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German Pages 216 Year 2015
Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Figurationen von Adoleszenz
2009-01-26 10-11-25 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b4200863181816|(S.
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Theorie Bilden Band 15
Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, Hans-Christoph Koller, Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer, im Auftrag des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.
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Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.)
Figurationen von Adoleszenz Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II
2009-01-26 10-11-25 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b4200863181816|(S.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Warburg-Haus in Hamburg (2008), Photographie von Karin Priem, © Karin Priem 2009 Lektorat & Satz: Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich, Judith Zimmer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1025-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
2009-01-26 10-11-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b4200863181816|(S.
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Inhalt
Einleitung HANS-CHRISTOPH KOLLER/MARKUS RIEGER-LADICH
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Filiation im Faserland. Die Negation der Väter als Opfer der Söhne GEORG MEIN
15
»Hier ist mein Sound«. Die nicht enden wollende Jugend in Thomas Meineckes Romanen Tomboy, Hellblau und Musik OLAF SANDERS
33
»Wir werden erzeugt, aber nicht erzogen«. Pädagogische Annäherungen an die Autobiographie Thomas Bernhards ANDREAS POENITSCH
47
Hoffnungslose Jugend? Zur Frage nach der Bedeutung von Jugend und ihren Aufstiegshoffnungen bei Elfriede Jelinek und Paulus Hochgatterer REINHOLD STIPSITS
65
»In der äussersten pädagogischen Provinz«. Pädagogischer Eros in Hermann Burgers Schilten: Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz PATRICK BÜHLER
79
Respekt als knappe Ressource. Männliche Adoleszenz in Jonathan Lethems Die Festung der Einsamkeit MARKUS RIEGER-LADICH
95
»Das liegt daran, dass es noch nicht zu Ende ist«. Zeit, Raum und generative Struktur in David Mitchells Bildungs- und Adoleszenz-Roman Der dreizehnte Monat VERA KING
113
Korrekturen der Jugend: Beobachtungen an neueren Romanen JÜRGEN OELKERS
131
Literatur als Seismograph des Sozialen: Die Unruhezone als Ortsbestimmung der Adoleszenz bei Jonathan Franzen KARIN PRIEM
155
Jugendliche Intensität als Spiegel des Morbiden in Elizabeth Bowens Kalten Herzen und Philippe Djians Die Frühreifen SABINE ANDRESEN
165
»Sippschaft eines interimistischen Zeitalters« – Adoleszenz nach dem Ende der Moderne in Juli Zehs Spieltrieb CORNELIE DIETRICH
177
»Wenns soweit ist«. Adoleszenz, Vertrauen und Verantwortung im Werk Ulrich Peltzers MICHA BRUMLIK
197
Autorinnen und Autoren
209
Einleitung HANS-CHRISTOPH KOLLER/MARKUS RIEGER-LADICH
Wie kaum ein anderes Thema steht die Adoleszenz derzeit im Zentrum sowohl pädagogischer als auch literarischer Aufmerksamkeit. Ihre besondere Faszination für Erziehungswissenschaftler wie Schriftsteller bezieht die Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter wohl vor allem daraus, dass sie, wie der Essayist Michael Rutschky schreibt, als ein Zustand erscheint, „in dem alles möglich und (noch) nichts wirklich ist“ und der deshalb nach einer romanhaften Darstellung verlangt, weil „jederzeit vom eigenen Leben noch eine andere Wendung soll erzählt werden können“ (Rutschky 2002: 5/9). Tatsächlich ist Adoleszenz bzw. Jugend1 als eine sowohl von der Kindheit als auch vom Erwachsenenstatus deutlich unterschiedene Lebensphase mindestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein bevorzugtes Thema der Literatur (vgl. z.B. Oesterle 1997) – von der Beschreibung der Jugend der Protagonisten in klassischen Bildungs- und Entwicklungsromanen über Theaterstücke wie Wedekinds Frühlings Erwachen bis hin zur zeitgenössischen Popliteratur (vgl. Sanders 2000). Im so genannten „Adoleszenzroman“ hat das Thema mittlerweile sogar eine eigene Gattung gefunden, die in der Literaturwissenschaft zunehmend auf Interesse stößt (vgl. etwa Gansel 2004 und die weiteren Beiträge in der Zeitschrift für Germanistik 2004). Umgekehrt ist ‚Jugend‘ seit Rousseaus Emile auch ein zentrales Thema der Erziehungswissenschaft, das längst eine eigene Teildisziplin, die pädagogische Jugendforschung, und entsprechende Institutionen sowie Publikations1
Mit Adoleszenz ist hier eine Lebensphase gemeint, die sich – im Unterschied zum Alltagsverständnis von ‚Jugend‘ – nicht so sehr zeitlich (d.h. als Altersgruppe), sondern eher inhaltlich durch die psychischen und sozialen Veränderungen bestimmen lässt, die mit dem Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein verbunden sind (vgl. z.B. King 2002: 19ff.).
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HANS-CHRISTOPH KOLLER/MARKUS RIEGER-LADICH
organe gefunden hat (vgl. Zinnecker 2004). Allerdings dominiert in der erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Jugend, wie Jürgen Zinnecker treffend festhält, die „pädagogische Fremdperspektive“, so dass sich das Interesse an „Perspektive, Persönlichkeit und Lebenswelt von Jugendlichen“ unweigerlich auf andere Diskurse verwiesen sieht (ebd. 486). Einen solchen Diskurs stellt nun die Literatur dar – und zwar insbesondere solche Texte, welche die Leiden und Freuden, die Irrungen und (Ver-) Wirrungen der Adoleszenz aus der Perspektive Heranwachsender selbst zum Thema machen. Das Ziel des vorliegenden Bandes besteht nun darin, beide Perspektiven auf die Adoleszenz, die pädagogische wie die literarische, zusammenzuführen, indem literarische Gestaltungen des Themas aus erziehungswissenschaftlicher Sicht daraufhin befragt werden, was sie zur Bereicherung und Erweiterung – aber auch zur Infragestellung und Verunsicherung – des pädagogischen Blicks auf die Lebensphase Jugend beitragen können. Der Band knüpft dabei an eine 2005 ebenfalls im transcript-Verlag erschienene Publikation an, die unter dem Titel „Grenzgänge. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane“ der Frage nach dem Anregungspotential literarischer Texte für erziehungswissenschaftliche Reflexionen gewidmet war (vgl. Koller/ Rieger-Ladich 2005). Doch während dort noch ganz allgemein das Verhältnis von Literatur und Pädagogik – oder genauer: die Bedeutung literarischer Texte für erziehungswissenschaftliche Reflexionen insgesamt – im Mittelpunkt stand, wird die Diskussion über die damit verbundenen grundlagentheoretischen und methodologischen Fragen im vorliegenden Band durch die Konzentration auf das Thema Adoleszenz verdichtet und intensiviert. Den Ausgangspunkt der hier versammelten Beiträge stellt die Annahme dar, dass literarische Texte aus pädagogischer Perspektive zunächst vor allem deshalb interessant sind, weil die erziehungswissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung auf Beschreibungen pädagogisch relevanter Situationen und Sachverhalte angewiesen ist, die als umso angemessener gelten können, je ‚dichter‘ und differenzierter sie nicht nur den fraglichen Sachverhalt ‚an sich‘ (der als solcher ja gar nicht zugänglich ist), sondern auch die damit untrennbar verbundenen Bedeutungen und Kontexte beschreiben. Solche „dichten Beschreibungen“ (Clifford Geertz) finden sich insbesondere in der erzählenden Literatur, die nicht zuletzt aufgrund ihrer sprachlichen Differenziertheit oft weit detailreichere, sensiblere, nuanciertere und deshalb eben auch ungleich genauere Darstellungen liefert als in der empirischen Forschung verwendete ‚Daten‘ wie z.B. Interviews oder Beobachtungsprotokolle (um von den Daten standardisierter Erhebungsverfahren ganz zu schweigen). Auf der anderen Seite sieht sich eine solche erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit literarischen Texten dem Vorwurf ausgesetzt, sie übersehe die ästhetische Dimension ihres Gegenstands sowie die Differenz 8
EINLEITUNG
der Geltungsansprüche von Literatur und Pädagogik. Eine wichtige Frage lautet daher, welche Konsequenzen aus den spezifisch ästhetischen Qualitäten literarischer Texte und deren besonderen Geltungsansprüchen für eine erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit solchen Texten zu ziehen wären. Das Thema Adoleszenz ist für die Erörterung dieser Frage insofern geeignet, als diese Lebensphase sich – wie eingangs angedeutet – aufgrund ihrer Zukunftsoffenheit bzw. ihrer Möglichkeitsstruktur für literarisch-ästhetische Darstellungen in besonderer Weise anbietet. Die Beiträge des Bandes gehen also unter Bezug auf ausgewählte zeitgenössische Romane der Frage nach, welche neuen, über gängige pädagogische Thematisierungen hinausweisenden Blicke auf Jugend und Jugendliche bzw. auf adoleszente Entwicklungs- und Bildungsprozesse die Auseinandersetzung mit literarischen Texten eröffnen kann. Eröffnet wird der Band durch einen Beitrag von Georg Mein, der sich mit Christian Kracht einem der bekanntesten Vertreter der so genannten PopLiteratur zuwendet. Dessen Roman Faserland interpretiert er freilich gerade nicht als politisch unverbindlichen, eigentümlich selbstbezüglichen Text, sondern als das Dokument einer Generation, welche die Leerstelle zu füllen sucht, die durch die Entwertung des Vaters und die Unterbrechung der Generationenfolge entstanden ist. Der zelebrierte Markenfetischismus des Protagonisten ist für Mein denn auch weniger ein Indiz für den verwöhnten Nachwuchs der ökonomischen Eliten, vielmehr verweist er im Rückgriff auf den französischen Psychoanalytiker Pierre Legendre darauf, dass die Adoleszenz – in dieser Lesart: jener Lebensabschnitt, in der es zur Anbahnung des symbolischen Platztausches zwischen Eltern- und Kindergeneration kommt – in einer Gesellschaft in die Krise geraten ist, welche die Shoah tabuisiert und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus noch immer scheut. Olaf Sanders folgt bei seiner Lektüre von Romanen Thomas Meineckes, der auch als Theoretiker aufschlussreiche Beiträge zur Pop-Kultur vorgelegt hat, dreierlei Spuren. Zunächst nimmt er die Romane Tomboy, Hellblau und Musik auf ihre sprachliche Gestalt hin in den Blick und arbeitet als ihre Besonderheit die Orientierung an Soundstrukturen heraus, die insbesondere in der neueren elektronischen Musik entwickelt wurden. Die zweite Spur beschreibt Meineckes Schreibstil: Ähnlich wie in der zeitgenössischen ClubKultur vertraut auch er weniger auf klassische Songmuster, sondern setzt in seinen Romanen gezielt Samples ein und remixt diese. Schließlich deckt Sanders in der Beschreibung der handelnden Akteure ein charakteristisches Moment der Unabgeschlossenheit auf, das er mit Blick auf Gilles Deleuzes Begriff der Kontrollgesellschaft als Verweis auf eine eigentümliche, generationenübergreifende Entgrenzung der Jugendphase interpretiert. Andreas Poenitsch geht anhand von Thomas Bernhards Autobiographie der Frage nach, welches Anregungspotential für erziehungswissenschaftliche 9
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Reflexionen ein Werk haben kann, zu dessen zentralen Botschaften gerade die Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Aufklärung und pädagogischer Sinnstiftung gehört. Mit einer eindrucksvollen Zitatcollage aus Die Ursache, dem ersten Band dieser Autobiographie, demonstriert Poenitsch, dass die Anregungen, die Bernhards Jugenderinnerungen in pädagogischer Hinsicht zu entnehmen sind, aufgrund ihrer Beschreibung der Lern- und Studienzeit als einer „Selbstmordgedankenzeit“ sowie der Schilderung der „Gemütszerstörung“, der „Unglücklichmachung“ und des „Geistesmords“ durch die Institution Schule eher ein Provokationspotential darstellen, das die vermeintliche Offenheit der Jugendphase ebenso entzaubert wie alle pädagogischen Ambitionen auf Förderung und Höherentwicklung. In Reinhold Stipsits’ Beitrag kehren manche dieser Motive wieder. Er ist dem Bild von Jugend bzw. von Jugendlichen gewidmet, das in den beiden Romanen Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft von Elfriede Jelinek und Über Raben von Paulus Hochgatterer entworfen wird, und fragt dabei insbesondere nach der Rolle, die Aufstiegshoffnungen für die darin beschriebenen Jugendlichen spielen. Der Vergleich der beiden mit einem Abstand von 30 Jahren erschienenen Texte führt Stipsits zur These, dass die Hoffnung auf sozialen Aufstieg mittels „vertikaler“ Anpassung (der freilich auch damals nur einigen wenigen vorbehalten war) mittlerweile einer „horizontalen“ Anpassung Platz gemacht habe. Während Jelineks mit schonungsloser Ironie gezeichnete Figuren von den im Fernsehen gezeigten Welten träumen, um sich desto vorbehaltloser der hierarchischen Ordnung des Erwachsenenlebens zu unterwerfen, deutet Stipsits das Verhalten der 13-jährigen Protagonistin von Hochgatterers Roman als Bemühen, sich mit demonstrativer Lässigkeit möglichst unauffällig und flexibel an flacher gewordene Hierarchien und wechselnde Gegebenheiten anzupassen. Grund zur Hoffnungslosigkeit, so Stipsits’ Resümee, haben dabei nicht nur die nicht-integrierten Jugendlichen, sondern auch die Gesellschaft, die sie gleichsam hoffnungslos integriert. Patrick Bühler nähert sich dem Thema Adoleszenz historisch, indem er von der Beobachtung ausgeht, die Pädagogik selbst sei um 1900 in die Pubertät gekommen, insofern sie damals nicht nur die Jugend und deren Sexualität, sondern mit dem ‚pädagogischen Eros‘ auch ihre eigene ‚reine‘ Sexualität entdeckt habe. Während in den meisten literarischen Bearbeitungen des Themas das Leiden am „pädagogischen Bezug“ aus der Perspektive Heranwachsender dargestellt werde, richtet sich Bühlers Interesse auf Hermann Burgers Lehrerroman Schilten und damit auf eines der wenigen literarischen Beispiele, in denen das „leidenschaftliche Verhältnis“ zwischen Erzieher und Zöglingen aus der Sicht eines Erwachsenen geschildert wird. Im Vergleich der insgesamt acht Fassungen des Werks arbeitet Bühler heraus, wie der Themenkomplex Liebe-Körperlichkeit-Frauen, der in der Druckfassung schließlich nur noch 10
EINLEITUNG
gestreift wird, im Laufe der Entstehungsgeschichte immer mehr eliminiert wurde, so dass sich hier die fortschreitende ‚Verdrängung‘ des Eros aus einer pädagogischen Theorie wie im Brennglas beobachten lässt. Das ‚In-diePubertät-Kommen‘ der Pädagogik erweist sich in der literarischen Version Burgers folglich nicht als Entdeckung, sondern vielmehr als Verdrängung der Sexualität. Markus Rieger-Ladich untersucht am Beispiel von Jonathan Lethems Roman Die Festung der Einsamkeit die sozialen Praktiken, durch die männliche Jugendliche mit der Logik männlicher Dominanzspiele vertraut gemacht werden. Die eindrückliche Beschreibung der Art und Weise, wie Dylan, der Held von Lethems Roman, als „Whiteboy“ inmitten eines von Schwarzen dominierten Viertels in Brooklyn Anerkennung und Respekt seiner Peers zu gewinnen sucht, interpretiert Rieger-Ladich als Beleg dafür, dass Jugendliche Zugang zu den anerkannten Formen von Männlichkeit vor allem über eine spezifische Kombination von Beobachtung und Teilnahme erlangen, bei der es sich weder um schlichte Gewöhnung noch um ausdrückliche Unterweisung handelt und die sich mit Pierre Bourdieu als „Strukturübung“ begreifen lässt. Angesichts der Besonderheiten des von Lethem präzise geschilderten Milieus, in dem Dylan aufwächst, plädiert Rieger-Ladich freilich dafür, Männlichkeitsideale stets in Abhängigkeit von sozialen Milieus und lokalen Gegebenheiten zu bestimmen, und widerspricht damit der von Robert Connell vertretenen These, dass es einem einzigen Männlichkeitstyp gelingen könne, gesellschaftsweit Anerkennung zu finden und damit ein allen sozialen Gruppen gemeinsames Ideal zu etablieren. Vera King liest David Mitchells Roman Der dreizehnte Monat als eine klassische Adoleszenzgeschichte und zugleich als ein Spiel mit der Gattung Bildungsroman, das durch seine literarische Form über die gängigen Motive des Adoleszenzromans hinaus vieldeutige Bezüge eröffnet und insbesondere die Dialektik von Ermöglichung und Determiniertheit, von Aneignung und Enteignung in den Bildungsprozessen seines Protagonisten Jason herausarbeitet. Während der Roman einerseits klassische Themen der Adoleszenz wie Loslösung von den Eltern, alterstypische Geschwisterquerelen, Auseinandersetzungen mit Gleichaltrigen und erste Liebesgeschichten aufgreift, rückt King zufolge die kunstvolle Verknüpfung der verschiedenen Handlungsebenen andererseits die intergenerationalen Zusammenhänge in den Blick, die zwischen Jasons Entwicklung und der Trennung seiner Eltern, zwischen dem Ende von Jasons Kindheit und den Aufbrüchen seiner Eltern bestehen. Die der Adoleszenz oft zugeschriebene Offenheit erweist sich so als Unabgeschlossenheit, nicht aber als Freiheit von Determination, und die Aneignungsprozesse des jungen Ich-Erzählers bleiben bis zuletzt gebunden an Momente der Enteignung und der Bedingtheit, die er weder ganz durchschauen noch vollständig verändern kann. 11
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Jürgen Oelkers wendet sich anhand dreier englischsprachiger Werke einer Tendenz der neueren Romanliteratur zu, Jugend nicht länger als Eröffnung eines noch unbestimmten künftigen Lebens zu betrachten, sondern im Rückblick auf die Verwicklung von Lebensläufen, die sich aus bestimmten Ereignissen und Konstellationen ergibt, danach zu fragen, wie Jugend korrigiert werden kann. Am Beispiel von Ian McEwans Abbitte untersucht Oelkers die Bedeutung einer Schuld, die sich trotz aller Versuche nicht auslöschen lässt, während er in Jonathan Franzens Korrekturen den unablässigen Versuchen der Mitglieder einer amerikanischen Familie nachgeht, die eigene Kindheit und Jugend ebenso zu korrigieren wie lästige Krankheiten, unwillkommene Persönlichkeitseigenschaften oder kindliche Unarten. Doch während die ersehnten Veränderungen bei McEwan und Franzen durchgängig scheitern, stellt Philip Roths Der menschliche Makel für Oelkers den erfolgreichen Versuch einer Korrektur der Jugend, der Herkunft und der Rasse dar – einen Versuch freilich, für den der Protagonist am Ende einen hohen Preis entrichten muss. Ebenfalls mit Bezug auf Jonathan Franzen interpretiert Karin Priem in ihrem Beitrag Literatur als einen „Seismographen des Sozialen“, der es in besonderer Weise vermag, den Zugang zu den Gefühlswelten einer Gesellschaft zu eröffnen. Inspiriert von Studien Raymond Williams, der zur Gründergeneration der Cultural Studies zählt, wendet sie sich Franzens autobiographischem Roman Die Unruhezone zu und sucht auf diese Weise die spezifische Gestimmtheit der US-amerikanischen Jugend in den 1970er Jahren herauszuarbeiten. Als Schlüsselthemen, welche nicht allein deren Beziehung zu den Eltern, sondern auch zu Gleichaltrigen und sich selbst prägen, identifiziert sie das Ringen um Aufrichtigkeit und Authentizität sowie die Suche nach belastbaren Kriterien, welche als geeignet erscheinen, das eigene Handeln verlässlich zu leiten. Das eigentümliche Scheitern von Jugendlichen, erwachsen zu werden, steht im Zentrum des Beitrags von Sabine Andresen. Um die Kräfte freizulegen, die hierfür verantwortlich sind, kontrastiert sie mit Elizabeth Bowens Kalte Herzen und Philippe Djians Die Frühreifen zwei Romane, die in der ersten Hälfte des 20. bzw. zu Beginn des 21. Jahrhunderts verfasst wurden. Die Gegenüberstellung erweist sich insofern als produktiv, als sie Einblicke in ein Generationenverhältnis verschafft, welches durch eine charakteristische Morbidität gekennzeichnet ist: Einer leidenschaftlichen, an der Intensivierung ihres Gefühlslebens interessierten Jugend steht eine Erwachsenengeneration gegenüber, welche dieses Begehren durch ihre ausgeprägte Gefühlskälte und mangelnde Bindungsfähigkeit konterkariert. Adoleszenz wird somit als Lebensalter entworfen, das von Intensität und Leidenschaft geprägt ist – und das nicht zuletzt deshalb auf Dauer gestellt wird, weil eine von Langeweile und
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EINLEITUNG
Leblosigkeit geprägte Erwachsenengeneration diese in ihrer Entwicklung blockiert. In unmittelbarem Kontrast dazu beschreibt Cornelie Dietrich die zeitgenössische Jugend zwar ebenfalls als „Schwellenwesen“ – freilich als eine Generation, welche die Auseinandersetzung mit Zukunftsvorstellungen scheut, eine bemerkenswerte Abgeklärtheit kultiviert und dabei gewisse Affinitäten zum Nihilismus erkennen lässt. Diese Diagnose gewinnt sie durch die Interpretation von Juli Zehs Roman Spieltrieb. Der Titel verweist auf ein kompliziertes, schwer zu entwirrendes Geflecht, das aus dem Streben nach Macht sowie der Instrumentalisierung der Sexualität hervorgeht und in der Erpressung eines Lehrers kulminiert. In der Konfrontation zwischen zwei Jugendlichen und einem Lehrer treffen dabei auch zwei ganz unterschiedliche Konzepte der Adoleszenz aufeinander: Während dem Vertreter der Erwachsenengeneration als Kennzeichen der Jugend die Orientierung an einem Morgen und die Überwindung des Status quo gilt, betrachten diese als Charakteristika der eigenen Generation den Verzicht auf die Revolte sowie die Aufzehrung utopischer Energien. Der Band wird beschlossen durch den Aufsatz von Micha Brumlik, der eine gewisse thematische Verwandtschaft zu den zuletzt genannten Beiträgen erkennen lässt. Auch die Romane von Ulrich Peltzer, die er zum Gegenstand seiner Analyse macht, kreisen um die Schwierigkeit des Eintritts ins Erwachsenenalter. Als entscheidendes Kennzeichen, welche das Überschreiten der Adoleszenz markiert, gilt Brumlik die Fähigkeit, Vertrauen nicht nur entwickeln und anderen entgegenbringen zu können, sondern – vielleicht noch schwieriger – sich selbst als dessen würdig zu erweisen. So ringen in Peltzers jüngstem Roman Teil der Lösung die beiden Protagonisten – hoch qualifiziert, aber gleichwohl ohne verlässliche berufliche Perspektiven – darum, eine Beziehung zur eigenen Verletzlichkeit zu finden, und suchen nach Wegen, das Misstrauen dem anderen gegenüber zu überwinden sowie die unverbindlichen, wechselnden Affären zugunsten einer ernsthaften, vermeintlich „bürgerlichen“ Liebesbeziehung hinter sich zu lassen. Mit Blick auf diese Suchbewegungen erweist sich Adoleszenz nicht allein als juristischer Terminus, sondern eben auch als ein Begriff, der eine elementare Zäsur in der Persönlichkeitsentwicklung anzeigt. Fast alle Beiträge des Bandes gehen auf Vorträge zurück, die auf einer Tagung mit dem Titel „Alles noch offen? Adoleszenz im Spiegel der Literatur“ im Februar 2008 im Hamburger Warburg-Haus gehalten wurden. Unser Dank gilt den Referentinnen und Referenten dieser Tagung, deren Engagement und Diskussionsbereitschaft diesen Band ermöglicht haben, sowie der Universität Hamburg, von der die Tagung finanziell unterstützt wurde. Danken möchten wir auch Judith Zimmer, die das Typoskript erstellt hat, dem Team des transcript-Verlags, das einige Geduld bewiesen hat, und schließlich 13
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Karin Priem, die uns freundlicherweise erneut ein Foto des Tagungsraums überließ, das nun das Cover des Bandes schmückt.
Literatur Gansel, Carsten (2004): »Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung«. Zeitschrift für Germanistik 14, S. 130-149. King, Vera (2002): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Opladen: Leske + Budrich. Koller, Hans-Christoph/Rieger-Ladich, Markus (Hg.) (2005): Grenzgänge. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane. Bielefeld: transcript. Oesterle, Günter (Hg.) (1997): Jugend – ein romantisches Konzept? Würzburg: Königshausen und Neumann. Rutschky, Michael (2002): »Alles noch offen. Jugend als Utopie und Roman«. Neue Sammlung 42, S. 3-12. Sanders, Olaf (2000): »›It’s trashy, baby. It’s trashy like on tv‹. Jugend im Roman«. Pädagogik 52, H. 3, S. 53-56. Zeitschrift für Germanistik (2004): »Schwerpunkt ›Adoleszenz‹«. Zeitschrift für Germanistik 14, S. 7-149. Zinnecker, Jürgen (2004): »Jugend«. In: Dietrich Benner/ Jürgen Oelkers (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel: Beltz, S. 482-496.
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Filiation im Faserland. Die Negation der Väter als Opfer der Söhne GEORG MEIN
I. Am 8. Mai 1984 stürmte Denis Lortie, ein junger Gefreiter der kanadischen Armee, in voller Kampfmontur in das Gebäude der Nationalversammlung von Québec. Mit seiner Maschinenpistole schoss er sich den Weg zum Plenarsaal frei. Er tötete dabei drei Menschen und verletzte acht weitere. Als er den Saal erreichte, in der Absicht, die Regierung von Québec auszulöschen, musste er feststellen, dass an diesem Tage keine Sitzung stattfand: Der Saal war leer. Lortie setzte sich auf den Stuhl des Präsidenten und feuerte noch einige Male in die unbesetzten Stuhlreihen. Später ließ er sich von einem Wachoffizier zur Aufgabe überreden. Als man Lortie vor Gericht befragte, was ihn zu seiner Tat veranlasst hatte, antwortete er: „Die Regierung von Québec hatte das Gesicht meines Vaters.“ Der französische Rechtshistoriker und Psychoanalytiker Pierre Legendre hat in seiner Studie Das Verbrechen des Gefreiten Lortie diesen spektakulären Fall ausführlich analysiert (Legendre 1998). Der Untertitel seines Buches lautet: Abhandlung über den Vater – und tatsächlich ist dieses Buch nicht nur ein Traktat über den Vater und die Vaterrolle, sondern darüber hinaus auch eine Lektion über die Vaterstruktur unserer Gesellschaft. Dies scheint zunächst eine äußerst unzeitgemäße These zu sein, hört man doch überall – und am lautesten von der Gender-Forschung –, dass das phallische Prinzip ausgedient habe. Doch Legendre insistiert darauf, dass die Funktion des Vaters ein kulturell geformtes, ein institutionelles Amt ist, dessen Ruin – wie etwa im Fall Lortie – verheerende Konsequenzen zeitigt. In seinem Essay Die Fabrikation des abendländischen Menschen führt er aus: 15
GEORG MEIN
„Den Menschen zu fabrizieren heißt, ihm die Grenze anzugeben. Das Herstellen der Grenze heißt die Vorstellung des Vaters in Szene zu setzen, den Söhnen des einen und des anderen Geschlechts das Verbot aufzuerlegen. Der Vater ist zunächst eine symbolische Angelegenheit, etwas Theatralisches, eine lebendige Täuschung [...].“ (Legendre 1999: 27)
Wenn Legendre die Vater-Funktion im Anschluss an Freud und Lacan als Funktion des Verbots beschreibt, so bezieht sich dieses Verbot auf die absolute Referenz, genauer: auf den leeren Platz, den sie besetzt. Legendre beschreibt diesen Platz im Rückgriff auf die von Freud in Totem und Tabu entwickelte Theorie des archaischen Mordes am Hordenvater, mit dem die Söhne sich Zugang zu ihren Müttern verschaffen. Dieser Platz des toten Hordenvaters (Lacan würde sagen: der Platz des Dings) ist jedem Subjekt untersagt. Ihn qua Verbot freizuhalten ist die Funktion des Vaters als Repräsentant des gründenden „im-Namen-von-Sprechens“ der absoluten Referenz. Die Funktion des Vaters besteht also darin, den Zugang zu dem strukturalen Platz des Absoluten zu versperren und dessen identifikatorische Aneignung zu unterbinden. Ziel des Verbotes ist es, das Band zwischen den Generationen als einen kunstvollen Kompromiss genau dadurch zu ermöglichen, indem den Söhnen beiderlei Geschlechts ihr vorbestimmter Platz zugewiesen wird. Die Herstellung dieses filiativen Bandes lässt sich auf eine emblematische Urszene zurückführen, von der das Alte Testament im ersten Buch Moses berichtet. Auf göttliches Geheiß hin bindet und fesselt Abraham seinen Sohn Isaak auf dem Opferaltar, um ihn zu töten. Von dieser bedingungslosen Unterwerfungsgeste gerührt, entbindet Jahwe Abraham davon, den Mord zu begehen, und ersetzt das Opfer des Sohnes durch einen Widder. Isaak wird also durch seinen Vater zunächst gebunden und dann wieder entbunden. Diese Bindung bedeutet die Herstellung eines Bezugs aller genealogischen Plätze zur absoluten Referenz. Denn auch Abraham wird durch diese Szene gebunden, hieße doch die Opferung des eigenen Sohnes für ihn nichts anderes als den Verzicht auf Ewigkeit – „die Ewigkeit, auf die jeder durch seine Nachkommen Anspruch hat.“ (Legendre 1998:33) Erst durch die Bereitschaft zum Opfer in der Anerkenntnis einer Macht, die über der seinen steht, wird Abraham zum Vater und Isaak zum Sohn. Die Szene macht deutlich, was Filiation im eigentlichen Sinne ermöglicht, nämlich „das Begehren mit dem Gesetz zu verbinden (und nicht einander gegenüberzustellen)“, wie Jacques Lacan es formuliert hat (Evans 2002: 326). Die Adoleszenz als der Übergang vom Kind zum Erwachsenen- bzw. zum Elterndasein ist nun nichts anderes als jenes heikle Manöver des symbolischen Platztauschs im Namen der Filiation. Und dieses Manöver ist „nicht selbstverständlich, sondern kostet etwas“ (Legendre 1985: 83, zit. nach Pornschlegel/ Thüring 1998: 186), stellt Legendre nüchtern fest. Und er fährt fort: 16
FILIATION IM FASERLAND
„Nicht nur kommt der Platztausch um den Preis dessen zustande, was man den symbolischen Mord des Vaters durch den Sohn nennt, er verlangt auch vom Sohn den Preis seines eigenen, ebenfalls symbolischen Todes als Sohn zugunsten des Neugeborenen. Die genealogische Sukzession findet nur um den Preis eines Verzichts statt, eines Verlusts für alle und jeden.“ (Ebd.)
II. Ein Verlust ganz anderer und viel tieferer Natur ist indes zu verzeichnen, wenn das Band der Filiation unterbrochen wird und die genealogische Sukzession in eine Krise gerät. Und zu den virulentesten Problemkonstellationen jeder genealogischen Ordnung zählen zum einen die Inszenierung des Ursprungs und zum anderen die Vorstellung von Kontinuität.1 Beides verdichtet sich gleichsam brennpunktartig in der Phase der Adoleszenz. Denn die Adoleszenz als die „zweite Chance der Individuierung“ (Gansel 2003: 237) steht vor der heiklen Aufgabe, die genealogische Sukzession einerseits fortzusetzen und andererseits das eigene Geschlecht zu gründen. Die eigene Individualität muss also als Neubeginn inszeniert und zugleich in die bestehende Ahnenreihe eingegliedert werden. Kulturgeschichtlich betrachtet hat sich in diesem Kontext die Gewalt stets als ein probates Mittel der Ursprungskonzeption erwiesen. Wenn also hier im Anschluss an Legendre von Filiation und von Genealogie gesprochen wird, so geht es dabei nicht um eine obskure Form von Familianismus, sondern „um die spezifischen politischen und institutionellen, d.h. symbolischen Mechanismen menschlicher Differenzierung und Subjektivierung, die in sämtlichen Gesellschaften, einschließlich der okzidentalen über (kulturell variabel strukturierte) genealogische, d.h. an die Sprache gebundene Strukturen bewerkstelligt werden“ (Pornschlegel/Thüring 1998: 188).
Im Folgenden soll anhand des 1995 erschienen Romans Faserland von Christian Kracht das Scheitern dieser symbolischen Mechanismen vor Augen geführt werden. Die These ist, dass in diesem Roman eine Generation beschrieben wird, die in ihrer Adoleszenzphase das heikle Manöver des symbolischen 1
Natürlich sind dies auch zentrale Themen der Literatur, und vielleicht ist es der gegenwärtig zu beobachtenden Sensibilisierung für das Thema ‚Genealogie‘ geschuldet, dass der Familienroman zu einem der beliebtesten Genres der Leserschaft – und keineswegs nur der deutschsprachigen – avanciert ist, wie Sigrid Löffler aktuell festgestellt hat, denn: »In diesem Erzählformat kann sich der globale Mittelstand überall auf der Welt wieder erkennen – mit allen seinen Ambitionen, Wünschen, Ängsten und mit dem ganzen Arsenal bürgerlicher Werte.« (Löffler 2008: 12)
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Platztausches nicht erfolgreich vollzogen hat. Der Titel Faserland spielt zweifelsohne nicht nur auf eine Gegenwart an, die in diversifizierte Milieus und Peer-Groups zerfallen und zerfasert ist, sondern darüber hinaus natürlich auch auf das englische father. Und in der Tat ist die Deutschlandreise des IchErzählers eben dies: Eine Reise durch ein suspekt gewordenes Vaterland, in dem sich nichts zu einem Ganzen mehr fügen will und dessen heterogene Wirklichkeitsfasern sämtlich auf eine große Leerstelle verweisen, nämlich die des Vaters. Dem Roman war das beschieden, was nur sehr wenige Bücher für sich in Anspruch nehmen können, er avancierte zum Gründungsdokument einer literarischen Strömung, der neuen deutschen Popliteratur. Endlich, so argumentierten ihre Befürworter, betritt eine Autorengeneration die Bildfläche, die über eine Lebensphase erzählt, zu der sie nur einen geringen Abstand hat bzw. die sie gerade selbst erlebt, nämlich über ihre Jugend und Adoleszenz. So lobt etwa Susanne Messmer die Pop-Literaten dafür, „dass endlich mal jemand darüber schreibt, was uns interessiert. Übers Jungsein, diesen privilegierten Zustand des Nicht-mehr-und-noch-nicht“ (Messmer 2001). Interessant in den Diskussionen um das neue Genre war und ist vor allem, dass die PopLiteratur nicht nur im Sektor der Wissenschaft, sondern auch bei den Gegenwartsautoren selbst eine heftige Kontroverse darüber auslöste, ob das, was die junge Autorengeneration da vorlegte, überhaupt als Literatur zu bezeichnen sei.2 Als vorläufigen Kulminationspunkt der Debatten kann man den provozierenden Auftritt des selbsternannten „popkulturellen Quintetts“ im Berliner Nobelhotel Adlon bezeichnen, wo sich Benjamin von Stuckrad-Barre, Alexander von Schönburg, Christian Kracht, Eckhart Nickel und Joachim Bessing zu einem dreitägigen Gespräch trafen, dessen Transkription unter dem Titel Tristesse Royale publiziert wurde. Man schreibt das Jahr 1999 und es herrscht der Ennui des ausgehenden 20. Jahrhunderts: Das Quintett entwirft „das Bild einer sinnentleerten und hässlichen Realität und blamierte jedes Bemühen um kulturelle, politische oder gesellschaftliche Ziele an seinen ästhetischen Ansprüchen“ (Schwander 2002: 73). Ein Jahr vorher, also 1998, war der Debütroman Soloalbum von Stuckrad-Barre erschienen, der 2003 dann auch verfilmt wurde, und ein Jahr nach dem Treffen der fünf Popliteraten kam der Bestseller Generation Golf von Florian Illies auf den Markt. Der Wissenschaftsbetrieb stand dem Pop-Phänomen zunächst weitestgehend unschlüssig und in der Mehrheit ablehnend gegenüber, bis Moritz Baßler 2002 in seinem Buch Der deutsche Pop-Roman das entscheidende Argument dafür lieferte, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung sich irgendwie lohnen könnte. Er folgt in seiner Argumentation der kulturökonomi2
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Feridun Zaimoglu spricht von »Knabenwindelprosa« (Zaimoglu 1999).
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schen Theorie von Boris Groys (vgl. Groys 1999), der insbesondere die Kunst als einen Mechanismus des Neuen kennzeichnet, durch die solche Dinge, die von einer Kultur nicht eigens aufbewahrt werden und dadurch in Vergessenheit geraten, aufgewertet, aufgezeichnet und gespeichert – und damit in die kulturellen Archive aufgenommen werden (vgl. Baßler 2002: 21). Diesen Gedanken aufgreifend lautet die Kernthese von Baßlers Buch: „Wenn das Neue [...] als Ergebnis einer Tauschhandlung zwischen anerkannter Kultur und der Welt des Profanen zustande kommt, dann ist Pop, als Medium des Neuen, zuallererst eine Archivierungs- und Re-Kanonisierungsmaschine. Erinnert wird dabei immer, es kommt darauf an, was und wie.“ (Ebd. 46)
Mit dieser durchaus einleuchtenden Argumentation werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einen nämlich schließt Baßler an das damals immer noch hochaktuelle und interdisziplinär breit aufgestellte Feld der Memoria-Forschung an und zum anderen liefert er erstmals ein nachvollziehbares Argumentationsmuster für das Phänomen des Markenfetischismus der Popliteraten, das bislang nur als schnöselige Form eines hedonistisch inspirierten Ästhetizismus goutiert werden konnte. Insbesondere der Roman Faserland gilt hier als das exemplarische Beispiel schlechthin. Nun sind solche Etiketten wie das Label Popliteratur grundsätzlich mit äußerster Vorsicht zu genießen, denn in der Regel summieren sie Texte unter fragwürdigen Klassifikationsmerkmalen, die ein tieferes Verständnis eher behindern, denn fördern. Insbesondere die Rezeption des Romans Faserland wurde durch die Fokussierung auf den Aspekt des Markenfetischismus nachgerade symptomatisch verstellt. So äußert sich Florian Illies fünf Jahre nach dem Erscheinen von Faserland in seinem Bestseller Generation Golf wie folgt über Kracht: „Im Jahre 1995 erschien sein Roman Faserland. Zum einen war das ein wunderbares Buch, in dem Kracht Bret Easton Ellis’ Markenkompendium kongenial auf die deutsche Produktwelt übertrug. Zum anderen aber las man hier erstmals von einem Sohn aus sehr gutem Haus und von seinen dekadenten Reisen zwischen Sylt und Bodensee, man erfuhr, daß ihm das Kindermädchen früher die Krüstchen vom Brot abgeschnitten hatte und daß er Taxi fuhr, sooft es ihm Spaß machte. Daß man in Bars ging, um einen Drink zu nehmen. Eines der zentralen Motive des Buches war zudem eine Barbour-Jacke, und die Ernsthaftigkeit, mit der Kracht Markenprodukte einführte und als Fundament des Lebens Anfang der neunziger Jahre vor Augen führte, wirkte befreiend. Nicht nur ich, so durfte man endlich sagen, finde die Entscheidung zwischen einer grünen und einer blauen Barbour-Jacke schwieriger als die zwischen CDU und SPD.“ (Illies 2000: 153ff.)
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Mit dieser Charakterisierung ist der Deutungshorizont umrissen, in dem Krachts Roman in der Folgezeit verortet wird. Und in der Tat fällt der Markenfetischismus des Ich-Erzählers ins Auge, dessen Intention darin bestehe, wie Thomas Jung vermutet, den Anschluss an generationsspezifische Kollektiverfahrungen (vgl. Jung 2002a: 27) sicherzustellen. Krachts Prosa sei nämlich für eine ideale Leserschaft konzipiert, die mit dem Autor die gleiche Sozialisations- und Generationserfahrung teile (vgl. Jung 2002b: 48). Die Attraktivität dieser These liegt wohl vor allem in ihrer Schlichtheit, denn jeder Autor schreibt, ob er will oder nicht, aus einer spezifischen Erfahrungshaltung heraus. Die Rede von einer spezifischen Generationserfahrung erlaubt aber vor allem, gleichzeitig den Autor und seine Leserschaft zu desavouieren. Frei nach dem Motto: Jede Generation bekommt die Autoren, die sie verdient. Um nur eines von vielen Beispielen für diese Argumentation zu nennen, sei Matthias Polityckis vernichtender Essay Kalbfleisch mit Reis! erwähnt, worin er die deutsche Pop-Literatur als die gerechte Strafe für das Versäumnis interpretiert, den in postmoderner Manier herrschaftsfrei gemachten Raum der Gegenwart mit politischen, philosophischen oder eben literarästhetischen Visionen anzureichern. Wenn dies nicht bald geschehe, so Politycki, „dann wird er sehr bald überfüllt sein mit tolldreisten Urlaubsbekanntschaften vom Schlage eines Christian Kracht, die sich, begnadet durch eine noch spätere Geburt, um überhaupt nichts mehr scheren, am allerwenigsten um die Frage, was ein vollgeschwalltes Stück Papier von einem literarischen Text unterscheide“ (Politycki 1997: 6).
Wenn der Autor Politycki seinen Kollegen Kracht in dieser Weise mit dem Kardinalvorwurf der ästhetischen Inkompetenz belegt und zugleich signalisiert, dass es hier um das Herrschaftswissen um eine Differenz geht, nämlich um die zwischen Literatur und Nicht-Literatur, so kann man sich natürlich fragen, auf welche Weise es Kracht geschafft hat, Politycki eine solche narzisstische Kränkung zuzufügen. Doch das ist ein anderes Problem.
III. Stattdessen soll zunächst die Frage erörtert werden, ob sich aus dem für das Verständnis des Romans nicht sehr weit reichenden Motiv des Markenfetischismus und der These, dass aus diesem Motiv die Adressierung an eine Leserschaft mit spezifischer Generationserfahrung resultiert, ob sich also, ganz grundsätzlich formuliert, aus dem Verhältnis eines literarischen Sujets und der spezifischen Sozialisation seiner Rezipienten nicht einiges in Erfahrung bringen ließe, was in methodologischer Hinsicht für den Problemhorizont einer 20
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pädagogischen Lektüre von Relevanz ist. Denn die erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit literarischen Texten muss in der Tat eine Antwort auf die Frage finden, wie sie ihre szientistische Perspektive mit der ästhetischen Dimension der Literatur in Einklang bringen kann. Die Idee, Literatur als „l’expression de la société“ zu begreifen, basiert ja auf der Prämisse, dass sprachliche Äußerungen genau deshalb einen gesellschaftlichen Bezug haben müssen, weil sie aus gesellschaftlichen Kontexten heraus entstanden sind. Da ein der Gesellschaft wie auch immer vorgelagerter Raum der Sprache nicht existiert, ist Literatur also per definitionem ein gesellschaftliches Phänomen. Doch lässt sich diese Argumentation auch umkehren? Die Gesellschaft zu beobachten, um etwas über ihre Literatur zu lernen, ist eine Sache. Ist es aber methodisch gerechtfertigt, die Literatur zu beobachten, um etwas über gesellschaftliche – und im engeren Sinne pädagogische – Phänomene zu lernen? Dies wäre freilich nur dann möglich, wenn man in Rechnung stellt, dass der Modus des Literarischen selbst immer schon ein gesellschaftlicher ist, dass also das Ästhetische als Funktion der Gesellschaft zu denken wäre. Niklas Luhmann hat das bekanntlich so zu fassen gesucht. Nach seiner Überzeugung kann Kunst ihre spezifische Funktion nur als Vollzug von Gesellschaft freisetzen: Sie konfrontiert die Wirklichkeit mit einer Alternativversion und stellt auf diese Weise „Weltkontingenz“ (Luhmann 1986: 625) her. Ihr ureigenster Beitrag für die Gesellschaft liegt dabei nach Luhmanns Ansicht insbesondere darin, dass Kunst – und hier vor allem Literatur – eine Position bietet, „von der aus etwas anderes als Realität bestimmt werden kann“ (Luhmann 1998: 229). Sie stellt eine Form von Ordnung im Bereich des nur Möglichen dar, sie ist geformte Kontingenz (vgl. Luhmann 1990). Mit dieser systemtheoretischen Perspektive ist allerdings noch nicht viel für konkrete pädagogische Lektüren gewonnen, so dass sich – im Sinne einer methodologischen Selbstlegitimierung pädagogischer Lektüren – eher ein anderer Ansatz aufdrängt, der im Anschluss an Foucault operiert, nämlich die von Jürgen Link entworfene Interdiskurstheorie. Ausgangspunkt hier ist die Beobachtung, dass die funktional differenzierte bzw. die in Klassen und Schichten stratifizierte bürgerliche Gesellschaft in eine Vielzahl relativ autonomer Bereiche zerfällt, die durch spezifische Binnensprachen gekennzeichnet und damit auch hoffnungslos parzelliert sind. Solche Binnensprachen stellen – mit Foucault gesprochen – eigene diskursive Formationen dar (z.B. medizinischer, juristischer, ökonomischer, religiöser Diskurs usw.). Die zentrale Frage ist nun, auf welche Weise Kommunikation zwischen diesen Spezialdiskursen initiiert werden kann, die ja auch die Bedingung der Möglichkeit für die Herausbildung eines kulturellen Kollektivbewusstseins wäre. Hier kommt nun die Idee des Interdiskurses ins Spiel, die auf der Beobachtung basiert, dass sich in allen wissensgeteilten Bereichen, bis hin zu den eigentlichen Spezialdiskursen, eine Fülle von Diskursparzellen be21
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obachten lassen, „die mehreren Wissensbereichen und darüber hinaus dem sog. Alltagswissen (dem Elementardiskurs), gemeinsam sind“ (Link 2004: 72). Der Tendenz zur Wissensspezialisierung steht somit eine entdifferenzierende und partiell reintegrierende Tendenz der Wissensproduktion entgegen, die zu der paradoxen Konstitution einer Diskursart führt, „deren Spezialität sozusagen die Nicht-Spezialität ist“ (ebd.). Unter dem Interdiskurs sind eben jene Strukturen zu verstehen, die in funktional ausdifferenzierten, hoch spezialisierten Gesellschaften Interferenzen zwischen den Spezialdiskursen herausbilden. Wenn also Spezialdiskurse auf Eindeutigkeit zielen, indem sie versuchen Konnotationen einzuschränken und Denotation herrschend zu machen, so zielt der Interdiskurs genau umgekehrt auf Mehrdeutigkeit, indem Denotationen auf reiche Konnotationen hin erweitert und erst dadurch interferierende Brückenschläge und Querschnittsformen möglich werden (vgl. Link/Parr 1997: 124). Ein wichtiger Baustein solcher Wissenskomplexe mit spezialdiskursübergreifender Verwendbarkeit sind die „elementar-literarischen Formen“, also etwa: Exempel, symbolische Modelle, narrative Schemata und insbesondere Kollektivsymbole. Link versteht unter Kollektivsymbolik die Gesamtheit der so genannten ‚Bildlichkeit‘ einer Kultur, d.h. ihre am weitesten verbreiteten Allegorien und Embleme, Metaphern, Analogien, anschaulichen Modelle usw. Kollektivsymbole können ihre Abstammung in der Regel nicht verleugnen, sondern repräsentieren bzw. konnotieren einen bestimmten Spezialdiskurs als ihren Herkunftsbereich, so dass das Symbolsystem insgesamt wie ein marktförmig organisiertes Ensemble von Tauschhandlungen begriffen werden kann (vgl. Link 1988: 293). Literatur, so folgert Link, ist nun nichts anderes als die „gesellschaftlich institutionalisierte Verarbeitung des Interdiskurses“ (ebd.). Anders formuliert: Literatur entsteht erst durch interdiskursive Formationen und ist selbst einer ihrer zentralen Bestandteile. In der neuen deutschen Pop-Literatur lässt sich dieser interdiskursive Zug, der konstitutiv für jede Literatur ist, nun besonders deutlich nachweisen, weil hier in der Regel das Material der Gegenwart besonders authentisch verbaut wird. Auch Faserland basiert auf einer Form von Fiktion, die nachgerade davon lebt, die eigenen Grenzen zu unterlaufen, indem Faktualität in Szene gesetzt wird. Der Mehrwert dieses Genrecrossing liegt dann im Zugewinn an Kommunikationschancen, deren Grundlage, um eine Formulierung von Luhmann aufzugreifen, „in der gemeinsamen Artifizialität der Erfahrungen besteht“ (Luhmann 1996: 148). Mit anderen Worten: Die unentwirrbare Durchmischung von realer Realität und fiktionaler Realität (vgl. auch Baudrillard 1983) kann als Unterhaltung reflektiert werden. Noch einmal mit den Worten Luhmanns: „Es kann dann gerade zum Programmgesichtspunkt der Unterhaltungsindustrie werden, die (knappe) Aufmerksamkeit von Teilnehmern dadurch zu gewinnen und wachzuhalten, daß ihnen Rückschlüsse auf ihr eigenes
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Leben, man könnte sagen ‚Ja so ist es‘-Erlebnisse, angeboten werden.“ (Luhmann 1996: 149)
IV. John von Düffel hat in seinem lesenswerten Aufsatz Auslaufmodell Ich den schönen Satz geprägt: „Das Ideal unserer Zeit ist die Oberfläche, die nichts mehr verbirgt“ (von Düffel 2002: 94). Nun wäre es allerdings fatal, Krachts Faserland lediglich als eine Art bunte Benutzeroberfläche ohne jeden Tiefgang zu interpretieren. Genau dies geschieht jedoch in der Regel, und folgerichtig wird der Ich-Erzähler dann als „popmoderner Flaneur“ dargestellt, der sich, gefangen in seiner „solipsistischen Gehirnlandschaft“, schon „jenseits der Sprachkrise“ befinde, weil er sich auf die „inhaltsleere Diktion der Warenwelt“ zurückgezogen habe, die für die „glatt polierte Oberfläche der 90er Jahre“ so charakteristisch sei (Biendarra 2002: 168). Solche und ähnliche Charakterisierungen des Ich-Erzählers3 gehen der „glatt polierten Oberfläche“ eines markenorientierten Konsumhedonismus, auf die der Text reduziert wird, im wahrsten Sinne des Wortes auf den Leim. Denn warum, so muss doch wohl gefragt werden, agiert der Ich-Erzähler überhaupt in dieser Weise? Was ist die Motivation für seine Deutschlandreise, auf der er – sicher nicht ohne Grund – der ‚germanischen Sehnsuchtsroute‘ von Norden nach Süden folgt? Dass es sich hier um eine Art Bildungsreise handelt, liegt auf der Hand, allerdings hat sie den Charakter einer homerischen Odyssee und ihre Stationen heißen Sylt, Hamburg, Heidelberg, München und schließlich Zürich. Passieren tut aufreizend wenig; der Ich-Erzähler erweist sich als mehr oder minder kommunikationsunfähig, er spricht kaum selber und kann auch nicht zuhören: „Ob mit zugekifften Schönheiten auf Partys, mit sendungsbewussten Trendforschern im Zug oder mit reaktionären Fahrern im Taxi – er begibt sich immer nur bis zu den Zehenspitzen in die soziale Wirklichkeit.“ (Frank 2000: 83) Carsten Gansel ist daher der Auffassung, dass in Faserland das Modell des ‚soziologischen Diskurses‘ destruiert und durch einen ‚ethnologischen Diskurs‘ ersetzt werde, „in dem Äußerlichkeiten: der Selbstdarstellung, der Inszenierung, der Bricolage und Regelverletzung eine entscheidende Funktion zukommt“ (Gansel 2003: 238). Auch diese elaborierte Deutung bleibt freilich auf der Oberfläche, wird doch die entscheidende Frage weder gestellt noch beantwortet, was eigentlich durch diesen inszenierten Ästhetizismus kompensiert werden soll. Hinzu kommt, dass Krachts Ich-Erzähler durchaus eine politische Wahrnehmung hat. Der häufig gezogene Schluss von der ästhetizistischen auf eine apolitische Grundhaltung ist daher eher fraglich. 3
So beispielsweise als ‚Dandy‘ (vgl. Clarke 2005).
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Auffallend ist in Faserland insbesondere der ständige Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit, der in dieser Generation, also mindestens 50 Jahre nach Kriegsende, zunächst relativ unmotiviert scheint. Als der Erzähler beispielsweise in Heidelberg ankommt, wird die Stadt wie folgt geschildert: „Da ist nun Heidelberg, und es ist wirklich schön dort im Frühling. Dann sind die Bäume schon grün, während überall sonst in Deutschland noch alles häßlich und grau ist, und die Menschen sitzen in der Sonne an den Neckarauen. Das heißt tatsächlich so, das muß man sich erst mal vorstellen, nein, besser noch, man sagt das ganz laut: Neckarauen. Neckarauen. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort. So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären. Dann wäre Deutschland so wie das Wort Neckarauen.“ (Kracht 2004: 85)
Dies ist ohne Frage eine der zentralen Stellen für das Verständnis des Textes. Ganz offensichtlich erweist es sich für den Erzähler als unmöglich, den ästhetischen Wirklichkeitszugang symbolisch zu fassen. Er kann das in dem Begriff ‚Neckarauen‘ brennpunktartig verdichtete, emblematische Stimmungsbild nicht zu einem Nationalstereotyp erheben, was ja zugleich einen positiven identifikatorischen Rückbezug ermöglichen würde. Der symbolische Bezug wird zwar klar gesehen, doch er bleibt im Konjunktiv: „So könnte Deutschland sein“. Zeichentheoretisch gesprochen reicht der Bezug nur bis zur Bildebene (pictura) des Symbols, wohingegen die Erinnerung an die Vergangenheit es unmöglich macht, die Sinnebene (subscriptio) positiv zu kodieren. Das Symbol wird also im gleichen Moment ästhetisch konstruiert und epistemologisch negiert, so dass man es gebarrt, also durchgestrichen (Symbol) schreiben müsste. Jacques Lacan hat darauf hingewiesen, dass sich das Symbol zunächst als Mord an der Sache darstellt und dass erst dieser Tod der Sache im Subjekt die Verewigung seines Begehrens konstituiert (vgl. Lacan 1975: 166). Die Instanz, welche die Ordnung des Symbolischen garantiert, ist bei Lacan bekanntlich der große Andere bzw. die Funktion des Vaters, womit wir wieder bei meinen eingangs entworfenen Überlegungen angelangt sind. Lacan schreibt: „Im Namen des Vaters müssen wir die Grundlage der Symbolfunktion erkennen, die seit Anbruch der historischen Zeit seine Person mit der Figur des Gesetzes identifiziert.“ (Ebd. 119) Man hat oft bemängelt, dass den PopLiteraten jedwede politische Haltung in ihren Texten abhanden komme, weil sie die Wirklichkeit allein unter ästhetischen Gesichtspunkten interpretierten. Doch dieser ästhetische Zugriff ist das konsequente Resultat eines spezifischen medialen Zugriffs auf die Wirklichkeit. So betrachtet auch der IchErzähler in Faserland seine Umwelt wie eine Soap-Opera, weil für ihn keine 24
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Instanz existiert, die für die Wahrheit des Bildes garantieren könnte. Schon im 16. Jahrhundert hat der Jurist und Emblematiker Andreas Alciatus auf die Frage „Quid est pictura?“ mit der schlagenden Formel geantwortet: „Veritas falsa“. Das Bild ist eine gefälschte Wahrheit, ein ontologischer Trug. Und da schlichtweg kein epistemologisch verlässliches Unterscheidungskriterium zwischen der Wirklichkeit und ihren Bildern oder Abbildern existiert, gerät dem Ich-Erzähler in Faserland alles zum Bild und damit zu einer gefälschten Wahrheit. Es fehlt der große Andere, der Dritte, dessen Funktion darin besteht, über die Trennung zwischen den Bildern und Dingen ebenso zu wachen wie über die Trennung zwischen den Dingen und den Wörtern. Dies ist die Funktion des Vaters, der das Reale vom Symbolischen fernhält, der für die ‚Wahrheit‘ der symbolischen Ordnung garantiert. Der Lacan-Interpret Slavoj Zizek hat einmal behauptet, dass die radikalste Dimension der Theorie Lacans vielleicht gar nicht in der Tatsache liegt, dass das Subjekt gespalten und identisch mit einem Mangel in der Signifikantenkette ist; viel beunruhigender sei vielmehr die Realisierung, dass der große Andere, die symbolische Ordnung an sich, „genauso gebarrt ist, durchgestrichen von einer fundamentalen Unmöglichkeit, strukturiert um einen unmöglichen traumatischen Kern, um einen zentralen Mangel“ (iek 1989: 122). Um dem Abgrund, den diese Erkenntnis darstellt, zu entgehen, bedarf es einer Institution, die das Begehren, das dem Mangel entspringt, mit dem Gesetz verbindet. Eine solche Institution ist der Vater, der die ‚Wahrheit‘ der symbolischen Ordnung durch das Band der Filiation vermittelt. Doch ganz offensichtlich lässt sich der Gedanke der Filiation im Faserland nicht mehr adäquat vermitteln – und dies hat nicht nur etwas mit dem Verschwinden des realen Vaters zu tun, der als das Bindeglied zum mythischen Vater, zur absoluten Referenz fungiert. Wenn der Gefreite Lortie nach seinem Amoklauf in Québec zu Protokoll gibt: „Die Regierung von Québec hatte das Gesicht meines Vaters“, so offenbart dieser Satz, dass Lorties Parrizid als Angriff auf die Referenz schlechthin interpretiert werden muss. Ein solcher Angriff auf die Referenz muss aber nicht die Tat eines wahnsinnigen Einzelgängers bleiben, er kann, wie etwa im Nationalsozialismus, auch zum Staatsziel erhoben werden. Anders formuliert, eben weil der Mörder die lebenden Bilder der Referenz tötet, trifft die Wahrheit von Lorties genealogischem Verbrechen auch den Kern der NS-Apokalypse. Was gezeigt werden soll, ist folgendes: Der gestörte Wirklichkeitszugang des Ich-Erzählers ist das Ergebnis eines nicht vollzogenen, symbolischen Platztauschs. Der Platztausch konnte und kann nicht vollzogen werden, weil die filiative Ordnung, d.h. die institutionelle Interpretation der Frage nach dem Verhältnis von Vater und Sohn gravierend gestört ist. Diese Störung hat ihren historischen Grund in den Verbrechen des Nationalsozialismus, die das Amt des Vaters, d.h. die Referenz selbst angegriffen haben. Um also den irri25
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tierenden Bezug des Ich-Erzählers auf die nationalsozialistische Vergangenheit nachvollziehen zu können, um zu begreifen, dass sein Markenfetischismus nur ein Schild ist, das verzweifelt gegen eine große Leere gehalten wird, muss zunächst begriffen werden, warum das wissenschaftliche Programm der Judenvernichtung nicht bloß ein ins Riesenhafte gesteigertes Progrom war, sondern die Entgleisung des gesamten europäischen Systems der tragenden Referenzen (vgl. ebd.). Denn die Judenvernichtung stellt als Genozid nicht nur den Zivilisationsbruch schlechthin dar, sondern ist zugleich die versuchte Zerstörung des kulturell über Jahrhunderte hinweg tradierten Konstrukts der Filiation. Die Auswirkungen dieser Zerstörungen sind der Gegenwartskultur gleichsam subkutan immanent, und es gehört zu den Leistungen von Literatur als Interdiskurs, solche Verschiebungen erkennbar zu halten. Um nachzuvollziehen, was Legendre als die Heraufkunft einer „Fleischerkonzeption der Filiation“ (Legendre 1998: 19ff.) bezeichnet hat, ist ein kurzer Exkurs in die Rechts- und Kulturgeschichte unumgänglich. Dieser Exkurs darf allerdings nicht nur als Aufriss eines Kontextes für den Roman Faserland verstanden werden, sondern soll zugleich einen wichtigen aber bislang weitestgehend unberücksichtigten Metakontext zeitgenössischer Literatur und Kultur insgesamt sichtbar machen.
V. Im Kern geht es um die Frage, auf welche Weise das normative Grundgerüst einer Kultur zu errichten sei, wie also das, was unbedingt geglaubt werden muss, legitimiert wird. Legendre situiert den Ursprung dieser Frage für unsere okzidentale Kultur im Mittelalter und hier im Spannungsfeld zwischen jüdischer und christlicher Tradition. Zwei Interpretationen, wie definitiv zu glauben sei, stehen sich hier gegenüber: Auf der einen Seite der römischchristliche Zugang zum Gesetz, dessen Wahrheitsanspruch auf einer fleischgewordenen Macht gegründet ist, also dem Papst oder dem Kaiser; auf der anderen Seite der jüdische Zugang zum Gesetz, dessen Wahrheit durch die Vermittlung der Interpreten des Textes immer wieder neu ausgehandelt werden muss (vgl. Legendre 1989). Geht es in der römisch-christlichen und d.h. dann eben: in der scholastischen Tradition um die ratio des Textes, seinen Referenzwert auf jenen „fleischgewordenen Garanten der Wahrheit“, so interpretieren die Juden als Sklaven der Buchstaben den Text bis zur Kastration (ebd. 32f.). Es ist klar, dass sich diese beiden Zugänge wechselseitig ausschließen.4 Legendre zeigt in
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Da in der lebenden Stimme des Rechts die Wahrheit bereits spricht, also (als Offenbarung) anwesend und so auch in der Macht der Legalität inkarniert und in-
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seiner Untersuchung zur Novelle 146 aus dem Corpus Iuris Civilis sehr deutlich, auf welche Weise nun die christliche Position als eine sich auktorial inszenierende Macht sich des Judensignifikanten bemächtigt: Die Juden „verkörpern das Von-Sinnen-Sein, sie steuern, von ihrem spezifischen Platz innerhalb des römisch-christlichen Legalismus – und das heißt eben: als Verrückte – das ihre zum Glanz der imperialen und theokratischen Wahrheit bei“ (Legendre 1989: 29). Nach Auffassung der christlich-römischen Interpreten kehren die Juden der ‚vernünftigen‘, durch eine leibhaftige Autorität legitimierte und garantierte Auslegungspraxis genau deshalb den Rücken, weil sie das betreiben, was die Kirchenväter eine leibliche Schriftauslegung genannt haben. Sie behaupten, die Kinder Abrahams zu sein, was sie dem Fleisch nach auch sind. Doch die Juden sind aufgrund ihrer Unempfänglichkeit gegenüber dem Wort Christi, wie es im Johannesevangelium (8,44) heißt, Söhne des Teufels. Sie sind es im Horizont eines elaboriertem Antisemitismus christlicher Prägung, „weil ihre Genealogie eine von der Wahrheit des Textes her als solche erkennbar falsche Genealogie, das heißt ein Betrug ist. Die Juden sind falsch, juristisch falsch wie gefälschte Schriftstücke; sie sind die falschen Nachkommen Abrahams, sie haben den Text falsch verstanden“ (ebd. 24). Was hier zur Debatte steht, lässt sich in einer einzigen Frage zusammenfassen: „Ist die Wahrheit in der menschlichen Spezies eine Sache des Fleisches? Oder anders: Liegt die Wahrheit der Filiation auf seiten des Körpers?“ (Legendre 1998: 20) Im Horizont der jüdischen Interpretation lautet die Antwort ‚Ja‘. Die Bemächtigung des Judensignifikanten durch das institutionelle Christentum bedeutet also nicht weniger, als eine Entleiblichung des Zugangs zur Filiation. Nicht das mehrstimmige Gemurmel der vielen Körper der Ahnenreihe soll für die Wahrheit garantieren, sondern die in einem menschlichen Leib inkarnierte Macht, die qua göttlicher Offenbarung das unfehlbare Wort spricht. Warum – so könnte man fragen – sind diese Überlegungen notwendig?5 Sie sind es, weil durch sie erst das nachvollziehbar wird, was man als die institutionelle Dimension der Shoah bezeichnen kann. „Die Judenvernichtung zielt darauf ab, die europäische Referenz schlechthin zu töten, jene Referenz, von der die verschiedenen Exegesen der Bindung im Okzident ausgingen. Sie zielt auf die Vernichtung der Konstruktion der Filiation, und zwar in ihrer jüdischen Version.“ (Ebd. 22f.)
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stituiert ist, können die Juden als jene, die die offene Frage stellen: Was ist ein Text? oder Was heißt sprechen?, nur als verrückte »Sklaven des Buchstabens«, von der Legalität in das Rechtssystem eingefügt bzw. aus ihm ausgeschlossen werden (vgl. Tholen 1997). In der Tat ist es ein Sprung vom Körper als dem Zugangsweg zur Interpretation (die Beschneidung) hin zum Körper als Argument für die Ausschaltung des Interpreten (rassischer Biologismus), wie Legendre richtig bemerkt (vgl. Legendre 1998: 22).
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Genau deshalb kann Legendre die plakative Formel aufstellen: „Indem sie die Juden schlugen, schlugen die Nazi-Schergen ihre eigenen Eltern.“ (Legendre 2001: 26) Dieses Unterfangen hatte Erfolg, weil die Nationalsozialisten das Prinzip der Gründungsrede durch das technische Vokabular der Naturwissenschaften (rassischer Biologismus) entmetaphorisierten und damit außer Kraft setzten. Die Shoah ist im wahrsten Sinne des Wortes ein „EntGründungsakt“ (ebd.). Dadurch wird das, was unbedingt geglaubt werden muss, nicht länger durch Interpretation eingerichtet, sondern der Wahrheitswert wird in brutaler Körperlichkeit aufgelöst, in der Körperlichkeit von wissenschaftlich beobachtbarem Fleisch. „Innerhalb dieses unvermittelten Denk-Handelns ist das menschliche Opfer, das in jeder genealogischen Ordnung notwendig zu leisten ist, nicht mehr vorstellbar als eine im Namen des Gesetzes auferlegte Bindung, wie sie in der rituellen Szene zwischen Isaak und Abraham zum Ausdruck kommt [...]. Die Opferung verwandelt sich vielmehr in eine technische Geste, die der neuen wissenschaftlichen Vernunft entspricht, Vernunft, die sich dabei freilich in Unvernunft verkehrt.“ (Legendre 1998: 24)
Die durch den Nationalsozialismus „auf ungeschlachte Weise“ entwickelten Praktiken der Verleugnung des Filiationsprinzips, der Entmetaphorisierung des Bezugs zum Vater, haben mit dem Untergang des 3. Reiches leider nicht ihr verdientes Ende gefunden, sondern werden stillschweigend weiter getrieben. Sie leben fort – beispielsweise in den Dogmen des Managements, in den Prinzipien der Effizienzsteigerung, im naturwissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus, im Credo des Neoliberalismus und eben auch im Glücksversprechen einer kapitalistisch verwalteten Warenwelt.
VI. „Ab einem gewissen Alter“, so räsoniert der Ich-Erzähler in Faserland, „sehen alle Deutschen aus wie komplette Nazis.“ (Kracht 2004: 93) Dies sei insofern erstaunlich, als dass diese Deutschen fünfzig Jahre früher, als sie blonde und schöne Menschen waren, eben überhaupt nicht ausgesehen hätten wie Nazis. „Dabei sieht man es ihm im Gesicht an“, überlegt der Ich-Erzähler mit Blick auf einen älteren Taxifahrer weiter, „daß er einmal KZ-Aufseher gewesen ist oder so ein Frontschwein, der die Kameraden vors Kriegsgericht gebracht hat, wenn sie abends über den blöden Hitler Witze gemacht haben, oder daß er irgendein Beamter war, in einer hölzernen Schreibstube in Mährisch-Ostrau, der durch seine Unterschrift an einem Frühjahrsmorgen siebzehn Partisanen, ihre Frauen und Kinder liquidieren ließ“ (ebd. 94).
