlich nach formalen Kriterien; Frank (1975) schließlich führte eine Fragebogenerhebung im Ruhrgebiet (Essen und Gelsenkirchen) durch, wobei die Eltern von rd. 1300 Schülern als Informanten dienten. Der von Frank benutzte Fragebogen basierte auf dem für das Kieler Projekt 1972 entwickelten (Debus/Hartig/Menke/Schmitz 1973).

4. Zur Beschreibung empirisch gesammelten Materials 4.1. Alle bisherigen Untersuchungen zeigen — und persönliche Erfahrungen bestätigen dies —, daß ein Mensch im Laufe seines Lebens neben seinem eigentlichen, dem offiziellen Namen unterschiedliche Zusatznamen als „Rufnamen" haben kann bzw. in aller Regel auch wirklich hat: neue Namen (Primärbildungen) oder Varianten des Originals (Sekundärbildungen). In der Anfangsphase treten vor allem kindersprachliche bzw. in der engeren Familie entstandene Formen (vorwiegend Kosenamen) auf, mit dem Eintritt in die Schule, dem Durchlaufen verschiedener Schulstufen und dann nachfolgend in den unterschiedlichen Lebensphasen entstehen oft zusätzliche Namen (Kurz-/ Kosenamen, Spitz-/Neck-/Spottnamen u. ä.). „An wichtigen Lebensschwellen wird einer zu einem ,neuen Menschen', und dazu gehört auch ein neuer Name", bemerkt Leisi (1980, 356). Aufschlußreich sind die Untersuchungsergebnisse Naumanns, die in verschiedenen Klassenstufen, bei Jungen und Mädchen, dazu auch regional mehr oder weniger ausgeprägte Unterschiede im Gebrauch der inoffiziellen Namen nachweisen; so zeigt sich ζ. B., daß die individuelle Vielfalt in unteren Klassenstufen „immer mehr einem kollektiv akzeptierten Gebrauch, einer Klassennorm" in höheren Klassenstufen weicht (Naumann 1976, 13). Zu bedenken ist ferner, daß mit zunehmendem Alter der Mensch gleichzeitig verschiedenen Kommunikationsgemeinschaften angehört und dann innerhalb dieser Gemeinschaften unterschiedliche Namen entstehen 16

Leisi 1980, 353. Wenn Leisi (ebda) sagt, daß die „,Urzeugungen' [...] nicht an schon Vorhandenes angelehnt" seien, so sollte dies (wie wohl auch gemeint) in Gegenüberstellung zur Wortbildung mit vorhandenen Bauelementen verstanden werden, jedenfalls auch nicht im Sinne von „Urschöpfung", die mit ungeprägtem Urmaterial operierte; vgl. 1.3.

17

Vgl. hierzu auch Kaden 1972.

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können, die vielleicht nur intern-exklusiv „funktionieren". Es entstehen auf diese Weise also sowohl in zeitlicher als auch in sozialer Beziehung mehrere Ebenen der Namengebung und Namenverwendung. Alois Brandstetter bemerkt zu seinem Vornamen: „Ich kenne sämtliche Möglichkeiten der Verkleinerung, aber auch der Vergröberung, des ,Diminutiven' und des ,Augmentativen' [...]. Mein Entwicklungsroman lautet: Loisi/Loisl/Lois/Alois [...] Alwis und Luis." (Kulessa 1986, 22). Doch es können auch früh gegebene Kosenamen über die verschiedenen Lebensstadien hinweg aus unterschiedlichen Gründen beibehalten werden (vgl. ζ. B. Katz 1964, 92). Vor dem Hintergrund solch mehrschichtiger Namenvielfalt ist es natürlich nicht gleichgültig, wie die empirische Sammlung dieses Materials erfolgt. Wenn Eltern oder (Schul-)Kinder oder Arbeitskollegen oder Ortsbewohner oder andere befragt werden, können jeweils sehr unterschiedliche Ergebnisse zutage treten. Die direkte Vergleichbarkeit so unterschiedlich erfaßter Daten (vgl. 3.3.) ist damit nicht ohne weiteres gegeben. Vor allem stellt sich aber dem Sammler das Problem, daß es sich bei dieser Namensorte wegen ihres Privatcharakters um schwer erfahrbare Benennungen handelt. Dem Außenstehenden gegenüber zumal werden sie nicht gerne „preisgegeben". Doch auch bei einem Bekannten wird diese Barriere nicht leicht beseitigt. Man möchte sich weder „bloßstellen" noch sich durch ein Bekanntmachen dieser Namen womöglich kompromittiert fühlen. Von Bertsche, der mit seinem Vater als Ortsansässigem zusammen in mehrjährigen Bemühungen sein Material in Direktbefragungen sammelte, wird berichtet, daß er „damals nach dem Erscheinen seines Buches in Möhringen erheblich an Beliebtheit eingebüßt haben" soll (Schwedt 1973, 75). 4.2. Ende 1972 wurde in der Stadt Kiel eine Fragebogenaktion zur modernen Namengebung und ihren Hintergründen durchgeführt. Die Fragebögen wurden in den Schulen an die Schüler verteilt mit der Bitte, sie durch die Eltern ausfüllen zu lassen und sie dann zurückzugeben. 18 Über mehrere Aspekte dieses so eingeholten Materials ist an verschiedenen Stellen gehandelt worden 19 . Die Gesamtauswertung soll nach der nunmehr abgeschlossenen Erstellung einer Datenbank demnächst erfolgen. Im vorliegenden Zusammenhang sei eine Teilfrage des Fragebogens herausgegriffen, die im Anschluß an die Frage nach den Vornamen der Kinder gestellt wurde: „Wird das Kind noch anders gerufen? (evtl. Kose- oder Kurzform)." Zu den Antworten auf diese, den Privatcharakter solcher Namen vorsichtig einkalkulierende Frage sollen im folgenden einige erste Auswertungsergebnisse mitgeteilt werden. Dabei ist zu bedenken, daß es sich um eine Zusatzfrage handelte — es ging also nicht primär um diese Namen18 19

Vgl. hierzu Debus/Hartig/Menke/Schmitz 1973 (mit Abdruck des Fragebogens S. 374—377). Vgl. ζ. B. Debus 1974, Debus 1985.

Original und Variation

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sorte — und daß die Eltern bei ihren Antworten eher zur Zurückhaltung neigten. Den Überlegungen in 3.1. folgend sei künftig von Kose-/Kurznamen (KN) ohne besondere Trennung gesprochen. In der Regel dürften es wirkliche Kosenamen sein. Insgesamt wurden 8693 Jungen und 8636 Mädchen erfaßt. Davon tragen 1734 Jungen und 2598 Mädchen Kosenamen. Bezogen auf die B a s i s g r ö ß e K i n d e r z a h l sind das bei den Jungen 19,95% Mädchen 30,08% Das bedeutet, daß bei den Mädchen l,5mal häufiger KN vorkommen als bei den Jungen. Die Namenzahl beträgt bei den Jungen insgesamt 1024, bei den Mädchen 1032. Das heißt, daß bei geringerer Mädchenzahl der Namenschatz bei diesen dennoch größer ist als bei den Jungen: ein durchaus typisches Bild (vgl. ζ. B. Naumann 1976, 9). Die Anzahl der verschiedenen KN beträgt bei den Jungen 800 und bei den Mädchen 882. Bezogen auf die B a s i s g r ö ß e N a m e n s c h a t z sind das bei den Jungen 78,13% Mädchen 85,47% Das bedeutet, daß die Vielfalt bei den KN außerordentlich groß und zwischen Jungen und Mädchen etwa ausgeglichen ist — trotz ihrer relativ niedrigeren Gesamtzahl. Die Zahl der Namennennungen insgesamt ist durch die Mehrnamigkeit beträchtlich höher. Bei den Jungen beträgt sie 12 645, bei den Mädchen 12 174. Dabei spielt der Traditionsaspekt eine Rolle, weshalb bei den Jungen mehr Namen gegeben werden (Traditionsnamen in Zweit- oder weiteren Positionen) als bei den Mädchen. Die entsprechenden KN-Nennungen betragen bei den Jungen 1866 und bei den Mädchen 2770. Dies ergibt auf die B a s i s g r ö ß e N a m e n n e n n u n g e n bei den Jungen 14,76% Mädchen 22,75% Das bedeutet, daß das signifikant höhere KN-Vorkommen bei den Mädchen auch bei dieser Berechnung deutlich hervortritt, wenn auch gemindert durch die höheren Namennennungen bei den Jungen. 4.3. Wir unterscheiden nach 3.1. bei der Analyse der KN zwei Hauptgruppen: 4.3.1. Die P r i m ä r b i l d u n g e n , die gegenüber den Sekundärbildungen (4.3.2.) geringer sind (ihr Verhältnis beträgt bei den Jungen 31% : 69%, bei den Mädchen 28% : 72%) 20 , lassen sich in vier Untergruppen einteilen: 20

Die Werte sind auf der Basis des Namenschatzes errechnet. Frank 1975, 5 1 5 nennt für sein Material insgesamt das Verhältnis 2 3 % : 7 7 5 % .

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Friedhelm Debus

4.3.1.1. Nach der Zahl der Nennungen sind die nach Appellativen gebildeten KN die wichtigste Untergruppe. Hierher gehören ζ. B. bei den Jungen Dicker\Dicki\Dickerchen\-le\Dick(e)n (42mal) oder die typisch niederdeutschen Formen But( t) scher/Buttjer\Butjes\Butsch ( i) j Β usehij But% (er) jBut^i (22mal), wozu wohl auch noch Büschel zu zählen ist 21 ; teilweise nur als Einzelbelege begegnen ζ. B. Bengel, Bube/BubijBübi, Bursche, Knolle, KuddeP2, hütten11, MullejMulli2*, Sohni, Sohnemann/Sonnemann, Stift, Teufel. Bei den Mädchen sind ζ. B. belegt Püppij Puppi (27mal) oder Dicke j Dickij Diggi (12mal) oder Mul(l)e\Mulli (llmal) 2 5 ; teilweise nur einmal belegt sind ζ. B. Backe, Blümchen26, Cinderella7^', Engel, Erbse, Hergeben/Her^i, Lütten jLütti2S, Räuber, Rübe, Schlampi, Schleckermaul, Sternchen, Stummel, Tat^e. 4.3.1.2. Bei den theriophoren Bildungen (vgl. Müller 1970) zeigen sich bei Jungen und Mädchen signifikante Unterschiede. Während bei den Jungen nur 8 Tierbezeichnungen, teilweise nur in diminuierter oder abgeleiteter Form (ζ. B. Schweinling), vorkommen bei insgesamt 21 Nennungen (wobei Spat% allein 9mal genannt ist), sind es bei den Mädchen 18 Tierbezeichnungen bei insgesamt 99 Nennungen (wobei Maus vorwiegend suffigiert oder in Zusammensetzungen — ζ. B. Zuckermaus, Mäusepiep — begegnet) 29 . Häufiger sind auch, besonders für Mädchen, indirekte Tierbezeichnungen wie Musch(i), Mittle angegeben. 4.3.1.3. Auffällig sind die KN, die ihrerseits vom Original ganz abweichende Vornamen oder Varianten derselben darstellen: ζ. B. für Jungen Billy statt Rainer, Chris statt Detlev, Fiete ( = niederdt. für Friedrich) statt Peter, Frit% statt Heinrich, Micha statt Ralf, Otto statt Peter; ζ. B. für Mädchen Billi statt Anneli, GabijGaby statt Gisela (3x), Julchen\Jule\Julie öfters statt verschiedener anderer Namen, Lieschen statt Dorothea, Peti statt Marita Marion Mariane, Tine statt Krimhild, Trine statt Sylvia. Für diese Verwendungen gegen den eigentlichen Rufnamen können verschiedene Gründe maßgeblich sein. So 21

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Nach Mensing 1, 1927, 600 f. liegt hier ursprünglich wohl ein Diminutivum vor, von Butt(e), eigentlich ,kleiner gedrungener Mensch', dann für kleine Kinder gebraucht im Sinne von .kleiner Knirps' u. ä.; auch .Landstreicher'. Wohl zu niederdt. koddeln .unsorgföltig, nicht sauber waschen' (DUDEN Wörterbuch 4, 1978, 1594). Zu niederdt. lütt ,klein'. Wohl zu niederdt. muten ( [demokra'ti:]·. gespannte Kurzvokale jej und /«/, Endbetonung, morphologisch undurchsichtiger Mehrsilber, Fremdsuffix -ie; (2) (Journalist> [jvrna'list]: Fremdphonem /j/, Fremdgrapheme ^/'/j/> 3 und (ou ju/y, Endbetonung, morphologisch undurchsichtiger Mehrsilber, Fremdsuffix -ist; (3) [mtvnatsio'na:l]: Diphthong jioj Fremdgraphem / f r / ) , Endbetonung, morphologisch teilmotivierter Mehrsilber, Fremdsuffix -al.

Bereits diese drei Beispiele aus den Hauptquellsprachen deutscher Entlehnungen weisen einige Gemeinsamkeiten auf, die offensichtlich darauf beruhen, daß der deutsche Fremdwortschatz zum größten Teil aus lateinisch-griechischromanischen Morphemen besteht. Wegen dieser Übereinstimmung sprechen wir im Deutschen oft von d e m Fremdwort, obwohl einzelne Gruppen von Fremdwörtern wie Anglizismen, Gallizismen, Italianismen teils zusätzliche, teils nur spezifische Fremdmerkmale aufweisen. Zu den Gemeinsamkeiten tragen im übrigen zwei weitere Erscheinungen bei: 1. die Integration zahlloser Entlehnungen aus dem Englischen, Französischen u. a. Sprachen nach dem Muster lateinischer Lehnwörter (vgl. internatio-

Würzburg, Bonn, Trier und München sowie die weitere Beschäftigung mit Fremdwortorthographie (1986 a, 1987) und Lehnwortbildung eingegangen. Eine konzeptionelle Grundlage stellen im übrigen die beiden wegweisenden Beiträge zur Fremdwortfrage und zum deutschen Purismus von Peter v. Polenz dar (1967); das Hauptinteresse von v. Polenz gilt allerdings inhaltsseitigen und pragmatischen Fragestellungen, die nicht Gegenstand dieses Beitrags sind. 3

Die Schreibweise folgt Heller 1980 und ist zu lesen: ( j ) zur Bezeichnung des Phonems / j / ; durch Phonembezug definierte Grapheme nennt Heller ,Phonographeme'.

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nal), wodurch ζ. T. entsprechende Wortfamilien ausgebaut werden und 2. die Lehnwortbildung 4 , d. h. die Bildung von Fremdwörtern im Deutschen auf der morphologischen Basis vorhandener Fremdwörter. Das im 16. Jahrhundert auf der Grundlage der humanistischen Entlehnungen aufkeimende, in den folgenden Jahrhunderten ausgebaute System der Lehnwortbildung hat dazu geführt, daß für ca. ein Drittel aller im DFW verzeichneten Fremdwörter das Deutsche als Quellsprache angegeben wurde (vgl. Herkunftsregister, DFW Bd. 7, 529 ff.). Die Lehnwortbildung, aber auch die Integration von Neuentlehnungen nach lateinischen Integrationsmustern, verleiht dem Fremdwortschatz einen dynamischen, produktiven Zug. Dadurch wird nicht nur die Zahl von Fremdwörtern in Eigenproduktion vermehrt und der Umfang nicht-indigener Wortfamilien vergrößert, auf diese Weise erhalten auch die charakteristischen Fremdmerkmale der Fremdwörter im Deutschen eine zusätzliche Stützung. Es ist mithin irrig anzunehmen, das Fremdwortproblem ließe sich durch Integration, Substitution oder Fremdwortvermeidung lösen, wie dies in der puristischen Tradition der Germanistik, der Sprachdidaktik und der öffentlichen Meinung vielfach angenommen wurde und noch heute vertreten wird. Vielmehr bilden Fremdwortschatz und indigener Wortschatz aufgrund je spezifischer Reproduktionsmöglichkeiten und je spezifischer ausdrucksseitiger Teilstrukturen partiell eigene Ausdruckssysteme des deutschen Gesamtsystems. Vereinfacht kann man deshalb von einer z w e i f a c h e n S t r u k t u r des D e u t s c h e n sprechen. Dabei wird nicht verkannt, daß der Anteil von Fremdwörtern nach Maßgabe der Textsorte erheblich variieren kann: von einer gänzlichen Vermeidung in lyrisch-poetischer Sprache bis zum Übergewicht nominaler Fremdwörter in naturwissenschaftlichen Fachsprachen. In der Gemeinsprache, wie sie etwa in Tageszeitungen gebraucht wird, machen Fremdwörter einen unverzichtbaren Bestandteil aus. 1.3. Verborgene Wirkungen von Sprachkontakten Es mag die Frage auftauchen, weshalb der Mischcharakter einer Sprache hier ausschließlich ausdrucksseitig definiert wird. Wirken Sprachkontakte durch lexikalische Entlehnungen und Lehnprägungen nicht ebenso auf die Inhaltsstruktur? Ist die Syntax des Deutschen im System der Konjunktionen und der Tempora nicht erheblich vom Lateinischen geprägt? Gilt dies nicht auch für die Entwicklung der deutschen Wortbildung durch massenhafte Lehnübersetzungen? Alle diese Erscheinungen haben eines gemeinsam: Sie 4

Den Terminus ,Lehnwortbildung' als Nachbarbegriff zu ,Lehnwort' finde ich zuerst bei v. Polenz 1967 a, 154; er steht auch in einer gewissen Analogie zu ,Lehnübersetzung', ,Lehnbedeutung', ,Lehnschöpfung'.

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treten ausdrucksseitig nicht in spezifischer, vom indigenen System erkennbar abweichender Form in Erscheinung; es sind verborgene Einflüsse, die vielleicht einem bilingualen Sprecher/Schreiber auffallen oder von Linguisten erschlossen werden können — der heutige Sprachteilhaber kann sie nicht als Phänomene des Sprachkontakts erkennen. Das Inhaltssystem einer Sprache wie auch die syntagmatischen Strukturen der Syntax und der Wortbildung kennen nichts Fremdes, allenfalls Geläufiges oder weniger Geläufiges, und dies unterliegt vielfältigen pragmatischen Bedingungen. Es muß also deutlich unterschieden werden zwischen den Prozessen des Sprachkontakts, der Interferenz (früher hieß es der Sprachmischung'), die sich auf alle Ebenen der Sprache, von der Phonologie bis zur Lexik und Syntax beziehen können, und den in Phonologie, Graphematik und Morphologie sichtbaren Ergebnissen solcher Sprachkontakte. Dies mag ein Beispiel illustrieren: Die intensiven Sprachkontakte der skandinavischen Sprachen mit dem Niederdeutschen und Hochdeutschen von der Hansezeit bis ins 19. Jahrhundert haben zwar den Wortschatz des Schwedischen, Dänischen, Norwegischen nachhaltig bereichert, doch sind diese Entlehnungen — wie ζ. B. schwed. stad, spräk, fräga, förgäta (Johannisson 1968) — für Sprecher dieser Sprachen kaum ausdrucksseitig erkennbar. Dagegen werden die an Zahl viel geringeren Gallizismen trotz einschneidender graphematischer Integration noch heute als entlehnt, als fremd empfunden. D. h. auch intensive Sprachkontakte müssen nicht zu Mischsprachen führen. Entscheidend hierfür ist vielmehr die strukturelle Distanz der in Kontakt tretenden Sprachen. Die Phänomene, die mit , Sprachkontakt'/,Interferenz' einerseits und ,Mischsprache' andererseits beschrieben werden, unterscheiden sich im übrigen in einem weiteren Aspekt: Sprachkontakte sind parole-bezogene Erscheinungen, ,Mischsprache' ist ein langue-bezogener Begriff. Dies hat zur Folge, daß sich ,Mischsprache' stets auf einen synchronen Zustand einer bestimmten, näher zu definierenden Sprache bezieht. Wenn ich im folgenden vom Deutschen spreche, meine ich stets die gegenwärtige deutsche Standardsprache. Heutige Dialekte oder die mittelhochdeutsche Literatursprache sind anders zu bewerten. Im folgenden werde ich zeigen, in welcher Weise die Fremdwörter im Deutschen auf phonologischer, graphematischer und morphologischer Ebene spezifische Teilsysteme bilden bzw. die indigenen Teilsysteme ergänzen; es soll zumindest angedeutet werden, inwieweit diese Teilsysteme untereinander zusammenhängen. Im einzelnen wird dabei viel Bekanntes, doch noch nicht unter diesem Blickwinkel Dargestelltes skizziert. Auf dieser Grundlage soll dann die Frage nach einer Definition von Mischsprache erneut aufgenommen werden.

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2. Ausdrucksseitige Fremdheitsmerkmale deutscher Fremdwörter 2.1. Phonologische Fremdheitsmerkmale Im Bereich des Lautsystems gehe ich auf folgende Erscheinungen ein: — — — — —

sogenannte Lehnphoneme (2.1.1), gespannte Kurzvokale (2.1.2), phonotaktisch spezifische Vokal- und Konsonantenverbindungen (2.1.3), differenzierte Nebensilbenvokale im Auslaut (2.1.4), Fremdwortakzent (2.1.5).

Die Darstellung will weder vollständig sein noch bestehende Kontroversen der phonologischen Beschreibung lösen. Einige Punkte wurden bereits ausführlicher in Munske 1982 und 1986a erörtert. 2.1.1. Als ,Lehnphoneme' oder ,Fremdphoneme' gelten Laute in Fremdwörtern, die im Phoneminventar des indigenen Wortschatzes nicht vorkommen. Es sind die Nasalvokale ä, δ, ε und ä in französischen Entlehnungen (ζ. B. Pendant, pardon, Bassin, Parfüm), die Diphthonge ει und ου und die ungespannten Langvokale δ und & in englischen Lehnwörtern (ζ. B. Make-up, Roastbeef, Baseball, Callgirl) sowie der stimmhafte Frikativ j bzw. die entsprechende Affrikate dj {Journalist, Giro, Gin) in französischen, englischen und italienischen Lehnwörtern. Mit Ausnahme von ä und δ ist ihre Häufigkeit gering. Ihre Klassifikation als ,Phonem' bleibt fragwürdig, da sie im deutschen Wortschatz keine Minimalpaare bilden, vielmehr ihre Realisation primär der Imitation, der Orientierung an den Quellsprachen verdanken. Dies bedingt auch ihren instabilen Charakter. So sind die Nasalvokale in alltäglicher Rede häufig der Substitution durch indigene Nachbarphoneme oder durch sogenannte Leseaussprache ausgesetzt; in zahlreichen Fällen sind solche Integrationen bereits normgerecht (vgl. Beton: [be'torj] bzw. süddt. fbe'to:n])5. Die Diphthonge ου und ει werden zumeist durch die Langvokale δ und e ersetzt; die ungespannten Langvokale δ und ä erscheinen dagegen stabiler, da es hierzu im indigenen System die entsprechenden Kurzvokale ο und a gibt (vgl. Topf [topf], Töpfe [tcepfa]). Auch j wird selten substituiert, da es als Gegenstück zuj eine Lücke in der Korrelation stimmloser und stimmhafter Obstruenten füllt; die Affrikate dj wird häufig durch dieses j ersetzt (ζ. B. Jeans [ji:nsJ). Die sogenannten Lehnphoneme sind zwar auffallige und deshalb häufig erwähnte Fremdheitsmerkmale, zumal sie gelegentlich auch Träger phonostilistischer Markierungen sind — vgl. [retfoVfi] im Gegensatz zu [resto'ray] —,

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Zur biphonematischen Substitution der Nasalvokale vgl. Czochralski 1971, 13 f. und Munske 1984.

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insgesamt tragen sie jedoch wenig zur Spezifik des gesamten Fremdwortschatzes bei. 2.1.2. Dies gilt weit mehr für die unauffälligen gespannten Kurzvokale i, e, 0, j , ο und u, etwa in Finesse [fi'nesa], Metall [me'tal], Ökonom [eko'no:m], Synagoge [sjna'go:ga], Kolonne [ko'lona] und kulinarisch [kuli'na:rij]. Sie entsprechen qualitativ (Öffnungsgrad, Gespanntheit) den indigenen Langvokalen t, e, ö,y, δ, ü, quantitativ den indigenen Kurzvokalen ι, ε, γ, α, ο, υ. Sie kommen auch im indigenen Wortschatz vor, nicht nur in den häufig erwähnten Beispielen lebendig [le'bendif], vielleicht [fi'lae(t], Holunder [ho'lmdo], Forelle [fo'reh], sondern vor allem in Zusammensetzungen wie %umal, %uvor, soviel, vorbei usw. Ihr phonologischer Status ist strittig; sie werden teils den gespannten Langvokalen zugeordnet (vgl. Werner 1972, 36), teils in einer eigenen Kurzvokalreihe aufgeführt (Wurzel 1981). Unstrittig ist, 1. daß die gespannten Kurzvokale — im Gegensatz zu den übrigen Kurzvokalen — nur nebentonig vorkommen, mithin akzentabhängig sind (Schindler 1975), und 2. daß sie in großer Zahl in Fremdwörtern vorkommen. Hier sind sie vielfach der Substitution durch die entsprechenden Kurzvokale ι, ε, r, α, ο, ν ausgesetzt, ζ. B. [ko'lono] zu [ko'lona]. Über die Bedingungen ihres Vorkommens und ihrer Integration wären empirische Untersuchungen nützlich. So läßt sich vorläufig nur folgendes feststellen: Die im indigenen System peripheren gespannten Kurzvokale erfahren durch Fremdwörter eine starke Frequenzsteigerung; sie sind hier weniger Ausnahme als Regel. Dies hängt offenbar mit der Mehrsilbigkeit der meisten Fremdwörter zusammen. 2.1.3. Geringe Beachtung fanden in phonologischen Darstellungen die zahlreichen nicht-indigenen Vokalverbindungen bzw. Vokalfolgen ie (Tantieme), ίε (speziell), iä (Filiale), iö (kurios), ie (graziös), oä (Memoiren), oe (poetisch), uä (Ritual), uö (virtuos),yi (Hyäne), ea (Cobea), eu (Mausoleum), tu (Ministerium), eu (Petroleum), ui (Linguist), «ε (sexuell), die — wie Werner 1972, 34 bemerkt — bislang nicht einmal erschöpfend registriert sind. Ob man sie als Diphthonge bewertet oder als Verbindungen zweier Vokale, wie dies Meinhold/Stock 1982, 86 für Chaos, Matthäus, Aeroport annehmen, also als phonotaktische Erscheinungen — eines bleibt von dieser Bewertung unberührt: Sie sind auffällige, fremdwortspezifische Erscheinungen des deutschen Wortschatzes. Wenig Beachtung haben bisher auch die phonotaktischen Besonderheiten im Konsonantismus der Fremdwörter gefunden (vgl. Heller 1981, 85 und 95, Meinhold/Stock 1982, 83). Spezifisch sind u. a. folgende Auslaut- und Anlautverbindungen: -sk (baladesk, Kiosk), ps- (Psyche), sts- (S^ene), sf(Sphäre), pn- (Pneu), ks- (Xero), sk- (Skat), jkl- (Sklave), skr- (Skrupel), sm- (Smaragd, Smog), sl- (Slawe, Slang), sn- (Snob), st- (Steward), sp- (Sponsor), spr- (Spray), str- (Striptease), sv- (Sweater). Den phonotaktischen Regeln des

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indigenen Systems widersprechen u.a. auch anlautend [ f ] in Chemie und anlautend f s ] in Sir [sa:r], Soiree [soa're:]. Zu diesen Beispielen läßt sich anmerken: Sie erweitern die Kombinationsregeln des deutschen Konsonantensystems bzw. heben bestimmte Restriktionen auf 6 ; einige wie -sk, sk-, ps-, s f - in lateinisch-griechischen Fremdwörtern können heute als akzeptiert gelten, wohingegen ζ. B. st- und sp- in jüngeren Entlehnungen aus dem Englischen integriert sind (Streik, Sport) oder zur Integration neigen. Dies gilt besonders für die zahllosen Fälle von anlautendem [ s ] . Durch die spätmhd. Sibilierung von [s] zu [ f ] vor m, n, l,p, t, ν (vgl. mhd. snecke, nhd. Schnecke, Penzl 1975, 107 f.) hatte das Hochdeutsche gegenüber dem Niederdeutschen, Englischen und den skandinavischen Sprachen eine eigene Entwicklung eingeschlagen. Die daraus resultierenden Kombinationsrestriktionen bewirken noch heute eine Integration entsprechender Entlehnungen. Norddeutsche Sprecher, die mit niederdeutschen Dialekten vertraut sind, vielleicht sogar im Hochdeutschen an den s-pit^en S-tein s-toßen, haben keine Probleme mit solchen Lehnwörtern. 2.1.4. Durch die spätahd. Schwächung nicht-haupttoniger Vokale (ahd. taga, tago, tagun — mhd. tage, tage, tagen) ist der Ausnutzungsgrad vokalischer Unterschiede in diesen Positionen extrem gesunken: ein Charakteristikum deutscher Lautstruktur. Jean Paul schrieb hierzu 1804 in einer Polemik gegen ,Campens Sprachreinigkeit' (Vorschule der Ästhetik § 84): „Wir gaben die alten deutschen [Klänge] auf ο und a schon weg und ließen so viele e's herein; warum wollen wir uns nicht die Wiederkehr ähnlicher gefallen lassen?" Dies ist inzwischen in üppiger Weise geschehen. In zahllosen Lehnwörtern aus dem Lateinischen, Französischen, Italienischen, Englischen usw. sind die auslautenden vollen Vokale wiedergekehrt: In Villa, Europa, Sofa, Auto, Kilo, Konto, Kanu, Emu, Kakadu, insbesondere auf i: Juni, Taxi, Gummi, quasi, Baby, Pony, Jury. Es gibt bereits zahlreiche Minimalpaare wie Bubi und Bube, Motto und Motte, Rollo und Rolle, Judo und Jude; -i erscheint, aus Abkürzungen wie So%i, Na^i, Uni, Krimi, Profi usw. hervorgegangen, als produktives Suffix in Müsli, Spasti, Schickimicki. Auch Kurzwörter, Marken-, Firmen- und Produktbezeichnungen zeigen volle Endvokale wie Oma, Opa, Lotto, Toto, Limo, Soda, Leica, Ferna usw. Das Feld ist unerforscht, doch scheint hier der Durchbruch von der Rezeption zur Produktion erreicht; die seit dem Mittelhochdeutschen geltenden Restriktionen des auslautenden Vokalismus sind für phonologische Neubildungen aufgehoben. 2.1.5. Zu den auffälligsten ausdrucksseitigen Merkmalen fast aller mehrsilbigen Fremdwörter gehört der Fremdwortakzent. Er trägt ganz wesentlich zur 6

Dies habe ich in einem Beitrag, der die Transferenz- und Integrationserscheinungen systematisiert (1983, 578 ff.), ,syntagmatische phonemische Transferenz' genannt.

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Sonderstellung dieses Teilwortschatzes innerhalb des deutschen Gesamtwortschatzes bei. W. Wurzel hat als erster dessen spezifische Regeln untersucht und dargestellt (zusammenfassend 1980); hierauf und auf die Erörterung in Munske 1982, 248 ff. sei hier verwiesen. Kurz zusammengefaßt und vereinfacht läßt sich der Unterschied gegenüber dem indigenen Wortakzent wie folgt darstellen: In indigenen Wörtern des Deutschen erhält im allgemeinen der erste Vokal des Basismorphems den Hauptakzent, ζ. B. / im Basismorphem lieb der Wortformen lieben, verliebt, Lieblichkeiten. Dieses Basismorphem, der Hauptträger der lexikalischen Bedeutung, ist im Deutschen in der Regel einsilbig und läßt sich aufgrund der morphologischen Spezifik von Affixen und Flexiven leicht bestimmen. Die Grundlage der Akzentuierung ist also die morphologische Analysierbarkeit indigener deutscher Wörter. Anders bei den Fremdwörtern: Wie soll man Amnestie oder Demagoge oder Deficit analysieren? Der Akzent folgt hier einer phonologischen Regel: den Hauptakzent erhält die letzte schwere Silbe. Schwere Silben sind solche mit Langvokal, Diphthong oder Kurzvokal + Konsonant. Nach dieser Regel variiert deshalb die Position des Hauptakzents in Fremdwörtern zwischen letzter, vorletzter und drittletzter Silbe wie in Amne'stie, Hori\ont, Demagoge, 'Alibi. Hat ein Wort keine schwere Silbe, so erhält die erste Silbe den Hauptakzent, ζ. B. 'Rokoko. So erklärt sich auch der Akzentwechsel in Jour'nal, Journa'list, Mu'sik, 'Musiker und Musikali'tat. In dieses System sind — entgegen der quellsprachigen Betonung — auch jüngere französische und englische Entlehnungen integriert: De'menti, 'Paletot, 'Potpourri (Volland 1986, 78 ff.), Detek'tiv, Pull'over, Har'monika. Das spezifische Akzentsystem der Fremdwörter im Deutschen hat von allen Fremdmerkmalen die größte Reichweite, da es für fast alle mehrsilbigen nicht-indigenen Wörter gilt. Dies beruht auf einer Grundeigenschaft fast aller Entlehnungen, ihrer morphologischen Unmotiviertheit im Deutschen. Dies Akzentsystem markiert deshalb am deutlichsten und regelmäßigsten die Sonderstellung des Fremdwortschatzes im Deutschen, es trägt wesentlich zur Konstituion der zweifachen Struktur des Deutschen bei. 2.1.6. Was läßt sich aus dieser Vielfalt fremdwortspezifischer Erscheinungen entnehmen? Ist es nicht genug, dies als ein buntes Spektrum von Transferenzen anzusehen, die dem Deutschen aus seinen intensiven Sprachkontakten seit dem Mittelalter verblieben sind? Ich meine, dies genügt nicht. Es muß vielmehr versucht werden, die Stellung einzelner Elemente und Regeln im Gesamtsystem und ihr Verhältnis untereinander näher zu bestimmten. Zunächst stellt sich hierbei die Frage, inwieweit es überhaupt zulässig ist, die genannten Erscheinungen von einer Gesamtbeschreibung des deutschen Lautsystems abzusondern, wie dies in der Regel (außer bei Generativisten) geschieht. Bereits durch solch ein Verfahren wird den Fremdwörtern in

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einer intuitiven Vorentscheidung eine Sonderrolle zugeschrieben. Sachgerecht erschiene es, dies nicht von vornherein zu unterstellen, um es dann empirisch zu bestätigen, sondern umgekehrt den Gesamtwortschatz als Beschreibungsgrundlage zu wählen und Sonderregeln nur dann aufzustellen, wenn sich diese auf Gruppen von Lexemen beziehen, die in mehrfacher Hinsicht von anderen Lexemen verschieden sind, d. h. die offensichtlich eine Sonderstellung im Gesamtwortschatz einnehmen 7 . Dies Verfahren wäre nicht nur systematisch sauberer, es hätte auch den Vorteil, daß einerseits die Gründe für eine Sonderstellung im einzelnen belegt werden müßten, und daß andererseits die Gemeinsamkeiten klarer hervorträten. Eine Sonderstellung könnte man ζ. B. all den Wörtern zuweisen, die dem phonologisch begründeten Fremdwortakzent unterliegen. Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit könnten alle jene Wörter sein, die hinsichtlich bestimmter Segmente oder Regeln orthoepische Varianten aufweisen, sich also im Sprachwandel oder im Zuge einer Integration befinden. Solch ein Verfahren kann hier mangels eigener empirischer Grundlagen nicht eingeschlagen werden, bleibt aber für Spezialuntersuchungen zu fordern. Hier sollen nur einige erste Beobachtungen gemacht werden: (1) Durch die Aufnahme der ungespannten Langvokale 5 und ä wird eine Asymmetrie im System der deutschen Langvokale (t, e, ε — j, β — ü, δ) aufgehoben; in Parallelität zur mittleren Reihe ungespannter Kurzvokale ε, α, ο wird die zweite Reihe mittlerer ungespannter Langvokale von ε auf ä und 5 erweitert. Ähnlich wie bei j kann man hier von einer Auffüllung von Lücken sprechen. (2) Die gespannten Kurzvokale scheinen von morphologischen und Akzentbedingungen abzuhängen, die selten im indigenen Wortschatz, dagegen häufiger im Fremdwortschatz auftreten. Unter Berücksichtigung der einleitenden Überlegungen wäre hier eine phonologische Einordnung ins Gesamtsystem angemessen. (3) Die Nasalvokale in französischen Entlehnungen scheinen dagegen systemfremd. Dafür spricht nicht nur ihre häufige Integration im Deutschen, sondern auch der Umstand, daß in den übrigen germanischen Sprachen, dem Englischen, Schwedischen, Dänischen, Norwegischen und Niederländischen, ihre Integration viel weitergehend, ζ. T. vollständig durchgeführt ist (dazu Munske 1984). Ihre Bewahrung im Deutschen ist wohl durch die enge Nachbarschaft und das Kulturvorbild Frankreichs begründet.

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In diesem Zusammenhang wäre auch zu überlegen, ob nicht der gängige Namenwortschatz des Deutschen in diese Beschreibungsgrundlage einbezogen werden sollte; denn gerade der Namenwortschatz weist zahlreiche Eigenheiten auf, die mit dem korrelieren.

Fremdwortschatz

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(4) Mehrfach begegnete uns gleichsam eine Wiederkehr von Elementen und Regeln aus älteren Sprachstufen: mittelhochdeutsche Mittelzungendiphthonge ( e j , ου), althochdeutsche auslautende Vokale und anlautende Konsonantenverbindungen. Damit werden offenbar inhärente Möglichkeiten des Systems wieder genutzt, die in der jüngeren Lautgeschichte verlorengegangen waren. Dies könnte erklären, warum ζ. B. die auslautenden vollen Vokale so problemlose Aufnahme gefunden haben und zu einem produktiven Zug des Lautsystems geworden sind. 2.2. Graphematische Fremdheitsmerkmale Als ein Hauptkennzeichen der Fremdwörter gilt mit Recht ihre spezifische Orthographie. Da ich dies erst unlängst (1986 a, 1987) ausführlich behandelt habe, beschränke ich mich hier auf die Skizzierung wesentlicher Aspekte und ordne diese drei Leitfragen zu: — welches sind die graphematischen Besonderheiten von deutschen Fremdwörtern? (2.2.1), — wie sind Art und Umfang der Fremdgraphien zu erklären? (2.2.2), — in welchem Zusammenhang stehen Fremdgraphien mit anderen Fremdheitsmerkmalen? (2.2.3). 2.2.1. Die Darstellung folgt der Methode relationaler Graphematik, d. h. die Grapheme werden jeweils durch ihren phonemischen Bezug definiert. Das Zeichen ,c' tritt ζ. B. als Monograph in folgenden Graphemen auf: (c /k/y (Camping), mundartl. Furm:

(„Furm")

Eine lautgesetzliche Entwicklung?

Insbesondere oberdeutsche Dialektologen zeigen sich immer wieder irritiert durch den nicht unmittelbar aus lat. forma ableitbaren Lautstand vom Typ Furm.n Daß eine plausible Erklärung erst einmal über allgemeine Lautgesetzlichkeiten versucht wird, entspricht seit langem bewährter, methodisch einwandfreier Tradition.

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205), im Bairischen hingegen als expandierte Besonderheit der Wiener Stadtsprache (Kranzmayer 1956 § 5g5). Wie zu zeigen sein wird, handelt es sich jedoch um eine gesamtoberdeutsche, bis nach Luxemburg übergreifende Lautform, so daß alle „Interpretationen mit Lokalkolorit" zu kurz greifen. Die Herstellung der Karten lag in den Händen von Heinz Laackman, Kartograph am .Deutschen Sprachatlas'. Svarabhakti-Formen auf -rem als weitere lautliche Besonderheit (Furem u. ä.) bleiben im folgenden unberücksichtigt.

Obd. der Furm — eine etymologische Doublette von nhd. die Form

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2.1.1. Ο > U und die Yokalhebung v o r gedecktem R Selbst in der materialträchtigen Überblicksliteratur (Behaghel 1928; Schirmunski 1962; Wiesinger 1983) bleibt die kurzvokalige Hebung Ο > U ganz im Schatten des — sicherlich sprachhistorisch bedeutsameren — mitteldeutschen Senkungsprozesses U > O. 12 Sucht man sich einen ersten Überblick zu verschaffen 1 3 , so wird man vorsorglich, selbst auf die Gefahr vorübergehender Überdifferenzierung, folgende Kombinatorik zu beachten haben: — Hebung v o r Obstruenten, — Hebung v o r Sonoren, nämlich Nasalen (unterschieden nach Μ und N) und Liquiden (unterschieden nach L und R). Bei R empfiehlt sich wiederum eine tentative Berücksichtigung der Positionen — R + Dental — R + Labial/Guttural. 14 R + Vokal bzw. im Auslaut kann im allgemeinen unberücksichtigt bleiben, da hierbei Längung eintritt und damit das Kurzvokalsystem verlassen wird. Soweit regionale Lautgrammatiken überhaupt gewillt sind, sich dieser Differenzierung zu stellen, statt vorschnell zwischen Regel und sog. „Ausnahme" zu unterscheiden, reduziert sich zwangsläufig deren Materialgrundlage für jede Teilkategorie, so daß häufig nur eine kleine Menge erklärungsbedürftiger Einzelwörter verbleibt und damit das ursprünglich phonetische Problem zum lexikologischen wird. In diesem Zusammenhang sollten die Implikationen der (früh-ahd.) B r e c h u n g weder unberücksichtigt bleiben 15 noch allzu freigebig ins Spiel kommen 1 6 . 12 13

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Eine rühmliche Ausnahme stellt Sütterlin 1924, 173. 184 f. dar. Hinige Bemerkungen zum Verhältnis von Brechung und Hebung/Senkung im lexikalischen Bestand deutscher Mundarten unter besonderer Berücksichtigung von Lehn- und Fremdwörtern werden an anderer Stelle veröffentlicht werden. Dabei wird u. a. unterschieden werden zwischen Problemen auf der Objektebene (heterogene Verhältnisse in den Dialekten) und solchen auf der Metaebene (etymologische Unklarheiten bei den Dialektologen). Eine elegantere Formulierung für diese immer wieder zu beobachtende lautkombinatorische Ausdifferenzierung könnte lauten: ,R + Dental' vs ,R + Nicht-Dental', bzw. auf der Grundlage von dentalem R: ,R + homorganer Konsonant'. Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel möge dies illustrieren. In einer alemannischen Flächengrammatik erscheint die Hebung von Ο vor R „in einigen Fällen". Soweit es sich dabei um Erbwörter handelt, entfallen mit Sicherheit Bürste .Borste', Hurnung ,Hornung, Februar' und Hum- ,Horn-[isse]' als ungebrochene Nebenformen sowie Murds- ,Mords-', das bereits Schmeller (Bayer. WB 1, 1658) zu mhd. mur%, ahd. mur\ilinguu .absolute' gestellt hat. Unter den Fremdwörtern taucht übrigens wieder einmal Furm auf. Wenn Helene Palgen (1948, 16) luxemburg. Wurt ,Wort' als Fortsetzung von ungebrochenem wgerm. wurd versteht, mag sie dafür ihre (westfränkischen) Gründe haben. Wenn jedoch Walther Mitzka in der von ihm seit 1953 betreuten Ahd. Grammatik (Braune/Mitzka 1953, § 32 Anm. 1) bair. Durf ,Dorf als ungebrochenes Relikt frühalthochdeutschen Lautstands interpretiert (so zuletzt noch Braune/Eggers 1987), werden ihm die Lokalkenner schwerlich folgen. (Vgl. vielmehr unten 2.3.1.)

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Rudolf Freudenberg

Da sich die Überblicksliteratur dem Hebungsvorgang entzieht und die Regionalforschung auf allzu schmaler Materialbasis operieren muß, verbleibt letztlich nur noch das ebenso ortsdichte wie großräumige Material des Marburger Laut- und Formenatlas, in dem — bezogen auf unser Problem .Hebung vor R + Konsonant' — folgende Stichwörter kartiert vorliegen: — Ο + R + Dental: ,Wort' (DSA 112—115, sehr übersichtlich gezeichnet von Ingo Reiffenstein) und ,Korn' (unpubl.), — Ο + R + Labial/Guttural: ,Dorf (DSA 47), .gestorben' und ,Korb' (beide unpubl.). Projiziert man die Kartenbilder aufeinander, so lassen sich Hebungsschwerpunkte durchaus erkennen, und zwar vor allem strichweise im NordbairischOstfränkisch-Osthessischen 17 sowie im Luxemburgischen, aber auch im Obersächsisch-Schlesischen 18 . Insoweit erfahren die detaillierten Angaben von Sütterlin (1924, 173.184 f.) ihre Bestätigung bzw. Ergänzung. Gleichzeitig verraten aber die Laienschreibungen auch, was von den Ortsgrammatiken bestätigt wird: Die offenkundige Unsicherheit bei der schriftlichen Fixierung (nämlich neben schwer interpretierbaren orthographischen Wiedergaben vor allem eine Fülle „regelwidrig" streuender Einzelmeldungen) ist letztlich nichts anderes als das Indiz für eine mehrdimensionale phonetische Komplexität mit den Parametern — Hebung — Zentralisierung vor R — Ä-Vokalisierung bzw. spezifische Ä-Artikulation. Es steht zu befürchten, daß sich dieser allophonisch-kombinatorische Störenfried , 0 vor gedecktem R' eo ipso jeder phonetischen Kartierung entzieht, weil er seine Relevanz nicht aus der (horizontalen) Raumstruktur, sondern aus dem jeweiligen (vertikalen) Lautsystem bezieht, in das er als stellungsbedingtes Allophon eingelagert ist. Bezogen auf unsere Ausgangsfrage nach der Genese von mundartl. Furm bedeutet dies: Eine Ableitung aus mhd. vorme im Sinne lautgesetzlicher Hebung vor R + Labial setzt voraus, daß sich unser Lehnwort zu den genannten Erbwörtern l a u t l i c h k o n g r u e n t verhält, — sei es weil der Entlehnungsvorgang der Hebung vorausgegangen ist (Relative Chronologie!), — sei es weil das Lehnwort nachträglich in das lückenhaft gewordene Lautinventar „eingepaßt" wurde (Lautsubstitution!). Die Antwort hierauf kann nur eine Lautverbreitungskarte von ,Furm' geben.

17

Zum Nordbairischen vgl. auch Gütter 1 9 7 1 , Karte 5 (,Korn*).

18

Zu Niederösterreich (mit Ausstrahlung) s. unten 2.3.1.

Obd. der Furm — eine etymologische Doublette von nhd. die Form

217

2.1.2. Ο > U als interlinguales Kontaktphänomen Abschließend sei noch kurz auf die Hypothese eingegangen, Ο > U beruhe auf Regelmäßigkeiten bei der Übernahme von Entlehnungen, d. h. letztlich auf Substitution beim Sprachenkontakt. Soweit dabei von „ F r e m d w ö r t e r n " schlechthin die Rede ist 19 , wünschte man sich zumindest eine deutlichere Berücksichtigung der Folgekonsonanz. Pränasales Ο — von ahd. munih ( < mlat. +monicus) bis zu gegenwartssprachlichem grandijün ,Grammophon' (Meran: Insam 1936,27) — ist sicher phonetisch anders zu beurteilen als Akkürd, Akkord, Stücklohn' (Österreich·: Dollmayr/Kranzmayer Österr. WB 1,120) — und eben unser Furm. Soweit gar für Entlehnungen aus dem (!) „ R o m a n i s c h e n " schlechthin eine Gesetzmäßigkeit Ο > U in Anspruch genommen wird, mag sich zwar im Einzelfall die Ausgangssprache aus dem geographischen Kontext ergeben, wie etwa bei Lessiak (1903 § 62 Anm. 1 als Erklärung für Furm in Pernegg, Kärnten). In aller Regel bleibt aber dem Leser verborgen, ob das Italienische, das Französische — wenn ja, in welchem Dialekt — oder gar das Mittellateinische (in welcher Aussprache?) gemeint sein könnte. Insgesamt beschränken sich Gesetzmäßigkeiten beim Lehnwortaustausch nach wie vor auf spezifische einzelsprachliche Lautsysteme. Daß Furm ein „Fremdwort aus dem Romanischen" ist, vermag die weiträumige Verbreitung von U nicht zu erklären, falls nicht topographische Besonderheiten zu neuen Einsichten führen. 20 Auch insoweit sind wir auf eine Lautverbreitungskarte angewiesen. 2.2. Der dialektgeographische Befund: Die Verbreitung von Furm in den rezenten Dialekten (Karte 1) Die in Karte 1 als S k i z z e abgebildete Verbreitung des Lauttyps Furm in den deutschen Dialekten des 20. Jahrhunderts stützt sich auf Angaben zur Aussprache von FORM (einschließlich Ableitungen) in den folgenden Wörterbüchern bzw. Orts- und Flächengrammatiken. 2.2.1. Belege aus Wörterbüchern (Die verwendeten Siglen erscheinen im Literaturverzeichnis ζ. T. in bibliographisch verkürzter Form. Vollständige Angaben insbesondere zu den großen Wörterbuchunternehmungen finden sich bei Niebaum 1979.)

19

20

Vgl. etwa Sütterlin 1924,185: „Aber auch in den sonst reinen o-Gegenden nehmen Fremdwörter wie K o f f e r , Form gern » a n . " Daß auch die lautgeographisch kompetente Regionalforschung mitunter vor dem Ineinandergreifen von .Hebung von Ο vor gedecktem R' und etymologischer Ableitung die Waffen strecken muß, zeigt Staub/Tobler Schweiz. WB 13, 1705: Selbst der hochrenommierte Bearbeiter von 1973 möchte angesichts des Nebeneinanders von Torte und Turte nicht abschließend entscheiden, ob von ital. torta (mit regionaler Hebung) oder umgekehrt von frz. tourte (mit regionaler Senkung) auszugehen ist.

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Bairisch Unger/Khull Steir. WB 247; Lexer Kämt. WB 100; Schatz Tirol. WB 196.675.677; Schmeller Bayer. WB 1,97.756. Alemannisch Jutz Vorarlb. WB 1,976. 2,1450; Staub/Tobler Schweiz. WB 1,1015-1017; Schmid/Issler Davos. WB 56; Aschwanden/Clauss Urner WB 161; Weber/Bächtold Zürich. WB 88; Suter Basel. WB 77; Fischer Schwab. WB 2,1663-1665. 6/1,144f. 6/2, 1937; Ochs Bad. WB 2,205; Martin/Lienhart Elsäss. WB 1,141. Ostfränkisch Ostfränk. WB [unveröff. Material]; Meisinger Rappenauer WB 32. Westmitteldeutsch Spangenberg Thüring. WB 6,398; Matthias Bernb. WB 21; Berthold/Friebertshäuser Hess.Nass. WB [unveröff. Material]; Hackler Feud. WB 60; Müller Rhein. WB 2,706. 9,1207 f.;

Obd. der Furm — eine etymologische Doublette von nhd. die Form

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Heinzerling/Reuter Siegerl. WB 124; Halbach Remsch. WB 193; Ständer Düsseid. WB 66; Wrede Köln. WB 1,241; Hermanns Aachener WB 168; Müller/Weitz Aachener WB 57; Tonnar/Evers Eupener WB 44; Maurer/Mulch Südhess. WB 2,878; Christmann/Krämer Pfalz. WB 2,1525; Braun/Mangold Saarbr. WB 107; Luxemb. WB 400; Follmann Lothr. WB 177. Sonstiges Bergmann Gabi. WB 49; Lux Dobsch. WB 93; Krämer Galiz. WB 75; Tschinkel Gottscheer WB 1,185; Keintzel/Schullerus Siebb. WB 2,432; Krauss Trepp. WB 296.

2.2.2. Belege aus Grammatiken (Die Kurztitel dienen der vorläufigen geographischen Information. Um das Literaturverzeichnis zu entlasten, wird für die genauen bibliographischen Angaben in e c k i g e n K l a m m e r n auf die jeweilige laufende Nummer bei W i e s i n g e r / R a f f i n verwiesen.) Βairisch Insam Meran [1287] 27; Egger Silltal [1288] 33; Schatz Imst [1318] 55; Lessiak Pernegg [1324] 73; Zehetner Hallertau [1422] 106; Steinbruckner Mühlviertel [1438] 12; Glattauer Niederösterr. [1443] 35; Beranek Südmähren [1454] 66 f.; Kubitschek Böhmerwald [1475] 17; Weitzenböck Innviertel [1491] 49.52; Micko Wadetstift [1498] 81; Lipoid Waldviertel [1503] 161; Pfalz Marchfeld [1521] 27; Neubauer Egerland [1743] 16; Gradl Westböhmen [1744] 53; Eichhorn Südegerland [1746] 44; Roth Egerland [1749] 71; Denz Windisch-Eschenbach [1768] 35. Alemannisch Vetsch Appenzell [374.428] 68.103; Enderlin Kesswil [415] 33; Gabriel Vorarlb. Rheintal [436] 197; Ehret Breisgau [793] 12; Heilig Forbach/M. [813] 21; Weishaupt Hauerz [944] 3.16; Strohmaier Blaubeuren [951] 45; Birlinger Augsburg [1025 a] 9; Bopp Münsingen [1046] 64. Ostfränkisch Bock Waldau [1910] 21; Kober Suhl [1914] 34; Kaupert Schmalkalden [1917] 29; Niederlöhner Coburg [1938] 76; Schmidt Bonnland [1946] 93. Westmitteldeutsch Bertaloth Odenwald [2081] 18; Born Darmstadt [2083] 16 f.; Bender Marburg [2288] 20; Leidolf Naunheim [2298] 12; Salzmann Hersfeld [2354] 39; Corell Ziegenhain [2364] 98; Ludwig Sehlem [2489] 17; Palgen Echternach [2491] 23; Thome Kenn [2501] 20. Sonstiges Giernoth Kuhländchen [3132] 181; Benesch Schönhengst [4407] 38; Matzke Rathsdorf [4408] 18.

2.2.3. Beurteilung des Belegmaterials Zwar mag der eine oder andere kartierte Furm-Beleg strittig sein, weil Hebung vor gedecktem R eher auf ein Etymon FORM verweisen würde 2 1 . Umgekehrt könnte aber auch manches scheinbar unverdächtige Form durch Senkung aus FURM entstanden sein, so daß das Verbreitungsgebiet entsprechend größer zu denken wäre.

21

Wie sehr das Verhältnis von Senkung und Hebung einzelwortlich bestimmt ist, zeigt etwa Erdmann Bingen [2072] 36 f. anhand einer „Über-Kreuz-Entwicklung": In Bingen-Land stehen sich Urt ,Ort' und Worf ,Wurf gegenüber.

220

Rudolf Freudenberg

Wir erinnern deshalb an die oben (2.1.1.) angestellten Vorüberlegungen zur Möglichkeit von phonetischem Wandel bzw. phonologischem Ersatz Ο —* U und kommen aufgrund der Verbreitungskarte zu dem Ergebnis: — Das Kartenbild spiegelt weder allgemeine Hebungs- noch allgemeine Senkungsvorgänge wider, sondern vielmehr die u n i k a l e R e p r ä s e n t a n z v o n F O R M vs F U R M . — Dem entspricht die topographische Lagerung, nämlich die Ausformung zweier kohärenter Gebiete, die durch Streubelege überbrückt werden. — Karte 1 ist mithin k e i n e L a u t k a r t e , s o n d e r n e i n e W o r t k a r t e . Bei ihrer Deutung werden wir uns nicht auf die inneren Triebkräfte von Lautsystemen, sondern auf historisch-soziokulturelle Prozesse zu beziehen haben. 2.3. Die sprachhistorische Deutung: Zur Genese von Furm Soweit mundartl. Furm überhaupt Anlaß zu Deutungsversuchen außerhalb allgemeiner Lautgesetzlichkeiten gegeben hat, lassen sich diese auf zwei Alternativen reduzieren: — Ausstrahlung aus der Wiener Stadt- und Kanzleisprache, — Entlehnung aus afrz. fourme. 2.3.1. Furm — ein Wort der Wiener „Herrensprache"? 2.3.1.1. Die These Schon 1913 hat Anton Pfalz in seiner .Mundart des Marchfeldes' (Pfalz 1913,27) auf niederösterr. ur für mhd. or aufmerksam gemacht, und zwar in den Einzelwörtern dort, fort, Mords-, Form, ordentlich, Ordnung sowie als Nebenform in Mord, Zorn und Wort. Vor allem für die beiden letzteren nimmt er Herkunft aus der „Wiener Mundart" an. Ein Jahrzehnt später wird das Problem in der Zeitschrift ,Teuthonista' erneut aufgegriffen, und zwar von Heinrich Weigl (1924/25) und Ernst Schwarz (1925/26). Inzwischen hat sich offenbar die Einsicht in den regelhaft stadtsprachlich-österreichischen Charakter von OR > UR verfestigt; daneben ist allerdings immer noch von „romanischer" Herkunft und damit von Lautsubstitution die Rede, u. a. mit Bezug auf Furm < Form (Weigl 1924/ 25,160; Schwarz 1925/26, 260), ohne daß deutlich würde, daß die in Frage kommenden Romanismen ihrerseits eine Teilmenge der Urbanismen darstellen. Immerhin fällt bei Weigl in diesem Zusammenhang erstmals das Stichwort von der Lautgebung der „Wiener Herrensprache" (ebd.). In der Folgezeit kommt insbesondere Eberhard Kranzmayer wiederholt auf die Ausstrahlung des Wiener UR zurück, so in seiner ,Reimchronik Ottokars' (Kranzmayer 1950, 80 f.), vor allem aber in der .Historischen Lautgeographie' (Kranzmayer 1956 § 5g5):

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„-ur-, -us- ist [...] ein Merkmal der österreichischen Stadtdialekte; ζ. B. duvf in Wien, dusrf'm Klagenfurt (aber d o r f f in Innsbruck und München). Aus dem Wienerischen entlehnt sind daher gemeinbair. Furm (Form, Benehmen), Turten (Torte) und in großen Teilen von Österreich Juri (fort), durt (dort). Sie beruhen letzten Endes auf Verschriftsprachlichungen nach Altwiener Leselautgesetzen."

Seitdem gilt diese Deutung unangefochten, auch bezogen auf Furm (Tschinkel Gottscheer WB 1,185; Denz Windisch-Eschenbach [1768] 35; Zehetner Hallertau [1422] 104.106). Hutterer (1963, 140 f.) spricht zusammenfassend von den „Kennwörtern" dort, fort, Torte, Ordnung, Orgel und Form mit stadtsprachlichem UR, und auch die inzwischen veröffentlichten Materialien des ,Wörterbuchs der bairischen Mundarten in Österreich' passen ins Bild: Akkord ,Stücklohn' (Dollmayr/Kranzmayer Österr. WB 1,120) meldet -u- „in alten Stadtmundarten und, im Anschluß an diese, in Umgebung von Städten und Märkten". 2.3.1.2. Die Antithese Trotz einleuchtender Plausibilität und allgemeiner Zustimmung erscheinen einige kritische Rückfragen zur C h r o n o l o g i e wie zur T o p o g r a p h i e dieser Erscheinung angebracht. Zunächst einmal suggeriert ein Begriff wie „Altwiener Leselautgesetz" (Kranzmayer 1956 § 5g5) — ebenso wie die sprachsoziologische Schicht von Akkord ,Stücklohn' 22 — eine wohl allenfalls bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Genese. Dann müßte aber diese Erscheinung an den (alten) Grenzen der Donaumonarchie haltmachen, denn es dringen, wie Wiesinger (1985, 1944) festgestellt hat, „östliche, von Wien ausgehende lexikalische Neuerungen seit dem 18. Jh. nicht mehr nach Bayern vor". 23 Räumlich weiter ausgreifende Erscheinungen, seien sie nun gesamtbairisch oder gar gesamtoberdeutsch, lassen sich so nicht erklären. Fragt man weiter, wie alt wohl die „Verwienerung" des Alltags- und Erbwortschatzes (etwa in Dorf oder Wort) sein mag, so bereitet schon die bloße Kartierung des gegenwärtigen Zustands unerwartete Schwierigkeiten: Kranzmayers Karte ,Dorf (Kranzmayer 1956, Karte 8) weicht dermaßen von der des Deutschen Sprachatlas (DSA 47) ab, daß man rätseln mag, ob etwa die Laienschreibung mit dem komplizierten Vokalstand vor R nicht fertig geworden ist (zu dieser Problematik s. oben 2.1.1.) oder ob Kranzmayer sein archaisierend-rekonstruierendes Kartierungsverfahren so konsequent zu Ende geführt hat, daß letztlich nicht mehr die Lautverhältnisse des Aufnahmezeitpunkts, sondern die dahinter vermuteten älteren Zustände ihm die Feder

22 23

Schulz/Basler (1913, 18) belegt diese Bedeutung erstmals 1820. Zur absoluten Chronologie des „Neuwiener" UR < OR vgl. Beranek Südmähren [1454] 67. Danach war in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts im Südmährischen der (mundartliche) O-Typ in Ordnung, ordentlich vor den „verkehrssprachlichen" Formen mit U deutlich auf dem Rückzug! Ähnlich Micko Wadetstift [1498] 81.

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geführt haben. Jedenfalls kommt bei Kranzmayer das „stadtsprachliche" UR praktisch überhaupt nicht vor 24 , wohingegen auf der entsprechenden Sprachatlas-Karte der Typ DURF derart breit streut, daß allenfalls die „oberösterreichische Beharrsamkeitsbrücke" als Reliktzone relativ »-frei bleibt und demzufolge die gesamte Erscheinung als jüngere Ausstrahlung erkennbar wird. Damit scheint trotz unklaren Kartenbefundes zumindest sichergestellt, daß sich diese „Wiener Modelautung" auf Österreich beschränkt und folglich jüngeren Datums ist. Um uns weiter zu vergewissern, haben wir die immer wieder in die Diskussion gebrachte Lautung durt ,dort' nach Wörterbüchern und Grammatiken 25 skizziert (Karte 2). Das Ergebnis paßt in unser Bild: Auch durt macht den deutlichen Eindruck eines seit dem 18. Jahrhundert expandierten Austriazismus. 26 2.3.1.3. Die Synthese Die bis hierher vorgebrachten, kartographisch abgesicherten Argumente mochten den Eindruck aufkommen lassen, der Einfluß Wiens bei der Wiedergabe von Ο vor gedecktem R beschränke sich auf ohrenfällige Austriazismen der letzten beiden Jahrhunderte und sei somit eine innerösterreichische Angelegenheit, wenn auch in den Dimensionen der ehemaligen Habsburger Monarchie. Wir haben deshalb, konstrativ zu Karte 2 (durt ,dort'), in Karte 3 die Verbreitung von furt ,fort' skizziert. 27 Das Ergebnis widerlegt prima vista alle gelegentlich geäußerten Vermutungen von der Parallelentwicklung der „Reimwörter" dort und fort·. UR zeigt gesamtoberdeutsche Verbreitung. Daß es sich dabei nicht um eine voralthochdeutsche Brechungsvariante im Sinne von *furd-u handeln kann, zeigt die im DWB (4,710) ausgebreitete, bei Paul/ Betz (1981,172) kurz zusammengefaßte historische Bezeugung: Die Wurzel war dem Oberdeutschen ursprünglich überhaupt fremd, entbehrt also im Süden lauthistorisch-vordeutscher Kontinuität. Immerhin scheint mhd. (md.) vort allmählich so bodenständig geworden zu sein, daß es auch die Reliktlagen des Alpenraums erfaßt hat. Demgegenüber erweist sich jüngeres furt als verkehrssprachliche Neuerung, so ζ. B. in Tirol 28 . Nichts spricht dagegen, das Zentrum dieser t/Ä-Neuerung 24 25 26

27 28

Allenfalls für den Grazer Raum läßt sich Entsprechendes vermuten. Auf eine Dokumentation der Belegstellen wurde aus Platzgründen verzichtet. Zum Vordringen ins Altbairische beachte man den interessanten Hinweis von Zehetner (Hallertau [1422] 106): Den Lauttyp DURT höre man „vorwiegend in den Städten". Hierzu sei dem Verf. dieser Zeilen die ergänzende Bemerkung gestattet, daß nach seiner eigenen (Münchener) Sprachkompetenz DURT nach wie vor ein massiv österreichisches Schibboleth darstellt. Auch hier verzichten wir darauf, die zugrunde gelegten Belege einzeln aufzuführen. Anders wird man wohl das von Schatz (Tirol. W B 1,186) konstatierte Nebeneinander von tirol. furt und fort nicht erklären können. Vgl. allerdings Schatz Imst [1318] 55: „Jetzt dringt nhd. fort wieder ein."

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abermals in Wien zu suchen — allerdings nicht durch Vermittlung einer „Lautlesesprache", sondern nach Ausweis der räumlichen Breitenwirkung in einer deutlich vor dem 18. Jahrhundert anzusetzenden Verbreitungskraft: der k a i s e r l i c h e n K a n z l e i des 15. und 16. Jahrhunderts bzw. (allgemeiner gehalten) jener „Donausprache" bairisch-ostschwäbischer Provenienz, deren weit ins Alemannische vordringenden Gebrauch Ernst Erhard Müller wiederholt (ζ. B. 1953; 1960) untersucht hat und deren Auswirkungen fast als „so etwas wie eine schreibsprachliche Koine des Südens" (Besch 1983, 974) gelten können: „Es scheint sich für einen Augenblick etwas wie eine obd. Form der nhd. Schriftsprache einrichten zu wollen" (Müller 1953,79). Dabei ist neben (und vor) W i e n neuerdings Regensburg und Augsburg, vor allem aber

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N ü r n b e r g als kanzlei- und druckersprachliches Zentrum von überregionaler Bedeutung deutlich geworden. 2 9 Daß die Ausbreitung von kanzleisprachl.-obd./»r/ v o r das 18. Jahrhundert zu datieren ist, läßt sich kaum durch eine breite literarische Belegbasis nachweisen 30 , eher schon durch vereinzelt nachweisbaren Kanzleigebrauch 31 ,

29

30 31

Vgl. zuletzt die knappe, aber instruktive Zusammenfassung bei Herbert Penzl: Frühneuhochdeutsch. Bern/Frankfurt/Nancy/New York 1984, 14. DWB 4/1/1, 900 bucht s. v. jurt' fast ausschließlich Mundartliches. Gerhard Kettmann: Die kursächsische Kanzleisprache zwischen 1486 und 1546. Studien zum Aufbau und zur Entwicklung. Berlin 1967, 81 f. findet für den gesamten Untersuchungszeit-

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225

vor allem aber durch Entlehnungen in die östliche und südliche Nachbarschaft der alten Habsburger Stammlande, und zwar mit durchaus archaischer Bedeutung. Man vergleiche (Karte 3) tschech. poln. furt .fortwährend, immerfort, andauernd' sowie vor allem gleichbedeutend ungar. furtonfurt (nach Skala 1968, 133) und slowen. furtnafurt (Mündl. Auskunft) — eine bis ins Formelhafte reichende Ubereinstimmung auf der Grundlage einer obsolet gewordenen Bedeutung mit den Merkmalen .zeitlich' und ,nach vorne gerichtet', deren historische Bezeugung, etwa in der Formel fort und fort, das DWB (4/ 1/1,7 —10) ausreichend dokumentiert. 32 Was all diese Entlehnungen verbindet, ist ihr eher amtlich-offizieller als nachbarlich-privater Ton, ist Amtssprache, und zwar in semantisch petrifizierter Form. Zusammenfassend führt eine zwischen Zustimmung und Widerspruch abwägende Auseinandersetzung mit der These vom Wiener Ursprung der Hebung Ο > U vor gedecktem R zu überraschenden Konsequenzen. Über den Zeitraum eines halben Jahrtausends scheint sich in der Donaumetropole eine Sprech- und Schreibgewohnheit u n b e k a n n t e r G e n e s e konstant gehalten zu haben, die e i n z e l w o r t l i c h von Fall zu Fall die bodenständige Lautung, ζ. T. bis ins Alemannische hinein, verdrängen konnte, ohne indes l a u t g e s e t z l i c h außerhalb der Wiener Stadtsprache Fuß fassen zu können. Dabei kommt es im derzeitigen Diskussionsstadium weniger darauf an, ob man an ein derartiges Phänomen zu „glauben" bereit ist, als vielmehr einsichtig zu machen, welche zeitlich-räumlichen Dimensionen mit Begriffen wie „Wiener Herrensprache" und „Altwiener Lautlesesprache" eher verdeckt als verdeutlicht werden. 2.3.1.4. Fazit Uberprüft man im Lichte der nunmehr gewonnenen Einsichten die topographische Lagerung von Furm (Karte 1), so wird unmittelbar einsichtig, daß man — bei allem Respekt vor dem Einfluß der kaiserlichen Wiener Kanzlei — ihr einen volkssprachliche konsolidierenden Einfluß bis ins Luxemburgische 33 nicht zutrauen darf. Fazit: Die Lautung Furm ,Form' kann nicht aus dem Donaubairischen stammen; Furm ist kein Wiener „Kennwort"; die Lösung muß anderswo gesucht werden.

32

33

räum in seinem Material „fast ausschließlich furt". Zu mitteldeutschen Ausläufern von furt in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts vgl. auch (mit anderer Deutung) Moser 1929 § 73,2. Das Streben nach Verstärkung durch Streckformeln läßt sich schon vom Mittelhochdeutschen an erkennen. Älteres ν ort und wider bzw. vor und vort (ab Anfang 13. Jh.) wird abgelöst durch fort und f ü r , fort für f o r t , fort und fort. Vgl. auch furt und furt (DWB 4/1/1, 900 s. v. furt') sowie fürt und fürt (DWB 4/1/1, 901). Daß luxemb. -u- etymologisch ernst zu nehmen ist, zeigt Palgen Echternach [2491] 23. Die wahrlich sachkundige Verfasserin setzt nämlich ein — gewiß nicht wortgeschichtlich gemeintes — w g e r m . u an.

226

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2.3.2. Furm — eine Entlehnung aus afrz. four me} Außerhalb der Wiener Dialektologenschule bestand wenig Neigung, sich mit der Theorie von der Wiener Genese auch nur auseinanderzusetzen. Die Lexikographen bekannten allenfalls, es liege „für heutiges -u- [...] keine befriedigende Erklärung vor" (Jutz Vorarlb. WB 1,976), oder versuchten sich in regionalen Konstruktionen (Staub/Tobler Schweiz. WB 1,1015: Falsche Rückbildung aus einem Deminutiv mit u). Allerdings hatte schon 1890 Moriz Heyne (Heyne WB 1,955) auf afrz. fourme ( > mhd. vurm) aufmerksam gemacht, und Hermann Fischer dachte ähnlich (Fischer Schwäb. WB 2,1664). Später sind einige diesem Vorschlag gefolgt, so (etwas halbherzig) Ernst Ochs (Ochs Bad. WB 2,205), ferner Georg Weitzenböck (Innviertel [1491] 52), vor allem aber Alfred Götze (Trübner WB 2,417). Angesichts der unauffälligen neufranzösischen Standardlautung forme bedarf jedoch die hier herangezogene [/-Variante zunächst einmal einer kurzen Erläuterung. 2.3.2.1. Lat. forma im Altfranzösischen 34 Klasslat. förma (dessen strittige Etymologie hier außer Betracht bleiben kann) hatte lautgesetzlich zu vulglat. förma (mit [o]) geführt. Die galloromanische Weiterentwicklung erfolgt positionsabhängig: 35 — In f r e i e r Stellung, d. h. in offener Silbe vor einfacher Konsonanz, wird ο zunächst weiträumig zu ou diphthongiert. Die anschließende Weiterentwicklung zu eu (11. Jh.) samt abschließender Monophthongierung zu ö (13. Jh.) bleibt dem Zentralfranzösischen (Franzien bis zur Loire) vorbehalten, aus dessen Territorium später die gegenwärtige Standardsprache (mit moderner Lautung und archaisierender Schreibung) hervorgehen sollte: flore(m) > η frz. fleur [/7er]. Anders im Westen (Normannisch) und Nordosten (Lothringen, Burgund). In diesen entlehnungsexpansiven Gebieten kommt es zur Ausbildung velarer Monophthonge mit [/-Charakter, die ζ. T. lautgeographisch noch heute nachweisbar sind. 36 So erklärt sich einerseits mengl. flür (mit lautgesetzlicher Weiterentwicklung zu nengl. flower) aus anglonorm. flor\flür, andererseits mhd. -flür (vornehmlich in Personennamen) aus nordostfrz.//«r. 37 Zur graphi34

Für freundliche Hinweise und bibliographische Beratung danke ich Prof. Dr. Dieter Woll, Institut f ü r Romanische Philologie der Universität Marburg. Mögliche Fehlinterpretationen habe ich selbst zu verantworten.

35

Das Folgende nach: Jordan 1923, 7 7 - 8 4 ; Fouche 1958, 2 0 7 - 2 0 9 ; Rheinfelder 1968, 2 3 - 2 6 ;

36

A L F 1009

37

Zum (nord)ostfranzösischen Lautstand der mittelhochdeutschen Lehnwörter auf -ür

Sergijewskij 1979, 3 9 - 4 3 . 8 9 - 9 2 . 9 6 - 1 0 0 .

(,peureux')

nach Jordan 1923,78.

Maxeiner 1897, 6 8 - 7 4 . Demgegenüber hatte Weinhold (1883, §§ 1 1 0 . 1 1 4 ) bei mhd.

Amür

usw. d e u t s c h e Lautsubstitution angenommen.

vgl.

gar^im,

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sehen Wiedergabe von [«] bedienten sich die Empfängersprachen in unterschiedlichem Ausmaß des ebenfalls entlehnten Graphems \ou\. — Anders in g e d e c k t e r Stellung, d. h. in geschlossener Silbe v o r mehrfacher Konsonanz. Hier wurde ο im 11. /12. Jh. fast allgemein zu u (graphisch seit dem 13. Jh. \ou\) gehoben, 38 so auch in forma > fourme. Allerdings scheint diese Entwicklung in der äußersten östlichen Peripherie nur teilweise eingetreten zu sein, so daß im Wallonischen, im Lothringischen und in den Vogesen erhaltenes ο begegnet. 39 Mit diesen galloromanischen Weiterentwicklungen konkurriert bisweilen die jeweilige g e l e h r t - l a t e i n i s c h e E n t s p r e c h u n g , so daß es zur Ausbildung e t y m o l o g i s c h e r D o u b l e t t e n kommt. So erklärt sich &irz.forme{> nfrz .forme) 0 als Entlehnung aus mlat. forma* und damit als schichtenspezifische Nebenform mit höherem Sozialprestige. Demgegenüber ist afrz. fourme der lautgesetzlich legitime Nachfolger von vulglat./om u nicht voll mitgemacht zu haben (s. oben 2.3.2.1.). Ob die Alternative einer o b e r s c h i c h t l i c h e n Ausbreitung plausibel ist, wird bei der Behandlung des s e m a n t i s c h e n Aspekts und damit des soziokulturellen Stellenwerts zu erörtern sein (4.3.). Zuvor jedoch noch einige Bemerkungen zum G e n u s . 3. Das abweichende Genus: Maskulin („der

Furm")

Was bisher unerwähnt geblieben war, ist die Genusabweichung gegenüber dem schriftsprachlichen, aus dem Lateinischen abzuleitenden Feminin in „die Form". Karte 4, nach demselben Material wie Karte 1 erstellt und lediglich für das Niederdeutsche angereichert durch Mensing (Schlesw.-Holst. WB 2,194) und Wossidlo/Teuchert (Meckl. WB 2,1051), zeigt neben einer (nach Mensing, 1935, für Schleswig-Holstein nicht untypischen) partiellen Abweichung ins Neutrum eindeutig vorherrschendes Maskulin im südlichen FurmGebiet. Damit ist die bislang rein lautliche Alternative 0\TJ um eine grammatische erweitert: Im Bereich der rezenten Dialekte des Deutschen stehen sich die Form und der Furm gegenüber. Allerdings verhalten sich Lautstand und Genus nicht völlig kongruent. Projiziert man nämlich die Karten 1 und 4 aufeinander, so zeigen sich an den Rändern Zwitterbildungen. „Der Form" herrscht im Thüringischen vor (nach dem Stand der Wörterbuch-Lieferungen allerdings derzeit nur nachweisbar in der Unform: Spangenberg Thüring. WB 6,398). Anders der Gegentyp „die Furm". Diese ebenfalls hybride Bildung wird großräumig aus Luxemburg, Lothringen (teilw.), dem Elsaß, Baden, Vorarlberg, dem angrenzenden Graubünden sowie der Nordschweiz gemeldet. Abgesehen von diesen randständigen Ubergangszonen 46 bildet der Normaltyp „der Furm" einen festgefügten, kohärenten bairisch-schwäbisch-ostfränkischen Block. Diese binnenoberdeutsche Lagerung ließe durchaus an autochthonen Genuswechsel denken — wäre da nicht noch das Lothringische mit der von 46

Die D y n a m i k derartiger binärer Hybridbildungen dürfte in der Regel so ablaufen, daß eines der beiden Merkmale als markiert empfunden und durch die unmarkierte Alternative der Nachbarschaft — aber auch der Standardsprache! — ersetzt wird. So zeigt die frühneuhochdeutsch-oberdeutsche Überlieferung bei Zwitterbildungen in aller Regel einerseits Nachgiebigkeit im Vokalstand, andererseits Beharren auf dem Maskulin. Vgl. aus der Augsburger Bibel von 1475: „da£ auch euch nun geleiches forms heylsam machet die t a u f f , also den Typ „der Form" (Zitat nach Trübner WB 2, 417).

Obd. der Furm — eine etymologische Doublette von nhd. die

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Follmann (Lothr. WB 177) registrierten Schwankung, die wohl als Nebeneinander von älterem Maskulin und jüngerem Feminin zu interpretieren ist. Nun lassen sich Genusverschiebungen allemal schwer erklären; dies gilt allgemein für die deutschen Dialekte (van der Eist 1983) und erst recht für Entlehnungszusammenhänge (Öhmann 1968). Wir beschränken uns deshalb auf die Feststellung, daß aus der benachbarten G a l l o r o m a n i a weder historisch noch gegenwartssprachlich irgendwelche Hinweise auf maskuline Formen bekannt sind (vgl. FEW 3,713-716). Das — auf Karte 4 ebenfalls eingetragene — n e u n i e d e r l ä n d i s c h e Maskulin ist sicherlich fernzuhalten; dieser Genuswechsel fallt in die Zeit der niederländischen Genusverwirrung ab dem 16. Jahrhundert. 47 Damit erledigen sich auch alle Vermutungen über Zusammenhänge mit dem (unerklärten) mecklenburgischen Maskulin (neben Feminin: Wossidlo/Teuchert Meckl. WB 2,1051). Nicht eindeutig zu beurteilen ist letztlich auch das Maskulinum in A a c h e n . Es handelt sich um einen inzwischen historisch gewordenen Beleg aus Müller/ Weitz (Aachener WB 57) von 1836, der von keiner heutigen Quelle, sei es Wörterbuch oder Regionalgrammatik, bestätigt wird. Da Müller (Rhein. WB 2,706. 9,1207) diesen alten Beleg nicht aufführt, sei er kurz vorgestellt: „Form, der, das hölzerne oder knöcherne Scheibchen in einem übersponnenen oder überzogenen Knopfe, welcher durch den Form seine Form oder Gestalt erhält; holld. knoopvorm (masc.); auch in der Schweiz ist F o r m e n oder F ö r m l i in dieser Bedeutung gebräuchlich."

Sieht man von der (hier nicht zu thematisierenden) Frage nach „Wörtern und Sachen" ab, so konzentriert sich das Interesse auf die Herkunft dieses inzwischen verschwundenen Maskulins. Dabei werden wir vorsichtshalber allen Versuchungen widerstehen, fragwürdige Beziehungen zum Lothringischen herzustellen, sondern vielmehr das Aachener Genus aus dem benachbarten Niederländischen ableiten. Ansonsten bleibt uns das Maskulin eine zwingende Erklärung ebenso schuldig wie die meisten anderen Genusalternanzen in den deutschen Dialekten auch. Gleichwohl sei daran erinnert, daß die einzigen Reimwörter zu Furm, nämlich Sturm und Wurm (dazu später auch Turm), gleichfalls maskulines Genus aufweisen. Lautliche Bedenken gegen diesen Vorschlag bestehen nicht: Während nhd. Form anfangs als vorme belegt ist, erscheint Furm von Beginn der Überlieferung an in apokopierter Lautgestalt. Wichtiger indes ist der Zusammenhang zwischen dem Lothringischen und dem großen bairisch-schwäbisch-ostfränkischen Block. Die oben (2.3.2.3.) 47

Vgl. hierzu Öhmann 1965. Zu mnl. vorme s. Verwijs/Verdam WB 9, 1 1 5 0 - 1 1 5 3 . Für alle das Mittelniederländische betreffenden Fragen war ich auf die Unterstützung von Dr. Amand Berteloot, Abteilung für Niederlandistik der Universität Marburg, angewiesen. Insbesondere habe ich ihm zu danken für Einsicht in seine Exzerpte aus Urkunden, Handschriften und Inkunabeln des 13. und 15. Jahrhunderts; hieraus ergab sich, daß für diese Zeit sowohl das Feminin als auch der durch Reimbelege bestätigte Vokalstand -o- als gesichert gelten können.

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nahegelegte Suche nach weiteren Indizien für einen westöstlichen Entlehnungsweg von „der Furm" war erfolgreich: An der deutsch-französischen Grenze ist nicht nur der Vokal aus dem Französischen übernommen, sondern auch das neue Genus gebildet worden, ehe beides ins Oberdeutsche gelangte. Die auf den Karten 1 und 4 erkennbare Lücke zwischen beiden Gebieten repräsentiert nichts anderes als den in der Dialektgeographie hinreichend bekannten verkehrsoffenen, allen nördlichen Neuerungen besonders zugänglichen Oberrheingraben, in dessen südlichem Anteil Streubelege vom einstigen Zusammenhang zeugen. Konnte somit eine West-Ost-Wanderbewegung von „der Furm" auch vom Genus her glaubhaft gemacht werden, so bleibt abschließend erneut zu fragen,

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inwieweit eine grundschichtlich-wellenförmige Ausbreitung entgegen dem Strom der sonst stets in umgekehrter Richtung verlaufenden Sprachbewegungen (Hildebrandt 1983,1355: Raumtyp H) plausibel ist. Zur Beantwortung dieser Frage wenden wir uns abschließend dem s e m a n t i s c h e n Aspekt zu.

4. Das besondere semantische Feld („er hat keinen Furm") (Karte 5) 4.1. Semantischer Kern und Selektionsbeschränkung Überprüft man die etymologische Sippe im Umkreis von lat. forma auf ihren semantischen Gehalt in den m i t t e l - u n d n i e d e r d e u t s c h e n Dialekten, so gelten nach Ausweis der Mundartwörterbücher und der sonstigen Regionalliteratur die dialektalen Entsprechungen von nhd. die Form regelmäßig zur Bezeichnung von K o n k r e t a : von der (neueren),Backform' bis zum (älteren) ,Kern von stoffüberzogenen Knöpfen'. Eine (hier nicht vorgesehene) Auflistung würde zwar interessante Einblicke in die Entwicklung der materiellen Kultur unter dem Aspekt ,Wörter und Sachen' eröffnen, und zwar — wie ein Blick in das FEW unter lat. forma zeigt — durchaus in europäischen Bezügen; binnenlinguistisch hingegen würde allenfalls weiteres Licht auf Rückzug und Untergang des älteren Lehnworts Model fallen. Soweit im Mittel- und Niederdeutschen überhaupt abstrakte Bedeutungen registriert werden, scheint es sich um Irrläufer aus der Umgangssprache zu handeln {in Form sein, die Form wahren u. ä.). Anders hingegen in dem nunmehr herausgearbeiteten o b e r d e u t s c h e n Block mit Furm (Mask.). Hier gelten, wie Karte 5 zeigt, fast ausschließlich a b s t r a k t e Bedeutungen, die sich auf den semantischen Kern (1) allgemein: ,Art und Weise; Anschein' (2) speziell: ,ethisch-ästhetische Präsentation, bezogen auf Personen und Sachen' (3) wertend: ,wie (2), aber positiv konnotiert' reduzieren lassen. Insoweit trifft Unger/Khulls Interpretamentum ,Art, Weise, Beschaffenheit im Auftreten, im Benehmen und Gehaben' (Steir. WB 247) den Sachverhalt mit bemerkenswerter Klarheit. Dennoch läßt sich mit derartigen, eine semantische A n a l y s e bereits vorwegnehmenden P a r a p h r a s e n wenig anfangen, weil die lexikalische V e r w e n d u n g im dunkeln bleibt. Erfreulicherweise haben die meisten oberdeutschen Lexikographen unter dem Lemma ,Furm' aus der semantischen Beschreibungsnot eine pragmatische Umschreibungstugend gemacht, indem sie die — offenbar schwierige — Bedeutungsangabe durch Beispiele ersetzt haben, etwa zu (1): Wir sind doch noch rechter Furm fertig geworden ,Wir konnten die Arbeit dann noch in rechter Art [?] beenden' (Schmid/Issler Davos. WB 56) Es regnet bald, es hat atlen Furm (.Anschein') da^u (Schmeller Bayer. WB 1,756)

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zu (2): Er hat einen tollen [?] Furm ,Er führt sich gut auf (Lexer Kämt. WB 100) zu (3): Eine Sache hat einen Furm ,ist gut gemacht'. (Fischer Schwab. W B 2,1663 f.).

Diese Beispiele sind indes noch nicht typisch, weil sie zwar den semantischen Kern (Merkmale) erkennen lassen, nicht aber die vorherrschende Sel e k t i o n s b e s c h r ä n k u n g : In aller Regel wird „der Furm" auf negative Aussagen („nicht ... ein Furm", „kein Furm") beschränkt. Das hat keinen Furm ,geht nicht vorwärts' (Lexer Kämt. WB 100) keine Art und kein Furm ,(mitunter auch noch mit Bezug auf äußere Erscheinungen)' (Fischer Schwäb. W B 2,1663 f.) So etwas hat keine Furm ,Art und Weise, Vorgehen' (Jutz Vorarlb. WB 1,976) Ja, schön bist du, aber keinen Furm hast du ,[Bedeutung unklar]' (Ostfrk. WB, ungedr.)

Obd. der Furm — eine etymologische Doublette von nhd. die Dazu als Verbalableitung: Gefirmt bist du, aber gefurmt

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noch nicht ,(zu unartigen Kindern)' (Schmeller Bayer. WB 1,756)

Hierzu vergleiche man abschließend die Ausstrahlung ins Slowenische (Stadtsprache von Maribor): To nima nobenega furma ,Das sieht nach nichts aus, ist nicht gut/schön/richtig; das sollte man nicht tun' Ta nima nobenega furma Jemand verhält sich anders, als man es erwarten würde, ist unerzogen/ vorlaut'

Verwendungsweisen ohne negative Konnotation gelten dabei als „ungewöhnlich" (Mündl. Auskunft). 48 4.2. Lexikalisierung des negativen Gebrauchs („der

Unfurm")

Von dieser Beschränkung des Gebrauchs auf negative Aussagen ist es nur ein kleiner Schritt zur Lexikalisierung in Gestalt des negativen Antonyms „der Unfurm". Diese Ableitung gilt, wie aus Karte 5 hervorgeht, ebenfalls verbreitet, so in — — — — — —

Kärnten: voller Unfürme (,üble Gewohnheiten') sein (Lexer Kämt. WB 100) Tirol: der Unfurm ,die Ungehörigkeit' (Schatz Tirol. WB 2,677) Vorarlberg: Unform ,(nur von Gegenständen)' (Jutz Vorarlb. WB 2,1450) Schweiz: Unform ,Unfug im Reden' (Staub/Tobler Schweiz. WB 1,1016) Altbayern: Unfurm ,üble Gewohnheit, Unart' (Schmeller Bayer. WB 1,197) Schwaben: Unfurm ,Unart, Untugend, schlechtes Betragen, bes. angewöhntes' (Fischer Schwab. WB 6/1, 144 f.) — Thüringen: Unform .Mißgestalt von Menschen oder Sachen', ζ. B. ein reiner Unform von einem Menschen (Spangenberg Thüring. WB 6, 398)

Auch die in Karte 5 wiedergegebene Lagerung zeigt den inzwischen bekannten bairisch-schwäbisch-ostfränkischen Block, gleichzeitig aber auch einige Abweichungen an den Grenzen. 4.3. Soziokulturelle Deutung Über die hier entwickelten semantischen Merkmale eröffnet sich jetzt auch der Zugang zur wortsoziologischen Schicht des aus afrz. fourme übernommenen Furm. Der mit diesem Lehnwort abgedeckte Begriff hat sein Zentrum im Bereich der Verhaltensethik, und zwar (qua Negation) im Sinne kritischer Verhaltensvorschriften, deren Verletzung zu Sanktionen führt. Damit entspricht die mit Furm verbundene Ideologie deutlich jenem sozialregulativen Kodex, dessen galloromanische Herkunft mit dem Begriff des H ö f i s c h e n einhergeht, der aber vom aufkommenden Bürgertum des Spätmittelalters ζ. T. durchaus rezipiert wurde. 48

Striedter-Temps 125 bucht zwar das slowenische Wort als Austriazismus, geht aber nicht auf semantische Besonderheiten und spezifische Verwendungsweisen ein.

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Somit kann die oben wiederholt gestellte Frage nach der Schichtenspezifik der Ausbreitung mit einiger Sicherheit beantwortet werden: Das Lehnwort bezieht seine Expansionskraft aus o b e r s c h i c h t l i c h e n sozialregulativen Vorstellungen. Diese jedoch könnten nach der vorgeführten topographischen Lagerung durchaus vom W i e n e r Hof ausgegangen sein. Von dort aus wäre die Westausbreitung des an der französisch-lothringisch-luxemburgischen Grenze ausgeformten und von der kaiserlichen Kanzlei übernommenen Lehnworts erfolgt, getragen von jener donauländisch bestimmten süddeutschen Koine, die sich (mehr oder weniger deutlich) hinter dem Begriff Oberdeutsche Kanzleisprache' verbirgt. Die von Hermann Fischer (WB 2,1664; 6/1,144) beschriebene Nordwestgrenze von schwäb. der Furmjder Unfurm ist jedenfalls mehr als nur die Ostmarke des oberrheinischen Neuerungsterrains; sie ist gleichzeitig die W e s t g r e n z e der b a i r i s c h - o s t s c h w ä b i s c h e n „ D o n a u s p r a c h e " (s. oben 2.3.1.3.). 5. Gebrauchswert und Stilebene 5.1. Der Furm und der Unfurm·. zwei Wörter der frühneuhochdeutsch-oberdeutschen Gemeinsprache Voraussetzung für die oben (4.3.) gegebene Deutung ist der Nachweis unserer heutigen Dialektismen Furm und Unfurm in älteren V e r s c h r i f t l i c h u n g e n . Diesen Nachweis hat das DWB längst erbracht. Der Furm. Zwar war Jacob Grimm in der achten Lieferung (1862) von DWB 3 unter dem Lemma ,Form' (Sp. 1897-1899) bei dem Beleg „so laut knallet in allem furm, als ob man schüs£ ein stat %um stürm" (Hans Sachs) unter Nr. 12 nur das ungewöhnliche Maskulin aufgefallen, aber wenig später (1871) setzte Karl Weigand ein eigenes Lemma ,Furm' an (vierte Lieferung von DWB 4/1/1, Sp. 769 f.). Dort bucht er neben etlichen bairisch-schwäbischen Dialektbelegen und einem — wohl von Schmeller (Bayer. WB 1,756) übernommenen — Zeugnis aus den bayerischen Landtagshandlungen des 15./ 16. Jahrhunderts ausschließlich N ü r n b e r g e r Quellen, nämlich Jakob Ayrers Fastnachtsspiele, vor allem aber H a n s S a c h s , der von diesem Wort reichlich Gebrauch macht, insbesondere im Reim zu Sturm und Wurm. Offenbar hat Goethe später darin so etwas wie ein Kennwort des Nürnbergers gesehen: In ,Hans Sachsens poetischer Sendung' (1776) gebraucht er ein (aus dem Plural falsch rückgebildetes) Reimwort Fürm: „bespottet eines jeden Fürm, treibt sie ins bad, sehneidt ihnen die Würm" (vgl. DWB 4/1/1,770; Trübner WB 2,417).

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Ebenfalls in das Nürnberg des 15. Jahrhunderts verweist übrigens der Wortgebrauch von Endres Tuchers Nürnberger Baumeisterbuch (1464—1475) (Lexer Mhd. WB 3,474 f.), aber auch die Weimarer Handschrift F des Frauenlob 49 , wohingegen furm in Michael Beheims ,Buch von den Wienern' von 1462/65 (Lexer Mhd. WB 3,474) und in der Stadtchronik von Elbogen in Böhmen aus den Jahren 1471-1504 (Jelinek Mhd. WB 886) in größere, gesamtoberdeutsche Zusammenhänge zu stellen ist. 50 Der Unfurm. Sichtet man die von Karl Euling unter dem Lemma ,Unform' (DWB 11/3,571—575) in der vierten Lieferung (1915) zusammengestellten und semantisch geordneten Belege nach Vokalstand und Genus, so stößt man zwar einerseits auf zahlreiche Hybridbildungen vom Typ der Unform (s. hierzu oben unter 3.). Andererseits begegnet die oberdeutsche NormalKonstellation der Unfurm erneut bei Jakob Ayrer und Hans Sachs, und wiederum findet sich ein Gegenstück bei Goethe in ,Hans Sachsens poetischer Sendung': „umgeben von Pylades dem Unfurm" (vgl. auch Paul/Betz WB 707). 5.2. Die Unform: ein Wort der Gegenwartssprache Auf den ersten Blick scheint nhd. die Unform nicht zu der hier besprochenen Wortsippe zu gehören: Vokal und Genus verweisen nur allzu deutlich auf lat. forma als den letztlich siegreichen Konkurrenten. Indessen hat Karl Euling (DWB 11/3,571) glaubhaft gemacht, daß nhd. die Unform, seit dem 15. Jahrhundert reichlich bezeugt, keineswegs ein jederzeit mögliches Antonym zur Filiation von lat. forma darstellt: Diese Wortbildung ist vielmehr der gesamten Germania (einschließlich des Niederdeutschen) fremd. Einzig „in oberd. ma. weit verbreitet und bis ins mitteldeutsche reichend" gilt diese Ableitung, die dem DWB vier Spalten wert ist — mit Belegen von Kant über Goethe bis zu Storm und Hauptmann. 49

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Wie unbeholfen und inkonsequent der Schreiber F sein furm gegen vorgefundenes form durchzusetzen versucht hat und wie er dabei immer wieder mit seinem Maskulin in Schwierigkeiten geraten ist, wäre eine eigene Untersuchung wert. Vgl. hierzu Franz Hacker: Untersuchungen zur Weimarer Liederhandschrift F. In: PBB 50, 1927, 351 — 393. Die Stellen lassen sich bequem überblicken bei Suolahti (1933, 445) sowie neuerdings bei Harald Bühler: Frauenlob-Index. Mit einem Vorwort von Karl Bertau. Erlangen 1985,107. (Erlanger Studien 59). — Zur Nürnberger Herkunft der Handschrift vgl. zuletzt Karl Stackmann/Karl Bertau (Hrsg.): Frauenlob (Heinrich von Meissen). Leichs, Sangsprüche, Lieder. 1. Teil. Göttingen 1981,41. Natürlich hängt das regionale Schwergewicht der Belege wesentlich von der Auswahl der berücksichtigten Quellen ab. Über Österreich wird das neue Wörterbuch (Dollmayr/ Kranzmayer Österr. WB) sicherlich noch hinreichend Aufschluß geben. Einstweilen sei darauf aufmerksam gemacht, daß bereits 1592 ein slowenisches Wörterbuch (Megister, nach Striedter/Temps 125) Furm als österreichische Entlehnung registriert.

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So ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß obd. Unfurm eben doch nicht ersatzlos aufgegeben wurde, sondern in dem unauffälligen Unform solange weiterlebt, bis diese — von der Sprecherkompetenz schon heute zurückhaltend beurteilte und in den Wörterbüchern zum gegenwärtigen Deutsch entweder als „selten" qualifizierte 51 oder überhaupt ignorierte — Bildung eines Tages endgültig verschwunden sein wird.

6. Ausblick: Nhd. die Form Die bisherige Argumentation mochte den Eindruck erweckt haben, obd. der Furm < afrz. fourme habe von Anfang an sein sprachhistorisches Eigenleben geführt und sei allenfalls in der Spätzeit mit seinem Konkurrenten nhd. Form in Kontakt getreten (zur Hybridisierung s. oben unter 3.; zum semantischen Transfer s. oben unter 5.2.). So möge abschließend die Entlehnung von mhd. vorme ebenfalls einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Jacob Grimm war anhand seiner Belege 1862 zu dem Ergebnis gekommen, mhd. vorme könne erst in nachklassischer Zeit übernommen worden sein: „die mhd. dichter der guten zeit enthalten sich des für den reim untauglichen fremdlings, selbst Gotfried noch; erst Konrad [...] verwandte [...] forme" (DWB 3,1897). Diese Meinung hat sich bis heute gehalten, von Schulz/Basler (1,223: „ein häufiges Fremdwort des nachklassischen Mhd. (zufrühst bei Konrad von Würzburg [...]))" über Trübner (WB 2,417: „Um 1250 ist mhd. forme aus l a t . f o r m a entlehnt") bis zu Kluge/Mitzka (1975,212: „um 1250"). Inzwischen hat jedoch Hugo Suolahti (1929,297; 1933,381) forme bei Herbort von Fritzlar nachgewiesen: „lVi/ ich die forme merke so mv^ ich drisinnic sin" (liet von Troye, V.62f.) Mit dieser Vordatierung in die Zeit um 120052 gewinnt auch die schon früher 53 gelegentlich vertretene Auffassung, mhd. vorme samt der zugehörigen 51

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So Brockhaus-Wahrig. Deutsches Wörterbuch in sechs Bänden. Hrsg. v. Gerhard Wahrig/ Hildegard Krämer/Harald Zimmermann. 6. Bd. Wiesbaden 1984,394; Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Hrsg. u. bearb. vom Wissenschaft!. Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion u. L. v. Günther Drosdowski. Mannheim/Wien/Zürich 1983, 1325. Vgl. andererseits Unform in dem Roman ,Das Impressum' (Berlin 1973) von Hermann Kant (Nachweis in: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Bd 6. Mannheim/Wien/Zürich 1981, 2688). Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Hrsg. v. Kurt Ruh. Bd 3. Berlin/New York 1981, 1027 f.: zwischen 1190 und 1217. Vgl. etwa Heyne WB 1, 955 sowie Friedrich Seiler: Die Entwicklung der deutschen Kultur im Spiegel des deutschen Lehnworts. 2. Teil. 2. Aufl. Halle 1907, 114 f. („Neue modische

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Sippe 54 sei auf dem Boden der höfischen Kultur erwachsen und deshalb aus dem Altfranzösischen entlehnt, neue Nahrung, zumal gegen eine Gleichung afrz. forme = mhd. vor me keinerlei lautliche Bedenken vorzubringen sind. Die Ableitung aus der altfranzösischen gelehrten Form müßte dann aber gleichermaßen für mnl. vorme gelten; es wäre schlechterdings nicht einzusehen, warum sich das immer wieder — besonders eindringlich von Öhmann (1931) — als Umschlagplatz für mittelalterliche Gallizismen nachgewiesene Niederländische ausgerechnet der Expansionskraft von afrz. vorme hätte entziehen sollen. Daß bei der D u r c h s e t z u n g von mhd. vorme die Rolle der geistlichen Prosa und vor allem der (scholastisch beeinflußten) Mystik heute klarer gesehen wird, 5 5 sei im Hinblick auf die rezente Historiolexikographie des Deutschen nur am Rande kritisch erwähnt. Mit diesem Ausblick auf die Geschichte von nhd. Form stellt sich aber auch die Frage nach dem semantischen Gehalt unseres Etymons im 13. bis 15. Jahrhundert aufs neue. Einerseits war dem Altfranzösischen die für Furm angesetzte Bedeutung .gesittetes Benehmen' ebenso fremd 5 6 wie dem klassischen Mittelhochdeutschen 57 , andererseits ist sie im Mittellatein sehr wohl nachweisbar 58 . Den aus dem Lateinischen kommenden Einflüssen wird sicher noch nachzugehen sein. Zu welchen Ergebnissen auch immer die historische Semantik kommen mag, unberührt davon bleibt die Genese der OjU-Doubletten im Altfranzösi-

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Ausdrücke für die Art und Weise des Betragens und Gebarens sind [im 12. Jh. die französischen Lehnwörter] mattiere [...] und forme"). Später (3. Aufl. 1921) verschiebt Seiler, offenbar unter dem Eindruck der genannten Spätdatierung („erst um 1250"), das kulturelle Entlehnungsumfeld vom „höfischen Benehmen" (S. 133) zum städtisch-bürgerlichen Gewerbe (S. 157: „Gewerkwort"). Ein von Rosenqvist 1932, 266 für die erste Hälfte des 14. Jhs. angesetztes Verbum formieren läßt sich nicht verifizieren, weil Verf. den erforderlichen Stellennachweis nie publiziert hat. Zu mnd. formeren vgl. im übrigen Katara (1966, 483 f.). Vgl. neben den Fundstellen bei Suolahti (1929, 297; 1933 passim) vor allem Otto Zirker: Die Bereicherung des deutschen Wortschatzes durch die spätmittelalterliche Mystik. Jena 1923, 48 — 50 (Neubildungen zu forme)·, Grete Lüers: Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg. München 1926 (Neudr. Darmstadt 1966), 1 8 4 - 1 8 6 (forme mit Ableitungen); Hermann Kunisch: Spätes Mittelalter (1250-1500). In: Deutsche Wortgeschichte. 3. Aufl. Hrsg. v. Friedrich Maurer/Heinz Rupp. Bd 1. Berlin/ New York 1974, 2 5 5 - 3 2 2 (280, 285, 308 u. ö.). Im FEW (3,714) wird die Bedeutung ,Form des Handelns' erst seit dem 15. Jh. angesetzt. Zur Bedeutungsentwicklung von mhd. vorme vgl. Trübner (WB 2, 417) sowie DudenEtymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. v. Günther Drosdowski/ Paul Grebe. Mannheim/Wien/Zürich 1963. (Duden 7),180 f. Du Cange: Glossarium mediae et infimae latinitatis. Unveränderter Nachdr. der Ausg. von 1883 — 1887. 2. Bd. Graz 1954, 563 (Nr. 7: „Modus seu ratio agendi in negotiis quibusque").

