Festschrift für Walther Hadding zum 70. Geburtstag am 8. Mai 2004 [Reprint 2012 ed.] 9783110904468, 9783899491418

["Festschrift for Walther Hadding on the occasion of his 70th birthday on May 8, 2004"] To honor Walter Haddin

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German Pages 1252 [1256] Year 2004

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Table of contents :
Vorwort
I. Privatrecht
Die Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens“ und ihre Grundlagen
Kein Rücktrittsrecht des Käufers bei von ihm verschuldeter Unmöglichkeit der Nacherfüllung?
Saldotheorie und neues Rücktrittsrecht
Stellvertretendes commodum bei anfänglicher Unmöglichkeit für jedermann?
Das BGB in der Zeitung
Das Spannungsverhältnis von Art. 12 GG und Art. 14 GG im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Die Konkurrenz von Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung im neuen Schuldrecht
Zeitweilige Unmöglichkeit
Die AGB-Kontrolle im Arbeitsvertragsrecht
Schenkung auf Römisch – und ketzerische Fragen an die aktuelle Anweisungsdogmatik
Zur Abrechnung bei Veräußerung von Wohnungseigentum
Abschied von der Haftung des Verkäufers aus culpa in contrahendo oder Wiedergeburt?
Über Erscheinungsweisen von Rechtsschein
Die Stiftung zwischen Verwaltungs- und Treuhandmodell
Zur Problematik des Vertrags zu Lasten Dritter
Grundsätze ordnungsgemäßer Anlage von Stiftungsvermögen
Paradigmenwechsel im Schadensersatzrecht durch die Schuldrechtsmodernisierung
II. Handels- und Gesellschaftsrecht
Zum Haftungsprivileg der Vorgesellschafter – Rechtliche Gründungshilfe zu Lasten der Gläubiger?
Handelsregisterpublizität von Kommanditisten und GbR-Gesellschaftern – Rechtsprobleme der Neufassung des § 162 HGB
Die Insolvenzhaftung gegenüber dem „Neugesellschafter“ nach GmbH- und Aktienrecht
Informationsansprüche und -pflichten im Idealverein
Die Bestätigung fehlerhafter Beschlüsse
Die dosierte Einschränkung der aktienrechtlichen Anfechtungsklage in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
„Vermischung und Vermengung“ von nach § 305 AktG abfindungsberechtigten und nicht abfindungsberechtigten Aktien nach Beendigung eines Unternehmensvertrages
Das Vertragsverhältnis zwischen Verlag und Pressegrossisten – Ein Beispiel für einen Kommissionsagentenvertrag –
Bewertungsgegenstand und Bewertungsmethode – Überlegungen zur Berücksichtigung von Börsenkursen bei der Ermittlung von Abfindung und Ausgleich
Das Gesamthandsprinzip bei Personalgesellschaften
Wann ist eine geheime Abstimmung im Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft zulässig?
Die actio pro socio im Recht der BGB-Gesellschaft
Kommanditisten als Sicherungsgeber (Regreß nach erfolgter Inanspruchnahme)
„Vereinsstrafen“ in der Genossenschaft?
Zur Zulässigkeit der Vergütung des Aufsichtsrats in Aktien der Gesellschaft
Der (zukünftige) Gesellschafter – stets ein Verbraucher?
Verschärfung der Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat und dadurch entstehende Zielkonflikte — Eine Mahnung, die Nebenfolgen zu bedenken
Feststellung des Jahresabschlusses bei der Personengesellschaft – Gesellschaftervereinbarung oder Organbeschluß? –
Der Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens im Konzern – Ein Beitrag zum Konzernverfassungsrecht –
Das Grundlagengeschäft zwischen Geschäftsführungsmaßnahme und Änderung des Gesellschaftsvertrages
Haftung und Rückgriff der Hauptgesellschaft nach Beendigung der Eingliederung
Zur Kündbarkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Oder: Nach § 128 HGB und § 130 HGB jetzt auch § 132 HGB analog?
Die Vollversammlung einer Aktiengesellschaft – ein angemessener Ersatz für schriftliche Aktionärsbeschlüsse?
Formalismus und Interessenbewertung im Aktienrecht: zur Zustellung einer Anfechtungsklage
Folgen der Nichtigkeit einer Kapitalerhöhung für nachfolgende Kapitalerhöhungen. Zur Anwendung der Geschäftsgrundlagenlehre auf strukturändernde Beschlüsse bei Kapitalgesellschaften
III. Bank- und Kapitalmarktrecht
Die Investmentaktiengesellschaft mit veränderlichem Kapital
Die „Beraterhaftung“ der Banken im österreichischen Recht
Börsenreform in Permanenz
Sind öffentlich-rechtliche Kreditinstitute öffentliche Auftraggeber?
Der Zugang der elektronischen Willenserklärung
Die Finanzierungsbestätigung nach § 13 Abs. 1 Satz 2 WpÜG
Anmerkungen zur Corporate Governance in der Kreditwirtschaft
Haftungsrechtliche Aspekte des Ratings
Sicherungsrechte an Geld- und Wertpapierguthaben im internationalen Finanzverkehr
Auslegungsprobleme rund um die wiederholte Inanspruchnahme revolvierender Garantien
Zur Abgrenzung der börsenähnlichen Einrichtung von der genehmigungspflichtigen Börse
Die Kontofähigkeit (insbesondere) der Gesellschaft bürgerlichen Rechts
Die Aktienanleihe nach dem Inkrafttreten des Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes
Vom Forderungskauf zum abstrakten Schuldversprechen – Die Bekehrung der Rechtsprechung zu Walther Haddings Kreditkartentheorie
Fragen der Finanzierungsbestätigung des Wertpapierdienstleistungsunternehmens
Bereicherungsausgleich bei Zahlungen mittels Universalkreditkarte
Der Grundsatz der angemessenen Gegenleistung bei Übernahmeangeboten nach § 31 Abs. 1 Satz 1 WpÜG
Der Zahlungskartenvertrag im polnischen Recht
Verkaufsbeschränkungen bei der Emission von Wertpapieren
Das „Kündigungsrecht“ des Drittsicherungsgebers
Das Gemeinschaftskonto: Rechtsgemeinschaft am Rechtsverhältnis. Eine rechtsdogmatische Skizze zu den §§ 421, 427, 428, 432, 705 und 741 BGB
Kapitalmarktbezogene Informationshaftung
Wann ist Papier Geld?
Das neue Recht der außerordentlichen Darlehenskündigung
Die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu Preisen und Entgelten – Eine kritische Bestandsaufnahme
Bankgeschäfte und Neuigkeiten zum Europäischen Internationalen Verfahrensrecht
IV. Verzeichnis der Veröffentlichungen von Walther Hadding
V. Autorenverzeichnis
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Festschrift für Walther Hadding zum 70. Geburtstag am 8. Mai 2004 [Reprint 2012 ed.]
 9783110904468, 9783899491418

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Festschrift für Walther Hadding zum 70. Geburtstag

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Festschrift für

WALTHER HADDING zum 70. Geburtstag am 8. Mai 2004

herausgegeben von

Franz Häuser Horst Hammen Joachim Hennrichs

Anja Steinbeck Ulf R. Siebel Reinhard Welter

w DE

G

RECHT

De Gruyter Recht · Berlin

Die Herausgeber bedanken sich für die freundliche Unterstützung bei: Bundesverband Deutscher Banken e.V. Bundesverband Öffentlicher Banken Deutschlands e.V. DEURAG Deutsche Rechtsschutz-Versicherung A G Heuking Kühn Lüer Wojtek, Rechtsanwälte und Steuerberater R+V Versicherung A G

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-89949-141-6

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2004 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung/Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: H. Heenemann GmbH & Co., Berlin Bindung: Lüderik & Bauer GmbH, Berlin

Walther Hadding zum 8. Mai 2004 ARND

ARNOLD

THEODOR

F R A N K VAN L O O K

BAUMS

MARCUS

LUTTER

VOLKER

BEUTHIEN

PETER

ULRICH

BURGARD

MICHAEL

MARTINEK

WERNER

PETER BYDLINSKI CLAUS-WILHELM

MARBURGER

CANARIS

JÖRG

MERLE

MIMBERG

CARSTEN P. CLAUSSEN

PETER O .

BARBARA

DAUNER-LIEB

GERD

MEINRAD

DREHER

ULRICH

JENS EKKENGA

GERD

WOLFGANG

JÜRGEN

BARBARA ULRICH

GÖCMANN

GRUNEWALD HABERSACK

HEINZ CHRISTIAN

HANS

HENNRICHS

CURT WOLFGANG

KLAUS J . PETER

HERGENRÖDER

HIRTE HOPT

NORBERT

HORN

HUBER HÜFFER

DAGMAR KAISER ROGER ERIK

KIEM

KIEELING

HELMUT HORST PETER

KOLLHOSSER KONZEN

HELMUT

DIETER

ROTH

FRANK A .

SCHÄFER

HERBERT

KOZIOL

KREUTZ

UWE H .

SCHIMANSKY SCHMIDT SCHNEIDER

STEPHANIE JAN

JOACHIM

SCHULZE-OSTERLOH

EBERHARD

SIEBEL

BERND

SINGHOF

JOACHIM ANJA

SIOL

STEINBECK

STEPHAN ARNDT

STEUER

TEICHMANN

JÜRGEN T H A N REINHARD

WALTER F. LINDACHER

SCHWINTOWSKI

ULF R.

GOLO

LEHNHOFF

SCHWARK

HANS-PETER

BERTHOLD JOCHEN

SCHOLL

SCHÜRNBRAND

SIEGFRIED KUMPEL KUPISCH

PRIESTER

REUTER

KARSTEN

HENZE

HERIBERT

PECHER

JERZY PISULINSKI

ANDREAS

HAMMEN

HARTWIG

UWE

HAFKE

HATTENHAUER

JOACHIM

OECHSLER

H A N S PETER

HANS-JOACHIM

FRANZ HÄUSER

HORST

NOACK

NOBBE

M A R T I N PELTZER

HAAS

MATHIAS

MÜLBERT

MÜLLER

WEIDMANN WELTER

H A R M PETER WOLFGANG

WESTERMANN

ZÖLLNER

Inhalt Vorwort

XIII

I. Privatrecht CLAUS-WILHELM CANARIS

Die Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" und ihre Grundlagen

3

BARBARA D A U N E R - L I E B UND A R N D ARNOLD

Kein Rücktrittsrecht des Käufers bei von ihm verschuldeter Unmöglichkeit der Nacherfüllung?

25

BARBARA GRUNEWALD

Saldotheorie und neues Rücktrittsrecht

33

HORST HAMMEN

Stellvertretendes commodum bei anfänglicher Unmöglichkeit für jedermann?

41

HANS HATTENHAUER

Das BGB in der Zeitung

57

CURT WOLFGANG HERGENRÖDER

Das Spannungsverhältnis von Art. 12 GG und Art. 14 GG im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer

81

PETER H U B E R

Die Konkurrenz von Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung im neuen Schuldrecht

105

DAGMAR KAISER

Zeitweilige Unmöglichkeit

121

HORST KONZEN

Die AGB-Kontrolle im Arbeitsvertragsrecht

145

BERTHOLD KUPISCH

Schenkung auf Römisch - und ketzerische Fragen an die aktuelle Anweisungsdogmatik

167

vm

Inhalt

WERNER MERLE

Zur Abrechnung bei Veräußerung von Wohnungseigentum . . . .

185

GERD MÜLLER

Abschied von der Haftung des Verkäufers aus culpa in contrahendo oder Wiedergeburt?

199

HANS PETER PECHER

Uber Erscheinungsweisen von Rechtsschein

221

DIETER REUTER

Die Stiftung zwischen Verwaltungs- und Treuhandmodell

. . . .

ANDREAS R O T H

Zur Problematik des Vertrags zu Lasten Dritter

HANS-PETER

231 253

SCHWINTOWSKI

Grundsätze ordnungsgemäßer Anlage von Stiftungsvermögen

. .

271

A R N D T T E I C H M A N N UND G O L O W E I D M A N N

Paradigmenwechsel im Schadensersatzrecht durch die Schuldrechtsmodernisierung

287

II. Handels- und Gesellschaftsrecht VOLKER BEUTHIEN

Zum Haftungsprivileg der Vorgesellschafter Rechtliche Gründungshilfe zu Lasten der Gläubiger?

309

ULRICH BURGARD

Handelsregisterpublizität von Kommanditisten und GbR-Gesellschaftern - Rechtsprobleme der Neufassung des § 162 HGB . . .

325

JENS E K K E N G A

Die Insolvenzhaftung gegenüber dem „Neugesellschafter" nach GmbH- und Aktienrecht

343

U L R I C H H A A S UND S T E F A N I E S C H O L L

Informationsansprüche und -pflichten im Idealverein

365

M A T H I A S H A B E R S A C K UND JAN S C H Ü R N B R A N D

Die Bestätigung fehlerhafter Beschlüsse

391

HARTWIG HENZE

Die dosierte Einschränkung der aktienrechtlichen Anfechtungsklage in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes

409

Inhalt

IX

HERIBERT HIRTE

„Vermischung und Vermengung" von nach § 305 AktG abfindungsberechtigten und nicht abfindungsberechtigten Aktien nach Beendigung eines Unternehmensvertrages

427

KLAUS J . HOPT

Das Vertragsverhältnis zwischen Verlag und Pressegrossisten - Ein Beispiel für einen Kommissionsagentenvertrag -

443

U W E HÜFFER

Bewertungsgegenstand und Bewertungsmethode Überlegungen zur Berücksichtigung von Börsenkursen bei der Ermittlung von Abfindung und Ausgleich

461

ERIK KIEBLING

Das Gesamthandsprinzip bei Personalgesellschaften

477

HELMUT K O L L H O S S E R

Wann ist eine geheime Abstimmung im Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft zulässig?

501

PETER K R E U T Z

Die actio pro socio im Recht der BGB-Gesellschaft

513

W A L T E R F. LINDACHER

Kommanditisten als Sicherungsgeber (Regreß nach erfolgter Inanspruchnahme)

529

F R A N K VAN L O O K

„Vereinsstrafen" in der Genossenschaft?

539

M A R C U S LUTTER

Zur Zulässigkeit der Vergütung des Aufsichtsrats in Aktien der Gesellschaft

561

PETER O . MÜLBERT

Der (zukünftige) Gesellschafter - stets ein Verbraucher?

575

M A R T I N PELTZER

Verschärfung der Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat und dadurch entstehende Zielkonflikte - Eine Mahnung, die Nebenfolgen zu bedenken

593

H A N S - J O A C H I M PRIESTER

Feststellung des Jahresabschlusses bei der Personengesellschaft - Gesellschaftervereinbarung oder Organbeschluß? -

607

χ

Inhalt

UWE Η .

SCHNEIDER

Der Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens im Konzern - Ein Beitrag zum Konzernverfassungsrecht JOACHIM

621

SCHULZE-OSTERLOH

Das Grundlagengeschäft zwischen Geschäftsführungsmaßnahme und Änderung des Gesellschaftsvertrages BERND

637

SINGHOF

Haftung und Rückgriff der Hauptgesellschaft nach Beendigung der Eingliederung ANJA

655

STEINBECK

Zur Kündbarkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Oder: Nach § 128 HGB und § 130 HGB jetzt auch § 132 HGB analog?

.

675

JÜRGEN THAN

Die Vollversammlung einer Aktiengesellschaft - ein angemessener Ersatz für schriftliche Aktionärsbeschlüsse? HARM PETER

WESTERMANN

Formalismus und Interessenbewertung im Aktienrecht: zur Zustellung einer Anfechtungsklage WOLFGANG

689

707

ZÖLLNER

Folgen der Nichtigkeit einer Kapitalerhöhung für nachfolgende Kapitalerhöhungen. Zur Anwendung der Geschäftsgrundlagenlehre auf strukturändernde Beschlüsse bei Kapitalgesellschaften . . . .

725

III. Bank- und Kapitalmarktrecht T H E O D O R BAUMS UND R O G E R K I E M

Die Investmentaktiengesellschaft mit veränderlichem Kapital . . .

741

PETER BYDLINSKI

Die „Beraterhaftung" der Banken im österreichischen Recht . . .

759

CARSTEN PETER CLAUSSEN

Börsenreform in Permanenz MEINRAD

779

DREHER

Sind öffentlich-rechtliche Kreditinstitute öffentliche Auftraggeber? . WOLFGANG

797

GÖÖMANN

Der Zugang der elektronischen Willenserklärung

819

Inhalt

XI

FRANZ HÄUSER

Die Finanzierungsbestätigung nach § 13 Abs. 1 Satz 2 WpÜG

. .

833

Anmerkungen zur Corporate Governance in der Kreditwirtschaft .

863

HEINZ CHRISTIAN

JOACHIM

HAFKE

HENNRICHS

Haftungsrechtliche Aspekte des Ratings NORBERT

HORN

Sicherungsrechte an Geld- und Wertpapierguthaben im internationalen Finanzverkehr HELMUT

SIEGFRIED

JOCHEN

905

RÜMPEL

Zur Abgrenzung der börsenähnlichen Einrichtung von der genehmigungspflichtigen Börse

915

LEHNHOFF

Die Kontofähigkeit (insbesondere) der Gesellschaft bürgerlichen Rechts

935

MARBURGER

Die Aktienanleihe nach dem Inkrafttreten des Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes MICHAEL

ULRICH

949

MARTINEK

Vom Forderungskauf zum abstrakten Schuldversprechen Die Bekehrung der Rechtsprechung zu Walther Haddings Kreditkartentheorie

967

NOACK

Fragen der Finanzierungsbestätigung des Wertpapierdienstleistungsunternehmens GERD

893

KOZIOL

Auslegungsprobleme rund um die wiederholte Inanspruchnahme revolvierender Garantien

PETER

875

991

NOBBE

Bereicherungsausgleich bei Zahlungen mittels Universalkreditkarte JÜRGEN

1007

OECHSLER

Der Grundsatz der angemessenen Gegenleistung bei Ubernahmeangeboten nach § 31 Abs. 1 Satz 1 WpÜG 1027 JERZY PISULINSKI

Der Zahlungskartenvertrag im polnischen Recht

1047

χπ

Inhalt

FRANK Α . SCHÄFER UND JÖRG

MIMBERG

Verkaufsbeschränkungen bei der Emission von Wertpapieren . . . 1063 HERBERT

SCHIMANSKY

Das „Kündigungsrecht" des Drittsicherungsgebers KARSTEN

SCHMIDT

Das Gemeinschaftskonto: Rechtsgemeinschaft am Rechtsverhältnis. Eine rechtsdogmatische Skizze zu den §§ 421, 427, 428, 432, 705 und 741 BGB EBERHARD

1093

SCHWARK

Kapitalmarktbezogene Informationshaftung ULF R.

1081

1117

SIEBEL

Wann ist Papier Geld? JOACHIM

1139

SIOL

Das neue Recht der außerordentlichen Darlehenskündigung . . . STEPHAN

1157

STEUER

Die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu Preisen und Entgelten - Eine kritische Bestandsaufnahme . . . 1169 REINHARD

WELTER

Bankgeschäfte und Neuigkeiten zum Europäischen Internationalen Verfahrensrecht

1191

IV. Verzeichnis der Veröffentlichungen von Walther Hadding

1211

V. Autorenverzeichnis

1235

Vorwort Am 8. Mai 2004 vollendet Walther Hadding sein 70. Lebensjahr. Wenn seine Schüler, die er zur Habilitation geführt hat, diesen Geburtstag zusammen mit Kollegen und Wegbegleitern zum Anlaß nehmen, ihn mit einer Festschrift zu ehren, bedarf dieses einer kurzen Erläuterung. Hat doch Hadding vor einigen Jahren die Initiative ergriffen und eine Festgabe rechtswissenschaftlicher Hochschullehrer der Jahrgänge 1933/1934 herausgegeben. Wegen der großen Zahl seiner Jahrgangskollegen befürchteten er und andere eine nicht zu bewältigende Flut von Festschriften für die Emeritierten. Hadding hat damals aber auch ergänzt: „Wohlgemerkt: Keine individuelle Festschrift soll verhindert werden!" Dies haben sich seine Schüler „gemerkt" und die erwähnte Festgabe nicht als einengende Direktive bei der Vollendung späterer runder Geburtstage interpretiert. Geboren 1934 in Kassel, hat er in den Jahren 1953 bis 1957 an den Universitäten in Marburg und Bonn Rechtswissenschaft studiert. Die PhilippsUniversität Marburg war anschließend der Bezugspunkt seines wissenschaftlichen Werdeganges. Dort ist er im Jahre 1965 mit der nachwirkenden Dissertation über die „actio pro socio" promoviert worden und wurde im Jahre 1969 mit der Untersuchung zu dem Thema „Der Bereicherungsausgleich beim Vertrag zu Rechten Dritter" habilitiert. Für beide Untersuchungen, die sein Marburger Lehrer Rudolf Reinhardt betreut hat, ist eine ungemein glückliche Themenwahl kennzeichnend. Mit der Gesellschafterklage hat Hadding ein Thema wissenschaftlich angestoßen, das auch heute noch über die verschiedenen Gesellschaftsformen hinweg großes praktisches und wissenschaftliches Interesse findet, und mit der Habilitationsschrift hat er sich in den Kreis der herausragenden Zivilrechtler eingereiht, die die damals „neue Bereicherungslehre" auf einen Prüfstand der sogenannten Dreiecksverhältnisse gestellt haben. Wichtigen Teilen des Schuldrechts sowie dem Recht des Vereins und der Gesellschaft bürgerlichen Rechts als den Grundmodellen deutscher Gesellschaftsformen hat er sich bis in die Gegenwart in dem von Soergel begründeten Kommentar zum BGB gewidmet. 1971 folgte Hadding einem Ruf an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz auf eine Professur mit dem Schwerpunkt im Handels- und Gesellschaftsrecht. Dieser Universität ist er - trotz ehrenvoller Rufe an andere Wirkungsstätten - bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1999 treu geblieben. Dafür war sicherlich mitbestimmend, daß er ab 1976 mit der Leitung des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens als Nachfolger des Institutsgründers Johannes Bärmann betraut

XIV

Vorwort

wurde. Die Übernahme des Direktorats dieses schon damals angesehenen Instituts eröffnete für Hackling mit dem Bankrecht ein weiteres wissenschaftliches Betätigungsfeld, dem er bis heute treu geblieben ist. Auch für das Bankrecht fällt eine ungewöhnlich glückliche Wahl der wissenschaftlichen Themen auf. So hat er sich beispielsweise im Jahre 1975 als einer der ersten vertieft mit den zivilrechtlichen Fragen des Lastschriftverfahrens auseinandergesetzt und 1980 in einem umfangreichen Gutachten zum 53. Deutschen Juristentag in Berlin die wissenschaftlichen Grundlagen für die bis heute nicht abgeschlossene Diskussion über Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers auf dem Gebiet des Konsumentenkredits gelegt. Seine zivilrechtliche Beurteilung der Zahlung mit Universalkreditkarten hat der BGH übernommen. Hadding ist nicht nur Gründungsmitglied der Bankrechtlichen Vereinigung, sondern er hat über viele Jahre dem Vorstand dieser sehr erfolgreichen wissenschaftlichen Gesellschaft angehört. 1985 war Hadding Dekan des Fachbereiches Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität, und über viele Jahre gehörte er der Kommission des Juristischen Fakultätentages an, die sich mit der (immerwährenden) Ausbildungsreform befaßt. Hadding hat die Ausbildungsaufgaben eines Hochschullehrers ungemein ernst genommen. Sein Lehrerfolg war sprichwörtlich. Studierenden den Rechtsstoff in verständlicher Sprache und immer systematisch nachvollziehbar nahe zu bringen, war sein bestimmendes Anliegen. In der Mitwirkung an dem Studienkommentar zum BGB (1.-3. Buch) und in dem Band „Die HGB-Klausur" hat dies einen Niederschlag gefunden. Von seinem Engagement in der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses zeugen die vielen Promotionen, die er betreut hat, aber insbesondere die große Zahl derer, die er zur Habilitation geführt hat. Alle diejenigen, deren wissenschaftlichen Werdegang er so erfolgreich begleitet, und auch diejenigen, die er mit den Anfangs gründen der Rechtswissenschaft vertraut gemacht hat, sind ihm zu großer Dankbarkeit verpflichtet. Alle, die sich in dieser Festschrift zu Ehren von Walther Hadding zusammengefunden haben, verbindet der Ruf „ad mukös annos". Mai 2004 Franz Häuser Anja Steinbeck

Horst Hammen Ulf R. Siebel

Joachim Hennrichs Reinhard Welter

I. Privatrecht

Die Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" und ihre Grundlagen CLAUS-WILHELM

CANARIS

Bankvertragsrecht stellt ganz überwiegend nichts anderes dar als eine besondere Erscheinungsform, ja mitunter geradezu ein Konzentrat des Bürgerlichen Rechts. So ist auch das Werk des Jubilars durch die Verbindung und Verschränkung dieser beiden Gebiete geprägt. Daher sei ihm ein Beitrag aus dem Bereich des Bürgerlichen Rechts gewidmet, der zugleich für bankrechtliche Fragen von erheblicher praktischer Bedeutung ist und die Thematik der Aufklärungs-, Belehrungs- und Hinweispflichten - die mehrfach das wissenschaftliche Interesse des Jubilars gefunden haben1 - in einem wesentlichen Teilaspekt zu vertiefen sucht: Es geht um die dogmatisch und praktisch gleichermaßen bedeutsame Bewältigung der Ungewißheit darüber, wie derjenige, demgegenüber eine solche Pflicht verletzt worden ist, reagiert hätte, wenn sie korrekt erfüllt worden wäre. Rechtsprechung und Lehre suchen diese Schwierigkeit bekanntlich mit Hilfe der Vermutung zu lösen, daß er sich „aufklärungsrichtig" bzw. „belehrungsgemäß" oder dgl. verhalten hätte. Worin eine solche Vermutung ihre Grundlage findet, ist indessen ebenso wenig hinreichend geklärt wie die Frage, unter welchen Voraussetzungen sie Platz greift.

I. Problemstellung und Rechtsprechungstendenzen 1. Die grundlegende Entscheidung des 7. Zivilsenats im Basteiwettbewerbsfall BGHZ 61, 118 Selten läßt sich die Geburtsstunde einer dogmatischen Figur so genau bestimmen wie hinsichtlich der Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens". Diese hat das Licht der juristischen Welt durch die Entscheidung des Ζ Zivilsenats vom 5. Juli 1973 erblickt, welche den Leitsatz trägt: „Wer eine ver1

Vgl. Hadding/Hennrichs Devisentermingeschäfte - Prolongation und Aufklärungspflichten, Festschrift Claussen, 1997, S. 447ff., insbesondere S. 457ff.; Hadding Zur Abgrenzung von Unterrichtung, Aufklärung, Auskunft, Beratung und Empfehlung als Inhalt bankrechtlicher Pflichten, Festschrift Schimansky, 1999, S. 67ff.

4

Claus-Wilhelm Canaris

tragliche Aufklärungs- oder Beratungspflicht verletzt, den trifft die Beweislast dafür, daß der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre, weil sich der Geschädigte über jeden Rat oder Hinweis hinweggesetzt hätte."2 Wesentliche wissenschaftliche Vorarbeiten waren, soweit ersichtlich, der Aufstellung dieses Rechtssatzes - anders als in den meisten Fällen einer wichtigen Rechtsfortbildung - nicht vorausgegangen; eine längere Kette einschlägiger Präjudizien, aus denen der Satz sich allmählich als gemeinsame, einigermaßen erprobte Essenz herausgeschält hätte, gab es nicht, auch wenn der Senat immerhin auf einige kurz zuvor ergangene Urteile hinweisen konnte, in denen die Beweislast ebenso verteilt worden war.3 a) In dogmatischer Hinsicht ist die Entscheidung - im Gegensatz zu manchem späteren Urteil des BGH zu dieser Problematik - insofern von vorbildlicher Klarheit, als sie ausdrücklich zwischen einem bloßen Anscheinsbeweis und einer „echten Umkehr der Beweislast" unterscheidet4 und sich unmißverständlich für letztere ausspricht. Auch unter teleologischen Aspekten trifft das Urteil sogleich ins Zentrum der Problematik, wenn es ausführt: „Dem Ersatzberechtigten wäre wenig damit gedient, wenn er seinen Vertragspartner zwar an sich aus schuldhafter Verletzung einer solchen Hinweispflicht in Anspruch nehmen könnte, aber regelmäßig daran scheitern würde, daß er den meist schwer zu führenden Beweis nicht erbringen könnte, wie er auf den Hinweis reagiert hätte, wenn er gegeben worden wäre. Der Aufklärungspflichtige dagegen hätte nicht viel zu befürchten, wenn er bei der Verletzung seiner Hinweispflicht sich darauf zurückziehen dürfte, daß kaum zu beweisen sei, was der andere Teil auf den Hinweis hin getan hätte. Damit würde der mit der Aufklärungspflicht verfolgte Schutzzweck verfehlt."5 Hier kommen in der Tat zentrale Wertungskriterien in kondensierter und konzentrierter Form zur Sprache: die typische Beweisnot des Geschädigten, die daraus folgende Gefahr einer Entwertung seines Anspruchs und die korrespondierende Abschwächung der Präventionsfunktion des Schadensersatzanspruchs sowie die Unvereinbarkeit eines solchen Ergebnisses mit dem Schutzzweck der Aufklärungspflicht. Darauf wird ausführlich zurückzukommen sein.6 Dem Schutzzweck der Aufklärungspflicht mißt der Senat dabei zentrale Bedeutung zu. Er geht sogar so weit zu behaupten, daß „der Zweck solcher Aufklärungs-, Hinweis- und Beratungspflichten auch darin besteht, Klarheit darüber zu schaffen, ob der Vertragsgegner, wenn ihm das jeweilige Risiko in seiner ganzen Tragweite bewußt gemacht wird, trotzdem an der ins Auge 2 3 4 5 6

BGHZ 61, 118. BGHZ 61, 118, 122f. BGHZ 61, 118, 120. BGHZ 61, 118, 122. Vgl. unten III 2 und 3.

Die Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" und ihre Grundlagen

5

gefaßten Maßnahme festhalten oder ob er von ihr Abstand nehmen will", und daß „die Aufklärung also gerade die in Fällen dieser Art häufig auftretende Beweisnot beseitigen soll, die darin besteht, daß sich nachträglich nur schwer mit der erforderlichen Zuverlässigkeit beurteilen läßt, wie der Betroffene bei rechtzeitiger Kenntnis von etwaigen schadensdrohenden Umständen gehandelt hätte." 7 Hiergegen drängt sich nun freilich der Einwand der petitio principii auf.8 Denn zwar besteht das Ergebnis der Beweislastumkehrung in der Beseitigung der Beweisnot, doch heißt das nicht, daß schon das Ziel der Aufklärungspflicht in deren Vermeidung gesehen werden kann. b) Diese Kritik an einem einzelnen - wenngleich wichtigen - Punkt der Begründung schwächt indessen die Überzeugungskraft, die diese prima vista aufweist, nur geringfügig ab. Gravierender ist, daß sich der Senat nicht mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob sich die von ihm angestrebte Lösung nicht schon mit den Mitteln des Anscheinsbeweises erreichen läßt. Leider ist aus dem mitgeteilten Sachverhalt auch nicht klar zu erkennen, ob die Voraussetzungen für dessen Führung vorlagen bzw. warum sie nicht gegeben waren. In dem zu entscheidenden Fall hatte eine Werbeagentur die Werbeberatung und die Werbung für einige Erzeugnisse eines Unternehmens übernommen, das u.a. Selbstklebefolien herstellte. Die Agentur veranstaltete einen Bastelwettbewerb als Werbung für dieses Fabrikat, bei dem die für eine Preisverleihung einzureichenden Arbeiten auf Wunsch des Unternehmens mit Hilfe des betreffenden Fabrikats hergestellt sein mußten. Mit der Begründung, daß darin ein unlauterer Kaufzwang liege, wurde dem Unternehmen die Fortsetzung des Wettbewerbs gerichtlich verboten, wodurch dieses den streitgegenständlichen Schaden erlitt. Der BGH nahm an, die Agentur habe eine „Pflicht zur Aufklärung über die rechtlichen Bedenken gegen die Zulässigkeit der geplanten Werbemaßnahme" getroffen, und sah deren Sinn darin, dem Unternehmen „die bei Durchführung des Bastelwettbewerbs mit dem vorgesehenen Kaufzwang drohenden Gefahren vor Augen zu halten und ihr die Entscheidung zu ermöglichen, ob sie das insoweit bestehende Risiko auf sich nehmen wolle".9 Das klingt so, als sei für einen Anscheinsbeweis kein Raum gewesen, zumal der Senat diese Möglichkeit ja nicht etwa übersehen, sondern ausdrücklich wenngleich nur beiläufig - erwähnt hat. Zwar dürfte es einen Erfahrungssatz dahingehend geben, daß ein Unternehmen eine Werbemaßnahme un7

BGHZ 61,118,121 f. im Anschluß an Stollm Festschrift v. Hippel, 1967, S. 552 und 559. Noch darüber hinausgehend wird der Einwand des Zirkelschlusses erhoben von Grigoleit Vorvertragliche Informationshaftung, 1997, S. 174; der Sache nach ähnlich ferner die Kritik von Schultz VersR 1990, 810f.; dasselbe Argumentationsmuster wie der BGH verwendet dagegen mit Selbstverständlichkeit v. BarjZ 1989, 252 (bezüglich der deliktsrechtlichen Verkehrspflichten, soweit diese auf eine Warnung, einen Hinweis oder dgl. gerichtet sind). » BGHZ 61, 118, 123. 8

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terläßt, wenn deren Rechtswidrigkeit mit großer Sicherheit zu bejahen ist und mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem gerichtlichen Verbot gerechnet werden muß, doch gibt es natürlich auch Fälle, in denen man über die Rechtswidrigkeit trefflich streiten kann und/oder deren Geltendmachung (durch einen Konkurrenten oder dgl.) kaum zu erwarten ist, und dann sind natürlich die Voraussetzungen eines prima-facie-Beweises nicht gegeben. Die Entscheidung ist somit - zumindest potentiell - im letzteren Sinne zu verstehen, soweit es um ihre Relevanz als Präjudiz geht. 2. Hauptaspekte der weiteren Entwicklung der Rechtsprechung Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung verlief zwiespältig, wird jedoch insgesamt durch die Tendenz geprägt, die vom 7 Senat in der Basteiwettbewerbsentscheidung entwickelte Umkehrung der Beweislast einzuschränken oder sogar gänzlich zu revidieren. a) Zunächst wurde diese freilich noch eher ausgeweitet, indem der 8. Senat sie auf die Hinweispflicht des Verkäufers eines Haartonicums übertrug, das allergische Reaktionen auslösen konnte.10 Eine Ausweitung lag darin insofern, als in dem vom 7 Senat entschiedenen Fall der Vertrag geradezu die Beratung des anderen Teils zum Hauptinhalt hatte, während eine solche dem Verkäufer grundsätzlich nicht obliegt. Außerdem war hier ganz klar, daß dem Geschädigten keinesfalls schon mit den Mitteln des prima-facie-Beweises geholfen werden konnte. Das Berufungsgericht hatte nämlich ausdrücklich festgestellt, es sei „weder erwiesen noch überhaupt hinreichend wahrscheinlich, daß der Kläger bei Kenntnis der möglichen Nebenwirkungen von der Verwendung des Haartonicums abgesehen oder jedenfalls alle von vornherein geeigneten Schutzmaßnahmen ... getroffen hätte", und der BGH hielt es sogar genau umgekehrt für möglich, daß der beklagten Verkäuferin ihrerseits ein Anscheinsbeweis zustatten kommen könne, wonach der Kläger das Haartonicum auch bei voller Erfüllung der Hinweispflicht in derselben Weise benutzt hätte. b) Den Beginn einer Gegenbewegung markieren Entscheidungen des 6. Senats zum Arzthaftungsrecht. Dieser verneinte in einem Fall, in dem eine Frau sich einem Eingriff zum Zwecke der Sterilisation unterzogen und der Arzt sie pflichtwidrig nicht darüber aufgeklärt hatte, daß bei der gewählten Art der Sterilisation noch ein gewisses Risiko einer Schwangerschaft blieb, die Übertragbarkeit der vom 7. Senat entwickelten Umkehrung der Beweislast und legte der Frau daher den Beweis auf, daß eine zureichende Belehrung sie „zu einem Verhalten veranlaßt hätte, welches die später einge10 BGHZ 64, 46, 51 f.; im Ergebnis zustimmend, jedoch kritisch gegenüber den allgemeinen Aussagen zur Umkehrung der Beweislast Stoll AcP 176 (1976), 160.