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Was ist das für eine Wirklichkeit, wo der Anblick eines älteren Taxifahrers solche Assoziationsketten freisetzt? Welche Metaphorik, welche Embleme machen es hier noch möglich, den Abgrund zu bewohnen? Faserland zeigt, dass die Fabrikation der Söhne des einen wie des anderen Geschlechts zerbrechlich ist – in den Worten Pierre Legendres: Es genügt nicht, Menschenfleisch herzustellen. „Der Mensch braucht einen Grund zu leben.“ (Legendre 1999: 13) Eben dieser Grund aber ist dem Ich-Erzähler verbaut – ebenso wie seinem Freund Rollo, der Selbstmord begeht. Der Markenfetischismus bietet nur einen notdürftigen Halt; er kann jedoch die zerstörte Mythologie der durch die Nazi-Katastrophe entgründeten Gründungsrede nicht ersetzen. So entpuppt sich am Ende des Romans die Deutschlandreise als eine Deutschlandflucht. In der Schweiz angekommen wandelt sich der Erzählstil grundlegend. „Ich denke daran, daß die Schweiz so ein großes Nivellier-Land ist, ein Teil Deutschlands, in dem alles nicht so schlimm ist.“ (Kracht 2004: 151) Was den Erzähler so beharrlich von Stadt zu Stadt, von Party zu Party, von einer desillusionierenden Wirklichkeitserfahrung zur nächsten treibt, ist die Sehnsucht nach einer Ordnung jenseits der symbolischen Ordnung Deutschlands – einer Ordnung, wie sie beispielsweise die Literatur bietet. Nicht umsonst finden wir den Erzähler am Ende des Romans auf dem Friedhof in Kilchberg bei Zürich, wo er im Schein verglimmender Streichhölzer das Grab des literarischen Übervaters Thomas Mann sucht – vergeblich. Die genealogischen Plätze sind verloren, das filiative Band zerrissen, der Platz des Vaters ist leer. Auf den letzten Seiten träumt der Erzähler von einer Idealfamilie, die er mit seiner Traumfrau Isabella Rossellini gründen möchte – einer Familie, in der er seinen Platz erfolgreich getauscht hätte und nun, im Amt des Vaters, eben das tut, wofür es bestimmt ist: das Gesetz sagen. „Jetzt, wenn der Sommer kommt, würden die Bienen summen, und dann würde ich mit den Kindern Ausflüge machen bis an die Baumgrenze, durch die dunklen Wälder streifen, und wir würden uns Ameisenhaufen ansehen, und ich könnte so tun, als würde ich alles wissen. Ich könnte ihnen alles erklären, und die Kinder könnten niemanden fragen, ob es denn wirklich so sei, weil sonst niemand da oben wäre. Ich hätte immer recht. Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr. Dann hätte es auch einen Sinn gehabt, sich alles zu merken.“ (Ebd. 152)
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»Hier ist mein Sound«. Die nicht enden wollende Jugend in Thomas Meineckes Romanen Tomboy, Hellblau und Musik
OLAF SANDERS
Roger zum Einundvierzigsten
Dieser Text beginnt mit einem kleinen Experiment, das keines wäre, wenn es nicht schiefgehen könnte. Sein Anfang birgt das Risiko, dass ich mich überhebe oder mir etwas anmaße. Seine Grundlagen sind insgesamt popkulturtheoretisch oder bildungsphilosophisch. Vom Vorgebirgshang aus erkennt man Kölns dunstig orange-braune Kuppel deutlich. Auch am 14. Juni 2007, als ich die Email mit dem Call for Papers für die Arbeitstagung erhielt, auf der ich vortrug, was diesem Beitrag zu Grunde liegt, versank Köln im Sommer-Smog. Meine erste Intention war: Klar, du schreibst über Fichtes Palette. Die Palette, Hubert Fichtes Roman über das unweit des Hamburger Gänsemarktes – genauer: in der ABC-Straße – gelegene Kellerlokal, in dem auch der spätere Filmemacher Harun Farocki verkehrte, dessen dem Finale der letzten Fussball-WM gewidmete Installation Deep Play direkt hinter dem verspiegelten Eingangsbereich des Fridericianums auf der Documenta 12 zu sehen war, gilt als Gründungsdokument der Pop-Literatur, die bei Erscheinen, 1968, noch Beat-Literatur hieß. Prominenter platziert als Farockis Medieninstallation war auf der Dokumenta nur noch die im Bogen der neuen Treppe hängende Kopie von Klees Angelus novus. Auf dieses Bild bezieht sich Benjamin in Über den Begriff der Geschichte (1991: IX). Während meines letzten Hamburg-Aufenthalts besuchte ich eine 33
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andere Ausstellung: Die Kunsthalle zeigte im Ungers-Bau den Maler Daniel Richter. Titel der Ausstellung: Die Palette. Der Schutzumschlag des Ausstellungskatalogs zitiert, immitiert oder vergrößert den Einband der Erstausgabe von Fichtes Roman. Wie schäbig sieht im Vergleich dazu das Cover der aktuellen Taschenbuch-Ausgabe aus? Ist das ein Indiz für den Verfall der einst an die Popkultur geknüpften Hoffnungen? Stuart Hall vermutete noch, dass die populäre Kultur einer der Orte sein könne, an dem der Sozialismus begründet werde. Richter, der in Hamburg lebt und zeitweise der autonomen Szene nah stand, arbeitet sehr erfolgreich, an der Grenze von informeller und figurativer Malerei. Viele seiner Bilder haben einen Hamburg-Bezug – man denke nur an die stadtbekannte Horten-Fassade –, mehr von seinen Bildern noch einen zur Revolution: ein kleiner Lenin am unteren Bildrand, eine Barrikade oder die Rückenansicht der Lederjacke eines Punks. Viele kennen das Bild mit der Lederjacke – es heißt Lonely Old Slogan (2006) – vom Cover des Albums Lenin von Die Goldenen Zitronen. Nieten, d.h. weiße Tupfer, verbinden sich zu FUCK THE POLICE. Ich besuchte die Ausstellung gemeinsam mit meinem Freund Roger (Behrens), der lange zu Benjamin arbeitete und dessen Texte zur Kritischen Theorie der Popkultur unter dem Titel Die Diktatur der Angepassten (2003) bei transcript in Bielefeld erschienen sind. Der Titel zitiert ohne Anführungszeichen einen Songtitel von Blumfeld. Besagtes Lied findet man auf Testament der Angst (2001), Blumfelds vierter, auch wieder umstrittener Platte. Die erste, noch gänzlich unumstritten, heißt Ich-Maschine (1996). Jochen Distelmeyer, Kopf und Gitarrist der Band, stammt auch aus Bielefeld. Roger und ich hatten gemeinsam mit ihrem ersten Bassisten (Eike Bohlken) Philosophie studiert. Als ich noch in Hamburg lebte, wohnte Jochen Distelmeyer in der Nähe von Rocko Schamoni, nur einmal um die Ecke von Westwerk und Admiralitätsstraße. Zumindest nahm ich das an, weil er im Sommer öfter vor dem Ecklokal Marinehof aß und dann in dem der Speisegaststätte nächstgelegenen Hauseingang verschwand. Rocko Schamoni beschreibt in Risiko des Ruhms (2000: 140) die Diskussionen in der Gründungsphase der Hamburger Schule und in diesem Zusammenhang Distelmeyer: “Jochen saß oft schweigend daneben und dachte nach. Er war ein bisschen unser Sonderling, professoral zerstreut und gleichzeitig sehr überlegt, verbrauchte er seine meiste Energie zum Reflektieren, während er als einziger von uns immer einen Likör vor sich stehen hatte.“ Schamoni betreibt gemeinsam mit Schorsch Kamerun von der bereits genannten und ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern der Hamburger Schule zählenden Punkband Die Goldenen Zitronen den Golden Pudel Club am St. Pauli Fischmarkt. Ich wohnte auch in der Neustadt, einen Nachbarstadtteil von St. Pauli, im Rücken von Bismarck, südlich der Ost-West-Straße, die heute anders heißt, etwa in der Mitte zwischen Schamoni und Kamerun, der noch näher bei den Portugiesen und am Hafen wohnte, machte keine Musik, fühlte aber eine Nähe zur Kriti34
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schen Theorie und somit, wenn auch vermittelter, zur Hamburger Schule. Schließlich sollte der von Thomas Gross, seinerzeit taz-Redakteur, später bei Die Zeit zuständig für Pop, geprägte Terminus auf die Frankfurter Schule verweisen, weil die Hamburger Schule eine auf bisher unerhörte Weise gesellschaftskritische Musik machte. Im Jahr 2000 inszenierte Kamerun Fichtes Palette am Deutschen Schauspielhaus. Schon Fichte hatte aus einer Vorfassung seines Romans auf einer Bühne gelesen, allerdings der des Star-Clubs auf der Großen Freiheit, wo nicht nur die Beatles, sondern auch Jimi Hendrix oder Cream auftraten, und dies auch zum Gegenstand in Die Palette (2005: 332) gemacht: „Ich möchte auch mal die fünf Beatles sein. – Hier ist mein Sound.“ Diedrich Diederichsen, der Fichte als „großen Hamburger Heimatschriftsteller“ auszeichnete, erklärte, dass der Star-Club ein stärkeres kulturelles Vehikel gewesen sei als die Palette, „in der doch sehr viel Eigenbrödlertum und unklare Exzentrik vorherrsch[t]en.“ (Diederichsen in Bandel u.a. 2005: 178) Der Weg nach 1968 sei von dort aus sehr verschlungen gewesen. Dietmar Dath, wie Diederichsen lange Teil der SPEX-Redaktion, trägt einen Text bei zum Katalog der Richter-Ausstellung. Bei SPEX arbeitetete auch der DJ Hans Nieswandt eine Weile. Zog Diederichsen wie Nieswandt von Hamburg direkt nach Köln? Sollten solche Umzüge etwas bedeuten? Sollte ich nach meinem Umzug ins Kölner Umland lieber über Rolf-Dieter Brinkmann schreiben? Brinkmann studierte in Köln Pädagogik, hat also vielleicht in einigen Seminarräumen gesessen, in denen ich heute junge Leute unterrichte, die zumeist weder seinen Namen kennen noch seine Texte lesen können. Im Mai 2005 erschien Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr neu. Dreißig Jahre zuvor war Brinkmann während eines Aufenthalts in London überfahren worden. Er hinterließ eine Frau, ein behindertes Kind und viel unveröffentlichtes Material. Es war ein langes Brinkmann-Jahr. Im Januar 2007 lief endlich Harald Bergmanns sehenswerter Film Brinkmanns Zorn (D 2006) an. Das Besondere an diesem Films ist, dass ihm von Brinkmann selbst aufgenommene Tondukumente zu Grunde liegen, zu denen der Schauspieler Eckhard Rohde stumm agiert. Ebenfalls im Januar 2007 gab Blumfeld bekannt, dass Distelmeyer in Absprache mit den anderen Mitgliedern beschlossen habe, die Band aufzulösen. Das Lied hat womöglich keine Zukunft mehr oder eine andere. Ihr letztes Konzert gaben sie im Mai in Hamburg. Ich entschied im Herbst, mich nicht an meiner Vorvergangenheit abarbeiten, sondern an den letzten drei Romanen Thomas Meineckes: Tomboy (1998), Hellblau (2001), Musik (2004). Nieswandt äußert sich im Werbeanhang der Taschenbuchausgaben lobend über eine ältere Erzählung Meineckes. Jochen, der Kulturwissenschaftler Jochen Bonz, schätzt Meineckes Bücher auch sehr und hat gemeinsam mit ihm publiziert. Für den Literaturwissenschafter Eckhard Schumacher, der auf dem Gebiet der Pop-Literatur als ausgewiesen gilt, scheinen Fichte, Brinkmann, Götz und Meinecke die Fab Four der deutschen Pop-Literatur zu sein. Weil 35
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ich Rave von Rainald Götz nicht mag und dachte, dass ich auf der Tagung etwas zu Pop beitragen müsse, blieb also nur der gebürtige Hamburger Thomas Meinecke, den länger zu zitieren ich mir nach dieser Einführung sparen kann, weil seine Texte ähnlich funktionieren, unabhängig von ihrer sicher höheren literarischen Qualität. Sein jüngster Band mit Erzählungen trägt den Titel Feldforschung. Meinecke betreibt sie, erzählend. Er inszeniert lokale und historische Kontexte, zu denen man Zugang haben muss. Dass meine Studierenden selbst Tomboy, den zugänglichsten der von mir ausgewählten Romane, nicht verstehen, ist insofern nicht verwunderlich. Ihnen fehlt es an Kontextwissen. Worum geht es in Meineckes Romanen? Handelt es sich überhaupt um Romane? Vielleicht sogar um Bildungsromane? Nachdem ich die Handlungen skizziert habe, werde ich drei Spuren weiter verfolgen. Die erste hängt zusammen mit einer These, die Siegfried Kracauer in Theorie des Films (1996: 307) formuliert: „Wie der Film, so strebt auch der Roman danach, Leben in seiner Fülle darzustellen“. Meinecke arbeitet – so meine These – filmisch, indem er Kristallbilder produziert, eine Mannigfaltigkeit sich immer weiter differenzierender Fülle. Der Begriff „Kristallbild“, der sich auch auf Tonbilder beziehen lässt, stammt aus Deleuzes Kino-Büchern (vgl. Deleuze 1997a und v.a. b). Meineckes Nähe zum Tonbild ist offenhörbar. Es geht ihm wie Fichte um Sound. In Musik (Meinecke 2007: 253 f.) bezieht er sich auf die Einleitung von Differenz und Wiederholung und auf Deleuze/Guattaris Tausend Plateaus, französisch Mille Plateaux, samt Verweis auf das gleichnamige Frankfurter Label für elektronische Musik, auf dem auch der Remix erschienen ist von einem Stück der Band Heldon, in dem Deleuze Nietzsche rezitiert. Die erste Spur führt zu einer zweiten. Die dazugehörige These lautet, Meinecke arbeite mit Plateaus, nicht mit Spannungsbögen. Seine Arbeitsweise ist dem Track näher als dem Lied oder Song. Seine Bücher gehören und passen zur DJ- oder Club-Kultur. Sie remixen Samples, die teilweise in allen drei Büchern verwendet werden. In Hellblau bezieht er sich des öfteren auf Kodwo Eshuns Sonic Fiction (vgl. Meinecke 2003: 145; vgl. Eshun 1999). Die dritte Spur ist schließlich die womöglich weitreichendste: Sie nimmt Vivian Atkinsons Ankündigung, „eine noch nie dagewesene Geschichte der Gegenwart entwerfen zu wollen“ (Meinecke 2000: 103) beim Wort. Vivian ist die Hauptfigur in Tomboy und wird als einer beschrieben, also als eine besonders männliche Frau. Von der Ankündigung erfahren wir aus einem Fax von Hans Mühlenkamm, einem Sissy-Boy, das ist ein sehr weiblicher Mann, der als Arzthelfer arbeitet. Allein das Fax, das aus den nächsten Romanen verschwinden wird wie aus unseren Privatleben, verdrängt durch Email, erinnert an die Zeitgebundenheit der Texte. Meine dritte Spur beginnt bei Überlegungen Günther Oesterles (1997: 12), der Zeitalter auch danach unterscheidet, ob der „ehrwürdige Greis“, der „tatkräftig erfahrene Erwachsene“ oder eben der 36
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„Jüngling“ als Leitfigur fungiert. Im Hinblick auf die Romantik, in der Jugendliche oder junge Erwachsene zu Leitfiguren wurden, formuliert Oesterle: „Jugend ist fortan nicht nur eine Übergangszeit von einem unvollkommenen zu einem vollkommenen Erwachsenenstatus. Sie ist nun der sozial lizensierte Zeitraum der Entfaltung von Subjektivität, ihrer Krisen und Risiken. Der Veränderungsbeschleunigung der Moderne kommt Jugend entgegen, nachdem sie mit Innovation assoziiert wird. Im Zuge der Modernisierung und ihrer Futurisierung der Zeiten wird Jugend immer entschiedener mit Zukunft identifiziert. Was um 1770 nur einer kleinen Schicht vorbehalten blieb, wird nach 1800 allgemein.“ (Ebd.) Die gegenwärtige Beschleunigung der Veränderungsbeschleunigung führt nun dazu, dass die Jugendphase nicht mehr endet. Das mag bisher noch einer kleinen Schicht vorbehalten sein, ist aber in der Kontrollgesellschaft, in der man bekanntlich „nie mit irgendetwas fertig wird“ (Deleuze 1993: 257), längst dabei, allgemein zu werden. Die Verheißung „ewiger Jugend“ unterliegt natürlich der menschlichen Endlichkeit; und nicht nur aus diesem Grund trägt sie auch Züge eines Fluchs. Fertig wird in den drei Romanen Meineckes ebenfalls immer weniger; und es wird immer weniger gehandelt. In Tomboy entsteht eine Magister-Arbeit. Vivian Atkinson, geboren 1973, berichtet auf den ersten Seiten, dass sie im letzten Herbst von ihrem Professor, der „bleiche[n] Lehrkraft“, „grünes Licht“ bekommen habe, „den misogynen Repliken Otto Weiningers einige intelligente, eben ganz und gar nicht nach billigen Antworten heischende Fragen zu-, womöglich auch überzuordnen.“ (Meinecke 2000: 10) Gegen Ende heißt es: „Die Magisterarbeit auf der Rokoko-Platte so gut wie fertig geschrieben.“ (Ebd. 248) Der folgende Absatz, Meinecke verwendet nur Doppelabsätze – wie Schwarzblenden in Jarmuschs Stranger Than Paradise (USA 1984) –, beginnt mit einem Datum: „Montag, 22. Dezember 1997. Altenstadt bei Schongau, Franz-Josef-StraußKaserne: Jüdische Frauen mit Sex-Szenen verhöhnt. Großer Aufmacher in der Bild-Zeitung; Vivien Atkinson hatte sich noch nie eine gekauft.“ (Ebd. 249) Die Rokoko-Platte ruht auf gestapelten 12-Inch-Platten, wie sie DJs häufig verwenden. Dieser Tisch steht in einer Wohnung in einem ehemaligen Tabakspeicher, die ihr Vater finanziert. Ihr Vater ist Angehöriger der US Army und nach der durch ihn mitbetriebenen Abwicklung eines großen Teiles ihres europäischen Arms nach Washington D.C. zurück gekehrt; ihre Mutter stammt aus Hanau und war schon ein Jahr eher, kurz nach der Wiedervereinigung, mit „einem blutjungen, sehr deutschen Siemens-Ingenieur nach Atlanta, Geogia“ (ebd. 16) durchgebrannt. Aufgewachsen ist Vivian im Patrick Henry Village im Heidelberger Stadtteil Kirchheim, an der örtlichen Ruprecht-Karls-Universität studiert sie auch. Vivian hat eine Reihe von Freundinnen, Frauke Stöver, Doktorandin, norddeutsch, platinblond und lesbisch, Corinna Krohn, Kommilitonin, Karlsruher Richterstochter, Tennisspielerin, Martina Navratilova-Fan 37
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und bisexuell sowie das schon eingeführte Hänschen, irgendwie auch lesbisch und – wie alle – sehr interessiert an Vivian, die nicht aus der „Zwangsheterosexuelität“ (Butler 1991: 9) ausbricht oder auch nur ernsthaft gegen sie revoltiert. Die Freundinnen arbeiten alle zu Gender. Sie hören oft und in verschiedenen Konstellationen Musik oder leihen sich Platten von Riot-Girlbands wie Bikini Kill oder Sleater Kinney. Sie gehen auch zusammen Tanzen, z.B. ins Mannheimer HD 800. Später kommt noch Angela Guida dazu, Italienerin, katholisch und transsexuell, Freund von Frauke, die schon mit allen Sex hatte, außer mit Vivian. „Lacans Penis als Objekt des weiblichen Fetischismus?“ (Meinecke 2000: 151f.), liest man im Hinblick auf Angela bei Meinecke. Mitbewohnerinnen und Nachbarn erweitern das Figuren-Ensemble. Das Territorium des Romans wird im Wesentlichen begrenzt durch die Rundstrecke der OEG, der Überland-Straßenbahn der Oberrheinischen Eisenbahn-Gesellschaft, die Heidelberg, Mannheim und Weinheim verbindet. Der Blick reicht bisweilen bis nach Ludwigshafen, zu BASF, der Badischen Anilin- & SodaFabrik AG. Ein gemeinsamer Ausflug führt die Freundinnen nach München zu einem Vortrag Judith Butlers; und später verschlägt es Corinna Kron tief in den Odenwald, wo Vivien die Schwangere zweimal besucht. Nicht weniger wichtig als die Handlung sind die Gender und Queer Studies und deren Vorläuferin, die Sexualwissenschaft. Sie treten als sujet auf, als Subjekt und Gegenstand. In Hellblau bestimmen die Postcolonial Studies den Ton, Black Atlantik. „Paul Gilroy spricht von einer Poetik der Schwarzen Atlantischen Welt.“ (Meinecke 2003: 14) Die vier Hauptfiguren verteilen sich dann auch um die Nordhälfte dieses Ozeans. Der Anteil englischsprachiger Passagen steigt. Sie überlagern Gender und Queer Studies, die weiterhin bedeutsam bleiben. Sollte die Leserin oder der Leser in Verlegenheit geraten, entscheiden zu müssen, wer die Hauptfigur ist, dann fiele die Wahl wahrscheinlich auf Tillmann, den Ich-Erzähler der ersten Absätze. Es haben allerdings nicht alle Absätze einen Ich-Erzähler, bisweilen und ausgiebiger als in Tomboy spricht Theorie selbst, meist – wie von Benjamin im Passagen-Werk vorgeschlagen – ohne Anführungszeichen. Tillmann bewohnt ein Strandhaus auf Ocracoke Island vor North Carolina, wo er an einem Buch über die Zusammenhänge schwarzer Musik, insbesondere des Jazz und des Detroit Techno, der Blackness, schwarzer Lebensweisen in den USA, aber auch des jüdischen Lebens in der Diaspora, white negros, die Einflüsse jüdischer Musiker und von Musikerinnen auf den Jazz und die Dancefloorkultur, des Untergrund als Subkultur, aber auch als submarine Kultur im Techno, besonders in Abspaltungen von Underground Resistance, wie im deutschen U-Boot-Krieg schreibt. Tillmann beginnt auf Ocracoke eine Beziehung mit einer Studentin aus Durham, namens Vermilion. Sein Buch schreibt er gemeinsam mit Yolanda, die schon in Detroit war, in einer Bibliothek in Chicago arbeitet und die Geschichte von Chi38
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cagos musikgeschichtlich bedeutsamer South Side, vor allem den RobertTaylor-Homes, verfolgt. Yolanda hat ihre erste Liebesnacht außerhalb der Housing, einem Wohnviertel für US-Armee-Angehörige im Bitburger Elternhaus von Heinrich verbracht. Heinrich lebt inzwischen mit Cordula in Berlin, und Cordula kommt später zum Tauchen nach Ocracoke. Cordula war vorher mit Tillmann zusammen, in Mannheim, in seinem Jugendzimmer. Tillmann, den Vermilion auch Venus nennt, wird wiederum als Sissy-Boy beschrieben, wohingegen Heinrich anti-deutsch ist, aber ein Kerl zu sein scheint. Es gibt Wiederholungen und Anschlüsse. Tillmann flieht immer mal wieder vor herannahenden Wirbelstürmen aufs Festland. Cordula sitzt im letzten Absatz im ICE von Berlin nach Hamburg, um dort Interviews zum 15. Todestag Hubert Fichtes zu machen. Vor ihr liegt die aktuelle Ausgabe der De:bug, einer Monatszeitung für elektronische Musik und Kultur. Man erfährt, es sei Heilige Drei Könige, also der 6. Januar. Wer Fichtes Todesjahr im Kopf hat oder nachschlägt, kann das Datum vervollständigen: 6. Januar 2001. Auf Fichtes Grabstein, auf dem Nienstedtener Friedhof, ist ein Empedokles-Zitat zu lesen, das in Cordulas Lieblingsübersetzung wie folgt lautet: „Einst bin ich ein Knabe, ich bin auch ein Mädchen gewesen, Busch und Vogel und Fisch, der warm aus den Wassern emporschnellt.“ (Ebd. 336) Dieses Zitat könnte Hellblau auch als Motto dienen. Hellblau heißt hellblau, wegen der Badeanzüge von Vermilion und Cordula. Um helle Farben geht es von Anfang an, z.B. bei der Frage nach der Hautfarbe von Mariah Carey, schwarz. Die Föderung des gemeinsamen Buchprojektes von Tillmann und Yolanda läuft irgendwann aus. Tillmann lebt fortan vom Geld von Vermilions Eltern. In Musik schließlich schreiben die Geschwister Kandis, Schriftstellerin, und Karol, Flugbegleiter – es gibt ja nicht nur eine Franz-Josef StraußKaserne, sondern auch einen so benannten Flughafen – an ihren je eigenen Büchern, sie an einem Roman, er an einem Sachbuch. Das Genderthema bleibt. Kandis ist zwei Jahre älter als Karol, und weil sie in der Kindheit beide kurze Haare hatten, wurden sie oft „für Schwestern gehalten“ (Meinecke 2007: 65). Als Karol nicht mehr Kandis’ Kleidung habe auftragen müssen, weil er über sie hinausgewachsen war „und endlich losgehen durfte, sich auf eigene Faust das erste wirkliche Paar eigene Jeans seines Lebens zu kaufen“ (ebd. 157), kam er „mit rosa Kord-Jeans nach Hause“. Inzwischen sorgt Karol für Vorräte und die Miete der gemeinsamen Münchner Wohnung, indem er sich mit verschiedenen „Umläufen“ bei Lufthansa um die Welt arbeitet, in einer Welt, die abgesehen von Felix, schwul, aus Flugbegleiterinnen besteht. Eine von ihnen, Kristina aus Oslo, ist seine Freundin. Kandis’ Freund Tom lebt in London. Das Modethema, das auch in Tomboy schon virulent war, wird nun auf Hochglanz-Niveau gehoben: Haut Couture statt Clubwear. Claudia Schiffer ist eine Protagonistin in Kandis’ aktuellem Roman. „Can a Supermodel do Feminism?“ (ebd. 31) fragt Meinecke. Die Musik-Diskurse 39
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kreisen wieder verstärkt um Disko und House, Soul und femininen Hip Hop. „Hätte Jacques Lacan dazu sein Tanzbein geschwungen?“ (ebd. 286) fragt Meinecke auch. Farocki, erfahren wir, hatte kritische Einwände gegen Disko, und es werden auch wieder Bloch und Benjamin zitiert. Kandis gibt schließlich in einem Interview mit einem Berliner Journalisten-Schüler Auskunft über ihre Schreibweise: „Es gibt eine vage Vorstellung von einem Sound, einer Ästhetik, die sich beim Schreiben, das bei mir in erster Linie eine Mitschrift ist, entwickeln könnte. Aber einen Plan darüber, was passieren könnte, besitze ich nicht. Der analytische Schnitt, nennen wir ihn Querschnitt, den ich für meinem nächsten Roman angelegt habe, könnte auch von einer Suchmaschine vollzogen werden. An meinem dreiundreißigsten Geburtstag [25. August] erfuhr ich, mit mir zugleich hätten sowohl Ludwig I. als auch Ludwig II., Lola Montez, Clara Bow [Stummfilmstar], Leonard Bernstein und Claudia Schiffer Geburtstag. Friedrich Nietzsche und Aaliyah verloren an diesem Datum ihr Leben. Auch Alfred Kinsey, Stan Kenton [Jazz-Pianist], Truman Capote und Jack Nitzsche [Pianist und Komponist]. Mich erfasste das Gefühl, auf eine überaus signifikante Clique gestoßen zu sein, in der sich jederzeit auch noch Gestalten wie Iwan der Schreckliche, Louis Saint-Just, Erich Honecker, Ali Akbar Haschemi Rafsandschani oder Sönke Wortmann und Sandra Maischberger einfinden könnten. Und also schrieb ich los. Am Anfang stehen meine Leute, logisch, immer wie zu früh gekommene Partygäste im Text herum. Aber schon bald stellt sich unter dem Eindruck der täglich von neuem andrängenden Gegenwart, die ich ja eigentlich protokollieren will und die ja stets alles unvorhersehbar mit sich reißt, ein narrativer, sagen wir: Lufthauch ein, womöglich auch ein klärender Durchzug, der Türen aufstößt, andere zufallen lässt. Weitere, anfänglich weit entlegene Namen kommen, wie gerufen, hinzu. Und diese Figuren stolpern jetzt schon dreihundert Seiten durch mein Manuskript.“ (Ebd. 335 f.)
und auch durch Meineckes Roman, der teilweise dieses Manuskript selbst zu sein scheint. Karols Sachbuch ähnelt eher der Arbeit von Tillmann und Yolanda in Hellblau, es soll von schwarzer Musik handeln, und bleibt eher auf der Ebene des Entwurfs. Ich komme nun zu meinen drei Spuren bzw. Thesen zurück. 1) Es geht in allen drei Romanen immer auch um Film. Filme werden thematisiert – und zwar nicht nur Jennie Livingstons Paris Is Burning (USA 1990). Warum nun meine ich, arbeitet Meinecke filmisch? Schumacher (2003: 177), der auch fragt, warum Fichtes Texte für Autoren wie Meinecke interessant seien, identifiziert bei Fichte, in Fichtes Palette, einen besonderen „Effekt sprachlicher Strategien“. Fichtes Prosa oszilliert zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Aus dieser Oszillation resultiert der für sie typische „Eindruck von Unmittelbarkeit und Aktualität“. Die Oszillation entsteht weder aufgrund „eine[r] mündliche[n] Inszenierung des Textes“ noch durch „schriftliche Repro40
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duktion einer vorgängigen Mündlichkeit“. Der Text ist nicht theatralisch, sondern kinematographisch. Seine Performanz ist nicht repräsentativ oder repräsentational, sondern projektiv. Sie erzeugt sich und ihre Räume und Zeiten erst durch und in der Projektion. Die Prosa Fichtes oder Meineckes findet im Dazwischen statt wie Bergsons Bewegungbild, das weder Ding noch Idee ist, sondern materieller als diese und ideller als jenes. Deleuze identifiziert das Bewegungsbild, die Einstellung, als erstes Element des Kinos, das zweite ist die Montage. Zumeist werden Einstellungen durch Montage zu einem organischen Ganzen verbunden. Das Organische entsteht durch Aktionsbilder, das sind nachvollziehbare Verbindungen zwischen Situationen und Aktionen. Mitte des letzten Jahrhunderts geriet das durch Aktionsbilder dominierte Kino in die Krise. Die Sinn stiftenden Bänder lösten sich. Das Ganze wurde porös, oder es bildete sich einfach keins mehr. Planvolles Handeln verwandelte sich immer öfter in Drift. All dies ist in vielen Filmen des Neorealismus, der Nouvelle Vague, New Hollywoods und des Neuen deutschen Films der Fall. JeanLuc Godard arbeitet in seiner sogenannten soziologischen Phase in den 1960er Jahren wie der frühe Jim Jarmusch zu Beginn der 1980er Jahre an der Grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Die Grenzen sind im Film ohnehin durchlässiger und fließender als in der Literatur. Auch in den Romanen Meineckes wird immer weniger gehandelt, stattdessen geschieht etwas oder zumindest vielmehr etwas als nichts. Es wird außerdem immer unklarer, wer erzählt, und irgendwann ist es auch egal. Bei Meinecke spricht der Text. Und wie bei den frühen Filmen Jarmuschs hat man die ganze Zeit keine Ahnung, wie es denn weitergehen wird. Meineckes Figuren lösen ihre Subjektivität in vorgängigen freien indirekten Diskursen auf. Sie werden weiter. Der Textfluss faltet Differenz auf Differenz und mäandert vorwärts, bis Schluss ist. Die fortgesetzte Produktion von Differenz, ohne dass am Ende ein Ganzes dasteht, ist der Effekt von Zeitbildern, Deleuzes zweiter Kinobildgattung. Zeitbilder erzählen Geschichte anders, nämlich nicht mehr linear und nicht mehr fokussiert auf Handlungen, sondern angeordnet um Ereignisse, die sich, wenn sie sich schon nicht darstellen, so doch durch Leerstellen vertreten lassen. Meinecke versucht das, was geschieht, die andrängende Gegenwart, die immer eingeklemmt ist zwischen Ewigkeit und Ereignis, indirekt in einer „Mitschrift“ zu fangen. 2) In jedem der drei Romane stehen irgendwo zwei Plattenspieler. Disko, House, Techno, Elektro, Hip Hop, Drum’n’Bass und ihre vielen Spielarten sind – wie angeführt – Gegenstände des Diskurses. Gemeinsam haben Kino und Dancefloor-Musik das Prinzip der Montage. Eine frühe Form der Montage in der Musik war das Mixen von Platten mit Hilfe zweier Plattenspieler. Heute entstehen Beats oft oder vor allem durch Schnitte am Computer. Das Prinzip des Tracks, eines Stücks Tanzmusik, stammt allerdings schon aus der Vordisko-Ära, aus dem Funk und seinen im Prinzip endlos variierbaren Struk41
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turen. Jedes Stück hat zwar Anfang und Ende, aber eben nur weil es anfängt und endet. Funk ist eingebunden in die Geschichte des Jazz und des R&B. Durch Entwicklung und Verfeinerung der Sampling-Techniken und -Kulturen transportiert sich Geschichte nicht mehr als klassische Erzählung, sondern über montierte Zitate, fragmentarisch. Es geht darum die kleinsten Fragmente zu erkennen – und sei es nur an ihrem Sound –, und die historischen Kontexte, in denen sie stehen, mitzudenken. Auch bei den Romanen Meineckes hat der oder die Wissende mehr vom Lesen. Auch seine Bücher leben durch Sound, den man mögen kann oder nicht. Insofern haftet ihnen etwas Unzeitgemäßes an, etwas Avantgardistisches, das – wie Bildung bei Adorno (1998: 113) – nicht „voraussetzungslos ergriffen werden kann.“ Man muss etwas verstehen von den Sounds und Diskursen, um in sie eintauchen zu können, andernfalls frustriert die Lektüre, was bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines meiner Seminare zum Thema „Jugend in der Popliteratur“ nur zu deutlich wurde. Krachts Faserland ging noch, aber Tomboy ... Das war zu viel, kein Anfang, kein Ende, kein Höhepunkt, nicht einmal Höhepunkte, keine Kette, was man gemeinhin roten Faden nennt, natürlich ohne zu wissen, dass der rote Faden schon im Tauwerk der britischen Marine nur der Disziplin und Kontrolle diente. Tomboy und die anderen Romane erzeugen bloß vibrierende Ebenen. Deleuze und Guattari (1997) sprechen in diesem Fall in Anlehnung an Gregory Bateson von Plateaus. Weil sie aus Plateaus bestehen, handelt es sich bei Meineckes Romanen um Rhizome. Ein Rhizom lässt sich nicht kopieren, sondern nur kartieren und d.h. übersetzen in eine selbst rhizomatische Erzählung, die die Rhizome zugleich erforscht, ein Feld erforscht, eben Feldforschung betreibt, eine historische Ethnographie der eigenen Kultur, die als Sampling-Kultur eine Kultur des Übergangs ist und mit dem Kino einem sinkendem Leitstern bzw. -medium folgt, das längst durch andere bewegliche, interaktive Raum-Zeiten, Computerspiele etc., überflügelt wird. Ob die Narrationen oder die Vielfalt von Erzählformen und -möglichkeiten dadurch verarmen oder ob es sich nur um einen vorübergehenden Effekt handelt – frühe Stummfilme sind auch einfacher montiert als spätere und schlichtere Kompositionen als die großen Romane des 19. Jahrhunderts, frühe Beats sind simpler gebaut als jüngere von Timbaland oder den Neptunes –, lässt sich gegenwärtig kaum entscheiden. Vor zu viel Euphorie will ich aber aufgrund entkoppelter DiY-Kompetenzen – DiY heißt Do it Yourself – auch warnen. Es wird zwar immer einfacher, am Computer Beats zu bauen, und es wird auch immer mehr Baumaterial mitgeliefert; ohne musikgeschichtliche Kenntnisse und durch langes Sammeln gewachsene Erfahrungen werden die Resultate aber immer ähnlicher und weniger originell ausfallen, kurz: stereotyper. 3) Anfang und Ende der Adoleszenz hängen zusammen mit der für Meineckes Romane so wichtigen Sex-Gender-Dichotomie. Während der Beginn, die Pubertät, sich eher dem Sex als Eintritt in die biologische Ge42
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schlechtsreife zuschlagen lässt, ist das Ende inzwischen ausschließlich Gegenstand von Kultur – und mithin freier beweglich. Das Ende der Jugend schiebt sich bei immer mehr Menschen immer weiter hinaus. Besonders deutlich wird dies gemessen an den Kriterien selbst aktueller entwicklungspsychologischer Handbücher: Familienbildung und dauerhaft gesicherte Selbstreproduktion. Ich, nominell zwar gerettet, und einige meiner Freundinnen und Freunde stecken also auch jenseits der 40 noch in der Adoleszenz. Unsere Lebensläufe scheinen die Struktur von Tracks anzunehmen. Der Track beginnt mit der Jugend und endet irgendwann. Bildungstheoretisch oder -philosophisch interessante Fragen lauten in diesem Zusammenhang: Unter welchen Bedingungen ist diese auf Dauer gestellte Jugend eher eine Verheißung und unter welchen eher ein Drama? Unter welchen Bedingungen kann es einem gelingen, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen, d.h. ein singuläres Leben in Tranformation? Und unter welchen Bedingungen ersetzt nur ein Stereotyp ein anderes in sich immer noch dichter zusammenziehenden Verblendungszusammenhängen? Kompliziert wird jeder Antwortversuch, weil ersteres immer in letzteres überzugehen droht, dies immer schneller tut und das eine vom anderen kaum noch unterscheidbar ist, gerade so wie Autonomie und Gouvernementalität. Die Gender-Frage geht über in die Frage nach Singularität, also auch einer Frage nach Bildung und danach, wie jeder für sich und wir alle leben wollen und sollen. Dies ist eine Frage von Ethik, aber selbst die Sampling-Ethik, die der amerikanische Ethnologe Josh Schloss (2004: 101 ff.) noch bei Hip-Hop-Beat-Bauern in den 1990er Jahr entdecken konnte, wirkt kaum noch. Geschichtsvergessen und Chock-resistent macht ein noch größerer Teil der Jugend als je schon einfach nur mit. Widerstand gibt es nicht einmal mehr gegen den Widerstand. Die Diktatur der Angepassten gewinnt an Macht, wenn und während die Jugend ihre in der Romantik gewonnene Tugend der Innovation verspielt. Der nicht enden wollenden Jugend einiger Romantiker steht so eine nicht mehr stattfindende Jugend vieler so genannter Pragmatiker gegenüber, die sich immer länger jugendlich geben müssen. Diese beiden Typen sind empirisch oder auf den ersten Blick bisweilen schwer zu unterscheiden. Meinecke hat sich in meinem Seminar als brauchbarer Komplexitätstest erwiesen. Er eignet sich allerdings wohl nur für die Mitglieder der Generation, die in einer Zeit aufgewachsen ist, als die Welt noch unterging (vgl. Schneider 2007), also ihre Jugend spätestens Mitte der 1980er Jahre begonnen haben wie Vivian Atkinson. Für alle später Geborenen ist meine Prognose dunkel. Der Schließung des Jugend-Ritornells wird aber – so ist das Ritornell bei Deleuze/Guattari (1997) definiert – eine neuerliche Öffnung folgen. Claudia Starik, die Protagonistin in Dietmar Daths Roman Waffenwetter (2007), Abi 2004, lässt zunächst hoffen, dass die Jugend neue Widerstände erfinden wird. Zeit dafür wäre es. Man glaubt eine Weile, es sei der Einfluss des kommunistischen Großvaters, der sich mit dem verbreiteten Pragmatismus 43
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paart, erfährt dann aber, dass Claudia zu einer Serie genetisch optimierter, geklonter Frauen aus sowjetischer Produktion gehört. Vorwärts und vergessen. An das Wetter vom 14. Juni 2007 erinnere ich mich auch nicht mehr.
Literatur Adorno, Theodor W. (1998): »Theorie der Halbbildung«. In: ders., Soziologische Schriften. Gesammelte Schriften 8, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 93-121. Bandel, Jan-Frederik/Hempel, Lasse Ole/Janßen, Theo (2005): Palette revisited. Eine Kneipe und ein Roman, Hamburg: Edition Nautilus. Behrens, Roger (2003): Die Diktatur der Angepassten. Texte zur kritischen Theorie der Popkultur, Bielefeld: Transcript. Benjamin, Walter (1991): »Über den Begriff der Geschichte«. In: ders., Abhandlungen. Gesammelte Schriften. Band I.2, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 691-704. Bonz, Jochen/Meinecke, Thomas (2005): »Sonic Drag – Sequenzen über die Kulturtechnik des Tracks. Ein Gesprächsmitschnitt«. In: Club mediale, Meike Jansen (Hg.), Gendertronics. Der Körper in der elektronischen Musik. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 153-164. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Dath, Dietmar (2007): »Selbstgespräch wegen nicht gemalter eigener Gemälde«. In: Christoph Heinrich (Hg.), Daniel Richter. Die Palette. 1995-2007 (Ausstellungskatalog), Köln:Dumont, S. 25-32. Dath, Dietmar (2007): Waffenwetter, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1993): Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1997a): Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1997b): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1997): Tausend Plateaus, Berlin: Merve. Eshun, Kodwo (1999): Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction, Berlin: ID Verlag. Fichte, Hubert (2005): Die Palette, Frankfurt/Main: Fischer. Hall, Stuart (1998): »Notes on Deconstructing ›the Popular‹«. In: John Storey (Hg.), Cultural Theory and Popular Culture. A Reader,London u.a.: Prentice Hall, S. 442-453. Heinrich, Christoph (Hg.) (2007): Daniel Richter. Die Palette. 1995–2007 (Ausstellungskatalog), Köln: Dumont. 44
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»Wir werden erzeugt, aber nicht erzogen«. Pädagogische Annäherungen an die Autobiographie Thomas Bernhards ANDREAS POENITSCH
„Ich spreche die Sprache, die nur ich allein verstehe, sonst niemand, wie jeder nur seine eigene Sprache versteht, und die glauben, sie verstünden, sind Dummköpfe oder Scharlatane.“ (Thomas Bernhard, Der Keller)
Einleitendes Nach durchweg zugeneigten Ausführungen endet eine Besprechung der Grenzgänge, des ersten Anlaufs, zeitgenössische Romane aus erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Perspektiven zu deuten (vgl. Koller/RiegerLadich 2005), mit dem Satz: „Darüber hinaus bleibt eine Fortsetzung pädagogischer Lektüren abzuwarten, welche an ihrer eigenen, schwierigen Positionierung weiter arbeitet.“ (Thompson 2006: 4) Die hier angesprochenen Schwierigkeiten sind offensichtlich. Sie beziehen sich weniger auf den Zugang oder das, was man Verständnis der gewählten Literatur nennen kann, denn die im Folgenden untersuchte Autobiographie von Thomas Bernhard ist voll von pädagogischen Motiven, Themen und Problemen und erscheint darum geradezu vordergründig für pädagogische Fragestellungen geeignet, sondern die Schwierigkeiten betreffen die methodisch weitgehend ungeklärte und
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deshalb aufzuklärende Verschränkung dessen, was der Untertitel des Bandes so vermeintlich harmlos kombiniert, Pädagogische Lektüren.1 Die erneute Beschäftigung mit einem seit langem bekannten und geschätzten Autor, jetzt unter Vorgaben, die in eine andere als die gewohnte Lektürerichtung weisen, hat so viele Ungereimtheiten und Fragen aufgeworfen, dass sie in diesem Rahmen nicht alle behandelt werden können. Dabei wurden Phänomene deutlich, die nur auf den ersten Blick nebensächlich sind, und die mitunter gar irritierende Konturen annahmen. Thomas Bernhard hat wie kaum ein anderer Autor im 20. Jahrhundert, dies sei vorweggenommen, den Sinn und die Möglichkeiten streng wissenschaftlichen Denkens, Forschens und Wahrheit Suchens in Frage gestellt, bezweifelt und gelegentlich auch ironisch karikiert. Seine Texte lassen sich deshalb wohl nur mit spürbarem Zwang in das Korsett bringen, das man noch sehr pauschal erziehungsoder bildungswissenschaftlichen Zugriff nennen könnte, und von dem man sich neue bzw. neuartige Erkenntnisse verspricht. Daran wird eine merkwürdige Perversion spürbar, dass nämlich ein Werk, in dem eine zentrale Botschaft die Aussichtslosigkeit bzw. Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Aufklärung sowie gegenüber pädagogisch zu vermittelnder Sinnstiftung mit Blick auf gelingende Weltbewältigung und Lebensführung ist, offenbar nur schwierig davor geschützt werden kann, selbst in genau diese Kontexte gestellt und zu entsprechenden Zwecken benutzt zu werden – selbst wenn es nur, wie im Untertitel formuliert, „pädagogisch annäherungsweise“ geschieht.2 Bei den Versuchen ihrer pädagogischen Lektüre sind die Texte von Thomas Bernhard jedes Mal augenblicklich gleichsam auf Distanz gegangen, sodass die Kluft zwischen der spontanen, ästhetisch-hedonistischen Nähe zu ihnen und der pädagogisch-epistemischen Distanzierung oder Objektivierung phasenweise unüberwindbar wurde.3 Deshalb sei zu Beginn eine These for1
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Es ist offensichtlich, dass diese Schwierigkeiten ganz ähnliche sind wie bei den Versuchen, Bilder bzw. Fotografien für pädagogische Erkenntniszwecke zu nutzen (vgl. dazu Schiffler/Winkeler 1991; Priem 2006). Ein wenig erinnert das an den Pianisten Glenn Gould, der sich auf dem Höhepunkt seiner Konzertkarriere von jetzt auf gleich in die Einsamkeit der Aufnahmestudios zurückzog, weil er die Zurschaustellung von Virtuosität und das agonale Moment öffentlicher Auftritte im Zirkus der Konkurrenz nicht mehr verkraftete, und dessen Figur und Name seit dem frühen Tod für einen regelmäßig ausgetragenen, öffentlichen und zirzensischen Pianistenwettbewerb herhalten muss. Eine Art Seelenverwandtschaft verbindet beide in ihren weithin überhörten Botschaften. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass Bernhard diesem musikalischen Genie, dessen Konzerte in Salzburg 1958 und 1959 er vermutlich erlebt hat, unmittelbar nach dessen Tod einen seiner schönsten Romane gewidmet hat, den Untergeher (vgl. dazu Gould 1994; Bernhard 1983). Die Pädagogischen Lektüren könnten vielleicht davon profitieren, um rezeptionsästhetische und somästhetische Perspektiven erweitert zu werden. In der einen Theorierichtung werden literarische Texte weder bloß als eine Widerspiege-
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muliert, die diese Erfahrung – methodologisch noch weitgehend unreflektiert – zur Sprache bringt, und von der sich zeigen wird, ob sie im weiteren Verlauf durchgängig einzuhalten ist. Das „Anregungspotential“ literarischer Texte, von dem die Herausgeber der Grenzgänge einleitend sprechen (Koller/RiegerLadich 2005: 10), ist vielleicht unbestritten und wohl auch kaum bestreitbar. Wenn allerdings versucht wird, diese in den Texten bzw. in deren Lektüren enthaltenen Möglichkeiten derart zu systematisieren, dass aus dem gleichsam unerschöpflichen konjunktiven Potenzial von Anregungen eine begrenzte indikative Wirklichkeit von Wissen, Einsichten oder Erkenntnissen mitsamt den entsprechenden, etwa erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Geltungsansprüchen wird, dann schwindet oder wandelt sich das ehemalige Anregungspotential auf entscheidende Weise. Anders formuliert könnte man sagen: Das Dass der Anregung durch Literatur bzw. deren Lektüre steht nicht in Frage, aber die Antworten auf die Fragen, was und wie angeregt worden ist, also die notwendigen Voraussetzungen für den kommunizierbaren Nachvollzug bzw. die theorienkonforme und systematisierbare „sichernde“ Fixierung von Möglichkeiten als Wirklichkeiten, sind und bleiben weiterhin und weitgehend im Dunkeln. Über diese einleitend angedeuteten Fragen hinaus gibt es weitere methodische Schwierigkeiten, die u. a. die jugendtheoretische Fokussierung des Themas dieses Bandes betreffen. Im Anschluss an deren Verhandlung folgen einige Informationen zur Person, zum Werk und zu den hier ausgewählten Texten Thomas Bernhards. Nach einer knappen Inhaltsangabe der Autobiographie insgesamt versucht die leicht komponierte Folge von markanten Zitaten aus dem für den Fokus Adoleszenz einschlägigen Band Die Ursache einen möglichst authentischen Eindruck zu vermitteln von Bernhards Erinnerungen an seine Erziehung, seine Schul- und Studierzeit. Zum Abschluss erfolgt weniger eine üblicherweise zu erwartende Interpretation dieser Zitatenfolge, als vielmehr einige Gedanken über die Möglichkeit solchen Interpretierens auf lung sich durchziehender Phänomene oder Theoreme, noch als Manifestation so genannter Tiefenstrukturen gesehen, sondern als ein Kommunikationsangebot an den potentiellen Leser, in dem die situative Interaktion zwischen Text und Leser befragbar wird. Ein Resultat solchen Fragens könnte es sein, gleichsam hinter die so genannte Autonomie von Literatur sowie die mit ihr einhergehende Abbildung der sozialen Wirklichkeit des Lesens und Gelesenwerdens zurückzugreifen, um etwa die anthropologische Dimension von Lektüre deutlich zu machen (vgl. dazu Iser 1993; Warning 1993; Poenitsch 2004). In dem noch deutlicher anthropologisch orientierten zweiten Ansatz geht es darum, die Verständnis- bzw. Erfahrungsdimensionen vor jeder Interpretation auszuleuchten. Der Hauptexponent dieser „somästhetischen“, d.h. die leiblich-ästhetische Erfahrung fokussierenden, Theorierichtung, Richard Shusterman, sieht den körperlichen Anteil an Erfahrung sowie die unmittelbare und sprachlose Erfahrung, also die nicht-linguistischen und nicht-diskursiven Dimensionen, in den gängigen Interpretationstheorien auffällig vernachlässigt (vgl. dazu Shusterman 2002, 2005).
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dem Wege von Vergleichen und Analogien. Ob dies eine Antwort auf die Frage im Titel der Tagung ermöglicht, die diesem Band vorherging, wird sich zeigen.
Methodisches Der zentrale Begriff in der Beschäftigung mit den methodischen und methodologischen Dimensionen der Pädagogischen Lektüren ist, wie angedeutet, der Begriff „Anregungspotential“ oder auch „Provokationspotential“. Er hat zunächst den Vorteil, dass mit ihm gleichsam handfest Empirisches beschreibbar wird bzw. beschrieben worden ist. So hat offensichtlich und bekanntermaßen der Zauberberg von Thomas Mann Herwig Blankertz (1959/1981) dazu anregen können und angeregt, seine pädagogischen Lektüren und Interpretationen in dem bekannten Aufsatz über den Erzieher Lodovico Settembrini zugänglich zu machen. Walter Müller (1981), Klaus Mollenhauer (1983, 1998) und noch ein paar andere haben sich von diesem Aufsatz ebenfalls anregen lassen, die eigenen Lektüren in vergleichbaren Texten niederzuschreiben. Auch die Dokumentation der Grenzgänge belegt zunächst nichts anderes als die Wirklichkeit dieses Anregungspotentials. Zu den angesprochenen Dunkelheiten, die sich einstellen, wenn man die Frage nach möglichen Gründen für solcherart nachweisbare Anregungen stellt, gehört die Unterscheidung zwischen Literaturgattungen bzw. Textsorten. Nur wenig geklärt ist etwa die Genese, in deren Folge heute erziehungswissenschaftliche Texte von belletristischen Texten wie selbstverständlich und trennscharf unterschieden werden können und unterschieden werden. Fraglich ist dabei die erkennbare Grenze, die es erlauben oder verbieten würde, beispielsweise der autobiographischen Selbstaufklärung Thomas Bernhards in Sachen Erziehung eine möglicherweise erziehungswissenschaftliche Relevanz einzuräumen, den Essay über Bildung von Hartmut von Hentig aber als populärwissenschaftlich und damit tendenziell irrelevant abzuweisen. In der deutschen Tradition – nicht generell in der deutschsprachigen, denn in Österreich verhält es sich anders – wird offensichtlich immer noch strenger als in anderen Traditionen darüber gewacht, an solchen Grenzen festzuhalten und diese nicht zu überschreiten, wenngleich diese Grenzen mitunter nicht deutlich markiert werden können. In Italien und Frankreich sind die Kriterien für streng wissenschaftliche Literatur andere, bzw. diese so genannte Strenge ist gar kein Kriterium, bestimmte Texte zu meiden oder anderen vorzuziehen. Jean-François Lyotard zitiert im Postmodernen Wissen an einschlägigen Stellen Kafka, Musil oder Borges. Wie ist es dazu gekommen, so könnte man entsprechend fragen, dass etwa Rousseaus Emile, der damals wie heute wohl eher als ein Roman und nicht als ein wissenschaftlicher Text gilt, gleichwohl heute unangefochten zu 50
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den Klassikern der wissenschaftlichen Literatur unseres Faches zählt, wobei das pädagogische Anregungspotenzial dieses Textes wohl nicht in Frage steht? Ohne dem in der nötigen Ausführlichkeit nachgehen zu können, besteht der Verdacht, dass solche und andere methodische Überlegungen von einer vielleicht zu wenig berücksichtigten, jedoch weit reichenden Rhetorizität durchzogen, man könnte auch sagen getragen sind, die sich möglicherweise zwar nicht umgehen lässt, deren Übersehen oder Geringachtung allerdings die bekannten und hier nur zum Teil angeschnittenen Probleme mit erzeugt.4 Möglicherweise ist die von Jean-François Lyotard beschriebene Delegitimierung der Sprachspiele noch nicht so weit vorangeschritten, dass es vermeidbar würde, Literaturgattungen und diesen zugeordnete Geltungsansprüche gegeneinander abzuwägen oder auszuspielen (vgl. Lyotard 1986). Damit sind die methodischen Vorbehalte längst nicht erschöpft oder gar ausgeräumt, sie werden deshalb im weiteren Verlauf immer wieder aufgegriffen.5 Ausführliche Überlegungen zur Eingrenzung der pädagogischen Lektüren auf die erziehungswissenschaftliche Kategorie Adoleszenz und deren Generierung müssen hier ausbleiben (vgl. Andresen 2005; Zinnecker 2004). Die von Thomas Bernhard erinnerte Zeitspanne behandelt eine Phase seines Heranwachsens, und einige der unter dem Begriff Adoleszenz problematisierten Fragen, etwa Körperempfindungen, das Verhältnis von Individualität und Sozietät, Identi-
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In diesen gedanklichen Zusammenhang passt die auffällige Konjunktur der aus den Kulturwissenschaften beziehungsweise der Ethnologie stammenden Verstehenstheorie von Clifford Geertz (1987). Dieser als Dichte Beschreibung benannte Zugriff auf kulturelle Phänomene ist zunächst der Versuch einer Intensivierung bekannter hermeneutischer Techniken. In der Unverzichtbarkeit der Niederschrift des so Beschriebenen zeigt sich allerdings die ebenso bekannte Aporie, Performatives, bei Geertz kulturelle Phänomene und Praktiken im Allgemeinen, hier die je einmalige und unwiederholbare Lektüre im Besonderen, – und sei es „dicht“ oder in anderer gefälliger Rhetorik – zu beschreiben, d.h. fixierend einzufangen. Die dichte Beschreibung wird dann unweigerlich zu einer (auch) „dichtenden“ Beschreibung und teilt somit die hinlänglich bekannten Schwierigkeiten, daraus etwas zu folgern oder zu schließen (vgl. Müller-Funk 2006; Poenitsch 2009). Auch in der Abschlussdiskussion dieses hier dokumentierten zweiten Anlaufs, das Verhältnis von literarischen Texten zu anerkannten pädagogischen Quellen aufzuklären, sind manche der m. E. zentralen Fragen offen geblieben; so etwa die nach dem epistemischen Status literarischer Texte für die Pädagogik oder die nach der Eignung bzw. der Abgrenzung für pädagogische Interpretation bzw. gegenüber solchen anderer Herkunft. Vermutet wurde zudem, dass der spätestens seit der Postmoderne erkennbare Verlust von Referenzen bzw. deren weitgehende Relativierung ein Grund für die aktuelle Öffnung der Erziehungs- und Bildungswissenschaft nicht nur in Richtung Literatur, sondern in die gesamte Pluralität dessen, was derzeit unter Kulturwissenschaften zusammengefasst wird, sein könnte (vgl. dazu Wimmer 2002; Göller et al. 2005; Brumlik 2006).
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tätssuche bzw. -krise oder Balancestörung, werden am Schluss, ohne ihnen ausführlich nachzugehen und mit einem Schwenk zu späten Überlegungen Klaus Mollenhauers, noch einmal aufgegriffen.
Thomas Bernhard – Person und Werk Thomas Bernhard hat zwischen 1931 und 1989 überwiegend in Österreich gelebt (vgl. zum Folgenden Bartsch/Goltschnigg/Melzer 1983; Dittmar 1990; Reich-Ranicki 1990). Nach seiner Geburt im holländischen Heerlen wächst Bernhard bei seinen Großeltern mütterlicherseits auf, der leibliche Vater hatte die Mutter schon vor der Geburt verlassen, und der Sohn hat den Vater nie gesehen. Als einen maßgeblichen, wenn nicht den wichtigsten erzieherischen Einfluss im positiven Sinne nennt Bernhard seinen Großvater, den Schriftsteller und Heimatdichter Johannes Freumbichler, der 1949 nach einer ärztlichen Fehldiagnose stirbt (vgl. Markolin 1988). An die für ihn wichtigen Stationen seines Werdeganges erinnert sich Bernhard in den fünf Bänden seiner annähernd achthundert Seiten langen Autobiographie, die die Zeitspanne von 1943 bis etwa 1951 beschreibt, und deren Abfassung in die Jahre 1975 bis 1982 fällt. Nach Hauptschule, Internatsaufenthalt und paralleler Gymnasialzeit in Salzburg, einer Tätigkeit als Gärtner und einer kaufmännischen Ausbildung hat Bernhard nach früher Förderung durch seinen Großvater, er spricht von einer großväterlichen Ausbildung von der Elementarschule bis zur Hochschule, in Salzburg und in Wien verschiedene praktische und theoretische künstlerische Ausbildungen durchlaufen, so Geigen- und Klarinettenunterricht, Gesangsunterricht und Schauspielerei, die immer wieder unterbrochen werden mussten wegen einer gefährlichen, später chronischen Lungenkrankheit, an deren Spätfolgen Bernhard im Alter von 58 Jahren gestorben ist. Sein schriftstellerisches Werk umfasst laut Werkgeschichte 123 Titel, von ersten veröffentlichten Gedichten etwa ab 1954 über zahlreiche Prosawerke seit dem Erstling Frost (1963), über Verstörung (1967), Das Kalkwerk (1970), Korrektur (1975), Wittgensteins Neffe (1982) und den Untergeher (1983) bis hin zu den großen und oft skandalträchtigen Theaterstücken Ein Fest für Boris (1970), Der Ignorant und der Wahnsinnige (1972), Die Berühmten (1976), Immanuel Kant (1978) und zuletzt Heldenplatz (1988) aus dem Vorjahr von Bernhards Tod, der Auseinandersetzung mit Österreichs Rolle im Nationalsozialismus. Immer wieder haben Prosa und Theaterstücke Bernhards, meist wegen eindeutiger Anspielungen auf Geschehnisse, Angriffen auf lebende Personen oder Beschimpfungen Salzburgs, Wiens oder ganz Österreichs, medial ausgeschlachtete gesellschaftliche, politische und juristische Skandale ausgelöst. Die radikale, manche sagen übertriebene Negativität in Bernhards Welt-, Gesellschafts- und Menschenbild sowie die radikale, 52
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manche sagen übertriebene Skepsis gegenüber insbesondere wissenschaftlicher Wahrheitsfindung haben, wie bei kaum einem anderen Autor, durchgängig heftige Reaktionen, ablehnende wie enthusiastische, ausgelöst. Abgeklärt oder anders unberührt kann man Bernhards oftmals nicht enden wollenden Monologen zu zentralen philosophischen bzw. existentiellen Themen wohl kaum begegnen. Bernhards Schriften zum Gegenstand dezidiert pädagogischer oder bildungstheoretischer Überlegungen zu machen, ist nicht neu. Bereits 1981 ist in einer viel beachteten Arbeit über Lebensgeschichte und Identität versucht worden, Bernhards Autobiographie aus jugendpsychologischer Perspektive zu lesen (vgl. Maurer 1981). Ebenfalls in den achtziger Jahren hat Wolfgang Fischer öfters Gelegenheiten genutzt, Thomas Bernhard in Gesprächen zu zitieren und einige der deutlich skeptisch-philosophischen Züge seines Werkes hervorzuheben; geschrieben hat er hierzu m. W. nichts. Etwa zur selben Zeit verwendet Klaus Mollenhauer in den Vergessenen Zusammenhängen Passagen aus Bernhards Autobiographie, um erzieherische Gewalt durch die Analogie zur sprachlichen Gewalt ihrer Darstellung transparent zu machen. Die oben angedeutete, eher vordergründige pädagogische Annäherung bietet sich schon deshalb an, weil Thomas Bernhard über seinen Werdegang und die bestimmenden Einflüsse ausdrücklich, d.h. in der Terminologie von Erziehung, Ausbildung und Bildung, nachgedacht hat. Darüber hinaus besteht bei Bernhard, im Gegensatz zu manchen anderen zeitgenössischen Autoren, der Vorteil, dass hier die autobiographische Erinnerung an die eigene Erziehung und deren Beschreibung auf einem vergleichsweise hohen theoretischen und philosophischen Reflexionsniveau erfolgen, sodass die Möglichkeiten und Grenzen des autobiographischen Schreibens selbst thematisch werden. Das bedeutet zunächst die geringere Nötigung, in den Text etwas hineinzulesen zugunsten der Möglichkeit, die so gleichsam autorisierte Sachlage zur Kenntnis nehmen und deuten zu können. Anders gesagt tritt hier der für jede Deutung problematische, ästhetisch-fiktionale Geltungsanspruch von Literatur weitgehend in den Hintergrund zugunsten des zwar nicht weniger problematischen, aber immerhin als solchem erkennbaren und zu verfolgenden, proto- oder parapädagogischen Geltungsanspruchs als Wahrheitsanspruch. Für Bernhards Erinnerungen dürfte deshalb gelten können, was er selbst für seine Ausführungen beansprucht hat; dass nämlich seine Kindheit und Jugend andeutungsweise tatsächlich so gewesen sind und das aus ihm gemacht haben, was sie aus ihm gemacht haben – zumindest soweit sich der Autor zwischen 1975 und 1982 daran erinnern konnte und wollte. Die methodischen Fragen und Vorbehalte gegenüber dem autobiographischen Konzept sind damit wohl nur zum Teil beantwortet (vgl. dazu Köhler 2001: bes. 38-50).
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Ausgewähltes zu Bernhards Autobiographie Einige Informationen zu Bernhards Autobiographie sowie die Zitate, die den einzelnen Bänden vorangestellt sind, lassen die Atmosphäre spürbar werden, die entstehen kann, wenn man sich auf die Lektüre einlässt. Die ersten vier der wie gesagt fünfbändigen autobiographischen Schriften sind jeweils programmatisch betitelt und gleichsam mit einer Zusammenfassung des Inhalts in Form eines Stichwortes untertitelt. Während diese Bände weitgehend chronologisch Bernhards Werdegang ab 1943 wiedergeben, beschreibt der fünfte Band, der ohne Untertitel nur mit Ein Kind überschrieben ist, die früheste Phase seiner Erinnerungen gleichsam nachträglich.6 Der erste Band, der noch ausführlich zur Sprache kommt, heißt Die Ursache und im Untertitel Eine Andeutung. Dieses Motiv durchzieht den gesamten Text und könnte auch mit Blick auf die angesprochenen Schwierigkeiten autobiographischen Schreibens gedeutet werden. Der Band beschreibt die Jahre 1943 bis 1946, d.h. die Zeit, in der Bernhard Insasse bzw. Zögling eines zunächst nationalsozialistisch geführten Salzburger Internats war, das nach dem Ende des Krieges in ein streng katholisches Internat umgewandelt wurde. Dem Text vorangestellt ist eine Zeitungsmeldung aus den Salzburger Nachrichten vom 6. Mai 1975: „Zweitausend Menschen pro Jahr versuchen im Bundesland Salzburg ihrem Leben selbst ein Ende zu machen, ein Zehntel dieser Selbstmordversuche endet tödlich. Damit hält Salzburg in Österreich, das mit Ungarn und Schweden die höchste Selbstmordrate aufweist, österreichischen Rekord.“ (Bernhard 1975: 5)
Der zweite Band trägt den Titel Der Keller und den Untertitel Eine Entziehung. Bernhard schildert hier die Zeit zwischen 1946 und Ende 1948, in der er das von ihm gehasste Gymnasium verlässt und eine kaufmännische Ausbildung im gesundheitsschädlichen, weil permanent feuchten Kellerladengeschäft eines Salzburger Lebensmittelhändlers durchläuft, „die mich rettende Lehre“, wie er schreibt (Bernhard 1976: 7). Das im Untertitel benannte Motiv der Entziehung durchläuft, meist in der Formulierung „in der entgegen gesetzten Richtung“, wiederum den gesamten Text.7 Dieser beginnt mit dem Mon-
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Ob bzw. inwiefern dem eine herauszuhebende Bedeutung zukommt, habe ich ebenso wenig weiter verfolgt wie die Auffälligkeit, dass die ersten vier Bände als chronologische Einheit sämtlich und hauptsächlich in und von Gebäuden handeln, nämlich den Internats- und Schulgebäuden, dem Lebensmittelladen, dem Krankenhaus und später dem Sanatorium. Fast unweigerlich kommt einem Platons bildungstheoretisches Motiv der Periagogé, der Umwendung in den Sinn (vgl. dazu Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2008: 43f.).
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taigne-Zitat: „Alles ist unregelmäßige und ständige Bewegung, ohne Führung und ohne Ziel.“ (Bernhard 1976: 5) Im dritten Band mit der Überschrift Der Atem und dem Untertitel Eine Entscheidung beschreibt der „noch nicht Achtzehnjährige“ die Zeit seiner während der Lehrzeit im Kellergeschäft zugezogenen Erkrankung an einer Rippenfellentzündung, die sich nach ärztlichen Fehlbehandlungen zu einer lebensbedrohlichen Lungen-Tuberkulose ausweitet. Im selben Spital, wo Bernhard bereits die Sterbesakramente empfangen hat, das Weiterleben und er sich allerdings füreinander „entscheiden“, wie es im Untertitel heißt, stirbt zeitgleich der geliebte Großvater, ebenfalls aufgrund einer Fehldiagnose. Auch die Mutter stirbt wenig später, weil sie zu spät operiert wird. Mit dem Tod des Großvaters, so Bernhard, sei seine erste Existenz abgeschlossen gewesen und seine zweite habe begonnen (vgl. Bernhard 1978: 108). Dieser Band beginnt mit einem Zitat von Pascal: „Da die Menschen unfähig waren, Tod, Elend, Unwissenheit zu überwinden, sind sie, um glücklich zu sein, übereingekommen, nicht daran zu denken.“ (Bernhard 1978: 5) Der vierte Band, Die Kälte. Eine Isolation, schildert in mitunter abstoßender, ja schmerzhafter Intensität die lange physische und psychische Krankengeschichte Bernhards, bis hin zu Ansätzen von Verfolgungswahn als Patient der Isolierstation in der Lungenheilanstalt „Grafenhof“, in der Zeit bis Mitte 1950. Der Text beginnt mit dem Satz: „Mit dem sogenannten Schatten auf meine Lunge war auch wieder ein Schatten auf meine Existenz gefallen.“ (Bernhard 1981: 7) Eingeleitet wird der Text mit dem Novalis-Zitat: „Jede Krankheit kann man Seelenkrankheit nennen.“ (Ebd. 5) In Grafenhof beginnt Bernhard, immer den Tod vor Augen, mit dem Schreiben erster Gedichte. Im letzten Band seiner Autobiographie mit dem Titel Ein Kind schildert Bernhard die Zeit zwischen seinem achten und dreizehnten Lebensjahr, den Wechsel vom behüteten Leben bei den Großeltern in Traunstein nach Salzburg, wo nach bestandener Aufnahmeprüfung die Internatszeit beginnt. Weil diese Phase für die nachträgliche Erinnerung am weitesten zurückliegt, erscheint der Band, der wie gesagt aus der Chronologie herausfällt, vielleicht besonders geeignet, dem Ganzen des Erinnerungsunternehmens eine Art nachträglicher methodischer Rechtfertigung zu geben. Dem gemäß durchzieht den Text eine latente philosophische Auseinandersetzung mit der Wahrheit, genauer gesagt die Skepsis gegenüber der Möglichkeit autobiographischer Wahrheit. Programmatisch ist hier der Satz von Voltaire: „Niemand hat gefunden oder wird je finden.“ (Bernhard 1982: 5)
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Die Ursache – Eine Komposition Die Lebensphase, die Bernhard in der Ursache beschreibt, ist die Schulzeit oder Studierzeit in Salzburg, zuerst im nationalsozialistischen Internat des regelmäßig züchtigenden Leiters „Grünkranz“ und seiner „Gehilfen“, später im streng katholischen Johannäum unter der Leitung des Geistlichen „Onkel Franz“, wobei kaum mehr als das Notwendigste verändert worden ist. Die Stelle an der Wand, wo jetzt das Kreuz hängt, zeigt noch deutlich die Konturen des früher dort hängenden Hitlerbildes (vgl. Bernhard 1975: 96). In dieser Atmosphäre der direkt aufeinander folgenden Unterdrückungszusammenhänge verbringt er die Zeit von Herbst 1943, dem Eintritt ins Internat, bis zum Sommer 1946, als er eigenmächtig und von der Familie lange unbemerkt das Gymnasium vorzeitig verlässt, um eine kaufmännische Lehre zu beginnen. Dazwischen erlebt er die verheerenden, wenngleich „aus (pubertärer) Neugierde“ (ebd. 32) faszinierenden Bombenangriffe auf die Stadt, den Tod zahlreicher Verwandter, das Kriegsende und die nachfolgende Not der Bevölkerung, die subtilen und austauschbaren Mechanismen totalitärer, sei es politischer, religiöser oder gesellschaftlicher Menschenbehandlung, von diesen beherrscht seinen Alltag als Internatsinsasse und Gymnasialschüler sowie seine regelmäßigen, aber seltenen Heimfahrten zu den Großeltern, vor allem dem geliebten Großvater. Die Themen und Aspekte, die Bernhard in diesem zeitlichen und räumlichen Rahmen anspricht, sind unterschiedlich in Extensität und Intensität und folgen keiner erkennbaren sachlichen Gewichtung, und es sind zu viele, um ihnen allen nachzugehen. Deshalb beschränkt sich die folgende Komposition von einschlägigen Textstellen auf ausgewählte, teils hintergründige, teils vordergründige pädagogische Themen, die in ihrer Abfolge eine gewisse Dramaturgie deutlich machen sollen – wenn man so will, den pädagogischen Gehalt der Ursache in Kurzform.8 „Die Stadt [Salzburg] ist, von zwei Menschenkategorien bevölkert, von Geschäftemachern und ihren Opfern, dem Lernenden und Studierenden nur auf die schmerzhafte, eine jede Natur störende, mit der Zeit verstörende und zerstörende, sehr oft nur auf die heimtückisch-tödliche Weise bewohnbar.“ (7) „Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine Todeskrankheit, [deren Bewohner] auf diesem im Grunde durch und durch menschenfeindlichen architektonisch-erzbischöflich-stumpfsinnig-nationalsozialistisch-katholischen Todesboden zugrunde [gehen].“ (11) Was den Dreizehnjährigen in erster Linie beschäftigt, „ist naturgemäß der Selbstmordgedanke“ (14), „weil er als Verrat empfinden muss, was ihm als Bildungsnotwendigkeit nicht erklärt wird“ (13). „Die Lern- und Studierzeit ist vor8
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Alle Stellen entstammen der Ursache (Bernhard 1975), Hervorhebungen im Original.