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sehen, Mittelenglischen und Frühneuhochdeutschen (Karte 6), unberührt bleibt damit aber auch die historisch-lexikalische Autonomie von obd. der Furm. Literatur ALF = Atlas Linguistique de la France. Hrsg. v. J. Gillieron/E. Edmont. Paris 1902—1906. Aschwanden/Clauss Urner WB = Felix Aschwanden/Walter Clauss: Urner Mundart-Wörterbuch. Altdorf 1982. Behaghel 1928 = Otto Behaghel: Geschichte der deutschen Sprache. 5. Aufl. Berlin/Leipzig 1928. (Grundriß der germanischen Philologie 3).

Obd. der Furm — eine etymologische Doublette von nhd. die Form

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242

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langue fran

mhd. buost {m., η.) ,Strick aus Bast' (Meid 1 9 6 7 , 5 1 — 5 2 ) . Ä h n l i c h e sekundäre Bildungen, i m m e r mit D e h n s t u f e und mit Z u g e h ö r i g k e i t s - o d e r K o l l e k t i v b e d e u t u n g , sind auch ahd. muor .Gewässer, Meer, S u m p f

zu germ.

*mari-

,Meer', ahd. huon ,Huhn' zu germ. *hanan- ,Hahn' (Meid, ebenda), anord. dagr ,halber Tag' ( = germ. *dögi-, zu *daga- ,Tag'). 9

6. D i e e t y m o l o g i s c h e V e r w a n d t s c h a f t v o n Besen u n d

Bast

Besen u n d Bast g e h ö r e n also d o c h zusammen, aber nicht ü b e r ein imaginäres ,binden', s o n d e r n über idg./vorgerm. *bf>es- .abreiben'. Diese Wurzel (Primärv e r b ) ist im G e r m a n i s c h e n als V e r b nicht m e h r erhalten, sie lebt n u r n o c h in den alten v o r g e r m a n i s c h e n A b l e i t u n g e n *bhes-mon- > Besen u n d *bhos-to-

>

Bast weiter. W i r haben somit die n o r m a l e e t y m o l o g i s c h e Situation v o r uns: 8

9

David Dalby (1965, 11 — 13) bezweifelt die etymologische Identifikation dieses bei Gottfried vorkommenden Jägerausdrucks mit bast ,Bast' und möchte ihn als eine Entlehnung aus afrz. past .Nahrung, Mahlzeit', als Jägerausdruck ,Anteil der Hunde am erlegten Wilde', deuten. Sein Hauptargument, eine dreistufige Bedeutungsentwicklung „bark" > „hide" > „flaying" > „breaking up (a stag)" ohne bekannte Zwischenstufen sei unwahrscheinlich, entfallt aber mit unserer neuen Etymologie, nach der ,Enthäutung' bzw. .Zerlegung' gerade der ursprünglichen morphologisch-semantischen Motivation von *bhos-to- ( > germ. *basta- > mhd. hast) genau entspricht. Es dürfte nun keinen Grund mehr geben, an eine Entlehnung aus dem Französischen zu denken (vgl. auch die Zusammensetzungen bast-list und bast-site und das abgeleitete Verb en-besten ,das Wild enthäuten u. zerlegen', alle drei ebenfalls bei Gottfried). Diese altertümliche Vrddhi-Bildung ist zugleich ein Hindernis für diejenigen Etymologien, die Bast als eine Entlehnung erklären wollen (Jacobsohn 1929, 237 — 242: aus dem Skythischen, vi. avestisch basta- [Part. Perf. Pass.] .gebunden', ossetisch bast ,gebunden, Bündel, Päckchen', zu idg. *bhendh- .binden'; Szemerenyi 1954, 211—213: aus dem Illyrischen unter Annahme einer illyrischen Entwicklung *bhndh-t- } *bast, wieder zu idg. *bhendh- .binden'). Die von Jacobsohn als eine Art Parallelbeispiel vorgelegte Erklärung für wotjakisch bun .eingeweichter und zerfaserter Lindenbast' = syrjänisch bon ,Bast, bes. Lindenbast' aus mitteliran. band oder bond ( = avest. banda .Band, Fessel') kann auch kaum richtig sein, und zwar schon aus lautlichen Gründen: vgl. ζ. B. syrj. pad = wotj. pad in syrj. pad-ve% .Kreuzweg' usw. aus mitteliran. *pand (vgl. aind. pänthäh .Weg, Pfad, Bahn' = avest. pantä), s. Redei 1986, 74. Hypothetisch bleibt die alte Erklärung von K. F. Johansson (1906, 121): < *bhads-tu-, -to- (idg. *bhad-?), vgl. messap. (?) bastä ,Schuhe' (bei Hesych.), s. Chantraine 168.

Besen und Bast

255

Das Grundwort, die Wurzel, ist ausgestorben, ihre Ableitungen leben weiter und sind selbst zu neuen Grundwörtern geworden. So haben etwa auch ahd. simo ,Band' und ahd. seil, nhd. Seil längst kein Grundwort mehr, es war die verbale Wurzel idg. *sei- ,binden' (urspr. wohl *sHei-, s. Hamp 1983, 72 — 73), vgl. aind. sinäti ,bindet' oder lit. sieti .binden'. Auch für Hahn gibt es kein Grundwort mehr, so daß seine ursprüngliche Motivation als ,Sänger' nicht mehr bewußt ist: idg. *kan- ,singen' ( = lat. can-ere) ist geschwunden. Wenn idg./vorgerm. *bhes- als Verb im Germanischen erhalten wäre, würde es offenbar die fünfte Ablautreihe vertreten: heute * besett, has, gebesen, wie lesen, las, gelesen.10 7. Ausblick auf germanisch-finnische Sprachkontakte Mit lesen kommen wir zum Finnischen zurück. Das einzige verbale Reimwort von finn. pese- ,waschen, scheuern' ist das heute sehr seltene finn. lese- (Inf. lesta) ,Mehl (vor allem durch Sieben) von Kleie reinigen, beuteln'. Wie fieseaus vorgerm. *bhes-, ist lese- offensichtlich aus (vor)germ. *les- > dt. lesen usw. entlehnt. In verschiedenen germ. Sprachen wird lesen urspr. ,pflücken' im Sinne von ,sortieren, reinigen, das Gute vom Schlechten trennen, auslesen' gebraucht. Doch darauf könnnen wir jetzt nicht mehr eingehen. Generell muß aber auch hier hervorgehoben werden, daß die finnischen Grundstämme stärker mit germanischen und vorgermanischen lexikalischen Entlehnungen durchsetzt sind, als noch vor einiger Zeit gemeinhin angenommen wurde. Die germanisch-finnischen Berührungen haben auch wesentlich früher eingesetzt, als man traditionell geglaubt hat: bereits in der Periode des Frühurfinnischen (s.z.B. Koivulehto 1981, bes. 363-368; Koivulehto 1986, bes. 286-287, und Hofstra 1985, 357-389). Dieses Ergebnis hat für die Periodisierung des Germanischen wichtige Konsequenzen. Die herkömmlichen mutmaßlichen (absoluten) Datierungen der vorliterarischen Sprachperioden erweisen sich im Lichte der germanisch-finnischen Lehnkontakte vielfach als zu spät. Als Beispiel sei nur der bekannte Übergang von idg. ο zu germ, a angeführt, d. h. der Phonemzusammenfall idg. /a o/ > germ. /a/. Auch diejenigen germ. Lehnwörter, die frühurfinnische Merkmale aufweisen, haben bereits frühurfinn. /a/ für germ, /a/ aus idg. /o/ (und dabei hatte das FinnischUgrische schon immer auch ein /o/).11 Das Zurückverschieben der Datierun10

11

Möglich wäre natürlich auch der Anschluß an die 6. Ablautreihe (germ, α—δ) gewesen (vgl. mhd. bast—buost), unter Preisgabe der idg. «-Stufe, wie bei einigen anderen ursprünglichen e-Wurzeln, ζ. B. fahren, fuhr (zu idg. *per~). Späte Datierungen für idg. ο > germ, α (in betonter Silbe) beruhen auf Material, das nicht beweiskräftig ist. Ζ. B. kann der Flußname Maas (vgl. Mosa) unmöglich beweisen, daß die Germanen diesen Namen schon v o r dem Wandel ο > α übernommen hätten (so Krähe 1954,

256

Jorma Koivulehto

gen steht durchaus im Einklang mit der generellen Tendenz in der Indogermanistik, herkömmliche Datierungen vorzuverlegen. Die noch älteren, idg. bzw. vorgerm. (und vorbalt.) Lehnwörter mit begrenzter westlicher Verbreitung im Finnisch-Ugrischen (s. Koivulehto 1983) scheinen von den Stämmen der schnurkeramischen Streitaxtkultur vermittelt worden zu sein, d. h. von jenen Stämmen, die man allgemein als indogermanisch ansieht, und deren Landnahme im Baltikum und im südwestlichen Finnland von den Archäologen heute auf 2500 — 2000 v. Chr. datiert wird. Auch die Übernahme des finn.-mordw. *pese- aus idg./vorgerm. *bhes- paßt am besten in diesen zeitlich-arealen Rahmen hinein.

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128, noch von Ramat 1981, 11 referiert), denn natürlich wäre dieselbe Form mit α auch dann zu erwarten, wenn die Entlehnung n a c h dem Wandel geschehen wäre: Die Germanen hatten dann eben nicht mehr die Opposition /o/ —/a/ und konnten (bzw. mußten) somit das fremde ο mit ihrem /a/ ersetzen — solange noch kein neues ο (aus /u/) entstanden war. Der Name Mosel weist schon dieses spätere ο auf und ist somit — wie auch Krähe meint — später entlehnt als Maas.

Besen und Bast

257

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Jorma Koivulehto

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III. Historischer Wortschatz

HERBERT W O L F

Die Bezeichnungen der Himmelsrichtungen bei Luther 1. Konkurrierende Bezeichnungsaspekte 2. Luthers metonymische Tageszeitenangaben 2.1. Abend 2.2. Morgen 2.3. Mittag 2.4. Mitternacht 3. Fakultative Varianten bei Luther 4. Die Qibla-Orientierung 5. Eine Selbstkorrektur bei Luther 6. Lateinische Bezeichnungen bei Luther 7. Ergebnis: Luthers Konsistenz der Tageszeitenmetonymien im Bibeltext Literatur

1. Konkurrierende Bezeichnungsaspekte Im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte haben die Bezeichnungen der Himmelsrichtungen eine wechselvolle Entwicklung vollzogen. Bis in den heutigen Wortgebrauch nachklingende Konkurrenzen und Varianzen lassen für deren Abklärung das Einbeziehen der für lexikologische Untersuchungen förderlichen Relation zwischen Wörtern und Sachen geboten erscheinen — einer vom Jubilar immer wieder und mit Nachdruck betonten methodischen Maxime. Dabei muß zuvörderst beachtet werden, daß hinter den Bezeichnungen der Himmelsrichtungen zwei grundlegend unterschiedliche Sachgegebenheiten stehen. Zum einen handelt es sich dabei um die räumliche Orientierung 1 sowie die daraus abgeleitete Zuordnung, die von der Sicht des Beobachters/ Sprachträgers ausgeht mit dem Bemühen, das sich um ihn Ausbreitende — von der unmittelbaren Umgebung an bis zu den außerhalb der Sichtweite liegenden Weltgegenden hin — zu unterscheiden und auch sprachlich zu erfassen. Was dabei zuerst zur Bezeichnung der H i m m e l s r i c h t u n g dient (etwa in 1

Diesen von der Ausgangsposition Richtung Sonnenaufgang abgeleiteten Begriff Orientierung verwendet man immer noch, obwohl seit Erfindung des Kompasses von der Ausrichtung der Magnetnadel nach Norden ausgegangen wird, mithin eigentlich Septentrionierung (nach dem römischen Sternbild Septem triones) praktiziert wird.

262

Herbert Wolf

der Aussage „er blickt nach Westen") kann dann auch auf die Himmelsgegend übertragen werden (etwa in der Aussage „sie wohnt im Osten"). Aus diesem Aspekt erklären sich nach geographischem Fachverständnis die Teilungspunkte des in bis zu 16 Einheiten gleichmäßig aufgegliederten Koordinatensystems des in der Kompaßrose nachgebildeten Horizontes. Aus diesen Zusammenhängen sich ergebende Übertragungsformen hat Barbara Maurmann (1976) in einer grundlegenden Arbeit untersucht, ausgehend von der Feststellung, daß die Kardinalrichtungen über ihre primäre Funktion hinaus mit ihrer Viergliedrigkeit die Gesamtheit des kosmischen Raums konstituieren: „Als die elementarsten lokalen Faktoren dienen sie zur ordnenden Untergliederung des Universums in überschaubare, durch jeweils charakteristische Eigenschaften geprägte Weltgegenden." (Maurmann 9). Und umgekehrt spiegeln die Himmelsrichtungen „einen auf die Erde projizierten solar-astronomischen Sachverhalt wider, der ... die jeweilige Lagebestimmung dem universalen Koordinatensystem einordnet." (Ebenda). Namentlich aus der Entwicklungsgeschichte der Bezeichnungen der Himmelsrichtungen im Deutschen muß ergänzend darauf hingewiesen werden, daß dabei auch die auf den Beobachter/Sprachträger aus verschiedenen Richtungen zukommenden W i n d e eine wichtige Rolle spielen und schließlich nach metereologischem Fachverständnis in die bis zu 64 Striche umfassende Windrose eingeteilt werden. Wenn im Mittelpunkt dieses Beitrags Luthers Bezeichnungen der Himmelsrichtungen 2 stehen sollen, dürfen somit von ihm für die Windrichtungen gebrauchte Ausdrücke nicht unbeachtet bleiben. Gehen sie doch den für die Himmelsrichtungen verwendeten in der Regel sogar voraus 3 und sind auch für den einschlägigen Gebrauch Luthers belangvoll 4 — ζ. B. als aufschlußreiche Verbindungsglieder zwischen dem älteren und rezenten Anwendungsbereich im Deutschen. Bei historischer Betrachtung ist auszugehen von den bereits im Germanischen verbreiteten Ausdrücken, die schließlich zu den standarddeutschen Ausprägungen Osten, Westen, Süden, Norden geführt haben. Korrekterweise müßte es heißen: erneut geführt haben, weil diese traditionsreiche Bezeich-

2

3

4

Luther kennt das Wort Himmelsrichtung nicht (das übrigens nicht einmal im DWB als Lemma angesetzt ist), setzt stattdessen entweder Ort mit den Pluralformen Ort, Orter, Örter (vgl. besonders seine Marginalie zu 2. Mos. 35,22 ff./l 545 sowie weitere Nachweise im DWB VII Sp. 1354) oder eben bezeichnenderweise Wind, Winde; der betreffende Abschnitt zu diesem Lemma im D W B XIV/2 Sp. 236 f. zieht keinen der zahlreichen Lutherbelege heran. Bekanntlich dienen ζ. B. Homer die Windnamen zur Bezeichnung der Himmelsgegenden — siehe Tallqvist 105 — 185, bes. 106 und 130 mit weiteren sachkundlichen und sprachvergleichenden Angaben. Dazu mein Beitrag: Die Windbezeichnungen bei Luther. In: Studien zum Frühneuhochdeutschen. Festschrift für Emil Skala. Hrsg. von Peter Wiesinger. Göppingen 1988. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik).

Die Bezeichnungen der Himmelsrichtungen bei Luther

263

nungsgruppe nur zeitweilig (vom Spätmittelalter an) aus dem hochdt. Sprachraum verdrängt war. Der zeitliche Ansatz und Verlauf dieses Verdrängungsprozesses wird in der Fachliteratur zwischen dem Mhd. und dem 16. Jahrhundert schwankend angesetzt. Zweifellos handelt es sich um einen langwierigen und zudem in Sprachräumen und Textsorten variabel verlaufenden Vorgang. Dabei vermochte sich die alte Bezeichnungsgruppe Osten, Westen, Süden, Norden lediglich in niedersächs. und niederfränk. Dialektgebieten zu halten, bis sie vom Ende des 16. Jahrhunderts an neuerlich ins Hochdeutsche vorgedrungen ist, um dann vollends die Vorherrschaft gegenüber konkurrierenden lexikalischen Varianten zu erhalten. Das Schicksal dieser Bezeichnungsgruppe für die Himmelsrichtungen verdeutlicht, daß angestammtes deutsches Wortgut zurückgedrängt werden konnte, wenn es vornehmlich mit der See und der Schiffahrt in Verbindung stand. 5 Als lexikalische Varianten waren in die entstandene Lücke vor allem die metonymisch umfunktionierten ursprünglichen Tageszeitangaben Morgen, Abend, Mittag, Mitternacht eingetreten. Als Teilkonkurrent trat außerdem das auf der solaren Orientierung beruhende Bezeichnungspaar Aufgang, Niedergang (bzw. Untergang) auf, das sachbedingt keine eigenen Entsprechungen für Süden/Mittag sowie Norden/Mitternacht aufzuweisen hat. Gegenüber diesen volkläufigen Ausdrücken blieben die aus dem Lat. übernommenen Orient, Okzident (sowie in eingeschränktem Maße Meridies, Septentrio) vorwiegend auf den Sprachgebrauch gelehrter Kreise beschränkt. 6 Luther ist mit allen genannten Bezeichnungsvarianten vertraut, verwendet sie allerdings unter weitgehend sachentsprechendem Aspekt gegebenenfalls auch vorlagegebunden mit sehr unterschiedlicher Gewichtung. Das zeigt sich namentlich in seiner Bibelübersetzung, deren diesbezüglicher Wortgebrauch für diese Untersuchung vollständig berücksichtigt und mit Parallelüberlieferungen verglichen wurde. 7 Wie Luther in seinem sonstigen deutschen Sprachschaffen die Himmelsrichtungen bezeichnet, muß hier aus arbeitsökonomischen Gründen und der lexikographischen Voraussetzungen wegen auf vorläufige Einblicke beschränkt bleiben.

5

Mit diesen Fragen setzte sich wiederholt Gerhard Ising auseinander, zuerst in einem 1 9 6 5 gehaltenen und gedruckt vorliegenden Vortrag, dann in seiner Leipziger Habilitationsschrift (1968).

6

Einen guten Überblick über die semasiologische Entwicklung vermittelt Hugo Wehrle (1905-1907).

7

Für das Aufsuchen der über Konkordanzen und Register erschlossenen Belege danke ich Frau J. K o l b e sowie den Herren N. Haas, M A . und M. Krieger. Herr G. Kolbe war dankenswerterweise bei der Abklärung hebr. Nachweise behilflich. — Im folgenden werden die Bibelzitate nach der letzten zu Lebzeiten Luthers herausgekommenen

Wittenberger

Ausgabe von 1545 angeführt, sofern keine anderen Vermerke gegeben sind. Zitate aus Luthers sonstigen Werken sind der Weimarer Gesamtausgabe entnommen (Abkürzung W A ) .

264

Herbert Wolf

2. Luthers metonymische Tageszeitenangaben In der von ihm vorgefundenen Auseinandersetzung konkurrierender Synonyma bevorzugt Luther für seine Verdeutschung der Heiligen Schrift eindeutig die erst nach dem Mhd. metonymisch auf die Himmelsrichtungen übertragenen Bezeichnungen der Tageszeiten Morgen, Abend, Mittag, Mitternacht. Diese waren zulasten ihrer auf niederdt. Gebiet zurückweichenden Entsprechungen Osten, Westen, Süden, Norden8 aus dem Oberdt. vorgedrungen, und mit seiner Entscheidung für das vordringende Wortgut unterstreicht Luther seine ausgleichsfördernde Bereitschaft. Gegenüber dieser Präferenz sollte indes nicht Luthers umfassendere Kompetenz auf jenem Bezeichnungsfeld in Gestalt weiterer Synonyme oder Entsprechungen übersehen werden. Gelegentlich gehen sie sogar in seinen aktiven Sprachgebrauch ein und können einerseits als Bindung an bestimmte Traditionen, andererseits als Niederschlag sorgfaltiger Wortwahl gelten. Bevor wir diese sonstigen Varianten behandeln, soll Luthers Vorliebe für die aus geozentrischer Sicht den unterschiedlichen Sonnenstand (und damit den Tagesabschnitt) ausdrückende Bezeichnungsgruppe Morgen, Abend, Mittag, Mitternacht samt ihren kontextualen Anwendungsformen, Komposita und Ableitungen untersucht werden. 2.1. Abend Dabei soll das Wort Abend an den Anfang gestellt werden, weil es gegenüber den drei anderen Vertretern dieser Bezeichnungsgruppe lexikographisch am besten aufgearbeitet ist — findet es sich doch bereits sowohl in der Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs (DWB Neubearb. I, Sp. 124 ff.) als auch in der ersten Lieferung des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs (FWB I, Sp. 50 ff.). — Luthers Bevorzugung von Abend (das er bis 1534 überwiegend abent schreibt) verdient um so mehr Beachtung, als das Wort vor ihm nur spärlich im Sinne von ,Westen' nachgewiesen ist. Es wird von ihm von Anfang an in seiner Bibelübersetzung, aber auch in seinen sonstigen deutschen Schriften favorisiert, während die vorlutherischen hochdt. Drucke der Heiligen Schrift 9 zwischen Untergang, Niedergang10 sowie Okzident schwanken und die Lübecker Bibel von 1494 das im Küstenbereich geläufig gebliebene Westen benutzt. Die katholische Konkurrenzbibel Ecks greift vereinzelt zu Abend, entscheidet sich ansonsten für das oberdt. Niedergang, oft mit dem Zusatz: der Sonnen (Lindmeyr besonders 36 und 74). 8

Diese zieht Luther nur zur Bezeichnung der Winde heran — vgl. A n m . 4.

9

Wir stützen uns dabei namentlich auf die von William Kurrelmeyer besorgte Ausgabe der Reihe BM.

10

Beide auch bei Luther s. unten S. 3.

Die Bezeichnungen der Himmelsrichtungen bei Luther

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Im auffälligen Unterschied zu oberdt. Bibeldrucken des 15./16. Jahrhunderts bildet Luther mit Vorliebe Komposita und Ableitungen zu den Grundwörtern für die Himmelsrichtungen, die nicht selten den Beginn der gebuchten lexikalischen Uberlieferung verkörpern oder gar als hapax legomena anzusehen sind. Zur letztgenannten Kategorie gehören die beiden Adverbien, mit denen Luther 1534 hebr. boqär und 'äräb in Ps. 65,9 wiedergibt: „Du machstfrölich was da webert / beide des morgens vnd abents." Die in diesem Text verwendete Richtungsaussage wird u. a. in der revidierten Lutherbibel von 1975 und in Hermann Menges Übersetzung mit Osten und Westen verdeutscht. — Am Anfang einer breiteren Überlieferung steht Luthers Richtungsadverb abendwärts, das neben seinem sonstigen Gebrauch neunmal in der Bibel erscheint — allerdings noch schwankend zwischen Verbindung mit den Präpositionen gegen, von, %um sowie Trennung oder Zusammenschreibung bezüglich der nachgefügten Richtungsbezeichnung, also ζ. B. %um Abend werts (Jos. 19,11/1545) gegenüber %um abendwerts (ebenda/1534), von weiteren graphematischen Varianten abgesehen. Unter den Substantivkomposita findet sich kein Lutherbeleg * Abendland als Pendant für das offenbar vom Reformator geprägte, häufig angewandte und dann allgemein eingebürgerte Morgenland (s. unten 2.2.) sowie den weniger akzeptierten Entsprechungen Mittagsland, Mitternachtsland. In diesem Zusammenhang verdient aber folgender Predigtbeleg Aufmerksamkeit: wer „an Christum gleubt, gott gebe, ehr sej aus dem morgen lande oder abendt, so hat keiner keinen vortteil fur dem andern" (WA 47 S. 236). Vielleicht läßt sich daraus eine elliptische Kompositionsentsprechung Abendland zum vorausgehenden morgen lande ablesen, gibt es doch eine aufschlußreiche Parallele aus dem 17. Jahrhundert: die liebe die ihn hatt so heftig eingenommen, das% er aus morgenland war in den abend kommen. Dieser als Erstbeleg im DWB (Erstbearbeitung) I Sp. 23 gebuchte Beleg stammt aus Dietrich von dem Werders „Ariosts rasender Roland" Leipzig 1632, Τ. I, 46. Das Fehlen des Wortes Abendland in Luthers Bibelverdeutschung ist natürlich auch von sachlichen Gegebenheiten abhängig, ist doch aus der Sicht des Alten Testaments die kennzeichnende geographische Erscheinung westlich der Israeliten das Meer, das dementsprechend auch häufig als Bezugsobjekt bei Grenzbeschreibungen herangezogen wird (s. unten 3.). Die auf geringen maritimen Interessen beruhenden kulturhistorischen Voraussetzungen Israels spiegeln sich vollends in der relativ niedrigen Belegzahl für die von Luther Abend genannte Himmelsrichtung. — Ein nicht vor Luther nachgewiesenes Kompositum ist noch aus einer Predigt des Jahres 1545 anzuführen: „Denn wir das Abent ν ο Ick sein gegen ferusalem" (WA 49 S. 674), das offenbar als

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spontane Gelegenheitsbildung nicht anderweitig von ihm gebraucht worden ist (FWB I, Sp. 60; DWB Neubearb. I, Sp. 148). 2.2. Morgen Gegenüber seiner eben dargelegten geringen Wortbildungsproduktivität beim Richtungsgrundwort Abend liefert Luther zu Morgen, Mittag, Mitternacht eine größere Anzahl an Komposita und Ableitungen, die mehrheitlich Entsprechungen bei allen drei genannten Simplicia aufzuweisen haben — bezeichnenderweise jedoch noch nicht in den hochdt. Bibeldrucken vor ihm. Dem DWB VI (Sp. 2562 f.) zufolge scheint Morgen das ältere Osten nicht vor dem 15. Jahrhundert abgelöst zu haben, ja die Belege setzen ebenda erst nut Luther ein. 11 Morgen ist zwar das in seiner Bibelübersetzung und seinen sonstigen deutschen Werken klar bevorzugte Synonym für Osten, doch steht ihm gegenüber immerhin ein knappes Drittel der Belege mit Aufgang (der Sonnen) (s. unten 3.). Hierbei handelt es sich somit um einen Ausnahmefall unter Luthers Himmelsrichtungsbezeichnungen durch einen ernsthaften Konkurrenten. Überdies muß ein Teil seiner Morgenland-Belege als weitere fakultative Variante im Anschluß an griech. anatole hierzu gerechnet werden. Dieses offenbar erst von Luther geschaffene Kompositum Morgenland ist bemerkenswerterweise als einzige von all seinen vielen Himmelsrichtungsbezeichnungen samt ihren Kompostia und Ableitungen in den zwischen 1522 und 1538 erschienenen oberdt. Glossaren zu Drucken der Lutherbibel für erklärungsbedürftig gehalten worden: Es erscheint erstmals in A. Petris NT-Ausgabe (Basel 1522) mit dem Interpretament auffgang der sonnen (Dauner 84 f.). 12 Doch nach der Mitte des 16. Jahrhunderts bürgert sich Morgenland auch in der Literatursprache der deutschen Schweiz ein (Bachmann, besonders 66; ferner dazu Byland), indes die Bugenhagenbibel ihrer niederdt. Bindung gemäß Ostenlant(e) (ζ. B. Matth. 2,2) und BM/Zainer osterlant (ζ. B. in 4. Mos. 21,11) dafür setzt. Morgenland wird von Luther sowohl in handschriftlicher wie gedruckter Fassung überwiegend zusammen geschrieben, indes seine sonstigen Nominalkomposita — auch jene für Richtungsangaben — meist noch Bestimmungs- und Grundwort voneinander trennen. Der ausschließlichen Singularform Morgenland in Luthers Bibel stehen überwiegend Pluralformen in seinen anderen deutschen Schriften gegenüber, bei dt.-lat. Mischtext sogar als Übersetzung für oriens (WA 52, S. 440). Eigenprägungen des Bibelübersetzers Luther sind ferner Morgengrenqy, Morgenort, morgenwärts und morgens. Letztgenanntes steht in der Funktion des 11

Der dort angeführte ältere Beleg für den Ostwind ist hier aus sachlichen Gründen irrelevant.

12

Den überraschenden Verzicht auf solche Glossare nach 1538 möchte Dauner damit erklären, daß „man sich ziemlich rasch an Luthers Sprachschatz gewöhnt zu haben" schien.

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Regionaladverbs in Ps. 65,9 als Pendant zum bereits oben 2.1. behandelten abends. Das DWB berücksichtigt diese beiden semantischen Ausprägungen gar nicht, indes dort die Komposita Morgengren^e und Morgenort ausschließlich mit den jeweiligen Nachweisen aus der Lutherbibel vertreten sind (VI Sp. 2570 und 2574). Allein für das Richtungsadverb morgenwärts, das mit mehreren Lutherbelegen (auch außerhalb der Bibel, etwa in WA 19, 371) einsetzt, sind jüngere Nachfolger — und zwar bis zum 19. Jahrhundert — gebucht (DWB VI Sp. 2586). Es wird mit den Präpositionen gegen, von verbunden und benutzt vorwiegend noch die Gestalt freier Fügung: morgen werds, Variante Morgen rnrts (in 5. Mos. 2,26 seit AT 1/1523 freilich falsch übereinstimmend mit der Zürcher Bibel von 1531 anstelle des Toponyms Kedemoth). Schließlich ist hierzu noch der Sonderfall einer über die vier Kardinalen hinausgehend differenzierten Richtungsbezeichnung anzuführen 13 . Luthers Verdeutschung lautet: er „set^t das Meer auff der rechten ecken gegen morgen / %um mittage werts" (2. Chron. 4,10/1545), indem er die beim Bau des Salomonischen Tempels angegebene südöstliche Himmelsrichtung (für hebr. kedmäh nägbäh, das in der Vulgata contra orientem ad meridiem lautet) mit dem ihm eigenen Vokabular umschreibt. Den nahezu entsprechenden Wortlaut des Urtextes (kedmäh nägäb) in der Parallelstelle 1. Kön. 7,39 gibt er 1545 folgendermaßen wieder: „das Meer setzet er t^ur rechten forn an gegen mittag. 2.3. Mittag Bei Luthers Entscheidung für Mittag im Sinne von ,Süden' sollte nicht unbeachtet bleiben, daß die von ihm gewählte Wortgestalt laut DWB VI Sp. 2370 erst nach dem 16. Jahrhundert die „zusammengerückten versteinerten formen des adjectivs und substantivs" verdrängt. Bemerkenswerterweise begegnet das schon im Mhd. einsetzende Mittag Konkurrenten wie mittentag, mittemtag sowohl in den hochdt. Bibeldrucken vor ihm, als auch in Ecks Verdeutschung der Heiligen Schrift neben ihm. — Dazu finden sich bei Luther einerseits isoliert gebildete Kompositia wie Mittagstor (stets in Gestalt von mittags thor) und Mittagsgren^e (stets in Gestalt von mittags grent^e), andererseits das durch Parallelformen gestützte Mittagsland, bei dem die Singularfassung und die Zusammenfügung der Kompositionsglieder überwiegen. Dazu gibt es ebenfalls ein Richtungsadverb und zwar verbunden mit den Präpositionen gegen, von stets in freier Fügung und meist in Gestalt von mittag werts (gelegentliche Varianten: Mittag werts, mittag(e) werds). Eine

13

Aus zwei Richtungsbezeichnungen gebildete Komposita für die Unterteilung der Kardinalen zieht Luther f ü r die Terminologie von Winden heran in A p g . 27, 12 und 14.

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lediglich in der Bibel von 1545 auftretende Fassung spezifiziert die Richtungsangabe durch das zusätzlich eingefügte Adverb her. „... darauff wars / wie eine gebawete Stad vom mittag her werts" (Hes. 40,2). 2.4. Mitternacht Die vierte Kardinale der Himmelsrichtungen ist aufgrund der reichen biblischen Überlieferung auch bei Luther am stärksten vertreten und wird von ihm durchweg Mitternacht genannt. In den vorausgegangenen hochdt. Bibeldrucken standen dafür noch das bis zum 17. Jahrhundert im Oberdt. greifbare mit(t)nacht (DWB VI Sp. 2426) sowie das aus dem Lat. entlehnte aquilon. Luther bildet auch dazu Komposita, die allerdings nur je einmal in seiner Bibelverdeutschung bezeugt sind: „von dem mitternachts ort" (Jos. 15,7) sowie „aus dem mitternacht Lande" (Sach. 2,6/10); auch das DWB VI Sp. 2420 kennt keine weiteren Belege. — Das dazugehörende Richtungsadverb verbindet Luther mit den Präpositionen von, gegen, ^u(r), wobei den überwiegenden Formen mit unverbundenen Gliedern (ζ. B. mitternacht werts, mitternacht werds) das vereinzelte Kompositum mitternachtwerds (Jos. 18,12/1534) gegenübersteht. 3. Fakultative Varianten bei Luther Als Zwischenergebnis der bisherigen Untersuchungen verdient festgehalten zu werden, daß Luthers Verdeutschung der Heiligen Schrift im Unterschied zu den vielen Bibelübersetzungen vor und neben ihm ausgesprochene Vorliebe für die Handhabung der miteinander korrelierenden, nach gleicher Bedeutungsgruppe gebildeten Himmelsrichtungen Abend, Morgen, Mittag, Mitternacht aufweist. Das heißt freilich nicht, daß er an deren Stelle gänzlich auf Synonyme bzw. fakultative Varianten verzichtet; solche gibt es namentlich für Abend und Morgen und zwar meistens vom Urtext her gestützt. Das soll im folgenden dargelegt werden. Im Neuen Testament erscheint für griech. djsmai vornehmlich Abend, lediglich bei Matth. 24,27 das laut DWB VII Sp. 759 seit dem Mhd. nachgewiesene Niedergang. Diese Ausnahme beruht zweifellos auf kontextualen und sachbedingten Voraussetzungen, sie weicht demnach in Luthers autorisierten Bibeldrucken diesbezüglich nicht von der Erstfassung des September-Testaments ab: „gleych wie der blix aus gehet vom auffgang vnnd scheinet bis %um nydder gang'. In Ecks NT ist das Verhältnis zwischen Abend und Niedergang nahezu umgekehrt. Im AT wendet Luther Niedergang mehrfach an, allerdings vom nachstehenden Beleg abgesehen in Übereinstimmung mit dem Urtext, worin hebr. ma'aräb oder mebß hasämäs ausdrücklich auf den Sonnenstand Bezug nehmen. Jene Ausnahme betrifft die Wiedergabe von Ps. 75,7 im Druck von

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1545: „Es habe kein not /weder von auffgang / noch von nidergang." Einmal erweitert Luther diesen Ausdruck um den vorangestellten adnominalen Genetiv: „gegen der Sonnen nidergang' (5. Mos. 11,30). Das im vorstehenden Kompositum als Bestimmungswort auftretende Adverb nieder benutzt Luther versehentlich bei der Übersetzung der von König David veranlaßten Volkszählung (2. Sam. 24,6), indem er bereits in der ersten Fassung, der Handschrift von 1523 (WA DtB 1 S. 139) das im Urtext erscheinende hebr. tahtim — offenbar in Anlehnung an die Vulgata: „in terram inferiorem Hodsi" — mit dem Bestimmungswort nieder wiedergibt statt textgemäß mit dem Namen der Hetiter: sie „kamen gen Gilead vndjns [ n j d derjland (der nydern) vnter Hadsi". Diese Formulierung geht dann in die Ausgabe des ersten Teils des AT von 1524 folgendermaßen ein: sie „kamen gen Gilead, vndjns njdder land Hadsi" (WA DtB 9/1 S. 384). Dem scheint die Zürcher Bibel von 1531 zu folgen: sie „kamend gen Gilead / vnnd ins niderland Hadsi". Luthers Versehen wurde in den Nachdrucken seiner Bibel bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts entsprechend der Ausgabe letzter Hand von 1545 {„...ins Niderland Hadsi") beibehalten und erst in der revidierten Fassung von 1975 richtiggestellt zu: „...%um Land der Hetiter nach Kadesch , entsprechend der Verdeutschung in der Zürcher Bibel von 1951 und der von Hermann Menge besorgten Ausgabe. — Das gleiche Adverb nieder findet sich dann auch im Kontext einer 1537 veröffentlichten Lutherschrift: „...solche lender gehören χι* dem alten Rdmischen nidder Reich oder Occidentischem Reich" (WA 50 S. 75 mit der Fußnote: „Reich des Niederganges (occidentis)?"). Vielleicht ist damit das Weströmische Reich seit der Teilung nach dem Tode Theodosius' d. Gr. gemeint, das auch als abendländisches Reich' bezeichnet wurde. — Die Richtungsangabe nieder steht außerdem hinter der „inferior Germania", die Luther bei der Kennzeichnung seiner Sprache im lat. Kontext erwähnt (WA TR 2 S. 639), womit nun allerdings die nördliche Region gemeint ist. 14 Ein einziges Mal verdeutscht Luther die oben angeführte hebr. Vorlage nicht mit Niedergang, sondern mit dem Synonym Untergang ,Westen, Abend', nämlich in der Bibel von 1545 bei Jos. 23,4: „... alle λ/bicker die ich aus gerottet habe [vom for dan an] vnd am grossen Meer gegen der Sonnen vntergang." 14

In diesen Zusammenhang gehören ferner seine Ausdrücke superior Germania, Oberlendische spräche, Ober- und Niederländer usw., die bereits vor ihm offenbar im Anschluß an Gegebenheiten der physikalischen Geographie Deutschlands entstanden sind. Diese Bezeichnungen könnten aber auch auf ost-orientierter Ausgangsposition beruhen, derzufolge gleichermaßen in oberdt. Mundarten der südliche (oder westliche) Oberwind dem nördlichen (oder nordöstlichen) Unter- bzw. Niederwind gegenüber gestellt wird. Vgl. Schwäbisches Wörterbuch, bearbeitet von Hermann Fischer und Wilhelm Pfleiderer. 6 Bände Tübingen 1904—36, Band 5, Sp. 20 und Band 6, Sp. 258 sowie Bairisches Wörterbuch von Johann Andreas Schmeller. 2 Bände Stuttgart/Tübingen 1 8 2 7 - 3 7 , Band 2, Sp. 950.

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Die dritte Bezeichnungsmöglichkeit für .Westen' im AT, das aus der geographischen Situation des Volkes Israel resultierende hebr. jam ,Meer', gibt Luther einesteils wortgetreu wieder, wobei jedoch die dahinterstehende Region durch zusätzliche Lageangaben verdeutlicht ist — so in 4. Mos. 34,6: „ABer die grent^e gegen dem Abend / soll diese sein / nemlich / Das grosse Meer" oder in Jos. 15,12: „DIE grent^e aber gegen Abend ist das grosse Meer" (beide nach der Fassung von 1545). Andernteils veranschaulicht er in Übereinstimmung mit dem Urtext diese Richtungsangabe durch ein stereotypes Adjektiv, so 1545 in 5. Mos. 11,24: „bis ans eusserste Meer sol ewr grent^e sein", ähnlich in 5. Mos. 34,2 und Joel 2,20. In weiteren Fällen hält Luther offenbar die wörtliche Wiedergabe des hebr. yam ,Meer' für unzureichend und ersetzt es durch Abend, etwa in Hos. 11,10: „so werden erschrecken / die / so gegen Abend sind" — entsprechend in 5. Mos. 33,23, ferner in 1. Mos. 13,14 (jeweils Ausgabe 1545), wo er überdies die im Urtext unsystematisch bezeichneten Himmelsrichtungen durchweg mit den metonymischen Tageszeitangaben verdeutscht. — Auch neuere Übersetzungen der Heiligen Schrift wie die Zürcher Bibel von 1951 oder die revidierte Lutherbibel von 1975 verfahren mit den genannten Belegen ausgesprochen frei. Relativ häufig setzt Luther in seiner Bibelverdeutschung anstelle von Morgen das auch vor und neben ihm im Oberdt. gebräuchliche Synonym Aufgang, wobei diese Wortwahl nicht immer durch den Urtext bedingt ist. So wird das neutestamentliche anatole bald durch Morgen, bald durch Morgenland, bald aber auch durch das ansonsten im Oberdt. verbreitete Aufgang von ihm wiedergegeben. Das geschieht etwa in Luk. 1,78, wo überdies wohl des besseren Verständnisses wegen die Marginalie hinzugefügt wird: „ ( A u f f gang) Christus nach der Gottheit / ist der A u f f g a n g in der höhe vom Vater" (1545). — Während die knappe Hälfte der Lutherbelege Aufgang ohne zusätzliche Angaben bietet, wird ansonsten meist ausdrücklich noch die Sonne genannt, und zwar weitaus häufiger im vorangestellten adnominalen Genitiv (in der Regel: gegen der Sonnen auffgang) als in nachgestellter Position {gegen auffgang der Sonnen u. ä.). — Wie zum bevorzugten Synonym Morgen bildet Luther zu Aufgang ebenfalls ein Richtungsadverb, nämlich auffgang werts, das er jedoch nur in drei dicht aufeinanderfolgenden Belegen (Jos. 16,1,5,6) gebraucht. Luther verwendet die aufgeführten Himmelsrichtungsbezeichnungen hauptsächlich in Verbindung mit Präpositionen wie gegen, gen, gegen ... nach ... nach, von, von ... her werts, über und zwar artikellos, womit die Tendenz einer unbestimmteren 15 Orientierung zum Ausdruck kommt. 15

D W B V I Sp. 2563 zufolge vertreten die ohne Artikel auftretenden Formen die Funktion: ,die gegend unbestimmter bezeichnend'. Eine derartige Aussage läßt sich aus Luthers Belegen nicht einhellig bestätigen, außerdem schwankt er im Artikelgebrauch verschiedener

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Ausgesprochen selten wird zwischen Präposition (gegen, an) und Richtungssubstantiv der bestimmte Artikel eingefügt. Nur gelegentlich zeigen sich Kontraktionen wie am, im, vom, ^ur, %um, aber auch gem. Vereinzelt erscheint die Richtungsbezeichnung mit bestimmtem Artikel, doch ohne Präposition, so in der Bibelausgabe von 1545 bei Ps. 103,12: „So ferne der Morgen ist vom Abend" oder bei Jos. 18,14: sie „lencket sich vmb %ur ecken des abends gegen mittag' oder bei Jer. 31,8: „Ich wil sie aus dem Lande der Mitternacht bringen" (ähnlich bei Jer. 23,8).

4. Die Qibla-Orientierung Neben den bisher behandelten Bezeichnungen der Himmelsrichtungen gibt es in der Lutherbibel auch solche, die auf der sogenannten Qibla-Orientierung fußen. Mit arab. qibla wird jene Himmelsgegend benannt, der man sein Gesicht zuwendet, und von dieser Ausgangsposition her werden dann der rückseitige sowie die links und rechts liegenden Bereiche bestimmt. Luthers diesbezügliche Zeugnisse gehen von der u. a. bei semit. und ide. Völkern anzutreffenden Ost-Qibla aus, deren Orientierung von der Blickrichtung zur aufgehenden Sonne abhängt (Tallqvist 117 ff., besonders 125; Hinweise auf entsprechende germ. Zeugnisse bietet Schröder). Daraus ergibt sich eine Anordnung der Haupt-Himmelsrichtungen in der Abfolge Osten-WestenNorden-Süden, wie sie etwa die Heilige Schrift bei 1. Chron. 9,24 oder Luk. 13,29 handhabt. Ein anschauliches Zeugnis für Ausdrücke aufgrund der ostgerichteten Qibla sowie ihrer Gegenläufigkeit vermittelt der Text bei Jes. 9,10 f., den Luther so abfaßt: „der HERR wird ... jre Feinde hauff rotten / die Syrer Jörnen her / vnd die Philister binden Während hierbei die hebr. Richtungsangaben qädäm und 'ähor relativ wörtlich verdeutscht sind, werden sie von der Vulgata auf die römischen Orientierungsverhältnisse umgedeutet: ab Oriente bzw. ab occidente. Hiob 18,20 lautet 1545 bei Luther folgendermaßen: „Die nach jm komen / werden sich vber seinen tag entsetzen / Vnd die vor jm sind / wird eine furcht ankörnen." Mit der Präposition nach verdeutscht er hier hebr. miqädäm im Sinne von .westlich', mit vor hebr. me'ähor ,östlich'; Luthers ursprüngliche Formulierung wird erst in der revidierten Bibelausgabe von 1975 durch Westen und Osten ersetzt. Auch bei den folgenden Textstellen ist die aus der Sicht der Ostqibla erfolgte Richtungsangabe ,östlich' in der Lutherbibel von 1545 — aber auch in der Vulgata! — weniger klar abzulesen: „Das dritte Fassungen ein und derselben Bibelstelle — etwa bei 4. Mos. 2,18: „Gegen dem abent" (1534) gegenüber „GEgen Abend" (1545) oder bei Hab. 4,3: „Gott kam von mittage" (1534) gegenüber „GOtt kam vom Mittage" (1545).

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wasser heisst Hidekel / das fleusst fur Assyrien" (1. Mos. 2,14), ebenso hier: „die grent^e war ... gen Michmethath / die fur Sechem ligt" (Jos. 17,7). Anstelle der eben gebrauchten Präposition fur ,vor' setzt Luther im gleichen Sinn gern gegen·, „sie woneten von Heuila an / bis gen Sur gegen Egypten" (1. Mos. 25,18), entsprechend bei der Lokalisierung von Abrahams Erbbegräbnis 16 in 1. Mos. 25,9 u. 49,30 u. 50,13: „ g e g e n Mamre", das er an vorausgehenden Parallelstellen „gegen Mamre vber" verdeutscht hatte (1. Mos. 23,17 u. 19). An allen genannten Stellen bringt erst die revidierte Lutherbibel von 1975 die Richtungsangabe östlich. Für die der Ostqibla zuzurechnende Einzelrichtung rechts ,südlich' bietet die Lutherbibel von 1545 u. a. Nachweise bei Jos. 17,7 (die Grenze „langet %ur rechten an die von Enthapuah"), 1. Sam. 23,19 (der Hügel „der %ur rechten ligt an der wüsten"·, ähnlich 1. Sam. 23,24). In der gleichen Ausgabe befinden sich u. a. folgende Belege für links .nördlich': bei 1. Mos. 14,15 („Hoba / die ^ur lincken der stad Damascus ligt"), Jud. 2,12 (das Gebirge „an der lincken seifen Cilicien"). Beide genannten Richtungen begegnen gelegentlich miteinander. Dabei können sie einerseits der geographischen Zuordnung dienen, so in Hes. 16,46: „Samaria ist deine grosse Schwester ... die dir %ur Lincken wonet / vnd Sodom ist deine kleine Schwester ... die t(u deiner Rechten wonet" (1545). Andererseits werden beide wie die synonymen Himmelsrichtungen in kleinräumiger Funktion herangezogen, etwa zur Beschreibung der inneren Tempelanlage in 2. Kön. 11,11 und 2. Chron. 23,10. 17 — Eine ebenfalls von der Ostqibla ausgehende Wiedergabe der nebeneinander genannten Richtungen ,östlich' und .südlich' verdeutscht Luther so: „die Höhen die fur Jerusalem waren %ur rechten am berge Mashith" (2. Kön. 23,13/1545). Sämtliche aus der Ostqibla resultierenden Kardinalen erscheinen in einer bewegenden Klage des gepeinigten Gottsuchers Hiob (Kap. 23,8 f.), wobei die vier Dimensionen auch in der Lutherbibel von 1545 im sprachkünstlerisch gestalteten Kontext eindrücklich die räumliche Verborgenheit Gottes zum Ausdruck bringen: ,gehe ich nu stracks fur mich / so ist er nicht da / Gehe ich rück I so spür ich jn nicht. Ist er %ur lincken / so ergreiff ich jn nicht / Verbirget er sich %ur rechten / so sehe ich jn nicht." Diese den hebr. Urtext kongenial wiedergebende Übersetzung folgt somit nicht dem schon in der Vulgata angebahnten Umdeutungsbemühen (ad orientem, ad occidentem), das

16

Die Vulgata schwankt bei der mehrfachen Wiedergabe der dortigen Richtungsausdrücke, ohne den Qiblacharakter sichtbar werden zu lassen. — Nur beiläufig kann daraufhingewiesen werden, daß bei diesem Text statt des erst in der revidierten Lutherbibel von 1975 angeführten Toponyms Machpela in allen vorausgehenden Lutherfassungen versehentlich das Zahlwort zwiefach gestanden hatte.

17

Im DWB sind diese semasiologischen Ausprägungen unter den Lemmata link(s) nicht eigens berücksichtigt.

und

recht(s)

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dann letztlich ζ. B. in der Zürcher Bibel von 1951 durch Benutzen der standardsprachlichen Bezeichnungen ganz ins moderne Weltbild umgesetzt die elementare Sprachgewalt des Urtexts verliert. Demgegenüber hat die jüngste Revision der Lutherbibel diese Textstelle behutsam dem heutigen Verständnis nähergebracht.

5. Eine Selbstkorrektur bei Luther Obwohl Luther im Verlauf seiner jahrzehntelangen Bemühungen um die deutsche Bibel viele S e l b s t k o r r e k t u r e n gegenüber seinen jeweils vorausgegangenen Eigenfassungen vornimmt, bleibt der von ihm bereits in der ersten Ausgabe der Heiligen Schrift gewählte Bestand seiner Richtungsbezeichnungen — von graphematischen Varianten einmal abgesehen — nahezu unangetastet, und dieser konsistente Grundzug bestätigt das Gewicht seiner Verdeutschung. Lediglich in einem einzigen Fall wird die zunächst von ihm gewählte Himmelsrichtungsbezeichnung durch einen anderen Ausdruck ersetzt. Es handelt sich um Hes. 21,2 (alte Zählung 20,46), was in der ersten Gesamtbibel von 1534 lautet: „Du menschen kind / Richte dein angesichte gegen Τ hem an j vnd rede gegen dem mittage / vnd weissage widder den wald im felde gegen mittage." In der Ausgabe letzter Hand von 1545 steht dafür jedoch: „... Richte dein angesichte gegen dem Sudwind ...". Zunächst hatte Luther hierbei also das im hebr. Text vorgefundene temänäh im Sinne von ,nach Süden zu' wörtlich aufgegriffen, doch anstelle seines auslautenden hebr. Affixes eine verdeutlichende dt. Präposition hinzugefügt. Noch im Protokoll der Bibelrevision 1539 — 41 setzt sich Luther mit hebr. Temän auseinander: „Ich halt, es sey appellativum, non proprium. Ist noch contra meridiem" (WA DtB 4 S. 147). Das unterstreicht er bei anderer Gelegenheit: „appellative austrum significat theman" (WA 13 S. 128), übersetzt das hebr. Wort aber auch einmal mit „terra Austri" (WA 25 S. 160). Das dabei herangezogene neulat. austrum bezeichnet den Süd- oder Südostwind (Wehrle 224 f.). Später hat Luther wohl den Gebrauch von Temän im dt. Kontext für unverständlich gehalten und das hebr. Wort durch Sudwind ersetzt, das zwar mit der im Urtext gemeinten Himmelsrichtung im Einklang steht, gleichwohl aber nicht den Sachbezug auf den Wind ausdrückt. Immerhin blieb die Lutherbibel bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bei Südwind an dieser Stelle, 18 das schließlich der revidierte Text von 1975 wenig glücklich durch „nach Teman hin" ersetzt.

18

und zwar im Anschluß an den Wortlaut der Ausgabe von 1545: „Richte dein angesichte gegen dem Sudwind / vnd t r e u f f e gegen dem Mittage...". Diese Fassung ist aber vielleicht durch ein Versehen zustande gekommen. Denn einem handschriftlichen Eintrag in Luthers AT

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Gegenüber der eben dargelegten Änderung halten sich die anderen — Himmelsrichtungen betreffenden — Abweichungen zwischen den zu Luthers Lebzeiten autorisierten Bibelausgaben in Grenzen. Von geringem lexikologischen Belang ist etwa auch der Verzicht auf einen mehrfach hintereinander gebrauchten Ausdruck beim letzten Glied; ein solches Beispiel bieten die Bibeldrucke von 1534 und 1545 bei Hes. 40,24. Aufmerksamkeit verdient hingegen Luthers häufige Umschreibung östlicher Richtungsangaben durch isolierte Präpositionen wie gegen (1. Mos. 25,9 u. 18 sowie 1. Mos. 49,30), gegen vber (1. Mos. 23,17 u. 1 9 ) , f u r ,vor' (1. Mos. 2,13 sowie Jos. 17,7). 6. Lateinische Bezeichnungen bei Luther Luther war selbstverständlich auch mit den l a t e i n i s c h e n Bezeichnungen der Himmelsrichtungen vertraut. Gelegentlich zieht er sie auch in Texten heran, die lateinische mit deutschen Sprachelementen vermischen (vgl. Stolt 1964 und 1969, 432 — 435). So heißt es etwa in der von Johannes Poliander besorgten Sammlung mit Lutherpredigten aus den Jahren 1519 — 21: „Es ist in Oriente der brauch gebest, das Primogeniti betten daß vortejl fur allen anderen hinderen..." (WA 9 S. 548). Seine „Hauspostille" von 1544 verzeichnet ähnliche Sprachvermischung: Jerusalem „sey pulcberrima Ciuitatum Orientis, die herrlichste, schönste Stat in den Morgen lenderngewest..." (Predigt zum 10. Sonntag p. Trin., WA 52, S. 440). Solche Spracheigenheiten gehören zu der im Zeitalter des Humanismus verbreiteten Form interpretierender Entsprechungen (dazu Wolf 1969, 77 ff., besonders 81), wobei das lat. Element auch in nachgestellter Position auftreten kann: „...solche lender gehören pudern alten Römischen nidder Reich oder Occidentischem Reich."19 — Als vollständigen Ersatz für den entsprechenden dt. Terminus benutzt Luther die lat. Bezeichnungen der Himmelsrichtungen offensichtlich selten, obwohl gebildete Autoren seiner Zeit durchaus gern dazu griffen (Angaben bei Wehrle 104 ff.). Zu dem im eben zitierten Beleg auftretenden Adjektiv findet sich bei Luther vereinzelt auch das Substantiv — eigenartigerweise mit neutralem Geschlecht: „Ists war, das Constantinus dem Bapst hat gegeben das gant% Occident oder das beste halbe teil des Römischen Reichs...".20

19

20

von 1538/39 zufolge blieb das voranstehende Theman erhalten, und es wurde statt dessen erst das nachfolgende Mittag — vielleicht unter Einfluß der Zürcher Bibel von 1531 — durch die Windbezeichnung ersetzt: ,gegen und gegen dem Sud wind (WA DtB 4, 147). WA 50 S. 75 aus Luthers Schrift: „Einer aus den hohen Artikeln des päpstlichen Glaubens..." v. J. 1537. WA 50 S. 75 aus Luthers Schrift: „Einer aus den hohen Artikeln des päpstlichen Glaubens..." v. J. 1537.

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Bei den Richtungsangaben lat. Herkunft begegnet uns am häufigsten das aus oriens hervorgegangene Fremdwort in Luthers dt. Schriften, das auch vor (etwa im dritten vorlutherischen Bibeldruck) sowie neben ihm (so in Ecks Übersetzung von 1537) geläufig war. Aus der Fülle des Belegmaterials ist ersichtlich, wie distanziert sich der Reformator diesem genuin lat. Wortgut gegenüber verhält, denn die Mehrzahl der Belege zeigt kaum Ansätze zur Integration ins Deutsche. Zuweilen wird das Appellativum in grammatischer Hinsicht wie ein nomen proprium behandelt: „...die weyl kriechen und orient, auch Christen... die selben nit angenommen..." (WA 7 S. 644), wobei überdies die ungewöhnliche Bedeutungserweiterung .Bewohner des Orients' vorgenommen wird. Der artikellose Gebrauch nach proprialem Muster zeigt sich auch oft bei präpositionalen Verbindungen, ζ. B.: die es „noch heutigs tags halten in Orient".21 Solche Übereinstimmung mit nomina propria gibt es ferner bei der Verbindung mit Adjektiv: „Wie auch bis auff den heutigen tag die Bischove und Kirchen gegen gant% Orient den Bapst nicht angesehen haben".22 — Luthers Unsicherheit bei solchem Sprachgebrauch verdeutlicht vollends folgender Beleg: „... doch niemant leücken kann den abfallynn Orienten...",23

7. Ergebnis: Luthers Konsistenz der Tageszeitenmetonymien im Bibeltext Aus den angeführten Beispielen läßt sich klar erkennen, daß Luther die aus dem Lateinischen stammenden Himmelsrichtungsbezeichnungen nicht als im Deutschen eingebürgertes Wortgut ansieht; aus diesem Grunde verwendet er sie auch nicht für die Bibelübersetzung — im Unterschied zu seinen Konkurrenten! Ähnlich verhält es sich mit seinem Verzicht auf eine andere lexikalische Gruppe des gleichen Bezeichnungsbereichs: auf die gemeingermanischen Ausdrücke Osten, Westen, Süden, Norden, denn sie waren zu seiner Zeit im hochdt. Raum nur noch bei Gelehrten geläufig (Wehrle 104)24 und deshalb — seinen Übersetzungsprinzipien zufolge — für die Verdeutschung der Heiligen Schrift ungeeignet.

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23

24

WA 54 S. 250 aus Luthers Schrift „Wider das Papsttum..." v. J. 1545. - Ähnlich ζ. B. in WA 7 S. 248/6 f., W A 45 S. 34/11 f., WA 47 S. 239/35. WA 54 S. 235 aus Luthers Schrift „Wider das Papsttum..." v. J. 1545. - Ähnlich ebenda S. 243/32 f. WA 7 S. 411 aus Luthers Schrift „Grund und Ursach aller Artikel..." v. J. 1521. - Offenbar soll damit gesagt werden: ,... in den Ländern des Orients'. Ergänzend zu Wehries Angaben sei verwiesen auf das „Novum Dictionarii genus" Frankfurt 1540 (ND 1975) von Erasmus Alberus. Dieses Lexikon kennt sowohl die Bezeichnungen Osten, Westen, Süden [sie!], Norden als auch die lat. Entsprechungen oriens, occidens, meridies, septentrio, zieht indes zum besseren Verständnis oder in interpretamentaler Absicht Morgen, Abend, Mittag, Mitternacht hinzu, ohne sich über die jeweilige Anwendungsweise zu äußern.

276

Herbert Wolf

Daraus ergibt sich andererseits Luthers Bevorzugung von Morgen, Abend, Mittag, Mitternacht als jenen Himmelsrichtungsbezeichnungen, die als damals volkläufiges Wortgut 25 dem deutschen Bibelbenutzer am ehesten verständlich waren. Und diese Wortwahl des von den Tageszeiten abgeleiteten Begriffsfeldes handhabt Luther — bis auf die genannten Ausnahmen — mit einer Stetigkeit, die unter den hochdt. Bibeldrucken des 15. und 16. Jahrhunderts ihresgleichen sucht. Von der Verständlichkeit dieser von Luther getroffenen Wortwahl ist man kirchlicherseits erstaunlicherweise sogar bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausgegangen, ungeachtet (oder trotz?) der neuerlichen Ausbreitung von Osten, Westen, Süden, Norden, die erst bei der jüngsten Revision nennenswerten Eingang in die Lutherbibel gefunden haben. 26 Dieser Tatbestand unterstreicht einmal mehr die sprachliche Geltung, Breiten- und Nachwirkung der vom deutschen Reformator geschaffenen Übersetzung der Heiligen Schrift; sollte doch dabei nicht vergessen werden, daß die von ihm favorisierten Ausdrücke Morgen, Abend, Mittag, Mitternacht ansonsten inzwischen längst ihren standardsprachlich gewordenen Konkurrenten Osten, Westen, Süden, Norden hatten weichen müssen. 27 — Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch die in der jüngsten Revision der Lutherbibel völlig isolierte Beibehaltung des offenbar von Luther geprägten Kompositums Morgenland bei der Wiedergabe der Weihnachtsgeschichte in Matth. 2,1 ff., während im übrigen Bibeltext statt dessen Umschreibungen mit Osten vorgenommen worden sind (ζ. Β. 1. Mos. 29,1; Ri. 6,3). Zusammenfassend ist nochmals zu betonen, daß sich das in diesem Beitrag erarbeitete Bild vom Gebrauch der Himmelsrichtungsbezeichnungen bei Luther hauptsächlich auf Belege aus seiner Verdeutschung der Heiligen Schrift stützt. Dabei nimmt der aus dem Urtext hervorgehende Sachzusammenhang 28 25

26

27

28

Luthers Entscheidung für diese fakultativen Varianten wird ferner durch ihre Verwendung im damaligen Bergbau Mitteldeutschlands abgesichert, über dessen Fachsprache Luther u. a. durch den Beruf seines Vaters informiert war (siehe Wolf 1980, 39 f.). Auffallend ist dabei das Beibehalten der Wortwahl Luthers in Offbg. 21,13 im „Revidierten Text 1975". Sofern die Gewichtigkeit dieser Textstelle den traditionellen Wortlaut gestützt haben sollte, fragt man sich, warum das nicht auch andernorts geschehen ist. Diesbezügliche Abweichungen vom Luthertext sind allerdings schon zu Lebzeiten des Reformators anzutreffen. So wird Luthers Formulierung von Ps. 103,12: „So ferne der morgen ist vom abent..." (1534) durch seinen aus Unterfranken stammenden Gesinnungsgenossen Johannes Gramann (er ist mit dem oben S. 274 genannten Poliander identisch) poetisch umgestaltet zu: „so fern der Ost vom Abend, ist unsre Siind dahin" (1540) = Evangelisches Kirchen-Gesangbuch. Berlin 1952 Nr. 188. Darüber unterrichten auch die Artikel Himmelsrichtungen von A. van den Born in: BibelLexikon. Hrsg. von Herbert Haag. 2. Aufl. Tübingen 1968, Sp. 742 f.; von Günter Morawe in: Biblisch-historisches Handwörterbuch. Hrsg. von Bo Reicke und Leonhard Rost. 2. Band. Göttingen 1964, Sp. 722; von A. S. van der Woude in: Calwer Bibellexikon. 5. Bearbeitung hrsg. von Theodor Schlatter u.a. Stuttgart 1959, Sp. 523.

Die Bezeichnungen der Himmelsrichtungen bei Luther

277

eine bedeutsame Rolle ein: das in der Bibel niedergelegte Weltbild des Volkes Israel. In Luthers sonstigem deutschen Sprachschaffen sind Himmelsrichtungsbezeichnungen hingegen ausgesprochen selten anzutreffen. Auch das beruht wesentlich auf dem Verhältnis zwischen Wörtern und Sachen. War doch Luther als Bewohner des Binnenlandes mit den v o r allem im Küstenund Seebereich (sowie in Wüstenregionen) lebensnotwendigen objektiven Gegebenheiten und den sich daraus ergebenden Ausdrücken einer über die unmittelbare Umgebung hinausreichenden Orientierung weniger beschäftigt und vertraut. Literatur Bachmann, Karl. Der Einfluß von Luthers Wortschatz auf die schweizerische Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, im Anschluß an Adam Petris Bibelglossar. Freiburg 1909. BM = Die erste deutsche Bibel, besorgt von William Kurrelmeyer. In: Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, Bände 234, 238, 243, 246, 249, 251, 254, 258, 259, 266. Tübingen 1904-1915. Byland, Hans. Der Wortschatz des Zürcher Alten Testaments von 1525 und 1531 verglichen mit dem Wortschatz Luthers. Eine sprachliche Untersuchung. Berlin 1903. Dauner, Fritz. Die oberdeutschen Bibelglossare des 16. Jahrhunderts. Darmstadt 1898. D W B = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Band 1 — 16, Leipzig 1854—1960. — Quellenverzeichnis Leipzig 1971. D W B Neubearb. = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Leipzig und Stuttgart 1965 ff. F W B = Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, hrsg. von Robert R. Anderson, Ulrich Goebel, Oskar Reichmann. Band 1, bearb. von Oskar Reichmann. Berlin 1986 ff. Ising, Gerhard. Ausgleichsvorgänge bei der Herausbildung des schriftsprachlichen deutschen Wortschatzes. In: Niederdeutsches Wort 5, 1965, 1 - 2 0 . Ising, Gerhard. Zur Wortgeographie spätmittelalterlicher deutscher Schriftdialekte. Eine Darstellung auf der Grundlage der Wortwahl von Bibelübersetzungen und Glossaren. 2 Teile. Berlin 1968. Lindmeyr, Bernhard. Der Wortschatz in Luthers, Emsers und Ecks Übersetzung des „Neuen Testaments". Ein Beitrag zur Geschichte der nhd. Schriftsprache. Straßburg 1899. Luther, Martin. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883 ff. Maurmann, Barbara. Die Himmelsrichtungen im Weltbild des Mittelalters. Hildegard von Bingen, Honorius Augustodunensis und andere Autoren. München 1976. (Münstersche MittelalterSchriften Band 33). Menge, Hermann. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Übersetzt von Hermann Menge. 11. Aufl., Stuttgart 1949. Schröder, Heinrich. Nord-Süd-Ost-West. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 17, 1929, 421 - 4 2 7 . Stolt, Birgit. Die Sprachmischung in Luthers Tischreden. Studien zum Problem der Zweisprachigkeit. Uppsala 1964. (Stockholmer Germanistische Forschungen 4). Stolt, Birgit. Luther sprach „mixtim vernacula lingua". In: Zeitschrift für deutsche Philologie 88, 1969, 4 3 2 - 4 3 5 . Tallqvist, Knut. Himmelsgegenden und Winde. Eine semasiologische Studie. In: Studia orientalia II, (hrsg. von der) Societas Orientalis Fennica. Helsingfors 1928.

278

Herbert Wolf

Wehrle, Hugo. Die deutschen Namen der Himmelsrichtungen und Winde. In: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 7, 1905/06, 6 1 - 1 3 5 und 2 2 1 - 2 4 0 sowie 8, 1906/07, 3 3 3 - 3 5 2 . Wolf, Herbert. Die Sprache des Johannes Mathesius. Philologische Untersuchung frühprotestantischer Predigten. Einführung und Lexikologie. Köln/Wien 1969. (Mitteldeutsche Forschungen 58). Wolf, Herbert. Martin Luther. Eine Einführung in germanistische Luther-Studien. Stuttgart 1980. — Durchgesehene Lizenzausgabe, Berlin-Ost 1983. Zürcher Bibel = Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments. Zürich 1971.

MONIKA

RÖSSING-HAGER

Textabhängige Wortverwendung in der Flugschriftensammlung „Bundesgenossen" von Johann Eberlin von Günzburg 1. Einleitung 2. Zeitgenössische Anweisungen zum Wechsel im Ausdruck 3. Derivative Substantive zur selben Basis in konkurrierenden Ableitungsformen 4. Wohin treibt die hojnung Humanisten und Reformatoren? 5. Konkurrenz zwischen den Angehörigen der Wortfamilie trug/betrug 6. Suffix-Konkurrenten bei Entlehnungen aus dem Lateinischen: -tio, -tion,

-ung.

7. Schlußbemerkung Literatur

1. Einleitung Der folgende Beitrag ist Teil einer Untersuchung der Sprache der Flugschriftensammlung „Bundesgenossen" Johann Eberlin von Günzburgs unter Zuhilfenahme der EDV. Erste Anregungen zum Einsatz der EDV für Untersuchungen an größeren Textmengen gehen auf meinen Lehrer Prof. Dr. Ludwig Erich Schmitt zurück, dem diese Festschrift gewidmet ist. Mit den folgenden Ausführungen verbinde ich meinen herzlichen Dank ihm gegenüber und meinen Glückwunsch. 1.1. Ausgangsbeobachtung Eine Sichtung des alphabetischen Wortindex zu den „Bundesgenossen" Johann Eberlins 1 läßt eine Reichhaltigkeit des Wortschatzes erkennen, speziell im Bereich der Substantive eine Variantenfülle, die sich daraus ergibt, daß häufig zwei oder mehr Substantive aufgrund eines gemeinsamen Lexems als Mitglieder einer Wortfamilie enger zusammengehören. Dies gilt sowohl für Komposita mit jeweils gleichem determinierendem oder gleichem determiniertem Teil als auch für Derivate, bei denen dieselbe Basis in verschiedenen

1

Zum Autor, zur Thematik der „Bundesgenossen" und ihrem Stellenwert innerhalb der frühen Flugschriften der Reformationszeit zusammenfassend: Wehrli, 1980, 972—974; Könneker, 1975, 1 0 9 - 1 1 1 .

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Monika Rössing-Hager

Ableitungsformen auftritt. — Die zahlreichen Glieder derselben Wortfamilie sind oft nur durch wenige Belege vertreten, so daß die Vermutung naheliegt, daß es sich um ad-hoc-Bildungen handelt, die einem aktuellen AnalogieModell folgen, so ζ. B. bei Komposita, die der Polemik dienen (Abb. I). 2 1.2. Eingrenzung des Themas und methodische Vorüberlegungen Die vorliegende Untersuchung greift als Teilmenge die Substantive heraus, bei denen zwei oder mehrere Ableitungsformen zu einem Grundmorphem gehören, das mit einem Verbalstamm identisch ist (Abb. 3). Diese benennen u. a. Prozesse, Resultate, institutionell oder rituell bedingte Lebensformen und Bräuche, gelegentlich auch Gegenständliches als greifbares Ergebnis von Handlungen, die mit dem Basisverb des Verbalsubstantivs 3 benannt sind (ζ. B. schrift, ge schrift, schreiben). Aus einer Überprüfung der Kontexte zu den einzelnen Belegen geht hervor, daß Vertreter verschiedener Ableitungsformen zur selben Basis semantisch mehr oder weniger stark differieren, aber auch vollkommen identisch sein können, daß jedoch auch formgleiche Derivate zur selben Basis je nach Verwendungszusammenhang semantisch differieren können. Entsprechende Beobachtungen werden im folgenden mit berücksichtigt, sind jedoch im Zusammenhang der Untersuchung nur insoweit von Bedeutung, als sie die Voraussetzung dafür bilden, daß Vertreter variierender Ableitungsformen zur selben Basis an einer bestimmten Textstelle als Konkurrenten überhaupt in Frage kommen. Es erhebt sich die Frage, ob die Varianten durch das Streben begründet sind, Wiederholungen bei Mehrfachanwendung desselben Lexems in kurzem Abstand zu vermeiden, d. h. dem Prinzip des Ausdruckswechsels gerecht zu werden, das in zeitgenössischen Briefstellern und Rhetoriken nachdrücklich propagiert wird, und zwar auch im Hinblick auf den gezielten Einsatz der Wortbildungsmöglichkeiten (vgl. 2.). Des weiteren erhebt sich die Frage, ob es im Text Stützen für die jeweils gewählte Variante gibt. Bei dem Versuch, das Wort aus seiner Statistenrolle in Ubersichten und Tabellen zu befreien und wieder in die Umgebung zu stellen, in der es seinen individuellen Beitrag zum Gelingen einer Mitteilung leistet, wird der Blick auf Zusammenhänge gelenkt, die so nicht vorherzusehen waren. Zugleich läßt das Aufsuchen der einzelnen Belege in ihrem

2

Einen Teil der Komposita und Derivate im Dienst der Reformationspolemik faßt bereits Lepp, 1908, nach Lexemen geordnet zusammen, mit Hinweisen auf typische Verwendungszusammenhänge.

3

Der Terminus „Verbalsubstantiv" ist im Anschluß an Schippan, 1968, 428, gebraucht zur allgemeinen Bezeichnung v o n deverbativen Substantiven. Der geläufigere Terminus „Verbalabstrakta" wird für Substantive verwendet, die tatsächlich als .Abstrakta' fungieren.

Textabhängige Wortverwendung

Substantivische Wortfamilien im Dienst der Reformations-Polemik Morpheme mit (potentiell) pejorativer Bedeutung — zugehörige Derivate und offene Reihen von Komposita

abgot (9) abgotterei (2) abgothaus (1)

antichrist (7) antichristlichkeit (2) antichristenlehre (1) antichristensecte (1)

bettel (26) betler (10) bettelmönch (72) bettelvolk (1)

esel (6) eselheit (1)

gleisner (7) gleisnerei (3) gleisnersamlung (1)

hure (3) hurerei (2) hurenhaus (1) hurenwirt (1)

klosterbettel (1) klosteresel (1) klosterkatz (1) klosterneid (1) klosterschein (2) klosterkalb (1) stiftkalb (1)

geschrei (3) feldgeschrei (1) gotsgeschrei (1) ochsengeschrei (1) regelgeschrei (1)

pfaffe (168) pfafheit (3) pfaffenbrevier (1) pfaffengesetz (1) pfaffenpfründe (1) pfaffenrecht (1) pfaffenschänder (5) pfaffenson (1) pfaffenvolk (1) pfaffenweihe (2)

märlein (3) märleinprediger (3) märleinsager (1) tandmär (1)

helferpfaffe (1) laienpfaffe (1) meßpfaffe (1) messereipfaffe (2) nebenpfaffe (3) söldnerpfaffe (1)

widersatz (1) widersin (1) widerspiel (3) Widerspruch (2) widerstand (8) widerwille (1)

prediger (164) küchenprediger (2) lumpenprediger (1) Winkelprediger (1)

schein (40) klosterschein (2) mönchschein (1)

landbescheißer (1) leutbescheißer (1)

leutschmäher (1) weltverschmäher (1)

heiligenfresser (1) leutfresser (1)

Abbildung 1

281

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Monika Rössing-Hager

Kontext die Eigenschaften des Textes deutlicher zutage treten als bei fortlaufendem Lesen. Begleitbedingungen, die als Faktoren bei der Textproduktion wirksam werden, indem sie die Wahl eines bestimmten Wortes unter mehreren möglichen anderen steuern, treten hervor. Einige dieser Faktoren sollen im folgenden näher eingegrenzt werden. Die Beobachtungsergebnisse werden an charakteristischen Fallgruppen erörtert (3.3. und 3.4.), schwerpunkthaft an den Funktionen des Deverbativums auf -ung, das innerhalb der betrachteten Konkurrentengruppen die höchste Belegzahl hat: hofnung (4.), an der Wortfamilie, die die meisten unterschiedlichen Repräsentanten hat: (be)trug (5.) und an den Lehnwörtern aus dem Lateinischen, bei denen unterschiedlich assimilierte Suffix-Varianten konkurrieren (6.). Die Darstellung versucht, dem Entdeckungsprozeß, der mit der Untersuchung verbunden war, einen gewissen Spielraum zu lassen. 1.3. Materialgrundlage Grundlage für die Untersuchung sind folgende Materialien:

(1a) (lb) (lc) {2)

(3)

(3b)

(3c) (3d)

Text der Flugschriftensammlung „Bundesgenossen" von Johann Eberlin von Günzburg: als Druck aus dem Erscheinungsjahr (die ersten 15 „Bundesgenossen", Basel 1521, der 16. „Bundesgenosse" Wittenberg 1523), in der edierten Form von L. Enders (1896), auf maschinenlesbarem Datenträger, zeichengetreue Wiedergabe des edierten Textes, mit diesem übereinstimmend in der Seiten- und Zeilenaufteilung. Mental-manuelle Aufbereitung des Originaltextes von Fassung { 1 c ) im Hinblick auf — Lemmatisierung der Wortformen in graphemischer Vereinheitlichung, angeglichen an die nhd. Schreibung, — Bestimmung der Wortart und der flexionsmorphologischen Merkmale aller Wortformen, — Zusammenführung der Wortformen zu Satzgliedern, — Zusammenführung der Satzglieder zu Sätzen: Abgrenzung der Satzeinheiten und Markierung der unabhängigen und abhängigen Sätze, Abgrenzung einfacher unabhängiger Aussagesätze von Satzgefügen. Maschinelle Auswertungen: vollständiger Wortindex, alphabetisch sortiert nach Lemma — Wortart — flexionsmorphologischen Merkmalen — Originalwortform — Häufigkeit — Stellenangaben. reduzierter Wortindex auf der Grundlage einer Suchwortliste, die aus ( 3 a ) gewonnen wurde: alle Deverbativa, bei denen zum selben Verbalstamm mehrere Ableitungstypen begegnen. Anordnung der Informationen wie { 3 a ) . — Grundlage für die tabellarische Übersicht in Abb. 3, selektive Wortindices: alle Substantive zu jeweils einem Suffix aus einer vorgegebenen Liste (-heit, -ung usw.), Kontextausgaben: zu jedem Beleg der Indices von ( 3 b ) und ( 3 c ) Kontext im Umfang von 2 Satzeinheiten vor und hinter der Satzeinheit, in der der Beleg steht. (Die gewählte Größe der Kontexte ist bestimmt durch die Erfahrung, daß sie noch übersichtlich und gut handhabbar sind, andererseits groß genug, um auf syntagmatische Erscheinungen zu verweisen, die für den untersuchten Beleg an der Stelle relevant sind. Weitergehende Überprüfungen müssen meist an größeren Textstellen erfolgen).

283

Textabhängige Wortverwendung

A b s t a n d s ü b e r p r ü f u n g des V o r k o m m e n s aller Belege, deren L e m m a mit e i n e m S u f f i x endet (entsprechend der Liste unter < 3 C ) ) : — c h r o n o l o g i s c h e A b f o l g e (verdeutlicht „ B a l l u n g s g e b i e t e " ) , — g e o r d n e t nach der G r ö ß e der A b s t ä n d e , b e g i n n e n d mit d e m kleinsten ( v e r w e i s t auf V e r t e i l u n g s t e n d e n z e n ) , gleichzeitig e r f a ß t e A b s t a n d s k r i t e r i e n : W ö r t e r

— Satzglie-

der — Satzeinheiten — S a t z k o m p l e x e , (30

A b s t a n d s ü b e r p r ü f u n g aller O r i g i n a l w o r t f o r m e n , die auf -ts o d e r

enden. — A b f o l g e n

u n d K r i t e r i e n w i e unter ( 3 e > .

Die Sortierungen werden im folgenden nicht systematisch ausgewertet, sondern für spezielle Informationen herangezogen. Sie haben orientierende Funktion und bieten die Grundlage für generalisierende Aussagen über Häufigkeitserscheinungen.

2. Zeitgenössische Anweisungen zum Wechsel im Ausdruck 2.1. Speziell den Ausdruckswechsel mit Hilfe von Wortbildungsmitteln behandelt Erasmus von Rotterdam (1512) unter den Überschriften „Species" und „Figura", den beiden Akzidentien, die sich in der Grammatiktradition seit der Antike mit Erscheinungen der Wortbildung in Verbindung mit den einzelnen Wortarten befassen. Es sind Teile von „Cap. XIII. Ratio variandi per Enallagen, sive έτέρωζιν" (S. 13—16). Er geht hier auf die Variationsmöglichkeiten mit Hilfe aller Akzidentien ein, d. h. auch der einzelnen flexionsmorphologischen Kriterien von Deklination und Konjugation, wobei er z. B. unter „Persona" Varianten des persönlichen und unpersönlichen Ausdrucks abhandelt, unter „Genus" den Wechsel zwischen Aktiv- und Passivsätzen, unter „Casus" den möglichen Gebrauch unterschiedlicher Rektionen beim selben Verb sowie unter „Conjvgatio" alle Änderungskategorien „am selben Wort", die sich mit der Umstellung, Hinzufügung oder Auslassung von Buchstaben ergeben (z. B. Prosthesis, Aphaeresis, Syncope, Apocope). Unter „Species" behandelt er die Konkurrenz zwischen verschiedenen Ableitungstypen und den zugehörigen Primitiva im Bereich des Verbs, zwischen Substantiv und Adjektiv, Steigerungsformen an Stelle des Positivs mit graduierendem Adverb usw. Ausdrücklich weist er auf unterschiedliche Lizenzen für den Wortgebrauch in Dichtung und Prosa hin. — Unter „Figura" konfrontiert er präfigierte Verben und stammgleiche nicht präfigierte Simplicia und deren Erweiterungen zu Komposita, sowie Komposita und entsprechende Verbindungen aus Simplicia mit Attribut. Fast immer werden die abstrakten Kategorien den Beispielen vorausgeschickt. Die Hinweise sind jedoch exemplarisch und setzen beim Benutzer systematisch erweiterndes Analogiedenken voraus. Die Variationstechniken, die sich durch Mittel der Wortbildung und der Flexion zum selben Stamm durchführen lassen, werden in anderen Kapiteln, die sich mit einzelnen grammatischen Kategorien sowie

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Monika Rössing-Hager

mit den Tropen befassen, ergänzend vorgeführt, insbesondere in Verbindung mit Wendungen zu einzelnen Wörtern (vgl. 4.2.: „Spes"). 2.2. Auch entsprechende Anleitungen in zeitgenössischen deutschen „Rhetoriken" und Briefstellern bringen meist nur Beispiele, deren exemplarische Funktion der Benutzer selbst erkennen muß. Meichszner (1538) bietet, vergleichbar mit den Variationsbeispielen bei Erasmus, Wortfamilien zu Verben durch Präfigierungen, auch Wechsel zwischen Komposita und Simplicia mit Attributen u. ä. Die Belege sind bei ihm nicht durch grammatische Kategorien eingeführt und stehen verstreut über zwei Kapitel, die sich mit dem Gebrauch von Synonymen und deren Auflistung befassen ( X X I X b bis X X X I V b ; vgl. Abb. 2). 2.3. Das zeitgenössische Interesse am Ausbau des dt. Wortschatzes mit Hilfe von Ableitungen und Kompositionen zeigen auch Listen von Komposita mit jeweils demselben 2. Glied am Ende von V. Ickelsamer (1534) sowie dessen Paradigmen variierender (teils synonymer) Verben im selben Satzrahmen (Civb —Diija), und ähnlich auch bei Frangk (1531, Cviiiff.). Erasmus' Anregung zur variatio im Bereich von „Species" und „Figura" findet ihren systematischen, modellhaften Wiederaufgriff und Ausbau für das Deutsche 150 Jahre später bei J . G. Schottelius (1663), der in seiner „Ausführlichen Arbeit von der Teutschen HaubtSprache" die breit angelegte Konzeption einer Wortbildungslehre des Deutschen vorstellt und hierbei die Leistungen der Prä- und Suffixe erörtert und besonders eingehend über verbale Präfigierungen, auch im Hinblick auf ihre Semantik, handelt (I, 88 ff.). 4 2.4. Vorstufen aus der Zeit vor dem 16. J h . zeigen sich bereits in den lat. Schulgrammatiken, ζ. B. im „Exercitium Puerorum Grammatieale" (1491), in Form von Präfix-Varianten zum selben Verbalstamm, mit deutscher Übersetzung, getrennt nach Beispielen, bei denen die „Präposition" gegenüber dem Simplex die Bedeutung des Kompositums nicht ändert — höchstens spezifiziert —, und solchen, bei denen die „Präposition" eine Bedeutungsveränderung für das Kompositum gegenüber dem Simplex bewirkt (S. g2 f. u. ö.). 2.5. Auch Äußerungen Luthers zum Wortreichtum und zur Wortbildung, ζ. B. im Sendbrief vom Dolmetschen, gehören hierher: „Denn wer dolmetzschen wil / mus grosse vorrath von Worten haben / das er die wol könne haben / wo eins an allen orten nicht lauten wil." (Luther 1530, S.20).

4

Bei einzelnen Substantiv-Suffixen weist Schottelius bereits auf die Wirkungsintention hin, mit der sie von bestimmten Autoren benutzt werden, ζ. B. Luthers Handhabung der Derivate auf -ling und -eij-erei (1663, 95 f.).

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Textabhängige Wortverwendung

Wortbildung im Dienst des Ausdruckswechsels Lateinische und deutsche Anleitungen aus dem frühen 16. Jahrhundert

I Erasmus von Rotterdam De Duplici Copia Verborum ac Rerum (1512). SPECIES.

Species variatur cum dcduäitiis utimur pro primogeniis. Ut magnis ncgociis prohibicus, magnirudine ocgocionim proKibitut. Cum diminutivis loco fimplicium , ut Icqmuid* pro loquix , lufftulm pro rufuto, fAucttU pro pauca , pduxillum pro paulum. Cum ficquenuuvis verbis pro primitivis. Duhtt pro dico, wiitt pro τοίο , ΪΛίΙια pro jafto. Cum fiibltaniivo pro adjcöivo t ut u quis pro peltilcnte pefltm appcilct, pro Icelcnto fcclt« dicat. Cui fminmum eil, quum Iul*t tritt dieimus pro Italicis , nnrti pro Batavicas, ΗϊφΛηύΐ mera pro Hifpanicis. Cum comparativum aut fupcrl.uivum abfoluti loco ponimus. Ut, Thßior e-Belegen aus obersächsischen Quellen verweist zudem die Lautform kneipen selbst in den obersächsischen Raum, wie die Wortatlas-Karte .kneifen' untermauert (DWA, Bd. 19). Eine Sekundärentwicklung liegt bei Kneipe in der Bedeutung .Studentenwohnung' u. a. vor; — Quarks „heißen die von den benachbarten Dörfern gebürtigen Studenten, welche Milch, Butter, Käse und dergleichen Viktualien geschickt bekommen, von Q u a r k d. i. steifem Käse, sonst auch Hodde oder steifen Matz genannt." (Augustin 1795, Bibl. 2, 415). P. Kretschmer (1969, 559 ff.) sieht das umgangssprachliche Verbreitungsgebiet für Quark besonders in Mitteldeutschland (Sachsen, Schlesien) und in einer Reihe norddeutscher Orte; — rempeln, einen „ = beim Begegnen auf dem breiten Steine einem nicht ausweichen, sondern an ihn anrennen und ihn herunterzustoßen versuchen" (Schuchardt 1825, Bibl. 3, 180). Eine solche Rempelei provozierte in der Regel einen ,Skandal', ein Duell also. Das Verb rempeln wird zurückgeführt auf ein obersächsisches Substantiv Rümpel .knotiger Klotz, Baumstumpf (Müller-Fraureuth 2, 328); — schwofen „heißt so viel als wüthend tanzen und leidenschaftlich Tanzkneipen besuchen. Ein Ausdruck neuerer Zeit, denn früher sagte man für S c h w o o f — S c h w a n z — und namentlich war es in Halle Sitte, jeden Tanzkniff — K u h s c h w a n z — zu nennen, wofür man jetzt K u h s c h w o o f sagt. S c h w o o f e r , ein leidenschaftlicher Tänzer." (Ragotzky 1831, Bibl. 3, 279). W. Fabricius (1902, Bibl. 6, 23) zitiert ein Heidelberger Kuhschwiff von 1827. Zugrunde liegt Schweif ,Schwanz', das in Schwof entweder eine ostmitteldeutsche Regionalvariante erzeugt hat oder aber in Anlehnung an die sogenannte o-Sprache (analog zu Pfof .Tabakspfeife', Pfonig .Pfennig', Schwonig ,Schwung/Ladendiener' etc.) eine typische Studentenschöpfung an einer mitteldeutschen Universität war; — teek: siehe Kapitel 1! In die ostmitteldeutsche Sprachlandschaft verweisen ferner: betöppert .traurig, niedergeschlagen'; knausrig „auf eine niederträchtige Art geizig" (Kindleben 1781, Bibl. 2, 146); Lumig .Taugenichts'; Nille .männliches Glied': „ V o r r e i t e r ist eine Charge bei Begleitungen. Es ist derjenige Student, welcher die vordem Pferde regiert. E i n e g u t e V o r r e i t e r n i l l e h a b e n heißt das Vorreiten gut verstehn." (Augustin 1795, Bibl. 2, 437); Nurbe „Ein Bursch, der von allen Studentensachen, welche nur etwas Burschicoses an sich haben, sich zurückzieht;" (Ragotzky 1831, Bibl. 3, 256), vielleicht Dissimilation zu Lorbeer ,Kot von Schafen und Ziegen' (vgl. Müller-Fraureuth 2, 182); Nusche „ist ein schwächlicher Student, der nicht

Regionalsprachliches in der historischen deutschen Studentensprache

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vermögend ist, die Klinge zu führen, und es sich auch nicht angelegen sein läßt, es zu erlernen." (Ragotzky 1831, Bibl. 3, 257), nach obersächsisch Nusche ,altes stumpfes Messer' (Müller-Fraureuth 2, 295); tottig ,verworren, verrückt'.

2.2.2. Bei den folgenden, auch wieder zum Kernwortschatz des historischen Studententums zu rechnenden Wörtern teilen sich Mittel- und Niederdeutschland den ursprünglich dialektalen Verbreitungsraum: — beknüppelt seyn „Toll und voll seyn", sich knüppeldick vollsaufen „sich ä tout vollsaufen" (Kloß 1808, Bibl. 3, 11 u. 14); — Bude ,Studentenwohnung'. Das Wort löst die älteren Bezeichnungen Kneipe und Kniff ab. Die studentischen Wörterbücher verzeichnen es erst für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Einen belegreichen Exkurs in die Wortgeschichte von Bude bietet W. Stammler (1954, Bibl. 6, 381 ff.); — bummeln .schlendern, spazierengehn'. Das Wort ist studentisch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär geworden. Einen besonderen Nebensinn vermeldet H. Mayhew (1864, 253) für Jena: „By this time the boys are sufficiently heated with what they have drunk to be ready for any irregularity. So one jumps up and says, ,Who'll go bommeling (that is, dangling or loitering) ,in the streets?' And no sooner are the words uttered than the boys, who know well enough the meaning of the phrase, rise in a body and sally forth ready to pick a quarrel with any other of the student-clubs or corps whom they may chance to encounter [...]" Zu bummeln gehört der Bummel als ,Tätigkeit' bzw. ,Ort des Bummelns'. Mit J. K. Jerome's Buch „Three Men on the Bummel" (1900) ist der Bummel in die Literaturgeschichte eingegangen. Die Grundbedeutung von bummeln ist „im Hangen hin und her schwanken" (vgl. Brem. Wb. 1, 161). Näheres zur Wortgeschichte von bummeln liefern Ε Melzer (1928, Bibl. 5, 478) und W. Stammler (1954, Bibl. 6, 384 ff.); — Dornknüppel „ein dicker Stock von Dornenholz, dessen sich auf manchen Universitäten die Renommisten und Raufer bedienen" (Kindleben 1781, Bibl. 2, 86), nach J. Chr. Adelung (2, 1674) ist Knüttel das „anständigere" Wort; — Kaidaunenschlucker „werden auf manchen Schulen und Universitäten diejenigen Studirenden genannt, die ihrer Armuth wegen an armer Leute Tische gehen, und oft mit schlechter Kost fürlieb nehmen müssen." (Kindleben 1781, Bibl. 2, 140). Dem nord- und mitteldeutschen Kaidaunen ,Eingeweide' entspricht süddeutsches Kutteln; — knill .betrunken', „Ein Lieblingsausdruck des Burschen. Auch wird dies Wort für originell, verrückt, gebraucht, ζ. B. ein kniller Kerl, d. h. ein originelles Subject." (Ragotzky 1831, Bibl. 3, 247), daneben knüll(e), beknüllen ,betrinken' und Knillität ,Betrunkenheit'; — Knopp „ist der Studentenausdruck für .Menschen', ,Mann', ,Herr', ζ. B. der Bürgermeister von X. ist ein ganz famoser Knopp." (Conrad 1875, Bibl. 3, 588); — schippen „ = 1. stoßen, zurückstoßen. 2. fortschicken. B e i s p . X ist geschippt worden, hat die Schippe gekriegt = X ist consilirt, relegirt worden." (Schuchardt 1825, Bibl. 3, 183), Schippen „ein Landmann" (Kloß 1808, Bibl. 3, 42), vielleicht nach eine Schippe [schiefer Mund] fliehen ,mißmutig sein'; — schleppen: a) Kolleschleppen „heisset aufs Karzer bringen" (Salmasius 1749, Bibl., 2, 9), auch Kollee schleppen (Augustin 1795, Bibl. 2, 421) und Collet schleppen (Ragotzky 1831, Bibl. 3, 216) neben einfachem schleppen, wobei französisch colli (ζ. B. etre colli ,Arrest aufgebrummt bekommen') und collet (,Kragen, Schlafittchen') auf das deutsche Syntagma eingewirkt haben, b) „Die Füchse (i. e. die crassen) haben die Verpflichtung auf sich, die Waffen auf den Paukplatz zu bringen, welches Hinbringen man s c h l e p p e n nennt. Der Fuchs selbst heißt dann der S c h l e p p f u c h s [...]" (Ragotzky 1831, Bibl. 3, 276), ferner anschleppen „herbeyholen, näherbringen" (Wallis 1813, Bibl. 3, 60);

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— schmeißen ,stoßen, werfen', vivat wer einschmeißt [die Fenster] (Jenaer Stammbuchblatt von 1756, vgl. Henne 1986, 257), Du wirst den O f f icier von breiten Steinen schmeissen („Der Renommist" 1777, 46), er schmeißt eine gute Klinge „er schlägt gut" (Schuchardt 1825, Bibl. 3, 165), dazu Schmiß a) .Hiebwunde, Narbe', b) .Schneid, Schwung': der Kerl hat Schmiß „er ist ein famoser Kerl" (vgl. Conrad 1875, Bibl. 3, 609). „In den nd. Mundarten ist werfen durch schmeißen (smiten) ganz verdrängt, auch die ostmd. Mundarten bevorzugen es." (Paul/Betz 558); — Schmollis „ist der Zuruf an einen Studenten, mit dem man Brüderschaft machen will, worauf dieser fiducit antwortet. Daher heißt schmolliren bei einem Glase Brüderschaft mit Jemanden machen und ein Schmollisbruder ist so viel als ein Dutzbruder." (Augustin 1795, Bibl. 2, 422). Die Herkunft des Wortes Schmollis, auch Smollis und Schmolles, ist dunkel, vgl. F. Kluge (1895, Bibl. 5, 222), wonach Schmolles ursprünglich ein (alkoholisches) Getränk gewesen sein könnte. J. Meier (1894, Bibl. 5, 29) bringt ein niederländisches smullen .schlemmen, schlecken, schnabulieren' ins Spiel, vgl. hierzu auch Kiliaan (1599, 498): smul van drancke .calens potu, feruens mero, obrutus vino'; — schnuppe „gleichgültig, ζ. B. ,Es ist mir höchst schnuppe'." (Deutsche Burschensprache 1862, Bibl. 3, 508), zu niederdeutsch-mitteldeutsch Schnuppe .verbrannter Überrest vom Docht einer Kerze oder Öllampe', vgl. G. Bergmann (1986, 177); — Schnurbärte oder Schnurren, „an einigen Orten Häschers, wie in Leipzig und Halle, sind die ordentliche Garnison oder Miliz für eine Universität", und die Schnurbardei „ist die ordentliche Wache für die Schnurbärte" (Salmasius 1749, Bibl. 2, 14). Die Bezeichnungen sind für Jena und Göttingen typisch, vgl. auch das Brem. Wb. (4, 902): Snurr-baard; — schuppen, „Jemanden, heißt ihn mit Gewalt, durch einen Seitenstoß mit der Schulter, vom breiten Steine werfen" (Augustin 1795, Bibl. 2, 424); — Stoppelhopser und Stoppelfinken als Bezeichnungen für Studenten der Ökonomie .Landwirtschaft'; — Stöpsel ,Kerl', vgl. F. Kluge (1895, Bibl. 5, 228); — trieben „Jemanden auffordern, oder zu überreden suchen, Etwas zu thun" (Conrad 1875, Bibl. 3, 620), ursprünglich wohl eine Matrosenstrafe: Jemanden mit der Trieze in die Höhe ziehen'.

2.2.3. Ganz nach Niederdeutschland weisen: — betruvt „Das ist ein betruvtes (trauriges, obscönes) Haus." (Ragotzky 1831, Bibl. 3, 298), entsprechend standardsprachlich betrübt-, — buxen, auch buxiren .stehlen' (vgl. Kindleben 1781, Bibl. 2, 80, und Augustin 1795, Bibl. 2, 361). Das Brem. Wb. (1, 129) bietet buxen und weg-buxen mit dem Interpretament „heimlich und geschwinde entwenden, gleichsam, behende in die Hosentaschen [,Hosen' = ndd. Büx] stecken". Buxiren könnte eine Analogiebildung sein innerhalb des Verbtypus auf -ieren (poussieren, renommieren, skandalisieren u. a.) oder aber an bugsieren ,ins Schlepptau nehmen' angelehnt sein, wobei diese Sinnübertragung zu .stehlen' leicht nachzuvollziehen ist; — feinklötig „Alles, was dem Burschen zu anständig erscheint, so daß es ihm nicht behagt, nennt er — feinklötig —, ζ. B. die Kneipe, der Rock ist mir zu feinklötig." (Ragotzky 1831, Bibl. 3, 34), ,feinklößig, feinkörnig'; — Flausch oder Flaus „eine Art der männlichen Kleidung, sehr bequem zur täglichen Tracht, wenn man nicht geputzt, oder genirt seyn will, ohngefehr in der Gestalt eines Ueberrocks. Es gehört mit unter die neueren Wörter." (Kindleben 1781, Bibl. 3, 104), ursprünglich niederdeutsch vlüs, vlüsch .Büschel Wolle'; — flott, ein Wort, das je nach Verwendung die Bedeutungen ,gut, schön, herrlich, lustig, hübsch, munter, lebenslustig' annehmen kann. Augustin (1795, Bibl. 2, 370) kommt der Herkunft des Wortes auf die Spur: „eigentlich ein Schifferausdruck. F l o t t w e r d e n heißt bei ihnen

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mit gutem Winde absegeln. Von da ist es in die Burschensprache übergegangen und bedeutet einen günstigen Zustand."; fluschen „schnell dem erhofften Ende entgegengeführt werden" (Conrad 1875, Bibl. 3, 576). Es ist wohl zu dem lautmalenden flutschen zu stellen; forsch. Das Wort ist als französisch-niederdeutsche Entlehnung ( < fors < force) in die Studentensprache gelangt: „,Ein f o r s c h e r Kerl' ist der, welcher sich gern vor den Anderen auszeichnet, sich ein Uebergewicht anmaßt und gern den Ton angibt." (Wallis 1813, Bibl. 3, 72); grölen .lärmen, schreien', vgl. Magister Laukhard (1908, 1, 70): „alle Abende wurde von mehr als hundert Studenten: .Pereat Eulerkapper!' gegröhlt und eine Fensterkanonade vorgenommen.", zu niederdeutsch gräten ,ein lärmendes Turnierfest feiern' (vgl. auch Brem. Wb. 2, s. v. Graat)·, hutschen, auch hujen, hojen „heisset auch tauschen, aber auf eine besondere Art und mit besondern Zeremonielle" (Salmasius 1749, Bibl. 2, 7). Es ist ein Wort aus der Blütezeit des Pennalismus. Chr. Schöttgen (1747, 21) berichtet zur Sache: „Da musten die jungen Leute ihnen [den Schoristen] Bier und Brantewein, Pretzeln und Karten nachtragen, alles auf ihre Kosten. Ihre guten Mäntel, Kleider, Halskrausen, Bücher und andere Sachen mehr, musten sie dem Schoristen vor seine alten abgetragenen Dinge geben." Der .Tausch', das .Tauschen' heißt entsprechend Hutsch bzw. Hutschung. Die Wortgeschichte von hutschen reicht über das Niederdeutsche (beispielsweise Strodtmann 1756) hinaus in den niederländischen und französischen Raum, vgl. etwa Kiliaan (1599, 207): „huts/hutsinghe ,concussus', hutsen/hutseien ,quatere, concutere [...]'. gal. hocher, huts-pot ,caro iustulenta [..·]'• gal. hochepot: ang. hot spot, hotchepot."; fapper „ist ein Jeder, der wegen schwächlicher Körperconstitution und Mangel an männlichem Wesen durch jede kleine Unregelmäßigkeit sich schadet" (Conrad 1875, Bibl. 3, 583). Das Wort gehört zum Verb jappen „schnappen nach der Luft, lechzen" (Brem. Wb. 2, 687); kröpeln „auf allen Vieren, oder wenigstens mühsam sich fortbewegen; auch anwendbar auf einen, der im Dunkeln an der Wand mit den Händen fortfühlend, unsicher dahinschleicht" (Conrad 1875, Bibl. 3, 589). Es ist zu Kröpel, der niederdeutschen Form von Krüppel, zu stellen; Minken „die allgemeine Benennung der Bürgermädchen" (Verzeichniß 1822, Bibl. 3, 115), zum weiblichen Vornamen Minchen\ piekfein „gut, nett" (Allg. Deutsche Studentensprache 1860, Bibl. 3, 440). Das Brem. Wb. (3, 311) verzeichnet unter piek .vortrefflich, auserlesen' das Beispiel piek fett .sehr fett'; Pump „Kredit, welches die Bürger, die Studenten im Hause haben, ihnen zu geben pflegen. Pumpen, borgen. Auf Pump, auf Kredit." (Kindleben 1781, Bibl. 2, 191). Das Wort scheint über rotwelsche Vermittlung in die Studentensprache eingegangen zu sein, vgl. F. Kluge (1901, 241): „ P u m p e s Schuld; P u m p e s m a c h e r , P u m p e r Borger". Es muß wohl zu einem schallnachahmenden Verb pumpen ,schlagen, stoßen' gestellt werden, wie die bei den „Göttingern" G. F. B. Kloß und D. L. Wallis (1808 bzw. 1813, Bibl. 3) verzeichneten Synonyme zu Pump, nämlich Pimp und P u f f , dazu pimpen und p u f f e n , vermuten lassen. In die gleiche Richtung deutet auch modernes anhauen: jemanden um 50 Mark anhauen ,νοη jemandem 50 Mark — leihweise — erbitten'. „Der H a u s p u m p ist der Vorschuß von nothwendigen Bedürfnissen auf ein Viertel, Halbes auch ganzes Jahr und zuweilen auf ewige Zeiten." (Augustin 1795, Bibl. 2, 415). „ P i m p - R e g i s t e r ist die specificirte Rechnung, die der Wirth, Kaufmann u.s.w. dem Studenten führt, und welche bey Ankunft des Wechsels abbezahlt wird." (Wallis 1813, Bibl. 3, 83). In Karikaturen wird pumpen ,borgen' gern volksetymologisch mit Pumpe .Brunnen' verknüpft; r ü f f e l n „heißt: coram kriegen [zur Rede stellen] und Verweise geben" (Wallis 1813, Bibl., 3, 86), einen r i f f e l n „ausputzen" (Kloß 1808, Bibl. 3, 30). Kloß meint das gleiche wie Wallis,

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schließt jedoch sein r i f f e l n an eine Bedeutung wie ,den Flachs durch die Raufe ziehen' an, während r ü f f e l n unmittelbar zu einem hannoverschen r ü f f e l n „reiben, it. vorwerfen, Verweis geben" (Brem. Wb. 3, 541) gehört; Sammelsurium ,Mischmasch', eine studentische Bildung mit lateinischer Endung, die an niederdeutsches sammelsür, saures Gericht von aufgesammelten Speiseresten' anknüpft (vgl. Brem. Wb. 4, 587); Schmöcher (d. i. Schmöker) „ein alter, ein altes schlechtes Buch" (Kindleben 1781, Bibl., 2, 212). Das Wort ist angelehnt an niederdeutsches Smöker ,Schmaucher = Raucher' und wurde zunächst die Bezeichnung für ein tabakdurchräuchertes Buch; Schniepel „wird sowohl der Ladendiener als auch der Leibrock genannt, ζ. B. ich muß heute im Schniepel gehen." (Ragotzky 1831, Bibl. 3, 276), schniepeln „sich geschmackvoll und sorgfaltig kleiden" (Schuchardt 1825, Bibl. 3, 184), wohl zu niederdeutsch Snippe .Schnabel' zu stellen nach der Form der Leibrock-Schöße; Schwulitäten „Verlegenheiten, unangenehme, ängstliche Dinge, von [niederdeutsch] schwul, drückend heiß, wobey es einem gemeiniglich sehr bange und ängstlich zu Muthe ist." (Kindleben 1781, Bibl. 2, 220). Daneben steht in gleicher Bedeutung die latinisierte Wendung in schwulibus sein ,in großer Verlegenheit sein' (vgl. Ragotzky 1831, Bibl. 3, 279).