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tretene ungewollte Schwangerschaft mit hinreichender Sicherheit ausschloß". 11 Zur Begründung führte der 6. Senat lediglich aus, daß der Arzt „nicht etwa den auf eine bestimmte Verhaltensweise des Adressaten ausgerichteten Rat schuldete, über den sich dieser nur unvernünftigerweise hinwegsetzen konnte". 12 Das ist indessen kein geeignetes Argument, um ein überzeugendes Unterscheidungskriterium gegenüber der Entscheidung des 7. Senats zu gewinnen. Denn dieser hatte gerade nicht ausgesprochen, daß die Werbeagentur dem von ihr beratenen Unternehmen hätte raten müssen, von dem mit dem Bastelwettbewerb verbundenen Kaufzwang abzusehen, sondern sie lediglich für verpflichtet gehalten, dem Unternehmen die „drohenden Gefahren vor Augen zu führen" und ihm „die Entscheidung zu ermöglichen, ob (es) das insoweit bestehende Risiko in Kauf nehmen wollte." 13 Ganz ähnlich mußte der Arzt seiner Patientin die Gefahr vor Augen führen, daß sie trotz der Sterilisation schwanger werden könnte, und ihr so die Entscheidung ermöglichen, ob sie dieses Risiko in Kauf nehmen oder ihm durch zusätzliche empfängnisverhütende Maßnahmen entgegenwirken oder sogar eine andere, u . U . sicherere Art der Sterilisation wählen wollte. Die Begründung des 6. Senats erscheint somit von vornherein nicht als tragfähig. In einer späteren Entscheidung hat der 6. Senat seine Begründung präzisiert und vertieft. In dem zugrunde liegenden Fall hatten die behandelnden Arzte eine Patientin nicht korrekt über das Risiko aufgeklärt, bei einer erneuten Schwangerschaft ein krankes Kind zu bekommen. In Anlehnung an seine Sterilisationsentscheidung hat der 6. Senat auch hier eine Beweislastumkehrung zugunsten der Frau abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: „Weder schuldeten die Bekl. der Kl. einen konkreten Rat dahin, eine erneute Schwangerschaft zu vermeiden, noch gab es für sie nur eine bestimmte Möglichkeit, sich aufgrund der ihr von den Bekl. geschuldeten Information ,aufklärungsrichtig' zu verhalten".14 Mit dem zweiten Halbsatz ist gemeint, daß die Klägerin das Risiko, ein krankes Kind zu bekommen, in der Hoffnung auf ein gesundes Kind hätte in Kauf nehmen können. Dieser Halbsatz wurde später von anderen Senaten aufgegriffen und spielt unter dem Stichwort des „echten Entscheidungskonflikts" eine zentrale Rolle für die weitere Entwicklung der Rechtsprechung, weshalb hierauf erst an späterer Stelle näher einzugehen ist.15

BGH NJW 1981, 630, 632; ähnlich BGH NJW 1981, 2002, 2004. BGH NJW 1981, 630, 632. ι' BGHZ 61, 118, 123. » BGH NJW 1989, 2320, 2321; teilweise kritisch dazu Schultz VersR 1990, 814. 15 Vgl. unten d) bei und nach Fn. 27 sowie III 1 c). 11

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Diese Entscheidung aus dem Jahre 1989 steht in einem merkwürdigen, ja fast rätselhaften Gegensatz zu einer anderen früheren (!) Entscheidung desselben Senats, die im Jahre 1983 ergangen ist. In diesem Fall hatte ein Arzt auf die Frage einer schwangeren Patientin nach der Gefahr, daß sie ein Kind mit Down-Syndrom bekommen könnte, ausweichend reagiert und sie nicht hinreichend über dieses Risiko und die Möglichkeiten des Umgangs mit ihm aufgeklärt. Hier hat der 6. Senat hinsichtlich der Frage, ob die Patientin bei korrekter Aufklärung eine Untersuchung der Leibesfrucht und gegebenenfalls einen Abbruch der Schwangerschaft vorgenommen hätte, eine Beweislastumkehr bejaht und diese ganz ähnlich wie seinerzeit der 7 Senat - wenngleich ohne ausdrückliche Bezugnahme auf dessen Entscheidung - mit dem Schutzzweck der Aufklärungspflicht begründet. Die zentrale Passage lautet: „Die begehrte Aufklärung über die Gefahr einer pränatalen Schädigung des Kindes durch eine Chromosomenanomalie sollte gerade dazu dienen, die Klägerin entscheiden zu lassen, ob sie das bestehende Risiko eingehen oder vorhandene Möglichkeiten, es durch eine Untersuchung sicher zu erkennen und dann gegebenenfalls durch Schwangerschaftsabbruch die Geburt eines mongoloiden Kindes zu verhindern, nutzen sollte. In einer solchen Lage kann es nicht Sache des Geschädigten sein, seinen auf individuellen, letztlich nicht nachprüfbaren Wertungen beruhenden hypothetischen Entschluß zur Ausschaltung des befürchteten Risikos unter Inkaufnahme anderer Risiken nachzuweisen. Der Schutzzweck der Aufklärung wird vielmehr erst dann erreicht, wenn derjenige, der die von ihm geschuldete Aufklärungspflicht verletzt, entgegen einer Kausalitätsvermutung zugunsten des Geschädigten den Beweis für die NichtUrsächlichkeit seiner Pflichtverletzung zu erbringen hat."16 Diese Ausführungen passen ihrem Gehalt nach grundsätzlich auch für die beiden zuvor behandelten Fälle.17 Insbesondere gab es auch hier nicht nur eine Möglichkeit „aufklärungsrichtigen" Verhaltens, da die Schwangere sich auch zum Verzicht auf eine Untersuchung, ja sogar zur Austragung des Kindes trotz einer diagnostizierten Chromosomenanomalie hätte entschließen können und sich also bei korrekter Aufklärung durchaus in einem „echten Entscheidungskonflikt" befunden haben könnte. Daß sie hier ausdrücklich nach dem Risiko gefragt hatte, während die Patientinnen das in den beiden anderen Fällen nicht getan hatten, vermag die Unterschiedlichkeit der Entscheidungen keinesfalls zu legitimieren; denn sonst würde derjenige, der sich eines Risikos gar nicht bewußt und daher eher noch schutzbedürftiger ist, widersinniger Weise schlechter gestellt.

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BGHZ 89, 95, 103. Kritisch gegenüber ihrer unterschiedlichen Behandlung durch den BGH daher auch Stodolkowitz VersR 1994, 13. 17

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c) Während der 6. Senat somit keine wirklich konsistente Gegenposition gegenüber der grundlegenden Entscheidung des 7. Senats im Basteiwettbewerbsfall entwickelt hat, hat der 9. Senat dies getan. Er hatte sich mit der Rechtsprechung zum Anwalts- und Steuerberatungsvertrag auseinanderzusetzen, wonach bei Verstößen gegen die Beratungspflicht zu Gunsten des Mandanten die Vermutung spreche, dieser hätte sich bei vertragsgerechtem Handeln des anderen Teils beratungsgemäß verhalten, und hat diesen Satz dahingehend präzisiert, daß er nur zur Anwendung komme, „wenn im Hinblick auf die Interessenlage oder andere objektive Umstände eine bestimmte Entschließung des zutreffend informierten Mandanten mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten wäre" bzw. „wenn nach der Lebenserfahrung bei vertragsgemäßer Leistung des Beraters lediglich ein bestimmtes Verhalten nahegelegen hätte."18 Der 9. Senat hat somit klar ein völlig anderes Wertungskriterium benannt als der Ζ Senat im Bastelwettbewerbsfall: die Wahrscheinlichkeit, daß die zu beratende Partei dem Rat Folge geleistet und so den Schaden vermieden hätte - ein Gesichtspunkt, der in der Entscheidung des Ζ Senats überhaupt keine Rolle gespielt hatte. Der 9. Senat hat daraus auch folgerichtig die Konsequenzen sowohl in tatbestandlicher als auch in dogmatischer Hinsicht gezogen. Er hat nämlich ausdrücklich ausgesprochen, daß „Voraussetzung" für die Anwendung der Vermutung beratungsgemäßen Verhaltens „tatsächliche Feststellungen sind, die im Falle sachgerechter Aufklärung durch den rechtlichen Berater aus der Sicht eines vernünftig urteilenden Menschen eindeutig eine bestimmte tatsächliche Reaktion nahegelegt hätten";19 und er hat ebenso unmißverständlich festgestellt, daß „diese Vermutung keine Beweislastumkehr bewirkt, sondern (lediglich) einen Anwendungsfall des Anscheinsbeweises bildet".20 In terminologischer Hinsicht muß man sich somit stets bewußt sein, daß mit dem Begriff der „Vermutung" Unterschiedliches gemeint sein kann: entweder eine Umkehrung der Beweislast oder das Vorliegen der Voraussetzungen eines bloßen Anscheinsbeweises. In sachlicher Hinsicht handelt es sich um ein Gegenmodell zur Lösung des Ζ Senats oder genauer gesagt um deren schlichte Ablehnung, da die Heranziehung der Regeln über den Anscheinsbeweis im Gegensatz zu einer Umkehrung der Beweislast nicht spezifisch für die vorliegende Problematik ist und somit letztlich auf der Leugnung ihrer Besonderheit beruht. Freilich hat der 9. Senat die Lösung des Ζ Senats nicht ausdrücklich zurückgewiesen, sondern eher den Eindruck zu erwecken versucht, daß er diese konsequent fortführe. In Wahrheit sind BGHZ 123, 311, 314 bzw. Leitsatz 1. » BGHZ 123, 311, 314f. 20 BGHZ 123, 311 Leitsatz 2; ebenso schon mit vorbildlicher Klarheit Vollkommer Festschrift Baumgärtel, 1990, S. 592 f. 18

in

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beide Entscheidungen aber miteinander unvereinbar. Auch im Bastelwettbewerbsfall ging es nämlich um eine Pflicht zur Beratung - und zwar sogar ebenfalls über eine Rechtsfrage - , und daher ist nicht ersichtlich, worin insoweit ein entscheidungserheblicher Unterschied liegen soll. Zur wertungsmäßigen Fundierung seiner Ansicht hat der 9. Senat lediglich ausgeführt, daß nur seine Lösung „zu einer angemessenen Risikoverteilung zwischen dem rechtlichen Berater und seinem Mandanten gelangt"; denn der zwischen diesen geschlossene Vertrag sei „häufig so sehr durch die besonderen Umstände des Einzelfalles geprägt, daß erst deren Einbeziehung erkennen läßt, ob Raum ist für eine Vermutung, die das tatsächliche Verhalten des Mandanten betrifft, das Feld der in Betracht kommenden Rechtsfragen (sei) praktisch unübersehbar (und) deren Bedeutung werde oft maßgeblich von Umständen aus der Sphäre des Ratsuchenden geprägt, die geeignet sind, die von ihm zu treffenden Entschließungen wesentlich mitzubestimmen". 21 Daran ist sicher richtig, daß es sich um ein Problem der angemessenen vertraglichen Risikoverteilung handelt, doch wird das Zentralargument des 7 Senats, das wie gezeigt in der mangelnden Effektivität der Aufklärungspflicht und in der Mißachtung ihres Schutzzwecks liegt, vom 9. Senat gar nicht diskutiert, geschweige denn widerlegt, so daß es auch insoweit einer Vertiefung bedarf. 22 Im praktischen Ergebnis wirkt sich die Unterschiedlichkeit der beiden Lösungsansätze vor allem dann aus, wenn weder für noch gegen ein beratungsgemäßes oder aufklärungsrichtiges Verhalten eine besondere Wahrscheinlichkeit bestand; denn dann trägt bei einer Umkehrung der Beweislast der Beratungs- bzw. Aufklärungspflichtige den Schaden, beim Rekurs auf einen bloßen Anscheinsbeweis dagegen der Beratungs- bzw. Aufklärungsbedürftige. Im zu entscheidenden Fall, in dem es darum ging, ob der Mandant eines Steuerberaters Mitglied einer Gesellschaft geblieben wäre, wenn er korrekt über die Höhe der bei seinem Ausscheiden anfallenden Steuern unterrichtet worden wäre, hat der 9. Senat das Vorliegen der Voraussetzungen eines Anscheinsbeweises verneint, also zu Gunsten des Beraters entschieden; den bei einer Umkehrung der Beweislast erforderlichen Gegenbeweis, daß der Mandant auch bei Kenntnis der Steuerbelastung aus der Gesellschaft ausgeschieden wäre, hatte der Berater dagegen nicht zu führen vermocht, so daß der unterschiedliche dogmatische Ansatz hier in der Tat auf das Ergebnis durchschlägt. d) Nunmehr trat der 11. Senat auf den Plan und setzte einen gewissen Gegenakzent mit der Feststellung: „An der Rechtsprechung, daß ,aufklärungsrichtiges' Verhalten vermutet wird, der Aufklärungspflichtige die Nicht-

21 22

BGHZ 123, 311, 315 bzw. 316. Vgl. zu dieser unten III 1 c) und 3.

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ursächlichkeit seiner Pflichtverletzung somit zu beweisen hat, wird festgehalten (Abgrenzung zu BGHZ 123, 311)."23 Zur Begründung führte er aus, daß die Erwägungen, die den 9. Senat zur Ablehnung einer Umkehrung der Beweislast und zum bloßen Rückgriff auf die Regeln über den Anscheinsbeweis bewogen hatten, „bei Aufklärungspflichten, die dazu bestimmt sind, dem Partner eine sachgerechte Entscheidung über den Abschluß bestimmter Geschäfte zu ermöglichen, nicht zutreffen", und hielt demgemäß für eine derartige Fallkonstellation an einer echten Beweislastumkehr fest. 24 Allerdings beziehen sich diese Ausführungen nur auf den Anspruch aus culpa in contrahendo, während der Senat hinsichtlich des Parallelproblems bei einem Anspruch aus § 826 BGB von einer „tatsächlichen Vermutung" spricht.25 Viel folgenreicher als diese „Abgrenzung" gegenüber der Entscheidung des 9. Senats ist indessen, daß der 11. Senat diesem in einem anderen - bisher noch nicht erwähnten - Punkt gefolgt ist. Der 9. Senat hatte nämlich die unter b), insbesondere bei Fn. 14 referierte Rechtsprechung des 6. Senats zum Arzthaftungsrecht dahingehend interpretiert, daß eine Umkehr der Beweislast abzulehnen ist, „wenn nicht der Rat zu einer bestimmten Maßnahme geschuldet war und im Falle erhaltener Aufklärung mehrere, vom Ansatz her gleichwertige, aber mit unterschiedlichen Folgen verbundene Möglichkeiten vernünftigen Verhaltens bestanden." 26 Ganz ähnlich hat nun der 11. Senat die Kausalitätsvermutung an die Voraussetzung geknüpft, „daß es für den anderen Teil ... nur eine bestimmte Möglichkeit ,aufklärungsrichtigen' Verhaltens gibt, ein Entscheidungskonflikt... also nicht vorliegt".27 Diese Formel beherrscht seither, mit geringfügigen Variationen, die Rechtsprechung des BGH. 28 Macht man mit ihr ernst, werden die Unterschiede gegenüber einem Anscheinsbeweis nahezu vollständig eingeebnet.29 Denn wenn bei korrekter Aufklärung vernünftigerweise nur die Möglichkeit besteht, sich anders zu verhalten als geschehen, wird man in aller Regel von 23

BGHZ 124, 151, 152 Leitsatz b. BGHZ 124, 151, 160. 25 So zuletzt BGH VersR 2003, 512, 513 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf BGHZ 124, 151, 163, wo es noch etwas neutraler lediglich „wird vermutet" heißt. " BGHZ 123, 311, 314. 27 BGHZ 124, 151, 161. 2 » Vgl. z.B. BGH WM 1990, 681, 683; WM 1994, 149, 151; WM 1998, 1527, 1529; NJW 1994,2541,2542; NJW 1997,2171,2173. Die Entscheidung BGHZ 151,5,12 bricht mit dieser Ansicht durchaus nicht, sondern präzisiert sie lediglich in konsequenter Weise, vgl. unten III 1 b) bei Fn. 62. 29 Bezeichnend ist, daß der BGH in der Entscheidung NJW 2002, 593, 594 einen Anscheinsbeweis (!) für ein „beratungsgemäßes Verhalten" ebenfalls davon abhängig macht, daß „ein bestimmter Rat geschuldet war und es in der gegebenen Situation unvernünftig gewesen wäre, einen solchen Rat nicht zu befolgen". 24

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einem Erfahrungssatz des Inhalts ausgehen können, daß die aufzuklärende Person das dann auch getan hätte, und also insoweit einen „typischen Geschehensablauf" annehmen können, so daß schon mit einem Anscheinsbeweis zum Ziel zu kommen ist. 30 In Wahrheit läuft die Einschränkung, es dürfe nur eine bestimmte Möglichkeit „aufklärungsrichtigen Verhaltens" geben, daher auf eine nahezu völlige Zerstörung der im Bastelwettbewerbsfall vom 7. Senat entwickelten Umkehrung der Beweislast hinaus. Zum einen entfaltet diese nämlich gerade dann ihre praktische Hauptbedeutung, wenn auch die Möglichkeit ernsthaft in Betracht kommt, daß sich die aufzuklärende Person trotz der Aufklärung genauso verhalten hätte wie ohne diese,31 und zum anderen vermag in dogmatischer Hinsicht ein besonders hoher Grad an Wahrscheinlichkeit, an den der Sache nach durch das Erfordernis des Bestehens nur einer bestimmten Möglichkeit „aufklärungsrichtigen Verhaltens" angeknüpft wird, eine Beweislastumkehr gerade nicht zu legitimieren. 32 In dieser Hinsicht bedarf die Rechtsprechung somit in besonderem Maße einer kritischen Überprüfung. 33

3. Fazit der Rechtsprechungsanalyse Insgesamt ergibt die Analyse der Rechtsprechung des BGH somit ein wenig klares und kaum überzeugungskräftiges Bild. Dieses wird dadurch geprägt, daß die vom Ζ Senat begründete Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" von den anderen Senaten nahezu völlig wieder abgebaut worden ist. Dies ist teilweise dadurch geschehen, daß ihre Ubertragbarkeit auf andere Fälle von Aufklärungspflichtverletzungen mit schwachen Argumenten und vordergründigen Differenzierungen geleugnet wird (vgl. oben b)), teilweise dadurch, daß an ihre Stelle der Rückgriff auf die Regeln über den Anscheinsbeweis gesetzt wird (vgl. oben c)), und teilweise schließlich dadurch, daß an ihr zwar verbal festgehalten, sie aber durch die Einschränkung nahezu funktionslos gemacht wird, sie gelte nur, wenn es „nur eine bestimmte Möglichkeit,aufklärungsrichtigen' Verhaltens gibt" (vgl. soeben d) a.E.). Diesem Trend stehen nur wenige gegenläufige Entscheidungen entgegen wie vor allem die zur mangelnden Aufklärung über die allergischen Nebenwirkungen eines Haartonicums und über das Risiko der Geburt eines Kindes mit einer Chromosomenanomalie (vgl. oben a) und b) bei Fn. 16).

30 Vgl. auch Grün NJW 1994, 1332, die in Kritik an der Entscheidung des 11. Senats ausdrücklich dafür plädiert, hier allein die Regeln über den Anscheinsbeweis heranzuziehen. 31 Vgl. oben c) nach Fn. 22. 32 Ahnlich die Kritik von Grigoleit (Fn. 8), S. 171 Fn. 389 und S. 174; ebenso der Sache nach schon Vollkommer in Festschrift Baumgärtel, 1990, S. 593 f. 33 Vgl. unten III 1 b) und c).

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II. Die „konkretisierende" Äquivalenztheorie i.V. mit den Regeln über das rechtmäßige Alternativverhalten als vorzugswürdiger Lösungsansatz Das Fazit der Rechtsprechungsanalyse macht es erforderlich, die Begründung, auf die der 7. Senat seinerzeit die Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" gestützt hat, näher auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen. Zuvor soll jedoch ein anderer Lösungsansatz zur Diskussion gestellt werden, der bisher zu Unrecht vernachlässigt worden ist. 1. Die Lehre vom „Erfolg in seiner konkreten Gestalt" als Grundlage der Kausalitätsprüfung Die Verletzung einer Aufklärungspflicht stellt einen Fall des Unterlassens dar. Ein solches ist für den Schaden kausal, wenn dieser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele, sofern man das entsprechende pflichtgemäße Tun hinzudenkt.34 Rechtsprechung und Lehre wenden diese Formel auf die vorliegende Problematik nun so an, daß sie in einer ziemlich abstrakten Weise fragen, ob der Geschädigte bei korrekter Aufklärung anders - nämlich „aufklärungsrichtig" - gehandelt und dadurch den Schaden vermieden hätte. Da die Beweislast dafür nach den allgemeinen Regeln grundsätzlich den Geschädigten trifft, steht man dann vor der Frage, ob diese hier ausnahmsweise umzukehren ist. Diese Gedankenführung erweist sich indessen bei näherer Überprüfung als keineswegs so selbstverständlich wie es auf den ersten Blick scheint. a) Ihr Schwachpunkt liegt darin, daß dabei die Lehre vom „Erfolg in seiner konkreten Gestalt" ausgeblendet bleibt. Denn schon bei der Anwendung der Äquivalenztheorie, also auf der ersten Stufe der Kausalitäts- und Zurechnungsprüfung, kann man sich auch und gerade dann, wenn man immer noch mit der conditio-sine-qua-non-Formel arbeitet, wie das im Zivilrecht anders als im Strafrecht nach wie vor einer verbreiteten Gepflogenheit entspricht,35 nicht damit begnügen, den negativen Erfolg bzw. den Schaden, der im Endeffekt eingetreten ist, abstrakt in den Blick zu nehmen und losgelöst von den konkreten Umständen, die zu seinem Eintritt geführt haben, zum Gegenstand der Kausalitätsprüfung zu machen. Sonst käme man zu so absurden Ergebnissen wie dem, daß ein tödlicher Messerstich nicht ursächlich für den Tod des Opfers war, weil dieses ja ohnehin einmal gestorben 34 Vgl. z . B . BGHZ 64, 46, 51; BGH NJW 1961, 868, 870; Lange Schadensersatz, 2. Aufl. 1990, S. 156f. mit Fn. 398; Staudinger/Schiemann BGB, 13. Bearbeitung 1998, § 249 Rn. 10. Auf die Streitfragen um die Kausalität des Unterlassens einzugehen, ist hier weder erforderlich noch möglich. 35 Vgl. zu den Einwänden gegen diese Formel statt aller Roxin Strafrecht Allg. Teil Bd. I, 3. Aufl. 1997, § 11 Rn. 11 ff. mit Nachw.

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wäre und man daher den Messerstich durchaus hinwegdenken kann, ohne daß der Tod entfällt; Bezugspunkt der Kausalitätsprüfung kann also nicht der Tod als solcher sein, sondern nur dieser Tod, so wie er nach dem konkreten Geschehensablauf eingetreten ist. Dieser Schwierigkeit trägt die Lehre vom „Erfolg in seiner konkreten Gestalt" Rechnung. Danach sind „als ursächlich für ein bestimmtes Ereignis alle diejenigen Umstände oder Vorgänge anzusehen, die vorliegen mußten, damit es sich so, an diesem Ort, zu dieser Zeit, in dieser Weise ereignen konnte"; das führt zu der Faustregel, „daß .ursächlich' für ein bestimmtes Ereignis jede Bedingung, d.h. jeder Umstand ist, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Geschehensablauf ein anderer gewesen ... wäre." 36 Auch im Strafrecht vertritt die h.L. diese „konkretisierende" Äquivalenztheorie.37 Sind demgemäß sowohl Ort und Zeit als auch die Art und Weise des Erfolgseintritts in die Kausalitätsprüfung einzubeziehen, so hat das freilich die mißliche Konsequenz, daß beliebige Begleitumstände des Geschehensablaufs zu Kausalfaktoren werden könnten. Daher müssen irrelevante Umstände ausgesondert werden, was im Wege einer wertenden Betrachtung nach Maßgabe des jeweiligen Normzwecks zu erfolgen hat.38 Das steht allerdings in Widerspruch zu dem nicht selten erhobenen Anspruch der Äquivalenztheorie, eine reine, d. h. von juristischen Wertungen freie Kausalitätstheorie zu sein, doch läßt sich dieser Anspruch ohnehin nicht durchhalten, da die Äquivalenztheorie auch bei anderen Fallgestaltungen einer normativen Korrektur bedarf, wie vor allem das Beispiel der Doppel- und Mehrfachkausalität beweist.39 Gewichtiger ist der Einwand, daß man in die Beschreibung des konkreten Erfolgs gerade einen solchen Umstand aufnehmen kann, für den diejenige Person, deren Verhalten man als kausal für den (gesamten) Erfolg ansehen will, eine notwendige Bedingung gesetzt hat, wodurch man sich in einen vitiosen Zirkel verstrickt.40 Schlechthin durch3 6 So Latenz Lehrbuch des Schuldrechts Bd. I, 14. Aufl. 1987, S. 433 (Hervorhebungen hinzugefügt). 3 7 Vgl. nur Roxin (Fn. 35), § 11 Rn. 20. 58 Vgl. Roxin (Fn. 35), § 11 Rn. 20L·, Jakobs Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl. 1991, Rn. 7/14 ff. mit trefflichen Beispielen. 3 9 Vgl. dazu nur Palandt/Heinrichs BGB, 62. Aufl. 2003, Vorbem. vor § 249 Rn. 57 a.E. und 86 mit Nachw. aus der Rspr. des BGH. Zu einem strafrechtlichen Fall jüngst BGH NJW 2003, 522, 526 unter II 5 c; die Entscheidung vermag allerdings nur im Ergebnis, nicht aber in der Konstruktion zu überzeugen, vgl. eingehend Röckrath Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Haftung - Rechtliche und ökonomische Analyse, Diss. München 2003, § 2 IV 6 (noch unveröffentlicht); vgl. zu der zugrunde liegenden Kausalitätsproblematik bei Gremienentscheidungen ferner z . B . PuppeJR 1992, 32ff.; Roxin (Fn. 35), § 14 Rn. 18. 4 0 Vgl. Puppe ZStW 92 (1980) 873; ähnlich schon Bydlinski Probleme der Schadensverursachung nach deutschen und österreichischem Recht, 1964, S. 17; ablehnend ferner mit zusätzlichen Argumenten Röckrath (Fn. 39), § 2 III 1 b; Rothenfußer Kausalität und Nachteil, 2003, S. 52ff., 60ff.

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schlagend ist indessen auch diese Kritik nicht, da man der Gefahr des Zirkelschlusses durch einen entsprechend behutsamen und argumentativ genauen Umgang bei der Abgrenzung zwischen relevanten und irrelevanten Begleitumständen begegnen kann.41 b) Folgt man demgemäß mit der h.L. der Doktrin vom „Erfolg in seiner konkreten Gestalt", so führt das für die vorliegende Problematik dazu, daß die Fragestellung bei der Kausalitätsprüfung zu präzisieren ist: Es ist nicht mehr allgemein zu fragen, ob bei Vornahme der Aufklärung der Schaden entfiele, weil der Geschädigte sich dann „aufklärungsrichtig" verhalten und diesen dadurch vermieden hätte, 42 sondern es ist vielmehr jedes einzelne Glied der Kausalkette zu analysieren43 und daher hier zu prüfen, ob zu den „relevanten" Umständen nicht auch das Fehlen der geschuldeten Aufklärung gehört und ob demgemäß deren Unterlassung nicht schon deshalb als kausal anzusehen ist, weil eine aufgeklärte und daher in diesem Sinne „freie" Entscheidung des Geschädigten für die Inkaufnahme des fraglichen Erfolgs bzw. des sich in ihm verwirklichenden Risikos ein „anderer Geschehensablauf" 44 ist als ein unaufgeklärtes, unreflektiertes und in diesem Sinne „unfreies" Hineingeraten in die schadensstiftende Lage. 45 Gemessen am Schutzzweck der Aufklärungspflicht - und dieser ist ja insoweit (auch) nach der Lehre vom „Erfolg in seiner konkreten Gestalt" das maßgebliche Kriterium 46 - kann man diese Frage grundsätzlich nur bejahen. Denn es ist ja i. d. R. gerade der Zweck der Aufklärungspflicht, dem anderen Teil selbst die

Illustrativ und im wesendichen überzeugend insoweit Jakobs aaO. (wie Fn. 38). Zu diesem Vorgehen verführt die conditio-sine-qua-non-Formel, doch ist dessen Fehlerhaftigkeit in der strafrechtlichen Doktrin - gegenüber der die zivilrechtliche Doktrin sich insoweit in einem krassen Rückstand befindet - allgemein anerkannt, vgl. nur Roxin (Fn. 35), § 11 Rn. 11. 43 Das entspricht der Vorgehensweise der im Strafrecht heute (im Anschluß an Engisch) ganz dominierenden Formel von der „gesetzmäßigen Bedingung", vgl. dazu nur Roxin (Fn. 35), § 11 Rn. 14. 44 Vgl. die oben bei Fn. 36 zitierte Formulierung von Larenz. 4 5 Genauso ist der BGH mit Recht in seiner grundlegenden Entscheidung zur Prospekthaftung WM 1990, 1276, 1280 unter V 2 a (insoweit in BGHZ 111, 314 nicht abgedruckt) vorgegangen, indem er hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs (!) ausgeführt hat: „Der ohne diese Aufklärung gefaßte Anlageentschluß ist von den Mängeln des überlassenen Informationsmaterials beeinflußt. Infolgedessen (!) hat sich die mit der unzulänglichen Information verbundene Gefahr, das Anlagerisiko zu verkennen, in der nachfolgenden Anlageentscheidung in zurechenbarer Weise verwirklicht." Ganz ähnlich hat der BGH in dem berühmten „Referendarfall" BGHSt 13, 13, 14 f. argumentiert (zum Kausalzusammenhang zwischen Irrtumserregung und Vermögensverfügung): „Der tatsächliche Verlauf der Willensbildung verliert sein Dasein und seine rechtliche Bedeutung nicht dadurch, daß an seine Stelle ein anderer getreten wäre, aber nicht getreten ist. Er bleibt dennoch die wirkliche Grundlage der Vermögensverfügung." Zustimmend ζ. B. Roxin (Fn. 35) § 11 Rn. 28. In den Fällen unterlassener Aufklärung muß folgerichtig spiegelbildlich das Gleiche gelten. 41

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Vgl. oben bei und mit Fn. 38.