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nehmlich eine Selbstmordgedankenzeit, wer das leugnet, hat alles vergessen.“ (21) „Das Gemüt war ganz einfach in dieser Zeit beinahe zugrunde gegangen, und diese Gemütsverdüsterung und Gemütsverfinsterung als Gemütszerstörung ist von niemandem, von keinem einzigen Menschen, wahrgenommen worden, dass es sich um einen Krankheitszustand handelte als Todeskrankheit, gegen den und gegen die nichts getan worden ist.“ (65) „Der Grad meines musikalischen Talents war zweifellos der höchste gewesen, ebenso aber auch der Grad meiner Nichtdisziplin und der Grad meiner sogenannten Zerstreutheit.“ (54) „[…] Und alles ist diese Lern- und Studierstadt Salzburg für mich gewesen, nur keine schöne, nur keine erträgliche […], und sie hat Freude und Glück und Geborgenheit dem Kind und dem Jüngling, der ich damals gewesen bin, einfach nicht zugelassen, sie ist niemals gewesen, was von ihr immer behauptet wird […], ein Ort in welchem ein junger Mensch gut aufgehoben ist und gut gedeiht, ja froh und glücklich sein muss.“ (63) „[…] Die Tatsache, dass der junge Mensch überhaupt nirgends in dieser Stadt einen ihn schützenden Punkt hatte, machte ihn immer unglücklicher.“ (66) „Wir werden erzeugt, aber nicht erzogen, mit der ganzen Stumpfsinnigkeit gehen unsere Erzeuger, nachdem sie uns erzeugt haben, gegen uns vor, mit der ganzen menschenzerstörenden Hilflosigkeit, und ruinieren schon in den ersten drei Lebensjahren alles in einem neuen Menschen, von welchem sie nichts wissen, nur, wenn überhaupt, dass sie ihn kopflos und verantwortungslos gemacht, und sie wissen nicht, dass sie damit das größte Verbrechen begangen haben.“ (88) „Wir dürfen, selbst auf die Gefahr, für verrückt gehalten zu werden, uns nicht scheuen, auszusprechen, dass unsere Erzeuger als Eltern das Verbrechen der Zeugung als das Verbrechen der vorsätzlichen Unglücklichmachung unserer Natur und in Gemeinschaft mit allen andern, das Verbrechen der Unglücklichmachung der immer noch unglücklicher werdenden ganzen Welt begangen haben, genauso wie ihre Vorfahren undsofort.“ (93) „[Die] sich im Grunde dieser unverschämtesten und heimtückischsten und verbrecherischsten aller Erzieherlügen vollkommen bewussten Erziehungsberechtigten [zerstören und vernichten] nach und nach durch einen staatlichfaschistisch-sadistischen Erziehungsplan als staatsbeherrschendes Erziehungssystem.“ (26/27) „[…] Als eine der größten Vernichterinnen übernimmt die Kirche (übernehmen die Religionen) die Vernichtung der Seele dieses neuen Menschen, und die Schulen begehen im Auftrag und auf Befehl der Regierungen in allen Staaten der Welt an diesen neuen jungen Menschen den Geistesmord.“ (94) „[…] Das Gymnasium […] hatte sich bald als große Enttäuschung herausgestellt. […] Der Unterricht entfernte mich immer weiter von jeder natürlichen Geistesentwicklung.“ (118) „[…] Dazu ist auch noch mein Widerwille gegen das tatsächlich bedrückend engstirnige Professorenkollegium gekommen, welches insgesamt nur eine Ausgeburt des schon Jahrhunderte abgestandenen Wissenschaftsstoffes gewesen war.“ (119) „Die Professoren waren selbst, wie ich fühlte, arme und geschlagene Geister, wie hätten sie mir etwas zu sagen gehabt?“ (139) „Völlig mechanisch und in dem ja berühmten professoralen Gehabe und in dem berühmten professoralen Stumpfsinn zerstörten sie mit ihrer Lehre […] die ihnen anvertrauten jungen Menschen als Schüler. Diese Professoren waren nichts anderes als Kranke, deren Höhepunkt als Krankheitszustand immer der
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Unterricht gewesen ist, und nur Stumpfsinnige oder Kranke wie Stumpfsinnige und Kranke sind Gymnasialprofessoren, denn was sie tagtäglich lehren und auf die Köpfe ihrer Opfer schütten, ist nichts als Stumpfsinn und Krankheit und in Wahrheit ein jahrhundertealter faul gewordener Unterrichtsstoff als Geisteskrankheit, in welchem das Denken jedes einzelnen Schülers ersticken muss.“ (140/141) „Die Gesellschaft muss ihr Unterrichtssystem ändern, wenn sie sich ändern will, weil sie, wenn sie sich nicht ändert und einschränkt und zum Großteil abschafft, bald an ihrem sicheren Ende ist. Aber das Unterrichtssystem muss grundlegend geändert werden, es genügt nicht, immer wieder nur da und dort etwas zu ändern, alles gehört an unserem Unterrichtssystem geändert, wenn wir nicht wollen, dass die Erde nurmehr noch von unnatürlichen und von Unnatur zerstörten und vernichteten Menschen bevölkert ist.“ (142) „Die neue, die erneuerte Welt, wenn es sie geben sollte, kennt nurmehr noch die Elementarschule für die Massen und die Hochschule für einzelne, sie hat sich von einem jahrhundertelangen Krampf befreit und die Mittelschule und also auch das Gymnasium abgeschafft.“ (142) „Zwei Menschen sind mir vor allen anderen aus dem Gymnasium in Erinnerung geblieben, der von einer Kinderlähmung vollkommen verkrüppelte Mitschüler, Sohn eines Architekten […], und der Geografieprofessor Pittioni, dieser kleine, glatzköpfige, von oben bis unten unansehnliche Mann, der der Mittelpunkt des Hohnes und Spottes aller meiner Mitschüler und tatsächlich des ganzen Gymnasiums gewesen war.“ (146/147) „Jede Schule als Gemeinschaft und als Gesellschaft und also jede Schule hat ihre Opfer, und zu meiner Zeit sind in dem Gymnasium diese beiden, der Architektenkrüppel und der Geografieprofessor, die Opfer gewesen.“ (148) „Und das Mitleid für dieses Opfer ist auch immer nur ein sogenanntes und ist in Wirklichkeit nichts anderes, als das schlechte Gewissen des einzelnen über die Handlungsweise und Grausamkeit der anderen, an welcher er in Wirklichkeit mit der gleichen Intensität als ein grausam Handelnder beteiligt ist.“ (151) „Und die Menschengesellschaft ist in dieser Hinsicht die niederträchtigste, weil raffinierteste […], die Moral ist eine Lüge.“ (152) „[…] Mein eigenes Unglück [war] tief in mir und in meinem von Natur aus in sich gekehrten Wesen verborgen gewesen, und der Vorteil solcher Wesensart ist, dass sein Unglück nicht erkannt ist und dadurch im großen und ganzen unbehelligt […] habe ich selbst mein Unglück immer unter der Oberfläche verstecken können, es unsichtbar machen können, und je unglücklicher ich gewesen bin, desto weniger von diesem Unglück war an mir und an (und in) meinem Wesen zu bemerken gewesen, und da sich mein Wesen nicht geändert hat, ist es heute wie damals, es gelingt mir fast immer, meinen tatsächlichen inneren Zustand zu verdecken mit einem nach außen gezeigten, der über meinen tatsächlichen inneren Zustand keinerlei Aufschluss gibt, diese Fähigkeit ist eine große Erleichterung.“ (157)
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Interpretation und Schluss Üblicherweise würde wohl jetzt eine einschlägige Interpretation dieser Zitatenfolge erwartet werden. Im Rückgriff auf den Titel dieses Beitrags könnte etwa herausgestellt werden, dass Bernhard in der Differenzierung und Gegenüberstellung von Erzeugung und Erziehung zum einen die biologische, nach seinem Urteil „kopflos und verantwortungslos“ (ebd. 88) vollzogene Bedingung für jede Erziehung benennt, auf der anderen Seite jedoch den Intentionen und Ansprüchen von Erziehung als einer gesellschaftlich organisierten und in Institutionen vollzogenen Anstrengung eine klare Absage erteilt.9 Eine anders geartete Deutung könnte so aussehen, dass etwa unter Berücksichtigung von Klaus Mollenhauers Hinweisen auf das, was er Thomas Manns „heuristische Hypothesen“ genannt hat, kreative und phantasievolle Analogien angebahnt würden zwischen diesem und ähnlichem Suchen und möglichen Resultaten und Antworten in den Texten Thomas Bernhards (vgl. zum Folgenden Mollenhauer 1998: 70f). Mollenhauer spricht im Zusammenhang solcher heuristischer Hypothesen beispielsweise von der Herstellung eines „Kontakts“ zwischen „Körperempfindungen und dem in Sprache sich artikulierenden Bewusstsein von sich selbst“ (ebd. 71), was vergleichbar wäre mit Bernhards schreibender Be- und Verarbeitung seiner lebenslangen Luft- und Atemnot. Mollenhauer benennt die „Balance zwischen seinem IndividuellBesonderen und den interaktiven ‚Verschränkungen‘ mit dem Allgemeinen der Sozietät“ (ebd.) als bedeutsam für die Bildung des Individuums, Bernhard spricht an mehreren Stellen von seinem in Gefahr geratenen oder ganz verlorenen „Gleichgewicht“ (Bernhard 1975: 23/55). Die für den späten Mollenhauer so wichtig gewordenen „ästhetischen Erfahrungen“ (Mollenhauer 1998: 71) spielen auch für Bernhards Werdegang eine zentrale Rolle; und letztlich klingt das, was Mollenhauer mit „Vorbehalt“ als „Merkmal einer besonderen, vielleicht skeptischen, Existenzweise“ oder genereller als „eine allgemeine und notwendige Komponente von Bildungsbewegungen“ (ebd.) vermutet, wohl kaum überhörbar aus den Untertiteln von Bernhards autobiographischen Bänden, nämlich „Andeutung“, „Entziehung“, „Entscheidung“ und „Isolation“. Ein durchgehend skeptischer Zug, d.h. die Infragestellung des Sinns und der Möglichkeiten einer positiven bzw. auf eine Verbesserung der conditio humana insgesamt abzielenden Gestaltung von Welt-, Fremd- sowie Selbstverhältnissen, dürfte in Bernhards gesamtem Werk nicht zu übersehen sein. Allerdings sollte bei allem heuristischen Optimismus, insbesondere mit Blick auf die erziehungs- und bildungstheoretische Ausdeutung von Bernhards Au-
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Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die erzieherischen Maßnahmen Johannes Freumbichlers, Bernhards Großvaters, hiervon ausgenommen sind (vgl. Markolin 1988).
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tobiographie, nicht vergessen werden, dass dieser mehrfach und alles Gesagte und Interpretierte wiederum relativierend betont hat, in seinen Büchern sei „alles künstlich“ (Bernhard 1989: 82). Wollte man abschließend eine Antwort auf die Frage „Alles noch offen?“ in der Formulierung des Themas der Tagung geben, die diesem Band vorherging, so bliebe auf den Einzelfall der Jugenderinnerungen Thomas Bernhards bezogen wohl kaum anderes übrig als ein deutliches „Nein“. Über weite Strecken seines – nicht nur autobiographischen – Werks ist Thomas Bernhard ein exemplarischer Fall von oder für10 die von Jürgen Oelkers beschriebene “Entzauberung pädagogischer Ambitionen“ (Koller/Rieger-Ladich 2005: 10).11 Ob sich diese und andere Antworten allerdings über diesen oder andere Einzelfälle hinaus verallgemeinern lassen und von daher, in welche Richtung auch immer, auf mehr geschlossen werden kann als auf ein erziehungs- und bildungswissenschaftlich interessantes und willkommenes, aber höchst situatives bzw. individuelles Anregungspotential ausgesuchter literarischer Texte, das bleibt – und insofern ist die Skepsis der Eingangsthese aufrecht zu halten – fraglich.
Literatur Andresen, Sabine (2005): Einführung in die Jugendforschung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bartsch, Kurt/Goltschnigg, Dietmar/Melzer, Gerhard (Hg.) (1983): In Sachen Thomas Bernhard, Königstein/Ts.: Athenäum. Bernhard, Thomas (1975): Die Ursache – Eine Andeutung, Salzburg: Residenz. Bernhard, Thomas (1976): Der Keller – Eine Entziehung, Salzburg: Residenz. 10 Die vermeintlich nebensächliche Unterscheidung eines exemplarischen Falles „von“ oder „für“ berührt eine weitere methodische Problemdimension, die hier nicht hinreichend ausgeleuchtet werden kann. Gemeint ist die auf Kants Lehre vom Exempel zurückgehende und von Günther Buck mehrfach bearbeitete Thematik der Identifizierung bzw. argumentativen Verwendung von Beispielen. Buck macht darauf aufmerksam, dass das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem nicht der Logik eines Falles folgt, sondern eher von der spezifischen Struktur eines Ablaufs von Beispielen bestimmt wird. Für das die Tagung leitende methodische Problem des pädagogischen Erkenntnisgewinns aus literarischen Beispielen würde das bedeuten, dass situativ gesuchtes Wissen, wenn es entsteht, wohl aus einer Vielzahl von kontingenten Quellen und deren Arrangement entsteht und nicht aus einer Subsumptions- oder Anwendungslogik hergeleitet werden kann (vgl. dazu Buck 1967, 1979). 11 Vgl. dazu Oelkers (1985). Überzeugende Beispiele für literarische bzw. musikalische Kritik und Skepsis gegenüber Pädagogik gibt Rösler (2005).
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Bernhard, Thomas (1978): Der Atem – Eine Entscheidung, Salzburg und Wien: Residenz. Bernhard, Thomas (1981): Die Kälte – Eine Isolation, Salzburg und Wien: Residenz. Bernhard, Thomas (1982): Ein Kind, Salzburg und Wien: Residenz. Bernhard, Thomas (1983): Der Untergeher, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bernhard, Thomas (1989): Der Italiener, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Blankertz, Herwig (1959/1981): »Der Erzieher des Zauberberg – Lodovico Settembrini. Eine Studie zum Verhältnis von Inhalt und Ethos humanistischer Pädagogik«. In: Walter Müller (Hg.) (1981), Zauberberg erneut bestiegen, Wetzlar: Büchse der Pandora, S. 65-78. Brumlik, Micha (2006): »›Kultur‹ ist das Thema. Pädagogik als kritische Kulturwissenschaft«. Zeitschrift für Pädagogik 52, S. 60-68 . Buck, Günther (1967): Kants Lehre vom Exempel. Archiv für Begriffsgeschichte Bd. XI, S. 148-183. Buck, Günther (1979): »Über das Identifizieren von Beispielen – Bemerkungen zur ›Theorie der Praxis‹«. In: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität (Poetik und Hermeneutik Bd. VIII), München: Fink, S. 61-81. Dittmar, Jens (Hg.) (1990): Thomas Bernhard Werkgeschichte – Aktualisierte Neuausgabe 1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Dörpinghaus, Andreas/Poenitsch, Andreas/Wigger, Lothar (2008): Einführung in die Theorie der Bildung, 2. Auflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Geertz, Clifford (1987): »Dichte Beschreibung – Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur«. In: Ders., Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 7-43. Göller, Thomas et al. (2005): »Die kulturwissenschaftliche Wende in den Geisteswissenschaften und die Philosophie. Stellungnahmen von Thomas Göller, Birgit Recki, Ralf Konersmann und Oswald Schwemmer«. Information Philosophie 33 (3), S. 20-32. Gould, Glenn (1994): Salzburg Recital 25. August 1959 (Musik-CD), SonyClassical SMK 53474. Iser, Wolfgang (1993): Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Köhler, Anja (2001): Vichy und die französischen Intellektuellen: Die ‚années noires‘ im Spiegel autobiographischer Texte, Tübingen: Narr. Koller, Hans-Christoph/Rieger-Ladich, Markus (Hg.) (2005): Grenzgänge. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane, Bielefeld: transcript. Lyotard, Jean-François (1986): Das Postmoderne Wissen – Ein Bericht, Graz und Wien: Böhlau. Markolin, Caroline (1988): Die Großväter sind die Lehrer – Johannes Freumbichler und sein Enkel Thomas Bernhard, Salzburg: Otto Müller. 61
ANDREAS POENITSCH
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Hoffnungslose Jugend? Zur Frage nach der Bedeutung von Jugend und ihren Aufstiegshoffnungen bei Elfriede Jelinek und Paulus Hochgatterer REINHOLD STIPSITS
Da kannst du was, da hast du was und denkst doch immer da verpasst du was Da lernst du was, da bist du was und denkst noch immer da vermisst du was (Hildegard Knef)
Zum Einstieg Der Zusammenhang von Ausbildung und Jugendarbeitslosigkeit ist weitgehend unbestritten. Die „Chance“ arbeitslos zu werden ist ungleich größer, wenn jemand eine niedrige, abgebrochene oder unvollständige Schulausbildung in der Biographie aufweist. Die Gleichung „Da lernst Du was, da bist Du was“, ist für lange Jahre der wirtschaftlichen Prosperität aufgegangen. Verbunden mit dieser Auffassung waren die Möglichkeiten in der gesellschaftlichen Stufenleiter aufzusteigen. Heute sehnt sich die „Generation Praktikum“ nach sicherem Arbeitsplatz und geregeltem Einkommen, nach Dingen, die für viele am gegenwärtigen Arbeitsmarkt unerreichbar sein dürften (vgl. Der Standard 2007b, Friesl 2008). Vor diesem Hintergrund will ich die Lektüre von zwei aktuellen Texten österreichischer Literatur aufnehmen und nach der Bedeutung von Jugend in diesen Texten fragen. Jugend wird oftmals als jene Lebensphase beschrieben, die vor allem mit Offenheit (in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht) und mit 65
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Erwartungen, Hoffnungen (etwa auf den gesellschaftlichen Aufstieg) verbunden wird. Zugegeben, hier schimmert ein persönlicher Hintergrund durch. Mit der Erinnerung an die eigene Jugend verbinden sich das Gefühl von sozialer Benachteiligung und die Erinnerung an eine Art von Erwartungen, Hoffnungen und Zuversicht an gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung und Ausbildung. Meine zentrale These ist: Früher war mit Ausbildung die Erwartungshaltung an Jugendliche verbunden, durch eine Anpassungsleistung den gesellschaftlichen Aufstieg zu erreichen. Eine vertikale Anpassung war gesellschaftlich erwünscht und garantierte Sozialprestige. So konnte man zwischen Gewinnern und Verlierern in der Gesellschaft klar unterscheiden. Inzwischen hat sich der Stellenwert von Ausbildung relativiert und die Garantie auf einen Arbeitsplatz durch noch so gute Ausbildung ist nicht mehr gegeben. Dadurch sind die Erwartungshaltungen an die Jugend heute anders: horizontale statt vertikaler Anpassung ist gefragt. Das Schlüsselwort dazu ist Integration. Trotz oder gerade durch eine Vielfalt von unterstellten Möglichkeiten sind heute benachteiligte Jugendliche in anderen schwierigen Lagen. Die Erwartungen an Jugendliche in prekären Situationen, bei Armutsgefährdung, Jugendlichen mit Migrationshintergrund, bei Minderheiten, sind weniger auf Aufstieg, sondern eher auf Integration gerichtet. Und auch jene Jugendlichen, die in günstigen Lebensbedingungen aufwachsen, haben deshalb nicht weniger Probleme, die an sie gerichteten Erwartungen zu erfüllen, oder eigenen Erwartungen nachzugehen. Sie haben schlicht andere – die durch die Rede von Integration zugedeckt wird. In einer „integrativen“ Gesellschaft wären dann alle untergebracht. Jugendliche haben dann nichts mehr zu erwarten und zu hoffen. Jugendliche und die Jugend stehen in der folgenden Abhandlung im Fokus. Welche Konturierungen von Jugend finden sich in den zwei untersuchten Romanen? Wie zeigt sich diese Lebensphase Jugend hinsichtlich Offenheit, Erwartungen und Hoffnungen auf den gesellschaftlichen Aufstieg? Wie ist das Verhältnis der Erwachsenen zu den Jugendlichen? Welche fördernden oder hemmenden Autoritäten sind im Spiel? Der vorliegende Text wird sich diesen Fragen stellen und abschließend wieder auf sie zurückkommen. Zuvor noch einige methodische Überlegungen zur Beziehung von Literatur und Wissenschaft. Literatur erzählt, und hat damit alle Möglichkeiten, sich dem Einzelfall zu widmen. Das Besondere, das Ausgefallene, erweckt die Aufmerksamkeit, und je nach Erzählperspektive folgen die LeserInnen den Schicksalen der „Helden“. Die Wissenschaft hingegen beansprucht eine gewisse Verallgemeinerbarkeit von Aussagen und will diesen Geltungsanspruch durch ein umfangreiches Methodenrepertoire sicherstellen. Eine Schnittstelle zwischen Literatur und Wissenschaft bildet die pädagogische Biographiefor-
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schung.1 Ihre Ergebnisse beruhen u.a. auf Interpretationen von biographisch ausgerichteten Fallgeschichten, literarischen Autobiographien, die einen Bezug zur Erziehung aufzeigen lassen. Selbstthematisierungen von AutorInnen sind eine wichtige Quelle für biographische Arbeit. In welcher Weise sich die Schöpfer der Romanfiguren selbst autobiographischen Materials bedienen, kann nur im Einzelfall geprüft werden. Es mag nahe liegend sein, dass der persönliche Bezug zu den dargestellten Figuren gegeben ist. Ebenso spricht einiges dafür, die Herkunft von Charakteren dem Erfindungsreichtum einer sprudelnden Phantasie zuzurechnen. Ein Kriterium könnte sein, inwiefern es Schriftstellern aufgrund der Gabe der Einfühlung und/oder der genauen Beobachtung gelingt, durch ästhetische Darstellung glaubhaft zu machen, dass die dargestellten Figuren in bestimmten Situationen so empfinden, denken und handeln könnten. Damit alleine verbindet sich noch keine wissenschaftliche Wertung. Literarische Texte sind ernstzunehmende Befunde, gekonnte Verdichtungen, phänomenologische Annäherungen an die Welt. (Auto-) Biographien – aus einer Erfindung oder Konstruktion entstanden – könnten als Zeugnis unterschiedlicher Weise der Lebensbewältigung gelesen werden. Realitätsbezug ist keine genormte Größe. Der folgende Abschnitt untersucht also die Texte nach diesen Darstellungen von Jugend. Aufstieg in der gesellschaftlichen Stufenleiter ist per se zunächst eher ein politisches, oder soziologisches und nicht in erster Linie ein pädagogisches Thema. Dennoch, durch die literarische Darstellung von pädagogischen Einrichtungen, Lehrern und Schülern, Chefs und Untergebenen, Maßnahmen, Ausbildungswegen, Karrieremustern und individuellen Erfahrungen von Konkurrenz und Kooperation in Schulen und Betrieben ist es möglich, ein Verständnis von Jugend und ihrer Aufsteigerambition zu gewinnen. AutorInnen entwerfen davon Bilder, Bilder von Jugend und Jugendlichen, deren Lebenswelt, in sprachlicher Form.
Aufstieg 1 – Elfriede Jelinek: Michael Zunächst also zu Elfriede Jelinek und zu Elementen aus ihrer Biographie und ihrem Werk. Jelinek wehrt sich gegen eine Behauptung, die von ihr erschaffenen Figuren wären durch ihre Biographie stimuliert. Sie nennt ihren größten Publikumserfolg Die Klavierspielerin (Jelinek 1983), besonders durch die geniale Verfilmung von Michael Haneke (2000) auch dem nichtlesenden Publikum bekannt geworden, eine „eingeschränkte Biographie“. Jelinek, geboren 1946 in Mürzzuschlag in der Steiermark, bezeichnet sich selbst als Wienerin,
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Vgl. Baacke/Schulze 1979; Schulze 2002; Kraul/Marotzki 2002; Krüger/ Marotzki 2006; Fäh/Sollmann 2007 u.v.m.
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die nie in der Steiermark gelebt hat.2 Allein mit dieser Aussage betont sie, wie sehr ihr das kleinstädtische und ländliche Milieu in tiefster Seele zuwider ist. Ihre Familiengeschichte kommentiert sie mit Zurückhaltung: Das großbürgerliche Elternhaus, eine schwierige Kindheit mit einem abwesenden Vater, der dann in der Psychiatrie umgekommen ist, und einer sehr dominanten Mutter. Bekannt ist auch, dass Elfriede Jelinek als Kind von einem berühmten und angesehenen Wiener Heilpädagogen, Professor Doktor Hans Asperger, als Patientin behandelt wurde. Das „Asperger Syndrom“, eine auch in der Kinderheilkunde umstrittene Form des Autismus, weil sie zwischen der Stigmatisierung einer Krankheit und der Auszeichnung einer Besonderheit als Spezialbegabung angesiedelt ist, könnte sich als Lebensthema für die Person Elfriede Jelinek durchhalten. Die ihr immer wieder nachgesagte Unerbittlichkeit, Härte und Spröde ihres Werkes nimmt keinen Bereich der Gesellschaft aus. Unterdrückte Sexualität, Genderfragen, Katholizismus, Kapitalismuskritik, Faschismus, Sport, Krieg und Gewalt, in alle diese Bereiche sendet sie ihre Brandpfeile. Sie entfacht Brände, bei der Literaturkritik genauso wie beim Publikum, Zustimmung und massive Ablehnung. Freiwillige Isolation, Sonderbehandlungen, die ihr von Kindheit an vertraut sind, sucht sie auf. In besonderer Weise sind ihr die dumpfbackigen Spießer in ihren unreflektierten Alltagsmeinungen, ihrer Doppelmoral, ihren verdrängten Obsessionen ein Gräuel. Sie leidet offenkundig darunter und – als müsste sie sich von den Einengungen der bürgerlichen Wertvorstellungen ihrer Umgebung mit einem Seziermesser befreien – nimmt Skelettierungen mit der gespitzten Feder vor.3 Ihren eigenen Worten zufolge liegt darin ein politischer Anspruch. „Es geht mir um ein politisches Anliegen im weitesten Sinn, um Entmythologisierungsvorgänge, darum, polemisch und aggressiv Sachverhalte zu skelettieren.“ (Jelinek, zit. nach Meyer 1994: 48). Jelinek schreibt so, wie ein Pathologe operiert, der täglich mit den schaurigsten Geschwüren und malignen Wucherungen zu tun hat, in die er hinein schneidet, nachträgliche Gewissheit bekommt, und dabei doch einen Abstand halten muss, um sich selber nicht zu vergiften. Abstand halten wird zu einem Überlebenskonzept.4
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Vgl. Jelinek 2008. Der Ortsname Mürzzuschlag bezieht sich auf einen Fluss (Mürz) und hat mit dem Schreibstil der Autorin nichts zu tun. Faktum ist: Jelinek ist eine bekennende Schriftstellerin am Computer. Sie hat nicht nur eine sehr sorgfältig von ihr betreute Homepage, sie schreibt sozusagen seit der ersten Stunde am Computer. Gegenwärtig arbeitet sie an einem Roman in Fortsetzungen, der nur über Internet zugänglich ist und nicht gedruckt werden soll. Ihre politische Überzeugung hat sie auch durch ein von ihr verfügtes, eine zeitlang geltendes Aufführungsverbot ihrer Stücke an österreichischen Bühnen ausgedrückt. Ungeachtet dessen wurde sie mit zahlreichen Literaturpreisen durch
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Distanz hält sie auch in ihrem bereits 1972, mit 26 Jahren, geschriebenen Roman Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft. Kurz der Inhalt: Die beiden Hauptdarstellerinnen des Romans sind zwei sechzehnjährige Berufsschülerinnen, „gerda“ und „inge“. Jelineks Protagonistinnen bewohnen austauschbare Orte vor den Bildschirmen, untergebracht sind sie in einem Lehrlingsheim. Die beiden Mädchen in der Geschichte arbeiten als Lehrlinge in einem Friseurbetrieb. Sie haben ihre Wahrnehmung fast nur auf die Welt der Fernsehserien eingerichtet. Unter anderem borgen und benutzen sie von TV-Serien wie Lieber Onkel Bill und Flipper und von Fernsehstars wie Udo Jürgens, Peter Alexander, Inge Meisel die Sprache. Ihre „Aufregungen“ und Gesprächsthemen beziehen sie aus dem Vorabend- und Hauptprogramm. In einer Art Collagetechnik treibt Jelinek die Handlung voran. Wesentlich sind eingeschobene Reflexionen zu den Protagonisten und über deren mögliche Motive und Erwartungen aus der Sicht von Kommentatoren. Fernsehsprecher, bezeichnenderweise damals Programmansager genannt, die dem Zuschauer das Programm erklären sollten, haben für die öffentliche Macht eine unverzichtbare Funktion (gehabt). Anstatt einer klar aufbauenden Handlung und Entwicklung der Figuren, wie im traditionellen Romanstil, springt die Handlung manchmal auf die innere Welt der „Heldinnen“, dann wieder auf die Umstände. Klassenbezüge werden hergestellt. Autos haben Fetischcharakter und sind Statussymbole (vgl. Jelinek 2004: 63). Die bewusste Verwendung von umgangssprachlichen, österreichischen Wendungen der eher sozial niedrigeren Schichten der Bevölkerung zeigt konsequent den Abstand auf, z.B. zwischen Berufsschülern und „gümnasiasten“. Man trägt einen „püjama“, macht „gümnastik“, phantasiert sich fix im „olümpiaaufgebot“, isst „tschokolade“ der Marke „Bensdorf“ (eigentlich „Bensdorp“). Die Tischsitten und Umgangsformen, oder was man dafür zu halten hat, werden in einer Weise lächerlich gemacht, in dem sie in der Banalität des Alltäglichen herausgestellt und mit Diminutiven unterlegt werden. „aber wer sitzt als erster am tisch? das leckermaul thomas. aber buberl das darf man doch nicht die omi ist die älteste sie setzt sich zuerst und bekommt als erste vorgelegt. will torte haben! thomas steckt ganz reizend den ungezogenen buben spielend sein händchen mitten in die sahnekrone auf der torte. pfui bub das tut man doch nicht! du bist ein schweinderl. die oma säubert zuerst die patschhände mit ihrer serviette dann nimmt sie den schweren tortenheber aus silber und schlägt ihn dem kleinen thomas zur strafe auf die finger seine finger hängen gleich unbenützbar herunter und werden blau. omi thomas nicht mehr hauen! so bittet er weinend.“ (Ebd. 47)
ihre gesamte schriftstellerische Karriere hindurch bedacht und schließlich 2004 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
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Werte verbergen sich in platten Allerweltsweisheiten, die durch Fragen nach dem Idol erhoben werden. „mein idol ist dass ichs im beruf zu etwas bringe, dass alles klappt. […] auf die frage nach dem idol antworten arbeiter: karl: ich habe kein idol wenn man arbeitet hat man für so was keine zeit. (auch einige andere sind derselben meinung). […] mein idol ist der sozialismus denn ich bin für den frieden und gegen die sozialen ungerechtigkeiten also gegen die ausbeutung des menschen durch den menschen. käthe: mein ideal sind die kinder denn was andres haben wir nicht. gitte: mein ideal ist die arbeit. mich freut die arbeit, denn wenn einen die arbeit nicht freut dann braucht man ja gleich nicht zu arbeiten. gerda: mein ideal wäre es von der arbeit zu hause bleiben zu können. […] hilde: mein ideal ist es gut und anständig und arbeitsam zu leben. dann wird man auch ein guter staatsbürger sein und es zu etwas bringen. die nichts leisten wollen, fort mit ihnen!“ (Ebd. 35)
Das Verhältnis der Erwachsenen zu den Jugendlichen ist ein herrschaftliches, von oben herab werden Anweisungen gegeben. Für den Chef putzen sich die Mädchen heraus, sind auf naive Weise gefallsüchtig, und lassen sich auch jede Menge gefallen. Jelinek stellt Herrschaftsverhältnisse aus der Sicht eines Chefs dar, der sich seinen Angestellten gegenüber als verdeckter Sadist und sexuell belästigend gebärdet. „wie sagt man, wenn man etwas möchte? bitte bitte. ich höre nichts. bitte! na also. trotzdem stopfe ich ihnen den echten fuchskragen in den hals dass sie röcheln müssen. was kostet das? das soll die allerletzte frage gewesen sein. ja wo ist denn meine inge? komm her. küsschen geben, schnell! inge kommen sie bitte her, ich will ihnen so weh tun dass sie sich senkrecht aufrichten wie flipper.“ (Ebd. 8)
In zunächst harmlos aufgebauten Szenen, findet Jelinek Material für ihre Abrechnung mit Abhängigkeitsverhältnissen. Sie zeigt schonungslos den Machtmissbrauch auf, scheinbar gefühlsabstinent bringt sie die Leser zum Kochen.
„warum tun sie das? seufz. mein chef ist so streng zu uns. und jetzt sind sie auch streng zu uns. wir bemühen uns doch. ich möchte mich der meinung meiner freundin anschliessen. ich bin der meinung dass sie uns nicht schlagen dürfen weil wir im büro genug zu tun haben. ich steche ihnen das rechte auge aus und stochere in der höhle herum. vielleicht haben sie recht aber änderungen gehen nicht von heute auf morgen. ihr rechtes auge rinnt schon hellrot aus. sie sind jetzt ein mensch mit einem leeren auge und einer
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leeren augenhöhle gerda. Sie tropfen über die neuen sachen und springen herum weil sie nur mehr flächig und nicht räumlich sehen können. sie schätzen die entfernungen falsch ein. also so geht das nicht! reden können sie in ihrer freizeit genug. warum heulen sie denn? natürlichkeit ist trumpf. gerda fällt wie ein frosch und schreit ein bisschen und verliert farbe.“ (Ebd. 9)
Die Underdog-Position wird ausweglos dargestellt, die Förderung Jugendlicher unterbleibt krass. Mit dem sprachlichen Mittel der Übertreibung reiht sich Jelinek in die österreichische Literaturtradition ein.5 Die Jugendlichen in diesem Roman erwarten nicht viel vom Leben: Wenn nicht gerade Fernsehen, dann Tanzen, Coca Cola, Mopeds, Jugendklub, das ist alles. Und die Erwartungen der Erwachsenen an die Jugendlichen sind auch nicht gerade von Zuversicht geprägt. Jelinek dekuvriert das Instrument der politischen Meinungsbefragung, macht es lächerlich, und noch mehr die Befragten. So kommen z.B. Einschübe von „Befragungen“ im Text vor. „wovor haben sie angst? die frage geht an kaufm. angestellte. ich hätte angst vor einer existenziellen bedrohung. ich habe angst wenn das gewitter zu arg wird oder vor einer roten regierung. ich habe angst dass wir nicht rechtzeitig erkennen, dass die zukunft unserer jugend gehört. sie würde es verdienen, meine gute jugend, dass sie nicht im haschisch versinkt. ich hätte angst vor einem einbrecher. ich habe angst vor dem älterwerden. ich habe als christ keine angst. ich habe angst dass ich meinen arbeitsplatz verliere. ich habe angst gott zu missfallen. ich habe vor meinem chef angst.“ (Ebd. 111)
Michael, häufigster deutscher Name, ist eine der Projektionsfiguren aus dem Fernsehen, ein strebsamer Aufsteiger, der zuletzt Juniorchef wird, Patrizia, die Tochter des Fabrikbesitzers, heiratet, mit ihr schließlich ein Kind bekommt: Die heile Welt? Mitnichten. Wie kann so eine Geschichte aufhören? Nun, für Jelinek mit einer Bestätigung am „ende der wirklichkeit“: „es scheint tatsächlich so: ende gut alles gut. im fernsehen haben alle diese sachen ein ende. in der wirklichkeit hat man eher das gefühl, sie fangen dauernd an, vielleicht deshalb, weil sie so lange anhalten.
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Übertreibung und Ironie sind aus der Literatur österreichischer Schriftsteller nicht wegzudenken. Sie finden sich bei Johann Nepomuk Nestroy, Karl Kraus, Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Thomas Bernhard und eben Elfriede Jelinek. Karin Priem verdanke ich den Hinweis auf Felicitas von Lovenbergs sehr amüsante und anschauliche „Befragung“ nahezu aller AutorInnen österreichischer Gegenwartsliteratur in Wiener Cafehäusern (vgl. Lovenberg 2008). Zur Ironie im Philosophie- und Ethikunterricht äußern sich Didaktiker sehr sparsam (vgl. Rohbeck 2007: 82).
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vielleicht dauert die wirklichkeit sogar noch an, wenn ihr das hier lest. glaubt ihr nicht, dass sie schon zu lange ist für ein gutes stück? kein mensch kann so lange zuschauen ohne dass ihm alles weh tut.“ (Ebd. 140)
Jelinek bzw. ihre Figuren sprechen nicht mit erhobenem Zeigefinger. Sie sticht mit dem Zeigefinger gleich ins Auge des Lesers. Es zeigt sich, dass das Bild der Jugend in dem Roman Michael von wenig Hoffnung auf einen Aufstieg geprägt ist. Devot nehmen die Jugendlichen ihr Schicksal hin, träumen von den im Fernsehen gezeigten Welten, fügen sich in die vorgegebene Laufbahn und beugen sich der Welt der Erwachsenen: Vertikale Anpassung überwiegt.
Aufstieg 2 – Paulus Hochgatterer: Über Raben Paulus Hochgatterer, Jahrgang 1961, aus einer anderen österreichischen Kleinstadt, Amstetten, ist seinerseits eine Mehrfachbegabung. Er ist ausgebildeter Mediziner, Kinderpsychiater, und als solcher der Leiter einer Einrichtung in Wien, die sich gestrauchelter Jugendlicher in besonderer Weise annimmt (Institut für Erziehungshilfe). Er ist seit gut fünfzehn Jahren als regelmäßiger Autor von Romanen in Erscheinung getreten, mit einer Literatur, „wie sie realistischer und spannender nicht in Amerika oder sonst wo hätte geschrieben werden können“ (das zumindest verheißt der Klappentext zu Caretta Caretta, einem Roman um einen fünfzehnjährigen Strichjungen im Drogenmilieu). Seine literarischen Arbeiten spielen in einem Ambiente, das zum Teil von seiner psychiatrischen Tätigkeit inspiriert scheint, ohne sich gleich dem Verdacht aussetzen zu müssen, er würde seine Fälle dazu verwenden, sich an ihren Schicksalen zu weiden. Der biographische Anteil des Autors ist zweifelsohne auch in dem Roman Über die Chirurgie (Hochgatterer 1993) mit einem Arzt, einer Psychoanalytikerin und einem Schriftsteller als Hauptfiguren erkennbar. Sehr feinsinnig und nachvollziehbar beschreibt Hochgatterer in packenden Romanen die Innenwelt seiner Protagonisten. Das wird ihm rundum vom deutschsprachigen Feuilleton sehr positiv attestiert (u.a. Karl Markus Gauß rezensiert ihn sehr lobend in der Neuen Zürcher Zeitung, auch für die Berliner Zeitung ist er „längst kein Geheimtipp“ mehr, für die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist er als „starker Autor“ zu entdecken). Die Lektüre von Über Raben (Hochgatterer 2004) erschließt den Blick auf die Welt von Jugendlichen. Der Widmung zufolge wurde der Roman „für die bösen Kinder und die schlechten Lehrer“ geschrieben. Kurz gefasst geht es in der Geschichte, die in zwei Parallelhandlungen abwechselnd erzählt wird, um die Welt eines Lehrers, der sich im Alleingang auf eine winterliche Hochge72
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birgstour aufmacht, und um den Schulalltag einer Dreizehnjährigen. Sie lebt sehr selbständig in einer Stadtwohnung mit einem Kater, der nach einem in Österreich spielenden polnischen Fußballprofi benannt wird. Der Lehrer hat offenbar eine schwierige Zeit hinter sich und einige dunkle Absichten treiben ihn ins Gebirge. Konkurrenz und ein ständiges Vergleichen mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Lehrkörper beschäftigen ihn. In seiner Erinnerung an frühere Bergtouren zeigt er uns etwas aus dem Innenleben eines Einzelgängers, offenkundig eines Tourenliebhabers. Er ist ein Spezialist, der sich neben einigen deftigen erotischen Memoiren Lust aus der Schwierigkeit und dem Alleinsein holt. Er braucht die andern nicht, geht seinen Weg der Rache, die er zumindest in seinem Kopf durchspielt. Er fühlt sich verfolgt und steigt dabei immer höher. Seine Einengung ist, dass er sich auf hohem Niveau versteigt, bis er zu dem Nest eines riesigen Raben kommt. Während seines eigensinnigen Aufstiegs erinnert er sich hin und wieder an eine Schülerin, die mit den abstehenden Ohren. Wir wissen nicht, wie nahe er ihr wirklich war, ob hier ein schwelender Vorwurf gegen ihn ansteht, oder ob er tatsächlich gesucht wird von seinen Widersachern. Gelegentlich fallen ihm Aufsätze von Schülern ein, die er aufgegeben hatte. Seine Erinnerung kreist um Satzanalysen, hängt an Aufsätzen zu Allerweltsthemen wie „Mein Weihnachtsabend“, und „Die Landschulwoche“, durchstreift flüchtigen Lehreralltag. Sein Verhältnis zu Schülern bleibt verschwommen. Er interessiert sich mehr für Gipfelbücher, dafür, wer noch hier war. Eintragungen anderer Bergsteiger über Gewitter in den Bergen studiert er mit großer Aufmerksamkeit. So, wie es Rabeneltern gibt, muss es auch Rabenlehrer geben. Bei leichtem Schneefall biwakiert er im Freien. Durch das Zielfernrohr seines Gewehres hält er Ausschau nach Verfolgern, zielt auf den Raben, ohne abzudrücken. Der Aufstieg des Lehrers ist, an einem Grat entlang, an ein Ende gekommen. Anderes zeitigt der Blick auf das Leben des Mädchens. Für sie ist das alltägliche Rätsel ihres Lebens, wie sie es schafft, jeden Tag drei Minuten vor acht Uhr in der Schule, einem Wiener Nobelgymnasium im Ersten Bezirk, zu sein. Ihr Blick auf Mitschülerinnen gibt uns sehr sprunghafte Gedanken aus ihrer Sicht frei. Kleidung, Konkurrenz, Nähe-Distanz-Verhältnisse in der Schule, unter den Mitschülern werden gnadenlos kommentiert und cool unterspielt. Mit ätzenden Bemerkungen kommentiert sie das Lehrer- und Schülerverhalten bei Prüfungen. Rivalität zur Klassenkollegin mit Migrationshintergrund schlägt durch. „Ich schätze, sie ist dort in Rumänien in eine Hochbegabtenvolksschule gegangen. Dafür dass sie dick ist, kann sie nichts.“ (Ebd. 29) Die attraktive Englischlehrerin bewundert sie, von ihr weiß sie auch Details aus dem Privatleben. „Lily Bogner heißt mit dem Vornamen eigentlich Elisabeth, wird am vierzehnten Mai neunundzwanzig, wohnt in einer Altbauwohnung hinter dem Volkstheater und
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hat einen Freund, der um ein halbes Jahr jünger und Architekt ist. Sie besitzt eine Bulthaup-Küche und keine Haustiere. Nach dem Studium hat sie ein Jahr lang an einer privaten Mädchenschule in Surrey unterrichtet. Oder gelernt, oder beides. Ist ja egal. Man recherchiert sich halt so durchs Leben.“ (Ebd. 33)
Diese legere Belanglosigkeit ist ihr in vielen Situationen eigen. Schule ist wahrlich nicht alles im Leben dieser Dreizehnjährigen. Sie spaziert gerne und ausgiebig durch die Wiener Innenstadt. Sie ist Verkäuferinnen gegenüber frech, unbekümmert, eine junge Zicke mit Charme und ausgeprägtem Konsumverhalten. Sie ist eine Art fashion victim mit Markenbewusstsein. Schule und Einkaufen bestimmen ihren Alltag, im Hintergrund gängige Popmusik. Ihre Gedanke und Tagträume sind gespickt mit Füllseln an unverbundenem Merkwissen aus dem Unterricht. Dazu phantasiert sie Morde an Trafikanten, Postamtsleitern, Reifenhändlern, Ministerialbeamten. Einer befreundeten Nachbarin leistet sie Hilfe und Gesellschaft während deren Krankheit. In Bezug auf Gleichaltrige gilt in letzter Konsequenz: eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Der Zusammenhang zur Lehrerhandlung bleibt ebenso wie das Ende des Romans selbst offen. Die Figuren Hochgatterers unterspielen in ihrer betonten Lässigkeit ihren Stress, ihre Ambitionen und Hoffnungen auf eine Teilhabe an den Chancen der Erwachsenenwelt. Die Jugendliche, wie sie Hochgatterer zeigt, ist an der Gestaltung ihrer Umgebung beteiligt. Ihre Interessen hat sie überall. Zum Semesterschluss kommentiert sie ihre Noten lakonisch: „Meine Noten sind in Ordnung. Keine Überraschung. ‚Danke schön‘, sage ich. Ich falte das Blatt einmal und lege es vorne in den Pons. Dann nehme ich meine Sachen und gehe.“ (Ebd. 210) Insgesamt bleibt offen, ob die Figur des Lehrers von der Schülerin erdacht war oder die Schülerin der phantasierten Welt des Lehrers entstammt. Der Leser, die Leserin tun ihres dazu, diese Figuren zur „Wirklichkeit“ werden zu lassen. Jugendliche in ihrem Gymnasium planen in ihrer gedanklichen Parallelwelt zum Unterrichtsgeschehen ihr Dasein von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Von ihnen wird eine horizontale Anpassung erwartet, ein Aufruf zur Unauffälligkeit, eine Einebnung. Das ausführliche Bild lebendigen Schulalltags wird jetzt verlassen, um einigen abschließenden Überlegungen Raum zu geben.
Ausstieg In der Sprache des Bergsteigens wurde von einem Einstieg und zwei unterschiedlichen Aufstiegen berichtet. Der Einstieg war: Literarische Beispiele von Jugendlichen bzw. über Jugendliche sind eine Form empirischer Quellen über deren Lebenswelten. Die Quellen scheinen trefflich die Lebenswirklich74
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keit abzubilden und sind durch ihre ästhetische Gestaltung ansprechender als durch Operationalisierung beobachtbaren Verhaltens und Reduktion von Komplexität gewonnene Aussagen. Die These war, an die Stelle vertikaler Anpassung sei eine horizontale Anpassung getreten. Die Zeitdiagnose aus den im Abstand von dreißig Jahren geschriebenen Romanen kann einigen Aufschluss darüber geben, dass sich das Bild der Jugendlichen und der Blick auf Jugend bei den Literaten verändert haben. Wenn bei Jelinek von angepassten Jugendlichen die Rede ist, die auf die Medien abgerichtet und von den Medien zugerichtet werden, verschieben sich die Träume, Hoffnungen, Erwartungen der Jugendlichen auf die „time to come“. Zukunft findet irgendwo statt, Jugendliche fungieren in dieser Welt nur mehr als Zuschauer. Benachteiligte Jugendliche sind diesem Überangebot von suggerierten Welten des schmerzfreien Glücks und des Wohlbefindens durch Massenmedien in besonderer Weise ausgesetzt. Teilhabe ist ganz einfach zugänglich: man hat seinen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen und behält ihn gewissermaßen ein Leben lang bei. Arbeitsplätze sind an das Wohlwollen des Chefs gebunden. Von Offenheit ist nicht viel zu merken. Sozialer Aufstieg ist einigen wenigen vorbehalten. Anderer Wettbewerb kennzeichnet unsere Gegenwart. Das entspricht auch dem Bild der Jugendlichen in Hochgatterers Roman Über Raben. Die Jugendliche aus dem Roman könnte heute bereits Absolventin eines Studiums sein. Sie wäre nicht davor gefeit, arbeitslos zu sein. Allerdings würde ihr Interesse wohl nicht mehr einer einzigen Richtung gelten. Hoffnungslos wäre es, nur an eine Richtung zu denken. Die Darstellung einer veränderten Jugendszene deckt sich mit den Befunden aus der Österreichischen Jugend-Wertestudie (vgl. Der Standard 2007c, Friesl 2008). Die unmittelbaren Gewinner im Spiel um soziales Prestige in der veränderten Wertelandschaft sind die jungen Mädchen. Allerdings ist der Preis auch sehr hoch. Das langsame Aufbrechen patriarchalischer Strukturen hat noch keinen nachhaltigen Niederschlag in der Wertepräferenz gefunden: Junge Männer schlüpfen in alte Rollen, sind unbeweglicher als junge Frauen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird vom Sicherheitsdenken dominiert. Aufsteigergedanken sind riskant, und wenn dann muten sich Männer dieses Risiko zu. Das heißt, die Frauen müssten darauf verzichten, Karriere zu machen. Traditionelle Rollenaufteilung der Hausarbeit wird erwartet. Spezialisierungen von Kompetenzen sind ratsam, aber bergen auch das Risiko der Verengung. Zum Ausstieg aus den Überlegungen: Wie sehr kann man von hoffnungsloser Jugend sprechen? Von Jugendlichen erwartete Vorleistungen in Form von Ausbildung und Qualifikation haben eine gewisse vertikale Einpassung garantiert. Durch den gesellschaftlichen Wandel sind Hierarchien flacher geworden. Einhergehend damit hat sich das Verhältnis von Erwachsenen und 75
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Jugendlichen geändert. Das bedeutet, keine Hoffnungen auf den Aufstieg sind mehr relevant, sondern eine Umorientierung wäre erkennbar. Diese Änderung der Orientierung erfolgt nicht mehr nach oben, sondern vollzieht sich als Ausschau nach neuen Horizonten. Per aspera ad astra ist uncool. Die Umorientierung erfolgt in Form einer Einpassung. Die Aneignung und Vermittlung von sozialen Fertigkeiten wird wichtiger denn je. Keineswegs ist damit gesagt, dass horizontale Anpassung zu mehr Chancen auf Teilhabe berechtigt. Wenn alle auf gleicher Ausbildungsstufe stehen, wird die Konkurrenz untereinander nur härter und anders. Anpassung hat zu einem bestimmten Anteil mit der Einbuße eines kritischen Potentials zu tun. Woher sollten Veränderungen der Gesellschaft kommen, die weder gerecht ist noch Teilhabe erlaubt, wenn nicht von Jugendlichen? Absteigen oder Aufsteigen, Einsteigen oder Aussteigen? Ironie rät zum Umsteigen: Jugendliche, die sich in diese Gesellschaft nicht integrieren, sind hoffnungslos. Denn auch jene Gesellschaft, die Jugendliche hoffnungslos integriert, ist es ebenso. Da glaubst du, du hast deine Schuh zum Weg nach oben gerade an Da kannst du was, da hast du was und keiner fragt dich passt dir das? Der große Lehrer sagt: dann fang wieder mal von vorne an. (Hildegard Knef)
Literatur Baacke, Dieter/Schulze, Theodor (1979): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens, München: Juventa. Der Standard (2007a): »Mit alten Werten in die Zukunft«. Der Standard 7./8.7.2007. Der Standard (2007b): »Job-Pragmatiker: Sicherheit ist wichtiger als Selbstverwirklichung«. Der Standard 9.7.2007. Der Standard (2007c): »Emanzipation in kleinen Dosen. Österreichische Jugend-Wertestudie«. Der Standard 12.7.2007. Fäh, Markus/Sollmann, Ulrich (Hg.) (2007): Psychotherapeutische Expertinnen und die Medien. Psychotherapie Forum 15, H. 4. Friesl, Christian (Hg.) (2008): Lieben – Leisten – Hoffen. Wien: Czernin. Hochgatterer, Paulus (1993): Über die Chirurgie. Wien: Deuticke. 76
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Hochgatterer, Paulus (2004): Über Raben, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Jelinek, Elfriede (1983): Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Jelinek, Elfriede (2004): Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Jelinek, Elfriede (2008): Homepage, URL: http://ourworld.compuserve.com/ homepages/elfriede/ (Zugriff vom 21.01.2008) Knef, Hildegard: URL: http://www.magistrix.de/lyrics/Hildegard%20Knef/ Da-Kannst-Du-Was-Da-Hast-Du-Was-245188.html (Zugriff vom 10.02. 2008) Kraul, Margret/Marotzki, Winfried (Hg.) (2002): Biographische Arbeit. Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung, Opladen: Leske+Budrich. Krüger, Heinz Hermann/Marotzki, Winfried (Hg.) (2006): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Lovenberg, Felicitas v. (2008): »Man schreibt deutsch«. Frankfurter Allgemeine Zeitung 1.3.2008 (Nr. 52), S. Z 1. Meyer, Anja (1994): Elfriede Jelinek in der Geschlechterpresse. „Die Klavierspielerin“ und „Lust“ im printmedialen Diskurs. Hildesheim: Georg Olms. Österreichisches Institut für Jugendforschung (ÖIJ) (2006/2007): Österreichische Jugend-Wertestudie. Wien, URL: http://www.oeij.at/content/de/ home/pressemitteilungen/index.html (Zugriff vom 21.01.2008). Rohbeck, Johannes (2007): »Philosophen scherzen nicht. Ironie im Philosophie- und Ethikunterricht«. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 29, H. 2, S. 82-90. Schulze, Theodor (2002): »Biographieforschung und Allgemeine Erziehungswissenschaft«. In: Margret Kraul/Winfried Marotzki (Hg.), Biographische Arbeit, Opladen: Leske+Budrich, S. 22-48.
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»In der äussersten pädagogischen Provinz«. Pädagogischer Eros in Hermann Burgers Schilten: Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz PATRICK BÜHLER
Fragte man mich nach meinem Berufsziel, sagte ich nicht „Lehrer“, sondern: Ich will Lehrer in Schilten werden. Fragte man mich, wo Schilten liege, sagte ich: In der äussersten pädagogischen Provinz des Kantons. Zweite Schilten-Fassung
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Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kommt die Pädagogik in die Pubertät. Um 1900 wird nämlich die Jugend und mit ihr ihre Sexualität wissenschaftlich ‚entdeckt‘: Schließlich ist der „neue Trieb, den die Pubertät ausbildet, [...] wie allgemein bekannt, der Sexualtrieb“ (Bühler 1923: 56).2 Dass „an zentraler Stelle in allen jugendpsychologischen Theorien [...] Sexualität und Erotik“ stehen (Dudek 1990: 203), zeigt nur schon ein flüchtiger Blick in bekannte Jugendstudien. So enthält etwa Charlotte Bühlers Untersuchung Das Seelenleben des Jugendlichen (21923) die Unterkapitel „Instinkte und Triebe“, „Die Bestandteile des Sexualtriebes in ihrer Entwicklung“ und „Liebe“. Eduard Sprangers äußerst erfolgreiche Psychologie des Jugendalters (1924) weist 1
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Nachlass Hermann Burger, Schweizerisches Literaturarchiv Bern, A-01-08c, Schachtel No 11, „Erzählerische Prosa. ‚Schilten‘. Fassungen 1 bis 6“, Mappe „Schilten. 2. Fassung“, Typoskript mit dem Vermerk „II“, „2. Fassg./Namen“, S. 28. Zur Entdeckung der Jugend durch die Wissenschaften vgl. z.B. Bühler 1990; Dudek 1990, 2002; Ferchhoff 2000.
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die Kapitel „Zur Psychologie des jugendlichen Sexuallebens“ und „Der Zusammenhang von Erotik und Sexualität“ auf, während z.B. in Walter Hoffmanns Reifezeit (1922) in einem Kapitel „Die geschlechtliche Reifung“ behandelt wird oder Otto Tumlirz ein Kapitel seiner Reifejahre (1924) mit „Die Entwicklung des Geschlechtslebens“ überschreibt. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts kümmert sich die Pädagogik aber nicht nur um ein neues adoleszentes ‚Objekt‘, sondern sie selbst scheint ebenfalls zu ‚pubertieren‘. Zusammen mit der jugendlichen entdeckt die Pädagogik nämlich auch ihre eigene ‚reine‘ Sexualität neu (vgl. Uhle/Gaus 2002: 92– 104).3 So wird um die Jahrhundertwende die Bedeutung des „geistige[n] Urphänomen[s]“ der „Liebe“, das „zunächst mit dem Geschlechtstrieb nichts zu tun“ haben soll (Wyneken 1921: 4), von einflussreichen Pädagogen besungen: „Die Reformpädagogik“, spottet Siegfried Bernfeld, predige „das Evangelium der Liebe in der Erziehung“ (Bernfeld 1925: 55).4 So verkünden etwa Hans Blüher, Martin Buber, Herman Nohl, Eduard Spranger oder Gustav Wyneken die frohe Botschaft des ‚Eros‘, der ‚Umfassung‘ oder des ‚Pädagogischen Bezugs‘. „Die Grundlage der Erziehung“ ist für sie ein wechselseitiges, „leidenschaftliche[s] Verhältnis“ zwischen einem „reifen“ und „einem werdenden Menschen“ (Nohl 1933: 22).5 In der ‚kanonischen‘ Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts scheint vor allem das Leiden an diesem „leidenschaftliche[n] Verhältnis“, und zwar vom „werdenden Menschen“ aus dargestellt zu werden, wie bekannte literarische Schülerschicksale zeigen, etwa Hermann Hesses Unterm Rad (1906), Thomas Manns ‚Schulkapitel‘ im letzten Teil der Buddenbrooks (1901), Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) oder Robert Walsers Jakob von Gunten (1909) (vgl. z.B. Mix 1995). Die Schilderung des „leidenschaftliche[n] Verhältnis[ses]“ aus Sicht des „reifen Menschen“ hingegen scheint viel seltener vorzukommen. Eines der wenigen Beispiele dafür ist Hermann Burgers (1942–1989) Lehrerroman Schilten: Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz (1976), in dem auch eine weitere Schweizer ‚Ausnahme‘ zitiert
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Zum ‚reinen‘ pädagogischen Eros und zur Transformation der ‚Liebe‘ in der Pädagogik, deren Geschichte natürlich lange vor 1900 beginnt, handelt es sich doch um eine „Transformation“ der theologischen „Sprache des Herzens“ (Osterwalder 2005), vgl. z.B. auch Brunotte 2004; Geuter 1994; Macho 1987; Müller 1993. Vgl. dazu auch Siegfried Bernfeld an anderer Stelle: „Liebe ist ein schönes Wort. Und verwunderlich ist nur, dass die Sprache die Freudschen Entdeckungen vorweggenommen hat, indem sie mit dem gleichen Wort eine Neigung von beträchtlicher Tiefe bezeichnet, einerlei, welchem Objekt sie gilt, ob das nun Landschaften, schöne Weiberbeine, Alkohol, Wissenschaft, Gott, rosa Bänder oder Kinder sind“ (Bernfeld 1925: 141). Vgl. z.B. Blüher 1912; Buber 1926: 26–36; Nohl 1933: 20–26; Spranger 1922; Spranger 1924: 85–104; Wyneken 1921.
»IN DER ÄUSSERSTEN PÄDAGOGISCHEN PROVINZ«
wird: „der schönste pädagogische Roman der deutschen Literatur“ überhaupt, so zumindest Walter Muschg (1960: 66), Jeremias Gotthelfs Leiden und Freuden eines Schulmeisters (1838/1839).6 Von Burgers Schilten existieren acht Fassungen: Ende Januar 1973 beginnt Burger mit der ersten, die achte – die Druckfassung – schließt er 1975 ab. Es handelt sich bei Burgers erstem Roman, der aus zwanzig „Quartheften“ und einem „Nachwort des Inspektors“ besteht, um ein „Rechtfertigungsgesuch“ des Lehrers Armin Schildknecht (S: 49).7 In seinem „Schulbericht“ wendet sich der Lehrer an seinen Inspektor, um gegen das „Dauerprovisorium“ zu protestieren (S: 237), in das er versetzt worden ist. Im „Nachwort“ führt der Inspektor aus, dass der Schiltener Lehrer den Antrag gestellt habe, das Fach „Heimatkunde“ durch „Todeskunde“ zu ersetzen. Da Schildknechts „Todes- und Friedhof-Thematik zunehmend radikalere Formen“ angenommen habe, sei ihm schließlich die Entlassung und eine „schulpsychiatrische Behandlung“ nahegelegt worden. Schildknecht habe den Dienst quittiert und dank einer Erbschaft das alte Schulhaus erwerben können, in dem er in drei Jahren „der größten seelischen Not und Depression“ „vor leeren Bänken unterrichtend“ am „Schulbericht“ gearbeitet habe (S: 304–306). Schildknechts „spezielle[] Schiltener Didaktik“ (S: 48) besteht einerseits tatsächlich in „eine[r] umfassende[n] Friedhofkunde“, die „durch das Scheintoten-Praktikum und die Verschollenheitslehre“ ergänzt wird (Burger 1986: 32), wie in der Sekundärliteratur häufig hervorgehoben wird. So konstatiert etwa Elsbeth Pulver: „Um es vorwegnehmend auf eine vereinfachende Formel zu bringen: das Werk [Schilten] stellt, so weit ich sehe, die radikalste Gestaltung der Omnipräsenz des Todes dar, die es in der gegenwärtigen Literatur gibt“ (Pulver 1977: 164). Schildknechts imaginäre „Friedhofeleven“ (S: 79) führen etwa ein „Friedhof-Journal“ (S: 142), die Klasse lernt „Totennebelsagen“ kennen (S: 206–208) oder übt das „Gräber-Schnellrezitieren“: „Ich gehe von zwei Schachbrettmustern aus. Eine Feld-Chiffrierung bezieht sich auf die Sitzordnung in der Klasse, die andere auf die Anordnung der Denkmäler auf dem Engelhof. Mit dem ersten Kode pflücke ich den Schüler heraus, mit dem zweiten den Stein, den ich repetiert haben möchte. G 4, E 7, und schon schnellt einer aus der
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Ein weiterer aufschlussreicher Lehrerroman aus dem zwanzigsten Jahrhundert, den es wiederzuentdecken gälte, wäre Hermann Ungars Die Klasse von 1927 (Ungar 2001). Die Sigle S verweist im Folgenden auf Schilten (Burger 1993). Wie der Inspektor im Nachwort ausführt, ist Peter Stirner der Verfasser des Berichts (vgl. S: 304). Schon zu Beginn des ersten Quarthefts heißt es, dass Armin Schildknecht lediglich ein „pädagogische[r] Künstlername[]“ sei (S: 11, vgl. S: 47, 165, 295). Im Folgenden wird für die Figur Schildknecht/Stirner das „Schiltonym“ (S: 216) Schildknecht beibehalten.
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Bank hoch und leiert herunter: Xaver Weber-Weber, 1887 bis 1971, zu früh für uns“ (S: 190).
Weitere „Sequenzen“ aus den „Friedhof- und Todeslektion[en]“ (S: 19) bestehen im Üben des „Todesgrinsen[s]“ (S: 276) oder im Nachspielen von Auffahrtsprozessionen: Zum Choral „Maria zu lieben“ hopsen die Schülerinnen und Schüler verkehrt herum auf den Stühlen sitzend durch die Turnhalle (S: 293). Andererseits weisen viele von Schildknechts Stunden bei genauerem Hinsehen keinen direkten Bezug zu den ‚letzten Dingen‘ auf. Neben der „Friedhofkunde“ betreibt Schildknecht mit seiner Klasse auch Schulhaus- und Lehrerkunde: „Wo werdet ihr vorbereitet, beantwortet die Schulhauskunde; wer bereitet euch vor, beantwortet die Lehrerkunde; worauf werdet ihr vorbereitet, beantwortet die Friedhofkunde“ (S: 55). So beschäftigt sich der Schiltener Lehrer auch mit der „Estrichdämonie“ (S: 104–105) des Schulhauses oder der „Behandlung des Turnhallenzusammenbruchs“ (S: 62). Die Schülerinnen und Schüler werden außerdem zu „Abwehrtelefonisten“ ausgebildet (S: 79), und Schildknecht unternimmt mit ihnen ausführliche „Harmonium-Studien“ (S: 196–203). Zudem enthalten Schildknechts Quarthefte Ausführungen über „virtuose Kunst-Telefonate“ (S: 85); „[z]wei ganze Hefte“ widmet er „der verkehrsmäßigen Erschließung des Schilttals und der Post“ (S: 176). Wie der Schiltener Lehrer ausführt, baut er seinen Unterricht also nach „ein[em] einfache[n] Baukasten-System“ auf: „Grund-Irrealien und -Surrealien, Komplementierungs-Irrealien und -Surrealien“ (S: 241).8 Wie Burgers andere Werke enthält auch Schilten unzählige Zitate und literarische Anspielungen.9 Der umfangreichste Verweis, der im „Schulbericht“ zu finden ist, stammt aus Gotthelfs Leiden und Freuden eines Schulmeisters. So schreitet Schildknecht im 19. Quartheft voller „[w]ehmütige[r] Erinnerungen“ (S: 276) durch das Schulzimmer und nimmt aus dem „Regal mit Büchern“ (S: 277) „den Band mit dem vergilbten Schutzumschlag“, „Leiden und Freuden eines Schulmeisters, Erster Teil“ (S: 278). Der Lehrer liest eine Passage – die Stelle ist auf anderthalb Druckseiten wiedergegeben (vgl. S: 278– 279) – aus dem 24. Kapitel „Wie ein Schulmeister einer ganzen Gemeinde standhält“. In diesem Kapitel verschanzt sich Gotthelfs Peter Käser in seinem Haus. Nach zwei Tagen beginnen die Dorfbewohner sich zu fragen, ob der Lehrer sich umgebracht habe, „sonst gestorben oder davongelaufen“ sei, da 8 9
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Für eine ausführliche Analyse von Schildknechts „Todeskunde“ vgl. Bühler 2006. Auf die verschiedenen intertextuellen Bezüge und Verweise in Burgers Schilten (etwa Jean Paul, Kafka, Keller) sowie in seinen anderen Werken wird in der Sekundärliteratur häufig hingewiesen, vgl. z.B. Nölle 1994; Spiegelberg 1990: 13, 22; Wysling 1993.
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„keine Tür“ aufgehe und „kein Rauch aus dem Kamin“ steige. Dorfbewohner dringen schließlich in das Haus des Schulmeisters ein, und ein „frecher Bursche“ wagt es sogar, die Tür zur Küche aufzureißen. Er sieht Käser „bleich und erschrocken vor sich stehen im herbstlichen Zwielichte“: Der Bursche „ließ einen Brüll aus, als ob ein Dutzend Ochsen in ihm versteckt gewesen wären, schlug die Türe wieder zu“. Dem Lehrer fehlt „die Schalkheit und der Mut“, seine „Gespensterrolle fortzuspielen“, als er aber „Ammann!“ rufen will, versagt ihm die Stimme (L I: 266–268).10 Schlägt man die Stelle bei Gotthelf nach, dann stellt man fest, dass das Zitat ungefähr in der Mitte des 24. Kapitels zu finden ist. Der Beginn des Kapitels und damit die Vorgeschichte von Käsers Rückzug wird also genauso ‚verschwiegen‘ wie dessen Ende. So ist Käser am Anfang des Kapitels „elend“ und voller „Katzenjammer“ wegen seiner „Torheiten und Sünden“ (L I: 265). Der „immer heiratsüchtiger[e]“ Schulmeister (L I: 252) wäre nämlich der Garnlise fast in die Falle gegangen. Diese hatte versucht, ihre schwangere Tochter Bäbeli mit Käser zusammenzubringen. Als der Schulmeister zu Besuch kommt, scheinen die „Hexen“ (L I: 254) fast ans Ziel gekommen zu sein: „Man trank mir zu, Bäbeli lag mir um den Hals und hatte mir schon versprochen, dass ich bei ihm liegen könne“ (L I: 257). „Nachtbuben“ dringen jedoch ein und nehmen Käser mit. Sie klären ihn über die Schwangerschaft auf und führen den „jammern[den]“ und „heulen[den]“ (L I: 260) Lehrer „mit Gesang und Klang“ durchs Dorf (L I: 259). Anders als der Auszug in Schilten zu suggerieren scheint, findet der Schulmeister am Ende des 24. Kapitels auch seine Stimme wieder. Zwar klingt sie zuerst „so dünn und fein, so wunderlich“, dass er selbst erschrickt, aber sein „dritte[r] Ruf“ wird gehört: „Komm hervor, wenn du darfst und nicht der Teufel bist!“ Als der Ammann sich überzeugt hat, dass er „der leibhaftige Schulmeister sei und nicht der leibhaftige Teufel“, brüllt er Käser „furchtbarlich“ an (L I: 268): „‚Du Dolders Lümmel‘, sprach er, ‚ist das eine Manier von einem Schulmeister, eine ganze Gemeinde zum Narren zu halten? Du Dolders Lümmel, was du bist, es wäre dir besser, du hättest dich gehängt, als solche Flausen zu machen!‘“ (L I: 268) In Schilten wird ausdrücklich der „Erste[] Teil“ von Gotthelfs Roman angeführt (S: 278) und damit hervorgehoben, dass es einen zweiten geben muss. Dieselbe Doppelung ist auch in Gotthelfs programmatischem Titel zu finden, der in Schilten ebenfalls genannt wird: Auf die „Leiden“ folgen die „Freuden“ des Schulmeisters. So heiratet Gotthelfs Protagonist schließlich eine ehemalige Schülerin, die ausdrücklich „ohne sogenannte Bildung“ ist. Dass „eine besondere Edukation [...] nicht mit ihr gemacht worden“ war (L II: 205), muss
10 Die Sigle L verweist im Folgenden auf Gotthelfs Leiden und Freuden eines Schulmeisters (Gotthelf 1921).
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der Schulmeister am besten wissen. Wegen dieser Ehe und ihrer Bedeutung im Roman können die Leiden und Freuden eines Schulmeisters „ebenso sehr ein Eheroman wie ein Schulroman heißen“ (Muschg 1960: 72). Indem in Schilten beim Gotthelf-Zitat Anfang und Ende des angeführten Kapitels weggelassen werden, fällt also sowohl der Grund für Käsers „Kopf- und Herzweh“ (L I: 264) als auch der Schluss des Kapitels weg, das zu einer neuen Stelle und schließlich zu den „Freuden“, der späteren Heirat mit Mädeli führen.11 Während sich für verschiedene männliche Dorfbewohner wie Pfarrer, Lehrer oder Benz Wehrdi aus den Freuden und Leiden eines Schulmeisters in Schilten zumindest ‚verblichene‘ Pendants finden ließen – Wiederkehr, Wigger oder Doktor Krähenbühl schaffen es immerhin zu einer Art „Geisterpräsens“ (Burger 1986: 43) –, fehlen die für die Gotthelfsche Dialektik von Leiden und Freuden wichtigen Frauen bei Burger fast ganz. Das „Wesen und Treiben der Liebe“ (L I: 195) wird in Schilten nämlich immer nur gestreift, und Umrisse einer „Geographie de[s] Herzen[s]“ (L I: 237) werden nur an wenigen Stellen erkennbar. So dementiert Schildknecht etwa ausdrücklich das Gerücht, dass er mit der „Abwartin“ ein „Waschküchen-Konkubinat“ führe (S: 43). Nur der Umstand, dass Schildknecht nach ihr bade und sie sich in der Waschküche manchmal begegneten, könnte „von außen, aus der Sicht der in der Dunkelheit kauernden und durch die teils beschlagenen, teils verhängten Fenster spähenden Schüler – falls sie überhaupt jemals etwas gesehen haben, was ich bezweifle – wie der Auftakt zu einer Kopulation, zu einem Ringkampf zwischen einer gigantischen Unterwelts-Hetäre und einem schemenhaften Schulmeisterlein ausgesehen haben“ (S: 46).