3. E i n i g e M o t i v e f ü r die Ü b e r n a h m e v o n r e g i o n a l e m S p r a c h m a t e r i a l in die S t u d e n t e n s p r a c h e Eine erste a l l g e m e i n e A n t w o r t a u f die Frage, w e l c h e s die M o t i v e f ü r eine Ü b e r n a h m e regionalen/substandardlichen S p r a c h g u t e s in die h i s t o r i s c h e deutsche S t u d e n t e n s p r a c h e g e w e s e n sein k ö n n e n , f i n d e t sich bei d e m

bereits

zitierten D . L . Wallis ( 1 8 1 3 , Bibl. 3, 55): „Der Student, der durch sein ganzes Wesen sich von allen studirenden Jünglingen unterscheidet, und oft sorgfältig zu unterscheiden sucht, hat auch eine Anzahl eigenthümlicher Ausdrücke und Phrasen. Bey allen Studirenden aller Universitäten findet sich ein mehr oder weniger wortreiches Idiotikon. Viele Wörter sind auf jeder Universität zu finden; viele hingegen sind nur auf Einer gebräuchlich. Manche sind so ziemlich sinnlos, manche hingegen sehr naiv und ihrer Bedeutung angemessen. Kürze und Derbheit sind das Gepräge der meisten." „ K ü r z e " u n d „ D e r b h e i t " sind hier die z w e i w e s e n t l i c h e n S t i c h w ö r t e r , die unsere M o t i v s u c h e begleiten. Sie u m s c h r e i b e n z u m einen die

objektiven

C h a r a k t e r i s t i k a eines g r o ß e n Teils des s t u d e n t i s c h e n W o r t s c h a t z e s , sprechen zugleich a b e r a u c h die s c h ö p f e r i s c h e n S p e z i f i k a des studentischen S p r a c h s u b jekts an. Beispiele f ü r „ K ü r z e " liefert dabei das in d e r R e g i o n f u ß e n d e TeilL e x i k o n der h i s t o r i s c h e n S t u d e n t e n s p r a c h e in reichlichem M a ß e , e t w a mit

Einsilbern wie Flausch, flott, forsch, Hacksch, Hutsch, knill, Knopp, Pimp, P u f f , Pump, Quarks, Rand, Schiß (haben), Schwof, teek oder Zweisilbern wie Anschiß, Bude, bummeln, buxen, fluschen, grölen, hackschen, hutschen, fapper, Kater, Kneipe, Knote, kröpeln, mollig, Nusche, pumpen, Randal, rempeln, r ü f f e l n , schippen, schleppen, schmeißen, Schmöker, Schmollis, Schniepel, schuppen, Schwimel und schwofen. D a s K r i t e r i u m „ D e r b h e i t " läßt sich h i n g e g e n all den in diesem Beitrag a n g e f ü h r t e n W ö r t e r n nicht o h n e w e i t e r e s z u e r k e n n e n , sieht m a n vielleicht

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von Beispielen mit besonderer eigensemantischer Ausstrahlung ab wie bei Schiß, Anschiß, Verschiß usw. Die übrigen Wörter können nämlich nur dann als „derb" gelten, wenn sie gewissermaßen mit zweisprachiger Elle gemessen werden, wenn man mit ihrem Gebrauch bzw. ihrer Kenntnis — unausgesprochen — lexikalische Äquivalente höheren Sprach- oder auch nur Stilniveaus assoziiert. Und hierin liegt wohl eines der Geheimnisse für die Aufnahme dieser Wörter in die Studentensprache begründet: mit ihnen ließen sich bequem Kontrapositionen zum „anständigen" Sprachgebrauch des universitätsstädtischen Normalbürgers oder Philisters aufbauen, von welchem sich das studentische Individuum und die studentische Gruppe insgesamt in jeglicher Hinsicht zu unterscheiden suchte. Die Bandbreite der Möglichkeiten erstreckte sich bei dem vorgestellten Wortmaterial auf die unmittelbare Übernahme lautlicher bzw. lexikalischer Regionalismen wie bei gemeen und Knote oder teek und grölen über Registervarianten wie anschnarchen statt anfahren oder verkloppen statt verkaufen, Hybridbildungen wie Knillität oder in schwulibus, semantische Umwertungen wie bei Sauschwein und Luderpech bis hin zu Bedeutungsübertragungen, wie sie flott, Nusche oder bummeln vorweisen. Es ist aber nicht allein der „Kontra"-Aspekt, der die Aufnahme von regionalem Sprachmaterial in die Studentensprache und ihren Ausbau zu einer „Kontrasprache" (Terminus nach Bausinger 1984, 124) begünstigt zu haben scheint. Der bis in kleinste Kleinigkeiten geregelte Verhaltenskodex der „Bursche", ihr Comment, der das Beleidigen und Raufen, das Trinken und Spaßmachen, das Renommieren vor seinesgleichen und das Provozieren der Bürger und der Obrigkeit absteckte, bedurfte allzeit und immer wieder von neuem der sprachlichen Ausgestaltung. Was lag daher näher, als regelmäßig solches Sprachmaterial zu vereinnahmen, das die eigenen Absichten sprachlich am prägnantesten zusammenfaßte, oder modern ausgedrückt: „auf den Punkt brachte". Hier bot es sich förmlich an — zumal der frühere Student in der Regel immer auch mit Formen regionaler Varietäten aufgewachsen war — auf eben diese Varietäten zurückzugreifen und regionales Sprachmaterial für seine Zwecke einzusetzen. Der Gebrauch in der studentischen Gruppe einer Universität und dann von Universität zu Universität regulierte binnen kurzer Dauer ganz von selbst in praxi die neue Bedeutung oder Verwendungsweise eines ehemaligen Regional Wortes. Eines der vielen studentischen „Kunstwörter" ward dann geboren. Die „Kürze" mancher dieser Wörter war im Grunde nur eine sprachökonomisch willkommene Dreingabe, sicherlich mit Auswirkung auf den Beliebtheitsgrad gerade solcher „Regionalwörter". Andererseits dürfte die sprachökonomische Möglichkeit eines Formenausgleichs im System des Plurals die studentische Vorliebe für den kurzen (niederdeutschen) j-Plural durchaus gefördert haben — zumal vielen Studenten aufgrund ihrer norddeutschen Herkunft diese Pluralform ohnehin geläufig war.

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Nach soviel „Derbheit" zum Schluß nun ein Gruß an den Jubilar, dem dieser Beitrag zum 80. Geburtstag zugeeignet ist: Theurer Lehrer! Ich dein Hörer Rufe dir ein Vivat aus. Vivat der Herr Professor L. E. Schmitt hoch! Wer hierbey die Nase rümpfet, Sich moquiret oder schimpfet, Pereat zu Staub und Graus! (Nach einem Jenenser Blatt von 1775)

Literatur Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 4 Teile. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793—1801. Allgemeine Deutsche Studentensprache [Jena I860]. In: Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache, Bd. 3, 401—456. Augustin, Christian Friedrich Bernhard, Idiotikon der Burschensprache [Quedlinburg 1795]. In: Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache, Bd. 2, 315—443. Basler Studentensprache [Basel 1910]. In: Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache, Bd. 5, 2 6 1 - 3 4 4 . Bausinger, Hermann, Deutsch für Deutsche. Dialekte, Sprachbarrieren, Sondersprachen. Aktualisierte Neuausgabe. Frankfurt a. M. 1984. Bergmann, Gunter, Kleines Sächsisches Wörterbuch. Leipzig 1986. Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache. Bd. 1 — 6. Hrsg. von Helmut Henne und Georg Objartel. Berlin/New York 1984 (Bd. 1: Historische deutsche Studenten- und Schülersprache. Einführung, Bibliographie und Wortregister von Helmut Henne, Heidrun Kämper-Jensen und Georg Objartel; Bd. 2: Wörterbücher des 18. Jahrhunderts zur deutschen Studentensprache. Hrsg. von Helmut Henne und Georg Objartel; Bd. 3: Wörterbücher des 19. Jahrhunderts zur deutschen Studentensprache I. Hrsg. von Helmut Henne und Georg Objartel; Bd. 4: Wörterbücher des 19. Jahrhunderts zur deutschen Studentensprache II. Hrsg. von Helmut Henne und Georg Objartel; Bd. 5: Wissenschaftliche Monographien zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache. Hrsg. von Helmut Henne und Georg Objartel; Bd. 6: Kleinere wissenschaftliche Beiträge zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache. Anhang: Verdeutschungswörterbücher. Hrsg. von Helmut Henne und Georg Objartel). [Bremisches Wörterbuch.] Versuch eines bremisch-niedersächsischen Wörterbuchs, worin nicht nur die in und um Bremen, sondern auch fast in ganz Niedersachsen gebräuchliche eigenthümliche Mundart nebst den schon veralteten Wörtern und Redensarten in bremischen Gesetzen, Urkunden und Diplomen, gesammelt, zugleich auch nach einer behutsamen Sprachforschung, und aus Vergleichung alter und neuer verwandter Dialekte, erkläret sind: herausgegeben von der bremischen deutschen Gesellschaft. 5 Teile. Bremen 1767 — 1771. Burschikoses Wörterbuch oder Studentensprache [Bonn 1865], In: Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache, Bd. 3, 519—544. Campe, Joachim Heinrich, Wörterbuch der deutschen Sprache. 5 Teile. Braunschweig 1807 — 1811.

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HANS-DIETER

KREUDER

Anstöße zur Begründung der Metasprachlichen Lexikographie 1. Probleme des neunzehnten Jahrhunderts im Umgang mit der grammatischen Terminologie 2. Erste Bemühungen um ein Wörterbuch der sprachwissenschaftlichen Terminologie Literatur

1. Probleme des neunzehnten Jahrhunderts im Umgang mit der grammatischen Terminologie 1.1. Ausgangslage In der (noch immer zu schreibenden) Geschichte der Linguistik gilt das neunzehnte Jahrhundert bekanntlich als historisches Datum, weil eben damals die Beschäftigung mit dem Phänomen Sprache sich von philosophischen Spekulationen und präskriptiven Normvorstellungen der bisherigen Grammatikforschung deutlich absetzte, um unter Anwendung der vergleichenden und der historischen Methode erst eigentlich den Rang einer wissenschaftlichen Disziplin zu erlangen, die ihren Gegenstand auf der Grundlage einer allgemeinen Theorie objektiv untersucht. Der sich daraus ergebende Aufschwung der Sprachwissenschaft, der zu gänzlich neuen Erkenntnissen über die „innre Structur der Sprachen" (Schlegel 1808, 28) führen sollte, brachte eine starke Ausweitung des Forschungsfeldes mit sich, was gleichzeitig zur Folge hatte, daß die von der Philologie übernommene klassische grammatische Terminologie als Deskriptionsinstrumentarium nicht mehr ausreichte, so daß eine Vielzahl neuer Fachausdrücke geprägt werden mußte. Damit traten Begriffe wie Anlaut, Lautverschiebung, Rückumlaut, Brechung etc., die sich, bedingt und gefördert durch die Bildung linguistischer Schulen, in der Fachwelt rasch einbürgerten, neben die traditionellen Termini Genus, Tempus, λ/erbum, Partizip etc., die, ursprünglich von den Griechen fixiert, in die lateinische (Schul-) Grammatik übertragen und von da aus seit dem ausgehenden Mittelalter bereits zum Gemeingut der gesamten abendländischen Welt geworden waren. So selbstverständlich seither an den aristotelisch-scholastischen Kategorien in Ermanglung eines besseren Systems als Grundstock metasprachlicher Terminologie festgehalten wird, so umstritten blieb allerdings zu allen Zeiten die Frage, ob dafür auch die lateinischen Namen beibehalten oder durch

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deutsche ersetzt bzw. deutsche nebenher als Äquivalente gebraucht werden sollten. Vom ersten Auftreten deutscher Grammatiker im sechzehnten Jahrhundert an waren nämlich immer wieder Versuche unternommen worden, volkssprachliche Bezeichnungen zur Beschreibung des grammatischen Baues der deutschen Sprache einzuführen, die, von den Sprachreinigungsbestrebungen des siebzehnten Jahrhunderts forciert, ungeachtet ihrer oft schwerfällig anmutenden Resultate in den einschlägigen Werken von Gueintz (1641), Schottel (1663) und Stieler (1691) erstmals schließlich einen „fest umrissenen deutschen Fachwortschatz" (Leser 1912, 71) hatten entstehen lassen. Diese Tradition war im achtzehnten Jahrhundert insbesondere von Gottsched fortgesetzt worden und hatte zuletzt in Campe einen beredten Fürsprecher gefunden, dessen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in der Form einer systematischen Zusammenstellung publizierter „Versuch einer genauem Bestimmung und Verdeutschung der für unsere Sprachlehre gehörigen Kunstwörter" ausdrücklich die Absicht verfolgte, der Fachwelt zu einer besseren Terminologie zu verhelfen als es bisher die „Bettlerkrücke der alten Lateinischen Kunstsprache" zu sein vermochte, „welche bekanntlich eine sehr unvollkommne, dem Gliederbaue unserer Sprache zum Theil gar nicht angemessene, mit unter sogar eine seltsame ist" (Campe 1804, 7). Mit dem Wunsch nach einer ,passenden' Bezeichnung war freilich zugleich das eigentliche Problem benannt, an dem auch das neunzehnte Jahrhundert nicht vorbeigehen konnte: der grundsätzlich schiefe Ansatz, der sich aus der mechanischen Übernahme fertiger Kategorien von der griechischen und lateinischen Sprache auf die deutsche ergab und zwangsläufig zu terminologischen Unklarheiten führen mußte. Gottsched, vom schöpferischen Reichtum der deutschen Sprache überzeugt, die es nicht nötig habe, ihre Fachausdrücke von den alten Sprachen zu „borgen", hatte gleichwohl den zugrundeliegenden terminologischen Raster nicht in Frage gestellt, als er die Vorrede zur ersten Ausgabe seiner „Sprachkunst" (1748) mit den Worten beschloß: Und was kann in der That wunderlicher seyn, als zu fordern: daß ein Deutscher erst eine lateinische, oder französische Grammatik können müsse, ehe er seine Muttersprache recht richtig reden und schreiben lernen kann? Ich habe aber unter allen grammatischen K u n s t w ö r tern unserer Alten, nach meinem Bedünken, die besten, bequemsten, und der gemeinen A r t zu reden gemäßesten erwählet. Nur wenige habe ich mich erkühnet, noch etwas besser einzurichten.

Er war für deutsche Benennungen eingetreten, weil er vor allem Volksbildung betreiben wollte, und hatte eben deshalb prinzipiellen Erwägungen über die Richtigkeit der grammatischen Bezeichnungen keinen Raum gegeben, wie sie für Grammatiker, die sich vornehmlich an humanistisch gebildete Leser wandten, vielmehr selbstverständlich waren. So ließ Aichinger beispielsweise in seinem nur wenige Jahre nach Gottscheds „Sprachkunst" erschienenen „Versuch einer teutschen Sprachlehre"

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keinen Zweifel daran, daß die griechisch-lateinischen Kunstwörter der deutschen Grammatik „wenig adäqvat" seien, und suchte ihre Weiterverwendung im Deutschen vor allem mit dem Hinweis zu rechtfertigen (Aichinger 1754, 124): Nachdem sich die Gelehrten darüber vereinigt haben, so gelten sie wie das Geld: ob sie gleich den Werth am Gewichte, d. i. die K r a f f t der völligen Bedeutung nicht haben.

Ebenso führte Adelung in der Vorrede zum „Umständlichen Lehrgebäude der Deutschen Sprache" Klage darüber, daß „fast alle unsere bisherige Deutsche Sprachlehren Copien der Lateinischen sind, wo man die dort üblichen Begriffe und Rubriken beybehalten" (Adelung 1782, X I ) hat, und kritisierte diese Haltung als „ewige knechtische Anhänglichkeit", die doch nur „tausend Verwirrungen und Ungereimtheiten" (Adelung 1782, X V I I ) in die deutsche Grammatik eingeführt habe. Dennoch sah er genau wie Aichinger keine Möglichkeit, gänzlich auf die alte Nomenklatur zu verzichten, sondern warnte ausdrücklich davor, der Sprachlehre „durch Neuerungen einen Reitz zu geben, welcher nur Unkenner und auch diese nur auf kurze Zeit blenden kann" (Adelung 1782, XII). Diese Worte fanden um so mehr Widerhall, als es den Verfechtern einheimischer Entsprechungen in der Tat kaum jemals gelungen war, ihren selbstgegebenen Anspruch einzulösen und deutsche Fachausdrücke zu prägen, die einen deutlicheren Begriff von der Sache zu geben vermochten als die ursprünglichen fremden Namen. Vielmehr hatte der aus der Mangelhaftigkeit ihrer Versuche resultierende Zwang zu ständigen Besserungen im Laufe der Zeit einen derartigen terminologischen Wirrwarr heraufbeschworen, daß es den führenden Grammatikern des achtzehnten Jahrhunderts schon aus Verständigungsgründen geboten schien, an der lateinischen Nomenklatur festzuhalten, die, so „unschicklich" sie ansonsten auch sein mochte, zumindest den Vorteil hatte, nun „einmahl allgemein bekannt" (Adelung 1782, XII) zu sein. Demgegenüber führten sie (wie ζ. B. Aichinger 1754) Verdeutschungen allenfalls als Synonyme an, ohne freilich von deren Nutzen recht überzeugt zu sein. Kritik wurde vor allem daran geübt, daß die Verdeutschungen in der Regel zu monströs geraten waren und schon von daher sich als wenig handlich erwiesen. K a u m eine von ihnen wurde dem (u. a. bei Adelung 1782, X I I formulierten) Grundsatz gerecht: „Ein gutes Kunstwort muß den richtigen Begriff der Sache erschöpfen, leicht verständlich seyn, und dabey weder den Sprachgebrauch, noch den Geschmack und Wohllaut beleidigen", wie denn auch nahezu alle (notwendigerweise) der Gefahr Vorschub leisteten, von ihrem Lautkomplex her unerwünschte Nebenbedeutungen zu evozieren. Angesichts dieser Sachlage hatten es die von Campe angeführten Verfechter einer rein deutschen Terminologie, die sich neben Gottsched unter anderem auch auf Klopstock berufen konnten, schwer, ihrem in seinen Konsequenzen

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so radikal mit der Tradition brechenden Anliegen ausreichend Gehör zu verschaffen. Gleichwohl hielten sie, wie der mit Meiner befreundete Philosoph Tiedemann in seinem 1772 anonym publizierten „Versuch einer Erklärung des Ursprunges der Sprache" formulierte, daran fest, daß es „unschicklich" sei, „in einer deutschen Rede lateinische Worte zu mischen, da wir schon gute deutsche haben, die eben das anzeigen", und wurden nicht müde zu beharren, wie „sehr klein" doch die Bemühung sei, „sich diese Worte bekannt zu machen" (Tiedemann 1772, 7). Allein waren sie freilich nicht in der Lage, ihre Forderungen zu verwirklichen, so daß sie statt dessen alle Hoffnung darauf setzten, daß eine „machtsprecherische" Übereinkunft (Campe 1804, 8) unter den Fachgenossen endlich Klarheit in das Durcheinander ihrer volkssprachlichen Nomenklatur bringen möge, damit sie ihrem aufklärerischen Bemühen um „Erleuchtung unserer Mitmenschen" noch besser als bisher nachkommen könnten (Campe 1813, 35): So lange wir ausländische, Griechische und Lateinische, wissenschaftliche K u n s t w ö r t e r haben und gebrauchen, sind und bleiben alle darin eingeschlossene Begriffe und Kenntnisse f ü r diejenigen, welche nicht Griechisch und Latein verstehn, — also f ü r die ganze grosse Masse des Volks — so gut als gar nicht da, so gut als verloren.

Andererseits mußten die Puristen jedoch auch gegen jene zeitgenössischen Stimmen ankämpfen, die nicht einmal ein Nebeneinander von lateinischen Termini und deutschen Äquivalenten zulassen wollten, sondern sich entschieden dafür aussprachen, ausschließlich die fremde Nomenklatur zu gebrauchen (Gedike 1779, 396): Die Erfindung neuer Kunstwörter für alte Begriffe hat überdies noch den Schaden, daß man nun zweierlei Kunstsprachen lernen muß. Denn die Kenntnis der altern Kunstsprache bleibt ja doch wegen der altern und wegen der beim Alten bleibenden neuern Schriftsteller durchaus unentbehrlich. So nüzlich und nothwendig Synonymen in der Sprache der Poesie und der schönen Prose sind, so schädlich sind sie in der Kunstsprache. Denn die Seele muß nun beim Hören und Lesen immer erst eine Weile still stehen, um sich bewust zu werden, daß und wiefern das ihr ungewöhnlichere Kunstwort, sei es das ältere oder neuere, gleichbedeutend mit dem ihr gewöhnlichem ist. Dies gilt besonders von der grammatischen Kunstsprache.

Diese letztgenannte Ansicht rundet, indem sie den genauen Gegenpol zu allen damaligen Verdeutschungsbestrebungen darstellt, zugleich das Panorama der Meinungen ab, wie es in Deutschland um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert in der Frage der grammatischen Terminologie bestand: rigoroser, durch humanistische Bildung geprägter Konservatismus zugunsten traditioneller Bezeichnungen sowie das konventionell-pragmatische Verfahren lateinisch-deutscher Doppelbezeichnungen auf der einen Seite stehen neben der Propagierung rein deutscher Fachausdrücke durch aufklärerisch-national gesinnte Puristen auf der anderen Seite und lassen in ihrer unüberwindbar scheinenden Gegensätzlichkeit bereits den Kern der Ausein-

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andersetzungen erkennen, von denen fortan die terminologische Diskussion in Sprachwissenschaft und Sprachunterricht bestimmt sein sollte. 1.2. Der Standpunkt der Sprachwissenschaft Mit der Begründung der vergleichenden historischen Grammatik durch Bopp, Rask und Grimm war für die Sprachwissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts der Augenblick gekommen, ihr Verhältnis zur grammatischen Terminologie zu überdenken und zumindest in ihren Reihen den Streit um lateinische oder deutsche Benennungen zu einem vorläufigen Abschluß zu bringen. Dabei kam der wichtigste Einfluß Jacob Grimm zu, der als Wortführer der neuen Wissenschaft für eine Beibehaltung der lateinischen Termini plädierte, während er deutsche nur dort zulassen wollte, wo den antiken Grammatikern entsprechende Begriffe gefehlt hatten. Zusammengefaßt lassen sich seine Argumente dafür in folgenden fünf Punkten wiedergeben: — Bisher sahen die neuen Grammatiker ein Hauptverdienst darin, die lateinische Terminologie zu verdeutschen. Obwohl die Liste der „vielen nach und nach vorgeschlagenen und immer wieder anders vorgeschlagenen deutschen Namen" lang ist, seien doch alle diese Ausdrücke für wissenschaftliche Zwecke nicht zu gebrauchen, da sie „undeutlich und unbestimmt erscheinen" (Grimm 1819, X X I ) . — Für die Beibehaltung der herkömmlichen Termini spreche sowohl der Punkt, daß sie „uns von Kindheit an durch den Schulunterricht eingeprägt" (Grimm 1 8 1 9 , X X I ) sind, als auch die Tatsache, daß sie einen höheren Abstraktionsgrad aufweisen als die entsprechenden deutschen Bezeichnungen. Jede Übersetzung oder Nachahmung hingegen müsse, wenn nicht „lächerlich", so zumindest „unverständlich" wirken. — Von den lateinischen Benennungen lassen sich, was eine „gar nicht zu verachtende Bequemlichkeit" (Grimm 1 8 1 9 , X X I I ) sei, leichter Ableitungen bilden als von den deutschen Umschreibungen. — Der internationale Charakter der neueren Sprachwissenschaft erfordere eine über nationale Grenzen hinausgehende einheitliche Terminologie. Dazu eigne sich nichts besser als die bei den Philologen längst eingeführten lateinischen Kunstwörter, „die sogar in üblicher abkürzung von jedermann verstanden werden" (Grimm 1854, X X X V I I I ) . — Soweit es um die Erfassung eigentümlicher Verhältnisse der deutschen Sprache geht, empfehle sich der Versuch, einheimische Fachausdrücke zu wählen, und es darauf ankommen zu lassen, ob der wissenschaftliche Fortschritt daran festhalten oder sie verwerfen werde.

Grimms Absage an die lateinisch-deutschen Doppelbezeichnungen bedeutete allerdings nicht, daß die Mängel der traditionellen Termini vollends übersehen wurden. Er wußte sehr wohl, daß sich „einiges gegen ihren ursprünglichen sinn einwenden" ließe; doch die Möglichkeiten, die sie als „in ganz Europa verständliche ausdrücke" (Grimm 1840, 29) boten, waren ihm ein Gewinn, den er ungleich höher einschätzte als alles, was zugunsten einheimischer Entsprechungen vorgetragen werden konnte. Nachdem Grimm sich solcherart des Themas angenommen hatte, gab es in der Folgezeit keinen Sprachwissenschaftler von Rang, der nicht in seinen Werken an den lateinischen Bezeichnungen der grammatischen Kategorien

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festhielt, noch es für notwendig erachtete, sein diesbezügliches Vorgehen vor der Öffentlichkeit überhaupt zu rechtfertigen. Vielmehr wurde der ausschließliche Gebrauch jener Termini so rasch zur selbstverständlichen Gewohnheit, daß sich aus den Reihen der auf Grimm folgenden Generation bereits warnende Stimmen vor einer „Willkührlichkeit der Grammatiker" (Pott 1833, X X I ) im Umgang mit der herkömmlichen Nomenklatur erhoben, wobei vor allem die Skrupellosigkeit beklagt wurde, mit der nicht selten grammatische Bezeichnungen von den Erscheinungen einer Sprache auf die einer anderen übertragen würden (Pott 1833, X X I ) : Die technischen Ausdrücke der Lateinischen Grammatik müssen, auf andere Sprachen angewandt, da dasjenige, welchem sie in diesen als Namen gegeben werden, selten dem, im Lateinischen durch sie Bezeichneten völlig adäquat ist, falls man sie nicht näher bestimmt und erläutert, die gröbsten Irrthümer und Mißverständnisse erzeugen. Manche Verfasser von Grammatiken reden uns ζ. B. viel von Gerundien und Supinen in dieser oder jener Sprache vor, während die wenigsten, ich wette, eine Ahnung von der wahren Wort-, wie viel weniger Sachbedeutung jener Wörter, auch nur im Lateinischen, hatten.

Den gleichen Gedanken griff wenige Jahre später noch einmal Steinthal auf, als er in der Einleitung zu seiner „Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern" aus der Kritik an der „gedankenlosen" Aneignung dieser Namen die Notwendigkeit ableitete, das „Bewußtsein von den grammatischen Kategorien" zu entwickeln und insbesondere wissenschaftlich zu fundieren (Steinthal 1863, 3): Der Sprachforscher nun aber, der sich fortwährend in jenen grammatischen Ausdrücken bewegt, und der dennoch die Entstehung und den ursprünglichen Sinn und die Entwicklung derselben nicht kennt, kann dem Vorwurf einer wirklichen Lücke in seiner Bildung wohl schwerlich entgehen. Es hat gewiss manchen grossen Philologen gegeben, der sich nie gefragt hat: was bedeutet denn wohl der Name casus accusativus'i Aber man kann auch nicht leugnen, dass dieser .anklagende Fall' doch eine gewisse Gedankenlosigkeit eines solchen Grammatikers anklagt.

Mehr noch als einzelnen Fachwissenschaftlern galt Steinthals Vorstoß allerdings der historischen Sprachforschung überhaupt, die, wie er an anderer Stelle darlegte, es bisher versäumt habe, ihre Terminologie explizit zum Gegenstand philosophischer Reflexion zu machen, sondern sich der ihr von der philosophischen Grammatik des achtzehnten Jahrhunderts vorgegebenen traditionellen Bezeichnungen „unbesehens" bediente, ohne sich darum zu kümmern, wie jene „zu den Kategorien des Substantivums, des Verbums, der Casus und Modi gekommen" sei (Steinthal 1850, 209). So berechtigt dieser Einwand war, dem nicht zuletzt die Unterstützung der klassischen Philologie gewiß sein konnte, so wenig war doch die damalige Sprachwissenschaft bereit, angesichts ihres weit ausgreifenden Sprachenstudiums, dem sie fortwährend neue Daten verdankte, in eine zeitraubende terminologiekritische Grundlagendiskussion zu treten. Das änderte sich selbst dann nicht, als im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die Junggrammati-

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ker hervorzutreten begannen, zumal sie mit den gleichen Argumenten wie Grimm an der über zweitausend Jahre alten Nomenklatur festhielten und einer exakten begrifflichen Grundlegung dadurch aus dem Wege gingen, daß sie die traditionelle Terminologie als eine zwar nicht immer genau passende, dafür jedoch um so bequemer zu handhabende „Schablone" (Paul 1891, 192) verstanden. Gleichwohl empfanden auch die Junggrammatiker ein deutliches Unbehagen an dem herkömmlichen Kategoriensystem, das sie eben deshalb akzeptierten, weil eine befriedigendere Konzeption nicht in Sicht war. Konsequenterweise hoben sie speziell auf die „guten Dienste" (Paul 1891, 194) ab, die das antike Kategoriensystem trotz aller Unzulänglichkeit besonders für den ersten Aufbau der Flexionslehre und der Syntax geleistet habe, während sie zugleich bemüht blieben, den zügigen Ausbau eines darauf fußenden differenzierteren Begriffsapparates zu betreiben, der über die alte grammatische Terminologie hinaus eine umfassende sprachwissenschaftliche Terminologie zu etablieren verhalf, als deren Schwerpunkt sich auf den morphologischen folgend zunächst insonderheit der lauthistorische Bereich herauskristallisierte. In welchem Maße damals das Begriffsinventar der Sprachwissenschaft gerade von lauthistorischer Seite her durch neue Termini bereichert wurde, wird bereits deutlich, wenn man nur an solche Beispiele wie Abtönung, Abstufung, Gleitlaut, Kentumsprachen, Lautgesetz, spontaner/kombinatorischer Lautwandel, Lautwechsel, Moullierung, Murmelvokal, Phonem, Satemsprachen, Sonant, Vemersches Gesetz (grammatischer Wechsel) erinnert, die seitdem allesamt Eingang in die einschlägigen Grammatiken und Handbücher gefunden und sich dort als ebenso unentbehrlich erwiesen haben wie die der traditionellen Nomenklatur zugehörigen Termini. Dazu trat in jenen Jahren außerdem noch der starke Einfluß naturwissenschaftlichen Denkens auf die Linguistik, der, zumal ihm die in den älteren Bezeichnungen Stamm, Wurzel, Tochtersprache, Sprach^weig etc. weiterwirkende Sichtweise von der Sprache als Organismus entgegenkam, gleichfalls in der Terminologie seinen Niederschlag fand und sie nicht minder nachhaltig prägte als die wachsende Einbeziehung psychologischer, soziologischer sowie vor allem geographischer Faktoren in sprachwissenschaftliche Fragestellungen, so daß gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit der Etablierung neuer Teildisziplinen der ,Glottik', wie die Wissenschaft von der Sprache damals mitunter genannt wurde, insgesamt ein Fachwortschatz von bisher nicht dagewesener Komplexität zur Verfügung stand, der zwangsläufig immer weniger zu überschauen war und damit wiederum vermehrt zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion werden mußte. Anders als früher, da der terminologische Apparat der Linguisten in sich noch weniger gefestigt war, konnte es im folgenden allerdings nicht mehr um eine grundsätzliche Infragestellung dieser Nomenklatur gehen, sondern allenfalls um die Auseinandersetzung mit bestimmten Fehlentwicklungen,

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deren Ursprünge entweder direkt aus der rasanten Expansion des Forschungsgegenstandes resultierten oder zumindest in engster Beziehung dazu standen. Ein erster Ansatzpunkt für die zeitgenössische Kritik war dabei die unter Fachvertretern immer wieder zu beobachtende Neigung, Fragen der Namengebung so viel Gewicht beizumessen, daß über derartigen „Äusserlichkeiten der Terminologie" (Brugmann 1885, 86) die eigentliche Sache zunehmend aus den Augen geriet. Wie brisant dieses Problem damals war, geht nicht zuletzt aus dem von Osthoff und Brugmann verfaßten „glaubensbekenntniss" der Junggrammatiker (Osthoff/Brugmann 1878, III ff.) hervor, in dem wiederholt darauf verwiesen wird, welch „gefährlicher feind der Wissenschaft" die Terminologie sei, wenn man sich von ihr in solchem Grade beherrschen lasse, „dass man fortwährend bildliche ausdrücke für die Wirklichkeit selbst nimmt und begriffe, die lediglich grammatische anschauungsformen sind, in die spräche selbst hineinträgt" (Osthoff/Brugmann 1878, XV). Zu diesen Warnungen vor einem Fetischisieren der Terminologie gesellte sich andererseits die Sorge um Eindämmung des terminologischen Wildwuchses, der mit dem raschen Fortschreiten der Sprachwissenschaft üppiger denn je zu sprießen begonnen hatte und infolgedessen Kritiker (ζ. B. Erdmann 1883, 306) immer häufiger veranlaßte, gegen die „gedankenlose anwendung" einer Bezeichnung zu Felde zu ziehen oder dem „mißbrauch" eines Wortes entgegenzutreten. Darüber hinaus machte sich erstmals verstärkt ein Übel bemerkbar, dem wir bis zum heutigen Tage eine „unheilvolle Verwirrung in der Terminologie" (Kern 1888, 50) verdanken, nämlich das auf der systemhaften Einbindung eines Terminus in verschiedene theoretische Konzeptionen basierende Phänomen, daß bei gleichbleibender Bezeichnung eine oft unterschiedliche Bedeutung vorliegt. So faßten die Junggrammatiker ζ. B. Analogie genau als das Gegenteil dessen, was die antike Grammatik darunter verstanden hatte; Attraktion in der Lautlehre meinte etwas anderes als Attraktion in der Satzlehre, und Ausgleich konnte sogar innerhalb des gleichen Sachgebietes Verschiedenes ausdrücken, je nachdem, auf welchen Autor man sich berief. Divergenzen über die ,richtige' Art der Benennung blieben denn auch selbst unter Fachgenossen nicht aus, zumal noch immer Stimmen laut wurden, die gegen eine Übertragung der herkömmlichen Namen für grammatische Kategorien auf ähnliche Funktionen in Sprachen mit gänzlich anderer Struktur Einspruch erhoben und stattdessen eine für diese Sprachen jeweils eigene Nomenklatur forderten (vgl. Gabelentz 1901, 114 f.): Da soll man hier nicht von Wörtern, sondern etwa von Stämmen oder Wurzeln, dort nicht von Verben, sondern etwa von Nomen-verbis oder von Prädicatsnominibus, da wieder nicht von Casus, sondern von Positionen, nicht von einem Nominativus, sondern vom Wortstamme reden, und was dessen mehr ist.

Solche „Wortstreitereien" (Gabelentz 1901, 114) waren zweifelsohne geeignet, Unsicherheit zu verbreiten, und doch besaßen sie, eben weil sie nie das

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gesamte Begriffsinventar der Linguistik einbezogen, sondern stets nur Einzelfalle betrafen, bei aller Unerquicklichkeit nicht das Gewicht, um die metasprachliche Kommunikation der Fachwissenschaftler untereinander prinzipiell in Frage stellen zu können. Vielmehr hatte sich deren terminologischer Apparat, wie nicht zuletzt aus der großen Zahl an Abweichungen' von der altgewohnten Sprache der Grammatik hervorgeht, bis zur Jahrhundertwende als selbständige Erscheinung längst konsolidiert und darüber hinaus bereits so weit einen „esoterischen Charakter" (Brugmann 1904, 30) angenommen, daß ein ursprünglich speziell „für Lehrer, Studierende und Lehrerbildungsanstalten" gedachtes Handbuch zur deutschen Sprache aus dem Jahre 1900 von seinem Verfasser in der zweiten Auflage erst zusätzlich mit dem entsprechenden J a r g o n ' der Sprachwissenschaft versehen werden mußte (Sütterlin 1907, IX), „damit auch die Gelehrten [es] verstehen" (!) konnten. 1.3. Der Standpunkt der Schule Während es der Sprachwissenschaft in dieser Weise gelungen war, ihren terminologischen Rahmen klar abzustecken, hatte die Schule zur gleichen Zeit weiterhin mit den Schwierigkeiten zu kämpfen, die seit dem Aufkommen deutscher Grammatiken im sechzehnten Jahrhundert den Umgang mit der traditionellen Nomenklatur zum Streitpunkt hatten werden lassen. Gerade bei so fundamentalen Kategorien wie Wortarten, Wortformen und Satzglieder hatte sie noch immer keine Einigkeit in der Benennung erzielen können, so daß auch der Sprachunterricht des neunzehnten Jahrhunderts, der ohnehin aufgrund seines damaligen Selbstverständnisses lange Zeit nahezu ausschließlich Grammatik im herkömmlichen Sinne betrieb und von den Forschungsergebnissen der neuen Wissenschaft erst spät Kenntnis nahm, in derartigen Fällen je nach Schultyp und Jahrgangsstufe entweder die lateinischen Namen verwenden oder aber auf deutsche Bezeichnungen zurückgreifen mußte, die sich freilich nicht nur von den in den neuphilologischen Fächern üblichen unterschieden, sondern oft sogar noch von Lehrer zu Lehrer variierten. Welche Auswirkungen dieses Verwirrspiel im einzelnen hatte, machte bereits Heyse deutlich, als er in der Einleitung zu seiner „Deutschen Grammatik" auf die „dem Wechsel und daher auch der Verwechslung so sehr ausgesetzten Verdeutschungen" zu sprechen kam (Heyse 1822, VI): Wer kann sich auch aus dem Labyrinth der vielen neuen Terminologien leicht herausfinden, da ein und derselbe Begriff oft mit beynahe eben so verschiedenen Namen, als es Sprachlehren giebt, versehen ist! — So heißt ζ. B. das Verbum bald Zeitwort, bald Wandelwort, bald Aussagewort, bald Sagewort, Redewort, Zustandswort, Wirkwort, Handlungswort, Saltwort, Satter u. dergl. — Welchen Ausdruck soll nun der Schullehrer wählen oder beybehalten? Wird er oder sein Nachfolger nicht genöthigt seyn, mit einer neuen Grammatik auch ihre neue Kunstsprache anzunehmen, ohne immer untersuchen zu können, ob sie besser ist als die vorige? — Welche Zeitverschwendung aber für ihn und seine Schüler!

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In den Volks- und Elementarschulen erfolgte die Einführung in die Sprachlehre durchgängig mittels deutscher Bezeichnungen, wobei sich allerdings aufgrund der aus der inkonsequenten Vermischung von logischer Begriffsableitung und imperativer Begriffssetzung resultierenden Widersprüche selbst auf der untersten Stufe schon terminologische Dubletten nicht vermeiden ließen. Ebenso wie die Volksschule bediente sich auch die auf den Besuch höherer Lehranstalten vorbereitende Vorschule anfangs nur deutscher Bezeichnungen, um den notwendigen Grammatikunterricht nicht zusätzlich durch „fremdartige, unverständliche Laute" (Hauber 1904, 405) zu erschweren. Demgegenüber konnte in den Mittel- und Realschulen allein schon wegen des Fremdsprachenunterrichts nicht darauf verzichtet werden, obendrein die lateinische Terminologie zu übernehmen, die im übrigen dem ganz auf wissenschaftliche Studien hin orientierten Gymnasium längst zur Selbstverständlichkeit geworden war und dort mit der gleichen Ausschließlichkeit gebraucht wurde wie anderenorts der einheimische Fachwortschatz, obwohl sich ihre Erlernung im Anschluß an den Erwerb der volkssprachlichen Nomenklatur als überaus schwierig erwies, so daß Methodiker des neunzehnten Jahrhunderts mit guten Ratschlägen zur Einübung der lateinischen Benennungen nicht eben geizten. Problematisch war indessen nicht nur der Umstieg von der deutschen auf die lateinische Nomenklatur oder die Tatsache, daß ähnlich klingende Begriffe wie Konjunktion, Konjunktiv, Konjugation etc. zusätzlich die Gefahr von Verwechslungen heraufbeschwörten. Vielmehr wurde der Umgang mit der grammatischen Terminologie vor allem dadurch erschwert, daß keinerlei systematisches Verzeichnis in der Art eines Glossars oder Vokabulariums zur Verfügung stand, mit dessen Hilfe die Bedeutung eines Terminus in verhältnismäßig kurzer Zeit und ohne größeren Aufwand hätte gezielt erfragt werden können. Lediglich die großen Nachschlagewerke wie „Meyers Konversations-Lexikon" oder die „Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie" des BrockhausVerlages boten unter der Vielzahl ihrer Artikel auch Einträge aus dem grammatischen Bereich, deren Zahl in den frühen Auflagen jedoch allzu gering war und erst mit der wachsenden Bedeutung der Sprachwissenschaft gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts stärker zunahm, ohne freilich dem Anspruch enzyklopädischer Vollständigkeit bereits begegnen zu können. Gleichwohl dürfen wir nicht davon ausgehen, daß der Zugang zu derart vielbändigen Werken in jener Zeit ähnlich leicht war wie heute, so daß insbesondere dem Gros der damaligen Schüler, so weit es terminologische Fragen zu klären suchte, von daher kaum etwas anderes übrig blieb als auf eigene Aufzeichnungen aus dem Unterricht zurückzugreifen bzw. auf eine vom Lehrer benutzte oder empfohlene Grammatik, wobei Lehrbücher der lateinischen Sprache naturgemäß obenan standen, da ihnen zugleich die

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Aufgabe zugewiesen war, in allgemeine Fragen der Sprachbetrachtung einzuführen. Die meisten dieser Schulgrammatiken, Sprachlehren oder Hilfsbücher für den Sprachunterricht bemühten sich auch, die grundlegenden Fachausdrücke der Grammatik im Kontext zu erläutern, was in der Regel dergestalt vor sich ging, daß ein Terminus bei seinem ersten Auftreten definiert und mit der jeweiligen deutschen bzw. lateinischen Benennung versehen wurde. Inhaltlich wie formal unterscheidet sich ein solches Verfahren deutlich von dem entsprechenden Vorgehen in einem Lexikon: zwar wirken die Definitionen in den einschlägigen Schulbüchern nicht unbedingt präziser oder weniger umständlich, doch setzen sie, da sie für einen spezielleren Leserkreis gedacht waren als die Artikel der Konversations-Lexika, normalerweise ein größeres Maß an Wissen voraus bzw. werden erst dann voll verständlich, wenn man auch den jeweiligen Textzusammenhang berücksichtigt, in den sie eingebettet sind. Trotz des prinzipiell gangbaren Weges, mit Hilfe von Grammatiken die Bedeutung eines Terminus erfragen zu können, darf dennoch kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Möglichkeit allenfalls eine Notlösung darstellte, die ohne längerfristige Lektüre selten allein zufriedenzustellen vermochte. Zudem wären Grammatiken erst dann als dauernder Ersatz für ein terminologisches Nachschlagewerk zu gebrauchen gewesen, wenn sie ein Sachregister aufgewiesen hätten und wenn dieses Register gleichzeitig ein vollständiger Index aller im Kontext definierten Termini gewesen wäre. Gerade der letzten Forderung kam jedoch keine der zeitgenössischen Schulgrammatiken nach, so daß insbesondere der weniger sachkundige Benutzer solcher Werke stets in Gefahr war, bei der Suche nach einem bestimmten Terminus in der Mehrzahl der Fälle gleich wieder aufgeben oder aber sich mit einem erfolglosen Blick in das Register bzw. in das dessen Funktion oft übernehmende Inhaltsverzeichnis begnügen zu müssen. Die Hauptlast blieb damit dem Lehrer überlassen, der ständig gezwungen war, die grammatische Terminologie, obwohl sie eigentlich nur ein Mittel zum Verständnis und zur Erlernung einer Sprache ist, selbst zum Gegenstand des Unterrichts zu machen und „mit ihrer Einprägung die Schüler und Schülerinnen zu plagen" (Gelbe 1887, 103), wobei ihm die notwendige Orientierung seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts noch zunehmend durch den Umstand erschwert wurde, daß von selten der Schulgrammatiker immer häufiger Kritik an der Verwendung der althergebrachten (lateinischen) Termini im Unterricht zu hören war und man stattdessen, teils aus pädagogischen, teils aus patriotischen Gründen, wiederum verstärkt für deutsche Bezeichnungen eintrat, gleichzeitig jedoch die Vielfalt der in den philologischen Fächern üblichen Fachausdrücke beklagte und für eine neue Vereinheitlichung der Terminologie plädierte. Je nachdem, welcher Meinung der betref-

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f e n d e A u t o r i m Einzelfall beipflichtete, lassen sich hierbei in d e r F a c h l i t e r a t u r jener J a h r e f o l g e n d e P o s i t i o n e n a u s m a c h e n : — Eine erste R i c h t u n g n a h m , i n d e m sie sich „in H i n s i c h t d e r T e r m i n o l o g i e aus ü b e r w i e g e n d e n G r ü n d e n der e i n m a l h e r r s c h e n d e n , auch in a n d e r n S p r a c h e n g e b r ä u c h l i c h e n lateinischen K u n s t w ö r t e r " (Heyse 1 8 3 8 , V ) v e r p f l i c h t e t w u ß t e , einen k o n s e r v a t i v e n S t a n d p u n k t ein u n d f o r d e r t e u m der w i s s e n s c h a f t l i c h e n V e r s t ä n d i g u n g w i l l e n auch in d e r S c h u l e a u f die b e w ä h r t e N o m e n k l a t u r d e r lateinischen G r a m m a t i k nicht zu v e r z i c h t e n , der g e g e n ü b e r sie die m u t t e r s p r a c h l i c h m o t i v i e r t e n T e r m i n i in i h r e r V e r schiedenheit allenfalls als regionale V a r i a n t e n a k z e p t i e r e n w o l l t e , die n u r beiläufig u n d e r k l ä r e n d zu v e r w e n d e n seien ( L y o n 1 8 9 3 , 7 3 f.): Wir verstehen nicht, warum man durchaus die einheitlichen Fremdausdrücke der Grammatik, die doch vollständig eingebürgert sind und niemand beschweren, beseitigen und durch oft recht schlechte deutsche Ausdrücke ersetzen will. Jede Landschaft hat schon längst ihre deutschen Ausdrücke, die aber von denen anderer Landschaften gewöhnlich vielfach abweichen. Warum will man nun diese lebendige Mannigfaltigkeit der deutschen Ausdrücke, die doch nur erfreulich ist, plötzlich durch ein totes Einerlei ersetzen? Die Einheit der Ausdrücke, wie sie die Wissenschaft erfordert, gewähren uns die fremden Bezeichnungen; lasse man daneben doch jeder Landschaft ihr Recht, die ihr eigentümlichen deutschen Ausdrücke im Volksschulunterrichte zu gebrauchen, dränge man aber nicht die höhere Schule, die einheitliche Benennungen für den Betrieb der deutschen und der fremden Sprachen braucht, durch Einführung willkürlich gemachter oder von einer einzigen Landschaft auf die Gesamtheit übertragener Ausdrücke die Schüler immer noch mehr zu belasten. Wozu die Schablone? — Eine z w e i t e , d e r ersten g e n a u e n t g e g e n g e s e t z t e

Richtung

suchte

aus

p ä d a g o g i s c h e n G r ü n d e n die f r e m d e n T e r m i n i als „ k a u d e r w ä l s c h e N a m e n " ( G e l b e 1 8 8 7 , 1 0 8 ) aus d e m S p r a c h u n t e r r i c h t m ö g l i c h s t g a n z zu v e r b a n n e n , w o b e i n i c h t einmal die v o n d e r G e g e n s e i t e v i e l b e s c h w o r e n e I n t e r n a t i o n a l i tät d e r F a c h a u s d r ü c k e als H i n d e r n i s g r u n d a k z e p t i e r t w u r d e , da es b e k a n n t lich n e b e n d e r g r o ß e n Z a h l an Ü b e r e i n s t i m m u n g e n u n t e r den s p r a c h w i s senschaftlichen F a c h a u s d r ü c k e n w e l t w e i t eine fast e b e n s o g r o ß e Z a h l an Abweichungen gebe (Gelbe 1887, 1 1 1 ) : Und doch, gerade von pädagogischer Seite die Entfernung der Fremdwörter in der Sprachlehre zu verlangen, hat seine volle Berechtigung wegen der Schwierigkeiten, welche die Aneignung und Aussprache den Kindern bereitet. Man muß auf diesem Gebiete gearbeitet haben, um verstehen zu können, welche Marter und Qual Lehrern und Kindern damit bereitet wird; selbst der Trost, daß den Kindern dadurch die Zunge geläufiger wird, kann dafür nicht ausreichen, noch weniger natürlich den großartigen Verlust an Zeit verschmerzen lassen, die besseren Dingen gewidmet werden könnte. Wenn ich nun oben schon den Nutzen der Kenntnis der fremden Ausdrücke für den, welcher fremde Sprachen lernen will oder muß, auf sehr bescheidene Grenzen zurückgewiesen habe, wie gering, wie gleich nichts zu achten ist er für die große Masse unsres Volkes! Darum fürchte ich keinen Widerspruch zu finden, wenn ich verlange, daß aus der Schule und insbesondere aus der Volksschule die fremden Ausdrücke zu entfernen sind. O b w o h l das Ziel dieser R e f o r m r i c h t u n g f r a g l o s eine g r u n d l e g e n d e N e u o r d n u n g d e r T e r m i n o l o g i e w a r , stellte sie sich in i h r e n A u s w i r k u n g e n d o c h n i c h t

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als so einheitlich dar, daß nicht unter ihren Fürsprechern ein früher gemäßigter von einem späteren radikalen Flügel unterschieden werden konnte: Den gemäßigten Vertretern ging es vornehmlich darum, alle bisher üblichen deutschen Ausdrücke zu überprüfen und nur die für gut befundenen beizubehalten. Gleichzeitig wollten sie alle als unbrauchbar erwiesenen Fachausdrücke ungeachtet ihrer Herkunft entweder durch neue deutsche oder auch passende fremde Ausdrücke ersetzen sowie das im muttersprachlichen Grammatikunterricht übliche Nebeneinander verschiedener Benennungen auf eine einzige, in allen Schulen einzuführende Nomenklatur reduzieren, die als gleichberechtigte neben die im Fremdsprachenunterricht jeweils gültige Terminologie treten sollte. Demgegenüber sprachen sich die Vertreter des radikalen Flügels, der vor allem um die Jahrhundertwende zunehmend deutlicher hervortrat, für eine konsequente Verdeutschung der gesamten grammatischen Terminologie aus, wobei sie zugleich stark chauvinistische Töne anklingen ließen (Laube 1913, 147): Eine deutsche Schülerin muß deutsch sagen können, was sie von ihrer Muttersprache zu sagen hat; sie hat demnach von der untersten bis zur obersten Klasse die deutschen Fachausdrücke sich anzueignen und nur neben ihnen sich der fremden zu bedienen; nur so kann dem Übel allmählich gesteuert werden, das jedem Deutschen aus Jahresberichten, Lehrplänen und Lehrbüchern entgegengrinst und ihm wie ein deutsches Leid und eine völkische Schmach vorkommt: das Kauderwelsch von Fachausdrücken für Erscheinungen der deutschen Sprachformen und des deutschen Sprachlebens.

Dennoch gelang es in der Folgezeit weder der konservativen noch der Reformrichtung, sich endgültig durchzusetzen, so daß der Lehrer vielmehr hilflos zwischen den Fronten lavieren mußte und mit einem terminologischen „Wirrwarr" (Baumann 1912, 137) zu kämpfen hatte, der insbesondere von Seiten der radikalen Reformer nicht nur zwischen Wissenschaft und Schule eine unüberbrückbare Kluft aufriß, sondern auch selbst innerhalb des Sprachunterrichts dazu führte, daß eine Verständigung immer weniger möglich schien. 1.4. Der Vorstoß des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins Wie kompliziert die Situation im Grammatikunterricht der Schule geworden war, wurde besonders deutlich, als von 1890 an der Stuttgarter Professor Erbe im Auftrag des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins eine Meinungsumfrage zu den Fachausdrücken der deutschen Sprachlehre durchzuführen begann, die dem Versuch dienen sollte, Ordnung in das Chaos der volkssprachlichen Benennungen zu bringen sowie ihnen über den Bereich der Volksschule hinaus nach Möglichkeit auch in der höheren Schule zur Anerkennung zu verhelfen. Getreu den Prinzipien des erst wenige Jahre zuvor von dem Braunschweiger Museumsdirektor Riegel begründeten Sprachver-

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eins, legte Erbe dabei, ausgehend von dem bereits vorliegenden Entwurf eines Verdeutschungsheftes für die Schule (Scheffler 1889), den Mitgliedern aller einhundertundsechzig Zweigvereine einheitliche Namen für zunächst neunzehn Grundbegriffe der Wort- und Satzlehre zur Begutachtung vor, indem er aus der Vielzahl der vorhandenen deutschen Benennungen diejenigen auswählte, die seiner Meinung nach den folgenden Grundsätzen jeweils am besten gerecht wurden (Erbe 1891): — Sie sollten die fremden Wörter nicht einfach übersetzen, sondern vielmehr ersetzen; — sie sollten möglichst kurz sein; — sie sollten möglichst wohllautend sein; — sie sollten nach Möglichkeit bereits eingebürgert sein; — ein und derselbe Ausdruck sollte nicht in mehrfacher Bedeutung vorkommen; — sie sollten auch für den Fremdsprachenunterricht akzeptabel erscheinen.

So schlug er u. a. Dingwort für Substantiv, Beiwort für Adjektiv, Zeitwort für Verb und Vorwort für Präposition vor; an Stelle von Konjunktion empfahl er Binde- und Fürwort, während er Konjunktiv durch Innerlichkeitsform ersetzen wollte sowie Subjekt durch Hauptding, Objekt durch Gegenstand und Apposition durch Gleichfallbeifügung. Obwohl seine Vorschläge im Einzelfall ausführlich begründet waren, stießen sie in den Zweigvereinen erwartungsgemäß auf erheblichen Widerstand. Bei einer Rücklaufquote der Fragebogen von rund 62 Prozent war vorab ein Viertel bis die Hälfte aller an der Umfrage teilnehmenden Vereine nicht bereit, sich überhaupt festzulegen, wohingegen die restlichen zwar eindeutig Stellung bezogen, doch in keinem einzigen Fall allesamt zum gleichen Ergebnis kamen, sondern sich häufig für ganz andere Verdeutschungen aussprachen, indem sie beispielsweise Hauptwort statt Dingwort, Eigenschaftswort statt Beiwort oder Verhältniswort statt Vorwort favorisierten, gegenüber Innerlichkeitsform für Vorstellungs- bzw. Möglichkeitsform votierten, gegenüber Hauptding für Sat^gegenstand, gegenüber Gegenstand für Ergänzung und gegenüber Gleichfallbeifügung für Beisat%. Wie stark die Meinungen auseinandergingen, zeigte nicht zuletzt auch die Gesamtzahl der pro Begriff genannten VerdeutschungsVarianten, die von 2 bis 21 reichte und auf diese Weise noch einmal dokumentierte, welches Ausmaß an Schwierigkeiten zur damaligen Zeit allen terminologischen Vereinheitlichungsbemühungen entgegenstand. Insofern konnte sich schon, wie Erbe nicht zu Unrecht vermutete, der Eindruck aufdrängen, die Umfrage zeige doch „ein recht unerfreuliches Ergebniß" (Erbe 1891, 166), wiewohl er selbst anderer Meinung war und solch pessimistischer Einschätzung keineswegs zustimmen mochte. Gänzlich enttäuschend verlief für ihn wie für den Vorstand des Sprachvereins allerdings die Reaktion der Zweigvereine auf die gleichfalls gestellte Frage, ob die Einführung deutscher Fachausdrücke im Grammatikunterricht der höheren Schulen wünschenswert sei. Nur ein Viertel aller Vereine war überhaupt zu einer Stellungnahme bereit, und davon gaben fast fünfzig

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Prozent noch ein Negativgutachten ab, indem sie sich entweder darauf beriefen, daß bislang die meisten fremdsprachigen Ausdrücke in höheren Schulen „noch nicht zu entbehren" seien, oder aber die Unmöglichkeit betonten, „eigenthümliche Ausdrücke fremder Sprachen, wie Ablativ, Aorist, deutsch wiederzugeben" (Erbe 1892a, 4). Letzteres war freilich von Erbe ohnehin nicht beabsichtigt gewesen; vielmehr wollte er, wie er bei der Bekanntgabe des Umfrageergebnisses noch einmal erläuterte, mit der Forderung nach einer „deutschen Sprachlehre in deutschem Gewände" nichts anderes bezwecken als die Zulassung deutscher Ausdrücke neben den alten, und zwar in der Weise, daß sie „im deutschen Unterrichte bevorzugt, im fremdsprachlichen, wenn sie sich mit den lateinischen decken, wenigstens nicht verpönt" (Erbe 1891, 161) würden. In dem Sinne hatten ihm dann auch jene Vereine zumeist geantwortet, die sich zustimmend äußerten („die lateinischen Bezeichnungen müssen unbedingt bleiben, gute deutsche neben ihnen geübt und gebraucht werden"), wobei sie insbesondere auf den Wert „volksthümlicher Bildung" auch und gerade für Absolventen höherer Lehranstalten abhoben (Erbe 1892a, 5): Bei Beschränkung der deutschen Ausdrücke auf Bürger- und Volksschulen würde man auf halbem Wege stehen bleiben und den Standpunkt beibehalten, daß geist- und mittelreiche Leute mit Fug und Recht deutscharm bleiben dürfen.

Demgegenüber ging eine Minderheit noch weiter und nahm den Standpunkt ein, daß die deutschen Fachausdrücke nicht nur neben den lateinischen zu dulden wären, sondern letztlich „immer mehr den alten Wust verdrängen" (Erbe 1892a, 5) müßten, um sich überhaupt durchsetzen zu können. Ungeachtet solcher Argumente ließ jedoch das insgesamt geringe positive Echo auf diese Frage letztlich keinen anderen Schluß zu, als daß die Mehrzahl der Zweigvereine eine generelle Anerkennung der deutschen Bezeichnungen in der Schule nicht für dringlich hielt, so daß Erbe von seiner ursprünglichen Absicht abrücken und sich vielmehr allein auf die Belange der Volksschule beschränken mußte, bei der zumindest darüber Konsens bestand, daß ihre volkssprachliche Terminologie dringend der Vereinheitlichung bedürfe. Vertreter dieser Schulart wollten auf der 1891 in Hannover abgehaltenen vierten Hauptversammlung des Vereins auch gleich eine Abstimmung zu dem Zweck herbeiführen, daß nicht länger „eine Reihe von Verdeutschungen zur Auswahl vorgeschlagen, sondern ein einzelner Ausdruck für jedes Kunstwort dargeboten" (Scheffler 1891, 114) werde, zumal, wie sie versicherten, die Angelegenheit inzwischen „reiflich erwogen" und der Weg zur Einheitsterminologie in ihrem Bereich zweifelsohne längst geebnet sei. Doch der Vorstand des Sprachvereins warnte vor übereilten Schritten. Vielmehr gelte es nun, nachdem eine Übersicht über den gegenwärtigen Gebrauch vorliege, eine neue Vorlage anzufertigen, die gänzlich auf die Erfordernisse der Volksschule

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zugeschnitten sei und den Beanstandungen der verschiedenen Zweigvereine möglichst weitgehend Rechnung trage. Aufgrund eines entsprechenden Antrages erarbeitete Erbe daraufhin einen von 19 auf 125 Ausdrücke erweiterten zweiten Entwurf, der im Februar 1893 den Zweigvereinen vorgelegt wurde und mit den Unterkapiteln „Lautlehre", „Wortarten", „Wortbiegung" sowie „Wortfügungs- oder Satzlehre" alle Benennungen der Sprachlehre zu umfassen suchte, die für die Volksschule überhaupt in Betracht kommen mochten. Getragen von dem Bemühen, ausschließlich Ausdrücke zu verwenden, die bereits in der Vergangenheit in Gebrauch gewesen waren, führte er neben vertrauten Bezeichnungen (ζ. B. Selbstlaut, Zwielaut, Mitlaut, Wer-, Wes-, Wem-, Wenfall, Satzaussage, Satzband) allerdings auch viele weniger geläufige Prägungen, wie etwa Stoßlaut, flüssiger Laut, Streiflaut, Starrwort oder Kunstsatζ an, die ohne Angabe des lateinischen Äquivalents (hier: Muta, Liquida, Aspirata, Partikel, Periode) auf Anhieb nicht immer leicht zu verstehen waren. Überhaupt sah er sich genötigt, um des angestrebten Kompromisses willen „an die Verdeutschung weder hinsichtlich der Form noch hinsichtlich des Inhalts zu strenge Anforderungen" zu stellen, so daß es ihm jetzt genügte, wenn die Hauptmerkmale eines Begriffes angedeutet waren, solange der Name „nur den Vorzug, deutsch zu sein" (Erbe 1892b, 66), hatte. Infolgedessen blieb von den früheren Grundsätzen lediglich das Postulat übrig, „kein Ausdruck darf in verschiedenen Bedeutungen gebraucht werden", was gelegentlich freilich implizierte, daß weithin eingebürgerte Namen durch weniger gängige ersetzt bzw. mit einer anderen Bedeutung versehen werden mußten, indem beispielsweise Aussagesatz zugunsten von Mitteilungssatz aufgegeben wurde, da Aussage allein auf das Prädikat bezogen sein sollte, oder Adjektiv durch Eigenschaftswort wiedergegeben wurde, damit Beiwort zur gemeinsamen Bezeichnung für alle adjektivisch gebrauchten Wortarten werden konnte. Gleichwohl verhielten sich die Zweigvereine auch auf diese Vorschläge keineswegs einheitlich, da zwei Drittel von ihnen den Fragebogen gänzlich unbeantwortet ließen, wohl weil er mit 125 Nummern erheblich mehr Aufwand erforderte als die erste Umfrage und sie sich vom Ergebnis ohnehin nicht allzuviel versprachen, während das restliche Drittel nicht nur alle Vorschläge eingehend prüfte, sondern mehrheitlich fast immer auch billigte. Entschieden abgelehnt wurden lediglich acht Ausdrücke, darunter Zeiger und unbestimmtes Eins für den bestimmten bzw. unbestimmten Artikel, Vorwort für Präposition, Wortfügungslehre für Syntax und Hauptding für Subjekt. Desgleichen erwies sich die Verdeutschung von Objekt, Konjunktiv, Perfekt und Plusquamperfekt noch immer als problematisch. Demgegenüber konnte Erbe als Erfolg jedoch melden, daß die Zahl der vorgebrachten Varianten für jeden einzelnen Ausdruck bereits erheblich zurückgegangen war und auf diese Weise eine allmählich wachsende Übereinstimmung signalisierte. Dieser Trend ließ hof-

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fen, daß eine endgültige Einigung in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein könnte. Unmittelbar durchsetzen konnte sie der Sprachverein freilich nicht, zumal das Umfrageergebnis nicht einmal als Meinungsäußerung des gesamten Vereins zu betrachten war und Erbe überdies wiederholt versichert hatte, er sehe in der vorgeschlagenen Terminologie lediglich einen „Wegweiser und Rathgeber", der „natürlich weder auf die Lehrer des Deutschen noch auf die Verfasser von deutschen Sprachlehren irgendwelchen Zwang ausüben" (Erbe 1893a, 195) wolle. Eine kurz nach der Jahrhundertwende vom Sprachverein in Auftrag gegebene Analyse über den Stand der Verdeutschung in neueren Hilfs- und Lehrbüchern für den muttersprachlichen Unterricht, die bezeichnenderweise, „um allgemein verständlich zu sein" (Rudolph 1903, 135), auf der lateinischen Terminologie (!) basierte, kam dann auch zu dem Schluß, daß die Frage noch längst „nicht spruchreif sei, da nahezu alle in Betracht gezogenen Autoren „teils zwischen lateinischen und deutschen Ausdrücken" wechselten, teils „den lateinischen deutsche hinzu(fügten) oder umgekehrt", und nur ein einziger ausschließlich einheimische Benennungen gebrauchte, für die im übrigen ohnehin galt, daß sie durch ihren prinzipiellen Beigeschmack von Subjektivismus und selbst Willkür noch immer jedem Kritiker letztlich als der beste Beweis für die Unentbehrlichkeit der herkömmlichen Nomenklatur erscheinen mußten: Wir haben ungebeugte und unbiegsame Wörter, auch wohl geschieden Abänderung und Abwandlung (für Deklination und Konjugation), zielende Zeitwörter, stehende und liegende Formen, nackte und bekleidete Sätze, haben die Satzzinnung, die nutzteilende und die wiederbringende Form des Satzes, das genutzte Satzglied, den nutzenden und den mitnutzenden Satz, den Glieder- und den Redesatz, haben hauptwortliche und fürwortliche Beziehungen, sogar nebst Rundsatzteilen den Rundsatz und den Umschweif (Periode) — in unsern Schulbüchern, auch den Beistrich und sonst noch viel gute und weniger gute Frucht, und des Segens ist noch kein Ende abzusehen. Kein Wunder, daß friedfertige Leute den deutschen Kunstausdrücken überhaupt abhold sind. (Koppin 1905, 141)

Ebensowenig konnten die Schulverwaltungen solche „weltverbessernden Kunstausdrücke" (Koppin 1905, 141) als vollgültigen Ersatz für die lateinische Terminologie ansehen und versagten von daher trotz dringender Appelle des Vereins weitgehend ihre Mithilfe, was gleichfalls zu dem langsamen Forschritt der Verdeutschung beitrug, der in den folgenden Jahren von selten verschiedener Vereinsmitglieder zunehmend beklagt wurde und sie veranlaßte, verstärkt nach einer „von der Behörde auf Grund fachmännischer Gutachten vorgenommenen Festsetzung" (Rudolph 1903, 135) zu rufen, die jede Möglichkeit einer Doppelbezeichnung im muttersprachlichen Grammatikunterricht künftig ausschlösse. Dieser Ruf nach einem Oktroi wurde um so lauter, je mehr sich in den Nachbarländern Deutschlands aufgrund einer Initiative von Lehrern der neueren Sprachen (halb)amtliche Lösungen abzuzeichnen begannen, um der auch dort herrschenden „ Sonntagsjägerei in den

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grammatischen Jagdgründen" (Koppin 1905, 141) ein Ende zu bereiten und dem Sprachunterricht zu einheitlichen Fachausdrücken zu verhelfen, wie sie diesseits der Grenzen durch den fortwährenden Streit um die rechte Art der Benennung noch immer sehr in Frage gestellt waren.

2. Erste Bemühungen um ein Wörterbuch der sprachwissenschaftlichen Terminologie Mit der Diskussion über die ,rechte' Benennung der grammatischen Fachausdrücke waren die Philologen zweifelsohne in ihrem Element, gleichgültig, ob sie sich unter Berufung auf die lateinische Terminologie dabei „in Würdigung des Überlieferten" (Cauer 1912, 14) dankbar zur Abhängigkeit von den Begriffsbildungen der Antike bekannten und deren heuristischen Wert für die Sprachanalyse in den Vordergrund stellten, oder ob sie mit dem Versuch, eine ausschließlich volkssprachliche Nomenklatur durchzusetzen, vielmehr eine grundlegende Verbesserung der fraglos nicht überall das Wesen der Sache glücklich treffenden herkömmlichen Bezeichnungen herbeizuführen trachteten. Freilich stand hinter ihrem Bemühen um eine verbindliche Einheitsterminologie mehr als lediglich pädagogisches Zweckdenken, wie denn auch das Streben nach deutschen Benennungen neben allen methodischen Überlegungen immer zugleich ein Gutteil jener von nationalem Stolz bzw. nationaler Überheblichkeit geprägten Überzeugung enthielt, daß „deutscher Geist und deutsche Gelehrsamkeit im Bunde mit deutschem Fleiße" (Gelbe 1887, 112) passende Prägungen wohl zu schaffen vermöchten, was schließlich einige Jahrzehnte später in der jede bloße Etikettierung weit hinter sich lassenden ultimativen Forderung nach einem „arteigenen, aus unseren Verhältnissen erwachsenen und für unsere Sprache geschaffenen Aufbau" (Boost 1937, 228) der Grammatik gipfeln sollte. Über die philologische oder die politische Motivation hinaus läßt das damals solcherart sich artikulierende Interesse der Schule an Fragen der grammatischen Terminologie aber noch eine weitere Deutung zu, die nicht minder gewichtig erscheint. Zeitlich gesehen fallt es nämlich in genau die Periode, in der die Sprachwissenschaft erstmals wachsenden Einfluß auf den Sprachunterricht gewann, so daß der Gedanke an einen Rückzug der Philologen vor den aus der Beschäftigung mit linguistischen Fragestellungen zwangsläufig resultierenden Problemen auf ein ihnen von der Sache her um so vertrauteres Gebiet, wie es die Fachsprache der Grammatik darstellte, nicht von der Hand zu weisen ist. Dazu passen auch die auf selten der Lehrerschaft speziell vom letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts an verstärkt vorgebrachten Klagen über die „schwer verständliche Sprache" (Hermann 1913, 3) der Linguisten, die, eben weil sie an der Nahtstelle von

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Theorie und Praxis ansetzten, in wissenschaftlichen Publikationen seinerzeit ebenso ihren Widerhall fanden wie in den Werken einschlägiger Schulautoren. Ein wesentlicher Grund für die Rückzugshaltung der Lehrer lag zweifelsohne in ihrer mangelhaften sprachwissenschaftlichen Ausbildung — noch im Jahre 1910 stellt O. Immisch die Forderung auf, „es möchten die Vertreter der Sprachwissenschaft ausgiebiger und wirksamer, als es jetzt der Fall ist, an der Vorbildung der künftigen Gymnasiallehrer beteiligt werden" (Immisch 1910, 425) —, so daß der Betrieb linguistischer Studien durch die Philologen in der Regel mehr oder weniger auf Zufallsmomenten beruhte und von daher oft genug in Fehlentscheidungen bei der Auswahl von geeigneter Einführungsliteratur mündete, was wiederum entsprechende Belehrungen nach sich zog (Cauer 1912, VI): Von Lehrern, die sich in die Anschauungen moderner Sprachwissenschaft selbständig einzuarbeiten wünschen, wird öfter darüber geklagt, daß die Handbücher in Terminologie und Bezeichnungsweise schwer verständlich seien. Das läßt sich nicht ganz vermeiden. Für jenen Zweck ist es aber auch nützlicher, nicht Handbücher durchzunehmen, sondern zusammenhängende Untersuchungen zu lesen, seien es Monographien oder größere Abhandlungen in Zeitschriften.

Auch legten viele Philologen deutlich eine gewisse vis inertiae an den Tag, wie sie zwar häufig allem Neuen gegenüber zu beobachten ist, die es der Wissenschaft jedoch um so leichter machte, den Vorwurf von einem „Zug der neueren Linguistik zu einem schwer zugänglichen und esoterischen Wesen" (Thumb 1903, 146) mit dem Argument zurückzuweisen, dieser Eindruck rühre weniger daher, daß „die Indogermanisten allerlei neue Termini technici, neue Lautbezeichnungen u. dgl. anzuwenden sich veranlaßt" sähen, als vielmehr daher, daß „die Philologen den Grundfragen der Sprachwissenschaft noch zu wenig Aufmerksamkeit" (Brugmann 1904, 30) zugewendet hätten. Trotz solcher, stark an eine Philippika gemahnenden Worte war allerdings nicht zu leugnen, daß die Wissenschaft Außenstehenden gegenüber lange Zeit einen erheblichen „Mangel an Entgegenkommen" (Brugmann 1897, XI) aufwies, der sich bei manchen Gelehrten bis zur „krankhaften Abneigung" (Streitberg 1896, 244) gegen alles gesteigert hatte, „was auf eine Erleichterung des Elementarstudiums" hinausgehen mochte, und somit ein gleichfalls nicht zu unterschätzendes Hindernis für die Überwindung jener fachsprachlichen Kommunikationsbarriere darstellte, die durch den ausufernden Hang einzelner Forscher zu hybriden Bildungen noch verstärkt wurde (Gelbe 1887, 108): Und nun die neue, echte deutsche Wissenschaft der Sprachvergleichung, sie hat teils fremde, teils halbdeutsche, halbfremde Bezeichnungen angenommen. Da liest man v o n Anthropophonik, Phonetik, Laletik, Linguistik, Lautpsychologie und dergleichen Dingen mehr. [...] Warum nun wählen die deutschen Gelehrten, die ja auch auf diesem Gebiet der Sprachforschung die Pfadfinder waren und jetzt noch an der Spitze der Forschung stehen, so kauderwälsche Namen? Ihnen steht ja nicht einmal der Entschuldigungsgrund der Früheren, daß sie

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auf dem Alten aufbauten, zur Seite! Ich meine, weil ihnen das Fremde durch ihre Fachbeschäftigung so sehr aufgedrängt worden ist, daß sie nicht einmal begreifen, daß sie es anders machen könnten.

Selbst als endlich spezielle Einführungswerke vorlagen, in denen zeitgenössische Wissenschaftler wie Brugmann, Streitberg, Sievers u. a. technische Bezeichnungen, „so weit es wünschenswert schien und nicht zu viel Raum dadurch beansprucht wurde" (Brugmann 1904, 5), dergestalt zu erläutern suchten, daß ihre Bedeutung auch von Anfangern erfaßt werden konnte, blieb es dennoch schwierig, der sichtlich drohenden Terminophobie entgegenzuwirken, zumal die ausschließlich deutsche Bezeichnungen favorisierenden Schulautoren alles taten, um die auf griechisch-lateinischem Wortgut basierenden Prägungen der Wissenschaft als sogar „dem studierten Manne nur mit Hülfe des Wörterbuches zu entziffernde, barbarische Bildungen" (Gelbe 1887, 108) zu diskreditieren. Solange die Schule solchermaßen im Formalen verharrte, kam sie gar nicht erst zu einer funktionalen Betrachtung sprachwissenschaftlicher Fachausdrücke, deren Bedeutung ohnehin nur im jeweiligen Systemzusammenhang voll erfaßbar wird, sondern beschränkte sich stattdessen auf Klagen über die „Umwertung aller Werte" (Cauer 1898, 15), die dazu geführt habe, daß die Lehrer sich unter den von den Forschern verwendeten Termini häufig etwas ganz anderes vorstellten als jene eigentlich gemeint hatten (Lerch 1915, 91): Ein nomen soll doch ein omen sein — leider aber ist so manches nomen schon lange kein omen mehr. Hier zeigt sich die macht der tradition von ihrer schlechten seite: die erkenntnisse ändern sich, neue Unterscheidungen werden vollzogen — die namen aber bleiben, und so muß sich mit notwendigkeit ein gewisser Zwiespalt zwischen dem wörtlichen sinne des namens und dem, was die Wissenschaft darunter verstanden wissen will, herausbilden.

Obwohl dieser Wandel in der Bedeutung einzelner Fachausdrücke einer Popularisierung der Sprachwissenschaft zweifelsohne nicht gerade förderlich war, war er doch nicht der einzige Punkt, an dem sich das damalige Unbehagen an der vorherrschenden Terminologie festmachen ließ. Stärker noch als das Wissen um die Mangelhaftigkeit der überlieferten Nomenklatur fiel nämlich die Erkenntnis ins Gewicht, daß mit der fortschreitenden Ablösung der Wissenschaft von der aus dem Altertum überkommenen Sprachbetrachtung auch die grammatischen Begriffe selbst ins Wanken geraten waren. Mit dem Fehlen allgemein anerkannter Definitionen aber mußte die terminologische Unsicherheit nur noch größer werden, wie sie sich besonders deutlich etwa in den die Verschiedenheit der möglichen Standorte signalisierenden Antworten manifestierte, die Ries 1894 bei der Untersuchung der scheinbar so unproblematischen Frage: „Was ist Syntax?" als Hemmnis für „ein erspriessliches Zusammen- und in die Hände arbeiten der Fachgenossen" (Ries 1894, 2) registriert hatte. Hinzu kam die — im metasprachlichen Bereich tendenziell allerdings ständig präsente — Gefahr einer Vermengung des Sprachlichen und des

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Sachlichen, der Ausdrucksform und des Gedankeninhaltes, vor der terminusgläubige Wissenschaftler ebensowenig gefeit waren wie die ohnehin mit sehr viel geringerer Sachkenntnis ausgestatteten Laien. Sie erschwerte jede fachsprachliche Kommunikation nicht minder als der in der Fülle synonymer und polysemer Termini sich ausdrückende Mangel an terminologischer Koordinierung, zumal viele Termini, eben weil man sie ursprünglich oft nur mit Blick auf die engsten Fachgenossen hin geprägt hatte, keineswegs ausreichend motiviert waren, um noch einen Einblick in die Natur des durch sie benannten Gegenstandes vermitteln zu können, und auf diese Weise gleichfalls zu dem insgesamt disparaten Erscheinungsbild beitrugen, aufgrund dessen die linguistische Terminologie nicht selten sogar als „Durcheinander" (Koppin 1905, 139) apostrophiert wurde. Der Übergang von einem Erkenntnis- und Verständigungsinstrument zu einer Kommunikationsbarriere vollzog sich denn auch um so rascher, je mehr Forschungsrichtungen und Schulen entstanden und mit ihrer teils private Bildungen, teils (inter-)nationales Wortgut umfassenden Sonderlexik den traditionellen Fachwortbestand der Linguistik bereicherten. Die Folge davon war ein das intersubjektive Verständnis in hohem Grade behinderndes Konglomerat aus alten, neueren und neuesten Bezeichnungen, die hinter dem Idealfall eines wissenschaftlichen Terminus, nämlich unabhängig vom sprachlichen Kontext ein bestimmtes Denotat eindeutig festzulegen bzw. ohne irritierende Assoziationen so zu benennen, daß auch nichtspezialisierte Sprachinteressierte den dahinterstehenden Begriff unmißverständlich erfassen können, im einzelnen vielfach weit zurückblieben und allein von daher schon notwendigerweise einer Erläuterung bedurften, um nicht ständig zu Fehldeutungen der verschiedensten Art Anlaß zu geben. Erst von diesem Moment an, da Sprachforscher und Schulpraktiker immer stärker aneinander vorbeizureden drohten und für die linguistische Terminologie überhaupt „unruhige Zeiten" (Koppin 1905, 141) konstatiert wurden, begann die Wissenschaft auf Abhilfe zu sinnen, nachdem sie jahrzehntelang mit der Unvollkommenheit der von ihr bevorzugten Fachausdrücke zwar kokettiert, aber gleichwohl nichts als grauen Schrecken empfunden hatte, wenn von philologischer Seite her nach ,treffenderen' Bezeichnungen Ausschau gehalten worden war. Auch jetzt war freilich nicht an eine grundlegende Revision ihres tagtäglich gebrauchten Begriffsinstrumentariums zu denken, für dessen Erhalt im übrigen noch Wackernagel (1926) die gleichen Argumente ins Feld führte, wie sie schon Grimm artikuliert hatte. Wohl aber brach sich mit der um die Jahrhundertwende einsetzenden „Neubesinnung auf das Wesen der Sprache" (Arens 1955, 352) vermehrt die Einsicht Bahn, daß eine kritische Durchleuchtung einzelner Termini nicht länger zu umgehen sei, und verband sich mit der damals zuerst aus Kreisen der Schule erhobenen Forderung nach einer historisch-onomasiologischen Darstellung des fach-

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sprachlichen Wortschatzes, die im Rückgriff auf jeweilige Entstehungsbedingungen den oft dunklen Verwendungszusammenhang zunächst der traditionellen Fachausdrücke aufhellen und sie somit allgemeinverständlicher machen sollte (Koppin 1905, 152): Dienen würde dem vielleicht eine knappe und schlichte Geschichte unserer grammatischen Terminologie, soweit sie für die Schule in Frage kommt. Die könnte auch dem weniger auf die Geschichte der Wissenschaft gerichteten Schulmann mühelos einen Überblick über die bisherigen Versuche und Leistungen gewähren und manchem Buch manchen Umweg ersparen. Wer schreibt sie uns?

Als dieser Aufruf 1905 geschrieben wurde, war allerdings noch niemand in Sicht, der ein solches Werk in Angriff nehmen mochte, obwohl didaktische Reflexionen darüber, daß die Beschaffenheit der das Handwerkszeug für die Erschließung eines Sachgebietes stellenden Termini „viel nützen, aber auch viel schaden" (Cauer 1898, 9) könne, den Fachgenossen längst den Blick für jene terminologischen ,Fußangeln' geschärft hatten, die den Neuling in Sprachwissenschaft wie Schulgrammatik unweigerlich erwarteten. Einmal öffentlich zur Diskussion gestellt, blieb die Aufgabe, sich um entsprechende Initiativen zu bemühen, infolgedessen auch weiterhin akut und wurde vier Jahre später unter gleichzeitiger Ausweitung auf die gesamte linguistische Terminologie erneut thematisiert, als der Leipziger Indogermanist Brugmann in einem in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift veröffentlichten Aufsatz für eine „Darstellung der Geschichte der sprachwissenschaftlichen Terminologie von ihren Anfangen bis zur Gegenwart" (Brugmann 1909, 211) plädierte und dazu als speziell auf die Bedürfnisse von Anfangern zugeschnittene Vorarbeit die Erstellung eines vornehmlich den Wortgebrauch der jüngsten Zeit berücksichtigenden „Wörterbuches der sprachwissenschaftlichen Terminologie" empfahl. Damit war endlich das Stichwort gefallen, von dem aus im folgenden alle systematische Sammlung und Aufbereitung des in der Sprachwissenschaft gebräuchlichen Begriffsinstrumentariums in lexikographischer Form ihren Anfang nehmen sollte, wobei Brugmanns Verdienst als Wegbereiter der Kodifizierung linguistischer Terminologie noch dadurch gemehrt wird, daß er in die ausführliche Begründung seines Vorschlages zugleich Hinweise einfließen ließ, wie ein derartiges Nachschlagewerk im einzelnen auszusehen habe, dessen Zweck er vorab mit den Worten umrissen hatte (Brugmann 1909, 209): Es soll hier nicht von einem Buche, das vorhanden ist, die Rede sein, sondern von einem, von dem man wünschen muß, daß es bald komme, das, von sachkundiger Hand richtig angelegt und sorgsam ausgearbeitet, sicher reichen Nutzen schaffen könnte. Es hätte dem wissenschaftlichen Betrieb älterer und neuerer indogermanischer Sprachen bei uns in Deutschland zu dienen und ganz besonders dem Betrieb derjenigen von ihnen, welche die im praktischen Schuldienst stehenden Philologen zu lehren haben und mit denen andere Philologen, ohne gerade Sprachforscher von Beruf zu sein, sich wissenschaftlich beschäftigen.

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Die Motive, die Brugmann zu diesem Plädoyer veranlaßten, lagen denn auch auf der Hand. Nachdem er selbst über das Gymnasiallehramt zur Universität gekommen war, hatte er, wie aus seinem Gesamtwerk mehrfach hervorgeht, eines seiner Hauptanliegen darin gesehen, „Verbindungswege zu suchen, die von der vertieften Erkenntnis [universitärer Forschung] wieder zur Praxis des Unterrichts herüberführen und auf denen das drüben zutage geförderte Gut auch dieser Seite Vorteil bringt" (Brugmann 1910, 3). Er wußte aus eigenem Erleben, welches „Mißtrauen, ja Übelwollen" der Linguistik, eben weil sie einen Großteil der bislang in der Grammatiktheorie als „sichere Errungenschaft" geltenden Anschauungen verworfen bzw. bis in die Namengebung hinein radikal umgestaltet hatte, gerade aus den Reihen der klassischen Philologie entgegengebracht wurde, und vermochte von daher klarer als mancher andere Gelehrte zu erfassen, welche entscheidende Rolle die linguistischen Fachausdrücke bei der zunehmenden Entfremdung zwischen Sprachwissenschaft und Sprachunterricht spielten. Zwar war auch er nicht frei von jener schulmeisterlichen Haltung, die sich nicht genug tun konnte, gegen die in den Fachwortschatz angeblich eingegangenen „Verfehlungen und Unzuträglichkeiten aller Art" (Brugmann 1909, 211) Sturm zu laufen. Aber die nahezu den gesamten Raum seiner Ausführungen einnehmende Auflistung derartiger Fälle, in denen Termini sich als „schädlich" erweisen, den Benutzer allzu leicht „irre leiten" oder ihm überhaupt „ganz falsche Vorstellungen" vom Wesen der Sprache und von der Sprachentwicklung vermitteln mochten, blieb doch nicht bei dem deprimierenden Fazit stehen (Brugmann 1909, 221): Alles zusammengenommen, dürfte klar sein, daß die A r t und Weise, wie sich viele gegenüber der überlieferten grammatischen Terminologie verhalten, nicht anders als die A r t und Weise, wie der Mensch sich zu der von den Vorfahren ererbten Sprache überhaupt zu verhalten pflegt, unter die zahlreichen demütigenden Zeugnisse für die Unfreiheit des menschlichen Geistes gegenüber den geschichtlichen Mächten zu rechnen ist.

Stattdessen nutzte Brugmann diese Beispiele zu einer um so nachhaltigeren Begründung seines bahnbrechenden Vorschlages, ein zu selbständiger Verwendung des linguistischen Fachwortschatzes anleitendes Nachschlagewerk zu schaffen, für dessen Realisierung er überdies die in dem folgenden FünfPunkte-Katalog zusammengefaßten Grundsatzforderungen aufstellte, mit denen er gleichsam einen ersten Orientierungsrahmen für die künftige Kodifizierung sprachwissenschaftlicher Terminologie absteckte: — Die aus der Schulgrammatik allseits geläufige Erfahrung, daß ein- und derselbe Terminus einzelsprachlich oft sehr unterschiedlich verwendet wird, ist in die jeweilige Begriffsexplikation mit aufzunehmen. — In gleicher Weise ist dem individuellen Wortgebrauch einzelner Autoren Rechnung zu tragen, soweit er von dem der wissenschaftlichen Allgemeinheit merklich abweicht. — Neue, v o n ausländischen Forschern geprägte Termini, f ü r die noch keine passende deutsche Ubersetzung gefunden worden ist, bedürfen in besonderem Maße einer klärenden Erläuterung.

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— Das linguistische Wörterbuch ist nicht der Ort, um v o m Bearbeiter selbst geschaffene Bildungen zu propagieren und an die Stelle bislang üblicher Termini treten zu lassen. — Aufgrund der Fülle an zu bearbeitendem Material ist f ü r den Anfang eine Beschränkung auf die Bedürfnisse der klassischen und neueren Philologien angemessener als die gleichmäßige Berücksichtigung aller indogermanischen Sprachen.

Vergleicht man diese Forderungen mit der Praxis heutiger Lexikographen, die wider jedes Benutzerinteresse noch häufig genug gegen den einen oder anderen Punkt verstoßen, dann zeigt sich erst, wie weit Brugmann mit dem Ruf nach einem terminologischen Werk, „das dem Nichtfachmann den Zugang zu den sprachwissenschaftlichen Werken der Neuzeit erleichtern soll" (Brugmann 1909, 221), seiner Zeit bereits voraus war. In einer Hinsicht verhielt auch er sich allerdings inkonsequent, als er nämlich in Zusammenhang •mit der Überlegung, ein Umfang von 10 bis 15 Bogen dürfte für ein derartiges Unternehmen ausreichen, die Meinung vertrat, daß viele Termini, „weil sie an sich deutlich genug sind", nicht nur mit einer Zeile abgetan, sondern „auch ganz weggelassen werden" (Brugmann 1909, 222) könnten. Hier verlor er einen Moment lang die vorgesehene Zielgruppe aus dem Auge, deren Belange zu verfechten er ansonsten nicht müde geworden war, damit ihr endlich der für das Studium der Primärtexte notwendige Schlüssel an die Hand gegeben werde, mit dessen Hilfe sie leichter Zugang zu den Problemstellungen der modernen Sprachforschung fände und überhaupt den Bezug zwischen Wissenschaft und Praxis wieder enger zu sehen vermöchte. Brugmanns Anregung, ein einschlägiges Nachschlagewerk zu schaffen, fiel auf fruchtbaren Boden, der sich nicht zuletzt dadurch als gut vorbereitet erwies, daß die Beschäftigung mit terminologischen Fragen ohnehin stärker in den Vordergrund gerückt war, seit die Philologen des In- und Auslandes entsprechende Initiativen ergriffen hatten. Knapp ein halbes Jahr später, nachdem der Ruf nach einem „Wörterbuch der sprachwissenschaftlichen Terminologie" ergangen war, konnte der „Anzeiger für indogermanische Sprach- und Altertumskunde" (1910, 54) die Mitteilung machen: Herr Dr. Schwering in München hat die Bearbeitung eines solchen Wörterbuches mit Unterstützung von Herrn Professor Dr. W. Streitberg übernommen und die Arbeit schon wesentlich gefördert. Das Werk wird im Verlage v o n Karl J. Trübner in Straßburg erscheinen.

Von anderen Publikationsorganen nachgedruckt, erreichte die Nachricht weitere Kreise der interessierten Öffentlichkeit und steigerte somit die Hoffnung auf ein baldiges Erscheinen dieses Werkes, das, wie ein zeitgenössischer Beobachter bekundete, für Fachleute wie Laien unzweifelhaft „eine reiche Fundgrube" (Cauer 1912, 20) zu werden versprach. Während Schwering noch mit der Ergänzung und Aufbereitung des von ihm gesammelten Materials beschäftigt war, hatte der französische Sprachwissenschaftler und Latinist Marouzeau, ohne daß ihm die hiesigen Bestrebungen bekannt geworden waren, ebenfalls begonnen, ein „Lexique de la terminologie

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linguistique" zu erstellen, das der Pariser Verleger P. Geuthner in den „Ephemerides bibliographiques" vom Juli 1913 (No. 35) als „en preparation pour paraitre prochainement chez moi" anzeigte. Der zu einem Preis von 5 Francs veranschlagte Band, dessen Umfang auf etwa 300 Seiten im Duodezformat taxiert war, sollte dreiteilig aufgebaut sein, indem er erstens zu den in alphabetischer Reihenfolge aufgelisteten Fachausdrücken, „employes par la linguistique generale et les linguistiques speciales", jeweils eine Kurzdefinition lieferte, zweitens die neben den französischen Termini zusätzlich genannten deutschen Entsprechungen in einem gesonderten Register zusammenfaßte und drittens das Ganze schließlich mit einem wichtige Grundlagenwerke anführenden Verzeichnis sprachwissenschaftlicher Literatur („bibliographie linguistique") abrundete. Da Marouzeaus „Lexique" sich nicht nur an die eigentlichen Linguisten, „qui peuvent avoir besoin d'informations sur un domain linguistique qui n'est pas le leur", und an die Philologen wenden wollte, sondern überhaupt „ä tout ceux que leurs etudes, leurs occupations une simple curiosite scientifique, peuvent conduire un jour a consulter des ouvrages de linguistique", schien es in noch stärkerem Maße auf die Erfüllung rein praktischer Bedürfnisse ausgerichtet zu sein als das mit der Forderung nach Einbezug auch des historischen Aspektes die wissenschaftlichen Ambitionen seines Betreuers Streitberg gleichwohl nicht verleugnende „Wörterbuch der sprachwissenschaftlichen Terminologie". Statt miteinander zu konkurrieren, hätten beide Werke, wären sie in der geplanten Form verwirklicht worden, sich somit geradezu ideal ergänzen können. Doch der im August 1914 ausbrechende Krieg machte alle derartigen Erwartungen zunichte und rückte die zur damaligen Zeit fast schon greifbar gewordene Kodifizierung der linguistischen Terminologie erneut in weite Ferne.

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H A N S PETER A L T H A U S

Fremdwörter im Umfeld der Literatur Jiddisch im George-Kreis

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gab es in Deutschland wohl keine Sprachform, die weniger geachtet und dem gesellschaftlichen Ansehen weniger dienlich gewesen wäre als jene, die ihren Sprecher als Juden zu erkennen gab. Seit der Aufklärung galt es als ausgemacht, daß gesellschaftlicher Aufstieg, Anerkennung und Erfolg nur durch vollkommene Assimilation zu erreichen seien. Als größtes Hindernis erwies sich dabei die Sprache. Das 19. Jahrhundert ist gekennzeichnet vom Kampf gegen jenes Westjiddisch/ Deutsch, in dem die sprachlichen Folgen jahrhundertealter Unterdrückung und Abgrenzung verfestigt waren. Fritz Mauthner beschreibt in seinen Kindheitserinnerungen, wie der Vater auf das gemeine Kuchelböhmisch herabsah. Aber noch weit unter diesem stand ihm das Mauscheldeutsch, das die Handelsleute, und schlimmer noch, auch entfernte Verwandte gebrauchten. 1 In seiner „Kritik der Sprache" postulierte Mauthner als die Quintessenz solcher Erfahrung, daß die Eigenart eines Volkes, eines Stammes, einer Familie sich durch nichts deutlicher zeigten als durch die Sprache. Die Juden in Deutschland würden so lange eine abgesonderte Sozialgruppe bleiben, „als sie mehr oder weniger einen Jargon sprechen, der für nicht jüdische Deutsche unverständlich ist". 2 Und Mauthner prognostizierte ausdrücklich: „Der Jude wird erst dann Volldeutscher, wenn ihm Mauschelausdrücke zu einer fremden Sprache geworden sind, oder wenn er sie nicht mehr versteht." Es scheint ein Paradoxon zu sein, daß im Kreis um Stefan George das Jiddische erörtert und daß es sogar als Stilmittel verwendet worden ist. Ein Paradoxon scheint es vor allem deswegen zu sein, weil sich der GeorgeKreis das Ansehen eines elitären Dichterbundes erworben hatte, dem alles Alltägliche fernstehe, und dessen Interesse auf die Erneuerung der deutschen Literatursprache gerichtet sei. Diese Erneuerung wurde als Reinigung verstanden, die insbesondere auch die Fremdwörter betraf. In den „Blättern für die Kunst" hieß es 1894: „Wenn wir alle Fremdwörter, auch die eingewurzel1 2

Fritz Mauthner, Prager Jugendjahre. Erinnerungen. (Frankfurt a. M. 1969), S. 31. Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd 1. Zur Sprache und zur Psychologie. 3., um Zusätze vermehrte Aufl. Leipzig 1923, S. 540f.

Fremdwörter im Umfeld der Literatur

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ten [...] wegliessen so bliebe vieles leere ungesagt." 3 Doch George war nicht nur ein die Sprache sorgfältig wägender Dichter, sondern auch ein spontan handelnder Mensch, der wie Goethe seine heimatliche Sprache nicht verleugnete und sich auch jiddischer Wörter bedient haben soll. 4 Die Musterung der Briefe Georges erbrachte den Nachweis, daß der Dichter im vertraulichen Verkehr jiddische Wörter verwendet hat. Am 6. Oktober 1916 schreibt er an Gundolf, in Deutschland und besonders in Berlin sähe es „sehr powelig" aus 5 , und vermutlich am 2. März 1919 aus München, wo er bei Wolfskehl wohnte, „K[arl Wolfskehl] hier läuft wie immer herum + d-bb-t".

Beide Wörter — powelig und dibbern — weisen auf Georges rheinhessische Herkunft. In Büdesheim bei Bingen, wo er geboren wurde, und in Darmstadt, wo er das Gymnasium besuchte, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ja noch bis nach der Mitte dieses Jahrhunderts, das Jiddische als Sprache jüdischer Händler und der jüdischen Bevölkerung ganz geläufig und kam von dort in die rheinhessische Mundart. 6 Anders als George, dessen Gebrauch jiddischer Wörter aus der bodenständigen Mundart des Weinhändler- und Gastwirtssohnes herrührt, hat Gundolf — aus Darmstadt stammend — sich bei der Verwendung jiddischer Wörter einen weltläufigen Anstrich geben wollen. Am 23. 4. 1903 schreibt er an George: „Das Frankfurter Börsenblatt hat wie du vielleicht auch gelesen, einiges Geseire über Guido Gezelle der ein Denkmal bekommen soll", und etwa am 17. Juli 1917 heißt es über die Publikation von Georges Antikriegsgedicht „Der Krieg" im Ausland, es „würde sich das feindliche Ausland einen Schabbes draus machen und es als antideutsche Propagandaschrift lesen und verwerten".

In beiden Beispielen wird der abweichende, gleichsam gesucht journalistische Gebrauch der jiddischen Wörter sichtbar, den man auch heute noch in der deutschen Presse beobachten kann und der eine späte Frucht der Abwertung und Tabuisierung des Jiddischen darstellt. Mehr noch als im Briefwechsel zwischen George und Gundolf treten jiddische Wörter im Briefverkehr zwischen Karl Wolfskehl und Friedrich Gundolf auf 7 . In diesen Briefwechsel sind auch die Ehefrauen Hanna Wolfs3

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Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Hrsg. von Carl August Klein. Zweite Folge, zweites Heft. 1894. Claus Victor Bock, Wort-Konkordanz zur Dichtung Stefan Georges. Amsterdam 1964, S. IX f. Stefan George, Friedrich Gundolf, Briefwechsel. Hrsg. von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann. München u. Düsseldorf 1962. Die weiteren Zitate aus dem Briefwechsel zwischen George und Gundolf ebenfalls nach dieser Ausgabe. Südhessisches Wörterbuch. Begründet von Friedrich Maurer ... bearbeitet von Rudolf Mulch. Bd 1. Marburg 1 9 6 5 - 1 9 6 8 , Sp. 1499 f. Karl und Hanna Wolfskehl, Briefwechsel mit Friedrich Gundolf. 1 8 9 9 - 1 9 3 1 . Hrsg. von Karlhans Kluncker. 2 Bde. Amsterdam 1977. Die weiteren Zitate aus dem Briefwechsel zwischen Wolfskehl und Gundolf ebenfalls nach dieser Ausgabe.

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kehl geb. Haan und Elli Gundolf geb. Salomon einbezogen, und auch der Gebrauch jiddischer Wörter dehnt sich auf beide Frauen aus. Gemessen an der Zahl der Briefe und dem Umfang des Briefwechsels ist das Vorkommen jiddischer Wörter gering, aber sie sind umso bemerkenswerter, als von ihnen nicht nur wichtige Aufschlüsse über Gedanken und Empfindungen zu gewinnen sind, sondern auch deswegen, weil im übrigen Briefwechsel Gundolfs, auch in dem sehr ausführlichen mit Steiner und Curtius, nicht ein einziges jiddisches Wort benutzt wird. Das bestätigt den Eindruck, daß die jiddischen Wörter im Verkehr zwischen Wolfskehl und Gundolf nicht nur eine sehr private und vertrauliche Ebene des Kontakts bezeichnen, sondern auch in eine Schicht der Beziehung reichen, die das Bewußtsein von der Verbundenheit im Judentum bezeichnet. Jüdische Themen werden zwischen Wolfskehl und Gundolf von Anfang an besprochen. Schon im zweiten Brief berichtet Gundolf von einer Einladung bei dem Rabbiner von Darmstadt, aber der Gebrauch jiddischer Wörter bleibt vier Jahre lang dem älteren Wolfskehl vorbehalten. Erst dann greift Gundolf den von Wolfskehl angeschlagenen Ton auf. Neben die jiddischen Wörter, die so etwas wie einverständliche Gemeinsamkeit bezeichnen, treten solche, mit denen eine satirische oder parodistische Wirkung erreicht wird. „Ihr HölderlinKauf hat mir einigen Neid erzeugt, ob ich gleich ihn Ihnen gross- und gutgemutet gönne. Immerhin bezw. nebbich!" schreibt Wolfskehl am 15. 4. 1900 an Gundolf, ein Büchersammler und Büchernarr dem anderen in Anerkennung und Bewunderung. A m 1. 7. 1901 beginnt Wolfskehl den ersten längeren Brief nach einigen kürzeren Mitteilungen: „ich schreibe Ihnen sowie ich aus dem ersten darmstädter Trubel draussen bin einen schönen Pauschel (heisst nicht Mauschel sondern Pauschal) Brief*'

Wir können rätseln, ob sich Wolfskehl verschrieben hatte und das Verschreiben dann lustig als Fehlleistung erklärt oder ob er bewußt sprachspielerisch mit der Kontamination umgeht. Beides ist möglich — er war bekannt für eine ausgeprägte, kaum leserliche Handschrift und für schier unerschöpflichen Wortwitz. A m 2. 12. 1902 fügt Wolfskehl seiner Äußerung „München schläft, schmollt und schmust" die Erläuterung an „Verzeihen Sie das Lehnwort aus der Mundart für welche der angloamerikanische terminus ,the yiddisch' geschaffen ist".