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Entscheidung über die Inkaufnahme eines Risikos oder Nachteils zu überlassen und so die Autonomie seiner Persönlichkeit zu respektieren. Natürlich drängt sich hier sofort der oben bereits erwähnte Einwand des Zirkelschlusses auf. Aber ist er wirklich berechtigt? In Wahrheit liegen doch sowohl phänomenologisch als auch teleologisch gesehen in der Tat ganz unterschiedliche Geschehensverläufe vor je nachdem, ob eine Frau ein krankes Kind bekommt, weil sie dieses Risiko nach gehöriger Aufklärung in Kauf genommen hat, oder ob sie hierüber gar keine Entscheidung treffen konnte, weil sie sich des Risikos überhaupt nicht bewußt war;47 ob eine Frau trotz Sterilisation wieder schwanger wird, weil sie trotz Aufklärung über diese Möglichkeit auf zusätzliche Verhütungsmaßnahmen verzichtet hat, oder ob sie solche für überflüssig hielt, weil sie die Sterilisation irrtümlich als völlig sicher ansah;48 ob ein Gesellschafter aus einer Gesellschaft ausscheidet in dem Wissen, daß er dadurch eine hohe Steuerschuld auf sich zieht, oder ob er von dieser nichts ahnt und also die finanziellen Folgen seines Handelns zu günstig einschätzt;49 ob der Erwerber einer Wohnung, die er selbst nutzen will, sich darüber im klaren ist, daß er den Kaufpreis nicht allein mit Fremdmitteln und Steuerersparnissen finanzieren kann, sondern zusätzlich eine nicht unbeträchtliche Summe an Eigenkapital braucht, oder ob sich das für ihn erst nach Vertragsschluß als böse Überraschung herausstellt.50 Die klare Entgegensetzung der beiden jeweils unterschiedlichen Geschehensabläufe liegt dabei nicht nur deshalb nahe, weil die Vornahme bzw. das Unterbleiben der gebotenen Aufklärung unter dem Gesichtspunkt der Entscheidungsfreiheit phänomenologisch und teleologisch geradezu prägenden Charakter für das Verständnis der Ereignisketten hat, sondern trägt auch dem Umstand Rechnung, daß es hier durchweg um Fälle psychischer Kausalität geht; denn jedenfalls wenn es sich dabei wie hier um Entscheidungen handelt, läßt sich die Problematik der ihnen zugrunde liegenden Kausalfaktoren grundsätzlich nur durch die Analyse ihrer Gründe aufhellen51 und diese unterscheiden sich eben fundamental je nachdem, ob es sich um ein aufgeklärtes oder ein irrtumsbefangenes Verhalten handelt. Außerdem wird sich die Unterschiedlichkeit der beiden zu vergleichenden Geschehensabläufe in aller Regel auch darin manifestieren, daß der Zeitpunkt der Ent-

47 Vgl. die - gegensätzlich entschiedenen - Fälle BGH NJW 1989,2320 und BGHZ 89, 95 sowie dazu oben I 2 b). 48 Vgl. den Fall BGH NJW 1981, 630 und dazu oben I 2 b). 49 Vgl. den Fall BGHZ 123, 311 und dazu oben I 2 c). 50 Vgl. den Fall BGH NJW 1998, 302; die Absicht der Eigennutzung ist hier hinzugefügt, um die Entscheidungssituation „offener" zu gestalten und dadurch das eigentliche Problem klar hervortreten zu lassen. 51 Vgl. z.B. Hart!HonorέCausation in the Law, 2. Aufl. 1985, S. 54f.; Puppe Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 2000, S. 58 ff.

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Scheidung verschieden ist 52 - ein Gesichtspunkt, der anerkanntermaßen für die Beurteilung der Kausalität von maßgeblicher Bedeutung ist. Im übrigen zeigt auch der Vergleich mit anderen Fällen, in denen die Kausalität auf die Lehre vom „Erfolg in seiner konkreten Gestalt" gestützt wird, daß die hier entwickelte Ansicht nicht so kühn ist wie sie auf den ersten Blick wirken mag. So wird z . B . die Kausalität der Beihilfe unter Berufung auf diese Lehre auch in Fällen bejaht, in denen der Gehilfe einem Einbrecher die Leiter trägt oder beim Einsteigen hält, auch wenn dieser die Leiter anderenfalls selbst getragen bzw. befestigt hätte. 53 Im Vergleich dazu ist die Unterschiedlichkeit zwischen dem realen und dem hypothetischen Geschehensablauf bei den hier behandelten Fallkonstellationen gewiß nicht weniger signifikant. c) Reduziert man diese Überlegungen auf ihren Kern, so ergibt sich zusammenfassend folgender Gedankengang: Wird - wie bei Unterlassungen geboten - die Erfüllung der Aufkärungspflicht hinzugedacht, so ändert sich der Kausalverlauf dadurch schon deshalb, weil die Entscheidung des anderen Teils nunmehr „frei" in dem Sinne ist, daß sie nicht von Irrtum oder Unkenntnis des aufklärungspflichtigen Umstandes beeinflußt ist. Daher ist die Ursächlichkeit auch dann zu bejahen, wenn der andere Teil sich trotz der Aufklärung genauso verhalten hätte wie ohne diese; denn dann wäre zwar im Ergebnis dieselbe Güterlage eingetreten, doch wäre die Art und Weise ihres Zustandekommens hinsichtlich eines relevanten Umstandes - nämlich des Bestehens von Entscheidungsfreiheit des anderen Teils - eine andere und der „Erfolg in seiner konkreten Gestalt" demgemäß nicht derselbe gewesen. Die Kausalität zwischen der Entscheidung des anderen Teils - also z . B . dem Verzicht auf eine Schwangerschaftsunterbrechung, die Anwendung eines Verhütungsmittels usw. - und dem Schaden - also in den Beispielsfällen der Geburt eines (kranken) Kindes - weist dann i . d . R . keine Besonderheiten auf und ergibt sich demgemäß aus den allgemeinen Regeln über die Kausalität. 2. Die Einschlägigkeit der Regeln über das rechtmäßige Altemativverhalten und die darausfolgende Verteilung der Beweislast Folgt man dem soeben entwickelten Ansatz zur Begründung der Kausalität, so ist es nur noch ein kleiner und nahezu selbstverständlicher Schritt zu einer anderen Begründung dafür, daß die Beweislast hinsichtlich des „aufklärungsrichtigen Verhaltens" den Aufklärungspflichtigen trifft. Denn 52 Darauf weist mit Recht SchultzYe rsR 1990, 811 hin, wenngleich ohne Bezugnahme auf die Lehre vom „Erfolg in seiner konkreten Gestalt". 53 Vgl .Jakobs (Fn. 38), Rn. 7/15; Roxin Strafrecht Allg. Teil Bd. II, 2003, § 26 Rn. 184;

ablehnend z.B. Rothenfußer (Fn. 40), S. 65f.

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dieser kann dann zwar vorbringen, der andere Teil hätte sich auch bei korrekter Aufklärung nicht anders verhalten, doch liegt darin bei dieser Konstruktion folgerichtig dogmatisch der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens54 - und für diesen trifft, wenn er überhaupt wie hier als zulässig anzusehen ist, die Beweislast nach den allgemeinen Regeln anerkanntermaßen denjenigen, der ihn geltend macht, 55 also den Aufklärungspflichtigen. Es geht somit bei dieser Sichtweise nicht etwa um eine Umkehrung der Beweislast und demgemäß auch nicht um die Kategorie einer Vermutung für „aufklärungsrichtiges Verhalten", sondern man kommt auf der Grundlage der abweichenden Kausalitätskonstruktion schon nach den allgemeinen Regeln über die Beweislast zum selben Ergebnis wie mit Hilfe dieser Vermutung.

III. Versuch einer teleologischen Fundierung und Begrenzung der Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" Es ist schwerlich zu erwarten, daß der soeben entwickelte Lösungsvorschlag sich alsbald durchsetzen wird; dazu ist er sowohl zu neuartig als auch zu schneidig, und außerdem weist er eine Schwachstelle in seinem dogmatischen Fundament auf, weil dieses den - hier ja nicht widerlegten, sondern lediglich in ziemlich knapper Form abgeschwächten - Bedenken gegen die Lehre vom „Erfolg in seiner konkreten Gestalt" ausgesetzt ist. 56 So sei nun erneut in die Untersuchung der vom 7. Senat im Bastelwettbewerbsfall entwickelten, anders begründeten Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" eingetreten. Dafür ist der soeben vorgetragene Ansatz freilich keineswegs gänzlich ohne Bedeutung, läßt er doch auch dann, wenn man ihn ablehnt, die Nähe der Problematik zu derjenigen des rechtmäßigen Alternativverhaltens klarer als bisher ins Licht treten57 - und für dieses ist ja aner54 Gegen den Rückgriff auf diesen im vorliegenden Zusammenhang folgerichtig, weil von der herkömmlichen Sichtweise der Kausalität ausgehend, Vollkommer in Festschrift Baumgärtel, 1990, S. 590f.; Stodolkowitz VersR 1994,13; Gngoleit (Fn. 8), S. 172f.; die Kategorie des rechtmäßigen Alternativverhaltens wird dagegen wie selbstverständlich, jedoch ohne Konsequenzen für die Problematik der Beweislast verwendet von Staudinger/Schiemann BGB, 13. Bearbeitung 1998, Vorbem. zu § 249ff. Rn. 97 55 Vgl. nur Palandt/Heinrichs BGB (Fn. 39), Vorbem. vor § 249 Rn. 107 mit Nachw. aus der Rspr. des BGH. 56 Schon deswegen den vorgetragenen Lösungsansatz zu verwerfen, wäre freilich wissenschaftlich inkorrekt, weil die Lehre vom „Erfolg in seiner konkreten Gestalt" ja sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht der herrschenden Meinung entspricht; wer diese ablehnt, muß also eine dogmatische Alternative zu bieten haben und sollte darauf gefaßt sein, bei deren Entwicklung auf massive Schwierigkeiten zu stoßen. 57 Diese Nähe war freilich auch schon bisher kaum zu leugnen; immerhin geht es ja darum, daß der Schädiger entlastet wird, weil der Geschädigte sich ohne den Pflichtver-

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kannt, daß die Beweislast den Schädiger trifft, also in der Tat so liegt, wie es der Ansicht des 7. Senats entspricht, was deren Uberzeugungskraft mittelbar erhöht. 1. Präzisierung der Problemstellung: die drei verschiedenen paradigmatischen Fallkonstellationen Die Diskussion um die Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" krankt daran, daß nicht klar genug zwischen den unterschiedlichen Fallkonstellationen differenziert wird. In Wahrheit gibt es nämlich nur eine Konstellation, für welche die Problematik wirklich relevant ist und an deren Lösung sich daher das rechtliche Schicksal der Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" entscheidet. Allen Konstellationen gemeinsam ist dabei die Frage, wie sich das hypothetische Verhalten des Geschädigten im Falle korrekter Aufklärung zu seinem realen Verhalten bei unterbliebener Aufklärung verhält. Darauf gibt es bei typisierender Betrachtung drei verschiedene Antworten, die unterschiedliche rechtliche Fragen aufwerfen. a) Am einen Ende der Typenreihe stehen Fälle, in denen es nicht plausibel ist, daß der Geschädigte sich bei korrekter Aufklärung anders verhalten hätte als er es getan hat. Hier besteht die Gefahr, daß er den Aufklärungsmangel lediglich zum Vorwand nimmt, um die Folgen seiner Entscheidung auf den Aufklärungspflichtigen abzuwälzen - z.B., weil der geschlossene Vertrag ihn inzwischen reut oder weil sich die Lage ohne inneren Zusammenhang mit dem Aufklärungsmangel ungünstig für ihn entwickelt hat. 58 Hier könnte man dem Aufklärungspflichtigen zwar helfen, indem man zu seinen Gunsten die Regeln über den Anscheinsbeweis anwendet und mit deren Hilfe die Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" entkräftet, doch sollte man noch einen Schritt weitergehen und diese hier von vornherein als unanwendbar ansehen. Denn es läßt sich nicht begründen, daß der Schutzzweck der verletzten Pflicht, in dem die Vermutung ja wurzelt, auch für derartige Fälle eine Umkehrung der Beweislast fordert. Dabei kann man an die Rechtsprechung zur ärztlichen Aufklärungspflicht anknüpfen, wonach der Patient plausibel zu machen hat, daß er bei korrekter Aufklärung „vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte", 59 weil es für ihn eine andere Verhaltensmöglichkeit gegeben hätte - z.B. den Verzicht auf die geplante Operation oder die Wahl eines anderen Behandlungsverfahrens.

stoß möglicherweise genauso verhalten hätte - also um die hypothetische Annahme eines pflichtgemäßen Verhaltens. 58 Der BGH läßt in derartigen Fällen (leider) keineswegs immer den Einwand des fehlenden Schutzzweckzusammenhangs zu, vgl. ζ. B. BGH NJW 1993, 2865, 2866. 59 So BGH NJW 1992, 2351, 2353; ähnlich BGHZ 89, 95, 103; BGH NJW 1984, 1397, 1399; VersR 2003, 1441, 1443.

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Demgemäß greift die Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" tatbestandlich von vornherein nicht ein, wenn der Geschädigte nicht plausibel macht, daß ihm bei korrekter Aufklärung eine echte Handlungsalternative zu Gebote gestanden hätte. 60 b) Das andere Ende der Typenreihe wird durch jene Fälle gebildet, in denen es für den Geschädigten, wie der B G H nicht ganz unmißverständlich sagt, „nur eine bestimmte Möglichkeit ,aufklärungsrichtigen' Verhaltens gibt, ein Entscheidungskonflikt ... also nicht vorliegt".61 Gemeint ist damit - in diametralem Gegensatz zu der soeben behandelten Fallkonstellation - , daß der Geschädigte sich bei korrekter Aufklärung sinnvoller Weise nur anders hätte verhalten können als geschehen. Hierher gehören selbstverständlich auch Fälle, in denen es mehrere Möglichkeiten eines Alternatiwerhaltens gegeben hätte. Dies hat der BGH inzwischen ausdrücklich ausgesprochen für einen Fall, in dem eine Direktanlagebank einen Kunden nicht korrekt darüber informiert hatte, daß von diesem gehaltene Optionsscheine bei Verfall wertlos werden würden, was dieser entweder durch deren Verkauf oder durch die Ausübung der Option hätte verhindern können; 62 es ist klar, daß ein bei Verstand befindlicher Mensch hier grundsätzlich nicht - wie mangels korrekter Belehrung geschehen - gar nichts getan, sondern eine der beiden Möglichkeiten gewählt hätte. Der B G H will nun, wie dargelegt, die Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" auf solche Fälle beschränken. 63 Da in diesen indessen dem Aufklärungsberechtigten nahezu immer bereits mit den Regeln über den Anscheinsbeweis geholfen werden kann, 64 sollte man dann lieber offen Abschied von der Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" nehmen. Das ist sowohl methodenehrlicher als auch arbeitsökonomischer, da bei einer so engen Handhabung kein sinnvoller Raum für diese Vermutung als eigenständige Rechtsfigur besteht. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei hinzugefügt, daß die Vermutung selbstverständlich auch (und gerade) in diesen Fällen Platz greift, wenn man sie in anderen Fällen anerkennt. c) Es bleibt somit die Mittelgruppe, in der für den Aufklärungsberechtigten einerseits eine plausible Handlungsalternative bestand, andererseits aber die Möglichkeit in Betracht kommt, daß er sich bei korrekter Aufklärung genauso verhalten hätte wie ohne diese. Hierher gehören die schon mehrfach erwähnten Fälle mangelnder Aufklärung über das Restrisiko einer Empfängnis trotz Sterilisation oder über die Gefahr der Geburt eines kranken 6 0 Ubereinstimmend St. Lorenz Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, S. 77f.; ganz ähnlich auch Grigoleit (Fn. 8), S. 177f. unter dem Aspekt der Substantiierungslast des Informationsberechtigten. 61 Vgl. die Nachw. oben Fn. 27 und 28. « Vgl. B G H Z 151, 5, 12. 6 3 Vgl. die Nachw. oben Fn. 26-28. M Vgl. oben I 2 d) a.E.

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Kindes, aber auch manche Entscheidung im vermögensmäßigen Bereich, die der Aufklärungsberechtigte u . U . bei korrekter Aufklärung unter Inkaufnahme der Nachteile genauso getroffen hätte wie geschehen. Diese Fallkonstellation, bei der sich der Aufklärungsberechtigte in einem „echten Entscheidungskonflikt" befunden hätte, bildet das exemplum crucis, und mit Blick auf sie ist daher die Frage zu beantworten, ob eine Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" anzuerkennen ist oder nicht.

2. Ausgleich und Prävention als Grundlagen der Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens "und Grundfunktionen des Schadensersatzrechts Vor diesem Hintergrund sei noch einmal die zentrale Begründung des 7 Senats in Erinnerung gerufen, die einen Doppelakzent aufweist und sowohl den Geschädigten als auch den Schädiger in den Blick nimmt. Sie geht dahin, daß zum einen der Geschädigte ohne die Beweislastumkehr nur eine unangemessen schwache Position hätte, weil er dann regelmäßig an dem meist schwer zu führenden Kausalitätsbeweis scheitern würde, und daß zum anderen der Aufklärungspflichtige „nicht viel zu befürchten hätte", wenn er sich auf die Unaufklärbarkeit des Kausalverlaufs „zurückziehen" dürfte. 65 Damit sind zwei Grundfunktionen des Schadensersatzrechts angesprochen: Ausgleich und Prävention. a) Der Begriff des Ausgleichs hat eine Doppelbedeutung. Zunächst kann man mit ihm die Aufgabe eines jeden Schadensersatzanspruchs kennzeichnen, den Schaden zu beseitigen oder zu kompensieren - sei es in Natur oder durch Geld; insoweit gehört er ins allgemeine Schadensersatzrecht, also zu den §§ 249ff. BGB. Zusätzlich und darüber hinaus kann er als Hinweis auf den Gerechtigkeitsgrund verwendet werden, auf dem ein Schadensersatzanspruch beruht; insoweit hat er seinen Platz im besonderen Schadensersatzrecht. Im letzteren Sinne ist das Wort Ausgleich gemeint, wenn gesagt wird, ein bestimmter Haftungstyp bilde eine Erscheinungsform der „ausgleichenden" Gerechtigkeit, wie das bezüglich der Einstandspflicht für verschuldetes Unrecht der h.L. entspricht; 66 darin liegt dann nicht mehr als das Bemühen um ein deutsches Äquivalent für den (auf Thomas von Aquin zurückgehenden) Begriff der iustitia commutativa, der freilich im vorliegenden Zusam-

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Vgl. das ausführliche wörtliche Zitat oben bei Fn. 5. Vgl. ζ. B. Coing Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985, S. 217 (in der 5. Aufl. 1993 ersatzlos gestrichen); Henkel Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1977, S. 410f.; F. Bydlinski System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 107f. mit Fn. 100 und S. 187f.; Canans JB1 1995, 15; ders. Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 30ff.; der Sache nach ebenso Coleman Risks and Wrongs, 1992, S. 361 ff.; EnglardThe Philosophy of Tort Law, 1993, S. 85ff. 66

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menhang durch den der iustitia correctiva ersetzt werden sollte.67 Daß der Begriff der „ausgleichenden" Gerechtigkeit somit mißverständlich ist,68 ist zwar unerfreulich, läßt sich aber durch entsprechende Präzisierungen des jeweiligen Sprachgebrauchs entschärfen. Im vorliegenden Zusammenhang vereinfacht die Doppeldeutigkeit indessen den Sprachgebrauch sogar, da hier die Ausgleichsfunktion in ihren beiden Bedeutungen berührt ist. Hinter der Argumentation des 7. Senats steht nämlich die zutreffende Überlegung, daß der Anspruch des Aufklärungsberechtigten ohne die Umkehrung der Beweislast nicht hinreichend effektiv und daher in seiner Substanz verkürzt ist. Denn angesichts der besonderen Struktur der psychischen Kausalität, die sich sowohl aus ihrem Charakter als „innerer" Tatsache als auch aus der - vom geltenden Recht implizit in zahlreichen Zusammenhängen vorausgesetzten - Willensfreiheit des Menschen ergibt, handelt es sich nicht lediglich um eine einzelfallbezogene und kontingente, sondern um eine generelle und strukturelle Beweisschwierigkeit. Diese hat überdies auch noch der Aufklärungspflichtige zu verantworten, weil er dem anderen Teil durch das Unterlassen der Aufklärung die Möglichkeit vorenthalten hat, die Unsicherheit über seine Entscheidung zu vermeiden, indem er sie in Kenntnis der relevanten Risiken und Umstände getroffen hätte. Dadurch wird sowohl der Ausgleich im Sinne einer Kompensation für den Schaden als auch im Sinne einer Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts stark beeinträchtigt. Dabei ist eine gewisse Ähnlichkeit mit der Beweislastumkehr nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB unverkennbar; da dort nach dem gängigen Verständnis der Vorschrift feststeht, daß der Geschädigte einen Ersatzanspruch hat, und lediglich ungewiß ist, gegen wen dieser sich richtet, käme es ohne die Beweislastumkehr geradezu zu einer Rechtlosstellung des Geschädigten. Von einer solchen kann hier zwar nicht gesprochen werden, da das Bestehen eines Anspruchs hier ja nicht feststeht, doch droht aus den genannten Gründen immerhin eine substantielle Verkürzung. Diese betrifft auch und gerade die dritte der oben herausgearbeiteten Konstellationen, also die Fälle eines echten Entscheidungskonflikts, in denen sowohl die Möglichkeit, daß der andere Teil auch bei korrekter Aufklärung 6 7 Vgl. Canaris Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 30. In einem wesentlich weiteren Sinne gebraucht Honseil in Festschrift Mayer-Maly, 2002, S. 289ff. den Begriff der iustitia correctiva; das ist zwar philologisch durchaus einleuchtend, weil man dadurch dem Sprachgebrauch von Aristoteles wesentlich näher kommt als mit der scholastischen Terminologie, hat aber den doppelten Nachteil, daß dieser Ausdruck - anders als der der iustitia commutativa - nicht für die Vertragsgerechtigkeit und insbesondere nicht für das Verständnis des dispositiven Rechts als dessen Ausformung verwendet werden kann (vgl. dazu näher Canaris in Festschrift Ulmer, 2003, S. 1082 mit Fn. 30) und daß man durch seine Generalisierung terminologisch auch Fälle abdecken kann, die herkömmlich der iustitia distributiva zugeordnet werden. 68

Das rügt mit Recht Honseil (Fn. 67), S. 302.

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dieselbe Entscheidung trifft, als auch die Möglichkeit, daß er eine andere Entscheidung trifft, als plausibel erscheinen. Denn eben weil es hier etwas zu überlegen und zu entscheiden gibt, ist Aufklärung von besonderer Wichtigkeit, um die Entscheidungsfreiheit des anderen Teils zu respektieren. Daher kann keine Rede davon sein, daß der Gefahr einer Verkürzung seines Anspruchs durch beweisrechtliche Schwierigkeiten schon deshalb hinreichend begegnet sei, weil ihm in den Fällen, in denen es „nur ein ,aufklärungsrichtiges' Verhalten gibt", also bei der zweiten Konstellation durch eine Umkehrung der Beweislast oder zumindest durch einen Anscheinsbeweis geholfen wird. Vielmehr wird ihm bei dieser - der derzeitigen Rechtssprechung entsprechenden - Lösung der erforderliche Schutz der Rechtsordnung gerade in den „kritischen" Fällen vorenthalten, so daß in der Tat ein gravierender Widerspruch zu den Geboten der „ausgleichenden" Gerechtigkeit entsteht. b) Ebenso überzeugungskräftig ist das zweite Argument des 7 Senats, das auf die Sanktionslosigkeit von Aufklärungspflichtverletzungen zielt. Es findet sein Fundament ebenfalls in der Theorie des Schadensersatzrechts, da dieses anerkanntermaßen (auch) Präventionsfunktion hat.69 Wiederum kommt dieser gerade für die Fallkonstellation des echten Entscheidungskonflikts erhebliches Gewicht zu, mag doch gerade hier, wo die Nachteiligkeit des durch das Unterlassen der Aufklärung in Gang gesetzten Kausalverlaufs nicht feststeht, ein Pflichtverstoß des Aufklärungspflichtigen besonders nahe liegen - sei es ζ. B., weil er darauf vertraut, daß „schon alles gut gehen wird", oder sei es, daß er dem anderen Teil „die Entscheidung abnehmen" und „zu seinem Besten handeln" will. 3. Die Erforderlichkeit zusätzlicher fallgruppenspeziflscher Wertungsgesichtspunkte und des Rückgriffs auf den Schutzzweck der Aufklärungspflicht Ausgleichs- und Präventionsgedanke tragen zwar sehr stark zur Uberzeugungskraft der vom 7 Senat entwickelten Vermutung „aufklärungsrichtigen Verhaltens" bei, vermögen aber für sich allein diese Rechtsfortbildung wohl schwerlich voll zu legitimieren. Daher bedarf es der Heranziehung zusätzlicher Wertungsgesichtspunkte und soweit möglich des Rückgriffs auf den Schutzzweck der verletzten Aufklärungspflicht.

69 Vgl. z.B. Latenz NJW 1959, 865; Stoll in Festschrift Rheinstein, 1969, S. 569ff.; den. Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, 1993, S. 60ff.; Kötz in Festschrift Steindorff, 1990, S. 643ff.; Deutsch Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl. 1996, Rn. 18 und 907; F. Bydlinski (Fn. 66), S. 190f.; Canaris in Festschrift Deutsch, 1999, S. 105; Koch JZ 1999, 922 ff.,; Thüsing Wertende Schadensberechnung, 2001, S. 16 ff., 432 ff., Dreier Kompensation und Prävention, 2002, S. 132ff., 529ff.

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Ein solcher Gesichtspunkt liegt in den Fällen eines Vertragsschlusses, zu dem es ohne die Verletzung der Aufklärungspflicht möglicherweise nicht gekommen wäre, in dem Argument, daß der Nachteil des anderen Teils mit einem entsprechenden Vorteil des Aufklärungspflichtigen korreliert; 70 diesen „verdient" letzterer nur, wenn er den Beweis führen kann, daß der Vertrag auch ohne seine Pflichtverletzung geschlossen worden wäre. Ahnlich kann man argumentieren, wenn der Zweck einer Aufklärungspflicht darin liegt, einen Interessenkonflikt aufzudecken und zu entschärfen, indem man dem anderen Teil die Möglichkeit gibt, selbst zu entscheiden, ob er ihn als erheblich ansieht oder nicht; 71 auch hier widerspräche es dem Zweck der Aufklärungspflicht diametral, wenn der Aufklärungspflichtige von seinem Schweigen profitieren würde, sofern sich nicht ermitteln läßt, welche Konsequenzen der andere Teil bei Kenntnis des Interessenkonflikts gezogen hätte. Auf andere Fallgruppen läßt sich diese Argumentation freilich nicht übertragen, doch stehen noch weitere Wertungskriterien zur Verfügung. So sollte man in den Fällen unterbliebener Aufklärung oder Belehrung durch einen Rechtsanwalt, Steuerberater usw. darauf abstellen, daß es hier ohne die Umkehrung der Beweislast geradezu zu einer Störung des Äquivalenzverhältnisses kommt; denn diese Personen werden ja gerade dafür bezahlt, daß sie korrekt aufklären oder belehren, und dürfen daher nicht die Möglichkeit haben, sich hinter den - von ihnen selbst zu verantwortenden! - Beweisschwierigkeiten des Mandanten zu verschanzen, wenn sie diese ihre Pflichten verletzt haben. Der gegenteiligen Rechtsprechung des BGH, der hier nur die Regeln über den Anscheinsbeweis anwenden will, 72 ist daher nicht zu folgen. Wieder anders liegt es in Fällen wie dem der unterbliebenen Aufklärung über das Restrisiko einer Schwangerschaft nach einer Sterilisation; hier stellt die Verletzung der Aufklärungspflicht eine schwere Gefährdung des Vertragszwecks dar, und deshalb sollte man auch hier entgegen der Rechtsprechung des BGH 7 3 die Beweislast umkehren. Andererseits dürfte es auch Aufklärungs- und Informationspflichten von geringerem Gewicht geben, deren Zweck sich auch ohne eine Umkehrung der Beweislast erreichen läßt. Das macht die restriktive Tendenz der Rechtsprechung des BGH verständlich, doch ist dieser insgesamt nicht zu folgen, weil sie wie dargelegt der Interessenlage in den Fällen, in denen sich der Geschädigte bei korrekter Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden hätte, nicht hinreichend gerecht wird.

70 So überzeugend Grigoleit (Fn. 8), S. 176; vgl. auch Grunewald ZIP 1994, 1164, die jedoch zu Unrecht nur bei vorsätzlichen Pflichtverletzungen eine Umkehrung der Beweislast befürwortet. 71 Vgl. den Fall BGH2 146, 235. 72 Vgl. oben I 2 c). 73 Vgl. die Darstellung oben I 2 b).

Kein Rücktrittsrecht des Käufers bei von ihm verschuldeter Unmöglichkeit der Nacherfüllung? BARBARA DAUNER-LIEB/ARND

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I. Problemstellung Zu den breit gespannten Interessen des verehrten Jubilars gehört auch das Rücktrittsfolgenrecht, wie seine umfassende und beeindruckende Kommentierung im Soergel1 zeigt. Dieses ist durch die Schuldrechtsreform grundlegend geändert worden. Ihm seien daher die folgenden Zeilen in herzlicher Verbundenheit gewidmet. Zu den merkwürdigsten, bei nüchterner Betrachtung freilich vorhersehbaren Folgen der Reform gerade bei den §§ 346 ff. BGB gehört, daß Probleme, die der Gesetzgeber mit der Reform eigentlich lösen wollte, in der Diskussion über das neue Recht doch wieder auftauchen. Eines der jüngsten Beispiele für dieses Phänomen bildet § 351 BGB a.F. Diese Vorschrift schloß einen Rücktritt aus, wenn der Berechtigte eine wesentliche Verschlechterung, den Untergang oder die anderweitige Unmöglichkeit der Herausgabe des empfangenen Gegenstands verschuldet hatte. Durch die Schuldrechtsreform wurde § 351 BGB a.F. gestrichen. Nach der Konzeption des Gesetzes soll ein Rücktritt nunmehr auch dann möglich sein, wenn der Berechtigte den Untergang des empfangenen Gegenstands verschuldet hat.2 Allerdings hat der Rücktrittsberechtige für den untergegangenen Gegenstand nach § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB Wertersatz zu leisten, bei dessen Bemessung gemäß § 346 Abs. 2 S. 2 BGB die Gegenleistung zugrundezulegen ist. Dadurch wird der Rücktritt für den Berechtigten in der Regel wirtschaftlich sinnlos sein. Anders ist die Rechtslage aber grundsätzlich bei gesetzlichen Rücktrittrechten wie z.B. dem wegen mangelhafter Leistung: Hier ist der Berechtigte dem anderen Teil nach § 346 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BGB nicht zum Wertersatz verpflichtet, wenn der Untergang eingetreten ist, obwohl der Berechtigte die eigenübliche Sorgfalt beachtet hat.3 Bd. 2, 12. Aufl. 1990. Siehe BT-Drucks. 14/6040, S. 195. 3 O b dies dem Verschuldensmaßstab des § 351 BGB a.F. beim gesetzlichen Rücktritt entspricht, ist umstritten, vgl. nur Kaiser in Westermann, Das Schuldrecht 2002, S. 199ff. 1

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Indes wird in der Literatur neuerdings die Auffassung vertreten, auch im neuen Recht könne das Rücktrittsrecht des Käufers wegen eines Mangels entfallen, wenn die Kaufsache durch sein Verschulden untergehe. 4 Anknüpfungspunkt bildet dabei die im neuen Recht bei einem Mangel gegenüber der Vertragsauflösung vorrangige Nacherfüllung: Sei die Neulieferung von vornherein ausgeschlossen und werde auch die Nachbesserung durch den Untergang der Kaufsache unmöglich, so stehe dem Käufer zwar grundsätzlich wegen Unmöglichkeit der Nacherfüllung nach §§ 437 Nr. 2, 326 Abs. 5 BGB ein sofortiges Rücktrittsrecht zu. Doch sei ein Rücktritt nach §§ 437 Nr. 2, 326 Abs. 5, 323 Abs. 6 BGB ausgeschlossen, wenn der Käufer für den zum Rücktritt berechtigenden Umstand allein oder weit überwiegend verantwortlich sei. Dem Käufer, der die Kaufsache schuldhaft zerstört und damit die Nacherfüllung unmöglich gemacht habe, stehe folglich kein Rücktrittsrecht zu. Wie im alten Recht wäre damit z . B . beim Verkauf eines mangelhaften Gebrauchtwagens, bei dem nur eine Nachbesserung möglich ist, ein Rücktritt des Käufers ausgeschlossen, wenn dieser erst den Mangel bemerkt, nachdem der Wagen bei einem von ihm verschuldeten Unfall zerstört worden ist. 5 Ferner wäre anders als bisher sogar die Minderung nach dem Wortlaut des Gesetzes ausgeschlossen, da diese nach § 441 BGB nur anstelle des Rücktritts zulässig ist. 6

II. Der Wille des Gesetzgebers Dieses Ergebnis wirkt im Hinblick auf die Abschaffung des § 351 BGB a.F. befremdlich; nirgends findet sich in den Gesetzesmaterialien der Hinweis, daß über § 323 Abs. 6 BGB ein Ausschluß des Rücktrittsrechts bei einem vom Käufer verschuldeten Untergang des empfangenen Gegenstands weiterhin möglich sein soll. Überdies dürfte eine derartige Beschränkung des Rücktritts auch kaum mit den Motiven für die Streichung des § 351 BGB a.F. vereinbar sein. Mit dieser wollte der Gesetzgeber zunächst die nach seiner Auffassung nicht sachgerechte Unterscheidung beseitigen, daß das Recht zum Rücktritt im alten Recht bei einem vom Berechtigten verschuldeten Untergang vor Erklärung des Rücktritts entfiel, bei einem Restitutionshindernis nach diesem Zeitpunkt jedoch bestehen blieb. 7 Vergleichbare 4 St. Lorenz NJW 2002, 2497, 2499; Kohler AcP 203 (2003), 539ff.; Faust in Bamberger/ Roth, BGB, Bd. 1, 2003, § 437 Rn. 33; Jauernig/Vollkommer BGB, 10. Aufl. 2003, § 323 Rn. 23. 5 Vgl. zur Frage, ob es auch bei Stückschulden einen Neulieferungsanspruch geben kann, OLG Braunschweig NJW 2003, 1053; AckermannJZ 2002, 381 ff.; Canaris]Z 2003, 831 ff.; Pammler NJW 2003, 1992 m.w.N. 6 Für eine teleologische Reduktion insoweit Köhler AcP 203 (2003), 539, 569, 572. 7 BT-Drucks. 14/6040, S. 194.