Die „Abwartin“ ist auch „von der fixen Idee besessen“, der Lehrer „hätte eine Verlobte im Welschland“: „Sie weiß alles, alles über die zukünftige Schulmeisterin, wiewohl ich ihr tausendmal versichere, dass weiben für mich nicht in Frage komme, weil der Lehrerberuf, insbesondere die Stelle in Schilten, alle meine Kräfte aufzehre“ (S: 87). Fast am Schluss seines Berichts schildert Schildknecht „ein orgiastisches Spektakel“, einen „der berüchtigten Maskenbälle der Luzernischen Bauernfastnacht“ (S: 294). Über „eine schmale Feuerleiter“ gelangt der Lehrer „in
11 Mädeli trägt einen aufschlussreichen Namen: Er ist nicht nur die Rufform für Magdalena, sondern bedeutet auch ‚Mädchen‘ (vgl. von Greyerz/Bietenhard 2001). – Zur Mädeli-Figur vgl. z.B. die unkritischen Beiträge von Buess 1997: 19–27; Fehr 1986: 66–71; Günther 1954: 139–141; Künzi 1992: 14–24; Muschg 1960: 72–73. Doris Stump hingegen hat einen Anfang zur Untersuchung der „Möglichkeiten und Grenzen“ von Frauen in „Gotthelfs partriarchale[m] Weltbild“ gemacht (Stump 1997: 151).
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den unverputzten Kellerraum unter der Bühne“ (S: 298), wo sich – nach Schenke und Ballsaal – die ‚Apotheose‘ der „kostümierte[n] Unzucht“ (S: 297) vollzieht: „Armin Schildknecht watet durch den Pfuhl, steigt über die zuckenden Leiber, und wenn er ausrutscht auf einem schlüpfrigen Unterrock oder über eines der Kopulationspaare stolpert, hört er ihre brünstigen Lustschreie. Er robbt durch den Schleim, er kämpft sich voran, er lässt sich nicht durch Hände aufhalten, die zwischen seine Beine greifen, er speit ihnen ins Gesicht, wenn sie ihn unter kuhwarmen Eutern begraben wollen“ (S: 298).
Schildknechts misogyne „Defensive“ (S: 74) zeigt sich schließlich ebenfalls deutlich an seiner Beschreibung der „erotische[n] Unruhe“, welche die „Damenriege Balalaika“ verursache (S: 284). Sie ziehe „Besoffene[] oder Halbschlaue[] oder sogenannte[] Unzüchtler“ an (S: 285), die sich „symbolisch“ am „herausfordernde[n] Getue“ der „Rollmöpse[] von Balletteusen“ rächten, indem sie „im Suff die Unterröcke mit dem Messer aufschlitzen und die Büstenhalter zusammenknüpfen“: „Aber ich sage ja, Herr Inspektor, die rässen Dirnen, die Kronen der Schöpfung, wollen es nicht anders. Sie schlagen Alarm und rufen nach dem Landjäger, wenn eine Strumpfhose verschwunden ist. Aber sich vorzustellen, wie ein armer Teufel ihretwegen damit masturbiert, befriedigt sie doch“ (S: 286). Im Gegensatz zu Gotthelfs Käser wird Schildknecht also nicht „immer heiratsüchtiger“, und die „Hexen“ – oder zumindest die Abwartin als „gigantische[] Unterwelts-Hetäre“ – werden nicht von einem ‚Engel‘ wie dem idealisierten Mädeli abgelöst. Vielmehr erweist sich das „orgiastische[] Spektakel“ des Maskenballs als „eine letzte Durchgangsstation“ (S: 298), die Schildknecht zum Erleben seiner eigenen „Abdankung“, seiner „Beerdigung“ am Aschermittwoch führt (S: 299). Diese gegensätzlichen Verhältnisse kennzeichnen auch die Montage des Gotthelf-Zitats sowie die wenigen Passagen, in denen zumindest die Umrisse einer „Geographie de[s] Herzen[s]“ in Schilten erkennbar werden. So werden Anfang und Ende des zitierten GotthelfKapitels ‚ausgeklammert‘, während die ‚Herzens‘-Abschnitte gleichsam an den ‚Rändern‘ des „Schulberichts“ bleiben: Sie finden sich am Anfang, im dritten und sechsten Quartheft, und dann wieder am Schluss, im neunzehnten und zwanzigsten. Fragt man sich also, weshalb Gotthelfs Roman in Schilten so auffallend ‚unvollständig‘ zitiert wird, wäre eine erste mögliche Lösung, das Zitat aus den Leiden und Freuden eines Schulmeisters als einen „Hilferuf“ zu verstehen, es als einen Verweis auf Schildknechts „Kontaktprobleme“ (Großpietsch 1994: 89), seine „psychische Krankheit“ und seinen „Weltverlust[]“ (ebd. 67) aufzufassen. Zu einer anderen Deutung gelangt man jedoch, wenn man neben 85
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dem Roman auch die verschiedenen Schilten-Fassungen konsultiert, auf die Burger selbst in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben (1986) immer wieder hinweist. Allerdings löst Burgers Vorlesung gerade nicht ein, was ihr Titel zu versprechen scheint: „Ich nannte meine Ausführungen Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben, habe aber größtenteils darauf verzichtet, Ihnen den Findungsprozess mit Fassungsvarianten zu belegen, ganz einfach darum, weil mir diese Silbenklauberei zu schulmeisterlich vorkam“ (Burger 1986: 98).
In seiner Vorlesung hält Burger auch ausdrücklich fest, dass es „wenig Sinn“ mache, aus den „einzelnen Fassungen in extenso zu zitieren“ (Burger 1986: 33). Dieses Verdikt scheint allerdings für seine eigenen Figuren keine Gültigkeit zu haben: In Burgers zwei Jahre nach seiner Vorlesung erschienener Erzählung Der Schuss auf die Kanzel (1988) werden nämlich verschiedene Schilten-Entwürfe erwähnt. Es werden darin unter anderem auch drei ganze Seiten aus den „Nicht-wahr-Adelheid-Passagen“ zitiert, die man laut Erzähler des Schusses in Schilten nachlesen könne (vgl. Burger 1988: 172–174). Versucht man jedoch tatsächlich sie in Schilten nachzuschlagen, dann stellt man fest, dass die angeblich zitierten Seiten im „Schulbericht“ nirgends zu finden sind, und auch in den Schilten-Fassungen in Burgers Nachlass sucht man vergeblich danach. Bei den „Nicht-wahr-Adelheid-Passagen“ aus dem Schuss auf die Kanzel handelt es sich vielmehr um das nur mit wenigen Zusätzen versehene, von Burger 1986 verfasste, unveröffentlichte „weibliche[] Nachwort zu Schilten“, das den Titel „Nicht wahr Adelheid“ trägt und nach sechzehn Seiten abbricht. Dort heißt es: „Die Wahrheit ist, die ganze, und nur die kommt für uns in Betracht, dass Armin Schildknecht, Schulverweser und Scholarch von Schilten, in seiner letzten Amtszeit, von einigen als Spätlese, von anderen als Mort-atorium bezeichnet, eine Geliebte hatte, mich, Adelheid Binswanger, die im Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz ein einziges Mal erwähnt wird als Vorzugselevin seines Vorgängers Paul Haberstich“. 12
Da in Schilten die wenigen Frauenfiguren und die selten beschriebene Körperlichkeit stets „bedrohlich“ wirken (Großpietsch 1994: 78), würde der Umstand, dass Schildknecht eine Geliebte gehabt hätte, tatsächlich „ein neues
12 Nachlass Burger, A-01-08b, Schachtel No 10, „Erzählerische Prosa. ‚Schilten‘. Materialien II teilw. eingeg. in: ‚Schauplatz als Motiv‘“, Mappe „‚Nicht wahr Adelheid‘. Ein weibliches Nachwort zu Schilten beg. 5. 5. 1986“, S. 1.
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Licht auf die Existenz“ des „Todes-Didaktikers“ werfen.13 Im „weibliche[n] Nachwort“ wird außerdem festgehalten, dass Schildknecht „seine Adelheid aus sämtlichen Fassungen des Schulberichts herausgestrichen und somit der Inspektorenkonferenz die wichtigste Figur seines Schul-Friedhof-Totentanzes unterschlagen“ habe.14 Wendet man, wie in Schilten selbst empfohlen, „streng philologische[] Kriterien“ an (S: 65) und konsultiert ‚schulmeisterlich‘ die verschiedenen Schilten-Fassungen, dann zeigt sich, dass diese Behauptung nicht zutrifft, da Adelheid Binswanger in den Fassungen nur äußerst selten vorkommt und folglich auch nicht „herausgestrichen“ werden kann.15 Durch ein solches „historisch-kritische[s]“ Vorgehen (S: 65) lässt sich jedoch zeigen, dass das „weibliche[] Nachwort“ dennoch sehr genau einen der Unterschiede beschreibt, der zwischen der Druckfassung und ihren Vorläufern besteht: Zwar wird nicht Adelheid Binswanger aus den Fassungen „herausgestrichen“, aber andere Frauenfiguren erweisen sich als Schiltens „große, letztlich eliminierte Unbekannte“.16 Schon in dem von Burger als „Vorstudie“ zu Schilten deklarierten Typoskript „Brenner“ wird vom Protagonisten erklärt: „Dass Brenner pervers war, versteht sich von selbst“.17 ‚Perverse‘ Schilderungen finden sich tatsächlich von dieser Vorstudie an bis zur siebten Schilten-Fassung und betreffen zum Teil Schülerinnen. In der ersten Fassung z.B. bringt „die Metzgertochter Christine Schaufelberger im Alter von vierzehn Jahren eine Frühgeburt zur Welt“, lässt sich Schildknechts Stellvertreter „von den Arrestantinnen mit Ruten auspeitschen“ und kommt der „frühere Abwart“ Krummenacher „vor Gericht wegen Unzucht mit Minderjährigen“. Außerdem verliebt sich der Lehrer in die „Fünftklässlerin“ Dolores: „Ich hatte Träume, in denen ich Dolores auf den Mund küsste, Herr Inspektor, in denen ihre Zunge unbeholfen meiner Zunge begegnete, Herr Inspektor. Es war zum Verrücktwerden. Mein Gehirn
13 Nachlass Burger, A-01-08b, Schachtel No 10, Mappe „Nicht wahr Adelheid“, S. 2. 14 Nachlass Burger, A-01-08b, Schachtel No 10, Mappe „Nicht wahr Adelheid“, S. 1–2. 15 Unter dem Titel „Die Schildknechtsche Krankheit“ gibt es etwa eine frühe vierseitige Drama-Version, in der neben dem kranken Schildknecht und dem Totengräber Wiederkehr schon die Lieblingsschülerin Adelheid Binswanger vorkommt. Vgl. Nachlass Burger, A-01-08a, Schachtel No 9, „Erzählerische Prosa. ‚Schilten‘. Materialien I teilw. eingeg. in: ‚Schauplatz als Motiv‘“, Mappe „‚Schilten‘. Materialien. Teil-Typoskripte“, darin Mappe „Schilten-Materialien. ‚Die Schildknechtsche Krankheit‘“. 16 Nachlass Burger, A-01-08b, Schachtel No 10, Mappe „Nicht wahr Adelheid“, S. 11. 17 Nachlass Burger, A-01-08a, Schachtel No 9, Mappe „‚Schilten‘. Materialien. Vorstudien“, darin Mappe „Schilten-Materialien. Vorstudie zu ‚Schilten‘ unter dem Stichwort ‚Brenner‘, Okt.–Dez. 1972“.
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glühte“.18 Darüber hinaus enthält die erste Fassung auch die „Geschichte vom melissenroten Unterrock“, der „nach dem Mädchenturnen“ vergessen wird. Die Frauen des Dorfes fangen an, den „Oberschullehrer“ Kreidolf mit ihrer „Unterwäsche zu terrorisieren“: „Immer häufiger kam es vor, dass nach dem Mädchenturnen oder am Donnerstagabend nach dem Damenturnen etwas liegen blieb“. Kreidolf erkrankt „der läppischen Unterrocksfrage wegen“: „Ich gebe keine normale Stunde mehr, bevor die Unterrockfrage gelöst ist“.19 Während Kreidolf überzeugt ist, dass es sich um eine „Verschwörung“ der „holden Weiblichkeit“ handle, die ihn „ruinieren“ wolle, ist der Erzähler „anderer Meinung“: Ihm zufolge geht es den „Weibern“ bei der „Wäscheepidemie“, „ohne dass sie es selber wussten“, „letztlich nur darum, das Schulhaus zu verunzieren“, es „durch eine Art symbolisch angedeuteter Weiberherrschaft aus der geistigen Sphäre in die geschlechtliche hinunterzureissen“.20 In der dritten Fassung erhält Schildknecht „anonyme[] erotische[] Anrufe“, die angeblich „meistens von ehemaligen Schülerinnen stammen“. Es soll sich dabei um eine Rache der Schülerinnen handeln, „die während ihrer Schulzeit in den Lehrer verknallt waren“. Die „angehenden Frauen“ wollten aber im „Grunde genommen“ nur eines: „Sie zwingen das Schulhaus in die Knie vor ihrer Weiblichkeit. Ich, Armin Schildknecht, bin lediglich die männliche Inkarnation der Schule“.21 Und ebenfalls in der dritten Fassung heißt es etwa, dass „Liebesverhältnisse zu frühreifen Schülerinnen, die mit der Entlassung des Lehrers und mit der moralischen Belohnung der Schülerin enden“, meist in der „Dreiuhrpause“ beginnen würden: „Die Schülerinnen ahnen instinktiv die Verletzbarkeit des Lehrers“.22 In der vierten Fassung wird auf ähnliche Weise über das Ableben des Vorgängers Haberstich spekuliert: „Natürlich gibt es auch Leute, die verbreiteten, seine Lieblingsschülerin, Doris Koller, habe ein Kind von ihm erwartet, worauf er sich eine Kugel durch den Kopf ge-
18 Nachlass Burger, A-01-08c, Schachtel No 11, Mappe „Schilten. 1. Fassung“, S. 5, 8, 9, 13, 14. 19 Nachlass Burger, A-01-08c, Schachtel No 11, Mappe „Schilten. 1. Fassung“, S. 18, 21–24. 20 Nachlass Burger, A-01-08c, Schachtel No 11, Mappe „Schilten. 1. Fassung“, S. 22. – Zu dieser Gegenüberstellung von Frau/Körper/Natur und Mann/Geist/ Kultur vgl. z.B. Simone de Beauvoirs ‚klassische‘ Analyse in den Kapiteln „Histoire“ und „Mythes“ in Le deuxième sexe (Beauvoir 1949: 107–395). 21 Nachlass Burger, A-01-08c, Schachtel No 11, Mappe „Schilten. 3. Fassung. Notizen zu einzelnen Themen. Frühsommer/Herbst 1973“, S. 13. 22 Nachlass Burger, A-01-08c, Schachtel No 11, Mappe „Schilten. 3. Fassung“, „Zu IV, Pause“, S. 1.
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jagt habe. Raffiniert, aber kitschig ist die Abwandlung, er sei in der Mörtelkammer vom Schlag getroffen worden, als sich Doris Koller vor ihm ausgezogen habe“.23
Schließlich wird in der sechsten und siebten Fassung variiert, was schon in der ersten vorkommt: In der sechsten werden die „Behauptung[en]“ diskutiert, ein „Abwart“ habe „straffällige Oberschülerinnen defloriert“, und „auf der Mädchentoilette“ sei ein „uneheliche[s] Kind“ zur Welt gekommen.24 In der siebten Fassung wird in Abrede gestellt, dass Schildknechts Vorgänger sich „von frühreifen Schülerinnen nackt an den Barren fesseln und mit Pappelzweigen“ habe auspeitschen lassen, „obwohl gerade hartgesottene, senkrechte Lehrer manchmal auf solche Abwege geraten und sich dergestalt für das verpasste Leben entschädigen“: „Ein reines Phantasiegespinst dürfte sein, dass eine Schülerin auf dem Matzenwagen eine Frühgeburt hatte, während die Klasse Völkerball spielte, obwohl es Pädagogen gibt, vornehmlich pensionshungrige Oberlehrer, die nichts merken, wenn ihre Mädchen schwanger werden“. 25
Bezieht man also die Schilten-Fassungen in die Untersuchung des Romans ein, dann scheint es durchaus Ähnlichkeiten zwischen Burgers Lehrer Schildknecht und Gotthelfs Schulmeister Käser – der Ausschnitt aus den Leiden und Freuden wird nur in der Druckfassung zitiert – zu geben: Durch die Berücksichtigung der Schilten-Fassungen erweisen sich Schildknechts misogyne „Defensive[n]“, die in der Druckfassung nur vereinzelt erkennbar sind, als Teil eines größeren ‚Komplexes‘. Für die Analyse des „pädagogische[n] Verhältnis[ses]“, dessen „volle Lebensbedeutung [...] es auch zu einem dichterischen Motiv ersten Ranges macht“ (Nohl 1933: 21), sind Schilten und seine Fassungen aufschlussreich, weil sich daran die fortschreitende ‚Verdrängung‘ des Eros aus einer pädagogischen Theorie wie im Brennglas beobachten lässt.26 Die „spezielle[] Schiltener Didaktik“ der Druckfassung – gleichgültig, wie verrückt sie anmuten mag – erweist sich nämlich ganz buchstäblich als allgemeine „Todes-Didaktik[]“ (S: 305): Die Druckfassung ‚eliminiert‘ die 23 Nachlass Burger A-01-08c, Schachtel No 11, Mappe „Schilten. 4. Fassung“, darin „Schilten. 4. Fassung. Hefte 1–5 mit Varianten. Okt. 1973“, „Heft 3“, S. 8. 24 Nachlass Burger A-01-08c, Schachtel No 11, Mappe „Schilten. 6. Fassung“, „2. Ordner“, S. 22. 25 Nachlass Burger A-01-08d, Schachtel No 12, „Erzählerische Prosa. ‚Schilten‘. Fassungen 7 und 8“, Mappe „Schilten. 7. Fassung“, „Heft 3“, S. 9. 26 In Die endliche und unendliche Analyse (1937) illustriert Sigmund Freud den Unterschied zwischen Verdrängung und anderen psychischen Abwehrmechanismen am Beispiel der Zensur: „Wenn man den Vergleich nicht allzu strenge durchführt, kann man sagen, die Verdrängung verhält sich zu den anderen Abwehrmethoden wie die Auslassung zur Textentstellung“ (Freud 1999: 82).
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Frauenfiguren der vorhergehenden Fassungen, sie entsteht ‚nur über ihre Leichen‘ (vgl. Bronfen 1994). Was Adelheid Binswanger im „weiblichen Nachwort“ von sich behauptet, erweist sich daher als treffende Beschreibung nicht nur der „Schiltener Didaktik“: „ich bin, wenn er seine Schüler einmal als Symptom bezeichnete, Schildknechts Schlüssel-Symptom“.27
Literatur Althans, Birgit (2003): »Das weibliche Begehren. Zur Genealogie des pädagogischen Eros«. In: Eckart Liebau/Helga Peskoller/Christoph Wulf (Hg.), Natur. Pädagogisch-anthropologische Perspektiven, Weinheim, Basel, Berlin: Beltz, S. 71–94. Beauvoir, Simone de (1949): Le deuxième sexe, Bd. 1, Paris: Gallimard. Bernfeld, Siegfried (1925): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Blüher, Hans (1912): Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion, Berlin: Weise. Bronfen, Elisabeth (1994): Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München: Kunstmann. Brunotte, Ulrike (2004): Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin: Wagenbach. Buber, Martin (1926): Rede über das Erzieherische, Berlin: Schneider. Bühler, Charlotte (21923): Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät [1922], Jena: Fischer. Bühler, Johannes-Christoph von (1990): Die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters. Zur Entstehung der Jugendforschung am Beginn des 20. Jahrhunderts, Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Bühler, Patrick (2006): »Die ›Todesdidaktik‹ in Hermann Burgers Schilten«. Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 98 (4), S. 539– 551. Buess, Eduard (1997): Das Bild der Frau bei Gotthelf, Basel: Reinhardt. Burger, Hermann (1986): Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurter Poetik-Vorlesung, Frankfurt am Main: Fischer. Burger, Hermann (1988): Der Schuss auf die Kanzel. Eine Erzählung, Zürich: Ammann. 27 Nachlass Burger, A-o1-08b, Schachtel No 10, Mappe „Nicht wahr Adelheid“, S. 3. – Zu Frauen als „Schlüssel-Symptom“ und dessen Bedeutung für verschiedene ‚Didaktiken‘ vgl. z.B. Althans 2003; Grabe 1992; Klika 2000: 290–327; Koller 1990; Martin 2004; Mayer 2006; Priem 2000; Rendtorff 2000.
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Respekt als knappe Ressource. Männliche Adoleszenz in Jonathan Lethems Die Festung der Einsamkeit MARKUS RIEGER-LADICH
I. Die erziehungswissenschaftliche Erforschung der männlichen Adoleszenz befindet sich noch in ihren Anfängen. Innerhalb des pädagogischen Diskurses haben die Entwicklungsverläufe der männlichen Adoleszenz, ihre Spezifika und ihre Logiken erst in den letzten Jahren jene Aufmerksamkeit erhalten, die sie zweifellos verdienen (vgl. Böhnisch 2004; Andresen 2005; King/Flaake 2006). Die Gründe hierfür sind ganz unterschiedlicher Art. Viel scheint indes für die Annahme zu sprechen, dass dieses Desiderat nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, dass die erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung aus den Bemühungen um eine feministische Pädagogik hervorgegangen ist und in der Folge zunächst die – ebenfalls lange Zeit vernachlässigte – weibliche Adoleszenz im Fokus stand. Statt jedoch über diese eigentümliche „Verspätung“ der erziehungswissenschaftlicher Erforschung männlicher Adoleszenz zu spekulieren, versuche ich dieses Forschungsfeld knapp zu skizzieren. Dabei müssen einige Stichworte genügen. Nachdem Erik Eriksons Rede von der Adoleszenz als einem „psychosozialen Moratorium“, welches dem jungen Erwachsenen einen spielerischen und experimentellen Umgang mit künftigen Rollenanforderungen erlaube (Erikson 1981: 160), schon zu Beginn der 1990er Jahre von Karin Flaake für ihre „deutlich harmonisierende“ und elementare Konflikte ausblendende Grundtendenz kritisiert wurde (Flaake 1990: 2), liegen zwischenzeitlich eine ganze Reihe von Studien vor, die sich nicht nur für die geschlechtsspezifischen Ausprägungen des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsenenalter 95
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interessieren, sondern auch durch ein deutlich gesteigertes Problembewusstsein auszeichnen. Diese Arbeiten sensibilisieren nicht nur für die Verstrickung der herrschenden Geschlechterordnung in gesellschaftliche Machtbeziehungen (vgl. King/Flaake 2006) und die Bedeutung gleichgeschlechtlicher Räume für Prozesse männlicher Identitätsbildung (vgl. Meuser 2003a); sie lenken den Blick auch auf die Rolle der Peer-Groups und arbeiten den Stellenwert heraus, den Dominanzspiele in der männlichen Adoleszenz besitzen (Meuser 2006); schließlich decken sie auch die „Pluralisierung der Aneignungsräume“ (Winter/Neubauer 2006: 224) auf und erinnern daran, dass sich auch die Adoleszenz männlicher Jugendlicher nicht eben selten in Phantasiewelten vollzieht und das Imaginäre daher eine überaus bedeutsame Rolle spielt (vgl. Rutschky 2002). Als zwei der wichtigsten Bezugspunkte zu deren Erforschung haben sich in den vergangenen Jahren Robert Connells Konzept hegemonialer Männlichkeit und Pierre Bourdieus Entwurf des männlichen Habitus erwiesen: Beide wählen einen dezidiert machtkritischen Zugang, praktizieren einen relationalen Denkstil und begreifen Männlichkeit als ein überaus dynamisches, hierarchisch strukturiertes und historisch variables Feld konkurrierender Entwürfe (vgl. Forster/Rieger-Ladich 2004). Charakteristisch für Robert Connells Ansatz ist nun, dass er Männlichkeit konsequent im Plural denkt und besondere Energie darauf verwendet, deren „doppelte Distinktions- und Dominanzstruktur“ (Meuser 2003b: 86) herauszuarbeiten. Er greift zu diesem Zweck auf Antonio Gramscis Hegemoniebegriff zurück und weist nach, dass eine männliche Subjektposition erst dann präzise bestimmt werden kann, wenn neben dem Geschlechterverhältnis auch die lange Zeit vernachlässigten männlichen Binnenverhältnisse geklärt sind. Dominanz und Unterordnung, Hierarchie und Asymmetrie prägen nicht nur die Beziehungen zwischen Männern und Frauen; sie charakterisieren auch das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Typen von Männlichkeit. Dynamisch ist dieses Modell insofern, als mit hegemonialer, komplizenhafter, marginalisierter und unterworfener Männlichkeit – so Connells bekannte Typologie (vgl. Connell 2000: 97-107) – stets variable Positionen bezeichnet sind. Zwar bildet sich in jeder Gesellschaft eine von allen anerkannte „hegemoniale Männlichkeit“ aus; gleichwohl bleibt die Zuordnung der einzelnen Subjektpositionen kontingent und ist historisch flexibel (vgl. Meuser/Rieger-Ladich 2007). Pierre Bourdieu, dem das Geschlechterverhältnis als symbolisches Gewaltverhältnis par excellence gilt, teilt diese Annahmen und wendet sich insbesondere jenen sozialen Räumen zu, innerhalb derer der männliche Habitus durch vergeschlechtlichte und vergeschlechtlichende Praktiken ausgebildet wird. Dabei stellt er die besondere Bedeutung homosozialer Räume und kompetitiver Arrangements heraus: „Konstruiert und vollendet wird der männliche 96
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Habitus nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, unter Männern, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen“ (Bourdieu 1993a: 203). Freilich weist er auch nach, dass die männliche Dominanz ein durchaus ambivalentes Privileg darstellt: Männlichkeit im emphatischen Sinne impliziert eine Vielzahl von Anforderungen, die es zu erfüllen gilt. Der Erwerb von Respekt durch seine Geschlechtsgenossen ist denn auch an ein rigides Wertesystem geknüpft, das einzelne Männer durchaus zum Opfer ihrer eigenen dominanten Position werden lassen kann. Ohne die prinzipielle Asymmetrie im Geschlechterverhältnis beschönigen zu wollen, weist Bourdieu doch überzeugend nach, dass es nicht zuletzt die tief verwurzelte Angst vor dem drohenden Gesichtsverlust ist, die Männer immer wieder in mitunter etwas bizarr wirkende, den Erwerb von Respekt und Anerkennung versprechende Spiele treibt (vgl. Bourdieu 2005: 88-96). Damit stehen nun eine ganze Reihe von Fragen auf der Agenda der erziehungswissenschaftlichen Erforschung männlicher Adoleszenz: Zu fragen ist nicht nur nach dem abnehmenden Stellenwert der Familie und dem zunehmenden der Peer-Groups sowie den persönlichkeitsbildenden Kräften homosozialer Räume. In das Zentrum rückt auch die Untersuchung jener sozialer Praktiken, durch die männliche Jugendliche in die „doppelte Distinktionsstruktur“ (Meuser 2003b: 86) verstrickt und mit der Logik männlicher Dominanzspiele vertraut gemacht werden. Wie vollzieht sich die Einverleibung patriarchaler Gesellschaftsstrukturen? Welcher Art sind die Spielregeln, nach denen die Kämpfe um Anerkennung und Respekt ausgetragen werden? Muss hier von einem gleichsam „universalen“ Regelwerk ausgegangen werden? Und wie wäre das hier erworbene Wissen zu charakterisieren? Handelt es sich um ein reflexives, kognitives Wissen? Oder wäre nicht damit zu rechnen, dass es sich um ein leibliches, vortheoretisches Wissen handelt, um ein Wissen der „Eingeweide“ gleichsam? Und – was leistet für diese Zwecke der Begriff der „Strukturübung“, der von Bourdieu geprägt (Bourdieu 1993b: 138) und von dem soziologischen Männerforscher Michael Meuser unlängst in die Diskussion eingeführt wurde (vgl. Meuser 2006: 320)? Lässt sich die Ausbildung der Geschlechtsidentität männlicher Jugendlicher tatsächlich über jene agonal verfassten Übungen erschließen, welche die Übertragung einer „praktischen Meisterschaft“ (Bourdieu 1993b: 138) gewährleisten sollen und die er ausdrücklich von der Unterweisung und der Gewöhnung unterscheidet? Ich versuche daher im Folgenden einen Beitrag zur Aufklärung jener Praktiken zu liefern, welche den Zugang zu anerkannten Formen männlicher Adoleszenz regulieren. Der Rückgriff auf einen literarischen Text könnte sich in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch deshalb als Gewinn erweisen, weil es innerhalb der soziologischen masculinity studies derzeit zwei offene Theoriebaustellen gibt, die unmittelbar das hier verhandelte Thema betreffen. So hat sich an Connells Konzept die Frage entzündet, ob es tatsächlich einem 97
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Männlichkeitstyp gelingen kann, gesellschaftsweite Anerkennung zu finden und damit ein allen sozialen Gruppen gemeinsames Ideal zu etablieren (vgl. Connell 2000: 98). Erscheint es nicht ungleich plausibler – so die Kritik – damit zu rechnen, dass sich dessen (vermeintliche) Hegemonie an den Grenzen von Milieus bricht? Eng verknüpft damit ist ein Vorbehalt, den Markus Schroer jüngst der Sozialtheorie Bourdieus gegenüber geltend gemacht hat (vgl. Schroer 2006). Ist dessen Kapitaltheorie tatsächlich so universalistisch angelegt, dass sie es vermag, die Logiken sämtlicher Segmente des sozialen Raumes zu erschließen? Werden diese – wie unterstellt – alle von derselben Grammatik organisiert? Oder wäre nicht viel eher damit zu rechnen, dass jene, die sich an den etablierten Verteilungskämpfen kaum aussichtsreich beteiligen können, andere Ökonomien zu etablieren suchen? Dass sie bestimmte soziale Räume einer eigenen, abweichenden Logik zu unterstellen suchen und sich ganz gezielt auf die „symbolische Aneignung von Räumen“ (Schroer 2006: 104) konzentrieren? Es wird sich zeigen, dass diese beiden Fragestellungen für den Versuch, die Entwicklungsverläufe und die Logiken männlicher Adoleszenz durch die Lektüre eines Romans zu erschließen, von ganz erheblicher Brisanz sind.
II. Jonathan Lethems Roman The Fortress of Solitude erschien 2003 in den USA und nur ein Jahr später in deutscher Übersetzung (Lethem 2004). Die Handlung des ersten Teils ist im Brooklyn der 1970er Jahren angesiedelt. Das Geflecht von Straßen, das die Bühne der einzelnen Handlungsstränge darstellt, verdankt seinen Namen – Gowanus – einem Kanal und einem Sozialbauprojekt. Die heruntergekommen Brownstones mit verdreckten Fluren und kinderreichen Innenhöfen sind denkbar weit entfernt von Park Slope und auch von den Anzeichen einer einsetzenden Gentrifizierung ist noch nichts zu erkennen. In einem dieser ramponierten Brownstones lebt die Familie des Protagonisten Dylan Ebdus. Abraham Ebdus, sein Vater, ist ein Künstler, der sich von der gegenständlichen Malerei losgesagt und sich stattdessen einem Projekt verschrieben hat, das höchste Konzentration verlangt und einen asketischen Lebensstil. Rachel Ebdus, seine Mutter, ist ungleich temperamentvoller und arbeitet halbtags. Die meiste Energie investiert sie freilich in die Pflege eines weit gespannten Netzes von Freundschaften und Bekanntschaften. Dylan ist sechs Jahre alt, als die Handlung einsetzt. „In seiner häuslichen Welt konnte sich Dylan in zwei Richtungen treiben lassen. Die eine verlief treppauf, am losen, wackligen Geländer entlang, wobei er die kleine Hand über die polierte Oberfläche gleiten ließ und mit den Fingern über die Verbin-
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dungsstellen hüpfte, um dann an der Tür zum Atelier anzuklopfen und die Erlaubnis zu erhalten, seinem Vater über die Schulter zu schauen und zu beobachten, was nicht zu beobachten war […]. [Er saß gebeugt wie ein] Mönch, der Schriftrollen kopierte, und züngelte mit den dünnen Pinseln auf seinen Zelluloidbildern, eine Arbeit, die zu etwas Ehrfurchtgebietendem und Unendlichem geworden war. Dylan stand an seiner Seite und roch die Farbe, den dünnen, beißenden Geruch frisch angesetzter Pigmente. […] Gelangweilt setzte er sich nach einer Weile zumeist im Schneidersitz auf den Boden und malte mit den aussortierten Ölkreiden seines Vaters […]. Oder er fuhr mit seinem Matchbox-Auto, Nr. 11, die farbbeklecksten Fußbodendielen entlang. Oder er mühte sich ab, einen der monströsen Bildbände mit eingeklebten Reproduktionen von Brueghel oder Goya oder Manet oder de Chirico zu öffnen, verlor sich darin […].“ (Ebd. 19f.). Das Erdgeschoß hingegen, das „Revier seiner Mutter – das Wohnzimmer, vollgestopft mit ihren Büchern und Schallplatten, die Küche, in der sie die Mahlzeiten kochte und am Telefon lachte und stritt, ihr Tisch voller Zeitungen und Zigaretten und Weingläser – war für Dylan voller Unwägbarkeiten und Unruhe wie seine Mutter selbst. Morgens war sie immer bei der Arbeit in der Schermerhorn Street. Dann konnte Dylan im Erdgeschoß hausen wie ein Geist, konnte sich über seine eigenen Bücher beugen oder sich für ein sonnenbeschienenes Nickerchen auf der Couch zusammenrollen, die Reste aus dem Kühlschrank vertilgen oder löffelweise trockenes Kakaopulver direkt aus der Packung verschlingen, so dass sein Mund ganz klebrig wurde von dem Brei […].“ (Ebd. 21).
Um nun freilich etwas über jene Kräfte in Erfahrung zu bringen, die Dylans Weg in die Adoleszenz prägen, ist es unumgänglich zunächst einige der Schritte in den Blick zu nehmen, die ihn aus diesen beiden Welten hinausführen. Ich konzentriere mich daher im Folgenden auf einzelne Etappen des Loslösungsprozesses, der Dylan nicht nur in komplizierte Freundschaftsbeziehungen und schwer durchschaubare Abhängigkeitsverhältnisse verstricken, sondern schließlich – Jahre später – auch zur Ausbildung einer männlichen Geschlechtsidentität führen wird. Forciert wird diese Bewegung zunächst von seiner jüdischen Mutter, die selbst in Brooklyn aufgewachsen ist und gesteigerten Wert darauf legt, dass ihr Sohn schon früh jene Fähigkeiten erwirbt, die offensichtlich unverzichtbar sind für das Bestehen in einem Stadtteil, in dem ein weißes Kind eine höchst kuriose Erscheinung darstellt und sich soziale Problemlagen wie Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Drogenkonsum in gefährlicher Weise überlagern (vgl. Amos 1999). So ist es Rachel, die sich dafür einsetzt, dass Dylan den Kontakt zu Kindern aus der Nachbarschaft sucht und das selbstvergessene, von Tagträumen geprägte Spielen hinter sich lässt. Die erste Begegnung mit Marilla, einem schwarzen Mädchen, ist denn auch von Rachel arrangiert. Dabei wird schnell deutlich, dass die Straße ein ganz eigenes Universum darstellt 99
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– geprägt von fremden Objekten, fremden Namen und fremden Sozialbeziehungen. „‚Hast Du einen Bruder oder eine Schwester?‘ ‚Nein.‘ ‚Was ist Dein Vater von Beruf?‘ ‚Er ist Künstler‘, antwortete Dylan. ‚Er macht einen Film.‘ Er sagte das mit größtmöglichem Ernst. Auf Marilla machte es jedoch keinen besonderen Eindruck. ‚Hast Du einen Spaldeen?‘ fragte sie weiter. ‚Das ist ein Ball, falls Du das nicht weißt.‘ ‚Nein.‘ ‚Hast Du Geld dabei?‘ ‚Nein.‘ ‚Ich möchte was Süßes kaufen. Ich könnte Dir einen Spaldeen mitbringen. Kannst Du deine Mutter nicht nach Geld fragen?‘ ‚Ich weiß nicht.‘ ‚Kennst Du Skully?‘ Dylan schüttelte den Kopf. War Skully eine Person oder eine andere Art Ball oder Bonbon? Woher sollte er das wissen? Er hatte das Gefühl, Marilla würde gleich anfangen, ihn zu bemitleiden.“ (Lethem 2004: 14)
Dylans erste Schritte auf dem fremdem Terrain sind ersichtlich sehr unsicher. Konfrontiert mit Fragen nach Softball und Skully, offenbart er sich als kultureller Analphabet: Weder kennt er die einzelnen Spielgeräte, noch eröffnet er den Zugang zu neuen Geldquellen. Und auch wenn diese Kontaktaufnahme harmlos ausfällt, sieht er sich doch sofort in eine asymmetrische Beziehung verstrickt. Dylan ist nicht nur jünger und unbedarft, er versagt auch, als ihm Marilla ihren Reifen anbietet, den sie mit grimmiger Entschlossenheit – die Fäuste geballt und die Zähne zusammengebissen – um die Hüfte kreisen lässt: „Als Dylan an der Reihe war, rasselte der Reifen auf den Gehsteig. Er hatte noch immer etwas Babyspeck […]. Es gab keinerlei Kanten an seinem Körper, an denen der Reifen hätte aufliegen können. […] So spielten sie zusammen. Dylan ließ den Plastikreifen wohl tausendmal zu Boden fallen, und Marilla sang zur Aufmunterung: Oh, baby give me one more chance…“ (Ebd. 15) Obgleich die erste Begegnung kaum geeignet erscheint, Dylan die Dean Street nun als ein verheißungsvolles, möglichst rasch zu eroberndes Territorium zu erschließen, verbringt er in der Folge doch mehr und mehr Zeit auf der Straße. Ähnlich wie er sich in die Betrachtung von Bildbänden vertiefen kann, studiert er nun das Geschehen vor seiner Haustüre. Als stiller Beobachter sitzt er auf dem Treppenaufgang, registriert das typische Schwingen der Arme, lernt die Namen der bevorzugten Getränke sowie die Regeln der einzelnen Straßenspiele. Die Kinder der Nachbarschaft ihrerseits kennen zwar durchaus seinen Namen, aber sie beachten ihn nicht weiter. Und auch Dylan selbst unternimmt zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Versuche, sich an dem turbulenten Treiben zu beteiligen. Er betritt das Spielfeld der Dean Street erst, als sein zeichnerisches Talent erkannt wird. Als Marilla bemerkt, mit welcher Exaktheit Dylan die Spielfelder mit Kreide aufträgt, verpflichtet sie ihn darauf, für die Mädchen die 100
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Himmel-und-Hölle-Diagramme anzufertigen. Eine ähnliche Meisterschaft entwickelt er in der Bearbeitung der Kronkorken, die er zu kunstvollen Skullydeckeln veredelt: „Wie eine kleine Fabrik stellte Dylan ganze Serien perfekter Skullydeckel her und reihte sie auf den Stufen auf: Vanille-Yoo-Hoo mit rosafarbenem Wachs, Cola mit grünem, Coco Rico, bei dem der Kork im Deckel noch nach Zucker roch, mit weißem.“ (Ebd. 36) Und so gelingt es Dylan, sich in das soziale Geschehen einzufädeln. Gleichwohl bleibt er eine randständige Figur, weil er sich bei den körperlicheren Spielen wie Softball eben keiner besonderen Meisterschaft rühmen kann. In körperliche Auseinandersetzungen ist er zu diesem Zeitpunkt noch nicht verwickelt: Auf dem Radar der entsprechenden Akteure wird er noch nicht als passendes Objekt erfasst. Gleichwohl lernt er aus eigener Anschauung, dass bei einer Prügelei die Frage nach Sieg und Niederlage mitunter keine einfache Antworten kennt: Zwar wird Henry bei einer Schlägerei mit Robert von diesem zu Boden gerissen und einer ganzen Serie von Boxhieben bedacht – aber letztlich ist es doch die Haltung, mit der er diese wegsteckt, die ihn als späten Sieger erscheinen lässt. Henry läuft zwar das Blut aus der Nase, aber als er sich aufrichtet und dem abziehenden Robert einen Fluch hinterher schickt, ist seine Ehre offensichtlich wieder hergestellt: „Es war auf einmal vorstellbar, dass Henry Robert aufgemischt hatte und nicht umgekehrt – aufgrund der Art und Weise, wie er den Kampf abschüttelte und gleich darauf mehrere Stufenball-Homeruns warf, musste man sich fragen, ob man sich nicht von Äußerlichkeiten hatte täuschen lassen. Der Sieger war nicht immer derjenige, der obenauf war.“ (Ebd. 45f.)
Als einige Jahre später, Dylan besucht die vierte Klasse, in seine Nachbarschaft ein ehemals bekannter Soulsänger mit seinem fast gleichaltrigen Sohn zieht, ist Dylans Status in Gowanus noch immer überaus prekär. Dylan beteiligt sich zwar an den Spielen, aber er hat längst selbst mit Robert Bekanntschaft gemacht, hat auf dem Schulweg unzählige Male seine Taschen ausleeren und Wegegeld entrichten müssen. Er bemüht sich zwar um „sichere“ Routen, sucht sich auch möglichst unauffällig zu bewegen – und hat doch den Schwitzkasten ungezählter schwarzer Jungendlicher kennen gelernt. Und so sind die Blicke, die er auf Mingus, den Sohn von Barret Rude Jr., dem schwarzen Sänger, und einer weißen Mutter, richtet, auch von der vagen Hoffnung beseelt, in ihm einen Verbündeten zu finden. Dass Dylan mit seiner Einschätzung, derzufolge sich durch Mingus’ Zuzug die Kräfteverhältnisse der Dean Street ändern könnten, dass die Privilegien und Vorrechte neu ausgehandelt, die Aufmerksamkeiten und Sympathien neu verteilt werden könnten, richtig liegt, zeigt sich schnell.
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„Zwei Tage später spielte er [Mingus] bereits mit […]. Als wäre er schon immer dagewesen. Er hatte eine lakonische Art zu fangen, die einfach perfekt war. Womöglich war er der Henry seines eigenen Blocks gewesen, der nun hierher versetzt worden war – womöglich war er sogar ein Henry im Geiste, überall wieder erkennbar. Dylan kam angeschlichen, setzte sich auf Henrys Mauer und schaute zusammen mit Earl […] zu. Mingus Rude war offensichtlich überlebensfähig.“ (Ebd. 83)
In der Folge nimmt auch die Wahl der Mannschaften eine neue Form an: „‚D-Man.‘ ‚John Dillinger.‘ ‚D-Lone. Lonely Dee.‘ Dylan verstand nicht, was Mingus da rief, erkannte sich nicht wieder in den Spitznamen. ‚Yo, Dylan, taub oder was?‘ Mannschaftskapitän zu sein, war eine herausragende Eigenschaft von Henry. Aber jeder Kapitän brauchte einen zweiten, zur Not einen unterlegenen, einen Strohmann. […] Dylan hatte gesehen, wie Alberto es versucht hatte, auch Lonnie […]. Jetzt, am strahlenden Ende des erschöpften Sommers, waren Henry und Mingus die Schlagball-Kapitäne, ohne dass es einer Erklärung bedurft hätte. Mingus wählte als erstes Dylan, vor Alberto, Lonnie, Earl […]. ‚Er kann nicht schlagen‘, sagte Henry. Es war eine recht wohlwollende Einschätzung. Dylan war für jeden Kapitän ein Problem, ein Klotz am Bein. ‚Ich hab Dillinger genommen‘, erwiderte Mingus kühl […]. ‚Du bist dran.‘“ (Ebd. 83)
Mingus muss sich nicht mit den Regeln des Blocks eigens vertraut machen, wie dies für Dylan galt. Er verfügt offenbar über eine intime, gleichsam selbstverständliche Kenntnis jener Grammatiken, welche auch das Leben in Gowanus organisieren, so dass er sich nicht nur unmittelbar am Softballspiel beteiligen kann – er weiß darüber hinaus auch sofort um seinen Platz innerhalb des hierarchischen Gefüges. Diese Einschätzung, dieser untrügliche „sense of one’s place“ (Goffman) wird auch von allen anderen Beteiligten geteilt: Mingus muss nicht um eine Position ringen. Viel eher hat es den Anschein, als nehme er lediglich jenen Platz an der Spitze ein, der ihm ohnehin zukommt. Er scheint ein natürliches Vorrecht zu besitzen und verkörpert die street credibility wie kein zweiter. Und so ist Mingus Rude von Beginn an mit einer Autorität ausgestattet, die seine Worte mit einer besonderen Macht auflädt – und die völlig jenseits dessen liegt, was Dylan realistischerweise je für sich erhoffen kann. Aus dessen jahrelanger Vertrautheit mit dem Mikrokosmos der Dean Street resultieren keinerlei Ansprüche. Mingus hingegen verkörpert – auch aufgrund seiner sportlichen Talente – die Eigenschaften eines leaders so überzeugend, dass er selbst die eingespielten Praktiken ohne Einbuße seiner Autorität durchkreuzen kann. Er diktiert nun die Regeln im Block. Und so ist es nicht allein ein Zeichen der Verbundenheit Dylan gegenüber, sondern eben auch eine Demonstration seiner Macht, als er diesen – gleichsam gegen jedes strategische Kalkül – als ersten in seine Mannschaft beruft. 102
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Obwohl Mingus ihm durch unterschiedliche Signale zu verstehen gibt, dass er ihn nicht durchgängig vor Übergriffen schützen kann und dass er eigene Vermeidungsstrategien entwickeln muss, ist doch deutlich, dass er sich für seinen weißen Freund, der sich als idealtypisches Opfer durch die Straßen von Gowanus bewegt, verantwortlich fühlt. Dylan profitiert jedoch nicht nur in dieser Hinsicht von ihrer Freundschaft; er wird von Mingus auch in die Welt der „schwarzen Musik“ und der Comics eingeführt, mit Dresscodes vertraut gemacht und schließlich sogar in die Kunst des Graffiti eingewiesen.
III. Empfindlich gestört wird diese Freundschaft erst, als er die 7. Klasse besucht und mit Arthur Lomb ein weiterer weißer Jugendlicher in ihrer Schule auftaucht. Vom ersten Moment an weiß Dylan, dass er zu diesem nie eine neutrale Beziehung wird entwickeln können: Arthur täuscht einen Asthma-Anfall vor, wälzt sich am Boden – und gibt sich damit als denkbar ungeeignetes Objekt für körperliche Auseinandersetzungen zu erkennen: „Dylan empfand Bewunderung für die Strategie, verspürte zugleich einen kühlen Schauder des Wiedererkennens und einen heißen Strahl der Scham. Er fühlte, dass er seinen eigenen Doppelgänger vor sich hatte, seinen Platzhalter. Zumindest war es so, dass die Prügel, die Arthur Lomb einstecken musste, ansonsten höchstwahrscheinlich Dylan gegolten hätten.“ (Ebd. 152)
Als Dylan die beiden einander vorstellt, erweist sich, dass Arthur, der schon bei seiner Verteidigungsstrategie wenig Skrupel beweist, auch im Umgang mit Mingus kaum Hemmungen erkennen lässt. Auch Dylan ist für dessen Stil sich zu kleiden, für seine Hobbies und Vorlieben keineswegs unempfänglich – er trägt schon bald die gleichen Turnschuhe, sie sammeln dieselben Comics –, aber er bemüht sich doch stets, nicht als dessen Alter Ego zu erscheinen. Eine Sorge, die Arthur hingegen völlig fremd zu sein scheint. Deutlich wird dies, als Dylan von einem Ferienaufenthalt in Vermont zurückkehrt und sie Utensilien für das Sprayen kaufen. Als er mit Arthur am Eingang auf Mingus wartet, geraten sie in eine bedrohliche Situation. Mingus, aus dem Laden zurück, erfasst die Situation mit einem Blick und löst sie auf, in dem er auf eine imaginierte Crew verweist, von der sie erwartetet werden. Im Anschluss demonstriert Arthur seine Fähigkeit der Anverwandlung, als er den Vorfall aus seiner Perspektive schildert: „‚Yo, diese Typen haben über Strike geredet, Mann, sie haben gesagt, er war am Taggen, aber ich hab ihn nicht gesehen. […] [I]ch bin eher für Zephyr, […] er hat
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das originellste Tag, yo, Mann, weißt du, was ich meine?‘ Mingus brummt nur und stapft weiter […]. ‚Mann, der eine Typ hat sich echt unheimlich aufgespielt, aber hast Du sein Gesicht gesehen, er sah aus wie ein Baby, seine Lippen waren ganz wulstig. Ich hätt’s wahrscheinlich mit ihm aufgenommen, wenn du nicht grade rausgekommen wärst […].‘“ (Ebd. 252)
Dylan registriert Arthurs Metamorphose mit großem Unbehagen: Zwar weiß er darum, dass beide von Mingus abhängig sind und sie sich nur mit seinem Schutz einigermaßen unbehelligt in Gowanus bewegen können, aber dass Arthur nun dessen Sprechweise kopiert, interpretiert Dylan als Mangel eines Mindestmaßes an Selbstachtung. Ungleich schmerzhafter ist für ihn freilich, dass Mingus die Anbiederung offensichtlich zu goutieren scheint: „Dylan fragt sich, warum Mingus ihm nicht einfach eine knallt, damit er Ruhe gibt. Aber Mingus toleriert Arthurs nachgeplappertes Geschwätz, akzeptiert diese Verwandlung, die Arthur irgendwie in dem Monat von Dylans Abwesenheit durchgemacht haben muss. Arthur, so scheint es, hat allerlei in petto: er hat diese Transformation mit derselben schäbigen Leichtigkeit vollzogen, mit der er früher schon die Mets zugunsten der Yankees fallenließ.“ (Ebd. 252)
Dominanzverhältnisse charakterisieren somit nicht nur Dylans Beziehungen zu den Jugendlichen in seinem Block, sie prägen eben auch seine Freundschaften zu Mingus und Arthur. Von Beginn an ist seine Beziehung zu Mingus, die auch Momente verdeckter Zärtlichkeit und besonderer Intimität kennt – etwa wenn sie sexuelle Phantasien austauschen oder sich wechselseitig befriedigen (vgl. ebd. 276) –, asymmetrisch. Dabei scheint es, als ob diese Freundschaften für jeden der beiden zuweilen die Form einer gefährlichen Gratwanderung annimmt: Dylan sucht die Nähe und den Schutz von Mingus, taucht in dessen Kosmos aus Funk-Musik, abgegriffenen Comics und besprayten Militärjacken ein – und sucht dabei doch die Verschmelzung zu vermeiden. Mingus versichert Dylan seine Loyalität, ihm schmeichelt die Rolle des Beschützers – gleichwohl darf er seine Stellung innerhalb der black community nicht dadurch leichtfertig gefährden, dass er nur noch in der Begleitung zweier weißer Jugendlicher auftritt, zu deren sichtbarsten Merkmalen ihre Unterwürfigkeit gehört. Wie heikel auch Mingus’ Mission ist, der durchaus um Dylans Nöte weiß, zeigt sich, als er ihn zu einer Verabredung in einem Park mitnimmt. Sie wollen gemeinsam einen Waggon mit Graffitis schmücken. Als Dylan unter den drei schwarzen Jugendlichen auch Robert, einen seiner größten Peiniger, entdeckt, stockt ihm der Atem. Gleichwohl scheint Mingus’ Plan, gemeinsam „ein paar Züge [zu] bomben“, aufzugehen – bis zu Dylans Entsetzen plötzlich eine junge, weiße Frau auf der Szene erscheint und die Diskussion durch ein „Alles in Ordnung, Junge?“ unterbricht: 104
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„Ausgerechnet jetzt musste das sein. Dylan hatte sich bestimmt eine Million Mal gewünscht, dass ein Erwachsener einschreitet […]. Aber nicht jetzt. Diese Katastrophe besiegelte seinen Status als Whiteboy bei Robert für immer und ewig […]. Dylan hatte sich ihr zugewandt, hilflos und mit offenem Mund zugleich. Es gab keine Möglichkeit, ihr mitzuteilen, wie sehr sie zugleich richtig und falsch lag […]. ‚Das sind meine Freunde‘, sagte Dylan matt. Als es ihm entschlüpft war, wurde ihm bewusst, dass er noch eine Prüfung nicht bestanden hatte, noch eine, in der die richtige Antwort Was guckst Du so blöd? gelautet hätte. Diese Phrase, entschlossen angewendet, hätte sie vielleicht tatsächlich alle in der Zeit zurückversetzt, vor den Moment, in dem Robert Woolfolk das Wort Whiteboy gesagt hatte. Dylan hätte dann die anderen zu einem Rangierbahnhof […] begleiten dürfen, um ein paar Züge zu bomben […]. Dylan sehnte sich so sehr danach, ein paar Züge zu bomben, als er würde er diesen Ausdruck schon seit Jahren kennen und hätte ihn nicht eben gerade zum ersten Mal gehört. Und er hatte den El Marko in seinem Ranzen, um sie zu bomben, wenn er bloß Gelegenheit bekäme, ihn hervorzuholen.“ (Ebd. 165f.)
Die Zerrissenheit von Dylans Situation wird hier in ihrer ganzen Dramatik deutlich: Er sehnt sich danach, dass die Geschichte seiner fortgesetzten Demütigungen endlich ein Ende nimmt, dass er von Gleichaltrigen anerkannt wird, dass sie ihm mit Respekt begegnen, dass er vielleicht sogar Mitglied einer „Crew“ wird. Doch so groß seine Sehnsucht nach Respekt und Anerkennung auch ist, er begreift, dass diese nicht vorbehaltlos gewährt werden, dass sie stets an Bedingungen geknüpft sind und dass er den Preis, den er hierfür zu zahlen hätte, nicht entrichten kann. Die weiße Frau erinnert ihn an seine Mutter und deren Freundinnen – und diese wären es, die er symbolisch verraten müsste, wenn er ihre Frage mit jener Mischung aus Arroganz, Respektlosigkeit und Sexismus parierte, wie sie zweifellos nötig wäre, um vor Robert sein Gesicht zu wahren und damit das Stigma des Whiteboy doch noch abzulegen. Aus diesem Dilemma beginnt sich Dylan erst zu befreien, als seine Zeit auf der Public School zu Ende geht und ihm von seinem Lehrer eröffnet wird, dass er als einziger der Schule die Aufnahmeprüfung zur Stuyvesant High School geschafft habe. Diese genießt ein hohes Renommee, liegt in Manhattan und führt Jugendliche aus allen Stadtteilen New Yorks zusammen. Arthur hingegen besucht eine mittelmäßige High School in Brooklyn – und Mingus offiziell die Sarah J. Hale, die eher den Charakter einer Verwahranstalt besitzt. Dylan begegnet Mingus und Arthur nun immer seltener – und profitiert in seinem neuen Umfeld plötzlich von seiner Herkunft. Seine Vertrautheit mit den „Gesetzen der Straße“ (vgl. Anderson 1994) erhält unter den überwiegend weißen Jugendlichen, denen Brooklyn als ein Synonym für Gewaltverbrechen gilt, schnell den Status eines exotischen Geheimwissens, um das man ihn beneidet. Dylan selbst tritt dem auch in keiner Weise entgegen: Er genießt die besondere Aura – und übernimmt bereitwillig die Gänge zu den Drogendea105
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lern, wenn während einer Party Kokain nachgefragt wird. Als er im Anschluss ein elitäres College in Vermont besucht, wiederholt sich dieses Muster: Dylan Ebdus gilt auch hier als jener Kommilitone, der als weißer Jugendlicher auf dem rauen Asphalt von Brooklyn aufgewachsen ist, der die Gewalt der Straße aus eigener Anschauung kennt und über intime Kenntnisse der unterschiedlichsten musikalischen und kulturellen Szenen verfügt. Bevor Dylan freilich nach Vermont geht, kommt es zu einer letzten Begegnung mit Mingus. Ausgestattet mit einem Bündel voller Banknoten, die er über Jahre hinweg für die Studiengebühren angespart hat, bietet er ihm, der auf Bargeld angewiesen ist, um in das Dealen von Kokain einsteigen zu können, für die Sammlung seiner schäbigen Hefte 150 Dollar. Das Angebot ist völlig überzogen – und genau dies ist notwendig, um Mingus zu düpieren. „Dylan warf das Geld auf den Spiegel. Er verließ sich darauf, dass sie verstehen würden, wie lächerlich die Summe für ihn war. Es war eine Demonstration für sie alle drei als offizielle Vertreter von Gowanus, dass Dylan hier nicht länger hingehörte“ (Lethem 2004: 370). Und doch gelingt Dylan auch diesmal kein glänzender Abgang: Als die Rede auf einen „magischen Ring“ kommt, der Dylan gehört, aber von Mingus verwahrt wird, nimmt ihr Gespräch eine unvermittelte Wendung. Die 200 Dollar, die Dylan ihm anbietet, reichen Mingus nicht. „Es dauerte einen Moment, bis Dylan verstand. ‚Was willst Du?‘ fragte er mit belegter Stimme. Mingus grinste fast. ‚Laß mal sehen, was du bei dir hast.‘ Die Formulierung war wie ein Stichwort aus einem bekannten Drehbuch – laß mal sehen, laß mal kurz halten, ich geb es doch zurück, Mann, du weißt, ich würd dir nie was wegnehmen –, die eisige Macht über einen Whiteboy, die Mingus nie ausgeübt hatte. Zuletzt lies Mingus ihn den Unterschied zwischen ihnen doch noch spüren.“ (Ebd. 376)
IV. Sucht man nun, mit Blick auf Jonathan Lethems Roman Die Festung der Einsamkeit, jene Praktiken näher zu bestimmen, welche die männliche Adoleszenz organisieren und die Ausbildung der Geschlechtsidentität regulieren (vgl. Butler 2003), so muss zunächst die Erwartung etwas relativiert werden, hier allgemeine Strukturmuster aufdecken und gleichsam überzeitliche Universalien identifizieren zu können. Die Handlung des Romans spielt im Brooklyn der 1970er und frühen 1980er Jahre – und die präzisen Milieuschilderungen ließen sich vermutlich nicht einmal unbeschadet nach Harlem, Park Slope oder gar an die Upper West Side verlegen. Gleichwohl scheinen die geschilderten Erlebnisse und die Handlungsstränge, die hier entfaltet werden, durchaus nicht völlig singulär zu sein: Mit Blick auf deren historische und ge106
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sellschaftliche Rahmung verschaffen sie Einblicke in einige jener wiederkehrenden Muster, welche die Ausprägung der männlichen Geschlechtsidentität strukturieren. Als einer der wichtigsten Befunde gilt zunächst, dass der von Meuser eingeführte Begriff der „Strukturübung“ (Meuser 2006: 320) in der Tat geeignet erscheint, einen theoretischen Zugang zu den sozialen Praktiken zu verschaffen, welche die Ausgestaltung der männlichen Adoleszenz prägen: Die Ausbildung einer „männlichen Identität“ und das Erlernen der Fertigkeiten, die einen „richtigen Jungen“ auszeichnen, vollziehen sich auf den Straßen von Gowanus weder durch schlichte Gewöhnung noch durch ausdrückliche Unterweisung. Vielmehr handelt es sich um eine spezifische Kombination von Beobachtung und Teilnahme – wobei sich zeigt, dass sich deren Gewichtung im Laufe der Zeit deutlich zu ihrem aktiven Pol verschiebt: Während Dylan zu Beginn ausschließlich als stiller Beobachter auftritt, wird er schon bald in die Spiele, die sportlichen Wettkämpfe und die körperlichen Auseinandersetzungen involviert. Als Fremdkörper – als Whiteboy – muss er sich das symbolisch organisierte Universum aus Sportgeräten, Bandnamen und Turnschuhmarken erst mühsam erschließen – ganz anders als Mingus, dessen Habitus sofort die perfekte Passung verrät, die er nicht einmal mit dem grössten Ehrgeiz erreichen könnte, weil sie sich immer auch durch eine gewisse Lässigkeit und Souveränität im Umgang mit den Konventionen auszeichnet. Als Gradmesser für eine hinreichende Vertrautheit mit den Gesetzen der Straße (vgl. Kersten 2008) kann deren Inkorporierung angenommen werden – wenn etwa die Coolness eines Tracks oder die Peinlichkeit eines „falschen“ Turnschuhs auf Anhieb erkennt werden. Und so wird auch Softball erst dann „richtig“ gespielt, wenn der „Spielsinn“ (vgl. Bourdieu 1993b) in Vollendung ausgeprägt ist – wenn also der Ball wie von einem Magneten angezogen in der Wurfhand landet. Ganz ohne Anstrengung und mit einer berückenden Leichtigkeit (vgl. Lethem 2004: 215). Die einzige Alternative scheint in der Aneignung von Expertenwissen zu bestehen: Als „Skullygelehrter“ findet Dylan den Weg doch noch auf die Straßen von Gowanus und macht sich auf diese Weise unverzichtbar; erst das Wissen um die unterschiedlichen Subkulturen verleiht ihm auf der Suyvesant High School eine besondere Aura und schließlich ist es auch die besondere Vertrautheit mit den unterschiedlichen Spielarten schwarzer Musik, die ihn zum Campus-Radio bringt, als er sein Studium in Berkeley weiterführt. Dass dieser kulturelle Kosmos von Machtbeziehungen gesättigt ist, wurde an zahlreichen Beispielen gezeigt. Ein Schlüssel zu diesen scheint – zweifellos neben der Hautfarbe – in der Ausbildung legitimer und illegitimer Formen von Männlichkeit zu bestehen. Über diese werden nicht nur Verhältnisse von Dominanz und Unterwerfung etabliert, sondern auch die Zuteilung von Anerkennung und Respekt organisiert. So besteht Dylans Dilemma nicht zuletzt 107
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darin, dass es den schwarzen Jugendlichen gelingt, das symbolische Kapital zu monopolisieren – und die Vorherrschaft über die Zuteilung von Respekt und Anerkennung gleichsam auf Dauer zu stellen. Anerkennung wird stets – darauf hat unlängst erneut Judith Butler verwiesen – von anderen gewährt (vgl. Butler 2003). Die Regeln, nach welchen diese nun in Gowanus erworben werden können, werden von jenen schwarzen Jugendlichen diktiert, die auf den Straßen die Definitionshoheit besitzen. Ihr Stil, ihr Geschmack, ihre Vorlieben sind gleichsam die Leitwährung im Ringen um Respekt und dem Streben nach Anerkennung. Dass es sich dabei freilich um keinerlei Diktat handelt, wird deutlich, als Dylan zum ersten Mal Mingus gegenübersteht und sich der Faszination nicht entziehen kann, die von dem knallroten Football-Dress der Manayunk Mohawks (vgl. Lethem 2004: 78) ausgeht, das dieser dabei überstreift. Er ist zweifellos auf eine ganz charakteristische Weise affiziert von den Zeichen und Codes, den sounds und tags von Gowanus. Wie tief er diese symbolischen Welten inkorporiert, zeigt sich in aller Drastik, als mit Arthur ein zweiter weißer Jugendlicher seine Schule besucht. Hier kommt es zu einer Szene, die Lethems großes Talent zeigt, komplexe, widersprüchliche Gefühlslagen auszuloten: Obwohl Dylan in Arthur sich selbst erkennt – der Text spricht hier bezeichnenderweise von einem „Doppelgänger“ (ebd. 151) –, verachtet er ihn doch für die Bereitwilligkeit, mit der er sich in seine Opferrolle fügt. Auch wenn hier aus Selbsterkenntnis gespeiste Scham hineinspielen mag, ist doch unstrittig, dass er von dem abfälligen Blick, den seine Peiniger auf ihn – den wehrlosen Whiteboy – werfen, längst infiziert ist. Auch wenn er den Idealen jener Spielart von männlicher Adoleszenz, die in seinem Block etabliert sind, kaum entspricht, so hat er diese doch verinnerlicht und misst nun seinerseits Arthur daran. Nicht einmal das Wissen darum, dass er selbst weit davon entfernt ist, den Ansprüchen an einen „richtigen Jungen“ zu genügen – mithin eine bestimmte Mischung aus körperlicher Stärke, dominantem Auftreten, verbaler Schlagfertigkeit und lässigem Kleidungsstil überzeugend zu verkörpern –, schützt ihn davor, genau jene Dominanzlogiken zu bedienen, die doch ihn selbst zum Opfer werden lassen. Es ist genau diese, zunächst widersinnig erscheinende, Übernahme der herrschenden Ordnung durch die Beherrschten selbst, die Bourdieu als symbolische Gewalt gekennzeichnet hat (vgl. Alkemeyer/Rieger-Ladich 2008).
V. Damit fällt freilich zugleich auch ein Blick auf die eingangs erwähnten „Theoriebaustellen“ innerhalb der soziologischen Männerforschung. Wenig spricht nach der Lektüre von Jonathan Lethems Roman dafür, noch länger mit der Existenz einer hegemonialen Form von Männlichkeit zu rechnen, die – so 108
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Connells intensiv diskutierte These (vgl. Connell 2000) – alle sozialen Milieus übergreift und für alle Segemente des sozialen Raumes gilt. Jene Form männlicher Adoleszenz, die in Gowanus zweifellos die ungeteilte Anerkennung genießt, und unter der Dylan in besonderer Weise leidet, scheint weder an der Upper Westside, wo er eine renommierte High School besucht, mehrheitsfähig noch in Vermont, wo er sein Studium beginnt. Stattdessen muss eher damit gerechnet werden, dass die Ideale von Männlichkeit – und somit auch von männlicher Adoleszenz – stets in Abhängigkeit von sozialen Milieus und lokalen Gegebenheiten bestimmt werden müssen. In Gowanus ist den schwarzen Jugendlichen das Kunststück gelungen, „blackness“ neu zu codieren, sie umzuwerten – und aus dem Stigma eine Auszeichnung zu machen. Und so stehen die Graffitis nicht nur für die symbolische Aneignung von Räumen, sie verweisen zugleich auch auf eine „andere Ökonomie“, auf das erfolgreiche Unternehmen, sich den Codes der etablierten Kultur zu entziehen und stattdessen alternative, eigene Symbolwelten zu entwerfen (vgl. de Certeau 1988). So mächtig diese eigenen symbolischen Universen zweifellos sind und so machtlos die Lehrer der Schulen von Gowanus erscheinen – im Laufe des Romans wird doch deutlich, dass die Schule ihre Allokationsfunktion keineswegs vollständig eingebüßt hat. Sie besitzt durchaus noch die „soziale Dirigierungsfunktion“, von der bereits Helmut Schelsky sprach (Schelsky 1977): Dylan, der ungleich mehr familiäres Kapital aufweist als Mingus und Arthur, setzt sich bei den Aufnahmeprüfungen – wenig überraschend – durch und bekommt letztlich eben durch die Schule einen Weg eröffnet, der ihn aus den Straßen von Gowanus hinaus führt (vgl. Lethem 2004: 289ff.). So lässt sich festhalten, dass nicht nur der Vielgestaltigkeit der Bedingungen, unter denen gegenwärtig unterschiedliche Formen männlicher Adoleszenz ausgehandelt werden, in Zukunft besonders Rechnung getragen werden muss, auch die Rolle der Schule und der Familie sollte dabei nicht unterschätzt werden – selbst wenn sie, wie hier, meist als symbolisch entwertete, eigentümlich machtlose Institutionen erscheinen. Eine abschließende, womöglich unverzichtbare Bemerkung sei der Beziehung zwischen „Fiktion“ und „Realität“ gewidmet: Dass Jonathan Lethem im selben Jahr geboren wurde wie Dylan Ebdus, dass er ebenfalls in Brooklyn aufgewachsen ist, dass auch er in Bennington studiert hat – Camden ist hierfür ein Synonym, das schon Bret Easton Ellis, der in den 1980er Jahren ebenfalls an diesem Arts College studierte, in einer Novelle verwendet (vgl. Easton Ellis 1988) –, dass sich die Romanhandlung mit der Biographie des Autors auf eigentümliche Weise zu verschränken scheint, sollte nun nicht als Beglaubigung des Romans interpretiert werden. Es handelt sich vielmehr um einen fiktiven, literarischen Text, der allein durch seine erzählerische Kraft und die Präzision seiner Schilderungen, durch die Logik der Story und seine 109
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sinnliche Qualität die Einbildungskraft der Leser/innen zu stimulieren sowie zum Testfall der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung zu werden vermag.