Dadurch werden Wort und Klassifikation gleichsam auf zwei Ebenen ironisch in die Briefkonversation eingeführt. Gundolf nimmt den Terminus ebenso ironisch auf, als er vor einer beabsichtigten Orientreise Wolfskehls am 14. 4. 1903 schreibt: „Auch wollte ich beim Abschied nicht daran denken dass Sie in ein paar Tagen teuerster Karl nach El Arisch und Hebron wollen. Das ist vielleicht sein höchster Groll dass er von West nach Osten soll!" Und er fügt hinzu: „El Yiddisch nach El Arisch!!"

Bei der ersten Verwendung der so von Wolfskehl eingeführten Wörter benutzt Gundolf die von Wolfskehl vorgegebene Schreibung mit anlautendem Y und

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auslautendem sch, ganz wie die englisch-deutsche Form es nahelegt, und zeigt damit, daß er nicht aus eigener Kenntnis schöpft, sondern von Wolfskehl gelernt hat. Wieder geht ihm Wolfskehl voran, der am 13. Juni 1903 seinen Brief mit dem Bekenntnis „13. glaubtage furcht ich mit denen Gojim" einleitet und damit eine von Juden nicht gekannte Furcht vor der Zahl dreizehn durch Wortwahl und Syntax aus einem jüdischen Blickpunkt darstellt. Nach vier Jahren läßt erstmals auch Gundolf einen Blick in sein jüdisches Substrat zu und alle jiddischen Wörter in den Briefen der nächsten zwei Jahre stammen ausschließlich aus seiner Feder. Dabei sind auch seltenere und solche, die nicht zuerst von Wolfskehl eingeführt wurden. In einem satirischen Gedicht, das auf die Münchner Kosmiker Bezug nimmt, reimt Gundolf Rosche ,Bösewicht' auf Wasserloge (4. 9. 1903). Wenige Tage später, um den 10. Sept. 1903, schreibt Gundolf einen scheinbar lustigen Brief an Karl und Hanna Wolfskehl, in dem er seine tiefe Besorgnis über die Folgen von Wolfskehls Unterstützung der zionistischen Bewegung ausdrückt. Im Verlaufe dieses Briefes wird Frau Hanna als Iche bezeichnet, und das ist wohl nicht nur ein Schreibfehler, sondern ein Hinweis auf hessische Aussprache und darauf, daß Gundolf diesen Wortschatz aus mündlichem Gebrauch kannte. Wenig später, um den 12. 10. 1903, schreibt Gundolf, es gehe jemandem mies, nachdem er schon zu Beginn des Briefes geäußert hatte, „mit dem Weltgeist nebbich brauch ich kein mitleid zu haben". Solch nachgestellte stereotype Bemerkungen, die Gundolf ironisch auf sein Judentum bezieht, finden sich auch in einer Nachschrift, in der eine Reaktion des Rabbiners von Darmstadt über Kontakte Wolfskehls mit katholischen Kreisen prognostiziert wird: „Weih' geschrien" (ca. 12. 10. 1903). Der hier erkennbare spielerische Umgang mit dem sprachlichen Ausdruck jüdischer Herkunft setzt sich auch im nächsten, um den 16. 12. 1903 geschriebenen Brief Gundolfs an Karl und Hanna Wolfskehl fort: „Die Derlethin hat mir eine unsäglich komische und erfreuliche Ansichtskarte geschickt. sonderbare Heilige. Sind die proklamatzen bald essbar."

Gundolf bezieht sich hier auf Ludwig Derleth und seine Schwester Anna, die diesem den Haushalt besorgte. Derleth bildete mit Schuler, Klages, Wolfskehl und George den Kreis der Münchner Kosmiker. Das Werk, auf das Gundolf anspielt, sind Derleths „Proklamationen", die 1904 im InselVerlag in einer Auflage von 500 Stück erschienen, aber bald danach aus dem Handel gezogen wurden. 8 Proklamatzen, als Kontamination von Proklamationen und dem eingedeutschten Matten (statt Mattes) ist ein Ausdruck, in dem wie bei Pauschel ironisch-distanziert mit den jiddischen Wörtern umgegangen

8

Georg Peter Landmann, Stefan George und sein Kreis. Eine Bibliographie. Mit der Hilfe von Gunhild Günther ergänzte u. nachgeführte zweite A u f l . Hamburg (1976), S. 372.

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wird. Diese von Anspielungen gekennzeichnete Stilhaltung, in der auf mehreren Ebenen zugleich kommuniziert wird, benutzt Gundolf auch am Ende eines Briefes vom 23. 9. 1905, in dem nach dem Bruch der Münchner Kosmiker-Runde und einem von Klages gegen George und Gundolf angestrengten Prozeß wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte durch Abdruck eines Portraitphotos auf der Dichtertafel der Blätter für die Kunst er seinen Standpunkt im laufenden Gerichtsverfahren wiedergibt: „Unerschütterlich bleibt mein Wahlspruch Hier steh ich, ich kann nicht noch! Und user! sie bewegt sich doch!" Zwischen die Zitate von Luther „Hier stehe ich! Ich kann nicht anders" und Galileo Galilei „Und sie bewegt sich doch!" ist als Dreh- und Angelpunkt ein jüdisches „Und user" eingefügt, das damit den Anspielungen für Gundolf wiederum eine ironischdistanzierende Note gibt.

In ihren Briefen vom 30. 10. 1905 und 10. 11. 1909, in dem die Auseinandersetzung mit Hofmannsthal und Borchardt angesprochen ist, verwendet erstmals auch Hanna Wolfskehl jiddische Wörter. Über Kassner schreibt sie: „ich war erstaunt wie sehr sein Kopf dem ästhetischen Geseire widersprach", über eine in den Süddeutschen Monatsheften ausgetragene Literaturfehde „Nebbich und aber Nebbich!". Hofmannsthal wird nach dem Bruch mit George und den im Insel-Verlag mit Borchardt und Rudolf Alexander Schröder entfalteten, gegen den George-Kreis gerichteten literarischen Aktivitäten wiederum der „über die Maassen ins Freche wachsende Chaim" genannt, wie es auch schon in Gundolfs Brief vom 3. 12. 1900 mit dem Ausdruck „Chajims Adjudant" geschehen war. Dieser Spitzname bezieht sich auf eine Gedichtzeile von Hofmannsthal im Gedicht „Der Jüngling und die Spinne", die im Oktober 1899 in den Blättern für die Kunst gedruckt worden war: „Und seinen namen weiß ich nun: das leben". George maß der Namengebung und Namennennung magische Züge bei. 9 Und die für Hofmannsthal zunächst vielleicht scherzhafte Spitznamengebung wendete sich nach dem Zerwürfnis mit George und dem endgültigen Bruch ins Geringschätzige, Diffamierende. Daß dazu nicht von George selbst, sondern von den jüdischen Mitgliedern des Kreises, Wolfskehl und Gundolf, ein jüdisches Wort verwendet wird, kennzeichnet auch den unbelasteten Umgang deutscher Juden mit den sprachlichen Wurzeln des Judentums in dieser Zeit. In diesem Brief wird nun auch Borchardt, der als kritisch-philologischer Geist von großer Kraft sich George in einer Art Haßliebe verbunden fühlte, in gleicher Weise herabgesetzt. Nach seiner eigenwilligen Pindarübersetzung werden ihm die Übernamen Mauschelpindar und Meschugge beigelegt: „Für diese wäre es von grösstem Werth dem immer weiter sich herausspreizenden Mauschelpindar (siehe: Meschugge a. a. O. Seite 176 ff.) die wahre Wiedergeburt gegenüber zu stellen" (10. 11. 1909).

9

Robert Boehringer, Mein Bild von Stefan George. 2., erg. Aufl. Düsseldorf u. München 1968, Textbd, S. 176.

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Diese wahre Wiedergeburt sieht der George-Kreis in Hellingsraths Fund von Hölderlins Pindar-Übertragungen, die in der neunten Folge der „Blätter für die Kunst" 1909 veröffentlicht wurden und dem Blätter-Unternehmen wieder Auftrieb gaben. Nach dem Höhepunkt der Literaturpolemik zwischen dem George-Kreis und Borchardt in den Jahren 1909 und 1910 klingt auch die polemische Verwendung jiddischer Wörter im Briefwechsel ab. Zweimal greift im Jahre 1914 Karl Wolfskehl noch in dieses Arsenal, am 4. 5. wiederum im Zusammenhang einer summarischen Buchkritik: „nun läßt der banale Schmitz gleich ein ganzes Buch gegen Ostwald und den Monismus erscheinen, sehr flach, schepp und gehaltlos aber mit der schnauzigen Chuzpe die eine Schein-Überlegenheit vortäuscht", und am 25. 10. 1914 polemisch gegen Simmel „Erst Jesus bemühen um das Schmusen zu rechtfertigen [...] Pfui Teufel."

Dann aber schweigen die Quellen, und erst anderthalb Jahrzehnte später greift Wolfskehl — nach Krieg und Inflation verarmt, zudem durch seine Augenkrankheit immer mehr behindert, dem Judentum aber näher als je zuvor — auf dieses Sprachinventar zurück. Am 1. 3. 1928 schreibt er Gundolf über den Fund des sog. Schlummerliedes, das ihm als altes und kostbares Sprachdokument der jüdischen Kultur erscheint, aber auch hier heißt es: „Aber ich breche ab, bin wirklich zu miesmutig". Am 11. 12. 1928 beklagt er sich über eine „goiische, freilich etwas unbehilfliche Doppelzüngigkeit", und zwei Tage später fordert er Elli Gundolf auf: „mach mir kein Zores". Am 25. 1. 1929 kann er Gundolf einen neuen Literaturfund melden, „ein nicht nur sprachlich interessantes Mauschelgedicht." Dann blitzt der alte Spötter noch einmal auf, als er Mussolini den „Novo-Cäsar Schmusolini" (14. 2. 1929) nennt, aber auch diesmal erscheint er sich selbst als „miesmut". Mies scheint ihm überhaupt ein treffendes Wort für seine und anderer Verhältnisse in jener Zeit zu sein, denn auch im Sept. 1930 nennt er Franz Blei wegen seiner parodistischen Veröffentlichung „Stefan Georges Tempelglokken" vermiest. Er gehe auf dem von Borchardt unheilvoll gewiesenen Weg: „Hinter dem vermiesten Blei-Gesicht grinst natürlich der bekannte Dantevermauscheler" (ca. 24. 9. 1930). Der aus dem Briefwechsel erkennbare parodistische und satirische Umgang mit jiddischen Wörtern wird ein einziges Mal öffentlich, als Gundolf 1910 in seinem gegen Borchardt gerichteten Aufsatz „Das Bild Georges" im ersten Band des „Jahrbuchs für die geistige Bewegung" in einer Fußnote Borchardts Danteübersetzung charakterisiert: „Seine eigne Produktion ist angewandte philologie: Zusammensetzung vorgefundener Sprachelemente: wähle er nun den gräzisierenden, den biblischen oder den neuesten ton, oder wie bei seiner Übertragung der Divina Commedia, das stationäre Deutsch der russischen J u d e n " . 1 0

10

Friedrich Gundolf, Das Bild Georges. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung. Hrsg. von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters. 1910, S. 1 9 - 4 8 , das Zitat S. 33.

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Diese Formulierung, die Werner Kraft 1956 „töricht" nennt 11 und die Günther Freymuth 1975 als „haßerfüllt" bezeichnet 12 , ist wie selbstverständlich auf das Jiddische bezogen worden. So konnten Lothar Helbing und Claus Viktor Bock in einer Fußnote zu dem von ihnen herausgegebenen Briefwechsel von Gundolf mit Steiner und Curtius sagen, Borchardts Danteübersetzung habe Gundolf „an das, mittelalterliche und andere Sprachelemente enthaltende, heute noch lebendige Jiddisch erinnert." 13 Daß aber dem aufmerksamen Leser ein derartiger Vergleich keineswegs plausibel war, geht schon aus der Frage hervor, die Ernst Robert Curtius am 17. 3. 1910 kurz nach Erscheinen des Jahrbuchs an Gundolf richtete: „Woher in aller Welt wissen Sie übrigens, daß der Jargon seiner Danteübersetzung Judendeutsch, und zwar russisches ist?"

Und Gundolf antwortete: „Das mit dem Judendeutsch soll nur heißen, daß seine Danteübersetzung Mauscheln ist und das habe ich mit leiser Parodie und Höflichkeit in Borchardts eigener Diktion ausgedrückt."

Da haben wir nun die Assoziationsreihe „stationäres Deutsch der russischen Juden" (Gundolf), „Judendeutsch" (Curtius) und „Mauscheln" (Gundolf), die Borchardt in seiner „Intermezzo" betitelten polemischen Antwort noch um „Jiddisch" verlängert. 14 Keineswegs ist die Sprache der Danteübersetzung Jiddisch, sondern ein bemerkenswerter, wenn auch sprachlich und literarisch umstrittener Versuch, zum Zweck der Eindeutschung eine archaische Sprachform neu zu schaffen. 15 Und keineswegs hat sie Gundolf an Jiddisch erinnert, wie Helbing und Bock noch 1962 schrieben und wie Curtius und auch Borchardt meinten. Gundolf benutzte die Assoziation vielmehr, um Borchardt, Sohn jüdischer Eltern aus Königsberg, der seine jüdische Herkunft nach Ansicht des George-Kreises verleugnete, dies am Beispiel seines Sprachgebrauchs vorzuhalten und ihn zugleich der Unreinheit seiner Literatursprache zu bezichtigen. Borchardt schlug eine scharfe Klinge (seine Antwort an George und Gundolf gibt davon einen Begriff), und Gundolf zahlte ihm mit gleicher Münze heim. Mit seiner polemischen Bemerkung steht Gundolf in der Tradition einer sprachkritischen Auseinandersetzung um Nuancen des

11

Werner K r a f t , Rudolf Borchardt und Stefan George. In: Die neue Rundschau. 1956, S. 4 7 3 - 4 9 0 , bes. S. 483.

12

Günther Freymuth, Ein Feind im Kreise Stefan Georges. In: Neue Deutsche Hefte. 22. 1975, S. 7 2 1 - 7 2 9 , bes. S. 721 u. 728.

13

14

15

Friedrich G u n d o l f , Briefwechsel mit Herbert Steiner u. Ernst Robert Curtius. Amsterdam 1962/63, Anmerkung zu S. 154. Rudolf Borchardt, Intermezzo. In: Süddeutsche Monatshefte 1910. Jetzt in: Ges. Werke in Einzelbänden. Prosa 1. Stuttgart 1957, S. 4 3 5 - 4 6 8 , Zitat S. 4 4 3 f . Rudolf Borchardt, Dantes Comedia Deutsch. Stuttgart 1967. (Ges. Werke in Einzelbänden).

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Sprachgebrauchs, wie sie einleitend beschrieben werden und wie sie auch aus einem Brief von Franz Kafka an Max Brod vom Juni 1921 hervorgeht: „Mauscheln im weitesten Sinn genommen, in dem allein es genommen werden muß, nämlich als die laute oder stillschweigende oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes, den man nicht erworben, sondern durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen G r i f f gestohlen hat und der fremder Besitz bleibt, auch wenn nicht der einzigste Sprachfehler nachgewiesen werden könnte [...]". 1 6

Es geht also nicht um den Gebrauch des Jiddischen, auch nicht von dessen westlicher Variante, sondern um einen in Nuancen abweichenden Sprachgebrauch im Deutschen, der als Ausdruck der ethnischen und sozialen Desorientierung seit der Aufklärung verstanden wird. Tatsächlich blieb nach dem Sprachwechsel vom Jiddischen zum Deutschen vielen Juden ein jiddisches Substrat erhalten. Aussprache, Satzbau und Wortschatz blieben jüdisch geprägt. Die Kenntnis der hebräischen Schrift unterschied die Juden ohnedies von den Christen. Die Grundgegebenheiten des Sprachgebrauchs und der Spracherlernung waren auch in diesem Fall nicht außer Kraft zu setzen. So hatten Familienverkehr und -bindung, Handels- und Berufstätigkeit und der Kontakt zu Juden aus West und Ost unvermeidlich Einfluß auf die Fortentwicklung eines jüdischen Sozialdialekts — nun nicht ausgeprägt westjiddischen Charakters, sondern deutlicher an die deutsche Sprache angelehnt. Der Sprachwechsel vom Westjiddischen zum Deutschen war ohnehin ein Vorgang, der sich über Generationen hinzog und eher ein Programm als eine Tatsache darstellt. Wenn also die Ausprägung des jüdischen Sozialdialekts schon nicht nachhaltig zu beeinflussen war, so hätten jedoch Toleranz gegenüber der sprachlichen Andersartigkeit oder Selbstbewußtsein und Stolz auf die sprachliche Eigenständigkeit ein Gegengewicht bilden können, wie man dies bis heute bei deutschen Mundartsprechern finden kann. Das war aber aufgrund der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse im 18. und 19. Jahrhundert kaum zu erwarten. Jiddisch und Deutsch mit jiddischem Substrat waren darum Kennzeichen einer weitgehend sozial deklassierten Bevölkerungsgruppe und wurden so genutzt. Das Mindeste war, daß solche Sprachformen zu Scherz, Schimpf und Spott dienten wie bei den Parodien aus dem 19. Jahrhundert oder bei den humoristischen Dichtungen für jüdische Geselligkeit, die Louis Böhm noch 1910 im Druck erscheinen ließ. 17 Oft war es nur eine Waffe des Antisemitismus, mehr oder minder scharf und mehr oder minder verletzend. Wenn der Herausgeber der Zeitschrift „Deutsches Volkstum. Monatsschrift für das deutsche Geistesleben", Wilhelm Stapel, der als einer der „einflußreichsten völkisch-nationalistischen und antidemokrati-

16

Franz Kafka, Briefe 1 9 0 2 - 1 9 2 4 . o. O. (1966), S. 336.

17

Louis Böhm, Lieder eines fahrenden Choßid. Humoristische Dichtungen für jüdische Geselligkeit. Hildesheim 1910.

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sehen Publizisten der Weimarer Republik" gilt, 18 in einer Kontroverse mit Kurt Tucholsky schreiben konnte: „Sie wissen, daß ich ein kleines Faible f ü r Sie habe. Schon aus der Vorkriegszeit, da ich Ihre Kunstwart-Beiträge auf Goi durchkorrigierte", 1 9

dann schlug er in eben diese Wunde. Sie wurde von den sensibleren unter den Autoren schmerzlich empfunden. Kafka und andere zogen daher den Schluß, daß durch keine wie auch immer geartete Anstrengung einer sprachlichen Assimilation dieser Grundkonflikt, der ein Identitätskonflikt war, aufzulösen sei, und daß nur eine Wiedergewinnung der originären jiddischen Sprache für jeden einzelnen die Auflösung dieses Lebensproblems bringen könne. Auf diesem Hintergrund ist die Auseinandersetzung zwischen Gundolf und Borchardt zu sehen, natürlich auch auf dem Hintergrund einer tiefen Bewunderung Borchardts für das Werk (und möglicherweise auch die Person) Georges, die umgekehrt nicht erwidert wurde. Die Ablehnung Borchardt schriftlich zu überbringen, war Gundolf schon 1903 von George aufgetragen. Gundolf konnte Borchardt mit dem Ausdruck „Mauscheln" ins Herz treffen. Denn Borchardt hatte den Versuch gemacht, einen eigenständigen Weg zwischen der Beharrung auf der jüdischen Sprachform und Assimilation an die deutsche zu gehen: die „schöpferische Restauration" aus eigener Kraft. „Was lag mir an Lesern, die etwa zu mir gegriffen hätten, weil sie kein Italienisch konnten?" fragt Borchardt im Nachwort zur Danteübersetzung, 2 0 „Wem wollte ich die Comedia .ersetzen'? Meine Schmerzen wollte ich heilen, mich wollte ich belehren, die Wunden meiner Nationalbiographie lindern und schließen, meiner ersten großen verschollenen Nationalliteratur den Tod nicht hingehen lassen, der zweiten, der dritten nicht ihre abrupte Qualgeburt, unsern Volkssprachen, unsern ehrwürdigen Mundarten nicht das Verschmähtsein, unserm Ganzen nicht sein trümmerhaftes Zerfalls- und Zufallslos — dem Abgeschmackten der Geschichte nicht den Weg freigeben, dem Tragischen nicht den Weg in die Katastrophe. Meine jahrelange Forschung wollte, ohne daß ich es wußte, Schöpfung werden, Gestalt als Beweis aus der Kraft." 2 1

Mit solcher Neuschöpfung aus dem Geist der Vergangenheit für die Gegenwart wollte Borchardt aber nicht nur Tradition für die Gesellschaft evozieren, sondern den von Kafka und den anderen Autoren gespürten Identitätskonflikt auf eine ganz eigene Weise lösen: „In mir selber, sagte ich, hatte ich Deutschland zu suchen oder zu ergänzen: und sage ich Deutschland, so meine ich die mir durch Sprache und Charakter vorgeschriebene Varietät,

18

Berlin Provinz. Literarische Kontroversen um 1930. Bearb. von Jochen Meyer. (Marbacher Magazin 35. 1985), S. 4.

19

In: Deutsches Volkstum 12. 1930, H. 9, S. 7 1 2 - 7 1 4 , zitiert nach: Berlin Provinz, a. a. O.,

20

Rudolf Borchardt, Prosa 2. Stuttgart 1959, S. 521. (Ges. Werke in Einzelbänden).

21

Ebd. S. 521.

S. 31.

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durch die allein mir Europa gehörte, — sage ich Europa, die Varietät, durch die mir das Menschliche alleine zugänglich war". 22

Für George und den George-Kreis war diese radikale Verfechtung einer sprachlichen Individuation inakzeptabel. George hatte den Weg in seiner Kindheit und Jugend selbst beschritten: mit den von ihm erfundenen Sprachen — dem Amharischen des Kindkönigtums und der lingua romana der frühen Gedichte, und auch mit den Versuchen, französisch zu dichten und ein französischer Dichter zu werden. 23 Diese Wege waren von George beschritten und verlassen worden, und auch der Prozeß der damit verbundenen Selbsterforschung und Selbsterfahrung war abgeschlossen. Nach der Jahrhundertwende hatte George längst einen anderen Ton gefunden, der in den strengen Zeitgedichten oder in den schlichten, dennoch äußerst kunstvollen Liedern des Gedichtbandes „Der siebente Ring" (1907) sich ausdrückt. An dem Nachvollzug eines von ihm selbst erlebten Konflikts, der durch Isolation und Sprachschöpfung bezeichnet und überwunden wird, hatte George kein Interesse. Gundolf war an solche Abgründe nicht geführt worden. Ihm war Sprache kein Problem. Er erzeugte sie nicht, sondern bediente sich ihrer — zu eleganten, geistreichen Formulierungen, zu eingängigen Gedichten. Darum hatte er auch kein Verständnis für die Existenznot Borchardts und für dessen Weg, sie zu bannen. Konnte Gundolf mit dem Vorwurf, seine Danteübersetzung sei „Mauscheln", Borchardt noch zutiefst verletzen, und damit so weit wirken, daß seine Äußerung noch 1956 als töricht und 1975 als haßerfüllt bezeichnet wurden, so hatte Wolfskehl längst — wie ansatzweise Kafka oder deutlicher Döblin — einen anderen Standpunkt bezogen. Ihm, der sich seines Judentums mehr und mehr bewußt wurde, war Jiddisch selbstverständlicher Ausdruck jüdischer Wesensart und Mauscheln dessen westliche und ältere Komponente. Das Schlummerlied, das er 1889/90 in Rudolf Hildebrands Leipziger Vorlesungen zum deutschen Volkslied kennengelernt hatte 24 , hat ihn ein Leben lang beschäftigt und bewegt. „Einmal den Echtheitsbeweis für dieses Lied erbringen zu können, blieb lebenslanger Wunsch des Germanisten und Mythenforschers KW. Immer wieder kam er auf dieses Lieblingsthema zu sprechen", schreiben Margot Ruben und Claus Victor Bock 25 , und sie charakterisieren Übersetzung und Beschäftigung mit diesem Text als Wolfskehls „ganz persönliches Steckenpferd' ".

In der Tat hätte der Echtheitsbeweis für ein Stück althochdeutscher Literatur, in dem durch die Verwendung von hebräischen Buchstaben eine besondere 22 23 24 25

Rudolf Borchardt, Prosa 1. Stuttgart 1957, S. 118. (Ges. Werke in Einzelbänden). Boehringer, Mein Bild von Stefan George, a. a. O., S. 17 u. ö. Karl Wolfskehl, Gesammelte Werke. Bd 2. (Hamburg) 1960, S. 65. Ebd. S. 586.

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Symbiose der jüdischen und christlichen Bevölkerung in frühmittelalterlicher Zeit assoziiert wird, ein Dokument für die geistige Kultur des aschkenasischen Judentums bedeutet, dessen Symbolwert unabschätzbar gewesen wäre. So aber bleibt das kurze Literaturwerk, 1858 von dem Privatgelehrten Georg Zappert publiziert, weiterhin umstritten: kostbarstes altdeutsches Literaturdenkmal oder Fälschung. Bis heute ist in dieser Frage keine endgültige Klärung erreicht. Noch 1976 hat John A. Howard dafür plädiert, das Lied für echt anzusehen. 26 Hier interessieren nun nicht die Argumente im Streit für und gegen die Echtheit des Dokuments, sondern Wolfskehls Beschäftigung damit. In der Festschrift zu Martin Bubers 50. Geburtstag 1928, „Aus unbekannten Schriften", hat er das althochdeutsche Schlummerlied wieder ans Licht geholt, übersetzt und die Geschichte seiner Entdeckung erzählt. 27 Er will „ein von der Altertumswissenschaft längst ergangenes Verdikt anzweifeln, eine neue Untersuchung herausfordern". Dabei kann das Ziel nur sein, die Echtheit zu erweisen, aber nicht in Form einer emotionalen Akklamation, sondern durch Beantwortung der Echtheitsfrage, die „nach Sachgehalt und formalem Charakter jede Art von Objektivität verlangt, weil ihr Inhalt nach vielen Seiten unglaubwürdig und phantastisch, ja geradezu monströs ist". Wolfskehl selbst kann in diesem Beitrag die Frage der Echtheit nicht entscheiden. Er führt die Argumente noch einmal auf und legt dar, was gewonnen wäre, wenn das Dokument für echt erklärt werden könnte: „Was im Echtheitsfalle religionsgeschichtlich (auch übers Germanische hinaus), sprachgeschichtlich, dichtungsgeschichtlich alles gewonnen wäre, ist klar, auch wie bedeutsam in diesem Falle die deutsch-jüdischen frühen Zusammenhänge sich erhellten, versteht sich." Denn was im Jahr 1928 — zu einer Zeit, da die völkischen und antisemitischen Tendenzen sich verstärkten, der Echtheitsbeweis bedeutet hätte, wird von Wolfskehl angedeutet: „Neben den damals noch nicht lange aufgefundenen Merseburger Zaubersprüchen lag also hier das einzige direkte dichterische Denkmal aus dem Heidentum vor. Und was enthielt es nicht alles! Die vier Göttinnen Triuwa, Ostara, Hera, Zanfana. Ostara, bis dahin nur durch den Angelsachsen Beda einmal als angelsächsische Göttin aufgeführt und von den meisten Mythologen außer G r i m m immer angezweifelt, Triuwa gar nur von Jacob Grimm aus mittelalterlichen Personifikationen in seiner Mythologie erschlossen, nur Zanfana in der urgermanischen Form „Tanfana" einmal von Tacitus einwandfrei bezeugt. Ebenso bedeutsam und erschreckend zugleich war die A u f f ü h r u n g Wodans im Lied, weil sie des Gottes Einäugigkeit auch für das südgermanische Gebiet feststellte."

26

J o h n A . Howard, Über die Echtheit eines althochdeutschen Wiegenliedes. In: Studia Neophilologica 48. 1976, S. 2 1 - 3 5 .

27

Karl Wolfskehl, Das althochdeutsche Schlummerlied. Ein Brief an Martin Buber. In: Gesammelte Werke, a. a. O., S. 62—66.

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Der Echtheitsbeweis hätte einen jüdischen Anteil an der Überlieferung für die früheste Zeit und auf einem der von den Nationalisten mit einem Ausschließlichkeitsanspruch belegten Felde der germanischen Mythologie bewiesen und hätte damit die Begründungen völkischer Ideologie ad absurdum geführt. Nachdem bereits am 7. 2. 1928 im Hamburger Fremdenblatt ein Vorabdruck des Beitrags für die Buber-Festschrift unter dem Titel „Raffinierte Fälschung oder altgermanisches Literatur-Dokument?" erschienen war und (ebenfalls am 7. 2. 1928) der Text unter dem Titel „Das althochdeutsche Schlummerlied" in der Frankfurter Zeitung zu lesen war, kam Wolfskehl am 20. 2. 1928 in einem Brief an Gundolf wieder auf das Thema zu sprechen. Seinen Beitrag in der Buber-Festschrift nennt er einen „recht bedenklichen Vorversuch", aber entscheidend ist das Bekenntnis: „Allerdings halte ich [...] das Stück wirklich für echt" [...]. „Ich werde die Sache jedenfalls in weiterem Rahmen und so wissenschaftlich wie möglich behandeln. Die Kontroversen haben bereits eingesetzt". Darum fragt er Gundolf: „Kennst Du eigentlich Wen Wissenschaftlichen in Wien, durch den ich eventuell eine exakte Photographie des ominösen Schlummerliedschnitzels vermittelt bekommen könnte? A n Zysarz möchte ich aus verschiedenen Gründen nicht gehen, bitte Dich auch, ihm gegenüber zu schweigen."

Das Ergebnis seiner Prüfung teilt Wolfskehl dann am 1. 3. 1928 Gundolf schriftlich mit: „Inzwischen erhielt ich die Photographie des Schlummerliedpergaments. Es macht einen ganz unverdächtigen Eindruck und die A r t wie ζ. B. die Hebraismen ein- oder zugefügt sind, halte ich für schlechthin unerfindbar. Die Sprachlichen Sonderbarkeiten und sogenannten ,Fehler' stellen sich mir immer mehr als ein richtiges ahd. Mauscheln dar: das Stück ist neben allem Sonstigen auch noch ein Urahn des Yiddisch! A b e r ich breche ab, bin wirklich zu miesmutig."

Warum aber ist Wolfskehl im Augenblick des Triumphs „miesmutig"? Weil der Beweis für die Ansicht nicht zu erbringen ist, oder weil die kulturelle und politische Entwicklung des westlichen Judentums auch durch den Echtheitsbeweis nicht mehr entscheidend umzukehren wäre? Eine Entscheidung darüber ist nicht möglich, aber es wird deutlich, daß Wolfskehl einen Weg für die Sicherung der kulturellen Eigenständigkeit des Westjudentums sucht, der der jiddischistischen Entwicklung im Osten vergleichbar ist. Nicht Übernahme der östlichen Sprach- und Kulturentwicklung durch das Westjudentum und damit neuerlicher Sprachwechsel, wie dies von den westlichen Jiddischisten seit 1916 propagiert worden ist, sondern Anerkennung der jüdischen Besonderheit im Verband der deutschen Kultur und damit Entwicklung auch der westjüdischen Interessen in den angestammten Territorien. Dazu war jeder Beweis einer jüdisch-deutschen Symbiose gerade auf sprachlich-literarischem Gebiet von größtem Wert. Bedeutete er doch, daß der für die Gegenwart zu erhebende Anspruch sich nicht nur aus der Vergangenheit ableiten ließ, sondern in der Vergangenheit zu allseitigem Nutzen bereits verwirklicht gewesen war.

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Darum sucht und findet Wolfskehl weitere Belege dieser deutsch-jüdischen Kultursymbiose. Unter den Büchern, die Gundolf Wolfskehl um die Jahreswende 1928/29 schenkt — „welch ein Dauersegen! Ganz wunderbare Bücher, herrliche Zugewächse zu meinen neuen Sonderprovinzen" schreibt er am 25. 1. 1929 zum Dank — befindet sich auch eines, das einen solchen Beleg enthält: es sind die „Faberschen Gedichte: ein Hassiacum ersten Ranges, von dem ich ebenfalls nichts wusste". Über den Autor heißt es: „Ein ganz talentvoller Biedermann", [...] „Mit etwas rhein-mainzischer Ironie getränkt verfloss entsprechend dies Dasein und versifizierte Anlässe und sich selbst. Unter den Reimereien übrigens ein nicht nur sprachlich interessantes Mauschelgedicht voll Hass und Hohn."

Dieses Gedicht — wichtiges Dokument für Wolfskehls Beschäftigung mit der jüdisch-deutschen Sprach- und Kultursymbiose, war bis jetzt verschollen, sein Autor unbekannt. Der Herausgeber des Briefwechsels zwischen Wolfskehl und Gundolf, Karlhans Kluncker, vermutete Johann Heinrich Faber (1742 — 1791) als Autor des Gedichtbandes. 28 Es handelt sich aber um Hermann Joseph Gottfried Faber, der am 11. März 1767 in Mainz geboren und 1851 dort gestorben ist. 29 Von Faber, Notar in Bingen, später Mainz, dann Ergänzungsrath am Obergericht in Mainz, gibt es zwei Sammlungen seiner Gelegenheitspoesie: den „Binger Casinokalender" von 1816 und die „Humoresken" von 1842. Wie leicht Faber die Verse aus der Feder flössen, wird da im Vorwort einiger Freunde des Verfassers an einem Beispiel dargelegt: „So ζ. B. kam eines Morgens, da er sich gerade als Wahlkommissär in Kostheim befand, sein Freund, der Regierungsrath Hesse, vorgeritten und ersuchte ihn für die stattfindende Feier zur Vollendung des Mauerwerks am neuen Theater einen Bauspruch zu verfassen. Der Spruch sollte schon Nachmittag gehalten und vorher noch abgedruckt werden. Das schreckte jedoch unsern Faber nicht ab. Er machte sich ans Werk und nach jedesmaliger Vollendung einiger Strophen, wurden diese von einem Boten in Empfang genommen und der Presse übergeben, so daß der gedrängte Poet bei der vierten Strophe kaum wußte, was er in der dritten gesagt. Dessen ungeachtet hatte sich das Gedicht wider Erwarten eines ungeteilten Beifalls zu erfreuen

Der Bericht über Fabers poetische Arbeitsweise und sein literarisches Ethos lassen uns seine Gedichte besser einschätzen, darunter auch das von Wolfskehl so genannte Mauschelgedicht, das im „Anhang zerstreuter Gedichte, die sich noch beim Schlüsse der Sammlung vorgefunden haben" abgedruckt ist. 31 28

Karl und Hanna Wolfskehl, Briefwechsel mit Friedrich Gundolf, a. a. O., Bd 2, S. 302.

29

Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Aus den Quellen. 2., ganz neu bearb. A u f l . Bd 13. Vom Weltfrieden bis zur französischen Revolution 1830. 8. Buch, 6. Abt. Dresden 1938, S. 298.

30

Hermann Faber, Humoresken. Mainz 1842, S. X V I .

31

Ebd. S. 252 f.

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Das fünfstrophige Lied zu je sechs paarig gereimten Zeilen steht in der Tradition der Gelegenheitsgedichte vom Barock bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in denen in einen in der Struktur deutschen Text lexikalische Dubletten eingesetzt sind. Faber hat sich dieses Mittels bedient und nach Möglichkeit in jeder Zeile ein jiddisches Wort eingefügt. Mämme, koscher, Datscherweck, achel, oser, Dokes, Ette, Butschkajum und ore geben lexikalisches Kolorit, das auch von den Namen Mosche, Esterche, Benjomin, It^ick, Schimge, Schmul erzeugt wird. Aber der Text enthält auch morphologische und textuelle Besonderheiten (Nu was hott die Mämme gemacht / Stell der oser nit so dumm / Machet all e groß Geschrei), die als rheinhessischer oder west jiddischer Zug zu werten sind. Schließlich wird refrainartig einer hebräische Verballhornung wiederholt — Scholemachajum scholmachai — aus dem Gruß Scholem alechem abgeleitet. Das Lied beschreibt im ganzen ein deftiges Gelage mit ausgiebigem Essen und Trinken, wobei vor den Folgen des Federweißen besonders gewarnt wird. Ob darin oder etwa im Gebrauch des Wortes fressen Wolfskehl „Hass und Hohn" erblickte, muß natürlich offenbleiben. Aber daß fressen im Dialekt ganz häufig gebraucht wurde, belegt das Südhessische Wörterbuch mit reichhaltigem Material. 32 Eine besonders pejorative Tendenz kann daher in der Verwendung dieses Wortes nicht erblickt werden. Eher ist es ein Beleg dafür, daß Faber sich im Dialekt der Gegend von Mainz und Bingen vorzüglich auskannte. Das Interesse Wolfskehls an diesem Gedicht und seine Äußerung, daß der Text ein Zugewinn für eine seiner neuen Bücherprovinzen sei, verdeutlicht uns noch einmal die ganz andere Haltung zum Jiddischen, die er gegen Ende der zwanziger Jahre gewonnen hatte. Mauscheln war für Wolfskehl 1929 längst von einem Schimpfwort zu einem Ehrentitel geworden. Für George hat das Jiddische keine besondere Bedeutung. Es ist ein Element seiner Mündlichkeit und gehört zu den rheinhessischen Sprachformen seiner Kindheit, zu denen er sich immer wieder bekannt hat. Aber er hat es nicht thematisiert und auch schriftlich in Briefen fast gar nicht benutzt. Die Äußerung „K läuft wie immer herum und d-bb-t" ist bezeichnenderweise in einem Brief enthalten, den George während eines Aufenthalts im Hause Wolfskehl geschrieben hat. Die Verwendung des Wortes dibbern charakterisiert treffend die Stimmung bei Wolfskehl, der wegen seiner „Lingualorgien" teils bewundert, teils gefoppt wurde, und enthält durch die Aussparung der Vokale einen ironisch-gelehrten Anstrich. Damit geht George auf die wissenschaftliche Attitude Wolfskehls ebenso ein wie durch die Assimilation des -r- in dibbet, auf dessen südhessische Aussprache. Dennoch hat die Verwendung jiddischer Wörter für George

32

Südhessisches Wörterbuch, a. a. O., Bd 2. 1 9 6 9 - 1 9 7 2 , Sp. 9 4 5 - 9 5 0 .

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einen eher beiläufigen Charakter, und es liegt ihm fern, damit einen Bezug zur Jüdischkeit herstellen zu wollen. Anders Wolfskehl: Zu seinem Judentum mußte er erst zurückfinden, aber verleugnet wie Borchardt, den er deshalb noch aus dem Exil Falsarius nennt, hat er es nicht. Für Wolfskehl hatten die jiddischen Wörter einen ganz anderen Stellenwert als für George. Sie waren Ausdruck des Judentums, das er nicht nur in seiner westlichen Form, sondern als Besucher eines Zionistenkongresses auch in seinen lebendigen östlichen Ausprägungen kennengelernt hatte. Aber bei Wolfskehl ist auch eine Veränderung des Verhältnisses zum Jiddischen zu beobachten. Verwendet er die Wörter zunächst meist distanziert, ironisch, gleichsam als Spielmaterial eines überschäumenden Geistes, so wird ihm offenbar das Gewicht und die Würde des Jiddischen als Ausdruck der Jüdischkeit zunehmend mehr bewußt. Damit schwindet auch die Möglichkeit ironischer Distanzierung, und die Wörter bekommen den Status eines Identifikationsmittels. Anders als George und Gundolf beschäftigt sich Wolfskehl intensiv mit jüdischen Themen, nicht nur journalistisch oder dichterisch, sondern auch wissenschaftlich. Das Schlummerlied und Fabers Gedichte stehen sicher nur stellvertretend für eine große Fülle literarisch-bibliographisch-bibliophiler Interessen, bei denen jüdische Themen und jüdische Angelegenheiten nicht nur Wolfskehls Verstand, sondern auch sein Herz berührten. Bezeichnend ist Wolfskehls Benutzung des Wortes Mauschel, das er 1901 noch zu einem Wortwitz nützt und in seinen polemischen Komposita Mauschelpindar (überliefert von Hanna Wolfskehl 1909) und Dantevermauscheler (1930) durchaus abwertend verwendet wird. Aber wenn er die Sprache des Schlummerliedes in der Buber-Festschrift „ein richtiges ahd. Mauscheln" und den Text „ein Urahn des Yiddisch" nennt, dann spürt man nicht nur nichts von irgendeinem abwertenden Unterton, sondern Stolz auf die geistige Tradition und ein Bekenntnis zu den sprachlichen Wurzeln seines Judentums. Auch Fabers „sprachlich interessantes Mauschelgedicht" wird von Wolfskehl, wie aus dem mit innerer Bewegung geschriebenen Brief hervorgeht, nicht abgewertet, sondern als literarisches Zeugnis für die deutsch-jüdische Symbiose verstanden. Wolfskehl war ein Mensch, der seine größte Wirksamkeit im Gespräch entfaltete. So ist es nicht verwunderlich, daß sich im Umkreis von Wolfskehl jiddische Wörter verbreiteten: bei der nichtjüdischen Ehefrau Hanna ebenso wie bei Gundolf. Gundolf benutzte die jiddischen Wörter ausschließlich koloristisch, als Salz in der Suppe seines Briefstils — und nur hier. Wolfskehl hatte ihm dazu den Weg gezeigt. Geschöpft hat Gundolf aus Wolfskehls wie aus eigener Kenntnis, und wir dürfen vermuten, daß er manches auch in Berlin kennengelernt hat. Aber einen so tiefen Eindruck wie bei Wolfskehl scheint das Jiddische bei

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ihm nicht hinterlassen zu haben. Vielleicht war er noch auf einem Weg, auf dem ihm Wolfskehl schon ein Stück voraus war. Wolfskehls endgültige Hinwendung zum Judentum, die im allgemeinen in das Jahr 1933 datiert wird, muß nach dem Ausweis dieser Zeugnisse schon viel früher erfolgt sein und läßt sich bereits für 1927 eindeutig belegen. 33

33

Vgl. dazu: Frederick P. Bargebuhr, Karl Wolfskehl. Deutscher Dichter und Jude. Zum Druck besorgt und eingeleitet von Elisabeth Höpker-Herberg. In: Karl Wolfskehl Kolloquium. Hrsg. von Paul Gerhard Klussmann in Verbindung mit Jörg-Ulrich Fechner u. Karlhans Kluncker. Amsterdam 1983, S. 32 - 44.

IV. Wortschatz der Gegenwartssprache

GEORG

STÖTZEL

Nazi-Verbrechen und öffentliche Sprachsensibilität Ein Kapitel deutscher Sprachgeschichte nach 1945

1. Einleitung: Nazi-Verbrechen und deutsche Sprache — Rekapitulaton aus aktuellem Anlaß 2. Sprachkritik der frühen Nachkriegszeit: Historisch-kritische Sprachsensibilität. Sprachwissenschaftliche Neubewertung. 3. Erinnerung an das „Wörterbuch des Unmenschen" und die „LTI": Sprachgebrauch und Kollektivbewußtsein. Nazistische Gesinnungstradition in der BRD-Lexik? 4. Sprachkrise und Sprachreinigung — Probleme und Erscheinungsformen der Weiterverwendung nazistischer Vokabeln — Chronologische Beleginterpretationen 5. Frühphase der Nazi-Vergleiche: Unproblematisierte Diffamierungen im Ost-West-Konflikt und „innenpolitische" Kritik 6. Reflektierte Spätphase der Nazi-Vergleiche: Geschichtsverdrängung und Verbrechensrelativierung. Sprachsensibilität als Kritik-Instanz? Das semantische Gedächtnis der Opfer Literatur

1. Einleitung: Nazi-Verbrechen und deutsche Sprache — Rekapitulation aus aktuellem Anlaß Seit 1945 bis in unsere jüngste Vergangenheit ist eine öffentliche Diskussion zu beobachten über die Weiterverwendung von Ausdrücken, die für den Sprachgebrauch der Nazis charakteristisch sind. Ein zweites Problemfeld, das die wortgeschichtliche Forschung bisher noch gar nicht analysiert und durch Belege systematisch veranschaulicht hat, ist erst seit dem Wahlkampf zur Bundestagswahl 1987 öffentlich bewußt geworden: Es ist die ebenfalls bereits nach Kriegsende einsetzende Tradition, politische Gegner durch Vergleiche mit nazistischen Verbrechern und mit nazistischen Gewaltaktionen herabzusetzen. Sowohl die Veränderungen in der öffentlichen sprachkritischen wie der sprachwissenschaftlichen Diskussion als auch die inzwischen vorliegenden Analysen der Historiker zur Geschichte der Bundesrepublik rechtfertigen es m. E., von sprachwissenschaftlicher Seite aus die sprachkritische Reflexion wiederaufzunehmen und fortzusetzen. Historische Untersuchungen zur Lage nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 haben verdeutlicht, welche Faktoren dafür verantwortlich waren, daß eine intensive Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit nicht

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zustande kam, daß vielmehr eine gründliche institutionelle Verdrängung dieser Vergangenheit das sozialpsychische Signum der Adenauer-Ära werden konnte. Die äußere Notlage von Vertriebenen, Ausgebombten und Hungernden, die von den Besatzungsmächten vollzogene Restitution der Verwaltung — der die Restitution der Beamtenschaft folgte —, die die Denazifizierung bald unterhöhlenden Auseinandersetzungen zwischen Russen und Westmächten, das Eindringen ehemaliger NSDAP-Mitglieder in die neuen Parteien, der durch den Marshallplan geförderte materielle Wiederaufbau ließen Stimmen, die nach einem korrespondierenden .geistigen Wiederaufbau' und nach einer Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit riefen, als schwach und politisch wirkungslos erscheinen. Politiker — die zunächst jedem Deutschen, der wieder eine Waffe anfasse, die Hand abschlagen lassen wollten — redeten bald in der bereits seit November 1948 einsetzenden Remilitarisierungsdebatte 1 ganz anders (Thränhardt, S. 75). Von den unter diesen Vorzeichen sozusagen subversiven Kritik-Strömungen, die aus kathartisch-therapeutischen Motiven eine offene und öffentliche Auseinandersetzung der Nachkriegsgesellschaft mit ihrer NS-Geschichte forderten, sind auch jene sprachlichen Ansätze erinnerungswürdig, die den Z u s a m m e n h a n g von N a z i - V e r b r e c h e n und Nazi-Sprache zu thematisieren versuchten, indem sie den deutlichen Vor- bzw. Widerschein der unsäglichen Untaten der Deutschen in ihrer Muttersprache aufwiesen. Gegenüber der geringen politischen 2 Resonanz jener frühen sprachhistorischen Versuche zum Zusammenhang bzw. Indiz-Verhältnis von deutscher Sprache und deutscher Politik zeigen die Diskussionen über des Bundeskanzlers Gorbatschow-Goebbels-Vergleich und über seine KZ-Attacke gegen die DDR in den Jahren 1986/87, wie groß inzwischen — unter gewandelten historischen Bedingungen — die öffentliche Sprachsensibilität ist, wenn Ereignisse und Personen aus diesem Abschnitt deutscher Geschichte ins Spiel gebracht werden.

1

2

Schon am 27. 11. 48, S. 1, Sp. 4 - 5 berichtet die RP unter der HÜ „Deutsche unter Waffen?" über Egon Kogons Behauptung, daß die Alliierten bereits offen über die „Remilitarisierung Deutschlands" sprächen, und darüber, daß Adenauer dies in Abrede stelle. Auf dem Internationalen Germanistenkongreß 1985 habe ich über die journalistische Verarbeitung der Sprachlenkung der Nazis berichtet. In der dritten Auflage des „Wörterbuchs des Unmenschen" ist der „Streit über die Sprachkritik" mitdokumentiert. Auch die Arbeiten von Schmitz-Berning sind von Journalisten begeistert gefeiert worden. Aber öffentlichpolitische Reaktionen gab es eben erst in neuester Zeit, wenn kritische Journalisten, Dichter wie Walser und Boll oder auch Politiker untereinander über den Gebrauch „kritischer" Wörter (wie Berufsverbot, Gruppe, Bande, Nachrüstung, Zensur, entartete Kunst, Wiedergutmachung usw.) in der politischen Öffentlichkeit stritten. Dies habe ich in mehreren Arbeiten demonstriert und analysiert.

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2. Sprachkritik der frühen Nachkriegszeit: Historisch-kritische Sprachsensibilität. Sprachwissenschaftliche Neubewertung Aus dieser Perspektive erscheint der erste Teil des folgenden sprachwissenschaftlichen Beitrags zum Verhältnis von Nazi-Verbrechen und öffentlicher Sprachsensibilität u. a. auch als eine Art rekapitulierender Würdigung jener von der Sprachwissenschaft ζ. T. als journalsitisch und sprachtheoretisch nicht fundiert abgetanen sprachkritischen Bewegung der unmittelbaren Nachkriegszeit. Diese ältere sprachkritische Diskussion zwischen 1945 und 1948 analysierte und decouvrierte in den bekannten Publikationen von Victor Klemperer und Dolf Sternberger, Wilhelm E. Süskind, Gerhard Storz die rigorose Sprachlenkung der Presse durch die Nazis, die massensuggestive Rhetorik Hitlers und die auf massenhysterische Zustimmung zielende Inszenierung von Parteitagen als vor allem sprachbezogene Kommunikationstechniken zur bewußtseinsmäßigen Massenkonditionierung, — im Sinne einer Bestialisierung, derzufolge millionenfacher Mord als legitime Beseitigung von Untermenschen und Parasiten erscheinen sollte. 3 Diese frühen Versuche sollten helfen, eine Antwort zu finden auf zwei Fragen, die — nachdem ab 1945 die Nazi-Verbrechen in Deutschland und im Ausland allgemeiner bekannt geworden waren — intensiv diskutiert wurden: „Wie konnte es dazu kommen?" und „Wie können wir eine Wiederholung verhindern?" Die Analyse von sogenannten Nazi-Wörtern bzw. von Nazi-Sprache und der Kampf gegen deren Weiterverwendung thematisieren bildungsgeschichtlich den Zusammenhang von „Sprache und Weltauffassung" und fußen somit auf der spätestens bei Wilhelm von Humboldt aber auch schon bei Theoretikern der europäischen Aufklärung(en) wie Hobbes, Locke, Condillac, Maupertuis, Michaelis und schließlich bei Herder sprachtheoretisch begründeten Einsicht in den unauflösbaren Zusammenhang von Sprache bzw. Sprachverwendung oder Wortgebrauch einerseits und Weltanschauung bzw. Gesinnung andererseits. Diese Annahmen kommen zum Ausdruck, wenn einerseits behauptet wird, die Gefährlichkeit der Nazis hätte schon aufgrund genauer Sprachanalyse vorweg erkannt werden können, und wenn andererseits davor gewarnt wird, die .belasteten' Ausdrücke weiter zu verwenden, weil sie die (verbrecherische bzw. die nazistische) Gesinnung weitertransportieren. Dieser sprachkritische Ansatz geht — wenn man seine impliziten zeichentheoretischen Annahmen positiv formuliert — davon aus, daß die Sprache 3

Auch die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem illustriert den Zusammenhang von NSSprache und -Verbrechen, insofern zuerst die sprachlichen Dokumente als „Vorbereitung" des Judenmordes anzusehen sind und in Erinnerung gerufen werden.

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als soziales Gedächtnis zu betrachten sei, als eine kommun-öffentliche Gedächtnisspähre, in der — im Unterschied zur individuell-inneren Gedächtnissphäre — bei stabilen sozialen Rahmen ständige, kollektive Reproduktionen vergangener Ereignisse als verbindlich gesetztes Allgemeingut bewahrt werden. Auf diese Gedächtniskonzeption des 1945 im Konzentrationslager Buchenwald verstorbenen, in Deutschland bis dahin kaum bekannten Bergson- und Dürkheimschülers Maurice Halbwachs — und auf Lutz Geldsetzers Übersetzung des Hauptwerks mit dem Titel „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen" — hatte Rudolf Heinz 1969 hingewiesen. Hans Jürgen Heringer und Peter von Polenz haben sich 1981 als Sprachwissenschaftler — gerade mit dem Blick auf die Nazizeit und die frühe antifaschistische Sprachkritik — mit der Frage auseinandergesetzt, „ob Erinnerungen [...] über den Sprachgebrauch erhalten werden müssen" (S. 165). Heringer plädiert dafür, daß zum Geschichtswissen auch sprachgeschichtliches Wissen gerechnet werden müsse, wenn eine Gesellschaft nicht wolle, „daß die Erinnerung zugedeckt wird" (S. 166). Das bedeutet, daß von einer verantwortlichen Gesellschaft legitimerweise zu fordern ist, ihre geschichtlichen Erfahrungen nicht nur als „Erinnerung [...] in Wörtern" wachzuhalten, sondern, daß man in einer historisch reflektierten Gesellschaft — wenn sie der Tradition der sie möglicherweise selbst infizierenden Sprachmanipulation entkommen will — im (utopisch?) positiven Fall „über einen überschaubaren historischen Zeitraum weiß, wie Wörter verwendet wurden" (Heringer, S. 166). Auf das Individuum gewendet, zeichnet sich nach Heringer „der reflektierte Sprecher eben auch dadurch aus [...], daß er weiß, wie andere Gruppen das Wort gebrauchen, daß er weiß, wie dieses Wort in der Geschichte gebraucht wurde" (a. a. O.). In einer solchen Gesellschaft müßte im Zusammenhang mit der Geschichtsrezeption gelernt werden — und viele Historiker schreiben ja heute schon in ihre Darstellungen Sprachbelege als Veranschaulichungen einer Gesinnungsgeschichte hinein —, was bestimmte Ausdrücke bedeuteten und ob die betreffenden Wörter vermieden und ihr Gebrauch bekämpft werden sollte. Käme es hier zu einer Tabuisierung, so wäre diese nicht durch einen angstbesetzten Vorgang des Erlernens von bestehenden gesellschaftlichen Konventionen begründet, sondern Ergebnis historischer Aufklärung. Historisches und sprachhistorisches Wissen würde zu neuen Konventionen internalisiert, die inhaltlich historisch gesättigt wären. Daß ein solcher historisch-kritischer Sprachbegriff, aus dem heraus sich eine kritische Sensibilität gegenüber dem jeweils aktuellen Sprachgebrauch ergibt, unter dem Druck der Erfahrung aus der Nazizeit ein Charakteristikum des guten deutschen Journalismus wurde, schätzt Hugo Steger vollkommen richtig ein, wenn er behauptet: „[...] die sprachliche Sensibilität besonders von kritischen Journalisten hat 1945 doch einen wesentlichen Beitrag zur Hinterfragung der Sprache und zum Bewußtwerden der Zusammenhänge

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zwischen Sprache, Ideologie und gesellschaftlichem Gruppenbewußtsein geleistet" (Steger, S. 17). Der von Storz, Sternberger, Süskind, Klemperer und den sprachkritischen Journalisten der frühen Nachkriegszeit vertretenen Konzeption kann man also legitimerweise einen Begriff von Sprache unterstellen, in dem Sprache als realitätskonstituierend bestimmt ist und nicht als ein sekundäres System von Zeichen, die vom Bezeichnungsvorgang unabhängig existierende Sachverhalte lediglich repräsentierten. Die bis heute reichende Nachkriegsgeschichte der beiden Bereiche öffentlicher Sprachsensibilität soll hier in aller Kürze in ihren argumentativen Hauptzügen und in notwendig sprunghafter Chronologie nachgezeichnet und — soweit es um den Sektor diffamierender Vergleiche geht — erstmals als Teil der deutschen Sprachgeschichte nach 1945, wenngleich auch nur propädeutisch-skizzenhaft, sprachhistorisch bearbeitet werden.

3. Erinnerung an das „Wörterbuch des Unmenschen" und die „LTI": Sprachgebrauch und Kollektivbewußtsein. Nazistische Gesinnungstradition in der BRD-Lexik? Bereits während der Zeit der Nazi-Herschaft und unmittelbar danach hatten Victor Klemperer („LTI") und Sternberger, Storz, Süskind („Aus dem Wörterbuch des Unmenschen") Aufzeichnungen gemacht bzw. publiziert, die die Öffentlichkeit auf den Zusammenhang von Sprachgebrauch und Verbrechen aufmerksam machen sollten. Zur Vergegenwärtigung und als Grundlage der anschließenden Interpretation sollen einige charakteristische Textpassagen hier vorweg eingefügt werden: „So hat der Mensch auch als Unmensch seinen Wortschatz, seine eigentümliche Grammatik und seinen eigentümlichen Satzbau." (Sternberger, Vorbemerkung 1945). „Das Wort Lager, so harmlos es einmal war und wieder werden mag, können wir doch auf Lebenszeit nicht mehr hören, ohne an Auschwitz zu denken." (Sternberger, Vorbemerkung 1967). „Das Wörterbuch des Unmenschen ist das Wörterbuch der geltenden deutschen Sprache geblieben, der Schrift- wie der Umgangssprache, namentlich wie sie im Munde der Organisatoren, der Werber und Verkäufer, der Funktionäre von Verbänden und Kollektiven aller Art ertönt. Sie alle haben, so scheint es, ein Stück vom totalitären Sprachgebrauch geerbt, an sich gerissen, aufgelesen oder sonst sich zugeeignet, nur daß die schauerliche Macht daraus gewichen ist." (Sternberger, Vorbemerkung 1957). „Und so wird es auch mit dem schwerstwiegenden Entscheidungswort unserer Übergangsepoche gehen: eines Tages wird das Wort Entnazifizierung versunken sein, weil der Zustand, den es beenden sollte, nicht mehr vorhanden ist. Aber eine ganze Weile wird es bis dahin noch dauern, denn zu verschwinden hat ja nicht nur das nazistische Tun, sondern auch die nazistische Gesinnung, die nazistische

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Denkgewöhnung und ihr Nährboden: die Sprache des Nazismus. Wie viele Begriffe und Gefühle hat sie geschändet und vergiftet! A m sogenannten Abendgymnasium der Dresdener Volkshochschule und in den Diskussionen, die der Kulturbund mit der Freien Deutschen Jugend veranstaltete, ist mir oft und oft aufgefallen, wie die jungen Leute in aller Unschuld und bei aufrichtigem Bemühen, die Lücken und Irrtümer ihrer vernachlässigten Bildung auszufüllen, an den Gedankengängen des Nazismus festhalten. Sie wissen es gar nicht; der beibehaltene Sprachgebrauch der abgelaufenen Epoche verwirrt und verführt sie. Wir redeten über den Sinn der Kultur, der Humanität, der Demokratie, und ich hatte den Eindruck, es werde schon Licht, es kläre sich schon manches in den gutwilligen Köpfen — und dann, das lag ja so unvermeidlich nah, sprach irgend jemand von irgendeinem heldischen Verhalten oder einem heroischen Widerstand oder von Heroismus überhaupt. Im selben Augenblick, w o dieser Begriff im geringsten ins Spiel kam, war alle Klarheit verschwunden, und wir staken wieder tief im Gewölk des Nazismus" (Klemperer S. 8). „[...] die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewußtem Denken oder bewußtem Fühlen in sich aufnehmen mußte. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden. Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein. [...] Die nazistische Sprache [...] durchtränkt Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht [...] die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt [...] an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel. Das Gift der LTI deutlich zu machen und vor ihm zu warnen — ich glaube, das ist mehr als bloße Schulmeisterei. Wenn den rechtgläubigen Juden ein Eßgerät kultisch unrein geworden ist, dann reinigen sie es, indem sie es in der Erde vergraben. Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen." (Klemperer S. 21 f.)

Beide Werke sind geprägt von einer außerordentlichen Sensibilität gegenüber nazi-typischen Ausdrücken, die als spezifische Symptome der betreffenden Epoche, aber auch als Charakteristika unmenschlicher Systeme überhaupt empfunden werden. Diese Sensibilität richtet sich bei Sternberger, Storz, Süskind und bei Klemperer zum größten Teil auf andere Wörter als sie bei der ersten sprachwissenschaftlichen Aufarbeitung des „Vokabulars des Nationalsozialismus" von Cornelia Berning angeführt werden. Dies hängt sicherlich zusammen mit dem schmerzhaften, lebensgeschichtlichen Ursprung der Sensibilität bei den betroffenen .Analytikern'. Zugleich mag wohl hier ein Grund für die ablehnende Rezeption dieses frühesten Ansatzes antifaschistischer Sprachkritik — und ihrer Verlängerung' auf Spracherscheinungen in der Bundesrepublik Deutschland — in der Öffentlichkeit, bei Politikern und auch bei Sprachwissenschaftlern liegen: die Wortgebrauchs-Kritik der frühen Nachkriegszeit wurde ζ. T. — aufgrund des inkriminierten Wortmaterials — als idiosynkratisch eingeschätzt und als Wortverbotsliste mißinterpretiert. Daß der Vorwurf

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idiosynkratischer Sensibilität nur teils berechtigt ist, wird m. E. dadurch deutlich, daß Berning immerhin zwölf von vierunddreißig Belegen aus dem „Wörterbuch des Unmenschen" in ihrer Wortanalyse aufführt (Ausrichtung, Betreuung, charakterlich, durchführen, Einsatz, Härte, intellektuell, Kulturschaffende, Leistungs-\leistungsmäßig, Propaganda, Raum, Schulung). Daß andererseits spätere öffentliche Auseinandersetzungen in der Presse über ausmerzen, Auslese (Elite), entartet, entartete Kunst, Sonderbehandlung, Zersetzung, Konzentrationslager Audrücke betreffen, die nur bei Berning verzeichnet sind, spricht auch dafür, daß die frühesten Ansätze antifaschistischer Sprachkritik soziologisch nicht gänzlich repräsentativ sind. — Die starke erlebnismäßig geprägte Sprachempfindlichkeit zeigt sich ζ. B. 1946 bei Klemperer auch in der Kritik an der Verwendung bestimmter Wortbildungstypen. Die Erinnerung an Bezeichnungen für neue, durch die Kriegslage des Dritten Reiches bedingte, Tätigkeiten wie entdunkeln (nach Ende des Fliegeralarms), wie entrümpeln (der Hausböden für den Durchgang der Feuerwehr bei Dachbränden), wie enthittern (der Roßkastanie, um sie als Nahrungsmittel verwenden zu können) ist Ursache seiner Kritik an dem analog gebildeten ,scheußlichen Wort' (S. 7) Entnazifizierung. Er wünscht, daß dies Wort ebenso versinke wie schon die ehemals „nie mehr ausrottbar" erscheinenden Wörter Blitzkrieg, schlagartig, Vernichtungsschlacht, Einkesselung, Nervenkrieg, Endsieg. Solche Wörter sollten lediglich im „Geschichtsunterricht späterer Zeiten" als historische Sedimentierungen, als versteinerte Zeugnisse jener unseligen Zeit wieder auftauchen. In der „Übergangsepoche" aber gelte es darauf zu achen — so das sprachkritische Schlüsselmotiv Klemperers —, daß nicht nur das „nazistische Tun" verschwinde, „sondern auch die nazistische Gesinnung, die nazistische Denkgewöhnung und ihr Nährboden: die Sprache des Nazismus" (S. 8). Eben in dieser Zeit schon sieht Klemperer sich herausgefordert, „das Gift der LTI deutlich zu machen und vor ihm zu warnen" (S. 22): In Dresdener Diskussionen mit Mitgliedern der FDJ sieht er „die jungen Leute in aller Unschuld" wegen lückenhafter oder vernachlässigter historischer Bildung an Gedankengängen und am Sprachgebrauch des Nazismus festhalten. Ihre Redeweise von irgendeinem heldischen Verhalten, von heroischem Widerstand, von Herorismus überhaupt, das Auftauchen bestimmter Wörter und Wendungen deutet er als Indiz für das unbewußte Weiterwirken des Sprach-Giftes, für das Weiterleben nazistischer Gesinnung. Für eine historisch produktive Rezeption dieses Ansatzes sollte ein von den Sprachkritikern selbst nahegelegtes Mißversändnis ihrer eigentlichen Intention ausgeräumt werden. Die Warnung vor dem Gebrauch .belasteter' bzw. nazi-typischer Ausdrücke und Wendungen sollte nicht als Aufforderung verstanden werden, eine Liste indizierter Wörter zusammenzustellen und deren Gebrauch zu verbieten. Vielmehr — und das macht Klemperer ganz explizit durch seine Kritik an der Weiterverwendung von heroisch in der FDJ

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deutlich — wird gewarnt vor einem geschichtslosen Volksbewußtsein, das in seiner Unwissenheit Nazi-Ausdrücke weitergebraucht. Die gesellschaftlich augenscheinlich unproblematische Weiterverwendung ,an sich' bzw. eigentlich stigmatisierter Ausdrücke ist — entsprechend der Logik dieses Ansatzes — als Symptom dafür zu werten, daß das Kollektivbewußtsein (im Sinne der Traditionslinie von Dürkheim bis Halbwachs) wichtige geschichtliche Ereignisse nicht verarbeitet, sondern verdrängt hat. Wenn man dieses Hauptmotiv auch den Autoren des „Wörterbuchs des Unmenschen" zuerkennt, dann erledigt sich die Diskussion darüber, wie man die Liste der inkriminierten Wörter begrenzen solle, und darüber, daß ein reines ,Wortverwendungsverbot' als Versuch eines .künstlichen' 4 Eingriffs in den kollektiven Sprachgebrauch zu werten sei. — Sternberger, Storz und Süskind hatten bekanntlich zwischen 1945 und 1948 unter der Rubrik „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen" in der Zeitschrift „Die Wandlung" zu veranschaulichen versucht, „daß der Mensch auch als Unmensch seinen Wortschatz, seine eigentümliche Grammatik und seinen eigentümlichen Satzbau" habe. Sie hatten folgende Wörter als charakteristisch für das Wörterbuch des Unmenschen dargestellt: Ausrichtung, Betreuung, charakterlich, durchführen, Einsät^, fanatisch (nur 1945/46), Gestaltung, Härte (nur 1945/46), intellektuell, Kulturschaffende, Lager, Mädel, organisieren, Propaganda, querschießen, Raum, Schulung, Sektor, tragbar, Vertreter, Zeitgeschehen. 1957 erweiterten die Autoren ihre These, daß die genannten Sprachphänomene „Ausdruck der Gewaltherrschaft" seien. Sie beklagen, daß in der Bundesrepublik Deutschland kein „reines und neues" Sprachwesen entstanden sei, daß vielmehr das „Wörterbuch des Unmenschen [...] das Wörterbuch der geltenden deutschen Sprache geblieben" sei, „der Schrift — wie der Umgangssprache, namentlich wie sie im Munde der Organisatoren, der Werber und Verkäufer, der Funktionäre von Verbänden und Kollektiven aller Art ertönt. Sie alle haben, so scheint es, ein Stück vom totalitären Sprachgebrauch geerbt, an sich gerissen, aufgelesen oder sonst sich zugeeignet, nur daß die schauerliche Macht daraus gewichen ist. Aus dem verstreuten Samen des einen Ungeheuers sind viele kleine Ungeheuerchen entsprossen, der eine totale Unmensch lebt in tausend partikularen Unmenschlein fort, und keiner von ihnen weiß, was er tut — was er tut, indem er redet." (Vorbemerkung von Dolf Sternberger 1957).5 In der Diskussion mit von Polenz äußert Heringer 1981 den Verdacht, daß diese Verlängerung' der frühen Sprachkritik auf die 60er Jahre damals 4 5

s. v. Polenz im Dialog mit Heringer, S. 166. Die hier von Sternberger formulierte Forderung, eigenes Sprachhandeln zu reflektieren — als Erkenntnisbedingung seiner .eigentlichen' Bedeutung — deckt sich weitgehend mit der ungewöhnlichen Wendung, mit der Georg Picht 1980 „denken" definiert: „... wir denken, so oft wir verstehen, was wir tun, wenn wir sprechen." (S. 259).

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„vielleicht gar nicht in ihrer vollen Brisanz rezipiert" (S. 167) wurde. Heute erscheine wohl die damalige Rede Sternbergers von den „Lakaien des Systems" fast als ,systemgefährdend'. Es wurde ja nicht weniger behauptet, als daß durch die „Lakaien des Systems", durch „Verwaltung" und „Bürokratismus", durch die „Sprache der verwalteten Welt" eine Gesinnungstradition im Medium der Sprache verlängert werde, von der der einzelne Sprecher — wegen fehlender historischer Aufklärung — kein Bewußtsein habe (d. h. zugleich, daß der einzelne Sprecher sie nicht notwendig mit bewußter — nazistischer — Intention zu verlängern sucht). Erst diese zeichentheoretisch explizite Interpretation des ζ. T. journalistisch anmutenden — und als journalistisch von der Sprachwissenschaft jener Zeit abqualifizierten — Ansatzes läßt auch legitim erscheinen, daß 1957 in der Buchveröffentlichung der Artikelserie folgende Wörter als Belege einer problematischen Gesinnungs-Tradtion hinzukommen: Anliegen, echt, einmalig, Frauenarbeit, herausstellen, leistungsmäßig, Menschenbehandlung, Problem, untragbar, Wissen um ... Das Gleiche gilt für die abermals um aktuelle Belege erweiterte Buchpublikation von 1967, in der auch die vehemente Diskussion über diese Art von Sprachkritik in Ausschnitten dokumentiert wird. Diesmal sind die Wörter Auftrag, erarbeiten, Härte (es fehlte 1957), Kontakte, Menschen, Ressentiment und Verwendung hinzugekommen. Auf der Grundlage von Erfahrungen aus der Nazi-Zeit wird damit explizit ein Konzept perpetuierter Sprachkritik an der Sprache der verwalteten Welt vertreten, das Sternberger 1986 noch einmal ganz scharf skizziert: mit Zorn, Resignation und Ohnmacht beobachte er „das schockierendste Beispiel einer Vokabel-Epidemie", nämlich die Ausbreitung des schon 1945/46 im .Wörterbuch des Unmenschen' aufgeführten Wortes Betreuung. Es habe in der NaziZeit „diejenige Art von Terror [bezeichnet], für die der Jemand — der Betreute — Dank schuldet", heute (so schon die Klage von 1968) gehe der Betreuer daran, „freie und für gleich geachtete Personen in [...] Abhängigkeit zu versetzen und sie darin zu erhalten". (Sternberger, S. 30). Das „Wörterbuch des Unmenschen" verkörpert damit eine durch die Erlebnisse der Nazi-Zeit ausgelöste, hochgradige Sprachsensibilität, die davon ausgeht, daß der Mißbrauch der Sprache, der Wörter, daß (aus der Zeit des Unmenschen) „die Schuld der Sprecher der Sprache selber" (S. 12) zugewachsen ist. Es wird auch deutlich, daß diese Sprachkritik zugleich sprachreflexives und historisches Wissen von den Sprechern einer Sprache fordert. Die hierbei angesprochene Gemeinschaft der Deutschsprechenden ist aber aufgrund ihres unterschiedlichen Wissensstandes über die Nazi-Verbrechen und darüber, wie diese mit dem Gebrauch der deutschen Sprache zur NaziZeit zusammenhängen, nicht als einheitlich, sondern in verschiedenen Hinsichten als heterogen anzusehen: als uneinheitlich im Erfahrungshintergrund,

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im Wissensstand und folglich auch hinsichtlich der Sensibilität gegenüber historisch belasteten Namen, Ausdrücken oder Ausdruckweisen der deutschen Sprache. In diesem Sinn — daß nämlich eben auch die (Weiter-)Verwendung bestimmter, tausendjähriger' Wörter bei Betroffenen, bei solchen, die nicht vergessen können oder wollen, Erinnerungen, Vermutungen und Ängste, negative Einschätzungen der Gesinnungslage in beiden deutschen Staaten auslösen — ist auch die auf den ersten Blick individuell-übersensibel anmutende Aussage D o l f Sternbergers zu verstehen: „Das Wort Lager, so harmlos es einmal war und wieder werden mag, können wir doch auf Lebenszeit nicht mehr hören, ohne an Auschwitz zu denken" (Vorbemerkung 1967 von D o l f Sternberger). Diese frühen Versuche, die Kontinuität von Nazi-Mentalität aufzuzeigen und durch Wortstigmatisierung abzubauen, verdienen auch heute noch Achtung ihrer Absicht, weil sie im Zusammenhang mit einer Schuldtradition stehen, die bei spätgeborenen Deutschen nicht enden kann.

4. Sprachkrise und Sprachreinigung — Probleme und Erscheinungsformen der Weiterverwendung nazistischer Vokabeln — Chronologische Beleginterpretationen Ich möchte nun in einer chronologisch angelegten Skizze zunächst Pressebelege vorstellen und analysieren, die die öffentliche (bzw. von der Presse registrierte und somit öffentlich gemachte) Sensibilität gegenüber dem Sprachgebrauch der Nazis bzw. der Nazi-Zeit belegen; danach folgt die Analyse sog. Nazi-Vergleiche. Wenn man nun historisch die immer wieder aufbrechende öffentliche Diskussion über den problematisierten Sprachgebrauch verfolgt, dann wird deutlich, wie Ansätze der historischen Aufarbeitung und der Verdrängung dauernd gemischt zu Tage treten. Die immer wieder auftretende Thematisierung von Sprache im Zusammenhang mit den Verbrechen der Nazis indiziert eine kommunikative Problemlage sprachlicher und bewußtseinsmäßiger Heterogenität. Daß in solcher Lage Aufforderungen zum Verschweigen, zum Übergehen zu einem ,normalen' einheitlichen Sprachgebrauch kontraproduktiv wirken, wird an unseren folgenden Skizzen deutlich ablesbar sein. Erste Versuche, dem sprachlichen Stigma der Nazi-Verbrecher-Kaste zu entgehen, konstatieren sprachlich reflektierende Journalisten bereits bei den Hauptbeschuldigten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. So belegt die „Rheinische Post" vom 16. 3. 1947 unter der Überschrift „Göring kennt keine Herrenrasse" (S. 1), in welch zynischer Weise sich der Stellvertreter Hitlers von diesem grundlegenden Begriff der nazistischen Rassenideologie zu distanzieren sucht, welche die quasi-theoretische Grundlage des millionenfachen

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Mordes an Nicht-Herren, an Juden, an Minderheiten und an sog. unwerten Leben und für die im Osten geplante Sklavenhaltung war. Nürnberg, 14. März. Der Verteidiger Dr. Stahmer stellte weitere Fragen. A u f die Frage: „Was verstehen Sie unter dem Ausdruck Herrenrasse?" antwortete Göring unter großem Gelächter: „Ich verstehe nichts darunter. In keiner meiner Reden oder meiner Schriften werden Sie das Wort finden. Sie sind entweder ein Herr oder Sie sind es nicht; aber wenn Sie ein Herr sind, haben Sie es nicht nötig, es besonders zu betonen."

Wie unklar aber zu dieser Zeit die Vorstellungen über einen „Ausweg" aus bzw. über die „Überwindung" dieser auch als „Sprachkrise" empfundenen Situation waren, machen die in den Kommentarteilen der Presse schon ab 1946 belegten sprachreflektorischen Ausführungen deutlich mit Titeln wie „Macht und Ohnmacht der Worte" (RP 2. 11. 46) bzw. „Macht und Geheimnis des Wortes" (RP. 27. 9. 47). Hier wird einerseits die These vertreten, aus Hitlers Reden und Phrasen hätte man sein Wesen erkennen können, d. h. bei mehr Sprachsensibilität hätte man dem braunen Terror früh entgegentreten können. Andererseits sei nach dem „Mißbrauch der Wörter" nun die Einübung in eine ehrliche, einfache Sprache, d. h. eine Spracherneuerung notwendig: „Wenn die mißhandelten, mißbrauchten, zerredeten Worte wieder einen echten Sinn bekommen werden, dann erst wird die Grundlage für ein echtes geistiges Leben geschaffen sein" (Paul H. Distelbarth in RP 2. 11.46, S. 3, Sp. 1 u. 2). Dabei werden Sprachen und Wörter oft als Handelnde selbst hypostatiert: „Das Wort [...] ist nach einer Zeit des Verfalls, des Mißbrauchs, ja der völligen Entleerung heute vor die Aufgabe gestellt, den Menschen, der in tödlicher Angst und letzten Bedrohung über dem Abgrund des Nichts hängt, zurückzurufen [...]" (RP 27. 9. 47, S. 3, Sp. 1 u. 2 in einem Bericht über die Zweite Journalistentagung „Kirche und Presse" der Evangelischen Akademie Hermannsburg). Durch die Rede von ,mißhandelten Wörtern' wird in einer ausschließlich auf die Sprache konzentrierten Perspektive von deren praktisch-politischem Kontext bzw. Hintergrund, von den mißhandelten Menschen abgelenkt. Ein solches Programm einer isolierten ,Sprachreinigung' erweckt dadurch, daß es vom historischen Zusammenhang der Zeichenverwendung absieht, den Eindruck, als könne man die lautliche Worthülse isolieren, von ihrer (problematischen) .beschmutzten' Bedeutung reinigen und anschließend mit ,neuem' bzw. ,echtem' Sinn weiterverwenden. Eine indirektere Art, für den Zusammenhang von Nazi-Verbrechen und deutscher Sprache zu sensibilisieren, stellen sprachthematisierende Berichte in Zeitungen dar, die von gewünschten oder vollzogenen Wortvermeidungen berichten. In dem folgenden Text geht es um den Nachweis, daß bei französischen Politikern der Nachkriegszeit das Wort Reich6 offensichtlich aus böser Erinne6

vgl. Hitler in „Mein K a m p f * über das Verhältnis zu Österreich: „Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich" (S. 1).

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rung als Symptom für deutschnationales Anspruchsdenken galt; deswegen drängten sie auf dessen Vermeidung beim sog. Neuaufbau Deutschlands. 1947 setzt angesichts der Verfeindung der USA und der Sowjetunion in den Westzonen und der Ostzone die Diskussion um eine Währungsreform im Westen ein (RP 18. 1. 47), um die „Einheit" oder „Zerstückelung" Deutschlands, um die Frage, ob es eine Zentralregierung oder ein dezentralisiertes Deutschland geben solle (RP 29. 1. 47). In diesem Zusammenhang gibt es Schlagzeilen wie „Bayern für die Reichseinheit" (RP 25. 1. 47), in denen das Wort Reich problemlos verwendet wird. Mit Blick auf die Nazi-Verbrechen wird aber von Frankreich aus angesichts der Diskussion über die zukünftige politische Gestaltung Deutschlands und über westliche Aufbauhilfe immer wieder die ,deutsche Gefahr' (ζ. B. 5. 7. 48 RP Schlagzeile S. 1, Sp. 3 — 5 Auriol fürchtet ,deutsche Gefahr'; ferner 13. 11.48) und die Gefahr eines .Vierten Reiches' beschworen (RP 7. 3. 49, S. 2, Sp. 2 - 4 Titel: Angst vor dem ,Vierten Reich'). In diesen Zusammenhang gehört auch ein Artikel mit dem Titel „De Gaulle: Länder statt Reich" (RP 4. 8. 48, S. 1, Sp. 4), in dem berichtet wird, de Gaulle habe in Aussicht gestellt, daß in die „westliche Völkergemeinschaft [...] eine Anzahl von Ländern, die früher das Deutsche Reich bildeten", aufgenommen würden. Zwei Monate später — am 27. 10. 48 — konstatiert die „Rheinische Post" unter der Schlagzeile „Auf das Vaterland vereidigt" die ersten Auswirkungen dieses neuen Sprachgebrauchs in der Institutionensprache der Kirche (der französischen Besatzungszone). Der neue Erzbischof von Freiburg habe den nach dem Reichskonkordat vorgeschriebenen Treueeid mit der Formel geleistet: ... verspreche ich „dem deutschen Vaterland und dem Lande Baden Treue". Bei der einige Tage zuvor erfolgten Vereidigung des neuen Bischofs von Würzburg habe es noch „dem deutschen Reich" statt „Vaterland" geheißen. Welche Bedeutung Journalisten bzw. Redakteure dem Austausch von Wörtern im Zusammenhang mit dem „Dritten Reich" beimessen, ergibt sich eben daraus, daß sie die Öffentlichkeit für diese sprachlichen Vorgänge — hier für die Vermeidung des Terminus Reich und die (von der französischen Besatzungsmacht) verordnete Einsetzung des von den Nazis als Judenwort diskriminierten Vaterland (Berning, S. 188) — zu sensibilisieren suchen. Die spektakuläre öffentliche Auseinandersetzung über den Zusammenhang von Nazi-Lexik und -Gesinnung, die sich an der Wieder- bzw. Weiterverwendung des Ausdrucks .entartete Kunst' entzündete, bestätigt auf erschreckende Weise die These von der periodischen Wiederkehr des Verdrängten in veränderter Gestalt. Bereits im August 1955 findet eine Diskussion über die Verwendung der Wörter Entartung, entarten, entartet im Zusammenhang mit dem Begriff,Kunst' statt, an der u. a. die Zeitungen „Rheinische Post" und „Die Welt" beteiligt sind. Zu einer Polemik in der „Rheinischen Post" gegen die Werkkunstschule Krefeld nimmt die „Welt" folgendermaßen Stellung

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(17. 8. 55, S. 4): „Da beginnt eine Attacke unter der Schlagzeile ,Die Richtung führt zur Entartung'. Wir finden einen erschreckenden Wortschatz. ,Entartung, entarten, entartet* — das waren einmal legitime Vokabeln aus dem naturwissenschaftlichen Bereich [...] Im praktischen Sprachgebrauch gelten sie dank Hitler und seinen Handlangern als diffamierende Schimpfworte für zeitgenössische Kunst [...]. Wer heute schon wieder dieses Vokabular benutzt, das zwölf Jahre lang hemmungslos korrumpiert wurde, begibt sich in eine unheilvolle Nachbarschaft, in jene finsteren Räume, da man nicht über ,entartete' Kunst diskutierte, sondern entartete Machthaber eine Kunst zu Tode knüppelten, die ihnen nicht genehm war." (s. auch Berning, S. 67 f.). Wie verschlungen die Pfade des Wort- und Überzeugungswandels sein können, veranschaulicht dieses Beispiel besonders kraß. Während 1955 eine konservative Zeitung einer anderen die (Weiter-)Verwendung einer ehemals zur Kunst-Zensur und Kunst-Zerstörung „eingesetzten" Vokabel noch als unbewußte Tradierung nazistischer Gesinnung warnend bewußt macht, erleben wir dreißig Jahre später den problematischen Versuch der Rehabilitierung dieses aus guten Gründen inkriminierten Wortgebrauchs: Zu Beginn des Jahres 1983 berichten Zeitungen darüber, daß der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß von „Entartungen" in der modernen Kunst 7 gesprochen habe. Im Juni äußert sich Strauß dann auf einer CSUPressekonferenz zum Gebrauch des Ausdrucks entartete Kunst. Mit ironischer Distanz zitiert die NRZ die „überraschende Belehrung" durch Strauß: ,„Wenn die Nazis diesen Begriff auch schändlich mißbraucht haben", meint der bayerische Ministerpräsident, „heißt das noch lange nicht, daß dieser Begriff für nichts mehr verwendet werden darf."' (NRZ 16. 6. 83, Seite „Kultur"). Die Begründung, mit der Strauß diese Behauptung argumentativ illustriert, ist bemerkenswert: „Wenn man nämlich so rigoros ist mit der Vergangenheit, dann muß man sorgfaltig prüfen, ob die Nazi-Führung auch Zahnbürsten verwendet hat. Und dann ist es unerträglich, daß wir sie auch benutzen." Um nach dieser prinzipiellen .logischen' Klarstellung fürs gesunde Volksempfinden die umstrittene Wendung auch historisch zu rechtfertigen, unterschiebt Strauß die Prägung des Ausdrucks pointierterweise einem jüdischen „Mitbürger", dem 1849 in Budapest geborenen und nach seiner Übersiedlung von 1880 bis 1929 in Paris lebenden österreichisch-ungarischen Schriftsteller Max Nordau, der ein Buch mit dem Titel „Entartete Kunst. Entartung" verfaßt habe. 8 Man solle nicht — so Strauß — „bei jedem Begriff einen Nazi7

Die N R Z v o m 16. 6. 83 unter der HÜ „Entartete Kunst und die Zahnbürste": „Als Beispiel für ,Entartete Kunst' nannte Strauß den umstrittetenen Achternbusch-Film ,Das Gespenst' sowie ,ein geschlachtetes Schaf am Kreuz auf einer documenta-Austellung'."

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Das Buch heißt richtig allerdings nur „Entartung", 2 Bde. Berlin 1892. C. Berning weist S. 67 ausdrücklich darauf hin, daß Nordau von der „Kunst der Entarteten" spricht, daß die Formulierung „entartete Kunst" aber bei Nordau nicht vorkommt.

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Vorfahren erfinden". Die Kommentare in den Zeitungen zeigen, daß auch die Journalisten die Unangemessenheit derartiger Aussagen über den Sprachgebrauch verdeutlichen wollen. Diese journalistische und die langandauernde öffentliche Kritik ist implizit darauf gegründet, daß Strauß einmal alltägliche Gegenstände wie Zahnbürsten, die indifferent sind gegenüber den NaziVerbrechen, und ein offensichtlich mit den Verbrechen innerlich verbundenes Medium wie die Sprache auf eine Stufe stellt, um so die „Unschuld der Wörter" kurzschlüssig nahezulegen und von der Verantwortung der Sprachbenutzer abzulenken. Dem gleichen Zweck, zur ungenierten Weiterverwendung der Vokabel zu ermuntern, gilt der mit problematischen Kunstgriffen gestaltete Versuch, einen Erstbeleg v o r der Nazi-Zeit nachzuweisen. Hier wird die Neigung, Geschichte mit Hilfe einer Verharmlosungsstrategie zuzudecken bzw. eine bestimmte Phase der Geschichte als Zeit der Verführung durch schlechte Führer aus der Geschichte zu eskamotieren, geradezu handgreiflich. Insofern befürchteten Sternberger u. a. durchaus zu recht, daß bei fehlender bzw. unterdrückter Aufarbeitung der Geschichte auch öffentlich für die problemlose Weiterverwendung bzw. für die prinzipielle Unschuld der Wörter plädiert werden könne. Auseinandersetzungen über den hier problematisierten Sprachgebrauch finden wir in vielen dokumentierten öffentlichen Diskussionen. Einige chronologisch geordnete Belege sollen die Argumentationen verdeutlichen: Frankfurter Rundschau vom 27. 5. 82, S. 1 unter dem Untertitel: „Glotz: Essers Sprache erinnert an Wörterbuch des Unmenschen" — „Bonn, 26. Mai (dpa/FR). In ungewöhnlich scharfer Form hat SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz auf Äußerungen des Arbeitgeberpräsidenten Otto Esser über das soziale System reagiert. Die Forderung Essers nach „Ausmerzung" von „sozialem Wildwuchs" sagte Glotz, das sei eine Sprache, die dem Wörterbuch des Unmenschen entnommen sein könnte." (ähnlich FAZ 27. 5. 82, S. 1) „Schon höre man wieder Wörter wie ,Zersetzung' oder .entartet'", fügte Boll hinzu und sorgte sich, daß es darüber nicht zu einem Sturm der Entrüstung komme." (in: FAZ 31. 1. 84, S. 21 in einem Bericht über Einwirkungen des Auswärtigen Amtes auf die Goethe-Institute im Ausland mit dem Titel „Griff nach der Kultur"). „Rheinische Post" vom 4. 2. 84 Kommentar „Zum Tage" von Helmut Möller über die Diskussion über Elite-Hochschulen und Privat-Universitäten unter dem Titel „Eliten-Allergie": „Im deutschen Lebensgefühl der Nachkriegszeit hat es einen Ruck gegeben, denn viele Jahre galt der Gebrauch des Wortes Elite schon als kennzeichnend für elitäres Denken. Und davon hatte man nach einem Geschichtsabschnitt genug, der geprägt war von Elite-OrdenRasse-Auslese-Kraft-Macht-Herrentum. Nur innerlich freie Zeitgenossen ließen sich durch den einstigen Mißbrauch der Sprache nicht ausdünnen und redeten — wenn es angebracht war, und das ist selten — von Elite." NRZ 6. 4. 85 Seite „Reportagen" Sp. 4 Titel „NS-Kennzeichen künftig verboten": „Autofahrer in NRW werden künftig keine Nummernschilder mehr bekommen, deren mittlere Buchstabenkombinationen an nationalsozialistische Einrichtungen erinnern. Die Straßenverkehrsämter werden angewiesen, Kennzeichen mit den Doppelbuchstaben KZ, SS, SA oder HJ nicht mehr auszugeben."

Die Belege verdeutlichen, daß nach 1980 eine Tendenz aufkommt, mit neuem nationalen Selbstbewußtsein „innerlich freie Zeitgenossen" zu ermuntern,

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ehemals mißbrauchte Ausdrücke (und Denkweisen) — wie ζ. B. Elite — unbefangen zu verwenden. Andererseits aber warnen Politiker wie Peter Glotz und Dichter wie Heinrich Boll vor Denkweisen, die durch Verwendung von symptomatischen Ausdrücken wie Auswertung, Zersetzung, entartet zum Ausdruck kämen. Gar als Verhinderung, daß sich unbelehrbahre Zeitgenossen mit Autokennzeichen, die auf Nazi-Institutionen verweisen, schmücken, kann man die am 6. 4. 85 von der Presse gemeldete Maßnahme der Landesregierung NRW werten. Unscheinbare Belege für eine bewußt gehaltene ,Begrabung' von Wörtern, für eine geschichtsbewußte Vermeidung von belasteten Ausdrücken, für den taktvollen Versuch, schmerzliche Assoziationen von Betroffenen allein schon durch den Wortklang historisch infizierter Ausdrücke zu vermeiden, sehe ich in der Regelung der DDR, statt von Führerschein von Fahrerlaubnis zu reden, und in dem Hinweis von Bernward Lamerz, daß man als geschichtsbewußter Deutscher in Israel zu beachten habe, daß dort die Verwendung von Guide statt Fremden-Führer zur sprachlichen Konvention gehöre. „Fahrerlaubnis" [...] Das entsprechende Wort in der Bundesrepublik Deutschland: Führerschein" (aus: Michael Kinne/Birgit Strube-Edelmann, Kleines Wörterbuch des DDR-Wortschatzes. Düsseldorf 1980, S. 61). Bernward Lamerz in der RP vom 10. 1. 87 in seinem Artikel „Nachdenken unterwegs" über Israel mit der Dachüberschrift: „Mit einem israelischen Guide": „Reuben ist israelischer Fremden-Führer. „Guide" nennt man die hier vorsichtshalber".

5. Frühphase der Nazi-Vergleiche: Unproblematisierte Diffamierungen im Ost-West-Konflikt und „innenpolitische" Kritik Während die öffentliche Diskussion und Sensibilisierung bezüglich der bisher behandelten Wörter (selbst der Terminus Wort-Schat^ wird angesichts dieses Vokabulars problematisch) eine bis 1945 zurückreichende Tradition hat, ist die Vorgeschichte des Gebrauchs von Nazi-assoziativen Vokabeln, der in jüngster Zeit mit großer Publizität und Intensität diskutiert wurde, eher verdeckt geblieben. Seit Kriegsende ist im Westen und Osten Deutschlands eine äußerst problematische rhetorisch-lexikalische Strategie zu beobachten, politische Gegner durch implizite Vergleiche mit Personen und Taten des Nazi-Regimes zu diffamieren. Erst durch die Diskussionen über den Goebbels — Gorbatschow — Vergleich des augenblicklichen Bundeskanzlers und über seinen Vorwurf, in der DDR würden Deutsche in Konzentrationslagern gefangengehalten — womit die Existenz von KZs in der DDR behauptet wurde —, ist für diese Art des Sprachgebrauchs eine öffentliche Sensibilität entstanden. Die grobschlächtige, pauschalierende und unreflektierte Instrumentalisierung zentraler Stichwörter einer gemeinsamen geschichtlichen Erfahrung

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beginnt — wenn unsere vergleichende Recherche der westdeutschen „Rheinischen Post" und des Ost-Berliner „Vorwärts" („Berliner Volksblatt. Das Abendblatt der Hauptstadt Deutschlands") zwischen dem Frühjahr 1946 und dem Herbst 1949 zuverlässig genug war — genau in dem Moment, als die Diskussion um die (Schuld an der) bevorstehende(n) Spaltung Deutschlands und Berlins dem Höhepunkt zustrebt. Die Vorbereitung der Währungsreform in der britischen und amerikanischen Zone (der Bizone) wurde in der SBZ von Anfang an als Vorbereitung der ,Zerreißung' Deutschlands angeprangert. Das die Währungsreform regelnde Gesetz wird im „Vorwärts" vom 18. 5. 48 verglichen mit dem am 24. 3. 33 erlassenen „Ermächtigungsgesetz", das die gesamte Staatsgewalt der nationalsozialistischen Regierung übertrug und deren totalitäres Regierungssystem begründete. „Vorwärts" 1 8 . 5 . 4 8 , S. 1, Sp. 1 Titel „Bizonen-Ermächtigungsgesetz angenommen": „Der Wirtschaftsrat nahm in den frühen Morgenstunden ... das „Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform" in dritter Lesung und damit endgültig an."

In ähnlicher Weise ist im „Vorwärts" am 14. 1. 47 von der „Diktatur" der Berliner SPD, am 14. 10. 48 dann vom „Reuter-Putsch" die Rede; am 8. 8. 49 wird der Europäische Rat in Straßburg „Die Union der Quislinge" betitelt. — Als während der Berlin-Blockade der gesamtberliner Magistrat sich spaltete und Ost-Berlin am 30. 11. 48 einen eigenen Magistrat etabliert hatte, berichtet die „Rheinische Post" darüber, indem sie diesen Akt mit der diffamierenden Geschichtsvokabel „Machtergreifung" 9 bezeichnet. „Rheinische Post" vom 1. 12. 1948, S. 1, Sp. 1, Titel „Der Kampf um Berlin": „Die .Machtergreifung' der SED war vorbereitet worden durch ein Schreiben, das der sowjetische Militärgouverneur Marshall Sokolowski am Montag an die Generale Clay, Robertson und König gerichtet hatte."

In West und Ost beginnt also genau zu der Zeit der Gründung zweier unterschiedlicher Herrschaftsbereiche die öffentliche Sprachpraxis, diesen Vorgang wechselseitig zu diffamieren mithilfe der fast synonymen Bezeichnungen Machtergreifung und Ermächtigungsgesetz}®, d. h. den entsprechenden 9

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Die „Rheinische Post" verwendet hier das Verfahren des In-Anführung-Setzens dieses Wortes und kennzeichnet so den Neuwort-Charakter dieser Vokabel, d. h. den Erstbeleg. Ebenso wird von der RP ζ. B. am 26. 7. 48 (S. 1 Sp. 5) die Lehnübertragung „Luftbrücke" (für airl i f t ) als durch Anführung gekennzeichnetes Neuwort eingeführt. — Die bisher beschriebene Art der Kritik an der SED und dem Verhalten der Sowjets in der SBZ hatte die „Rheinische Post" bereits am 13. 9. 48 (S. 1) praktiziert, als sie der SED „dieselben Methoden wie NSDAP" zuschrieb, und am 18. 9. 48 (S. 1), als sie über ein Urteil eines sowjetischen Militärgerichts gegen Demonstranten unter dem Titel „Diktatur unter neuem Zeichen" berichtete. Jochen C. Fest (S. 533 f.) beschreibt die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes als entscheidende Stufe in dem Kapitel „Die Machtergreifung".

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Vorgang im jeweils anderen Machtbereich als Parallele zur Entstehung der Nazi-Diktatur herabzuwürdigen. Hier zeichnet sich also der Beginn eines Verfahrens ab, den politischen Gegner mit Nazi-Vorwürfen zu attackieren, das aus der als allgemein unterstellten Verurteilung der Nazi-Verbrechen das diffamierende lexikalische Potential im aktuellen politischen Kampf nutzbar zu machen sucht. Bald danach finden wir Belege dafür, daß diese Sprach-Technik des Vergleichs, mit dem sehr wesentliche Unterschiede ζ. B. zwischen der NSDAP und den neuen (CDU) bzw. alten (SPD) demokratischen Parteien zugedeckt werden, — daß eben dieses Verfahren auch innerhalb des Geltungsbereiches des am 23. 5. 49 verkündeten Grundgesetzes — bezeichnenderweise in der heißen Phase des Wahlkampfes vor der ersten Bundestagswahl (am 14. 8. 49) — Eingang findet. Die „Rheinische Post" 11 berichtet am 3. 8. 49 über „organisierte Störungsversuche" bei Wahlkampfkundgebungen mit Ludwig Erhard unter dem Titel „Nazi-Methoden gegen Prof. Erhard": „Rheinische Post" 3. 8 . 4 9 , S. 1, Sp. 4, Titel „Nazi-Methoden gegen Prof. Erhard": „Dortmund, 2. August. (Eigenbericht) Die Wahlversammlungen, in denen Professor Erhard f ü r die C D U spricht, scheinen mehr und mehr zum Ziel organisierter Störungsversuche zu werden [...]"

Schon hier wird die Gefahr deutlich, daß als tertium comparationis, als wesentlicher Bezugspunkt, der den Vergleich bzw. die Assoziation legitimieren soll, etwas vorgeschoben wird, das bei ruhiger sachlich-konzentrierter Überlegung als tertium nicht anerkannt werden würde, — in diesem Fall die Störung einer Politikerrede. Was geschichtlich als w e s e n t l i c h und e i n m a l i g zur Nazizeit gehört — der millionenfache Mord, die millionenfache Vergasung von Juden — wird durch solche Vergleiche aus dem Bewußtsein ausgeschlossen, womit sich diese Art der Verwendung von Nazi-Assoziationen — entgegen dem ersten Eindruck — nicht als Auseinandersetzung mit dem Nazikomplex, sondern als eine besonders geschickte und um so infamere, da inszenierte Art von historischer Verdrängung entpuppt. Das aus heutiger Sicht aktuellste Beispiel aus der Nachkriegsphase dieses Sprachgebrauchs ist sicherlich die Titulierung des KPD- bzw. SED-Politikers, des späteren Leiters des Amtes für Information und des Staatlichen Rundfunkkomitees der DDR, Gerhart Eisler als „Der Goebbels der Sowjetzone" (Titel der „Rheinischen Post" am 4. 10. 49, S. 1). Daß solche wechselseitigen ,nazistischen Identifikationen' als propagandistische Mittel des politischen .Schlagabtausches' in der unmittelbaren Nachkriegszeit im öffentlichen Bewußtsein anscheinend als unproblematisch hinge11

Systematisch recherchiert wurde bisher nur in der „Rheinischen Post". Daher liegen nur Belege dieses Sprachgebrauchs von Seiten der CDU-nahen Presse vor. Diese vorläufige Einseitigkeit ist also arbeitstechnisch bedingt.

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nommen und keinesfalls als Anstoß öffentlicher kritischer Thematisierungen wahrgenommen werden, muß wohl zurückgeführt werden auf die damalige politische Globalsituation mit ihrer polemisch geführten Auseinandersetzung zwischen Ost und West, die einen entsprechend großen Konformitätsdruck auf Politiker wie Journalisten und damit auf die sog. ,öffentliche Meinung' insgesamt ausübte. Unser Beispielkomplex stammt aus der Zeit vor den beiden deutschen Staatsgründungen im September und Oktober 1949, der Zeit also des Vollzugs der staatlichen Spaltung, der selbstverständlich von polemischen gegenseitigen Schuldzuweisungen begleitet wurde. Für den westlichen Block läßt sich die Hexenjagd-Atmosphäre jener Zeit an der am 7. Juni 1949 im Zusammenhang mit dem Judith Coplon-Prozeß vorgelegten Kommunisten-Sympathisanten-Liste des Staates Kalifornien veranschaulichen (mit Namen wie Pearl S. Buck, Charlie Chaplin, Lion Feuchtwanger, Katherin Hepburn, Danny Kaye) und mit der am 15. Juli 1949 berichteten Exkommunizierungs-Erklärung von Papst Pius XII für Mitglieder und Sympathisanten der kommunistischen Parteien in aller Welt. Daß es bei diesen Fällen problematischen Sprachgebrauchs um vorbedachte Ausnutzung diffamierenden Sprachpotentials geht, machen auch die weiteren Beispiele deutlich, die von der Presse auf den politischen Hauptseiten berichtet wurden. Nachdem mit der Bezeichnung Walter Ulbrichts als „Gestapochef' (RP, 2. 11. 49, S. 1, Sp. 2) die Reihe der Belege aus der Nachkriegszeit in meiner Darstellung enden soll, beobachten wir diese Art des „Einsatzes" von Nazi-Vergleichen abermals zu Zeit des Mauerbaus von 1961 und während der Spiegel-Affäre 1962. „Rheinische Post" 15. 8. 61, S. 1, Sp. 2 — 4 unter dem Titel „Vor der Gegenaktion des Westens", Bericht über eine Aussage Adenauers: „Moskau sei dafür verantwortlich, daß durch die Umwandlung der Sowjetzone in ein Konzentrationslager ein neuer Abschnitt im Nervenkrieg um Berlin eingeleitet worden sei."

Auf diesen Sprachgebrauch in den frühen 60er Jahren, also in der mittleren Periode der deutschen Nachkriegsgeschichte, wird 1987 im Zusammenhang mit der Wahlkampf-Attacke Helmut Kohls, in der DDR existierten KZs, zurückverwiesen. Die Abwehr der innenpolitischen Vorwürfe gegen Kohl besteht in der ,historisch' begründeten Rückgabe des Vorwurfs, daß Willy Brandt 1961 als Regierender Bürgermeister selbst von „Ulbrichts KZ" gesprochen habe. Hier wird das Problem offenbar, daß aufgrund einer historischen Verschiebung der politischen Konstellationen solche Vergleiche zu einer bestimmten Zeit als gerechtfertigt erscheinen können und zu einer anderen Zeit starken öffentlichen Widerspruch finden. Im hier besprochenen Fall liegt das sicher auch an einem generellen Wandel in der Bewertung der DDR, die sich selbst innerhalb des betreffenden Zeitraums zweifellos auch verändert hat.