Kein Rücktrittsrecht des Käufers

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Zufallsergebnisse drohen jedoch bei Anwendung des § 323 Abs. 6 BGB; denn das Rücktrittsrecht des Käufers muß bestehen bleiben, wenn die von ihm gesetzte Frist zur Nacherfüllung bereits vor dem Untergang der Kaufsache ergebnislos verstrichen war und er folglich schon nach §§ 437 Nr. 2, 323 BGB zurücktreten konnte. 8 Auch hier wäre also der Zeitpunkt des Untergangs für das Bestehen des Rücktrittsrechts entscheidend. Kaum vereinbar wäre die Anwendung des § 323 Abs. 6 BGB zudem mit der Absicht des Gesetzgebers, die durch § 351 BGB a.F. ausgelöste uferlose Diskussion zu beenden, wann beim gesetzlichen Rücktritt ein Verschulden des Berechtigten vor Kenntnis des Rücktrittsgrundes bejaht werden kann.9 Zwar ist dieses Ziel nicht vollständig erreicht worden, da die Problematik im Hinblick auf die Wertersatzpflicht nach § 346 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BGB und mögliche Schadensersatzansprüche10 aktuell bleibt; doch ändert dies nichts daran, daß die Wiederbelebung dieser Frage auf Basis des noch schillernderen Begriffs der „Verantwortlichkeit" in § 323 Abs. 6 BGB wohl kaum mit der Intention des Gesetzgebers vereinbar wäre.11

III. Der Wortlaut Freilich sind derartige historische Argumente letztlich nicht entscheidend. Ausgangspunkt muß vielmehr der Wortlaut des Gesetzes sein. Kein Zweifel besteht dabei an der Anwendbarkeit des § 323 Abs. 6 BGB im Rahmen des Rücktrittsrechts aus §§ 437 Nr. 2, 326 Abs. 5 BGB.12 Doch erscheint es fraglich, ob bereits eine alleinige oder weit überwiegende Verantwortung des Käufers für den zum Rücktritt berechtigenden Umstand vorliegt, wenn er den Untergang der Sache und damit die Unmöglichkeit der Nacherfüllung verschuldet hat. Das Rücktrittsrecht bei mangelhafter Leistung beruht letztlich auf zwei Umständen, der Schlechtleistung einerseits und der nicht fristgerechten Behebung (§ 323 BGB) bzw. Nichtbehebbarkeit (§ 326 Abs. 5 BGB) des Mangels andererseits.13 In den hier diskutierten Fällen hat jedoch der Verkäufer durch seine Schlechtleistung die erste Ursache für das Rücktrittsrecht des Käufers gesetzt. Dabei spielt es keine

8 Dafür zu Recht St. Lorenz NJW 2002, 2497, 2499 Fn. 20; ebenso Jauemig/Vollkommer BGB (Fn. 4), § 323 Rn. 23. 9 BT-Drucks. 14/6040, S. 191 f., 195 m.w.N. 10 Siehe dazu Arnold A 2002, 154, 158; Kohler]Z 2002, 1127ff. 11 A.A. Kohler AcP 203 (2003), 539, 561 ff., der im übrigen zu Recht daraufhinweist, daß das weitere Ziel der Reform, das Rücktrittsrecht an die Ergebnisse der Saldotheorie anzugleichen, ohnehin völlig verfehlt wurde. 12 Palandt/Heinrichs BGB, 63. Aufl. 2004, § 326 Rn. 18; ausführlich Kohler AcP 203 (2003), 539, 542 ff. 13 Dazu überzeugend Kohler AcP 203 (2003), 539, 546f.

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Rolle, ob er den Mangel zu vertreten hat; denn das Rücktrittsrecht nach §§ 437 Nr. 2, 323 bzw. 326 Abs. 5 BGB setzt ein Vertretenmüssen des Verkäufers nicht voraus. Somit hat der Verkäufer einen notwendigen und daher keinesfalls unwesentlichen Verantwortungsbeitrag zum Entstehen des Rücktrittsrechts geleistet; man kann daher kaum davon sprechen, daß der Käufer, der den Untergang der Kaufsache und damit die Unmöglichkeit der Nacherfüllung verschuldet hat, für den zum Rücktritt berechtigenden Umstand allein oder weit überwiegend verantwortlich ist.14 Ein anderes Ergebnis scheint nur möglich, wenn man die zum Rücktritt berechtigende Pflichtverletzung allein in der Nichterfüllung der Nacherfüllungspflicht durch den Verkäufer sieht.15 Damit wird freilich die Mitverantwortung des Verkäufers für den Rücktrittsgrund nur begrifflich verdeckt. Zudem spricht gegen eine derartige Einordnung der Schlechtleistung als Unterfall der Nichtleistung, daß die §§ 281, 323 BGB zwischen beiden deutlich trennen; die mangelhafte Leistung soll also eine eigenständige Pflichtverletzung bilden. Festzuhalten ist damit: Aus dem Wortlaut des § 323 Abs. 6 BGB läßt sich ein Ausschluß des Rücktrittsrechts bei vom Käufer verschuldeter Unmöglichkeit der Nacherfüllung kaum ableiten.16

IV. Systematische und teleologische Erwägungen Allerdings werden für eine derartige Beschränkung des Rücktrittsrechts noch weitere Argumente vorgebracht. So wird auf die Parallele zu dem praktisch wohl eher seltenen - Fall verwiesen, daß die (Spezies-)Sache bereits vor Ubergabe durch den Käufer beschädigt und damit eine mangelfreie Leistung für den Verkäufer unmöglich wird. Auch hier sei ein Rücktritt nach §§ 323 Abs. 6, 326 Abs. 5 BGB ausgeschlossen; daher könne bei der vom 14 Man könnte hier an eine Parallele zum Problem der von beiden Parteien zu vertretenden Unmöglichkeit denken (vgl. dazu AnwKom-BGB/Dauner-Lieb, Schuldrecht, 2002, § 326 Rn. 10; Grothe in Bamberger/Roth, BGB, Bd. 1, 2003, § 323 Rn. 24ff. m.w.N.; Gruber ]uS 2002, 1066; Rauscher ZGS 2002, 333). Die Übertragung dieser Grundsätze auf das vorliegende Problem dürfte aber schon an der Bestimmung von Verantwortungsanteilen scheitern; überdies läßt sich eine „Quotelung" des Rücktrittsrechts nur schwer durchführen, vgl. zu diesem Problem im alten Recht schon Faust 2001, 133, 138f. 15 Vgl. allgemein zu einem derartigen Ansatz St. Lorenz NJW 2002, 2497, 2499 ff. 16 Probleme könnte dieses Ergebnis allerdings für den Fall der eigenmächtigen Mängelbeseitigung durch den Käufer hervorrufen (dazu nur St. Lorenz NJW 2003, 1417; DaunerLieb/Dötsch ZGS 2003, 250). Hier wird - der allein interessengerechte - Ausschluß des Rücktrittsrechts bislang über § 323 Abs. 6 BGB begründet. Doch kann dieses Ergebnis auch mit der einfachen Erwägung begründet werden, daß es infolge der Selbstvornahme am Mangel fehlt. Zwar wurde im bisherigen Recht dem Käufer teilweise auch nach Wegfall des Mangels das Wandlungsrecht zugestanden (vgl. Soergel/U. Huber BGB, Bd. 3, 12. Aufl. 1991, § 459 Rn. 90 m.w.N.). Doch dürfte diese auf Treu und Glauben beruhende Lösung wohl bei einer Selbstvornahme durch den Käufer nicht passen.

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Käufer verschuldeten Unmöglichkeit der Nacherfüllung nichts anderes gelten.17 Beide Fälle erscheinen jedoch nicht vergleichbar: Beschädigt der Käufer die Sache vor Gefahrübergang irreparabel, so ist er bereits für den Mangel verantwortlich, und es fehlt an einem Verantwortungsbeitrag des Verkäufers. Damit läßt sich hier - anders als bei einer vom Käufer verschuldeten Unmöglichkeit der Nacherfüllung - eine alleinige Verantwortlichkeit des Käufers und folglich ein Rücktrittsausschluß gemäß § 323 Abs. 6 BGB unschwer bejahen. Daneben wird mit den Interessen des Verkäufers argumentiert. Dieser habe, da der Käufer gemäß §§ 437 Nr. 2, 323 BGB erst nach fruchtlosem Verstreichen einer Nachfrist zurücktreten könne, ein Recht zur zweiten Andienung. Er müsse daher davor geschützt werden, gegen seinen Willen den übrigen Gewährleistungsrechtsbehelfen ausgesetzt zu werden, wenn der Untergang der Sache vom Käufer zu vertreten sei.18 Ein derartiger Schutz des Verkäufers erscheint jedoch nicht erforderlich.19 Läßt man einen Rücktritt des Käufers zu, so muß der Verkäufer zwar den Kaufpreis zurückerstatten. Im Gegenzug kann er jedoch grundsätzlich vom Käufer für die untergegangene Kaufsache nach §§ 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB Wertersatz verlangen. Da die untergegangene Sache mangelhaft war, ist dabei nach überwiegender Auffassung gemäß § 346 Abs. 2 S. 2 BGB Wertersatz in Höhe der entsprechend § 441 Abs. 3 BGB geminderten Gegenleistung zu leisten.20 Im Ergebnis wird der Verkäufer also nur mit dem Minderungsbetrag belastet. Dieser dürfte aber die Aufwendungen, die er für eine Nachbesserung hätte aufbringen müssen, nur selten wesentlich übersteigen. Nachteilig könnte für den Verkäufer allein sein, daß ein Wertersatzanspruch nach § 346 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BGB nicht besteht, wenn es an der Verletzung der eigenüblichen Sorgfalt durch den Käufer fehlt. Doch wird man in einem derartigen Fall auch keinen Rücktrittsausschluß gemäß § 323 Abs. 6 BGB annehmen können; denn bei der Prüfung, ob der Käufer für den zum Rück-

17 Faust in Bamberger/Roth, BGB (Fn. 4), § 437 Rn. 33; Kohler AcP 203 (2003), 539, 566 ff. 18 Kohler AcP 203 (2003), 539, 566. 19 Kein Hindernis bildet insoweit die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (RL 1999/44/EG vom 25. 5. 1999, ABl. EG 1999 Nr. L 171, 12). Diese schreibt ein Recht des Verkäufers zur zweiten Andienung nicht zwingend vor. Vielmehr läßt Art. 8 ausdrücklich ein höheres Schutzniveau zugunsten des Verbrauchers zu, weshalb auch ein sofortiges Rücktrittsrecht zulässig wäre; vgl. nur GsellJZ 2001, 65, 67. 20 Statt vieler AnwKom-BGB/Hager, Schuldrecht, 2002, § 346, Rn. 40f.; Amold/Dötsch NJW 2003, 187,188 m.w.N., dort auch auf S. 189 zu der Frage, ob diese Auslegung mit § 346 Abs. 2 S. 2 2. Hs. BGB zu vereinbaren ist. Ahnlich auch Lorenz/Riehm Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, 2002, Rn. 425, die sich allerdings für eine absolute Minderung aussprechen. A.A. mit beachtlichen Gründen Palandt/Heinrichs BGB (Fn. 12), § 346 Rn. 10 und Kohler JZ 2002, 682, 689 f., die bei gesetzlichen Rücktrittsrechten vom objektiven Wert ausgehen wollen.

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tritt berechtigenden Umstand verantwortlich ist und daher nicht zurücktreten kann, wird man zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen den Sorgfaltsmaßstab des § 346 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BGB zugrundelegen müssen.21 Damit wird der Verkäufer durch ein Rücktrittsrecht des Käufers bei von diesem verschuldeter Unmöglichkeit der Nacherfüllung nicht unzumutbar belastet. Umgekehrt könnte vielmehr der Verkäufer durch den Ausschluß des Rücktrittsrechts einen unberechtigten Vorteil erlangen; denn er erspart sich die Aufwendungen für die Nachbesserung. Zwar werden für dieses Problem bereits verschiedene Lösungen vorgeschlagen: So wird vertreten, der Verkäufer müsse sich in Analogie zu § 326 Abs. 2 S. 2 BGB die ersparten Nachbesserungsaufwendungen auf den Kaufpreisanspruch anrechnen lassen und den insoweit zuviel gezahlten Kaufpreis analog § 326 Abs. 4 BGB zurückerstatten.22 Andere wollen dem Käufer in teleologischer Reduktion des § 441 Abs. 1 BGB zumindest das Minderungsrecht erhalten.23 Mit diesen Vorschlägen würde man sich aber immer weiter vom Wortlaut des Gesetzes entfernen. Damit zeigt sich auch hier, wie problematisch die diskutierte Einschränkung des Rücktrittsrechts des Käufers letztlich ist.

V. Vereinbarkeit mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie Schließlich bestehen erhebliche Bedenken, ob eine Beschränkung des Rücktrittsrechts bei vom Käufer verschuldeter Unmöglichkeit der Nacherfüllung mit den Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie vereinbar ist. Sie schließt das Recht des Käufers zur Vertragsauflösung ausdrücklich lediglich bei geringfügigen Vertragswidrigkeiten aus (Art. 3 Abs. 6). Allerdings könnte man an eine Argumentation über Art. 2 Abs. 3 2. Alt. denken. Dieser schließt die Käuferrechte aus, wenn der Mangel auf dem vom Käufer gelieferten Stoff beruht; zudem wird aus der Vorschrift teilweise auch gefolgert, daß dem Käufer erst recht keine Rechte zustehen, wenn er den Mangel selbst verursacht hat.24 Doch läßt sich dies kaum auf den Fall der vom Käufer verschuldeten Unmöglichkeit der Nacherfüllung übertragen; denn anders als bei einem vom Käufer verursachten Mangel liegt hier infolge der 21

Vgl. dazu Kohler AcP 203 (2003), 539, 554. St. Lorenz NJW 2002, 2497, 2499; Faust in Bamberger/Roth, BGB (Fn. 4), § 437 Rn. 33. 23 Kohler AcP 203 (2003), 539, 569, 572. Dies würde im übrigen dazu führen, daß es wirtschaftlich stets zu den gleichen Ergebnissen wie bei Gewährung des Rücktrittsrechts kommen würde. 24 Faust in Bamberger/Roth, BGB (Fn. 4), § 437 Rn. 31; für die Richtlinienwidrigkeit des Rücktrittsausschlusses nach § 323 Abs. 6 BGB auch in diesem Fall GselljZ 2001, 65, 70; Hoffmann ZRP 2001, 347, 350; zweifelnd auch Buck in Westermann, Das Schuldrecht 2002, S. 143. 22

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mangelhaften Lieferung zweifellos eine Vertragswidrigkeit seitens des Verkäufers vor. Für die Zulässigkeit eines Rücktrittsausschlusses bei vom Käufer verschuldeter Unmöglichkeit könnte jedoch auch der 15. Erwägungsgrund der Richtlinie sprechen. Danach können die Regelungen über die Modalitäten der Durchführung der Vertragsauflösung im innerstaatlichen Recht festgelegt werden. Ob eine Bestimmung, die das Rücktrittsrecht bei einem vom Käufer verschuldeten Untergang der Sache und einer daraus folgenden Unmöglichkeit der Nacherfüllung ausschließt, noch eine Regelung über die „Modalitäten der Durchführung der Vertragsauflösung" darstellt, ist jedoch fraglich.25 Hätte der europäische Normgeber eine derartige Beschränkung zulassen wollen, wäre überdies eine ausdrückliche Regelung naheliegend gewesen; denn das UN-Kaufrecht und die neueren europäischen Kaufrechtsordnungen, die bei Schaffung der Richtlinie an verschiedenen Stellen als Vorbilder genannt wurden,26 enthalten hierzu divergierende Regelungen.27 Im Ergebnis dürfte daher ein Ausschluß des Rücktritts bei vom Käufer verschuldeter Unmöglichkeit der Nacherfüllung richtlinienwidrig sein.28

VI. Fazit Auch wenn die Kaufsache durch ein Verschulden des Käufers untergegangen und damit eine Nacherfüllung unmöglich geworden ist, ist das Rücktrittsrecht des Käufers aus §§ 437 Nr. 2, 326 Abs. 5 BGB nicht nach § 323 Abs. 6 BGB ausgeschlossen. Die Regelung des § 351 BGB a.F. lebt somit im neuen Recht nicht fort. Letztlich ist aber auch diese Diskussion symptomatisch für die Reform des Rücktrittsrechts.29 Die Mutmaßung, daß „das neue Recht mehr Zweifel schafft als es alte Probleme löst"30, dürfte inzwischen zur Gewissheit geworden sein.

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Dafür könnte allerdings sprechen, daß sich dieser Ausschlußgrund nicht nur im bisherigen deutschen Recht, sondern auch im UN-Kaufrecht (Art. 82 CISG) im Rücktrittsfolgenrecht findet. 26 Siehe dazu nur den Richtlinienvorschlag der Kommission vom 18. 6. 1996 (KOM(95) 520 endg.), abgedruckt auch in ZIP 1996, 1845, dort z.B. auf S. 1847 und 1851. 27 Vgl. dazu nur Art. 82 CISG und die Darstellung bei Schwänze Europäische Sachmängelgewährleistung beim Warenkauf, 2000, S. 200 ff. zu den skandinavischen und niederländischen Regelungen. 28 So auch Bianca in Grundmann/Bianca, EU-Kaufrechtsrichtlinie, 2002, Art. 3 Rn. 46ff.; Zaccaria in Grundmann/Medicus/Rolland, Europäisches Kaufgewährleistungsrecht, 2000, S. 181, 189ff. 29 Vgl. nur die Liste der binnen eines Jahres entstandenen Fragen bei Kohler JZ 2002, 1127, 1127 f. 30 So treffend Kohler AcP 203 (2003), 539, 574.

Saldotheorie und neues Rücktrittsrecht BARBARA GRUNEWALD

I. Einleitung Zu den schon lange diskutierten Themen des Bereicherungsrechts gehört die Problematik der Saldotheorie und ihrer Ausnahmen. Die Kernaussage der Saldotheorie geht dahin, daß - sofern sich bei einem unwirksamen Geschäft Leistung und Gegenleistung gegenüber stehen - diese grundsätzlich zu saldieren sind. Der Bereicherungsanspruch geht dann auf Herausgabe oder Wertersatz des Uberschusses der Aktiv- über die Passivposten.1 Von dieser Grundaussage werden allerdings Ausnahmen gemacht. Eine dieser Ausnahmen zielt darauf, Wertungswidersprüche gegenüber dem Rücktrittsrecht zu vermeiden.2 Im Folgenden soll untersucht werden, ob diese Ausnahme auch nach Änderung der Regeln zum Rücktrittsrecht durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz noch aktuell ist.

II. Die einschlägigen Fallgestaltungen 1. Sachmangel bedingter Untergang der Kaufsacbe

Das Auseinanderdriften von Bereicherungs- und Rücktrittsrecht wird besonders klar in Fallgestaltungen, in denen beide Rechtsbehelfe zur Wahl stehen. Ein solcher Sachverhalt lag der Entscheidung BGHZ 78, 216 zugrunde: Der Kläger hatte einen gebrauchten Mähdrescher gekauft, der entgegen der vertraglichen Vereinbarung nicht einsatzbereit war und daher beim ersten Ernteeinsatz ausfiel und erheblich beschädigt wurde. Zugleich hatte der Kläger sich über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Mähdreschers geirrt3 1 Siehe statt aller BGHZ 147,152,157; BGH NJW 1988, 3011; BGH NJW 2000, 3064; Büdenbender AcP 200 (2000), 627, 656; Larenz/Canaris Schuldrecht Besonderer Teil, § 73 III lb; Jauemig/Schlechtriem BGB 10. Aufl., § 818 Rn. 40a. 2 Siehe etwa Wendehorst in Bamberger/Roth BGB § 818 Rn. 104; MünchKommBGB/ Lieb, 3. Aufl., § 818 Rn. 104, die allerdings der Saldotheorie skeptisch gegenüber stehen. 3 Es ging um das Alter des Mähdreschers; dazu, ob dieser Irrtum zur Anfechtung berechtigt oder einen Sachmangel betrifft Erman/GrunewaldBGB, 11. Aufl., § 434 Rn. 9, Vor § 437 Rn. 20.

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und den Vertrag daher nach § 119 Abs. 2 BGB angefochten. Eine arglistige Täuschung des Verkäufers war behauptet aber nicht bewiesen. In dem Urteil wird dargelegt, daß die infolge der erfolgreichen Anfechtung erforderliche Rückabwicklung nach Bereicherungsrecht nicht dazu führe, daß gemäß der Kernaussage der Saldotheorie der Kläger von seinem Kaufpreisrückzahlungsanspruch den Wertverlust des Mähdreschers in Abzug bringen müsse. Da der Verkäufer bei Gültigkeit des Kaufvertrages für den Sachmangel hätte einstehen müssen, könne der Käufer den vollen Kaufpreis zurückverlangen, wenn die Verschlechterung der Kaufsache auf dem Sachmangel beruhe. Denn da der Käufer auch zur Wandelung (jetzt Rücktritt) berechtigt gewesen sei, müsse der Verkäufer bei der bereicherungsrechtlichen Abwicklung die Verschlechterung der Maschine hinnehmen. Diese Argumentation bezieht sich auf § 350 BGB a.F. Nach dieser Norm war der Rücktritt nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Gegenstand, den der Rücktrittsberechtigte empfangen hatte, durch Zufall untergegangen war. § 351 BGB a.F. bestimmte, daß der Rücktritt nur bei Verschulden des Berechtigten ausgeschlossen war. 2. Weiterungen Unter Bezugnahme auf die Wertung von § 350 BGB a.F. wurde dann allgemein formuliert, daß diese Verteilung des Zufallsrisikos auch bei der Rückabwicklung nach Bereicherungsrecht respektiert werden müsse und die Saldotheorie daher für Zufallsschäden nicht gelten könne. Auch die Wertung von § 351 BGB a.F. sollte auf das Bereicherungsrecht übertragen werden: sofern der Untergang der Sache auf einem „Verschulden" des Bereicherungsgläubigers beruhte, galt folglich die Saldotheorie dann doch wieder.4 Auch die Literatur, die größtenteils die Saldotheorie ablehnt, folgt diesem Gedankengang nahezu einhellig und vermeidet auf diese Weise Wertungswidersprüche zwischen Rücktritts- und Bereicherungsrecht. 5 Zugleich ist es nach allgemeiner Meinung gleichgültig, ob neben dem Anspruch nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB eine reale Rücktrittsmöglichkeit besteht oder nicht. 6 Des Weiteren sollte die genannte Weiterung auch dann

BGHZ 53, 144, 148. Büdenbender AcP 200 (2000), 627, 678; von Caemmererin Festschrift Larenz, 1973, 621, 634ff.; Huber JZ 1974, 433, 439; Larenz/Canaris (s.o. Fn. 1) § 73 III a; MünchKommBGB/ Lieb (s.o. Fn. 2) § 818 Rn. 104; Rengier AcP 177 (1977), 418, 441; Erman/Westermann BGB, 10. Aufl., § 818 Rn. 44; a.A. Flume in Festschrift BGH, 525, 542ff., wenn auch mit gleichem Ergebnis für die Fälle des zufälligen Untergangs der Sache. 4

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6 Siehe den Fall OLG Köln NJW-RR 1999, 882, 884: arglistige Täuschung beim Abschluß eines Mietvertrages.

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greifen, wenn die Nichtigkeit nicht auf einem Irrtum oder einer Täuschung, sondern auf anderen Gründen, also etwa einem Einigungs- oder Formmangel beruhte. 7

III. Änderung des Rücktrittsrechts und Folgerungen

1. Änderungen Die Grundwertungen des Rücktrittsrechts, die auf das Bereicherungsrecht übertragen wurden, sind durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz geändert worden. Nunmehr kann der Rücktrittsberechtigte auch dann zurücktreten, wenn er die empfangene Leistung seinerseits nicht mehr zurückgewähren kann. Allerdings trägt er das Risiko des Untergangs der Sache gleichwohl: Gemäß § 346 Abs. 2 BGB hat er Wertersatz für die untergegangene Sache zu leisten. Diese Pflicht zur Leistung von Wertersatz entfällt unter den Voraussetzungen von § 346 Abs. 3 BGB. Hierzu zählen die Fälle, daß - sich der Mangel erst während der Verarbeitung oder Umgestaltung des Gegenstandes zeigt - der Gläubiger die Verschlechterung oder den Untergang zu vertreten hat - der Schaden bei dem Gläubiger gleichfalls eingetreten wäre - im Falle eines gesetzlichen Rücktrittsrechts die Verschlechterung oder der Untergang beim Berechtigten eingetreten ist, obwohl dieser diejenige Sorgfalt beobachtet hat, die er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt.

2. Folgerungen für das Bereicherungsrecht Soweit den Rücktrittsberechtigten die Verpflichtung zur Leistung von Wertersatz für die untergegangene Sache trifft, entspricht dieses Ergebnis der Grundwertung der Saldotheorie. Beide Regelungen führen im Endresultat dazu, daß der Gläubiger des Anspruchs das Risiko trägt, die Sache nicht mehr herausgeben zu können. Gerade wenn man also mit der herrschenden Meinung eine Anbindung des Bereicherungsrechts an die Wertungen des Rücktrittsrechts wünscht, kann man nunmehr im Ausgangspunkt für die Saldotheorie plädieren. Dem entspricht, daß die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung als Vorteil der neuen Rücktrittsregelung gerade diese Übereinstimmung mit den Wertungen der Saldotheorie anführt. 8 7 Letzteres war umstritten. Für eine Einschränkung der Saldotheorie bzw. ihrer Wertungen in allen Fällen Larenz/Canaris (s.o. Fn. 1) § 73 III 3 b; offen gelassen bei Wendehorst (s.o. Fn. 2) § 8 1 8 Rn. 105. 8 Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zu § 346 Abs. 2 S. 1 = Canaris Schuldrechtsmodernisierung, 2002, 779.

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Geht man von der Zwei-Kondiktionenlehre aus, ergibt sich allerdings im Ergebnis kein Unterschied. Denn die Übernahme der Wertungen des Rücktrittsrechts in das Bereicherungsrecht hängt nicht von der gewählten Theorie ab. Damit stellt sich die Frage, ob die im Gesetz für den Wegfall der Pflicht zum Wertersatz genannten Voraussetzungen zugleich die Fallgruppen umschreiben, bei denen die Saldotheorie nicht gilt. Sofern das der Fall wäre, könnte eine Parallelität der Wertungen erreicht werden. Unergiebig ist allerdings § 346 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 BGB. Der dort vorgesehene Ausschluß des Wertersatzanspruches im Falle des Rücktritts wegen eines Mangels spielt bei der Rückabwicklung nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB keine Rolle. Denn Mängel führen nicht zur Nichtigkeit des Vertrages. Somit kann diese Wertung nicht auf das Bereicherungsrecht übertragen werden.9 a) Der Gläubiger des Bereicherungsanspruchs hat den Untergang der Bereicherung zu vertreten. Eine Übertragung der Wertungen des Rücktrittsrechts bietet sich demgegenüber in den Fällen von § 346 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 Alt. 1 BGB an.10 Schon bisher war man der Ansicht, daß sich ein Verkäufer nicht auf die Saldotheorie berufen könne, wenn er den Untergang bzw. die Verschlechterung der Kaufsache zu vertreten hat. Diese Fallgestaltung liegt dem bereits geschilderten Mähdrescher-Fall11 zugrunde. Die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung nimmt daher auch auf diese Entscheidung Bezug.12 Die in § 346 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 Alt. 1 BGB enthaltene Wertung kann daher ins Bereicherungsrecht übernommen werden. Die Saldotheorie kommt also nicht zur Anwendung und der Gläubiger des Bereicherungsanspruchs muß sich daher den Wert der untergegangenen Sache von seinem Anspruch nicht in Abzug bringen lassen, wenn der Untergang der Sache dem Schuldner des Anspruchs anzulasten ist. Sofern man der Saldotheorie nicht folgt, ändert sich zwar die Konstruktion, nicht aber das Ergebnis. Denn die Übertragung der Wertungen des Rücktrittsrechts auf das Bereicherungsrecht hängt nicht von diesen konstruktiven Unterschieden ab. b) Der Untergang der Bereicherung wäre auch beim Bereicherungsgläubiger eingetreten. Die Pflicht zum Wertersatz entfällt gem. § 346 Abs. 3 Nr. 2 Alt. 2 BGB des Weiteren, wenn der Schaden auch bei dem Rücktrittsgläubiger eingetre-

9 A.A. Schlechtriem Schuldrecht Besonderer Teil, 6. Aufl., Rn. 797, aber ohne Nennung eines Beispiels. 10 So auch Schlechtriem (s.o. Fn. 9) Rn. 797 11 BGHZ 78, 216. 12 (s.o. Fn. 8).

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ten wäre. Diese Fallgestaltung war als Ausnahme von der Saldotheorie bislang nicht bekannt. Sie wäre zum Beispiel einschlägig, wenn der Verkäufer nach Rücktritt des Käufers - auf Rückzahlung des Kaufpreises in Anspruch genommen - den Wertersatzanspruch wegen Zerstörung der Kaufsache geltend machen wollte, obwohl die Sache auch bei ihm untergegangen wäre, etwa weil der verkaufte PKW von ihm ebenfalls in dem nunmehr abgebrannten Parkhaus untergestellt worden wäre. Die praktische Bedeutung dieser Fallgestaltung ist erkennbar gering.13 Meist wird es sich um Ereignisse handeln, die nicht nur Verkäufer und Käufer sondern Jedermann treffen (PKW bricht auf Grund von „Altersschwäche" zusammen), was zu einem entsprechend geringeren Wert der Sache führen und daher den Wertersatzanspruch des Verkäufers von vornherein mindern würde. Gerade dieser „Normalfall" zeigt aber auch, daß das Gesetz mit der Wertung von § 346 Abs. 3 Nr. 3 Alt. 2 BGB richtig liegt und zwar wiederum unabhängig davon, ob der Anspruch auf Bereicherungsoder auf Rücktrittsrecht gestützt wird14. Fast läßt sich sogar sagen, daß die Wertung für das Bereicherungsrecht überzeugender ist als für das Rücktrittsrecht. Denn die Eingliederung der erworbenen Sache in das eigene Vermögen aufgrund eines nichtigen Vertrages ist in gewisser Hinsicht rechtlich weniger bedeutsam als die Eingliederung infolge eines wirksamen - wenn auch mit einem Rücktrittsrecht bedrohten - Vertrages. Daher liegt ein Blick auf die Wertung von § 346 Abs. 3 Nr. 2 Alternative 2 BGB bei nichtigen Verträgen sogar besonders nahe. c) Der Untergang der Bereicherung erfolgt, obwohl der Bereicherungsschuldner die Sorgfalt angewandt hat, die er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt. Die Pflicht zum Wertersatz entfällt nach § 346 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BGB auch, wenn die Verschlechterung oder der Untergang der zurück zu gewährenden Sache beim Berechtigten eingetreten ist, obwohl er diejenige Sorgfalt beachtet hat, die er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt. Der Rücktrittsberechtigte trägt also nach wie vor nicht das Zufallsrisiko. Insoweit hat sich die Rechtslage nicht verändert. Nach wie vor sprechen daher gute Gründe dafür, genau in diesem Fall auch die Saldotheorie für nicht anwendbar zu halten bzw. bei der Zugrundelegung anderer bereicherungsrechtlicher Theorien entsprechend zu werten. Allerdings sagt das Gesetz auch, daß diese Ausnahme nur im Falle des gesetzlichen Rücktrittsrechts gilt, also nach der Vorstellung des Gesetzgebers in den Fällen, in denen der Gläubiger des Rückgewähranspruchs die Entste-

« So auch Kaiser JZ 2001, 1057, 1060. 14 Im Ergebnis so auch Schlechtriem (s.o. Fn. 9) Rn. 797

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hung des Rücktrittsrechts zu vertreten hat.15 Damit unterstützt die neue Rechtslage die zur alten Rechtslage vertretene These, daß nicht alle Nichtigkeitsgründe gleich behandelt werden können. Der zufällige Untergang der bereits geleisteten Sache liegt nur dann im Risikobereich des Bereicherungsgläubigers, wenn er die Nichtigkeit zu vertreten hat. Hierzu gehören die Fälle der arglistigen Täuschung, oftmals auch der Sittenwidrigkeit, im Normalfall aber nicht Fallgestaltungen, in denen die Nichtigkeit auf Formfehlern oder Dissens beruht, da sich beide Seiten um die Vermeidung solcher Fehler gleichermaßen zu bemühen haben.16 Sofern aber die eine Seite die andere über einen Formfehler täuscht oder einen Dissens schuldhaft herbeiführt, liegt die Sachlage wieder anders. In diesem Fall ergibt die Wertung von § 346 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BGB, daß die Saldotheorie zu Lasten desjenigen eingreift, der die Nichtigkeit zu vertreten hat. Hat also der Verkäufer den Käufer bei dem Kauf eines GmbH-Anteils arglistig über das Formerfordernis von § 15 GmbHG getäuscht, so kann der Verkäufer auf Rückzahlung des Kaufpreises nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB in Anspruch genommen, nicht einwenden, die GmbH sei mittlerweile infolge einer Insolvenz aufgelöst und der Anteil daher nicht mehr vorhanden, er also per Saldo gar nicht bereichert. Dies gilt allerdings wiederum nicht, wenn die Insolvenz auf unsorgfältiges Verhalten (Maßstab § 277 BGB) des Käufers zurückzuführen ist. Auch das ergibt sich aus § 346 Abs. 3 S. 3 Nr. 3 BGB.

IV. Ungelöste Fallgestaltungen 1. Schutz beschränkt Geschäftsfähiger und Geschäftsunfähiger Keine Lösung brachte die Übertragung der Regeln des Rücktrittsrechts auf das Bereicherungsrecht für die Fallgruppe des Erwerbs durch Minderjährige oder sonstiger beschränkt Geschäftsfähiger bzw. Geschäftsunfähiger. Hieran hat die Reform des Rücktrittsrechts nichts geändert. Der Schutz dieser Personen hat mit der in § 346 Abs. 2 BGB niedergelegten Normierung nichts zu tun. Doch spielt das im Ergebnis keine Rolle: Schon bisher bestand Einigkeit darüber, daß die Saldotheorie nicht zu Lasten beschränkt Geschäftsfähiger oder Geschäftsunfähiger angewandt werden kann.17 15 Zu dieser teleologischen Reduktion Gaier WM 2001, 1, 11; Grothe in Bamberger/Roth BGB § 346 Rn. 31; AnwKom-BGB//i2gerBGB § 346 Rn. 50; Kamanabrou NJW 2003, 30, 31. 16 So zum alten Recht schon Diesselhorst]Z 1970, 418; Staudinger/Lorenz BGB, 13. Bearbeitung, § 818 Rn. 44; Reuter/Martinek Ungerechtfertigte Bereicherung, 1983, 603; de lege ferenda König Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts II, 1981, 1515, 1548; siehe den Hinweis bei Larenz/Canaris (s.o. Fn. 1) § 73 ΠΙ 3 b, der aber anderer Ansicht ist. 17 Statt aller MünchKommBGB/Lieb (s.o. Fn. 2) § 818 Rn. 91; Erman/Westermann (s.o. Fn. 4) § 818 Rn. 43.

Saldotheorie und neues Rücktrittsrecht 2.