Literatur Alkemeyer, Thomas/Rieger-Ladich, Markus (2008): »Symbolische Gewalt im pädagogischen Feld: Überlegungen zu einer Forschungsheuristik«. In: Robert Schmidt/Volker Woltersdorff (Hg.), Symbolische Gewalt. Pierre Bourdieus Projekt einer kritischen Herrschaftsanalyse, Konstanz: UVK, S. 103-124. Amos, Karin S. (1999): »Ghetto und Underclass. Die aktuelle Ghettoforschung: Rückblick und aktuelle Tendenzen«. Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 3, S. 5-24. Anderson, Elijah (1994): »The Code of the Streets«. The Atlantic Monthly, Volume 273, No. 5, S. 80-94. Andresen, Sabine (2005): Einführung in die Jugendforschung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Böhnisch, Lothar (2004): Männliche Sozialisation. Eine Einführung, Weinheim, München: Juventa. Bourdieu, Pierre (1993a): »Die männliche Herrschaft«. In: Irene Dölling/ Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 153-217. Bourdieu, Pierre (1993b): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt/M.: Suhrkamp. de Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve. Connell, Robert (2000): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit, Opladen: Leske + Budrich. Easten Ellis, Bret (1988): The Rules of Attraction, London: Picador. Erikson, Erik Homburger (1981): Jugend und Krise, Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein. Flaake, Karin (1990): »Geschlechterverhältnisse, geschlechtsspezifische Identität und Adoleszenz«. Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 10, S. 2-13. Forster, Edgar/Rieger-Ladich, Markus (2004): »Männerforschung und Erziehungswissenschaft«. In: Annedore Prengel/Edith Glaser/Dorle Klika (Hg.), Handbuch Gender - Erziehungswissenschaft, Hohengehren: Schneider, S. 271-285. 110
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»Das liegt daran, dass es noch nicht zu Ende ist«. Zeit, Raum und generative Struktur in David Mitchells Bildungs- und AdoleszenzRoman Der dreizehnte Monat VERA KING
„‚Am Ende‘, Julias sanfte Art machte es noch schlimmer, ‚wird alles gut sein, Jace.‘ ‚Mir kommt es nicht besonders gut vor.‘ ‚Das liegt daran, dass es noch nicht zu Ende ist.‘“ (Mitchell 2007: 493)
So lautet der Schlussdialog des Romans Der dreizehnte Monat, im Original Black Swan Green als fiktiver Name des Ortes der Handlung, einem Dorf der mittelenglischen Provinz im Jahre 1982. Am Ende des Romans sitzen Jason und seine ältere Schwester Julia in ihren leeren Zimmern und nehmen Abschied von den Räumen, in denen sie aufgewachsen sind. Der beinahe 14jährige Jason ist von Schmerz und Trauer erfüllt, seine Schwester tröstet ihn mit sanften und dadurch umso mehr berührenden, doppelsinnigen Worten. Einerseits erinnert die Formulierung ‚am Ende wird alles gut sein‘ an die beschwörende Magie, mit der kleinen Kindern der gesamte Schmerz weggeblasen werden kann von Erwachsenen, denen sie noch Allmacht zuschreiben. Andererseits – in einer progressiven Lesart – kann die Schwester auf die Jason inzwischen verfügbaren Kräfte und Potenziale der Bewältigung verweisen, auch wenn er diese selbst noch nicht besonders gut erfassen kann. Was noch nicht zu Ende ist, wäre in diesem Sinne der adoleszente Bildungsprozess, der sich jedoch in eine Richtung entwickelt hat, die eine zuversichtliche Lesart der Schwester rechtfertigen könnte. So erscheint der Roman nicht nur im deskriptiven Sinne als ein Pubertäts-, Jugend- oder Adoleszenzroman 113
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(streng genommen geht es um den Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz), wie er in vielen Rezensionen bezeichnet wurde1 – als ein Roman der wonder years2, für den ein offenes Ende gleichfalls gattungstypisch wäre. Der dreizehnte Monat erscheint überdies als ein Spiel mit der Gattung Bildungsroman (so auch die wörtliche deutsche Formulierung in einigen englischsprachigen Rezensionen3), in dem sich ein ‚adoleszenter Bildungsprozess‘ abzuzeichnen begonnen hat. Für diese Betrachtungsweise spräche, dass Jason im Verlauf der im Roman geschilderten Entwicklung schrittweise schöpferische und wirkungsmächtigere Formen der Bewältigung jener Themen und Beziehungserfahrungen anzueignen begonnen hat, die seine Lebenssituation prägen, ihn bedrängen und teilweise zu überwältigen drohen. Im Zentrum der sich entwickelnden Fähigkeiten stehen zunächst seine Gedichte, in denen er jenen Erfahrungen Form gibt, die ihn besonders berührt haben. Zusehends gelingt ihm im letzten Drittel des Romans jedoch auch außerhalb der heimlichen, solitären Situation des Schreibens, eine Sprache zu finden. In einigen Schlüsselsituationen findet er ihn selbst geradezu in ihrer mächtigen Wirkung überraschende Worte, mit denen er sich wehrt – und mit denen er dem anfangs als unbeeinflussbar schicksalhaft erlebten Geschehen und den sozialen Beziehungen neue Wendungen verleihen kann. Insofern könnte man, in Verknüpfung des Romanendes und des Tagungstitels Alles noch offen?4 sagen: am Ende ist
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Vgl. z.B. die Rezensionen in: New York Press; The Guardian News; The New Yorker; The New York Observer; The Australian; Frankfurter Allgemeine Zeitung; taz; Die ZEIT; Neue Zürcher Zeitung. Vgl. z.B. die Rezension von Ron Charles (The Washington Post) sowie Nell Freudenberger (The New York Times), auch in Anspielung auf die amerikanische Fernsehserie wonder years. Zu Merkmalen des (deutschsprachigen) Adoleszenzromans vgl. Gansel 2004. Vgl. die Rezension im New York Magazine Book Review. Im Roman finden sich in Form und Inhalt zahlreiche explizite und implizite Anspielungen auf Adoleszenz-(und/oder Bildungs-)romane wie z.B. Le Grand Meaulnes von Alain Fournier, auf Herr der Fliegen von William Golding, aber auch auf Motive von Mythen und Märchen, in denen der Held ‚rites de passages‘ oder Pubertätsrituale durchläuft, die seine Mannwerdung und das Erwachsenwerden begründen sollen. Diese Themen des Jugend- oder Bildungsromans werden teils spielerisch weitergeführt, teils abgewandelt oder ironisch verzerrt. Im Kapitel Reitweg entfaltet Mitchell eine Sequenz von herausfordernden Erlebnissen, Bedrohungen, von mitunter rätselhaften und erregenden Begegnungen, die virtuos und ironisierend mit der Figur des adoleszenten Helden spielt, der sich – phasenweise allein, phasenweise mit einem männlichen Freund und Begleiter – ‚auf den Weg in die Fremde macht‘. Zu den Effekten der intertextuellen Anspielungen vgl. Fußnote 18. Wie in der Einleitung beschrieben, ist dieser Band aus den Beiträgen einer Tagung hervorgegangen, die den Titel trug „Alles noch offen? Adoleszenz im Spiegel der Literatur“.
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manches offen, aber nicht alles. Momente eines Bildungsprozesses haben sich abgezeichnet, ebenso wie die weiterhin zu verarbeitenden, keineswegs beliebigen Themen seiner Kindheit und Jugend.
Zur literarischen Gestaltung bildungstheoretischer Fragen Treten wir einen Moment zurück von der Betrachtung dieses Romans und wenden uns damit dem – für die Adoleszenz als charakteristisch oder typisch angenommenen oder auch fraglichen – Moment von Offenheit zu.5 Denn diese ist in verschiedene Richtungen lesbar: Zum einen ist damit eine Unabgeschlossenheit bezeichnet, die Dimension des Möglichen und des potenziell noch Realisierbaren im adoleszenten Entwicklungsprozess, der noch Zeiträume vor sich liegen hat. Zum anderen kann die Formulierung ‚alles noch offen‘ aber auch Unbestimmtheit meinen im Sinne einer absoluten Freiheit von Determination, von Entscheidungsfreiheit, so als ob es eben noch in alle möglichen vorstellbaren Richtungen gehen könne. Diese beiden Aspekte werden häufig in eins gesetzt oder verwechselt, es ist jedoch unabdingbar, sie zu unterscheiden. Dass ein Prozess noch unabgeschlossen ist, beinhaltet nicht, dass er unbestimmt und frei von Determinationen wäre. In gewisser Weise lässt sich ein adoleszenter Bildungsprozess gerade dadurch charakterisieren, dass reflexiv die Bedingungen des eigenen Gewordenseins, die eben so und nicht anders waren, auf neue Weise betrachtet, ver- oder bearbeitet werden können und damit potenziell an determinierender Kraft verlieren. Die dezentrierende Befreiung vom Ursprung kann letztlich nur in einer reflexiven Aneignung gelingen, ebenso wie eine Erweiterung der Spielräume lediglich durch eine Anerkennung der Begrenzungen ermöglicht wird.6 Diese Dialektik von Offenheit und Festlegung präzise zu fassen, stellt eine bildungs- und sozialisationstheoretische Herausforderung dar – und hier ließe sich die Frage anschließen, welchen Beitrag die Auseinandersetzung mit Adoleszenz in der Literatur bieten kann. Eröffnet die literarisch gestaltete Form der subtilen Dialektik von Offenheit und Determination Sichtweisen7, die die
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Vgl. dazu Rutschky: Alles noch offen. Jugend als Utopie und Roman (2002). Für Julia Kristeva bezeichnet ‚adoleszent‘ eine „offene psychische Struktur“ (2007: 154), die insofern nicht nur eine Lebensphase charakterisiert. Zum Verhältnis von Adoleszenz und Kulturwandel vgl. Erdheim 1982. Zu den Potenzialen und Bedingungen der Entstehung des Neuen in der Adoleszenz vgl. in diesem Sinne King 2002. Vgl. dazu Koller 2007; Koller/Rieger-Ladich 2005.
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andernfalls eher verborgenen Bedingungsmomente für das Verhältnis von Offenheit und Festlegung in einem Bildungsprozess erhellen? Eine weitere – in Bezug auf das Thema ‚Alles noch offen?‘ – nahe liegende Frage berührt das Verhältnis von Adoleszenz und Erwachsenheit. Aufbruch und Überschreitung erscheinen in der Moderne lange Zeit als Charakteristikum der Jugend – wie es klassisch etwa Ernst Bloch (1959) beschrieb: „Gute Jugend glaubt, daß sie Flügel habe und daß alles Rechte auf ihre herabbrausende Antwort warte, ja erst durch sie gebildet, mindestens durch sie befreit werde.“ (Ebd. 132) So erscheint Jugend zwar als eine gesellschaftliche Kraft, die Neues hervorbringt, zugleich jedoch als Sinnbild eines schöpferischen Impetus und der Fähigkeit zu Transzendenz im erwachsenen Leben. Eine adoleszente Verfassung bildet demnach den Kern auch der erwachsenen Kreativität. Und nach Julia Kristeva ist gar „das Genre des Romans selbst weitgehend auf eine ‚adoleszente Ökonomie‘ des Schreibens angewiesen. In dieser Optik wäre der Roman selbst das Werk eines fortwährend heranwachsenden Subjekts. Als permanenter Zeuge unserer Adoleszenz ermöglichte uns der Roman, diesen gleichermaßen depressiven wie jubilatorischen Zustand des Unvollendeten wiederzufinden, dem wir einen Teil des […] ästhetischen Genusses verdanken“ (2007: 158f.).
In gegenwärtigen Zeitdiagnosen ist demgegenüber nachdrücklicher von Jugendlichkeit als einer sozialen Norm die Rede, wie sie Rosa (2005) in einer soziologischen Studie über Zeitstrukturen der Spätmoderne beschrieben hat. In der hochbeschleunigten Gesellschaft, so Rosa, herrsche ein Wandlungsdruck in allen Dimensionen des Sozialen, der konstitutiv den Zwang zur ‚ewigen Pubertät‘ erzeuge. Denn „wer sich den stetig wechselnden Handlungsbedingungen nicht immer wieder von neuem anpasst […], verliert die […] Optionen für die Zukunft“ (ebd. 190). Kehrseite dessen, dass Jugendlichkeit zu angepasster Flexibilität gerinnt, sind Entleerung und Depression. In einer durchaus ironisierenden Variante hat dies Michel Houellebecq (2006) in seinem Roman Elementarteilchen thematisiert. In diesem Roman reduziert sich Jugendlichkeit auf einen unhintergehbaren Tauschwert im Gefüge instrumenteller Beziehungsformen, in denen in der emotionalen Leere oder in der sexuellen Obsession Angst und Verzweiflung abgewehrt werden. „In einer Welt, die nur die Jugend achtet, sind die Menschen nach und nach innerlich ausgezehrt“ (ebd. 125), so einer der Protagonisten, Bruno, der sich selbst diesem Prinzip bedingungslos unterwirft und daher auch keine Verantwortung für die folgende Generation übernehmen will. Bruno erklärt im Roman, dass er, als er jung war, sich nicht um seinen kleinen Sohn kümmern konnte, weil er zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Je mehr der Sohn sich der Pubertät näherte, wurde das Nicht-Kümmern deutlich zur Feindseligkeit. 116
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Der Junge droht nun zum sexuellen Rivalen zu werden – zudem habe er, so räsoniert er, dem Sohn nichts zu vererben, nicht einmal soziale Regeln, da dieser ohnehin in einer völlig veränderten Welt leben werde. Der Sohn wird, so Bruno, zum „Feind“, der „dich überlebt“ (ebd. 192). Vater und herangewachsener Sohn scheinen sich „in demselben Käfig zu bekämpfen, dem Käfig der Zeit“ (ebd. 189). Aus dieser Sicht kann die ewige Adoleszenz im Extrem damit einhergehen, dass die generationale Bindung aufgegeben, generative Fürsorge verweigert wird – womit wiederum den Heranwachsenden der Boden für adoleszente Bildungsprozesse und für die Ablösung nicht nur von den Erwachsenen, sondern auch für die Ablösung der Erwachsenen entzogen wird. Zeit- und Möglichkeitsräume der Adoleszenz werden dann von den Erwachsenen im permanenten Aufbruch selbst okkupiert. Der Wechsel der Positionen in der Abfolge der Generationen wird gestört. Damit kommen wir zu einer weiteren Frage, bei der die Analyse von Kunstwerken bildungstheoretischen Aufschluss bieten könnte. Diese betrifft die intersubjektive Seite der Adoleszenz oder die literarische Gestaltung dessen, dass es sich einerseits um einen individuellen, andererseits um einen intersubjektiven Prozess handelt, um eine Entwicklung, die sowohl in Hinblick auf die Bedingungen des eigenen Gewordenseins als auch in Hinblick auf die Chancen und Ressourcen der reflexiven Bearbeitung von intersubjektiven Bedingungen abhängig ist – von der generativen Struktur, anders gesagt: von den intergenerational hergestellten Bedingungen der Möglichkeit eines adoleszenten Bildungsprozesses.8
Leitmotive Kehren wir damit zu Mitchells Roman zurück. Bei Der dreizehnte Monat handelt es sich auf einer Ebene um eine ‚ganz normale‘ Adoleszenzgeschich8
‚Jugend‘ oder ‚Adoleszenz‘ lassen sich nur aus einem Verständnis der gesellschaftlichen Generationsbeziehungen und -verhältnisse heraus begrifflich präzise fassen – und zwar in dem Sinne, dass die jeweilige soziale Konstruktion und gesellschaftliche Gestaltung von Jugend oder Adoleszenz eine soziale Form darstellt, mittels derer generationelle Verhältnisse reguliert werden. Über die jeweiligen Bedingungen, Inhalte und Definitionen von Jugend oder Adoleszenz werden Generationsabfolgen verzeitlicht, d.h. die Weitergabe sozialer Positionen von ‚Erwachsenen‘ an ‚Heranwachsende‘ zugleich vorbereitet wie auch verzögert. Adoleszente Generationsverhältnisse sind daher strukturell ambivalent. Entsprechend implizieren ‚Jugend‘ oder ‚Adoleszenz‘ eine Reihe von Herausforderungen und Gratifikationen sowohl für die jeweilige Erwachsenen- als auch für die Adoleszentengeneration, die in Abhängigkeit von sozial-kulturellen Bedingungen und den unterschiedlichen Verfasstheiten sozialer Felder variieren (vgl. dazu ausführlicher King 2002).
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te: Momente der Loslösung von den Eltern, erste Verliebtheiten und Begehren, Individuationskämpfe im Verhältnis zur Peergroup und sich intensivierende Freundschaftsbeziehungen, Schulalltag, alterstypische Geschwisterquerelen und Streit in der Familie. In der Rezeption dieses Romans wurden diese Themen meist aufzählend aneinandergereiht – oder aber die Betrachtung konzentrierte sich auf die Auseinandersetzungen der Peers, die (im Manifesten) breiten Raum einnehmen, obgleich – wie hier gleich festzuhalten ist – die formale und ästhetische Gestaltung des Romans Anhalt dafür gibt, die verschiedenen Bereiche und Themen gerade nicht einfach nebeneinander zu stellen, sondern sie in spezifischen Figur-Grund-Konstellationen zu lesen. Die Geschichte ist zwar in großen Zügen linear erzählt, die Ambiguität und Paradoxien der zeit-räumlichen Struktur werden jedoch, wie sich zeigen wird, spür- und erkennbar über die perspektivischen Verschiebungen, ähnlich einem konkav-konvexen Gemälde von Escher, in einer Sequenz von präzise und alltagsnah ausgemalten Miniaturen. Handelt es sich zudem auf einer Ebene in räumlicher Hinsicht um eine konventionelle Umgebung, das ländliche England des Jahres 1982 (das es in dieser Weise, so der Autor in einem Interview, nämlich als typisch ländlicher Teil Englands, gar nicht mehr gibt9), so sind zugleich in den Beschreibungen der Handlungsräume auf Märchen und Mythen anspielende Doppelbödigkeiten eingestreut, die die Vieldeutigkeit des Erlebens spüren lassen. Im Konkreten wiederum ist der Ort der Handlung im Jahr 1982 durch ökonomische Krisen und den Falklandkrieg geprägt. Kinder aus proletarisierten und teils auf der Beziehungsebene zerstörten Landfamilien (teilweise die Gegenspieler Jasons) und Kinder wie Jason aus mehr oder minder um Aufstieg oder gegen Abstieg kämpfenden Mittelschicht- oder Kleinbürgerfamilien besuchen gemeinsam die verschiedenen Leistungszweige einer Gesamtschule. Abwechslung im überschaubaren Alltag bieten die dramatischen Machtkämpfe in den Gruppen und Klüngeln der vorwiegend männlichen Peers sowie – generations- und klassenübergreifend – die Beschäftigung mit dem Falklandkrieg, genauer gesagt mit der medialen so genannten Kriegsberichterstattung. Nicht generationsübergreifend wiederum ist die Art der Partizipation: sind es doch junge Männer, die aus der unterhaltsamen Praxis, den Krieg in den Medien zu verfolgen, aussteigen müssen, um teilzunehmen an der potentiell tödlichen Praxis des Kriegs. Und so kommt denn auch einer der – zu Beginn aus der Sicht der Jungen als besonders maskulin und cool geschilderten – jungen Männer im Sarg in sein Heimatdorf zurück. Dramatische Gefühle werden für den Protagonisten – in diesem in anderen Hinsichten unspektakulär erscheinenden Dorf – nicht nur über den Krieg erfahrbar. Jason selbst hat über weite Strecken das Empfinden, durch die Höl-
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Mitchell beschrieb, wie er selbst in einem ausführliches Interview hervorhebt: „the end of the long, slow death of agrarian England“ (Mitchell 2006b).
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le zu gehen. Die Hölle, im Sartreschen Sinne (vgl. Sartre 1986), sind die anderen – insbesondere die Peers, die ihn quälen, weil er nicht ihren Vorstellungen entspricht und nicht roh, im physischen Sinne kräftig und egozentrisch genug ist. So scheitert er etwa an der Aufnahme in einen Geheimbund angesehener Jungen, weil er es am Ende nicht übers Herz bringt, einen Freund (auch einen Außenseiter) im Stich zu lassen, der den Gruppentest nicht bestanden und sich dabei verletzt hat. „Wenn Du ein Junge bist, dreht sich alles darum, welchen Rang Du hast […] Du musst also immer auf der Hut sein […]“ (Mitchell 2007: 11) „Manchmal wünsche ich mir, ich wäre als Mädchen auf die Welt gekommen.“ (Ebd.) Auch in anderen Hinsichten unterscheidet sich Jason – etwa aufgrund seines Sprachfehlers, eines unregelmäßigen Stotterns oder Stammelns, das in aufregenden Situationen auftritt, und zwar dann, wenn er bestimmte Buchstaben aussprechen will, wie zum Beispiel mit N10 oder S beginnende Worte. Diesen Sprachfehler versucht Jason wiederum kreativ zu kaschieren: sein Sprachschatz erweitert sich ständig durch die Suche nach ungefährlichen und situationsgemäßen Wörtern, die kein Stottern hervorrufen – und so glaubt er eine Zeitlang, dass keiner der Klassenkameraden den Sprachfehler bemerkt habe (auch gibt er in der Schule eher falsche als stotternde Antworten). Und schließlich, was niemand weiß, aber ihn und seinen ohnehin prekären Status, käme es heraus, so meint er, komplett ruinieren würde, schreibt er unter Pseudonym Gedichte, die in einem Kirchenblatt veröffentlicht werden.
Generative Struktur des Aufbruchs – Poetologie der Mehrschichtigkeit In einigen Hinsichten ist der Roman auch durch klassische poeteologische Formen des Bildungsromans gekennzeichnet11. Die Erzählung vollzieht sich in Ich-Form in Verbindung mit wörtlicher Figurenrede. Neben diesen Dialogen mit äußeren Figuren gibt es darüber hinaus innere Dialoge, die Jason in drei Richtungen führt. Einmal mit ‚Henker‘, jenem aggressiven und – je nach Sichtweise – sadistischen oder masochistischen Widerpart in sich, der ihn an der Aussprache bestimmter Wörter in wichtigen sozialen Situationen hindert 10 Das ‚N‘ ist, wie hier hervorzuheben ist, auch der Buchstabe des ‚Nein‘ bzw. ‚No‘, also der abgrenzenden Verneinung. 11 Im Sinne von Gutjahr (2007), die in ihrer Studie über den Bildungsroman auch betont, dass „wir mit jeder Analyse eines Bildungsromans vor die Aufgabe gestellt sind, nach dessen spezifischen impliziten poetologischen Bestimmungen zu fragen“ (ebd. 50). Überdies gehe es in Hinblick auf zeitgenössische Romane nicht so sehr darum zu prüfen, „ob sie das Gattungsmuster in vollem Umfang erfüllen, sondern vielmehr darum, wie sie sich produktiv damit auseinandersetzen und darüber neue Bildungsvorstellungen entwerfen“ (ebd. 61).
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und potenziell der Lächerlichkeit preisgibt. Die totale Beschämung, die wie ein Damoklesschwert über ihm schwebt, würde bedeuten, dass er ‚Henker‘, so Jason, ganz und gar gehöre. Den zweiten inneren Dialogpartner nennt Jason ‚Wurm‘, als jenen Teil in ihm, der sich unterwerfen und anpassen möchte, um Sicherheit und die Vorteile der Gruppenzugehörigkeit zu erlangen. Und schließlich gibt noch den ‚ungeborenen Zwilling‘, der aufmüpfige oder übermütige, stolze und selbstbewusste Teil, der, wie der Name schon sagt, noch wenig zur Geltung kommen kann. Denn über weite Strecken des Romans ist Jason geradezu ein Getriebener, der immer neu passiv und in verschiedenen Versuchen der Anpassung von den Bedingungen und Aktionen der Anderen bestimmt ist, von Attacken der männlichen Peergroup, die Jason im Durkheimschen Sinn als ein undurchdringliches ‚fait social‘ erlebt, als eine unumstößliche soziale Tatsache, die, den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen militärischer Hierarchien gleich, das Leben der Jungen – und somit auch seine eigenes bestimmt. Einen Höhepunkt der Demütigung erfährt Jason, nachdem er dabei ‚erwischt‘ wurde, dass er mit seiner Mutter ins Kino gegangen war (sein Vater hatte keine Zeit). Nun steht im Bild der Anderen fest, dass er schwul und out ist. Er wird verfolgt, verprügelt und beraubt, sein Stottern, natürlich längst von allen erkannt, wird nun unbarmherzig zum Gespött der Jungen. Auf der Flucht, in einem Versteck, zieht er Bilanz: „Drangsalierte Jugendliche machen sich unsichtbar, um die Gefahr zu verringern, dass sie entdeckt und drangsaliert werden. Stotterer machen sich unsichtbar, um die Gefahr zu verringern, dass sie dazu genötigt werden, etwas zu sagen, das sie nicht aussprechen können. Jugendliche, deren Eltern sich ständig streiten, machen sich unsichtbar, um nicht noch mehr Streit auszulösen. Der dreifach unsichtbare Junge, das ist Jason Taylor.“ (Mitchell 2007: 392)
Auf welche Weise allerdings diese drei Themen zusammenhängen, bleibt für Jason selbst verborgen oder unsichtbar, während es über die literarische Gestaltung der Themen möglich wird, Bezüge herzustellen. Über die formale und ästhetische Konstruktion des Werks können die komplexen Verknüpfungen hervortreten, die den Protagonisten nicht oder noch nicht bewusst sein können (vgl. auch Fischer 2005) – insbesondere die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der elterlichen Beziehung und Jasons Entwicklung, auch seines Stotterns, das – wie entsprechende zeitliche Markierungen im Text indirekt nahelegen – zeitgleich damit begann, als der Vater erstmals die Beziehung zu einer Geliebten einging und die Ehe der Eltern daran zu zerbrechen drohte. Entsprechend wird auch das Thema des Aufbruchs selbst auf verschiedenen Ebenen kunstvoll verknüpft, wodurch hervortritt, dass Jasons adoleszenter Aufbruch nicht einfach nur sein Aufbruch ist. Es werden mehrere 120
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ineinandergreifende ‚Aufbrüche‘ ausgeführt und über den formal-ästhetischen Aufbau in ihren Auswirkungen und Wechselwirkungen verbunden: Zum einen entfaltet sich das Ende von Jasons Kindheit, das im Verlauf der Handlung das Kind Jason schrittweise als Jugendlichen erscheinen lässt, ein Aufbruch, der zudem über die zeitliche Konstruktion – es ist Januar und eine neues Jahr hat begonnen – unterstrichen wird. Bedeutung erlangt auch der Aufbruch der Schwester, die Abitur macht, im Verlauf der Handlung auszieht, um ein Studium zu beginnen, und eine Jason erstaunende, schmerzliche Lücke hinterläßt, aber auch Vorbild und Projektionsfläche für potenzielle Selbständigkeit abgibt. Auf politischer Ebene hat wie erwähnt der Falklandkrieg begonnen und in der Rhetorik der Medien bricht England in den Krieg auf wie in ein Fußballspiel mit erwartbarem Sieg. Der Krieg wiederum ist in Jasons Erleben und in einem darauf Bezug nehmenden Gedicht (wie es seine hellsichtige Mentorin Madame de Crommelynck12, die den Dichter hinter dem Pseudonym entdeckt und ihn bei zwei folgenreichen Begegnungen künstlerisch berät, sofort verstanden hat) zugleich eine Metapher für die sich zuspitzende Krise in der Beziehung der Eltern. Insofern bildet der – zunächst als solcher noch unmerkliche, sich wie hinter den Kulissen vorbereitende und doch in verschiedenen Zeichen spürbare – Aufbruch der Eltern in ein getrenntes Leben die Matrix für Jasons präadoleszente und adoleszente Entwicklung: der emanzipatorische Aufbruch der Mutter auf der einen Seite, die im Verlauf des Romans ihr sie beengendes Hausfrauendasein beendet und erfolgreich berufstätig wird (während der Vater seine Stelle als leitender Angestellter verliert), und der ursprünglich auslösende, zugleich eigentümlich passiv und geradezu ‚unbeabsichtigt‘ wirkende Aufbruch des Vaters in eine neue und zugleich alte Liebesbeziehung auf der anderen Seite. Über die formale Gestaltung des Romans wird vor allem deutlich, in welcher Weise gerade die Themen des Vaters den Rahmen für die Entwicklung des Sohnes bilden, und auf diese Weise die Spannung zwischen dem Aufbruch des Vaters und dem des Sohns akzentuiert. Dabei sind die Themen des Vaters für den Sohn über weite Strecken noch ungreifbar, kaum nachvollziehbar, und werden lediglich atmosphärisch wahrgenommen – über Streit und Veränderungen in der Elternbeziehung, die er zugleich schuldhaft auf sich bezieht, wie es der Auftakt des Romans13 ins Bild setzt: 12 Eine Figur, die aus Mitchells Roman Wolkenatlas (2006a) stammt. 13 Eine hermeneutische Rekonstruktion folgt der Sequentialität der Bewegung und der spezifischen Abfolge der Bilder und Figurationen, um das Verhältnis von formaler Struktur und manifestem Textsinn herauszuarbeiten, was immer auch bedeutet, die Gestaltung des Beginns präzise zu berücksichtigen (vgl. ausführlicher King 2008).
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J a n u a r ( e n g l . : J a n u a r y m a n ) 14 „Mein Büro bleibt absolut tabu für euch. So lautet Dads Regel. Aber das Telefon hatte schon fünfundzwanzigmal geklingelt. Normale Leute geben schon nach dem zehnten oder elften Mal auf, außer es geht um Leben und Tod. Oder? Dad hat einen Anrufbeantworter wie James Garner in Detektiv Rockford, mit so großen Spulen. Aber in letzter Zeit lässt er ihn nicht mehr laufen“. (Mitchell 2007: 7)
Jason phantasiert nach weiterem endlosen Klingeln einen Unfall und „vielleicht verpassen wir die letzte Chance, unseren verkohlten Vater wenigstens noch auf der Sterbestation zu sehen. Also ging ich rein und dachte an Blaubarts Frau, die sein Zimmer betrat, obwohl er es ihr verboten hatte“ (ebd.). Jason nimmt ab, das Gegenüber meldet sich jedoch nicht, er hört im Hintergrund gerade noch die Titelmusik der Sesamstraße und schließlich Babybrüllen, dann das Aufknallen des Hörers. Nachdem Jason nun schon das Tabu durchbrochen hat, spielt er eine Weile, auf dem großen Drehstuhl des Vaters sitzend. Die Spuren, die er dabei versehentlich hinterlässt (einen Bleistift im Anspitzer), überführen ihn der Übertretung des Verbots. Doch noch während der Vater später beim Abendessen dabei ist, eben diese Überführung rituell zu exerzieren, kehrt sich die Situation gegen den Vater. Denn nun weiß auch die Schwester, die zunächst wenig solidarisch mit dem Bruder erscheint – anfangs nennt sie ihn auch grundsätzlich ‚Ding‘ – von einem Anruf zu berichten, bei dem sich am anderen Ende niemand meldete, nachdem es endlos geklingelt hatte. Die Eltern scheinen zu begreifen, wer das gewesen ist – und der Ärger zwischen Vater und Sohn verlagert sich in einen Streit zwischen den Eltern, der für Jason zunächst unbegreiflich bleibt. Erst im Verlauf der Geschichte ahnt der Leser, dass hier, in der Initialszene des Romans, die Geliebte des Vaters am anderen Ende der Leitung schweigt und das Weinen ihres Kindes zu hören ist. Jason stößt also zum Auftakt des Romans im realen und symbolischen Eindringen in den Raum des Vaters – in Blaubarts Zimmer – auf ein Geheimnis (auf eine noch geheime Parallelfamilie und andere Urszene, wie man sagen könnte), auf ein Rätsel, das hintergründig Jasons Entwicklung im Verlauf der folgenden dreizehn Monate bestimmt – auch in seinem unmittelbaren Handeln. Denn eine Folge dieses Eindringens ist wie erwähnt der Streit der Eltern, an dem er sich schuldig fühlt. Um sich zu trösten, nimmt er aus einem Ver-
14 Januar, in der englischen Originalfassung January man, so die Überschrift des ersten und des letzten (dreizehnten) Kapitels des Romans. Januar ist, wie daher hervorzuheben ist, der nach dem römischen Gott Janus benannte Monat, Gott der Türen und des Anfangs, mit zwei in entgegengesetzte Richtung blickenden Gesichtern als Symbol für Zwiespältiges oder Gegenläufiges, Widersprüchliches und Doppelgesichtiges.
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steck in seinem Zimmer die kostbare Uhr des Großvaters, eine Omega, die sein Vater ihm mit den Worten geschenkt hat: „Er hätte es für mich aufbewahrt, bis ich groß genug bin, um selber drauf aufzupassen. Es war eine Armbanduhr […] Er hat sie sein ganzes Leben lang jeden Tag getragen, sogar in dem Moment, als er gestorben ist. Das macht die Omega nicht unheimlich, sondern zu etwas ganz Besonderem.“ (Ebd. 29). Jason geht daraufhin zum Eislaufen, stürzt und verletzt sich. Einige Zeit später sieht Jason auf die Omega seines Großvaters und stellt fest „dass es keine Uhrzeit mehr gab. ‚Nein!‘ hörte ich mich wimmern. Das Uhrglas, der Stundezeiger und der Minutenzeiger fehlten, nur der verbogene Sekundenzeiger war noch da. Der Sturz auf dem Eis – dabei musste es passiert sein. Das Gehäuse war gesprungen, und das halbe Innenleben quoll heraus. Opas Omega war vierzig Jahre lang nie falsch gegangen. In nicht mal zwei Wochen hatte ich sie kaputt gemacht.“ (Ebd. 39).
Jasons Schuld- und Versagensgefühle in dieser durch die weitergereichte Uhr versinnbildlichten männlichen Genealogie der Familie bilden einen der roten Fäden im folgenden Handlungsstrang – ebenso seine vergeblichen Versuche der Wiedergutmachung heimlich Geld zu beschaffen für eine neue Uhr. Am Ende, in einem Gespräch mit dem Vater, einer Art wechselseitiger Beichte, ‚gesteht‘ Jason. Inzwischen ist jedoch deutlich geworden, dass es der Vater selbst ist, der die Familien-Genealogie verändert und durch die Trennung von der Familie ‚zerbrochen‘ hat. Die Schuldgefühle Jasons wegen der zerstörten Uhr und seine Wiedergutmachungs- oder Reparaturversuche, die ihn im Verlaufe des geschilderten Jahres gequält haben, stehen am Ende in entsprechend relativiertem Kontrast zur moralischen und ökonomischen Schuld des Vaters. Um die Geliebte (mit ihrer kleinen Tochter), die wiederum in ökonomischen Schwierigkeiten steckte, finanziell unterstützen zu können, hatte dieser eine Hypothek auf das Haus aufgenommen, in dem Jason, seine Eltern und Schwester lebten. Seine Versuche, dies vor seiner Frau, Jasons Mutter, geheim zu halten, scheitern schließlich. Als sie es bemerkt, ist das Ende der Ehe erreicht. Das Haus, in dem Jason seine Kindheit verbrachte, wird von allen Familienmitgliedern verlassen. Am Verhältnis zwischen Vater und Sohn wird deutlich, dass sich im Verlauf dieser ‚dreizehn Monate‘ in Jasons vierzehntem Lebensjahr auch der Vater verändert. Am Ende erscheint er gezeichnet. Seine Falten, so Jason, waren wie in sein Gesicht gebügelt, aber zugleich wirkte er mehr ‚bei sich‘: Der Vater kann gegen Ende seine Geschichte besser auf sich nehmen und den Sohn dadurch entlasten – wenngleich für Jason Schmerz, Trauer über den Verlust und Loyalitätskonflikte zwischen Vater und Mutter bleiben.
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Jasons Bildungsprozesse werden durch verschiedene Erfahrungen angestoßen, zum Beispiel dadurch, dass er emotional bedeutsame Erfahrungen mit den Außenseitern macht – mit den Zigeunern und den ausgestoßenen Kindern – die es ihm ermöglichen, die konventionelle Gruppenmoral zu überschreiten und sich selbst auch, im mehrfach determinierten Sinne, als einen Anderen zu akzeptieren. Über seine belgische Lehrmeisterin, mit der er über seine Gedichte spricht, eröffnet sich eine kurze, aber wie erwähnt folgenreiche außeralltägliche Beziehung, die neue Sichtweisen auf seine Lebenssituation bietet. Auch hier geht es im Kern darum, das Bestreben nach Anpassung aufzugeben. In Hinblick auf seine Gedichte ermutigt ihn diese Frau, die Schönheit des Gedichts vor allem an seiner Authentizität zu bemessen. Im Medium des Dichtens erfährt Jason zum ersten Mal, dass es offenbar nicht darum gehen kann, die eigenen Erfahrungen zu negieren oder ihre Wahrnehmung zu manipulieren, sondern ihnen Sprache und Ausdruck zu verleihen. Die Mentorin ermutigt ihn, zu seinem Namen, zu seinen Gefühlen und seinem Anderssein zu stehen. Dabei werden Jasons Lern- und Bildungsprozesse nicht in einem verkürzten Sinne gezeichnet und ihre Folgen erscheinen stets zeitlich versetzt, in Pendelbewegungen zwischen regressiven und progressiven Bewegungen, die ihn in der Summe zur sprachbemächtigenden Aneignung treiben. So lässt er in einem ihm sehr riskant erscheinenden, an der Schule spektakulären Befreiungsschlag eine Gruppe von Jungen ‚auffliegen‘, die ihn und andere Außenseiter erpresst. Der Gewalttätigkeit dieser Jungen steht für ihn am Ende die Macht der Sprache gegenüber. Jasons Veränderung, seine befreiende Widerständigkeit und neue Sprachfindung, wird im klassischen Sinne durch den ersten Kuss mit einem Mädchen ins Bild gesetzt. Die Bewegung der Aneignung bleibt jedoch auch bis zum Ende konterkariert durch jene der Enteignung, durch eine Verlusterfahrung, die über den für die Adoleszenz konstitutiven Verlust der Kindheit hinausgeht15. Insofern ist am Schluss offen, wie sich die Erfahrungen der Aneignung und der Enteignung weiter ins Verhältnis setzen werden. So kommt ‚es‘ – als Verdichtung aller Empfindungen – Jason, von Trauer über das Verlorene erfüllt, schließlich „nicht besonders gut vor“, aber ‚es‘ ist auch „noch nicht zu Ende“ (ebd. 493).
15 Insofern erscheint es als eine bezeichnende Vereinfachung und Verkennung der spezifischen, die Entwicklung von Trennungsfähigkeit gerade unterlaufenden Bedingungen, unter denen sich Jasons adoleszenter Aufbruch vollzieht, wenn geschrieben wird: „For it is all in leaving home […] that one can become an adult […]. By the end of the novel, Jason will leave Black Swan Green as he must.” (Ruth Franklin, The New Republic)
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Ästhetische Konstruktion des Verborgenen: Zeit, Raum und generative Struktur Kehren wir zu den eingangs aufgeworfenen Fragen zurück, so verdeutlicht dieser Roman gerade über die ästhetische Konstruktion die Dialektik von Determination und Ermöglichung. Die im Roman beschriebenen Monate sind in vielerlei Hinsicht zunächst Zeiträume, in denen Jason fremdbestimmt wird durch Bedingungsmomente, die er weder durchschauen noch verändern kann. In einem konkreten Sinne verliert er die Räume seiner Kindheit und frühen Adoleszenz. Er wird gleichsam aus dem Nest geworfen, nicht einfach, weil es Zeit dafür wäre, sondern weil die Erwachsenen mit ihren eigenen Geschichten, Trennungen und Aufbrüchen befasst sind. Eben diese Momente der Enteignung16 – versinnbildlicht in dem Zimmer und Haus, das er räumen muss – sind ein hintergründiges schwer fassbares Thema seiner Entwicklungsbedingungen. Zugleich jedoch entwickelt Jason in den dreizehn Monaten Mittel der reflexiven Aneignung und Bearbeitung, die ihn (auch) als Subjekt seiner Bildungsgeschichte konstituieren. Auch die komplexen Verflechtungen zwischen den subjektiven und den intersubjektiven oder intergenerationalen Momenten des adoleszenten Bildungsprozesses sind ästhetisch ausgestaltet. Die formalen und sprachlichen Konstruktionen erzeugen eine Verschiebung der Perspektiven, die die Ambiguität der zeit-räumlichen und generativen Struktur ausleuchten und je nach Blickrichtung andere Aspekte hervortreten lassen – einmal den Protagonisten und die Peers, dann wieder die familialen generationalen Hintergründe. Diese perspektivischen Verschiebungen vollziehen sich im Besonderen über die Variationen der Themen Zeit und Raum. Zeit wird zunächst eingeführt als zirkuläre Zeit über die Gestaltung der Kapitel in 13 Monaten von Januar bis Januar. Doch zugleich ist die formale Zirkularität gebrochen in der Eigenständigkeit der einzelnen Kapitel17. Analog erlebt Jason das Stottern zu Beginn noch zirkulär wie den Wechsel der Jahreszeiten: im Sommer lässt es nach, im Winter scheint es stärker zu werden. In der Abfolge von Episoden wird das das Stottern aber auch aus verschiedenen Richtungen betrachtet – und erhält dadurch variierende Bedeutun16 Zu den Dynamiken und Folgen der Enteignung des psychosozialen Möglichkeitsraums der Adoleszenz durch die je Erwachsenen vgl. King 2006, insbes. die dort vorgenommene Analyse der intergenerationalen Konfigurationen in Zoë Jennys Adoleszenzroman Das Blütenstaubzimmer. 17 „For some writers, the end of a chapter is little more than a pause for breath. For the audacious British novelist David Mitchell, the chapter is the organizing principle of his imagination”, so Daniel Zalewski in The New Yorker: Thirteen ways, A portrait of adolescence from the puzzle master of British“. Mitchell selbst betont: “The book wanted to be a sequence of miniatures” (2006b).
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gen. Gegen Ende, im Gespräch mit einer verwirrten alten Frau, macht er eine bedeutsame neue Erfahrung. Er empfindet, dass das Stottern mit der Beziehung zum Gesprächspartner, zum Anderen zusammenhängt, die er auch selbst gestalten kann. Was wäre, fragt sich Jason schließlich, wenn „ich einfach drauf pfeife, wie lange mein Gegenüber auf mich warten muss. Zwei Sekunden? Zwei Minuten? Nein, zwei Jahre […] Wenn ich mir diese Gleichgültigkeit aneignen kann, wird Henker die Finger von meinen Lippen lassen […] ‚Eine Ewigkeit‘, murmelte Mrs. Gretton‚ ‚eine Ewigkeit‘“ (ebd. 486). Zeit schien sich zuweilen zu überschlagen im Kampf um Sekunden im Initiationsritus der Peers, in dem es darum ging, möglichst schnell zu sein. Im Gespräch mit der alten Frau erweist sich Zeit als etwas, womit er spielen kann, als selbst gestaltbare Zeit in Beziehungen. Zeit wird auf andere Weise zunehmend aber auch als linear und irreversibel ausgeführt, als Zeit des Älterwerdens, verbunden mit dem Verlust von kindlichen Bezügen – und hierin wiederum verknüpft mit der Veränderung des erlebten oder erlebbaren Raumes. Der benachbarte, anfangs märchenhaft groß erscheinende Wald etwa schrumpft am Ende auf die Fläche zweier Fußballfelder, die rasch zu durchlaufen sind. Zeit- und Raumerleben bedingen einander, wie deutlich wird, in verschiedenen Dimensionen des Erlebens (vgl. Gerisch 2002). So wird Zeit im Roman auch mythisch18 und genealogisch als Zeit der mehrgenerationalen Vater-Sohn-Beziehung ausgemalt. Und ebenso bilden die durch den Vater besetzten oder verlorenen Räume den Rahmen für die Handlung, Auftakt und Ende des Romans.
18 Die ästhetische Gestaltung des mythischen Zeitbezugs, die Anspielungen auf Märchen, Adoleszenzromane und –rituale (vgl. Fußnote 3), verlangen beim Lesenden „enzyklopädische Kompetenz“ im Sinne Ecos (1987: 246). Daran lässt sich eine weitere Zeitebene des Romans verdeutlichen, die Eco die „Zeit des Zitats“ nennt. „Wenn ein Text einen vorhergehenden Text zitiert, verpflichtet er den Leser zu einer Inspektion seiner intertextuellen Kompetenz und seiner Kenntnis der Welt“, die ihrerseits Zeit erfordere (ebd.). Auch das „ironische Zitat eines Topos“ (ebd.) spielt mit der „intertextuellen Enzyklopädie“ (ebd. 247). Eco plädiert daher dafür, nicht nur „nach dem Phänomen der Zeitlichkeit im Innern eines Werks zu fragen, sondern nach dem komplexeren Vorgang, durch welchen die verschiedenen Strategien der Wiederholung in der intertextuellen Zeit“ ermöglicht werden: „[…] intertextuelle Zitattechniken erweitern unseren Begriff von Zeitlichkeit im Verhältnis zum Kunstwerk, in dem sie der Zeit des Ausgesagten, der Zeit der Aussage und der psychologischen Zeit des Betrachters eine historische, oder vielmehr: eine Zeit der Kultur zur Seite stellen.“ (ebd. 248). Die ‚gebrochene‘ Genealogie im Vater-Sohn-Verhältnis in Black Swan Green, die Metaphorik der zerbrochenen Uhr des Großvaters, wird aus dieser Perspektive wiederum gerahmt und in gewissem Sinne aufgehoben, zumindest konterkariert von den intertextuellen Anspielungen auf ‚Genealogien‘ kultureller Weitergaben und Anverwandlungen von Pubertätsmythen und Adoleszenzromanen.
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Damit komme ich abschließend zum Ende zurück: „‚Das Komischste von allem ist, […] ohne Dad hier wegzugehen. Ich meine, eigentlich müsste er jetzt hektisch im Haus rumlaufen, den Boiler ausstellen, das Wasser, das Gas […].‘ Diese Scheidung ist wie ein Katastrophenfilm, in dem plötzlich die Straße im Zickzack aufreißt und sich unter irgendjemand ein Abgrund auftut. Ich bin dieser Jemand. Auf der einen Seite stehen Mum und Julia, auf der anderen Dad und Cynthia. Wenn ich nicht auf eine dieser beiden Seiten springe, stürze ich in die endlose schwarze Tiefe. ‚Ein letztes Mal nach den Fenstern sehen, nach dem Strom. So wie früher, wenn wir in den Urlaub nach Oban oder in den Peak District oder sonst wohin gefahren sind.‘ Ich habe kein einziges Mal wegen der Scheidung geweint. Und ich werde auch jetzt nicht weinen. Natürlich nicht! In ein paar Tagen bin ich vierzehn! ‚Am Ende‘, Julias sanfte Art machte es noch schlimmer, ‚wird alles gut sein, Jace.‘ ‚Mir kommt es nicht besonders gut vor.‘ ‚Das liegt daran, dass es noch nicht zu Ende ist.‘“ (493)
In einem weiteren Roman, so Mitchell (2006b) im Gespräch mit Robert Birnbaum, den er zu einem Zeitpunkt zu schreiben beabsichtigt, an dem der Protagonist so alt wäre wie Jasons Vater in diesem Roman, würde er Jason selbst als Vater aus der Sicht seines 13jährigen Sohnes beschreiben. Und damit, so könnten wir anfügen – die ambigue Betrachtung der männlich-generativen Struktur in einer weiteren janusköpfigen, perspektivischen Verdoppelung fortführen.
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Korrekturen der Jugend: Beobachtungen an neueren Romanen JÜRGEN OELKERS
„Eine biedere Ästhetik flieht aus Angst vor der anarchischen Unberechenbarkeit der Kunst in die Pädagogik“. (Peter von Matt)
„Jugend“ bezeichnet in der pädagogischen Literatur zumeist ein Durchgangsstadium zwischen der Kindheit und dem Zustand des Erwachsenen. Die Phase der Jugend wird als Transit angenommen, den zu erleben Folgen hat, die mit der Erfahrung der Reife verbunden werden. Die Adoleszenzkrise wird so auch als „Reifekrise“ bezeichnet. Heutige Jugendtheorien verwenden diese organische Metapher nicht mehr, weil sie nicht von natürlichen Stufen der Entwicklung ausgehen, sondern von „Entwicklungsaufgaben“, die von den Jugendlichen besser oder schlechter gelöst werden können. Aber die Erwartung eines positiven Ertrages bleibt bestehen, nicht nur im Blick auf ein Erziehungsziel, sondern auch im Sinne einer Fairnessabschätzung. Wenn die Jugend schon mit großen Umständen und Turbulenzen verbunden ist, dann muss sie sich wenigstens gelohnt haben. Die Idee, die Jugend könne oder müsse später korrigiert werden, findet sich in keiner der heutigen Jugendtheorien. Das liegt auch daran, wie und mit wem die Daten erhoben werden, nämlich im Wesentlichen mit den Jugendlichen selbst. Die meisten Studien sind punktuelle Erhebungen, wenn es Nachuntersuchungen gibt, dann mit dem gleichen Instrument für eine spätere Stichprobe. Längsschnittstudien mit ein- und derselben Kohorte sind ganz selten. Wo es sie gibt, etwa in der Zürcher LIFE-Studie, zeigt sich Ernüchterung. Offenbar ist die wie immer geartete Bewältigung von „Entwicklungsauf131
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gaben“ der Jugend keineswegs eine Gelingensbedingung für das Leben als Erwachsener. Der Grund ist der undeterminierte Prozess, der nicht einfach Phasen durchläuft oder für den Aufgaben bereit stehen, sondern der Akteure in fortlaufend verknüpfte oder irgendwann aufgelöste Geschichten verwickelt. Viele scheinbar prägende Erfahrungen der Jugend werden im Verlaufe des Lebens vergessen, frühere Einstellungen werden späteren Verwendungssituationen angepasst und was in der Jugend Bedeutung hatte, verblasst oder erfährt ungeahnte Umdeutungen. Erfahrungen mit Schule und Unterricht scheinen den Ort, an dem sie gemacht werden, kaum zu überdauern, zur Bewältigung des Lebens tragen sie jedenfalls kaum bei, einzig soziale Beziehungen haben einen Wert von Dauer, sofern sie wirklich auch nach der Phase der Jugend noch von Bedeutung sind. Und wie die Jugend selbst wirkt, erfährt man aus diesen Studien nie. Wer Erwachsene befragt, wie sie ihre Jugend einschätzen, muss einem persönlichen Rückblick vertrauen, der im Augenblick der Beantwortung des Fragebogens oder im Verlauf des Interviews nicht mit Erinnerungsdokumenten abgesichert ist. Das würde die Vergleichbarkeit der Erhebung beeinträchtigen, die sich auf akute Erinnerungen verlässt. Sie sind nicht strukturiert und haben keine literarische Form. Es sind tatsächlich Erinnerungen, keine Geschichten. Das Objekt des Erinnerns ist weit entfernt und wird von der Gegenwart aus beurteilt, der Rückblick ist keine strukturierte Erzählung, sondern eine Assoziation, die als authentisch erscheint. Sie kennt nur die Sprache des Augenblicks der Frage oder der Antwort, eine sorgfältige literarische Bearbeitung kann das nicht sein. Im Gegensatz dazu erzählen Romane Geschichten, die kein Vergessen kennen. Der Autor hält die Handlungen zusammen und bestimmt darüber, was die Geschichten enthalten und was nicht. Er ist der Schöpfer einer Fiktion, die verstanden wird vor dem Hintergrund möglicher Analogien in den Erfahrungen der Leser. Die Geschichten haben Möglichkeiten, die das Leben nicht kennt, Brüche mit der Zeit, Vor- und Rückblicke sowie einen überlegenen Standort, der die Zukunft ebenso beherrscht wie die Vergangenheit, und dies vollständig. Das gilt auch dann, wenn die Erzähltheorie des Autors etwas anderes annimmt. Schließlich ist jeder Roman abgeschlossen, er kann nicht neu geschrieben, sondern höchstens fortgesetzt werden, was bei großen Romanen nie der Fall ist. Ein zentrales Thema der neueren Romanliteratur ist der Verlauf des Lebens; dargestellt werden nicht Episoden oder Ausschnitte, sondern die Verwicklung von Lebensläufen, die sich aus bestimmten Ereignissen und Konstellationen ergibt. Es sind keine Bildungsromane mit einem Protagonisten im Zentrum, der auf eigene Faust die Welt erfährt und sich dabei zu einem dauerhaften Ich formt. Jugend wird nicht als Eröffnung eines wie immer unbe132
KORREKTUREN DER JUGEND
stimmten Lebens gesehen, sondern rückblickend betrachtet. Der Optimismus der Jugendtheorien schwindet. Die Frage ist nicht, wie die Erfahrung der Jugend möglichst produktiv genutzt, sondern wie sie korrigiert werden kann. Dabei wird nicht die relative Bedeutungslosigkeit der Jugend für den späteren Verlauf des Lebens sichtbar, sondern ihr Stachel, der sich zeigt, wenn die einzelne Geschichte betrachtet wird und nicht der empirische Durchschnitt. Das Erwachsensein ist kein Stadium der Reife, sondern geht einher mit einem Bedürfnis nach Korrektur, das komplexe Bindungen voraussetzt, die lebenslang dauern und die dem pädagogischen Ideal der „Autonomie“ oder der „Mündigkeit“ widersprechen. Es gibt kein „Subjekt“ der Bildungstheorie, das einen fertigen Zustand des Erwachsenseins voraussetzt; wohl aber gibt es offene Rechnungen der Vergangenheit, deren Schicksal es ist, nicht beglichen werden zu können. Die Korrektur ist so ein Wunsch, der die Handlung antreibt, keine Realität, die sich herstellen lässt. Diese These werde ich im Folgenden anhand von Beobachtungen an verschiedenen Romanen aus der angelsächsischen Literatur der Gegenwart zu illustrieren versuchen. Im Mittelpunkt meiner Darstellung steht Ian McEwans Roman Atonement, der den deutschen Titel Abbitte trägt und die Geschichte einer Schuld erzählt, die sich trotz aller Versuche nicht auslöschen lässt. Mit dieser Geschichte beginne ich (1). Danach diskutiere ich das Thema des Korrigierens, das sich auf Gesellschaft und Lebensverlauf gleichermaßen bezieht. Mein literarisches Beispiel ist Jonathan Franzens Roman The Corrections (2). Abschließend erörtere ich das Verhältnis von Literatur, Theorie und Realität und frage, was fiktive Geschichten mit realen zu tun haben. Hier ist mein Beispiel Philip Roths Roman The Human Stain (3).
Atonement: Die Geschichte In seinem Roman Saturday aus dem Jahre 2005 erzählt Ian McEwan wie James Joyce in Ulysses die Geschichten eines Tages. Sie spielt nicht in Dublin, sondern in London, aber auch sie behandelt Irrfahrten. Das Thema ist die „globale Krise“ (McEwan 2005: 50), der Terrorismus, der Einbruch der Gewalt in den Alltag und die Frage, ob nicht ein neuer „Hundertjähriger Krieg“ drohe (vgl. ebd.). Es ist der Samstag, an dem in London gegen den Irak-Krieg demonstriert wird (vgl. ebd. 101ff.).1 Der Roman stellt sich dem Thema und lässt es zwischen den Generationen doch offen. Das Geschehen wird aus der Perspektive eines Vaters erzählt und so von einer Figur zusammengehalten. Sie gibt auch die Sorge über die Entwicklung der Kinder wieder, beschreibt
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Real der 15. Februar 2003. Es war die größte Demonstration, die in Großbritannien je stattgefunden hat.
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Erfolge und Misserfolge der Erziehung und sieht „äußerst behütende Eltern“ (ebd. 253), denen der Boden der Mittelklasse zu schwinden droht. Die Geschichte beginnt mit einem scheinbaren Flugzeugabsturz, einer „aus sicherer Entfernung beobachteten Katastrophe“ (ebd. 26), aus der am Ende eine reale Bedrohung durch Terror wird, der in jede Stadt getragen werden kann (vgl. ebd. 382f.). Der Tag selbst ist eine Verkettung von Ereignissen (vgl. ebd. 386), für die es wohl Entscheide, aber keine Ursachen gibt. „Wenn alles geschehen kann, ist alles wichtig“ (ebd. 289), heißt es, wobei der Tag zeigt, wo die Sicherheiten noch liegen, in der Familie, im Beruf und so in der bürgerlichen Existenz. Aber die Welt draußen bricht ein, die viktorianische Illusion der Sicherheit ist Vergangenheit, weil alles vergeht und nichts wirklich zum Besitz wird. „Alles ist nur gemietet oder geborgt“ (ebd. 380), lautet ein theologischer Schlüsselsatz aus Saturday. Der ungleich komplexere Roman Atonement (2001, deutsch 2002) erzählt ebenfalls das Geschehen eines Tages und so den Fluss von Ereignissen, die jedoch nicht für sich stehen, sondern von den Folgen her betrachtet werden. Alle Personen sind „Teil eines einzigen Tages“ (McEwan 2002: 262), aber das ist nicht zeitlich oder räumlich zu verstehen, sondern als schicksalhafte Verknüpfung, die entsteht, weil ein bestimmtes Ereignis mit ungeahnten Konsequenzen verbunden ist. Der Tag im Sommer des Jahres 1935 endet erst 64 Jahre später, wobei das Ende zugleich für Aufklärung sorgt und eine Korrektur nahe legt. Das auslösende Ereignis wird mit einem großen Spannungsbogen dramatisch beschrieben, das Ende dagegen wird lakonisch und mit wenigen Zeilen gefasst. Es kommt nicht auf das Ende an, sondern nur darauf, wie die Geschichte erzählt werden kann. Der englische Ausdruck „atonement“ bedeutet mehr als nur „Abbitte“, also Bitte um Verzeihung. In der katholischen Theologie der angelsächsischen Welt ist „atonement“ der einzige Begriff, der nicht lateinischen, sondern englischen Ursprungs ist. Das Verb „to atone“ stammt von „at one“ ab und meint „in Einklang bringen“ oder „zu eins“ machen. Das Dogma der Erlösung heißt auf Englisch „Doctrine of the Atonement“ (vgl. Hodgson 1951), es geht auf das Glaubensbekenntnis von Nicäa zurück, das die Lehre der Trinität kanonisiert hat. Die Doktrin fasst den Sühnetod Christi. „Gott hat in Christus die Welt mit sich versöhnt“, heißt es im zweiten Korintherbrief, „er rechnet ihnen ihre Fehltritte nicht mehr an und hat unter uns das Wort der Versöhnung gestiftet“ (2. Kor 5, 19). In den englischen Übersetzungen heißt „Versöhnung“ reconciliation. Das Wort atonement kommt in der King James Version des Neuen Testaments von 1611 nur an einer Stelle vor, nämlich im Römerbrief. Es heißt hier: „We joy in God through our Lord Jesus Christ, by whom we have now received the atonement.“ (Röm 5, 9)
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KORREKTUREN DER JUGEND
Im Alten Testament wird das Wort an vielen Stellen gebraucht, es kommt mehr als achtzig Mal vor, aber es heißt hier eher „Besänftigung“ oder „Versöhnung“ und bezieht sich naturgemäß nicht auf die Lehre der Trinität. Noch in der Bibelübersetzung von William Tyndale aus dem Jahre 15262 wird der Ausdruck „at onement“ verwendet, um die Einheit der Trinität anzuzeigen, die in Jesus und mit seinem Sühnetod gestiftet ist. Die Lehre vom Sühnetod und so der Vergebung der Sünden spielt in der englischen Literatur von John Milton3 bis C.S. Lewis (1942) eine wichtige Rolle. Mit dem Wort atonement verbindet sich aber noch eine andere Bedeutung. „The Day of the Atonement“ ist die englische Bezeichnung für den jüdischen Feiertag Jom Kippur, der Reue und Versöhnung vorschreibt. Die Einsetzung des Tages wird im Buch Leviticus des Alten Testaments beschrieben, also dem Buch der Gesetze nach dem Exodus. An diesem Tag wird denen, die fasten, sich gereinigt haben und in vollkommener Ruhe leben, Sühne zuteil – atonement, wie es in allen englischen Bibelübersetzungen heißt (Lev 16, 30). Der zehnte Tag des hebräischen Monats Tischri ist Jom Kippur, nach dem christlichen Kalender findet das Versöhnungsfest also im September oder Oktober statt. „Tischri“ ist der siebte Monat, das wäre im christlichen Kalender der Juli. Der Tag im Jahre 1935 ist ein heißer Sommertag im Juli, der genau beschrieben, aber nicht gezählt wird. Es geht um mehr als nur um eine persönliche Abbitte. Das Thema des Romans Atonement könnte man auf die englische Wortgeschichte beziehen: Wie ist Sühne und so die Vergebung der Sünden möglich, wenn kein Retter vorhanden ist und die Schuld bis zum Ende allein getragen werden muss? „Schuld“ ist persönlich gemeint, es geht um eine zurechenbare Tat am Ende der Kindheit, die selbst ganz rätselhaft bleibt. Warum sie geschieht, lässt sich nicht beantworten, sie geschieht, und damit muss es genug sein. Nicht alles, was geschieht, heißt es in Atonement, hat auch eine Ursache, und wer so tut, als wenn das anders wäre, der greift „vergebens ins Getriebe der Welt ein“ (McEwan 2002: 213). Es geht um die Folgen des Tuns, nicht darum, ob es auch anders hätte geschehen können. Denn nichts geschieht so, wie man es sich vorgestellt hat (vgl. ebd. 146). Der Roman beginnt und endet mit einer Theateraufführung. Kinder wollen für Erwachsene spielen, das erste Mal missglückt die Aufführung, das zweite Mal gelingt sie. Was beide Aufführungen vereint, ist der Text des Stückes und die Verfasserin. Das Stück heißt The Trials of Arabella (McEwan
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Die Übersetzung von William Tyndale war die Grundlage für die Standardversion, die König James I. aufgrund von Interpretationsproblemen 1604 in Auftrag gab. Paradise Lost (Buch III) und De Doctrina Christiana (vgl. Patrides 1959 und diverse andere).
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2001: 368)4 und ist verfasst worden im Juli 1935 von der dreizehnjährigen Briony Tallis5 für ihren Bruder Leon, der nach langer Abwesenheit seinen Besuch auf dem Landgut der Eltern angekündigt hat. Aufgeführt wird das Stück erst 1999, zu Ehren von Briony, die eine berühmte Schriftstellerin geworden ist und für die ihre Familie ein Geburtsdinner organisiert hat. Ort des Dinners ist Tilney’s Hotel (vgl. ebd. 363), das frühere Elternhaus, wo das Drama der jungen Briony spielt. Die Aufführung findet in dem Raum statt, in dem sie das erste Mal ausgefallen war. In Trials of Arabella, also ganz zu Beginn des Romans, gibt es einen Retter. Autorin des Stückes ist ein begabtes Mädchen, das schon mit elf Jahren ihre ersten Geschichten geschrieben und sich nun erstmalig an einem Theaterstück versucht hat. Die erste Aufführung des Stückes kann nur deswegen angekündigt werden, weil am gleichen Tag, an dem Leon seinen Besuch zugesagt hat, drei andere Kinder auf dem Anwesen eintreffen, Brionys ältere Kusine Lola Quincey und deren Zwillingsbrüder Jackson und Pierrot. 1999 auf dem Dinner ist Jackson, der damals neun Jahre alt war, anwesend, sein Bruder ist gestorben. Lola ist mit Paul Marshall verheiratet, damals ein Freund von Leon, der ihn zum Besuch mitbrachte. Beide verbringen nunmehr als Lord und Lady Marshall ihr Leben als Mäzene in der Londoner Society. Briony, siebenundsiebzig Jahre alt, hat am Tag vor dem Dinner erfahren, dass sie an vaskulärer Demenz leidet, also durch Schlaganfälle ihren Willen, ihr Gedächtnis und ihre Sprache verliert. Sie schreibt an ihrem letzten Roman, der zugleich ihr erster sein sollte. Es ist die Geschichte ihrer eigenen Schuld, die auf das Ereignis im Jahre 1935 zurückgeht. Dass das Buch ihr Roman ist, erfährt der Leser erst am Ende der Geschichte, und dies auch nur mit der unverhofften Signatur nach dem letzten Satz, die die Initialen „BT“ und den Hinweis auf das Jahr 1999 enthält, in welchem der Roman abgeschlossen wurde (vgl. ebd. 349). Danach folgt ein längeres Nachwort London 1999, das von drei Ereignissen berichtet, der Diagnose des Arztes, dem Geburtstagsdinner und einem Déjà-vu. Für ihren letzten Roman arbeitet Briony in der Bibliothek des Imperial War Museum in London. Ein Teil des Romans spielt Ende Mai 1940 am Strand von Dünkirchen, wo nach der Kapitulation der Alliierten hunderttausende Soldaten auf ihre Evakuierung warteten. Der deutsche Haltebefehl wur-
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„Trial“ ist ein juristischer Begriff und meint Verhandlung, im übertragenen Sinne auch Prüfung oder Erprobung. Der Nachname ist vielleicht nicht zufällig gewählt. Thomas Tallis ist ein englischer Kirchenkomponist des 16. Jahrhunderts. Bekannt sind etwa seine Lamentations of Jeremiah the Prophet für die englische Holy Week, also die Woche vor Ostern.
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de am 24. Mai 1940 erteilt,6 am Tag danach begann die hektische Rettungsaktion. Der englische Codename „Operation Dynamo“ wird im Buch nicht erwähnt, Brionys Recherchen betrafen nicht den militärischen Verkauf der „Dunkirk Evacuation“, sondern das Hoffen und Leiden der Soldaten, so wie es sich in Briefen niederschlug, die das Museum gesammelt hat. Briefe sind ein zentrales Element der gesamten Geschichte, sie geben die Wendungen an, liefern Aufschlüsse und leiten die Handlung weiter. Lord und Lady Marshall sind das Déjà-Vu. Sie besuchen das Museum, um sich den Dank für eine großzügige Spende abzuholen. Briony trifft beide zufällig auf ihrem Weg zur Bibliothek, kann sich aber vor ihnen verbergen und so das Paar beobachten. Sie sieht einen alten, eingefallenen Mann, der mit achtundachtzig Jahren am Stock gehen und sich dabei auf seine Frau stützen muss (vgl. ebd. 357f.). Sie dagegen trägt mit fast achtzig immer noch „high heels“, ihr Anblick erinnert Briony an Schönheitsfarmen und Höhensonnen, und ihre Kleidung ist „bold rather than vulgar“ (ebd. 358). Sie ist jetzt größer als ihr Mann und überragt ihn auch in der Ausstrahlung. Noch eine Zigarettenspitze und ein Schoßhund, denkt Briony, und sie hätte als Cruella de Vil durchgehen können (vgl. ebd.). Cruella de Vil ist die Schurkin in dem Kinderroman The Hundred and One Dalmations or The Great Dog Robbery, den die englische Schriftstellerin Dodie Smith 19567 veröffentlicht hatte. Die Anspielung gilt nicht nur dem Ehemann, ihn nennt McEwan „a little doddery and flat-footed“ (ebd. 357), sondern auch dem größten Wunsch von Cruella, nämlich aus dem Fell von Hunden Pelze fertigen zu lassen. Lola ist für Briony so etwas wie eine „stage villain“, also eine Bühnenhexe, der alles zuzutrauen ist, wenn es nur wie exquisite Pelze der Selbstdarstellung dient (vgl. ebd. 358). Und Lola war in blendender körperlicher Verfassung (vgl. ebd.), nicht todgeweiht, wie Briony selbst. Sie weiß in diesem Augenblick, dass Lola sie überleben wird, und das ist für die Geschichte und ihr Ende ausschlaggebend. Ein Déjà-Vu muss keine Bekanntheitstäuschung sein, sondern kann auch als Wiederholung unter anderen Umständen gefasst werden. So konstruiert McEwan die Szene, wobei „Wiederholung“ als Erleben des sichtbar Gleichen mit dem Abstand der Jahre zu verstehen ist. Die frühere Szene spielt im Krieg, Briony ist Lernschwester in einem Londoner Krankenhaus, wo sie Anfang Juni 1940 die Rückkehr der Verwundeten aus Dünkirchen erlebt. Sie ist jetzt achtzehn, ihr Vater hat ihr geschrieben, dass Lola Quincey und Paul Marshall heiraten werden. Er weiß nichts von den Zusammenhängen. Briony dagegen lenkt auch der harte Dienst auf der Station nicht davon ab, dass sie
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Hitler besuchte an diesem Tag das Hauptquartier des kommandieren Generals Gerd von Rundstedt in Charleville. Der erste Animationsfilm aus den Disney-Studios erschien 1961.