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In diesem Fall erscheint es gerechtfertigt, durch eine historische Skizze den damaligen innenpolitischen Konsens zu rekonstruieren, indem an folgende Sachverhalte erinnert wird: als 1961 mit dem Mauerbau die Teilung Deutschlands besiegelt und die Hoffnung auf Wiedervereinigung' im damaligen Sinne erstickt zu werden begann (s. Dönhoff, S. 9 f.), waren ab 1950 jährlich durchschnittlich über 200 000 Personen aus der (im Westen nicht so genannten) D D R in die Bundesrepublik geflüchtet. Seit Anfang August 1961 hatte sich durch die Androhung eines Separatfriedens mit der D D R durch die Sowjetunion, durch DDR-Regierungs-Ankündigungen von Beschränkungen im innerdeutschen Reiseverkehr und schließlich mit dem Beginn der Abriegelung des Ostsektors durch Stacheldraht und Sperrzäune am 13. August 1961 die internationale Spannungslage enorm zugespitzt. Der Freiheitsbegriff des Westens wurde durch den Flüchtlings-,Strom' und durch dramatische, beobachtbare Fluchtaktionen während der Abriegelungsphase derart mit Anschauung erfüllt, daß sowohl von den Politikern wie von der Presse wie auch von der Bevölkerung die Rede ζ. B. von Ulbricht als dem „ K Z - C h e f der Z o n e " („Rheinische Post" vom 24. 8. 1961) als wirklich erlebter Ausdruck ihrer Erfahrung empfunden werden mußte. Die diskussionslose gesellschaftliche Konformität, die in Westberlin sowohl am 19. 8. 61 beim Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson als auch beim Besuch John F. Kennedys am 26. 6. 1963 zum Ausdruck kam, die einheitlich antikommunistische Atmosphäre ließen solche Nazi-Vergleiche vollkommen unproblematisch erscheinen. Vor dem Hintergrund dieses historischen Problemhorizontes ist das Ausbleiben einer heute selbstverständlich erscheinenden öffentlichen Thematisierung im Sinne einer sprachkritischen Analyse jener politisch-rhetorischen Tiefschlagpraxis wenig(er) verwunderlich. Die vollkommen andersartige Rezeption der ein Vierteljahrhundert auseinanderliegenden Titulierungen der D D R als K Z zeigt, daß offensichtlich aufgrund wichtiger historischer Ereignisse eine Verschiebung der öffentlichen Meinung zu bzw. auf diesem Problemfeld stattgefunden hat. Zum Zerbrechen der Einheitlichkeit der öffentlichen Meinung haben sicherlich der Vietnam-Krieg und Watergate ebenso beigetragen wie die neue Ostpolitik der Bundesregierung ab 1966, die zum Generalvertrag führte und zur sog. Anerkennung der D D R . Dadurch wird auch das anscheinend plausible Argument hinfallig, daß der politische Gegner früher den gleichen Wortgebrauch sich habe zuschulden kommen lassen. Wie wenig die einem solchen Argument implizite Behauptung — was einmal ,wahr' gewesen sei, müsse auch ,wahr' bleiben — haltbar ist, zeigt sich auch an der veränderten Praxis der Bezeichnung der D D R . Nur die dem Springer-Konzern zugehörigen Presseorgane nehmen bis heute nicht die gewandelten Verhältnisse der offiziellen Regierungspolitik zur Kenntnis, sondern behalten eisern die einmal gewählte Diskriminierung durch In-Anführung-Setzen des Staatsnamens bei.

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Georg Stötzel

Die bemerkenswerteste Veränderung in der deutschen Sprachtradition des Nazismus-Vorwurfes geschieht 1962 als Begleiterscheinung bzw. als Auswirkung der Spiegel-Affäre. Ab jetzt wird der Nazi-Vergleich nicht mehr, wie bisher, nur auf kommunistische Regime bezogen, sondern auch i n n e n p o l i t i s c h verwendet. Der damalige Eingriff der Exekutive in den Bereich der Judikative — durch die von Adenauer mit der Behauptung des .Landesverrats' verschuldete ,Vorverurteilung' und durch die die Gewaltenteilung mißachtende Polizeiaktion — führte zu einer Erschütterung der jungen Demokratie, die auch ablesbar ist an großen, erstmals von der jüngeren Generation getragenen Demonstrationen für die in der Verfassung garantierte Pressefreiheit, am Zerbrechen der Regierungskoalition und an einer drei Tage währenden hitzigen Bundestagsdebatte. Die erwähnte kommunikationsgeschichtliche Veränderung ist aber von weiteren Umorientierungen bei dem Hinweis auf Parallelen in der Nazizeit begleitet, die anhand eines zeitgenössischen Textes verdeutlicht werden sollen. So schreibt am 3. 11. 1962 Willi v. d. Felden in einem Kommentar („Rheinische Post", S. 2) über die betreffenden Polizeiaktionen: „Die Erinnerung an verflossene Gewaltmethoden sind noch zu frisch, um solche Aktionen bei Nacht und Nebel hinzunehmen." In diesem Kommentar wird deutlich, daß der Vergleich nicht durch ein polemisch verwendetes Wort hergestellt wird, das in den bisherigen Beispielen fast überfallartig und sloganähnlich auftauchte, sondern daß in einer SorgeHaltung lediglich erinnert wird an die polizeistaatlichen Gewaltmethoden, die schon einmal in eine Katastrophe geführt hätten. Der historische Hinweis wendet sich ja auch nicht an eine politische Gegenseite, sondern fordert auf zur Heilung einer als Verstoß gegen das Grundgesetz interpretierten Aktion. Hier zeigt sich in aller Klarheit, daß zu unterscheiden ist zwischen Vergleichen, bei denen die deutsche Geschichte instrumentalisiert wird, um einen — innenpolitischen oder gar ausländischen — Gegner mit der aus deutscher Geschichte erwachsenen polemischen Wortpotenz zu diffamieren, oder ob man in Sorgehaltung an die ,eigene' Geschichte erinnert, um zu zeigen, daß sich eine als nazistisch empfundene Handlungspotenz realisiert hat (s. Stötzel 1978). Wesentlich problematischer erscheint dagegen die am 8. 11. 62 von der „Rheinischen Post" (S. 2) berichtete Aussage Adenauers: „Man dürfe nicht den Eindruck entstehen lassen, als ob in Deutschland Gestapo-Methoden herrschten". Hier wird — im Rahmen der Diskussionen über das Vorgehen der Exekutive gegen Spiegel-Redakteure — lediglich in Verteidigungshaltung die Unvergleichbarkeit der von ihm verantworteten Polizeiaktion mit Gestapo-Methoden behauptet, ohne daß Adenauer argumentatorisch die Unzulässigkeit des Vergleichs zu erweisen versucht.

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Daß zur Bewertung der Legitimität derartiger Vergleiche auch die Bewertung der Umstände, der Stichhaltigkeit der Argumente bzw. der Glaubwürdigkeit des Sprechers gehört, verdeutlicht auch der von Heinrich Boll 1975 in einem Fernsehinterview erhobene Vorwurf, es herrsche in redaktionellen Texten und Leserbriefen überhaupt und auch ihm gegenüber „ein Volksgerichtshof-Ton" (s. Stötzel 1978). Ein solcher Ton werde „salonfähig, man trägt ja Nazi nicht mehr innen, sondern außen [...]" (FAZ vom 11. .1. 75). Boll, der ja — anders als Politiker — nicht mit einem im Grunde unhaltbaren Vergleich Wirkung erzielen will, formuliert das reflexiv-analytische Ergebnis der Gegenwartsintrospektion mit Hilfe der historischen Vergleichs-Vokabel „Volksgerichtshof-Ton". Während derartige Nazizeit-Assoziationen von Politikern hauptsächlich strategisch-diffamierend eingesetzt werden, steht Boll mit seinem nur äußerlich gleich erscheinenden Vorwurf in der Nähe der frühen sprachkritischen Positionen von Klemperer sowie Sternberger u. a. Diesen Positionen ist m. E. auch der Kommentar von W. v. d. Felden zuzurechnen. Es handelt sich m. E. um einen legitimierten Vergleich, um eine polemische Warnung, um einen Hilferuf an die Erinnerungsfähigkeit von historisch-politischen Zeitgenossen.

6. Reflektierte Spätphase der Nazi-Vergleiche: Geschichtsverdrängung und Verbrechensrelativierung. Sprachsensibilität als Kritik-Instanz? Das semantische Gedächtnis der Opfer Die früheren Goebbels- und KZ-Vergleiche, für die hier schlaglichtartig die historischen Etappen 1949 und 1961 herausgegriffen wurden, unterscheiden sich bemerkenswert von den jüngsten öffentlich geäußerten Nazi-Vorwürfen von Helmut Kohl. Gemeinsam haben sie lediglich, daß sie gegen kommunistische Staaten gerichtet sind. Selbstverständlich hat auch der jüngste Vorfall eine Angriffs- und eine Verteidigungsseite und erscheint konsequenterweise verschiedenen politischen Parteien unter verschiedenen Beleuchtungen. Es geht hier um die berüchtigte Äußerung von Helmut Kohl während eines USA-Besuchs (vom 21. bis 24. 10. 1986). Nach Bestätigung durch Regierungssprecher Schmülling (s. RP vom 25. 10. 86, S. 1, Sp. 2 - 4 ) hatte Kohl gegenüber „Newsweek" geäußert: „Gorbatschow ist ein moderner Kommunisten-Führer. Er versteht etwas von Public Relations. Goebbels verstand auch etwas von Public Relations. Man muß die Dinge doch auf den Punkt bringen." — Während die SPD verlangt, Kohl solle erklären, daß er diesen „unsäglichen Vergleich" nicht formuliert habe bzw. daß er ihn zurücknähme (s. RP vom 3. 11. 86), fordern die Grünen den Rücktritt Kohls. Die Verteidigung Kohls bzw. des Regierungssprechers Ost besteht darin, zu versichern, daß Kohl den „Kreml-

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Chef nicht mit Goebbels verglichen" habe (Unterzeile RP vom 25. 10. 86, S. 1) bzw. daß er keinen Vergleich beabsichtigt habe bzw. daß er den „falschen Eindruck", er habe Gorbatschow mit Goebbels verglichen, bedaure und daß er Gorbatschow nicht habe beleidigen wollen (RP vom 3. 11. 86, S. 1). Darüber hinaus übernimmt Regierungssprecher Ost am 8. 11. 86 die Verantwortung dafür, daß im Newsweek-Text als erläuternde Ergänzung zur Kanzler-Äußerung Goebbels als „einer der Verantwortlichen für die Verbrechen der Hitler-Ära" apostrophiert sei (s. RP vom 9. 11. 86, S. 1). — Jeder Leser kann angesichts der vorgelegten Texte selbst entscheiden, ob er die Kaschierung des Mißgeschicks — es solle kein „Vergleich" sein, der Bundeskanzler habe lediglich beide Personen ,in einem Atemzug' genannt — für gelungen hält oder nicht. Auf jeden Fall bleibt festzuhalten, daß auch heute — wie dieses Beispiel von 1986 zeigt — das bei Politikern (aller Couleurs) vorauszusetzende historische Wissen in der polemischen (Wahlkampf-)Auseinandersetzung ausgeblendet und mundtot gemacht wird zugunsten eines Augenblicksvorteils der emotionalen Argumentation: Wie anders ist zu erklären, daß der Fraktionsführer der SPD, Vogel, im gleichen Atemzug, da er Kohl vorwirft, mit dem „unsäglichen Vergleich" zur „Sprache des kalten Krieges zurückzukehren" (RP 3. 11. 86, S. 1), empfiehlt, ein näherliegendes Pendant für einen GoebbelsVergleich zu wählen— den — auch schon von Willy Brandt als „größten Hetzer seit Goebbels" apostrophierten — CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. Dieser hatte am 15. 6. 1983 in einer Bundestagsdebatte als Minister geäußert: „Der Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht" (s. Zifonun und Keller). Dadurch hatte Geißler die Neuauflage einer innenpolitischen Polemik entfacht, bei der beide politische Lager offensichtlich bedenkenlos geschichtlich unauthentische Begriffsinterpretationen und Vergleiche verwendeten, um den politischen Gegner effektvoll zu diffamieren. Sowohl bei der sog. Pazifismus-Debatte wie auch bei der Diskussion um den KZ-Vorwurf Kohls wird die Janusköpfigkeit der offenbar gegenüber 1960 in der Öffentlichkeit gesteigerten Sprachsensibilität deutlich. Das gesteigerte Gefühl für die Wirkung sprachlicher Ausdrücke, für Mitbehauptetes und Unterstelltes und die öffentliche Thematisierung der Wirkung brisanter Vokabeln werden nicht zur geschichtlichen Selbstaufklärung genutzt, sondern nur strategisch zur Abwehr von Vorwürfen und aggressiv gegen den politischen Gegner eingesetzt. Peter Schneider hat 1987 in einem sehr intensiven Essay gezeigt, wie gerade in Deutschland nicht aus authentischer Erfahrung begründete Faschismusund Nazi-Vorwürfe zu einem „Todeskreis der Schuld" geführt haben. In der Folge der ,sprachbesessenen' antiautoritären Revolte von 1968 sei der gegen alle möglichen Gegner gerichtete Faschismus-Vorwurf zum .rhetorischen Ritual', zum Schimpfreflex verkommen, der Polizisten, liberale Hochschul-

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Professoren, SPD-Gewerkschaftler und Spontis auf die gleiche Anklagebank habe drücken sollen. Dieser Pauschalverdacht gegen alle Andersdenkenden — mit dem die demonstrierenden Studenten zunächst nur auf ihre Denunzierung als ,neue Nazis' durch Barzel und Kiesinger reagiert hätten — habe den Begriff des Faschismus entmaterialisiert und die Nazi-Verbrechen ebenso relativiert wie es heutige Geschichts-Revisionisten wiederum versuchten. Die Tradition dieses nicht seriösen, nicht historisch wirklich sachkundigen Antifaschismus' macht Peter Schneider dafür verantwortlich, daß Wörter wie Genickschuß im Zusammenhang mit dem Mord an Gerold von Braunmühl und schon früher Sätze wie „wir haben seine klägliche und korrupte Existenz beendet" (der sog. Bekenner-Satz der RAF zum Mord an Hanns Martin Schleyer) von den Enkeln der Nazi-Generation bedenkenlos wieder verwendet werden konnten. Auch durch explizite Rückverweise auf Victor Klemperer stellt sich Peter Schneider in die Tradition der politischen Sprachkritik seit 1945 und macht die menschenverachtende Sprache der RAF in gleicher Weise wie die NaziSprache dafür verantwortlich, daß sie Mord relativiert und somit vorbereitet hat. Der strategisch zur Herabsetzung von politischen Feinden eingesetzte, nur rhetorische Antifaschismus mit seinem allseitigen Faschismusvorwurf ist somit — wie alle die hier analysierten diffamierenden Nazi-Vorwürfe — im Grunde als G e s c h i c h t s v e r d r ä n g u n g und V e r b r e c h e n s r e l a t i v i e r u n g zu charakterisieren. Sowohl die Diskussion über Kohls Gorbatschow-Goebbels-Vergleich wie auch die im folgenden dokumentierte Debatte über seinen DDR-KZ-Vorwurf zeigen, wie stark die öffentliche sprachliche Sensibilität im Vergleich zu den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten inzwischen ausgebildet ist. Dieser veränderten öffentlichen Bewußtseinslage haben die großen Parteien seit den siebziger Jahren durch eine Art linguistischer Aufrüstung — durch die Einrichtung von parteieigenen Semantikgruppen und durch parlamentarische (sprach-)wissenschaftliche Dienste — Rechnung zu tragen versucht. Infolge dieser sozusagen sprachkritischen Untermauerung politischen Sprachgebrauchs wird in der jüngeren Auseinandersetzung zwischen den Parteien auch mit sprachgeschichtlichen Belegen und Argumenten gearbeitet und damit anscheinend die zentrale Forderung der aufklärerischen Sprachkritik nach gesellschaftlich-his t o r i scher Sprachreflexion erfüllt. In Wirklichkeit handelt es sich aber um eine strategisch-selektive Ausnutzung der (Sprach-) Geschichte, indem jede Partei — wie die Belege zeigen — gerade die historischen Fakten auswählt, die ihren jeweiligen argumentativen Zielen dienen. Ein allgemein zugänglicher wesentlich komplexerer historischer Wissensstand wird also ignoriert und wird nachweislich auf parteiegoistische — d. h. im wörtlichen Sinne ein-seitige — Interessen hin reduziert.

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NRZ am 5. 1. 87, S. 1, „Gegenüber Ostberlin sagte Kohl laut dpa, die DDR halte „über 2000 politische Gefangene in Gefangnissen und Konzentrationslagern" gefangen. Dazu SPD-Bundesgeschäftsführer Glotz: „Es sei in keiner Weise gerechtfertigt, den Nazibegriff Konzentrationslager in Bezug auf die DDR zu verwenden." Redakteur Dietmar Seher am 6. 1. 87 in der N R Z (Seite „Magazin") unter dem Titel „KZVergleich: Kanzler zündet neuen politischen Sprengsatz": „Wort und Einrichtung Konzentrationslager', obwohl von Engländern und Spaniern im letzten Jahrhundert ,erfunden' und als Lager in Indien, Südafrika und Kuba eingesetzt, sind aber unzweideutig mit der deutschen Geschichte und dem Mord der Nazis an Millionen Menschen in den Vernichtungslagern verbunden. Kein Wunder also, wenn sich die DDR den Vergleich verbat." „Rheinische Post" vom 6. 1. 87, Leitartikel von Rolf Heyder unter dem Titel „So ist es!": „ [ . . . ] das krebsartig wuchernde Netz von Haft- und Vernichtungslagern wurde 1945 von den sowjetischen Siegern auch auf ihren .befreiten' Teil Deutschlands übertragen [...] Ab 1950 übernahmen die deutschen Kommunisten diese Unterdrückungseinrichtungen [...] Zugegeben, im Laufe der Jahre hat sich die anfangs grenzenlose Willkür im Gebiet der DDR zur sozialistischen Gesetzlichkeit' gemausert, aber noch immer ist es Ansichtssache, ob man die heutigen Strafvollzugseinrichtungen im anderen deutschen Staat als Konzentrationslager empfindet, wie verständlicherweise die dort inhaftierten politischen Gefangenen, oder sie ohne eigene leidvolle Erfahrung als normale, wenn auch etwas harsche Gefängnisse sieht." „Rheinische Post" 7. 1. 87, S. 1, Sp. 3 und 4 und S. 2 unter dem Titel „Streit um KohlÄußerung geht unvermindert weiter": „Der SPD-Abgeordnete Duve [...] warf dem Kanzler vor, er versuche die DDR mit dem Schatten der Nazi-Vergangenheit .anzuschwärzen' [...] SPD-Bundesgeschäftsführer Glotz warf Kohl vor, mit der Anwendung des Nazi-Begriffs K Z auf die DDR habe er nicht nur außenpolitisch und innerdeutsch, sondern auch historisch einen schrecklichen Fehler' gemacht. Der deutsche Bundeskanzler müsse wissen, daß in vielen Konzentrationslagern der Nationalsozialisten Gasöfen gebrannt hätten und in fast allen KZ gefoltert wurde [...] CDU-Sprecher Merschmeier erklärte, nicht die Verhältnisse in der DDR, sondern die politischen Einschätzungen der SPD über das politische System im anderen Teil Deutschlands hätten sich verändert. Nach dem Mauerbau habe beispielsweise der heutige SPD-Vorsitzende Brandt als Berlins Regierender Bürgermeister am 12. September 1961 laut SPD-Pressedienst erklärt: ,Wir müssen das schreiende Unrecht des Ulbricht'schen MammutKonzentrationslagers in die Welt hinausrufen.' Im Oktober desselben Jahres habe Brandt in einer Rede versichert: ,Berlin wird die Landsleute in Ulbrichts K Z nicht abschreiben.'" N R Z vom 8. Januar 1987, S. 1, Sp. 5: „Die niederländische Anne-Frank-Stiftung warf Kohl dagegen vor, er trage zur Bagatellisierung von Verbrechen bei, die in der Geschichte einmalig seien. Und der 1976 aus der DDR ausgebürgerte Sänger Rolf Biermann sieht in der KohlÄußerung eine .Verhöhnung der Millionen Opfer in den faschistischen Konzentrationslagern.' "

Die zuletzt zitierte Zuschrift der Anne-Frank-Stiftung zeigt — in Kontrast zu den auf diesem Hintergrund makabren lexikalischen Grabenkriegen der Parteien — wie untäuschbar sprachsensibel die wirklichen Opfer der NaziVerbrechen sind. Die vehemente Ablehnung der Vokabel Wiedergutmachung (und die konsequente Ablehnung der Zahlung von Blutgeld) durch Lea Fleischmann (s. Stötzel 1986) klärt darüber auf, welche sprachlichen Fehlgriffe in der Reflexionslosigkeit der Adenauer-Ära bei Vertragsbenennungen geschahen. [...]Lea Fleischmann (1980): „Über die Bedeutung von Worten wurde in der Universität stundenlanag debattiert [...] ohne daß ich jemals begriffen hätte, wozu man ein Wort so

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genau erfassen muß. Jahre später habe ich alles an einem einzigen Wort verstanden. A m Wort Wiedergutmachung. Wiedergutmachung bekam meine Mutter für die erlittene fünfjährige Haft in verschiedenen Konzentrationslagern. Wiedergutmachung dafür, daß man ihre Familie umgebracht, ihre Gesundheit ruiniert und ihre Seele zerstört hat. Wieder gut Machung. Ich frage mich, was man wieder gut gemacht hat? Hat man ihre Gesundheit wieder gut gemacht? Hat man ihre Familie wieder gut gemacht? Hat man ihr Heim wieder gut gemacht? Wer sich das Wort Wiedergutmachung ausgedacht hat, der hat den Schmerz und das Leid der Opfer nachträglich verhöhnt [...]. Gegen das Wort Wiedergutmachung hätte man sofort gerichtlich Einspruch erheben und verbieten müssen, es im Zusammenhang mit den Judenverfolgungen zu nennen." (S. 70 ff.)

Daß der israelische Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland in der ansonsten geradezu ,als Wunder' begrüßten Rede des Bundespräsidenten am 8. Mai 1985 dessen Wort von der ,Versöhnung' im israelischen Fernsehen als ,unpassend' qualifiziert hat, mahnt an, welche sprachliche Sensibilität auch gegenwärtig noch von allen Deutschen verlangt wird. Versöhnung kann nur vom Beleidigten, d. h. von dem, der das Leid erduldet hat, angeboten werden. Sprachwissenschaftler und Historiker müssen aus diesem Grund zur reflektierten Nicht-Anwendung aller sogenannter Nazi-Vergleiche im politischen Alltagsgeschäft aufrufen. Nur so können wir unsere Überzeugung von der Einmaligkeit der Verbrechen deutscher Nazis glaubhaft machen und darauf hoffen, daß diese sprachliche Zurückhaltung der Deutschen auf der geschichtlichen Einsicht beruht, daß die Schuld von unserer Seite aus untilgbar ist. Literatur Berning, Cornelia, Vom Abstammungsnachweis zum Zuchtwart. Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin 1964. Dönhoff, Marion Gräfin, Weit ist der Weg nach Osten. Berichte und Betrachtungen aus fünf Jahrzehnten. Stuttgart 1985. Fest, Jochen C., Hitler. Eine Biographie. Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1973. Fleischmann, Lea, Dies ist nicht mein Land. Eine Jüdin verläßt die Bundesrepublik. Hamburg 1980. Heinz, Rudolf, Maurice Halbwachs' Gedächtnisbegriff. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 23, 1969, 7 3 - 8 5 . Heringer, Hans Jürgen, Der Streit um die Sprachkritik. Dialog mit Peter von Polenz im Februar 1981. In: Hans Jürgen Heringer (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen 1982, 161 — 175. Hitler, Adolf, Mein Kampf. München 20. Aufl. 1933. Keller, Rudi, Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen. Ein Beitrag zur politischen Sprachkritik. In: Georg Stötzel (Hg.), Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven. Berlin/New York 1985, 2 6 4 - 2 7 7 . Klemperer, Victor, LTI. Notizbuch eines Philologen. Berlin 1947 (zit. nach 3. Auflage, Halle 1957). Picht, Georg, Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima. Bd. I, Teil IV: Zum philosophischen Verständnis der Sprache. Stuttgart 1980.

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Georg Stötzel

Schneider, Peter, „Im Todeskreis der Schuld". In: „Die Zeit", 27. 3. 1987, 65 f. Steger, Hugo, Sprache im Wandel. In: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland, Geschichte in 3 Bänden, Bd. 3, Frankfurt/M. 1983, 1 5 - 4 6 . Sternberger, Dolf/Gerhard Storz/Wilhelm E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Hamburg 1957 2 , 3. Aufl. Hamburg u. Düsseldorf 1968 mit dem Untertitel „Neue erweiterte Ausgabe mit Zeugnissen des Streites um die Sprachkritik"; zuerst publiziert als fortlaufende Serie in der Monatsschrift „Die Wandlung" von 1945 bis 1948 (zit. nach 3. Auflage, Hamburg und Düsseldorf 1968). Sternberger, Dolf, Die öffentliche Schnödigkeit. In: Hans-Martin Gauger (Hrsg.), SprachStörungen. Beiträge zur Sprachkritik. München/Wien 1986, 30 — 37. Stötzel, Georg, Heinrich Bolls sprachreflexive Diktion. In: Linguistik und Didaktik 9, 1978, 54-74. Stötzel, Georg, Normierungsversuche und Berufungen auf Normen bei öffentlicher Thematisierung von Sprachverhalten. In: Akten des V I I . Internationalen Germanistenkongresses Göttingen 1985. Tübingen 1986, Bd. 4, 8 6 - 1 0 0 . Thränhardt, Dietrich, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main 1986. Zifonum, Gisela, Politische Sprachkultur und Sprachkritik. In: Institut für deutsche Sprache. Mannheim. Mitteilungen 10, 1984, 61—90. Abkürzungen: FAZ

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Frankfurter Allgemeine Zeitung Hauptüberschrift

NRZ

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Neue Rhein-Zeitung

RP

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Rheinische Post

SBZ

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Sowjetische Besatzungszone Deutschlands

ALF

SCHÖNFELDT

gleich ist nicht gleich Beobachtungen zu gleich- Wörtern in der BRD

1. 2. 3. 4. 5.

Einleitung gleich-Wörter in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates Gleichheit — Gleichberechtigung — Gleichbehandlung in den Kommentaren zum Grundgesetz Gleichberechtigung und Gleichstellung in öffentlich-politischen Diskussionen Überlegungen und Schlußfolgerungen Literatur

1. Einleitung Die Diskussion darüber, was unter Gleichberechtigung der Geschlechter zu verstehen und wie diese zu erreichen sei, wurde 1949 auf eine neue Grundlage gestellt: Die Aufnahme der Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" als Art. 3 II ins Bonner Grundgesetz stellt für die Folgezeit einen neuen Ausgangspunkt dar, da der Satz unmittelbar geltendes Recht wurde und nicht nur etwa als Postulat interpretiert und damit in seiner Gültigkeit abgewertet werden durfte. Die Stellung zwischen Art. 3 I („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich") und 3 III („Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung... benachteiligt oder bevorzugt werden") machte für alle Interpreten (vgl. Beitzke 202) die wesentliche Veränderung gegenüber der Weimarer Verfassung deutlich („Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten" Art. 109 WRV; „Die Ehe... beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter" Art. 119 WRV); Gleichberechtigung war 1949 ein Rechtsterminus geworden. Überblickt man die Diskussionen über die praktischen Probleme der Gleichberechtigung, die in den fast 40 Jahren seit Verkündung des Grundgesetzes geführt wurden, so wird erkennbar, daß die sprachlich scheinbar eindeutige Regelung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" Anlaß zu verschiedensten Deutungen und Forderungen gegeben hat. Dem Sprachwissenschaftler fällt vor allem auf, daß in allen diesen Diskussionen ergänzend zum Wort gleichberechtigt eine Fülle von anderen Wortbildungen mit gleich auftritt (Gleichheit, Gleichstellung, -behandlmg, -Wertigkeit u. a.). Offenbar ist das Prinzip des „Gleichen" unbestritten und in allen Diskussionen gegenwärtig

444

Alf Schönfeldt

und mächtig; dagegen wechselt die Dimension dessen, was bei Männern und Frauen als gleich bewertet wird, unaufhörlich. So läßt sich heute nur feststellen, daß mit dem Wort Gleichberechtigung ein großer Komplex von Sachverhalten, Einschätzungen, Bewertungen, Hoffnungen und Befürchtungen angesprochen wird — es handelt sich in der allgemeinen Diskussion um alles andere als um einen festen Rechtsterminus. Es soll hier der Versuch gemacht werden, durch eine sprachliche Analyse diesen großen Komplex ein wenig aufzulösen. Dafür, daß wortgeschichtliche Untersuchungen wichtige Aufschlüsse über kulturelle, politische und gesellschaftliche Vorgänge bieten können, gibt es erfreulicherweise viele Beispiele; meistens wurden dabei Begriffe oder Wörter über längere Zeiträume hin verfolgt. Insofern stellen sich für die vorgesehene Untersuchung Probleme: die Entwicklung der Gleichberechtigung hat nicht 1949 begonnen und ist heute nicht abgeschlossen, und trotzdem werde ich mich auf diesen kurzen Zeitraum beschränken; es gibt für mich als Untersuchenden auch keine Distanz zum Phänomen und zu seiner Entwicklung. Trotzdem halte ich es für berechtigt, sinnvoll und reizvoll, das heute festzustellende sprachliche Durcheinander ein wenig zu beleuchten. Daß dabei nicht der ganze Wortschatz, der mit der Frage der Gleichberechtigung zu tun hat [Emanzipation, Diskriminierung u. a.), erfaßt wird, hat praktische Gründe, die sich aus der nötigen Beschränkung ergeben; anderseits läßt sich diese Beschränkung auch rechtfertigen mit der Absicht, einen Beitrag zur Produktivität der Wortbildungen eines speziellen Wortbereichs zu liefern, der lexikographisch — wie ein Blick in neuere deutsche Wörterbücher zeigt — nur sehr stiefväterlich behandelt ist. Daß ein eindrucksvoller Artikel „Gleichheit" von Otto Dann in den „Geschichtlichen Grundbegriffen" vorliegt, erlaubt mir, die historische Entwicklung des Begriffs zu vernachlässigen.

2. gleich-^örter

in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates 1

Die Verhandlungen und Diskussionen im Parlamentarischen Rat 1948/49 zur Einführung des Art. 3 II G G zeigen zwar einerseits Einigkeit aller Vertreter darüber, daß die Gleichberechtigung der Geschlechter ins Grundgesetz aufzunehmen sei, anderseits deutliche Meinungsverschiedenheiten über das Maß an Gleichberechtigung — diese lassen sich sprachlich ganz direkt als Für 1

Als Materialgrundlage für Teil 2 dient das Protokoll der Verhandlungen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates ( = Verhandlungen); der Artikel 3 (damals: Art. 4) wurde in der 17., 42. und 47. Sitzung behandelt. — Zum besseren Verständnis der Vorgänge im Parlamentarischen Rat ist einerseits die schon 1951 veröffentlichte Darstellung der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ( =

Entstehungsgeschichte), anderseits die kritische

Auseinandersetzung von Reich-Hilweg hilfreich.

gleich ist nicht gleich

445

und Wider die Aufnahme der Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" festmachen. Trotz mehrfacher Ablehnung dieses Satzes im Grundsatz- und im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rats hat das Insistieren der SPD-Vertreterinnen auf der Formulierung und der Druck der außerparlamentarischen Öffentlichkeit (vgl. Reich-Hilweg) schließlich zur Einführung des Satzes in den Art. 3 II geführt. Daß von den 132 Belegen für gleich-Wörter in den Verhandlungen im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rats nicht weniger als 61 Belege gleichberechtigt\Gleichberechtigung betreffen, ist durch die Formulierungskontroverse verständlich; viele dieser Belege referieren genau auf den vorgeschlagenen Satz (GleichberechtigungssatSal£ der G.) oder den in ihm zum Ausdruck kommenden Grundsatz (Grundsatz der G.), oder sie problematisieren die Bedeutung des Wortes (der Begriff G., das Wort G.). Die thematische Festlegung der Verhandlungen machte es selbstverständlich, daß nicht irgendeine Gleichberechtigung, sondern die der Geschlechter gemeint war — ein einziger Beleg bezieht sich auf andere Personengruppen; bei 24 Belegen ist der Bezug implizit mitgemeint; 18 mal werden explizit beide Geschlechter angesprochen; ebenfalls in 18 Fällen wird speziell die Gleichberechtigung der Frau(en) genannt. In manchen späteren Darstellungen ist diese Betonung der Gleichberechtigung der Frau als eine vom Verfassungsgeber einseitig zugunsten der Frau erhobene Forderung gedeutet worden (vgl. dazu Binder-Wehberg 25); es scheint mir heute außer Frage zu stehen, daß 1948 der Nachholbedarf der Frauen an Gleichberechtigung (allein in streng juristischem Sinn) in der Tat sehr groß war und eine entsprechende Akzentuierung in der politischen Debatte rechtfertigte, auch wenn das Ergebnis der Formulierungen die Gleichberechtigung beider Geschlechter war. Die Argumentationen über die konkurrierende Formulierung („Männer und Frauen haben die gleichen (staatsbürgerlichen) Rechte und Pflichten") und über den Zusammenhang mit Art. 3 I („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich") führten verständlicherweise zu einer Häufung der Belege für gleich (37) und Gleichheit (10). Wenn gleich vor allem mit Lohn/Arbeit/Leistung in Verbindung gebracht wurde, so zeigt das, wie direkt bei den Verhandlungen über das Prinzip der Lohngleichheit als eine unmittelbare Konsequenz aus der Gleichberechtigung gesprochen wurde; daß diese aber nicht ins Grundgesetz aufgenommen wurde, obwohl oder weil alle Beratenden sich darüber einig waren, hat für die arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen der nächsten Jahrzehnte viele Folgen gehabt (vgl. Entstehungsgeschichte 69 f.; Pfarr/Bertelsmann 1981). Wenn von gleichem Recht und vor dem Geset% gleich gesprochen wurde, handelte es sich um die Umschreibung des Wortes gleichberechtigt bzw. direkt um den Art. 3 I. Wenn allerdings auch gleiche Mündigkeit [Verantwortlichkeit

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Fähigkeit erwähnt wurde, so zeigt sich schon hier der vergebliche, aber oft wiederholte Versuch, Gleichberechtigung mit unfaßbaren Merkmalen zu erfassen. Gleichheit kam vor allem als staatsbürgerliche Gleichheit im Sinne der Weimarer Verfassung, deren Formulierung ja zur Diskussion stand, dagegen nur einmal als allgemeines Grundrecht vor. Mit dem Ausdruck Gleichheitssatζ wurde zweimal auf den Art. 3 I, zweimal aber auch irrtümlich auf den Gleichberechtigungssatz des Art. 3 II referiert. Das gehäufte Auftreten von Gleichberechtigung und Gleichheit in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rats ist sehr verständlich; daneben fallt aber auf, daß in der politischen Auseinandersetzung einige andere gleich-Wörter erscheinen, die — wie schon an einigen gleich-Belegen deutlich wurde — nicht der Rechtssphäre angehören. Als politische Wörter müssen hier gleichstellen und Gleichstellung gelten (11 Belege, dazu gehören außerdem noch gleichstehen und Gleich set^ung), die immer dann benutzt wurden, wenn die politische Veränderung gemeint wurde, die mit der Einführung der rechtlichen Gleichberechtigung eintreten sollte — natürlich war hier stets von der Gleichstellung nur der Frauen die Rede. Der im Grundsatz- und im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rats beratene, schließlich aber doch gestrichene Satz „Das Gesetz muß Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln" enthält (was auch schon bei gleichstellen zu beobachten war) die Verbindung von gleich mit einem Verb. Im Gegensatz zu gleichstellen geht es aber hier nicht um ein politisches Tun, sondern mit gleichbehandeln ist ein sehr neutraler Ausdruck für die praktische Anwendung von Gesetzen gewählt worden. Schließlich erscheinen 6 Belege int gleichwertig! Gleichwertigkeit — Wörter, die weder dem rechtlichen noch dem politischen, sondern dem philosophischen Bereich angehören. Die von Elisabeth Seibert eingeführte Verbindung von Gleichberechtigung mit Gleichwertigkeit kann als klassisch bezeichnet werden, da sie in nahezu allen Grundgesetz-Kommentaren zitiert wird: „Die Gleichberechtigung baut auf der Gleichwertigkeit auf, die die Andersartigkeit anerkennt" (Verhandlungen 540). Diese zweifellos schöne Formulierung hat aber zu Fehlschlüssen geführt: es war ja nicht die Rede davon, daß mit der Gleichwertigkeit auch die Gleichberechtigung gegeben sei (wie oft behauptet wurde) — nur die umgekehrte Schlußfolgerung war gemeint: wenn Gleichberechtigung gegeben ist, dann geht ihr selbstverständlich die Anerkennung der Gleichwertigkeit voraus. Insofern hilft der Begriff Gleichwertigkeit nicht zur Klärung des Rechtsbegriffs Gleichberechtigung (so schon BVerfGE Bd. 3, 1954, 241). Für die folgenden Jahrzehnte ist aber das Argumentieren mit der Gleichwertigkeit der Geschlechter höchst verhängnisvoll geworden, da es stets zu Verunklärungen der Gleichberechtigungsproblematik führte.

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Wenn in den Debatten des Parlamentarischen Rats aber von Gleichwertigkeit der Arbeit gesprochen wurde, so wurde ein Begriff bereits früh problematisiert, der im Arbeitsrecht bis heute eine wichtige Rolle spielt (Pfarr/Bertelsmann 1981). Schließlich gibt es noch ein weiteres gleich-^Iort, das im Parlamentarischen Rat gebraucht wurde: Gleichmacherei. Diese stark pejorative Wortbildung, der im 19. Jh. noch die neutrale Bildung Gleichmachung gegenüberstand (DWB 4, 1, 4, 1059), diente seit jeher zur Verächtlichmachung von Gleichheitsbestrebungen und damit gleichzeitig zur Rechtfertigung und Verfestigung bestehender Ungleichheiten; der Beleg im Parlamentarischen Rat (Elisabeth Seibert: „Ihre Besorgnis, daß die Gleichstellung der Frau Gleichmacherei sei, ist daher ... unbegründet", Verhandlungen 540) zeigt sehr deutlich, daß das Wort hier präventiv abwehrend gemeint ist, um die eigene Forderung nach Gleichheit als berechtigt erscheinen zu lassen. Als politisches Wort steht Gleichmacherei neben Gleichstellung. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß im Parlamentarischen Rat auf die Geschlechter bezogen die rechtlichen Termini Gleichberechtigung und Gleichheit und die politischen Ausdrücke Gleichstellung und Gleichmacherei vorkommen; Gleichwertigkeit wird in einzelnen Argumentationen verwendet; gleichbehandeln ist als neutrales, wenigsagendes Verb belegt. 3. Gleichheit- Gleichberechtigung- Gleichbehandlung in den Kommentaren zum Grundgesetz 2 Die direkte Bezugnahme auf den Art. 3 II GG wird in mehreren Wortbildungen deutlich, die in der juristischen Fachliteratur vorkommen. So wird auf den Absatz selbst mit den Wörtern Gleichberechtigungssat£ (Klein 1957, 1; Gubelt 75) oder Gleichberechtigungsformel (Starck 209; Ramm 42) referiert. Entsprechend ist das Ordnungswort in der Entscheidungssammlung der Verfassungsrechtssprechung zu Art. 3 II GG „Gleichberechtigung von Mann und Frau", und auch die durch das Grundgesetz notwendig gewordene, durch Art. 117 I bis 1953 verschobene, aber erst 1957 erfolgte Anpassung des BGB an den Art. 3 II erhielt die Bezeichnung Gleichberechtigungsgeset% (BGBl 1957 I, 609 ff; vgl. auch Creifelds 503). Der Inhalt von Art. 3 II GG wird in der juristischen Literatur allgemein als Gleichberechtigungsgrundsat^ bezeichnet. Auch die konkurrierend zum Kom-

2

Als Materialgrundlage f ü r Teil 3 dienen die Ausführungen zu Art. 3 II in den Kommentaren zum Grundgesetz von Dürig, Gubelt, Klein 1957, Klein 1983, Starck, Stein und Wernicke (zitiert wird hier jeweils nach der Randzifferzählung zu A r t . 3 II), außerdem der jeweils erste Teil der Aufsätze von Beitzke und Ramm.

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positum vorkommende Genetivkonstruktion Grundsatz der Gleichberechtigung (Klein 1957, 1; Dürig 1) meint genau diese Bezugnahme auf die Proposition des Satzes. Das gleiche gilt für das seltener belegte Wort Gleichberechtigungsprin!ζίρ (Binder-Wehberg 24). Gegenüber dieser neutralen und statischen Ausdrucksweise enthält die Bezeichnung Gleichberechtigungsgebot (Starck 209; Dürig 1) (auch Gebot der Gleichberechtigung bei Gubelt 79) einen dynamischen Aspekt: mit dieser Formulierung wird die einfache Seinsaussage des Art. 3 II, die für juristische Laien ohnehin unverständlich oder mißverständlich ist, als Gebot der Verfassungsgeber für die weitere Gesetzgebung und Rechtsprechung interpretiert. Damit ist nicht mehr nur die Proposition, sondern die rechtsrelevante kommunikative Funktion des Art. 3 II erfaßt und betont. Gleichberechtigungsgrundsat% und Gleichberechtigungsgebot sind als Rechtstermini zu verstehen, die eindeutig auf den Inhalt des Gleichberechtigungssatzes referieren. Die Formulierung Gleichberechtigungsbegriff dagegen, die immer wieder im Zusammenhang mit Art. 3 II auftritt, darf nicht etwa als Komprimierung der mehrgliedrigen Proposition zu einem Begriff verstanden werden; die Auflösung des Kompositums zu einem Syntagma führt auch normalerweise nicht zu Begriff der Gleichberechtigung, sondern zu Begriff „Gleichberechtigung' (Klein 1957, 8; Gubelt 77; Ramm 42): damit wird stets eine Problematisierung des Grundgesetz-Satzes bewirkt. Es handelt sich also um den Übergang zur Metaebene, auf der die scheinbar klare Formulierung des Art. 3 II als unklar oder zumindest uneindeutig oder mißverständlich entlarvt wird. So ist es verständlich, daß diese Formulierung sowohl in der klassischen Entscheidung des BVerfG (Bd. 3, 1954, 240) als auch in allen GrundgesetzKommentaren, die hierauf bezugnehmen, und vorher ja auch schon im Parlamentarischen Rat vorkommt. Das Auftreten in diesen Kontexten macht deutlich, daß die beim Verfassungsgeber noch festzustellende Eindeutigkeit des Wortes Gleichberechtigung für die Rechtspraxis nicht mehr gegeben ist. Bei einem nicht geringen Teil der Belege für Gleichberechtigung in juristischen Kommentaren handelt es sich um diese Problematisierung des Begriffs, wenn das Wort vor allem in folgenden Verwendungen vorkommt: Gleichberechtigung bedeutet/heißt/ist/ist nicht/kann verstanden werden u. ä. Die Erklärungen werden jeweils von den Kommentatoren gegeben und unterscheiden sich nicht unwesentlich; damit ist offensichtlich, daß Gleichberechtigung ein jeweils neu zu interpretierender Begriff ist, mit dem von Juristen operiert wird, indem auf die einmal im Grundgesetz erfolgte Formulierung verwiesen wird. Das Wort Gleichberechtigung kommt in juristischen Kommentaren zum Grundgesetz — das läßt sich zusammenfassend sagen — in zwei Funktionen vor: erstens als unmittelbarer Verweis auf den Satz oder die Proposition des Art. 3 II (dann also wird der Begriff nicht problematisiert, sondern als klar

gleich ist nicht gleich

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gegeben betrachtet) und zweitens als Problematisierung des Begriffs (und damit als Aufgabe für den Kommentator). Während das Wort gleichberechtigt des Art. 3 II und die dazugehörige Ableitung Gleichberechtigung eine eindeutige und explizite Bezugnahme auf die Rechtssphäre enthalten, bietet die Fassung des Art. 3 I „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" Probleme, wenn auf ihn bezuggenommen werden soll: Die klare Determination des Adjektivs gleich durch den Zusatz vor dem Gesetz geht leicht verloren, wenn gleich isoliert gebraucht wird; erst recht findet sich die Nominalisierung Gleichheit oft von der semantisch notwendigen Ergänzung, für welchen Bereich sie zu gelten habe, getrennt. Sinnvollerweise wird die Ergänzung explizit beibehalten bei dem Ordnungswort „Gleichheit vor dem Gesetz" in der Entscheidungssammlung der Verfassungsrechtsprechung zu Art. 3 I. Anderseits wird vor allem in rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Zusammenhängen von den Gleichheitsrechten als menschlichen Grundrechten gesprochen, denen der Art. 3 Ausdruck verleiht. In juristischen Texten wird normalerweise mit dem Wort Gleichheitssatζ (abgekürzt oft als Gls) auf den Text des Art. 3 I bezuggenommen (so auch schon im Parlamentarischen Rat); nicht selten tritt — um Absatz I von II und anderen Gleichheitsrechten zu trennen — die Formulierung der allgemeine Gleichheitssat^ auf. Hierauf bezugnehmend und sich von ihm explizit absetzend ist dann die nicht terminologische, sondern sprechende Formulierung „der besondere persönliche Gleichheitssatz des Abs. 2, der Gleichberechtigungssatz" (Klein 1957, 1). Daß in dem grundlegenden Werk „Die Grundrechte" auf das Kapitel „Gleichheit" das Kapitel „Gleichheit von Mann und Frau" (Beitzke) folgt, kann ebenso als Nacheinander der Behandlung von allgemeinem und speziellem Gleichheitssatz verstanden werden. Als Gleichheitsgrundsat^ wird in der juristischen Literatur wiederum gelegentlich der Inhalt des Gleichheitssatzes des Art. 3 I verstanden. Als Stichwort im Sachregister der Juristenzeitung und der Neuen Juristischen Wochenschrift finden sich unregelmäßig abwechselnd die Wörter Gleichheitssat^ und Gleichheitsgrundsat^j dagegen scheint der Ausdruck in den Grundgesetz-Kommentaren zu fehlen, wo nur vom Gleichheitssat^ die Rede ist. Entsprechend zur dynamischen Interpretation der Gleichberechtigung als Gebot findet sich auch die Formulierung Gleichheitsgebot (Dürig 4); der hier verwendete Zusatz allgemein und die Wendung Kern aller Gleichheitsgebote (d. h. 3 I) machen ex negativo deutlich, daß Art. 3 II als spezieller Fall von 3 I gesehen wird. Die inhaltlichen Beziehungen zwischen Art. 3 II und 3 I haben auf der sprachlichen Ebene durch die Verwendung von gleichberechtigt und gleich direkte Entsprechungen. Dagegen ist Art. 3 III negativ formuliert („niemand darf..."); im Gegensatz zu den positiven adjektivischen Formulie-

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rungen gleich und gleichberechtigt liegt eine verbale Fügung vor: benachteiligen und bevorzugen bezeichnen Handlungen, die den Grundsätzen der „Gleichheit vor dem Gesetz" und der „Gleichberechtigung" widersprechen. Insofern ist Art. 3 III als Ausführungsbestimmung der Abs. I und II verstanden worden (Wernicke 3). So ist es sprachlich auch verständlich und sinnvoll, daß sich als zusammenfassender Terminus für diese sehr viel praktischeren Forderungen des Art. 3 III mit dem Wort Gleichbehandlung die substantivische Ableitung aus einem Verb (und nicht aus einem Adjektiv) eingebürgert hat; dieses erscheint auch als Ordnungswort in der Entscheidungssammlung der Verfassungsrechtsprechung zu Art. 3 III. Entsprechend den verschiedenen Differenzierungsverboten wird Gleichbehandlung nicht nur auf die Geschlechter bezogen; ganz unabhängig von den Art. 3 III und II wird die Pflicht zur Gleichbehandlung im Verwaltungs-, Gesellschafts- und vor allem im Arbeitsrecht aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 I abgeleitet; der hierfür geltende Ausdruck Gleichbehandlungsgrundsatz (Creifelds 502) gilt prinzipiell, um willkürliche Ungleichbehandlungen auszuschließen. In Kommentaren zum Grundgesetz erscheinen Gleichbehandlung und Ungleichbehandlung bezogen auf den Art. 3 III in jüngerer Zeit häufig (Dürig 2; Starck 206, hier meistens bestimmt als rechtliche Gleichbehandlungen; Gubelt 73). Mit der Einführung der Bezeichnungen Gleichbehandlungsrichtlinie (für die „Richtlinie des Rates {der E G ) vom 9. 2. 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen") und Gleichbehandlungsgesetz (für das „Gesetz über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz (Arbeitsrechtliches EG-Anpassungsgesetz)" (BGBl 19801,1308; Pfarr/Bertelsmann 1985, 24)) wurden die Termini Gleichbehandlung und Ungleichbehandlung nun auch speziell auf die Geschlechter bezogen. Für die Wortverwendung in den juristischen Texten, die sich auf den Art. 3 GG beziehen, läßt sich zusammenfassend sagen, daß die Forderungen der drei Absätze des Art. 3 durch drei verschiedene Substantive (Gleichheit — Gleichberechtigung — Gleichbehandlung) gekennzeichnet werden. Gleichberechtigung ist, auch wenn es in diesem Zusammenhang stets auf die Geschlechter bezogen wird, offenbar begrifflich am wenigsten eindeutig und erfordert am meisten Kommentierungen. Gleichheit und Gleichbehandlung können sowohl speziell auf die Geschlechter als auch — und das ist der häufigere Fall — allgemein verwandt werden; Unklarheiten zeigen sich in den allgemeinen Darstellungen nicht, da die allgemeinen Grundsätze der Gleichheit und Gleichbehandlung — im Gegensatz zu dem der Gleichberechtigung — unbestritten sind. Die zahlreichen Komposita, die zu diesen drei Substantiven gebildet werden (-satz\-formel\-grmdsatz\-prinzjp\-gebot\-richtlinie\-gesetzJ verweisen auf Ver-

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Wendungsmöglichkeiten in der rechtlichen Sphäre und bieten keine semantischen Probleme. Außer diesen genannten Komposita treten in juristischen Texten einige andere auf, die den allgemeinen Begriff der Gleichheit modifizieren, nicht aber für die Diskussion um die Gleichberechtigung der Geschlechter interessant sind und deshalb hier nicht weiter behandelt werden sollen, ζ. B. Rechtsgleichheit (Klein 1957, 9; Starck 206), Gerechtigkeitsgleichheit (Dürig 2), Rechtsgestaltungsgleichheit (Klein 1957, 9), Rechtsanwendungsgleichheit (Dürig 52). Die Kommentare zum Grundgesetz enthalten nun nicht ausschließlich Rechtswörter; die Bezugnahme auf die historische Entstehung des Grundgesetzes einerseits und die jeweilige politische Situation zum Zeitpunkt der Entstehung der Kommentare anderseits führen zur sehr unterschiedlichen Aufnahme der schon im Parlamentarischen Rat verwendeten gleich- Wörter. Gleichmacherei begegnet in mehreren Kommentaren (Klein 1957, 6; Starck 209; Gubelt 77; Wernicke 2; Klein 1983, 39), meistens mit explizitem Bezug auf den schon zitierten Beleg aus dem Parlamentarischen Rat und auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: „... ist es freilich erforderlich, dem Begriff ,Gleichberechtigung' den ihm immanenten präzisen juristischen Sinn abzugewinnen und ihn nicht durch eine Gleichsetzung mit den manchmal polemisch verwendeten, rechtlich kaum faßbaren Vokabeln ,Gleichwertigkeit' oder .Gleichmacherei' zu entwerten" (BVerfGE Bd. 3, 225). Auffällig ist, daß diese Auseinandersetzung mit dem scheinbar erhobenen, nirgends direkt belegten Vorwurf der Gleichmacherei nicht nur in der Frühzeit der BRD aus direkter Angst vor sozialistischen Tendenzen erscheint, sondern auch in neuesten Bearbeitungen der Kommentare; offenbar wird es auch heute noch für nötig gehalten, auf die Gefahr eines extensiven Verständnisses von Gleichberechtigung hinzuweisen. Auch der Begriff der Gleichwertigkeit, der im Parlamentarischen Rat sehr vorsichtig gebraucht wurde, hat Eingang in Kommentare gefunden (Klein 1957, 6; Gubelt 77; Wernicke 2; Klein 1983, 41; Beitzke 209); vor allem wird die Verwendung im Parlamentarischen Rat zitiert. Offenbar führt eine Vorliebe einiger Kommentatoren für rechtsphilosophische Bemerkungen zur Aufnahme in den sonst sachlichen Text. Von der Verwendung des Ausdrucks Gleichwertigkeit der Geschlechter ist natürlich die Gleichwertigkeit der Arbeit zu trennen, die zwar nicht in den Grundgesetz-Kommentaren zu Art. 3, wohl aber in Arbeiten zum Arbeitsrecht, vor allem zum Gleichbehandlungsgesetz vorkommt (vgl. Pfarr/Bertelsmann 1981, 51 ff.; Binder-Wehberg 78 ff.). Hier zeigt sich sehr deutlich, daß die Bezugnahme auf die Arbeit die Verwendung als Rechtsterminus ermöglicht, während die Bezugnahme auf Menschen Konnotationen mit sich bringt, die aus der Rechtssphäre herausführen. Insofern muß beim Erscheinen des Wortes Gleichwertigkeit stets geprüft werden, worauf es sich bezieht.

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4. Gleichberechtigung und Gleichstellung in öffentlich-politischen Diskussionen 3 Im normalen privaten und öffentlichen Leben kommen gleich-Sflötter nur dort vor, wo praktische Erfahrungen mit Verstößen gegen den Gleichheitsgrundsatz gemacht, als solche bewußt wahrgenommen und verbal geäußert werden. Selbstverständlich darf aus der Tatsache, daß jahrelang keine öffentliche Diskussion über die Gleichberechtigung stattfand, nicht auf das Fehlen von Verstößen gegen den Art. 3, sondern nur auf das Fehlen des entsprechenden Bewußtseins geschlossen werden. Während einerseits festgestellt werden muß, daß heute die rein rechtliche Gleichheit weitgehend erreicht ist, ist es anderseits fraglos so, daß das Bewußtsein von Ungleichheiten in den letzten Jahren ungeheuer zugenommen hat. Das bewußte Wahrnehmen und Erleben von Verstößen gegen den Gleichheitsgrundsatz führt nicht immer zu einem sachlichen, differenzierenden Analysieren der Gründe, die jeweils dazu geführt haben, sondern zu einem eher globalen Zuordnen zu einer mangelnden Gleichberechtigung. Das läßt sich an einer Untersuchung der Verwendungszusammenhänge des Wortes Gleichberechtigung aufzeigen. In einem erheblichen Teil der Belege für das Wort Gleichberechtigung erscheint dieses als Ergänzung von Verben wie durchsetzen/erreichen/verwirk,liehen u. ä. (bzw. deren Nominalisierungen). Gleichberechtigung wird also als abstrakter Grundsatz verstanden, dessen rechtliche Gültigkeit zwar nicht bezweifelt, aber auch nicht als ausreichend angesehen wird, solange ihr nicht auch praktische Resultate in der Wirklichkeit entsprechen. Derselbe Befund tritt auch in den Formulierungen hervor, durch die mehr oder eine volle!vollständige G. gefordert wird oder die feststellen, daß wir die G. noch nicht oder noch nicht gan^ oder nicht überall haben. Nicht selten findet sich schließlich eine Unterscheidung zwischen weitgehend erreichter rechtlicherjformalrechtlicherjjuristischerjim Grundgesetz garantierter\geset%licher G. einerseits und noch nicht erreichter faktischer\praktischer\wirklicher G. anderseits. Gleichberechtigung wird also — das wird hier deutlich — nicht nur als Rechtsgrundsatz gesehen, sondern gleichzeitig auch als dessen Konkretisierung in der Realität. Es ist kein Zufall, daß diese Verwendungsweise des Wortes Gleichberechtigung nur dann auftritt, wenn die Folgen in der Wirklichkeit n i c h t eingetreten 3

Als Materialgrundlage für Teil 4 dienen insbesondere die Auseinandersetzungen um die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages 1980/81 ( = Frau und Gesellschaft) und die Sachverständigenanhörung 1982 zu einem Antidiskriminierungsgesetz ( = Sachverständigenanhörung). Außerdem wurden verschiedenste politische Veröffentlichungen der Parteien verwendet, die weder hier noch im Literaturverzeichnis einzeln aufgeführt werden können. — Einige Anregungen zu diesem Teil verdanke ich einer Seminararbeit von Karen Schmidt/ Kiel.

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sind, d. h. wenn die faktische Gleichberechtigung im Gegensatz zu der rechtlichen Gleichberechtigung nicht sichtbar ist. Es ist auch kein Zufall, daß diese Verwendungsweisen sich nicht im juristischen, sondern nur im öffentlich-politischen Belegmaterial finden. Juristen lehnen verständlicherweise eine Aufspaltung in vorhandene rechtliche und fehlende faktische Gleichberechtigung ab, weil für sie Gleichberechtigung ein rechtliches Phänomen ist, das, wenn es vorhanden ist, nicht gleichzeitig fehlen kann; in der Formel fehlende faktische Gleichberechtigung ist — für Juristen — die Verwendung des Wortes Gleichberechtigung, da es eine Rechtswortbildung ist, einfach falsch. Anders ist der Sachverhalt bei der auch von Juristen praktizierten Trennung von rechtlich und faktisch in bezug auf den Begriff Gleichheit·, gerade die Kommentierung des Art. 3 GG führt zum Hinweis, daß aus der Forderung nach rechtlicher Gleichheit nicht a u f f a k t i s c h e Gleichheit geschlossen werden dürfe (Starck 209); dem entspricht auch die häufige Verwendung von faktischer Ungleichheit, die auch für Juristen akzeptabel ist, da Gleichheit primär keine Rechtswortbildung ist. Es gibt Versuche, dieses sprachliche Dilemma zu beseitigen, indem die Bereiche, für die Gleichberechtigung als geltender und teilweise verwirklichter Grundsatz denkbar ist, durch sprachliche Zusätze voneinander getrennt werden: der rechtlichen Gleichberechtigung steht dann etwa die staatsbürgerliche /politische [sociale [gesellschaftliche Gleichberechtigung gegenüber oder es wird von Gleichberechtigung im Staat\in der Gesellschaft/ in allen Bereichen des Rechts\im bürgerlichen Recht/im Arbeitsrecht/in der Arbeitsweltjin der socialen Wirklichkeit!im Berufsleben/im Alltag/in der Familie]usw. gesprochen. Somit war es bis zum Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes 1958 richtig, davon zu sprechen, daß die G. im bürgerlichen Recht noch nicht verwirklicht sei, oder im Parlamentarischen Rat konnte darauf hingewiesen werden, daß die staatsbürgerliche G. doch schon in der WRV gegeben gewesen sei. Aber diese Trennung der Bereiche erweist sich nur dort als durchführbar, wo klare gesetzliche Grundlagen zur Regelung von Beziehungen zwischen Bürger und Staat, Bürger und Verwaltung oder zwischen Bürgern existieren. Die Anpassung des BGB an den Gleichberechtigungsgrundsatz hat sich (nachträglich!) als relativ einfach erwiesen im Verhältnis zu allen Problemen der arbeitsrechtlichen Regelungen; trotzdem scheint der Weg zu einer Gleichberechtigung auch hier gangbar, wenn auch noch längst nicht abgeschlossen (vgl. dazu Pfarr/Bertelsmann 1985). In anderen allgemeinen Bereichen scheint der Begriff Gleichberechtigung schwerer handhabbar zu sein, weil die Ungleichheiten, die wahrgenommen und kritisiert werden, genau genommen nicht auf mangelnder „Gleichberechtigung" beruhen, sondern auf ungleichen Ausgangspositionen von Frauen und Männern, die wiederum durch eine seit Jahrhunderten erfolgte männliche Prägung unseres sozialen Lebens zu erklären sind. Hierfür wird nicht selten in

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der Diskussion der Gleichberechtigung der Geschlechter von Chancengleichheit gesprochen; allerdings gibt es zwei Gründe, die offenbar die weitere Verbreitung dieses Wortes in diesem Bereich verhindert haben. Der erste Grund ist darin zu sehen, daß es ein vom Bundesverfassungsgericht anerkanntes Recht auf Chancengleichheit nur in sehr eng umgrenzten Bereichen gibt (Parteien, Prüfungsrecht ζ. B.; vgl. dazu Stein 72) und daher der Rechtsterminus nicht auf die Geschlechter bezogen wird; der andere hat damit zu tun, daß die Diskussion um Chancengleichheit im Bildungsbereich in den 60er und 70er Jahren einen so großen Raum eingenommen hat, daß das Wort als „abgenutzt" gelten muß (vgl. Zöllner 231) oder nur auf solche Problemfelder beschränkt bleibt, die mit Bildung/Ausbildung zu tun haben — in der Tat beziehen sich die Belege nahezu durchweg auf berufliche Einstellungsprobleme von Frauen in Zusammenhang mit Ausbildungsdefiziten. Ein weiterer Versuch, zu einer sprachlichen und begrifflichen Klarheit zu gelangen, ist darin zu erkennen, daß dem rechtlichen Begriff Gleichberechtigung der allgemeinere Begriff Gleichstellung entgegengesetzt wurde. Schon im Parlamentarischen Rat wurde die politische Entscheidung, den Gleichberechtigungssatz ins Grundgesetz aufzunehmen, als Gleichstellung der Frau bezeichnet. Aber die Texte der letzten Jahre zeigen deutlich, daß eine so einfache Zuordnung von Gleichberechtigung zum rechtlichen Bereich und Gleichstellung zum politischen Bereich nicht praktikabel ist oder zumindest nicht konsequent praktiziert wird. So gibt es die Verwendung von Gleichstellung durchaus im Rechtsbereich: der Verfassungsauftrag von Art. 3, den der Gesetzgeber seither zu erfüllen versucht, wird als Gleichstellung (Beitzke 203) oder als rechtliche Gleichstellung (Starck 209) bezeichnet: rechtliche Gleichstellung meint also hier die Herstellung der Gleichberechtigung durch den Gesetzgeber; dieser rechtlichen Gleichstellung kann dann eine faktische Gleichstellung entgegengesetzt werden (Starck 210), die eben n i c h t Aufgabe des Gleichberechtigungsgebots sei. Bei dieser Verwendung von Gleichstellung steht die Betonung des dynamischen Aspekts im Vordergrund, während Gleichberechtigung dann als statisch empfunden wird. Die konsequente Hinzufügung von unterscheidenden adjektivischen Zusätzen erleichtert natürlich das Verständnis innerhalb des jeweiligen Textes. So trennt der Jurist Zöllner in seinem Aufsatz über „Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter" regelmäßig zwischen (normativer) Gleichberechtigung und faktischer Gleichstellung und macht so stets klar, was er meint. Aber gerade die umgekehrte Adjektivzuordnung findet sich vielfach in politischen Texten, wo der rechtlichen Gleichstellung, die weitgehend abgeschlossen sei, die nicht vorhandene faktische Gleichberechtigung entgegengesetzt wird (ζ. B. CSU-Grundsatzprogramm 1976). Wenn aber allein die Zusätze die Bedeutung anzeigen sollen, erweist sich die Trennung der Substantive als

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unnötig und verwirrend, da durch sie eine Unterscheidungsmöglichkeit suggeriert wird, die so gar nicht existiert. Auch die Differenzierung von Gleichberechtigung und Gleichstellung nach den Verwendungsbereichen ist nicht mit Eindeutigkeit verbunden. Die vielfältige Anwendung, die ich für Gleichberechtigung bereits nachgewiesen habe, gilt für Gleichstellung entsprechend: sie wird gefordert in allen Rechtsgebieten/in der Arbeitswelt\im Arbeitslebenjim Erwerbslebenjin der Familiejim öffentlichen Leben/ in der Bildung und Ausbildung. Eine Sichtung der Belege, in denen nebeneinander beide Ausdrücke verwendet werden, zeigt, daß die vom jeweiligen Sprecher gewählte Zuordnung beliebig und auswechselbar ist, ζ. B. „Gleichstellung in allen Rechtsgebieten — politische, wirtschaftliche, soziale Gleichberechtigung" (SPD-Programm 1952; Kohl-Rede 1983); „Rechtliche und soziale Gleichstellung — Gleichberechtigung im Lebensalltag" (CDU-Leitsätze 1985). Ein ähnliches Ergebnis zeigt auch eine Untersuchung der Bildung von Komposita mit den beiden Wörtern. Die Tabelle S. 456 stellt die verschiedenen (in den Anhörungen und Debatten belegten) Komposita zusammen: 9 der 15 mit Gleichstellung verknüpften Bestimmungswörter kommen auch in Verbindung mit Gleichberechtigung vor, wobei nur mit -geset% auf tatsächlich unterschiedliche Gesetze referiert wird (Gleichberechtigungsgeset^ von 1957; Gleichstellungsgeset% als Name für das derzeit geplante Antidiskriminierungsgesetz), während in den anderen Fällen jeweils der gleiche Sachverhalt gemeint wird; bei den übrigen 6 Fällen scheint es relativ zufällig zu sein, welches Grundwort jeweils gewählt wurde — auch bei den restlichen Gleicbberechtigungs-RAdungen wäre eine Austauschung gegen Gleichstellungs- ohne weiteres denkbar. Deutlich unterscheiden sich von diesen beiden Wortbildungsreihen semantisch die Gleichheits-Bildungen: Dort fehlt die ganze Reihe der Begriffe aus der praktischen Politik (-institution u. ä.), während sich die GleichbehandlungsWörter ähnlich den Gleichstellungs-Wöttetn verhalten. Überhaupt erweist sich in den öffentlichen Diskussionen die Verwendung des Wortes Gleichbehandlung als recht unproblematisch: Es fehlte früher nahezu ganz, ist aber seit den Verhandlungen über das Gleichbehandlungsgesetz ganz üblich für alle arbeitsrechtlichen Forderungen der Arbeitnehmer geworden; sicher spielt auch die Konkretheit der mit dem Wort verbundenen Vorstellung dabei eine wichtige Rolle. Im Bericht der Enquete-Kommission des Bundestages 1980 ( = Frau und Gesellschaft) war ein ganzes Kapitel den „Institutionen zur Durchsetzung der Gleichberechtigung" gewidmet; hier wurde auf Erfahrungen im Ausland und Ansätze in der BRD bezuggenommen. Merkwürdigerweise erscheinen hier (ebenso wie in der sich anschließenden Bundestagsdebatte) nebeneinander die Bezeichnungen Gleichbehandlungsstelle und Gleichberechtigungsstelle, ohne daß eine klare begriffliche oder funktionale Trennung der einzurichtenden Institu-

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-satz -grundsatz -gesetz -gesetzgebung -Vorschrift -regelung -gebot -forderung -postulat -auftrag

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stellungs-

behandlungs-

heits-

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-recht





-pflicht

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-politik



-ausschuß -behörde -oberbehörde -stelle -institution -kommission -stab -ressort

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-beauftragte

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-amt



-prozeß -urteil -Strategie -bemühung -aufforderung -anspruch

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-plan



-zustand



-tatbestand -defizit -verzieht -chance -frage -problem -bewußtsein



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-denken

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-gesichtspunkt

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-idee

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tionen auszumachen ist; der Ausdruck Gleichstellungsstelle wird mehrfach nur für bereits damals bestehende Stellen angewandt (als Vorbild galt vor allem Hamburgs „Leitstelle Gleichstellung der Frau"). In den folgenden Jahren sind in der Tat Institutionen zunächst in den Bundesländern, dann in unterschiedlichem Maße auch in den Kommunen eingerichtet worden. Welche Bezeichnung sich hier in der offiziellen Sprache durchsetzen wird, läßt sich heute noch nicht klar sagen, da der Prozeß noch keineswegs abgeschlossen ist. So heißt es in einer 1986 vom Presseamt der Bundesregierung herausgegebenen Broschüre „Politik für Frauen": „In allen Bundesländern wurden inzwischen Arbeitsstäbe eingerichtet, die zwar die unterschiedlichsten Bezeichnungen haben, aber ähnliche Aufgaben. Die Bezeichnung Gleichstellungsstellen hat sich dafür eingebürgert"; aber in einem im selben Jahr vom Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit herausgegebenen Heft „Frauen in der Bundesrepublik Deutschland" wird immer wieder allgemein von Gleichberechtigungsstellen des Bundes und der Länder und von Gleichstellungsstellen der Kommunen, Parteien und Betriebe gesprochen. Es bleibt abzuwarten, ob sich einer der beiden Ausdrücke als Gattungsname durchsetzen wird. Daß die einzelnen Stellen praktisch sehr unterschiedliche Namen führen, hängt teilweise sicher mit der organisatorischen Anbindung an unterschiedliche Regierungsstellen zusammen. In den offiziellen Namen der 11 Länder-Institutionen kommt nur dreimal der Begriff Gleichstellung (Bayern, Hamburg, Nordrhein-Westfalen) und zweimal Gleichberechtigung {Verwirklichung bzw. Durchsetzung der G.; Bremen, Saarland) vor; sonst sind Frauenfragen, -angelegenheiten, -politik jeweils als Aufgaben genannt. In den ersten Jahrzehnten der BRD ist in den (Grundsatz- und Wahl-) Programmen der Parteien nur selten speziell von Frauen die Rede, höchstens im Zusammenhang mit Problemen der Familie; in den letzten zehn Jahren ist es selbstverständlicher geworden, daß ein besonderer Abschnitt dem Thema „Gleichberechtigung" gewidmet ist. Hier zeigen sich, wenn man genauer hinsieht, nicht unerhebliche Unterschiede zwischen den großen Parteien bei der Verwendung von gleich-Wörtern. Bei der SPD kann dabei eine Veränderung des Wortgebrauchs festgestellt und recht genau datiert werden. In öffentlichen Verlautbarungen war bis 1975 fast nur von Gleichberechtigung die Rede; wenn Gleichstellung vorkam, so war damit nur die dynamische Funktion gekennzeichnet (ζ. B. 1952 im Dortmunder Aktionsprogramm: „Die SPD ist stets... für die Gleichstellung der Frau auf allen Rechtsgebieten eingetreten"). Erst in den Diskussionen des Mannheimer Parteitages im November 1975 und in dem dort beschlossenen „Orientierungsrahmen 1975 — 85" tritt wiederholt Gleichstellung auf, und zwar mit starker politischer Akzentuierung; auch das Sachregister des ParteitagProtokolls weist — erstmals — Gleichstellung statt Gleichberechtigung auf. Im

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Jahrbuch 1975 — 78 der SPD ist Gleichberechtigung noch Stichwort im Sachregister, obwohl im Text meistens von Gleichstellung die Rede ist (ζ. B. Regierungsprogramm 1976 — 80). Seither überwiegt Gleichstellungen allen SPD-Verlautbarungen ganz eindeutig gegenüber Gleichberechtigung (im Regierungsprogramm für die Wahl 1987 findet sich zehnmal Gleichstellung, während Gleichberechtigung ganz fehlt). Bei der CDU lassen sich in den Partei-Veröffentlichungen zwar vereinzelte Belege für Gleichstellung finden, jedoch herrscht Gleichberechtigung ganz eindeutig vor (im Grundsatzprogramm 1978 etwa kommt nur Gleichberechtigung vor, in den Leitsätzen von 1985 stehen neben 18 Belegen für Gleichberechtigung nur 3 für Gleichstellung;). Dieser Unterschied zwischen den Parteien wird bei der Sachverständigenanhörung 1982 besonders deutlich: Im Beitrag der „Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen" wird vierzigmal Gleichstellung und nur zweimal Gleichberechtigung verwendet; die „Frauenvereinigung der CDU" dagegen beschränkt sich auf das Wort Gleichberechtigung, das sechsmal erscheint. Die FDP verhält sich seit Jahren sehr konsequent und benutzt ausschließlich die Bezeichnung Gleichberechtigung, da der Begriff Gleichstellung offenbar liberalen Prinzipien widerspricht. Lediglich in den Bereichen, wo die FDP sich staatlichen Einrichtungen, die von anderen Parteien propagiert wurden, anschließt, erscheint auch bei ihr Gleichstellung (Gleichstellungsgeset% 1982, Gleichstellungsbeauftragte 1986). Auswirkungen dieser parteilichen Bevorzugung von Gleichstellung (SPD) und Gleichberechtigung (CDU) zeigen sich — wie nicht anders zu erwarten — in den Jahresberichten der Bundesregierung. Daß in den Berichten des Justizministeriums von 1972—76 jeweils rechtliche Gleichstellung der Frau im Zusammenhang mit der Ehe- und Familiengesetzgebung auftritt, hat natürlich nichts mit dem Sprachgebrauch der Parteien zu tun, sondern damit, daß hier der Verfassungsauftrag des Art. 3 II an den Gesetzgeber bezeichnet wird — es geht hier also um den dynamischen Begriff der Rechtsangleichung. In den Regierungserklärungen und in den Berichten anderer Ministerien aber erscheint seit 1975 immer wieder (wenn auch nicht ausschließlich) Gleichstellung — das ändert sich aber schlagartig mit der Bonner „Wende": Seit 1983 fehlt das Wort Gleichstellung völlig in den Jahresberichten der Bundesregierung; es ist wieder durch Gleichberechtigung ersetzt.

5. Überlegungen und Schlußfolgerungen Die Analyse des Wortgebrauchs in den juristischen Kommentaren stellte sich als relativ einfach heraus, weil jeweils entweder auf festliegende Formulierungen des Grundgesetzes oder auf klare Ausschnitte aus dem Rechtsbereich

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bezuggenommen wurde. Die klare Verwendung der differenzierenden Adjektive rechtlich und faktisch ermöglichte den Kommentatoren eine Abgrenzung der Zuständigkeit von der Nichtzuständigkeit. Hierbei war für mich in den Kommentaren das unterschiedliche Maß der Beschäftigung mit den Fragen, die außerhalb der direkten juristischen Zuständigkeit liegen, auffallend; viele ins Politische reichende Fragestellungen, die ζ. B. von Stein aufgeworfen werden, machen deutlich, wie enge Grenzen andere Kommentatoren sich und damit allen potentiellen Veränderern der gegenwärtigen Faktizität setzen. Man könnte in Versuchung sein, das merkwürdige Durcheinander bei der Verwendung von Gleichberechtigung und Gleichstellung in den öffentlichen Auseinandersetzungen mit einem unökonomischen Gebrauch zweier Ausdrücke für denselben Inhalt zu erklären und höchstens kleine unterschiedliche Nuancen durch die Akzentuierung von Statik und Dynamik zuzugeben, ansonsten aber auf die Gesetze der sprachlichen Ökonomie zu vertrauen, die schließlich dem einen oder dem anderen Ausdruck zur alleinigen Geltung verhelfen werden. Der Befund aber, daß die unterschiedliche Verwendung nicht zufällig, sondern (teilweise zumindest) in Abhängigkeit von der Zugehörigkeit der Sprecher zu bestimmten Parteien geschieht, macht eine genauere Analyse der Frage nötig, ob wirklich derselbe Inhalt gemeint ist oder ob es sich nicht doch um verschiedene Ziele handelt, die angestrebt werden, wenn von Gleichberechtigung gesprochen wird. Dabei muß berücksichtigt werden, daß zum Glück keine offizielle Sprachregelung existiert — so ist es zu erklären, daß in beiden großen Parteien auch das jeweils andere Wort noch vorkommt. Die Stimmung in der Öffentlichkeit in der BRD ist heute so ausgeprägt, daß es sich keine Institution leisten könnte, n i c h t offiziell für Gleichberechtigung der Geschlechter zu sein; dieser Zustand verhindert natürlich eine ernsthafte Diskussion und verführt dazu, Gleichberechtigung als Leerformel zu benutzen. Leerformeln aber können nicht semantisch analysiert, sondern nur in ihren Verwendungszusammenhängen untersucht werden. Dieser Schritt soll nun erfolgen. Wenn heute noch Gleichberechtigung durch die uralte Argumentationsweise, sie dürfe nur ja nicht zu Gleichmacherei führen, erläutert wird, so ist sehr deutlich eine zugrundeliegende Angst vor einer wirklichen Gleichstellung der Frau zu erkennen. Die im Parlamentarischen Rat und in fast allen Grundgesetz-Kommentaren erwähnte Warnung vor Gleichmacherei taucht im CSU-Grundsatzprogramm von 1976 ebenso auf wie bei einem CDUAbgeordneten in der Bundestags-Debatte zur Enquete-Kommission 1981 (Frau und Gesellschaft S. 158: „Gleichberechtigung statt Gleichmacherei. Die Welt wäre langweilig und wohl zum Aussterben bestimmt, wenn Mann und

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Frau wirklich gleich wären.") wie im Rechtsberatungsbuch „Meine Rechte und Pflichten als berufstätige Frau" (Köbl 109). Das Warnen vor dem Zuviel läßt eine Angst vor dem Prinzip der Veränderung der Geschlechterrollen in unserer patriarchalischen Gesellschaft erkennen; diese Haltung findet sich keineswegs nur bei Männern, sondern auch und mitunter ganz besonders bei patriarchal geprägten Frauen. Da die politische Stimmung es nötig macht, fordern die, die mit der Warnung vor Gleichmacherei argumentieren, natürlich, daß die schlimmsten Ungleichbehandlungen verhindert werden. Gleichberechtigung ist aber für sie ein Wort, das nicht ganz ernst und vor allem nicht wörtlich genommen werden darf. Auffallig ist, daß im Rahmen dieser Argumentation oft von mehr Gleichberechtigung gesprochen wird — obwohl ein Begriff wie Gleichberechtigung nicht graduierbar ist. Wenn Gleichberechtigung von der Gleichwertigkeit her definiert wird, wird ein Argumentationsmuster eingeführt, auf das schon im Zusammenhang mit den Verhandlungen im Parlamentarischen Rat hingewiesen wurde. Die Gleichwertigkeit der Geschlechter dürfte heute in unserem Lande selbstverständlich und kein Gegenstand einer Auseinandersetzung sein — das betonte Hinweisen auf die Gleichwertigkeit (ζ. B. Frau und Gesellschaft 156, 173, 186, 203) macht sich daher verdächtig als Beschwichtigungsversuch gegenüber den Forderungen nach einer Gleichstellung jenseits der rein gesetzlichen Regelungen. Diese Argumentation hat also dasselbe Ziel wie die Warnung vor der Gleichmacherei: das Verhindern des Ernstnehmens der Forderung, Frauen tatsächlich den Männern gleichzustellen. Nun hat sich in den letzten Jahren eine Verlagerung der Argumentation mit der Gleichwertigkeit ergeben: Offenbar analog zu den arbeitsrechtlichen Bemühungen, nicht nur identische oder gleichartige, sondern auch ungleiche aber gleichwertige Arbeit in tariflichen Regelungen zu erfassen (Pfarr/Bertelsmann 1981, 51 ff.), wird in politischen Programmen davon gesprochen, daß die Arbeit der Frau im Haushalt gleichwertig sein müsse der im Beruf. Der entscheidende Unterschied gegenüber dem Arbeitsrecht ist aber der, daß dort Tarifvereinbarungen die Gleichwertigkeit in Entgeltgleichheit umsetzen, während bei der Arbeit der Frau im Haushalt nur eine Gleichwertigkeit konstatiert und beschworen werden kann — es geht um eine Wertschätzung, die zweifellos für die Frau subjektiv wichtig ist, aber wenig mit Gleichberechtigung oder Gleichstellung zu tun hat. Der gleiche Befund liegt vor, wenn Gleichberechtigung heute durch das Wort Wahlfreiheit interpretiert wird. Diese Interpretation stellt sich zunächst als Versuch dar, die beiden widerstrebenden und sich scheinbar ausschließenden Gegensatzbegriffe Gleichheit und Freiheit miteinander zu verbinden — in der Tat wäre das ein bestechender Versuch.

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„Die Union versteht unter Gleichberechtigung die Wahlfreiheit zu einer Vielfalt von Lebensmöglichkeiten" (Wahlprogramm CDU/CSU 1980). Es ist hier zu bedenken, daß vor allem Frauen angesprochen werden, die zwischen Familie und Beruf wählen können sollen; und es ist zu beachten, zu welchem Zeitpunkt diese Deutung in die politische Argumentation aufgenommen wurde (Aktionsprogramm 1978 der Frauenvereinigung der CDU): Die wirtschaftliche Situation auf dem Arbeitsmarkt war allgemein bedrohlich, ganz speziell aber für Frauen, deren Arbeitslosenquote deutlich über der der Männer lag. Der Versuch, den Arbeitsmarkt zugunsten der Männer zu entlasten und den Frauen statt dessen die häusliche Arbeit als Resultat einer Wahlfreiheit schmackhaft zu machen, wobei die Gleichwertigkeit betont wird, ist arbeitsmarktpolitisch vielleicht verständlich, hat aber wieder nichts mit „Gleichberechtigung" zu tun. Im Parlamentarischen Rat, in der juristischen Literatur und in der öffentlichen Diskussion hat es eigentlich nie Zweifel daran gegeben, daß das Substantiv Gleichberechtigung nicht auf beliebige Personengruppen, sondern auf die Geschlechter zu beziehen sei; nur das Adjektiv gleichberechtigt kann auch in anderen Zusammenhängen gebraucht werden (ζ. B. gleichberechtigte Partner/Staaten). Durch verschiedene Zusätze kann bei Gleichberechtigung der Bezug auf beide Geschlechter expliziert werden (G. von Mann und Frau/von Männern und Frauen/der Geschlechter\beider Geschlechter); nicht selten findet sich die spezielle Bezugnahme nur auf die Frauen (G. der Frau/der Frauen) — das hat dann stets mit der beobachteten Wirklichkeit und den konkreten Ansätzen für eine politische Veränderung zu tun. Nur in besonderen Pointierungen und Witzen ist von der Gleichberechtigung des Mannes/der Männer die Rede. Offenbar ist bisher die Ergänzung nicht nötig, wenn der thematische Bezug deutlich genug ist. Hier tritt aber allmählich eine Veränderung ein, wie der folgende Beleg andeutet: „Die Gleichberechtigung zwischen der außerhalb und innerhalb der Familie berufstätigen Frau" (Frauen und CDU 1984). Ein Bezug zum Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 GG ist hier nicht mehr zu sehen. So erweist sich das Wort Gleichberechtigung in vielen politischen Programmen als Deckmantel für eine Argumentation, die das traditionelle Rollenverständnis der Frau fortschreibt, aber es durch neue Interpretationen neu rechtfertigt. Mit dem Wort Gleichberechtigung wird ein großer Komplex von Fragen angesprochen, die irgendwie mit der Stellung der Frau zu tun haben, wenig aber mit der sozialen Gleichheit von Männern und Frauen. Insofern ist der Versuch, Gleichberechtigung durch Gleichstellung zu ersetzen, sicher konsequent. Er geht von der Erfahrung und den in vielen Untersuchungen belegten Befunden aus, daß allein durch gesetzliche Garantien einer rechtlichen Gleichheit keine grundsätzliche Veränderung der sozialen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen erreicht werden kann, da es sich

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größtenteils nicht um Verstöße gegen Rechtsnormen handelt, wenn Frauen viele Stellungen verschlossen bleiben (vgl. Zöllner 225 f.). Gleichstellung wird aber nicht selten als punktuelles Einnehmen von Männerpositionen durch Frauen verstanden; Gleichstellungspolitik wird dann zu einem reinen Aktionismus, gegen den sich verständlicherweise sowohl viele Männer als auch viele Frauen wenden. Wenn Gleichstellung aber an die Stelle von Gleichberechtigung treten soll, so ist sehr viel mehr als punktuelle Veränderungen gemeint — es sollte dabei vielmehr um eine sehr tiefgreifende Veränderung der sozialen Struktur unserer Gesellschaft, die nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer neue und gleiche Chancen der Gestaltung der öffentlichen und privaten Belange bietet, gehen. Gleichberechtigung stand am Anfang der BRD als großer zukunftsweisender Begriff. Jetzt nach fast 40 Jahren hat er sich als nicht ausreichend zur Verdeutlichung des Ziels, die soziale Gleichheit der Geschlechter zu erreichen, herausgestellt. Die sprachliche Analyse der Verwendungsweisen konnte zeigen, wie die unterschiedlichen und gegensätzlichen Versuche, Schlußfolgerungen für die Zukunft zu ziehen, aussehen: entweder die Weiterverwendung des alten Wortes mit neuen Interpretationen, die das Festhalten am alten Zustand rechtfertigen — oder der Ersatz durch ein neues Wort, um die konstruktive Utopie einer neuen Gesellschaft zu kennzeichnen.

Literatur Beitzke, Günther, Gleichheit von Mann und Frau. In: Die Grundrechte, hrsg. v. Franz Neumann u. a. Bd. 2: Die Freiheitsrechte in Deutschland. Berlin 1954, 1 9 9 - 2 4 2 . Binder-Wehberg, Friedelind, Ungleichbehandlung von Mann und Frau. Eine soziologische und arbeitsrechtliche Untersuchung. Berlin 1970. (Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht 6). BGB = Bürgerliches Gesetzbuch BGBl = Bundesgesetzblatt BVerfGE = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Creifelds, Carl, Rechtswörterbuch. 8. Aufl. München 1986. Dann, Otto, Gleichheit. In: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. Otto Brunner u. a. Bd. 2. Stuttgart 1975, 997-1046. Dürig, Günter: Art. 3. In: Theodor Maunz/Günter Dürig: Kommentar zum Grundgesetz. Bd. 1. München 1973. DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 4,1,4. Leipzig 1949. Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, bearb. v. Klaus-Berto von Doemming u. a. Tübingen 1951. (Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart NF 1). Frau und Gesellschaft. Bericht 1980 der Enquete-Kommission und Aussprache 1981 im Plenum des Deutschen Bundestages. Bonn 1981. GG = Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. 5. 1949 Gubelt, Manfred, Art. 3. In: Ingo von Münch (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar. Bd. 1. 3. Aufl. München 1985. Klein 1957 = Klein, Friedrich, Art. 3. In: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein: Das Bonner Grundgesetz. Berlin/Frankfurt 1957.

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Klein 1983 = Klein, Franz, Art. 3. In: Bruno Schmidt-Bleibtreu/Franz Klein: Kommentar zum Grundgesetz für die BRD. 6. Aufl. Neuwied 1983. Köbl, Ursula, Meine Rechte und Pflichten als berufstätige Frau. 2. Aufl. München 1983. Pfarr/Bertelsmann 1981 = Pfarr, Heide/Bertelsmann, Klaus, Lohngleichheit. Stuttgart 1981. Pfarr/Bertelsmann 1985 = Pfarr, Heide/Bertelsmann, Klaus, Gleichbehandlungsgesetz. Wiesbaden 1985. Ramm, Thilo, Gleichberechtigung und Hausfrauenehe. In: Juristenzeitung 1968, 41 — 46; 90—94. Reich-Hilweg, Ines, Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Gleichberechtigungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 2 GG) in der parlamentarischen Auseinandersetzung 1948 — 1957 und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1953 — 1975. Frankfurt 1979. Sachverständigenanhörung am 21 ,/22. Januar 1982 in Bonn zum Thema: „Kann die Situation der Frauen durch ein Antidiskriminierungsgesetz verbessert werden, hrsg. v. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit/Bundesminister des Innern. Starck, Christian, Art. 3. In: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck: Das Bonner Grundgesetz. Kommentar Bd. 1. 3. Aufl. München 1985. Stein, Ekkehart, Art. 3. In: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1. Neuwied 1984 (Reihe Alternativkommentare). Verhandlungen = Parlamentarischer Rat. Verhandlungen des Hauptausschusses Bonn 1948/49. Bonn 1950. Wernicke, Kurt Georg, Art. 3. In: Bonner Kommentar. Kommentar zum Bonner Grundgesetz. Hamburg 1950 f. WRV = Weimarer Reichsverfassung vom 11. 8. 1919 Zöllner, Wolfgang, Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter. In: Festschrift für Rudolf Strasser. Wien 1983, 2 2 3 - 2 4 0 .

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Zu Wortbildung und Wortwahl im heutigen Werbedeutsch 1. Werbesprache und Linguistik 1.1. Die ältere Forschungsliteratur zur Werbesprache 1.2. Die neueren Forschungsansätze seit 1980 1.3. Hauptmerkmale der deutschen Werbesprache 2. Der empirische Untersuchungsteil 2.1. Materialkorpus 2.2. Arbeitshypothesen 2.3. Die angewandte Wortanalysemethode 3. Beobachtungen an unserem Wortmaterial 3.1. Komposition im heutigen Werbedeutsch 3.2. Mehrfachkomposita unter den Neologismen 3.3. (Mehrfach-)Zusammensetzung von Adjektiven 3.4. Exkurs: Das zusätzliche Hilfsmittel des Bindestrichs 3.5. Zwischenbilanz 4. Fremdwortentlehnung und Lehnübersetzung 4.1. Entlehnungen aus den Weltsprachen 4.2. Formale Integration der Entlehnungen 4.3. Zusammensetzungen mit Fremdwörtern 5. Zur Wortwahl und zur Verwendung 5.1. Textsorte „Werbesprache" 5.2. Grundstrategien der Anzeigenwortwahl 5.3. Fremdwortgebrauch 6. Zusammenfassung Literatur

1. Einleitung: Werbesprache und Linguistik Die Untersuchung von Werbesprache war einer der ersten Ansatzpunkte fachübergreifender oder „angewandter" Sprachwissenschaft auf Phänomene oder Probleme des praktischen Lebens. Seit Ruth Römers Klassiker über „Die Sprache der Anzeigenwerbung" (1968, 5 1976) wurde diese sprachliche Erscheinung bzw. deren Anteil am wirtschaftlichen Erfolg der „Werbebotschaft" immer wieder untersucht. Die entsprechend umfangreiche Literatur dazu, insbes. aus den 70er Jahren, läßt sich in diesem Rahmen nicht behandeln; lediglich eine grobe Orientierung angeben, indem man unterscheidet zwischen praktisch-hemdsärmeligen Handreichungen des Typs: „besser texten — mehr

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verkaufen" (Winterfeldt 1965) und theoretisch-linguistisch interessierten Untersuchungen der vorliegenden „werbesprachlichen Äußerungen". Die ersteren sind für den Sprachwissenschaftler wie zum Teil auch für den Praktiker meist bedeutungslos, da sie im allgemeinen beim Auflisten von „guten" Beispielen stehenbleiben, ohne eine Begründung ihrer Wahl noch den Weg dazu eingehend darlegen zu können; doch waren auch die „fachlicheren" oft nicht viel ergiebiger, da sich auch hier die Verfasser — bei aller erklärten Absicht, die Erkenntnisse in die Praxis umsetzen zu wollen — mit einer ersten Wortklassifizierung und allgemeinen Analyse der sprachstrukturellen sowie der angenommenen Sprachverwendungsprinzipien bald zufrieden gaben. Diese „Enthaltsamkeit" konnte mit der seit dem Wirtschaftswunder zunehmenden Vielfalt und Allgegenwart solcher „Werbebotschaften" (Haseloff, 1970) verschiedenster Herkunft und Intention nicht mehr beibehalten werden. Hatte sich doch auch in der Branche selbst eine allgemein anerkannte Differenzierung dieses Bereichs eingestellt in: a) (offene) Absatzwerbung oder „Reklame", wenngleich letzterer Ausdruck — bei insbes. älteren Benutzern immer noch im (abschätzigen) Gebrauch — als weniger „fein" von der Zunft gemieden wird. b) Propaganda, aus dem ursprünglich religiösen schon längst in den weltanschaulich-politischen Bereich übergetreten — obgleich die Grenzen zur Absatzwerbung fließend sind, (etwa wenn die bundesdeutschen Parteien vor den Wahlen nicht mehr ihren eigenen „Aussagen" und „Plattformen" trauen, sondern zur Erhöhung ihrer Argumentationskraft die renommiertesten Werbeagenturen anheuern) (Vgl. Krauß/Rühl 1971; Heller 1972). c) Zwischen beiden steht die Öffentlichkeitsarbeit großer Firmen — nur unscharf wiedergegeben mit „Public Relations" — sowie deren innerbetriebliches Gegenstück, die sogen. „Human Relations". Diese an der Differenzierung der Terminologie ablesbare zunehmende Relevanz führte auch dazu, daß ein wachsender Kreis von Forschungseinrichtungen sich intensiver mit diesem Phänomen beschäftigte. Am ersten und sicher fundiertesten tat dies die Betriebswirtschaft, die darin lange vor allem nur ein „Management der Nachfrage" (Galbraith 1968, 235) sah. Die Wirtschaftswissenschaft hatte auch ein legitimes Interesse an der höchstmöglichen Effektivierung dieses Instruments und insbesondere an der zugrundeliegenden psychologischen Wirkungsweise. Zu deren Kontrolle ging die betriebswirtschaftliche Werbungsforschung deshalb ein enges methodisches Bündnis mit den vor allem empirisch arbeitenden (Verkaufs-)Psychologen ein, das nach amerikanischem Vorbild auch zu einer großen Anzahl von empirischen Untersuchungen und zu einer verstärkten wissenschaftlichen Fundierung der

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Werbung führte (ζ. B. Direct Mail 1973 oder v. Holzschuher 1969, zuletzt Conen 1985). 1.1. Die ältere Forschungsliteratur zur Werbesprache Innerhalb dieser mit Werbung befaßten Disziplinen war die sprachwissenschaftliche — wie eingangs gesagt — zunächst allgemein (struktur-)linguistisch interessiert und blieb lange bei der Herausarbeitung der bevorzugten Wortklassen und Bedeutungsbereiche stehen, evtl. noch bei der verwendeten (Kurz-)Syntax sowie bei Spekulationen über die der Wirkung zugrundeliegenden psychologischen Prinzipien, wie schon die wiederholten Neuauflagen des ζ. T. heftig kritisierten Buches von Römer ( 5 1976) beweisen. Die ausführlichste Darstellung und kompetenteste Kritik der verschiedenen linguistischen Ansatzrichtungen, ihrer zeitlichen und methodischen Abfolge und last not least der Leistungen ihrer wichtigsten Vertreter stammt aus der Feder von W. Brandt: In seinem „operationalen Beschreibungsmodell" von 1973, noch dezidierter aber in seinem Forschungsbericht in der „Zeitschrift für Germanistische Linguistik" 7 (1979). Besonders in letzterem ist zu sehen, wie in den auf R. Römer (1968) folgenden Forschungsphasen ab Anfang der 70er Jahre nacheinander die Innovationen im Bereiche der Fachlinguistik — wie der pragmalinguistische, etwas später der semiotische sowie der diskursiv-kommunikative Ansatz — auch auf die Werbesprache und ihre Untersuchung angewandt wurden. Und obgleich die Kommunikationssituation — zumindest bei der üblichen Medienwerbung — meist nur gespielt wird und die Werbemitteilung günstigstenfalls eine typische „Einwegkommunikation" darstellt, wurde sie mit dem kommunikationswissenschaftlichen Instrumentarium beschrieben und analysiert; ebenso wurde bei der nächsten, als „semiotisch" anzusetzenden Analyserichtung die Verteilung der angenommenen Kommunikationsvorgänge auf linguale und paralinguale Kanäle (insbes. den durch Illustrierte und Fernsehen eröffneten optischen) untersucht und Beschreibungsverfahren der Semiotik wurden verstärkt, wenn auch keineswegs immer erhellend herangezogen. Diese ständig erweiterten interdisziplinären Ansätze, die Textsorte (Wirtschafts-) „Werbetext" — aber auch die mit ähnlichen Sprachmitteln arbeitende weltanschaulich-religiöse und politische Propaganda — möglichst umfassend zu beschreiben, führten dann in den späteren 70er Jahren zu verschiedenen, diese Einzelansätze integrierenden Modellen. Mit deren Hilfe sollten das der Werbung zugrundegelegte Kommunikationsschema, die darin verwendeten verbalen und nonverbalen Mittel sowie die dabei stattfindenden semantischen Vorgänge möglichst vollständig erfaßt und systematisch abgebildet werden. Am weitesten ist dieser Ansatz zu einer umfassenden Operationalisierung von W. Brandt 1973 selbst in seinem „9-Elemente-Modell" zur sprachlichen

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wie außersprachlichen Analyse von Werbung vorgetrieben worden — ohne in der folgenden Literatur die allgemeine Anerkennung und Anwendung zu finden. Die Behandlung des lange noch ausgesparten pragmatischen Aspekts der „geplanten öffentlichen Kommunikation zum Zweck einer ökonomisch wirksamen Information, Persuasion und Entscheidungssteuerung" (Haseloff 1970, 158) holte ganz aus der Sicht des Konsumenten eine am ehesten als „didaktisch-emanzipatorisch" zu umschreibende Richtung von Germanisten und Pädagogen nach. Sie sahen Werbung und ihr Kommunikationsmittel Sprache dabei vor allem als „Spiegelung ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Zustände und Machtverhältnisse". In ihren engagiertesten Vertretern verengt sich dieser ideologiekritisch/erzieherische Ansatz so sehr, daß sie Werbung nur noch gelten lassen als „Mittel, um diesen Zusammenhang aufzuzeigen und die vorausgegangene sozioökonomische und politologische Systemanalyse und -kritik zu veranschaulichen und zusätzlich zu bestätigen" (Brandt 1979, 67 f.). Für diese sich selbst als „emanzipatorisch" verstehende Richtung war „Werbung das Mittel, die Subjekte, die als Produzenten bereits den Erfordernissen der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen sind, nunmehr als Konsumenten stärker diesen Erfordernissen anzupassen", wie Hauswaldt-Windsmüller (1977, 103) das auch anderen Didaktikern (ζ. B. Bödeker 1971, Bürger 1973, Kemper 1974 oder sehr nahe in der Haltung: Januschek 1974, Günther 1975) bereits aufgefallene „Manipulations-Potential" klassenkämpferisch formuliert. 1.2. Die neueren Forschungsansätze seit 1980 Diesem Boom an linguistischer Literatur, aber auch an Hochschulveranstaltungen zur Werbung in den 70er Jahren, folgten in den 80ern bislang nur relativ wenige Monographien — obgleich das Phänomen selbst kaum an Relevanz eingebüßt haben dürfte. So sind zur Fortsetzung von W. Brandts Forschungsbericht nur relativ wenige Titel nachzutragen. Allgemein läßt sich vorausschicken, daß wieder eine deutliche Hinwendung zur stärker linguistischen Betrachtungs- und Forschungsweise festzustellen ist, wie sie Brandt 1979, 79 f. auch bereits gefordert hatte: Den Auswirkungen der offensichtlichen engen Verbindung der deutschen Werbung(-sindustrie) mit dem US-Englischen ging detailliert H. R. Steinbach (1984) in seiner Untersuchung „Englisches im deutschen Werbefernsehen" nach; er konnte nicht nur weitgehend die Ergebnisse der vorausgegangenen ähnlichen Arbeit von Fink (1978) über die Prestigefunktion des Englischen bestätigen, an der die Werbe- wie die Schlager-Texter nicht vorbeigehen zu können glauben; die auch als wertvoller Beitrag zur „Kontaktphilologie" zu wertende Dissertation bestätigte die Rolle der Werbung als eines der

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Haupteinfallstore für (vor allem englische) Fremd- und Lehnwörter sowie die — meist als solche kaum mehr erkennbaren — Lehnbildungen nach fremdem Vorbild im Deutschen. Auf Grund dieser und ähnlicher Beobachtung läßt sich behaupten, daß die fremdsprachlichen Elemente außer durch Fachsprachen wie die der Politik oder Wirtschaft vor allem durch die Werbung in die öffentliche Rede der Bundesrepublik hineingetragen und diese immer stärker davon durchsetzt wird. Die alte Frage, was das Spezifische des „guten" Werbetextes/-slogans ausmache, wurde wieder — und zwar von Seiten der romanistischen Stilforschung — aufgenommen. P. Blumenthal setzte 1983 mit seiner primär literaturwissenschaftlich orientierten Untersuchung der „Semantischen Dichte. Assoziativität in Poesie und Werbesprache" die verschiedenen semantisch-heuristischen Ansätze der 70er Jahre mit einem interessanten stilistischen Forschungsansatz erfolgreich fort: Ausgangspunkt ist eine der antiken Rhetorik verpflichtete Analyse der jedem komplexeren (literarischen wie Werbe-)Text innewohnenden „semantischen Relationen", die sich entweder „syntagmatisch" (d. h. i m Text als „Opposition", „Ähnlichkeit" und „Kontiguität") oder a u ß e r h a l b desselben „paradigmatisch" (ζ. B. als Polysemie oder Metapher) äußern. Dadurch und mit Hilfe der Unterscheidung, ob vorhandene Relationen nur „benutzt" oder aber neue „geschaffen" werden, gibt Blumenthal (1983, 21) ein brauchbares Instrumentarium für eine stilistische Analyse, „assoziationsreicher Texte". Zu deren typischsten Vertretern zählt Blumenthal 1. Lyrik und 2. (Werbe-)Slogans. Deren ästhetische bzw. pragmatische Wirkung liegt für ihn „zweifellos darin begründet: „Assoziationsreiche Texte mobilisieren Gedächtnis und Lernfähigkeit des Hörers ... sprechen mehr Bewußtseinsinhalte an, werden als semantisch intensiver empfunden." (P. Blumenthal 1983, 1). Obgleich er die Skepsis der (System-)Linguisten an der Objektivität oder gar Meßbarkeit seiner „semantischen Dichte" nicht auszuräumen vermag, kann er doch mit seinem Modell so heterogene Texte wie Ch. Baudelaires „Les Chats" und französische Parfumreklame vergleichend beschreiben und deren „Dichte" überzeugend klarmachen. Die Beschränkung auf die Semantik so „hochkonzentrierter", von der Alltagssprache wie der Alltagswerbung weit entfernter Textbeispiele und der methodisch umfassendere Ansatz machen das Buch zu einer Fortsetzung von Möckelmann/Zanders Untersuchung „ F o r m und Funktion des Werbeslogans" (1970, 3 1975); der allerdings nicht durchgängig operationalisierbare Ansatz zu einer Quantifizierung von Semantik erinnert stark an den etwas umständlichen Klassifikationsversuch „Die Wirksamkeit von Texten" von Teigeier (1968). Besonders herauszuheben ist auch die Einarbeitung der klassischen französischen Beiträge zur Deutung der „Reclamesprache" in die deutsche Literatur. Eine der letzten größeren Arbeiten zu unserem Problemkreis ist P. W. Langers Anwendung der jüngsten textologischen Untersuchungs- bzw. Be-

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schreibungsmethode auf Werbetexte in einer „Strukturellen Analyse verbalvisueller Textkonstitution in der Anzeigenwerbung" (1985). Auch hier wird die Werbesprache wieder, und zwar einschließlich ihrer starken visuellen Komponente, in die Reichweite der linguistischen Semiotik einbezogen (vgl. dazu auch die empirische Untersuchung von D. Conen, 1985). Solide Philologie, noch dazu historisch interessierte, sind P. Stolzes „Untersuchungen zur Sprache der Anzeigenwerbung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts" (1983). Hier wird die nun schon fast traditionelle linguistische Forschung auf diesem Gebiet um eine neue, historische Komponente bereichert und somit erstmals die Möglichkeit zum diachronen Vergleich heutiger Stil- und insbes. Wortbildungseigenheiten der Werbesprache mit solchen früherer Perioden eröffnet. Die nicht nur sprachgeschichtlich aufschlußreiche Untersuchung kann auf Grund ihres reichhaltigen Materials nachweisen, daß die in den ersten beiden Kapiteln von Römer zuerst ermittelten formalen Eigenheiten des heutigen Werbedeutsch, insbes. hinsichtlich der Wortkomposition, bereits seit langem wirksam und offenbar ein dem Deutschen inhärentes Merkmal sind. Mit unserer Arbeit wird wieder die systemlinguistische, ja philologische Sicht und Methodik an die Werbesprache herangetragen — ein Desiderat, das aus Punkt 2 von W. Brandts (1979, 80) gegen die „entfernung von der Sprache" aufgestelltem Aufgabenkatalog hervorgeht („Wiederaufnahme der empirischen erforschung der werbesprache"); etwas konkreter noch aus seiner Forderung, „anzeigen in fachzeitschriften und in der lokalpresse" stärker zu berücksichtigen, denn „gerade aber der vom einzelhandel und örtlichen dienstleistungsbetrieben bevorzugte typ, der die lokalpresse beherrscht, müßte überschlägig an den Werbeumsätzen und der erreichten leserzahl gemessen in der materialbasis einer arbeit zur anzeigen-werbung ... mehr ... berücksichtigt werden" (W. Brandt 1979, 70). 1.3. Hauptmerkmale der deutschen Werbesprache Bevor wir in unserem zweiten Teil dieser Forderung nachkommen, sei als Abschluß dieses Forschungsumblicks die Summe zitiert, die in einem jüngst erschienenen Handbuch für den Praktiker aus der „seit einiger Zeit relativ intensiven linguistischen Beschäftigung mit der Werbung" gezogen wurde — wiewohl nach derselben Quelle „die Linguistik noch weit entfernt von einer umfassenden und erschöpfenden Analyse" eingestuft wird. Trotz dieser Reserviertheit gibt P. Schifko (1982) in dem zweibändigen Handbuch „Werbung" von B. Tietz unter dem Titel „Die Werbetexte aus sprachwissenschaftlicher Sicht" (S. 982 — 96) einleitend dann bei aller Knappheit die jüngste und instruktivste Charakterisierung der deutschen Werbesprache. Ausgehend von der Feststellung „Es gibt keine Werbesprache im Sinne einer eigenen Variante natürlicher Sprachen wie Dialekt, Soziolekt oder Stilregister" folgt doch eine

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konkrete Beschreibung jener Merkmale, die diese Textsorte ausmachen und sie auch für den Laien kenntlich von den übrigen Sprachvarianten des Deutschen eindeutig absetzen. Dabei kehrt er mit seiner Auflistung der auffälligsten qualitativen und quantitativen Merkmale und Abweichungen hinsichtlich Wortwahl, Sprachfiguren oder bevorzugten syntaktischen Konstruktionen, durch die sich Werbetexte von anderen Texten unterscheiden, wieder zu einem intralingualen, deskriptiv-statistischen Beschreibungsverfahren der Anfange zurück. Danach finden sich diese „Charakteristika" der Werbetexte auf allen (3) Sprachebenen, der Text-, Satz- und der Wortebene; ohne auf den darin anklingenden Widerspruch zu der obigen Feststellung, daß sie trotzdem kein „Stilregister" ausmachten, näher einzugehen, seien diese Merkmale hier zum besseren Verständnis unseres späteren, auf die Wortebene beschränkten Materials stichwortartig vorausgeschickt: Werbesprachliche Eigenheiten auf der Textebene: Eigenwillige Grammatik (bis hin zu Verstößen gegen die grammatikalische Norm); Bevorzugung des Sprechakts der Persuasion (und ihm dienender Elemente wie Kürze und Prägnanz); bewußter Einsatz von Konnotation und Assoziation, häufige Verwendung klassischer „rhetorischer Figuren" wie Hyperbel, Parallelkonstruktion u. a. m. Diesen entsprechen auf der Satzebene die der komplexen persuasiven Absicht dienenden Konditional-, Final- und Kausalsatzkonstruktionen — bei ausführlicherer Argumentation; sonst aber auch das Gegenteil: kurze Imperativsätze und anteilheischende Fragen sowie Interrogativsätze zur Erregung und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit. Die Entsprechungen sind auf der Wortebene: Auffällige Vorliebe für Substantive und Adjektive — kaum dagegen Verben; Adjektive erscheinen oft im Superlativ; bevorzugt werden Adjektive zur laudativen Charakterisierung, ζ. B. solche mit prestigehaften Konnotationen, was insbesondere auch für die häufigen Fremdwörter anzunehmen ist.