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Vorleistung

Prinzipiell ungeeignet ist die Saldotheorie zur Lösung der sogen. Vorleistungsfälle, da es - bei Vorleistung einer Seite - keinen Anspruch gibt, von dem beim Untergang der vorgeleisteten Sache der Wert eben dieser Sache abgezogen werden könnte.18 Der Blick auf das Rücktrittsrecht macht aber deutlich, daß es gleichwohl nicht angeht, dem Vorleistenden stets das Risiko des zufälligen Untergangs der erbrachten Sache zuzuweisen. Denn eine solche Wertung kennt das Rücktrittsrecht nicht. Dieser schon zum alten Rücktrittsrecht dargelegte Gedanke19 gilt für das neue Rücktrittsrecht gleichermaßen. Ob man dies als eine weitere Ausnahme von der Saldotheorie begreift oder ob man deshalb auf die Zwei-Kondiktionenlehre ausweicht, ist dann letztlich Geschmackssache.

V. Zusammenfassung 1. Die Wertungen des Rücktrittsrechts können in das Bereicherungsrecht übertragen werden. 2. Der Gläubiger des Bereicherungsanspruchs trägt unter den Voraussetzungen von § 346 Abs. 3 BGB das Risiko des Unterganges bzw. der Verschlechterung der von ihm geleisteten Sache.

18 Siehe statt aller Larenz-Canaris (s.o. Fn. 1) § 73 III 2 d; MünchKommBGB/Lieb (s.o. Fn. 2) § 818 Rn. 90; Erman/Westermann (s.o. Fn. 4) § 818 Rn. 43. 19 Larenz/Canaris (s.o. Fn. 1) § 73 III 2 d.

Stellvertretendes commodum bei anfänglicher Unmöglichkeit für jedermann? HORST

HAMMEN

I. Vorbemerkung Grundfragen des Privatrechts sind Walther Hadding stets ein besonderes Anliegen gewesen. Aus meiner akademischen Lehrzeit bei ihm in Mainz weiß ich, wie sehr ihn die Frage interessiert, welche Wirkungen ein Vertrag haben kann. Beispielgebend sind seine Untersuchungen zum Vertrag zu Rechten Dritter 1 und zur Rechtsnatur der vereinsrechtlichen Satzung 2 sowie zum nachvertraglichen Wettbewerbsverbot 3 . Da er zudem zu denjenigen gehört, die vor einer überhasteten Reform des Schuldrechts gewarnt haben, mag es angezeigt sein, ihm zu Ehren zu untersuchen, welche Wirkungen ein nach der durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz geschaffenen Vorschrift in § 311a Abs. 1 BGB wirksamer Vertrag haben kann, insbesondere ob ein solches Versprechen geeignet ist, einen Anspruch auf Herausgabe des stellvertretenden commodum (§ 285 BGB) zu begründen.

II. Neuregelung des Rechts der anfänglichen Unmöglichkeit für jedermann Eine der wesentlichen dogmatischen Neuerungen der zum 1. Januar 2001 erfolgten Schuldrechtsreform ist die Regelung in § 311a BGB. 4 Nach Absatz 1 dieser Vorschrift steht es der Wirksamkeit eines Vertrags nicht entgegen,

1 Vgl. nur HaddingZur Theorie des Vertrages zu Rechten Dritter im deutschen Recht, in Festschrift I. Zajtay, 1982, S. 185 ff. 2 Hadding Korporationsrechtliche oder rechtsgeschäftliche Grundlagen des Vereinsrechts?, in Festschrift R. Fischer, 1979, S. 165ff. 3 Hadding/Hammen Anm. zu BAG AP Nr. 53 zu § 74 HGB. 4 Nach Canaris JZ 2001, 499, 521 gibt es nur drei „große" Abweichungen von dem bis zum 31. 12. 2000 geltenden BGB: 1. Die Abschaffung von § 306 BGB a.F. und dessen Ersetzung durch die Ansprüche aus § 311a Abs. 2 BGB. 2. Die Neuregelung der vormals in § 326 BGB a.F. geregelten Voraussetzungen für den Rücktritt. 3. Die ausdrückliche gesetzliche Regelung der positiven Forderungsverletzung.

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daß der Schuldner eine anfängliche und für jedermann unmögliche Leistung nach § 275 Abs. 1 Fall 2 BGB nicht erbringen muß. 5 § 311a Abs. 1 BGB hat die Bestimmung in § 306 BGB a.F. abgelöst, nach der ein auf eine (objektiv) unmögliche Leistung gerichteter Vertrag nichtig, also unwirksam 6 gewesen ist. Bei dieser Kehrtwendung hat es der Gesetzgeber nicht belassen. Vielmehr hat er auch die Rechtsfolgen anfänglicher objektiver Unmöglichkeit neu geordnet. Während nach § 307 Abs. 1 BGB a.F. eine verschuldensabhängige Haftung auf Ersatz des Vertrauensschadens bestanden hat, die als Haftung aus culpa in contrahendo erklärt worden ist, 7 regelt die Vorschrift in § 311a Abs. 2 BGB eine verschuldensabhängige Haftung auf Schadensersatz statt der Leistung, also auf das Erfüllungsinteresse. Zur Begründung dieser Neuausrichtung des Rechts der Unmöglichkeit wurde ausgeführt, die Annahme unterschiedlicher Rechtsfolgen - lediglich Ersatz des Vertrauensschadens nach § 307 BGB a.F. oder aber Schadensersatz wegen Nichterfüllung nach §§ 280, 325 BGB a.F. - je nachdem, wann die Unmöglichkeit eintrete, überzeuge nicht, weil es vom Zufall abhängen könne und deshalb nicht so bedeutsam sei, ob die Unmöglichkeit vor oder nach Vertragsschluß eintrete, 8 wobei schon an dieser Stelle festgestellt werden kann, daß das mit der Neuregelung verfolgte Ziel einer Beseitigung von Abgrenzungsschwierigkeiten nicht erreicht worden ist, weil sich stets beim Vertretenmüssen die Frage stellt, ob dem Schuldner nur die mangelnde vorherige Information und Aufklärung des Vertragspartners über seine Leistungsunfähigkeit 9 oder das Unmöglichwerden der Leistung zur Last fällt10. Will man das Regelungsgefüge der Vorschriften in § 311a BGB richtig verstehen, muß die Gesetzgebungsgeschichte des neuen Leistungsstörungsrechts mitbedacht werden. Die Verfasser des Diskussionsentwurfs eines Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes11 versuchten, das Ziel einer rechtlichen Gleichbehandlung von anfänglicher und nachträglicher Unmöglichkeit auf folgende Weise zu erreichen: Zunächst wurde § 306 BGB a.F. „ersatzlos" gestrichen. 12 Eine Bestimmung, wie sie dann in § 311a Abs. 1 BGB Gesetz geworden ist, hielt man zunächst zu Recht für überflüssig. Denn Verträge 5 Anfängliches Unvermögen und andere nach § 275 BGB bedeutsame Leistungshindernisse bleiben im Folgenden ausgeklammert. 6 Nichtigkeit bedeutet stets Unwirksamkeit (£. Wolf Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 3. Aufl. 1982, § 10 B. III., S. 458f.). 7 BGHZ 76, 16, 22; Palandt/Heinrichs BGB, 61. Aufl. 2002, § 307 Rn. 1. 8 Grunewald]Z 2001, 433, 434; Canaris in Die Schuldrechtsreform vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts, hrsg. von R. Schulze und H. Schulte-Nölke, 2001, S. 43, 56; Teichmann BB 2001, 1485, 1486. 9 Vgl. Canum DB 2001, 1815, 1818. 10 Harke Unmöglichkeit und Pflichtverletzung, Jb. J. ZivRWiss. 2001, S. 29, 55. 11 Abgedruckt in Schuldrechtsmodernisierung 2002, zusammengestellt von C.-W. Canaris, 2002, S. 3 ff. 12 Begründung Disk.entw. (Fn. 11), S. 173.

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sind nach der Konzeption des BGB stets wirksam, wenn kein gesetzlicher Unwirksamkeitsgrund entgegensteht, wie der Tatbestand in § 306 BGB a.F. einer gewesen ist.13 Wirksamkeit eines schuldrechtlichen Vertrags bedeutet, daß das Rechtsgeschäft wirkt, also im Regelfall die vertraglich vereinbarten Ansprüche und Pflichten erzeugt. 14 Das sollte nach den Vorstellungen der Entwurfsverfasser demnach auch dann gelten, wenn der Vertrag auf eine anfängliche und jedermann unmögliche Leistung gerichtet ist. Dieses Ergebnis wollte man in einem weiteren Schritt durch eine Veränderung von § 275 BGB a.F. mit der Rechtslage bei nachträglicher Unmöglichkeit harmonisieren. Grundelement einer jeden Schadensersatzpflicht aus der Sonderverbindung eines Schuldverhältnisses sollte es sein, daß der Schuldner eine sich aus dem Schuldverhältnis ergebende Pflicht nicht erfüllt. Grundtatbestand der Leistungsstörung wurde die „Pflichtverletzung". 15 Zu dem Grundtatbestand der Haftung wegen einer Pflichtverletzung in § 280 Abs. 1 S. 1 BGB-Disk.entw. ( = § 280 Abs. 1 S. 1 BGB n.F.) wollten die Entwurfsverfasser in einem ersten Schritt dadurch gelangen, daß sie die Vorschrift in § 275 S. 1 BGB-Disk.entw. unter Eliminierung des Begriffs der Unmöglichkeit der Sache nach auf die Fälle anfänglicher Unmöglichkeit erstreckten. 16 In einem zweiten Schritt änderte man den Ausschlußtatbestand in § 275 Abs. 1 BGB a.F. in einen Einredetatbestand (§ 275 S. 1 BGB-Disk.entw.: „kann ... die Leistung verweigern"). Dogmatisch bedeutete dies, daß auch bei anfänglicher objektiver Unmöglichkeit eine Pflicht zur Leistung entstehen sollte, die dann auch Gegenstand einer Pflichtverletzung sein können sollte. Zudem sollte durch einen in § 275 S. 2 BGB-Disk.entw. enthaltenen Verweis auf die Haftungstatbestände in §§ 280, 282 BGB-Disk.entw. klargestellt werden, daß die durch eine Einrede gemäß § 275 S. 1 BGBDisk.entw. gedeckte Nichtleistung eine Pflichtverletzung sein könne. 17 Das war eine mit gewissen Abstrichen in sich folgerichtige Gesamtkonzeption. Die Konzeption, aus einem auf eine anfänglich unmögliche Leistung gerichteten, wirksamen Vertrag eine Pflicht des Versprechenden entstehen zu lassen, hat Zustimmung und Widerspruch erfahren. Manche 18 meinten, der Satz „Impossibilium nulla obligatio est" (Celsus D. 50, 17, 185) sei nur scheinbar zwingend logisch, und erinnerten an Ernst Rabel, der gesagt hat, aus der Unmöglichkeit der Leistung folge nicht, „daß ich es nicht schuldig

•3 Hammen WM 2001, 135^ 1359. 14 E. Wolf Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, § 6, S. 259ff., S. 271 ff.; den. Lehrbuch des Schuldrechts, Erster Band, Allgemeiner Teil, 1978, § 2, S. 64, 68, 79. 15 Begründung Disk.entw. (Fn. 11), S. 159f. 16 Begründung Disk.entw. (Fn. 11), S. 155. 17 Begründung Disk.entw. (Fn. 11), S. 157 18 H. Stoll JZ 2001, 589, 590.

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sein kann" 19 . Andere hielten dem entgegen, der Satz des Celsus sei hinsichtlich der Befreiung von der primären Leistungspflicht von apriorischer Überzeugungskraft. 20 Dieser Auffassung haben sich die Gesetzesverfasser angeschlossen.21 Deshalb wurde die Unmöglichkeit der Leistung in § 275 Abs. 1 BGB-Reg.entw. (= § 275 Abs. 1 BGB) wieder ausdrücklich erwähnt und als Einwendung ausgestaltet,22 mithin der Einredetatbestand in § 275 S. 1 BGBDisk.entw. in einen Ausschlußtatbestand umgestellt. Zugleich schuf man die Regelung in § 311a Abs. 1 BGB-Reg.entw. (= § 311a Abs. 1 BGB). Hierfür war die Überlegung maßgebend, einen an internationale Vorbilder angeglichenen Rechtszustand schaffen zu wollen.23 Dabei entstand nun freilich eine Schwierigkeit. Da es der Regierungsentwurf bei der Anwendbarkeit von § 275 BGB-Disk.entw. auf die Fälle anfänglicher Unmöglichkeit beließ, konnte aus dem gemäß § 311a Abs. 1 BGB-Reg.entw. wirksamen Vertrag keine Pflicht mehr entstehen, weil nunmehr bei einer anfänglich unmöglichen Leistung die primäre Leistungspflicht von Anfang an ausgeschlossen war.24 Mithin fehlte es aber an der für die Begründung eines Anspruchs auf Schadensersatz statt der Leistung nach § 280 Abs. 1 BGB erforderlichen Pflichtverletzung. Dies war auch dem Gesetzgeber bewußt. Deshalb schuf man für die anfängliche Unmöglichkeit einen eigenständigen Haftungstatbestand, denjenigen in § 311a Abs. 2 BGB-Reg.entw., für dessen Erfüllung es, wie sich aus seiner Stellung hinter § 311a Abs. 1 BGBReg.entw. ergab, nicht des Zwischenschritts einer Pflichtverletzung gemäß § 280 Abs. 1 BGB-Reg.entw. bedurfte. Diese Konzeption ist dann auch Gesetz geworden. Freilich verlor § 311a Abs. 1 BGB hierdurch seine ihm ursprünglich zugedachte Funktion. Die in Fällen anfänglicher Unmöglichkeit angeordnete Wirksamkeit des Vertrags sollte doch eine Pflicht des Versprechenden aus dem Vertrag entstehen lassen, um zu dem zentralen Tatbestand der Pflichtverletzung und von dort zu einem Schadensersatz statt der (vertraglich geschuldeten) Leistung zu gelangen. Mithin war durch die Beibehaltung der Erstreckung von § 275 Abs. 1 BGB auf die anfängliche Unmöglichkeit der unmittelbare dogmatische Zusammenhang zwischen der in § 311a Abs. 1 BGB bestimmten Wirksamkeit des Vertrages und dem Schadensersatz statt der Leistung, der nunmehr in § 311a Abs. 2 BGB besonders gere-

19 Rabel'm Festschrift Ε. I. Bekker, 1907, S. 178. Daß dieser Gedanke nicht von der Hand zu weisen ist, zeigt der Umstand, daß - obwohl § 275 Abs. 1 BGB diesbezüglich keine ausdrückliche Ausnahmeregelung enthält - weder anfängliches noch nachträgliches Unvermögen den Bestand einer Geldschuld berührt. 20 Canaris (Fn. 8), S. 43, 49. 21 Begründung Reg.entw. BT-Drucks. 14/6040, S. 128. 22 Begründung Reg.entw. (Fn. 21) S. 129. 23 GrunewaldJZ 2001, 433, 434. 24 Und damit nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB gegebenenfalls auch der Anspruch auf die Gegenleistung entfällt.

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gelt war, abhanden gekommen. Damit waren zwei miteinander zusammenhängende Fragen aufgeworfen. Was ist der dogmatische Grund der Haftung aus § 311a Abs. 2 BGB (unten III.)? Welche Wirkungen hat der nach § 311a Abs. 1 BGB wirksame Vertrag, insbesondere, führt er zu einem Anspruch auf Herausgabe des stellvertretenden commodum (unten IV.)?

III. Der Vertrag als Grund der Haftung aus § 311a Abs. 2 BGB? Nachdem eine verletzte Pflicht aus dem Vertrag als Grund für eine Haftung auf Schadensersatz statt der Leistung bei anfänglicher Unmöglichkeit ausgefallen war, mußte ein anderer Grund für die Haftung aus § 311a Abs. 2 BGB gefunden werden. Viele - unter ihnen auch Mitglieder der Kommission Leistungsstörungsrecht - sahen (und sehen) ihn in der Verletzung einer vorvertraglichen Pflicht.25 Dieser Ansatz geriet schnell in die Kritik. Vorgetragen wurde erstens: Gehe es um eine vorvertragliche Pflicht, sei § 311a Abs. 2 BGB systematisch überflüssig, weil die Haftung dann schon aus § 280 BGB folge, und zweitens: Der Schadensersatz statt der Leistung stehe in keinem schadensersatzrechtlich relevanten Zusammenhang mit der verletzten Pflicht.26 In einer Erwiderung hierauf hat dann Canaris die Regelung in § 311a BGB wie folgt authentisch interpretiert: Richtig sei, daß die Verletzung einer vorvertraglichen Pflicht, sich über etwaige Leistungshindernisse zu informieren und den anderen Teil darüber aufzuklären, anders als in § 311a Abs. 2 BGB geregelt nur zum Ersatz des negativen Interesses führen könne. Es wirke nun aber nicht die Verletzung dieser Pflicht haftungsbegründend. Vielmehr sei auf den in § 311a Abs. 1 BGB für wirksam erklärten Vertrag abzustellen. Dogmatisch gesehen folge der Anspruch auf das positive Interesse aus der Nichterfüllung des Leistungsversprechens, weil die Nichterfüllung eines Leistungsversprechens folgerichtig einen Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung nach sich ziehe,27 - wobei Canaris dann freilich für das nach § 311a Abs. 2 S. 2 BGB erforderliche Vertretenmüssen wieder auf die vorvertragliche Informationspflicht abstellt28 und dabei übersieht, daß sich das Vertretenmüssen doch immer auf das beziehen 25 Palandt/Heinrichs BGB, 63. Aufl. 2004, § 311a Rn. 6; AnwKom-BGB/Dauner-Lieb, 2002, § 311a Rn. 14: „Verletzung einer vorvertraglichen Informationspflicht". 26 Altmeppen DB 2001, 1399, 1400. - Geht man von der Verletzung einer vorvertraglichen Pflicht aus, bleibt zudem unklar, weshalb es dann noch der gesetzlichen Anordnung der Wirksamkeit des Vertrags bedurft hat. Denn das Rechtsverhältnis der Vertragsverhandlungen besteht unabhängig davon, ob der dann geschlossene Vertrag wirksam ist oder nicht; es existiert sogar, wenn es überhaupt nicht zum Vertragsschluß kommt. 27 CanarisOZ 2001, 1815, 1818f.; ZimmerNJW 2002, 1, 8; ebenso Schwab/Witt/Mattheus Einführung in das neue Schuldrecht, 2002, S. 90: Die Haftung folge daraus, daß der Schuldner nicht imstande gewesen sei, seine Leistungszusage einzuhalten. 2 » Canaris DB 2001, 1815, 1818.

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muß, was versprochen bzw. geschuldet ist und was deshalb den Grund für den Schadensersatz statt der - versprochenen oder geschuldeten - Leistung gibt. 29 Andere meinen sogar, der Inhalt des Vertrages bestehe im Falle anfänglicher Unmöglichkeit von vornherein nur darin, das Erfüllungsinteresse des Gläubigers in Geld zu ersetzen. 30 Dieses Versprechen ordnete man als Vertrag ohne primäre Leistungspflicht ein.31 An dieser Ableitung ist richtig, daß es in der Tat Verträge, beispielsweise den Ehemäklervertrag (§ 656 BGB), gibt, aus denen keine primäre Leistungspflicht entspringt, die Entstehung einer solchen Pflicht also nicht zu den begriffsnotwendigen Wirkungen eines Vertrags gehört. Dies folgt aus dem Umstand, daß der Begriff des Vertrags nicht auf das Recht der Begründung eines Schuldverhältnisses beschränkt ist, sondern als ein Allgemeinbegriff des Rechts beispielsweise auch die Verfügungsverträge des Sachenrechts und des Schuldrechts (vgl. §§ 929, 397, 398 BGB) umfasst. Aber auch im Zusammenhang mit dem Entstehungstatbestand in § 311 BGB kommen Schuldverträge vor, die keine primäre Pflicht bewirken. Neben dem Ehemäklervertrag stehen Spiel und Wette (§ 762 BGB) und die rechtsgeschäftliche Begründung eines Optionsrechts. 32 Gleichwohl haben die Gesetzesverfasser mit ihrem Verweis auf die Verträge ohne primäre Leistungspflicht etwas kurz gegriffen. Denn der Ehemäklervertrag und die Wette begründen zwar ebenfalls keine Pflicht des Schuldners zur Erbringung der versprochenen Leistung, wohl aber eine diesbezügliche Naturalobligation, also einen Erwerbsgrund. Von einem solchen Erwerbsgrund 33 , der Herausgabeansprüche gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB ausschließt (vgl. § 656 Abs. 1 S. 2 BGB), kann bei einem auf eine anfänglich und für jedermann unmögliche Leistung gerichteten Vertrag selbstverständlich keine Rede sein. Daß ein Schuldvertrag über eine Leistung, also nicht etwa ein Rahmenvertrag oder etwas ähnliches, - hier: der nach § 311a Abs. 1 BGB wirksame Vertrag - keinerlei Rechtswirkung bezüglich der versprochenen Leistung hat, übersteigt den Bereich der bislang bekannten Verträge ohne primäre Leistungspflicht und hätte deshalb einer besonderen Begründung bedurft. Das in diesem Zusammenhang für die Wirksamkeit des Vertrags vorgebrachte Argument, bei nachträglicher Unmöglichkeit werde der Vertrag ja auch nicht unwirksam, nur weil er nicht mehr erfüllt werden könne, 34 über-

2 9 Vgl. Altmeppen DB 2001,1821,1823; Wilhelm]Z 2001, 861, 867, sehr deutlich Wilmowshy JuS, Beilage zu Heft 1/2002, S. 12 f. 30 Mattheus JuS 2002, 209, 214. 31 Begründung Reg.entw. (Fn. 21), S. 164. 32 Hammen ZW 1987, 151 ff. 33 Zu den Erwerbsgründen vgl. E. Wo//Lehrbuch des Schuldrechts, Erster Band, § 1 C., S. 23ff.; Hammen Die Gattungshandlungsschulden, 1995, S. 97. 34 GrunewaldJZ 2001, 433, 434.

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zeugt nicht, weil der Vertrag im letztgenannten Fall als wirksames Rechtsgeschäft unstreitig Rechtswirkungen gehabt hat, woran der aus welchen Gründen auch immer erfolgende Wegfall einer Forderung aus dem Vertrag (z.B. infolge nachträglicher Unmöglichkeit, Erfüllung35, Erlaß) selbstredend nichts mehr ändern kann, während bei anfänglicher Unmöglichkeit erst einmal dargelegt werden muß, worin denn die Rechtswirkungen des wirksamen Vertrags bestehen sollen. Der Uberblick über die schuldrechtlichen Verträge, insbesondere über die Verträge ohne primäre Leistungspflicht, hat gezeigt, daß Vertrag, Gebundensein der Beteiligten und Haftung nicht untrennbar miteinander verknüpft sind. Folglich war nach einem Element zu suchen, das diese Verknüpfung herstellt. Dieses Element fand Canaris, ohne dies freilich dogmatisch näher auszuführen, in der Figur des Versprechens. Besieht man diesen Gedanken genauer, so erweist sich, daß Canaris die Gebundenheit in der Entscheidung, die an sich den Inhalt einer schuldrechtlichen Pflicht ausmacht,36 offenbar in den Vertrag vorverlagert, obwohl doch diese Gebundenheit erst eine Rechtswirkung des Vertrags sein kann. Damit greift er der Sache nach einige Elemente der mittelalterlichen kanonistischen Lehre von der bindenden Kraft des einseitigen Versprechens auf. Die Kanonistik leitete die Bindung an ein vertragliches Versprechen aus der Gewissenspflicht zu Wahrhaftigkeit und Treue ab. Hiernach sei es Lüge - folglich Sünde wenn einer nicht erfülle, was er versprochen habe.37 Das BGB hat diese Lehren, obgleich das Wort Versprechen in der Kodifikation gelegentlich vorkommt (Uberschrift vor § 328 BGB: „Versprechen" der Leistung an einen Dritten; Uberschrift von § 780 BGB: Schuld„versprechen"), ohne daß hiermit aber ein besonderer Bedeutungsgehalt verbunden ist (vgl. § 780 BGB: „Zur Gültigkeit eines Vertrages ist ... schriftliche Erteilung des Versprechens erforderlich"), nicht übernommen.38 Nach dem Grundkonzept des BGB ist der Versprechende an sein Versprechen in rechtlich bedeutsamer Weise nur gebunden, wenn er aus dem Versprechen rechtlich verpflichtet ist. Dabei erweist sich nun, daß nach geltendem Recht eben nicht jedes schuldrechtliche Versprechen den Versprechenden mit Blick auf die Leistung bindet. Als Beispiel kann der Ehemäklervertrag (§ 656 BGB) angeführt werden, bei dem jegliche Bindung der Beteiligten fehlt, obgleich der Vertrag wirksam ist. Folgerichtig führt er bei Ausbleiben der versprochenen Leistung auch nicht

3 5 Bei der Erfüllung wird dies besonders deutlich, weil als Wirkung des Vertrags ein Erwerbsgrund („rechtlicher Grund") den gemäß § 362 Abs. 1 BGB erloschenen Anspruch überdauert. 36 E. Wolf Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, § 2 C. I., S. 116. 37 Vgl. Mayer-Maly in Festschrift Seidl, 1975, S. 118, 123f.; Tosch Entwicklung und Auflösung der Lehre vom Vertrag, 1980, S. 14. 38 Hammen WM 1994, 765, 774.

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zu einer Haftung statt der Leistung. 39 Zudem führt die Annahme, der Anspruch aus § 311a Abs. 2 BGB auf das positive Interesse folge aus der Nichterfüllung des Leistungsversprechens, zu einem dogmatischen Bruch mit dem neuen allgemeinen Recht der Leistungsstörungen, wie es in dem Grundtatbestand in § 280 Abs. 1 BGB Niederschlag gefunden hat. Wäre der Vertrag wirklich der Grund für den Schadensersatzanspruch statt der Leistung, wäre es also die Nichterfüllung des Leistungsversprechens, die einen Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung nach sich zöge, 40 so wäre die Pflichtverletzung als Grund dieser Haftung in allen Fällen vertraglich begründeter Schuldverhältnisse überflüssig, weil diese Haftung ja schon aus dem nicht erfüllten Leistungsversprechen folgen würde. Das würde beispielsweise für die nicht wie geschuldet erbrachte Leistung (§ 281 Abs. 1 S. 1 BGB) gelten, soweit Mangelfreiheit zum Schuldinhalt gehört (vgl. § 433 Abs. 1 S. 2 BGB), und für den Verzug, wenn die Leistungszeit im Vertrag bestimmt ist (vgl. § 271 Abs. 2 BGB). Die Begründung einer Haftung wegen Nichterfüllung mit der Nichterfüllung des Leistungsversprechens paßt aber nicht zu § 281 Abs. 1 BGB, weil dieser Tatbestand die Nichterfüllung einer Schuld („fällig", „geschuldet", „Pflichtverletzung") erfordert. Zudem versagt dieser Begründungsversuch bei der Verletzung gesetzlicher Pflichten, weil es dort ein unerfüllt gebliebenes Leistungsversprechen nicht gibt. Daß sich der Gesetzgeber dem gegenüber in § 280 Abs. 1 BGB für ein anderes System entschieden hat, ist im Ansatz 41 richtig. Denn die bei einer Pflichtverletzung entstehenden sekundären Rechte (Schadensersatzanspruch; Rücktrittsrecht, § 323 Abs. 1 BGB; Rückforderungsanspruch, § 326 Abs. 4 BGB) sind nicht rechtsgeschäftlich begründet, 42 sondern gesetzliche Rechte. 43 Daß diese Rechte gesetzlich begründet sind, folgt aus dem Umstand, daß sie auch bei der Störung nichtrechtsgeschäftlich begründeter Rechtsverhältnisse eintreten können - alltägliches Beispiel: Verzug mit Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 1 B G B 4 4 - , und aus der Verweisung in § 327 S. 1 3 9 BGHZ 25, 124, 126. Anders liegen die Dinge, wenn der Ehemäkler Nebenpflichten verletzt (Palandt/Sprau BGB, § 656 Rn. 1). 4 0 So Canaris DB 2001, 1815, 1818. 41 Die Frage, ob es richtig war, an den Begriff der Pflichtverletzung anzuknüpfen, soll ausgeklammert bleiben (kritisch z.B. Schopp J Z 2001, 583ff.). 42 Α. A. Canaris (Fn. 8), S. 43, 49 Fn. 24: „Vertrag ... als Grundlage von Sekundäransprüchen wie denjenigen aus § 281 BGB und § 325 BGB". 43 Vgl. zu §§ 325, 326 BGB a.F. E. Wo//Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, § 11 B., S. 531. 4 4 Ein anderes - gesetzliches - Beispiel nach dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz: Haftung aus culpa in contrahendo nach §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2, 282 BGB. - Das Rechtsverhältnis aus culpa in contrahendo ist trotz der Uberschrift vor § 311 BGB („Schuldverhältnisse aus Verträgen") kein rechtsgeschäftliches, sondern ein gesetzliches Schuldverhältnis (Altmeppen DB 2001, 1399, 1400).

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BGB a.F. auf das rechtsgeschäftliche Rücktrittsrecht nach § 346 BGB a.F., die überflüssig gewesen wäre, wenn das Rücktrittsrecht aus §§ 325,326 BGB a.F. ein vertragliches gewesen wäre.45 Das letztgenannte Argument ist trotz des Wegfalls von § 327 S. 1 BGB a.F. stichhaltig, weil der Gesetzgeber an der Natur der gesetzlichen Rücktrittsrechte nicht rütteln wollte, diese in § 346 Abs. 1 BGB ausdrücklich erwähnt hat und hierunter auch die Rücktrittsrechte aus Leistungsstörungen fassen wollte.46 Ferner folgt die Begründetheit der genannten sekundären Rechte im Gesetz daraus, daß sie, wenn sie rechtsgeschäftlich begründet wären, der Inhaltskontrolle nach § 308 Nr. 3 BGB unterstellt werden müßten, was aber unsinnig wäre, weil diese Rechte ja gerade den Bereich abstecken, der gemäß § 307 Abs. 2 S. 1 BGB kontrollfrei bleibt.47 Schließlich kann diese Begründetheit daraus abgeleitet werden, daß die genannten Rechte auch entstehen, wenn sie in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam abbedungen sind. Denn wenn sie entstehen, obwohl sie rechtsgeschäftlich abbedungen sind, kann der vereinbarte Vertragsinhalt nicht dahingehend ausgelegt werden, ihre Entstehung begründen zu sollen. Die Feststellung, daß die sekundären Rechte bei einer Pflichtverletzung nicht aus einem Vertrag hergeleitet werden können, gilt entgegen der Ansicht eines Mitglieds der Kommission „Leistungsstörungsrecht"48 für den Schadensersatzanspruch aus § 311a Abs. 2 BGB in entsprechender Weise. Würde dieser Anspruch in dem nach § 311a Abs. 1 BGB wirksamen Vertrag gründen, müßte die Begründung des Anspruchs Inhalt des Vertrags, also der rechtsgeschäftlichen Erklärungen der Beteiligten, geworden sein. Es müßte mithin der Schuldner sich verpflichtet haben, Schadensersatz zu leisten, wenn die versprochene Leistung ausbleibt. Hiervon könnte allenfalls ausgegangen werden, wenn die Haftung bei anfänglicher objektiver Unmöglichkeit als Garantiehaftung ausgestaltet wäre. § 311a Abs. 2 BGB enthält jedoch keine solche Haftung, sondern eine Verschuldungshaftung, und zwar eine solche, die nach der Vorstellung der Gesetzesverfasser nicht aus der Verletzung einer ^orvertraglichen Pflicht, sondern aus der Nichterfüllung des Leistungsversprechens resultieren soll49. Wenn deshalb diese Haftung in dem Versprechen des Schuldners gründen würde, müßte der Versprechende in den Fällen, in denen er das Leistungshindernis gekannt hat, etwa folgende vertragliche Erklärung abgegeben haben: „Ich verpflichte mich, X Y zu leisten. Da ich aber weiß, daß ich nicht leisten kann, verspreche ich Schadensersatz statt der Leistung" oder: „Sollte ich das Leistungshindernis kennen oder infolge von Fahrlässigkeit nicht kennen, werde ich Schadensersatz leisten". Welcher vernünftige Mensch würde etwas Derartiges erklären? Wie 45 46 47 48 49

Vgl. Hammen WM 2001, 1357 Begründung Reg.entw. (Fn. 21) S. 189. Vgl. Ulmer/Brandner/Hensen/H. Schmidt AGBG, 8 Aufl. 1997, § 10 Nr. 3 Rn. 3. Carums (Fn. 8), S. 43, 59 Fn. 56. Begründung Reg.entw. (Fn. 21), S. 165.