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ein nicht wieder gut zu machendes Unheil angerichtet hat („irreparable damage“) (ebd. 316). An einem freien Samstag unternimmt sie einen Ausflug („journey“) in den Londoner Vorort Balham, der im Süden der Stadt liegt. Hier sucht sie die Kirche neben der U-Bahn Station von Clapham Common auf, in der Lola und Paul heiraten. Es ist die Church of the Holy Trinity (vgl. ebd. 284). Vor dem Portal parkt ein Rolls Royce, wie später auch vor dem Museum; die Zeremonie hat bereits begonnen, Briony geht hinein und setzt sich unerkannt in die letzte Reihe. Vor sich sieht sie eine fast leere Kirche, die Hochzeitsgesellschaft besteht nur aus sieben Personen, die Braut in Weiß und der Bräutigam im Cutaway stehen vor dem Priester; als der die Formel spricht, dass jeder, der etwas gegen die neue Verbindung vorbringen will, es jetzt sagen oder für immer schweigen solle, schießt ihr durch den Kopf, dass sie jetzt aufstehen muss, um die Wahrheit zu sagen. „And what luck that was for Lola – barely more than a child, prised open und taken – to marry her rapist.“ (Ebd. 324) Diese Wahrheit, Lola heiratet den, der sie vergewaltigt hat, löst das Rätsel der Geschichte auf und verstellt zugleich ihren Fortgang. Bis zu dieser Stelle weiß der Leser nicht, was der genaue Hergang des „Unheils“ war und welche Konstellation sich daraus ergeben hat. Die Heirat macht die Korrektur unmöglich. Briony meldet sich in der Kirche nicht zu Wort, obwohl es keinen massiveren Einwand gegen eine Ehe geben könnte. Nach der Zeremonie steht sie auf und will, dass sie erkannt wird. Anders als im Museum soll Lola sie sehen und sich fragen, warum sie gekommen ist. Briony ist die einzige Zeugin, die den wahren Täter kennt. Briony steht so, dass sie vom Sonnenlicht geblendet wird. Sie meint, ein Runzeln auf Lolas Stirn zu erkennen, mehr geschieht nicht. Briony wird ignoriert. Paul, die Zwillinge und Lolas Eltern erkennen sie nicht wieder und fragen sich nicht, warum ausgerechnet eine einsame Krankenschwester der Zeremonie beigewohnt hat. Auch das ist ein doppelbödiges Symbol. Brionys ältere Schwester Cecilia ist ebenfalls Krankenschwester, allerdings nicht mehr Lern-, sondern bereits Stationsschwester. Beide Schwestern wählten diesen Beruf, um mit den Folgen des Ereignisses vom Sommer 1935 fertig zu werden. Im Mittelpunkt der Verkettungen dieses Tages steht Robbie Turner, der Sohn der Putzfrau („charlady“), die auf dem Landsitz wohnt. Vater Tallis, ein hoher Beamter im Londoner Verteidigungsministerium, hat Robbie ein Literaturstudium in Cambridge ermöglicht, er ist Cecilias „childhood friend“ (ebd. 19) und auch ihr Studienfreund, weil sie zur gleichen Zeit wie er in Cambridge studiert hat, allerdings an einem anderen College. Sie verlieren sich während des Studiums aus den Augen und finden erst an jenem Schicksalstag wieder zusammen. Der Tag ist kein „day of atonement“, sondern er entwickelt sich in das genaue Gegenteil. Er hat drei Episoden, die kunstvoll und aus verschiedenen 138
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Perspektiven erzählt werden. Am Beginn steht eine zerbrochene Vase, dann folgt ein Brief und dann das Verbrechen. Robbie und Cecilia treffen sich zufällig am Brunnen vor dem Landhaus. Sie will ihn zum Kaffee einladen, aber er lehnt ab und das ärgert sie. Beide sagen immer das Falsche, er will etwas wieder gutmachen und ihr beim Füllen einer kostbaren Vase helfen, die dem Familienerbe zugerechnet wird. Sie will nicht, dass er ihr hilft, es kommt zu einem Gerangel, die Vase zerbricht an einem Rand und fällt ins Wasser. Er will die Vase hervorholen, aber sie kommt ihm zuvor, entkleidet sich vor seinen Augen bis auf die Unterwäsche, springt ins Wasser und holt die Vase hervor. Die Szene hat eine Zeugin, nämlich Briony, die nach der missglückten Probe von The Trials of Arabella am Fenster ihres Zimmer steht und beobachtet, wie sich ihre Schwester vor einem Mann auszieht. Damit gewinnt sie, wie es heißt, einen ersten Einblick in die Welt der Erwachsenen, die ihr bislang verschlossen war (vgl. ebd. 39). Das tat sie als „verborgene Beobachterin“ (ebd. 40), die nicht mehr hatte als eine Ahnung, was das, was sie sah, tatsächlich bedeutete. Aber diese Ahnung legte ihren Blick fest und machte dem Märchenalter ein Ende. „This was not a fairy tale, this was the real, the adult world, in which frogs did not address princesses and the only messages were the ones that people sent.“ (Ebd.) In der zweiten Episode ist Briony keine Beobachterin, sondern eine Akteurin. Robbie Turner, den Leon zum Entsetzen von Cecilia zum Abendessen eingeladen hat, kommt nach der erotischen Szene am Brunnen zum Schluss, dass er in Cecilia verliebt sei. Er schreibt ihr einen Brief, in dem er sich für sein Verhalten entschuldigt. Dieser Brief endet mit einer erotischen Phantasie, die ein obszönes Wort benutzt. Robbie erschrickt, schreibt den Brief von Hand neu und steckt ihn in einen Umschlag. Auf dem Weg zum Abendessen trifft er Briony und bittet sie, voraus zu laufen und Cecilia den Brief zu geben, damit sie ihn noch vor dem Essen lesen könne. In der Eile des Aufbruchs ist der Brief von Robbie vertauscht worden. Briony öffnet den Umschlag und liest die obszöne Version, die sie unmittelbar mit der Szene am Brunnen in Verbindung bringt und als elementare Bedrohung versteht, als „air of ugly threat“ (ebd. 113). Bedroht sind ihre Schwester und die ganze Familie, weil eine Grenze überschritten wurde. „With the letter, something elemental, brutal, perhaps even criminal had been introduced, some principle of darkness, and even in her excitement over the possibilities, she did not doubt that her sister was in some way threatened and would need her help.“ (Ebd. 114f.) Die dritte Episode, die zum Verbrechen führt, sieht Briony als Beobachterin zweier Taten, die nur sie verknüpfen kann. Lola wird zur Mitwisserin, Briony weiht sie ein über den Brief und gemeinsam befinden sie, dass der Verfasser nur ein „maniac“ sein könnte (vgl. ebd. 119). Ein Psychopath ist ge139
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fährlich und gegen ihn sind alle Mittel erlaubt, besonders dann, wenn jemand geschützt werden muss. Die ältere Schwester zu schützen, ist die Basisfantasie; Briony will zur Retterin werden. Cecilia reagiert auf den Brief mit Verlangen, sie trifft sich mit Robbie in der Bibliothek, sie lieben sich, aber Briony beobachtet die Szene und ist nun vollends davon überzeugt, dass sie es mit einem Psychopathen zu tun hat. Beim Abendessen überwacht sie feindselig das Paar, das nicht weiß, dass es nur diesen einen Abend haben soll. Das Unheil kündigt sich an, als die Gesellschaft gegen Mitternacht feststellt, dass die Zwillinge verschwunden sind. Sie hinterlassen eine Botschaft, die entdeckt wird und für helle Aufregung sorgt. Rasch werden Suchtrupps gebildet und auch Briony macht sich auf, nach den Zwillingen Ausschau zu halten, im Kopf immer das Bild des Psychopathen. An einer entlegenen Stelle des Anwesens sieht sie etwas, das sie zunächst nicht erkennt und für eine Täuschung hält, „some trick of darkness and perspective“ (ebd. 164). Später hält die Untersuchung fest, dass die Vollmondnacht für gute Sichtverhältnisse gesorgt hat. Aber für die Wahrnehmung herrscht Zwielicht, ein „Graun“ im Sinne Eichendorffs.8 Briony glaubt einen Busch vor sich zu haben, aber dann sieht sie einen erwachsenen Menschen, der vor ihr zurückweicht und schnell im Schatten der Bäume verschwindet. Mehr als ein vager Moment ist das nicht. Der dunkle Fleck am Boden ist ebenfalls ein Mensch, der seine Umrisse verändert, als er sich aufrichtet und ihren Namen ruft (vgl. ebd.). Damit ist die Beziehung hergestellt und die unsichere Wahrnehmung figuriert. Die Vergewaltigung von Lola Quincey schiebt Briony Tallis dem „maniac“ Robbie Turner in die Schuhe, willentlich und umso so sicherer, je länger sie dazu Aussagen macht. Es ist ihr rite de passage. Noch am Tatort verspürt sie den Wunsch, seinen Namen auszusprechen. „To seal the crime, frame it with the victim’s curse, close his fate with the magic of naming.“ (Ebd. 165) Es ist Robbie, der die Zwillinge findet und sie in das Haus zurückbringt. Aber das hilft ihm nichts, schon auf der Treppe wird er verhaftet, Briony sagt in allen Verhören und auch vor Gericht gegen ihn aus, sie zerstört damit eine Liebe, die gerade erst begonnen hat, aber sie zerstört auch die Familie, der sie zugehört. Turner wird wegen Vergewaltigung verurteilt, Cecilia verlässt das Haus für immer, die Beziehung der Eltern ist auf Dauer beschädigt und irgendwann begreift Briony, dass sie in einem biblischen Sinne schuldig geworden war. Das Gefühl, das sie am Ende des Tages hat, trügt und stellt sich nie wieder ein.
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Joseph von Eichendorff: Zwielicht (1812). Mit der Zeile „Manches bleibt an Nacht verloren.“
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„Were they all really bounded by a single day, by one period of unbroken wakefulness, from the innocent rehearsals of her play to the emergence of the giant from the mist? All that lay between was too clamorous, too fluid to understand, though she sensed that she had succeeded, even triumphed.“ (Ebd. 183)
Das Thema der Korrektur Am Ende von Atonement wird deutlich, dass es um das Erwachsenwerden geht, ein Thema, das Ian McEwan immer wieder beschäftigt hat. Die Geschichte hat einen fiktiven Schluss, wie aber erst am Ende klar wird. Robbie Turner wird nur deswegen aus der Haft entlassen, weil er sich am Vorabend des Krieges zur Infanterie meldet, also eine Gefangenschaft mit einer anderen vertauscht. Nach der militärischen Ausbildung sieht er Cecilia nur noch ein einziges Mal, in einem Café für eine halbe Stunde, ohne Zeit und ohne Worte. Seine Einheit wird aufgerieben und er macht sich mit zwei Kameraden zu Fuß auf den Weg nach Dünkirchen. Die Evakuierung der alliierten Soldaten begann am 27. Mai und endete am 4. Juni 1940. Die Erzählung am Strand von Dünkirchen und im Keller eines Hauses in Bray-les-Dunes geht bis in die Nacht vor dem 1. Juni und bricht dann ab. Briony besucht nach dem Erlebnis in der Kirche ihre Schwester und trifft hier Robbie Turner, der offenbar wohlbehalten nach England zurückgekehrt ist, als einer von 338.226 Soldaten.9 Er erkennt sie in der Wohnung von Cecilia zunächst nicht, aber dann kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung. Er fragt sie unvermittelt, ob sie sich gefreut habe, als er im Gefängnis saß. Sie sagt nein, und er entgegnet, dass sie nichts unternommen habe, ihre Aussagen zu widerrufen. Die Sühne ist offen. Dann heißt es: „‚Do you think that I assaulted your cousin?‘ ‚No.‘ ‚Did you think it then?‘ She fumbled her words. ‚Yes, yes and no, no. I wasn’t certain.‘ ‚And what’s made you certain now?‘ She hesitated, conscious that in answering she would be offering a form of defence, a rationale, and that it might enrage him further. ‚Growing up.‘“ (Ebd. 342)
Der Wille zur Korrektur hat mit diesem letzten Satz zu tun. Die Vergangenheit kann nicht ungeschehen gemacht werden und man kann nicht jemand anderer sein, obwohl angesichts der Schuld genau das vor Augen steht (vgl. ebd.
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Daten nach Sebag-Montefiore (2007).
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288). Doch man kann erwachsen werden, indem man sich zur Schuld bekennt und alles daran setzt, sie wieder gut zu machen. Jetzt, mit achtzehn Jahren, will Briony vor Gericht widerrufen und so das Unheil korrigieren. Sie erhält von Cecilia und Robbie genaue Anweisungen, was getan werden muss, die juristisch schwierige Neuaufnahme des Falles auf den Weg zu bringen. Dazu müsse ein ausführlicher Brief geschrieben und bei einem Anwalt hinterlegt werden, der die früheren Aussagen widerruft. Atonement hieße das, ein Geständnis in der Hoffnung auf eine korrigierende Wirkung, doch dieser Weg ist versperrt und nur ein Trost, keine Rettung. Der Abschied an der U-Bahn-Station von Balham war kühl, es gab keine Geste der Versöhnung, aber die Liebe zwischen Cecilia und Robbie war nicht zerstört und Briony wusste, was sie zu tun hatte. So endet die Geschichte. „She knew what was required of her. Not simply a letter, but a new draft, an atonement, and she was ready to begin.“ (Ebd. 349) Die Auflösung ist in einem ganz lakonischen Ton gehalten. Die todkranke Schriftstellerin teilt den Lesern mit, dass erst die letzte Version ihres letzten Roman für die Liebenden gut ausging. Alle früheren Versionen waren „pitiless“ (ebd. 370), weil sie sich an die Tatsachen hielten. Robbie Turner starb in der Nacht zum 1. Juni 1940 in Bray-les-Dunes an einer Blutvergiftung und Cecilia Tallis kam im September des gleichen Jahres im Schacht der U-Bahnstation von Balham ums Leben, die von einer deutschem Bombe getroffen wurde.10 Es ist ein letzter Akt der Güte, dieses trostlose Ende nicht den Roman beschließen zu lassen. „I like to think that it isn’t weakness or evasion, but a final act of kindness, a stand against oblivion and despair, to let my lovers live and to unite them at the end. I gave them happiness, but I was not so self-serving as to let them to forgive me. Not quite, not yet.“ (Ebd. 371f.) Die Vergebung von Schuld liegt außer Reichweite, aber jede wirklich empfundene Schuld verlangt nach Sühne und Tilgung. Für Gott gibt es kein atonement, auch nicht für den Gott des Romans, den Schriftsteller, weil beide das haben, was Ian McEwan „absolute power of deciding outcomes“ (ebd. 371) nennt. Im Leben ihrer Geschöpfe bestimmt die Erfahrung den Ertrag, ohne dass sich die „outcomes“ nach den Gesetzen der Ökonomie richten und so der Konjunktur unterliegen würden. Briony muss etwas lernen, was sich mit drei Worten bezeichnen lässt: „She was unforgivable.“ (Ebd. 385) Bestimmte Erfahrungen sind mehr als Gewohnheiten, die die nächste Erfahrung verändern kann; sie sind geschlossene Größen, die sich der Korrektur entziehen, obwohl diese gewünscht wird oder notwendig erscheint. Manche Schuld
10 Das reale Ereignis fand am 14. Oktober 1940 statt. Eine 1.400 Kilo-Bombe traf bei einem deutschen Luftangriff die U-Bahn-Station. 64 Menschen starben, an sie erinnert heute eine Tafel.
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kann nicht vergeben werden, anders als in der christlichen Lehre gibt es dafür keine Instanz. Was überlebt, ist der Wunsch danach. Jonathan Franzens Roman The Corrections aus dem Jahre 2001 erzählt die Geschichte von Alfred Lambert, seiner Frau Enid und ihren drei Kindern Gary, Chip und Denise. Die Kinder sind erwachsen und doch nicht frei. In der Grundrichtung erzählt der Roman die Geschichte vom Altern der Eltern in einer Welt, die das Leben auch gegen den offensichtlichen Zerfall verlängern kann. Alfred, der mit fünfundsiebzig Jahren zunehmend zu einem Pflegefall wird und bei dem Parkinson diagnostiziert wird (vgl. Franzen 2005: 174), nachdem er sich zunächst geweigert hat, zum Arzt zu gehen, weiß: „Alt zu werden [ist] die Hölle“ (ebd. 639). Mit der Verlängerung des Lebens wird auch die Familie immer älter und ihre Geschichte immer länger. Kindheit und Jugend werden von erlebten Realitäten zu Themen in einem komplexen Gefüge von Geschichten. Der Abstand der Kinder zu den Eltern bleibt an Jahren gleich und nimmt an Entfernung zu, ohne damit für eine allmähliche Befreiung zu sorgen. Der Roman erzählt, dass und wie ein Netz von lebenslangen Beziehungen sich selbst perpetuiert, ohne wirkliche Korrekturen zuzulassen, die das Netz zerstören würden. Es erhält sich durch die Unvermeidlichkeit der Beziehungen zwischen den Eltern und den Kindern und so durch ihre Geschichten, die fortgesetzt werden, obwohl sie immer dünner und sinnloser werden. Am Ende geht es nur noch darum, „ein letztes Mal Weihnachten zu feiern“ (ebd. 301), also die Illusion der Familie für den einen finalen Tag aufrecht zu erhalten. Auf diesen Tag hin werden die Handlungsstränge ausgerichtet; es ist der Wunsch von Enid, die sich an eine Vergangenheit klammert, die nie so stattgefunden hat, wie sie später gesehen wird. Es ist die Vergangenheit der Eltern mit ihren Kindern, die geschönt werden muss, um die Anstrengungen nicht vergeblich erscheinen zu lassen. Das Weihnachtsfest nimmt einen „katastrophalen“ (ebd. 774) Verlauf, der alle enttäuscht und doch niemanden aus der Familie entlässt. Gary und Chip sind wie Kain und Abel, der eine wird vom Vater geliebt und der andere nicht, aber als der geliebte Chip vom Vater um Hilfe gebeten wird, versagt er ihm diesen Wunsch, weil der Vater nicht mehr dem Bild entspricht, das das Kind sich von ihm gemacht hat. „The windows shook in the wind. When had it happened that his parents had become the children who went to bed early and called down for help from the top of the stairs? When had this happened?“ (Franzen 2001: 551) Väter und Mütter sind in den Augen ihrer Kinder keine hilflosen Wesen, die später von ihnen, den Kindern, gepflegt werden müssen. Aber das Altern lässt die Eltern zu Kindern werden, die doch keine sind, weil sie das Leben nicht mehr vor sich haben. Das macht aus der alten eine neue Beziehung, die weder in der Kindheit noch in der Jugend vorgesehen war. Die Eltern werden 143
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zu Kindern, aber die Kinder können nicht zu Eltern werden, also nicht zurück nehmen, was sie mit ihren Eltern erfahren haben und weiter erfahren. Dabei handelt der ganze Roman von unablässigen Korrekturversuchen. Chip, der Versager, der einige Zeit lang als Lehrer für englische Literatur an einem College unterkommt, überlegt, wie er den Peinlichkeiten seiner „Kindheit im Mittelwesten“ entgehen kann (Franzen 2005: 51). Er ist ein „intellectual […] with a backpack full of Heidegger and Wittgenstein“ (Franzen 2001: 45), der genau diesen Habitus korrigieren muss, denn mit erfolglosem Schreiben an einem nicht enden wollenden Drehbuch kann er nicht überleben. Chip wird aus dem College entlassen, weil er ein Verhältnis mit einer Schülerin angefangen hat. Der Entwurf der College-Laufbahn, für seine Eltern ein schlechter Ersatz ihrer eigenen Pläne mit Chip, ist Makulatur. Melissa sagt ihm zu Beginn der Affäre, sie habe eine wunderbare Kindheit gehabt und ihre Eltern seien immer ihre besten Freunde gewesen (vgl. ebd. 49). Am Ende verkauft Chip seine eigenen Bücher, sein Scheitern ist „pathetically obvious“ (ebd. 92), und doch korrigiert er sich nur, um weiterzumachen. Der älteste Sohn ist Gary, ein scheinbar arrivierter Geschäftsmann. Gary versucht, sich von der Autorität seines Vaters zu distanzieren, aber das setzt voraus, dass auch der Vater sich von seinem „Universum“ lösen kann, was eine Korrektur des Lebens wäre und so ausgeschlossen ist (vgl. Franzen 2005: 211ff.). Alfreds Leben war die Midland Pacific Railroad, deren technische Abteilung er in den letzten zehn Jahren seines Berufsleben geleitet hatte. Er musste mit ansehen, wie das Unternehmen fusioniert und umorganisiert wurde, ohne auf die Geschichte und so die guten Gründe von gestern zu achten (vgl. ebd. 99ff.). Er verachtete die neuen Chefs der Gesellschaft und kündigte, bevor er die Altersgrenze und so den Höchstsatz der Pension erreichte (vgl. ebd. 215f.). Im Ruhestand erreichte ihn ein Angebot, eines seiner Patente zu verkaufen, die eine Alterssicherheit darstellen. Das Angebot war weit unter Wert, er würde die Sicherheit gegen eine kurzfristige Kontoverbesserung eintauschen. Denise, die kinderlose kleine Schwester, muss gegenüber den Erwartungen ihrer Mutter eine ständige Korrekturwand aufrechterhalten, weil die Erwartungen nie anders werden. Der fiktive Ort St. Jude im Mittelwesten, aus dem alle Kinder flohen, war für Enid besetzt mit einer einzigartigen „love of place“, also mit Heimatliebe. In dem geordneten Leben von St. Jude gab es keinen schlechten Menschen, wenigstens sah Enid ihn nicht. Das Signum für diese Gewissheit ist das amerikanische „nice“. „All her friends were nice and had nice friends, and since nice people tended to raise nice children, Enid’s world was like a lawn in which the bluegrass grew so thick that evil was simply choked out: a miracle of niceness.“ (Franzen 2001: 118) Erwartet werden nicht nur Kinder, sondern „good St. Jude kids“ (ebd.). Dass keines ihrer Kinder dem entsprach, verändert die Einstellung nicht. Eher 144
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ist Enid beschämt: „Her children didn’t match. They didn’t want the things she and all her friends and all her friend’s children wanted. Her children wanted radically, shamefully other things.“ (Ebd. 122) Die eigene Erfahrung korrigiert nicht die Gewohnheit, aber genau das wird außerhalb von our town verlangt.11 An den „optimistischen Egalitarismus“ von St. Jude erinnert sich Gary im Museum of Transport, dort, wo die Lokomotiven enden, die Eisenbahngesellschaften gehören, die es nicht mehr gibt (vgl. ebd. 177f). Das Leitmotiv des Romans hat auch eine soziologische Seite. Die amerikanische Gesellschaft wird als eine Korrekturgesellschaft dargestellt. Überall gibt es „Persönlichkeitsoptimierer“ (Franzen 2005: 444), die mit der universalen Sehnsucht, „den Gegebenheiten des Selbst zu entfliehen“ (ebd. 448), Geld verdienen. Aber heraus kommt nur Anhedonie (vgl. ebd. 229f.), Verlust an Lebensfreude und so der nächste Anlass zur Korrektur. ANHEDONIA wird durch Großbuchstaben hervorgehoben (vgl. Franzen 2001: 168) und klinisch definiert: „A psychological condition characterized by inability to experience pleasure in normally pleasurable acts.“ (Ebd. 165) Gary ist der klinische Begriff ANHEDONIA zum ersten Male in einem Buch aufgefallen, das auf den Nachtisch seiner Frau Caroline lag. Das Buch hieß „Feeling GREAT!“, „great“ wiederum in Großbuchstaben geschrieben (vgl. ebd.). Gary und seine Frau erziehen auch ihre Kinder mit pädagogischen Ratgebern, die Titel tragen wie „Hands-Off Parenting: Skills for the Next Millenium“ (ebd. 172) oder „Middle Ground: How to Spare Your Child the Adolescence YOU Had“ (ebd. 181). Die Erziehung der Kinder wird so zur Selbstkorrektur der Eltern, aber die emotional gesunde Familie (vgl. ebd. 183) entsteht so trotzdem nicht. Axon Cooperation, die Firma, die Alfred das Patent abkaufen wollte, hat ein neuronales Verfahren entwickelt, das „Corecktall“ genannt wird. Denise und Gary wohnen in einem Hotel in Philadelphia einer „road show“ für den Börsengang des Unternehmens bei (vgl. ebd. 188). Ihr wichtigstes Produkt ist „Corecktall“, das ursprünglich gegen den Verlauf von Parkinson entwickelt wurde, sich aber nun als so wirksam herausgestellt hat, dass eine völlige Heilung und so die Befreiung der Leiden des Alters möglich ist. Es ist ein Jungbrunnen12, und das wird auf der Road Show so gesagt: „Corecktall has proved so powerful and versatile that its promise extends not only to therapy but to an outright cure not only of these terrible degenerative afflictions but also of a host of ailments typically considered psychiatric or even psychological. 11 Thornton Wilder: Our Town (1938). Grover’s Corners, die fiktive Kleinstadt in New Hampshire, ist das literarische Vorbild für St. Jude. Our Town ist 1940 verfilmt worden. 12 Der spanische Entdecker Juan Ponce de Leon suchte den „Fountain of Youth“, als er 1513 im heutigen Florida landete.
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Simply put, Corecktall offers for the first time the possibility of renewing and improving the hard wiring of an adult human brain.“ (Ebd. 189)
„Corecktall“ ist die Zusammenfügung aus Correction und Cocktail. Die Patienten nehmen einen für sie persönlichen gemischten Cocktail ein, setzen sich Kopfhörer auf, stimulieren sich zum positiven Denken und erleben so gar nicht, was dann geschieht. „Enormous increases in computing power have made possible a process that is instantaneously self-correcting as to the location of the individual neural pathway under stimulation.“ (Ebd. 193) Das sei die Zukunft, sagt die Firma, die Korrektur von allem Kranken und Lästigen durch ein Verfahren, ihres, ein liberales, genannt „genuine, permanent, voluntary self-melioration“ (ebd. 209). Die Gegenwart sieht anders aus. Nach der Road Show beschreibt Gary seiner Schwester die Situation seiner Eltern so: „Mom’s living with a guy who’s a physical wreck. He’s had it, he’s through, finito, end of story, take a charge against earnings. And still she’s got this idea that if he would only try harder, everything would be fine and life would be just like it used to be. Well, I got news for everybody: it ain’t never gonna be the way it used to be.“ (Ebd. 215) Es ist nicht ausgemacht, ob der Mensch nicht doch zum Leiden geboren ist. Und schon gar nicht ist ausgemacht, dass die Erziehung davor bewahrt. Auf der letzten Reise, die sie mit Alfred unternimmt, einer Kreuzfahrt, lässt Enid ihr Leben mit Alfred und den Kindern Revue passieren. Über ihre Erziehung von Gray und Chip heißt es: „Every day she endeavored to cleanse the boys’ diction, smooth out their manners, whiten their morals, brighten their attitudes. And every day she faces another pile of dirty crumpled laundry.“ (Ebd. 269) Auf der Kreuzfahrt fällt Alfred über Bord und wird doch noch einmal gerettet. Am Ende kann man sich an nichts mehr festhalten, denkt Alfred, als er beim Aufschlag das Wasser spürt, „außer den eigenen Kindern“ (Franzen 2005: 467). Aber die suchen ständig selbst Halt. Die Jobs sind von Rationalisierungsprozessen bedroht (vgl. ebd. 499ff.), die Ehen sind keineswegs stabil und die Familien sind höchstens fiktive Stabilisatoren, am besten brauchbar in der Erinnerung. Glück ist eine vorübergehende Erfahrung (vgl. ebd. 547), einen „pursuit of happiness“ gibt es nicht. Und klar ist: „Was Korrekturen möglich machte, vereitelte sie zugleich.“ (Ebd. 388) Auch hier gibt es ein Nachwort, das The Corrections überschrieben ist. Eingeleitet wird das Nachwort so: „THE CORRECTION, when it finally came, was not an overnight bursting of a bubble, but a more gentle letdown, a year-long leakage of value from key financial markets, a contraction too gradual to generate headlines and too predictable to seriously hurt anybody but fools and the working poor.“ (Franzen 2001: 563)
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Alle und alles verwandeln sich am Ende nochmals. Chip, der Versager, der in Vilnius in dunkle Geschäfte verwickelt war, sorgt sich nun um das Haus der Eltern. Die „Biotech-Aktie“ bricht ein und beschert Gary heftige Verluste. Enid verbringt in New York freie Tage mit Denise, die immer noch nicht verheiratet ist und keine Kinder hat. Und Enid erlebt in St. Jude ihre persönliche Metamorphose, seitdem Alfred aus dem Haus ist. Alfred wird in einem Hospital untergebracht. Chip heiratet, wird selbst Vater und erhält eine Stelle als Lehrer an einer Privatschule. „The sorry fact seemed to be that life without Alfred in the house was better for everyone but Alfred.“ (Ebd. 566) Am Schluss will Enid ihrem Mann sagen, wie unrecht sein Lebensentwurf gewesen sei. „How wrong to have been so negative, how wrong to have been so gloomy, how wrong to have run away from life, how wrong to have said no, again and again, instead of yes: she had to tell him all of this, every single day. Even if he wouldn’t listen, she had to tell him.“ (Ebd. 568) Alfred lebte noch zwei Jahre im Hospital, länger als alle es für möglich gehalten hatten. Irgendwann fing er an, das Essen zu verweigern. Auch das hielt er eine ganze Woche lang durch. Er lag zusammengerollt auf dem Bett, atmete kaum und zeigte keine Reaktionen, ausgenommen wenn Enid versuchte, ihm Eiswürfel in den Mund zu schieben. Dann weigerte er sich und einmal schüttelte er sogar emphatisch mit dem Kopf. „The one thing he never forgot was how to refuse. All of her correction was for naught.“ (Ebd.)
Theorie, Fiktion und Realität Die Romane erzählen Geschichten, nicht die eines Lebens, sondern die einer Fiktion. Romane sind ausgedachte Geschichten, aber solche, die möglich sein könnten und die für den Leser Realitätsgehalt haben. Nicht nur Romane sind Geschichten; im Alltag werden ständig Geschichten erzählt, und wir haben ein gutes Gespür dafür, wann eine Geschichte gut und wann sie schlecht ist. Die Handlungen von Romanen fesseln den Leser, weil sie so oder ähnlich auch im Leben geschehen und nur nicht aufgeschrieben werden, also keine Sprache finden. Der hauptsächliche Unterschied zu den Geschichten des Lebens sind nicht die Figuren, in denen wir uns wieder erkennen, und auch nicht die Erzählung, die uns bekannt vorkommt, weil jeder so etwas erleben kann, sondern die Sprache. Und, damit verbunden, die Theorie des Autors, die sich in der Art und Weise, wie erzählt wird, artikuliert. Atonement ist wie Corrections auch ein Theorem, nicht nur ein Thema. Der Wunsch nach der Sühne von Schuld bezieht sich auf einen Augenblick, der nicht wiederholt werden kann. Das christliche Thema der Vergebung oder der Gnade hat mit einem einmaligen Opfer zu tun, das um den Preis des Glaubens nicht mehrfach stattfinden kann. Sünden dagegen sind immer mög147
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lich und Schuld kann jeder auf sich laden, ohne damit rechnen zu können, die Tat auch zu sühnen und Vergebung zu finden. Ein Thema seit Miltons Paradise Lost ist die Frage, was passiert, wenn das Paradies nicht nur verlassen wird, sondern auf Dauer verloren ist, weil es nie bestanden hat. Niemand, heißt es bei Milton, kann „atonement for himself“ erlangen oder dafür ein eigenes Opfer bringen (vgl. Milton 1990: 408). Milton ist Deist, es gibt für ihn keine Prädestination und so kein Vorherwissen. „Hätte ich ein solches Vorherwissen“, schreibt er im dritten Buch von Paradise Lost, „so hätte es keinen Einfluss auf meine Fehler und die der anderen. Die Menschen sind frei und so auch frei zur Schuld.“ (Ebd. 405) Sie sind daher nicht einfach, wie bei Rousseau, gut. Gott hat den Menschen Leben geschenkt, aber nicht zugleich auch Güte. Sie sind sterblich und ob ihre Schuld am Ende auch bezahlt wird, zeigt sich erst am Tag der Gnade (vgl. ebd.). Was John Milton die „powers of darkness“ (ebd.) nennt, spielt in Ian McEwans Romanwerk eine zentrale Rolle. Die Theorie ist nicht auf die gute Natur des Menschen eingestellt, daher gibt es auch keine Basis für irgendeine Form von Selbstkorrektur. Und natürlich kann dann auch keine Erziehung „gelingen.“ Jonathan Franzens Theorie ist ähnlich verschlüsselt. St. Jude, die fiktive Stadt im Mittleren Westen, ist benannt nach Judas Thaddäus. Robin, zeitweilig die Liebe von Denise und dann ihre große Enttäuschung, nennt ihn in einem Gespräch einen seiner „Lieblingsheiligen“ (Franzen 2005: 560). Judas Thaddäus ist einer der zwölf Jünger von Jesus. Er wird im Johannesevangelium erwähnt, als er Jesus vor dessen letzter Rede fragt: „Herr, was ist geschehen, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt“ (Joh 14, 22). Jesus antwortet bekanntlich, dass nur wer ihn liebt, sein Wort aufnehmen und bewahren wird. Der Helfer der Verbreitung des Wortes ist der Heilige Geist. Erst dann, also mit dem Pfingstwunder, kann das Wort durch die Apostel hinaus in die Welt (Joh 14, 23-26). Aber will die Welt die Botschaft noch hören? Einer der Bezugsautoren in The Corrections ist Schopenhauer. Er wird vor allem in dem Kapital At See zitiert (Franzen 2001: 239-338), in dem mit geschobenen Rückblenden auf die Erziehung der Kinder Alfreds körperlicher Zerfall beschrieben wird. Die Kulisse ist ein Luxusliner, der Kontrast sind die vielen gesunden Alten, denen das definite Leid noch bevorsteht. Der Wille Gottes ist nicht zu erkennen. Die Darstellung dieser neuen Titanic wird immer wieder unterbrochen mit Schopenhauer-Zitaten (vgl. ebd. 258ff.). An einer Stelle heißt es: „The world nothing but a materialization of blind, external will.“ (Ebd. 262) Unmittelbar dahinter folgt ein Zitat aus Schopenhauers Nachträgen zur Lehre vom Leiden der Welt: „Zur Plage unsers Daseyns trägt nicht wenig auch Dieses bei, dass stets die Zeit uns drängt, uns nicht zu Athem kommen lässt
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und hinter Jedem her ist wie ein Zuchtmeister mit der Peitsche“ (Schopenhauer 1972: 318).13 Es war Alfred, der Enid, als sie ihn kennen lernte, die Lehre von Schopenhauer nahe brachte. Daher bezeichnet sie ihn am Schluss auch als „negative“ und „gloomy“. Er kam als junger Stahlingenieur nach St. Jude, und er erklärte ihr bei ihrem ersten Treffen, „that human beings were born to suffer“ (Franzen 2001: 268). Später findet sie in einem abgegriffenen Band Schopenhauer eine Passage,14 die Alfred unterstrichen hatte: „Wer die Behauptung, dass, in der Welt, der Genuss den Schmerz überwiegt, oder wenigstens sie einander die Waage halten, in der Kürze prüfen will, vergleiche die Empfindung des Thieres, welches ein anderes frisst, mit der dieses anderen“ (Schopenhauer 1972: 317). Die calvinistische Ethik, also die Basis der amerikanischen Gesellschaft, hat keinen wachsenden Ertrag. Die weltliche Mission muss scheitern. Arbeit, Plage und Mühe, heißt es bei Schopenhauer, führen nicht irgendwann einmal ins Schlaraffenland (vgl. ebd. 318). Wer zurückblickt, fühlt das „gänzliche disappointment über das ganze Leben“, das im „rosigen Morgenlichte der Jugend“ so schön begonnen und so wenig gehalten hat (ebd. 325). „In früher Jugend sitzen wir vor unserm bevorstehenden Lebenslauf, wie Kinder vor dem Theatervorhang, in froher und gespannter Erwartung der Dinge, die da kommen sollen. Ein Glück, dass wir nicht wissen, was wirklich kommen wird. Denn wer es weiß, dem können zu Zeiten die Kinder vorkommen wie unschuldige Delinquenten, die zwar nicht zum Tode, hingegen zum Leben verurtheilt sind, jedoch den Inhalt ihres Urtheils noch nicht vernommen haben.“ (Ebd. 324)
Die tröstliche Theorie ist die, die von erfolgreichen Korrekturen am Lebenslauf ausgeht. Es ist dies nicht, wie bei Thomas Bernhard (1975) die „Korrektur“ des Schriftstellers, sondern die Veränderung der eigenen Geschichte, die immer in Reichweite erscheint und doch oft nicht gelingt, obwohl oder weil sie ständig versucht wird. Darüber belehren Romane, nicht die Pädagogik. Philip Roths Roman The Human Stain aus dem Jahre 2000 erzählt von dem Versuch einer Korrektur der Jugend, der Herkunft und der Rasse, aber er bleibt nicht bei einer unaufgelösten Schuld stehen und sieht auch nicht ständige Metamorphosen, von denen die meisten nicht gelingen; vielmehr ist der Versuch der Korrektur der Jugend äußerst erfolgreich. Er hat nur seinen Preis, der im Motto des Romans angedeutet wird. Das Motto ist ein Zitat aus Sophokles’ Tragödie König Ödipus. Zu Beginn des Dramas fragt Ödipus, der 13 Den Schluss zitiert Franzen (2005: 361) nicht. Es heißt bei Schopenhauer: „Bloss Dem setzt sie nicht zu, den sie der Langenweile überliefert hat.“ (1972: 318) 14 Nachträge zur Lehre vom Leiden der Welt, § 149.
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König von Theben, seinen gerade angekommenen Schwager Kreon nach dem Spruch des Orakels. Kreon erkundigt sich, ob er frei sprechen dürfe. Ödipus gewährt die offene Rede und Kreon sagt in der englischen Übersetzung: „Then let me report what I heard from the god. Lord Phoebus clearly orders to drive away the polluting stain this land has harboured – which will not be healed if we keep nursing it“ (Oedipus the King, 112-115).
Ödipus fragt: „What sort of cleansing? And this disaster - how did it happen?“
Und Kreon antwortet: „By banishment – or atone for murder by shedding blood again. This blood brings on the storm which blasts out state“ (Oedipus the King, 117-119).
Roth zitiert die letzte Zeile nicht, das Motto spielt auf das Ende der Geschichte an, als Coleman Silk und Faunia Farley durch Faunias Mann, Lester Farley, von der Fahrbahn abgedrängt werden. Er fährt auf ihrer Seite der Straße mit seinem Pick-up genau auf sie zu; als Coleman ausweichen will, rast er die Böschung hinter, der Wagen überschlägt sich und die beiden Insassen sind auf der Stelle tot. Alles sieht nach einem Unfall aus (Roth 2004: 289ff.), aber es war Rache, an einem alten Juden und einer Putzfrau, die Lester für den Tod seiner Kinder verantwortlich macht und dafür, dass sie ihn verlassen hat. Reue zeigt Lester nicht (vgl. ebd. 288). Die antike Katharsis hat nichts mit den Gefühlen eines Vietnamveteranen zu tun. Die Geschichte spielt im Sommer des Jahres 1998. Sie wird erzählt von dem jüdischen Schriftsteller Nathan Zuckerman, der sie von seinem Nachbarn erfährt und aufschreibt. Der Nachbar ist Coleman Silk. Er lebt seit zwei Jahren im Ruhestand, über zwanzig Jahre lang war er Professor für klassische Literatur am Athena College, dem er sechzehn Jahre auch als Dekan diente. Als er zum Professor berufen wurde, war er einer der ersten Juden, die in Amerika klassische Literatur lehrten. Seine wissenschaftliche Reputation war makellos, als Dekan setzte er schwierige Reformen durch und als Hochschullehrer war er untadelig. Sein Rücktritt geschah nicht freiwillig und hat mit einem Vorfall zu tun, der im Alter sein ganzes Leben verändern würde. Nachdem in seinem Seminar zwei farbige Studenten mehrere Wochen lang nicht erschienen waren, fragte er die Anwesenden: „Kennt jemand diese Leute? Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen?“ (Ebd. 15) 150
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Coleman verwendet den Ausdruck „spooks“, „Gespenster“, ein amerikanisches Slangwort für „Neger“, das heute zu gebrauchen gegen die Regeln der politischen Korrektheit verstößt. 1920 konnte Harold Lloyd noch in einem Film Haunted Spooks spielen,15 der nicht im Verdacht stand, rassistisch zu sein. Heute ist „spook“ gleichrangig mit „jig“, „nigger“ oder „spoon“, ein Wort, das unter Bann gestellt ist. Damit beginnt Colemans Abstieg, der zugleich eine Korrektur seiner Lebenslüge ist. Das College entlässt ihn, obwohl er seine Wortwahl „spooks“ philologisch wie rhetorisch brillant zu verteidigen versteht (vgl. ebd. 101). Seine Beziehung zur viel jüngeren Faunia wird zum öffentlichen Skandal (vgl. ebd. 50ff.). Er ist mit einundsiebzig Jahren auf Hilfsmittel angewiesen und denkt, man hätte „Viagra“ Zeus nennen sollen (vgl. ebd. 43). Die Lebenslüge wird nach und nach aufgedeckt. Er stammte aus East Orange in New Jersey. Seit über fünfzig Jahren weiß niemand mehr, dass er dort „Silky Silk“ gerufen wurde. Sein Vater Clarence Silk arbeitete als Steward bei der Eisenbahn, seine Mutter war Putzfrau in einem Krankenhaus, Jobs, die in den dreißiger und vierziger Jahren nur Schwarze ausgeübt hatten. Jude war der Chefarzt im Krankenhaus, in dem die Mutter tätig war. Der Vater, hoch gebildet „in der Sprache von Chaucer, Shakespeare und Dickens“ (ebd. 110), stammte aus Georgia und hatte dort ein College besucht. Steward musste er werden, weil sein Optikergeschäft in Orange Bankrott machte. Eine solche Selbständigkeit erlangte er in seinem Leben nie wieder (vgl. ebd.). Coleman ist ein Musterschüler, der älteste Sohn geht bereits auf College, die Silks sind eine „vorbildliche Negerfamilie“ (ebd. 103). Coleman lernt boxen, beim Training rät man ihm, „nicht zu erwähnen, dass er ein Farbiger sei“ (ebd. 117). Er besucht nach seinem Schulabschluss die HowardUniversity in Washington und erfährt hier zu seinem Entsetzen, dass der Ausdruck „Nigger“ ihn meinte (vgl. ebd. 121). Er ist hellhäutig und doch immer noch farbig, ein „Nigger“ und ein „Neger“ gleichermaßen (vgl. ebd. 127). Diesen Makel legte er ab und korrigierte so seine Herkunft. Als er Steena Palsson kennen lernte, skandinavischer Herkunft, blond und weiß, konnte er ihr nicht sagen, dass er ein Farbiger sei (vgl. ebd. 138). Lange hielt er einen „so willkürlichen Faktor wie die Rassenzugehörigkeit“ für nebensächlich. Seit seiner frühesten Kindheit hatte er sich nichts anderes gewünscht als frei zu sein, „nicht schwarz, nicht weiß, sondern einfach frei und er selbst“ (ebd. 141). Aber den Entwurf des Lebens nur durch den eigenen Willen (vgl. ebd.) setzte eine Herkunft voraus, die das nicht zuließ. Er war der „farbige Junge von der East Orange High“ (ebd. 137), es sei denn eben das wird korrigiert.
15 Haunted Spooks, Regie von Alfred J. Goulding und Hal Roach (Erstaufführung am 14. März 1920).
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Im Krieg diente Coleman mit einem Trick als Weißer bei der Navy, niemand zweifelte an der Legende. Danach lebte er mit dieser „Tarnung“ (ebd. 152) in Manhattan und lernte Steena kennen. Aber als er 1950 auf Steenas Wunsch seine Mutter und seine Schwester in seinem Elternhaus besuchte, war die Herkunft nicht zu übersehen. Steena trennte sich von ihm, weil sie seine Herkunft und seine neue Identität nicht teilen konnte. Coleman baute konsequent weiter an der neuen Legende. Er studierte nicht mehr, wie vor dem Krieg, Medizin, sondern klassische Literatur. Er machte als weißer Jude die besten Abschlüsse, keine Vergangenheit behinderte seine Karriere, er heirate Iris Gittelman, eine Weiße, schlug mit ihr einen eigenen Weg ein und verleugnete seine Mutter. „In der Navy hatte er gelernt, dass niemand lange nachfragt, solange die Geschichte, die man über sich selbst erzählt, nur einigermaßen gut und stimmig ist, weil sich kein Mensch so sehr dafür interessiert.“ (Ebd. 152) Geschichten bieten jenseits einer produktiven Nutzung der Erfahrung der Jugend Möglichkeiten zur Korrektur, solange sie selektiv erfolgen und konsequent erzählt werden. Dann kann es gelingen Plausibilitäten zu erzeugen.
Literatur Bernhard, Thomas (1975): Korrektur, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Franzen, Jonathan (2001): The Corrections, New York: Farrar, Straus and Giroux. Franzen, Jonathan (2005): Die Korrekturen. Aus dem Amerikanischen übers. v. B. Abarbanell. 7. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Hodgson, Leonard (1951): The Doctrine of the Atonement, New York: Charles Scribners’ Sons. Lewis, Clive S. (1942): A Preface to Paradise Lost. Being the Ballard Matthews Lectures, Delivered at University College, North Wales, 1941. Oxford: Oxford University Press. McEwan, Ian (2001): Atonement, London: Jonathan Cape. McEwan, Ian (2002): Abbitte. Roman. Aus dem Englischen übers. v. B. Robben. Zürich: Diogenes. McEwan, Ian (2005): Saturday. Roman. Aus dem Englischen übers .v. B. Robben. Zürich: Diogenes. Milton, John (1999): Selections. Ed. by St. Orgel/ J. Goldberg. Oxford/New York: Oxford University Press. Patrides, Constantinos A. (1959): »Milton and the Protestant Doctrine of the Atonement«. PMLA 74 (1), S. 7-13.
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KORREKTUREN DER JUGEND
Schopenhauer, Arthur (1972): Zürcher Ausgabe Werke in zehn Bänden. Hg. v. A. Hübscher, Band IX: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften. Zweiter Band, Erster Teilband. Zürich: Diogenes. Roth, Phillip (2004): Der menschliche Makel. Aus dem Amerikanischen übers. v. D. v. Gunsteren. 5. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Sebag-Montefiore, Hugh (2007): Dunkirk: Fight for the Last Man, London: Pengiun Books. Smith, Dodie (1956): One Hundred and One Dalmations or the Great Dog Robbery, London: William Heinemann. Sophocles (2006): Oedipus the King. Translation by Ian Johnston. Arlington, Vermont: Richer Resources Publications.
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Literatur als Seismograph des Sozialen: Die Unruhezone als Ortsbestimmung der Adoleszenz bei Jonathan Franzen KARIN PRIEM
Einleitung Die Frage, welches spezifische Erkenntnispotential den Künsten – genauer: literarischen Texten – innewohnt, steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Zur Diskussion gestellt wird damit die übliche Gattungshierarchie zwischen wissenschaftlichen und literarischen Texten in Bezug auf deren jeweilige Möglichkeiten einer exakten Beschreibung der Wirklichkeit. Dass der literarischen Reflexion sozialer Phänomene ein besonderer Stellenwert zukommt, kann unter anderem durch den kulturanalytischen Ansatz von Raymond Williams untermauert werden. Am Beginn steht daher eine kurze Skizierung seines Konzepts „structure of feeling“, um dessen Erklärungswert dann in einem zweiten Schritt am konkreten literarischen Beispiel – Jonathan Franzens Roman Die Unruhezone – zu prüfen. Am Schluss stehen resümierende Anmerkungen und ein kurzer Ausblick.
Literatur als Herstellung von Bedeutung und kommuniziertes Lebensgefühl Raymond Williams hat in seinem im Jahr 1961 erstmals in englischer Sprache erschienenen Band The Long Revolution methodologische Probleme einer umfassenden Kulturanalyse moderner Gesellschaften behandelt. Dabei legte er einen seiner Schwerpunkte auf das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Williams geht davon aus, dass gesellschaftlicher Wandel in künstlerischen 155
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Produktionen vorbereitet und reflektiert wird (Williams 1980: 12). Kunst ist für Williams in erster Linie eine bestimmte Form der Wahrnehmung der Realität und nicht zuletzt geht er davon aus, dass sein Konzept die Polarität konkurrierender Vorstellungen von Kunst als mimetischem und Kunst als kreativem Prozess überwinden kann. Kunst ist für Williams damit weder Abbild noch imaginär erzeugte Überwindung der Realität. Stattdessen spricht er von Kunst als einer spezifischen Form strukturierender sowie beschreibender Erfassung sozialer Prozesse und behandelt sie als probates Mittel der sinn- und wertstiftenden Organisation von Erfahrung (vgl. ebd. 47). Die Verfahrensweise der Kunst, so Williams, sei dabei weder emotional noch rational, sondern eine spezifische Art des Sehens, Beschreibens und Interpretierens und mithin des Herstellens von Realität (vgl. ebd. 33). Dieses Herstellen der Realität umschreibt Williams gleichzeitig als eine allgemein übliche menschliche Aktivität, die wiederum ständigem historischen Wandel unterliege. Kunst ist insofern auch kein aus der Gesellschaft herausgehobener Bereich, sondern Teil jener gesamtgesellschaftlichen sozialen Prozesse, durch die neue Bedeutungen kommuniziert und schlussendlich etabliert werden können. Insofern lehnt es Williams auch ab, zwischen Kunst und Realität, zwischen Subjektivität und Objektivität zu unterscheiden (vgl. ebd. 35 ff.). Auf dieser kulturgeschichtlich-konstruktivistischen Grundlage entwickelt Williams schließlich den Gedanken einer strukturgeschichtlichen Analyse des Emotionalen. Denn obwohl sich Kunst seiner Meinung nach einer spezifischen Ausdrucksweise bedient, darf sie nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss in einer allgemeinen Kulturanalyse mit drei, in wechselseitiger Abhängigkeit stehenden, Ebenen in Beziehung gebracht werden: der Ebene der Ideale im Sinne menschlicher und gesellschaftlicher Perfektibilität, der Ebene des Dokumentarischen im Sinne eines Gesamtbestandes an überlieferter „intellektueller und imaginativer Arbeit“ und der Ebene differenter Lebensstile als Ausdruck bestimmter Werthaltungen. Die überaus feine und kaum greifbare Vernetzung dieser drei Ebenen wiederum bezeichnet Williams als „structure of feeling“. Diese Gefühlsstruktur einer Gesellschaft ist historisch wandelbar und es sind gerade literarische Werke, in denen diese Gestimmtheit besonders charakteristisch zum Ausdruck kommt. Williams begründet dies damit, dass in der Literatur das Unausgesprochene zum Ausdruck kommt, und damit meint er Probleme, Wünsche, Bedürfnisse, Hoffnungen und augenscheinliches Scheitern. Die Leistung literarischer Texte besteht ihm zufolge vor allem darin, alte und neue Werthaltungen sowie soziale Differenzen bis auf deren Dissonanzen und Konsequenzen im gelebten Leben herunterzubrechen und zu thematisieren. Was Williams im Auge hat, ist dabei nicht der Habitus im Sinne von Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen oder die Beschreibung der Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse, sondern ein spezifisches Lebensgefühl, eine besondere Gestimmtheit, die in 156
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einem widerspruchsvollen gesellschaftlichen Spannungsfeld erzeugt wird und die gleichzeitig die Unvorhersehbarkeit sozialer Veränderungen erklärbar macht. Insofern ist es durchaus naheliegend, Literatur als seismographisches Instrument zu betrachten, wie dies im Folgenden gezeigt werden soll.
Die Unruhezone als literarische Bearbeitung der spezifischen Gestimmtheit von Jugend in den USA der 1970er Jahre Der im Jahre 1959 im nordamerikanischen Bundesstaat Missouri geborene Jonathan Franzen beschreibt seine Jugend, die er in einem Einfamilienhaus in Webster Groves (einem Vorort von St. Louis) zugebracht hat, als kleinbürgerlich und behütet. Diese vordergründige Idylle aber täuscht. Immer wieder wird dieser Eindruck durch Gefühle wie Scham, Demütigung und Peinlichkeit konterkariert, Stimmungen, die – als andere Seite der Medaille – mit der kleinbürgerlichen Selbstzufriedenheit in Webster Groves offenbar untrennbar verbunden sind. Spannungen liegen in der Luft und vielleicht hat Franzen seinem Roman gerade deshalb den Titel Die Unruhezone (2007), The Discomfort Zone (2006) – so der Originaltitel – gegeben. Die Kleinstadt und die Familie als Ort der Harmonie und gegenseitigen Zuneigung haben eine problematische Unterströmung, die im autobiographischen Roman immer wieder zur Sprache kommt. So gesehen hat Raymond Williams zu recht darauf hingewiesen, dass in literarischen Texten unausgesprochene gesellschaftliche Dissonanzen sichtbar werden, indem sie als Spannungen, Leerstellen und widersprüchliche Erfahrungen auf der Ebene des gelebten Lebens thematisiert werden. In Jonathan Franzens autobiographischem Roman erfolgt diese Thematisierung des Dissonanten in Bezug auf das jugendliche Lebensgefühl in den USA der 1970er Jahre.1 Thesenartig läuft dies zunächst auf drei Punkte hinaus, die wie folgt beschrieben werden können: (1) Die Liebe zu den eigenen Eltern war nicht frei von der Scham, eben genau solche Eltern zu haben; (2) die Wertmaßstäbe der Eltern hatten eine paradoxe Wirkung; hielt man sie ein, erzeugte dies ein peinliches Gefühl – kamen sie einem fadenscheinig vor oder wurden sie gar durchbrochen, fühlte man sich ertappt oder schuldig; (3) die Adoleszenz selbst gestaltete sich als Lebensphase grundsätzlich problematisch und war mit einem Bedürfnis nach Authentizität und Zugehörigkeit verbunden. Zunächst zur prekären Liebe zu den Eltern: Jonathan Franzen schildert gleich auf den ersten Seiten seines Romans wie er nach dem Tod seiner Mut1
Mit Border Country (1960) hat Raymond Williams eine autobiographisch fundierte Erzählung vorgelegt, die ebenfalls dem Thema Jugend und der Frage widersprüchlicher Wertmaßstäbe gewidmet ist (vgl. Di Michele 1993).
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ter im elterlichen Haus „über hundert“ (Franzen 2007: 11) gerahmte Familienfotografien auf Fensterbänken, Kaminkonsolen und Tischen einsammelt, diese aggressiv aus ihren „preisgünstig[en]“ (ebd. 10) Halterungen entfernt, ehe die Maklerinnen, wie verabredet, das Haus besichtigen. Er erinnert sich, wie er über die Jahre die wachsende Zahl der fotographischen Ausstellungsstücke einer bürgerlichen Familienidylle „grollend mit angesehen“ hatte und wie er schließlich die Freude genießt, diese „Ikonen“ zum Verschwinden zu bringen (vgl. ebd. 11). Liest man weiter, so gewinnt man den Eindruck, Jonathan Franzen wollte in dieser Eingangsszene seines Romans stellvertretend daran erinnern, wie schwierig es ist, unangenehme Erinnerungen an das Elternhaus endgültig zu tilgen. Besonders deutlich wird die damit verbundene Gefühlsstruktur bei der Thematisierung elterlicher Wertmaßstäbe. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür findet sich in einer Reisebeschreibung. Im Jahre 1974 hatten Jonathan Franzens Eltern beschlossen, ihren Sohn, der geschwisterlichen Gerechtigkeit wegen, mit einem Ausflug nach Disney World zu überraschen. Für Franzen entpuppte sich dieses verordnete Vergnügen bereits beim Aufbruch als Spießrutenlauf: Denn er durfte keine abgeschnittenen Jeans tragen, sondern musste, auf Geheiß seiner Mutter, die Reise in „Bügelfalten-Shorts“ antreten. Also trottete er, so Franzen wörtlich, „elend vor Befangenheit“ durch Disney World (vgl. ebd. 39). Er empfand keinerlei Gefallen und Spaß an dem Ausflug, und schildert, wie es ihm übel wurde bei dem Gedanken, dass sich seine Eltern genau das so sehnlichst von ihm wünschten. Sie nötigten ihn sogar, trotz seines Desinteresses, zumindest mit irgendeiner Bahn des Vergnügungsparks zu fahren. Schlussendlich war es ein Karussell für Kleinkinder, für das sich Franzen entschied, und also drehten sich er und seine Eltern in trüber Stimmung auf Plastikpferden sitzend im Kreis. Der Ausflug war verpatzt und Franzen resümiert: „Das was sie wollten, wollte ich nicht. Ich schätzte nicht, was sie schätzten. Und wir fanden es alle gleich schade, dass wir auf dem Karussell fuhren, und wir waren alle gleich verlegen um eine Erklärung dessen, was mit uns geschehen war.“ (Ebd. 40) Franzen hatte nicht nur sich und seine Eltern nach neuen und anderen Maßstäben beobachtet, er ging sogar noch weiter, denn er schien gleichermaßen traurig und bestürzt darüber zu sein, für das Bedürfnis seiner Eltern, ihm eine solche Freude zu machen, keinerlei Verständnis aufbringen zu können. Auch in der Folge schreibt Franzen immer wieder über die Scham, die Befangenheit und die vielen Peinlichkeiten, die seine Pubertät überlagerten: über den Geiz und die Geldgier seiner Mutter, über den lächerlichen Hang zur Konformität, über das zweifelhafte Bemühen, den Schein zu wahren, über das Misstrauen und die Kleingeistigkeit seines Vaters und immer wieder über die ältlich wirkende Kleidung, die ihm seine Mutter ebenso sorgfältig wie kompromisslos und ohne eine Widerrede zu dulden auf den Leib nötigte: „1974 158
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waren weiße Unterhemden mit rundem Halsausschnitt modischer Selbstmord, doch meine Mutter kam aus einer Welt, in der farbige T-Shirts moralisch offenbar auf einer Stufe mit Wasserbetten und Jointhaltern standen“, urteilt Franzen im Rückblick und beklagt, dass preisgünstige Polyesterstricksachen zu seiner üblichen Ausstattung gehörten. Kleidungsstücke wie diese „brandmarkten“ ihn nach eigener Aussage „als artigen kleinen Jungen und Golfer mittleren Alters“ (ebd. 128). Das Schlimmste jedoch war, dass seine Mutter ihm verbot, Jeans zu tragen. Eine Erlösung von dieser Pein brachten erst gerade geschnittene Cord-Jeans, die ihrem Träger von der zehnten Klasse an erlaubten, endlich selbstbewusst aufzutreten. Doch jede Freude hatte ihre Schattenseite. Jonathan Franzens Lieblingslektüre waren die Peanuts. Insbesondere Charlie Brown hatte es ihm angetan. Wie die Comicfigur hatte Franzen offenbar immer ein schlechtes Gewissen und entwickelte bestimmte Schrullen wie etwa die Liebe zu seiner großen Stofftiersammlung, an der er bis weit in die Pubertät hinein festhielt. Das schlechte Gewissen plagte den jungen Jonathan Franzen aus vielerlei Gründen: „Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich den Umarmungen meiner Mutter auswich [...]. Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen der Waschlappen ganz unten in dem Stapel im Wäscheschrank, der älteren, dünneren, die wir nun selten nahmen. [...] Ich hatte ein schlechtes Gewissen, wegen der Brettspiele, die ich nicht gerne spielte [...]. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich den steifgliedrigen kratzpelzigen Teddy Mr. Bear vernachlässigte, der keine Stimme hatte und nicht so gut zu meinen anderen Stofftieren passte. Damit ich nicht auch ihnen gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte, schlief ich jede Nacht neben einem anderen nach einem strengen Wochenplan.“ (Ebd. 55)
Es war aber auch das Ertapptwerden, das Jonathan Franzens Gefühlslage bestimmte: so zum Beispiel beim lauten Hören von Grateful-Dead- oder Moody-Blues-Stücken im Wohnzimmer des Elternhauses. Wenn jemand wie seine Mutter unerwartet ins Zimmer platzte und abwertende Bemerkungen machte, kam er sich, gerade weil er sich bei der lauten Musik richtig gut fühlte, wie ein „schamloses Monster“ und gleichermaßen so bloßgestellt vor, „dass“, so Franzen, „es mir die Luft aus den Lungen und das Blut aus dem Kopf herauszupressen schien“ (ebd. 124). Pornographische Zeitschriften allerdings konnte er geradezu genüsslich, ohne schlechtes Gewissen und ohne Scham durchblättern. Denn: er war glücklich, etwas zu lesen, das mit den Maßstäben seiner ahnungslosen Eltern unvereinbar war. Dabei hatte er jedoch Angst, die Kontrolle zu verlieren, plötzlich alle Hemmungen über Bord zu werfen, gerade so, wie er als Kind einmal vor den Augen der Nachbarmädchen in der Langewei-
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le eines Sonntagnachmittags seine Hose heruntergezogen und so für heillose Aufregung gesorgt hatte. Die damit angedeutete Differenz der Wertmaßstäbe verschärfte sich während der College-Jahre und trat von da an wesentlich deutlicher zu Tage. Dies zeigen exemplarisch drei Briefe (vgl. ebd. 193 ff.), die Franzen seinem Roman beigefügt hat. Der erste Brief enthält den mütterlichen Vorwurf, sein Studienprogramm sei „dünn“, sein Abschluss garantiere keine „,verwertbaren Kenntnisse‘“, er lebe nur nach Lust und Laune, habe den Realitätssinn verloren und das alles sei obendrein „extrem kostspielig“. Franzen antwortete sinngemäß, dass Vorwürfe selten zum gewünschten Ergebnis führen würden, dass er sein Studium größtenteils in hartem Selbststudium absolviere und dass er sich nicht erinnern könne, je ein Versprechen über die „Verwertbarkeit“ seines Studiums abgelegt zu haben. Darauf erfolgte die schriftliche Ermahnung des Vaters, mit der Mutter, trotz ihrer gelegentlichen Taktlosigkeiten, rücksichtsvoller umzugehen, da man sich ernsthafte Sorgen um deren Gesundheit machen müsse. Aber damit nicht genug, denn Jonathan Franzens Mutter schrieb daraufhin einen zweiten Brief, in dem sie versicherte, sie fühle sich „schlecht“ und „deprimiert“ wegen ihres ersten Briefes und bitte ihn „um Verzeihung“. Diese vordergründige Harmonie täuscht, denn bei genauerem Hinsehen entdeckt man, dass es auch jetzt um – und dieses Mal eher indirekte – Schuldzuweisungen geht. Was nun die Pubertät als problematische, ja paradoxe Lebensphase angeht, so kann Jonathan Franzen in seinem Roman mit glänzenden Beschreibungen aufwarten: „Die Adoleszenz genießt man am besten unbefangen, doch leider ist Befangenheit ihr bestimmendes Symptom“ ist die eine Feststellung. „Man fühlt sich elend und schämt sich, wenn man seine Adoleszenznöte nicht für wichtig nimmt, aber man ist dumm, wenn man es tut“, so eine weitere Aussage. Und schließlich lautet eine dritte Diagnose: „selbst wenn man sich ganz und gar in das Bemühen vertieft, das Fundament der eigenen Persönlichkeit zu legen, kommen doch Momente, da man sich bewusst wird, dass das, was passiert, nicht das Eigentliche ist.“ (Ebd. 149) Summa summarum ist die Pubertät also ein grässliches Dilemma, zwischen Vorläufigem und Endgültigem, zwischen dem so Tun als ob und dem richtigen Leben. Die Schwierigkeit man selbst zu sein, und dies möglichst ohne lächerlich vor sich und anderen zu wirken, zeigt sich auch in ersten Versuchen, ein authentisches Tagebuch zu schreiben: „In der Abgeschiedenheit meines Zimmers ließen sich entsetzliche Peinlichkeiten fabrizieren – einfach indem ich las, was ich am Tag davor ins Tagebuch geschrieben hatte. Die Seiten spiegelten meine Schwindelei und Aufgeblasenheit und Unreife getreulich wieder.“ (Ebd. 143) Eine überwiegend positive Erfahrung der Selbsterprobung machte der junge Jonathan Franzen von 1973 an in einer kirchlichen Jugendgruppe, die „Gemeinschaft“ genannt wurde und unter der Leitung eines älteren, aus dem 160
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Arbeitermilieu stammenden charismatischen Leiters stand, der Charles Manson ähnelte sowie über Therapie- und Selbsterfahrung verfügte. Franzens Ziel war es, von der „Gemeinschaft“ akzeptiert zu werden. Deshalb war er nach eigener Aussage gezwungen, sein streberhaftes Image abzulegen und den eher abgeklärten Typen zu mimen. Franzen wusste um diese Pose. Er kam sich albern vor, weil er die „Reinheit ... adoleszenten Zorns“ (ebd. 82) sowie ein Verlangen nach Sex, Drogen und Alkohol nicht authentisch verkörpern konnte, ja sogar insgeheim fürchtete. Der implizite Zwang zur Pose barg zudem gewisse Probleme, da „Ehrlichkeit und Auseinandersetzung“ die „zentralen Werte der Gruppe“ waren (vgl. ebd. 109). Langfristig bot die „Gemeinschaft“ aber dennoch passable Anschlussmöglichkeiten, die von jüngeren Betreuern angeregt wurden, so zum Beispiel intellektueller Art durch die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse oder in Bezug auf den Natur- und Umweltschutz durch „Bird-Watching“ und vegetarische Ernährung. Eine von der Erwachsenenwelt völlig abgeschiedene Sphäre war Franzens freundschaftliche Verbundenheit mit einigen Jungs seines Highschool-Jahrgangs. Mit ihnen organisierte er, in der Rolle des theoretischen Kopfs und Tüftlers, in engagierter Zusammenarbeit absurde Streiche. Ein vorläufiges Fazit könnte lauten, dass Jugend die Lebensphase ist, in der Aufrichtigkeit und Authentizität als Handlungsmaximen und moralische Kriterien die bestimmenden Themen sind: in Bezug auf die Elterngeneration, in Bezug auf den Umgang unter Gleichaltrigen und nicht zuletzt gegenüber sich selbst.
Schlussbemerkungen: Über den Zusammenhang von Literatur und Erziehungswissenschaft Jonathan Franzen hat seine Jugend in den USA der frühen 1970er Jahre verbracht. Schon ein rein kursorischer Blick auf diese Epoche verweist auf allerhand Unruheherde: Vorausgegangen waren die Bürgerrechtsbewegungen und die Ermordung Martin Luther Kings im Jahre 1968, ebenfalls vorausgegangen und im Jahre 1975 gerade beendet, war der Vietnam-Krieg, zu nennen sind außerdem die Watergate-Affäre von 1974 sowie die von San Francisco ausgehende Hippie-Bewegung, die eine von bürgerlichen Tabus befreite Lebensführung, die Naturverbundenheit, Humanität und Frieden sowie freien Drogenkonsum und „freie Liebe“ propagierte. Zeitliche Überschneidungen gibt es auch mit frühen Ausläufern der nordamerikanischen Frauenbewegung, der sogenannten „Women’s Liberation“, die u.a. mit dem damals schockierenden Schlachtruf „burn your bra“ Schlagzeilen machte. In Franzens literarischer Reflexion von Jugend allerdings werden diese anti-bürgerlichen Bewegungen
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nicht konkret erwähnt, sondern nur als schemenhaft wirkende Schlaglichter der Wirklichkeit skizziert. Franzen thematisiert also Geschichte so wenig exakt, wie sie tatsächlich von einem Jugendlichen erlebt wird. Seine Absicht ist weder eine Auseinandersetzung mit Fragen gesellschaftlicher Machtverteilung und Gesellschaftskritik noch eine Analyse der nordamerikanischen Mittelschichtideologie, sondern deren möglichst wirklichkeitsgetreu nachgezeichnete Wirkung auf den einzelnen in Form eines undeutlichen Spannungsfeldes alltäglicher Geschehnisse. Während der Kindheit ist die Oberfläche noch glatt, Dissonanzen scheinen nicht zu existieren. Dies gilt auch in Jonathan Franzens Fall: Sein Vater brachte ein überdurchschnittliches Einkommen nach Hause und ein sonntäglicher Spaß bestand in selbst durchgeführten Renovierungsarbeiten. Franzen befand sich nach eigener Aussage nicht nur geographisch, sondern auch emotional im gut abgefederten Mittelpunkt der amerikanischen Gesellschaft und „dort gab es nichts als Familie und Haus und Nachbarschaft und Kirche und Schule und Arbeit.“ Franzens Mutter „hasste ... es, wenn sie nicht dazu gehörte“ (ebd. 23) und entsprechend waren nicht „Leistung“ und „Intelligenz“, sondern Tüchtigkeit und Gemeinschaftsgeist die propagierten Tugenden. Von „Materialismus“, „Imperialismus“, „der Verweigerung von Chancen für Frauen und Minderheiten, der Umweltzerstörung und der unheilvollen Hegemonie des militärisch-industriellen Komplexes“, so Franzen, war in seinem Elternhaus kaum die Rede (vgl. ebd. 24). Ein erstes deutliches Indiz für Spannungen allerdings war, als sein Bruder Tom von zu Hause weglief, worüber in der Öffentlichkeit bezeichnenderweise geschwiegen wurde (vgl. ebd. 46). Die Jugendkultur der späten 1960er Jahre und die Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg hatten sein Elternhaus erreicht. Franzen nennt hier sogar einen genauen Zeitpunkt, „Mai 1970“ und unterstreicht diese Zeitangabe mit einer weiteren Information: „ein paar Abende nachdem Nationalgardisten vier demonstrierende Studenten an der Kent State University getötet hatten“ (ebd. 41). Insgesamt hat es sich bestätigt, dass literarische Texte historische Epochen in der Unschärfe und Unbestimmtheit sowie den Widersprüchen und Konflikten des tatsächlich gelebten Lebens thematisieren. Die soziale Wirklichkeit, so kann man daraus schließen, lässt sich gar nicht so eindeutig leben und kausal beschreiben, wie die Wissenschaften es vorgeben: Jonathan Franzens Kreativität und Intelligenz stand im Gegensatz zur geforderten Tüchtigkeit und Verwertbarkeit seiner schulischen und studentischen Aktivitäten, die Harmonie des Familienlebens stand im Gegensatz zur stillschweigenden Resignation während einer Karussellfahrt in Disney World, die Freude an guten Schulleistungen und Erfolg stand im Gegensatz zum Image des hartgesottenen Jugendlichen mit langen Haaren und abgewetzten Klamotten und schließlich stand der Wunsch, eigene Wertmaßstäbe zu entwickeln, im Gegensatz zur 162
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Angst vor Tabubrüchen, vor dem Ertapptwerden und schlechtem Gewissen. Um die Dissonanzen zu bewältigen, griff Franzen zum Mittel der Pose, zum so tun als ob. Zweifelsohne ist daher für die Lebensphase der Adoleszenz die Frage nach der Möglichkeit von Authentizität besonders herausfordernd. Die schmerzhafte Kapitulation vor jeglichem Versuch, die Wertmaßstäbe der Eltern bruchlos zu reproduzieren sowie Befangenheit und Scham bei ersten Anstrengungen, davon Abweichendes zu erproben, schaffen ein Spannungsfeld, das sich nicht einfach durch pure Ablehnung alter und Übernahme vollkommen neuer Werte beschreiben lässt. Jonathan Franzen erwähnt in seinem autobiographischen Roman einen Dokumentarfilm aus dem Jahre 1966, der ähnlich wie die britische BBCProduktion 7up oder die DDR-Reihe Die Kinder von Golzow, dem Phänomen Jugend nachzugehen versucht. Die amerikanische Produktion trug den Titel 16 in Webster Groves und vermittelte das Bild einer elitären Schülerpopulation, die „in einer erstickend reichen, isolierten, konformistischen Stadt mit extremer sozialer Hierarchie“ (ebd. 82) „besessen war von Noten, Autos, Geld“ (ebd. 83). Jonathan Franzen bestreitet diese filmisch hergestellte Realität und begibt sich damit durchaus in Widerspruch zu sich selbst. Denn Webster Groves, so Franzen, sei „eine ungewöhnlich angenehme Gemeinde“ gewesen, in der man behütet aufgewachsen sei und er fügte sogar hinzu: „Immer wieder habe ich versucht zu erklären, das darin gezeichnete Webster Groves habe nur minimale Ähnlichkeit mit der freundlichen unprätentiösen Stadt, die ich gekannt hätte, als ich dort aufgewachsen sei.“ (Ebd. 82 f.) Wollen wir nun daraus schließen, dass literarischen Beschreibungen der sozialen Realität aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit Grenzen gesetzt sind oder sollen wir daraus schließen, dass der robuste Geltungsanspruch soziologisch orientierter Strukturierungsversuche sich einer kulturwissenschaftlich erweiterten Sozialgeschichte dissonanter Gefühlstrukturen öffnen sollte?