Natürlich ist mit dieser im Original noch längeren Auflistung auch für den eingeschworenen Praktiker, ganz zu schweigen vom Linguisten, die Beschäftigung mit den Werbetexten auch nicht im entferntesten erschöpft; für ersteren stellt sich hier die Aufgabe der empirischen Uberprüfung des „Ankommens" dieser sogenannten (Anzeigen-)Werbesprache. Der Aufwand beispielsweise zur Entwicklung von einfach anwendbaren Tests und Meßverfahren zur Ermittlung der Effektivität der diversen sprachlichen Kodierungsweisen ist groß: er kann nur durch Schlagwörter wie „Aufmerksamkeits-, Behaltens- oder Erinnerungsmessung" (ζ. B. von Markennamen oder Slogans) hier angedeutet werden (vgl. Möckelmann/ Zander 1975; sowie zuletzt und erweitert: D. Conen, 1985).

2. Der empirische Untersuchungsteil Aus der Fülle der vielen linguistisch interessanten Aspekte der Werbesprache sollen im folgenden zwei relativ einfache behandelt werden, die wegen der bevorzugten semantischen, pragmatischen oder sozialkritisch-emanzipatori-

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sehen Forschungsrichtungen außer Sicht geraten waren: Wortbildung und Wortwahl als die kleinsten und offensichtlich auch augenfälligsten Bausteine der Werbesprache. Aus deskriptivistischer Sicht gefragt: Welches sind heute (noch) die typischen/bevorzugtesten lexikalischen (und die unmittelbar darauf aufbauenden stilistischen) Elemente der Werbesprache? Noch spezieller: Mit welchen Mitteln verschafft sie sich ζ. B. die immer wieder in diesem Anwendungsbereich besonders häufig erforderlichen Neologismen? In welchem (abweichenden?) Verhältnis stehen diese werbesprachlichen Neologismen zur „Allgemeinsprache"? Dank der durch Stolze (1983) eröffneten historischen Perspektive ist es sogar möglich zu fragen: Hat es Veränderungen seit den Anfängen der (modernen) Werbung auf diesem Gebiet gegeben? Oder anders formuliert: Wie — wenn überhaupt — wirkten die modernsten Kommunikationsmittel und pragmalinguistischen Bedingungen und die Erkenntnisse darüber sich (schon?) auf die praktische Werbetextgestaltung von heute aus? 2.1. Das Materialkorpus Dieser Fragenkatalog, der hier natürlich nicht in Gänze beantwortet werden kann, deutet die Ergiebigkeit der Beschäftigung mit Werbetexten an, insbesondere wenn auch Brandts Anregung zu einer repräsentativeren, auch zeitlich näheren Materialbasis Rechnung getragen wird. Diese Erweiterung der bisherigen Basis empirischer Untersuchungen geschieht durch Einbeziehung, ja bevorzugte Exzerption der besonders konsumentennahen „alltäglichen Werbung", d. h. der kleineren Inserate in der lokalen Presse, noch mehr aber derjenigen in den unentgeltlichen Stadtteil- und Kundenzeitungen sowie aus den zusätzlichen Werbeeinlagen und Prospekten in Tageszeitungen und schließlich den Postwurfsendungen. Diese in der älteren Literatur noch kaum behandelten — weil früher noch weithin unbekannten — 2 —8seitigen „Flugblätter" werden meist von örtlichen Einzelhändlern und Handelsketten in oft sehr großer Zahl (ζ. B. Praktiker Baumarkt: 5 Mio.-Aufl.) kostenlos verteilt — nicht immer zu ungeteilt freudiger Aufnahme bei den Adressaten, denen sie „die Briefkästen verstopfen" — wie eine nicht seltene Reaktion lautet. Um auch hier in einem überschaubaren Rahmen zu bleiben, wurde dieses Genre von Werbeanzeigen noch einmal beschränkt auf die im Frühjahr besonders bunten Produkte von Groß- und insbes. Baumärkten und einschlägige Inserate der Tagespresse; dadurch engt sich auch der Bereich dessen, für was geworben wird, ein auf: Baumaterialien, Werkzeuge für Selbermacher, aber auch höherwertige (elektrische) Konsumwaren und Kleinmöbel, vor allem aber alles für Freizeit(-Mode), Spiel und Sport (Geräte für den Garten, die Autopflege etc., Kleinmöbel) von den Werbern für notwendig Erachtete.

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Damit ist „Werbealltag und -durchschnitt" in jeder Hinsicht erfaßt und nicht nur die bekannten hochkarätigen Kampagnen berühmter Agenturen (ζ. B. für Autos oder Parfüms), wie sie in auflagenstarken Illustrierten wie „Hör zu", „Stern" u. ä. oder im Werbefernsehen zelebriert werden. Dieser von uns hier betrachteten, sehr verbrauchernahen schriftlichen Kundenwerbung in ihrer Hemdsärmeligkeit ist im Bereich der elektronischen Medien noch am ehesten die in den jungen privaten Sendern oft recht witzige Rundfunkwerbung an die Seite zu stellen. Die im folgenden herangezogenen Belegbeispiele entstammen solchen Serien von Werbeanzeigen, die Ende März/Anfang April 1987 im Münchener Raum verteilt wurden. Aus diesem Korpus wurden rd. 300 Wortbeispiele exzerpiert; zu 2/3 Substantive und Adjektive und nur wenige anderer Wortarten; auf eine exakte statistische Auswertung wurde aus Zeitgründen verzichtet, da sie überschlagsmäßig bereits den von Sowinski (1975, 110) mitgeteilten Zahlenwerten der Komposita entsprechen; zweigliedrige 67%, dreigliedrige 28%, viergliedrige 9%, fünf- und sechsgliedrige 0,7%. Auswahlkriterien waren: — Der Eindruck der „Neuheit", der durch stichwortartigen Vergleich mit den wichtigsten (Fremd-)Wörterbüchern wie Duden, Wahrig, Klappenbach erhärtet wurde; — „Auffällige", d. h. von der deutschen Regelorthographie (Duden) abweichende Schreibung, insbes. hinsichtlich Zusammen-/Getrenntschreibung und Verwendung des Bindestrichs. Anhand dieses in den oben angegebenen Grenzen als repräsentativ anzusehenden Materials sollten folgende Gesichtspunkte verfolgt werden: 2.2. Arbeitshypothesen — Überprüfung, inwieweit die an der „hochwertigen" Anzeigenwerbung herausgearbeiteten Charakteristika wie Nominalstil, Kurzsyntax, Fremdwortvorliebe oder Neuwortschöpfung in die „Trivialwerbung" übernommen wurden, — insbesondere inwieweit die im Deutschen vorherrschenden Wortbildungsweisen (wie Zusammensetzung, -bildung oder -rückung, Konversion, Kürzung oder Rückbildung) bei dem ständigen Bedarf an Neologismen dafür genutzt oder gar noch weiter vorangetrieben wurden. — Eventuell Beobachtungen in diachroner Hinsicht, wie sie durch die schon erwähnte historisch-linguistische Arbeit von Stolze (1983) möglich wurden. Dessen Beschreibung der Anfänge der deutschen Werbesprache im 18. Jh. ergibt eine historische Kontrastfolie bereits für die Untersuchungen von Römer aus den frühen 60er Jahren; gegenüber diesem Zeitraum von 150 Jahren sind die seit R. Römer verstrichenen 2 Jahrzehnte bis zu

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unseren heutigen Beispielen natürlich nur wenig; ein eventueller Vergleich zwischen diesem und unserem Material ist aber dennoch durch die Akzeleration gerechtfertigt, mit der sich die Werbung seit ihren Neuanfangen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten insbes. in optisch-technischer Hinsicht weiterentwickelte. — Die Frage nach den (heute fast ausschließlich englischen) Lehnwörterzugängen oder — linguistisch fast noch spannender — nach den Lehnnachbildungen und deren formaler — phonologischer wie morphologischer — Integration in das heutige deutsche Sprachsystem. Obgleich auch „typische" Sätze aus den Anzeigen ausgezogen wurden, die selbst bei diesen kurzen schriftlichen Anzeigentexten die „Werbesyntax" und „Rhetorik" verraten, wurden diese Materialien nur gelegentlich im Rahmen dieses Aufsatzes verwendet. 2.3.

Die angewandte Wortanalysemethode

Mit der Nennung von Römer (1968/51976) und Stolze (1983) sind - trotz des zeitlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Abstands — auch die brauchbarsten methodischen Vorbilder für unsere ungleich bescheidenere Untersuchung genannt; insbesondere deren implizite Verwendung der gängigen Wortbildungsmodelle von Fleischer und Henzen wird als bewährt übernommen, wo nötig ergänzt durch Peter v. Polenz (1973), Erben (1975), Wellmann (1984); ferner Fleischer/Stepanowa (1986). Ungeachtet weiterer Differenzierungsmöglichkeiten kann die Bildung bzw. Schaffung von (neuen) Wörtern im Deutschen heute grundsätzlich auf folgenden 5 Wegen erfolgen: — (1) Komposition oder Zusammensetzung aus freien Morphemen/ Wortkernen, die ihrerseits bereits zusammengesetzt sein und so mitunter längere Wortketten bilden können. — (2) Derivation oder Ableitung von neuen Wörtern mittels angefügten wortartspezifischen Suffixen (z. B. -ung, -heit, -keit, etc. für Substantive; -en, -ein für Verben) oder — von manchen Autoren als Präfigierung eigens angesetzt — durch Herantreten von Präfixen (wie ge-, ver-, %er-) an Verben oder (un-, in-) vor Adjektive. — (3) Konversion oder Wortartenwechsel, bei dem ein Vertreter einer Wortkategorie unter geringen formalen Modifikationen in eine andere übertreten kann (ζ. B. deverbative Substantive wie Berühren verboten oder desubstantive Verben: hamstern). — (4) Kürzung als Gegenmaßnahme zu allzu großen Auswüchsen von (1), wobei Kopfformen (ζ. B. Ober(-kellner)), Schwanzformen (ζ. B. (Regen-)Schirm) oder Ellipsen (ζ. B. Bier(-glas-) deckel oder Kr(aftfahrr)ad) entstehen; die extremsten Kurzformen sind die Initial Wörter vom Typ: P(ersonen)K(raft)W(agen) oder Fl(ug%eug)a(bwehr)k(anone). — (5) Zusammenrückungen/ -bildungen (auch Juxtaposition) „Wortbildung im weiteren Sinne" (v. Polenz 1973, 146), bei denen die Grenze zur (syntaktischen) Idiomatik erreicht wird und Wörter „z. T. durch die Suggestionskraft der orthographischen Zusammenschreibung" entstehen: ζ. B. Heilige Schrift, blaumachen, Auto fahren / radfahren — aber auch ζ. B. tiefblau, feuerspeiend, schwerbeschädigt und Neubildungen wie Zwei-Familien-Η aus, Patient-Ar^tVerhältnis oder Holterdipolter, Kehraus u. a.

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In einem noch weiteren Sinne gehört zu diesen Mitteln zum Ausbau des Wortschatzes einer Sprache auch noch — (6) die Entlehnung oder Übernahme von „fertigen" Lexemen aus anderen Sprachen; diese finden sich teils als formal auffalligeres „Fremd-" oder als morphophonemisch integriertes „Lehnwort" teils auch als für den Laien unkenntliche „Lehnübersetzung" (vom Typ skyscraper > dt. Wolkenkratzer).

3. B e o b a c h t u n g e n an u n s e r e m W o r t m a t e r i a l In u n s e r e m e x z e r p i e r t e n W o r t g u t ist v o n diesen sechs prinzipiellen M ö g l i c h keiten z u r V e r g r ö ß e r u n g des W o r t s c h a t z e s die h ä u f i g s t e z w e i f e l l o s die K o m p o s i t i o n , die echte „ Z u s a m m e n s e t z u n g " v o n S u b s t a n t i v e n zu einem n e u e n Wort. 3.1. K o m p o s i t i o n im heutigen Werbedeutsch D i e bei w e i t e m g r ö ß t e Z a h l u n s e r e r N e o l o g i s m e n ist a u f Z u s a m m e n s e t z u n g z u r ü c k z u f ü h r e n , am h ä u f i g s t e n a u f die v o n z w e i o d e r m e h r H a u p t w ö r t e r n — d o c h sind auch K o m b i n a t i o n e n u n t e r B e t e i l i g u n g d e r a n d e r e n W o r t a r t e n g u t v e r t r e t e n : so f i n d e n sich Belege in unterschiedlich g r o ß e r , hier k e i n e s w e g s v o l l s t ä n d i g a n g e f ü h r t e r Z a h l f ü r alle der f o l g e n d e n K o m p o s i t i o n s t y p e n : 3 . 1 . 1 . S u b s t a n t i v als G r u n d w o r t 1) modifiziert durch ein weiteres Hauptwort als Bestimmungswort des Grundtyps Ni + N2 —• S(Nt · N2) ζ. B. Rollenliege, Eckvitrine; dieser Typ wird stark dadurch variiert, daß Ni bereits aus 2 oder 3 Elementen (meist Nomina) zusammengesetzt ist, so daß Substantivzusammensetzungen von bis zu 6 (Haupt-)Wortelementen zustande kommen können: ζ. B. Gelenkarmmarkise S((Ni + N2) · N 2 ) oder Vollkunststofftisch S((A · Ni ; N2) · N2) oder Flüssig-Kunststoff-Zementlack S((A · (Ni · N2 )i · (Ni • N2 » ) . 2) modifiziert durch ein oder mehrere Adjektive als Bestimmungswort(teil): (A) + A + Ν —*• S(Ai · A2 • Ν), ζ. B. Hochwert, Kaltraum; Senkrecht^aun, oder — wenngleich viel seltener — 3) modifiziert durch ein Verb V + Ν S(V · Ν) ζ. B. Abbrechmesser, Wohnwand. 3 . 1 . 2 . A d j e k t i v als G r u n d w o r t 1) modifiziert durch ein oder mehrere Substantiv(e) als Bestimmungswort vom Typ (Ni) + Ν(2) + A Α((Νι) · Ν(2) · Α), ζ. Β. formstabil, hangtauglich, kleinastig, alu-kaschiert, küchenfertig, bauartgenehmigt, wasserdampfdurchlässig, asbest-, g i f t - , PC Ρ- und lindanfrei 2) modifiziert durch ein Verb vom Typ: V + A A(V · Α) ζ. B. einhängefertig, flüsterleise, paßgenau 3) modifiziert durch ein weiteres Adjektiv; Grundtyp Αι + A2 A(Ai · A2) ζ. B. starkhalmig, superflach, spe^ialgeschärft, vollwaschbar, auf- und abrollbar. 3 . 1 . 3 . V e r b als G r u n d w o r t Z u s a m m e n s e t z u n g e n m i t V e r b e n als G r u n d w o r t sind relativ selten, n o c h a m h ä u f i g s t e n sind sie 1) modifiziert durch ein oder mehrere Nomina: vom Typ Ni ( + N2) + V Ρ VC-ummanteln;

V(N -V) ζ. B.

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2) modifiziert durch ein Adjektiv: vom Typ A + V - » V(A · V) ζ. B. hartvercbromen 3) modifiziert durch ein weiteres Verb vom Typ Vi + V2 —• V(Vi + V2) ζ. B. schlagbobren

3.2. Mehrfachkomposition unter den „Neologismen" Die so aus unserem Material zu belegenden Grundtypen der Komposition der verschiedenen Wortarten rangieren unter den „Neologismen" unseres Materials weit vor anderen Möglichkeiten zur Schaffung neuer Wörter. Besonders auffallig ist die große Wiederholungshäufigkeit dieser Möglichkeit in unserem Material: Es finden sich zwei bis — je nach Schreibweise — sechs/ sieben Wörter, die nicht immer nur okkasionell zu einem neuen Hauptwort zusammengesetzt und meist auch zusammengeschrieben werden. Daneben sind alle anderen der obengenannten Wortbildungsmöglichkeiten zur Schaffung des Neuwortschatzes ebenfalls genutzt worden. So finden sich gute neuere Beispiele dafür, daß die hauptsächlichsten Adjektivsuffixe unverändert wirksam sind: -bar: nicht nur tragbar(e elektronische Typenradmaschine) oder auch klappbar oder abklappbar(er Tisch), mehrfachverstellbar und (einzeln) wählbar(e Schalter); diese Adjektive gehen auch weitere Zusammensetzungen ein: ζ. B. höhenverstellbar, auf- und abrollbar, dreh- und schwenkbar etc.; -beständig: wasser-, wetterbeständig(er Kunststoff); -entlastend: kreislaufentlastend; - f e r t i g : küchenfertig(es Gemüse), einhängefertigfe Türe); - f e s t : torsionsfest, wetterfest, wasch-jspülmaschinenfest, sogar: standfest(er Doppel(rad)Ständer); - f r e i : asbest-, g i f t - , PCP- und lindanfrei, korrosionsfrei; -gesteuert: (funkfern)gesteuert.

Nicht minder gut ist aus unserem Material die Präfigierung zu belegen, mit der spezielle Fachverben gebildet werden, ζ. B. ummanteln. Ebenso wird der Wortklassenwechsel, die sogen. „Konversion", zur Neuwortkreierung verwendet; ähnlich wie in dem darin noch großzügigeren Englischen ist sie besonders oft bei Wortentlehnungen angewendet, um diese besser in das deutsche Morphologie-System einzugliedern: So wenn etwa die geographischen Bezeichnungen der Inseln Bahama und Bermuda ohne die Zusätze -beige, -blau klein geschrieben als Farbadjektive auftreten oder das denominative Adjektiv geperlt (im Sinne von gekörnt) gebildet wird. Besonders viele Beispiele finden sich für die Wortkürzung — zu der man bereits die gerade genannten Farbbeispiele zählen kann; als Extremformen wären die als notwendige Gegenmaßnahme zur Wortanhäufung in der Komposition bekannten Beispiele der technischen Abkürzungswörter wie Ρ VC, HiFi zu nennen, die auch aus unserem Material häufig anzuführen sind. Unsere Beispiele belegen alle obengenannten Wortkürzungsmöglichkeiten des Deutschen: Kopfformen, wie ζ. B. Profi < Professional)-eil; Vario < Variation; Video < Videorekorder, -kassette; (der) Ballerina(Schuh), ähnl. (der) Flamenco (Schuh), (der) Strickf Pullover).

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Schwanzformen: (Liegen-)Auflage, (der Material-)Μix, (Möbel)Set-Ersparnis; Ellipsen: bei denen das Mittelteil ausgelassen wird: ζ. B. Süßwassercollier < len )collier, Garten(möbel)gruppe, Piccolo(möbel)set, Doppel(rad)ständer.

Süßwasser(per-

Weitaus am produktivsten ist aber die „Zusammenziehung oder -bildung", die als „Wortbildung im weiteren Sinn" (v. Polenz) von der Zusammensetzung oder Komposition nicht eindeutig zu trennen ist. Die Zusammenschreibung, von Duden u. a. als Kriterium empfohlen, ist gerade im Bereich der Werbesprache als Kriterium untauglich: die Verwendung des Bindestrichs wird — wie unten noch zu zeigen sein wird — von den Textern sehr freizügig verwandt: nicht nur für eindeutige Juxtapositionen wie ζ. B. Geld-^urückPreis, Frei-Η aus-Lieferung oder Drei-Weg-Autoeinbaulautsprecher, sondern auch umgekehrt und abweichend von der Dudennorm zur Getrenntschreibung eindeutiger und allgemeinnützlicher Komposita wie Damen-Schuhe oder Damen-Handtasche mit dem unverkennbaren Zweck der Heraushebung. 3.2.1. Mehrfachkomposita von drei bis fünf/sechs Gliedern Sie herrschen bei weitem unter unseren Neologismen vor mit ca. 60%; unter den mehr oder minder festen „Neuwörtern" bilden die 3- bis 4gliedrigen die relative Mehrheit. Am häufigsten sind zweigliedrige Substantivzusammensetzungen, weniger häufig Adjektivkomposita in den von uns untersuchten Texten anzutreffen — was so den allgemeinen Verteilungsverhältnissen im deutschen Wortschatz entsprechen dürfte. 3.2.2. Zweigliedrige Substantivkomposita — (1) Sie sind als reine Substantivzusammensetzungen durch den Typ Ni + N2 S(Ni N2) am häufigsten vertreten, ζ. B. Eckvitrine, Einsat^werk^eug, Faltenkoffer, Heimwerker, WC-Sitζ, Abriebgruppe, Uhrenradio, LüftungsholÖl-Killer, Komplett-Set, Kaffeeautomat.

Weniger häufig ist das — (2) Adjektiv als Bestimmungswort vom Typ Α + Ν —• S (A • Ν) ζ. B. Feuchtraum, Senkrecht%aun, Rechteckrohr. — (3) Verbum als Bestimmungswort vom Typ V + Ν S(V · N). Auffallend ist das Fehlen jedes Fugenelements, was die vor allem bei modernem Fachwortschatz anzutreffende Zusammensetzung als jung ausweist, ζ. B. Bohrschleifer, Abbrechmesser, Auslegeware, Kletterleiter, Rolliege, Wohnwand. — (4) Andere Wortarten als Bestimmungswort: ζ. B. Pronomina etc. ζ. Β. Ρ + Ν S(P · Ν) ζ. Β. Selbermann, Selbermacher.

3.2.3. Dreigliedrige Substantiv-Komposita Sie treten am häufigsten auf als — (1) Hauptwortreihung vom Typ Ni + N2 + N3 -* S((Ni • N2) · N3) ζ. B. Flügelwäschetrockner, Zimmertürdrücker, Gartenbauschwellen, Kesseldruckverfahren, Druckerhöhungsanlage, Gummifederachse.

Aber ebenso können anstelle eines der vorderen Glieder auch Vertreter anderer Wortarten eintreten.

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— (2) Adjektiv an erster/zweiter Position ergibt den Typ S((A · Ni) • N2) z. B. Kurt^reisekoffer, Hochwertqualität; ebenso Ubergangs- oder Mischformen unter Beteiligung weiterer Wortarten; am häufigsten Verben: S((A · V) · Ν) ζ. B. Feinbohrschleifer, Schnellwechselsystem, oder S (Ni • V • N2) wie ζ. B. Hammerbohrleistung, Sicherheitsabschleppstange.

3.2.3. Viergliedrige Substantivkomposita Sie treten umgangssprachlich nur selten und bei Stolze noch kaum auf; in unserem, die Neuerungen widerspiegelnden Material sind sie in verschiedenster Kombination häufig anzutreffen, ζ. B. Schmt^wasserrückfübrung, Stahlrohruntergestell, Wärmeleitfähigkeitsgruppe, Dachraumwohnfenster, LandhausprofilholKunststoff-Fußkappen. Die reine Kette von 4 Substantiven vom Typ S((Ni · N2) · (N3 · N4)) wie Kunststoff-Fußkappen kommt nicht oft vor; meist sind es verschiedene Mischformen mit anderen Wortarten in den ersten 3 Gliedern; insbesondere Adjektiven, Verben und Präpositionen, in verschiedenster Kombination; ζ. B. Stahlrohruntergestell S((Ni · N2) · (Ρ · N3)), Schwit^wasserrückführung S((V • Ni) · (Ρ · N2)) oder Vollkunststofftisch S((A · (Ni · N2)) · Nj).

3.2.4. Fünf- und mehrgliedrige Substantivkomposita Hier ist der Typ der reinen Ni · N2 · N3 · N4 · N5 wie das vielzitierte Beispiel des Donaudampf schiffahrtsgesellschaftskapitän in dieser Orthographie nicht anzutreffen: dennoch sind Beispiele vom Typ S(A · (Ni · N2) · (N3 · N4)) FlüssigKunststoff-Zementlack, Schlag- und Drehzahl-Steuerung, WC- Flach- oder Tief spüler, Deltkatess-Frischwurst-Aufschnitt oder der Drei-Weg-Einhaulautsprecher, 5-LiterLeichtstahl-Sauerstoffflasche als semantische Einheiten aufzufassen. Zwar wird die orthographische Eingliedrigkeit mit dem Trick des ζ. T. mehrfach verwendeten Bindestriches vermieden; rein formal könnte man sie eher als „Juxtapositionen" oder „freie Zusammenbildungen" binärer Konstituenten auffassen — aber die informative Leistung als ein Semem ist nicht zu bestreiten. Da die Verwendung des Bindestrichs gerade in der Werbung aber bereits viel früher, und zwar selbst bei zwei- oder dreigliedrigen Komposita eingesetzt wird, ist die Bindestrichschreibung noch besonders zu betrachten. 3.3. (Mehrfach-)Zusammensetzung von Adjektiven Die Beiwörter haben im Grunde dieselben Möglichkeiten zur Bedeutungsmodifikation; durch Bestimmungszusätze im Vorderglied werden in derselben Weise und mit den gleichen sprachlichen und orthographischen Möglichkeiten, wie schon bei den Substantiven beschrieben, neue Adjektivkomposita gebildet. 3.3.1. Zweigliedrige Adjektivkomposita sind meistens durch Substantive im ersten Glied modifiziert vom Typ Ν + A —• A(N · Α) ζ. Β., unter unseren Beispielen besonders die Farbschattierungen (eispink, bahamabeige, bermudablau, kieselgrau). Besonders gern wird diese Möglichkeit zur Differenzierung des technischen Fachwortschatzes verwendet, von dem bei unserem Material auftauchen: wasserbeständig, wärmeisoliert; aber auch Komposita aus 2 Adjektiven vom Typ Αι + A2 —» Α · (Αι · A2) kommen häufig vor, wobei Ai auch ein Adj. adverbieller Funktion sein kann wie ζ. B. starkwandig, superflach.

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3.3.2. Dreigliedrige Adjektivkomposita sind von der Bildungsweise her sehr vielgestaltig; noch am häufigsten sind Beispiele mit Substantiv-Kompositum im Bestimmungsteil vom Typ Α ((Ni · N2) · A); ζ. B. wasserdampfbeständig, melaninhar^beschichtet, bauartgenehmigt. Diese früher wohl kaum mögliche Bildung ist zwar auch heute noch relativ selten, aber doch eindeutig im Zunehmen. Seltener sind mehrfache Adjektivkomposita mit zwei und mehr Wörtern (verschiedener Kategorie) im Bestimmungsteil, ζ. B. mit gemischtem ersten Bestimmungsteil vom Typ A((A · N) • A): bochwertversichert.

3.3.3. Viergliedrige Adjektivverbindungen finden sich gleichfalls in unserem Material — wenn auch ganz selten, so doch mit zunehmender Tendenz; so läßt sich eine besondere Typologie noch nicht gut aufstellen, ζ. B. g r i f f - und fleckenunempfindlich, wo eine typische Reihungskonstruktion dem Adjektiv vorausgeht.

Ein erstes vorsichtiges Fazit auch hier: Die Fachsprache schafft in zunehmend größerem Umfang auch komplexere Adjektivzusammensetzungen, um mit diesen Spezialtermini die neuen Sachverhalte adäquat zu bezeichnen. Wegen des hohen Öffentlichkeitsgrads einzelner dieser Fachbereiche, wie Elektronik, Computer, Sport, und verstärkt durch die dafür werbenden Inserate in Tageszeitungen und Postwurfsendungen werden die ursprünglichen Fachtermini und ihre Bildungsweise weiterverbreitet und gelangen in den allgemeinsprachlichen Usus; durch ihr häufiges Vorkommen intensivieren sie auch die Verwendung und weitere Nachahmung solcher umfangreicher Kompositionsformen in der Umgangssprache nachhaltig. 3.4. Exkurs: Das zusätzliche Hilfsmittel des Bindestrichs Mit der Zusammensetzung von 4—7 Wortelementen bei Substantiven (vom Typ Donaudampfschiffabrtsgesellschaftskapitäri) oder der Voranstellung von Modifikatoren bei den Adjektiven scheint die Grenze des vom Kurzzeitgedächtnis sinnvoll zu Verarbeitenden erreicht zu sein; darüber hinausgehende Kontraktion von Einzelsememen zu semantischen Einheiten, aber auch schon „kürzere" Zusammensetzungen bzw. -Schreibungen werden gewissermaßen zur Entlastung nicht mehr aneinandergeschrieben, sondern durch Bindestrich^) gestützt bzw. nach zusätzlichen Gesichtspunkten binnengegliedert. Zur Beurteilung der (Bindestrich-)Schreibpraxis unserer Beispiele ist zunächst auf die Dudenregelung hinzuweisen: 3.4.1. Bindestrichverwendung bei Komposita Die neueste Dudenausgabe 1986, R 33 bestimmt lakonisch: „Zusammengesetzte Wörter werden grundsätzlich ohne Bindestrich geschrieben", während noch Duden 1973, R 145 stärker differenzierte: „Zusammensetzungen aus Grundwort und einfachem oder zusammengesetztem Bestimmungswort werden im allgemeinen zusammengeschrieben und bilden Komposita mit bis zu 3 Gliedern." — und so eher praktische Anhaltspunkte bot. Unter den dann folgenden 8 Ausnahmen, in denen Bindestrich doch verwendet werden kann, finden sich u. a. folgende besonders relevante:

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— „in unübersichtlichen Zusammensetzungen aus mehr als 3 Gliedern" (mit den nicht sehr überzeugenden Beispielen Arbeiter-Unfallversicherungsgeset^ vs. Eishockeyländerspiel, aber DonauDampf schiff ahrtsgesellschaft (R 34)) — „wenn Mißverständnisse auftreten können", was durch das Beispiel Druck-Erzeugnis vs. Drucker-Zeugnis belegt werden soll (R 35) — „bei Zusammensetzungen mit einzelnen Buchstaben, Formelzeichen und Abkürzungen", ζ. B. A-Dur, n-fach, (aber 8fach!) und Kfo-Papiere (R 37 und 38); sowie — „in adjektivischen Zusammensetzungen, wenn jedes der beiden Adjektive seine Eigenbedeutung bewahrt", ζ. B. schaurig-schön, aber bitterböse (R 39). G r o ß z ü g i g ist die neueste R e g e l u n g der S e t z u n g v o n „ B i n d e s t r i c h z u r A n e i n a n d e r r e i h u n g " (R 4 1 — 4 3 ) : Bestehen diese aus einem Grundwort und mehreren Bestimmungswörtern, so werden alle Wörter durch Bindestrich verbunden (durchgekoppelt) (R 41), was nach Ausweis der Beispiele nicht für die normalerweise zusammensetzungsfähigen Wortarten, sondern auch für Funktionswörter und ebenso für substantivierte Infinitiva (R 42) aus mehreren Wörtern gilt, ζ. B. Rhein-Main-Flughafen, DIN-A4-Blatt, Frage-und- Antwort-Spiel, ln-dubio-pro-reo-Grundsatz, Chrom-Molybdän-legiert. Doch wird auch in diesem Falle bei aller Großzügigkeit letztlich empfohlen, übersichtliche (und geläufige) Aneinanderreihungen dieser Art meist zusammenzuschreiben — mit den Beispielen: Loseblattausgabe, Armesünderglocke — oder es wird der Rat erteilt, unübersichtliche Bildungen mit der hauptwörtlich verwendeten Grundform besser durch eine Grundformgruppe oder einen Nebensatz zu ersetzen (R 42). 3 . 4 . 2 . B i n d e s t r i c h e als R e i h u n g s m i t t e l in u n s e r e m M a t e r i a l D i e „ g r o ß z ü g i g e " bis w i l l k ü r l i c h e V e r w e n d u n g des B i n d e s t r i c h s ist w o h l das a u f f a l l i g s t e M e r k m a l unseres Materials. O b w o h l diese a u f d e n ersten Blick v ö l l i g u n s y s t e m a t i s c h erscheint, lassen sich d o c h G r ü n d e f ü r die „ V e r s t ö ß e " u n d eine g e w i s s e S y s t e m a t i k darin a n n e h m e n : So finden sich zwar Zusammenschreibungen von 4 Wörtern wie Autoeinbaulautsprecher, Dachwohnraumfenster, Druckluftschlauchtrommel andererseits Bindestriche in Alltagswörtern wie Damen-Sandalen, Herren-Schuhe, Burschen-Schuhe oder Cafe-Haus-Stuhl oder gar Heck-WischWasch-Anlage; ebenso Inkonsequenzen wie Sessel-Auflage neben Wendeauflage, sogar beim selben Wort wie Baumwoll-Hose neben Baumwollhose (ebenso wie Karo-, Kombihose im selben Prospekt!); ferner gewollte Zusammenschreibungen mit Großbuchstaben am Anfang des Grundworts ζ. B. KaffeeAutomat, CompactAutomat neben Kaffee-Automaten. Mit viel gutem Willen kann man auch Beispiele finden, in denen der Bindestrich nach der Dudenempfehlung zur Gliederung der aus drei oder mehr selbständigen Elementen bestehenden Neubildungen verwendet wird: ζ. B. Kunststoff-Fußkappen, Top-Bodenstaubsauger. Schwieriger ist das schon einzusehen bei Color-Fernsehgerät, Mundpflege-Center oder EdelMar^ipan-Ei, ja sogar Mar^ipan-Halbei u. v. a. D i e Liste ließe sich bei m e h r R a u m n o c h viel w e i t e r f ü h r e n aber auch n u r b e w e i s e n , w a s schon diese Beispiele bei aller



würde

Zufälligkeit

u n d I n k o n s e q u e n z an g r u n d s ä t z l i c h e n L i n i e n e r k e n n e n lassen. 3.5.

Zwischenbilanz

A u f d e m H i n t e r g r u n d dieser t o l e r a n t e n O r t h o g r a p h i e r e g e l n läßt sich f ü r die in d e r W e r b u n g ü b l i c h e Praxis bereits f o l g e n d e Z w i s c h e n b i l a n z ziehen: D i e

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im Deutschen offenbar inhärente Tendenz zur Konzentration auf Hauptwortfolgen wird von den Werbetextern — wohl aus Gründen der damit möglichen Ersparnis von syntaktischem Kontext und damit: Platz — unter geschickter Nutzung des Bindestrichs bis an die Grenze des Zulässigen vorangetrieben. Diese Möglichkeit der Gliederung von Komposita mittels Bindestrich wird sogar darüber hinaus häufig eingesetzt, um festgefügte Zusammensetzungen wie ζ. B. Damensandaletten, Kinderschuhe, Mädchenschuhe, wieder aufzulösen in Damen-Sandaletten, Mädchen-Schuhe, Burschen-Schuhe. Dieser intendierte „Verstoß" gegen die normalsprachliche Regelung wird wohl — ebenso wie ähnliche Verstöße gegen die Syntax u. a. m. — bewußt zur Heraushebung/ Stilisierung wie zur Erweckung von Aufmerksamkeit für diese alltäglichen Gegenstände bzw. ihre Bezeichnungen eingesetzt (vgl. auch Römer 1976, 38 ff.). Denselben Endzweck, mit der treffenden und knappen Beschreibung der anzuzeigenden Ware oder Dienstleistung die möglichst positiv gestimmte Aufmerksamkeit des potentiellen Kunden zu gewinnen, verfolgen Werbetexter auch mit der großzügigen Verwendung von Fremdwörtern in ihren Anzeigen. Deshalb soll im folgenden kurz auch darauf eingegangen werden.

4. Fremdwortentlehnung und Lehnübersetzungen als Wortschatzerweiterung Werbung ist seit jeher auch ein Einfallstor für Fremdwörter, wobei jeweils bestimmte Bereiche, für die geworben wird, mit der einen oder anderen der Weltsprachen stärker verbunden sind als andere. 4.1. Entlehnungen aus den Weltsprachen Die Bereiche der Mode oder der Schönheitspflege etwa sind seit Jahrhunderten Domäne des Französischen und entsprechend auch in der Werbung für diese Güter anzutreffen (vgl. Blumenthal (1984, 52 f.) oder schon die Beispiele aus dem 18. Jahrhundert bei Stolze (1983, 52 f.; 88 ff.)). Heute ist das Französische ζ. T. selbst in diesen seinen Erbhöfen vom Englischen überholt, das sich nicht mehr nur auf seine traditionellen Bereiche wie Sport und Freizeit oder Musik und Unterhaltungswesen sowie Medien beschränkt (vgl. Römer 1976, 123 ff.). Mit sehr viel größerem Abstand folgt als dritte moderne Fremdsprache das Italienische, das trotz italienischer Herrenmode, (älteren) Schlagern oder einer bestimmten Richtung von Kochkunst ungleich weniger häufig — außer natürlich in der Spezialwerbung für diese Konsumgüter — anzutreffen ist. Die klassischen Sprachen, vorab Latein, sind heute im Gegensatz zum 18. Jahrhundert (vgl. Stolze 1983, 51 f.; 82, 84 ff.) nur mehr indirekt am Neuwort-

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gut beteiligt, aber relativ häufig über die kurzen und internationalen Multifunktionswörter (ζ. B. mini, maxi, poly/multi oder super, extra, u. ä. m.), ζ. T. sachbedingt im internationalen Fachwortgut (wie ζ. B. Diskette, Kassette, Stereo). 4.2. Formale Integration der Entlehnungen Als Beweis für diese auch in unserem Material sich deutlich abzeichnende „große Fremdwortverträglichkeit" des heutigen Deutschen kann die Leichtigkeit und Häufigkeit herausgegriffen werden, mit der diese Fremd-/Lehnwörter mit deutschen Erbwörtern Verbindungen eingehen. Das zeigt einmal die bekannte Toleranz und Assimilationsfähigkeit des (heutigen) Deutschen gegenüber Fremdwörtern, insbes. wenn sie dem relativ nahestehenden Englischen entstammen (vgl. Carstensen 1981 u. ä., Rein 1984, 198 f.); dann werden sie oft in orthographischer Treue und mit nur leicht modifizierter Aussprache in das kompliziertere deutsche Flexionssystem eingefügt, wie aus unserem Material ζ. B. gebleacht (Jeans), gesoftet (Profilleisten), gestylt (Möbel), eispink, (Farb)-Super-Sojt-Velours, (Teppichboden) Topmodell. Für die Beliebtheit bei den Werbetextern dürfte neben der gelegentlichen Schwierigkeit, für diese zumeist im US-Englischen zuerst aufgekommenen Begriffe eine treffende deutsche Wiedergabe — Übersetzung oder Umschreibung — zu wagen, vor allem der hohe Prestigewert des US-Englischen stehen. Dieser soll von der Sprache auch auf das in ihr Genannte übertragen werden und die Beliebtheit des Produkts oder die Glaubwürdigkeit des darüber Gesagten erhöhen. 4.3. Zusammensetzungen mit Fremdwörtern Diese folgen im wesentlichen den oben skizzierten 5 Möglichkeiten der deutschen Adjektiv- und Substantiv-Komposition. Typologisch wie sprachgeschichtlich erwähnenswert ist höchstens noch die Leichtigkeit, mit der diese Integrate nach deutschen Morphologieregeln untereinander Verbindungen zu neuen — in der Ausgangssprache zumindest graphisch nicht möglichen — Wörtern eingehen können: ζ. B. Topmodell, Personal-Computer, Auto-HiFiKomplettset u. v. a. 4.3.1. Zweigliedrige Komposita mit einem fremdsprachlichen Element können auftreten — (1) mit dem englischen „Aufmacher" an erster Stelle vom Typ S (N c · Nd), ζ. B. Topleistung, Hobbyraum, Oxfordsacco, — (2) mit dem fremdsprachlichen/englischen Wort als zweitem Glied vom Typ S (Nd • N c ), ζ. B. Leinenlook, Frühjahrstrend.

Ist das (zumeist englische) Fremd/Lehnwort letztes Glied oder Bestimmungswort, so tritt oft das Problem der Genuszuweisung für das Neuwort auf, das

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zumeist nach dem Genus des (nächstgelegeneren) deutschen Übersetzungswortes gelöst wird, wie ζ. B. der Hit — weil: der Schlager (vgl. Gregor 1983, 59 ff.). 4.3.2. Dreigliedrige Komposita: mit englischen Wortbestandteilen entstehen nach demselben Verfahren, wobei auch hier das Englische am Wortanfang offenbar für werbewirksamer gehalten wird: S(N e · N2 · N3), ζ. B. Top-Bodenstaubsauger — aber auch am Ende Knaben-All-Terrain-Bike. Die fortgeschrittene Integration dieser Lehnwörter aus verschiedenen Sprachen zeigt sich am deutlichsten daran, wie sie untereinander in einer Weise kombiniert — und zusammengeschrieben — werden, die in den Herkunftssprachen undenkbar wäre: ζ. B. S (N e · Nf) Topmodell oder umgekehrt A (N e • Af) topchic.

5. Zur Wortwahl und zur Verwendung der Neologismen Damit diese philologischen Ausführungen nicht zusammenhanglos bleiben, seien abschließend einige Bemerkungen zu der an unseren kurzen Texten ersichtlichen Sprachpraxis mit dem beschriebenen Wortgut angefügt. Wir hatten oben als Hauptgrund für den ständigen Bedarf an Neubildungen angenommen: eine bisweilen noch einsichtige Notwendigkeit zur Bezeichnung echter Sachinnovationen wie ζ. B. in der Elektronik, deren Fachwortschatz von den Marktführern auf Englisch geprägt, bisher kaum oder nur sehr zögerlich eingedeutscht worden ist. Damit hätte die Werbung — zumindest auf den ersten Blick — dasselbe Problem wie die Fachsprachen in Technik, Wissenschaft oder Verwaltung. Man sollte deshalb auch weithin ähnliche Lösungsversuche — etwa zu der Wortschatzerweiterung — erwarten; in beiden finden sich denn auch ζ. B. mehrgliedrige Nominal-Zusammensetzungen, international gebräuchliche Fremdwörter oder ausgesprochene Kunstwörter mit deutschen Elementen u. ä. Dennoch gibt es einen deutlichen Unterschied: Während Fachsprachen damit vor allem zum Zweck exakter Informationsübermittlung größtmögliche Explizitheit, ebenso wie eine gewisse Standardisierung und stärkere Formalisierung, in vielen Fällen auch Internationalität anstreben, sind es bei der Werbesprache bisweilen diametral andere Momente, die — selbst bei der Schaffung von hier ausgeklammerten Kunstwörtern wie Produkt- oder Markennamen und Slogans — im Vordergrund stehen: Auffälligkeit geht vor Exaktheit, leichte Behaltbarkeit etwa vor Explizitheit; desgleichen ist einprägsamer Wohlklang und große Assoziationsmöglichkeit bzw. Raum für semantische Implikationen gefragt — emotionale bis irrationale Aspekte, die bei der Erstellung einer (wissenschaftlichen) Fachterminologie gerade gemieden bzw.

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ausgeschlossen werden sollen (vgl. dazu Römer 1976, 53 ff. und Möckelmann/ Zander 1972). 5.1. Textsorte „Werbesprache" Neben diesen auf den ersten Blick offensichtlichen Ähnlichkeiten, ja Gemeinsamkeiten von Fach- und Werbesprache im Formalen, gibt es also noch gewichtige außersprachliche — soziale und psychologische sowie nicht zuletzt ökonomische Faktoren: Diese Faktoren können — wie schon eingangs festgestellt und ausgeklammert worden war — die Textsorte „Werbe(fach)sprache" zusätzlich determinieren. Den Linguisten interessiert dabei die binnenstrukturelle Gliederung nach dem situationsbedingten Anteil von Sprache an der „Gesamtbotschaft": von den am wenigsten sprachlich, dafür aber stark graphisch bzw. optisch bestimmten Plakaten über unsere ungleich stärker von der Sprache abhängigen (Klein-)Anzeigen bis zu den am stärksten sprachlich determinierten Radio- (weniger Fernseh-)Spots. Das über diesen semiotisch, d. h. je nach Sprachanteil, so unterschiedlichen „Teiltextsorten" stehende Gemeinsame, das sie zu einer Textsorte „Werbung" zusammenzufassen erlaubt, läßt sich am einfachsten mit der „Kategorie des Appells" im Bühlerschen Sprachmodell ausdrücken, die nach Angabe der Werber n e b e n , nach der vieler ihrer Kritiker sogar v o r der des „Informierens" kommt. Diese etwas globale Trichotomie kann noch etwas weiter differenziert werden durch Heranziehen der Sprechakttheorie von Austin/Searle. Deren Annahme von eigenen performativen Verben erlaubt es, für die Textsorten der Werbung spezifische „Performativverben" wie überzeugen/ überreden, aber auch loben! hochschät^en oder herabsetzen/ mindern anzusetzen. Ansätze dazu hat die ältere Grammatik mit den Versuchen zu einer semantischen Gliederung des Verbbereichs und der Annahme von „persuasiven Verben", oder „Evaluativa" bzw. „Deprecativa" bereits gemacht. Ein daran anknüpfender sprechakttheoretischer oder situativer Ansatz ist aber gerade im werbesprachlichen Bereich aus mehreren Gründen in Gefahr, zu kurz zu greifen: Zum einen ist (wie auch Schifko 1982, 6 betont) die Kommunikationssituation bei der Übermittlung der Werbebotschaft keineswegs echt und schon gar nicht dialogisch, da auch die lebendigsten Mediendialoge nur „erfunden", d. h. schriftlich vorformuliert und dann mehr oder minder echt gespielt bzw. abgelesen werden. Aber auch die Anzeigenwerbung ist schon durch die fehlende Antwortmöglichkeit des (kritischen) Lesers, der sich die unerbetenen Ratschläge oder die direkte Anrede (womöglich mit dem vertrauten „Du") nicht verbitten kann, nur asymmetrisch — wodurch allein schon von der Lebenserfahrung des heutigen Werbeadressaten her der Inhalt der Werbebotschaft vom Leser/ Hörer nicht für bare Münze genommen wird.

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Aber auch ein engerer sprechakttheoretischer Rahmen mit der Annahme von performativen Verben trägt nicht sehr weit, da in der Werbesprache gerade Verben — wie die Autoren immer wieder betonen — relativ selten sind (nach der Zählung bei Römer 1976, 80 : 7,7 — 8,4%) und spezifische (Werbe-)Verben, die über die allgemeine Argumentations- und Überredungsrhetorik hinausgehen, geradezu fehlen (eine gelungene Ausnahme: reinweichen statt einweichen bei einer Waschmittelwerbung). Am ehesten wäre noch ein „gemäßigt situativer" Ansatz angebracht bzw. die Annahme von bestimmten „Sprecherintentionen in einer nur angenommenen Gesprächssituation"; wenn also — eine zweite Annahme — dieses Gespräch ζ. B. aus Mangel an Gelegenheit nicht realiter stattfindet, so antizipiert es der Werber-Verkäufer einschließlich der Einwände des Kunden und entwikkelt so unter Mißachtung der „Einwegkommunikation" sein „Verkaufsgespräch". Dessen Hauptcharakteristikum ist dann das Entwerfen eines situationsspezifischen Vokabulariums zur Erreichung der idealiter zugrundeliegenden Sprecherintention: Den potentiellen Kunden zu informieren und mit diesen Informationen für den Kauf des beschriebenen Produkts zu gewinnen. 5.2. Grundstrategien der Anzeigenwortwahl Aus der Fülle der Möglichkeiten eines solchen „Verkaufs-/ Überzeugungsgesprächs" sind dann die in der Anzeige anzuwendenden rhetorischen Grundstrategien sehr stark vereinfacht etwa folgende: a) A u f w e r t e n der W a r e , für die geworben werden soll — durch die von Römer (1976, 98 ff.) sogenannten Hochwertwörter bzw. gegebenenfalls superlativische Adjektive am einfachsten zu erreichen. b) B e e i n f l u s s e n des Lesers/Hörers durch über die Sachinformation hinausgehende (Sprach-)Appelle (ζ. B. an sein Selbstwertgefühl, Unsicherheit u. ä.), mit dem Ziel, c) K a u f i m p u l s e a u s z u l ö s e n , die aufgrund der Sachinformation und der darüber hinausgehenden sprachlichen Argumentation erfolgen. Dahinzielende Sprachäußerungen und Aufforderungen dieser Art sind selbstverständlich auch aus unserem Material trotz der Knappheit der Anzeigen reichlich zu belegen; linguistisch erwähnenswert ist dabei, daß die oben als für Werbegespräche grundlegend anerkannten Performanzakte des „Überzeugens", „Anpreisens" o. ä. nicht über eigene „performative Verben" realisiert, sondern gerade über die anderen beiden in der Werbung stark vertretenen Wortarten: „Adjektiv" und „Substantiv" umschrieben und ebenso effektiv erreicht werden. Einige Beispiele für solche „Performanzakte ohne Performanzverben", und die „Ersatzlösungen" mögen dies belegen:

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5.2.1. Hochwertwörter (oder Evaluativa) Eine Grundstrategie aller Verkaufswerbung ist zweifellos die Ware, für die geworben — und gegebenenfalls ein (möglichst hoher) Preis erzielt werden soll — als besonders wertvoll, eben diesen Preis wert (und keinesfalls billig) erscheinen zu lassen. Ein großer Einsatz an solchen aufwertenden oder preisenden Wörtern ist nötig und deshalb auch ein entsprechender Bedarf an Neubildungen. Unsere Beispiele solcher „Evaluativa" oder Hochwertwörter decken sich weithin mit den bei Römer (1976, 45 ff. und 81 ff.) bereits erfaßten und bestätigen die Wirkung der zugrundeliegenden Strategien; die wenigen Neuzugänge sind eher dem zweiten Verwendungsbereich, „Appell an den Selbstwert des Käufers", zuzurechnen. Als ein Beispiel dafür gelten schon die Eindeutschungsversuche für Do ityourself als Selbermacher, Selbermann (unter Nutzung der Assoziation an das deutsche Sprichwort Selbst ist der Mann) oder Heimwerker-Profi, der nur Profigeräte wie einen Profi-Bohrschleifer, aber auch ein Profi-Gewächshaus kauft, oder die dem Selbstwert oder positiven Image besonders junger Kunden schmeichelnde Umschreibungen als fortschrittlich oder modern, gepflegt, f l i p p i g u.v.a.m. 5.2.2. Euphemismen oder „Sprachkosmetik" Die Fortsetzung des oben beschriebenen „Aufwertungsaktes mit anderen Mitteln" stellt die Tendenz zur Euphemie dar, d. h. jene schönfarberischen oder neutralen Umschreibungen, mit denen der gesetzlichen Informationspflicht entsprechend auch die weniger günstigen Seiten oder Negativa des Produkts, für das geworben wird, einbekannt werden müssen. Auch hier sind Beispiele aus der hier unter Hinweis auf die umfangreiche Arbeit von Putschögl-Wild (1982) ausgesparten Reise- und Urlaubswerbung die wohl bekanntesten: etwa wenn ein noch weitgehend aus Hotelbaustellen bestehender Urlaubsort als aufstrebend, oder im Aufbau begriffen umschrieben, oder ein verkehrslärmgeplagter überlaufener Strand als lebhaft oder vielbesucht ausgegeben wird. Aus unserem Bereich/ Material sind so krasse (Wort-) Beispiele nicht greifbar; doch ist dieses euphemistische Prinzip unverkennbar, wenn es ζ. B. für nötig erachtet wird, mit Furnierimitationen aus Plastik überzogene Sperrholz-Möbel als hochwertig kunststoffbeschichtet anzukündigen — während die holzfurnierte Variante dagegen nur kurz Kiefer natur genannt wird. Ähnlich wird eine einfachst geschnittene Anorakform als funktionell verarbeitet umschrieben — während die nächsthöhere oder normale Verarbeitung bereits als aufwendig verarbeitet auch sprachlich herausgeputzt wird. 5.3. Fremdwortgebrauch Wie oben bereits angedeutet, sind die häufig vorkommenden Fremdwörter in der Werbung ebenfalls als Produktaufwertung intendiert, indem wohl das

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Prestige der (fremden) Sprache vom Adressaten auf das darin (nur oder ursprünglich) Bezeichnete übertragen werden soll, kombiniert mit einem Snob-Appeal an den Kunden, der für so gebildet gehalten bzw. dem die entsprechende Fremdsprachenkenntnis zugetraut wird. 5.3.1. Französische Fremd- und Lehnwörter Der Zusammenhang von Damenmode und Französisch, ein nur zu bekannter Gemeinplatz, ist aus unserem, nur den Bereich der Freizeit- und Bademode erfassenden Material auch gut zu belegen; erwähnenswert ist vielleicht die unbekümmerte morphologische und syntaktische Integration der auch sonst bekannten Beispiele wie legere (Jacke); (ein) beiger (Hosenanzug); rose'e (Combination); melangiert, wohl aus melange. Auch hier fällt die leichte Komposition mit deutschen oder englischen Elementen auf, ζ. B. Clochard-Form (lässig weit), Jacquard-Pullover, Blouson-Schnitt, Polyamid-Bustier; oder das fast nurmehr im Zusammenhang mit dem englischen top vorkommende Schlüsselwort chic, das noch die Damenmode auszeichnet". 5.3.2. Englische Fremdwörter in der Mode Aber selbst in diesem Bereich überwiegen inzwischen offensichtlich stärker als früher die englischen „Mode"wörter wie: Bermuda( shorts), Sportswear-Hose, (Ozmen-)Sweatshirt, Sleepsbirt und T-Shirt, Blauer, CrashLookj Style (der ζ. B. bei rund 5 Nennungen nur einmal als Knitter-Look wenigstens halb verdeutscht wird); auch die Stoffnamen wie {Doppel-) Jersey, Black-Detiim und Seersucker, sodann Five-Pocket-Jeans, crack-marble (Leder), die Eigenschaftswörter stonewashed, gebleached oder die obigen Farbbezeichnungen und (eis)ptnk finden wir bei Römer (1976) noch nicht.

Für den puristischen Sprachpfleger ist dies natürlich ein Greuel; aber auch für den weniger puristischen beschreibenden Linguisten erhebt sich die Frage nach dem „Informationsgehalt" einer „Botschaft" wie in folgenden beiden Sätzen: Die Five-pockets-Jeans ist ein Muß, bequem geschnitten im Carotten-Stjle; und natürlich stone-washed aus Black-Denim. Wenn auch der deutsche Anteil dieser nur etwa zur Hälfte deutschen Sätze den englischen rein rechnerisch um 1 Wort überragt, unter den Hauptinformationsträgern aber kein einziges (das substantivierte Muß ist überdies englische Lehnbildung) Hauptwort mehr vorkommt sondern nur noch Funktionswörter (wie: die, ist, ein, aus) — dann ist auch die bisher als letzte Auffangstellung für die Fremdworttoleranz eingeräumte „Verständlichkeitsgrenze" wohl schon längst überschritten.

6. Zusammenfassung Die an unserem werbesprachlichen Basismaterial (aus weitverbreiteten, verbrauchernahen Anzeigen und Werbewurfsendungen für schnellebige Verbrauchsgüter) beobachtbaren Fakten hinsichtlich Wortbildung bzw.

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Wortschatzerweiterung und -Verwendung lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Zwei Tendenzen werden selbst an unserem keineswegs absolute Repräsentativität beanspruchenden Belegmaterial deutlich und sind anhand der sicher noch zu ergänzenden Belege unschwer zu erhärten: (1) Die Werbetexter treiben die im Deutschen ohnedies stark ausgeprägte Tendenz zur linearen Zusammensetzung der Haupt- und Eigenschaftswörter stark voran — fast bis an die Grenze des (vom Kurzzeitgedächtnis her) noch Ertragbaren. Als eines optischen Hilfs- und Gliederungsmittels bedienen sie sich dabei fast genauso exzessiv des von der deutschen Orthographie her nur in Ausnahmefällen vorgesehenen zusätzlichen Bindestrichs, so die Grenze zwischen Zusammensetzung und freier „Zusammenfügung" auflösend. Darin trifft sich die Werbesprache zwar mit ähnlichen Entwicklungen in den Fachsprachen sowie in manchen Varianten der allgemeinen deutschen Schriftsprache ζ. B. „Amtsdeutsch" mit seiner „Substantivitis" — wobei aber der Grund nur zum geringen Teil wie bei diesen in dem Vorteil der Kürze und relativ logischen Gliederung (etwa in Fachlexika u. ä.) liegen dürfte. Bei der Werbesprache kommt außer diesem räum- und zeitökonomischen Gesichtspunkt noch das Moment dazu, eine möglichst auffällige Neuprägung (etwa als Name oder Umschreibung des Produkts, für das geworben werden soll) zu finden, die noch leicht einzuprägen bzw. zu behalten ist. In derselben Richtung liegt: (2) Die Werbesprache macht einen exzessiven, über den Usus der Sprachgemeinschaft weit hinausgehenden Gebrauch von Fremd- und Lehnwörtern bzw. -bildungen, was sie ebenfalls mit manchen Fachsprachen (ζ. B. Computer, Unterhaltung und Freizeit, Musik) oder der Jugendsprache gemein hat. In dem Bemühen, für diese en vogue befindlichen und einträglichen Auftraggeber möglichst viele, gerade auch junge Kunden zu gewinnen, versucht die Werbeindustrie legitimerweise diese in ihrer eigenen Sprache zu erreichen. Bezüglich einer gesamtsprachlichen Auswirkung dieser von nicht wenigen Linguisten, nicht nur Sprachpflegern und -puristen, negativ gesehenen Erscheinungen des Deutschen ist eine Prognose über den heutigen beachtlichen Einfluß hinaus ebensowenig wie bei der Jugendsprache möglich bzw. nur in spekulativer Weise zu machen: Zwar wird die „Aussetzungsdauer" diesen Sprachtendenzen gegenüber mit der Zunahme der Werbung, (etwa durch mehr private UKW-Sender in der BRD) für jeden, insbesondere den jüngeren Bürger, eher noch zunehmen; gleichzeitig ist auch Grund für die Hoffnung, daß die Zahl der kritischen Hörer/ Leser steigt, die, wenn sie schon nicht grundsätzlich bei Werbung akustisch wie optisch „abschalten", so doch die „Botschaft" und insbesondere auch deren sprachliche Ausformung nicht mehr zu ernst oder gar zum Vorbild eigener Sprachpraxis nehmen.

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Damit trifft sich der „aufgeklärte Leser" mit Tendenzen innerhalb der Branche selber, die von dem tierischen Ernst und der fast stupiden Naivität (etwa der Waschmittelwerbung) abgeht und seit neuestem das Heil in humorvoller Sympathiewerbung mit witzigen Texten sucht (vgl. D. Rein 1986).

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U L R I C H PÜSCHEL

Zu Status und Funktion arealer Kennzeichnungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern 1. Ausgangspunkt, Zielsetzung, Vorgehensweise 2. Der Status arealer Varianten in der Standardvarietät und ihre Behandlung in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern 3. Statusunterschiede von arealen Kennzeichnungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern 4. Areale und andere Kennzeichnungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern Literatur

1. Ausgangspunkt, Zielsetzung, Vorgehensweise 1.1. Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Deutschen tragen Titel wie „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache", „Großes Wörterbuch der deutschen Sprache" oder „Deutsches Universalwörterbuch", die weitreichende Versprechungen im Hinblick auf den kodifizierten Wortschatz zu machen scheinen. Doch keines dieser Wörterbücher kodifiziert den gesamten Wortschatz der deutschen Sprache, auch nicht der deutschen Gegenwartssprache. Es sind vielmehr standardsprachliche Wörterbücher, in denen nur eine der vielen und vielartigen Varietäten des Deutschen — die Standardvarietät — verzeichnet ist. Aber auch diese Bestimmung ist noch zu weit oder zumindest noch nicht genau genug. Denn die Fach- und Wissenschaftssprachen sind zweifellos auch Teil der Standardvarietät, ihre Lexik gehört aber nicht in das allgemeine einsprachige Wörterbuch. Im standardsprachlichen Wörterbuch werden also nicht alle funktionalstilistischen Varietäten der Standardvarietät gleichmäßig berücksichtigt. Da ein Merkmal der Standardvarietät ihre überregionale Reichweite ist, bleibt aus dem standardsprachlichen Wörterbuch per definitionem aber auch die Lexik solcher Varietäten ausgeschlossen, die nur regionale Reichweite besitzen. Die Sachlage scheint damit klar zu sein: Einerseits gibt es keine fach- und wissenschaftssprachlich gebrauchten Wörter und andererseits keine regional gebrauchten Wörter im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch. Faktisch ist die Lage aber ganz anders. Wie jeder weiß, gibt es in diesen Wörterbüchern u. a. fachsprachliche und areale Kennzeichnungen (bzw. Markierungen), mit

Zu Status und Funktion arealer Kennzeichnungen

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denen der fachsprachliche und regionale Status einzelner Wörter bzw. einzelner Wortbedeutungen angegeben wird. Wer wollte aber die Lexikographen wegen dieser Praxis schelten? Selbst dann, wenn sie bei der Aufnahme von Fachlexik über das Ziel hinausschießen? Denn was wir in den Wörterbüchern finden, resultiert aus der Zwickmühle, daß wir einerseits zwischen Varietäten einer Sprache in der Theorie ganz gut unterscheiden können, daß wir aber andererseits die Varietäten mit ihren Grenzen in der Sprache selbst nicht einfach vorfinden. Wir müssen die Grenzen selber ziehen, und dabei zeigt sich schnell, daß eine zu rigorose Orientierung an vorgegebenen theoretischen Kriterien den sprachlichen Sachverhalten nicht unbedingt gerecht werden muß. Die Praxis der allgemeinen einsprachigen Wörterbücher, auch Fachsprachliches und Areales zu kodifizieren, ist eine richtige Entscheidung allein schon deshalb, weil wir auf diese Weise ein realistisches Bild von unserer Sprache vermittelt bekommen. Sie ist aber auch noch aus anderen Gründen gerechtfertigt, die aber nur noch für die hier zur Debatte stehende areale Lexik ausgeführt werden sollen. Wir wissen ja, daß die Überregionalität kein wirklich absolutes Kriterium für die Standardvarietät ist. Die deutsche Standardvarietät, deren Lexik im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch kodifiziert ist, ist das Produkt einer langen historischen Entwicklung, in deren Verlauf sie ihre Funktion und ihren Charakter ständig verändert hat. Den mittlerweile erreichten Endzustand (natürlich nur aus unserer augenblicklichen Sicht) charakterisiert Klaus Mattheier (1980, 162) mit den folgenden Kriterien: Öffentlichkeit, Bildung, Stadt und Region. Die Reihenfolge dieser Aufzählung gibt auch das Gewicht der genannten Kriterien an. Die Komponente „Region" spielt demnach nur noch eine geringe Rolle, aber sie ist vorhanden; und insofern ist das Kriterium der Überregionalität zwar unangefochten, aber doch nicht völlig alleinherrschend. Anders ausgedrückt: Die Standardvarietät weist regionale Eigenheiten in Form arealer Varianten auf, und diesen tragen die Wörterbücher mit ihren arealen Kennzeichnungen Rechnung. 1.2. Jeder Kenner der Materie wird sich beim Nachschlagen im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch schon gewundert, wenn nicht geärgert haben über die Art, wie die Lexikographen mit den arealen Kennzeichnungen umgehen. 1 Hier gibt es viel zu kritisieren, aber auch viel zu entschuldigen. Mir geht es nicht darum, wie gut oder wie schlecht, d. h. falsch, ungenau, unsystematisch, lückenhaft und irreführend die arealen Kennzeichnungen in den einzelnen

1

Zur Praxis der arealen Kennzeichnungen vgl. Fenske 1973; de Clerck 1977/1978 (zitiert nach Niebaum 1984); Niebaum 1984; Kühn/Püschel 1983, 1 3 9 2 - 1 3 9 4 .

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Wörterbüchern sind und warum das — zumindest bis zu einem gewissen Grad — wahrscheinlich gar nicht zu ändern ist (die Beschreibungen in den Wörterbüchern können schließlich nicht besser sein als die Daten, auf die sich die Lexikographen stützen müssen). Es geht auch nicht um eine Kritik der Ausdrücke für die arealen Kennzeichnungen; daß sie weithin nicht explizit eingeführt und dem Benutzer in ihrer Bedeutung erklärt werden (das gilt für alle Wörterbücher) oder daß sie sich gegenseitig Konkurrenz machen (welchen Reim soll sich der Benutzer darauf machen, wenn in einem Wörterbuch .norddeutsch' und ,niederdeutsch' verwendet wird?). Ich möchte mich vielmehr mit der Frage beschäftigen, welche Informationen ein Benutzer den arealen Kennzeichnungen entnehmen kann bzw. entnehmen können sollte. Diesem Zweck dient — die allgemeinere Beschäftigung mit dem Status der arealen Varianten im allgemeinsprachlichen Wortschatz, wobei vor allem deutlich werden soll, daß die arealen Varianten in der Standardvarietät keine homogene Gruppe bilden (Abschnitt 2); — die Analyse einiger Beispiele, in der gezeigt werden soll, inwieweit die Wörterbücher dieser Inhomogenität Rechnung tragen (Abschnitt 3); — die Betrachtung der arealen Kennzeichnungspraxis im Zusammenhang mit den Kennzeichnungen anderen Typs in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern (Abschnitt 4). Es werden insgesamt sechs neuere Wörterbücher des Deutschen berücksichtigt: Die drei Sechsbänder W D G , G W D S und BW und die drei Handwörterbücher Wahrig, DUW und H W D G . Außerdem werden die beiden Bände des „Wortatlasses der deutschen Umgangssprachen" von Jürgen Eichhoff herangezogen, so daß die Angaben in den Wörterbüchern mit gesichertem Material verglichen werden können.

2. Der Status arealer Varianten in der Standardvarietät und ihre Behandlung in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern 2.1. Natürlich darf man nicht erwarten, daß ein Laienbenutzer, der beim Nachschlagen auf areale Kennzeichnungen stößt, sich über das Verhältnis der als areal gekennzeichneten Ausdrücke zu den standardsprachlichen Ausdrükken völlig im klaren ist. Denn schließlich scheinen die Lexikographen selbst, die solche arealen Ausdrücke in ihre Wörterbücher aufgenommen haben, keineswegs einhelliger Meinung über deren Status zu sein. Sollte ein Laienbenutzer einmal auf den Gedanken kommen, in den Benutzungshinweisen mehrerer Wörterbücher nachzulesen, dann wird er nicht nur magere Auskunft, sondern auch noch ziemlich uneinheitliche bis widersprüchliche finden:

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(a) „Es gibt Wörter und Wendungen, die nur in Österreich oder in der Schweiz, im Gebiet eines Dialektes oder einer Landschaft üblich sind." (Wahrig, Sp. 21) (b) „Bei Wörtern und Verwendungsweisen, die nicht gemeinsprachlich sind, wird angegeben, daß sie nur in einem Teil des deutschen Sprachraums üblich sind." (gleichlautend in G W D S Bd. 1, 15 und D U W , 16) (c) „[Es gibt] W ö r t e r und Wendungen, die nur in Österreich oder in der Schweiz, im Gebiet eines Dialektes oder einer Landschaft üblich sind. Von ihnen wurden solche Wörter aufgenommen, die einem großen Benutzerkreis innerhalb der deutschen Sprachgemeinschaft mit Wahrscheinlichkeit im täglichen Leben begegnen können." (BW Bd. 1, 13) (d) „Grundsätzlich werden rein mundartliche Ausdrücke nicht aufgenommen. Es gibt aber viele regional beschränkte Wörter, die weithin bekannt sind, verstanden und in der Literatur verwendet werden." ( W D G Bd. 1, 015; vgl. aber ebd. 04) (e) „Angaben über regionale Verwendungsbeschränkungen beziehen sich auf solche Lexeme, deren Gebrauch in einem geographisch bestimmbaren Gebiet bevorzugt wird, während sie in anderen Landschaften bzw. überregional selten oder nicht gebraucht werden. Es sind dies regionale Varianten der Literatursprache." ( H W D G Bd. 1, X X I I I )

Während im Zitat (a) nichts über die Stellung der in Frage stehenden Ausdrücke zum Standard ausgesagt wird, werden sie in (b) aus dem Standard ausgeschlossen, da sie nicht gemeinsprachlich sind (vgl. im GWDS das Lemma Gemeinsprache: ,allgemein verwendete und allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft verständliche Sprache (ohne Mundarten od. Fachsprachen)'). In (c) und (d) wird zwar nichts explizit über den Status der Ausdrücke gesagt, aber man erfahrt etwas von den Gründen, warum sie aufgenommen wurden (und das ist für den Benutzer schon eine Hilfe). Erst in (e) wird schließlich ohne Umschweife gesagt, daß die als areal gekennzeichneten Ausdrücke literatursprachlichen (sprich: standardsprachlichen) Status haben. 2 2.2. Gerade für das WDG ist es ziemlich unverständlich, daß in den Benutzungshinweisen eine klare und eindeutige Einordnung „standardsprachlich" oder „standardsprachennah" der als areal gekennzeichneten Ausdrücke fehlt. Hat doch Ruth Klappenbach in ihrer Darstellung der „Gliederung des deutschen Wortschatzes der Gegenwart" — zuerst abgedruckt im Jahr 1960 — auch die regionale Gliederung behandelt. Sie erläutert das Verhältnis von standardsprachlich-überregionalem Wortschatz, areal gekennzeichnetem Wortschatz und mundartlichem Wortschatz anhand dreier konzentrischer Kreise: 3 Der innere Ring repräsentiere den „allgemeinsprachlichen Wortschatz", der mittlere Ring repräsentiere den Teil des Wortschatzes, dessen Wörter in ihrem Gebrauch zwar areal begrenzt seien, aber „[...] weit über den mundartlichen Gebrauch hinausreichen und Eingang in die Allgemeinsprache finden oder bereits gefunden haben [...]" (Klappenbach 1960/1980, 170); der 2

Bis auf Wahrig geht aus allen Zitaten zumindest implizit hervor, daß rein mundartliche Ausdrücke aus den Wörterbüchern ausgeschlossen bleiben. Vgl. aber W D G Bd. 1, 04. — Zum Ausschluß mundartlicher Ausdrücke auch dezidiert de Tollenaere 1963, 13.

3

Diesem Schema schließt sich auch de Tollenaere (1963, 18 ff.) f ü r das Niederländische an.

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äußere Ring repräsentiere schließlich den rein mundartlichen Wortschatz. Klappenbach spricht auch davon, daß der mittlere Ring der Allgemeinsprache zugewandt und der äußere Ring von der Allgemeinsprache abgewandt sei. Damit ist die Grenze aber im Prinzip gezogen: Alles, was mundartlich ist, bleibt aus dem Wörterbuch ausgeschlossen. Diese Entscheidung hat im WDG klaren Ausdruck gefunden in den Benutzungshinweisen: „Grundsätzlich werden rein mundartliche Ausdrücke nicht aufgenommen." (WDG Bd. 1, 015). — Und BW äußert sich ebenfalls deutlich: „So konnte auf die Aufnahme von Wörtern mit nur lokaler Verbreitung verzichtet werden." (BW Bd. 1, 13). Das Bild der konzentrischen Kreise, wie es Klappenbach eingeführt hat, veranschaulicht mit einfachen Mitteln, daß es Wörter mit areal begrenztem Gebrauch gibt, die trotzdem standardsprachlich oder standardsprachennah sind. Dieses Bild kann aber auch suggerieren, daß dieser Teil des Wortschatzes einheitlichen Charakter habe; ein Eindruck, der durch die Beispiele (Klappenbach 1960/1980, 170 — 171) noch verstärkt wird. Dagegen sprechen schon Klappenbachs eigene Erläuterungen, denen zufolge es bei den areal gekennzeichneten Wörtern um solche geht, die in den standardsprachlichen Wortschatz Eingang f i n d e n oder g e f u n d e n h a b e n . Die kodifizierten Ausdrücke im mittleren Ring haben also keineswegs alle den gleichen Status, was ihre Stellung innerhalb der Standardsprache oder zur Standardsprache angeht. Klappenbach berücksichtigt also, daß sich ehemals mundartliche Ausdrücke in unterschiedlichen Stadien einer Bewegung auf den Standard hin befinden können; ob sich das nicht in den arealen Kennzeichnungen im Wörterbuch niederschlagen müßte, thematisiert Klappenbach nicht. Außerdem übersieht sie, daß in diesem Raster keineswegs alle arealen Kennzeichnungen in den Wörterbüchern aufgehen, da nicht alle Ausdrücke, die in ihrem Gebrauch areal begrenzt sind, in dem Spannungsverhältnis von Standardsprache und Mundart stehen. Zwei Hauptgruppen sind hier zu nennen: (a)

Eine große Zahl der Ausdrücke, die als österreichische und schweizerische Besonderheiten in den primär binnendeutsch orientierten allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern figurieren. (b) Ausdrücke, die insgesamt oder in bestimmten Gebrauchsweisen spezifisch BRD-deutsch und DDR-deutsch sind.

Diese beiden Gruppen werden im weiteren nicht berücksichtigt, da die Behandlung der Gruppe (b) in den Wörterbüchern relativ unproblematisch ist, die Behandlung der Gruppe (a) hingegen so problematisch, daß sie gesonderter und gründlicher Untersuchung bedarf. 4 4

In einer Podiumsdiskussion auf der VIII. Internationalen Deutschlehrertagung in Bern am 5. 1. 1986 hat Peter von Polenz die These vertreten, daß die angemessene Erfassung der österreichischen und schweizerischen standardsprachlichen Lexik eigenständige Wörterbücher verlange.

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2.3. Stattdessen ist noch ein weiterer kritischer Punkt anzusprechen. Das Bild der drei konzentrischen Kreise vermittelt nämlich auch den Eindruck, daß Standardsprache und Mundart im gesamten deutschen Sprachgebiet gleich weit voneinander entfernt sind und überall auf gleiche Weise von dem „mittleren Ring" voneinander getrennt werden. Bekanntlich ist dies aber keineswegs der Fall, denn das Verhältnis von Standardsprache und nichtstandardsprachlichen Varietäten ist regional verschieden. Jürgen Eichhoff (1977, 11) verdeutlicht diesen Sachverhalt mit einem Drei-Ebenen-Konzept, bei dem zwischen der Standardsprache und den Mundarten die „Umgangssprachen der Stadt" (als regionale Umgangssprachen) liegen. Im Norden des deutschen Sprachgebiets sind diese Umgangssprachen standardsprachnah und mundartenfern, und sie werden nach Süden hin in absteigender Linie immer standardsprachferner und mundartennäher. Es wäre nun aber recht problematisch, aus diesem ungleichmäßigen Status der regionalen Umgangssprachen ableiten zu wollen, daß die areal begrenzt gebrauchten Ausdrücke im Norden des deutschen Sprachgebiets automatisch standardsprachnäher und im Süden automatisch standardsprachferner seien. Eichhoff selbst weist ausdrücklich darauf hin, daß die in seinem Drei-Ebenen-Konzept erfaßten Verhältnisse primär für den phonemischen und morphemischen Bereich gelten, während sich für die Lexik keineswegs eine solche einheitliche Tendenz beobachten lasse. 5 Für die Praxis der arealen Kennzeichnung in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern kann deshalb der (vorläufige) Schluß gezogen werden, daß für jeden als areal markierten Ausdruck gesondert anzugeben ist, wo er seinen Platz zwischen Standardsprache und Mundart hat. Dieser Schluß ist insofern nur vorläufig, als die getroffene Unterscheidung von Standardsprache, Mundarten und zwischen diesen beiden Ebenen angesiedelten regionalen Umgangssprachen noch Probleme bietet. Sie läßt sich nämlich nicht einfach mit einer wesentlichen lexikographischen Prämisse in Einklang bringen: In den allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern wird die Standardvarietät kodifiziert. Wenn nun die regionalen Umgangssprachen bzw. Umgangssprachen der Städte nicht standardsprachlich sind, dann hätte ihre Lexik nichts in den allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern zu suchen. Es würde sich also — wenn auch unter anderen Vorzeichen — nochmal die Frage nach der Berechtigung arealer Ausdrücke in solchen Wörterbüchern stellen. Und dagegen ist nochmal das Faktum zu stellen: Solche regional umgangssprachlichen Ausdrücke finden sich in den Wörterbüchern, und man wird zwar nicht unbedingt für jeden Einzelfall, aber doch im Prinzip sagen können: zu recht. Es wurde ja schon weiter oben daraufhingewiesen, daß auch Ausdrücke, die in ihrem Gebrauch areal begrenzt sind, zur Standardvarietät 5

Vgl. aber Müller 1980, der das Verhältnis von standardsprachlicher und umgangssprachlicher Lexik im nördlichen Deutschland genauer untersucht.

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gehören können. Gewiß wäre es jetzt angebracht, die in der Germanistik ausführlich geführte Diskussion um den Begriff der Umgangssprache, aber auch über das Verhältnis von Standard und Mundart aufzunehmen. Vielleicht reicht für die hier verfolgten Zwecke auch folgendes: Bei der Frage, was an Lexik im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch kodifiziert wird, wurde schon darauf hingewiesen, daß keineswegs der Gesamtwortschatz der Standardvarietät aufgenommen wird, sondern nur ein spezifischer Ausschnitt, der als Standardsprache (oder Hochsprache, Schriftsprache, Einheitssprache) betrachtet wird. Dieser Standardsprache wird dann neben den Mundarten die Umgangssprache gegenübergestellt, was zu dem nach Eichhoff skizzierten Drei-Ebenen-Konzept führt. Ulf Bichel (1980, 381) hebt jedoch hervor, daß die Umgangssprachen im Gegensatz zum Standard und zur Mundart keinen klar strukturierten Bereich bilden, weshalb er sie auf andere, nämlich funktionale Weise zu bestimmen versucht. E r bezeichnet sie als Sprachen des Umgangs innerhalb einzelner Gruppen sowie zwischen Gruppen. Da auch die Mundarten diese Funktion haben, betrachtet Bichel sie als „Sonderfälle von Umgangssprache". Dabei übersieht er jedoch, daß auch die Standardsprache diese Funktion haben kann. An dieser Stelle sei an die Prager Theorie der Schriftsprache erinnert, nach der die Standardvarietät einer Einzelsprache verschiedene Funktionen hat und dementsprechend verschiedene funktionalstilistische Ausprägungen besitzt. Eine dieser Funktionen ist die „kommunikative Mitteilungsfunktion" oder „Verkehrsfunktion", der als Funktionalstil die „Alltags-(Gesprächs-, Konversations-)Sprache" entspricht (Havranek 1932/1976, 127). Alltagssprache in diesem Sinn ist also eine funktionalstilistische Varietät der Standardvarietät, und sie ist Umgangssprache in dem funktionalen Verständnis von Bichel. Hier kommt es im weiteren nicht darauf an zu prüfen, welche der standardnahen regionalen Umgangssprachen (im Sinne Eichhoffs) nun als funktionalstilistische Varietäten der Standardvarietät eingestuft werden können und an welcher Stelle in der „absteigenden Linie" die regionalen Umgangssprachen nicht mehr zur Standardvarietät gerechnet werden sollten. Entscheidend ist dagegen, daß etwas, was als umgangssprachlich qualifiziert werden kann, durchaus auch zur Standardvarietät gehören kann — also auch Ausdrücke, deren Gebrauch areal begrenzt ist. Genau dies ist die Position, die im H W D G vertreten wird, wenn von „regionalen Varianten der Literatursprache" die Rede ist. Was nun die areale Kennzeichnung betrifft, so braucht der Lexikograph nach dem Gesagten nicht anzugeben, wo sich der Platz eines Ausdrucks z w i s c h e n Standard und Mundart befindet. Denn die areal gekennzeichneten Ausdrücke sollen ja alle zur Standardvarietät gehören. Es bleibt ihm aber dennoch eine Aufgabe, da die areal gekennzeichneten Ausdrücke nicht unbedingt in gleicher Weise Teil der Standardvarietät sind. Es liegt auf der Hand, daß Sprecher einer regionalen Umgangssprache ihnen vertraute Ausdrücke

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viel eher als standardsprachlich beurteilen, als Sprecher anderer regionaler Umgangssprachen, die mit diesen Ausdrücken nicht oder weniger vertraut sind. Während die einen unter Umständen ziemlich erstaunt wären, daß der standardsprachliche Status der Ausdrücke problematisch sein könnte, wären die anderen möglicherweise gleichermaßen erstaunt, daß diese Ausdrücke standardsprachlich sein sollten. 6 Das könnte ζ. B. der Fall sein bei Klicker, Knicker und Schusser (vgl. Eichhoff 1977, Karte 50 „Die Murmel"). Schusser ist im W D G und G W D S mit „landschaftlich besonders süddeutsch" gekennzeichnet; Klicker hat im G W D S die Kennzeichnung „landschaftlich", im W D G fehlt jedoch dieses Lemmazeichen. Das gilt gleicherweise für Knicker, das im G W D S mit „niederdeutsch" gekennzeichnet ist, im W D G hingegen fehlt. Möglicherweise ist das Fehlen von Klicker und Knicker zwar nicht der Reflex unterschiedlicher Beurteilungen durch verschiedene Sprechergruppen, aber doch der Reflex einer unterschiedlichen Beurteilung des standardsprachlichen Charakters dieser beiden Lexeme. In anderen Fällen mag die Beurteilung arealer Ausdrücke durch Sprecher verschiedener regionaler Umgangssprachen eher unproblematisch sein wie ζ. B. bei Tischler und Schreiner (vgl. Eichhoff 1977, Karte 20 „Der Tischler"). Es gibt also offensichtlich areal zu kennzeichnende Ausdrücke, deren standardsprachlicher Charakter deutlicher oder unangefochtener ist als der anderer. Auch hier bietet die Prager Schule ein handliches Beschreibungsmittel in Form der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie in Systemen — eine Unterscheidung, die sich auch auf Varietäten anwenden läßt. 7 J e ausgeprägter der standardsprachliche Charakter eines areal gekennzeichneten Ausdrucks ist, desto mehr gehört er in das Zentrum der Standardvarietät, und je schwächer sein standardsprachlicher Charakter ist, desto mehr gehört er in die Peripherie der Standardvarietät. Diese Vorstellung von Zentrum und Peripherie einer Varietät verbindet sich auch ganz zwanglos mit dem Gedanken, daß es in der Sprache selbst keine festen Grenzen gibt — also auch nicht zwischen verschiedenen Teilen des Wortschatzes. Ob wir einen Ausdruck noch als in die Peripherie der Standardvarietät gehörig betrachten oder ob wir ihn als in die Peripherie einer Nichtstandardvarietät gehörig betrachten, müssen wir selber entscheiden. Für den Lexikographen bleibt — nach positiver Entscheidung für die Standardvarietät — die Aufgabe, die areal gekennzeichneten Ausdrücke eher ins Zentrum oder in die Peripherie einzuordnen. Eine grundsätzliche Feststellung, vielleicht auch Binsenweisheit, läßt sich an diese Aufgabenzuweisung an den Lexikographen anschließen: Im Rahmen der Standardvarietät ist ,areal' nicht gleich ,areal'. 6

„Der Schweizer kann einen Helvetismus für gemeindeutsch halten und sich seiner somit überhaupt unbewußt bleiben [...]." (Kaiser 1969, 20).

7

Vgl. Danes 1982 und die Beiträge in: Les problemes du centre et de la peripheric du systeme de la langue. In: Travaux linguistiques de Prague 2. 1966.

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3. Statusunterschiede arealer Kennzeichnungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern 3.1. In seinen „Beobachtungen über den Gebrauch und Misbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten" äußert sich Johann Christoph Gottsched auch über den Status der Lexeme Raum, Rohm, Sahne und Schmand: „In solchen Wörtern, die zum Landleben gehören, ist es nicht möglich, ganz Deutschland zu einer Uebereinstimmung zu bringen. Es ist genug, wenn man die verschiedenen Benennungen weis, und versteht." (Gottsched 1758, 249 — 250)

Wie man sieht, räumt hier Gottsched prinzipiell ein, daß keineswegs in jedem Einzelfall entschieden werden kann, was die „gute hochdeutsche Schreibart" sei. 8 Es gibt also ganze Wortschatzbereiche — Gottsched spricht von Wörtern, die zum Landleben gehören —, für die keine Ausdrücke mit überregionaler Geltung existieren; zudem wird die Kenntnis der regionalen Varianten über ihren eigentlichen Geltungsbereich hinaus relativ gering gewesen sein. Wer also aus einer „i^/w-Landschaft" kommend eine „Raam-Gegend" bereiste, durfte nicht damit rechnen, daß man ihn verstand, wenn er Sahne sagte; und er selbst mußte ebenfalls lernen, daß hier nicht Sahne, sonder Raam galt. Mit ähnlichen, aber letztlich doch nicht vergleichbaren Verhältnissen haben wir es noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun (vgl. auch Besch 1979, 328 f.). So kann Paul Kretschmer urteilen: „Es ist nicht zu leugnen: die hochdeutsche Gemeinsprache ist im Wortschatz nicht zur vollen Einheitlichkeit vorgedrungen [...]." (Kretschmer 1969, 2)

Und als Beispiele nennt er die Wortpaare Treppe und Stiege, Sonnabend und Samstag, Schlächter und Fleischer, fegen und kehren, natürlich auch Sahne und Rahm, die alle gleich gute hochdeutsche Ausdrücke seien. Der Unterschied zur Gottsched-Zeit liegt auf der Hand: Damals ließ sich für Raam und Sahne nicht sagen, welcher der Ausdrücke in die „gute hochdeutsche Schreibart" gehört; oder man konnte sagen: beide nicht. Heute läßt sich für Rahm und Sahne sagen (wie für viele andere Beispiele): beide sind standardsprachlich; beide gehören in die Standardvarietät. Über areale Varianten dieses Typs läßt sich aber noch mehr sagen. Denn es ist für sie charakteristisch, daß sie nicht nur gesprochen, sondern auch geschrieben werden und daß ein erheblicher Teil der Sprecher des Deutschen diejenige Variante, die sie selbst nicht gebrauchen, kennen und verstehen. Die in der Regel deutliche komplementäre areale Distribution solcher Ausdrücke gilt also vorwiegend für den aktiven Gebrauch, nicht jedoch für die passive Beherrschung.

8

Zu Gottscheds „Wörterbuch" Püschel 1978. Auch Adelung hat in sein Wörterbuch in großem Umfang mundartliche Lexik unter den verschiedensten Aspekten aufgenommen; vgl. Püschel 1982.

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Einen anderen Typ arealer Varianten repräsentieren die schon zitierten Klicker, Knicker und Schusser, die das GWDS zur Standardvarietät rechnet. Aber hierher gehört auch noch Murmel, das zwar ebenfalls eine areale Variante ist (vgl. Eichhoff 1977, Karte 50), zugleich jedoch der überregionale Ausdruck; dementsprechend hat Murmel im GWDS keine areale Kennzeichnung. Man dürfte nun erwarten, daß die Wörterbücher solche Unterschiede, wie sie bei Rahm, Sahne einerseits und Murmel, Klicker, Knicker, Schusser andererseits zu beobachten sind, bei ihrer Kennzeichnungspraxis berücksichtigen würden — eine Erwartung, die lediglich vom GWDS und in seinem Gefolge vom DUW erfüllt wird. In diesen beiden Wörterbüchern gibt es nämlich die Kennzeichnung „regional" für areale Varianten des Typs Sahne und Rahm: „Erstreckt sich ihre Verbreitung über ein größeres Gebiet, fehlt ein übergreifender hochsprachlicher Ausdruck, werden sie [die Wörter] mit regional [..·.] gekennzeichnet." (GWDS Bd. 1, 1 5 - 1 6 )

Vorbereitet ist diese Kennzeichnungspraxis schon bei Wilfried Seibicke (1972, 1 und 2), der von „arealen Varianten der Hochsprache" spricht, denen er die „landschaftlichen Varianten der Umgangssprache" gegenüberstellt. Damit wird auch unterstrichen, daß die mit ,regional' gekennzeichneten arealen Varianten ins Zentrum der Standardvarietät gehören. Wer im GWDS ζ. B. fegen und kehren nachschlägt, findet beim ersteren „regional" angegeben und beim letzteren „regional besonders süddeutsch". Der Benutzer erfährt also über fegen, (a) daß es sich um eine areale Variante der Standardvarietät handelt, zu der mindestens noch ein Gegenstück existiert, (b) daß dieser Ausdruck weit verbreitet ist, (c) daß ihn auch solche Sprachteilhaber kennen, die ihn selbst nicht benutzen, (d) daß er nicht allein gesprochen, sondern auch geschrieben wird, was zugleich bedeutet, daß er im Zentrum der Standardvarietät steht.

Allerdings erfährt der Benutzer im Gegensatz zu kehren bei fegen nicht, w o der Ausdruck gebraucht wird. Dies wurde erst im DUW ergänzt, wo es „regional besonders norddeutsch" heißt. Die Kennzeichnung eines Ausdrucks mit .regional' impliziert für den kundigen Benutzer also u. a., daß es zumindest noch einen weiteren Ausdruck mit dieser Kennzeichnung geben muß. Insofern wirkt es irritierend, wenn man im GWDS Einträge findet wie Rechen ,regional besonders süddeutsch und mitteldeutsch' Samstag .regional besonders westdeutsch süddeutsch österreichisch und schweizerisch',

deren Gegenstücke aber nicht mit .regional' gekennzeichnet sind: Harke .besonders norddeutsch' Sonnabend .besonders norddeutsch'

Hier liegt wohl einfach Inkonsequenz vor, die im DUW dann auch korrigiert ist, allerdings auf unterschiedliche Weise: Bei Rechen wurde ,regional' gestri-

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chen, so daß nun weder Harke noch Rechen als .regional' gekennzeichnet sind, obwohl es auf sie durchaus zutreffen würde (vgl. Eichhoff 1977, Karte 13). Bei Sonnabend hingegen wurde „regional" ergänzt, so daß jetzt der gleichartige Status von Samstag und Sonnabend deutlich ist. Im Einzelfall läßt sich die Frage, ob die Kennzeichnung ,regional' zutrifft, nicht immer leicht beantworten, wie man am Beispiel Fleischer, Metzger, Schlachter\Schlächter zeigen kann. In keinem der konsultierten Wörterbücher findet sich bei Fleischer eine areale Kennzeichnung, im Gegensatz zu Metzger und SchlachterjSchlächter, die in allen Wörterbüchern areal gekennzeichnet sind. Speziell für das GWDS und DUW bedeutet das, daß Fleischer als „übergreifender hochsprachlicher Ausdruck" betrachtet wird. Vergleicht man nun diesen Befund mit der entsprechenden Karte bei Eichhoff (1977, Karte 19), so ergibt sich ein ganz anderes Bild: Danach weisen Fleischer, Metzger

und SchlachterjSchlächter

eine annähernd

komplementäre

Distribution auf, die n u r dadurch modifiziert ist, daß im Norden der D D R und im Grenzbereich der Metzger jSchlacbter-He\ef>e sich der G e b r a u c h v o n Fleischer auf K o s t e n des Gebrauchs v o n Schlachter verbreitet. Nach diesem Kartenbild wäre es durchaus angebracht, Fleischer und Metzger

(vielleicht auch SchlachterjSchlächter)

mit der Kennzeichnung ,regional' zu versehen.

Schließlich bezeichnet auch K r e t s c h m e r (1969, 4 1 6 ) diese Lexeme als „schriftsprachlich". Daneben nennt K r e t s c h m e r Fleischer noch den allgemeinsten A u s d r u c k , den das Fleischerh a n d w e r k als offizielle Bezeichnung gebrauche (so auch Eichhoff 1 9 7 7 , 25).

Möglicherweise ist dies der Grund dafür, daß Fleischer in den Wörterbüchern keine areale Kennzeichnung hat und somit als „übergreifendes hochsprachliches Wort" figuriert. Es bliebe aber auch noch zu überlegen, ob auf diese Weise der Gebrauch von Fleischer in Relation zum Gebrauch von Metzger und Schlachter differenziert genug beschrieben ist. Zwar gehören alle drei Lexeme zur Standardvarietät, möglicherweise aber nicht zur gleichen stilistischen Varietät innerhalb der Standardvarietät. Oder noch genauer: Für Fleischer wären zwei Gebräuche zu kodifizieren, die sich stilistisch voneinander unterscheiden. Zum einen könnte Fleischer wie Metsger und SchlachterjSchlächter das Kennzeichen ,regional' erhalten, das ja etwas über die areale Verbreitung und den mündlichen und schriftlichen ,Normal'-Gebrauch aussagt; zum anderen könnte Fleischer eine Kennzeichnung wie ,amts- oder verwaltungssprachlich' oder ,öffentlich' oder ,offiziell' erhalten, mit der also der überregionale Gebrauch von Fleischer stilistisch näher spezifiziert wäre. Diese differenzierte Beschreibung von Lexemgebräuchen ist keineswegs ein neuer Vorschlag für die lexikographische Praxis; im Gegenteil: die Wörterbücher nutzen sie schon, wie das Beispiel Roß im DUW zeigt. Dort wird ein Gebrauch von Roß beschrieben mit „gehoben; edles Pferd", und ein zweiter Gebrauch mit „süddeutsch österreichisch schweizerisch; Pferd". Für welche Beschreibung von Fleischer ein Lexikograph sich auch entscheiden mag, es sollte jedenfalls deutlich geworden sein, daß die Frage: Areale Kennzeichnung oder nicht?