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will man im Wege der Auslegung, also von der Verständnismöglichkeit des Erklärungsempfängers aus, der gehalten ist zu prüfen, was der Erklärende gemeint hat,50 zu einem solchen Erklärungsinhalt gelangen?51 Es verhält sich eben so, daß aus dem nach § 311a Abs. 1 BGB wirksamen Vertrag nichts entsteht, was den vertraglichen Erklärungen der Parteien inhaltlich entspricht. Dieses Ergebnis wird durch Folgendes befestigt. Vertragliche Wirkungen, z.B. ein Kaufpreisanspruch, entstehen durchgängig, ohne daß zwischen sie und den Vertrag ein Zwischentatbestand tritt (vgl. z.B. § 433 Abs. 1 S. 1 BGB: „Durch den Kaufvertrag"). Damit geht einher, daß diese Wirkungen natürlich - stets verschuldensunabhängig eintreten. Beim Schadensersatzanspruch aus § 311a Abs. 2 BGB liegen die Dinge anders. Dieser Anspruch entsteht keineswegs unmittelbar aus dem Vertrag, sondern aus einem anderen, nämlich dem in § 311a Abs. 2 BGB geregelten Tatbestand und damit erst bei Vorliegen zusätzlicher Voraussetzungen, insbesondere eines Schadens des Versprechensempfängers und eines Verschuldens des Versprechenden, wobei man auf letzteres besonderen Wert gelegt52 und sich damit den Weg zu einer Deutung der Haftung gemäß § 311a Abs. 1 und Abs. 2 BGB als einer vertraglichen Garantiehaftung bewußt versperrt hat.53 Fehlt es an einer dieser Voraussetzungen, bewirkt der Vertrag trotz seiner in § 311a Abs. 1 BGB angeordneten Wirksamkeit einen Schadensersatzanspruch nicht. Mithin ist der nach § 311a Abs. 1 BGB wirksame Vertrag nicht der Grund, sondern nur der Anlaß für den Schadensersatzanspruch aus § 311a Abs. 2 BGB,54 womit die Vorschrift in § 311a Abs. 1 BGB einen bedeutenden Teil der ihr zugedachten Funktion verliert, weil die Wirksamkeit des Vertrags für die Entstehung des Schadensersatzanspruchs unerheblich ist. Die gegenteilige Auffassung des Gesetzgebers55 beruht auf dem Irrtum, Schadensersatz statt der Leistung bei einem Vertrag sei nur bei Annahme der Wirksamkeit dieses Vertrages möglich. Daß diese Ableitung nicht zwingend ist, zeigt ein Blick auf die Regelung in § 179 Abs. 1 BGB, die den falsus procurator nach Wahl seines Vertragspartners zur Erfüllung oder zum Schadensersatz (Ersatz des Erfüllungsinteresses) verpflichtet, obgleich der Vertrag unwirksam ist. Ob deshalb die Haftung aus § 311a Abs. 2 BGB wie diejenige aus § 179 BGB56 eine beson50

Vgl. BGH NJW 1981, 2296. si Vgl. Canaris DB 2001, 1815, 1818. 52 Canaris JZ 2001, 499, 506. 53 Altmeppen DB 2001, 1399, 1402; Harke (Fn. 10), S. 29, 56. 54 Es hat dieser Anspruch deshalb entgegen Canaris ZRP 2001, 329, 331 nichts mit dem Grundsatz pacta sunt servanda zu tun. 55 Vgl. auch KompaktKom-BGB/Wi7/mgmann///me, 2003, § 311a Rn. 3: Dogmatisch bedürfe es der Aufrechterhaltung des Vertrages für den Schadensersatzanspruch und für den Anspruch aus § 285 BGB. 56 Soergel/Leptien BGB, Bd. 2, 13. Aufl. 1999, § 179 Rn. 1 gegen die Motive (Mugdan Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch, I. Bd., 1899, S. 488: stillschweigendes Garantieversprechen).

Stellvertretendes commodum bei anfänglicher Unmöglichkeit für jedermann?

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ders gelagerte Vertrauenshaftung ist, nämlich eine solche des positiven Vertrauensschutzes,57 bei der der Vertrauende so gestellt wird, wie es der von ihm angenommenen Lage entspricht,58 und ob dann Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis des anderen Vertragsteils nicht - wie es die Gesetzesverfasser meinen59 - eine schadensersatzpflichtsmindernde Wirkung (vgl. § 254 BGB), sondern eine haftungsausschließende Wirkung haben (vgl. den Rechtsgedanken in § 179 Abs. 3 BGB), kann im folgenden nicht untersucht werden.60

IV. Anspruch auf Herausgabe des stellvertretenden commodum? Der Gesetzgeber betrachtet den nach § 311a Abs. 1 BGB wirksamen Vertrag als Grundlage für drei Wirkungen: für den Schadensersatzanspruch statt der Leistung und für den Aufwendungsersatzanspruch aus § 311a Abs. 2 BGB sowie für den Surrogationsanspruch nach § 285 BGB.61 Hierüber braucht vom Ergebnis her bezüglich der beiden erstgenannten Ansprüche nicht gestritten zu werden, weil die Entstehung dieser Ansprüche speziell für den Fall anfänglicher objektiver Unmöglichkeit ausdrücklich gesetzlich angeordnet ist und es deshalb nur noch um ihre dogmatische Einordnung geht (oben III.). Ganz anders verhält es sich mit dem Anspruch auf das stellvertretende commodum. Diesbezüglich gibt es nämlich in § 311a BGB keine Sonderregelung. Vielmehr bewendet es bei der allgemeinen Regelung in § 285 BGB. Besieht man nun die in dieser Vorschrift geregelten tatbestandlichen Voraussetzungen genauer, fällt sofort auf, daß dort von der Erlangung eines Ersatzes oder eines Ersatzanspruchs für den „geschuldeten" Gegenstand (nicht: für einen „versprochenen" Gegenstand) geredet wird. Dieser Sprachgebrauch paßt zu den auf eine anfänglich objektiv unmögliche Leistung gerichteten Verträgen - mögen sie nun wirksam oder unwirksam sein - nicht, weil eine Leistungspflicht in diesen Fällen von Anfang an ausgeschlossen ist, also zu keinem Zeitpunkt bestanden und es deshalb auch niemals einen „geschuldeten" Gegenstand gegeben hat. Folglich ist § 285 Abs. 1 BGB seinem 57

Vgl. hierzu Canaris Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 5. Wobei der positive Vertrauensschutz nicht mit der Erfüllungshaftung identifiziert werden kann, weil dieser Schutz auch durch die Entstehung von Schadensersatzansprüchen ausgeprägt sein kann (Canaris Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 5 Fn. 10, 521). 59 Begründung Reg. entw. (Fn. 21) S. 164. 60 Es wäre dann zu diskutieren, ob das Fehlen einer z.B. der Bestimmung in § 307 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. entsprechenden Vorschrift so, wie es in ähnlicher, wenngleich noch nicht ausdiskutierter Weise Karollus (JZ 1992, 557ff.) für den Tatbestand in § 409 BGB vorgeschlagen hat, überspielt werden kann. 61 Begründung Reg. entw. (Fn. 21), S. 164f. Für die Anwendung von § 285 BGB auf die anfängliche Unmöglichkeit z.B. auch Emmerich Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl. 2003, S. 162; Looschelders Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 2003, S. 274 Rn. 687 Kritisch zu § 285 BGB-Reg.entw. Wilhelm JZ 2001, 861, 868. 58

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Wortlaut nach in Fällen anfänglicher Unmöglichkeit unanwendbar.62 Nun ist es eine alte Wahrheit, daß der Gesetzesanwender nicht am Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung kleben darf. Deshalb ist zu erwägen, ob § 285 Abs. 1 BGB bei Verträgen, die nach § 311a Abs. 1 BGB wirksam sind, ausdehnend angewendet werden kann. Im Schrifttum ist erwogen worden, ob der Bezug der Vorschrift in § 285 BGB auf die Bestimmung in § 275 BGB für eine solche Ausdehnung ins Feld geführt werden könne. 63 Wir meinen indes, daß dieser Weg versperrt ist. Zuzugeben ist zwar, daß § 285 BGB anders als die Regelung in § 281 BGB a.F., die ihrem Wortlaut nach nur in Fällen nachträglicher Unmöglichkeit anwendbar gewesen ist, durch die Bezugnahme auf § 275 BGB nunmehr ihrem Wortlaut nach zunächst auch Fälle anfänglicher Unmöglichkeit zu erfassen scheint. Freilich führt der Hinweis auf diese Bezugnahme nicht weiter. Denn eine solche Bezugnahme findet sich auch in § 283 Abs. 1 S. 1 BGB und es ist unstreitig, daß diese Vorschrift, auch wenn die Fälle anfänglicher Unmöglichkeit in ihr nicht ausdrücklich ausgeklammert sind, nur bei nachträglicher Unmöglichkeit angewendet werden kann. Warum sollte für die Vorschrift in § 285 BGB, die doch nicht der Vorschrift über die anfängliche Unmöglichkeit zugeordnet, sondern in die Regelungen über nachträgliche Leistungsstörungen eingebettet ist (§§ 280ff., 286ff. BGB), etwas anders gelten? Deshalb überzeugt auch die Ansicht64 nicht, die Anwendbarkeit von § 285 BGB bei anfänglicher Unmöglichkeit folge daraus, daß § 275 Abs. 4 BGB auf § 285 BGB verweise und § 275 BGB eben auch für die anfängliche Unmöglichkeit gelten solle. § 275 Abs. 4 BGB verweist nämlich keineswegs zielgerichtet für Fälle anfänglicher Unmöglichkeit auf die Bestimmung in § 285 BGB. Vielmehr erfolgt die Verweisung für alle Fälle der Unmöglichkeit auf alle Vorschriften über die Haftung bei Unmöglichkeit, bei § 285 BGB also darauf, daß der Gegenstand, für den der Schuldner einen Ersatz erlangt hat, „geschuldet" gewesen sein muß. Die Gesetzesverfasser wollten klarstellen, daß der Fortfall der Primärleistungspflicht nicht die einzige Rechtsfolge der Unmöglichkeit ist, sondern der Schuldner zum Schadensersatz verpflichtet ist, wenn der Umstand, der zur Leistungsbefreiung führt, von ihm zu vertreten ist.65 Insbesondere ging es darum klarzustellen, daß auch dann, wenn sich der Schuldner auf ein Recht zur Leistungsverweigerung beruft, eine Pflichtverletzung im Sinne von § 280 Abs. 1 BGB vorliegen kann. 66 „Auf diesen Zusammenhang weist (§ 275) Abs. 3 zur Klarstellung hin, ohne dies aber selbst unmittelbar zu regeln"67 (!). 62 Schwab Einführung in das Zivilrecht, 15. Aufl. 2002, S. 412 Rn. 890; ähnlich Wilhelm JZ 2001, 861, 868. 63 Schwab Einführung in das Zivilrecht, S. 412 Rn. 890. 64 v. Olshausen ZGS 2002, 194, 196. 65 Begründung Reg.entw. (Fn. 21), S. 131. 66 Begründung Disk.entw. (Fn. 11), S. 157 67 Begründung Reg.entw. (Fn. 21), S. 131.

Stellvertretendes c o m m o d u m bei anfänglicher Unmöglichkeit für jedermann?

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Gegen eine über den Wortlaut von § 285 BGB hinausreichende Anwendung der Vorschrift spricht vielmehr, daß der Gesetzgeber, obwohl er sich der Erforderlichkeit einer Sonderregelung für den Schadensersatz statt der Leistung und für den Aufwendungsersatz bei anfänglicher Unmöglichkeit bewußt war (vgl. §§ 283, 284 BGB einerseits, § 311a Abs. 2 BGB andererseits), die Schaffung einer Sonderregelung über die Herausgabe des stellvertretenden commodum unterlassen hat. Wie sollte der Vertrag, obwohl er nicht zu einem Schadensersatzanspruch nach §§ 280, 283 BGB führen können soll, weil es die nach diesen Vorschriften erforderliche verletzte Pflicht bei anfänglicher Unmöglichkeit nicht gibt, zu einem Anspruch aus § 285 BGB führen, der ebenfalls das Bestehen einer Pflicht voraussetzt, der also nicht an den Vertrag, sondern an eine Pflicht anknüpft? Manche wollen deshalb die Rechtswirkungen aus § 285 BGB auf den hypothetischen Willen der Parteien stützen. 68 Bei näherem Hinsehen ist dieser Weg indes versperrt, was aus folgendem Beispiel deutlich wird: Der Verkäufer einer Sache verkauft die Sache ein zweites Mal, weil er dabei einen höheren Kaufpreis erzielt. Nach weit überwiegender Meinung69 ist er zur Herausgabe des Mehrerlöses an den Erstkäufer verpflichtet. Wieso sollte es aber sein hypothetischer Wille sein, den aus dem Zweitverkauf erzielten Mehrerlös an den Erstkäufer weiterzugeben? Wieso sollte der Erstkäufer erwarten können (§§ 133, 157 BGB), daß der Verkäufer, der vertragsbrüchig geworden ist, um den Mehrerlös für sich selbst zu vereinnahmen, nunmehr erklärt, er überlasse dem Erstkäufer diesen Mehrerlös ? Es kommt hinzu, daß der Vertrag auch ein nach § 311a Abs. 1 BGB wirksamer Vertrag - ohnehin nicht als Grund für den Anspruch auf das stellvertretende commodum gelten kann. Dieser Anspruch ist nämlich wiederum kein vertraglich begründeter, sondern ein gesetzlicher Anspruch. Das folgt aus dem Umstand, daß er ebenso wie der Schadensersatzanspruch gemäß §§ 280, 283 BGB auch bei gesetzlichen Pflichten entstehen kann, 70 wenn dem Schuldner die Leistung unmöglich wird. Deshalb verbietet auch eine systematische Betrachtung eine Anwendung von § 285 BGB auf Fälle anfänglicher Unmöglichkeit der Leistung. Nun könnte man auf den Gedanken verfallen, dies alles mit dem Argument als unreflektierte Begriffsjurisprudenz abzutun, es gebe, auch was die Rechtsfolgen aus § 285 BGB angehe, keinen einleuchtenden Grund, anfängliche und nachträgliche Unmöglichkeit unterschiedlich zu behandeln. Aber 68 Mugdan Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. II 1899, S. 25; Rcinicke/Tiedtke ZIP 1997, 1093, 1095; vgl. Soergel/Wiedemann BGB, 12. Aufl. 1990, § 281 Rn. 2. 69 Vgl. Soergel/Wiedemann BGB, § 281 Rn. 30 m.w.N. 70 Larenz/Canaris Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II, Halbbd. 2, Besonderer Teil, 13. Aufl. 1994, § 72 I, S. 267; Staudinger/Löwisch BGB, 2001, § 281 Rn. 7

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es gibt einen solchen Grund. Dieser Grund liegt in der unterschiedlich nahen Beziehung des Gläubigers zu dem versprochenen Gegenstand. 71 Während der Versprechensempfänger bei anfänglicher objektiver Unmöglichkeit zu dem - beispielsweise nur in der Phantasie vorhandenen (geflügeltes Pferd) - versprochenen Gegenstand in keinerlei Beziehung steht und stehen kann, liegen die Dinge bei anfänglich möglicher und dann nachträglich unmöglich werdender Leistung anders. Der schuldrechtliche Leistungsanspruch gibt dem Gläubiger zwar selbstredend kein dingliches Recht an dem geschuldeten Gegenstand, wohl aber Zugriffsmöglichkeiten, die dem Empfänger eines auf eine anfänglich unmögliche Leistung gerichteten Versprechens verschlossen sind. So darf etwa - wenn auch unter eng begrenzten Voraussetzungen - wegen eines bestehenden Herausgabeanspruchs zum Zwecke der Selbsthilfe die herauszugebende Sache rechtmäßig weggenommen werden (§ 229 BGB). 72 Zudem kann der Gläubiger Leistungsklage erheben, was ihm, wenn er obsiegt, in vielen Fällen erlaubt, im Wege der Zwangsvollstreckung unmittelbar auf den Leistungsgegenstand zuzugreifen. Eine solche Klage hindert den Schuldner zwar beispielsweise nicht daran, über den Leistungsgegenstand zu verfügen oder ihn sogar zu zerstören. Aber auch hiergegen kann der Gläubiger Vorsorge treffen. So kann etwa der Käufer, wenn der Verkäufer die Sache noch einmal an einen Dritten verkauft und wenn die Ubereignung an den Dritten unmittelbar bevorsteht, 73 ein Veräußerungsverbot (§§ 935, 938 Abs. 2 ZPO) oder, um auch einen gutgläubigen Erwerb des Zweitkäufers auszuschließen (vgl. §§ 136, 135 Abs. 2 BGB), die Anordnung einer Verwahrung oder Hinterlegung erwirken; 74 bei drohender Zerstörung der geschuldeten Sache ist die Anordnung einer Sequestration in Betracht zu ziehen. Dies alles ist bei einem Leistungsgegenstand, der schon vor Vertragsschluß untergegangen ist, nicht vorstellbar. Diese eher rechtspraktische Sichtweise läßt sich dogmatisch unterfüttem. Hilfreich hierfür ist der Hinweis von Stoll 75 , daß die Verfasser des BGB bei der Schaffung von § 281 BGB a.F. den Gedanken, die Befreiung des Schuldners zu Lasten des Gläubigers dürfe nicht zu einer Bereicherung des Schuldners führen, mit dem Prinzip der Surrogation verknüpft haben, 76 wenn71 Womit hier natürlich keine rechtliche Beziehung der Person zum Gegenstand gemeint ist (vgl. Hadding]Z 1986, 926ff.). 72 Palandt/Heinrichs BGB, § 229 Rn. 6. 73 Vgl. Brox/Walker Zwangsvollstreckungsrecht, 7. Aufl. 2003, Rn. 1580; MünchKommZ P O / H e i n z e , 2. Aufl. 2001, § 935 Rn. 8; Stein/Jonas/Grunsky ZPO, 22. Aufl. 2002, § 935 Rn. 2 mit Fn. 5. 74 Vgl. Stein/Jonas/Grunsky ZPO, § 938 Rn. 25; MünchKommZPO//fortze, § 938 Rn. 30. 75 StollJZ 2001, 589, 592; vgl. auch MedicusJuS 2003, 521, 523. 76 Mugdan, II. Bd., S. 25, 529.

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gleich die hierfür gelieferte Begründung, dieses Prinzip beruhe auf der berechtigten Unterstellung, der Verpflichtungswille sei hierauf gerichtet gewesen, 77 natürlich zu eng ist, weil § 285 BGB auch bei gesetzlich begründeten Pflichten gilt.78 Dieser Hinweis ist weiterführend, weil er anregt zu erwägen, ob das Bereicherungsrecht zu der Beantwortung der Frage, wem das stellvertretende commodum gebührt, nutzbar gemacht werden kann. 79 Nach § 818 Abs. 1 BGB erstreckt sich die Verpflichtung zur Herausgabe unter anderem auf dasjenige, was der Empfänger als Ersatz für die Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung des erlangten Gegenstands erwirbt, wobei der Bereicherungsanspruch auch den Anspruch auf die Ersatzleistung erfaßt. 80 Zerstört etwa ein Dritter eine Sache, ist der Eigentümer zur Abtretung des Ersatzanspruchs gegen den Schädiger verpflichtet, wenn er das Eigentum an der Sache rechtsgrundlos erlangt hat. Es gibt also nicht das Eigentum dem Eigentümer ein Recht zum Behaltendürfen des Surrogats, sondern nur der Erwerbsgrund, die durch den Entreicherten erfüllte Forderung auf Leistung des Gegenstandes. Folglich gebührt das Surrogat dem Bereicherten wegen der Forderung und zwar gleichgültig, ob die Forderung rechtsgeschäftlich entstanden ist oder nicht. Dieser Gedanke kann auf die Regelung in § 285 BGB mit dem Ergebnis übertragen werden, daß der Tatbestand in besagter Vorschrift in gewisser Weise als Vorstufe zu dem bereicherungsrechtlichen Tatbestand in § 818 Abs. 1 BGB begriffen werden kann. Nach der Leistung wird aus dem Anspruch des Gläubigers ein Erwerbsgrund, der Herausgabeansprüche auf Surrogate, die in §§ 812, 818 Abs. 1 BGB begründet sein können, ausschließt und damit diese Surrogate dem Gläubiger zuweist. Vor der Leistung ist es der Anspruch selbst, der, wenn er nach § 275 BGB entfällt, in dem Anspruch auf das stellvertretende commodum „fortlebt". Natürlich gibt es sachbedingte Unterschiede zwischen den beiden Regelungsbereichen. So ergreift z.B. die Bestimmung in § 818 Abs. 1 BGB nach Ansicht vieler81 das rechtsgeschäftliche Surrogat nicht, während die Regelung in § 285 BGB auch solche Surrogate einbezieht. Umgekehrt erstreckte sich der Anspruch aus § 281 BGB a.F. nach damals überwiegender Auffassung jedenfalls nach dem Gefahrübergang beim Kauf nicht auf Ersatzleistungen wegen Beschädigung des Gegenstands. 82 Anders verhält es 77

Mugdan, II. Bd., S. 25. Der Anspruch ist also gesetzlich begründet; er entsteht aber nur, wenn der Gläubiger es verlangt (verhaltener Anspruch; Palandt/Heinrichs BGB, § 285, Rn. 9.). 79 Im Ansatz schon LobingerJuS 1993, 453, 457f.: „bereicherungsrechtliche Ordnungsfunktion der Surrogationsvorschrift". 80 Palandt/Thomas BGB, § 818 Rn. 15. 81 Vgl. Staudinger/Lorenz BGB, 1999, § 818 Rn. 17 m.w.N. 82 Vgl. nur Staudinger/Löwisch BGB, 2001, § 281 Rn. 10 f. - Anders nach § 285 BGB n.F. MünchKommBGB/Emmerich, 4. Aufl. 2003, § 285 Rn. 10; Huber/Faust Schuldrechtsmodernisierung, S. 204; enger AirwKom-HGB/Büdenbender, § 437 Rn. 14: Die Aufzählung der Käuferrechte in § 437 BGB sei abschließend. 78

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sich bei der rechtsgrundlosen Leistung, bei der häufig nur der Anspruch aus § 818 Abs. 1 BGB den Entreicherten vor einem Totalverlust infolge einer Beschädigung des erlangten „etwas" schützt.83 Nichtsdestoweniger ist aber der Grundgedanke in beiden Regelungsbereichen derselbe. Besteht eine Forderung oder hat sie bis zu ihrer Erfüllung bestanden, gebühren die Surrogate des Leistungsgegenstandes dem Gläubiger, besteht sie nicht, so gebühren sie dem anderen Teil. Es ist also die entstandene Forderung, die das Surrogat dem Gläubiger zuweist. Mithin - so ist zu folgern - bleibt ein Surrogat bei Fehlen einer spezialgesetzlichen Anordnung, wie es bei anfänglicher Unmöglichkeit der Fall ist, bei dem Inhaber des betreffenden Gegenstands, wenn kein anderer einen Anspruch auf den Gegenstand besitzt oder besessen hat. Hiergegen ließe sich für den Regelungsbereich von § 311a BGB einwenden, daß es doch in der ausdrücklich erklärten Absicht der Schöpfer des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes gelegen habe, dem Versprechensempfänger das stellvertretende commodum auch in Fällen anfänglicher objektiver Unmöglichkeit zukommen zu lassen. Und in der Tat lesen wir in den Gesetzesmaterialien, der nach § 311a Abs. 1 BGB wirksame Vertrag bilde die Grundlage für einen etwaigen Surrogationsanspruch nach § 285 BGB.84 Freilich muß bedacht werden, daß die Berufung auf die Gesetzesmaterialien eine dogmatische Ableitung nicht ersetzen kann. Denn - ich wage es kaum, im vorliegenden Zusammenhang das Folgende zu zitieren es kann „keinesfalls ... angehen, Torheiten der Ministerialbürokratie auf dem Umweg über die Gesetzesbegründung zum geltenden Recht zu erheben"85. Da es nun aber an einer zureichenden dogmatischen Herleitung mangelt, muß es dabei bleiben, daß ein Anspruch des Gläubigers auf das stellvertretende commodum bei anfänglicher Unmöglichkeit für jedermann ausscheidet.

V. Ergebnis Der bei anfänglicher objektiver Unmöglichkeit nach § 311 a Abs. 1 BGB wirksame Vertrag bewirkt im wesentlichen - nichts! Insbesondere hat der Vertragspartner des Versprechenden keinen Anspruch auf dasjenige, was dieser als Ersatz für den versprochenen Gegenstand erlangt.

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Palandt/Sprau BGB, § 818 Rn. 15; Staudinger/Lorenz BGB, 13. Bearb. 1994, § 818 Rn. 19. Begründung Reg.entw. (Fn. 21), S. 164f. Canans Handelsrecht, 23. Aufl. 2000, § 5 III., S. 84 zu § 15 Abs. 3 HGB.

Das BGB in der Zeitung. HANS

Daten:

1873 1888 1895

1896

20. 12. Ende Okt. 07 10. 18. 01. 03. - 07 02. 12. 06.

1937 1953 1982

19. - 27 06. 30. 06. - 01. 07.

HATTENHAUER

Lex Miquel - Lasker Scheitern des Ersten Entwurfs Abschluß der Arbeiten am Zweiten Entwurf Beginn der Beratungen im Bundesrat Annahme des Zweiten Entwurfs im Bundesrat Erste Lesung im Reichstag Abschluß der Beratungen in der Reichstagskommission Zweite Lesung im Reichstag Dritte Lesung im Reichstag Franz Schlegelberger: „Abschied vom BGB" Wiederherstellung der Gesetzeseinheit im bürgerlichen Recht Erster Anlauf zur Schuldrechtsreform

I. Vom Ersten zum Zweiten Entwurf. Der Erste Entwurf des BGB war 1888 in einem Sturm öffentlicher Entrüstung kläglich gescheitert. In einer Zeit überschäumender Nationalbegeisterung hatte man ihm seinen angeblich allzu römischen und allzu juristisch-volksfremden Charakter zum Vorwurf gemacht. Die Beratung und Verabschiedung des von einer neuen Kommission verfaßten Zweiten Entwurfs stand unter einem günstigeren Stern. Daß es diesmal nicht wieder zu einem stürmischen Aufstand und Scheitern kam, verdankte er vor allem dem Wandel der politischen Grundstimmung. Mit Vergrößerung des zeitlichen Abstands zur Reichsgründung von 1871 war man nüchterner geworden. Hinzu war ein unübersehbar gewachsener Bedarf nach Rechtseinheit des Zivilrechts gekommen. Zudem hatten dieses Mal Regierung wie Kommission sorgfältig auf eingehende Unterrichtung der Öffentlichkeit über den Fortgang der Arbeiten in der Kommission geachtet.

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Hans Hattenhauer

Werner Schubert, unser bester Kenner der Redaktionsgeschichte, kann feststellen:1 „Über die Ergebnisse der Kommissionsberatungen konnte sich die Öffentlichkeit umfassend informieren, da fortlaufend darüber im Reichsanzeiger und anderen Zeitungen und Zeitschriften berichtet wurde. Der neue Entwurf wurde noch vor seiner endgültigen Fertigstellung mehrfach publiziert. So konnten die Öffentlichkeit und auch die Bundesstaaten kein anderes Gesetzgebungsverfahren der Kaiserzeit so genau verfolgen und beeinflussen wie das Zustandekommen des 2. Entwurfs des BGB." Das hieß indessen nicht, daß das BGB in dieser letzten Phase seines Entstehens ungefährdet und unter allgemeiner Zustimmung zur Vollendung und Verabschiedung gelangt wäre. Das zeigt jeder Blick in die das Werk begleitende Berichterstattung nicht nur seitens der Fachzeitschriften, sondern auch der Tagespresse. Dem genauer nachzugehen, wäre die Aufgabe einer umfassenden Untersuchung, wie sie im Rahmen eines Festschriftbeitrags nicht zu leisten ist. So wird es der Freund und Jubilar verzeihen, wenn er hier mit nur einigen Kostproben abgespeist wird, die sich unter anderen in den Sammlungen von Zeitungsausschnitten des Preußischen Geheimen Staatsarchivs2 und des Bundespresseamts finden.

II. Gierkes Kampf gegen den Zweiten Entwurf. Die Zweite Kommission war mit ihrer Arbeit im Sommer 1895 noch nicht ganz ans Ende gelangt, wenn auch mit deren baldigen Abschluß zu rechnen war, da unterbreitete Staatssekretär ArnoldNieberding (AD 1838-1912) vom Reichsjustizamt dem Justizausschuß des Bundesrates die Vorschläge der Reichsregierung für das Verfahren der dortigen Beratung des Entwurfs und dessen Weiterleitung an den Reichstag. Ebenso schnell wie das Amt rüstete sich die Zunft der Professoren zum Endspurt, um ihren Anteil am Kodifikationsgeschehen einzubringen, mochte dieser auch wesentlich unbedeutender sein als jener der von der Reichsregierung einberufenen Praktiker. Als erster meldete sich in der Presse Rudolf Sohm (AD 1841-1917), nichtständiges Mitglied der 2. Kommission und Kommissar des Bundesrats, zu Wort. Am 15. Juni 1895 hielt der bereits an der Abfassung des Ersten Entwurfs beteiligt gewesene Romanist aus Leipzig, eine Leuchte deutscher Ju1

Die Beratungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen hrsg. v.Jakobs und Schubert; Schubert, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB. - Einführung, Biographien, Materialien, 1978, S. 60. 2 GehStA I. HA Rep. 84a Justizministerium Nr. 48014-48016 (neue Signatur).

Das BGB in der Zeitung.

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risprudenz, in der Berliner Juristischen Gesellschaft einen Vortrag zum Stand der Gesetzgebungsarbeiten und zum Zweiten Entwurf. Nach Abschluß der dortigen Arbeit sollte er später neben Arnold Nieberding und Gottlieb Planck (AD 1824-1910) der dritte Redner sein, der am 5. Februar 1896 eine der drei Einbringungsreden zum Zweiten Entwurf im Reichstag hielt. Es war daher keine Frage, daß die Presse über seinen Vortrag ausführlich berichten mußte, sich dabei aber wohlweislich darauf beschränkte, die Ausführungen des Redners gründlich zu referieren, ohne selbst dazu fachkritisch Stellung zu nehmen. Zwar sollte Sohm seinen Vortrag nach dem Auftritt in Berlin auch an anderen Orten halten und auch veröffentlichen3, doch wußte alle Welt, daß er mit seinen Ausführungen hier in Berlin die Feuerprobe zu bestehen hatte. Die Kollegen der dortigen Fakultät waren neben jenen seiner eigenen die berühmtesten Vertreter deutscher Rechtswissenschaft und als Konkurrenten der Leipziger besonders kritische Zuhörer. Natürlich war auch Otto Gierke (AD 1841-1921) anwesend. Er hatte mit seiner Streitschrift dem Ersten Entwurf den Todesstoß versetzt. So war es für ihn keine Frage, daß er auch den Zweiten besonders kritisch unter die Lupe nehmen werde. Offenbar ging er nach seinem Erfolg vom Jahr 1888 nun davon aus, daß ihm auch diesmal wieder als dem, wenn auch selbsternannten, praeceptor iuris Germaniae das entscheidende letzte Wort über Erfolg oder Scheitern des zweiten Anlaufs zustehen werde. Sohm trat zwar vorsichtig aber doch entschieden auf. Selbstverständlich seien „zahlreiche kleine und große Fehler" am neuen Entwurf zu bemängeln, doch seien die gegen den Ersten erhobenen Bedenken nicht mehr gerechtfertigt. Der Zweite Entwurf sei nicht mehr „zu römisch", sondern in seinen Grundsätzen echt deutsch. Auch könne man hier nicht wieder behaupten, ihm fehle der notwendige „Tropfen sozialen Öls". Im übrigen dürfe man auf die glättende Praxis der Gerichte vertrauen, die, was noch rau und ungefügt erscheine, polieren werde. Begeistert rief Sohm aus und mag seinen Kollegen Gierke dabei besonders ernst und herausfordernd angesehen haben: „Welch ein Gewinn wird es für die deutsche Wissenschaft sein, wenn der Entwurf Gesetzeskraft erlangt!" Für die studierende Jugend werde eine neue Ära der Ausbildung anbrechen. Sie werde mit ihrem Pandektenwissen nicht länger ratlos vor der Praxis stehen. Das gesamte Rechtsleben werde in eine neue Epoche eintreten. Von der Gestaltung des bürgerlichen Rechts hänge die körperliche und mittelbar auch die sittliche Gesundheit des Volkstums ab. Wer sich dessen klar bewußt sei, werde nicht die Verantwortung für ein abermaliges Hinausschieben dieses Zieles durch Erneuerung der Radierarbeit übernehmen wollen. Jedes Schaben und 3 Sohm, Ueber den Entwurf eines BGB für das Deutsche Reich in zweiter Lesung. Ein Vortrag, 1895.

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Schleifen würde nur weitere jahrelange Mühe kosten, ohne das Gesetzbuch doch wesentlich verbessern zu können. Dieser Ansicht schlossen sich gelegentlich ihrer Veröffentlichung des Vortrage auch die „Berliner Neuesten Nachrichten" vom 8. November 1895 an: „Seien wir also genügsam mit dem, was nach der Uberzeugung der Berufensten dem Bedürfnis des Volkes in allen wesentlichen Stücken entspricht, und hören wir auf die Stimme von Männern wie Sohm, lieber als auf die Jener, die durch das Beste, aber wahrscheinlich für jetzt Unerreichbare, das Gute verdrängen lassen möchten." Der Verfasser dieser Ermahnung nannte bei seiner Warnung vor dem Streben nach kodifikatorischer Perfektion auch Roß und Reiter: Otto Gierke und Heinrich Dernburg (AD 1829-1907), beide von der Berliner Fakultät. Es war vorauszusehen gewesen, daß Gierke sich nach Sohms Vortrag alsbald zu Wort melden werde. Empört widersprach er seinem „verehrten Freund und Kollegen" und trug der Öffentlichkeit im vollen Bewußtsein seiner rechtspolitischen Sendung sein Veto vor. Uber dessen Wirksamkeit aber täuschte er sich gründlich. Das zeigte sich am 12. September 1895 auf dem Dreiundzwanzigsten Deutschen Juristentag in Bremen. Unerwartet und unter Abweichen von der von langer Hand vorbereiteten Tagesordnung war in der Zweiten Plenarsitzung unter Bravorufen ein Antrag eingebracht worden, über dessen Zustandekommen man gern Genaueres wüßte. Einundzwanzig der berühmtesten Juristen der Zeit, Praktiker wie Professoren, hatten den Antrag unterzeichnet, man möge beschließen:4 „Nachdem der Entwurf des bürgerlichen Gesetzbuchs in zweiter Lesung wesentliche Verbesserung erfahren hat, erklärt der deutsche Juristentag als wünschenswertth, daß Bundesrat und Reichstag das baldige Zustandekommen des Gesetzbuchs herbeiführen." Auch an dieser Sitzung nahm Gierke teil und meldete sich unter dem Zwang seiner „Gewissenspflicht" als erster Diskussionsredner zu Wort, wohl wissend, daß er damit der allgemeinen Stimmung widersprach: Zwar könne auch er dankbar bestätigen, daß der neue Entwurf - zumal wegen seiner damaligen Kritik am Ersten - wesentliche Verbesserungen erfahren habe. Dennoch sei noch viel zu viel vom Alten stehen geblieben. Deshalb müsse noch einmal Hand angelegt werden, um ein Werk zustande zu bringen, „das ganz von einem wirklich großen gesetzgeberischen deutschen volkstümlichen und socialen Geiste erfüllt wäre. ... Ich kann also nur meiner Ueberzeugung Ausdruck geben, daß der Entwurf so, wie er vorliegt, « 23. DJT 1895, Bd. 2, S. 454ff.