Literatur Di Michele, Laura (1993): »Autobiography and the ›Structure of Feeling‹ in Border Country«. In: Dennis L. Dworkin/Leslie G. Roman (Hg.), Views Beyond the Border Country, New York, London: Routledge S. 21-37. Franzen, Jonathan (2007): Die Unruhezone. Eine Geschichte von mir, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Williams, Raymond (1960): Border Country. A Novel, London: Chatto & Windus. Williams, Raymond (1980): The Long Revolution, 5. Aufl., Middlesex u.a.: Penguin Books. 163
Jugendliche Intensität als Spiegel des Morbiden in Elizabeth Bowens Kalte Herzen und Philippe Djians Die Frühreifen SABINE ANDRESEN
Jugend im »anderen Ort« der Pädagogik „Bei solchen Sachen enttäusche ich hinterher immer. Daß Dinge passieren, ist einfach zuviel für mich, Liebes. Für dich und mich sollte es eine neue Welt geben. Da stehen wir am Beginn unseres Lebens, und alles um uns herum verliert seine Unschuld! Wie können wir erwachsen werden, wenn es nichts mehr zu erben gibt, wenn das, von dem wir leben, schal und korrupt ist?“ (Bowen 1938/2004: 407)
Im dritten Teil des Romans Kalte Herzen von Elizabeth Bowen, überschrieben Der Teufel, richtet der Tunichtgut Eddie, ein selbstverliebter junger Mann, diese Worte an die ihm ergebene sechzehnjährige Heldin, Portia. Es sind nach 400 Seiten die ersten halbwegs aufrichtigen Worte Eddies, aber sie befreien Portia längst nicht mehr aus der Kälte der sie umgebenen Beziehungen, aus dem morbiden Verfall eines moralischen Gefüges. Auf Eddie hatte die Jugendliche ihre Sehnsucht nach menschlicher Zuneigung und Wärme gerichtet, doch am Ende des Romans spiegelt sich auch in Eddies Augen nur noch das „kalte Tageslicht“. Ich beginne mit diesem Zitat, weil ich Eddies Frage, „wie können wir erwachsen werden?“ zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen machen möchte. Zwei Romane, einer aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und einer aus der Gegenwart, thematisieren und entfalten ein spezifisches Hindernis des Erwachsenwerdens: Eine auf den Verfall zusteuernde Erwachsenengeneration. Die Jugendliche Portia kommt in eine für sie fremde Welt gelangweilter und privilegierter Menschen, denen das jugendliche Empfinden vollkommen 165
SABINE ANDRESEN
fremd ist. Evy und seine jugendlichen Leidensgenossen in Philippe Djians Die Frühreifen (2005/2006) sind mit Eltern konfrontiert, die sich selbst aus einer Phase jugendlich motivierter Sinnsuche nicht weiterentwickelt haben und kaum in der Lage sind, als Eltern und Erwachsene verantwortungsvoll zu handeln. Vor der Folie meiner Arbeiten über die Jugendbewegung und der Beschäftigung mit der Jugendkulturbewegung Siegfried Bernfelds ist die Frage „wie können wir erwachsen werden“ ziemlich konventionell (u.a. Andresen 1997, 2005). Denn ein Merkmal der Auseinandersetzung der Jugend mit sich selbst ist die Euphorie für ihren Eigenwert, die Kritik daran, sie gerade in der Pädagogik nur als zukünftige Erwachsene zu sehen und die Hingabe an Jugendkulturen. In den von mir herangezogenen Romanen hingegen geht es darum, dass Jugendliche durch die Lebenshaltung der verantwortlichen Erwachsenen daran gehindert werden, erwachsen zu werden, und zwar nicht durch eine überfürsorgliche Erziehung, durch eine institutionell lang ausgreifende Bildung, durch einen verzögerten Berufseinstieg der „Generation Praktikum“ oder durch eine späte oder gar nicht erfolgende Familiengründung. Die Heranwachsenden sind mit einer morbiden, einer dem Verfall nahen Erwachsenengeneration konfrontiert, und zwar in einem sozialen Kontext gesellschaftlicher Privilegierung. Das Bedürfnis nach Intensität, das die jugendlichen Protagonisten in den Romanen charakterisiert, wird mit dem Morbiden der Erwachsenen und der Beziehungslosigkeit zwischen den Generationen kontrastiert. Diese morbide Form des Generationenverhältnisses lässt sich pädagogisch kaum artikulieren. Um dies in Sprache zu kleiden und damit thematisierbar zu machen, benötigen wir Kunst und vor allem Literatur. Rita Casale hat in dem Band Grenzgänge (Koller/Rieger-Ladich 2005) die Literatur als den Ort für unverständliche Geschichten bezeichnet, als den „anderen Ort“ der Pädagogik. Mit der Literatur sei ein verfremdender Blick auf vermeintliche Gewissheiten möglich. In diesem Sinne knüpfe ich mit meiner Lektüre an. Mich interessiert, in welchem Maße in der Literatur die jugendlichen Protagonisten in die Nähe des Morbiden gerückt werden. In beiden Romanen geht der Tod von zentralen Bezugspersonen der eigentlichen Handlung voraus. Der Verlust einer fast symbiotischen Beziehung scheint die Intensität des Empfindens und Erlebens bei den Jugendlichen zu erhöhen, ihre Wahrnehmung für die Kälte der Erwachsenen zu schärfen, aber insgesamt ihre Entwicklungspotenziale auch extrem zu blockieren. Der Tod von Portias Mutter und der ungeklärte Tod von Evys Schwester Lisa markieren den Übergang in eine radikale Hinfälligkeit. Jugend und die Nähe zu Tod und Verfall machen das Verstörende der Lektüre aus, und es wird ästhetisch durch den immer wieder durchscheinenden Humor sowohl bei Bowen als auch bei Djian durchbrochen. 166
JUGENDLICHE INTENSITÄT ALS SPIEGEL DES MORBIDEN
Meines Erachtens wird hier mit einer Grundfigur bürgerlichen Schreibens gearbeitet, nämlich mit der Spannung zwischen Erneuerung und Verfall sowie zwischen Intensität und Langeweile. Die Jugendphase ist in dieser Konstellation mit Erneuerung und Intensität verbunden, die Konventionalität der Erwachsenenwelt mit Verfall und Langeweile. Gerade die Langeweile wird darüber hinaus als Grundgefühl sozialer Privilegierung inszeniert. Meine These ist, dass Jugend durch die ihr zugeschriebene Sehnsucht nach Leidenschaft und dem intensiven Erleben in der Literatur, aber auch in der Musik in die Nähe des Todes gerückt wird. Die Pädagogik hat diesen Zusammenhang stets ausgeblendet oder aber in ihren vielfältigen Gefährdungsdiskursen verarbeitet. Jugend als Zeit für und Ort von Intensität, Leidenschaft und Erlebnisreichtum hebt sich gerade vor dem Hintergrund der gelangweilten, privilegierten, an einer verfallenden Kultur ausgerichteten Erwachsenenwelt als „anderer Ort“ schillernd ab.1 Diesem Zusammenhang von Intensität und Langeweile möchte ich in meinem nächsten Abschnitt zunächst genealogisch nachgehen, und zwar an dem literarisch herausragenden Werk von Stendhal (1830/2004) und einem frühen Roman von Virginia Woolf Jacob’s Room (1922/1985). Hier wird der Zusammenhang deshalb so sichtbar, weil die jeweiligen Protagonisten nicht nur durch ihr jugendliches Alter charakterisiert sind, sondern auch durch ihr Bemühen um den sozialen Aufstieg.
Zur Genealogie jugendlicher Intensität als Kontrapunkt der Langeweile am Beispiel Stendhals und Virginia Woolfs Der Roman, in dem Jugend der Langeweile trotzt und die Sehnsucht nach Intensität sich offenbart, der in einer Zeit geschrieben wurde, die auf das „aufregende“ Ereignis der Französische Revolution 1789 folgte, in der Restauration, ist Le Rouge et le Noir von Stendhal. In ihm wird die Geschichte eines gesellschaftlichen Aufstiegs und der ereignisreiche, dramatisch tiefe Fall des Protagonisten, Julien Sorel, erzählt (s. ausführlich Andresen 2006). Stendhal beschreibt den Kampf eines Heranwachsenden gegen die Langeweile, Konventionalität, politische Gespaltenheit und Widersprüchlichkeit seiner Zeit und sein Bemühen, dennoch sozial aufzusteigen. Seine Umgebung in ihren Grundzügen zu sezieren, befähigte den republikanisch gesonnenen Helden
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Ein neueres Beispiel, in dem Jugend und Tod systematisch zusammengeführt werden, ist sicherlich der Roman von Markus Zusak Die Bücherdiebin (München 2008, Blanvalet), auf den ich in diesem Zusammenhang gerne näher eingegangen wäre. Ich danke Isabell Diehm für diesen Hinweis.
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Sorel durch seine Belesenheit und seine Orientierung an den Memoiren Napoleons sowie insbesondere an den Bekenntnissen Rousseaus. Um seine soziale Herkunft überwinden, Abstand zwischen sich und seine Familie bringen zu können, verdingt er sich zunächst als Privatlehrer. Hier perfektioniert er eine bereits zuvor aus Gründen gesellschaftlichen Überlebens eingeübte Kunst der Verstellung. Stendhal beschreibt den Lebensweg eines intensiv erlebenden Menschen, den gegenüber einer zeittypischen Durchschnittlichkeit und Lauheit Energie, Leidenschaft, Stärke und einen enormen Willen zum Glück auszeichneten. Dabei führt ihn sein Weg von der Provinz in die Metropole Paris. Der Mangel an tiefen Erlebnismöglichkeiten machte sich zwar in der Provinz und im Leben der Frauen besonders bemerkbar, aber er verschonte auch das herrschaftlich dekadente Salonleben in Paris nicht. Im ersten Buch beginnt Julien unter großen Verwicklungen eine Liebesbeziehung mit der Mutter der Kinder, die er als Hauslehrer unterrichtet. Madame de Rênal, Frau des örtlichen Bürgermeisters, kommt erst durch den jugendlichen schönen Hauslehrer die Ereignislosigkeit und Langeweile ihres Daseins zu Bewusstsein: „Da die Freunde des Hauses sie nicht gerade mit neuen und brillanten Gedanken verwöhnten, genoß sie Juliens Geistesblitze um so mehr. Seit dem Sturz Napoleons ist jeder Anflug von Galanterie aus den Umgangsformen der Provinz verbannt. Jeder fürchtet um sein Amt. Die Spitzbuben suchen Unterstützung bei der Kongregation; und die Heuchelei hat selbst in liberalen Klassen bewundernswerte Fortschritte gemacht. Die Langeweile wächst. Als letztes Vergnügen bleiben Lektüre und Landwirtschaft.“ (Stendhal 1830/2004: 63).
Die Provinz und die mütterliche Geliebte lässt er zugunsten einer neuen Position hinter sich, steigt auf und geht nach Paris, wo er sich noch intensiver um die Kunst der Verstellung bemühen muss. Hier lernt er die zweite weibliche Hauptfigur kennen: Mathilde de La Mole. Trotz ihres vollkommenen anderen Charakters teilt Mathilde de La Mole mit der Frau aus der Provinz, Madame de Rênal, das Schicksal des Gelangweiltseins, aber dies mit besonderer Intensität: „Mathilde langweilte sich im voraus. Der Marquis de Croisenois war jetzt durchgedrungen und sprach mit ihr, aber sie träumte, ohne ihm zuzuhören. Das Gemurmel seiner Worte vermischte sich mit dem Lärm des Balls. Unwillkürlich folgten ihre Augen Julien, der mit ehrerbietiger, aber stolzer und ungehaltener Miene gegangen war. … Nur die Verurteilung zum Tode zeichnet einen Mann aus, dachte Mathilde: sie ist das einzige, was nicht für Geld zu haben ist. Ah! Eine geistreiche Bemerkung, was ich mir da sage! Schade, dass sie mir nicht in einem Augenblick eingefallen ist, in dem sie mir Ehre gemacht hätte.“ (Stendhal 1830/2004: 381)
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Mit diesem Gedanken nimmt Mathilde zu einem frühen Zeitpunkt das Schicksal Juliens, der am Ende seiner Odyssee durch die französische Gesellschaft und letztlich aufgrund seiner Leidenschaftlichkeit zum Tode verurteilt wurde, vorweg. Darüber hinaus aber drückt Stendhal mit Mathildes innerem Monolog eine radikale Haltung gegenüber der Intensität des gelebten Lebens aus. Bei Mathilde wurzelt diese Überzeugung in der Idealisierung heldenhafter Erlebnisse früherer Jahrhunderte. Ihren historischen Helden schreibt Mathilde den Mut zu, für einen intensiven Augenblick auch den Tod zu riskieren. Durch einen Verrat sieht sich schließlich der junge Aufsteiger Sorel dermaßen unter Druck gesetzt, dass er sich von seinen Leidenschaften getrieben dazu hinreißen lässt, auf seine frühere Geliebte Madame de Rênal zu schießen. Obschon sein Opfer nur leicht verletzt ist, wird der hitzige Täter zum Tode verurteilt und erlebt in seinen letzten Tagen im Gefängnis noch einmal eine große Intensität, die der morbiden „alten“ Welt beinahe leuchtend gegenüber steht. Julien Sorel ist nie erwachsen geworden. Mein zweiter Roman in der genealogischen Betrachtung zum literarischen Zusammenhang von jugendlicher Intensität und gesellschaftlicher Langeweile ist Jacob’s Room von Virginia Woolf.2 Ich greife hier auch deshalb auf Woolf zurück, weil ihr Roman in einem ähnlichen Kontext wie Kalte Herzen entstanden ist. Bowen hatte mit Virginia Woolf Kontakt und wird außerdem in der neueren Rezeptionsgeschichte mit ihr verglichen. In Woolfs Roman Jacob’s Room, der unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entsteht und auch als Reaktion darauf zu sehen ist, skizziert Woolf die Welt der zum Handeln und zum Erlebnis gezwungenen Subjekte. In Jacob’s Room knüpft sie an die Idee einer Bildungsgeschichte an und befragt die subjektiven Grenzen modernen Daseins. Woolf erzählt die Geschichte eines einsamen jungen Mannes, der durch eine intensive Geistigkeit jegliche Bindung zur von ihm als morbide empfundenen Gegenwart zu überwinden versucht. Sein Bildungsweg bewirkt eine Distanz zu seiner Herkunftsfamilie, ohne dass er eine neue Heimat in einem bildungsorientierten Milieu finden würde. Virginia Woolf skizziert das Aufwachsen Jacobs, seinen Bildungsprozess, Übergänge in die Arbeitswelt und schließlich seine Einberufung als Soldat in den Ersten Weltkrieg, den er nicht überlebt. Während aller Ereignisse im Leben des jungen Mannes ist sein Zimmer, in dem er arbeitet und studiert, die einzige stabile Größe. Es ist konkreter Ort der Zurückgezogenheit und zugleich symbolischer Raum der Intensität. Woolf hatte mit diesem Roman ein Experiment versucht, indem sie auf eine geschlossene Geschichte verzichtete, und stattdessen die vielfach gebrochene individuelle Wirklichkeit in den Blick nahm und ästhetisch umsetzte. Als einzig geschlossenes Element wirkt das Zimmer des jungen Erwachsenen. 2
Auch Thomas Manns Der Zauberberg ließe sich in diese Genealogie einordnen.
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In ihm verarbeitet Jacob seine Bildungserlebnisse und so kommt Jacob’s Room gerade inmitten der anonymen Stadt eine zentrale Bedeutung zu, und zwar als eine vom äußeren Erlebnis abgeschirmte Eremitage größter Intensität. Wie diese mit der Langeweile der Erwachsenen, ihren gebildeten Masken kollidiert und wie Jacob dies wahrnimmt, wird als Initiation beschrieben. Anlässlich einer Einladung zum Mittagessen bei der Familie eines Professors erkennt Jacob die Morbidität der Etablierten: „Bücher von Wells und Shaw standen auf seinem Regal; auf dem Tisch lagen seriöse Sixpence-Wochenschriften; geschrieben von bleichen Männern in lehmbeschmierten Stiefeln – das wöchentliche Geknirsche und Aufschreien von Gehirnen, die in kaltem Wasser ausgespült und trockengewrungen wurden – melancholische Zeitschriften.“ (Woolf 1922/1985: 42f.)
Jacobs Blick erkennt im bürgerlichen Gelehrtendasein nurmehr das Morbide und er nimmt darin die Herrschaft des Todes im Ersten Weltkrieg vorweg.
Jugendliche Intensität und das Morbide der Privilegierten bei Elizabeth Bowen Elizabeth Bowen (1899-1973) veröffentlichte The Death oft the Heart 1938, erst 2004 wurde der Roman ins Deutsche übersetzt unter dem Titel Kalte Herzen. Erzählt wird die Geschichte der sechzehnjährigen Waise Portia Quayne. Nach dem Verlust des Vaters und dem kurze Zeit später erfolgenden Tod der Mutter kommt die Jugendliche nach London zu ihrem Halbbruder, Thomas. Portia war das Kind aus einer späten Beziehung des gut verheirateten Mr. Quayne und einer mittellosen Witwe, Irene. Aus Scham vor der gesellschaftlichen Herabsetzung durch die Trennung von seiner vermögenden Frau zog Portias Vater mit seiner neuen Familie immer bescheidener an „den kalten Abschnitten der Riviera auf und ab“ (Bowen 1938/2007: 19). Die erste und wohlhabende Mrs. Quayne blieb mit dem gemeinsamen Sohn Thomas in England und vermachte ihm und seiner Frau Anna schließlich ihr Vermögen. Vom Vater erbten sie nach dessen Tod die jugendliche Portia. So wurde die Aufnahme der Halbschwester für Thomas und seine Frau in das schöne Haus Windsor Terrace Nummer 2 unvermeidlich: „Weil sie uns in einem Testament vermacht worden ist – das heißt, mit der letzten Bitte eines Sterbenden, die juristisch nicht relevant und darum schlimmer ist. Durch sein Sterben kam der arme Mr. Quayne zum ersten Mal in seinem Leben in eine starke Position, zumindest zum ersten Mal seit Irene. Thomas nahm den Brief seines Vaters sehr ernst, selbst ich fühlte mich verpflichtet, mich anständig zu verhalten.“ (Ebd. 18)
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Ihr Bruder Thomas, die Schwägerin Anna, der Familienfreund St. Quentin, Annas zwielichtiger Freund Eddi, ihr ehemaliges Kindermädchen Mrs. Heccomb und die langjährige Hausdame Matchett sind die erwachsenen Protagonisten. Während die beiden Letztgenannten als Untergebene der Herrschaften dem Mädchen zugewandt sind, fühlt sich Anna durch Portia geradezu bedroht. So bittet sie den Freund St. Quentin zu einem Gespräch, weil die Anwesenheit und vor allem die Gedanken und inneren Monologe der Jugendlichen die erwachsene Frau zutiefst verunsichern. Zur Gedankenwelt und Vorstellungskraft ihrer Schwägerin hatte Anna sich nicht rechtmäßig Zugang verschafft, sondern das Tagebuch der Sechzehnjährigen heimlich gelesen. Nach der Lektüre war es um die mühsam kaschierte Ruhe geschehen und Anna sah ihre eigene Langeweile und die bürgerlich satte Tristesse. Sie fühlt sich erkannt, durch den Blick der Fremden entlarvt, obwohl oder gerade weil Portia nicht wirklich Abgründiges oder gar Böses über ihre Verwandten, die sie aufgenommen haben, niederschreibt. Stattdessen zeichnet sich Portias Tagebuch durch eine eigentümliche präsente Beobachtungsgabe aus. Mit einer großen Intensität beschreibt sie den Alltag des vornehmen Hauses, den Tagesablauf der privilegierten Hausfrau, das Zusammenleben der Eheleute und deckt dabei weniger erkennend als erspürend die Kälte, die Leidenschafts- und Erlebnislosigkeit der Erwachsenen auf. Der Roman wird durch das Bekenntnis Annas, heimlich das Tagebuch zu lesen, eröffnet. Sie und der Familienfreund St. Quentin stehen in der winterlichen Kälte im Regent’s Park auf einer Brücke. Die äußere Kälte symbolisiert das dominante Gefühl und sie steht leitmotivisch für die Monotonie der Privilegierten. Kälte, Distanziertheit und Eintönigkeit dominieren den Ton der Betrachtung und lassen die Erwachsenen blutleer und leidenschafts-, ja geschlechtslos erscheinen: „In den dicken Mänteln sahen ihre Körper geschlechtslos und steif wie Schachfiguren aus. Sie waren wohlhabend, in dem Bollwerk von Pelz und Tuch erzeugten ihre Körper eine beständige Wärme. Sie konnten die Kälte nur sehen; wenn sie sie spürten, dann nur an ihren äußeren Gliedmaßen.“ (Ebd. 9f.)
Nur in der direkten Konfrontation mit der jugendlichen Portia selbst verlieren die Erwachsenen zuweilen ihre Beherrschtheit. So ist es am Ende des Buches beispielsweise St. Quentin, der Portia von Annas heimlicher Lektüre des Tagebuchs erzählt und dies rechtfertigt. In der Szene redet er erregt auf Portia ein und versucht ihr aufzuzeigen, was die Erwachsenen an dem Tagebuch eines Mädchens verwerflich finden müssen: „Sie arbeiten an uns, machen uns zu etwas. Das ist unfair, denn wir nehmen uns vor Ihnen nicht in acht. Jetzt zum Beispiel, da ich weiß, daß Sie dieses Tagebuch führen,
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fühle ich mich immer, als sei ich in einen Plan verwickelt. Sie beschleunigen die Dinge. Ja, ich wage zu behaupten, sagte St. Quentin freundlich, daß das, was sie aufschreiben, sicher nicht erheblich ist, Sie sich aber trotzdem etwas herausnehmen. Sie stellen uns Fallen. Sie zerstören unseren freien Willen.“ (Ebd. 369)
Bowen lenkt hauptsächlich den Blick auf die Beziehung zwischen Portia und ihrer distinguierten Schwägerin Anna, weil hier das Potenzial an schleichendem Verrat und schließlich auch Eifersucht liegt. Selbst mit ihrer Langeweile konfrontiert, stellt Anna die Jugendliche in den Kontext des sozialen Abstiegs: „Wer ist sie schließlich? Das Kind einer Verirrung, das Kind einer Kurzschlusshandlung, das Kind der erbarmungswürdigen Sexualität eines alten Herrn. Empfangen zwischen verlorenen Haarnadeln und Hundephotographien in einer winzigen Wohnung am Notting Hill Gate.“ Die Begegnungen zwischen den Halbgeschwistern sind deutlich seltener und in ihrem Gestus reduzierter. „Heute hatte ich so etwas wie ein Gespräch mit Thomas. Als er nach Hause kam, hat er durchs Haustelefon gefragt, ob Anna da sei. Ich habe nein gesagt und gefragt, ob ich herunterkommen solle, und er war sich unschlüssig, sagte aber ja.“ (Ebd. 163) Auf dieser Ebene laufen die Gespräche und Begegnungen der Geschwister, aber im Verlaufe der Geschichte wirkt die Anwesenheit der jugendlichen Schwester wie ein Brennglas, durch das sich Thomas sein Dasein und der fehlende Sinn deutlicher erschließen. Portia wird für ein paar Wochen zur früheren Hauslehrerin Annas, Mrs. Heccomb, ans Meer geschickt. Die Witwe lebt mit ihren nahezu erwachsenen Stiefkindern Daphne und Dickie in einem kleinen Haus „Waikiki“ direkt an der Strandpromenade. Hier verbringt Portia eigentümliche Wochen, die sich schon durch die räumliche Nähe, das Haus ist klein und extrem hellhörig, im Unterschied zum großen Stadthaus, in dem man keine Lebensregungen der anderen mitbekommt, markant unterscheiden. Portia hat erstmals das Erlebnis, in einer Gruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu sein, mit ihnen etwas zu unternehmen, aber sie versteht sie deren Motive, deren Redensarten und Handlungen kaum und ist auch nicht bereit, den „Code“ des Sprechens und Verhaltens zu lernen. Nach der Rückkehr des Mädchens vom Meer und der Ankunft von Thomas und Anna in der Windsor Terrace verschärfen sich die Gegensätze zwischen den Welten. Zunächst zwischen den Ehepartnern, was sich in knappen Dialogen darstellt: „Hast du nicht eben gehört, wie ich gesagt habe, da sind wir wieder, wieder zu Haus? Ja, habe ich. Und was soll ich dazu sagen? Ich wünschte du würdest irgend etwas sagen. Unser Leben vergeht ohne jeden Kommentar.“ (Ebd. 353) Aber Annas Unzufriedenheit mit ihrem Leben resultiert vor allem aus der Anwesenheit ihrer jugendlichen Schwägerin: „Alles, was sie mir antut, tut sie unbewußt, wenn es bewußt wäre, würde es mich 172
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nicht verletzen. Sie vermittelt mir das Gefühl, als sei ich ein Wasserhahn, der sich nicht aufdrehen lässt.“ (Ebd. 363) Portia kann und will am Ende des Romans das Zusammenleben mit diesen Erwachsenen und das Morbide des Daseins in der privilegierten Umgebung des vornehmen Hauses, Windsor Terrace Nummer 2, nicht länger ertragen. Sie verlässt ihren Bruder und dessen Frau und sucht Obdach an einem Ort, von dem sie gekommen ist und mit dem sie aufgrund ihrer früheren familiären Lebensumstände vertraut ist: Sie geht, wie sie es aus der gemeinsamen Zeit mit der Mutter kennt, in ein etwas schäbiges Hotel, das den Chancenlosen der Gesellschaft einen Unterschlupf bietet. Die Privilegierten lässt sie in ihrem morbiden Dasein ratlos zurück.
Jugendliche Intensität und das Morbide der Privilegierten bei Philippe Djian Was für Portia das schäbige Hotel ist für Djians Hauptfigur Evy ein Baumhaus, das Obdach bietet und den Rückzug von einer durch die Morbidität der Erwachsenen dominierten Umgebung ermöglicht. Evy ebenso wie Portia verlassen die sozial privilegierte Umgebung, weil sie dort weder extreme Fremdheit überwinden noch ihre Potenziale entfalten können. Bevor ich zu einer abschließenden Betrachtung komme, möchte ich in diesem Abschnitt auf die Handlung von Philippe Djians Die Frühreifen, die schon ein Jahr nach seinem Erscheinen bei Gallimard in deutscher Übersetzung vorlag, eingehen. Man ist mit Djians erstem Satz in der Geschichte: „Acht Monate nach dem Tod seiner Schwester wachte Evy noch immer ganz plötzlich vor Tagesanbruch auf.“ (Djian 2005/2006: 5) Erzählt wird die Geschichte von Evy, dem 14jährigen Sohn von Laure und Richard Trendel, die wie andere wohlhabende Künstler und Schauspieler auf einem abgehobenen Hügel bei Lausanne wohnen. Das Haus der Familie verließ man am besten so schnell wie möglich, denn bereits vor dem Tod der Tochter war die Familie durch die Erwachsenen zerstört: Einst hoffnungsvoll und erfolgreich, hatte Richard, der Schriftsteller, Drogenprobleme bekommen und die Schauspielerin Laure es an Wachsamkeit und Urteilsvermögen hinsichtlich der Rollenangebote fehlen lassen. Das Wohnzimmer der Familie ist ausschließlich mit Erinnerungsstücken aus jenen rosigen Zeiten bestückt, mit Photographien der strahlend schönen Schauspielerin und den Literaturpreisen des Vaters; die Erinnerungen an die tote Lisa hingegen sind in fünf Blechtruhen im Keller verbannt, einige wenige Stücke hat der Bruder, der offenbar in inzestuöser Beziehung zu seiner älteren Schwester stand, in einem geheimen Versteck. Zu Evy’s Gesellschaft der Gleichaltrigen zählen sein Freund Andreas und das Mädchen Michèle. Eine weitere wichtige Person, die ebenso wie Evy um Lisa trauert, ist Lisas Freundin Anais, die seit 173
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dem Tod Lisas eine symbiotische Hassliebe zu Evy auslebt. Sie ist zudem diejenige, die die Jugendlichen mit Drogen versorgt und mit Evy insgesamt um die richtige Erinnerung an die verstorbene Lisa kämpft. Der Roman reiht mit diesen Figuren eine morbid anmutende Szene an die nächste und vor allem in der den Charakteren der Freundin Anais und dem Bruder Evy liegt eine erdrückende Intensität. Bei Djian haben die Erwachsenen den Kindern gar nichts mehr zu bieten und es wird unter den Jugendlichen nur mit Verachtung auf elterliche Gefühle, auf Ausbrüche und die wenigen Bemühungen um die Kinder, um deren Zuneigung oder um beruflichen Erfolg reagiert. Für die Eltern von Lisa und Evy bleibt es unergründlich, welchen Anteil ihr Sohn am Tod der Schwester hat und was er insgesamt von seinen Eltern hält. Das verstärkt ihre große Hilflosigkeit und erzeugt in ihrem Sohn zunehmend Desinteresse und Ablehnung. „Richard hatte ganze Tage mit dem Versuch verbracht, den Blick seines Sohnes zu ergründen, herauszufinden, ob er etwas Positives oder Negatives für ihn als Vater enthielt, aber um ehrlich zu sein, um die Wahrheit zu sagen, wusste Richard nicht, was sein Sohn von ihm dachte.“ (Ebd. 67) Evy’s Gefühle gegenüber Vater und Mutter, aber auch gegenüber allen anderen Erwachsenen, werden von Djian jedoch schonungslos benannt: „Erbärmlich. Das war erbärmlich, sagte sich Evy. Was für ein elendes Spiel trieben sie bloß?“ (Ebd. 67) Für Evy ist allein die tote Schwester der Referenzpunkt, sie besitzt auch nach dem Unglück noch die Autorität, die er als einzige anerkennt, der er sich unterwirft. Aus diesen Gefühlen heraus gestalten sich seine Vorstellungen über andere Beziehungen, insbesondere gegenüber anderen Mädchen. Eine besondere Rolle spielt hierbei eine weitere Freundin Lisas, Gaby, auf die Evy alle Gefühle projeziert. Die ältere Gaby war nicht nur eine Freundin der verstorbenen Schwester, sondern sie hatte auch eine Liebesbeziehung zu Lisa. Das vereinbarte Treffen des Jungen Evy mit Gaby im Haus seiner Eltern gehört zu den skurrilen Passagen des Romans. Evy ist besessen von der Vorstellung, dass eine intensive Beziehung mit Gaby nur durch die Unterdrückung seiner erotischen Bedürfnisse möglich ist. Um den möglichen Anfang einer asexuellen, nahezu unschuldigen Beziehung nicht zu gefährden, legt er sich, bevor Gaby zur Verabredung erscheint, Glasscherben in seinen Slip. Ein vollkommen verstörter Vater muss nach diesem Besuch den blutüberströmt Jugendlichen schließlich in die Klinik bringen. Alles in dem Roman ist entschieden drastisch, weil es keinerlei soziale Ordnung in den Familien und innerhalb der Gleichaltrigen mehr gibt. Jugendliche sterben, neben Lisa kommt schließlich auch Gaby, zusammen mit einem Drogendealer ums Leben, Evy’s Freund erleidet einen Unfall und die Eltern scheitern an ihren Bemühungen, beruflich wieder Fuß zu fassen. Am Ende des Romans birgt Evy in einer halsbrecherischen Aktion aus dem zerstörten 174
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Haus des verunglückten Drogendealers Danny einen großen Vorrat an Drogen, der ihm und den verbliebenen Freunden für ein ganzes Jahr reichen würde. Die Jugendlichen enden in dem Baumhaus von Evy, um zu kiffen, „während Richard sich fragte, ob er nicht seine Frau erneut verlassen sollte, und Laure ihrerseits, ob sie nicht auf dem Schoß von Axel Menda von der MediaMax landen sollte [ein Produzent, der Laure für ein Engagement sexuell missbrauchte, S.A.], da der Countdown inzwischen begonnen hatte“ (ebd. 391).
»Unser Leben vergeht ohne jeden Kommentar« In der Literatur als dem anderen Ort der Pädagogik, wie Casale sie definiert, kommen die Empfindungen von Jugendlichen angesichts existenziell gelangweilter Erwachsener und morbider Daseinsformen unter den sozialen Bedingungen des Privilegierten ästhetisch zum Ausdruck. Durch die Kontrastierung der bewegten jugendlichen Geschichten und den darin eingelagerten Intensitäten mit dem kommentar- und damit leblosen Dasein der Erwachsenen erweist sich gerade die Figur der Jugend als Spiegel herrschender sozialer Ordnungen und ihrer Abgründe. Dem Abgründigen spürt die Literatur nach und sie ermöglicht so einen Einblick in jene Kräfte, die es verhindern, dass Potenziale zur Entfaltung kommen. Julien und Jacob sind jugendliche Protagonisten, die v.a. aufgrund ihres sozialen Aufstiegs die Maskeraden der etablierten Welt erkennen. Die Erkenntnis nützt ihnen jedoch kaum, denn ihr Ende steht klar vor Augen, Julien wird hingerichtet und Jacob fällt im Krieg. Portia und Evy als formale Repräsentanten eines Jugendmoratoriums suchen nach dem Tod ihrer Bezugspersonen nach vertrauten Ankerpunkten in einer sie mehr und mehr befremdenden Umgebung. Weder die Eltern noch andere Erwachsene in den Welten von Portia und Evy sind jedoch in der Lage, Vertrautheit und auch Schutz zu bieten und auf den jugendlichen Ausdruck von Intensität angemessen zu reagieren. Diese Erwachsenen sind nicht in der Lage, Jugend als Zeit und Raum der Entpflichtung, als Moratorium, mit zu gestalten. Auf ihre Art richten sich die jugendlichen Protagonisten zwar in dieser Situation ein, aber der Ausgang ihrer Jugend bleibt offen. Erwachsen zu werden, wird in den Romanen von Bowen und Djian durch den Verfall eines moralischen Gefüges extrem erschwert, wenn nicht unmöglich. Unter privilegierten Umständen stoßen sie auf eine jeglichen Maßstäben enthobene und morbide Kultur der Erwachsenen. Verwiesen wird damit auch auf die Fragilität des Privilegierten.
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Literatur Andresen, Sabine (1997): Mädchen und Frauen in der bürgerlichen Jugendbewegung. Soziale Konstruktion von Mädchenjugend, Neuwied, Berlin: Luchterhand. Andresen, Sabine (2005): Einführung in die Jugendforschung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Andresen, Sabine (2006): »Erlebnissemantiken und ihre Bedeutung für den Umgang mit Modernisierungsphänomenen«. In: Peter Becker/Karl-Heinz Braun/Jochem Schirp (Hg.), Abenteuer, Erlebnis und Pädagogik. Kulturkritische und modernisierungstheoretische Blicke auf die Erlebnispädagogik, Farmington Hills, Opladen: Barbara Budrich, S. 83-99. Bowen, Elizabeth (1938/2004): Kalte Herzen. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier, Frankfurt/M., Zürich, Wien: Schöffling und Co. Casale, Rita (2005): »Unverständliche Geschichten. Bemerkungen über das Verhältnis der Pädagogik zur Literatur«. In: Hans-Christoph Koller/ Markus Rieger-Ladich (Hg.), Grenzgänge. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane, Bielefeld: transcript, S. 19-34. Djian, Philippe (2005/2006): Die Frühreifen. Aus dem Französischen von Uli Wittmann, Zürich: Diogenes. Stendhal (1830/2004): Rot und Schwarz. Chronik aus dem 19. Jahrhundert. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl, Frankfurt/M., Wien, Zürich: Büchergilde. Woolf, Virginia (1922/1985): Jacobs Raum, Frankfurt/M.: Fischer. Woolf, Virginia (1929): A Room of One’s Own, London: Hogarth Press.
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»Sippschaft eines interimistischen Zeitalters« – Adoleszenz nach dem Ende der Moderne in Juli Zehs Spieltrieb CORNELIE DIETRICH
Spieltrieb: Das ist die Geschichte einer Beziehung zwischen zwei Jugendlichen, die weder ein Paar noch kein Paar bilden und die mit einem ihrer Lehrer ein skurriles, ein erpresserisches Spiel treiben; eine Dreiecksgeschichte also, die – wie so oft – ihre Dynamik daraus erhält, dass alle drei Beteiligten sich abwechselnd trauen und misstrauen, dass die Konstellationen sich verändern. Der 2004 erschienene Roman der jungen Schriftstellerin Juli Zeh (geb. 1974) frappiert durch eine Nicht-Koinzidenz von Form und Inhalt. Es handelt sich in der Textfaktur um einen beinahe klassischen Roman, in dem eine durchgängige Geschichte erzählt wird und in der jedenfalls zwei der Protagonisten eine Entwicklung erfahren; es handelt sich andererseits inhaltlich und diskursiv um eine Dekonstruktion des modernen Begriffs von Jugend und Adoleszenz, in der die Suche nach Sinn und Identität weitgehend ausgeklammert bleibt.1 Die jugendlichen Protagonisten Ada und Alev stellen sich selbst als die „Urenkel des Nihilismus“ dar, die nicht einmal mehr etwas haben, „an das sie nicht glauben können“ (Zeh 2004: 309), sie werden charakterisiert als die „Überlebenden der Postmoderne“ (ebd. 349), gekennzeichnet als Figuren in einer 1
Bei der ersten Darstellung der weiblichen Hauptfigur Ada heißt es gleich zu Beginn des Buches: „Seit Ada im Alter von zwölf Jahren auf den Gedanken verfallen war, dass Sinnsuche nichts als ein Abfallprodukt der menschlichen Denkfähigkeit sei, galt sie als hochbegabt und schwer erziehbar.“ (Zeh 2004: 12). Ebenso wird der männliche jugendliche Protagonist Alev mit der Negierung eines Sinns der Sinnsuche eingeführt: „Die Sinnsuche ist einem Kreuzworträtsel vergleichbar, in das der erste Begriff mit Absicht falsch eingetragen wurde. Eine Patience mit unvollständigem Kartenspiel. Man kann sich damit die Zeit vertreiben. Man kann es auch sein lassen.“ (ebd. 139)
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Zwischenzeit, welche sich nicht nur als Stadium des post-, sondern auch des prä- kennzeichnen lässt. Auf formal-textkompositorischer Seite wird Sinnhaftigkeit so in großer Komplexität aufgebaut, auf inhaltlich-narrativer Seite wird dieselbe massiv negiert. Daraus entsteht hinsichtlich der für die Adoleszenzphase zentralen Frage nach dem Sinn und Ziel des eigenen Lebens eine Spannung, von der sich die erziehungswissenschaftliche Jugendforschung irritieren und bereichern lassen könnte. Manifest werden die Themen in Aufbau und Verlauf des hoch komplexen Spiels, in dem es um Macht, Erpressung und Sexualität geht, ebenso aber auch um die Frage nach dem Verhältnis von „Spiel“ und „Wirklichkeit“. Im Folgenden sollen verschiedene Sinnhorizonte dieses Spiels rekonstruiert werden: Nach einer Darstellung der Romanhandlung und der wichtigsten Figuren (1) werde ich zunächst das Spiel als Strategiespiel beschreiben und interpretieren (2). Daraus entwickelt sich die Frage nach einem angemessenen erziehungswissenschaftlichen Begriff des jugendlichen Spieltriebs (3). Nach der Kategorie Geschlecht noch einmal differenziert werden dann die Wirkungen des Spiels auf Ada, die weibliche Protagonistin, nachgezeichnet (4). Schließlich frage ich nach dem Besonderen des hier dargestellten Generationenverhältnisses (5).
Darstellung des Romans Ort der Handlung ist ein Privat-Gymnasium in Bonn. Auf dem Schulgelände, dem zugehörigen Sportplatz, im Computerkeller, dem Probenraum einer Band, dem Schulhof samt Raucherecke sowie dem im höchsten Stockwerk unter dem Dach der Schule untergebrachten Internatsflur spielt sich fast die gesamte Handlung ab. Geschildert werden zwei Schuljahre zwischen den Sommern 2002 und 2004. Der Roman beginnt mit dem Schuleintritt Adas, der 14-jährigen Protagonistin, in das Ernst-Bloch-Gymnasium, auf das sie wechselt, nachdem sie wegen einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit einem älteren Mitschüler ihrer vorherigen Schule verwiesen wurde. Ada ist hochintelligent und in sozialer, sportlicher wie intellektueller Hinsicht zu keinerlei Kompromissen bereit. Sie ist in allem viel schneller als ihre Mitschüler, weniger schön als die abfällig als „Prinzessinnen“ beschriebenen weiblichen Mitschülerinnen, die sie auch als „Pubertätsprofis“ bezeichnet, welche sich in ihrem Leben bisher für nichts haben anstrengen müssen. Ada fristet auf der Schule von Anfang an ein Außenseiterdasein, was sie nicht zu stören, vielmehr zu bestätigen scheint. Sie verkörpert einen strengen Nihilismus, der die Existenz von Werten und Autoritäten ebenso verneint wie den Glauben an eine Seele oder an ein Familientrauma, das ihre Entwicklung zu einer schwer Erziehbaren hätte erklären können. 178
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„Nach Ansicht der Mutter war in Adas kleiner Ausschweifung auf Nikolaus Kopernikus eine Aberritation kulminiert, die Folge einer unschönen Trennung ihrer Eltern war. Aber Ada glaubte nicht an Familientraumata und auch immer noch nicht an die Seele.“ (Ebd. 78)
Wenn Ada nicht liest oder sich im Unterricht langweilt, läuft sie. Fast täglich legt sie längere Strecken zurück, fast immer allein. Sie ist eine Grenz- und Einzelgängerin, die sich immer am Rande der Peergruppen aufhält, als Zuhörerin bei Gesprächen (auf dem Schulhof), als Zuschauerin (bei Bandproben) oder als scheinbar unbeteiligt Schweigende (im Unterricht). Nur hin und wieder übertritt sie die Grenze und mischt sich ein, dann aber immer treffsicher, provokativ oder verletzend. Im Laufe des ersten Halbjahres beginnt Ada eine zaghafte Freundschaft mit ihrem Mitschüler Olaf, die jedoch in dem Moment zu Ende ist, in dem sie sich dazu überreden lässt, Olaf an seinem sechzehnten Geburtstag zu „entjungfern“, ohne dessen Gefühle für sie auch nur ansatzweise zu erwidern. Der polnische Deutsch- und Sportlehrer Smutek ist begeistert von Adas läuferischem Talent und plant mit ihr zusammen den Aufbau einer Leichtathletikgruppe für die Schule. Oft laufen beide zusammen und Smutek erzählt Ada auf Polnisch seine ganze Lebensgeschichte, nicht ahnend, dass Ada alles versteht. Er ist als versehentlich politisch Verfolgter aus seiner Heimat nach Deutschland geflohen, ist Lehrer geworden und sehnt sich im Grunde nach einer stabilen, überschaubaren Existenz in der Kleinstadt, wird aber immer wieder von seiner politisch und privat mehrfach gebrochenen Biografie eingeholt. Während er sein Herkunftsland nach wie vor liebt, verabscheut seine ebenfalls polnische Frau den ehemals kommunistischen Staat, der auch ihr und ihrer Familie viel Leid zugefügt hat. Diese so unterschiedlich erlebte und interpretierte gemeinsamen Herkunft erzeugt ein Spannungsfeld in der Ehe, das für den gesamten Roman nicht unerheblich ist. Nach gut 100 Seiten betritt die zweite Hauptfigur, Alev, die Bühne. Alev ist „Halb-Ägypter, Viertel-Franzose, aufgewachsen in Deutschland, Österreich, Irak, den Vereinigten Staaten und Bosnien-Herzegowina, derzeit wohnhaft in einer Godesberger Pension. Achtzehn Jahre, zehn Schulen, kein Rausschmiss, zweimal sitzen geblieben. […] Hobbys: Nachdenken, Atheismus, leichte Drogen. Eigenschaften: keine, jedenfalls keine menschlichen. Schlechte Eigenschaften: Auch keine, jedenfalls keine unmenschlichen.“ (Ebd. 123) Alev spricht viele Sprachen, aber alle schlecht, dennoch ist seine größte Leidenschaft die geistige Welt der Sprache. Als überdurchschnittlich intelligenter junger Mann beschäftigt er sich vorwiegend mit Fragen der Philosophie, die konkreten Menschen in seinem Umfeld werden für ihn zu Figuren im theore179
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tischen Entwurf einer Spielwelt. Seine Existenz ist geprägt von den vielen Migrationsbewegungen, die ihn gleichermaßen heimatlos wie gefestigt in der Überzeugung einer Nicht-Existenz von Gut und Böse werden ließ. In einem Gespräch mit Ada artikuliert er diese Überzeugung: „[Alev] In Wahrheit interessieren Gott und der Teufel mich herzlich wenig. Als Begriffe sind sie abgenudelt wie Hitparadensongs vom letzten Jahr. Aber ich sage nichts Neues, wenn ich behaupte, dass das Leben der Menschen von gegensätzlich wirkenden Kräften bestimmt wird. [Ada] Also doch Gut und Böse? So der landläufige Irrtum. Vergiss den christlichen Satan. Mein Teufel ist nicht die Anwesenheit von etwas, auch nicht von etwas Schlechtem, sondern dessen vollkommene Abwesenheit. Er ist No-thing, das Nichtvorhandensein einer Vorstellung von Richtig oder Falsch, ein leerer Zwischenraum. Die wahren Gegner heißen Nichts und Etwas. Das Nichts ist nicht denkbar. Wie kann es ein Gegner sein? Indem der Mensch es bekämpft. Das Nichts auf Erden und im eigenen Kopf. Das Fehlen von Gründen, von Sinn oder Zweck birgt den höchsten Schrecken.“ (Ebd. 233)
Folgt man Ewers’ Typologie des modernen Adoleszenzromans, so kann man die Figur des Alev als einen späten Pikaro beschreiben. Neben dem Entwicklungsroman und dem Initiationsroman beschreibt Ewers (1989) den Pikarooder Schelmenroman als das dritte große literarische Strukturmuster des Adoleszenzromans. Der Pikaro ist nicht wie die Figuren des Entwicklungs- und Initiationsromans in „existentielle Erschütterung und tiefgreifende Identitätskrise“ (ebd. 11) verstrickt. Er ist „ein Außenseiter, der sich mit gaunerischer Wendigkeit ohne sonderliche Skrupel in einer selbst von Bosheit und Korruption beherrschten Welt zu behaupten sucht. Anfangs verliert er in einem Schlüsselerlebnis seine Unschuld, wenn er nicht sogleich schon als Schelm eingeführt wird; dann aber bleibt er sich gleich, macht keinerlei Entwicklung durch.“ (Ebd.)2 2
Das Schlüsselerlebnis, das Alev zu dem ihm eigenen Gleichmut eines Spielers bringt, hat er bereits im Alter von 10 Jahren, als er mit seinem Vater durch ein Parkhaus in Belgrad fährt: „[…] wir [rollten] durch enge Betontunnel auf die schwarzgelben Schranken zu. […] Es war Sonntag, beide Ausfahrtmöglichkeiten waren leer, kein weiterer Wagen in Sicht. Wenige Meter vor der Haltelinie teilte sich die Spur. Der Vater ging nicht vom Gas. In mäßigem Tempo fuhren wir auf dem Trennstrich, weder auf der linken noch auf der rechten Seite, sondern genau in der Mitte, und bevor ich Zeit hatte etwas zu sagen, zu schreien oder auch nur die Augen aufzureißen, krachte der Wagen frontal gegen den Betonpfosten, der die beiden Schleusen voneinander trennte. […] ‚Weißt Du, was passiert ist?‘ flüsterte er [der Vater] und sah noch immer nach vorn auf Beton
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Ada ist sofort fasziniert von Alev und es entwickelt sich eine Beziehung zwischen den beiden, die eher auf gemeinsamen Überzeugungen und scharfsinniger Distinktion gegenüber den Anderen als auf einer Gefühlsebene basiert. Das Wort Freundschaft wäre fehl am Platze, noch mehr das Wort Liebe. Sexualität wird auf eine merkwürdig indirekte Art zum Thema ihrer Beziehung, da Alev impotent ist und sich damit von Beginn an als realer, erotisch interessierter Partner nicht zur Verfügung stellt. Die Beziehung bleibt so, zum Leidwesen Adas durchaus, überwiegend intellektuell, die begehrenden Körper beider finden nur in Andeutungen zueinander, Sexualität bleibt auf das Imaginäre verwiesen. In vielen Episoden zelebrieren beide ihre eigentümliche Nähe im Modus der Unverbundenheit, so z.B. im morgendlichen Begrüßungsritual: „Während Ada sich langsam näherte, spürte sie jeden einzelnen Beinmuskel als Träger einer ungewöhnlichen Kraft, die ihr auf den leisesten Wink zur Verfügung stand. Obwohl sie ein Lächeln in sich trug, hob sie zur Begrüßung nur eine Braue, weil die Unanfechtbarkeit nicht mehr erlaubte. […] Unterdessen wurden die Küsse, die den Hauptbestandteil des Schauspiels bildeten, nicht wirklich ausgeteilt. Alev streifte Adas Lippen mit den seinen und begann schon zu sprechen, während er sie noch an sich drückte wie einen wiedergefundenen Koffer mit wertvollem Inhalt. Er war begierig aufs Reden, er wollte ihre Ohren, nicht ihren Mund.“ (375f.)
Alev ist derjenige, der das Spiel, das den ganzen weiteren Roman bestimmt entwickelt: Ada soll Smutek in der Turnhalle verführen, Alev filmt die Szene von verstecktem Posten aus, anschließend wird Smutek mit dem Bildmaterial, das auf der Homepage der Schule unter dem Codewort „Spieltrieb“ gespeichert wird, erpresst. Dabei geht es nur in zweiter Linie um Geld und bessere Noten, vielmehr vor allem um die Weiterentwicklung des Spiels: Smutek hat jede Woche wieder in der Turnhalle zu erscheinen und den Geschlechtsakt mit Ada zu vollziehen, Alev genießt die reine Macht. Im Umfeld der wöchentlichen Treffen entwickelt sich zwischen Smutek und Ada eine schwer zu klassifizierende emotionale Beziehung, die von gegenseitiger Zuneigung getragen, wie aber auch von Misstrauen und Nicht-Verstehen immer wieder zurückgestoßen wird. Als Alev dies bemerkt, will er als letzten souveränen Zug das Spiel beenden, woraufhin Smutek, die Ohnmacht nicht länger ertragend, ihn so zusammenschlägt, dass sein Gesicht zertrümmert, vor allem aber das Werkzeug seiner Potenz, seine Zunge, von Alev selbst abgebissen wird.
und auf zerdrücktes Metall. ‚Plötzlich konnte ich mich nicht entscheiden. In Wahrheit gibt es kein Für und Wider, keine Gründe für rechts oder links. Merk dir das, Söhnchen. Was die Menschen täglich ihre Entscheidungen nennen, ist nichts weiter als ein gut einstudiertes Spiel. Es tut mir leid.‘“ (ebd. 179)
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Es kommt zum Gerichtsverfahren, an dessen Ende Alev verurteilt, Smutek freigesprochen wird und an dem Ada lediglich als Zeugin beteiligt ist.3 Der Roman endet mit einem Abschiedsbesuch Adas im Krankenhauszimmer von Alev, den sie absolviert, bevor sie mit Smutek eine Reise Richtung Wien antritt. Die anderen erwachsenen Romanfiguren bleiben relativ blass, sind den Jugendlichen tendenziell unterlegen und geben keinerlei Anlass zur Auseinandersetzung. Adas Mutter leidet an der im Vollzug begriffenen Scheidung und sucht vielmehr die Zuwendung ihrer Tochter als umgekehrt; der Stiefvater hat die Familie, ebenso wie der leibliche Vater lange zuvor, verlassen, es geht nur noch um Geldfragen. Der geschätzte und respektierte Geschichtslehrer Höfi, der Ada und Alev nicht nur intellektuell herausforderte, sondern auch in Skeptizismus und ironischer Denkweise seelenverwandt zu sein schien – wenn die beiden denn in der Lage wären, an die Seele zu glauben – , dieser Höfi begeht einige Tage nach dem Tod seiner schwerkranken Frau Selbstmord und ist verschwunden, bevor das Spiel beginnt. Die anderen Lehrer der Schule, vor allem der Direktor, werden sparsam und nicht selten am Rande der Lächerlichkeit gezeichnet.4 Die Rezensionen sparen nicht mit Kritik an der artifiziellen Konstruiertheit der Handlung wie der Sprache5. Durch die unrealistisch elaborierte Rede, die alle Anklänge an Jugendsprachlichkeit peinlich vermeidet, erschwert der Roman die Möglichkeit zur Identifikation mit den Protagonisten. Ada und Alev sind übermäßig klug, auch in der peinlichsten Situation niemals um eine gestochen scharf formulierte Antwort verlegen, sie sind abgebrüht, unbeteiligt, mit ganz wenigen Ausnahmen ohne jede Leidenschaft. Sie lassen nie3
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Hoch interessant ist die rechtsphilosophische Rahmung des Romans, die ich im Folgenden nicht weiter verfolgen kann. In Parallelität zum amoralischen Nihilismus der Geschichte fragt die im Prolog und im Epilog als Ich-Erzählerin auftauchende Richterin des Prozesses nach der Möglichkeit von Gesetzen, Gerechtigkeit und Urteilsfähigkeit über Angeklagte und Zeugen angesichts der immensen Unsicherheit gegenüber den Kategorien von gut und böse sowie dem Wirklichkeitsstatus der ihr vorliegenden Geschichte. „Der neue Direktor hieß Teuter, war […] klein wie ein Jockey und mit der Stimme von Kermit dem Frosch gesegnet.“ (ebd. 19) Als im Vorstellungsgespräch, welches Ada mit ihrer Mutter vor dem Schulwechsel absolvieren muss, die Rede auf den Grund für Adas Schulverweis kommt, heißt es über ihn: „Die Froschstimme zog sich Gummihandschuhe über und implantierte Adas Untat in einen abstrakt-soziologischen Kontext, in dem sie gut aufgehoben war, beinahe schon einen Sinn ergab und vor allem nicht wieder vorkommen würde. Mit dem professionellen Optimismus eines Arztes redete Teuter von der Herrlichkeit des demokratischen Systems, in dem sie alle lebten und an das es junge Menschen zu gewöhnen galt wie Tiere an die Bedingungen eines kleinen, bequemen Naturreservats.“ (ebd. 20f.) So etwa Anna Kraume in „Die Tageszeitung“ am 6. Oktober 2004 oder Rainer Moritz in der „Neuen Züricher Zeitung“ am 5. Januar 2005.
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manden, auch nicht den Leser oder die Leserin an sich heran. Zudem ist die narrative Struktur des Textes vielfach unterbrochen von argumentativen Passagen, in denen das Geschehen kommentiert, Philosophie betrieben, innere Monologe geführt werden. Immer wieder wird man an Robert Musils Törleß erinnert, der zu der Handlung eine Vielzahl von Parallelen aufweist. So finden wir in Musils Text ebenso eine Internatserzählung, in der sich eine Dreiecksgeschichte abspielt. Auch hier ist der Hauptgegenstand des Romans eine Erpressung mit sexuellen Handlungen, auch hier steht am Ende die physische Katastrophe eines der beteiligten Schüler. Umso auffälliger sind dann aber auch die Unterschiede: Bei Juli Zeh ist nicht ein Schüler, sondern ein Lehrer das Opfer der Erpressung, was zunächst auf eine Umkehrung des Generationenverhältnisses zu verweisen scheint.6 Es handelt sich im Spieltrieb zudem nicht um eine homo-, sondern um eine heterosexuelle Konstellation, und die physische Katastrophe erleidet am Ende nicht das Opfer, sondern der Erpresser selbst, Alev. Vor allem aber ist bei Musil nirgends von einem Spiel die Rede.
Das Leben als Strategiespiel? „‚Spieltrieb‘ ist ein Roman, der die gelangweilten Hedonisten der Popliteratur von der Couch holt und ihnen den Sinn des Satzes DAS LEBEN IST EIN SPIEL neu erklärt“, so heißt es in einer Rezension über den Roman.7 Der Rezensent spielt hier vermutlich auf das hohe Niveau an, auf welchem im Roman das Spiel geplant, erläutert, durchgeführt, immer wieder reflektiert und schließlich beendet wird. Über die Hälfte des Buches verstreicht, bevor das eigentliche Spiel beginnt, großen Raum nehmen die Vorbereitungen, die Planungen und die Auseinandersetzungen zwischen Ada und Alev um einen möglichen Sinn des Spiels ein. Dabei geht zunächst alles von Alev aus, für den nach Abzug alles Nicht-Existenten das Spiel als letzte Daseinsform übrig bleibt: „Nur im Spiel sei dem Mensch echte Freiheit möglich. Das Spielen verpflichte zur Gleichheit, da allen Spielern dieselben Voraussetzungen eingeräumt würden, und verwirkliche außerdem den Gedanken der Rechtssicherheit, weil ein Spiel nur innerhalb der eigenen Regeln stattfinden könne.
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Während im klassisch-modernen Schülerroman meist die Schüler den Schikanen der Lehrer und der Institution Schule ausgesetzt sind, stellen die Protagonisten in Spieltrieb diese Konstellation auf den Kopf. Erst eine nähere Betrachtung zeigt, dass der Lehrer Smutek im Gehorchen durchaus Freiheitsspielräume gewinnt (s.u.) Vgl. Rhein-Neckar-Zeitung vom 17.12.2004
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‚Freiheit, Gleichheit, Rechtssicherheit‘, lallte Alev. ‚Das Spiel ist der Inbegriff demokratischer Lebensart. Es ist die letzte uns verbliebene Seinsform. Der Spieltrieb ersetzt die Religiosität, beherrscht die Börse, die Politik, die Gerichtssäle, die Pressewelt, und er ist es, der uns seit Gottes Tod mental am Leben erhält.‘ ‚Das also bist du‘, sagte Ada auf Alevs Oberschenkel. ‚Spieler.‘“ (Ebd. 260)
In diesem Sinne des Freiheitsgewinns, der auch für Smutek gelte, begegnet Alev den leisen moralischen Zweifeln, die Ada zunächst vorbringt. Nur in echten, von Sanktionen bedrohten Entscheidungssituationen könne der Mensch zur Freiheit finden. Alev greift bei der Planung und Begründung des Erpressungsspiels auf die Spieltheorie zurück, die in erziehungswissenschaftlichen Kontexten eher selten anzutreffen ist und daher einer kurzen Erläuterung bedarf.
Exkurs zur Spieltheorie Die Spieltheorie stammt aus der Mathematik und wurde fruchtbar gemacht für die Wirtschaftswissenschaften. Sie modelliert Entscheidungssituationen zwischen Menschen in zum Teil unvorhersehbaren Settings. Die Spieltheorie betrachtet das ganze Geschehen der Welt als ein großes Spiel, das nach bestimmten Gesetzen oder Regeln funktioniert. Die Regeln sind dabei so beschaffen, dass jedes Individuum den größtmöglichen Ertrag erzielt, jeder versucht, schlauer zu sein als der andere, versucht ihn einzuschätzen, seine Strategie zu durchschauen und in jedem eigenen Spielzug den Gegner zu treffen. Sie geht also zunächst von Individuen aus, die gegeneinander spielen. Auch Kooperationsstrategien entwickeln sich nach diesem rationalen, auf größtmöglichen Eigennutz zielenden Prinzip eines radikalen Pragmatismus. Das berühmteste Beispiel zur Illustrierung der Grundlagen der Spieltheorie ist das Gefangenendilemma, das Lucie und Raifa (zit. nach Holler/Illing 2003: 2) wie folgt beschreiben: „Zwei Verdächtige werden in Einzelhaft genommen. Der Staatsanwalt ist sich sicher, dass sie beide eines schweren Verbrechens schuldig sind, doch verfügt er über keine ausreichenden Beweise, um sie vor Gericht zu überführen. Er weist jeden Verdächtigen darauf hin, dass er zwei Möglichkeiten hat: das Verbrechen zu gestehen oder aber nicht zu gestehen. Wenn beide nicht gestehen, dann wird er sie wegen ein paar minderer Delikte […] anklagen, und sie werden eine geringe Strafe bekommen. Wenn beide gestehen, werden sie zusammen angeklagt, aber er wird nicht die Höchststrafe beantragen. Macht einer ein Geständnis, der andere jedoch nicht, so wird der Geständige nach kurzer Zeit freigelassen, während der andere die Höchststrafe erhält.“
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In einem Schema dargestellt zeigt sich die Entscheidungssituation folgendermaßen: Abbildung 1: Beispiel Spieltheorie Spieler 2 Spieler 1
Nicht gestehen
gestehen
Nicht gestehen
1 Jahr für 1 1 Jahr für 2
10 Jahre für 1 3 Monate für 2
gestehen
3 Monate für 1 10 Jahre für 2
8 Jahre für 1 8 Jahre für 2
Das Dilemma besteht darin, dass zwar beide wissen, dass es am vorteilhaftesten wäre, nicht zu gestehen. Da man sich aber auf den anderen nicht verlassen kann, und man sich im Falle des Nicht-Gestehens bei gleichzeitigem Gestehen des Gegenspielers die Höchststrafe einhandeln würde, gestehen beide und erzielen damit ein suboptimales Ergebnis, nämlich eine mittlere Haftdauer; das Gefangenendilemma stellt ein berühmtes Beispiel dar für die ineffizienten Auszahlungsergebnisse bei nicht-kooperativen Spielen. Kooperation ist in der Regel effizienter, lohnt sich aber erst bei dynamischen, d.h. in der Zeit verlaufenden Spielen, da es sonst keine Veranlassung gibt, sich an abgesprochene Kooperationen auch zu halten. Die Spieltheorie untersucht also menschliche Entscheidungsstrategien und unterstellt dabei zunächst den restlos rationalen homo oeconomicus, findet aber in ihrer weiteren Entwicklung (in der zweiten Hälfte des 20. Jh.) mehr und mehr Zugang zu den nicht rational verfügbaren Dimensionen sozialen Verhaltens, vor allem in kooperativen Beziehungen und wird so auch für die Sozialwissenschaften, sowie als mathematische Modellierung evolutiver Prozesse interessant (vgl. Holler/Illing 2003). Das Spiel, das sich zwischen Alev, Ada und Smutek entwickelt, wird auf Grundlage dieser spieltheoretischen Prinzipien entworfen und eine Zeit lang auch gespielt. Auf das Gefangenendilemma wird mehrmals Bezug genommen8, ebenso auf wichtige Bücher der Spieltheorie, die Alev Ada zu lesen gibt, um sie dann zu diskutieren. Alev und Ada versuchen, mit Hilfe ihrer scharfen Intelligenz eine Spielwelt zu erschaffen, in der sie das Feld und die 8
So Ada, als sie versucht, das Spiel zu beenden, Alev sie aber nicht lässt: „Unser kleines Gesellschaftsspiel läuft stabil in vorausberechneter Bahn. Du erscheinst Freitag zur gewohnten Zeit am gewohnten Ort. Ich muss dich nicht daran erinnern, dass du genau wie Smutek meinem Grabesschweigen Dank schuldest.“ (Zeh 2004: 478) Ada resumiert daraufhin: „Sie selbst hatte die wahren Verhältnisse von Anfang an erkannt und geflissentlich missachtet: Das Dilemma umfasste zwei, nicht nur einen Gefangenen.“ (ebd.)
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Regeln bestimmen, die Spieler positionieren und den Verlauf exakt vorausbestimmen können. Natürlich kann das nicht lange gut gehen. Die Brisanz des Spiels besteht darin, dass eben die Ausgangspositionen für alle Beteiligten nicht die gleichen sind, und dass der Gegenstand des Spiels eben nicht in rational zugänglichen Strategiezügen, sondern im intimen Akt zwischen zwei Menschen besteht. So wird Ada zwar als Partnerin von Alev benannt und als solche in seine Pläne einbezogen, zugleich aber ist sie auch seine Figur auf dem Spielfeld, die ebenso zu gehorchen hat wie Smutek. Dieser hat, als Opfer der Erpressung von vornherein über keine Regel mit abzustimmen, sondern zu Beginn lediglich die Wahl zwischen ‚spielen‘ oder ‚nicht-spielen‘. Dass er sich für ‚spielen‘ entscheidet, hängt wesentlich mit seiner schon länger empfundenen Zuneigung zu Ada zusammen und eben diese Zuneigung wird den vorausberechneten Verlauf des Spiels ja letztlich empfindlich stören. Allerdings kann man aus Sicht eines kulturwissenschaftlichen Spielbegriffs bereits hier Zweifel darüber äußern, ob Smutek überhaupt ein Spieler zu nennen ist, denn „alles Spiel“, so Huizinga (1956: 15), „ist zunächst und vor allem ein freies Handeln. Befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr“. Smutek gelangt allerdings aus der Opferrolle der unfreien Position heraus in dem Maße, wie er Gefallen an dem Spiel findet, sich selbst zum Spieler entwickelt, der irgendwann auch beginnt, strategisch mitzudenken und zu handeln.
Der Spielverlauf Zunächst läuft alles nach Plan. Ada und Alev treten gegen Smutek an, dieser tut alles, was von ihm verlangt wird: Geld, bessere Deutschnoten für Alev, vor allem aber die wöchentliche Wiederholung des Treffens. Nach dem vierten Treffen aber verändert sich etwas. Ada reflektiert darüber: „Jedenfalls war plötzlich etwas zwischen ihnen gewesen, das sich einer beidseitig schiefen Ebene vergleichen ließ, über die sie langsam aufeinander zurutschten. Bislang hatte das Spiel aus zwei Achsen bestanden, von denen eine zwischen Ada und Alev, die andere zwischen Alev und Smutek verlief. Die Aussicht, es könne sich etwas Drittes entwickeln, das Ada selbst noch nicht verstand, brachte ihr Zwerchfell zum Kribbeln.“ ( Zeh 2004: 388f.)
Eine weitere Veränderung tritt ein in dem Moment, in dem Ada von Smutek Geld, nämlich ihr Schulgeld, über das die im Scheidungskrieg befindlichen Eltern gerade streiten und es solange nicht zahlen, fordert. Smutek bemerkt, dass Alev davon nichts weiß: „Da war ein Riß, ein haarfeiner Spalt zwischen
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Alev und Ada, in den ein Keil gesetzt werden konnte, um mit kräftigem Schlag die beiden Hälften zu spalten.“ (Ebd. 418) Ada rückt ein Stück ab von Alev und sie wird dadurch empfänglich für andere Stimmen, andere Ansichten, auf die sie bisher immer nur mit spöttischer Ironie herabgesehen hat, unbeteiligt und unberührbar. Der feine Riss zwischen Ada und Alev entsteht auch durch das immer klarere Wissen Adas, dass sie in Alevs Augen tatsächlich nur eine Spielfigur, dass sie die zweite Gefangene, und nicht Assistentin des Richters ist, während sie gleichzeitig im besseren Kennenlernen Smuteks tatsächlich eine Welt jenseits des Spielfeldes zu entdecken beginnt. Es sind die Gespräche zwischen Ada und Smutek, die jetzt mehr Raum einnehmen und das Spiel seiner Wende entgegenführen. Smutek greift Adas scheinbar gleichgültige Haltung an: „Geht es wieder um das ewige Thema? Um die Überlegenheit einer Post-Aufgeklärten gegenüber dem altmodischen Idealisten? Willst Du wissen, worin deine Verblendung besteht? Du meinst, der horror vacui sei deine persönliche Erfindung. Was dir so endgültig erscheint wie ein Knick in der Geistesgeschichte, hat jeder kluge Mensch durchlitten. Es handelt sich um einen Ausgangspunkt, nicht um den Endpunkt des Denkens. […] Dein Problem, brüllte er […] ist, dass du das allgemeine NICHTS mit deiner persönlichen LEERE verwechselst.“ (Ebd. 429f.)
Allmählich beginnt Smutek zu ahnen oder zumindest zu hoffen, dass es neben der kalten, abgeklärten, zynischen, scheinbar erwachsenen Ada auch ein ganz normales 15-jähriges Mädchen gibt, und in dieses Bild, das er in einer der zahlreichen schlaflosen Nächte am Fenster stehend vor sich sieht, verliebt er sich. Er findet die Lösung, zunächst nur theoretisch bzw. strategisch. Diese Art des Reflektierens zeigt aber zugleich auch, wie Smutek sich allmählich vom gehorchenden Opfer der Erpressung zum Mitspieler wandelt, von der Passivität in die Aktivität übergeht: „Die einzige Chance zum Vermeiden eines unvermeidlichen Endes besteht in der Hoffnung, Ada werde sich versehentlich in Smutek verlieben. […] An der schwarzen Scheibe […] konnte er den passenden Ausdruck auf Adas Gesicht vor sich sehen […] ein weiches Zergehen, das die Rückkehr ihres wahren Alters ankündigte, ein leiser Triumphzug der verletzlichen Fünfzehnjährigkeit, erfüllt von jenem sehnsuchtsvollen Flehen um Zuneigung, Nähe und Wärme, das doch in Smuteks Weltbild geheimer Kern allen menschlichen Verhaltens war.“ (Ebd. 494)
Obwohl Ada bis zum Schluss einiges unternimmt, um sich gegen dieses Bild, das die bisher geleugnete Differenz zwischen Spiel und Wirklichkeit behaupten würde, zu wehren, kommt sie doch an den Punkt, wo sie aussteigen, das 187
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Spiel von sich aus beenden will. Es gibt nun neben den Gesprächen mit Smutek in der Turnhalle auch Treffen außerhalb des Spielfeldes, von denen Alev nichts weiß. Damit kündigt sie die kooperative Beziehung zu Alev auf und macht ihn sich sofort zum Gegner. Alev seinerseits versucht nun, engeren Kooperationen zwischen Ada und Smutek zuvorzukommen, indem er das Ende des Spiels verkündet, muss aber in dem Moment erfahren, dass er nicht mehr Herrscher über das Geschehen ist. Die explizite wie implizite Bezugnahme auf eine Theorie des strategischen Spiels, bei dem es allein darum geht, den anderen zu besiegen und dabei selber voranzukommen, lese ich als die Fiktion eines auf die Spitze getriebenen Pragmatismus als erstem Handlungsprinzip. Zunächst scheint es hier eine Übereinstimmung mit den Befunden der jüngeren empirischen Forschung über Jugendliche zu geben. So bescheinigt die 14. Shell-Studie (2002) der Jugendgeneration um die Jahrtausendwende im Vergleich zur vorangegangenen Generation generell einen stärker ausgeprägten Pragmatismus. Entscheidungen über Engagement werden durchaus daran orientiert, was – persönlich, beruflich oder auch finanziell – „dabei herausspringt“.9 Allerdings ist der Pragmatismus bei den Jugendlichen der Shell-Studie immerhin in einem Viertel noch gepaart mit einem an gesellschaftlichen Themen interessierten Idealismus, in einem weiteren Viertel eingebettet in die Überzeugung, für die gemeinsamen Zukunftsaufgaben Verantwortung übernehmen zu müssen und zu können. Den Jugendlichen des vorliegenden Romans hingegen fehlt dieser Bezug auf soziale Verbindlichkeiten zunächst völlig. Wenn alles nur ein Spiel ist, bedarf es nicht des korrigierenden Regelwerkes der Sozialität, dann kann sich jeder seine Spielregeln selbst entwerfen.