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nicht unbedingt eine einfache Antwort findet; selbst bei solchen Standardbeispielen nicht, wie sie Fleischer, Metzger, Schlachter\Schlächter sind. Außerdem sollte deutlich geworden sein, daß bei der Beantwortung dieser Frage nicht nur auf die areale Distribution der Ausdrücke zu achten ist, sondern auch auf ihre mögliche Zugehörigkeit zu spezifischen stilistischen Varietäten innerhalb der Standardvarietät. Während im GWDS und DUW mit .regional' eine besondere Gruppe aus der Gesamtheit der areal gekennzeichneten Ausdrücke herausgehoben wird, läßt sich der Status dieser besonderen Ausdrücke in den übrigen Wörterbüchern nur indirekt erschließen. So findet sich beispielsweise bei fegen und kehren im WDG, HWDG, Wahrig und BW keine areale Kennzeichnung. Daraus kann man entnehmen, daß beiden Lexemen der gleiche Status zugeschrieben wird; sie befinden sich beide im Zentrum der Standardvarietät. Insoweit leistet das Fehlen jeglicher Kennzeichnung genausoviel wie die Kennzeichnung ,regional' im GWDS und DUW. Was fehlt, ist natürlich der Hinweis auf die areale Beschränkung des Gebrauchs. Umgekehrt liegt der Fall bei Harke und Rechen, die im WDG, Wahrig und BW (aber nicht im HWDG) areal gekennzeichnet sind. Oder bei Samstag und Sonnabend, die im Wahrig und BW areal gekennzeichnet sind. Hier erfahrt man zuerst einmal etwas darüber, wo die Lexeme gebraucht werden, während man sich ihren Status in der Standardvarietät selbst erschließen muß. Zum einen weisen die Kennzeichnungen auf eine komplementäre areale Distribution hin, und zum anderen findet sich kein dritter Ausdruck mit überregionaler Geltung. Daraus läßt sich dann schließen, daß die Lexeme ins Zentrum der Standardvarietät gehören. Implizit enthalten die arealen Kennzeichnungen bei den angeführten Beispielen die gleichen Informationen, die mit der Kennzeichnung .regional' auf explizitere Weise gegeben werden. Sollte ein Laienbenutzer (der ζ. B. nicht Dialektologe oder Lexikograph ist) an solchen Informationen interessiert sein, so müßte er schon eine Menge darüber wissen, was man arealen Kennzeichnungen alles entnehmen kann, und er müßte erheblich in den Wörterbüchern hin- und herblättern. 3.2. Bisher wurden nur solche Beispiele behandelt, die im GWDS und DUW mit ,regional' gekennzeichnet sind (oder zumindest sein könnten). Das hatte zur Folge, daß es nur um solche Ausdrücke ging, die eher im Zentrum der Standardvarietät stehen. Im folgenden geht es nun um solche Ausdrücke, die vom Zentrum der Standardvarietät weiter entfernt sind und in ihre Peripherie gehören. Für diese Ausdrücke lassen sich eine Reihe von Kriterien angeben, die allerdings im konkreten Fall nicht alle zutreffen müssen: — das Gebiet, in dem ein Ausdruck gebraucht wird, ist relativ klein, — die (passive) Kenntnis eines Ausdrucks im übrigen Sprachgebiet ist gering,

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— diejenigen, die einen Ausdruck gebrauchen, sehen ihn selbst als in Konkurrenz stehend mit einem als überregional geltenden Ausdruck, — ein Ausdruck wird eher mündlich gebraucht als geschrieben, — ein Ausdruck kann selbst im mündlichen Gebrauch in Konkurrenz zu einem anderen Ausdruck stehen, der zu einer anderen stilistischen Varietät gehört, die ζ. B. formeller ist oder ein höheres Prestige besitzt, — der Ausdruck weist phonemische und/oder morphemische Eigenschaften auf, die nicht als zur Standardvarietät gehörig betrachtet werden. Ob und wie in den Wörterbüchern der Tatsache Rechnung getragen wird, daß areal gekennzeichnete Ausdrücke mehr ins Zentrum oder in die Peripherie der Standardvarietät gehören, läßt sich im Einzelfall praktisch nicht feststellen. 9 Mit Ausnahme der schon behandelten Kennzeichnung ,regional' des G W D S und D U W werden in den Wörterbüchern bei den arealen Kennzeichnungen keinerlei Differenzierungen vorgenommen, die für einen Laienbenutzer auf Anhieb erkennbar wären. Danach sind alle arealen Kennzeichnungen gleichwertig, natürlich auch alle diejenigen arealen Kennzeichnungen, die im G W D S und D U W nicht den Zusatz ,regional' haben. Allerdings läßt sich in der Kennzeichnungspraxis doch eine gewisse Tendenz beobachten (wiederum natürlich nicht für den Laienbenutzer). J e mehr die Ausdrücke einen standardsprachlichen Eindruck machen, desto eher werden areale Kennzeichnungen vermieden. Dabei spielt sicherlich eine große Rolle, daß die Lexikographen im Einzelfall gar nicht damit rechnen, daß es areale Unterschiede im Gebrauch gibt, und diesen dann natürlich auch nicht weiter nachzuspüren suchen. Dies gilt wohl besonders für solche Ausdrücke, deren Gebrauch relativ jung ist und deren areal begrenzter Gebrauch unter Umständen nicht auf mundartliche Verhältnisse zurückgeht. Dies ist ζ. B. bei Bulldog,

Schlepper,

(1977, Karte 12) für Traktor

Traktor und Trecker der Fall. Während sich bei Eichhoff

Belege im gesamten deutschen Sprachgebiet finden — allerdings

in unterschiedlicher Dichte und vielfach nur als Zweitnennungen —, weisen die Belege für Trecker

und Bulldog

werden). Traktor

eine klare Nord-Süd-Verteilung auf ( S c h l e p p e r kann hier vernachlässigt scheint sich zum „überregionalen hochsprachlichen Wort" zu entwickeln,

was sich als Sprachwandelprozeß im Wörterbuch nur schwer erfassen läßt im Gegensatz zur arealen Distribution der anderen Ausdrücke. Ähnlich auskunftsarm sind die Wörterbücher bei BinderjSelbstbinder,

Krawatte

und

Schlips,

die nach Eichhoff (1978, Karte 85) ebenfalls areal begrenzt gebraucht werden. Immerhin kennzeichnen G W D S , D U W und B W Schlips

9

als „umgangssprachlich", was dem Hinweis

Niebaum (1984, 3 1 9 - 3 2 1 ) ordnet die arealen Kennzeichnungen des W D G , G W D S und B W nach diesem Schema in die drei Gruppen „standardsprachliche Ebene", „umgangssprachliche Ebene" und „mundartnahe Ebene". O b sich diese Systematik in den Wörterbüchern tatsächlich wiederfindet, ist allerdings eine andere Frage. Daß Ausdrücke mit weiterer Verbreitung dem Standard näher stehen und Ausdrücke mit geringerer Verbreitung den Mundarten näher stehen, ist der Tendenz nach sicherlich richtig; es ist aber nicht zwingend.

Zu Status und Funktion arealer Kennzeichnungen

503

Eichhoffs (1978, 24) entspricht, im Verbreitungsgebiet von Schlips gelte Krawatte häufig als die gewähltere Ausdrucksweise: Daheim sage man durchaus Schlips, im Geschäft verlange man eine Krawatte. D i e W ö r t e r b ü c h e r konstatieren also ganz richtig einen Unterschied in d e r stilistischen Qualität, sie v e r m e r k e n aber nicht, daß dieser Unterschied nicht überall gelten m u ß . Ein Beispiel mit m u n d a r t l i c h e m „ H i n t e r g r u n d " bietet die K a r t e „ ( Ä p f e l ) a u f h e b e n " ( E i c h h o f f 1 9 7 8 , K a r t e 98): Alle arealen Varianten auf dieser Karte finden sich auch als Lemmazeichen in den Wörterbüchern (wenn auch nicht jeder Ausdruck in jedem Wörterbuch). Durchgängig mit einer arealen Kennzeichnung versehen sind aber nur klauben, aufklauben und zusammenklauben (mit Ausnahme von Wahrig). Alle anderen Ausdrücke, bis auf einsammeln im HWDG, sind ohne Kennzeichnung (vgl. Tabelle l). 1 0

aufheben auflesen zusammenlesen aufraffen aufsammeln einsammeln aufsuchen aufklauben Zusammenklauben

klauben

WDG

HWDG

GWDS

DUW

Wahrig

0 0 0 0 0

0 0 0 0 0 landsch

0 0 0 0 0 0 0 landsch

0 0

0 0 0



0 landsch ugs landsch ugs landsch ugs

-

-

landsch

landsch bes süddt österr landsch

-

0 0 0 0 landsch

-

0 —

-

0

-

bes süddt österr ugs

BW —

0 0 0 0 0 0 landsch landsch

landsch

Tabelle 1

D i e eben skizzierte Tendenz, bei areal distribuierten A u s d r ü c k e n keine arealen K e n n z e i c h n u n g e n v o r z u n e h m e n , hat n o c h eine K e h r s e i t e : Bei arealen A u s drücken, die eher in die Peripherie d e r S t a n d a r d v a r i e t ä t g e h ö r e n , ist damit zu rechnen, daß sie in den W ö r t e r b ü c h e r n fehlen. Dies läßt sich g u t a m Beispiel der K a r t e „ D e r K a n t e n " ( E i c h h o f f 1 9 7 8 , K a r t e 57) zeigen: Von den dort verzeichneten (binnendeutschen) arealen Varianten erscheint etwa ein Drittel gleichmäßig in den konsultierten Wörterbüchern; das zweite Drittel erscheint in wenigen Wörterbüchern, und das letzte Drittel ist überhaupt nicht kodifiziert (vgl. Tabelle 2).

10

Ο = der Ausdruck hat keine a r e a l e Kennzeichnung; — = der Ausdruck ist nicht oder nicht in der entsprechenden Bedeutung kodifiziert. Die Ausdrücke für die arealen Kennzeichnungen wurden vereinheitlicht.

504

Ulrich Püschel

Anschnitt Kanten

(Käntchen)

Ranft

(Ränftel,

Ränftchen

)

Knust

(Knüstchen)

Scher\

(Schertet)

Knorpel

(Knirs-

WDG

HWDG

GWDS

DUW

Wahrig

BW

0

0

0

0

0

0

landsch

landsch

landsch

bes

0

0

bes

bes

norddt

landsch norddt -

norddt

norddt

landsch

landsch

landsch

0

0

-

landsch

landsch

norddt

norddt

-

bayer

bayer

österr

österr

Schweiz

Schweiz

süddt

süddt

-

landsch

-

-

österr auch bair

-

-

Kappe

-

-

-

Knäppchen

-

-

-

-

-

Knäusle

-

-

-

-

-

-

Krüstchenj

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

chen,

-

Knet\la) -

landsch

(Knapp) Knäuschenj Kruste 1 Kiirstchen K i p f j Kipfel Riebele

Tabelle 2

Der in den Wörterbüchern ganz klar als überregional ausgewiesene Ausdruck Anschnitt, der im Zentrum der Standardvarietät steht, erscheint im Kartenbild als areale Variante überhaupt nur in der Schweiz. Doch einmal davon abgesehen, läßt sich bei der tabellarischen Ubersicht nicht entscheiden, was die Lexikographen bewußt ausgesondert haben und was ihnen einfach entgangen ist. Allerdings: alle kodifizierten Varianten finden sich bei Kretschmer (1969, 251—255) und von den nichtkodifizierten fehlt lediglich Kipf\Kipfel (bezeichnenderweise fehlt auch Anschnitt). Die Lexikographen konnten sich also zumindest einen groben Überblick über die arealen Varianten verschaffen. Einen gewissen Hinweis auf die größere Nähe oder Ferne arealer Varianten zum Zentrum der Standardvarietät erhält man auch dann, wenn es neben den areal gekennzeichneten Ausdrücken einen nicht areal gekennzeichneten Ausdruck mit überregionaler Geltung gibt. Allerdings handelt es sich dabei wiederum nur um implizite Informationen, die sich ein Benutzer erst erschließen müßte. Ein Beispiel dafür ist klingeln,

läuten,

schellen

in der Bedeutung ,es klingelt'. Die Auswertung

der Wörterbücher ergibt das folgende Bild (vgl. Tabelle 3). klingeln

ist für alle Wörterbücher das überregionale standardsprachliche Lexem, was auch

durch das Kartenbild bei Eichhoff (1977, Karte 27) gestützt wird. Dort findet sich bei Belegen

505

Zu Status und Funktion arealer Kennzeichnungen

WDG

HWDG

GWDS

DUW

Wahrig

BW

klingeln läuten

0 landsch

0 landsch

0 0

landsch

landsch

0 landsch bes süddt österr landsch

0 oberdt

schellen

0 landsch bes süddt österr landsch

0

landsch

Tabelle 3

für läuten und schellen häufig als Zweitmeldung auch klingeln. Allerdings ist diese Beschreibung noch unvollständig, da im Norddeutschen und Ostmitteldeutschen klingeln als areale Variante in komplementärer Distribution zu läuten und schellen auftritt.

Klingeln ist demnach einerseits areale Variante, andererseits aber auch das „übergreifende hochsprachliche Wort". Aus den Kennzeichnungen der Wörterbücher geht diese Doppelfunktion nicht hervor; sie könnten im Gegenteil zu der ganz falschen Schlußfolgerung verleiten, daß läuten und schellen als areale Varianten in komplementärer Distribution stünden und klingeln ausschließlich überregionale Geltung zukomme. In diesem Fall würde klingeln ganz eindeutig im Zentrum der Standardvarietät stehen und läuten und schellen mehr zur Peripherie hin rücken. Dies ist insofern nicht ganz falsch, als klingeln anfängt, läuten und schellen zu dominieren (vgl. Eichhoff 1977, 27). Aber zugleich stehen läuten, schellen u n d klingeln als areale Varianten auch in komplementärer Distribution miteinander, so daß vergleichbare Verhältnisse wie bei fegen und kehren oder Samstag und Sonnabend herrschen. Das bedeutet aber, daß läuten und schellen doch eher zum Zentrum als zur Peripherie der Standardvarietät tendieren, wofür auch spricht, daß sie nicht nur gesprochen, sondern auch geschrieben werden. Eindeutig anders, vor allem auch klarer, liegen die Verhältnisse bei dem schon behandelten Beispiel „Der Kanten". Anschnitt ist der konkurrenzlos ins Zentrum der Standardvarietät gehörende Ausdruck, der den arealen Varianten strikt gegenübersteht, da er selbst nirgends zugleich areale Variante ist (wenn man das Schweizerdeutsch außer acht läßt). Die areal gekennzeichneten Ausdrücke orientieren sich deutlich mehr zur Peripherie hin, aber sicherlich nicht alle im gleichen Ausmaß. Hier eine Rangfolge aufstellen zu wollen und gegebenenfalls auch noch die Frage entscheiden zu wollen, welche der arealen Varianten, die Eichhoff (1977, Karte 57) bietet, ins Wörterbuch aufzunehmen sind, wäre ein schwieriges Unterfangen, und das, obwohl uns die Karte „Der Kanten" detailliertes und gesichertes Material bietet. 3.3. Wie sieht es aber in den vielen tausend anderen Fällen aus, die nicht annähernd so gut dokumentiert sind? Die Lexikographen verfügen gar nicht über die notwendigen Informationen, um durchgängig überhaupt erst einmal

506

Ulrich Püschel

annähernd genaue areale Kennzeichnungen vorzunehmen. Dies wird schnell deutlich beim Wörterbuchvergleich, wie ihn ζ. B. Niebaum (1984, Abschnitt 4) durchgeführt hat mit dem Ergebnis, daß Abweichungen und Widersprüche das Normale sind. Dies zeigt sich aber auch an der Verwendung der Kennzeichnung landschaftlich', die ζ. B. im WDG und GWDS vor allem dann verwendet wird, wenn keine genauere areale Kennzeichnung gegeben werden kann. Solange die Lexikographen nicht über gesichertes Material verfügen, kann man auch keine detaillierten Beschreibungen des Status der arealen Varianten erwarten. Das heißt aber nicht, daß die Lexikographen die Tendenz, die mit der Einführung der Kennzeichnung ,regional' im GWDS und DUW verbunden ist, nicht weiterverfolgen sollen. Es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt, der bislang nur indirekt eine Rolle gespielt hat, die Frage nämlich, was mit der arealen Kennzeichnung von Ausdrücken dem Benutzer allgemeiner einsprachiger Wörterbücher an Informationen geboten wird, die über die areale Distribution hinausgehen, und wie diese Informationen im Wörterbuch zu explizieren sind. Damit wird aber auch grundsätzlich angesprochen, was für Informationen es in Wörterbüchern neben den arealen Kennzeichnungen noch gibt. Die Lexikographen verwenden ja neben arealen noch andere Typen von Kennzeichnungen. Prinzipiell wäre zu fragen, welchen Status diese verschiedenen Typen von Kennzeichnungen haben, ob sie voneinander unabhängig sind oder ob sie miteinander im Zusammenhang stehen. Speziell ist zu fragen, mit welchen anderen Typen von Kennzeichnungen die arealen Kennzeichnungen in engerer Beziehung stehen.

4. Areale und andere Typen von Kennzeichnungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern 4.1. Herausgeber und Bearbeiter des WDG hatten sich bei der Behandlung des zu kodifizierenden Wortschatzes ein hohes Ziel gesteckt. Nach eigenem Bekunden hatten sie den Plan, „[...] eine eingehende stilistische Analyse des deutschen Wortschatzes vorzunehmen, d. h. das ja großenteils eben durch lexikalische Mittel bedingte Wesen der verschiedenen Formen und Stile der Hochsprache aufzuzeigen." (Steinitz 1952, 500)

Im Vorwort des WDG wird dieses Ziel ebenfalls angesprochen, wenn es heißt: „Ein Hauptanliegen des Wörterbuches ist die s t i l i s t i s c h e C h a r a k t e r i s i e r u n g des deutschen Wortschatzes: Die Wörter und ihre Verwendungen werden in ihren verschiedenen Gebrauchsweisen durch B e w e r t u n g e n charakterisiert und damit einer bestimmten Stilschicht zugeordnet." ( W D G Bd. 1, 0 1 1 )

Neben die stilistischen „Bewertungen" treten noch drei weitere Typen von „Kennzeichnungen": die Kennzeichnung der zeitlichen Zuordnung, die

Zu Status und Funktion arealer Kennzeichnungen

507

Kennzeichnung der räumlichen Zuordnung, die Kennzeichnung der Fachund Sondergebiete. Im H W D G , G W D S , D U W , Wahrig und B W zeigt sich in Grundzügen das gleiche Bild. Sprachpragmatisch gesprochen betreffen alle diese Bewertungen und Kennzeichnungen die Gebrauchsregeln der Ausdrücke, denen sie zugeordnet sind; wenn auch auf unterschiedliche Weise. E s handelt sich dabei nicht um den Teil der Gebrauchsregeln, in dem beschrieben wird, wie man mit den Ausdrücken prädizieren und referieren kann (Püschel 1984), sondern um den, in dem beschrieben wird, wie man mit der Verwendung eines bestimmten Ausdrucks seine Äußerung gestalten kann (Püschel 1986). Hier läßt sich jeweils die Frage stellen, was es bedeutet, daß jemand gerade diesen Ausdruck verwendet hat und keinen anderen. Was kann es ζ. B. bedeuten, wenn ein Norddeutscher in Hamburg Samstag verwendet und wenn er in München Samstag verwendet? Samstag ist ein stilistisch neutral bewerteter Ausdruck, der in den Wörterbüchern keine stilistische Kennzeichnung aufweist. Trotzdem besitzt er so etwas wie ein „stilistisches Potential", das aus seinem areal begrenzten Gebrauch resultiert. Wenn ein Norddeutscher, der normalerweise Sonnabend sagt, in Hamburg, wo man normalerweise Sonnabend sagt, Samstag verwendet, so ist die Frage: Warum und wozu gerade Samstag (und nicht Sonnabend)? naheliegend. 11 Und die Antwort auf diese Frage fallt wahrscheinlich anders aus, als wenn man nach dem Warum und Wozu der Verwendung von Samstag durch den gleichen Norddeutschen in München fragt.

Es zeigt sich also, daß es nicht nur bei den stilistischen Bewertungen, sondern auch bei den anderen Typen von Kennzeichnungen um Stilistisches geht. Das bedeutet aber auch, daß die arealen Kennzeichnungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern, nicht nur die Information bieten, wo dieser Ausdruck gebraucht wird, sondern auch Information darüber, daß man durch seinen Gebrauch stilistische Wirkungen erzielen kann. Welcher Art diese Wirkungen sein können, läßt sich der arealen Kennzeichnung jedoch nicht entnehmen und wird sich wahrscheinlich im Wörterbuch auch gar nicht systematisch erfassen lassen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß areale Kennzeichnungen über das Wo des Gebrauchs eines Ausdrucks hinaus Hinweise auf stilistische Spielräume bieten. 4.2. Obwohl also zwischen den verschiedenen Typen von Kennzeichnungen gewisse Beziehungen bestehen, werden sie von den Lexikographen als voneinander getrennt behandelt; zumindest finden sich keine Hinweise, die einen anderen Schluß erlauben. Und darin stimmen alle Wörterbücher überein. Gegen diese stillschweigende Übereinkunft soll noch für die stilistischen Bewertungen (oder Stilschichten) und die arealen Kennzeichnungen kurz skizziert werden, wie eng diese miteinander verklammert sind.

11

Solche Gebräuche können nach dem Stilmuster A B W E I C H E N beschrieben werden; vgl. Püschel 1985.

508

Ulrich Püschel

In den Wörterbüchern werden die stilistischen Bewertungen und anderen Kennzeichnungen nach bestimmten Prinzipien der Ökonomie angebracht (gegen die grundsätzlich nichts einzuwenden ist). Derjenige Fall, der als der häufigste angesehen werden muß, erhält keine Kennzeichnung; er ist sozusagen nullmarkiert. Spielt man diese Regelung einmal konsequent durch, so kommt man manchmal zu Ergebnissen, die von den Lexikographen sicherlich nicht gewollt sind; die für das Nachschlagen im Wörterbuch wahrscheinlich auch irrelevant sind (vor allem weil die Benutzer ausreichend gesunden Menschenverstand besitzen, um damit fertigzuwerden); die aber doch auf einen kritischen Punkt bei den arealen Kennzeichnungen führen. Es ist in allen Wörterbüchern üblich, daß die zur ,normalsprachlich' bezeichneten stilistischen Varietät gehörenden Wörter keine Kennzeichnung erhalten, sondern lediglich diejenigen, die zu anderen stilistischen Varietäten oder Stilschichten gehören (also ζ. B. .gehoben' oder ,umgangssprachlich'). Ebenso gilt, daß alle Wörter, die keine areale Kennzeichnung haben, im gesamten deutschen Sprachgebiet gebraucht werden. Nehmen wir als Beispiel Kerngehäuse, das im GWDS wie auch den anderen Wörterbüchern keinerlei Kennzeichnung hat. Statt der „Nullmarkierung" könnte auch stehen: formalsprachlich' und ,überregional'. Im GWDS finden wir auch Kitsch ,Kerngehäuse' mit der arealen Kennzeichnung .rheinisch' (vgl. auch Eichhoff 1978, Karte 97). Nach dem Ergänzungsverfahren erhalten wir dann: ,normalsprachlich' und ,rheinisch'. Und genau das ist ein etwas merkwürdiges Ergebnis, denn selbst die Rheinländer werden kaum behaupten wollen, daß Kitsch normalsprachlich sei; sie würden es beispielsweise wahrscheinlich nicht schreiben. Leider kann man angesichts dieser Lage nicht einfach sagen, daß wohl die Ergänzung ,normalsprachlich' falsch ist und sie deshalb einfach durch eine andere Ergänzung wie ζ. B. .umgangssprachlich' zu ersetzen ist. Denn eine solche generelle Regel würde wiederum zu Problemen führen. Schlägt man ζ. B. im BW nach und findet unter Samstag: ,rheinisch westdeutsch oberdeutsch', unter Sonntag: ,norddeutsch mitteldeutsch', käme man doch schwerlich auf die Idee, diesen Ausdrücken die Kennzeichnung umgangssprachlich' zuzuweisen. Diese Bemerkungen führen zu einem doppelten Schluß: Zum einen hängen die stilistischen Bewertungen und die arealen Kennzeichnungen eng miteinander zusammen. Sie kommen notwendigerweise immer miteinander vor, auch wenn die ökonomische Gestaltung der Wörterbücher das weithin verdeckt. Zum anderen gibt es keine einfachen Korrelationen zwischen den Kennzeichnungen verschiedenen Typs. Zwar gilt bei einer „Nullmarkierung" immer ,normalsprachlich' und ,überregional'; bei einer arealen Kennzeichnung gilt aber keineswegs automatisch .umgangssprachlich'. Bei der Behandlung von Statusunterschieden von arealen Kennzeichnungen (Abschnitt 3) spielte ja die Formel „ ,areal' ist nicht gleich ,areal'" schon eine Rolle. Dort wurde

Zu Status und Funktion arealer Kennzeichnungen

509

noch versucht, dem mit der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie Rechnung zu tragen. Bei der Behandlung der konkreten Beispiele hat sich aber schon gezeigt, daß eine angemessene Beschreibung des Gebrauchs arealer Varianten nicht auf die Angabe stilistischer Varietäten verzichten kann. 1 2 Das bedeutet aber auch in der letzten Konsequenz, daß die Behandlung der arealen Kennzeichnungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern nicht isoliert betrachtet werden darf. Befriedigend ist sie nur zu lösen in Verbindung mit den übrigen Typen von Kennzeichnungen, und da ganz besonders den stilistischen Bewertungen.

Literatur Wörterbücher BW = Brockhaus Wahrig. Deutsches Wörterbuch. 6 Bde. Wiesbaden, Stuttgart 1 9 8 0 - 1 9 8 4 . Gottsched, Johann Christoph, Beobachtungen über den Gebrauch und Misbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten. Straßburg, Leipzig 1758. G W D S = Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Mannheim, Wien, Zürich 1 9 7 6 - 1 9 8 1 . D U W = Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim, Wien, Zürich 1983. H W D G = Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. 2 Bde. Berlin 1981. Wahrig = Gerhard Wahrig. Deutsches Wörterbuch. Gütersloh 1968. W D G = Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. 6 Bde. Berlin 1964—1977.

Monographien, Aufsätze Besch, Werner, Schriftsprache und Landschaftssprache im Deutschen. Zur Geschichte ihres Verhältnisses vom 16. bis 19. Jahrhundert. In: Rheinische Vierteljahresblätter 43, 1979, 323-343. Bichel, Ulf, Umgangssprache. In: Lexikon der Germanistischen Linguistik. 2. Aufl. Tübingen 1980, 3 7 9 - 3 8 3 . de Clerck, Rita, Die diatopischen und diastratischen Markierungen in 6 modernen deutschen Wörterbüchern. Proefschrift. Duitse Taalkunde 1977 — 1978. Rijksuniversiteit Gent. Danes, Frantisek, Zur Theorie des sprachlichen Zeichensystems. In: Grundlagen der Sprachkultur. Teil 2. Berlin 1982, 1 3 2 - 1 7 3 . Eichhoff, Jürgen, Wortatlas der deutschen Umgangssprachen. Bd. 1. Bern, München 1977. Eichhoff, Jürgen, Wortatlas der deutschen Umgangssprachen. Bd. 2. Bern, München 1978. Fenske, Hannelore, Schweizerische und österreichische Besonderheiten in deutschen Wörterbüchern. Mannheim 1973. Havränek, Bohuslav, Die Aufgaben der Literatursprache und die Sprachkultur. In: Grundlagen der Sprachkultur. Teil 2. Berlin 1976, 1 0 3 - 1 4 9 . Kaiser, Stephan, Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in der Schweiz. Bd. 1: Wortgut und Wortgebrauch. Mannheim, Wien, Zürich 1969.

12

Insofern wäre es nur angemessen, wenn ζ. B. BW die Kombination ,areale Kennzeichnung' + ,umgangssprachlich' konsequent handhaben würde und gegebenenfalls auch andere Kombinationen von Kennzeichnungen verwenden würde; vgl. die Aufstellung bei Niebaum 1984, 320.

510

Ulrich Püschel

Klappenbach, Ruth, Gliederung des deutschen Wortschatzes der Gegenwart. In: Studien zur modernen deutschen Lexikographie. Ruth Klappenbach (1911 — 1977). Hrsg. von Werner Abraham unter Mitwirkung von Jan F. Brand. Amsterdam 1980, 149 — 174. Kretschmer, Paul, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache. 2., durchgeseh. u. erg. Aufl. Göttingen 1969. Kühn, Peter/Ulrich Püschel, Die Rolle des mundartlichen Wortschatzes in den standardsprachlichen Wörterbüchern des 17. bis 20. Jahrhunderts. In: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 2. Halbbd. Berlin, New York 1983,1367 — 1398. Mattheier, Klaus J., Pragmatik und Soziologie der Dialekte. Einführung in die kommunikative Dialektologie des Deutschen. Heidelberg 1980. Müller, Gunter, Hochsprachliche lexikalische Norm und umgangssprachlicher Wortschatz im nördlichen Teil Deutschlands. In: Niederdeutsches Wort 20. 1980, 1 1 1 - 1 3 0 . Niebaum, Hermann, Die lexikographische Behandlung des landschaftsgebundenen Wortschatzes in den Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie IV. Hildesheim, Zürich, New York 1984, 309 — 360 (Germanistische Linguistik H. 1 - 3 . 1983). Püschel, Ulrich, Von mehrdeutigen und gleichgültigen Wörtern. Gottscheds Beitrag zur einsprachigen Lexikographie. In: Germanistische Linguistik H. 2—5. 1978, 285 — 321. Püschel, Ulrich, Die Berücksichtigung mundartlicher Lexik in Johann Christoph Adelungs „Wörterbuch der hochdeutschen Mundart". In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 49. 1982, 2 8 - 5 1 . Püschel, Ulrich, Im Wörterbuch ist alles pragmatisch. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie IV. Hildesheim, Zürich, New York 1984, 361—380 (Germanistische Linguistik H. 1 - 3 . 1983). Püschel, Ulrich, Das Stilmuster „Abweichen". In: Sprache und Literatur H. 55. 1985, 9 — 24. Püschel, Ulrich, GESTALTEN als zentrales Stilmuster. In: Perspektiven der Angewandten Linguistik. Forschungsfelder. Kongeßbeiträge zur 16. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik. Tübingen 1986, 143—145. Seibicke, Wilfried, Wie sagt man anderswo? Landschaftliche Unterschiede im deutschen Wortgebrauch. Mannheim, Wien, Zürich 1972. Steinitz, Wolfgang, Die Erforschung der deutschen Sprache der Gegenwart. In: Wissenschaftliche Annalen 1. 1952, 4 9 2 - 5 0 5 . de Tollenaere, Felicien, Dialect en wordenboek der algemene taal. In: Wordenboek en dialect. Amsterdam 1963, 3 - 3 3 .

JÜRGEN

EICHHOFF

Die Wertung landschaftlicher Bezeichnungsvarianten in der deutschen Standardsprache 1. Einführung 2. Landschaftliche Bezeichnungsvarianten im Deutschen Universalwörterbuch und im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache 3. Vorschlag zur lexikographischen Darstellung Literatur

1. Einführung In stärkerem Maße als die übrigen westlichen Kultursprachen ist die deutsche Sprache dadurch gekennzeichnet, daß nicht überall in ihrem Geltungsbereich dieselben Gegebenheiten auch mit denselben Bezeichnungen benannt werden. Der Handwerker, der Fleisch verarbeitet und verkauft, heißt je nach Landschaft Metzger, Fleischer, Schlachter, Schlächter, Fleischhacker oder Fleischhauer. Solche landschaftlichen Bezeichnungsvarianten finden sich nicht nur in den Mundarten. Sie treten auch da auf, wo Sprachvarietäten mit großräumigerer Kommunikationsabsicht verwendet werden. Selbst wenn sich Sprecher oder Schreiber einem Publikum im gesamten deutschen Sprachgebiet verständlich machen möchten und deshalb jene Sprachform verwenden, für die sich die Bezeichnung „Standardsprache" eingebürgert hat, sind sie auf Wörter angewiesen, die in der alltäglichen Verständigung von Mensch zu Mensch nur landschaftlich begrenzt üblich sind. Bei Thomas Mann und Hermann Kant zum Beispiel findet man als Bezeichnung für den genannten Handwerker das Wort Schlachter, bei Alfred Döblin Schlächter, Friedrich Dürrenmatt und Martin Walser entschieden sich für Metzger, bei Franz Kafka und Christa Wolf lesen wir Fleischer, und Franz Grillparzer schrieb Fleischhauer, ein Wort, das auch Kafka geläufig war.1 1

Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Berlin 1932, 25, 63 u. ö. — Hermann Kant, Der Aufenthalt. Neuwied 1977, 313. — Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte v o m Franz Biberkopf. Berlin 1929, 30. — Friedrich Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame. In: F. Dürrenmatt, Komödien I. Zürich 1957, 325, 331. — Martin Walser, Seelenarbeit. Frankfurt/Main 1979, 181. - Franz Kafka, Ein altes Blatt. In: F. Kafka,

512

Jürgen Eichhoff

Es gibt gewiß Gründe dafür, warum die Autoren die jeweilige Bezeichnungsvariante verwendeten und nicht eine der anderen. Daß sich in der Wahl gelegentlich gänzlich unreflektiert der alltägliche Sprachgebrauch der Landschaft widerspiegelt, der der Autor entstammt, ist nicht auszuschließen. Manche Autoren mögen sich zum Zweck der Erzeugung eines Lokalkolorits auch bewußt für eine regionale Bezeichnungsvariante entscheiden. Was aber auch immer die Gründe sind: es besteht kein Zweifel, daß diese Varianten in standardsprachlichem Textzusammenhang auftreten. Sind sie deshalb auch Teil des Wortbestandes der deutschen Standardsprache? Die Standardsprache ist kein künstliches Gebilde wie das Esperanto, sondern sie ist die Kodifizierung tatsächlichen Sprachgebrauchs. Der Sprachgebrauch weist regionale Varianten auf. Einer großen Zahl regional begrenzt gültiger Bezeichnungen kann deshalb der Anspruch, Teil der deutschen Standardsprache zu sein, nicht abgesprochen werden. Standardsprachlich ist auch die Bezeichnung Fleischhauer, die einem binnendeutschen Ohr fremd oder gar komisch klingt. Aber abgesehen von deren Verwendung bei Klassikern der deutschen Literatur hat die Bezeichnung in Osterreich amtliche Geltung, und auch im alltäglichen Sprachgebrauch ist sie dort neben Metzger und der allerdings als mundartlich geltenden Bezeichnung Fleischhacker fest verankert. Wo mehreren Bezeichnungsvarianten standardsprachlicher Status zukommt, stellt sich für den Sprachbenutzer nicht selten die Frage, welche der Bezeichnungen denn nun, laienmäßig ausgedrückt, „besser" oder „richtiger" ist. In der Tat bedeutet der Umstand, daß eine Bezeichnung standardsprachlich ist, noch nicht, daß sie den anderen, g l e i c h bedeutenden Varianten auch g l e i c h wertig ist. Das Wort Fleischhauer etwa wird außerhalb Österreichs sehr oft nicht verstanden; sein kommunikativer Nutzen ist also begrenzt. Ähnlich ist es mit der Bezeichnung Schlachter, der überdies negative Konnotationen anhangen. Die Frage nach dem „richtigen" Wort, dem Wort mit dem größten kommunikativen Nutzen, kann eine grundsätzliche Entscheidung erfordern. Welches Wort soll zum Beispiel der Deutschlehrer im Ausland im Unterricht verwenden? Die Frage stellt sich besonders dringlich, wenn er ein Lehrbuch verfassen möchte. Der Umfang des Grundwortschatzes ist streng zu limitieren; er kann für den Handwerker, der Fleisch verarbeitet und verkauft, nicht gleich am Anfang zwei, drei oder gar fünf Vokabeln einführen. Auch öffentliche Körperschaften können sich gezwungen sehen, die Vielfalt der Sprachwirklichkeit auf ein kommunikationsadäquates Minimum zu reduzieren. Das hat Erzählungen und kleine Prosa. Berlin 1 9 3 5 , 1 4 3 . — Christa Wolf, Kindheitsmuster. Darmstadt und Neuwied 1977, 399, 400. — Franz Grillparzer, Der arme Spielmann. In: F. Grillparzer, Sämtliche Werke. Bd. 3. München 1964, 168 u. ö.

D i e Wertung landschaftlicher Bezeichnungsvarianten

513

sich im Jahre 1965 gezeigt, als der Gesetzgeber in Bonn im Zusammenhang mit der Erarbeitung einer neuen Handwerksordnung bundesweit anwendbare Benennungen suchte — was dann allerdings in manchen Gegenden zu emotionalen Widerständen führte 2 . Die Wirtschaft ist von dem Problem ebenfalls betroffen. Als die Münchner Firma Pfanni ihre Reiberdatschi anrührfertig auf den Markt bringen wollte, mußte sie feststellen, daß eine große Zahl der potentiellen Verbraucher nicht wußte, um was es sich denn handelt. Sie kannten das Produkt nur unter Namen wie Reibekuchen, Kartoffelpfannkuchen oder Kartoffelpuffer. Mit Hilfe eines Preisausschreibens versuchte die Firma, diesen unangenehmen Tatbestand aus der Welt zu schaffen: „Hausfrauen, helft uns. Wählt den besten Namen aus, der überall in Deutschland verstanden wird und überall gelten soll. Eine Vorwahl hat ergeben: Kartoffelpuffer, Reibekuchen und Reiberdatschi sind Favoriten. Aus diesen drei Namen wählt den nationalen Namen!" 3

2. Landschaftliche Bezeichnungsvarianten im Deutschen Universalwörterbuch und im Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache Wenn ein Sprachteilhaber Auskunft darüber sucht, was das „beste" oder „richtige" Wort ist, wird das Wörterbuch seine erste und fast immer einzige Adresse sein. Damit ist der Sprachwissenschaftler, speziell der Lexikograph, angesprochen. Zu den Aufgaben des Sprachwissenschaftlers gehört es, daß er über die Vielfalt der sprachlichen Erscheinungen sein ordnendes und klassifizierendes Netz wirft, daß er versucht, die sprachlichen Gegebenheiten zu erkennen und das Ergebnis seiner Studien praktischen Zwecken verfügbar zu machen. Der Lexikograph darf sich dem Ruf nach Hilfe bei der Wertung der landschaftlichen Bezeichnungsvarianten nicht entziehen. Wie werden die Wörterbücher diesem Hilferuf gerecht? Im deutschen Sprachgebiet sind in jüngster Zeit zwei Wörterbücher im Handbuchformat erschienen, die im Titel oder Vorwort den Anspruch erheben, den Wortschatz der „deutschen Gegenwartssprache" darzustellen. Beide sind von untadeliger Provenienz: das Deutsche Universalwörterbuch (DU) erschien 1983 im Bibliographischen Institut (Dudenverlag) in Mannheim, das Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (HW) ein Jahr später im Akademie-Verlag in Berlin (Ost). Beiden liegen vorzügliche sechsbändige Wörterbücher aus dem gleichen

2

Metzger bleibt Metzger. In: Bayrischer Staatsanzeiger, 5. August 1966, 1. S. auch Besch 1972.

3

Anzeige in zahlreichen Zeitschriften im Frühjahr 1967, ζ. B . Bunte Illustrierte 6. April 1967, 46.

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Jürgen Eichhoff

Haus zugrunde, das Duden-Großwörterbuch bzw. das Wörterbuch der deutschen G egenwartssprache. In den „Hinweisen für den Benutzer" des HW bzw. in der „Anlage und Artikelaufbau" genannten Einleitung des DU sucht man vergeblich nach einer Stellungnahme oder Anleitung zu unserem Problem. Immerhin erfahrt man, daß in das HW regionaler Wortschatz aufgenommen worden ist, wobei „die landschaftlich gebundenen Lexeme der DDR und der BRD den Vorrang" hatten, „aber auch die in Österreich und die im deutschsprachigen Teil der Schweiz gebräuchlichen Besonderheiten wurden in gewissem Umfang berücksichtigt." (S. IX) Das DU „verzeichnet nicht nur den zentralen Wortschatz der deutschen Sprache", sondern es „dringt weit in die Randbezirke des Wortschatzes vor und erfaßt auch Wörter, die [...] nur regional verbreitet sind." (S. 7) Ganz richtig wird gesehen, daß die regionalen Wörter zu denen gehören, die „die Verständigung stören oder das Verständnis eines Textes blockieren" können; daher sei „bei ihnen das Nachschlagebedürfnis besonders groß." Der Nachdruck auf „Verständigung" und „Verständnis" deutet an, daß die Autoren in ihren Werken vor allem Hilfsmittel zur Bedeutungsidentifikation regionalen Wortgutes sehen. Hilfe bei der Wertung der Varianten zählt nicht zu den eigens angeführten Aufgaben der Wörterbücher. Leider, denn das Problem gehört gewiß zu denen, bei denen „das Nachschlagebedürfnis besonders groß" ist. ,Leider' auch deswegen, weil die gewünschten Informationen ohne Mehraufwand an Raum zu liefern wären, und ,leider' schließlich auch, weil in Wirklichkeit diese Informationen in den Wörterbüchern schon mehr oder weniger enthalten sind — es fehlt eben nur der Hinweis darauf. Wer mit den Wörterbüchern unter dem Gesichtspunkt landschaftlichen Wortgebrauchs häufiger umgeht, wird nämlich feststellen, daß nicht alle Bezeichnungsvarianten für einen Begriff gleich behandelt werden. Einer von ihnen wird jeweils eine umschreibend-erklärende Definition beigegeben, während die übrigen durch das so definierte Wort erklärt werden. Also (HW): „Fleischer [...] Handwerker, der Vieh schlachtet, dessen Fleisch zerlegt, es zu Fleisch- und Wurstwaren verarbeitet (und verkauft)", „Metzger [...] landsch., bes. süddt., Schweiz. Fleischer."' Bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß diese Praxis nicht einfach der Platzeinsparung dient. Vielmehr ist das durch Umschreibung definierte Wort eigentlich immer dasjenige, dem man bei aller gebotenen Vorsicht das Prädikat „höherwertig" zusprechen wird. Die Praxis als solche wird in den Wörterbüchern erwähnt, ohne daß man dadurch auf den hier zur Diskussion stehenden Sachbereich schließen kann. Das HW (S. XII) schreibt unter der Überschrift „Zur Definition der Lexeme", daß bei der Bedeutungserklärung mit Hilfe eines Synonyms „stilistisch neutrale Äquivalente" hauptsächlich „für stilistisch bewertete lexikalische Einheiten eingesetzt" werden. Wichtigste Voraussetzung für die

Die Wertung landschaftlicher Bezeichnungsvarianten

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Verwendung von Synonymen sei, „daß das Grundsynonym selbst mit Hilfe einer Umschreibung definiert ist." Daß außer Synonymen auf der Stilebene auch Raumsynonyme (wie man die hier betrachteten Bezeichnungen auch nennen könnte) so behandelt werden, wird nicht gesagt. Auch nicht, aufgrund welcher Kriterien sie ausgewählt oder operativ ermittelt wurden, wie überhaupt der Terminus ,Grundsynonym' nicht definiert ist. Das DU erwähnt (unter der Überschrift „Bedeutungsangaben") regionale Verbreitung immerhin als eine von den möglichen Eigenschaften eines Synonyms. Zur Bedeutungsangabe werden Synonyme immer dann herangezogen, wenn „keine (greifbaren) inhaltlichen, sondern nur stilistische Unterschiede oder Unterschiede in der regionalen Verbreitung bestehen". (S. 17) Das angegebene Beispiel führt dann allerdings wieder nur auf die stilistische Fährte: „abnibbeln [...] (nordd., bes. berlin. salopp) sterben." Obgleich der Nicht-Sprachwissenschaftler nur begrenzten Zugriff hat zu den Informationen, die die Wörterbücher über die Wertigkeit landschaftlicher Bezeichnungsvarianten bereithalten, sei dennoch gefragt und im folgenden untersucht, welche Wertungen die Wörterbücher vornehmen und welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen. Als Beispiele dienen uns Bezeichnungen, deren geographische Verbreitung in dem von den Wörterbüchern erfaßten Gebiet durch Karten des Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (WDU) abgesichert ist 4 . Wir nennen die Variante, die jeweils umschreibend definiert ist, die ,primäre Variante'. 5 Kriterien für die Entscheidung, ob Varianten umschreibend oder durch die primäre Variante interpretiert werden, finden sich im Vorwort der Wörterbücher nicht. Es zeigt sich rasch, daß die primäre Variante sehr oft zugleich diejenige mit der größten geographischen Verbreitung ist. Deshalb wird bei den folgenden Aufstellungen zunächst danach unterschieden, ob die jeweils als primär eingestufte Variante auch die geographisch verbreitetste ist (Tabelle 1) oder nicht (Tabelle 2). In der dritten Aufstellung (Tabelle 3) sind die Fälle zusammengefaßt, in denen die beiden Wörterbücher unterschiedliche Wertungen vornehmen. Als viertes (Tabelle 4) sind schließlich zwei Begriffe dargestellt, für die sich nur im DU Bezeichnungen finden. In einigen Fällen wird von den Wörterbuchredaktionen der umschreibenden Definition eine andere Variante hinzugefügt, z. B. HW: „Bulette [...] gebratenes, flaches Klößchen aus gehacktem Fleisch, Frikadelle". DU: „Tischler [...] Handwerker, der Holz [...] verarbeitet, bestimmte

4 5

Zur Definition des Begriffs „Umgangssprache(n)" in diesem Werk siehe daselbst Bd. 1, 9 f. So schon Besch 1986. Von der Definition her handelt es sich um das, was im H W das „Grundsynonym" genannt wird; die Bezeichnung wird dort jedoch im Zusammenhang mit der Beschreibung stilistischer Unterschiede verwendet. Bei dem Terminus „primäre Variante" kommt in dem Wort „Variante" der Aspekt der geographischen Entsprechung mit zum Ausdruck.

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Jürgen Eichhoff

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Die Wertung landschaftlicher Bezeichnungsvarianten

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Gegenstände, bes. Möbel, daraus herstellt od. bearbeitet, einbaut o. ä.; Schreiner". Bei Bulette]Frikadelle könnte es sich um den Hinweis auf eine doch etwa gegebene Höherwertung der als Zusatzinterpretament herangezogenen Bezeichnung handeln, bei TischlerjSchreiner um den Hinweis auf das Vorhandensein einer anderen (hier wenigerwertigen) Variante. Eine systematische Anwendung eines solchen Kennzeichnungssystems läßt sich nicht erkennen. Diese Fälle sind deshalb bei den folgenden Aufstellungen unberücksichtigt geblieben. Bei 46 der 55 angeführten Beispiele stimmen die Wörterbücher in der Wahl der durch Umschreibung definierten Bezeichnung überein. Das kann kein Zufall sein und bekräftigt unsere Vermutung, daß darin ein Urteil über die Wertigkeit der Bezeichnungen zum Ausdruck kommen soll. Die jeweils durch Umschreibung definierte Variante wird man bei aller gebotenen Zurückhaltung in fast jedem Fall als diejenige mit dem größten kommunikativen Potential, d. h. als die höherwertige Variante, bezeichnen dürfen. Wie Tabelle 1 zeigt, ist dies überwiegend auch die verbreitetste Variante. Aber nicht immer und vielleicht auch nicht so oft, wie man wohl hätte vermuten können. Wichtige Faktoren, die sich aus den 24 Begriffen der Tabelle 2 herauslesen lassen, scheinen die Motiviertheit, d. h. die sprachliche Durchsichtigkeit einer Bezeichnung, die Eindeutigkeit und ein gewisser sprachlicher Mehrwert zu sein. Sprachlich durchsichtig sind ζ. B. saubermachen, Napfkuchen und viertel vor (auch viertel nach), welch letzteres der derzeitigen Vorliebe für analytische Satzkonstruktionen entgegenkommt. Durchsichtigkeit kann sogar zur Aufwertung einer nur schwach verbreiteten regionalen Variante führen. Anders ist der Status, den beide Wörterbücher der nur in der Schweiz gebräuchlichen Variante Anschnitt (für den Brotkanten) zuerkennen, nicht zu erklären. Die Bezeichnungen Weihnachtsbaum und Fleischer stellen sich sprachlich unmittelbar zum Anlaß ihrer Existenz, dem Weihnachtsfest bzw. dem Produkt, das der so bezeichnete Handwerker verarbeitet und verkauft. Eindeutig, da semantisch singulär belegt, sind fegen (bei kehren stellt sich leicht die Vorstellung des ,Umkehrens' ein), schlittern und Harke {.Rechen wird in Norddeutschland mit rechnen in Zusammenhang gebracht; allerdings wird Harke im Süden auch vielfach als Hacke mißverstanden.) Ein sprachlicher Mehrwert kommt, wie schon WDU 2, 25 ausgeführt, dem Modeartikel Krawatte mit seiner französisch beeinflußten Aussprache zu. Schlips klingt dagegen salopp. Mundartlich klingen vielen Ohren die Bezeichnungen gelbe Rübe, Kraut (in Weißkraut), Guglhupf und Kriegen, obwohl alle diese Bezeichnungen in einem größeren zusammenhängenden Gebiet verwendet werden als ihre als höherwertig eingestuften Konkurrenten. Nicht in jedem Fall wird man der Klassifizierung der Wörterbücher unwidersprochen zustimmen. Daß die Bezeichnung Zündhol^ vom DU als höherwertig eingestuft wird, ist trotz des Hinweises, daß es die Bezeichnung der

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zu m, mb assimilieren oder bei Schwund des Nasals nach Nasalierung des vorangehenden Vokals das w bewahren. Auf Assimilierung weisen die neuen Komposita mit Staude, Dächse, Reis oder Beere im Westen des Mittelbairischen und im Nordbairischen wie Kräma- oder Kränebeer(e) am Lechrain und an der Donau, Krämadachs um Freising — Pfaffenhofen — Moosburg sowie Krämbets-, Krämetsstaude in der südwestlichen und Krämlstaude, -beer(e), beerstaude, -reis in der nördlichen Oberpfalz. Auf die andere Möglichkeit gehen, zum Teil als Spielformen, KrePwidl im Egerland, Kräf- oder Krowitn im Böhmerwald, Krüfwitstaude im Bayerischen Wald, im östlichen Niederbayern südlich der Donau und um Regensburg, Krä'-m(t)-, Krowa(t)-, Browadachs um Abensberg — Rottenburg — Dingolfing und Krofat, Krufat um Eichstätt zurück. Der größte Teil des Mittel- und Südbairischen hat dagegen eine volksetymologische Umdeutung nach ,Krähe' vollzogen, wobei die entstandenen Formen der mhd. Ausgangsform lautlich näher stehen als die meisten regulären Weiterentwicklungen. Dabei gilt im Südbairischen und östlichen Südmittelbairischen fast durchwegs Kranawit, -n>et, -weckn mit Sekundärumlaut entsprechend der aus dem schwach gebildeten Plural übertragenen neuen Singularform Kran und mit einem Fugenvokal -a-. Letzterer entspricht dage15

Vgl. DWA 2; Schmeller 1, 1370f.; Kranzmayer 1960, 10; Schwarz 1954, Kt. 29; Schwarz 1962, 79; Kluge/Mitzka 1967, 828, 400; Sablatnig 1968, 85 ff.; Braun 1973, 37. Keine dieser Untersuchungen geht merkwürdigerweise auf die verschiedenen rezenten Lautungen und ihre Herkunft ein.

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gen im Mittelbairischen einem -en-, so daß das Erstglied von teils umgelauteten und teils nicht umgelauteten Kranawit(n), Kränawit(n), -wet(n) in schwach gebildeter genitivischer Fügung erscheint, wobei der Singular von Krähe im Mittelbairischen stets ohne Umlaut Krä" lautet. Der Wechsel umgelauteter und umlautloser Formen des Kompositums entspricht hier der schwankenden Pluralbildung von Krähe, die teils stark mit Sekundärumlaut als Krtf und teils schwach ohne Umlaut als Kränen oder mit Umlaut als Kranen erfolgt. Fraglich bleibt, ob die Beziehung der umgelauteten Form Krana- auf,Krähe' nicht durch umgelautetes mhd. *chränen>ite ausgelöst wurde, wobei das Zweitglied den Umlaut bewirkt haben müßte. Für eine derartige, mindestens gebietsweise wirksame Umlautung könnten umgelautetes und assimiliertes Krämet-, Kramatstaude im südbairischen Westtiroler Oberinngebiet, Außerfern und Lechtal sprechen. Der weite Bezug von Kranewit auf die ,Krähe' entspricht, über die lautlichen Ähnlichkeiten beider Wörter hinaus, auch der Beobachtung, daß die Beeren dieses Nadelgehölzes nicht nur von der als Krämmetsvogel benannten Wacholderdrossel, sondern auch von verschiedenen Krähenvögeln gefressen werden. Dies könnte Kranzmayers Vermutung, das Erstglied chrano von ahd. chranawitu bedeute ,Krähe' und nicht ,Kranich', stärken, letzteres umso mehr, als der Kranich bair.-ahd. und mhd. nur als chranuh, chranih belegt ist und bloß als Durchzugsvogel vorkommt. Alle weiteren Beispiele erreichen die äußerste bairische Westgrenze entweder nur streckenweise oder nicht mehr. Eine allseits starke Zurückdrängung erfuhr Pfait für ,Hemd', 1 6 das aus dem Thrakischen stammt, über das Gotische alsbald gesamtgermanische Verbreitung erlangte und sich bloß in Randgebieten wie in Lothringen und im Bairischen bis in die Gegenwart halten konnte. Es fehlt am Westrand des Südbairischen im Südtiroler Etschunterland und Vinschgau, wo um 1960 nur noch vereinzelte Erinnerungsformen aufgezeichnet werden konnten, im Tiroler Oberinngebiet ab Telfs und dem Pitztal, im westlichen Oberbayern ab Starnbergersee, östlich München und Freising sowie im mittleren und nördlichen Nordbairischen ab Ingolstadt, Amberg und Taus. Daß es um 1100 noch in Westtirol galt, ehe es alemannischem Hemd wich, legen die damals

16

Die Grenze in Tirol nach T S A 3, Kt. 60, und im Sudetengebiet nach Schwarz 1958, Kt. 81. In Bayern übernehmen wir die Grenze von einer Karte Kranzmayers für den „Atlas der Dialekträume in und um Österreich" in der Kommission für Mundartkunde und Namenforschung der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, wobei ich für verschiedene Hilfe und Unterstützung den Herren Dr. Werner Bauer und Dr. Wilfried Schabus herzlich danken möchte. Allerdings läßt ein Vergleich des Grenzverlaufs mit den Angaben im TSA Zweifel an der Zuverlässigkeit aufkommen, denn danach soll die Westgrenze von Pfait in Südtirol bei Mals verlaufen und damit sowohl im Etschunterland als auch im ganzen Vinschgau das bairische Kennwort gelten. Vgl. Schmeller 1, 443 f.; Kranzmayer 1960, 14; Kranzmayer/Lessiak 1981, 68; Kluge/Mitzka 1967, 542; W B Ö 3, 39 ff.

Grundzüge der großräumigen bairischen Wortgeographie

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von dort her besiedelten Zimbrischen Sprachinseln mit der Bewahrung von Ρ fait nahe. Die beiden Wochentagsnamen gotischer Herkunft vom Typus Ergetäg für ,Dienstag' und Pfin^täg für .Donnerstag', 17 wobei für ersteres eine Fülle von Lautvarianten auftritt und letzteres im Osten und im südlichen Egerland im 14. Jh. zu Pfingsttäg umgedeutet und damit neu motiviert wurde, weichen in ihrer eingeschränkten westlichen Verbreitung etwas voneinander ab. So fehlen beide im Tiroler Lechtal und Außerfern und am oberbayerischen Lechrain bis Landsberg mit schwäbischem Aftermäntag und Donnerstag, während im Tiroler Stanzertal und Paznaun Ergetäg und am Lechrain bis Augsburg Pfin^täg aussetzt. Ein ähnlicher Unterschied zeigt sich im Norden des Nordbairischen in der Oberpfalz und im Egerland, wo Ergetäg gegenüber Dienstag noch bis Hilpoltstein, Allersberg, Lauf, Betzenstein, Pegnitz, Neustadt, östlich Goldeck, südlich Wunsiedel, südlich Eger, Plan, südlich Mies und südlich Pilsen reicht, Pfin^täg gegenüber Donnerstag aber schon bei Freystadt, Altdorf, Sulzbach, Vilseck, Weiden, westlich und südlich Bärnau und Bischofsteinitz endet. Nach Aussage der aus dem Nordbairischen leider nur in geringem Umfang zur Verfügung stehenden spätmittelalterlichen urkundlichen Belege wechseln jeweils beide Benennungen in Nürnberg schon ab dem beginnenden 14. und in Eger erst ab dem 15. Jh. mit Dienstag und Donnerstag, so daß allmähliche Zurückdrängung der bairischen Benennungen durch die ostfränkischen vorliegen wird. Keine eindeutige Westgrenze ergibt sich für Kirchtag als der Bezeichnung des mit Jahrmarkt, Belustigungen und Tanz begangenen Volksfestes aus Anlaß des Jahrestages der Kirchweihe bzw. des Kirchenpatrones. 18 Es wechselt nämlich im Westen des Mittelbairischen und am Südrand des Nordbairischen in Ober- und Niederbayern Kirchtag mit Kirchweihe, was auch im Bayerischen Wald und Böhmerwald sowie im Südbairischen der Steiermark, Nordkärntens und des Salzburger Lungaues der Fall ist und auf die einstige terminologische Unterscheidung beider wohl ähnlich gefeierter Feste zurückgeht. So ist Kirchtag in Oberbayern bis zum Lech bekannt und fehlt nur am südlichen oberbayerischen Lechrain ab Schongau und im Tiroler Lechtal um Reutte und reicht im Nordbairischen bis nördlich Ingolstadt, Riedenburg/ Altmühl, nördlich Regensburg, Cham, Taus. Schließlich kann als eine weitere bairische Zeitbezeichnung noch Rauchnächte für die zwölf Nächte um Weihnachten bzw. für einzelne dieser Nächte

17

18

Vgl. DSA IV/4, Ε/18, II/6, E/5; Schmeller 1, 127 f., 437 ff. Kranzmayer 1929, 25 ff., 74f., 80; Kranzmayer 1960, 11 f.; Schwarz 1956, Kt.42; Schwarz 1962, 79; Braun 1973, 14; TSA 3, Kt. 11; Wiesinger 1985, 158f.; WBÖ 4, 1 5 5 f f , 1 9 0 f f ; Wiesinger 1987a, 644ff. ADV, Kt. 10; Schmeller 1, 1289f.; Kranzmayer 1960, 12; Kranzmayer 1963, Kt. V/5b; W B Ö 4, 246 ff.

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genannt werden. 19 Das Wort ist allerdings nicht mehr überall bekannt, da die ohnehin schon seit längerem bloß noch unter der bäuerlichen Landbevölkerung lebendigen verschiedenen mythischen Vorstellungen und das damit verbundene Räuchern zur Abwehr böser Geister mehr und mehr abkommt bzw. sich unter kirchlichem Einfluß wandelt. Der Zeitraum der zwölf Nächte erstreckt sich in Bayern vielfach von der Thomasnacht (21. Dezember) bis Neujahr und in Osterreich vom Hl. Abend bis Dreikönig. Da das Räuchern in Österreich meist nur dreimal am Hl. Abend, in der Neujahrsnacht und in der Dreikönigsnacht und neuerdings auf Grund kirchlicher Empfehlung nur mehr am Vorabend von Dreikönig stattfindet, schränkt sich die Bezeichnung vielfach auf diese besonderen Nächte ein, die dann zur gegenseitigen Unterscheidung meistens noch besondere Zusätze erhalten. Die Bezeichnung Rauchnächte, die im Südbairischen von Westtirol \τδχηαχί\ und sonst \τάχηαχί(ο)\ lautet und damit eindeutig auf mhd. rouch ,Rauch' und nicht, wie mehrfach in der volkskundlichen Literatur auf Grund der doppeldeutigen mittel- und nordbairischen Lautungen [τα^ηαχί, -ηςχϊ| vermutet, auf mhd. ruh ,rauh' zurückgeht, 20 gilt, wenn auch teilweise nur lückenhaft, bis zum Arlberg und Lech und im Großteil des Nordbairischen bis nördlich Ingolstadt, westlich und nördlich Amberg, Wunsiedel, Eger, Mies, Pilsen. Im Schwäbischen heißen die Zwölften hostage, und im Ostfränkischen Unternächte, wenngleich zwischen Bayreuth und Bamberg teilweise auch das bairische Rauchnächte vorkommt. Die Bezeichnung Unternächte begegnet allerdings auch im Mittelbairischen von Ober- und Niederösterreich, Südböhmen und Südmähren, wo sie einen in die Weihnachtszeit fallenden bestimmten, heute freilich vielfach abgekommenen, bloß noch in der Erinnerung bewahrten Termin der Dienstboten betrifft. Nach Ausweis der Südtiroler Urkunden des 14. Jhs. hieß dort der anstehende Zeitraum die %-weiften und vor allem der Dreikönigstag der £weifte. Beide Erscheinungen deuten darauf hin, daß die Bezeichnung Rauchnächte ursprünglich nur die Räuchertermine betraf und erst später auf den ganzen Zeitraum der zwölf Nächte ausgedehnt wurde. Unter den Kennformen beruht das bairische kernen21 wie das gesamtdeutsche kommen auf ahd. queman, wobei der Halbvokal bereits im Spätahd. den Stammvokal beeinflußte und schwand. Während im Alemannischen und Ostfränkischen choman und kuman entstanden, scheint die bairische Entwicklung bei Berücksichtigung sowohl der schriftlichen als auch der dialektalmündlichen Überlieferung auf zweierlei Weise erfolgt zu sein. So sprechen die südbairischen Dialekte des Oberkärntner und Osttiroler Lesachtales sowie 19 20 21

ADV, Kt. 45; Schindler 1, 15; Katalog zum WBÖ. So mit Nachdruck vertreten bei Erich/Beitl 1974, 665. DSA II/9, E/5 .gekommen'; Schmeller 1, 1245 ff., Kranzmayer 1960, 15 f., Kranzmayer 1981, 86; Kranzmayer/Lessiak 1983, 96; Hornung 1972, 273; Tschinkel 1, 379.

Grundzüge der großräumigen bairischen Wortgeographie

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der aus dem osttirolisch-oberkärntnischen Raum im 13. und 14. Jh. ausgegangenen Sprachinseln Pladen, Zarz und Gottschee mit ihrer deutlichen Trennung von mhd. e von mhd. e und ö vor Nasal als [ ( j e (kx^man)] im Oberkärntner und [a/e (kxamsn)] im Osttiroler Lesachtal, [ ( i j ( ] in Pladen und Zarz \k%iim3n\ und afe in Gottschee [k/ärnsn] für den Schwund des Halbvokals und damit eine spätahd.-mhd. Grundlage *ch'emen. Eine solche ist auch für die um 1100 aus Westtirol angelegten Zimbrischen Sprachinseln anzunehmen, wo zwar mhd. e und e vor Nasal in [i] zusammenfallen [k/eman], aber bei erhaltener Umlautrundung von [ö] für mhd. ö getrennt bleiben. Diese Beobachtung ist deshalb wichtig, weil schon in frühmhd. bairischen Texten das Präteritum stets die durch den Halbvokal beeinflußten charakteristischen Formen chom, chomen zeigt und mhd. Handschriften mit der Bezeichnung der Umlaute für das Präsens ebenfalls die durch den Halbvokal gerundeten Formen chömen, er chümt aufweisen. 22 Da heute im Mittelbairischen und im allergrößten Teil des Südbairischen vor Nasalen die Entsprechungen von mhd. e, e und ö in [e, p, aj\ zusammenfallen, könnte das bairische kernen also auf zwei verschiedenen Wegen entstanden sein, will man die mhd. ö- und üSchreibungen wegen der Umlautentrundung nicht als Kompromisse auffassen. Kernen erstreckt sich im Süd- und Mittelbairischen bis zum Arlberg und Lech, wobei bloß das Lechtal um Reutte ausgenommen bleibt, und reicht im Nordbairischen nur mehr in den Süden der Oberpfalz bis südlich Ingolstadt, Riedenburg, westlich und nördlich Regensburg, Neunburg, Taus. Als um 1240 — 60 von der Oberpfalz aus die Sprachinsel Iglau besiedelt wurde, konnte noch kernen mitgenommen werden, was auf allmähliche Zurückdrängung der bairischen Form durch fränkisches kummen im Nordbairischen deutet. Die fränkische Form gilt stadtsprachlich auch im Umkreis von Wien und von dort her im Kärntner Städtedreieck Villach — Klagenfurt — St. Veit a. d. Glan (vgl. unten und Kt. 18). Das Wort ,Euter' tritt im Bairischen wie im Hochalemannischen und in anschließenden Teilen des Mittelalemannischen weitestgehend als umlautloses starkes Neutrum Auter auf, das auf reguläres mhd. üter und ahd. ütar zurückgeht. 23 Dagegen dürften die ebenfalls starken neutralen umgelauteten Formen des Ostfränkischen und des Schwäbischen mit anschließenden Teilen des Mittelalemannischen auf schon mhd. bezeugtem umgelautetem üter aus ahd. *ütir mit Umlaut auslösendem -/- des Suffixes beruhen. Im Bairischen zeigt der gesamte Westrand und insbesondere das Nordbairische die westliche umgelautete Form. Sie gilt im Tiroler Lechtal, Außerfern und Oberinntal und gewiß erst jung um Innsbruck und im anschließenden Wipptal, dessen

22 23

Vgl. Michels 1921, 119 und 211. DWA 19; Kluge/Mitzka 1967, 177; WBÖ 1, 489 f.

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Seitentäler nämlich noch die umlautlose Form bewahren, 24 sowie in Bayern westlich von Mittenwald, Starnbergersee, östlich München, Moosburg, Regensburg, Cham, Taus. Im äußersten Südwesten tritt im Paznaun wie im anschließenden Mittelalemannischen des südlichen Vorarlberg die umlautlose Form auf. Uber das ungefähre Alter der westlichen umgelauteten Form geben wieder die Sprachinseln Auskunft. So gilt im Zimbrischen umlautloses Auter, was darauf hindeutet, daß am Westrand um 1100 noch die ursprüngliche bairische Form beheimatet war. Dagegen weist die aus dem Nordbairischen um 1240 — 60 besiedelte Sprachinsel Iglau schon Umlaut auf. Faßt man die wortgeographische Untersuchung der behandelten zehn bairischen Kennwörter und Kennformen zusammen, so ergibt sich ein jeweils etwas unterschiedliches Verbreitungsbild. Die äußerste Westgrenze des Bairischen auf Grund von Lauterscheinungen erreichen nur mehr das Etymon Kranewit und die aus Dualen der Frühzeit wohl im 12. Jh. zu Pluralen umfunktionierten Personalpronomina eß und enk, wobei alle drei Beispiele im Nürnberger Raum und eß und enk auch noch im unteren Tiroler Lechtal um Reutte fehlen. Handelt es sich bei Kranewit um ein verkehrsfernes Bauernwort, das wohl deshalb besonders im Westen kleinräumige Umformungen erfuhr, so sind die im Nordbairischen ebenfalls umgestalteten Personalpronomina morphologisch verankert, was in beiden Fällen ihre nahezu gesamtbairische Erhaltung gewährleistet. Außerdem zeigen die Personalpronomina, daß sich lexikalische Neuerungen bis in die frühmhd. Zeit des 12. Jhs. ähnlich den Lautentwicklungen noch gesamtbairisch durchsetzen konnten. Dagegen verkörpern die ebenfalls aus der Frühzeit stammenden Wochentagsnamen Ergetäg und Pfin^täg Verkehrswörter. Während sie am West- und Nordrand des Nordbairischen sichtlich jeweils unterschiedlich weit vom ostfränkischen Dienstag und Donnerstag zurückgedrängt wurden, gelten am süd- und mittelbairischen Westrand im Tiroler Lechtal und Außerfern und am oberbayerischen Lechrain als Gebieten der Diözese Augsburg von Anfang an ostschwäbisches Aftermäntag und Donnerstag. Für Rauchnächte und Kirchtag mit einer vor allem im Nordbairischen eingeschränkten Gültigkeit, scheint es sich um Bezeichnungen zu handeln, die sich erst allmählich im Spätmittelalter und in der Neuzeit aus dem freilich zunächst bedeutungsmäßig differenzierten Miteinander eng verwandter Bezeichnungen in ihrer rezenten Bedeutung herauskristallisiert und gefestigt haben. Es müßte daher vor allem im Nordbairischen anhand von Urkunden untersucht werden, ob die eingeschränkte Verbreitung entweder südlicher Ausbreitung vom aktiven Mittelbairischen Ober- und Niederbayerns aus oder bei einst weiterer Gültigkeit westlicher Zurückdrängung zuzuschreiben ist. Westliche Zurückdrängung erfuhr zwei-

24

Vgl. Egger 1909, 37.

Grundzüge der großräumigen bairischen Wortgeographie

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fellos Ρ fait, was im westlichen Südtirol erst seit dem Ende des 19. Jhs. geschah. Aus dem Vorkommen des Wortes im Zimbrischen wird man den Schluß ziehen dürfen, daß das Wort ursprünglich auch in Westtirol vorhanden war und damit von alemannischem Hemd allmählich bis zur östlichsten Grenze alemannischer Lauterscheinungen zurückgedrängt wurde. Ähnliches gilt dort auch für die Kennlautung Auter, die um Innsbruck und im Wipptal erst seit dem Ende des 19. Jhs. umgelautetem Euter Platz machte. Daß das Nordbairische, das ja eine Reihe ostfränkischer Lauterscheinungen aufweist, hier von Anfang an, zumindest aber nach Aussage der Sprachinsel Iglau seit dem 13. Jh. mit dem Nachbardialekt geht, könnte die Verkehrsferne dieses bäuerlichen Wortes nahelegen. Dagegen weist dasselbe Iglau darauf hin, daß die Kennform kernen seit dem 13. Jh. vom Westen her von ostfränkischem kümmert zurückgedrängt wurde. So präsentiert sich das Bairische nicht nur laut-, sondern auch wortgeographisch als ein eigenständiger Dialektverband gegenüber dem benachbarten Alemannischen und Ostfränkischen. Dabei beteiligt sich das Nordbairische von allen westlichen Randbereichen am wenigsten an gesamtbairischen Kennwörtern und hat diese in unterschiedlichem Umfang entweder unter westlichem ostfränkischem Einfluß aufgegeben oder wurde bloß im Süden noch von mittelbairischen Erscheinungen erfaßt. Im Nürnberger Raum, wo sich durch die von zwei Seiten erfolgte bairische und fränkische Siedlung seit dem 9. Jh. ein nordbairisch-ostfränkischer Mischdialekt gebildet hatte, 25 war wohl der Anteil an spezifischem bairischem Wortgut von Anfang an gering, so daß im rezenten Dialekt nun alle zehn Beispiele fehlen. Auch das westliche mittel- und südbairische Grenzgebiet am oberbayerischen Lechrain und in Westtirol scheint bei noch nicht endgültig geklärter Dialektgeschichte von Anfang an ein bairisch-alemannisches Mischgebiet gewesen zu sein. 26 Dabei wird der starke schwäbische Einfluß besonders im Tiroler Außerfern und Lechtal sowohl gemischter bairisch-schwäbischer Besiedlung insbesondere in dem erst seit dem 11. Jh. erschlossenen Lechtal als auch der Jahrhunderte langen Zugehörigkeit zum Bistum Augsburg zuzuschreiben sein. Auch das westliche Oberbayern stand bis zur Ilm und zum Starnbergersee als bayerisches Territorium in kirchlicher Abhängigkeit von Augsburg, was das Vordringen schwäbischer Erscheinungen ermöglicht haben wird. Nördlichen Territorial- und Verkehrszusammenhängen sind wohl auch die schwäbischalemannischen Einflüsse im Tiroler Oberinngebiet zuzuschreiben, denn dieses

25 26

Vgl. Steger 1968, 543 ff. Vgl. Rudolf 1934, 193 ff.; Kranzmayer 1956, 7 f.; TSA 2, Ktn. I und IV; Freudenberg 1974, 105 ff.

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unterstand bis in die zweite Hälfte des 13. Jhs. oberbayerischen und schwäbischen Territorialherren, ehe es an die Grafschaft Tirol gelangte, und war über den Fern- und Reschenpaß wichtigstes Durchzugsgebiet für den NordSüdverkehr. Schließlich wurden das Stanzertal und Paznaun nicht nur von Alemannen mitbesiedelt und war Galtür im obersten Paznaun bis in die Mitte des 19. Jhs. sogar Walserkolonie, sondern vollzog sich seit dem 13. Jh. ein lebhafter West-Ostverkehr über den Arlberg, so daß hier wieder starke Zusammenhänge mit dem Mittelalemannischen Südvorarlbergs bestehen.

3. Alemannische Einflüsse in Westtirol und im westlichen Oberbayern (Karten 2,3,4) Den in Westtirol und im westlichen Oberbayern an Stelle der bairischen Kennwörter auftretenden Alemannismen steht dort gegenüber verschiedenen regionalen Bezeichnungen eine Reihe weiterer Alemannismen zur Seite. Wie der bereits geographisch stark gegliederte alemannische Einflußbereich unterschiedliche Geschichts- und Verkehrszusammenhänge mit den Nachbargebieten aufweist und in dialektaler Hinsicht nach Aussage der bekannten Lautgeographie eine starke kleinräumige Gliederung zeigt, reichen auch die westlichen wortgeographischen Zusammenhänge unterschiedlich weit nach Osten und treten teilweise noch zusätzliche Bezeichnungsdifferenzierungen auf. Die Karten 2, 3 und 4 zeigen eine Reihe solcher Beispiele mit bereits verschiedener alemannischer Verbreitung, die wir nun nach ihrer unterschiedlichen östlichen Reichweite betrachten wollen. 3.1. Alemannismen um Reutte und am obersten Lechrain (Karte

2)

Auf Karte 2 finden sich vier Alemannismen, die über das unmittelbar schwäbische Tannheimertal hinaus auch noch im unteren Lechtal um Reutte mit den an der Fernstraße gegen Lermoos gelegenen Orten in Tirol und zum Teil auch noch an den obersten oberbayerischen Lechrain bis Schongau reichen und damit unter den verschiedenen Alemannismen über die geringste östliche Ausdehnung verfügen. So wird die ,Beule' als Knüpfel zu (mhd. knöpf) gegenüber bairischem Pünggel (vgl. schwed. bunka ,schlagen', mhd. bungen ,trommeln = schlagen') und Knüttel (zu mhd. knote ,Knoten = Erhebung') bezeichnet. Für ,kämmen' stehen sich strählen (mhd. strälen) und kampeln (bair.-mhd. chämpelen) gegenüber. Auf Entlehnungen aus dem Lateinischen gehen sowohl schwäbisches im ten (aus imputare) als auch bairisches pelzen (aus impeltare) für ,Obstbäume veredeln' zurück. Schließlich heißt sie ,Brombeere', soweit sie in den höheren Gebirgsgegenden nicht fehlt und bloß unter ihrer schriftsprachlichen Bezeich-

Grundzüge der großräumigen bairischen Wortgeographie

nung bekannt ist, Schwarbe) Imbeer(e) Schwar^beer(e) und Μaulbeer (e).21

gegenüber Schwarbe)

3.2. Alemannismen unterschiedlicher Verbreitung (Karten

569

Hohlbeer(e),

3,4)

Die beiden weiteren Karten zeigen Alemannismen, die mit jeweils unterschiedlicher Reichweite nicht nur Teile des oberbayerischen Lechrains, sondern auch Westtirols, ja teilweise auch des westlichen Oberbayerns und des Südtiroler Vinschgaues umfassen. Karte 3 vereinigt sechs Beispiele mit bairisch-alemannischen Formunterschieden. Solche Formunterschiede betreffen die Verben ,stehn' und ,gehn'. Während sie im Bairischen auf mhd. Jten und gen basieren, zeigt das Alemannische äFormen.28 Die regulären Weiterentwicklungen von mhd. stän und gän als stä" und gä" reichen jedoch lediglich über Füssen ins unterste Tiroler Lechtal um Reutte mit den Orten an der Fernstraße gegen Lermoos. Dagegen haben sich von Augsburg aus die Vollformen standen und gangen verbreitet, die heute aber erst unmittelbar westlich des Lechs beginnen und auf den Lechrain von Augsburg bis zum Ammersee und bis südlich von Schongau übergreifen. Auf ihre einst weitere westliche Verbreitung läßt jedoch das Tannheimertal schließen, wo heute noch isoliertes standen [Itqnde] gilt. Dagegen weicht ,gehn' als irreguläres gang \gatj] ab, das dem westlich anschließenden mittelalemannischen \gqi]\ mit Vokalkürzung und Nasalvelarisierung aus mhd. gän lautlich am nächsten steht. Gebietsweise Formunterschiede treten auch bei den alemannischen Entsprechungen von ,gähnen' im Nordtiroler Tannheimertal, Lechtal, Oberinngebiet und oberen Südtiroler Vinschgau bis Schlanders auf, während die ostschwäbischen und bairischen Gebiete das Syntagma Maul aufreißen zeigen. 29 Auf die mhd. ¥otm ginen geht ginen im Tannheimertal und im anschließenden Illergebiet um Sonthofen zurück. Dagegen basieren jgäne] im Stanzertal und Paznaun und Igeng] im anschließenden mittelalemannischen Vorarlberg ebenso auf mhd. geinen wie {govnelguMB] um Landeck im Oberinntal, die somit als gainen zu verschriftsprachlichen sind. Wenn das Lechtal einerseits und der obere Vinschgau andererseits als gaimen anzusetzendes \güemB\ bzw. [göimen] mit m aufweisen, dann könnte wegen des weitgehenden südbairisch-tirolischen Zusammenfalls von mhd. ei und mhd. uo vor Nasal eine mit mhd. guome ,Gaumen' kontaminierte Bildung vorliegen, zumal ,Gaumen' in Teilen von Tirol \gffem\göim\ lautet.30 27 28 29 30

DWA 5, 19, 14, 10. DSA 111/14; TSA 1, Kt.27; Rudolf 1934, 234 f. DWA 20; Kluge/Mitzka 1967, 228. Man wird im Hinblick auf bair. gaimet^en (vgl. Kap. 5) kaum annehmen dürfen, daß sich bloß hier das jenem zugrundeliegende, nicht durch Ableitung erweiterte germ. *gaim- erhalten haben sollte.

570

Peter Wiesinger

Ein weiteres Beispiel für Formunterschiede bieten die Bezeichnungen für ,gackern', 31 die schon ahd. gag(g)i%ßn und gag(g)at^en lauten. Während die süd- und mittelbairischen Formen vom Typus g(g)äg(g)et^en auf die zweite ahd. Form zurückgehen, basiert alemannisches gat^gen auf der ersten Form. Letzteres überschreitet bei Landsberg den Lech und erstreckt sich über den oberen Lechrain und das Außerfern bis ins obere Lechtal. Dagegen teilt das Oberinntal ab Landeck und das Stanzertal und Paznaun sein gäggeren mit dem anschließenden Vorarlberger Klostertal und oberen Montafon. Einen bairisch-alemannischen Präfixunterschied weisen die Bezeichnungen für ,zerreißen' 32 auf. Während in den bairischen Grenzbereichen derreißen und derschren^en (mhd. Sekretinen .zerreißen, brechen') sowie zerreißen und zusammenreißen gelten, gebraucht das Alemannische das Präfix ver-, so daß es verreißen und verschren^en heißt. Ver- erstreckt sich über den ganzen oberbayerischen Lechrain bis Aichach, zum Ammersee und ins obere Ammertal nach Osten und umfaßt in Tirol das Lechtal, das Außerfern und das Stanzertal. Als letztes Beispiel für bairisch-alemannische Formunterschiede kann die Bezeichnung des ,Maulwurfes' angeführt werden. 33 Während er bairisch Scher oder Wühlscher heißt (mhd. scher), teilt Westtirol mit dem Lechtal, dem Oberinngebiet und dem unteren und mittleren Ötztal mit dem anschließenden Mittelalemannischen die erweiterte Bildung Scherer, mit der außer im Lechtal der Artikel zu Tscherer verschmolzen ist. Karte 4 zeigt wieder vier lexikalische und damit auch echte wortgeographische bairisch-alemannische Unterschiede. Gegenüber bairischem Kater gilt am obersten Lechrain, an der Fernstraße gegen Lermoos und im Lechtal zur Bezeichnung der ,männlichen Katze' ein Alemannismus, um dessen Ansatz Unklarheit herrscht. 34 Das Wort lautet im Ostschwäbischen zwischen Lech und Iiier einschließlich des obersten Lechrains und des Tannheimertales [bayh} oder [katsabayh] und im Lechtal mit der Fernstraße \pqla\ oder [kxqts3pqla\, wobei im mittleren Lechtal um Holzgau das Kompositum zugunsten des Erstgliedes vereinfacht wurde. Da im Ostschwäbischen westlich der Iiier [bqlö\ bzw. [kats3bqlä\ gilt und die Verbreitung von Diphthong und Monophthong in etwa jener von mhd. ά entspricht, setzt Hermann Fischer Bale bzw. Kat^enbale an, ohne damit eine Etymologie geben zu können. Wegen des Zusammenfalls von mhd. α und mhd. ou in [5] im Lechtal möchte hingegen Josef Schatz darin den Personennamen Paul und damit ein Pauli erkennen. Dies erweist sich tatsächlich als die richtige Deu31 32 33 34

DWA DWA DWA DWA

15; Kluge/Mitzka 1967, 228; Fischer 3, 91. 22. 3; Kluge/Mitzka 1967, 468 f. 13; Fischer 1, 586; Schatz 1, 52; WBÖ 2, 550 f.

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tung, da der vom Apostelnamen abgeleitete Personenname im älteren Alemannischen nach Auskunft historischer Schreibungen vor allem aus der Ostschweiz und teilweise auch aus dem Schwäbischen als Pal integriert wurde, 35 so daß der ,Kater' in diesem Sinn als Päli bzw. Kät^enpäli verschriftsprachlicht werden kann. Gegenüber der bairischen Bezeichnung des .Knöchels' (am Fuß) als Enkel (mhd. enkel) oder Knöchel, Knochen gilt im Alemannischen Knoten (mhd. knote ,Knoten = Erhebung'). 36 Es zeigt heute in Oberbayern einen recht unausgeglichenen Grenzverlauf, da es durch die bairischen Bezeichnungen ersetzt wird, so besonders am unteren Lechrain um Aichach und in der Umgebung von Landsberg, wo nur mehr vereinzelte Restformen vorkommen. Damit erstreckte es sich ursprünglich am ganzen Lechrain nach Osten und erfüllt heute noch das gesamte westliche Nord- und Südtirol ab westlich von Innsbruck und Meran. Gleich zwei Alemannismen vereinigt die Bezeichnung des ,Böttchers', 37 der im Bairischen Binder und nach seiner vorwiegenden Tätigkeit der Herstellung von Holzfassern genauer Fäßbinder oder Fässer heißt. Das alemannische Küfer (mhd. küefer) gilt nicht nur im Tiroler Tannheimertal, sondern auch noch im oberen Lechtal und im oberen Stanzertal und Paznaun. Dagegen ist das ostschwäbische S c h ä f f l e r (mhd. schäffeläre) von Augsburg aus über Reutte und das Außerfern bis ins obere Inntal, das Pitztal sowie das untere Stanzertal und Paznaun vorgedrungen, wo es allerdings von der offiziellen österreichischen Gewerbebezeichnung Binder verdrängt wird. Schäffler ist jedoch nicht nur die ostschwäbische Bezeichnung, die in Augsburg seit dem beginnenden 14. Jh. belegt ist, sondern gilt als Schaff ler auch im westlichen Oberbayern. Es breitet sich sichtlich von München, wo es ebenfalls seit Anfang des 14. Jhs. bezeugt ist, aus, so daß es im Nordosten von Pfaffenhofen in Richtung Abensberg umlautloses Küfer (mhd. chuoffer) und im Südosten gegen Rosenheim Binder verdrängt. Wegen seiner sowohl ostschwäbischen als auch westbairischen Gültigkeit verkörpert das Wort bloß in Tirol einen echten Alemannismus. Auf Westtirol beschränkt sich schließlich die mit dem anschließenden östlichen Vorarlberg gemeinsame Bezeichnung g r i p f e n für ,kneifen', 38 die eine Intensivbildung zugreifen verkörpert (germ. *grippian zu grip an). Sie fehlt zwar im Tannheimertal, das mit dem Ostschwäbischen das auch im Bairischen geltende £wichen aufweist, reicht aber im Osten bis Zirl ins Inntal und bis ins

35

Fischer 1, 709; Schweizerisches Idiotikon 4, 1 1 5 7 f.

36

D W A 4; Schmeller 1, 348; Fischer 4, 551; Schatz 1, 345; Knetschke 1956, 11.

37

D W A 9; Schmeller 2, 3 7 5 f f . ; Ricker 1917, 5 6 f f . ; Fischer5, 661; Kluge/Mitzka 1967, 631.

38

D W A 19; Schatz 1, 256.

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mittlere Ötztal und greift im Süden sogar noch auf den obersten Südtiroler Vinschgau bis zum Haidersee über. 3.3. Zusammenfassung So ergänzen also die kleinräumigen bairisch-alemannischen Unterschiede durchaus die bereits anhand der Verbreitung der bairischen Kennwörter gewonnenen wortgeographischen Erkenntnisse (vgl. Kap. 2). Auffälliger als es dort der Fall war, finden sich nun auch Wortschatzgemeinsamkeiten mit dem Alemannischen im Südtiroler Vinschgau, der jedoch aus lautgeographischer Sicht völlig bairisch geprägt ist 39 und sich lediglich bei der regionalen West-Ostteilung Tirols zum Westen stellt. 4. Ostfränkische und obersächsische Einflüsse im Nordbairischen (Karten 5, 6,7,8) Schon bei der Betrachtung der bairischen Kennwörter erwies sich das Nordbairische als ein wenig konsistenter Raum, indem es diese teils zugunsten der ostfränkischen und obersächsischen Bezeichnungen aufgegeben hat und teils von mittelbairischen Neuerungen nur mehr im Süden erreicht wurde, so daß neben dauernden ostfränkischen Einflüssen bereits von Anfang an auch mit ostfränkischen Anteilen gerechnet werden muß, die im Westen im Nürnberger Raum besonders stark vertreten sind. Dieses Ergebnis bestätigt eine Reihe weiterer regionaler Beispiele mit unterschiedlicher östlicher und südlicher Ausdehnung. 4.1. Ostfränkische Einflüsse im Südwesten (Karte 5) Karte 5 bringt sechs Beispiele, die den Nürnberger Raum zur Gänze auf die ostfränkische Seite stellen und in unterschiedlicher Verbreitung den nordbairischen Westen bis maximal Vohburg/Donau, Riedenburg/Altmühl, Sulzbach und Pegnitz umfassen. Nur bis gegen Spalt und Hilpoltstein reicht die Bezeichnung des Klempners' als Flaschner*0 gegenüber dem mittelbairischen und oberpfalzischen Spangler (mhd. jpängeläre) und dem egerländischen Klemperer. Da bis in die Neuzeit die Erzeugung von Spangen, Klampfen und Blechflaschen von getrennten Gewerben geschah, mag schließlich nach der Vereinigung dieser Handwerke die gegendweise wichtigste Produktion den Ausschlag für die 39

Dies muß gegenüber den nicht erläuterten Einteilungskarten des Bairischen von Kranzmayer 1956, Hilfskt. 1, und Kranzmayer 1963, K t . V/5 a betont werden, vgl. Wiesinger 1983a, 830 und 839.

40

D W A 9; Braun 1973, K t . 4 3 ; Kretschmer 1969, 282 ff.

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jeweilige gemeinsame Benennung gegeben haben, was sich im Nürnberger Raum jedenfalls in Verbindung mit dem Ostfränkischen vollzog. Flaschner begegnet auch noch im Ascher Ländchen und im südlichsten Vogtland. Etwa bis Eichstätt, Hilpoltstein, Altdorf und Hersbruck gelten zwei ostfränkische Tierbezeichnungen. Es sind dies Muck(e) für ,Fliege' 41 gegenüber Brem(e) von der mittleren Altmühl bis um Neumarkt und sonstigem Flieg(e) sowie die Bezeichnungen des ,Hahnes'. Er heißt ostfränkisch Giicker oder Göcker,42 wobei im nordbairischen Bereich Umlautentrundung eintritt, gegenüber oberpfalzischem Gockel oder Hähnengockel und egerländischem Hähnen. Umlautloses Gocker im Grenzgebiet zwischen Göcker/Gücker und Hähnengockel einerseits im Pegnitzknie zwischen Lauf und Velden und andererseits neben Gockerer von Pegnitz nordwärts über Bayreuth bis Kulmbach könnte Kontaminationsform sein. Eine unterschiedlich weite Süd- und Ostausdehnung zeigen drei Pflanzenbezeichnungen. Die zum Gattungsbegriff ,Pilz' verallgemeinerte Bezeichnung der am häufigsten vorkommenden Sorte P f i f f e r l i n g im Süden und Pf i f fer ab Weißenburg und Altdorf erstreckt sich bis zur Donau und bis Vohburg/ Donau, Dietfurt/Altmühl, Freystadt, Altdorf, Hersbruck, Pegnitz nach Osten.43 Sie grenzt im Süden der Oberpfalz noch an das mittelbairische Diminutiv Schwammerl und sonst an umgelautetes Schwemmen, dem im Osten umlautloses Schwämmen folgt. Nur bis zur Altmühl nach Süden, dafür aber bis Berching, Sulzbach, Velden und Pegnitz nach Osten und nochmals ins Fichtelgebirge um Selb reicht die ostfränkische Bezeichnung der, Hagebutte' als Hiefe bzw. um Neumarkt als Diminutiv Heufelein und W ägenheufelein u (mhd. hiefe, hiufe). Ihr steht in der Oberpfalz eine Reihe von Heteronymen gegenüber: Hühnerfüße, Wägreifelein, Wägenput^erl, während der Bayerische Wald im Südosten Häärwut^el und das Egerland im Osten Hähnenbutte aufweisen. Am weitesten nach Osten bis Riedenburg/Altmühl, Velburg, Sulzbach, Velden erstreckt sich Erdbirn(e) für .Kartoffel', 45 der zwischen Altmühl und Donau Bumser und sonst Erdäpfel gegenübersteht. 4.2. Ostfränkische Einflüsse unterschiedlicher Reichweite in der Oberpfalz und im Egerland (Karten 6,7) Die beiden weiteren Karten, von denen Karte 6 sechs Tierbezeichnungen vereinigt und Karte 7 verschiedene Begriffe enthält, vermitteln gegenüber Karte 5 weitreichendere ostfränkisch-nordbairische Zusammenhänge. Die 41 42 43 44 45

DWA DWA DWA DWA DWA

1; Schuhmacher 1955, 38 ff. 15; Schmeller 1, 885. 11; Schmeller 1, 423. 11; Braun 1973, Kt.40; Schmeller 1, 1057 f. 11, Kretschmer 1969, 256 ff.; Martin 1963, 88 ff.

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einzelnen Beispiele erstrecken sich unterschiedlich weit nach Süden und Osten, wobei der Donauraum um Regensburg — Straubing und der Bayerische Wald im Südosten niemals betroffen sind und das Egerland ganz, teilweise oder gar nicht einbezogen wird. Unter den Tierbezeichnungen der Karte 6 herrscht bei ,Gänschen' eine deutliche Nord-Südteilung des Nordbairischen, indem es im Norden gemeinsam mit dem Ostfränkischen wie jede Art von Küken nach dem Lockruf als Diminutiv Biberl [mwe/] bezeichnet wird. 46 Südlich der Linie Roth, Altdorf, Sulzbach, Vilseck, Neustadt/Naab, Pfraumberg, Kladrau, Pilsen gelten die ebenfalls von Lockrufen abgeleiteten Diminutive Husserlein, Duserlein und Buserl sowie Gansei. Nur mehr den äußersten Süden des Egerlandes ab etwa Eger, Tirschenreuth, Plan, Staab erfaßt bis etwa Taus, Nabburg, Amberg, Neumarkt, Roth, Feucht, südlich Nürnberg Schnäk(e) [snög] als ostfränkische Bezeichnung der 47 ,Mücke' gegenüber Muck(e), Brem(e) und Stände) im Süden der Oberpfalz und Muck(e) im nördlichen Egerland. Die ostfränkisch-nordbairische Bezeichnung des .Kaninchens' ist S t ä l l häs(e),4& die bis etwa Waldsassen, Lauterbach, Neumarkt, Netschetin ins mittlere Egerland vorgestoßen ist und sichtlich das südlich und nördlich davon geltende, mit dem südlichen Obersächsischen verbundene Kühäs(e) [k.ouhös] oder Kähniggel \kountgl\ zurückdrängt. Auch die durchschnittliche Südgrenze von Ställhäs(e) von Pfaffenhofen über Ingolstadt, Neustadt/Donau, Beilngries/Altmühl, Velburg, Amberg, nördlich Pfreimd/Naab, nördlich Waldmünchen, Taus steht in Auseinandersetzung, diesmal mit der vordringenden mittelbairischen Bezeichnung Künighäs(e) [kinthqs\. Daraus resultiert, daß das Nordbairische bezüglich ,Kaninchen' ursprünglich west-östlich zweigeteilt war, indem die Oberpfalz mit dem Ostfränkischen (und Schwäbischen) Ställhäs(e) und das Egerland mit dem Obersächsischen Kühbäs(e) oder Kuhniggel aufwies. Eine ähnliche oberpfalzisch-egerländische Zweiteilung des Nordbairischen, wobei die nördliche Oberpfalz noch mit dem Egerland geht, weisen die Bezeichnungen für die Jungtiere von Schwein und Schaf,Ferkel' und ,Lamm' auf. Mit dem Ostfränkischen teilt die Oberpfalz für ,Ferkel' das Diminutiv Suckerlein [sukele, süxelv] zu mhd. suggen als Intensivbildung zu sägen .saugen'. 49 Es gilt innerhalb der Linie Gunzenhausen/Altmühl, Heideck — Neumarkt mit Säulein wird im Bogen umgangen — Parching, Burglengenfeld, Cham, Taus, Plöß, westlich Tirschenreuth, Wunsiedel und grenzt im Süden 46 47 48 49

DWA DWA DWA DWA

15; Schwarz 1958, Kt. 89. 1; Schmeller 2, 565; Kretschmer 1969, 340 ff. 19. 7; Schmeller 2, 223; Ptatscheck 1957, 68 ff.

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an Milchsäulein, Fackel und Spänsau. Das Egerland und die nördliche Oberpfalz weisen mit dem südlichen Obersächsischen das Diminutiv Tschuckel, Tscbugel auf. Noch beinahe die gesamte Oberpfalz umfaßt die diminutive Bezeichnung des Lammes als Bet^lein [b(ds(n)le] nach dem Lockruf [b{ds\.50 Gegen schwäbisches Schäflein und mittelbairisches Lampel grenzt es sich an der mittleren Altmühl und der Donau bis Regensburg ab, ehe über Viechtach die Sprachgrenze bei Taus erreicht wird. Im Egerland und am äußersten Ostrand der Oberpfalz gilt dann gemeinsam mit dem Obersächsischen Schäflein. Betylein verfügt daher über eine oberpfälzische Verbreitung, wie sie ursprünglich auch Ställhäs(e) für .Kaninchen' aufgewiesen haben dürfte. Schließlich gilt in der mittleren Oberpfalz innerhalb der Linie südlich der Donau bis Ingolstadt, Riedenburg/Altmühl, Hemau, östlich Velburg, südlich Schwandorf, Nabburg, westlich Taus, Vohenstrauß, nördlich Weiden, Grafenwöhr, südlich Pegnitz für ,Pferd' Gaul gegenüber südlichem Roß und nördlichem Pferd.51 Den verschiedenen Tierbezeichnungen der Karte 6 verwandte Raumbilder vermitteln auch die unterschiedlichen Begriffe der Karte 7. Nord-Südteilungen des Nordbairischen liegen bei .Bettlaken' und .Böttcher' vor. Nahezu gesamt nordbairisch ist die mit dem Ostfränkischen und Obersächsischen gemeinsame Bezeichnung Bettuch gegenüber mittelbairischem Leilach (mhd. Illach) und Leintuch, die sich nördlich der oberen Altmühl und der Donau bis östlich von Regensburg und dann westlich Viechtach, Neumarkt scheiden. 52 Wesentlich nördlicher setzt an der Linie Treuchtlingen/ Altmühl, nördlich Berching, Velburg, Amberg, Nabburg, Schönsee, Taus ostfränkisch-südobersächsisches Büttner [bins, bidnv\ ein (mhd. bütenäre),si während im Süden umlautloses Käfer, Küfner [koufe, koufnc] und Binder gelten. Wenn auch im nördlichen Egerland teilweise ( F ä ß ) b i n d e r begegnet, so handelt es sich dabei um das Aufgreifen der amtlichen österreichischen Gewerbebezeichnung. 54 Eine annähernde Ost-Westteilung in Oberpfalz und Egerland ergibt sich bei der mit dem ostfränkischen gemeinsamen Bezeichnung Horn für ,Beule' 55 gegenüber egerländischem Batten und Beule, Bauke südlich von Heidenheim, Berching, Kallmünz, Neunburg, Waldmünchen. Obwohl jüngeres Horn bis

50

51 52 53 54 55

DWA 7; Schmeller 1, 315; WBÖ 2, 1173. Die von Ptatscheck 1957, 99 vermutete Ableitung von Hätten müßte als Diminutiv [bats(v)lv\ mit [a] lauten, es sei denn man nimmt Ausbreitung mit lautgerechtem ostfränkischem [{] an. DSA II/4. DWA 22; Kretschmer 1969, 319 f. DWA 9; Schmeller 1, 310; Ricker 1917, 54ff.; Kretschmer 1969, 144 ff.; W B Ö 3, 1567. Vgl. Wiesinger 1987, 323 f. DWA 5.

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zur böhmischen Grenze vordringt, kommt älteres egerländisches Batten noch um Hirschau — Vohenstrauß und um Waldsassen vor. Drei zusammengehörige Begriffe sind .Schornstein', ,den Schornstein fegen' und ,Schornsteinfeger', bei denen sich das Nordbairische in zum Teil unterschiedlichem Umfang an den ostfränkischen Bezeichnungen beteiligt. 56 Den weitesten Raum nehmen dabei Gegenstand und Handwerker mit Schlot und Schlotfeger cin, die mit geringen Abweichungen bis Monheim, Eichstätt, Hemau, nördlich Schwandorf, südlich Schönsee, Taus nach Süden und bis Staab, östlich Weseritz, Einsiedl, Falkenau, Bleistadt, nördlich Asch nach Osten reichen. Im Süden grenzt Schlot an Kamin, Kintel und Rauchfäng und im Osten neben österreichisch-umgangssprachlichem Rauchfäng an mit dem südlichen Obersächsischen gemeinsames Feueresse. Entsprechend heißt der Handwerker im Süden Kamin-, Kintel- und Rauchfängkehrer und im Osten Feueressen- und ebenfalls Rauchfängkehrer. Damit sind auch schon die dazugehörigen Verben bekannt: ostfränkisch-oberpfalzisches fegen und sonstiges kehren, um Eger — Asch — Falkenau auch ausputzen. Fegen erstreckt sich bis Monheim, Eichstätt, Berching, östlich Neumarkt, Sulzbach und Vilseck, wird zwischen Vils und Naab um Hirschau von aus dem Süden vordringendem kehren bedrängt und erreicht über Weiden bei Schönsee die böhmische Grenze, die dann bei hier wohl vordringendem fegen etwa die Ostgrenze bildet. Damit entsteht hinsichtlich des Verbums wieder eine West-Ostteilung des Nordbairischen in Oberpfälzisch und Egerländisch, während die Substantive auch noch den größten Teil des Egerlandes miteinschließen. 4.3. Obersächsische Zusammenhänge in der nördlichen Oberpfalz und im Egerland (Karte 8) Über die schon bei der Behandlung der Karten 6 und 7 beobachteten Zusammenhänge des Egerlandes und teilweise auch der nördlichsten Oberpfalz mit dem Obersächsischen hinaus zeigt nun Karte 8 vier typische Gemeinsamkeiten dieser Gebiete mit dem Obersächsischen. Am weitesten nach Süden bis Kemnath, Weiden, Vohenstrauß, Taus erstreckt sich Topj57 gegenüber ostfränkischem und bairischem Häfen. Etwa gleiche Ausdehnung erreicht in der Oberpfalz wiederkäuen.58 Im Osten des Egerlandes, wo das südlichste Auftreten nördlich von Pfraumberg und westlich von Staab endet, konkurriert es mit nordbairischem in-, hindrucken als Spielform von mhd. iterucken. Wiederkäuen ist geographisch über das Vogtland mit dem mittleren und nördlichen Obersächsischen verbunden. Keinen Ein56

57 58

DWA 18; Schmeller 2, 537 und 1, 696; Ricker 1920, 106 ff.; Kretschmer 1969, 436 ff. und 443 ff.; Schilling 1963, 42ff.; Wiesinger 1987, 327 f. DWA 8; Schwarz 1962, 80; Hildebrandt 1963, 319ff.; Kretschmer 1969, 531 ff. DWA 2; Schwarz 1956, Kt.67; Schwarz 1960, 432; Schwarz 1962, 82; Neubauer 1958, 510 ff.

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fluß auf das Nordbairische nimmt ostfränkisches urkäuen, das erst an der nordbairischen Westgrenze von Kemnath bis Nürnberg einsetzt. An der Linie westlich Rehau, westlich und südlich Eger, Plan, Mies, Pilsen scheiden sich östlich-obersächsisches Zieg(e)s9 von bairischem und ostfränkischem Gaiß. w Schließlich reicht Sonnäbend gegenüber bairischem und ostfränkischem Samstag bis südlich Rehau, westlich Asch, südlich Eger, Einsiedl, Theusing, Manetin, doch konkurriert es im Osten um Luditz — Karlsbad mit nordbairischem Sämstäg. 4.4 Zusammenfassung Faßt man die wortgeographischen Ergebnisse der auf den Karten 5 bis 8 enthaltenen regionalen Beispiele zweifellos verschiedenen Alters — so gehören die Bezeichnungen für ,Kartoffel', .Schornsteinfeger' und ,den Schornstein fegen' erst dem 16. Jh. an — unter Berücksichtigung der auf Kartei dargestellten bairischen Kennwörter zusammen, so erweist sich das Nordbairische als ein lexikalisch wenig konsistenter Raum. Von den von Süden nach Norden abnehmenden gesamt- und mittelbairischen Zusammenhängen abgesehen, unterliegt das Nordbairische vielmehr westlichen ostfränkischen und nördlichen obersächsischen Einflüssen. Davon unberührt bleibt lediglich der Südosten mit dem Donauraum um Regensburg — Straubing und dem Bayerischen Wald, wo auch sämtliche bairische Kennwörter gelten. Es ist dies nicht nur der verkehrsmäßig mit dem Süden unmittelbar verbundene Raum, sondern er gehörte schon im Spätmittelalter seit den wittelsbachischen Gebietsteilungen auch territorial zum Süden: seit 1255 zum Herzogtum Niederbayern und nach dessen Teilung von 1349 bis 1503 als dessen nördliche Hälfte Bayern-Straubing. 61 Im einzelnen zeigen die ostfränkischen und obersächsischen Zusammenhänge zwar unterschiedliche Ausdehnung, doch lassen sich vier grundlegende, zum Teil variierte Verbreitungstypen erkennen. Wie Karte 5 zeigt, beschränken sich einige Beispiele auf den Südwesten zwischen Pegnitz und der Donau. Es sind dies einerseits die Gebiete des sich seit der Mitte des 11. Jhs. formenden Reichsstadtterritoriums Nürnberg und der nach Westen ausgerichteten hohenzollerischen Burggrafschaft Nürnberg sowie des in fränkischen Verbindungen stehenden, ins 8. Jh. zurückgehenden Bistums Eichstätt. Zudem führt durch dieses Gebiet die wichtige Handelsstraße von Nürnberg über Weißenburg, Eichstätt und Ingolstadt nach München bzw. von Weißenburg nach Augsburg. Muß man für den Nürnberger 59 6(1

61

DWA 5; Rein 1958, 216 ff.; Schwarz 1960, 431; Schwarz 1962, 80; Kluge/Mitzka 1967, 882. DWA 16; Braun 1973, Kt. 16; Kranzmayer 1929, 57 ff. und 82f.; Schwarz 1960, 430; Schwarz 1962, 80; Avedisian 1963, 242 ff.; Kluge/Mitzka 1967, 623; Kretschmer 1969, 460 ff. Vgl. Kraus 1983, 121, 162f.; Bayerischer Geschichtsatlas 1969, Ktn. 1 8 - 2 1 und Text 76ff.