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noch nicht das fertige deutsche Gesetzbuch sein kann, da er in der Form und im Inhalt noch wesentlicher Verbesserungen bedarf, in der Form muß er volksthümlicher werden, im Inhalt deutscher und socialer." Ihm widersprachen unter „stürmischem Beifall" Ludwig Enneccerus (AD 1843-1923), damals Abgeordneter im Deutschen Reichstag, und Julius Strohal. Der Antrag wurde kurzerhand „nahezu einstimmig" angenommen. Wer aber erwartet haben mochte, Gierke werde nun die Waffen strecken, hatte dessen Sendungsbewußtsein und wissenschaftlichen Eifer als Künder eines neuen, volkstümlichen und sozialen deutschen Privatrechts unterschätzt. Der Meister griff zur Feder und verfaßte einen langen Beitrag für die „Tägliche Rundschau". Diese druckte den Aufsatz „Das Bürgerliche Gesetzbuch und der Deutsche Reichstag" in den Ausgaben vom 1. bis 14. Januar 1896 ab und brachte ihn sodann als Sonderdruck auf den Markt. Immerhin gab es für Gierkes Kritik trotz aller Entschlossenheit der Rechtspolitiker, Professoren und Praktiker, die das Gesetzbuch nun um jeden Preis sofort verabschiedet haben wollten, noch immer interessierte Leser: Der Verlag mußte eine zweite Auflage nachdrucken lassen. In dieser Kritik am Zweiten Entwurf beklagte Gierke die „hektische und nervöse Erregung" seiner Zeit, „das Feldgeschrei der Übereifrigen, die am liebsten jeder ernstlichen Berathung über das Werk im Voraus den Stempel eines unpatriotischen Unterfangens aufgedrückt hätten." Damit hatte er nicht ganz unrecht. Alle Welt, soweit sie nicht den „vaterlandslosen Gesellen" der Sozialisten anhing, pries den Entwurf als die Vollendung der deutschen Rechtseinheit und forderte dessen Verabschiedung als den Schlußstein im Dom des neuen Reiches. Damit verfügten die Befürworter der alsbaldigen Verabschiedung des derzeit dem Bundesrat vorliegenden Entwurfs über ein politisch geradezu überwältigendes Argument. Kein anständiger Deutscher konnte dem leicht widersprechen. Natürlich wurde es im öffentlichen Meinungsgeschäft auch entschlossen eingesetzt. Vor allem mit Hilfe der Presse wußten die auf Abschluß der Kodifikationsarbeit Drängenden es unter die Leute zu bringen. Man wollte die Sache endlich vom Tisch haben und war froh, dies im Schutz der vaterländischen Moral nicht offen aussprechen zu müssen. Der Appell an die patriotische Gesinnung sollte und konnte die ministeriell-politischen Absichten auf das Schönste verdecken und die Sache den Bürgern als eine edle Tat erscheinen lassen. Wer wollte, wer konnte da schon protestieren oder sich als ewiger Bedenkenträger ausgrenzen, wo es offensichtlich um die Ehre des Reiches und seines Rechts ging? Andererseits kam man mit diesem Argument ausgerechnet bei Otto Gierke an die falsche Adresse. Auf keinen anderen traf der Vorwurf des

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mangelnden Patriotismus so wenig zu wie ausgerechnet auf ihn. Gerade weil er ein so begeisterter Deutschnationaler war, wog sein Protest so schwer und mußte auch von seinen Gegnern ernst genommen werden. Gierke gehörte jener Generation an, der die Reichsgründung vom 18. Januar 1871 die Verwirklichung ihrer schönsten politischen Träume gewesen war. Vom Reich und vom Vaterland redete zeit seines Lebens niemand so inbrünstig wie Gierke. Eben deshalb konnte ihn der Widerspruch seines gelehrten Kollegen und Freundes Sohm in seiner Kritik nicht irre machen. Auch und insbesondere in dieser Sache ging es doch um das Reich. Eben diese Liebe zum Reich verbot es ihm, sich der Mehrheit zu beugen, sich opportunistisch und schweigend zurück zu halten und den Dingen resigniert ihren Lauf zu lassen. Schon gar nicht der Ministerialbürokratie durften da Zugeständnisse gemacht werden: „Das Haus, das hier gebaut wird, ist kein bloßer Juristenpalast, es soll ein dauerndes Heim sein für das ganze deutsche Volk. Darum kann unser Volk von seinen Vertretern verlangen, daß sie sich nicht mit dem Gutachten der Sachverständigen begnügen, sondern unter deren Führung das neue Gebäude bis in die letzten Winkel mit eignen Augen durchmustern. Gerade die Nichtjuristen haben hierbei eine besondere Aufgabe zu lösen." Mit seinem Protest war Gierke nun zwar in der eigenen Zunft offensichtlich auf taube Ohren gestoßen, wohl auch auf Spott und Empörung über den unverbesserlichen Querkopf und auf gelangweiltes Gähnen. Um nicht die Waffen strecken zu müssen, mußte er sich nach anderen Verbündeten umsehen. Auf die Arbeit der Kommission im Bundesrat konnte er seine Hoffnung nicht setzen, weil er es dort mit einer fest entschlossenen Allianz der Ministerialbürokratie und der dort mitarbeitenden Kollegen zu tun hatte. So kamen als Verbündete nur noch die Abgeordneten im Reichstag in Frage. Vielleicht gab es wenigstens dort noch selbstbewußte deutsche Männer, denen man den wahren Ruf der Stunde und die Sache des Vaterlandes zu Gehör bringen konnte? Dieser Hoffnung Gierkes stellte sich allerdings eine Schwierigkeit unübersehbar in den Weg. Er wußte nur zu gut, dass gute Kodifikation seit je die Sache von Fachleuten und dies nun mehr denn je war. Wie sollte es sich angesichts der zu beantwortenden schwierigen Fragen ein Nichtjurist, wenngleich Reichstagsabgeordneter, herausnehmen und zu kritisieren wagen, was die creme de la creme der deutschen Jurisprudenz in mehr als zwanzigjähriger Arbeit entworfen und nach ihrem Bekenntnis zwar nicht zu einem vollkommenen, wohl aber zu einem guten Ende gebracht hatte? Da konnte höchstens noch der moralische Appell an die Gewissen der Volksvertreter weiterhelfen: „Wessen Vaterlandsliebe rein und feurig ist, der darf, sobald er einmal erkannt hat, daß in der Hinnahme eines Gesetzbuches ohne hinreichende Prüfung eine Gefahr für die Zukunft unseres Volksthums liegt., nichts in

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der Welt vom Widerspruch abhalten. Deutsche Gesinnung setzt das Wesen über den Schein, sie weicht keinem Druck, sie hält auch, wenn sie verkannt und geschmäht wird, dem Deutschthum die gelobte Treue." Was aber sollte nun den Abgeordneten als praktikabler Maßstab für die Prüfung des Entwurfs an die Hand gegeben werden? Vor allem doch der, daß ein gutes Gesetzbuch volkstümlich sein müsse. Denn von Volkstümlichkeit mußten die vom Volk Gewählten besonders viel verstehen: „... es (das Gesetzbuch) muß zum Herzen des Volkes sprechen, es muß auch im einfachen Manne die Empfindung wecken, daß es gutes Recht, daß es gerechtes Recht, daß es sein Recht künde." Dabei wußte Gierke wohl, daß ein Volksvertreter als Rechtslaie außerdem noch festere Maßstäbe benötigte, um die schwere Aufgabe volkstümlicher Gesetzeskritik leisten zu können. So ging er den Entwurf anhand seines rechtspolitischen Ideals Stück für Stück durch und kam nach der Einzelkritik zu dem erwarteten Ergebnis, daß jener in der vorliegenden Fassung nicht reif zur Verabschiedung sei. Der Reichstag müsse die von ihm geforderte Billigung verweigern und die Regierung zur erneuter Überarbeitung des Entwurfs verpflichten, damit die Deutschen ein ihrer würdiges Gesetzbuch erhielten. Was im Einzelnen zu tun sei, verschwieg Gierke nicht: „Schon mit dem System des Entwurfs würde man am besten ganz brechen. Den Allgemeinen Theil müßte man überhaupt streichen, dafür mit einem Personenrecht beginnen und mit einem Recht der Gemeinschaften und Verbände enden. ... Auch in den besonderen Theilen wären unendlich viele abstrakt kasuistische Sätze einfach zu streichen. Uberall hätte man sich mit einfachen und freien Rechtssätzen in großem Stil zu begnügen. Ein volksthümliches, gemeinverständliches Sprachgewand würde sich dann leicht finden lassen." Wem aber sollte man diese neuerliche Mühe aufladen? Gierke war optimistisch und mußte es auch sein. Wenn denn die Reichsregierung keinen anderen Weg sehe und sich auch keine neue Kommission finden lasse, sei das kein Schaden: „Besser vielleicht als die Einsetzung einer neuen Kommission wäre die Berufung eines einzigen, in gesetzgeberischer Arbeit erprobten Mannes zur Lösung der verantwortungsvollen Aufgabe." Ob Gierke da nicht etwa an sich selbst als den idealen Gesetzgeber der Deutschen gedacht hat? Trotz des darin zum Ausdruck kommenden Selbstbewußtseins kann man weder seinem Mut noch seinem Scharfsinn den Respekt versagen. War er denn wirklich auf einem völlig falschen Wege, war

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sein rechtspolitisches Programm denn gar so utopisch? Welche anderen Wege hätte unsere Rechtsprechung gehen können, wenn Gierkes Forderung eines echten Personenrechts als erstes Hauptstück des Bürgerlichen Gesetzbuches verwirklicht worden wäre? Jedenfalls hätte uns das zu größerer Klarheit über die Grundlagen unseres Privatrechts verholfen. Bis heute ist es ein fast unmögliches Ding, will man einem im übrigen gebildeten deutschen Juristen den Unterschied zwischen Personenrecht und Vermögensrecht klar machen, ihn Personenschaden und Vermögensschaden voneinander unterscheiden lehren. Und hätte die Sprache des Gesetzbuchs nicht doch etwas mehr dem allgemeinen Sprachgebrauch angenähert werden können, ohne daß es deswegen zu wesentlichen Verlusten an juristischer Präzision hätte kommen müssen? Zehn Jahre nach Verabschiedung des BGB erschien im Jahr 1907 das Schweizerische Zivilgesetzbuch. Es war das Werk eines einzigen Mannes und lieferte den Beweis, daß Gierkes Forderungen nicht völlig utopisch gewesen waren. In Deutschland dagegen siegte 1896 die Mehrheit derer, denen „praktische" Argumente der Tagespolitik, verschönt durch patriotische Beschwörungen zur Rechtfertigung der alsbaldigen Verabschiedung des unbestreitbar bereits großartigen Gesetzbuches ausreichten. Der „Hamburgische Correspondent" vom 13. Februar 1896 faßte diese öffentliche Stimmung in den Satz: „Allerdings, ob aus den Berathungen einer solchen Kommission gerade bei einem Reichstag wie dem gegenwärtigen sachlich viel Gutes herauskommt, ist eine Frage, die man im voraus nicht ohne weiteres bejahen möchte. Bei derartigen juristischen Gesetzen geschieht es nur zu leicht, daß den Verbesserungen, die eine Reichstagscommission vornimmt, reichlich eben so viel ungenügend durchdachte oder verschlechternde Aenderungen gegenüber stehen." Dem fügte der „Correspondent" die Bemerkung hinzu: „Die principiellen Gegner einer Codification sind indes fast ganz verstummt. ... Ein so umfassendes und geistig so hochstehendes Werk wie der Entwurf hat eben ein solches Gewicht, daß es sich durch seine eigene Schwerkraft Geltung verschafft".

III. Der Frauen-Landsturm. Während der Wind der öffentlichen Meinung Gierke scharf ins Gesicht blies, füllte er um so kraftvoller die Segel der Frauenbewegung. Wie andere neu aufgebrochene politische Bewegungen jener Zeit hatte auch sie ihre Wurzeln in der Revolution von 1848. In den sechziger Jahren war es zu Vereinsgründungen und öffentlichem Auftreten gekommen, was bei der Presse

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auf Interesse gestoßen war. Nun, im Jahre 1896, waren die Frauenbewegungen nicht mehr zu übersehen. Es waren ihrer zwei und deren Vertreterinnen waren einander keineswegs freundlich gesinnt und zogen auch in Sachen des BGB nicht an einem Strang. Auf der einen Seite standen die Arbeiterinnen, auf der anderen die „höheren Töchter". Erstere hatten ihre politische Heimat und soziale Einbindung in der SPD. Ihre führende Interessenvertretung im Reichstag war Clara Zetkin (AD 1857-1933) und wie die Partei den Entwurf des BGB in Bausch und Bogen verwarf, so hatten auch ihre Frauen keinen Anlaß, sich an der Vervollkommnung des kapitalistischen Klassenrechts zu beteiligen. Die Lehrerinnen und Frauen der „sozialen Berufe" dagegen hatten sich im „Allgemeinen deutschen Frauenverein" zusammengeschlossen. Das Interesse seiner bürgerlichen Mitglieder und der Vereinsfunktionärinnen hatte sich bisher auf die sogenannten „Frauenberufe" und die „Mädchenbildung" beschränkt und dem kommenden Gesetzbuch bis dahin keine Aufmerksamkeit geschenkt. Das sollte sich nun plötzlich und radikal ändern. Am 17. Februar 1896 tagte in Berlin eine „zahlreich besuchte Volksversammlung" über welche „Die Post" tags darauf ausführlich berichtete. Es ging um „die Stellung der Frau im Entwurf zum bürgerlichen Gesetzbuch". Eingeladen hatte Frau Schulrat Cauer. Als Rednerinnen traten auf Frau Marie Stritt-Dresden und Fräulein cand. iur. Anita Augsburg aus München. Obwohl die Frauenbewegung unter der fördernden Obhut der Kronprinzessin stand und auch sachkundigen männlichen Beistand genoß, war ein wirklich fachmännisches Referat nicht vorgesehen. Dabei muß offen bleiben, ob die Veranstalterinnen nicht daran gedacht hatten, einen Fachmann einzuladen, oder ob sie keinen gefunden hatten. Daß Fräulein cand. iur. Augsburg, eine nicht examinierte Studentin, diese Lücke nicht ausfüllen konnte, müßte man eigentlich gewußt haben. Dennoch stellten die Frauen nach Abschluß der Veranstaltung überrascht und befriedigt fest: „Wir glaubten (mit der Erörterung dieses Gegenstandes) nur einer Ehrenpflicht zu genügen und sind eigentlich erst im letzten Augenblick inne geworden, daß unsere Proteste Widerhall finden in der gesammten deutschen Presse, bei der Mehrheit der deutschen Männer, jetzt selbst im Reichstag; aber das Bewußtsein dieser allgemeinen Sympathie verpflichtet uns nun auch, Alles, was in unserer Kraft steht, aufzubieten zur Erreichung unserer Forderungen." Trotz dieser den Frauen entgegenschlagenden Sympathie - oder erst ermöglicht und begünstigt durch diese? - herrschte bei den Frauen Empörung über den Entwurf. Zwar konnten sie nicht bestreiten, daß er im Vergleich zum früheren Recht und zum Ersten Entwurf Verbesserungen für die Frauen zu bringen versprach. Dies alles sei aber doch nur Schönfärberei und genüge nicht den Anforderungen der Zeit. Der Entwurf sei das Produkt ein-

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seitiger juristischer Weisheit und werfe einen dunklen Schatten aus den dunklen Tagen des Mittelalters in die helle Gegenwart. Die Frauen verlangten endlich Gerechtigkeit und ein Wiedergutmachen eines tausendjährigen nationalen Unrechts. Gefordert wurde unter dem Beifall der Zuhörerinnen die Beseitigung aller die Männer begünstigenden Regelungen im Recht der Ehe, des Unterhalts, im Sorgerecht und im Güterrecht - den angeblich übelsten Quellen weiblicher Demütigung und unsäglichen Elends der Frauen. Die Ehe sei in Wahrheit ein Zwangsverhältnis und auch den unehelichen Kindern widerfahre bitteres Unrecht. Zwar rühmten die Juristen den Entwurf als „urdeutsch", doch sei die Anpassung des deutschen Rechts an die internationale Entwicklung diesem urdeutschen Charakter gewiß vorzuziehen. Fräulein Augsburg geißelte die den Frauen mit dem Entwurf zugemutete Schmach: „... ein Schlag gegen Treu und Glauben, ein Hohn auf alle rechtlich geregelten Zustände. Der ganze Entwurf ist, soweit er das Familienrecht betrifft, nichts als ein neues blendendes Gefäß, in das man den alten, armseligen, abgestandenen Stoff geschüttet." Nun aber wollten die Frauen den Männern die Zähne zeigen. Frau StrittDresden wurde unter stürmischem Beifall kämpferisch: „Man hat von dem Frauen-Landsturm gesprochen. Wir wollen uns das gesagt sein lassen. Das Vaterland ist in Gefahr, wenn die Männer ihre Pflicht uns gegenüber vergessen wollen. Lassen Sie uns den Frauen-Landsturm aufbieten in dem heiligen Kampf der Frauen um ihr Recht!" Zwar ließ sich mit solch empörtem Feldgeschrei ein Saal voll Sympathisantinnen in Begeisterung und Rage versetzen. Doch konnte das nicht die nun erforderliche sachlich-fachmännische Würdigung des Entwurfs ersetzen, mit der man die um ihre Hilfe angerufenen Reichstagsabgeordneten überzeugen und für sich gewinnen konnte. Es gab in Deutschland noch keine Juristinnen. So war man froh, daß sich aus der Schweiz eine promovierte und praktisch erfahrene Anwältin zur Unterstützung der Frauen in Berlin eingefunden hatte: Dr. iur Emilie Kempn (AD 1853-1901)5. Zwar war sie eine Nichte der Kinderbuchautorin Johanna Spyri („Heidi"), ging aber einen alles andere als bürgerlich-biederen Lebensweg. Sie war in Zürich mit einem Pfarrer verheiratet gewesen. Als jener wegen seiner anstößigen Predigten aus dem Amt entlassen wurde, hatte sie, Mutter von drei Kindern, im Jahre 1883 als erste Frau das Studium der Rechtswissenschaft begonnen und es 1887 durch Promotion magna cum laude abgeschlossen. Weil man ihr die Zulassung zur Advokatur versagte, zog die Familie 1888 nach New York. Dort gründete Emilie das First Women Law College, war 5 Bemeike Die Frauenfrage ist Rechtsfrage. Die Juristinnen der deutschen Frauenbewegung und das Bürgerliche Gesetzbuch, 1995, S. 81 ff.

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damit aber nicht erfolgreich. So kehrte man 1891 wieder zurück nach Zürich, wo die Juristin nun die Zulassung als Anwältin erhielt. In dieser Tätigkeit vermittelte sie ihre Kenntnisse des amerikanischen Rechts der Schweiz und erhielt dazu sogar einen Lehrauftrag für Vorlesungen an der Universität. Hinzu kamen Vortragsreisen zur Förderung der Frauenemanzipation. Fortan führte sie ein unstetes Leben, immer im Kampf um die Sicherung ihrer materiellen Existenz. Im Jahre 1896 versuchte sie, in Berlin beruflich Fuß zu fassen. Anfangs war sie mit ihrem Fachwissen bei der dortigen Frauenbewegung hochwillkommen, doch vertrat sie allzu eigenwillige Gedanken und die Frauen gingen bald zu ihr Abstand. Es war dies die Zeit, als Deutschlands Frauenvereine den nun sich zur Verabschiedung des BGB rüstenden Reichstag mit Petitionen überschwemmten in der Hoffnung, noch in letzter Minute dort Unterstützung in ihrem Kampf gegen das angeblich mittelalterliche Familienrecht zu finden. Damit hatten sie, allem Presseecho zum Trotz, am Ende aber keinen Erfolg. Sie waren einfach zu spät in das Verfahren eingestiegen. Emilie Kempin hielt ihnen vor, daß sie ihren Mißerfolg nicht etwa der Bosheit der Männer zu verdanken, sondern selbst verschuldet hätten. Statt die Männer anzuklagen, unterzog sie „Die Stellung der Frau im Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches" einer gründlichen juristischen Prüfung, welche „Die Post" im März/April 1896 in fünf Sonderbeilagen veröffentlichte. Emilie Kempin war zu dieser Zeit Mitarbeiterin des auf der Seite der Frauenbewegung stehenden, schwerreichen saarländischen Abgeordneten Stumm. In ihrer Analyse der Rechtslage kam sie zu Ergebnissen, die für die Frauen niederschmetternd ausfielen. Von den vielen im Reichstag eingegangenen Frauenpetitionen sei nur eine einzige politisch wie sachlich brauchbar: jene aus München, welche von Anita Augsburg verfaßt und angeblich von 25000 Frauen unterzeichnet worden war. Man dürfe doch nicht übersehen, daß sich im Recht Wandlungen immer nur allmählich vollzögen und sich auch nur so vollziehen könnten. Gesetzbücher müßten sich nun einmal an der Vergangenheit ausrichten. Ferner erinnerte die Juristin ihre nach Emanzipation dürstenden Frauen an etwas, das jene im Geheimen selbst wüßten, in ihrer Agitation aber nicht wahr haben wollten: „Es wäre ungerecht, wenn man nicht anerkennen wollte, daß der Entwurf in seiner jetzigen Form den modernen Bedürfnissen und Anschauungen über die veränderte Stellung der Frau Rechnung getragen hat; wenn es nicht genügend geschah, so liegt das an der Beibehaltung der alten, heute nicht mehr richtigen Methode." Insgesamt fand Emilie Kempin am vorliegenden Entwurf wenig Anlaß zu grundsätzlicher Kritik. Das Güterrecht in Gestalt des gesetzlichen Güterstandes der Verwaltung und Nutznießung des Ehemannes am Vermögen der Frau aber solle man abschaffen. Obwohl es geschichtlich und theoretisch durchaus begründbar sei; widersprächen heute Theorie und Praxis einander

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zum Nachteil der Ehefrauen. Daher müsse man zum Güterstand der Gütertrennung übergehen. Doch auch mit dieser Forderung fanden die Frauen im Reichstag kein Gehör. Sie waren einfach zu spät gekommen. Um aus dieser Lage das Beste zu machen, müßten die Frauen den nun absehbaren Mißerfolg im Reichstag zum Anlaß neuer Anstrengungen im eigenen Lager machen. Dazu machte Emilie Kempin sich ohne Zögern an die Arbeit. Am 29. Februar 1896 meldete das Frauenblatt „Die Zeit", daß die Frauengruppe des Evangelisch-sozialen Kongresses Kurse der Rechtsbelehrung für Frauen eingerichtet habe. In je 10-12 Vorlesungsstunden mit anschließenden Übungen sollten die Teilnehmerinnen in die für sie wichtigen Grundfragen des Rechts eingeführt werden, um für die sich ihnen nun im öffentlichen Leben, vor allem in den Kommunen, bietenden beruflichen Tätigkeiten gerüstet zu sein. Dabei werde man dem Unterricht das kommende Bürgerliche Gesetzbuch zugrunde legen. Als Lehrerin habe man Frau Dr. Kempin gewinnen können. Daß Emilie Kempin nach der Niederlage der Frauen im Reichstag nun erst recht die juristische Information der politischen Agitation vorzog, um der Sache praktisch und realistisch zu dienen, bewies sie im November 1896 mit ihrem „Rechtsbrevier für deutsche Ehefrauen". Sie widmete das Buch ihrer „lieben Tochter Gertrud zum Eintritt in das Alter der Volljährigkeit" und bekannte im Vorwort: „Als die Wogen der Unzufriedenheit über die Rechtsstellung, welche das Bürgerliche Gesetzbuch den Ehefrauen und Müttern zuweist, am Höchsten gingen, habe ich, um den vielfach kritiklosen Klagen einigen Einhalt zu thun, und die Frauen zum Nachdenken über die beklagten Punkte anzuregen, das neue Gesetz in Schutz genommen und nachzuweisen versucht, daß es an den Frauen selbst liege, die ihnen darin gebotenen Chancen auszunutzen." Dem sollte nun das „Rechtsbrevier" dienen. In 52 Merksprüchen mit jeweils anschließenden Begründungen erklärte Emilie Kempin anhand des BGB ihren Geschlechtsgenossinnen, welche emanzipatorischen Chancen für sie in dem Gesetzbuch enthalten seien und wie man diese besonnen und erfolgreich nutzen könne, wenn man dies denn wolle. So lauteten die ersten drei Sprüche: „1. Spruch. Du kannst nicht gezwungen werden, mit Deinem Mann zusammen zu leben, und wenn Du zu Deiner Weigerung gute Gründe hast, kann sie Dir nicht schaden. 2. Spruch. Du brauchst Dich der Entscheidung Deines Mannes nicht zu fügen, wenn er sein Recht mißbraucht.

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3. Spruch. Gieb das Recht, das Hauswesen Deines Mannes zu leiten, nicht gegen Deinen Willen preis." Zur selben Zeit zog Emilie Kempin in der „Post" vom 11. Oktober 1896 ihre Bilanz des Kampfes um die Rechte der Frauen im BGB. Die Anhängerinnen der Frauenbewegung seien über den Inhalt des von ihnen so hart gescholtenen BGB nicht hinreichend informiert gewesen und seien es auch heute noch immer nicht. Sie hätten Wissen durch Vermutung und Dichtung ersetzt, doch eine solche Art von Rechtsbelehrung leite in die Irre. Auch sei es ein Gebot der Loyalität, daß die Frauen nun in eine nachfolgende Diskussion einträten, in der es den Sachkundigen möglich werde, Irrtümer zu beseitigen. Die deutschen Frauen wüßten offenbar nicht, wie fortschrittlich das neue Gesetzbuch in Wahrheit sei: „Ueberhaupt bedaure ich immer und immer wieder, daß die Führerinnen der Frauenbewegung in diesem Punkte nicht besonnener vorgehen. Warum wird das Gute des Gesetzbuches so konsequent ignorirt? Weil man sich einmal auf den Angriffsstandpunkt gestellt hat? Das mag ja vor der Annahme des Gesetzes eine nicht üble Kriegstaktik gewesen sein, jetzt hat sie keinen Sinn mehr, weil sie nur Unsinn erzeugt." und weiter: „Ist es gerecht und klug, sein eigenes Vaterland, dessen Institutionen und Gesetze in solcher Weise herabzusetzen? Von Barbarei zu reden, während andere Länder wie Frankreich, Belgien und die Schweiz noch weit hinter dem durch das Bürgerliche Gesetzbuch geschaffenen Rechtszustand zurück sind? Auf dem Kongreß für Frauenbestrebungen in Genf wurden von den fortschrittlichsten Männern und Frauen der schweizerischen Frauenbewegung gerade die Postulate in erste Linie gestellt, welche nunmehr für Deutschland im Bürgerlichen Gesetzbuch erfüllt sind." Mit solchen Einwänden durfte die Juristin den Kämpferinnen vom Frauen-Landsturm indessen nicht kommen. Sie mußte sich auch nicht wundern, daß man sie dort mied, um von ihr nicht durch Sachargumente gestört zu werden. Ein Jahre später wurde Emilie Kempin in die Nervenheilanstalt Lankwitz eingeliefert und später von dort in jene zu Basel verlegt. Dort ist sie im Jahre 1901 im Alter von 48 Jahren gestorben.

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IV. Parteienstreit. Das letzte Wort beim Zustandekommen des BGB hatten die Abgeordneten im Reichstag. Es war keineswegs gewiß, wie deren Votum ausfallen werde. Beschwörend erinnerte sie Staatssekretär Nieberding unter dem Beistand der Presse in seiner Einbringungsrede an ihre Verantwortung für das Gelingen der großen nationalen Tat. Diese waren in ihrer großen Mehrheit gern bereit, ihre vaterländische Pflicht zu erfüllen. Ausgenommen davon waren die auf Internationalismus, Revolution und Klassenkampf gestimmten Sozialisten. In deren Lager spielte der Wiener Kathedersozialist Anton Menger (AD1841-1906) allerdings keine Rolle, obwohl er mit seinem Erfolgsbuch „Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen" im Jahre 1890 mehr als andere Sozialisten für die Sache der Arbeiter geleistet hatte. Er paßte nicht zu den Sozialdemokraten, weil er mit den Lehren des Karl Marx nichts zu tun haben wollte. In seinem allem Klassenkampf abgeneigten sozialen Anliegen eher mit Gierke verwandt, meldete er sich nun trotzdem noch einmal in der Wiener „Neuen Freien Presse" zu Wort. Darüber berichtete wiederum die in München erscheinende „Allgemeine Zeitung" und druckte Mengers Beitrag am 20. Oktober 1896 im vollen Umfang ab. Der dem Ersten Entwurf gemachte Vorwurf mangelnder sozialer Gesinnung habe, so Menger, nicht eigentlich jenem gegolten, sondern müsse der gesamten deutschen Rechtswissenschaft, sogar denen aller Kulturvölker gemacht werden. Diese habe drei Aufgaben zu erfüllen, deren eine der Gegenwart, die andere der Vergangenheit und die dritte der Zukunft gelte. Während die Dogmatik das Recht ihrer Zeit erforsche und die geschichtliche Rechtswissenschaft den Ursprung der Rechtssätze und Institutionen ermittle, sei es Aufgabe der legislativ-politischen Jurisprudenz, den überlieferten Rechtsstoff mit den Zuständen der Gegenwart zu vergleichen und daraus zu schließen, welche Änderungen desselben in der Zukunft notwendig seien. Nach einem Seitenhieb auf die leicht verderblich wirkende, weil zur „Überspannung des Autoritätsprinzips" neigende geschichtliche Rechtswissenschaft beklagte Menger die sträfliche Vernachlässigung der sozialen Rechtswissenschaft als dem wichtigsten Teil der legislativ-politischen Jurisprudenz seiner Zeit. Auch der Zweite Entwurf sei unbrauchbar ausgefallen: „Unsere Zeit drängt in allen Wissenschaftszweigen auf Spezialisierung, darin liegt die Gefahr, daß der wissenschaftliche Betrieb in eine bloße virtuose Technik ausartet. Früher war die Philosophie das einigende Band, möge es jetzt die Socialwissenschaft werden, deren Mittelpunct die sociale Rechtswissenschaft ist, denn das leidenschaftliche Interesse aller Menschen ist auf das sociale Problem, gerichtet." So tief loteten die Sozialdemokraten das Problem nicht aus. Im Besitz einer angeblich perfekten Heilslehre sowie ihrer 47 Reichstagsmandate mel-

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deten sie sich am 23. Januar 1896 im „Vorwärts" zu Wort. Dabei wurde mit Bildung nicht gespart. Unter Erinnerung an Thibaut und Savigny und Zustimmung zu den Lehren Jberings machten sie Front gegen den juristischen Begriffskult und setzten dagegen den „Zweck des Lebens". An der Kommissionsarbeit des Reichstags waren sie nicht beteiligt und hielten sorgsam Abstand zu dem am Klassenkampf nicht interessierten Gierke. Sie trugen schwer an dem ihnen gemachten Vorwurf unpatriotischer Gesinnung: die andere Seit habe den Patriotismus zur Phrase gemacht. Nachdem nun der Bundesrat und die Zweite Kommission die Redaktion des Entwurfs besorgt und damit eine politische Diskussion seiner Grundsätze dem Reichstag aus der Hand genommen hätten, enthalte er nun reines Juristenrecht und Klassenrecht. Daher führe kein Weg mehr zurück und man müsse den Entwurf ablehnen. In der gläubigen Gewißheit, daß dies ohnehin alles nur ein Ubergang zu den demnächst hereinbrechenden besseren, klassenlosen Zeiten sein werde, in der die Zukunft den Sozialisten gehören werde, bekannte der „Vorwärts": „Der Entwurf ist für die Sozialdemokratie unannehmbar und wird, welches Schicksal ihm auch im Reichstag von den anderen Parteien bereitet werden mag, von der Sozialdemokratie als Ganzes verworfen werden; trotzdem sind wir bereit, soweit es an uns ist, im Einzelnen die Hand helfend und nachbessernd mit anzulegen, den besitzlosen Klassen zum Schutz, allen Gegnern zum Trutz. Ihre höhere, niemals ruhende Aufgabe wird die Sozialdemokratie aber unbeirrt durch Bedrängung, Wunden und politische Noth in der Vorbereitung eines Gesetzbuches der Zukunft sehen, welches einst hervorgehen wird aus den zu Staub gewordnen Gesetzbüchern der Gegenwart als das Gesetzbuch der erfüllten sozialen Gerechtigkeit." Mit diesem Glaubensbekenntnis war bei der auf bedingungslosen Patriotismus gestimmten Mehrheit im Reichstag nichts auszurichten. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" machte am 24. Januar 1896 entschieden Front gegen den „Vorwärts". Dessen Vorwurf des „Juristenrechts" sei bereits als solcher unbegründet. Wer anders als der praktizierende Jurist wisse besser Bescheid, welcherlei Recht im täglichen Leben benötigt werde? Es gehöre zwar zu den Gepflogenheiten einer gewissen Presse, den Juristen den Vorwurf der Lebensfremdheit zu machen und die Richter als Leute darzustellen, die nichts anderes täten, als in alten Akten herumzustöbern. Aber davon könne keine Rede sein. Schon sein Beruf nötige den Juristen zum eifrigen Studium seiner Gegenwart, so daß es jenes „Juristenrecht" nicht geben könne. Auch existiere das gegen das behauptete „Klassenrecht" ins Feld geführte „allgemeine Rechtsbewußtsein" einfach nicht. Niemals seien alle Rechtsgenossen je derselben Meinung, immer könne es dergleichen Bewußtsein nur unter Beschränkung auf die erhebliche Mehrheit geben, die etwas als Recht erkenne und empfinde.