Das Spiel in erziehungswissenschaftlicher Sicht Die klassischen pädagogischen Spieltheorien nähren sich davon, dass sich das Spiel als Figur immer vor dem (Hinter-)Grund seiner Opposition, des Anderen des Spiels abhebt. Sei es das Spielen gegenüber dem Lernen in Kindergarten und Schule, das Spiel gegenüber dem Ernst, gegenüber der Arbeit, oder das ästhetische Spiel der Künste gegenüber den pragmatischen Zwängen des Alltags. In diesen Figur-Grund-Konstellationen wird seit Beginn der Moderne in der Regel der Bildungssinn des Spiels immer wieder hervorgehoben und 9
Vgl. Deutsche Shell (2002: 18): „Im Unterschied zu den 80er Jahren nehmen Jugendliche heute eine stärker pragmatische Haltung ein. Sie wollen praktische Probleme in Angriff nehmen, die aus ihrer Sicht mit persönlichen Chancen verbunden sind. Übergreifende Ziele der Gesellschaftsreform oder der Ökologie stehen hingegen nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der meisten Jugendlichen.“
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die Tätigkeit des Spielens erfährt in den unterschiedlichsten Kontexten im Allgemeinen eine hohe Wertschätzung. Pädagogik ist es gewohnt, im Spiel – besonders im Kinderspiel – dessen Potentialität für die kindliche Entwicklung zu beschreiben und zu deuten, sei es in kognitivistischer Absicht als Motor der Intelligenzentwicklung (Piaget), in psychoanalytischer Absicht als produktiver Modus der Verarbeitung von Ohnmachtserfahrungen (Freud), in ästhetisch-idealistischer Absicht als Feld der Freiheitserfahrung (Schiller) oder in kulturtheoretischer Absicht als eine Grundlage und Quelle einer jeden kulturellen Leistung (Huizinga).10 Auch in der Jugendforschung, namentlich der Jugendkulturforschung, gibt es zahlreiche Studien, die die ludischen Elemente jugendlicher Lebensweltgestaltung als wesentliche und notwendige Tätigkeiten der Stilbildung, der Auseinandersetzung mit symbolischen Beständen der Kultur, der „symbolischen Kreativität“ (Willis 1991) untersucht haben (vgl. Wulf u.a. 2001; Wulf/ Zierfas 2007; King 2001; Neumann-Braun/Richard 2005). Auch diese Interpretationen lesen das Spiel immer vor dem Hintergrund des Nicht-Spiels, in das der Spieler nach Beendigung des Spiels zurückkehrt – in der Regel durch das Spiel für das Nicht-Spiel in irgendeiner Weise bereichert. All diese das Spiel erst hervorbringenden Realitäten oder Gründe werden im Spieltrieb suspendiert. Der entscheidende Unterschied zu anderen jugendlichen Spielszenen ist daher der, dass es sich nicht nur um ein Spiel im Sinne einer Spielerei im Modus des Unernsten handelt, sondern dass in der Schwebe gehalten wird, ob es eigentlich noch etwas anderes als das Spiel gibt. So beginnt und endet der Roman mit den Sätzen: „Der blaue Himmel ist zum farbigen Deckel einer Spielesammlung geworden. Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. Wenn nicht, erst recht.“ (Zeh 2004: 10, 559) Dem Spiel fehlt die Kontrastfolie einer außerhalb existierenden Wirklichkeit, alle Figuren des Romans, Adas Mutter, ihr Stiefvater, der frühere Freund Olaf, selbst der Direktor der Schule werden an irgendeiner Stelle des Romans zum Spielball in Adas oder Alevs Regieführung, werden in diesem Sinne nicht ernst genommen. Dem Spiel fehlt ferner und vor allem die Kontrastfolie der Moralität. Während sich z.B. Schillers Begriff vom Spiel und Spieltrieb dadurch auszeichnet, dass in ihm Moralität suspendiert ist, das Spiel aber gleichwohl letztendlich dem Ziel der Rückkehr zur Moralität verpflichtet bleibt,11 begeg10 Vgl. zusammenfassend hierzu Scheuerl 1997 11 Vgl. in Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen: „Der Übergang von dem leidenden Zustande des Empfindens zu dem tätigen des Denkens geschieht also nicht anders als durch einen mittleren Zustand ästhetischer Freiheit [...]. Mit einem Wort: es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.“ (Schiller 1965, 23. Brief: 93)
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net uns in Juli Zehs Roman die Moralität nicht als zeitweise suspendiert und probehalber produktiv in Frage gestellt, sondern als dauerhaft negiert.12 In der Tradition einer Bildungstheorie, die das Spiel immer auf das NichtSpiel bezieht und aus diesen Gegenüberstellungen erst den Bildungssinn des jeweiligen Spiels erklären kann, wird es schwer, das Romangeschehen zu interpretieren. Einer Vorliebe für das noch regelfreie Spiel der Kinder und Jugendlichen (play) auf pädagogischer Seite steht das streng rationale Regelwerk der Spieltheorie (game) in diesem Roman gegenüber. Das im Spieltrieb gezeichnete Spiel kann erziehungswissenschaftliches Denken dazu inspirieren, einem vielleicht allzu optimistischen Begriff des Spiels diese andere Seite hinzuzufügen: Ein Spiel, das sich weder auf eine ernst genommene Wirklichkeit, noch eine Welt der Regeln und moralischen Übereinkünfte bezieht, kann destruktive Kräfte freisetzen und entwickeln, deren Dynamik sich von keinem Standpunkt „außerhalb“ mehr aufhalten lässt. Dennoch ist es für die Jugendlichen auf eine sehr ernst zu nehmende Weise wirklich.
Die Wirkung des Spiels auf Ada Trotz allem kann man diesen Roman, wenn auch widerständig, noch als einen Bildungsroman lesen. Die Radikalität des Spiels, dem, wie oben gezeigt, alle Momente von Ausgewogenheit zwischen Spiel und Ernst, zwischen Spielsphäre und moralischer Sphäre fehlen, liegt darin, dass der Spielgegenstand des sexuellen Aktes in denkbar stärkstem Kontrast zum strategischen Denken der Spieltheorie steht. Dies zwingt Ada dazu, sich jedenfalls in Ansätzen von ihrem radikalen Nihilismus zu verabschieden, vor allem dort, wo er sie selbst betrifft. Ada macht, ohne es zu wollen, indem sie sich dem Spiel zunächst ziemlich unambitioniert überlässt, eine Entwicklung durch. Von der am eigenen Leben sowie erst recht an dem der anderen unbeteiligten Dritten wandelt sie sich zu derjenigen, die ihr Leben in die Hand nimmt; von der „Dulderin“
12 Man muss hier allerdings zwei Ebenen unterscheiden. Während in den von den Jugendlichen geführten Diskursen diese Negierung von Sinn und Moralität immer wieder expliziert wird, zeigt sich auf der Handlungsebene durchaus eine Auseinandersetzung mit moralischen Fragen, die besonders Ada beschäftigen. So zeigt sich etwa nach Olafs Entjungferung, die sie ziemlich cool vollzogen hat, doch die Gefahr der Entstehung eines schlechten Gewissens durch Erinnerungsbilder, die sie nicht los wird: „Mehr als alle Fragen verfolgte Ada in Wahrheit der Gedanke an Olafs Blick im entscheidenden Moment des Begreifens. Er hatte sie angesehen mit den Augen eines Tieres, das von der Hand seines geliebten Herrn niedergestochen wird, nachdem es ihm treu und vertrauensvoll auf die Schlachtbank gefolgt ist. Das Bild […] belästigte Ada mehrmals täglich mit seiner Wiederkehr. Es verlangte, eine echte Erinnerung zu werden.“ (Zeh 2004: 115)
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der von Alev geplanten Spielverläufe wandelt sie sich zum 16-jährigen Mädchen, das in Kontakt zu ihrem Körper, zur Sexualität, zum Mann tritt. Zunächst verfolgt und betreibt sie das Spiel in Übereinstimmung mit ihrem Selbstverständnis einer Unbeteiligten: „Das Geheimnis bestand darin, nichts weiter zu tun, als jene Fähigkeit zu genießen, mit der die Natur sie am großzügigsten ausgestattet hatte: die Gleichgültigkeit der eigenen Existenz gegenüber.“ (Ebd. 374) Ada sieht sich selber zu beim Leben und erfährt Befriedigung durch eine auf Dauer gestellte exzentrische Positionalität. Sie hält sich „weniger für ein Einzelwesen als für ein Zeitgeistdestillat. Wenn sie vor anderen agierte und sprach, kam es ihr vor, als präsentiere sie einen Prototypen, dazu geschaffen, den Schwellenmenschen vor Augen zu führen, welches nächste Etappenziel die Evolution ansteuerte, so unausweichlich, dass Pessimismus und Depression nicht mehr Bedeutung besaßen als ein modisches Hobby. Auf diese Weise war jeder Tag eine Darbietung, jede Begegnung kalt und sinnvoll, als befände sich die Glaswand einer Vitrine zwischen Ada und dem Rest der Welt.“ (Ebd. 375)
In dieser Vitrine fühlt sie sich unanfechtbar und geschützt, vor den potentiellen Anfeindungen und Erwartungen Anderer ebenso wie vor der Zumutung der Individuierung. Wie immer das Spiel sich entwickeln wird, es wird ihr gleichgültig bleiben. In dieser Überzeugung erlebt sie die Monate des Spiels zunächst als die schönsten in ihrem bisherigen Leben und beschreibt damit eine paradoxe Struktur: In die Unberührbarkeit und Gleichgültigkeit bricht herein eine Erfahrung von Intensität und Glücksgefühl, die ihr sowohl fremd als auch hoch willkommen ist. „Ob es an Alev lag, der unverhohlen ihre Nähe suchte, an Smutek, den sie in Einzelheiten zu kennen begann wie ein Forscher seinen Untersuchungsgegenstand, oder an einer jener zufälligen Umstellungen der Körperchemie, die für einen beachtlichen Teil des menschlichen Glücks und Unglücks verantwortlich sind, während die Betroffenen gern von Schicksalswenden sprechen – das war nicht gewiss.“ (Ebd. 374)
Gewiss ist nur, dass Ada in diesem Spiel, in dem sie Gefangene, Spielerin, Figur, Kooperierende zunächst mit Alev, dann mit Smutek, aber sicher nicht unabhängig Agierende ist, ihre eigene Entwicklung in Gang setzt. Die erlebte Fähigkeit zu einer neuen Art von Genuss, der kein sexueller, kein intellektueller, sondern eher ein beides verbindender aisthetisch-ästhetischer zu sein scheint, ist hiervon der Ausgangspunkt. Wäre dieser Prozess nicht immer wieder ironisch gebrochen von ihrem Zynismus, den sie keineswegs ablegt, käme dabei beinahe eine Art kitschige Mädchen- oder Märchengestalt heraus, ein Dornröschen, das vom Prinzen nach langer Gefühls-Taubheit wach geküsst wird. 191
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Ada erschafft sich in der allmählichen Hinwendung zu Smutek allererst die Welt, auf die das Spiel zu beziehen wäre. In dem Moment, wo ihr dies gelingt aber wird es überflüssig. Ada kommt an den Punkt, an dem sie die Spielfigur Smutek gegen den echten Smutek eintauschen möchte und an dem sie selber auch den Zustand der Spielfigur aufgeben möchte. Sie strebt danach, die paradoxe Struktur des Spiels, in dem ein Phänomen wie das sexuelle Beisammensein immer wahr und unwahr zugleich ist, aufzulösen (vgl. Gebauer 1997). Erst jetzt kann für sie die Dimension der Zukunft Gestalt gewinnen: Ada macht Andeutungen, dass sie in Smuteks Wohnung einziehen, mit ihm zusammen leben möchte. Das Ende des Buches deutet darauf hin, dass dieser Wandel vollzogen wurde – allerdings zu einem enorm hohen Preis. Nicht nur werden Smuteks Ehe und Karriere dabei zerstört, auch der Spielerfinder Alev muss mit Sprach- und Zukunftslosigkeit bezahlen. Er bleibt, der er ist, stark verletzt, als eine traurige Gestalt im Krankenzimmer zurück.
Adoleszenz nach dem Ende der Moderne: Verlust und Notwendigkeit des generativen Gefüges Fokussieren wir die Vielzahl von bisher erwähnten Motiven und Figuren noch einmal auf den eingangs formulierten zeitdiagnostischen Befund, dass in diesem Roman die moderne Figur von Jugend sowohl durch den Gang der Handlung, als auch explizit, in argumentativen Einschüben, weitgehend aufgegeben wird. Vieles von dem, was wir spätestens seit Rousseau zur „historisch wirksamen Denkfigur Jugend“ (Andresen 2005) zählen, wird hier als Entwicklungsaufgabe oder, bescheidener, als Lebensthema abgelehnt: Die beiden jugendlichen Protagonisten tun alles, um ihr Leben als unabhängig von den durch Triebschüben hervorgerufenen Leidenschaften zu gestalten; ganz offensichtlich anerkennen sie weder die Aufgabe der Konturierung einer sexuellen Identität noch die der generativen Transformation vom abhängigen zum sorgenden Gesellschaftsmitglied. Alev entledigt sich von Anfang an durch Impotenz, Ada bringt all ihre intellektuelle Kraft auf, um sich von unübersehbaren Anzeichen des Verliebtseins zu befreien. „Es ärgerte sie, dass jeder neutrale Beobachter, sie selbst eingeschlossen, die klassischen Symptome der ersten Großen Liebe an ihr diagnostizieren musste. […] So nicht, so keinesfalls. Jede große Liebe nahm sich selber ernst, war anders als die Vorurteile versprachen, war schädlich, gesundheitsbedrohend oder Schlimmeres. Und Ada wusste, die höchstmögliche Stufe paradoxer Erkenntnis erklimmend, dass die Große Liebe genau in diesem Anderssein alle Kriterien des Schemas erfüllte. Aber auch wenn im Zeitalter der Zitate die Wirklichkeit längst angefangen hatte, ihrer Abbilder zu kopieren; […] wenn inzwischen alles als etwas identifizierbar war
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und man beim Herumirren im Spiegelkabinett nur noch zufällig über wirkliches stolperte, sich die Zehen blutig stieß und ausrief: Nanu, das war kein Zitat, das lag im Weg!; […] – was Ada erlebte, war dennoch anders. Es war nicht die Große Liebe.“ (Zeh 2004: 136f.)
Die Ablösung vom Elternhaus, sofern es ein Elternhaus überhaupt gibt und nicht lediglich einen temporären Bau, in dem mal die eine, mal die andere Zwei-Generationen-Konstellation zusammenkommt, ist bereits vollzogen, als der Roman beginnt. Auch die Umgestaltung der Mutter-Tochter-Beziehung13, die für Mädchen an die Stelle der Trennung oder Lösung tritt, ist für Ada ganz offenbar kein Thema. Ebenso verhält es sich mit Mädchenfreundschaften, die in der Literatur zur weiblichen Adoleszenz immer wieder als wichtiger Raum für Entwicklungsmöglichkeiten beschrieben werden (vgl. Flaake/John 1998; Breitenbach 2000). Ada hat keine einzige Freundin, ihre Entwicklung sucht radikal andere Räume auf. Am nachhaltigsten irritieren könnte uns aber ein letzter Aspekt, der die hier dargestellte generative Ordnung aufgreift. Die Jugendlichen zeichnen sich einerseits als Schwellenwesen zu einer neuen Epoche, vermeiden aber andererseits jede ernsthafte Auseinandersetzung mit Zukunftsentwürfen, so dass die Notwendigkeit des Neuen zwar abstrakt benannt wird, dieses aber als Leerstelle zu füllen dem Leser und der Leserin überlassen bleibt. Es verbietet sich, diesen zum Amoralismus tendierenden Nihilismus als eine Form jugendlicher Rebellion gegen die moralischen Vorstellungen der Erwachsenengeneration zu verstehen, denn er wird so fertig, so abgeklärt, bar jeder rebellischen Engagiertheit geschildert. Die Gespräche zwischen Ada und Alev sind häufig eingebettet in Szenen, in denen Lässigkeit, ja Müdigkeit die Atmosphäre bestimmen. Die Akteure liegen z.B. telefonierend im Bett oder hängen irgendwo herum, bekifft, schläfrig: zur Rebellion fehlt jede Hitze, fehlt vor allem auch jeder Gegenentwurf. Ada und Alev vertreten beide die Ansicht, dass das, was geschieht, zwar von ihnen gewollt ist, aber weder einer Begründung noch einem Ziel folgt, sondern gegenüber allem, was stattdessen hätte geschehen können, die gleiche Gültigkeit besitzt. Dies wird verständlich vor dem Hintergrund, dass sich den narzisstischen Größenphantasien von Ada und Alev bis zum Ende der ersten Spielphase kein Korrektiv entgegenstellt. Weder die Peers, noch die Lehrer, am wenigsten die Eltern muten den beiden Protagonisten die Ausformulierung dessen zu, was
13 In den Forschungen um Carol Gilligan wurde dieses Thema breit diskutiert. In Ergänzung der auf männliche Jugendliche hin formulierten Entwicklungsaufgabe eines Ablösungsvollzugs vom Elternhaus verbunden mit dem Streben nach einer von Autonomie bestimmten Individuation wurde dort für Mädchen komplexere Konstellationen gefunden, die eine Verbindung von Lösungs- und Bindungsbestrebungen beinhalten (vgl. Flaake/King 1998).
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denn neu sein könnte an der eigenen Zukunft. Den von beiden so sehr respektierten Geschichtslehrer Höfi bewundern sie, weil er ihnen als einziger die Unzulänglichkeit ihres Gedankengebäudes zu spiegeln vermag, ohne es dabei abzuwerten. Auf die Entstrukturierung folgt jetzt die scheinbare Umkehrung des Generationenverhältnisses in dem erpresserischen Spiel, in welchem der Lehrer den Schülern ausgeliefert ist statt umgekehrt. Diese Umkehrung ist aber keine beliebige postmoderne Formel, sondern sie fungiert als künstliche Erschaffung jenes konturierten erwachsenen Gegenübers, dessen beide so dringend bedürfen: Somit zeigt der Roman nicht Momente struktureller Gewalt auf (vgl. Klauen 1997: 89), sondern er gibt der Gewalt allererst eine Struktur. Was Ada und Alev in diesen absurden Treffen in der Turnhalle von Smutek erpressen, ist dessen im Alltag verborgene Fähigkeit, Stellung zu beziehen, eine Position der Engagiertheit, der Moralität und der verbindlichen Beziehungsgestaltung einzunehmen. Im durch Zwang aufrecht erhaltenen Spiel lassen sie überhaupt ein Generationenverhältnis erst entstehen, das ihnen sonst abhanden gekommen ist. Nach dem zweiten Treffen sprechen Ada und Smutek in der Umkleidekabine miteinander: [Smutek] „Du verstehst nicht […] ich bin nicht so wie ihr. [Ada] Wo liegt der Unterschied? Wahrscheinlich darin, dass ich etwas zu verlieren habe. Ach, sagte sie, einen Job? Eine Frau? Auch. […] Vor allem einen Glauben. An Gott? Nicht direkt. An mich selbst. An das Leben. Daran, dass es möglich ist, dich oder mich zu verletzen. Ihr hingegen glaubt nur, dass es nichts gibt, an das man glauben kann.“ (Zeh 2004:355f.)
Auf der anderen Seite beschert das Spiel aber auch Smutek, dem Vertreter der Erwachsenengeneration, die Möglichkeit der Selbstreflexion und Entwicklung. Wie folgt beschreibt er für sich die Jugendlichen: „Diese jungen Menschen hatten keine Wünsche, keine Überzeugungen, geschweige denn Ideale, sie strebten keinen bestimmten Beruf an, wollten weder politischen Einfluss noch eine glückliche Familie, keine Kinder, keine Haustiere und keine Heimat, und sehnten sich ebenso wenig nach Abenteuern und Revolten wie nach der Ruhe und dem Frieden des Althergebrachten. […] Hobbys zum Totschlagen der Zeit waren überflüssig, da die Zeit auch von selbst verging. Fernsehen war langweilig, die Literaturszene tot und im Kino liefen seit Jahren nur Varianten auf drei oder vier verschiedene Filme. Discotheken waren etwas für Liebhaber von Dummheit und schlechter Musik, und auf Schostakowitsch konnte man nicht tanzen. Diese Jugend hatte aufgehört, sich für industriell geschneiderte Moden, Identitäten, Heldenfiguren und Feindbilder zu interessieren. Weniger als jede Generation vor ihr bildete sie eine
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Generation. Sie war einfach da, die Sippschaft eines interimistischen Zeitalters. Wenigstens, dachte Smutek, wenigstens marschieren sie nicht mehr. Oder noch nicht. Gelegentlich hat er sich gefragt, woraus diese Überlebenden der Postmoderne Kraft und Antrieb schöpften. Die Antwort darauf schien das Vorglühen einer neuen Epoche zu sein.“ (Ebd. 348)
Das interimistische Zeitalter, das Vorglühen einer neuen Epoche, das sind die Vokabeln des altmodernen Smutek, der sich offenbar Jugend ohne einen Zukunftsentwurf nicht denken kann. Und vielleicht ist auch nur dies das Neue, dass die jungen Alten, jedenfalls nicht mehr jugendlichen 40-60-Jährigen im Blick auf die Jugendlichen selbst noch einmal eigene Entwürfe reflektieren und erneuern. Denn neben Ada ist es ja vor allem Smutek, der als ein Veränderter aus der Geschichte hervorgeht, der sein bisheriges Leben (Ehe und Beruf) aufgibt und neu beginnen muss, während für Ada tatsächlich noch alles offen bleiben kann. Im durchaus misslingenden Interpretieren der jugendlichen Handlungsweisen findet Smutek selbst neue Sinnzuschreibungen seines eigenen Lebens. Und so wirft, wie stets, die Gestalt der Jugend ihr Licht zurück auf die Generation, die sie je ko-konstruiert.
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»Wenns soweit ist«. Adoleszenz, Vertrauen und Verantwortung im Werk Ulrich Peltzers MICHA BRUMLIK
Unstetes Alter, unsteter Begriff Pubertät und Adoleszenz sind ebenso wenig einander gleichzusetzen wie Kindheit und Alter – ganz zu schweigen von jener Lebensphase, die wir gemeinhin als „Erwachsenenalter“ bezeichnen. So lassen sich für Kindheit und Pubertät wenigstens noch eindeutige biologische Marker als notwendige biologische Bedingungen ihres Eintretens benennen: nämlich die Geburt sowie jene hormonellen Prozesse, die Zeugungs- und Empfängnisfähigkeit und damit die Möglichkeit der Fortpflanzung einleiten – Marker, die sich so für den Eintritt ins Erwachsenenalter wie auch in den Lebensabschnitt des Alters oder der Hochbetagten nicht nachweisen lassen. Das weibliche Klimakterium wie das auch von Andrologen heftig umstrittene männliche Klimakterium – also das Ende des Heranreifens neuer Eizellen und das kontinuierliche Abnehmen der Produktion von Spermatozoen im männlichen Körper seit dem vierten Lebensjahrzehnt – sind ihrerseits durch ein mehr oder weniger, aber nicht mehr wie beim Eintritt in die Pubertät durch ein Vorhandensein oder Nichtvorhandensein biologischer Gegebenheiten gekennzeichnet. So sehr also strittig sein mag, ob es Kindheit oder Jugend in einem essentialistisch biologischen Sinne „gibt“, so unstrittig dürfte es sein, dass von „Pubertät“ vor dem Eintreten der Geschlechtsreife ebenso wenig die Rede sein kann wie von Jugend. Spätestens im Fall von „Jugend“ und „Erwachsenenalter“ lassen sich dann überhaupt keine biologischen, sondern nur noch je kulturspezifisch geprägte kulturelle, symbolische oder soziale Marker angeben – eine Entwick-
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lung, die sich spätestens mit jener künstlerischen Epoche, die von ihren Protagonisten von Anfang an als „Jugendstil“ bezeichnet wurde, abzeichnete. Komplexer noch erweist sich dann jene Übergangsphase vom Jugendzum Erwachsenenalter, die, diesmal nicht von der Kunst, sondern von der Sozialwissenschaft geprägt, gemeinhin als „Adoleszenz“ bezeichnet und in der sozialwissenschaftlichen Literatur oft genug mit der „Jugend“ als „Moratorium“ gleichgesetzt wird. Wodurch lässt sich die Grenze von „Jugend I“ – also dem Verlassen der Kindheit – von „Jugend II“ – dem Übergang ins Erwachsenenalter – bestimmen? Sozial und politisch liegt dafür in unserer Gesellschaft nur ein normativ festgelegter und gesetzlich positivierter Fall vor: der Status des „Heranwachsenden“ gemäß dem JGG, wonach Personen, die das achtzehnte Lebensjahr aber noch nicht das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet haben, nach Jugendstrafrecht sanktioniert werden können. Ansonsten gilt, daß mit dem Eintritt ins neunzehnte Lebensjahr die volle Geschäftsfähigkeit ebenso erreicht ist wie das aktive Wahlrecht, während beim passiven Wahlrecht noch einige Vorbehalte bestehen. Damit erweist sich die „Adoleszenz“ als eine rein kulturelle Kategorie, von der weder genau zu sagen ist, wann sie beginnt, noch wann genau sie endet. Lässt sich – so ist zu fragen – unter diesen Umständen überhaupt noch sinnvoll von dem vermeintlich harten Referenzpunkt der Adoleszenz, nämlich dem „Erwachsenenalter“ sprechen? Womöglich empfiehlt es sich zur Beantwortung dieser Frage weder juristische noch biologische Kriterien heranzuziehen, sondern sich – analog, keinesfalls der Sache nach identisch zum Verfahren der „grounded theory“ – jenen kulturellen Artikulationen zuzuwenden, die sich im weitesten Sinne mit jenem Phänomen auseinandersetzen, das gemeinhin als „Adoleszenz“ bezeichnet wird. Denkbar wäre immerhin, dass sich die bisher festgestellte Unschärfe in derartigen Artikulationen ebenfalls wieder findet und zwar so, dass am Ende faktisches und kulturelles Selbstverständnis nichts anderes zum Ausdruck bringen, als dass von „Jugend“, „Adoleszenz“ und „Erwachsenenalter“ nicht mehr als temporal streng von einander geschiedenen Lebensabschnitten, sondern als Lebensformen zu sprechen ist, die die Akteure im gleichen Lebensabschnitt, genauer einem identischen Zeitraum mehr oder minder intensiv vollziehen.
Peltzers Charaktere „Natürlich, stellte sich bald heraus, war Edoardo kein Diplomat oder Ähnliches, sondern Praktikant für drei Monate, zuvor die gleiche Zeit in London, wie er andeutete auf Betreiben seines Vaters, der über entsprechenden Einfluß zu verfügen schien. Er selbst studierte Volkswirtschaft und Geschichte, keine Lust mehr, sagte er, das pisst mich total an. Berlin aber gefalle ihm, meraviglioso, er werde sich hier
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eine Wohnung suchen und bleiben, dreimal besser als Rom oder Neapel, wo man nachts nichts machen könne, ohne Unsummen zu verschwenden, von ganz wenigen Clubs und Hypotheken abgesehen.“ (Peltzer 2004: 105)
Edoardo ist ein zentraler Charakter in mindestens zwei literarischen Arbeiten des 1956 in Krefeld geborenen Autors Ulrich Peltzer, der 1987 seinen Erstling Die Sünden der Faulheit publizierte, von dem 1999 der Roman Alle oder keiner erschien und von dem derzeit noch der 1995 erstmals erschienene Roman Stefan Martinez (2000) sowie der als „politischer Roman“ von der Kritik hochgelobte Roman Teil der Lösung (2007) vorliegen. Peltzer, der seit 1975 in Berlin lebt, dort Philosophie und Psychologie studierte, erhielt 2003 den Literaturpreis der Stadt Bremen und ist dafür bekannt, sich wie kein anderer Autor dem Leben und Innenleben jenes Teils der Bevölkerung zu widmen, das man früher als akademisches Proletariat bezeichnet hätte und heute „akademisches Prekariat“ nennt. Seine Heldinnen und Helden haben in aller Regel studiert, teils mit, teils ohne Abschluss und fristen ihr Leben mit unsteten Beschäftigungsverhältnissen in Bereichen der symbolischen Produktion, der Werbung, dem Online-Journalismus oder in Büros von Architekten. Gemeinsam mit anderen gemietete Büroplätze sind für sie ebenso sehr typisch wie ihnen der Umgang mit Laptops, Mobiltelefonen und unregelmäßigen Arbeitszeiten in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die Lektüre klassischer und postmoderner Philosophie ist ihnen ebenso vertraut wie ihre Wohnverhältnisse unstet sind – teils bewohnen sie die Bleiben von Freunden und Kollegen auf Zeit, teils halten sie sich bei ihren Freunden oder Partnern auf, bisweilen müssen sie suchen. Ihre Nahrung nehmen sie meist unterwegs oder in Cafés oder Kneipen zu sich. Ihr Alter beläuft sich auf die Zeitspanne zwischen dreißig und vierzig; je jünger sie sind, oder es – in der Rückblende – waren, umso radikaler gebärdeten sie sich in politicis. Ihre Wohnung ist die große Stadt – gelegentlich New York, aber vor allem Berlin (auch Paris und New York spielen in Peltzers Erzählungen eine wesentliche Rolle), das sie nomadenhaft und von keinerlei bürgerlichen Skrupeln geplagt durchschweifen. „Nachdem sie in der Bäckerei Kaffee getrunken und zwei Schrippen mit Cervelatwurst gegessen hatten, spazierten sie rauchend den Kudamm hoch Richtung Gedächtniskirche, da und dort die Auslagen der Geschäfte betrachtend, wo es zu gewissen, altbekannten Unstimmigkeiten kam. […] Ludwig hingegen wurde ungeduldig, als Till sich nicht von den Angeboten bei Radio Wegert lösen konnte, die auf neongrellen Preisschildern außerordentliche Rabatte versprachen. Bevor jedoch ein wirklicher Konflikt ausbrach, erreichten sie das Schaufenster von Marga Schoellers Bücherstube, dessen Opulenz eine beide bewegende Frage wachrief, ob nämlich der manchmal schwerwiegende ökonomische Schaden, den der Diebstahl eines Bildbandes in einem Laden wie dem genannten verursachte (Yves Klein, Drucke 298,-) aufgewogen wurde durch den Genuß und persönlichen Fortschritt des Entwenders,
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oder allgemeiner gesprochen, welche Beziehung zwischen legitimen individuellen Bedürfnissen und dem Kampf des Kleingewerbes um seine Existenz besteht.“ (Peltzer 2000: 129)
Die zwischen Konventionalität und gefestigter postkonventioneller Moral schwankende Grundhaltung dieser Helden führt dann zum einen oder anderen Diebstahl, der jedoch in aller Regel glimpflich ausgeht und dem alltäglichen Trott erst den richtigen Kick verleiht – Ausdruck eines Lebensgefühls, in dem sich die objektive Ungesichertheit der Verhältnisse mit dem Wunsch nach einem intensiven Leben verbinden. Es ist das Bio- oder genauer gesagt das Ökotop der großen, der sehr großen Stadt, das fürs erste dem radikalen Wollen junger Leute entspricht, die ihre Jugend im Konventionalismus der katholischen, westdeutschen Provinz, genauer gesagt in Essen, durchaus einer Großstadt, verleben mussten und im politischen Engagement sowie in ersten sexuellen Kontakten ihren Ausbruch suchten. Nach Berlin wird es sie in Stefan Martinez verschlagen, weil sie trotz einer entschiedenen Haltung ihrer maoistischen Grundorganisation weder dazu bereit waren, sich förmlich zum Pazifismus, der als konterrevolutionär galt, zu bekennen und den Wehrdienst zu verweigern, noch Lust hatten, sich „achtzehn Monate lang zum Affen machen zu lassen“ (ebd. 470) und also doch in der Armee zu dienen. In Berlin aber werden sie ein ebenso gebundenungebundenes Leben führen wie jene Nomaden, die im Rahmen der germanistischen Betrachtung eines der Helden – er wurde schließlich als Professor sesshaft – zum Thema werden, Thema einer Arbeit über Kleist und die Amazonen. Prekäre Großstadtnomaden und ihr Identitätsproblem, genauer gesagt: das philosophisch-psychologische Identitätsproblem am Fall prekärer Intellektueller erörtert – darum geht es in Peltzers Romanen. So hat Peltzer seinem Großstadtroman Stefan Martinez ein Motto vorangestellt, das er dem Werk des Barockphilosophen Giambattista Vico, dessen Arbeiten im Roman ebenfalls verhandelt werden, entnommen hat: „Ich scheine mir der gleiche zu bleiben;/aber im dauernden Auf und Ab der Dinge,/ die in mich eingehen und mich verlassen,/ bin ich in jedem Zeit-Moment ein anderer.“ Vicos Motto lässt sich ebenso wie die letzten Bemerkungen eines immer wieder (in)direkt erwähnten Ich-Erzählers als literarisches Plädoyer für ein sogenanntes postmodernes Verständnis von „Ich-Identität“ lesen, bei dem man sich nicht mehr sicher sein kann, ob den dramatis personae noch an der Einheit ihrer Lebensgeschichte gelegen ist. Indes: „Meinen Vater zu umarmen, nur ein einziges Mal, habe ich mir letztens gewünscht; von ihm, sofern Väter das tun, in den Arm genommen zu werden. Nichts lässt sich nie wiederholen. No regret, no surrender. Trotzdem.“ (Ebd. 572)
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Und gleichwohl sind sich auktorialer Erzähler und erzählter Held mindestens dessen sicher, dass es sich bei alledem um eine, um seine Geschichte handelt: „Wann geht“ so der vorletzte Absatz des beinahe sechshundert Seiten langen Romans „die Geschichte los, genau? An einem Novembertag in ihrer Küche, als derjenige, von dem ich erzähle, einen Katalog mit dem Bild der Veranda durchblättert. Es handelt sich um reinen Zufall, da er auch Zeitung hätte lesen können, oder ganz was anderes. Er erinnert sich. […] man hört das Klicken der Kaffeemaschine, auf ihrem Teller liegt ein halbgegessenes Brot. Sie wird in Eile gewesen sein, denkt er, und beißt davon ab; später wirft er eine Münze hoch, ob Kopf oder Zahl, Bus oder U-Bahn. Die Dinge gehen durch ihn hindurch. Was er sieht.“ (Ebd. 572)
Zu Beginn des Romans Stefan Martinez freilich traf die Hauptfigur eine Entscheidung, er entschied „daß Zahl U-Bahn und nicht Bus bedeuten soll, und setzte sich in Bewegung“ (ebd. 11). Welches sind die Lebensumstände, die Individuen, Menschen dazu motivieren, ihr Leben so zu betrachten, als hätten sie keinen Einfluss auf seinen Gang? Und welche Umstände sind es speziell im Leben unstet beschäftigter Akademiker in der großen Stadt, die sie schwanken lassen, ob sie ihr Leben so führen sollen, wie sie es wollen oder ob sie sich nicht doch besser dem von ihnen nicht beeinflussten Gang der Dinge überlassen sollen? Und was – wenn überhaupt – mag sie dazu motivieren, ihr Leben in wenigstens einigen Dimensionen in die eigene Hand zu nehmen? Und wenn es derlei gäbe – wäre dies das Motiv, das zu jenem Zustand führen könnte, den man als „Erwachsensein“ bezeichnen könnte? Und hieße „Erwachsensein“ dann – jenseits aller Wahlberechtigung und Geschäftsfähigkeit – schlicht die Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Leben und für jene, die im eigenen Leben eine wesentliche Rolle spielen, zu übernehmen? Und wäre „Verantwortung“ treffend mit legitimer und anerkannter „Zuständigkeit für die eigenen Handlungen und deren Folgen“ umschrieben? Das sind Fragen, die sich nicht nur beim Suchen und Finden einer Position, die die materielle Reproduktion sichert, stellen, sondern auch beim Eingehen zwischenmenschlicher Beziehungen, von erotischen Liebschaften zu länger währenden Partnerschaften.
Liebe und Zufall Was die Liebe betrifft, so ergeht es Peltzers Heldinnen und Helden genauso, wie es dem Klischee nach im Rahmen moderner, nicht mehr ständisch gegliederter Gesellschaften erging – der ersehnte Partner, die ersehnte Partnerin of201
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fenbart sich durch einen Zufall – so im Fall von Stefan und Eveline, und in Teil der Lösung von Christian und Nele. „Während Stefan einen Geldschein aus seiner Gesäßtasche zieht, stößt er an eine hinter ihm stehende Person, das heißt sein Rücken gegen einen Ellbogen oder auch eine Schulter. Und noch einmal wird er angestoßen, als stecke Absicht dahinter. Er spürt, daß es sich um eine Frau handelt, erkennt das, als er mit flüchtig gedrehtem Kopf eine Entschuldigung murmelt, lächelt dann, und lehnt sich soweit zurück, daß er sie zwangsläufig berührt. Sie hält mit sanftem Druck dagegen, ein Gleichgewicht findend zwischen ihm und ihr, beide […] Wie heißt du? hört Stefan eine Stimme. Stefan, sagt er, ohne seine Haltung zu verändern […] Und du? Evelin. Trinken wir was zusammen?“ (Ebd. 191)
Nele studiert bei Jakob, einem Freund und Kumpel Christians, der akademisch reüssiert hat und eine respektable Beziehung zu seiner begabtesten Studentin, zu Nele, hat. Im gleichgültigen Raum akademischer Gänge stoßen sie aufeinander: „Man öffnet“ so eröffnet der auktoriale Erzähler die Szene, „keine geschlossene Tür, ohne anzuklopfen. Man stößt sie nicht auf wie ein Einsatzkommando, Hände in den Nacken, niemand rührt sich. Da kann was passieren, da passiert was.“ (Peltzer 2007: 83) Nele stolpert in die Arme ihres Dozenten, als ihr ein noch fremder Mann am Fotokopierer eine Türklinke in die Seite rammt: „Sich aus Jakobs Armen zu befreien, in die sie gestolpert war, den Kopf herumzureißen und Christian einen Idioten zu nennen, geschah in einem: ‚Bist du bescheuert?‘ Passiert, dachte Christian, will sie mir deswegen jetzt an die Kehle gehen? Eine zufällige Verkettung unvorhersehbarer Ereignisse.“ (Ebd. 83f.) Sowohl Stefan und Evelin als auch Nele und Christian werden im geradezu wörtlichen Sinne aufeinander gestoßen, von einem Zufall zusammengeführt und ergreifen beide die Chance, die Gelegenheit, Fortuna die sich ihnen dabei bietet. Wie Atome, die sinn- und ziellos im Raum begegnen, in jenem Raum, indem sich nach idealistischer Ästhetik hart die Sachen stoßen, begegnen sie einander und stehen vor der Wahl, diesem Ereignis Sinn zu verleihen. Das erscheint zunächst absurd, ein zweiter Zufall verstärkt den Eindruck einer sinnhaften Fügung. Wieder ist es der Zufall, der Nele und Christian beim Görlitzer Bahnhof zusammenführt: „Christian sprang auf und lief zu ihr hin, stellte sich vor sie. Das heißt, stoppte sie, indem er mit der Fußspitze ihren Reifen berührte. ‚Geht’s noch?‘ ‚Ich lad dich ein.‘ Sie starrte ihn an, blinzelte, kurzsichtig. ‚Einen Kaffee‘ sagte er, sagte das in einem höchst ruppigen Ton ‚ein Mineralwasser, was du willst.‘ Du Arsch dachte sie, du Grobian und entgegnete: ‚Nicht ins Morena‘ ‚Dann das Café nebenan.‘“ (Ebd. 219)
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Kaum anders verdichtete sich Stefan Martinez’ Begegnung mit Evelin in einem überfüllten Musikschuppen schließlich zu einer intensiven sexuellen Begegnung, die der auktoriale Erzähler in einer ebenso detaillierten wie distanzierten Weise, zwischen Pornographie und neuer Sachlichkeit oszillierenden Weise schildert. Nach dem Verkehr, nach gemeinsamem Fernsehen, Kochen und Essen versprechen sie einander, beim Schlafen nicht zu stören. Eine spätere Postkarte Stefans an Evelin, aus München, teilt mit: „Unterwegs zu sein, tut mir gut. Was bedeutet das? Genau weiß ich es nicht, aber vielleicht, ohne Alltag (DU bist für mich nicht alltäglich), komme ich näher zu mir, zu meinen Geschichten, in einer bestimmten Bewegung.“ (Peltzer 2000: 559)
Teil der Lösung? Christian und Nele indessen bewegen sich kontinuierlich aufeinander zu und binden sich zudem (Teil der Lösung erschien im Jahr 2007, zwölf Jahre nach Stefan Martinez) durch ein mindestens partiell gemeinsames politisches Interesse, das nun aber nicht mehr wie in Stefan Martinez zurück in die westdeutsche Provinz der siebziger und achtziger Jahre mit ihrer ebenso grotesken wie muffigen K-Gruppen-Szene führt, sondern im Fall von Nele zu einer riskanten und militanten, vom deutschen Staatsschutz beobachteten Antiglobalisierungsaktion, während Christian noch weiter zurückgeht: er recherchiert die Hintergründe des linksterroristischen Mordes an Aldo Moro. Dank seines arrivierten Freundes Jakob, er ist inzwischen Professor der romanischen Literaturwissenschaft, gelang es einen Kontakt zu jemandem herzustellen, der seinerseits bereit wäre, Christian unter bestimmten Umständen mit jemandem zusammenzubringen, der wiederum Beziehungen zu Mitgliedern jener Gruppe hat, die damals das tödliche Attentat verübt hatten. Sowohl die Suche nach der unsteten Nele als auch die nie zu einem Ende kommende Schnitzeljagd von einem konspirativen Treff zum anderen ohne jedes Ergebnis setzen Christian einer harten Bewährungsprobe aus: Warten, Geduld und Vertrauen – getragen von Anziehung, vielleicht sogar von Liebe – Liebe, die einzugestehen, jedenfalls die junge Frau noch in der Lage ist. Nach ihrem ersten, leidenschaftlichen Liebesakt an einem abgelegenen Ufer der Spree verabschiedet sich Nele: „,Guck mir nicht nach, wenn ich wegfahre‘ […] ‚Ich gucke nicht. Wenn du mir das sagst, werde ich das tun.‘ Er wandte ihr den Rücken zu. ‚Bleib so.‘ ‚Natürlich.‘ ‚Egal, was ist, du drehst dich auf keinen Fall um.‘ ‚Yes my dear‘. Er hörte, wie sie ihre Nase hochzog. ‚Ich fahre jetzt.‘ ‚Gut‘ ‚Auf keinen Fall‘ ‚Auf keinen Fall‘ ‚Das war wunderschön.‘“ (Peltzer 2007: 287)
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Christian sollte den Fehler des Orpheus nicht begehen und die unstete und gefährdete Beziehung zu Nele schließlich weiter entfalten. Stefan Martinez sollte zwölf Jahre zuvor noch über sich staunen, denn: „Der Gedanke, bei Evelin zu bleiben, mit ihr zu leben, diese Vorstellung, manchmal ein Wunsch, lässt sich wie man so sagt, nicht mehr von der Hand weisen. Aber warum? Alles kann man nicht erklären. Einen selber.“ (Peltzer 2000: 570) Beharrlichkeit und quälende Ungewissheit werden Neles und Christians Beziehung aller erotischen Anziehung und gemeinsamen politischen Interessen zum Trotz begleiten. Eine gemeinsame Reise nach Paris trennte sie kurzzeitig, eine Verabredung im gemeinsamen Hotel sollte scheitern, der Kontakt über die Mobiltelefone versagte, Ungewissheit durchzieht einmal mehr ihre Beziehung, das Labyrinth der großen Stadt, diesmal von Paris, reißt beide mit sich fort. Das vorläufige Ende ihrer Geschichte und des Romans Teil der Lösung wird einen Teil dieser Lösung präsentieren. Doch zeigt Peltzer nicht nur Suchende, sondern auch solche, die gefunden haben – z.B. Jakob, Christians Freund, dem es trotz einer politisch dubiosen Vergangenheit gelungen ist, eine Professur zu ergattern. Jakob heiratete eine Französin, Severine, und hat mit ihr zwei kleine Kinder, Mathieu und Catherine – die Elternschaft als Übernahme von Verantwortung erwies sich zunächst als reine Belastung: „Diese Stunden mit einem schreienden Bündel auf dem Arm, diese Hilflosigkeit, diese Gereiztheit, mit der sie sich begegnet waren, als würde er oder sie irgendeine Schuld daran tragen. Selbst zu nähen (dachte Jakob, oder zu stopfen: ‚Ich hab’s dir gezeigt, du weißt, wie man das macht.‘) konnte zu einem himmlischen Zeitvertreib werden – ohne die nervöse Anspannung, ob das Schreien von vorne losgeht. Dass es losgeht, und kein Sex, nicht einmal Zärtlichkeit, sondern Stress in Reinform. Wie ein Schlafwandler durchs Institut getapert, geraucht, an einer Rede herumgedoktert, als hätte man alles verlernt.“ (Peltzer 2007: 299)
Jakob aber hatte, wie das einem Erwachsenen zusteht, in der Nähe von Küstrin schon vor Jahren ein Grundstück mit einem inzwischen ausgebauten Haus ausgespäht, das den Freundeskreis zusammenführt. Ausführliche, nostalgische Gespräche führen zurück ins Italien der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, in jene „anni del piombo“, die bleiernen Jahre, in denen sich kleine Gruppen einer militant-terroristischen Linken direkt mit dem Staatsapparat auseinandersetzen wollten. Die Gespräche auf dem Lande zwischen Christian, der den Tod von Moro recherchieren will, und Carl, also einem weiteren Freund von Jakob, ebenfalls im romanistischen Institut angestellt, der Verbindungen zu den damaligen Attentätern haben soll, schwanken zwischen Hinweisen auf mögliche Kontakte und der Frage, wie man sich zur eigenen Vergangenheit verhalten soll:
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„‚Was ein Irrtum ist, begreift man oft zu spät. Aber sich den Lügen der Sieger zu beugen wäre Verrat an der Geschichte. Nicht nur der eigenen.‘ ‚Gras darüber wachsen lassen.‘ ‚Die Toten sind nicht tot, das ist ein anderer Irrtum. Weder die noch die. Definitionsmacht und Wahrheit sind nie ein und dasselbe. Das Schweigen, das ist der Tod.‘ Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: ‚Zum Schweigen verdammt zu sein. Nur noch die gegnerische Seite zu hören. Das ist auch eine Art von Inferno.‘“ (Ebd. 408)
Jenseits des im engeren Sinne politischen und gerade geschichtsphilosophischen Horizonts geht es hier einmal mehr um das bereits mehrfach angesprochene narratologische Problem: wann und unter welchen Umständen eine wesentliche Geschichte auserzählt, zu Ende erzählt werden kann. Dabei stellt sich zugleich die Frage persönlicher Aufrichtigkeit: ob und wie und vor wem man sich zu der Geschichte des eigenen, des selbst gelebten Lebens bekennen kann, ohne dabei Gefahr zu laufen sich entweder selbst untreu zu werden oder sich persönlich zu gefährden. Das Gespräch zwischen Christian, der diese Geschichte noch einmal zur Sprache bringen will, und Carl, der einen Verbindungsfaden zu den damaligen Akteuren zu haben scheint, fand unter vier Augen statt. Jakob, ihr Freund, inzwischen Professor, verheiratet und Vater zweier Kinder, hatte sich vor den entscheidenden Sätzen entfernt. Zuvor hatte derselbe Carl, der seiner Vergangenheit treu bleiben will, den Freunden mitgeteilt, dass er demnächst heiraten werde – eine Kollegin aus einem Büro, neben der er jahrelang, auch schon als sie selbst geschieden war, lebte, ohne je an mehr gedacht zu haben: „Warum dann nicht heiraten? Wenns soweit ist. Außerdem, glaubt ihr, wir schenken dem Staat meine Pension?“ (Ebd. 400) Auf die Frage der Freunde, ob es sich um seine erste Ehe handele, antwortet er knapp: „‚Erste Eheschließung, erster Hauskauf, erstes Testament‘ ‚Keine Kinder?‘ ‚Gerlinde hat eine erwachsene Tochter.‘“ (Ebd. 400) Die Gratulation Jakobs, der bereits verheiratet ist und Kinder hat, „klang herzlich … als hätte sich seine Irritation gelegt, hätte sich der Anfall von Kleingeistigkeit, der ihn kurz heimgesucht hatte, erledigt “ (ebd. 401). Damit ist in Peltzers Werk ein erstes Modell vom Ende der Adoleszenz in aller Dürre entfaltet: Ehe, Haus und Testament – lauter institutionelle Festlegungen, die allemal in der Sphäre des bürgerlichen Rechts und seiner möglichen Festlegungen angesiedelt sind; als Motiv für diese Festlegungen, die in einem dürren Sinn das umschreiben, was man äußerlich als „Erwachsensein“ bezeichnen könnte, wird aber wiederum eine bestimmte Stellung zum Staat genannt: ihm ja nicht die Pension zu überlassen. Was dreißig Jahren zuvor der bewaffnete Kampf war, das ist nun die Heirat – ein letztes Beharren auf Autonomie gegenüber einer als fremd und entfremdend erfahrenen Institution, die das eigene Leben in einer nicht näher qualifizierten Weise einzuschränken scheint. Was anderen als resignatives Einverständnis mit den Verhältnissen 205
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gelten könnte, wird hier durch subjektive Sinngebung in einen wenn auch kaum noch als solchen zu erkennenden Akt des Widerstands umgedeutet. Sind weitere Modelle vom Ende der Adoleszenz, vom Eintritt ins Erwachsenenalter oder doch wenigstens vom Erreichen einer gewissen Stufe der Reife denkbar? Nele und Christian scheinen auf der Suche nach einem solchen Weg, ohne ihn doch zu kennen. Auf der letztlich sinnlosen und im Sande verlaufenden Suche nach einem authentischen Kontakt mit Angehörigen jener Gruppe, die den Mord an Aldo Moro zu verantworten haben, führte sie ihr Weg erst in die Provinz, wo Christian mit dem Tod von Neles Schwester und ihrer Beerdigung konfrontiert wird, einer Frau die von ihrem Mann während ihres Siechtums verlassen wurde, um sie dann nach Paris zu führen. Ein Streit darüber, ob Christian seine nun von ihm als „Frau“ deklarierte Freundin zum klandestinen Interview mitbringen darf, entzweit das Paar. Christian ist nicht bereit, sein derzeitiges berufliches Hauptprojekt einer ihm sinnlos erscheinenden Probe zuliebe zu gefährden. Nele verweigert jede Kommunikation, die Wege des Paares trennen sich, beide irren durch die große Stadt und Christian muss am Ende erkennen, dass seine Suche ein einziges Spiel, eine Täuschung war, eine Spur, die im Nichts verlief und ihn als den Gefoppten dastehen ließ – einen Genarrten, der darüber hinaus auch noch seine Liebe verloren hatte. Für Nichts. Am Ende, als beide – ziellos suchend oder aufs Ungewisse in einem Bistro aufeinander wartend, begegnen sie sich zufällig noch einmal – wenn auch durch Distanzen und Barrieren, die zu überwinden sind, hindurch: „Sie wurde angerempelt, stieß selber gegen Leute, ihren Blick nicht auf die Straße, sondern die Anzeige gerichtet. […] Als jenseits der Fahrbahn die Front des Cafes im Suchfeld auftauchte, schaltete sie die Kamera aus und steckte sie in ihre Reisetasche. Vertraust du mir? Soll ich dir denn vertrauen? [...] Jetzt stand sie vor den spiegelnden Fenstern. Sie beschirmte mit beiden Händen ihre Augen und legte die Stirn ans Glas. Er rauchte […] Nele wischte sich die Tränen von den Wangen und atmete laut ein und aus, fast ein Stöhnen. Ach Christian. Dann ging sie hinein.“ (Ebd. 455)
Vertrauen und Verantwortung Der Roman, der mit diesen Sätzen endet, bietet mit ihnen zugleich ein zweites Modell für das, was man zwar nicht unbedingt als Eintritt ins Erwachsenenalter, aber doch wenigstens als die Möglichkeit einer Zunahme an Reife bezeichnen könnte. Dabei geht es um die Fähigkeit, Vertrauen zu entwickeln, es entgegenzubringen, aber eben und vor allem auch, es verbürgen zu können, seiner würdig zu sein.
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»WENNS SOWEIT IST«
Was ist Vertrauen? Die Philosophin Annette Baier (2001) definierte „Vertrauen“ als „riskierte Verletzlichkeit“, also als die Bereitschaft, sich im Wissen um die eigene Verletzlichkeit zu öffnen – und zwar in dem Wissen und/ oder Gefühl, dass die andere Person diese Verletzlichkeit zwar kennt, aber mit Sicherheit darauf verzichten wird, diese Verletzlichkeit zu eigenen, egoistischen Zwecken auszunutzen. Fraglich ist demnach, ob Vertrauen ein Gefühl oder eine Erkenntnis ist, bzw. in welchem Maße sich die kognitiven Inhalte des Vertrauensgefühls und wie sich die affektiv-emotionalen Dimensionen eines wissentlich entgegengebrachten Vertrauens benennen lassen. Ulrich Peltzers Paar Christian und Nele, durchaus nicht gleichaltrig, Christian ist Jahre älter als Nele, erleben am Ende ihres Romans ein mehr angedeutetes denn vollzogenes Überwinden ihres Misstrauens, genauer gesagt: es ist Nele, die junge Frau, die schließlich bereit ist, den Rest ihres Misstrauens trotz eines verweigerten Treuebeweises aufzugeben, derweil ihr Freund, Christian von ihr die Einsicht abforderte, dass das konsequente Verfolgen eines beruflichen Ziels keinen Anhalt für den Verdacht auf eine letzte Untreue bietet. Die soziologische Systemtheorie (vgl. Luhmann 2001), hat zu zeigen versucht, dass Vertrauen nicht nur ein Mechanismus zur Reduktion von Komplexität ist, sondern vor allem, dass das Schenken von Vertrauen im Grundsatz ebenso alternativlos wie in den meisten Fällen sogar gerechtfertigt ist. Besteht das „Erwachsenwerden“ also darin, jener sozialen Unausweichlichkeit Tribut zu zollen und den je und je wiedererstehenden Egozentrismus einzuschränken? Also letztlich darin, jenes Urvertrauen, das nach Erikson (1973) zwar nicht allen, aber doch einer überwiegenden Mehrzahl von Menschen gegeben ist, ein zweites Mal – nach den Krisen von Pubertät und Adoleszenz – explizit zu artikulieren und zu einer gewählten Lebenshaltung zu machen? Und wäre dies das Ende der Adoleszenz? Und wäre die Adoleszenz demnach jene Zeitspanne, die vom Eintreten der auch körperlichen Fähigkeit zum Eingehen entfalteter Intimbeziehungen bis zu jenem Punkt reicht, an dem Vertrauen eigens bekräftigt und gegen eventuell stets vorhandenes Misstrauen durchgesetzt wird – in gehaltvollen Partnerschaften? So zeigt sich abschließend ein doppelter Begriff von Adoleszenz: erstens ein gleichsam institutionell-zivilrechtlicher Begriff, der Menschen dann für erwachsen ansieht, wenn sie aufgrund einer durch Lebensjahre zugeschriebenen Reife für die Folgen ihres rechtsverbindlichen Handelns einzustehen haben, sowie ein personentheoretischer Begriff, der die Fähigkeit zur bewussten, wiederholten Aktivierung von Vertrauen als Ende der Adoleszenz ansieht. Erwachsen zu sein, heißt also, Verantwortung übernehmen und Vertrauen entgegenzubringen zu können – die Adoleszenzphase würde sich dann dadurch auszeichnen, die Übernahme von Verantwortung zu scheuen bzw. sie hinauszögern zu wollen, sowie der noch mangelnden Bereitschaft, ängstliche 207
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Vorbehalte gegen intime Beziehungen, sogar wenn sie nur zufällig entstanden sind, sowie das institutionelle Gefüge, dem man zunächst unausweichlich angehört und in das man sich irgendwie wird fügen müssen, aufzugeben. Erwachsen zu werden, heißt, das Nomadenleben aufzugeben – Adoleszente, das sind im Milieu des akademischen Großstadtprekariats beinahe alle, unabhängig von ihrem biologischen Alter, sofern sie nicht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und Vertrauen zu erweisen – Adoleszente, das sind jene, die in der Unentschlossenheit verharren – manche werden sesshaft, also erwachsen, manche bleiben Nomaden: „Nomaden, das sind die, die sich eigentlich nicht bewegen. Sich nicht von der Stelle rühren. Vielmehr ist es der Raum, der sie durchquert, ihre Zelte, Lagerplätze und Legenden. Gottheiten des Windes, des Wassers, der Gräser, denen sie Wort für Wort nachreisen in Geschichten, die nie zu einer Geschichte werden. Häuptlinge, die der Stamm daran hindert, Häuptling zu sein, Fürsten, die man stürzt im Augenblick ihres größten Triumphs. Reiter, Pferd und Steigbügel als Teile einer sich selbst genügenden Maschine jenseits des Staates, noch jenseits von Epos und Krieg.“ (Peltzer 2007: 71)
Literatur Baier, Annette (2001): »Vertrauen und seine Grenzen«. In: Martin Hartmann/Claus Offe (Hg.), Vertrauen. Die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt/M., New York: Campus, S. 37-87. Erikson, Erik H. (1973): Identität und Lebenszyklus. 3 Aufsätze, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2001): »Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen. Probleme und Alternativen«. In: Martin Hartmann/Claus Offe (Hg.), Vertrauen. Die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt/M., New York: Campus, S. 145-159. Peltzer, Ulrich (2000): Stefan Martinez, München: dtv. Peltzer, Ulrich (2004): Bryant Park, Berlin: Berlin Taschenbuch Verlag. Peltzer, Ulrich (2007): Teil der Lösung, Zürich: Ammann.
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Autorinnen und Autoren
Andresen, Sabine (*1966) ist seit 2004 Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld und dort Mitglied im Zentrum für Kindheits- und Jugendforschung und im Bielefeld Center for Education and Capability Research. Neben historischen und theoretisch systematischen Arbeiten zu Bildung, Kindheit und Jugend gehören die erziehungswissenschaftliche Kindheits- und Familienforschung und die Themen soziale Ungleichheit und Differenz zu ihren Forschungsschwerpunkten. Zusammen mit Klaus Hurrelmann und Ulrich Schneekloth verantwortete sie die World Vision Kinderstudie „Kinder in Deutschland 2007“. Sie publizierte u.a. eine „Einführung in die Jugendforschung“, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005 und eine Monographie „Sozialistische Kindheitskonzepte. Politische Einflüsse auf die Erziehung“, München: Reinhardt 2006. Zu den aktuellen Forschungsprojekten gehören u.a. eine vom BMBF geförderte Studie über „Familien als Akteure in der Ganztagsgrundschule“ sowie eine qualitative Studie über Kinderarmut. Brumlik, Micha (*1947) ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Frankfurt/Main. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft, zur Sozialpädagogik, zur Religionsphilosophie, zur europäischen und jüdischen Geistesgeschichte sowie zur Erinnerungskultur. Zuletzt: Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Berlin: Berlin Verlag 1995; Bildung und Glück. Versuch einer Theorie der Tugenden. Berlin/Wien: Philo 2002; Aus Katastrophen lernen? Grundlagen zeitgeschichtlicher Bildung in menschenrechtlicher Absicht. Berlin/Wien: Philo 2004; Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin: Aufbau 2005; Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts. Weinheim/Basel: Beltz 2006; Schrift, Wort und Ikone – Wege aus dem Bilderverbot. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Berlin: Philo 2006; Vom Mißbrauch der Disziplin. Antworten der
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Wissenschaft auf Bernhard Bueb, Weinheim: Beltz 2007 (hg.); Ab nach Sibirien! Wie gefährlich ist unsere Jugend, Weinheim: Beltz 2008 (hg.). Bühler, Patrick (*1969), Assistent am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern, arbeitet zurzeit an einem Habilitationsprojekt zur Geschichte der pädagogischen Sokrates-Rezeption. Veröffentlichungen u.a. zur „Schmutz und Schund“-Debatte und zum Detektiv-Roman, zu Negativität und Pädagogik, Hermann Burger, Friedrich Glauser und Jacques Lacan. Dietrich, Cornelie (*1965), PD Dr. disc. pol., Studium der Musikwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Soziologie, z.Zt. Lehrstuhlvertretung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Osnabrück. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetische Bildung, Pädagogische Anthropologie, Kindheitsund Jugendforschung, sprachliche Bildung. Habilitation über Jugendsprache (i.Dr.). Veröffentlichungen u.a.: Wozu in Tönen denken? Historische und empirische Studien zur bildungstheoretischen Bedeutung musikalischer Autonomie. Kassel 1998; Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. Weinheim/München 2000 (hg. mit H.R. Müller); Ästhetische Bildung zwischen Markt und Mythos. In: Kristin Westphal (Hg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Weinheim: Juventa 2008; Sprache und Sprechen. Zur Bedeutung der Materialität der Sprache in der Schule. In: Anja Kraus (Hg.): Körperlichkeit in der Schule. Aktuelle Körperdiskurse und ihre Empirie. Oberhausen: Athena 2008, S. 83-125. King, Vera (*1960), Prof. Dr. phil., Dipl. soc., Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg, Fak. IV, Sektion Allgemeine, Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft, im Bereich Sozialisationsforschung mit Schwerpunkten Jugend/Adoleszenz, Geschlechter- und Generationenverhältnisse, soziale Ungleichheiten, Intersektionalität, Migration. Zahlreiche Publikationen zu Adoleszenztheorie und -forschung, u.a.: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften, Wiesbaden: VS Verlag 22004 (12002); (hg. mit Hans-Christoph Koller) Adoleszenz – Migration – Bildung, Wiesbaden: VS Verlag 2006; Männliche Adoleszenz, Frankfurt am Main. Campus 2005 (hg. mit Karin Flaake); Weibliche Adoleszenz, Weinheim: Beltz 52003 (11992) (hg. mit Karin Flaake). Koller, Hans-Christoph (*1956), Dr. phil., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft, zur Bildungstheorie und zur Qualitativen Bildungsforschung. Zuletzt: Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne. München: Fink 210
AUTORINNEN UND AUTOREN
1999; Grenzgänge. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane. Bielefeld: transcript 2005 (hg. mit Markus Rieger-Ladich); Adoleszenz – Migration – Bildung. Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund. Wiesbaden: VS Verlag 2006 (hg. mit Vera King); Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript 2007 (hg. mit Winfried Marotzki und Olaf Sanders); Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer 32008. Mein, Georg (*1970), ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Université du Luxembourg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Literatur vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Literatursoziologie, Medien- und Kulturtheorien, Literalitätsforschung. Neuere Publikationen: Die Konzeption des Schönen. Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik, Bielefeld: Aisthesis 2000; Erzählungen der Gegenwart. Von Judith Hermann bis Bernhard Schlink, München: Oldenbourg 2005; BAStudium Germanistik. Ein Lehrbuch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008 (mit Klaus-Michael Bogdal und Kai Kauffmann); Schriftkultur und Schwellenkunde, Bielefeld: Transcript 2008 (hg. mit Achim Geisenhanslüke); Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Perspektiven, Parallelen, Kontroversen, München: Fink 2008 (hg. mit Eva Geulen und Kai Kauffmann); Das Subjekt des Diskurses, Heidelberg: Synchron 2008 (hg. mit Franziska Schößler und Achim Geisenhanslüke). Oelkers, Jürgen (*1947) ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Bildung, Geschichte der Pädagogik (18. und 19. Jahrhundert), Demokratie und Erziehung. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a.: Pädagogische Ethik. Eine Einführung in Probleme, Paradoxien und Perspektiven. Weinheim: Juventa 1992; Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim: Juventa 42005; Einführung in die Theorie der Erziehung. Weinheim: Beltz 2001; Dewey and European Education. General Problems and Case Studies. Dodrecht: Kluwer Academics 2000 (hg. mit Heinz Rhyn); Futures of Education. Bern: Lang 2001 (hg.); Gesamtschule in Deutschland: eine historische Analyse und ein Ausweg aus dem Dilemma. Weinheim: Beltz 2006; Jean-Jacques Rousseau. London: Continuum 2008. Poenitsch, Andreas (*1957), ist Hochschuldozent für Bildungswissenschaften am Campus Koblenz der Universität Koblenz-Landau. Zahlreiche Veröffentlichungen zur historisch-systematischen bzw. allgemeinen Pädagogik. Zuletzt: (hg. mit Jörg Ruhloff) Theodor Ballauff, Pädagogik als Bildungslehre. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 42004; Theodor Ballauff, Pädago211
AUTORINNEN UND AUTOREN
gik der „selbstlosen Verantwortung der Wahrheit“ (Pädagogische Klassiker des 20. Jahrhunderts). Weinheim und München: Juventa 2004; (mit Andreas Dörpinghaus und Lothar Wigger) Einführung in die Theorie der Bildung (Grundwissen Erziehungswissenschaft). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 22007; Einführung in die Theorie der Erziehung (Grundwissen Erziehungswissenschaft). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009; (hg.) Bildungswissenschaften heute – Eine Bestandsaufnahme. Weinheim und München: Juventa 2009. Priem, Karin, Dr. rer. soc., ist Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd und derzeit Vorsitzende der Sektion Historische Bildungsforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Systematische Erziehungswissenschaft, Historische Bildungsforschung, Disziplingeschichte. Ausgewählte Publikationen: Bildung im Dialog. Eduard Sprangers Korrespondenz mit Frauen und sein Profil als Wissenschaftler (1903-1924), Köln 2000; außerdem Publikationen zu Fragen des pädagogischen Raums sowie kultureller Repräsentationen des Pädagogischen in Bildern und Literatur, z.B. „Pädagogische Räume – Räume der Pädagogik. Ein Versuch über das Dickicht. In: Georg Mein/Markus Rieger-Ladich (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Bielefeld 2004, S. 27-45; In fremden Kleidern. Autobiographie und Materialität der Dinge. In: Hans-Christoph Koller/Markus Rieger-Ladich (Hg.): Grenzgänge. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane. Bielefeld 2005, S. 79-91; Fotografie als Befragung: Zur Wahrnehmung erziehungsbedürftiger Kinder. In: Meike S. Baader/Elke Kleinau/Helga Kelle (Hg.): Bildungsgeschichten. Geschlecht, Religion und Pädagogik in der Moderne. Köln 2006, S. 11-24. Rieger-Ladich, Markus (*1967), ist Wissenschaftlicher Oberassistent an der Universität Zürich und vertritt derzeit eine Professur für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Veröffentlichungen zur Bildungsphilosophie, Pädagogischen Soziologie, literarischen Ethnographie und zur erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Zuletzt: Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädagogischen Semantik, Konstanz: UVK 2002; Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: VSVerlag 2004 (hg. mit Norbert Ricken); Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu, Wiesbaden: VSVerlag 2006 (hg. mit Barbara Friebertshäuser und Lothar Wigger); Symbolische Gewalt – Zur literarischen Ethnographie von Bildungsräumen (hg. mit Hans-Christoph Koller und Winfried Marotzki), Opladen: Barbara Budrich 2007 (= Zeitschrift für Qualitative Sozialforschung 8, Heft 1).
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Sanders, Olaf (*1967), Dr. phil., unterrichtet Erziehungswissenschaft an der Universität zu Köln und an der Kölner Musikhochschule. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Bildungsphilosophie, Jugend- und populäre Kulturen, vor allem Film, und Gender. 2007 hat er gemeinsam mit Hans-Christoph Koller und Winfried Marotzki Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung (transcript) herausgegeben. Gegenwärtig arbeitet er an einem Projekt unter dem Titel Deleuzes Pädagogiken. Eine Philosophie der Bildung und des Kinos. Stipsits, Reinhold (*1952), ist Ao. Professor am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien und war in den Sommersemestern 2004, 2005, 2006 Gastprofessor an der Universität Klausenburg/Cluj-Napoca. Veröffentlichungen zur Sozialpädagogik und Humanistischen Pädagogik, zur Biographieforschung und Erinnerungsarbeit. Zuletzt: Gegenlicht. Studien zum Werk von Carl R. Rogers 1902-1987. Wien: WUV 1999; Von Wegen. Sozialreportagen in Klausenburg (Reportaje sociale in Cluj-Napoca). Klausenburg: casa cartii de stinta 2005; Jugend im Fokus. Pädagogische Beiträge zur Vergewisserung einer Generation. Wien: Löcker 2008 (hg. mit Romana Bogner).
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Theorie Bilden Peter Faulstich Vermittler wissenschaftlichen Wissens Biographien von Pionieren öffentlicher Wissenschaft 2008, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-878-0
Peter Faulstich (Hg.) Öffentliche Wissenschaft Neue Perspektiven der Vermittlung in der wissenschaftlichen Weiterbildung 2006, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-455-3
Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-588-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2009-01-22 10-32-27 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02c3200518835592|(S.
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3) ANZ1025.p 200518835600
Theorie Bilden Jenny Lüders Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs 2007, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-599-4
Bettina Suthues Umstrittene Zugehörigkeiten Positionierungen von Mädchen in einem Jugendverband 2006, 296 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-489-8
Michael Wimmer Dekonstruktion und Erziehung Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik 2006, 420 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-469-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2009-01-22 10-32-27 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02c3200518835592|(S.
1-
3) ANZ1025.p 200518835600
Theorie Bilden Jürgen Budde Männlichkeit und gymnasialer Alltag Doing Gender im heutigen Bildungssystem
Torsten Meyer, Andrea Sabisch (Hg.) Kunst Pädagogik Forschung Aktuelle Zugänge und Perspektiven
2005, 268 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-324-2
März 2009, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1058-1
Frank Elster Der Arbeitskraftunternehmer und seine Bildung Zur (berufs-)pädagogischen Sicht auf die Paradoxien subjektivierter Arbeit 2007, 362 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-791-2
Werner Friedrichs Passagen der Pädagogik Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze 2008, 306 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-846-9
Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Grenzgänge Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane 2005, 178 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-286-3
Andrea Liesner, Olaf Sanders (Hg.) Bildung der Universität Beiträge zum Reformdiskurs
Andrea Sabisch Inszenierung der Suche Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch. Entwurf einer wissenschaftskritischen Grafieforschung 2007, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-656-4
Simone Tosana Bildungsgang, Habitus und Feld Eine Untersuchung zu den Statuspassagen Erwachsener mit Hauptschulabschluss am Abendgymnasium 2008, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-798-1
Katharina Willems Schulische Fachkulturen und Geschlecht Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole? 2007, 314 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-688-5
2005, 164 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-316-7
Stephanie Maxim Wissen und Geschlecht Zur Problematik der Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit in der feministischen Schulkritik Januar 2009, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1030-7
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2009-01-22 10-32-27 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02c3200518835592|(S.
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3) ANZ1025.p 200518835600