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Raum bereits mit gemischter bairischer und ostfränkischer Besiedlung seit dem 9. Jh. rechnen, so werden die nach Westen gerichteten territorialen Entwicklungen und die von Nürnberg nach Süden ausgehenden Verkehrsverbindungen 62 zur Verbreitung ostfränkischen Wortgutes geführt haben. Die räumlich ausgedehnteren ostfränkischen Zusammenhänge nach den Karten 6 und 7 zeigen weitere drei bzw. fünf Arten der Verbreitung. Einen dreifach variierten Typus bilden die keilförmig nach Osten gerichteten Beispiele. Es sind zunächst Wörter, deren Nordgrenze quer durch die nördliche Oberpfalz verläuft, wie Suckerlein für , Ferkel'. Bettlern für ,Lamm' und Gaul für ,Pferd'; dann Beispiele, die unmittelbar oder beinahe an der böhmischen Grenze enden, wie fegen für ,den Schornstein fegen' und Horn für ,Beule', so daß sie eine west-östliche Teilung des Nordbairischen in die Oberpfalz und in das Egerland verursachen, und drittens Beispiele, die auf das Egerland übergreifen, wie Schlot für ,Schornstein', Schlotfeger für ,Schornsteinfeger' und Ställhäs(e) für ,Kaninchen'. Ihre räumliche Lagerung vermittelt den Eindruck des unterschiedlich weiten Vordringens nach Osten durch den Verkehr, wobei ja neben der Nord-Süd-Verbindung einerseits von Hof über Rehau und Selb und andererseits von Plauen über Eger nach Mitterteich und weiter über Weiden nach Regensburg vor allem die WestOst gelagerten Hauptstraßen in Frage kommen, wie der alte Handelsweg von Nürnberg über Hersbruck, Sulzbach, Vohenstrauß, Haid und Pilsen nach Prag und die Straßen Nürnberg — Neumarkt — Regensburg, Bayreuth — Amberg und Kulmbach — Marktredwitz — Mitterteich. 63 Zumindest für das Verkehrstier der älteren Zeit, das Pferd, legt das in die Oberpfalz keilförmig von Westen eingedrungene Gaul sprachliche Verkehrsvorstöße nahe. Wenn dann als dritter Verbreitungstypus ostfränkischer Zusammenhänge schließlich eine das Egerland einbeziehende Nord-Südteilung des Nordbairischen erfolgt, wie mit nördlichem Bettuch für .Bettlaken', Büttner für .Böttcher' und Biberl für ,Gänschen', dann handelt es sich entweder um bis zur Sprachgrenze erfolgte Verkehrsvorstöße oder bereits um ostfränkische Grundlagen, da ja vor allem die nördliche Oberpfalz und das Egerland hochmittelalterliche Kolonisationsgebiete sind, an deren Rodung und Besiedlung sich zwar vorwiegend Baiern, doch im geringeren Ausmaß auch Ostfranken beteiligt haben. Zumindest im Norden des Egerlandes wirkten am Kolonisationswerk außerdem noch ostmitteldeutsche Thüringer mit, wie vor allem die mit dem Obersächsischen und zum Teil auch mit dem Thüringischen verbundenen Beispiele Topf, wiederkäuen, Zieg(e) und Sonnabend der Karte 8 als vierten 62

Vgl. Steger 1968, 543 ff.; Schödel 1967, 85 ff.; Bayerischer Geschichtsatlas 1969, K t . 3 8 und Text 109 ff. (wobei die hier behandelten Strecken der Postrouten des 18. und frühen 19. Jhs. den schon mittelalterlichen Straßen folgen).

63

Vgl. Bayerischer Geschichtsatlas 1969, K t . 3 8 und Text 109 ff. (vgl. dazu Anm. 62).

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Verbreitungstypus benachbarter Zusammenhänge veranschaulichen und wie in lautlicher Hinsicht aus den hier geltenden ostmitteldeutschen Schibboleths Appel und Kopp ohne Lautverschiebung hervorgeht. Historisch werden solche Zusammenhänge am Kloster Waldsassen deutlich, das um 1133 mit Zisterziensern aus dem nordthüringischen Völkenrode bei Mühlhausen besiedelt wurde, denen wahrscheinlich nordthüringische Bauern gefolgt sein werden. Für das Nebeneinander bairischer und ostmitteldeutscher Bezeichnungen im östlichen Egerland wie für in-, hindrucken/wiederkäuen und Sämstäg\Sonnäbend vermutet Ernst Schwarz ein bis in die Kolonisierungszeit zurückreichendes Alter, ohne daß sich im Sprachausgleich die eine der beiden mitgebrachten Formen auf Kosten der anderen durchgesetzt hätte. 6 4

5. Die wortgeographische Eigenstellung des Südbairischen (Karten 9, 10, 11, 12) Das Bairische weist auf Grund seiner Laut- und Formenverhältnisse bekanntlich eine N o r d —Süd gelagerte Dreiteilung in Süd-, Mittel- und Nordbairisch mit den zwischen diesen Kernräumen vermittelnden Übergangszonen des Südmittelbairischen und des Nordmittelbairischen auf. 65 Von diesen drei Großräumen verfügt nach den im Deutschen Wortatlas enthaltenen Beispielen lediglich das Südbairische, zum Teil in Verbindung mit dem Südmittelbairischen, über Bezeichnungen, die es auch wortgeographisch als Einheit erscheinen lassen. Aus lautgeographischer Sicht sind südbairische Eigenheiten zweifacher Herkunft: sie können entweder altertümliche Rückzugserscheinungen einst gesamtbairisch, mindestens früher auch mittelbairisch gültiger Phänomene sein, oder es handelt sich dabei um spezifische Neuerungen. Es empfiehlt sich daher, die im folgenden vorgestellten Beispiele unter solchen Gesichtspunkten zu untersuchen. 5.1. Allgemeine südmittelbairisch-südbairische Rückzugserscheinungen (Karten 9, 10) Als Rückzugserscheinungen lassen sich Wörter besonders dann erkennen, wenn sie über das Südbairische hinaus auch noch in mittelbairischen Randgebieten vorkommen, während die mittelbairische Mitte geneuert hat. Die Verbreitungsgebiete der einzelnen Beispiele sind insgesamt recht verschieden, wobei auf G r u n d einzelner regionaler Bezeichnungen wohl schon ursprüng-

64

65

Vgl. Schwarz 1962, 80 ff., und allgemein das Kap. „Mundartmischung und Ausgleich in Nordostbayern" bei Schwarz 1960, 422 ff. Vgl. Kranzmayer 1956, Hilfskt.l; Wiesinger 1983 a, 836 ff.

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lieh keine völlige südbairisch-mittelbairische oder gesamtbairische Einheit, sondern bestenfalls bloß eine sehr weitgehende Ubereinstimmung bestand. Als solche Rückzugswörter lassen sich die auf Karte 9 dargestellten Beerennamen Grante für .Preiselbeere' Schwär^beer(e) für .Heidelbeere' und Rotbeer (e) für ,Erdbeere' beurteilen, die von den schriftsprachlichen Formen entlang der Hauptverkehrsstraßen in die Randzonen abgedrängt wurden. Die weiteste südmittelbairisch-südbairische Ausdehnung zeigt Granten oder Grante-, Grantleinbeer(e),66 das ganz Tirol, Salzburg ab südlich der Stadt, den Südrand von Ober- und Niederösterreich mit dem oberen Salzkammergut um Bad Ischl, dem oberen Steyr- und Ennsgebiet und dem oberen Ybbsund Schwarzatal umfaßt und sich im Südosten erst ab dem Westen der Ostund Mittelsteiermark behauptet. Unterbrochen ist die südbairische Verbreitung dieses Wortes lediglich im obersteirischen Ennstal durch das slawische Reliktwort Gröstling (zu slaw. gro^dh ,Traube, Büschel' als Diminutiv gro%dikT>)67 und in Teilen von Tirol durch das romanische Lehnwort Glan (zu rätorom. glasine ,Blaubeere').68 Es begegnet dann wie die beiden weiteren Beerennamen wieder im Mittelbairischen nördlich der Donau im niederösterreichischen Wald- und im oberösterreichischen Mühlviertel mit Südböhmen und dem westlichen Südmähren. Etymologisch ist Grante übrigens umstritten, doch wird Bernhard Peters recht haben, wenn er wegen des mittelbairischen Vorkommens einer möglichen romanischen Herleitung die deutsche von Grand ,Trog' (mhd. grant) als mhd. *gränte vorzieht und dafür die früher weit verbreitete Zubereitung eines Getränkes in großen Gefäßen ins Treffen führt. Eingeschränkter ist dann das Vorkommen von S chivär^beer(e) für ,Heidelbeere'. 69 Das Wort reicht im Osten etwa gleich weit wie Granten, setzt aber in der Oststeiermark schon südlich der Freistritz ein und gilt im Westen in Salzburg erst im Pongau und in Südtirol einschließlich der Nordtiroler Gebiete am Reschenpaß und des Wipptales. In den Anschlußbereichen finden sich neben Heid- und Heidelbeer(e) noch Moosbeer(e) in Nordtirol und Salzburg und Zetbeer(e) in Oberösterreich. Nördlich der Donau begegnet Schwär beer(e) wieder im niederösterreichischen Waldviertel und in Südböhmen und nochmals im Nordbairischen des Egerlandes und in Teilen der Oberpfalz. Die geringste südmittelbairisch-südbairische Verbreitungsfläche behauptet Rotbeer(e) für ,Erdbeere' gegenüber Erdbeer(e), Ahnelbeer(e) und Beerahnel.70 Es fehlt in ganz Nord- und Südtirol, tritt in Salzburg ab dem mittleren Pongau auf, gilt dann wieder im unteren steirischen Ennstal mit den südlichen Gebieten von Ober- und Niederösterreich und ab der östlichen Mittelsteier56 67

68 69 70

DWA 10; Peters 1967, 64ff.; WBÖ 2, 1053. Peters 1967, 85 und 105, irrt, wenn er die DWA-Schreibung Grestling als Presttingj Breitling liest und dementsprechend interpretiert. Peters 1967, 88 f. WBÖ 2, 1054 und Karte. DWA 10; WBÖ 2, 1060 und Karte.

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mark. Dafür zeigt es aber im Vergleich zu den anderen beiden Beerennamen noch den größten Fortbestand im Mittel- und Nordbairischen, wo es nicht nur nördlich der Donau im Wald- und Mühlviertel mit Südböhmen wieder begegnet, sondern sich auch im südlichen oberösterreichischen Innviertel sowie im nördlichen Niederbayern ab der Isar, in der Oberpfalz und im Egerland behauptet. Karte 10 zeigt zwei weitere Beispiele dieser Art. Zunächst sei das Verbum gaimet^en für ,gähnen' genannt, 71 das eine Iterativ-Intensivableitung von germ. *geim-\gaim- in altnord. glma ,Öffnung' und alem. glm ,Spalte' verkörpert und als ein Beispiel der alemannisch-bairisch-nordgermanischen Sprachbeziehungen zum elbgermanischen Erbe des Bairischen zu zählen ist. 72 Es tritt auf im südlichen und östlichen Südtirol mit dem Nordtiroler Zillertal, in Salzburg und der Ober- und Oststeiermark südlich des Alpenhauptkammes — die Mittelsteiermark beiderseits der Mur hat gähnen —, im südöstlichen Niederösterreich und im Burgenland. Im Mittelbairischen begegnet es gegenüber gainen, gähnen, Maul(auf-)reißen, maul^erren und gähnmaulen noch im oberen Mühlviertel mit dem nördlichen Hausruckviertel in Oberösterreich sowie im oberen Böhmerwald um Eisenstein — Neumarkt. Vereinzelte Reste finden sich auch noch in weiteren Teilen von Oberösterreich sowie im Bayerischen Wald in Niederbayern und zwischen Wasserburg und Tittmoning in Oberbayern. Süd- und mittelbairisch war einst auch die Bezeichnung des ,Bettlakens' als Leiläch bzw. Lei"lach (mhd. Illach, linlacti) gegenüber jüngerem Leintuch,73 Südbairisch tritt es in wechselnden Lautformen in fast ganz Tirol ohne das Süd- und Osttiroler Pustertal mit Pläche, am Südrand von Oberbayern von Mittenwald bis Kufstein, im Berchtesgadener Land und im Salzburger Pongau und Lungau mit dem obersteirischen Murgebiet und in Kärnten mit der Obdacher Paßlandschaft und dem Nordwesten der Weststeiermark auf. Im Mittelbairischen hat es sich in Oberbayern zwischen der oberen Isar und dem Inn sowie westlich der Würm zwischen Aichach — Dachau — Mainburg, im östlichen Oberbayern zwischen Traunstein und Laufen, im nördlichen Salzburger Flachgau und im oberösterreichischen Inn- und Hausruckviertel, resthaft bei Deggendorf im Bayerischen Wald sowie im unteren Böhmerwald um Wallern — Krumau erhalten. 5.2. Auf den Südwesten beschränkte mittelbairisch-südbairische Rückzugserscheinungen (Karte 11) Eine Zurückdrängung ganz anderer Art zeigt Karte 11. Es sind Beispiele von einst gesamtbairischer, zumindest aber mittel- und südbairischer Gültig71

D W A 20; Schatz 1, 200.

72

Vgl. zu derartigen Beziehungen K o l b 1957 und Wiesinger 1985, 1 7 7 f.

73

D W A 22; Schmeller 1, 1417; Schatz 1, 383; Kluge/Mitzka 1967, 434; Kretschmer 1969, 319.

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keit, die sich heute im geschlossenen Auftreten auf den südbairischen und mittelbairischen Südwesten beschränken. Geographisch am leichtesten zu fassen ist die Bewahrung der ursprünglichen germanischen Getreidebezeichnung Roggen, die im 13. Jh. von Korn und letzteres im mittelbairischen Osten dann von (Ge)traid(e) abgelöst wurde. 74 Roggen beschränkt sich auf Mittel- und Oberkärnten, den Salzburger Lungau und Pinzgau, ganz Tirol und das südwestliche Oberbayern von der obersten Isar über den Starnberger- und Ammersee bis Augsburg. Geographisch wesentlich weniger deutlich zu fassen sind die beiden Zeitbezeichnungen ,heute morgen' und .gestern abend'. Auf den Südwesten beschränkt sich das Syntagma heint (de)s Morgens (mhd. hint,heute') oder heint (de)s Morgens, das auf Kontamination mit dem noch im Süden von Südtirol ab dem mittleren Vinschgau bewahrten Syntagma heint % (u) Morgen beruht. 75 Diese Syntagmen treten in geschlossener Fläche ab dem oberen Kärntner Lesach- und Mölltal, dem obersten Salzburger Pinzgau, dem östlichen Nordtirol ohne das Unterinntal von Kufstein bis Schwaz und im westlichen Oberbayern ab dem Tegernsee über Tölz, östlich Wolfratshausen, Starnbergersee, Dachau und südlich der Donau ab Ingolstadt auf. Die verwandte Bildung heint morgen kommt noch im nördlichen Mittelkärnten mit der anschließenden obersteirischen Neumarkter Paßlandschaft und der nördlichen Weststeiermark bei Köflach, in der südlichen Mittelsteiermark um Leibnitz und der nördlichen östlich von Graz sowie im südlichen Burgenland vor. Dagegen gilt in den übrigen süd- und mittelbairischen Bereichen das Syntagma heint in fan der Früh(e) (ohne Umlaut) bzw. in den konservativen nördlichsten Randgebieten und im Nordbairischen heint früh. Anders gelagert sind die Entsprechungen von .gestern Abend', wofür im Mhd. das Adverb nähten galt. 76 Es ist in den Syntagmen nachten des Nachts noch im Nordtiroler Zillertal, nachten Ν acht Im Ötz- und anschließenden Inntal und nachten %(u) Abend in Oberbayern zwischen Maisach und Aichach voll erhalten. Ansonsten wurde es zu nacht verkürzt, das vielfach allein gilt, teilweise aber auch zu den Syntagmen nacht am Abend, auf die Nacht, Nacht, nachts erweitert wird. Vom isolierten Auftreten im Zillertal abgesehen, umfaßt das räumlich geschlossene Vorkommen nur mehr Westtirol, das Tiroler Achenseegebiet und Oberbayern ab nördlich Kufstein, Aibling, München, östlich Dachau, Ingolstadt. Relikthaft findet sich einfaches nacht noch in Mittelkärnten mit dem obersteirischen Obermurgebiet zwischen Murau und Judenburg und in der Mittelsteiermark sowie nochmals in Ober74 75 76

DWA 4; Höing 1958, 124 ff. DWA 16. DWA 16; Schatz 2, 443.

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Österreich im nördlichen Hausruck- und oberen Mühlviertel, wobei die Linien der Karte hier keine geschlossenen Gebiete, sondern nur mehr das äußerste Auftreten von Einzelbelegen umreißen. Ansonsten heißt es im Mittel- und Südbairischen gestern auf die Nacht und im Nordbairischen gemeinsam mit dem Ostfränkischen und Obersächsischen gestern Abend. 5.3. Südbairische Neuerungen (Karte

12)

Gegenüber den zahlreichen, einst weiter verbreiteten und nunmehr auf das Südbairische und teilweise auf die ihm vorgelagerten süd- und westmittelbairischen Gebiete eingeschränkten Rückzugserscheinungen sind die südbairischen und südmittelbairischen Neuerungen, die Karte 12 zeigt, vergleichsweise gering. Dies entspricht auch den bei den Laut- und Formenverhältnissen beobachtbaren Zuständen. Obwohl das Wort bauen in der Bedeutung ,das Feld bestellen' gesamtbairisch verbreitet ist, schränkt sich seine Verwendung für ,pflügen' als Teil der Feldbestellung auf das Südmittelbairische und Südbairische ein. 77 Es gilt in Tirol mit Ausnahme der westlichen Gebiete des Vinschgaues und des Oberinntales mit dem Pitz- und Stanzertal und dem Paznaun, am Südrand von Oberbayern, in Salzburg ohne den nördlichen Flachgau, im oberen Ybbsgebiet in Niederösterreich, in der Steiermark ohne das Gebiet um Friedberg und in Kärnten. Dabei handelt es sich um keine altbezeugte Bedeutung, sondern um eine Bedeutungsneuerung, für die das „Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich" Belege erst ab dem 15. Jh. beibringen kann. Ihr höheres, bis mindestens in die Zeit um 1100 zurückreichendes Alter läßt sich jedoch aus dem Vorkommen in den Zimbrischen Sprachinseln wie überhaupt in allen südbairischen Sprachinseln erschließen. Die mittelbairische Bezeichnung des Pflügens ist ackern, in den westlichen Gebieten von Tirol gelten umfahren, ächerfahren, brächen und pflügen (ohne Umlaut). Ein anderes, ebenfalls gesamtbairisches Wort ist wispeln. Während mhd. wispelen die Bedeutungen ,flüstern' und ,pfeifen' umfaßt, haben sich diese später derart getrennt, daß sich ,flüstern' nun auf das Mittelbairische und ,pfeifen' auf das Südbairische und Teile des Südmittelbairischen beschränkt. 78 Es heißt ,pfeifen' in Tirol ohne den Westen, am oberbayerischen Inn bis vor Rosenheim sowie um Berchtesgaden, in Salzburg mit Ausnahme des Nordens, dafür aber mit dem obersteirischen Ennstal bis Gröbming, in Kärnten, in der Steiermark südlich der Paßkette und im südlichen Burgenland. Da alle südbairischen Sprachinseln ebenfalls nur die Bedeutung ,pfeifen' aufweisen, 77

78

DWA 8; Mitzka 1958, 116; WBÖ 2, 551 ff.; Kranzmayer 1985, 10; Kranzmayer/Lessiak 1983, 41; Hornung 1972, 69; Tschinkel 1, 42 f. DWA 19; Katalog zum WBÖ; Schatz 2, 710; Martello Martalar 111; Kranzmayer/Lessiak 1983, 178; Hornung 1972, 478; Tschinkel 2, 472.

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muß man mit der Bedeutungsdifferenzierung bereits spätestens ab dem Beginn des 12. Jhs. rechnen. Eine Lautentwicklung mit einer volksetymologischen Bedeutungsveränderung als Folge betrifft .Mittwoch', der im Südbairischen Mittag heißt, während das Mittelbairische eine Fülle, auf Mittichen zurückzuführende Lautvarianten zeigt. 79 Gemeinsame Grundlage ist ahd. mittawecha, das im Frühmhd. zu mittache vereinfacht wurde, wie es die Vorauer Handschrift von ca. 1150 im „Loblied auf den Hl. Geist" bezeugt. Während sich nun im Südbairischen auf dieser Basis die Assoziation und Umdeutung zu mhd. tach ,Tag' vollzog, so daß in südbairischen Urkunden seit dem endenden 13. Jh. auch mittach geschrieben werden kann, erfolgte im Mittelbairischen die reguläre Nebensilbenabschwächung, die sich ab dem ausgehenden 13. Jh. auch in urkundlichem mitich(en) niederschlägt. Die Umdeutung scheint in den bäuerlichen Dialekten allerdings erst allmählich Platz gegriffen zu haben, denn die zwischen 1325 und 1360 aus dem osttirolisch-oberkärntnischen Grenzraum angelegte Sprachinsel Gottschee zeigt gegenüber dem Grundwort [-tokx] der übrigen Wochentagsnamen die Lautung [mittö/], die aus mhd. mittewoche verkürztes *mittoch voraussetzt. Mittag gilt heute in Tirol ohne den alemannisch beeinflußten Westen und ohne das Unterinngebiet bei Kufstein, im Salzburger Pinzgau und Lungau, in Kärnten sowie im größten Teil der Steiermark mit dem südlichen Burgenland. Eine ebenfalls weitgehend durch Lautdifferenzierung unterstützte südbairische Eigenbedeutung hat das Adverb gleich aus mhd. geliche angenommen. Während es in der temporalen Funktion ,sogleich, sofort' im Mittelbairischen immer und im Südbairischen mit Ausnahme von Ost- und Südtirol das Präfix ge- als [g/afl bewahrt, hat es bei der bloß südbairischen Ausweitung der Funktion zur Modalpartikel ,nur, bloß' das Präfix größtenteils aufgegeben. 80 Es lautet daher meistens [lai\ und wird im Süd- und Osttiroler Pustertal von temporalem [la[\ durch Vokalschwächung als \ld\ unterschieden. Im Wenkersatz ,Geh nur, der braune Hund tut dir nichts' kommt es in Südtirol ohne den obersten Vinschgau, im Nordtiroler Ötz- und Wipptal und vereinzelt auch im Inntal, in Osttirol, in der Salzburger Rauris sowie in ganz Kärnten mit den anschließenden steirischen Paßlandschaften um Obdach und der Pack vor. Teilweise in Mittelkärnten und besonders im Unterkärntner oberen Lavanttal mit den steirischen Paßlandschaften sowie in der Salzburger Rauris ist mit \gla{\ das Präfix bewahrt, so daß dort wie in Teilen von Ost- und Südtirol keine lautliche Differenzierung der beiden Funktionen besteht. Obwohl das Wort in Salzburg als junger Eindringling auf den Pinzgau beschränkt 79 80

DSA Ε/4, E/5; Kranzmayer 1929, 41 ff. und 76 ff.; Tschinkel 2, 59; Wiesinger 1987a, 650 ff. DSA ,nur' III/2, E/9; Schatz 1, 382. Es ist nicht richtig, daß lei ein typisches Kärntner Wort sei, wie seit Lexer 1862, 80, immer wieder zu lesen ist.

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sein soll, belegen es sowohl Mundarttexte des 19. Jhs. als auch solche der Gegenwart als lei auch im Salzburger Pongau. 81 Ansonsten gelten in Westtirol alemannisches nu, in Bayern mit dem Tiroler Inntal no(r) und in Österreich tta(r) (mhd. näre aus ahd. niwärt), soweit sie nicht von umgangssprachlichem nur verdrängt wurden. Was die Entwicklungsgeschichte von lei betrifft, so läßt sich diese mit Hilfe der südbairischen Sprachinseln verfolgen. Während die aus Westtirol um 1100 angelegten Zimbrischen Sprachinseln wie noch das Inntal und Bayern nor aufweisen und in dem aus dem Osttiroler Pustertal in der ersten Hälfte des 13. Jhs. besiedelten Zarz nar gilt, haben die ein halbes Jahrhundert später von dort nach Pladen ausgewanderten Siedler schon lei mitgebracht. 82 Beide Wörter kommen dann in der zwischen 1325 und 1360 aus dem osttirolisch-oberkärntnischen Grenzbereich besiedelten Gottschee vor, wo es ζ. B. [gfe la[\ ,Geh nur!', aber als erwidernde Frage \buhtn när\ ,Wohin nur?' heißt. 83 Diese Gegebenheiten erlauben die Entstehung von lei etwa in die Zeit von der Mitte des 13. bis in die Mitte des 14. Jhs. zu datieren. Eine weitere südbairische Erscheinung, die sich auf Südtirol mit dem obersten Nordtiroler Ötztal, doch ohne das Passeier- und das oberste Ahrntal, und auf Ober- und Mittelkärnten beschränkt, ist die Erweiterung der mittelund sonstigen südbairischen Bezeichnung des ,Maulwurfes' als Scher (mhd. scher) zum Kompositum Wühlscher mit oder Wühlscher ohne Umlaut. 84 Es tritt in verschiedenen Laut- und Spielformen auf, während im oberen Eisacktal und im Eggental nur Wühler/Wähler begegnet. Jenes scheint ursprünglich auch in Nordtirol gegolten zu haben, da die von dort besiedelten Zimbrischen Sprachinseln ebenfalls, gebietsweise wechselnd, beide Formen aufweisen. Das Kompositum muß schon zu Beginn des 13. Jhs. bestanden haben, da es mit oder ohne Umlaut in sämtliche von Osttirol und Oberkärnten aus angelegte Sprachinseln mitgenommen wurde. 5.4. Zusammenfassung Faßt man die wortgeographischen südmittel- und südbairischen Eigenheiten zusammen, so zeigt sich, daß die größere Zahl Rückzugserscheinungen einst gesamt- oder zumindest auch mittelbairisch gültiger Bezeichnungen verkörpert. Ihre Zurückdrängung muß dem Verkehr zugeschrieben werden, der die mittelbairischen Neuerungen unterschiedlich weit in den Süden hineingetragen hat. Dies ist vom österreichischen und bayerischen Flach- und Alpenvor81

82 83 84

Vgl. die Angaben von Ziller 1979, 111 einerseits und die Belege in Pongauer Texten bei Reiffenstein 1950, 292 ff. andererseits. Kranzmayer 1981, 142; Kranzmayer/Lessiak 1983, 117; Hornung 1972, 298. Tschinkel 2, 13 und 91. DWA 3; Schatz 2, 713; Kranzmayer/Lessiak 1983, 180; Hornung 1972, 480; Tschinkel 2, 478.

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land aus entlang der in die Gebirgsgegenden durch Täler und über Pässe führenden Hauptstraßen erfolgt. 85 Dabei spielt der Verkehrsgrad des jeweiligen Wortes zweifellos eine entscheidende Rolle, so daß sich ζ. B. ein verkehrsfernes Wort wie gaimet^en wesentlich besser behaupten konnte als Leiläch oder Roggen. Einbruchsgebiete sind die Steiermark und das Burgenland, in die von Wien und Wiener Neustadt aus einerseits am Ostrand der Steiermark über das Pittental und den Wechsel die ältere und heute durch die Südautobahn wieder aktualisierte Südverbindung und andererseits die lange Zeit wesentlichere, jüngere Hauptstraße über den Semmering und das Mürztal nach Bruck an der Mur und von dort flußabwärts nach Graz und flußaufwärts über den Neumarktersattel nach Kärnten führt. 86 In Salzburg werden die Neuerungen entlang der Salzach nach Süden vorgetragen. 87 Von dort aus kann dann das bis Gröbming ohnehin bis weit ins Spätmittelalter salzburgisch dominierte westliche steirische Ennstal beeinflußt werden, während das östliche mit Oberösterreich und dem westlichen Niederösterreich in Verbindung steht.88 Von Oberbayern aus stoßen Neuerungen einerseits die Saalach aufwärts über Zell am See in den Salzburger Pinzgau und andererseits den Inn entlang nach Nordtirol und teilweise über Innsbruck und den Brenner bis Bozen und Meran nach Südtirol vor. Ist die Neuerungskraft in Bayern gering, dann bewahrt nicht nur das westliche Südbairische, sondern auch das westliche oberbayerische Mittelbaierische ab etwa Rosenheim — München — Ingolstadt ältere Erscheinungen, wie dies Karte 12 zeigt. Rückzugserscheinungen weisen daher einerseits eine Ost—West- und andererseits eine Südwestlagerung auf. Beide haben in der Lautgeographie ihre Entsprechung, wobei sowohl in der Laut- als auch in der Wortgeographie die Ost-Westlagerung gegenüber der Südwestverbreitung hervortritt. Bei den Verdrängungen erweist sich im Mittelbairischen vor allem das westliche Oberösterreich mit dem Inn-, Hausruck- und oberen Mühlviertel und das anschließende Südböhmen im Bereich der Moldau als eine zwischen den westlichen bayerischen und östlichen niederösterreichischen Neuerungsbereichen gelegene beharrsame, konservative Landschaft. Gegenüber dem zweifachen Verbreitungsbild der zahlreichen Rückzugserscheinungen zeigen südbairisch-südmittelbairische Eigenentwicklungen nur eine west-östliche Verbreitung, wobei die schwankende Verteilung im südmittelbairischen Raum des Tiroler Unterinngebietes, von Salzburg, des oberösterreichischen südlichen Salzkammergutes, des steirischen Ennstales, des südöstlichen Niederösterreichs und des Burgen-

85

Wie die gegenwärtigen folgten schon die mittelalterlichen Straßenzüge den naturräumlich vorgegebenen Einschnitten und Ubergängen.

86

Vgl. Wiesinger 1967, 157 ff.

87

Vgl. Reiffenstein 1955, 7 0 f f . , 90 ff.

88

Vgl. Reiffenstein 1955, 107 ff.; Wiesinger 1967, 131 ff. und 1 6 6 ff.

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landes von den beschriebenen Verkehrsverhältnissen beeinflußt ist. Ob freilich alle Beispiele jeweils den Gesamtbereich erfaßt haben, muß fraglich bleiben. Ihre Entstehungszeit läßt sich mit Hilfe der südbairischen Sprachinseln annähernd ermitteln und liegt, von Beispiel zu Beispiel unterschiedlich, vor dem Beginn des 12. und der Mitte des 14. Jhs. 6. Wortgeographische West —Ost-Unterschiede (Karten

13, 14, 15)

Beruht der Großteil der südbairischen und zum Teil auch schon der südmittelbairischen lexikalischen Eigenheiten auf Zurückdrängung einst gesamt- oder zumindest einst auch mittelbairisch gültiger Erscheinungen, indem das Mittelbairische ganz oder zum größten Teil geneuert hat, so gehen West —Ost gelagerte Wortschatzverschiedenheiten letztlich auf die Wirksamkeit derselben verkehrsabhängigen Kräfte zurück. Der Unterschied besteht dabei nur im Ausgangszentrum, der Richtung, dem Alter und der Intensität. Im einzelnen ergeben sich hier drei Verbreitungstypen. 6.1. Auf Bayern übergreifende West—Ost-Unterschiede (Karte

13)

Karte 13 zeigt vier Beispiele, die in Österreich südlich des Alpenhauptkammes im Grenzbereich von Kärnten und Osttirol enden, nördlich davon sich zwischen dem Salzburger Pongau und dem Nordtiroler Wipptal erstrecken und Bayern in unterschiedlicher Weise in eine westliche und eine östliche Hälfte scheiden. Geschichtlich betrachtet, gehört Fasching zur Bezeichnung der ausgelassenen Tage vor dem Aschermittwoch zu den bairischen Kennwörtern. 89 Es ist kein gotisches Lehnwort, sondern eine bairische Neuerung, gleichgültig, ob man es mit Kranzmayer auf ein erschlossenes ahd. *fastgang ,(Masken)umzug vor Fasten' oder mit Friedrich Wilhelm auf ein erstmals 1283 bezeugtes mhd. vastschanc ,Ausschank des Fastentrunkes' zurückführt, die beide zum spätmhd. überlieferten vaschanc führen. Es steht westlichem Fäs(e)nächt gegenüber, das in Süd- und Osttirol, im Oberkärntner Lesachtal, in Nordtirol ohne das Unterinntal und die Kitzbühler Gegend sowie in Ober- und Niederbayern ab etwa westlich Rosenheim, östlich München, Moosburg, östlich Regensburg, Taus gilt. Fäs(e)nächt hat das einst wesentlich weiter westlich geltende Fasching ab dem 13./14. Jh. nach Osten zurückgedrängt. Das läßt sich nicht nur an der Urkundenüberlieferung verfolgen, sondern wird auch von den 89

ADV, Kt. 12; TSA 3, Kt. 3; Kranzmayer 1963, Kt. V/5 b (in Tirol weichen die Grenzverläufe Kranzmayers von jenen des TSA ab); Schmeller 1, 763ff., 770f.; Kranzmayer 1981, 115; Kranzmayer/Lessiak 1983, 60; Tschinkel 1, 153f.; Katalog des WBÖ; Kranzmayer I960, 12; Kluge/Mitzka 1967, 185; Kretschmer 1969, 1 9 2 f ; Wiesinger 1985, 160f.

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südbairischen Sprachinseln bestätigt, die mit Ausnahme von Pladen alle Fasching aufweisen. Da aber Fasching nicht nur das Wort der österreichischen, sondern auch, von München ausgehend, der bayerischen Umgangssprache ist, verdrängt es in unserem Jahrhundert gebietsweise allmählich wieder das westliche Wort, so in Osttirol und in Oberbayern und bereits ab der Jahrhundertwende im damals ja österreichischen Egerland. Dort war Fäsnächt bereits um den Ersten Weltkrieg die veraltete Bezeichnung, bewirkte aber, daß dessen feminines Genus auf das neue, sonst maskuline Fasching übertragen wurde. Als österreichisch-umgangssprachlicher Ausdruck hatte sich Fasching um 1935 nicht nur im Egerland bereits gänzlich durchgesetzt, sondern galt damals auch in ganz Nordböhmen und Nordmähren und noch im südlichen Schlesien. Die weiteste westliche Verbreitung hat die von den Habsburgern am Ende des 13. Jhs. nach Wien mitgebrachte alemannische Bezeichnung des ,Paten' (und entsprechend der ,Patin') als Göt (mhd. göte) gegenüber dem altheimischen Töt(e) (mhd. tote, Gen. töten) erlangt. 90 Von Wien ausgehend, ist es nach Westen bis ins östliche Osttirol, bis westlich Innsbruck nach Nordtirol, in Ober- und Niederbayern bis westlich der Isar und in den unteren Bayerischen Wald und Böhmerwald bis Winterberg vorgedrungen. Ein in Wien im 13. Jh. als Folge einer technischen Neuerung aufgekommenes Wort ist Rauchfäng für den Rauchabzug über dem Herdfeuer, 91 der, wie vor allem noch alte Bauernhäuser in der niederösterreichischen Wachau zeigen, sich pyramidenförmig über dem Herd erhob, den aufsteigenden Rauch sammelte und durch einen Aufsatz nach außen ableitete. Gegenüber westlichem, in verschiedenen Lautungen und Formen auftretendem Kamin und Osttiroler Rauchgäng erstreckt sich Rauchfäng nur bis Oberkärnten, den Salzburger Pongau und in Ober- und Niederbayern bis Reichenhall, Traunstein, Wasserburg/Inn, Landshut, östlich Regensburg, Cham, Taus. Einen west-östlich gelagerten Bildungsunterschied weist die Bezeichnung des ,Topfes' westlich ohne Umlaut als Häfen und östlich mit Primärumlaut als Hefen auf, 92 wobei letzteres wohl als rückgebildeter Singular auf einen Pluraltantum mhd. hevene zum i-Stamm mhd. haven zurückgeht. Wieder beginnt die Grenze an der kärntnisch-osttirolischen Landesgrenze, teilt den Salzburger Pongau und das Berchtesgadener Land dem Osten zu und verläuft in Bayern

90

D W A 4; Schmeller 1, 962; Kranzmayer I960, 15; Kluge/Mitzka 1967, 265.

»> D W A 18; Schmeller 2, 14; Kranzmayer I960, 42; Kretschmer 1969, 4 3 6 f f . ; Schilling 1963, 40 ff. 92

D W A 8; Hildebrandt 1963, 309 ff. (dessen Annahme einer ursprünglichen Ableitung mit -inä mangels Belegen und angesichts der östlichen Herkunft der Form wenig wahrscheinlich ist); Schmeller 1, 1055 und 1057; Kretschmer 1969, 531 ff.; Kranzmayer/Lessiak 1983, 78; Hornung 1972, 232; Tschinkel 1, 273.

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über Wasserburg/Inn und Moosburg bis Ingolstadt/Donau, von wo ab sie dann über Riedenburg/Altmühl, Amberg, Pressat, Weiden, Vohenstrauß und Taus noch die Oberpfalz durchquert und damit auch das Nordbairische in eine westliche und eine südöstliche Hälfte teilt. Man wird hier Ausbreitung von Hefen aus dem Osten vermuten dürfen, wobei es in Niederbayern historische Belege ab dem 14. Jh. gibt und im Süden die umgelautete Form der Sprachinsel Gottschee gegen die umlautlose in Zarz und Pladen den Grenzverlauf im Bereich der kärntnisch-osttirolischen Landesgrenze ebenfalls für das 14. Jh. wahrscheinlich macht. 6.2. Auf Österreich beschränkte West—Ost-Unterschiede (Karte 14) Einen zweiten Verbreitungstypus west—östlicher Verteilungen zeigt Karte 14. Es handelt sich um Beispiele, die im alpinen Süden wie jene des auf Karte 13 dargestellten Verbreitungstypus wieder im Bereich der osttirolisch-kärntnischen Landesgrenze enden und Salzburg häufiger dem Westen als dem Osten zuweisen. Im Donauraum von Oberösterreich wird das Innviertel noch ganz oder teilweise beim Westen belassen oder stellt sich schon völlig auf die östliche Seite, so daß die bayerisch-österreichische Staatsgrenze am Inn zur Wortgrenze geworden ist. Ähnliches gilt dann für die Fortsetzung nördlich der Donau, wo ein Teil der Beispiele der Staatsgrenze folgt und dann im Bereich der Moldau der Sprachgrenze bei Krumau zustrebt, der bayerischböhmischen Grenze nach Westen bis Taus folgt oder noch Teile des Bayerischen Waldes zum Osten stellt. Unter den sechs Beispielen des zweiten Verbreitungstypus ist die Bezeichnung der Johannisbeere' als Ribisel am weitesten nach Westen vorgedrungen, wobei im östlichen Ober- und Niederbayern neben Johännesbeer(e) auch noch Weinbeer(e) gilt. 93 Letzteres nimmt auf den sauren Geschmack Bezug, den auch die im 15. Jh. aufgekommene, aus dem Persischen stammende und über das Arabische vermittelte lateinische Gelehrtenbezeichnung ribis oder ribes ausdrückt. Ursprünglich auf eine Rhabarberart bezogen, diente nämlich damals Johannisbeermarmelade statt Rhabarber als Magenmittel. Da Ribisel in Österreich als Umgangs- und schriftsprachlich gilt, hat es bereits Osttirol (mit Ausnahme des westlichen Pustertales) und Salzburg mit dem anschließenden oberbayerischen Gebiet um Reichenhall eingenommen und endet in Oberösterreich an der Staatsgrenze. So überrascht auch nicht, daß es sich im einst österreichischen Südböhmen bis Taus völlig eingebürgert hat. Als Bezeichnung für ,mit nackten Füßen' ist, gefördert durch die österreichische Umgangs- und Schriftsprache, noch nicht nach Osttirol, wohl aber

93

Sablatnig 1968, 97 ff. und Kt.8; Kretschmer 1969, 243 ff.

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bereits bis in den Salzburger Mitterpinzgau um Zell am See und in das an Salzburg anschließende oberbayerische Gebiet um Reichenhall sowie ins südliche, aber noch nicht ins nördliche oberösterreichische Inn viertel bloß füßig oder umlautloses bloß füßecht statt barfüß, bärfüßecht oder bleckfüßecbt (zu mhd. blecken ,sich entblößen') vorgedrungen. 94 Im Grenzbereich zwischen westlichem barfuß und östlichem bloßfüßig, - f ü ß i g hat sich im nördlichen oberösterreichischen Hausruckviertel die Kontamination barfüßig gebildet. Daß bloßfüßig vom Osten ausgegangen ist, läßt sich noch an erhaltenem barfüß einerseits in der östlichen Mittelsteiermark und andererseits in Südböhmen um Neuhaus jeweils an der Sprachgrenze ablesen. Bei der Bezeichnung des ,Flaschenverschlusses' wird nicht nur Osttirol, sondern auch ganz Salzburg dem Westen zugewiesen, während es in Oberösterreich nur mehr das südlichste Innviertel ist und sonst bereits die Staatsgrenze die Wortgrenze bildet. Bei den beiden Bezeichnungen westlich Stöpsel (in Salzburg Stopstel) und östlich Stoppel95 handelt es sich um verschiedene Ableitungen von dem aus lat. stuppa ,Werg' und stuppare ,mit Werg verschließen' entlehnten Verbum spätahd. stoppon mit Hilfe der nomina instrumenti bildenden Suffixe -sei (aus ahd. -isal) und -el (aus ahd. -it), wobei der Labial den Umlaut verhindert hat. Da sich das entlehnte Verb mit ahd. stopfdn .hineinstoßen' lautlich und semantisch berührt, tritt im niederösterreichischen westlichen Wein- und östlichen Waldviertel mit dem anschließenden Südmähren und Südböhmen auch Stopfel auf. Es hat den Anschein, daß zumindest in Tirol Stöpsel ein jüngeres Wort ist, denn nicht nur im Südtiroler Etschunterland um Kaltem, sondern auch im westlichen Pustertal um Bruneck tritt das Wort Schoppa zum Verbum schoppen ,stopfen' (ahd. skoppon) auf, das als Schopp auch in den Zimbrischen Sprachinseln und im Fersental gilt. Während auffalligerweise auch Zarz und Pladen mit Schüppel und Zapfen über eigene Bezeichnungen verfügen, kennt nur die Gottschee als die jüngste der Sprachinseln mit Kärnten übereinstimmendes Stoppel. Dies wirft die Frage auf, ob die beiden heutigen bairischen Bezeichnungen zumindest im Südbairischen nicht erst im 13./14. Jh. aufgekommen sein sollten. Die west —östliche Begegnung eines romanischen und eines slawischen Lehnwortes ergibt sich bei den Bezeichnungen der ,Gurke', wobei gleich eingeräumt werden muß, daß dieses wärmeliebende Gewächs im rauhen Gebirgsklima nicht gedeiht, was im alpinen Süden vielfach die schrift- und umgangssprachliche Bezeichnung Gurke zur Folge hat, die übrigens als Han-

94 95

DWA 20. DWA 18; Ponten 1969, 125 ff.; Kretschmer 1969, 368 ff.; Schatz 2, 549; Martello Martalar 223; Rowley 1982, 263; Kranzmayer/Lessiak 1983, 141; Hornung 1972, 484; Tschinkel 2, 341.

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delswort seit dem Zweiten Weltkrieg auch alle dialektalen Bezeichnungen rasch in Vergessenheit geraten läßt. Das östliche Wort lautet Murke in Kärnten und der Steiermark und Umurke ['ümuekij] in Nieder- und Oberösterreich. 96 Das oberösterreichische Salzkammergut mit dem südlichen Hausruckviertel hat aus teilweise in Oberösterreich vorkommendem Ungurke ['uijuekrj] die volksetymologische Umdeutung zu Ungerte ['uljaxtn] (mhd. gärte) vollzogen. Im oberen Mühlviertel gilt Umurte ['ümuetn], im anschließenden Bayerischen Wald wieder Murke. Das slawische Wort, aus dem sich auch schriftsprachliches Gurke herleitet, stammt von mittelgriechischem αγγουρα ,Gurke', das nach Walter Steinhauser auf Grund der tschechischen Dialektformen uhorka, uharka, uherka als slaw. ^qghrhka entlehnt worden sein muß. Dieses bildet dann die Grundlage von oberösterreichischem Ungurke, wobei der auch sonst beobachtbare Lautwandel von [»/;] zu [um] schließlich zu Umurke führt. Die Wiedergabe des slawischen Nasalvokals und seine Hebung zu dt. unsowie die Bewahrung von slaw, g gegenüber erst im 12./13. Jh. entstandenem tschech. h zeigen, daß die Entlehnung noch in der spätahd. Zeit, möglicherweise sogar in Oberösterreich als dem deutsch-slawischen Kontaktgebiet der ahd. Zeit, wo sich ja auch der ursprüngliche Lautstand des Wortes erhalten hat, erfolgt ist. Es ist daher wenig wahrscheinlich, daß die Gurke im Deutschen erst zur Zeit ihrer ersten sprachlichen Belegung ab der Mitte des 16. Jhs. aufgekommen sein soll. Gegenüber sonstigem Umurke scheint die kärntnisch-steirische Murke mit der gleichen, aus dem Slawischen entlehnten Bezeichnung für ,Möhre' (slaw. *mi>rky, vgl. slowen. mrkev) zusammenzuhängen. Die Grenze des östlichen Wortes beginnt im Oberkärntner Lesachtal, überquert das Drau- und Mölltal und wendet sich östlich des Salzburger Lungaues nach Norden. Über Gröbming im Ennstal, den Hallstätter- und Mondsee und westlich Ried geht es bei Obernberg dem Inn und Passau zu, wo sich dann der Bayerische Wald bis westlich Deggendorf, Viechtach und Drosau ebenfalls noch zum Osten stellt. Die westlichen, auf lateinisch cucumis zurückgehenden Wortformen sind Gugummer, Gägummer(er), Gummerer in Bayern, im nördlichen Salzburg und im südlichen oberösterreichischen Innviertel und Gümmerlein, Giimmerling in Tirol, soweit, wie gesagt, die Gurke im Gebirgsland überhaupt heimisch ist. Handelt es sich bei den bisher besprochenen vier Beispielen der Karte 14 um Wörter, die vom Osten, speziell von Wien aus nach dem Westen und Süden vorgedrungen sind, so gilt bei der Bezeichnung des Handwerkers, der Vieh schlachtet und das Fleisch verarbeitet und verkauft, als westliches 96

DWA 17; Kluge/Mitzka 1967, 277; Bellmann 1971, 97 ff.; Steinhauser 1978, 50 ff.; Schmeller 1, 887; Schatz 1, 264.

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Metzger und östliches Fleischhäcker, jünger Fleischhauer, historisch betrachtet, das Umgekehrte. 97 Metamer hat nämlich erst seit dem 15./16. Jh. vom Westen her bis dahin gesamtbairisch gültiges Fleischhäcker zurückgedrängt. Grenzlandschaften von Metzger sind Osttirol, Salzburg mit dem obersteirischen Ennstal bis Gröbming, das oberösterreichische Innviertel und Niederbayern, so daß Südböhmen und das Egerland Fleischhäcker auch als Wort der älteren österreichischen Schrift und Umgangssprache bewahren. Kaum als Verkehrswörter können die Bezeichnungen der ,Beule' gelten, so daß man hier mit wohl nur wenig verschobenen, ursprünglichen Worträumen wird rechnen dürfen. Sieht man von Beule im obersteirischen Murgebiet und in der Oststeiermark und von Bäuchlein und Knopf im Unterkärntner Lavanttal ab, dann stehen sich westliches Pünggel (vgl. schwed. bunka ,schlagen', mhd. bungen frömmeln = schlagen') und östliches TübeljTüppel (mhd. tübel .Pflock = das Eingeschlagene' aus ahd. tubili zu germ. *dub- .schlagen') gegenüber. 98 Weicht die Ostgrenze von Pünggel in Kärnten von den anderen hier behandelten Beispielen insofern ab, als sich dieser Landstrich ganz zum Westen stellt, so paßt der weitere Grenzverlauf entlang des Ostrandes von Salzburg und der oberösterreichisch/bayerischen und böhmischen Grenze bis Hohenfurt/ Moldau und Krumau durchaus zu den anderen Beispielen. Da sich im Salzburger Flachgau und südlichen oberösterreichischen Innviertel aber noch veraltendes Pünggel neben jüngerem Tübel nachweisen läßt, ist die Ostgrenze ähnlich den Bezeichnungen für den Flaschenverschluß und die Gurke früher weiter im Osten verlaufen. 6.3. West-Ost-Unterschiede als Austriazismen (Karte 15) Hat sich, wie einige Beispiele der Karte 14 zeigen, im Donauraum die bayerisch-österreichische bzw. in Fortsetzung die böhmische Grenze als west—östliche Scheide herausgebildet, so daß sich diesbezüglich Oberösterreich einschließlich des insgesamt schwankenden Innviertels sowie das anschließende Südböhmen östlich-österreichisch ausrichten, so zeigt Karte 15 nun als dritten Verbreitungstypus west — östlicher Unterschiede drei Beispiele, die den bairischen Dialektverband in einen westlichen bayerischen und einen östlichen österreichischen trennen. Dabei stellen sich ganz Böhmen und Mähren als ehemalige habsburgisch-österreichische Gebiete ebenfalls zum Osten. Da die österreichischen Ausdrücke auch Umgangs- und schriftsprachlich gelten, handelt es sich dabei um echte Austriazismen. 97

98

DWA 9; Schmeller 1, 1703; Kluge/Mitzka 1967, 204f. und 477; Kretschmer 1969, 4 1 2 f f . ; Schönfeldt 1965, 33 ff. und 44 ff.; Wiesinger 1987, 325 ff. DWA 5; Schmeller 1, 394f.; WBÖ 3, 1399f.; Kluge/Mitzka 1967, 145.

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So scheiden sich an der Staatsgrenze westliches Schreiner und östliches Tischler für den Handwerker, der Möbel und Holzeinrichtungen anfertigt." Allerdings erweist sich der Grenzverlauf in Oberösterreich als jung, denn im oberösterreichischen Innviertel kommt ebenso wie im Westtiroler Oberinngebiet noch veraltetes Schreiner vor, das sich bis vor dem Zweiten Weltkrieg bloß noch im Westtiroler Außerfern und Lechtal allgemein behauptet hat und dort erst jetzt zugunsten von Tischler aufgegeben wird. Aus der historischen Überlieferung ergibt sich, daß Schreiner (mhd. schrinäre) bis um die Mitte des 14. Jhs. die gesamtbairische Bezeichnung war, ehe es dann von Wien aus zunächst von tischer und ab der Mitte des 15. Jhs. von tischler abgelöst wurde. Da seit den Gewerbereformen der Kaiserin Maria Theresia in der Mitte des 18. Jhs. Tischler die amtliche Gewerbezeichnung ist, hat sich das Wort über die Umgangssprache in ganz Österreich einschließlich der böhmischen und mährischen Gebiete durchgesetzt. Ein typisch österreichisches Wort ist Ρaradeis(er) für ,Tomate'.100 Heute wird der Austriazismus überall und besonders im alpinen Westen, wo dieses wärmeliebende Nachtschattengewächs nicht gedeiht, vom internationalen Handelswort Tomate umgangssprachlich abgelöst, weil die Früchte nicht nur saisonbegrenzt aus der heimischen Erzeugung, sondern durch ausländischen Import während des ganzen Jahres zum Verkauf angeboten werden. Die Pflanze verdankt ihren, von Paradeis, der mundartlichen Form von ,Paradies', abgeleiteten Namen der spätmittelalterlichen Bezeichnung einer kleinen, rotbackigen Apfelsorte. Diese wurde dann in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. auf das aus Italien zunächst als Zierpflanze eingeführte Nachtschattengewächs übertragen, ehe die Früchte erst um die Wende vom 19. zum 20. Jh. allmählich in die Küche Eingang fanden. Ein junger weiterer Austriazismus in ganz Österreich, Böhmen und Mähren ist sich verkühlen für ,sich erkälten', während man in Bayern sich verkälten sagt. 101 Daß Bayern wieder die ältere Bezeichnung bewahrt, bestätigen nicht nur die südbairischen Sprachinseln Pladen und Gottschee, wo es noch sich derkälten heißt, sondern auch veraltetes sich derkälti(n)gen im östlichen und nördlichen Niederösterreich mit Südmähren und im oberösterreichischen Hausruck- und Traunviertel. 6.4. Zusammenfassung Versucht man die drei Verbreitungstypen west-östlicher bairischer Bezeichnungsunterschiede der Karten 13, 14 und 15 zu erklären, dann muß man in 95

100

101

DWA 9; Schmeller 2, 607; Kluge/Mitzka 1967, 679 f. und 779; Ricker 1917, 102ff.; Kretschmer 1969, 526 ff., Wiesinger 1987, 322 f. DWA 11; Kluge/Mitzka 1967, 781; Kretschmer 1969, 531; Martin 1963, 139 ff.; W B Ö 2, 311 f. DWA 20; Hornung 1972, 136; Tschinkel 1, 339.

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erster Linie den Entstehungsort, die Ausbreitungsrichtung, das Alter und den Verkehrswert und damit den Intensitätsgrad einer Neuerung besonders berücksichtigen. Von den insgesamt behandelten zwölf Beispielen verfügen nur die Bezeichnungen des .Faschings', der ,Beule' und der ,Gurke' über ein höheres Alter. Alle weiteren sich ausbreitenden Bezeichnungen sind jüngeren Datums und erst seit der spätmhd. Zeit des ausgehenden 13. Jhs. oder noch später aufgekommen. Während die Verbreitungsrichtung der Neuerungen im allgemeinen von Osten nach Westen geht und sich mehrfach als deren Entstehungsort Wien nachweisen läßt, das seit dem ausgehenden 12. Jh. zum Kulturzentrum des Donau- und Ostalpenraumes aufgestiegen ist, ist der umgekehrte Vorstoß von Westen nach Osten viel seltener wie im Falle von Metier. Im alpinen Süden zeigt ein verkehrsfernes Wort wie Pünggel für ,Beule', daß das gänzlich südbairische Kärnten sich grundlegend zum Westen stellt, wie dies bereits bei den beschränkt verbreiteten südbairischen Eigenheiten Wählscher für ,Maulwurf und let für ,nur' der Karte 12 zu beobachten war. Handelt es sich aber um verkehrsgebundene Begriffe, so gewährt ihnen Kärnten über die von Wien durch die Steiermark führende Südverbindung Eingang. Ubernahmegebiet der Wörter östlicher Herkunft ist dabei das (ehemals) deutsch-slowenisch zweisprachige Gebiet des Städtedreiecks Villach — Klagenfurt — St. Veit a. d. Glan, wo oberschichtige Sprachformen letztlich Wiener Herkunft seit dem 13. Jh. Aufnahme finden 102 und von wo aus sie sich dann in die Gebirgstäler ausbreiten. So wird die Landesgrenze gegen Osttirol und damit der Tiroler Kulturraum, zu dem sich auch auf Grund der Verkehrsgeographie das dem Osttiroler Pustertal zugeordnete Oberkärnter Lesachtal stellt, zur Wortgrenze. Einige Beispiele konnten allerdings die Landesgrenze überschreiten und sich in der Umgebung von Lienz, der grenznahen einzigen Stadt Osttirols, durchsetzen. Umgekehrt enden hier auch vom Westen vorgedrungene Wörter wie das ältere Fäsnächt und das jüngere Metier. Im Alpenvorland nördlich des Alpenhauptkammes, einer natürlichen Verkehrsscheide, sind nur jene Beispiele nach Bayern und vereinzelt auch nach Nordtirol gelangt, die noch aus der spätmhd. Zeit des ausgehenden 13. Jhs. stammen, als sich ein westlicher bayerisch-wittelsbachischer und ein östlicher österreichisch-habsburgischer Kulturkreis in Verbindung mit der Territorialentwicklung erst zu etablieren begannen. So konnte von den Habsburgern mitgebrachtes Göt für ,Pate' das bairische Töt in Nieder- und Oberbayern nach Westen abdrängen und sich auch im östlichen Nordtirol durchsetzen, während nur wenig älteres Rauchfäng bloß in Niederbayern und wohl dersel-

102

Vgl. Wiesinger 1980.

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ben Zeit angehörendes Hefen auch noch in die südöstliche Oberpfalz Eingang fanden. Das Verbreitungsbild dieser Beispiele zeigt deutlich den Ausbreitungsweg donauaufwärts von Wien und Niederösterreich über Oberösterreich nach Niederbayern und dann teilweise noch südwärts nach Oberbayern und nordwärts in die Oberpfalz. Umgekehrt läßt sich zumindest in Tirol feststellen, daß sich westliches Fäsnächt gegen ursprüngliches Fasching im gesamten spätmittelalterlichen Tiroler Kulturraum durchzusetzen vermochte und an der Grenze des bis in den Beginn des 16. Jhs. zu Bayern gehörenden und kirchlich dem Erzbistum Salzburg unterstehenden Unterinngebietes mit der Kitzbühler Gegend halt machte.103 Salzburg, das bis ins frühe 19. Jh. als Fürsterzbistum ein selbständiges Territorium war, stellt sich zwar grundsätzlich zum Westen, wie der im 16. Jh. aus dem Westen kommende Metier und weitere Beispiele der Karte 14 zeigen, öffnet sich aber trotzdem in unterschiedlicher Weise östlichen Neuerungen. Einfallstore nach Süden sind das Salzachtal von der Stadt flußaufwärts in den Pongau, wie Hefen und Rauchfäng auf Karte 13 ausweisen, und über das ebenfalls einst salzburgische Gebiet von Reichenhall entlang der Saalach nach Zell am See in den Pinzgau, das obere Salzachtal, wie sich an Ribisel und bloßfüßecht der Karte 14 ablesen läßt. Zu Salzburg stellt sich auch das verkehrsmäßig nach Westen orientierte obere steirische Ennstal, das kirchlich dem Salzburger Domstift unterstand und wo das Erzstift der größte Grundbesitzer war.104 Schließlich enden nach Karte 14 in Oberösterreich die einzelnen Beispiele entweder an der Grenze gegen Bayern oder sie belassen das Innviertel ganz oder teilweise beim Westen. Die Ursache für dieses wechselhafte Verhalten liegt in der Territorialgeschichte begründet, denn das Innviertel gehörte bis 1779 zu Bayern und ist erst seit 200 Jahren bei Österreich. Daher konnten ältere Beispiele wie der seit dem 16. Jh. aus dem Westen vordringende M e t i e r noch im Innviertel Fuß fassen und bildete die bis dahin am Westrand des Hausruckviertels verlaufende alte österreichische bzw. oberösterreichische Grenze auch eine Hemmstelle für die aus dem Osten kommenden Neuerungen. Die oberösterreichische Integrierung des Innviertels und damit seine allmähliche kulturelle Umorientierung vom Westen nach dem Osten hat dort im Laufe des 19. Jhs. die Aufnahme östlicher Wörter ermöglicht, so daß die neue Staats- und Landesgrenze an Salzach und Inn auch zur neuen Wortgrenze wurde und in vielen Fällen die ehemalige, östlicher verlaufende Grenze ablöste.105 Neuzeitliche, seit dem 16. Jh. entstandene österreichische Neuerungen konnten sichtlich nicht mehr in den bayerisch-wittelsbachischen Kultur103 104 105

Vgl. TS A 2, Ktn. I und IV. Vgl. Anm. 87 und 88. Vgl. Wiesinger 1980a.

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kreis eindringen, wie Ribisel zeigt. Besitzen solche österreichische Neuerungen vor allem des 18. und 19. Jhs. hohen Verkehrswert, wie etwa der Handwerkername Tischler, das Handelswort Paradeis(er) oder sich verkühlen, dann können sie, gefördert durch die Umgangs- und Schriftsprache, zu echten Austriazismen werden, die nach Karte 15 an der Staatsgrenze enden und die auch in den bis 1918 zur österreichischen Habsburgermonarchie gehörenden deutschen Gebieten von Böhmen und Mähren gelten. 7. Wiener Neuerungen unterschiedlicher Verbreitung in Ostösterreich (.Karten 16, 17, 18) Wie sich solche von Wien ausgehende, allmähliche Vorstöße in den Westen und Süden vollziehen, läßt sich an den drei folgenden Karten ablesen, wobei die einzelnen Beispiele recht unterschiedlichen Alters sind. Obwohl damit, vom Osten aus betrachtet, drei weitere Ost —West gelagerte wortgeographische Verbreitungstypen entstehen, liegt hier teilweise nur eine östliche Bezeichnungseinheit vor, während der Westen mehrere Bezeichnungen aufweisen kann. 7.1. Wiener Neuerungen im Großteil von Ostösterreich (Karte

16)

Karte 16 zeigt vier Beispiele, die meist den von Wien beeinflußten Raum eingenommen haben und darüber hinaus einerseits ins östliche Oberösterreich und zum Teil auch noch bis Südböhmen nach Westen und andererseits bis in das nördliche Burgenland, die Steiermark oder sogar bis ins östliche Kärnten nach Süden reichen, wobei sich in den nördlichen und südöstlichen Randgebieten die ursprünglichen Bezeichnungen erhalten haben. Von den hier vereinigten Beispielen erreicht die Umformung und Neumotivierung des bairischen Kennwortes Pfin^täg für .Donnerstag' (vgl. Kap. 2) zu P f i n g s t t a g , die auf Grund der spärlichen urkundlichen Belege ins zweite Viertel des 14. Jhs zurückreicht, die weiteste Ausdehnung. 106 Sie gilt in Oberösterreich im Traun-, Hausruck- und Mühlviertel, in der ganzen Steiermark mit Ausnahme des westlichen Ennstales ab Stainach-Irding und im östlichen Kärnten bis Villach, wurde allerdings im Städtedreieck durch junges Donnerstag ersetzt. Die Grundform Pfin^tag ist, soweit sie nicht das von Wien ausgehende Donnerstag verdrängt hat (vgl. unten und Kt. 18) und sich noch ungefähre Grenzen anhand von Restformen erkennen lassen, im Burgenland im Südosten und nördlich der Donau schon im nördlichen niederösterreichischen Wein- und Waldviertel mit Südmähren und Südböhmen erhalten. Damit hat sich die Ausbreitung bloß entlang der Hauptverkehrsstraßen nach Westen 106

DSA E/5; Kranzmayer 1929, 50ff. und 80ff.; WBÖ 4, 155ff.

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und Süden, aber nur im niederösterreichischen Wald- und oberösterreichischen Mühlviertel auch nach Norden vollzogen. So gleicht das etwas ungewohnte wortgeographische Bild mit der Bewahrung der älteren Form zu beiden Seiten der Donau im Burgenland und im nördlichen Niederösterreich den ähnlich gelagerten lautgeographischen Verhältnissen von [ui] für mhd. uo und der Erhaltung der Sproßvokale.107 Eine geringere Ausdehnung zeigt die Bezeichnung der ,Deichsel des Zweispännerwagens' als Stange oder zur genaueren Unterscheidung von anderen Stangen als Wagenstänge.m Sie hat sich nördlich der Donau nicht nur in ganz Nieder- und Oberösterreich, sondern auch noch, von den äußersten Randgebieten abgesehen, auch in Südmähren und Südböhmen durchgesetzt. Die südliche Ausbreitung folgt hier, deutlich erkennbar, entlang der Hauptverkehrsstraßen von Wien über den Semmering und durch das Mürztal bis Bruck an der Mur und von dort flußabwärts in die Mittelsteiermark und die Mur aufwärts in die Obersteiermark und über den Obdacher und Neumarkter Sattel ins östliche Kärnten bis zum Wörthersee. In den nördlichen und östlichen Randgebieten hat sich dagegen noch die ursprüngliche Bezeichnung Deichsel erhalten: als Eichsei mit falscher Abtrennung des D- als vermeintlichem Artikel um Neuhaus in Südböhmen und als Deichsel im nördlichen und mittleren Burgenland mit der östlichen Buckligen Welt im südöstlichen Niederösterreich und in der Oststeiermark. Die Auseinandersetzung der beiden Bezeichnungen spiegelt sich in der Additionsform Deichselstange nicht nur am Nordostrand um Pohrlitz — Auspitz in Südmähren, sondern auch im westlichen Anschlußbereich im oberösterreichischen Traunviertel und im obersteirischen Ennstal bis Stainach-Irding. Auch im nördlichen Burgenland begegnet vereinzelt die Additionsform. Als Bezeichnung des ,Klempners' gilt im bairischen Osten Spengler und im Westen Spangler mit Sekundärumlaut (mhd. spängeläre), während der Süden mit der westlichen Ober- und Mittelsteiermark, Salzburg, Kärnten, Osttirol und dem östlichen Südtirol Klämpferer oder Klämperer aufweist. 109 Spangler war, wie schon in Kapitel 4 angedeutet, ursprünglich bloß die Bezeichnung des Erzeugers der kleinen Metallspangen, während die als Klämp(f)en bezeichneten großen Metallklammern vom Klämp(f)erer hergestellt wurden. Nachdem Maria Theresia 1771 die getrennten blechverarbeitenden Handwerke, zu denen auch noch der Flaschner gehörte, vereinigt hatte, wurde Spengler die gemeinsame amtliche Bezeichnung. Da das Wort in Wiener und niederösterreichischen Urkunden vom 14. bis 18. Jh. durchwegs mit ά, a, e als den regulären Wiedergaben des Sekundärumlautes geschrieben wird, 107 108 109

Vgl. Kranzmayer 1954. DWA 8. DWA 9; Kretschmer 1969, 282 ff.; Wiesinger 1987, 324 f.

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muß auch die ostösterreichische Aussprache bis ins 18. Jh. Spangler gelautet haben. 110 Der ί-Laut in Spengler wird daher mit der unter Maria Theresia seit 1750 vollzogenen Reform der Schriftsprache nach den von Gottsched empfohlenen Regeln zusammenhängen, 111 wobei die damals noch weiterhin gebräuchliche Schreibung Spängier nun mit [g] gesprochen und alsbald auch Spengler geschrieben wurde. Spengler setzte sich von Wien aus bis in das oberösterreichische Enns- und Steyrgebiet und das Mühlviertel mit Südböhmen nach Westen und bis in die Mittelsteiermark nach Süden durch. Gestützt durch die Umgangssprache, verdrängt es im Süden den Klämp(f)erer, so daß nun eine Ost — West-Teilung entsteht. Eine auf Niederösterreich mit Südmähren und dem östlichsten Südböhmen im Norden und mit dem nördlichen Burgenland bis um Pinkafeld im Süden beschränkte Bezeichnung ist Ägrasel für die .Stachelbeere'. 112 Es geht auf mhd. agrä% zurück, das ein höfisches romanisches Lehnwort aus altfranz. aigras, katal. agras zu lat. acer ,sauer' verkörpert und einen aus diesen Früchten bereiteten Obstsaft bezeichnet. Das östliche Oberösterreich bewahrt noch im oberen Mühlviertel und im mittleren Traunviertel um Schwanenstadt das unveränderte Agräs. Gegenüber dem von Wien aus verbreiteten Agräsel gilt im Böhmerwald zwischen Wallern und Drosau und um Auspitz in Südmähren aus dem Tschechischen entlehntes Angreschl (tschech. angrest) sowie im Südburgenland und um Preßburg mit der Großen Schütt aus dem Magyarischen übernommenes Egresch bzw. Agrisch (magy. egres), die alle an den Rändern außerhalb der auf Karte 16 gezogenen Linie liegen. Die umgebenden Bezeichnungen sind kleinräumig und vielfältig, was die von Wien ausgegangene Ausbreitung zusätzlich verdeutlicht: Krächerlein, Mungat^ejMuggerut^e/ Migat^e, Kuchelbeer(e), Krächerbeer(e), Aiterbat^en, Jäkelsbeer(e), Stäcbelbeer(e), Maruse, Zitier lein. 7.2. Auf Niederösterreich und anschließende Gebiete beschränkte Wiener Neuerungen (Karte 17) Wesentlich begrenzter ist die Verbreitung der drei auf Karte 17 dargestellten Neuerungen Wiener Ursprungs, die sich nur mehr bis ins westliche Niederösterreich, bis Südmähren, das nördliche Burgenland und teilweise noch bis in die Oststeiermark erstrecken. Sie prägen daher nicht mehr die großräumige

110

111 112

Die Angabe von Kluge/Mitzka 1967, 723, Spengler laute bereits im Mhd. spengeler mit Primärumlaut scheint auf Grund der mir vorliegenden Belege für das östliche Bairische zweifelhaft. Vgl. Wiesinger 1983c; Kluge/Mitzka 1967, 735. DWA 11; Schwarz 1956, Kt. 63; Kluge/Mitzka 1967, 735; Kretschmer 1969, 244; WBÖ 1, 113.

Grundzüge der großräumigen bairischen Wortgeographie

599

bairische Wortgeographie, sondern leiten über zu den hier nicht mehr behandelten regionalen Verhältnissen. Die weiteste Verbreitung unter diesen Beispielen weist (Ge)traid(e) \drqed, dräd\ für ,Roggen' auf, 113 das bis ins westliche Niederösterreich mit dem östlichen Waldviertel und dem Erlaufgebiet sowie in die Oststeiermark bis südlich der Feistritz vorgedrungen ist, im Nordwesten aber nicht mehr die Neuhauser Gegend in Südböhmen erreicht hat. Das Wort gilt allerdings auch sonst im Bairischen, doch in der Sammelbedeutung ,Getreide' für alle Sorten, wofür im Osten die Bezeichnung Frucht üblich ist. Die Bedeutungsverschiebung stellte sich erst in der Neuzeit ab dem 15./16. Jh. ein, da der Roggen als Brotfrucht die wichtigste und hier am stärksten gebaute Getreideart war. Ähnliche, doch weniger weit in den Westen und Süden vorgedrungene Verbreitungsbilder mit einer Nord — Süd verlaufenden Westgrenze zeigen die zwei, recht verschiedenen Sachbereichen angehörenden Bezeichnungen für ,Schnittlauch' und die Verschnürung des Schuhes. Sie reichen nördlich der Donau bis um Krems und ins obere Waldviertel und südlich bis ins untere Traisengebiet um St. Pölten und entlang der Hauptstraßen von Wien in den Süden bis um Wiener Neustadt und ins nördliche Burgenland. Bei ,Schnittlauch' wurde das sonst im Zweitglied zu Schnittla abgeschwächte Kompositum zu Schnittling \smdlirj\ umgeformt. 114 Im Burgenland und in der Oststeiermark schließen Schnitzel, Schnittla und Schnittling an. Schwieriger zu beurteilen ist die Bezeichnung der Schuhverschnürung, da sie in der vorindustriellen Zeit der Schuherzeugung von der Art und Zweckbestimmung des Schuhwerkes abhing, wobei für feste Schuhe strapazierfähigere Lederriemen und für leichtere Schuhe Stoffschnüre oder -bänder verwendet wurden. Als dann im 19. Jh. sowohl die Schuhe als auch die Verschnürung in Fabriken maschinell hergestellt wurden, begann sich landschaftlich, unabhängig vom Material, die Bezeichnung der bis dahin häufigsten Art als einheitliche Bezeichnung durchzusetzen. Es war in Wien Schnürriemen, das schon 1873 Franz Seraph Hügel als die übliche Benennung verzeichnet. 115 Es hat sich in Niederösterreich und dem Nordburgenland gegenüber Schühbandel und gegenüber Schühbörtel im Erlauf- und Pielachgebiet durchgesetzt, doch bleibt Schühbandel nicht nur an den Rändern in Südböhmen um Neuhaus, im östlichen Südmähren zwischen Znaim und Lundenburg sowie auf der Großen Schütt, sondern veraltend auch noch sonst vereinzelt erhalten. Die sprachliche Auseinandersetzung zwischen altem Schühbandel und neuem Schnürriemen spie-

113 114 115

DWA 4; Höing 1958, 133 ff. DWA 17. DWA 18; Hügel 1873, 143; Kretschmer 1969, 434 ff.

600

Peter Wiesinger

gelt sich in den an das neue Verbreitungsgebiet anschließenden Randzonen mit der Kontaminationsform Schühriemen. 7.3. Auf den Umkreis von Wien beschränkte Neuerungen (Karte

18)

Der jüngste Verbreitungstypus von Wiener Neuerungen geht aus Karte 18 hervor. Es sind umgangssprachliche Bezeichnungen, die sich im Einzugsbereich der Großstadt durchsetzen und daher ringförmig um die Stadt legen. Die beiden Beispiele sind Donnerstag an Stelle des bairischen Kennwortes Pfinytäg bzw. seiner Umformung Pfingsttäg (vgl. oben und Kt. 16) und kummen statt der Kennlautung kernen. Donnerstag \dmesdQx]n gilt im Marchfeld, im Tullnerfeld und bis gegen Krems und Melk im Norden und Westen und bis südlich von Wiener Neustadt und im nördlichen Burgenland, doch ohne den Seewinkel im Süden. Enger ist die Verbreitung von kummen,117 das sich nördlich der Donau auf das Tullnerfeld um Stockerau und das Marchfeld um Gänserndorf beschränkt, südlich bis Hainburg, über Bruck a. d. Leitha bis Neusiedl am See, bis Eisenstadt und Wiener Neustadt und bis Hainfeld ins Triestingtal sowie westlich bis Neulengbach reicht. Es ist dies insgesamt der Wiener Einzugsbereich entlang der Straßenzüge über Stockerau nach Krems, über Mistelbach nach Drasenhofen, über Gänserndorf nach Hohenau a. d. March, nach Hainburg, über Bruck a. d. Leitha nach Neusiedl am See, über Eisenstadt und Mattersburg nach Oberpullendorf, über Baden nach Wiener Neustadt sowie über Neulengbach nach St. Pölten. 7.4. Zusammenfassung So zeichnet sich also bei den drei Verbreitungstypen mit der geringsten west — östlichen Ausdehnung deutlich das Fortschreiten entlang der von Wien ausgehenden Hauptverkehrsstraßen ab. Dabei erreichen die Beispiele der Karte 16 im Westen alle das östliche Oberösterreich und zum Teil auch das anschließende Südböhmen und erkennt man im Süden in der Steiermark die vor allem aus der Lautgeographie bekannte Stufenlandschaft, 118 wobei ein Teil der wortgeographischen Beispiele darüber hinaus auch noch das östliche Kärnten eingenommen hat. Dagegen ordnen sich die Beispiele der Karte 17 bereits in die regionale, von Wien bestimmte dialektgeographische Struktur Niederösterreichs und des Nordburgenlandes ein. 119 Hier entstehen schließlich Nord —Süd verlaufende Grenzen, indem sich zunächst ringförmige Ansätze, wie sie Karte 18 ausweist, entlang der Hauptverkehrsstraßen über den 116 117 118 119

DSA, E/5; Kranzmayer 1929, 54. DSA, E/5. Vgl. Wiesinger 1967, 1 1 8 f f . und Kt. 1. Vgl. Freitag 1944 und Kranzmayer 1954.

Grundzüge der großräumigen bairischen Wortgeographie

601

Einzugsbereich der Großstadt weiter ausdehnen. Dabei können die Ränder im Norden und im Südosten, nämlich die Neuhauser Gegend in Südböhmen und das östliche Südmähren bzw. der burgenländische Seewinkel mit dem westungarischen Heideboden und der Großen Schütt, die ursprünglichen Zustände bewahren. 8. Ergebnisse Die Erforschung der bairischen Dialekte erfolgte in erster Linie auf dem Gebiet der Lautverhältnisse, während die Untersuchung des Wortschatzes zurücktrat. Grund dafür war die im Gefolge junggrammatischer Anschauungen stehende phonetisch-phonologische Ausrichtung der Wiener dialektologischen Schule. Entsprechend der Entwicklung einer genetischen Sprachauffassung galt die besondere Aufmerksamkeit der Diachronie der Dialektverhältnisse. Deshalb war man in der Dialektgeographie weniger bemüht, synchrone dialektale Raumstrukturen mit Hilfe unterschiedlich starker Linienbündel zu erarbeiten, wie dies von der durch die Marburger dialektologische Schule geprägten dialektgeographischen Forschungsrichtung geschah, sondern vielmehr konservative, ältere Zustände bewahrende Rückzugslandschaften von modernisierungsfreudigen Gebieten zu unterscheiden. So stand auch bei den wenigen lexikalischen Untersuchungen die Kennwortforschung mit der Ermittlung der schon von Anfang an oder erst allmählich auf das Bairische beschränkten Wörter und der spezifischen Neuerungen im Vordergrund. Obwohl der „Deutsche Wortatlas" hätte stimulierend wirken können, löste er bei zusätzlichen methodischen Vorbehalten keine gesamtbairischen wortgeographischen Forschungen aus. Es blieb vielmehr jenen wenigen Forschern vorbehalten, mit Hilfe des „Deutschen Wortatlasses" wenigstens die Wortgeographie bairischer Teilgebiete zu erarbeiten, die persönlich mit Marburg verbunden waren oder von dort ausgehende Anregungen aufgriffen. Daß es mit Hilfe des „Deutschen Wortatlasses" wie für andere deutsche Dialektlandschaften auch für das Bairische möglich ist, Grundzüge der großräumigen Wortgeographie zu erarbeiten, zeigt die vorliegende, auch einige weitere Materialquellen einbeziehende Untersuchung. Da auf Grund der langjährigen Wiener dialektologischen Forschungen die lautgeographischen Strukturen und die darauf basierende Dialektgliederung des Bairischen bekannt sind, empfiehlt es sich, die wortgeographischen Verhältnisse damit zu vergleichen, um Übereinstimmungen und Abweichungen festzuhalten. Im einzelnen ergeben sich folgende Grundstrukturen der großräumigen bairischen Wortgeographie: — Die wortgeographische Einheit des Bairischen gewährleisten wenige Kennwörter und Kennformen. Dabei können in bezug auf die Synchronic nur jene spezifischen Wörter herangezogen werden, die noch möglichst

602

Peter Wiesinger

im gesamten Raum gelten. Da das Bairische den größten deutschen Dialektverband bildet, verfügen die einzelnen Beispiele zwar nicht mehr über eine einheitliche Form, sondern wurden vielmehr vielfaltig lautlich gewandelt und mehrfach auch volksetymologisch neu motiviert und entsprechend umgestaltet, gehen aber insgesamt jeweils auf ein gemeinsames Etymon zurück. Die Kennwörter und Kennformen fehlen heute einerseits in Teilen von Westtirol und am oberbayerischen Lechrain und andererseits in wortweise unterschiedlichem Umfang im Nordbairischen, wobei alle Beispiele im Nürnberger Raum aussetzen. An ihrer Stelle treten jeweils die alemannischen (mittelalemannischen und/oder schwäbischen) bzw. die ostfränkischen Bezeichnungen auf. Da es sich dabei insgesamt um Gebiete handelt, deren Besiedlung und Dialektkonstituierung schon unter beidseitiger alemannischer bzw. ostfränkischer und bairischer Beteiligung erfolgt ist, kann das Fehlen der bairischen Eigenheiten entweder schon ursprünglich sein, oder es beruht auf allmählicher Zurückdrängung. Für einzelne, erst im Laufe der Zeit festgelegte Begriffe wie Kirchtag und Rauchnächte muß auch mit mittelbairischen Vorstößen in den Süden des Nordbairischen gerechnet werden. Wie aus dem Ersatz der Personalpronomina ihr und euch durch die ehemaligen Duale eß und enk hervorgeht, konnten sich nur mehr spätestens im 12. Jh. vollzogene mittelbairische Neuerungen im gesamten oder fast im gesamten bairischen Raum durchsetzen und zu Kennwörtern bzw. Kennformen werden. Die äußerste westliche und nördliche Reichweite der Kennwörter und Kennformen entspricht der äußersten Verbreitung lautlicher bairischer Gemeinsamkeiten, wie umgekehrt einige solcher Eigenschaften in den vom Alemannischen bzw. Ostfränkischen beeinflußten Randbereichen, insbesondere im Nürnberger Raum fehlen. — Das Fehlen bairischer Kennwörter und Kennformen im alemannisch beeinflußten Westtirol und am oberbayerischen Lechrain wird im Rahmen der regionalen Dialektverhältnisse von einer Reihe übergreifender Alemannismen begleitet, wobei sich vor allem die geographisch bedingte Raumgliederung Westtirols auch in gegendweise unterschiedlichen Gemeinsamkeiten spiegelt. Der stärkste alemannische Einfluß herrscht im Bereich des unteren Tiroler Lechtales um Reutte mit den Orten an der Fernstraße gegen Lermoos und dem südlichsten oberbayerischen Lechrain ab Schongau. — Das Nordbairische erweist sich in wortgeographischer Hinsicht als ein Raum mit geringer Konsistenz. Es geht nämlich in mehrfacher Hinsicht mit dem Ostfränkischen und im Nordosten teilweise auch mit dem Obersächsichen, wobei es sich entweder um westliche bzw. nördliche Vorstöße oder schon um ursprüngliche, in die Dialektkonstituierung eingegangene Bestandteile handelt. Letzteres betrifft vor allem ostmitteldeutsche Be-

Grundzüge der großräumigen bairischen Wortgeographie

603

Zeichnungen im Norden des Egerlandes und der anschließenden Oberpfalz, bei deren Besiedlung neben Ostfranken auch mit der Beteiligung von Thüringern zu rechnen ist. Im einzelnen lassen sich vier grundlegende, zum Teil variierte Verbreitungstypen feststellen. Ein Teil der Beispiele erfaßt nur den Südwesten von der Donau über Eichstätt und Nürnberg bis Pegnitz. Einen dreifach variierten zweiten Verbreitungstypus bilden Beispiele, die keilförmig von Westen nach Osten gelagert sind und deren Nordgrenze quer durch die nördliche Oberpfalz verläuft; unmittelbar oder in der Nähe der böhmischen Grenze endet, so daß eine west — östliche Teilung in Oberpfalz und Egerland entsteht; oder deren Nordgrenze noch einen Teil des Egerlandes miteinschließt. Als dritte Möglichkeit zeichnet sich durch West—Ost verlaufende Grenzen eine Zweiteilung des Nordbairischen in eine Süd- und eine Nordhälfte ab. Ja teilweise schließt sich dabei fast das gesamte Nordbairische dem Ostfränkischen an, so daß nur der größtenteils zu Niederbayern gehörende Südosten um Regensburg — Straubing und der Bayerische Wald davon unberührt bleibt. Schließlich betrifft der vierte Verbreitungstypus die schon genannten Übereinstimmungen mit dem Obersächsischen im Norden. Obwohl es auch in lautgeographischer Hinsicht Zusammenhänge des Nordbairischen mit dem Ostfränkischen und Obersächsischen gibt, sind die lexikalischen Gemeinsamkeiten stärker. Trotzdem bleibt das Nordbairische ein bairisch geprägter Dialekt und ist seine jüngst versuchte Abspaltung vom Bairischen und Zusammenfassung mit dem Ostfränkischen zu einem „Nordoberdeutschen" nicht gerechtfertigt. 120 — Unter den drei großräumigen, Süd —Nord gelagerten bairischen Dialektbereichen nimmt lediglich das Südbairische mit dem Südmittelbairischen im österreichischen Alpenraum in wortgeographischer Hinsicht eine Eigenstellung ein. Während dabei im Südbairischen die Wortgeographie mit der Lautgeographie konform geht, bilden weder das Mittel- noch das Nordbairische wortgeographisch jeweils eigenständige Bereiche. Diese lexikalische Eigenstellung verdankt das Südbairische einerseits einst zumindest auch mittelbairisch gültigen Rückzugserscheinungen, so daß derartige Beispiele zusätzlich noch in konservativen mittelbairischen Gebieten begegnen, wie in Nieder- und Oberösterreich nördlich der Donau mit Südböhmen, im westlichen Oberösterreich sowie im westlichen Oberbayern, und andererseits in geringerem Ausmaß eigenständigen Neuerungen. Beides korrespondiert mit den lautgeographischen Verhältnissen des Südbairischen. — Das Mittelbairische bildet in lautgeographischer Hinsicht keine Einheit, sondern zeigt mehrfach bei gleicher Entwicklungstendenz eine West—Ost120

Vgl. Straßner 1973 und 1980.

604

Peter Wiesinger

teilung, von der natürlich das Südbairische nicht tangiert wird. Solche West—Ostteilungen, allerdings mit unterschiedlichem Einschluß des östlichen Südbairischen der Steiermark und Kärntens, zeigt auch die Wortgeographie. Dabei handelt es sich in erster Linie um östliche Neuerungen, die von Wien als der seit dem Ende des 12. Jhs. aufgestiegenen, beherrschenden Kulturmetropole des Donau- und Ostalpenraumes ausgegangen sind. Demgegenüber sind westliche Vorstöße und damit die Zurückdrängung einst gesamtbairischer Erscheinungen in den Osten vergleichsweise gering. Im einzelnen ergeben sich hier drei wortgeographische Verbreitungstypen west —östlicher Unterschiede, die vom Entstehungsort, der Ausbreitungsrichtung, dem Alter, dem Verkehrswert und dem Intensitätsgrad der jeweiligen Neuerung abhängig sind. So konnten bis zum Ende des 13. Jhs. aufgekommene östliche Neuerungen noch auf Nieder- und teilweise auch auf Oberbayern übergreifen und enden im Süden an der osttirolisch-kärntnischen Landesgrenze, während das nördlich des Alpenhauptkammes gelegene, zweifach vom Norden her zugängliche Salzburg einen schwankenden Grenzbereich zwischen dem Westen und Osten bildet. Die Festigung eines habsburgisch-österreichischen Kulturkreises im Osten und eines bayerisch-wittelsbachischen im Westen seit dem 14. Jh. schuf dann im Alpenvorland einen zweiten Verbreitungstypus, indem die Neuerungen zunächst nur bis ins mittlere Oberösterreich vordrangen, wo ja das Innviertel bis 1779 zu Bayern gehörte. Erst die allmähliche österreichische Integrierung des Innviertels und seine sprachliche Umorientierung vom Westen nach dem Osten ließ im Laufe des 19. Jhs einzelne Beispiele bis zur neuen Landesgrenze an Inn und Salzach vorstoßen. Im alpinen Süden unterscheidet sich der zweite Verbreitungstypus nicht vom ersten, doch stellt sich Salzburg hier weiterhin zum Westen, da seine nördlichen Anschlußgebiete ja bis 1779 bayerisch waren, und es geht auch das westliche obersteirische Ennstal wegen seiner verkehrsgeographischen und territorialen westlichen Ausrichtung größtenteils mit Salzburg. Das westliche Vordringen von Wiener Neuerungen mit hohem Verkehrs wert kann schließlich als dritter Typus west—östlicher Unterschiede zu echten Austriazismen führen, die an der österreichischen Staatsgrenze enden und auch noch die deutschen Randgebiete von Böhmen und Mähren als ehemalige habsburgisch-österreichische Bereiche mitumfassen. Sie haben keine lautgeographischen Entsprechungen, denn selbst die großräumigere Umgangssprache bildet keine gesamtösterreichische Einheit. — Wie solche West —Ostteilungen auf Grund des allmählichen Vordringens von Wiener Neuerungen nach dem Westen und nach dem Süden entstehen, lehren schließlich drei, in die regionale Dialektgeographie von Wien und Niederösterreich überleitende ostösterreichische Verbreitungstypen. Sie

Grundzüge der großräumigen baltischen Wortgeographie

605

zeigen besonders das Vordringen entlang der Hauptverkehrsstraßen nach dem Westen parallel zur Donau über St. Pölten und Linz nach Oberösterreich und über Wiener Neustadt und den Semmering in die Steiermark nach Bruck an der Mur und von dort flußabwärts nach Graz und flußaufwärts über den Neumarkter Sattel bis ins östliche Kärnten. Damit ist bereits der erste dieser ostösterreichischen Verbreitungstypen beschrieben, wobei besonders in den Randgebieten in Südböhmen und Südmähren im Norden und im Burgenland im Osten noch die ursprünglichen Bezeichnungen erhalten bleiben können. Die Beispiele des zweiten Verbreitungstypus reichen nur mehr bis ins westliche Niederösterreich und das nördliche Burgenland, zum Teil auch noch in die Oststeiermark. Schließlich legen sich jüngste Neuerungen bloß ringförmig um die Großstadt Wien und erfassen damit ihren niederösterreichischen und nordburgenländischen Einzugsbereich. Ein Vergleich der großräumigen bairischen Wortgeographie mit der Lautgeographie zeigt, daß zwar zwischen beiden, wie nicht anders zu erwarten, gewisse Korrespondenzen bestehen, daß aber insgesamt von den klar erkennbaren lautgeographischen Süd — Nord-Lagerungen mit Süd-, Mittel- und Nordbairisch und den vermittelnden Übergangsbereichen des Südmittelbairischen und des Nordmittelbairischen in der Wortgeographie lediglich das Südbairische mit dem Südmittelbairischen erkennbar wird. Vielmehr bestehen in der Wortgeographie verschiedene Arten von west — östlich gelagerten Unterschieden hauptsächlich auf Grund östlicher, von Wien ausgegangener Neuerungen. Auffallend sind auch die zahlreichen, in unterschiedlicher Verbreitung auftretenden Gemeinsamkeiten des Nordbairischen mit dem benachbarten Ostfränkischen und Obersächsischen. So erweisen sich die großräumigen wortgeographischen Strukturen des Bairischen insgesamt jünger als die lautgeographischen und zeigt sich, daß der Wortschatz leichter Veränderungen unterliegt als der Lautbestand.

1

1: Bairische Kennwörter und Kennformen

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6

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7

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2

1

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Hans Friebertshäuser und Heinrich J . Dingeldein

| © FIDS-DSA godila\ gudila geradezu als prototypische sprachliche Bildung im Sinne einer starken Gefühlsbindung zwischen Kind und Erwachsenem auf der Patenschaftsebene angesehen werden kann. Als nächste wortbildungsmäßige Vergleichsparallele bietet sich für das Althochdeutsche das Nebeneinander von nijt und niftila ,Nichte' an. Niederrheinisches Göel (auch Göltante, Gölemoj), luxemburgisches Giedel (Gedel), ripuarisches Gott (Jött) und mittelhessisches Get (Goethe!) weisen Umlaut auf, während nordhessisches Goddel (Garrel) ihn vermissen läßt. Hier dürften vielfache Kontaminierungsprozesse in die ein- oder andere Richtung stattgefunden haben, wobei es bezeichnend ist, daß gebietsweise auch jüngere (echte) Diminutivbildungen — und diese natürlich immer mit Umlaut — auftreten: Jöttche, Jöttchestant (-möhn) zwischen Köln und Düsseldorf, Jötche in der Vordereifel, Gettche in Rheinhessen und im Spessart, Gettel im Badischen und im Elsaß. Kompliziert stellt sich auch die Verteilung von erhaltener Kürze des Stammvokals und seiner neuhochdeutschen Dehnung dar. Wenn diese Dehnung im gesamten Alemannischen unterblieben ist (Gotte, Godde), so kann evtl. auch an expressive Gemination gedacht werden (vgl. Spott). Jan de Vries (1962, 181) verzeichnet nebenbei)/ auch eine geminierte Form goddi und erklärt sie als Affektivbildung, allerdings ist auch bei nhd. Gott ,deus' das ο generell kurz geblieben, das ergibt für göte mit langem δ in gewissen Dialektgebieten eine Diskrepanz, die auf unterschiedliches Ausgreifen der Dehnung vor t bei Ein- und Zweisilblern zurückzuführen ist. Länge des Vokals erscheint außer in der Standardsprache ζ. B. bei den sekundär einsilbig gewordenen Formen im Rheinfränkisch-Hessischen (Göt, bzw. zwischen Frankfurt und Gießen mit Umlaut Get). Bei den Umlautsformen ist, ζ. B. bei ripuarisch Jött/Gött ,Patin', evtl. auch an ein altes /-Suffix zu denken (-jön-Ableitung zu einem schwachen Maskulinum): ein anzusetzendes frühfränkisches *godja als Ausgangsform entspräche dann der altnordischen Form gydja (s. o.). Der Umlaut beim Maskulinum Gott, Gätti im Alemannischen (dem neben Bayern/Österreich einzigen Verbreitungsraum dieses Worttyps für ,Pate' im Gegensatz zu Gote ,Patin' und deren auch im Westmitteldeutschen verankerten Geltungsbereich) wird im Grimmschen Wörterbuch auf das alte /«-Suffix zurückgeführt, das im Alemannischen regelmäßig nur als -i erscheint (DWB

666

Reiner Hildebrandt

4.1.5, 992). Das später belegte Maskulinum soll demnach vom Femininum abgeleitet sein: göte (< gotl(n)) als ,der zur gota gehörige'. Aber -in war nur im adjektivischen Bereich ein Zugehörigkeitssuffix, im substantivischen dagegen trat es in diminuierender bzw. hypokoristischer Funktion auf. Deshalb ist es sehr viel wahrscheinlicher, daß von Anfang an eine neben dem Femininum eigenständige mask. Form *goto existiert hat, die entweder mit -ϊ(ηJ eine hypokoristische Ableitung erfuhr oder einen späteren Umlaut auch durch ein y-Suffix erhalten konnte (ggf. mit Gemination!) analog zu ahd. grävojgrävio > graflgräf (grebe). Daß die Doppelung des Dentals einerseits zwar als orthographisches Phänomen der dialektal teilweise erhaltenen Vokalkürze zu werten ist, dürfte außer Frage stehen; dennoch sollte nicht außer acht bleiben, daß auch die bei nomina propria nachweisbare hypokoristische Gemination mit im Spiel sein kann. Die alemannischen Formen GoddejGotte ζ. B. könnten aus go da j got a genau so gebildet sein wie Otto aus Odo (Bach 1952, 99). 1.3. Exkurs: Ahd. gotawebbi Das in alter Zeit mehrfach gemeingermanisch belegte ahd. gotawebbi, gotowebbi (asächs. godowebbi, ags., godeveb, anord. gudvefr) wurde bisher als ,Gewebe zu gottesdienstlichen Zwecken, (kostbares) priesterliches Gewand', das Adjektiv ahd. gotowebbln als ,purpureus, coccineus, hyacinthinus, sericus' gedeutet (Schade 1872 — 82, Bd. 1, 343). Nach den hier aufgezeigten Zusammenhängen kann statt vom Bestimmungswort god genauso gut von godo/goda ausgegangen werden. Es wäre verlockend, dabei an kostbare Stoffe als Patengeschenke oder zumindest als Patenbekleidung zu denken, wenn nicht noch eher auch an volksetymologische Umdeutung eines aus dem Arabischen entlehnten koton ,Baumwolle' zu denken wäre (de Vries 193 f.). Diese Hypothese der auf arabischer Grundlage beruhenden Entlehnung wurde mit dem Hinweis auf den erst im 13. Jahrhundert in Europa einsetzenden Baumwollhandel zu entkräften versucht (Schütz 194) und stattdessen auf eine mögliche alte Lehnbildung aus griech. δεοϋφαντος hingewiesen. Dabei müßte die gemeingermanische Verbreitung eines solchen Wortes auf gotische Vermittlung zurückgehen, wobei das griech. Adjektiv in der Bedeutung ,νοη Gott gewebt' „vielleicht in schlauer Ausnutzung dieses Wortes" (Schütz 196) durch griechisch-byzantinische Seiden- und Purpurhändler bei den Goten Anklang und Wortübername gefunden hätte. Damit wäre die arabische Wortvermittlung aber nur scheinbar ausgeschaltet, denn der erst spät einsetzende Baumwollhandel schließt nicht aus, daß das arabische Wort schon Jahrhunderte früher in der Bedeutung fremdländisch kostbarer StofP vermittelt worden sein konnte. Für das griechische Wort gibt es außerdem erste, metaphorisch zu verstehende Belege erst um 750 in Predigten des Andreas Cretensis und des Johannes Damascenus (Schütz 195), aus denen die Grundbedeutung, was konkret als ,νοη Gott gewebt' zu

Germania Romana im Deutschen Wortatlas

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verstehen ist, nicht erschlossen werden kann. Da außerdem auch hier wieder nur an den Gott des Christentums gedacht sein kann, sind wiederum die früheren, von godo/goda ausgehenden germanisch-heidnischen Zusammenhänge ausgeschlossen. Damit bleiben m. E. die weitreichenden Folgerungen aus der Wortübereinstimmung von griech. δεοϋφαντος mit ahd. gotowebbtn ohne größeres Gewicht gegenüber dem hier versuchten Nachweis innergermanischer Zusammenhänge.

2. Tote (ahd. toto\tota) Der Südwestbereich des deutschen Sprachraums (DWA 4) zeigt mit den Wortpaarvarianten Dot, Döte, Det mask./ Dote, Dotte, Döte, Tot fem. in ungebrochener Tradition die Fortsetzer von ahd. toto und tota. Es ist dies ein schwäbisch-nordbairisch-ostfränkisch-osthessischer dialektaler Raumverbund, der im Deutschen Wortatlas sehr häufig in Erscheinung tritt und der deshalb sicherlich eine bisher noch nicht greifbare kulturmorphologische Grundlage hat (Raumtyp Κ nach Hildebrandt 1983, 1358). Die etymologische Erklärung ist nach Kluges Wörterbuch (Kluge-Mitzka 1967, 784) recht lapidar: spätahd. toto, tota sind kindliche Lallformen für ahd. *goto, gota ,Pate, Patin'. Wenn dem so ist — und das heutige dialektale räumliche Nebeneinander legt dies durchaus nahe —, so wäre das hohe Alter von goto, gota damit indirekt erneut bewiesen, wobei die Lallformen wiederum in die Kategorie früher Hypokorismen gehörten, die mit einer j-Variante zugleich auch wiederum Umlaut und Dentalgemination nach sich ziehen konnten.

3. Ρate l Patin Der pater spiritualis in deo, also die christlich geprägte männliche Patenschaft, soll nach bisher einhelliger Meinung die Grundlage für den Entlehnungsvorgang pater > pate im Deutschen gewesen sein. Den wegen unverschobenem p und t normalerweise als relativ spät anzusetzenden Entlehnungsvorgang (nach Abschluß der hochdeutschen Lautverschiebung) hat man bisher nie hinterfragt, ebensowenig wie den r-Verlust am Wortende. Die rezente Wortgeographie läßt nun aber ganz entschiedene Zweifel an dem späten Entlehnungsansatz von Pate aufkommen, ganz zu schweigen von der dann zu berücksichtigenden Schwierigkeit des sprachsoziologischen Vermittlungsprozesses vom gelehrten Mittellatein zur deutschen Volkssprache. Ein Blick auf die Wortkarte ,Pate' (DWA 4) läßt sofort deutlich werden, daß das Wort Pate im Westmitteldeutschen älter sein muß als bisher angenommen. Es gehört in seiner Westkeillagerung zweifellos zum Altbestand des Frühfränkischen mit der dafür typischen Ausdehnung ins Ostmitteldeutsche im Zuge der fränki-

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Reiner Hildebrandt

sehen Ostexpansion. Es muß vor allem älter sein als das ebenfalls im Westmitteldeutschen verbreitete lat. Lehnwort PetterjPfetter < patrinus, das auch als das spätere Lehnwort an der fränkischen Expansion ins Ostmitteldeutsche nicht teilgenommen hat, wohl aber neben Luxemburg und Trier im gesamten Rheinfränkischen und im Elsaß zum Zuge gekommen ist, während das Mittelfränkische das ältere Patte, Padde beibehalten hat. Die heutige Schichtung von West nach Ost mit Petter — Patte — Petter — Pate läßt gar keine andere Deutung zu als die, daß Pate Substrat, Petter aber Superstrat ist. Vom Lautlichen her muß allerdings eingeräumt werden, daß die unterbliebene ^-Verschiebung im Ostmitteldeutschen auf einem relativ späten Siedelschub beruht, der die osthessische Verschiebungszone übersprungen und sich damit ihrem Einfluß entzogen hat (im Gegensatz etwa zu pund — pfund). Hierbei ist bezüglich der Chronologie allerdings auch zu berücksichtigen, daß die Verschiebung von anlautendem p-im Ostmitteldeutschen sicher nicht auf abstrakter wellentheoretischer Grundlage zu sehen ist, sondern als Ergebnis von Mischung und Ausgleich auf Einzelwortbasis. An anderer Stelle (Hildebrandt 1980) habe ich aufgezeigt, daß westmitteldt. Prieslauch Schnittlauch' im Ostmitteldeutschen offenbar aufgrund unterschiedlicher fränkischer Siedelzüge sowohl als Frieslauch als auch als Prieslauch erscheinen kann, ein Reflex für die analoge Lagerung beider Formen links und rechts der p - j p f Isoglosse im Spessart und in der Rhön und damit eine Bestätigung für die These, daß selbst bei der Vermittlung zweier konkurrierender Formen der Ausgleich in Richtung auf die verschobene Form auch partiell unterbleiben konnte. Wenn aber, wie bei Pate anzunehmen ist, gar keine ^/"-Konkurrenten aus Spessart und Rhön transportiert worden sind, so kann auch bei relativ früher Siedelvermittlung davon ausgegangen werden, daß die Verschiebung im Ostmitteldeutschen auch generell unterbleiben konnte. Dies vor allem dann, wenn ein paralleler Vermittlungsweg auch übers Niederdeutsche angenommen werden kann, so daß die unverschobene Form von dorther noch zusätzlich gestützt wurde. Die Wortkarte läßt keinen Zweifel an der frühen Verbreitung von Pate auch im Niederdeutschen. Hinsichtlich des Dentals ist andererseits bei dem frühen Entlehnungsansatz davon auszugehen, daß nicht standardlateinisch pater die Ausgangsform war, sondern vulgärlat. pader. Dafür kommt als zeitlicher Ansatz durchaus bereits das 5. wenn nicht sogar das 4. Jahrh. in Frage (Zur intervokalischen Tenuiserweichung im Vulgärlatein vgl. Frings 1966, 176 mit Anm. 2). Bei diesem frühen Entlehnungsansatz ist natürlich auch zu fragen, ob hier überhaupt schon die christliche Taufpraxis zugrunde lag und nicht etwa noch ein germanisch-heidnisches Ritual wie bei godofgoda, nur speziell im Rheingebiet synkretistisch überfremdet und deshalb mit einem lateinischen Wort behaftet. In diesem Fall könnte erwogen werden, ob im fränkischen Bereich pado nicht auch deshalb sehr früh bereits an die Stelle von godo getreten ist, weil hier eine wie auch immer sprachpsychologisch ausdeutbare Homonymenflucht

Germania Romana im Deutschen Wortatlas

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zum Zuge gekommen sein muß: statt des nahezu lautidentischen Wortpaares godo — goda bot sich das lautlich differenziertere Wortpaar pado — goda geradezu an (später noch einmal wiederholt mit petter — gota). Gleichzeitig rückt dabei auch das Problem der nicht beibehaltenen