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Auch die Juristen waren in dieser Diskussion Partei, dies jedoch in einer ganz eigenen Weise. Wo die Politiker und Journalisten die Abgeordneten mit patriotischen Ermahnungen anfeuerten, berechneten sie, was ihnen das Gesetzbuch an Mehrarbeit bescheren werde. Die Rechnung fiel nicht gut aus. Die „Hamburger Nachrichten" druckten am 29. Februar 1896 einen Artikel aus der „Zukunft" nach, in dem ein alter pommerscher Advokat seinem optimistischen Neffen angesichts der Begeisterung der Presse zu mehr Nüchternheit verhelfen wollte. Er seinerseits richte sich auf einen großen Wirrwarr im Rechtsleben ein. Er bezweifle, daß die älteren Richter und Anwälte sich mit der Neuerung wirklich vertraut machen würden. Er erwarte eher, daß die Rechtsprechung an Kontinuität verlieren werde. In dieser Skepsis war er sich mit anderen Praktikern einig. Man äußerte in der Presse die Befürchtung, daß man trotz aller nun anlaufender Einführungskurse den älteren Richtern, jedenfalls jenen über 60 Jahren, die vorzeitige Pensionierung ermöglichen müsse. Damit drohe dem Juristenstand eine gewaltige Belastung. Schon gab es, wie die „Nationalzeitung" am 21. Oktober 1898 meldete, bewährte Reichstagsabgeordnete aus dem Juristenstand, die nicht wieder kandidieren wollten, weil sie ihre ganze Arbeitskraft nun daheim in ihrem Beruf der Einführung des neuen Gesetzbuches widmen müßten. Der Preis der Rechtseinheit sei von den Juristen zu zahlen und zwar durch vermehrte Arbeit. Der alte Advokat bezweifelte sehr, ob sich das wirklich lohne: „Wer begeistert sich bei uns eigentlich für die Rechtseinheit? Zeitungsschreiber und Juristen! Dazu die Genialen von der Schablone, die jede Gleichmacherei für eine Verbesserung halten. Die Masse des Volkes steht der Rechtseinheit aus guten Gründen kühl bis ans Herz gegenüber." Partei waren schließlich auch die Sprachpfleger. Deren Weizen war im Zeichen nationaler Begeisterung mächtig empor geblüht. Während sich die Häupter der deutschen Wissenschaft in den „Preußischen Jahrbüchern" vom Jahre 18896 noch in einer geharnischten Erklärung gegen die spracherzieherische Anmaßung der Oberlehrer verwahrt hatten, waren die Gymnasiallehrer und Instanzrichter munter bei der Arbeit und schufen sich in der Sprachpflege ein weites Betätigungsfeld. Sie nahmen sich, begünstigt durch die hohe Bürokratie und angeregt durch den Deutschen Sprachverein, den Entwurf des BGB vor. Dieser war kaum beim Reichstag eingegangen, als der Leipziger Landrichter Adolf Lobe (geb. AD 1860) unter dem Beifall der Presse sich im Rahmen einer an den Reichstag gerichteten Schrift auch zur Sprache des BGB 7 zu Wort meldete. Der noch junge Lobe, der seine KarPreußische Jahrbücher 63 (1889), S. 312f. Lobe Was verlangen wir von einem bürgerlichen Gesetzbuch? Ein Wort an den Reichstag, 1896, S. 42ff. 6

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riere 1928 als Senatspräsident am Reichsgericht beenden sollte und dort als eine „markante Persönlichkeit" gewirkt hatte, die „zuweilen aus der Reihe tanzte" 8 , ließ mit dieser Arbeit erkennen, daß er nicht ewig Instanzrichter bleiben wollte. Er wolle damit dem Reichstag eine Hilfe an die Hand geben, um dem Gesetzbuch mehr Gemeinverständlichkeit zu vermitteln. Es dürfe nicht dahin kommen, daß sich das Gesetzbuch allein an die Juristen wende und das an Händen und Füßen gebundene Volk jenen ausliefere. Gewiß müßte heute selbst ein Savigny den erreichten Fortschritt der deutschen Rechtssprache zugeben, auch könne ein Gesetzbuch für den Laien nun einmal nicht immer verständlich sein. Dennoch dürfe man das Ideal der Allgemeinverständlichkeit nicht preis geben. Lobe wagte sich damit wie andere vor ihm an die Quadratur des Kreises einer allgemeinverständlichen und dennoch technisch befriedigenden Rechtssprache. Was den Juristen als stets nur unvollkommen erreichbares Ideal allzu bewußt war, sollte im Entwurf jedenfalls mehr als bisher angestrebt werden. Der Landrichter empfahl dazu ein Mittel, das der geniale Eugen Huber (KD 1849-1923) im schweizerischen ZGB später besser erreichen sollte, als es den Redaktoren des BGB gelungen war. Man möge vermehrt den Stil des Rechtssprichwortes anwenden. Warum sage das Gesetzbuch nicht schlicht „Kauf bricht nicht Miete", statt die nur für Juristen verständliche und doch dasselbe besagende Sprache des Entwurfs zu verwenden? Schließlich habe bereits der französische Code unter anderem mit seinem berühmten „La recherche de la paternite est interdite " Vorbilder gesetzt. Damit führte Lobe eine Diskussion um die Sprache des BGB fort, an der sich alle Welt schon beim Erscheinen des Ersten Entwurfs beteiligt hatte. Auch die Landwirte meinten, das Gesetz möge doch um des biederen ländlichen Rechtslaien willen auch solche Dinge zur Sprache bringen, die den Juristen als Selbstverständlichkeiten nicht erwähnenswert schienen. Andere stöberten mißglückte Sprachleistungen auf, wobei man wohl erst später auf den „verrückt gewordenen Grenzstein" des § 919 gestoßen ist und auf das Hexameter in § 923 BGB. Der Deutsche Sprachverein9 war eifrig bei der Arbeit und übersetzte stehen gebliebene Latinismen so erfolgreich, daß die juristische Fachwelt heute ganz selbstverständlich von „Abtretung" statt „Zession", „Verjährung" statt „Präskription" und „Aufrechnung" statt „Kompensation" spricht. Insgesamt war man mit Recht stolz auf die Sprachleistung des BGB. Man hatte damit ein Vorbild geliefert, mit dem sich der heutige Gesetzgeber nicht messen kann.

Deutsche Juristen-Zeitung 33(1928), Sp. 369. Oberlandesgerichtsrat Erler Die Sprache des neuen Bürgerlichen Gesetzbuchs, Verlag des allgemeinen deutschen Sprachvereins, 1896. 8

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Hans Hattenhauer V. Das BGB im Reichstag.

Selbstverständlich interessierte die Presse sich für das BGB besonders zur Zeit seiner Beratung im Reichstag. Nun schienen endlich auch die Abgeordneten, Rechtspolitiker wie Rechtslaien, mit ihrer eigenen gründlichen Beratung an der Reihe zu sein. Auf deren Eifer hofften nicht nur die Frauen und Gierke, sondern alle, die noch in letzter Minute ihre Sonderwünsche in das Gesetzbuch eingebracht haben wollten, darunter nicht zuletzt die mächtige Lobby der Landwirte. Am Anfang waren wichtige Verfahrensfragen zu entscheiden, wobei Nieberding das bedrohte Schifflein mit Geschick und Weisheit durch alle parlamentarischen Strudel gesteuert zu haben scheint. Sollte der Reichstag in seiner Entscheidung darauf beschränkt sein, den Entwurf ohne Beratung anzunehmen oder abzulehnen? Diese anfangs anscheinend erwogene Lösung wurde schnell verworfen. Da nun aber eine Beratung unumgänglich war: Sollte man eine Kommission einsetzen oder das Gesetzbuch unmittelbar im Plenum beraten lassen? Man entschied sich für die Beratung in einer Kommission. Diese bestand jedoch nicht, wie auch in der Presse gefordert worden war, mehrheitlich aus Rechtslaien, sondern wurde von Juristen beherrscht, die in ihrer Arbeit um so leichter im Hintergrund vom Staatssekretär begleitet werden konnten. Die Kommission tagte zweiundsechzigmal, ehe es Ende Juni im Plenum des Reichstags zur zweiten und dritten Lesung kam. Darüber berichtete die Presse regelmäßig, jeweils aus unterschiedlicher politischer Sicht Lob oder Tadel spendend. Wer erwartet hatte, daß sich das Plenum nun endlich selbst gründlich an die Arbeit machen werde, hatte sich getäuscht. Die Parlamentarier überließen die Sache auch auf der Zielgeraden den Juristen und interessierten sich nur für wenige, politisch umstrittene Gegenstände. Darum aber kämpften sie um so erbitterter, so daß das Unternehmen nun doch noch an den Rand des Scheiterns geriet. Die Liberalen hofften auf Nachbesserungen im Vereinsrecht, das Zentrum auf Einführung der fakultativen Zivilehe und Streichung des Scheidungsgrundes der Geisteskrankheit. Darüber landeten die Landwirte, Sozialdemokraten und Frauen abgeschlagen weit hinten im Feld. Bei alledem wurde nicht verschwiegen, hier mit Bedauern - dort unter Zustimmung, daß die Juristen die Sache schließlich doch unter sich ausmachten und daß dies auch nicht anders zu machen war. Am Ende griff Staatssekretär Nieberding rettend ein, vermittelte geschickt einen Scheinkompromiß zwischen Zentrum und Liberalen und konnte so das Schiff in den rettenden Hafen der Rechtsgeltung steuern. Ohne die Zustimmung der größten Fraktion, des Zentrums, wäre die Sache nicht zu machen gewesen, doch erkannte man dort die politische Verantwortung und gab nach. Damit war das Eis gebrochen und auch die meisten anderen Fraktionen schwenkten ein. Die Sozialdemokraten hielten an ihrem Nein fest, während die Elsaß-Lothringer und die Antisemiten ihre Vorbehalte durch Stimmenthaltung zum Ausbruch brachten.

Das BGB in der Zeitung.

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Nun ging alles plötzlich sehr schnell. Die Presse stellte abschließend erstaunt fest, wie wenig der Reichstag sich den Sachfragen zugewandt hatte und wie rasch es zur Annahme des im Wesentlichen unverändert gebliebenen Zweiten Entwurfs gekommen war. Das Eingeständnis mangelnder fachlicher Kompetenz seitens der Mehrheit der Abgeordneten überdeckte man allseits mit dem ihnen gespendeten Lob für die erwiesene vaterländische Verantwortung. Dabei tauchte plötzlich ein neues Argument in der Debatte auf, das bis dahin keine Rolle gespielt hatte. Am 19. Juni 1996 forderte die „Kölnische Zeitung" - sei es aus eigener Eingebung, sei es als Medium Dritter - , das Gesetzbuch müsse am 1. Januar 1900 in Kraft treten und daher noch in dieser Sitzungsperiode verabschiedet werden. Daß mit der Wahl dieses Datums der Jahrhundertbeginn falsch berechnet worden war, fiel in der nun ausbrechenden allgemeinen Begeisterung nicht auf. Niemand fragte, warum es eigentlich die Jahrhundertwende sein müsse und warum dieses Datum geeignet sei, daran eine derart erhebliche Rechtsfolge zu knüpfen. Kaum jemand staunte darüber, daß aus diesem Vorschlag das tragende Argument zur Begründung der Eilbedürftigkeit geworden war. Kaum jemand wunderte sich, wie schnell der Reichstag sich diese Forderung zu eigen machte. Die „Hamburgischen Nachrichten" allerdings protestierten gegen „nervöse Ungeduld" und „politische Phraseologie" im Namen aller derer, die ein „Durchpeitschen" des Gesetzbuches auf Kosten seiner gründlichen Beratung für ein unwürdiges Verhalten des Reichstags hielten: „Man will die Sache gern hinter sich und die Sicherheit haben, am 1. Januar 1900 das Buch in Kraft setzen zu können. Was aber hat das Jahr 1900 mit dem bürgerlichen Gesetzbuch zu thun? Wird sein Inhalt dadurch besser, wird die Gefahr, daß es sich nicht bewährt, dadurch weniger, wenn das Buch am 1. Januar 1900 in Kraft tritt?" Das waren nur noch Schlußgefechte der Presse. Neuen Anlaß, sich mit dem BGB zu befassen, fand man dort gelegentlich seines Inkrafttretens am 1. Januar 1900. Doch begnügte man sich nun mit dem Preis seines vaterländischen Charakters. Der Dom der deutschen Rechtseinheit hatte seinen Schlußstein erhalten. Gewiß habe das Gesetzbuch Mängel, auch sei der Prozeß der Rechtsfortbildung dadurch nicht abgeschlossen, doch überwog allseits das Grundgefühl vaterländischer Freude. Niemand ahnte, daß nur 14 Jahre später der Erste Weltkrieg, dem deutschen Privatrecht tiefe Wunden schlagen und seine Spuren auch in dem von freiheitlichem Geist durchtränkten Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich hinterlassen werde.

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Hans Hattenhauer

VI. Jahre später. Hier müßte nun eigentlich danach gefragt werden, ob sich das Eindringen des Kriegs- und des Sozialrechts in das BGB seit 1914 und danach sowie dessen Bedrohung durch Einzelgesetzgebung und das, schließlich gescheiterte, NS-Volksgesetzbuch 10 in der Presse niedergeschlagen hat. Doch wird der Jubilar dem Gratulanten verzeihen, daß er sich Beschränkung auferlegt und diese Jahrzehnte hurtig überspringt, um noch einen flüchtigen Blick auf die Zeit nach 1945 zu werfen.11 Als Deutschland sich nach dem Zusammenbruch von 1945 in zwei Staaten verfaßt hatte, galt diesseits wie jenseits der Zonengrenze das BGB vorläufig weiter, genoß aber nur im Westen weiterhin die inzwischen erworbene Verehrung. Immerhin konnte man den Irrweg der NS-Gesetzgebung nicht übersehen. Auch hatte in der Besatzungszeit jede Besatzungsmacht in ihrer Zone ihre Rechtsideale verwirklichen wollen. Die Jahre waren am Privatrecht nicht spurlos vorübergegangen. So mußte sich der Deutsche Bundestag in seiner ersten Legislaturperiode ans Aufräumen und die Wiederherstellung der Rechtseinheit machen. Das gab der Presse Anlaß zum Rückblick und zu erneuter Beurteilung des BGB. Man tat dies mit Staunen. Die konservarive „Deutsche Zeitung" faßte ihre Sicht der Dinge am 25. März 1953 zusammen: „Es kann wohl keinen besseren Beweis für die Brauchbarkeit eines Gesetzes geben, als die Tatsache, daß es nach über fünf Dezennien im großen und ganzen noch so besteht, wie es erlassen wurde. Das Bürgerliche Gesetzbuch hat drei Staatsformen überdauert trotz mannigfacher Anfechtungen und Schlegelbergers „Abschied vom BGB" (1937). Doch spurlos sind die Zeitläufte an seinem Rechtsgebäude nicht vorbeigegangen. Der Erlaß des Ehegesetzes 1938 und 1946 und des Testamentsgesetzes 1938 hat einige Lücken hinterlassen. Sie teilweise wieder zu schließen und sonstige zeitbedingte Unebenheiten zu bereinigen, ist Zweck des Gesetzes zur Wiederherstellung der Gesetzeseinheit auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts vom 5. März 1953, das am 1. April 1953 in der Bundesrepublik und in Berlin in Kraft treten wird." War es 1953 in den Westzonen darum gegangen, dem auseinander gedriftete Recht neue Einheit zu verschaffen, brachte das Jahr 1971 Gelegenheit, auf die Anfänge des nun 75 Jahre alten BGB zurückzublicken. So tat „Die Welt" am 14. August 1971, die Sauregurkenzeit nutzend, einen „Griff in die Geschichte". Der sachkundige Rückblick in den Reichstag berichtete amüsante Einzelheiten und rühmte das BGB, das zwei Weltkriege und die DikHattenhauer Das NS-Volksgesetzbuch in Festschrift Gmür, 1987, S. 255ff. Für mir zuteil gewordene überaus freundliche Hilfe danke ich Frau Ingrid Klimmer vom Zeitungsarchiv des Bundespresseamts. 10 11

Das BGB in der Zeitung.

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tatur im wesentlichen unerschüttert überstanden und im sozialen Rechtsstaat nun eine neue Bedeutung gewonnen habe. Dabei hielt sich der Verfasser an die Pressepolitik seines Hauses und warf traurig seinen Blick auf die „Zone". Er merkte an, was man sonst im Westen kaum beachtet hatte, daß das BGB „auch in der sowjetischen Besatzungszone Deutschland in Kraft blieb, eine Klammer bei der Bewahrung der Einheit des deutschen Volkes. Hier erfolgte erst in jüngster Zeit ein schwerer Rückschlag, als die Funktionäre des sowjetischen SED-Regimes in Mitteldeutschland das BGB durch ein sozialistisches Zivilgesetzbuch ersetzten und damit zur Rechtszersplitterung der versunkenen fürstlichen Kleinstaaterei zurückkehrten." In der Bundesrepublik entdeckte man in der Reformbegeisterung der SPD/FDP-Koalition nach 1972, daß das BGB hoffnungslos überaltert und ihm schnellstens der Staub auszuklopfen sei, wenn es auch nicht gleich durch ein neues Zivilgesetzbuch ersetzt werden müsse. Dieser Aufgabe widmete sich Bundesjustizminister Jürgen Schmude. Der Bonner „Generalanzeiger" ließ am 29. Januar 1982 wissen: „Es nennt sich bürgerliches Recht und blieb dem Bürger dennoch seit 82 Jahren ein Buch mit sieben Siegeln: das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), Paragraphen-Sammelsurium von „Beginn der Rechtsfähigkeit" bis zur letzten Bestimmung „Anwendung auf ähnliche Verträge", 2385 Paragraphen, meist abstrakt formuliert, ineinander verzahnt, nicht selten lebensfremd, verständlich allenfalls für Juristen. Das BGB überstand Kaiserreich, Republik und Diktatur, blieb auch nach 30 Jahren sozialen Rechtsstaats so gut wie unverändert. Das soll anders werden. Justizminister Jürgen Schmude (SPD) will den für das tägliche Leben wichtigsten Teil des Gesetzbuches, das Schuldrecht, überarbeiten, straffen, modernisieren und das schier Unmögliche versuchen, es lesbarer und somit verständlicher zu machen." Dazu brachte der „Generalanzeiger" am 29. Dezember ein Interviews mit Ulrich Huber; damals noch ein Saulus der Schuldrechtsreform, mit der Überschrift: „,Der Bürger muß dem Gesetz wieder entnehmen können, was Rechtens ist.' Der Rechtsexperte sieht im BGB viele Grundsatzfragen ungelöst und plädiert für Reform." Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" hatte dagegen schon am 14. Februar die skeptische Frage gestellt, ob es denn wirklich heute einen „Beruf zur Gesetzgebung" gebe, wie ihn Savigny für seine Zeit geleugnet habe. Die Antwort war ein klares Nein, wenn auch mit anderer als der 1814 gegebenen Begründung:

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Hans Hattenhauer

„Alle diese Überlegungen sprechen gegen große Würfe und Reformen im bürgerlichen Recht. Vielleicht war es im Zeichen kurzatmiger Legislaturperioden unvermeidlich, erst den Knoten der Scheidungsrechtsreform durchzuhauen und danach deutsche Gründlichkeit bei der Reparatur der Details walten zu lassen. Im bürgerlichen Vertrags- und Wirtschaftsrecht ist es vermeidbar. Hier wie kaum anderswo kann der wirtschaftende Mensch seine Rechtsbedürfnisse selbst und besser befriedigen als der reglementierende Staat." Nachdem der Kelch sozialliberaler Reform vorläufig am Schuldrecht vorübergegangen war, kam das Jahr 1996 mit seiner Jahrhundertfeier. Es war keine Frage, daß sich nun alle zum BGB äußerten, die sich in Politik und Jurisprudenz dazu berufen fühlten und daß sich die Presse daran beteiligte. Es wurde viel Kluges gesagt und an Anekdoten aus der Entstehungsgeschichte des BGB fehlte es nicht. Auch diesmal überließen die Redaktionen den Gegenstand wieder Juristen. Diese zeigten sich trotz ihrer sonst üblichen Freude am Streitgespräch erstaunlich einig in der Beurteilung des BGB. In allen Artikeln äußerte man nach dem obligatorischen historischen Rückblick seine Verwunderung über die Zählebigkeit des BGB. Wie war es nur möglich gewesen, fragte man, daß ein Gesetzbuch, dessen Inkrafttreten der Bürger kaum beachtet und dessen Uberlebenskraft die Fachleute skeptisch beurteilt hatten, alle Krisen des 20. Jahrhunderts so großartig hat überstehen können? Daß es noch immer da war und dies trotz gravierender Veränderungen der politischen Großwetterlage? Auch mit der Antwort waren sich die Autoren erstaunlich einig: Es sei ein Gesetzbuch von Juristen für Juristen und dazu ein Meisterwerk nach Sprache, Begrifflichkeit und Rechtstechnik. Keiner der Väter des BGB dürfte damit gerechnet haben, daß ihrem Werk hundert Jahre später so viel Lob gespendet werden würde. Daß auch diesmal die uralte Klage mangelnder Volkstümlichkeit nicht verstummen durfte, war selbstverständlich und dürfte mehr auf dem journalistischen als dem juristischen Konto der Beiträge zu verbuchen gewesen sein. Wie sehr hier das Urteil eines und desselben Mannes zwischen Juristenkopf und Journalistenherz hin und her gerissen werden konnte, zeigte ein Aufsatz von Heribert Prantlin der „Süddeutschen Zeitung" vom 27. Dezember 1999. Mit Grausen erinnerte er sich an sein Rechtsstudium: „Schauder der Ehrfurcht hat das BGB seit jeher nur den Juristen über den Rücken gejagt; und die Studenten, die über den Komplikationen des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses oder über den Regeln der Rückabwicklung im bereicherungsrechtlichen Dreiecksverhältnis verzweifeln, trösten sich damit, daß es Gelehrte gegeben haben soll, die über dem Studium dieser Rechtsmaterien wahnsinnig geworden sein sollen." Dennoch rühmte er das alte BGB einige Zeilen danach:

Das BGB in der Zeitung.

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„Wenn man seine zeitgebundenen Vorschriften abzieht, ist es eine Denkschule, eine Fibel für die Lösung von Rechtsproblemen. Wäre das BGB so ausgefallen, wie es viele Kritiker vor hundert Jahren gern gehabt hätten - volkstümlicher, deutscher, ideologischer - es würde längst nicht mehr gelten." Dann brach erneut, diesmal mit ungebremster Wucht die Schuldrechtsreform über das BGB herein. Heribert Prantl, der 1999 den anderen Europäern das BGB als einen Schatz gemeinsamen europäischen Rechtserbes zum Vorbild empfohlen hatte, holte in der „Süddeutschen Zeitung" vom 5. Januar 2002 gegen das überstürzte Verfahren aus. Er sah Anlaß, eine andere Qualität des BGB zu rühmen, die man damals beklagt und zwischenzeitlich vergessen hatte: „Und alle die, die früher über das Essen gemault haben, erinnern sich auf einmal an die Spruchweisheit, daß nichts besseres nachkommt - und entdecken ihre späte Liebe für das alte BGB. Damals, vor mehr als hundert Jahren, hatte sich der Gesetzgeber nämlich sehr viel mehr Zeit genommen: Das alte BGB war eines der am gründlichsten vorbereiteten Gesetzbücher der Rechtsgeschichte. Es wurde nach 22 Jahren Beratung am 18. August (!) 1896 im Reichstag verabschiedet. Es gab also viel Zeit zur weiteren Vorbereitung: In Kraft trat es erst am 1. Januar 1900." Man darf gespannt sein, was die Zeitungen in Zukunft am BGB zu rühmen und zu tadeln haben werden, wenn der Jubilar und sein Gratulant ihr BGB längst auf die Seite gelegt haben werden.

Das Spannungsverhältnis von Art. 12 GG und Art. 14 GG im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer CURT WOLFGANG

HERGENRÖDER

I. Rückzahlung von Ausbildungskosten und Berufsfreiheit Gerade im Arbeitsrecht ersetzt die Abwägung konkurrierender verfassungsrechtlicher Positionen immer mehr die traditionelle Zivilrechtsdogmatik. Beispielhaft sei hier unter dem Blickwinkel des Art. 12 GG eine jüngere Entscheidung des 5. Senats des BAG1 angeführt: Eine Fluggesellschaft vereinbarte mit einem Stellenbewerber die Ausbildung auf einem Propellerflugzeug des Typs „Fokker 50". Ziel der Ausbildung war die für einen Piloten erforderliche Musterberechtigung für Flugzeuge dieses Typs. Von den Ausbildungskosten in Höhe von DM 54000.hatte der Arbeitnehmer nach dem Arbeitsvertrag 1/3 zu übernehmen, die entsprechende Summe von DM 18 000.- wurde von ihm vor Ausbildungsbeginn beglichen. Nach Abschluß der Schulung erhielt er seine Musterberechtigung für die „Fokker 50" und wurde für die Arbeitgeberin danach als Flugzeugführer tätig. Schon nach rd. einem Jahr kam es zur Auflösung des Arbeitsvertrages, weil der Arbeitnehmer eine andere - mutmaßlich besser dotierte - Stelle anzutreten gedachte. Der Arbeitnehmer verlangte Rückzahlung der DM 18000.- mit der Begründung, die entsprechende Klausel im Arbeitsvertrag, welche ihm einen Teil der Ausbildungskosten aufbürdete, sei unwirksam. Denkt man in tradierten zivilrechtlichen Bahnen, an denen auch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz jedenfalls für die ausgehandelte Individualvereinbarung nichts geändert hat,2 so wäre zu überlegen, ob die entsprechende Klausel im Arbeitsvertrag nicht möglicherweise gegen § 138 1 BAG ν. 21. 11. 2001, AP Nr. 31 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe = EzA § 611 BGB Inhaltskontrolle Nr. 9. 2 Zwar findet nach § 310 Abs. 4 BGB das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen grundsätzlich auch auf Arbeitsverträge Anwendung. Echte Individualabreden unterliegen allerdings nach wie vor nicht der Anwendung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, siehe Gotthardt Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, 2002, Rn. 220.

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Curt Wolfgang Hergenröder

BGB verstößt. Klarzustellen ist, daß § 5 Abs. 2 Nr. 1 BBiG, wonach die Vereinbarung einer Entschädigungszahlung für die Berufsausbildung nichtig ist, auf das Vertragsverhältnis der Parteien nicht anwendbar war. Das BAG beginnt seine diesbezüglichen Überlegungen freilich mit Ausführungen zu den Grundrechten. Es rechtfertigt die Prüfung der Vertragsklausel am Maßstab der Angemessenheit und damit von Treu und Glauben - also die sog. „Inhaltskontrolle" 3 - mit dem Schutzauftrag der Verfassung an den Richter, der den objektiven Wertentscheidungen der Grundrechte in Fällen gestörter Vertragsparität mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen habe. Wörtlich heißt es: „Die beiderseitigen durch Art. 12 GG geschützten Rechtspositionen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers sind im Rahmen einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen."

II. Arbeitsrecht und Verfassung 1. Arbeitsrechtlich bedeutsame Grundrechtspositionen Bedenkt man, daß es bei dem Rückzahlungsbegehren um einen schlichten Bereicherungsanspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber geht, so müßte der bundesarbeitsgerichtliche Rekurs auf Art. 12 GG eigentlich verwundern. Denn ihrer ursprünglichen Aufgabe und Zielsetzung nach sind die Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat. 4 Ungeachtet dessen ist das Arbeitsrecht seit je her ein Tummelplatz verfassungsrechtlicher Argumentation und Auseinandersetzung. Soweit es um Fragen des Koalitions- oder Arbeitskampfrechts geht, das seine alleinige Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG hat und wo einfachgesetzliche Regeln fast völlig fehlen, leuchtet dies noch ohne weiteres ein. Immerhin stattet Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG die in Abs. 1 gewährleisteten Koalitionsrechte mit unmittelbarer Drittwirkung auch gegenüber Privaten, also Arbeitgebern und Arbeitnehmern, aus. Als Zentralnorm der Arbeitsverfassung liegt der Koalitionsfreiheit das Prinzip autonomer Regelung durch die Aktualisierung von Gegenmacht zugrunde. Indes ist Art. 9 Abs. 3 GG nur eines der arbeitsrechtlich relevanten Grundrechte. Auch andere Verfassungsbestimmungen werden herangezogen, um bestimmte Fragestellungen zu entscheiden. Eigentlich sind alle Grundrechte in arbeitsrechtlicher Hinsicht von Bedeutung. Dies macht schon ein kurzer Blick auf den Gegenstand der verfassungs3 Zur Inhaltskontrolle grundlegend Fastrich Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992, S. 159ff.; Preis Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, S. 149ff. 4 Siehe nur Erichsen Jura 1996, 527; Stern Staatsrecht, Bd. III/l, 1988, 1567

Das Spannungsverhältnis von Art. 12 G G und Art. 14 G G

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rechtlichen Garantien deutlich: Die im Grundgesetz an zentraler Stelle, nämlich in Art. 1 GG garantierte Menschenwürde muß auch Leitprinzip der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit sein, um diesen reizwortbehafteten Vergleich einmal zu benutzen. Genannt sei hier exemplarisch der psychologische Eignungstest vor einer Einstellung. 5 Schon für die Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses in Bezug auf das Fragerecht des Arbeitgebers, 6 aber auch für das äußere Erscheinungsbild während der Erbringung der Arbeitsleistung 7 hat Art. 2 GG Bedeutung. 8 Im Hinblick auf Art. 6 GG wiederum genügt das Stichwort der „Zölibatsklausel" 9 . Zu nennen sind darüber hinaus Art. 3 GG, der auf individualarbeitsrechtlicher Ebene im allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz seine Entsprechung findet, 10 Art. 4 GG, welcher die Rechtsprechung zur Leistungsverweigerung aus Gewissensgründen maßgeblich geprägt hat11 und Art. 5 GG, der nicht zuletzt in der Frage der Befristung von Arbeitsverträgen im Bereich der Presse und des Rundfunks 12 eine wesentliche Rolle spielt. Zwei grundrechtliche Positionen werden unter individualarbeitsrechtlichen Gesichtspunkten näherer Gegenstand der folgenden Betrachtung sein: An erster Stelle ist der eingangs schon bemühte Art. 12 Abs. 1 GG zu nennen, der das Hauptgrundrecht der freien wirtschaftlichen Betätigung darstellt. Art. 12 GG ist zugleich das Grundrecht des arbeitsteiligen Zusammenwirkens. 13 Gewährleistet wird das Recht, jede Tätigkeit, für die jemand sich geeignet hält, zur Grundlage seiner Lebensführung zu machen. 14 Art. 12 GG schützt aber auch die freie Wahl des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers. Und weiter wird auf Art. 14 GG einzugehen sein, der die Eigentumsgarantie enthält. Schon an dieser Stelle ist freilich klarzustellen, daß - jedenfalls wenn man der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung folgt - Arbeitgeber- und Arbeitnehmerpositionen hauptsächlich im Rahmen des Art. 12 GG gegeneinander abzuwägen sind. Art. 14 GG spielt im Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien zueinander eine eher geringe Rolle. 15

BAGE 15, 275 = AP Nr. 1 zu Art. 1 GG; weitere Beispiele bei Zachert Β Β 1998, 1310f. Zachert BB 1998, 1310, 1311. Zu Einzelheiten Hergenröder, AR-Blattei SD 715 Rn. 2ff. 7 Zachert BB 1998, 1310, 1311 f. m.w.N. 8 ErfKomm/Dieterich, 3. Aufl. 2003, GG, Art. 2 Rn. 2. 9 BAGE 4, 274 = AP Nr. 1 zu Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie; Coester-Waltjen in von Münch/Kunig Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl. 2000, Art. 6 Rn. 56; Gamillscheg Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, 2001, S. 193. Für Arbeitsverhältnisse im Bereich der Kirchen siehe nur BAGE 47, 144 = AP Nr. 20 zu Art. 140 GG. >° ErfKomm/Dieterich, 3. Aufl. 2003, GG, Art. 3 Rn. 30; Zachert BB 1998, 1310, 1312. » BAGE 47, 363 = AP Nr. 27 zu § 611 BGB Direktionsrecht; Zachert BB 1998,1310,1312f. 12 BVerfGE 59, 231 = AP Nr. 1 zu Art. 5 Abs. 1 GG Rundfunkfreiheit; BAGE 41, 247; 265 = AP Nr. 42; 43 zu § 611 BGB Abhängigkeit; Zachert BB 1998, 1310, 1313. 13 Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 11 ff. 14 BVerfGE 7, 377, 397 = AP Nr. 13 zu Art. 12 GG. 15 So auch Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 615 a. 5

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2. Grundrechtsträger

und

Grundrechtsadressaten

Zunächst freilich muß geklärt werden, wie die Grundrechte das Arbeitsrecht beeinflussen. Insoweit hat man sich zunächst einmal den Unterschied zwischen Grundrechtsträgern und Grundrechtsadressaten zu vergegenwärtigen. 16 Die Grundrechtsträgerschaft kommt den Arbeitsvertragsparteien zu. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind gleichermaßen grundrechtsfähig. Dabei spielt es grundsätzlich keine Rolle, in welcher Rechtsform der Arbeitgeber organisiert ist. Juristische Personen genießen wegen Art. 19 Abs. 3 GG Grundrechtsschutz, sofern die verfassungsrechtlich geschützte Tätigkeit auch von diesen ausgeübt werden kann oder sie eines vergleichbaren Schutzes bedürfen. Was Art. 12 GG anbelangt, so wird vom BVerfG die juristische Person ausdrücklich dem Einzelarbeitgeber gleichgestellt.17 Grundrechtsträger sind auch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Streng genommen ist es freilich mißverständlich, Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Grundrechtsträger zu bezeichnen (so aber das BVerfG18), ebenso wie der Begriff des „Arbeitgebers" nicht mit „Unternehmer" gleichgesetzt werden darf.19 Die Begriffe „Arbeitgeber" und „Arbeitnehmer" drücken nur eine arbeitsvertragliche Stellung aus und sind eine bestimmte Form der Berufsausübung, aber kein Beruf. Die Arbeitsvertragsfreiheit ist Teil der Berufsfreiheit. 20 Entsprechendes gilt für die Unternehmerstellung und die dazugehörige Unternehmerfreiheit. 21 Grundrechtsadressaten sind der Gesetzgeber, aber wegen Art. 1 Abs. 3 GG auch die Rechtsprechung. Arbeitsrechtliche Gesetze sind demnach ohne weiteres an den Grundrechten zu messen. Das Verwerfungsmonopol, also das Recht, eine Norm des einfachen, nachkonstitutionellen Rechts aus verfassungsrechtlichen Gründen für unanwendbar oder nichtig zu erklären, hat nur das BVerfG. So wurde § 3 des Hessischen Bildungsurlaubsgesetzes, welcher den Arbeitgebern Entgeltfortzahlungspflichten für den Zusatzurlaub pädagogischer Mitarbeiter auferlegte, für unvereinbar mit Art. 12 Abs. 1 GG erklärt. Die Grenzen der Zumutbarkeit für den einzelnen Arbeitgeber seien insoweit überschritten. 22 Den Fachgerichten und damit auch der ArbeitsgeSiehe zum Folgenden auch schon Hergenröder ZfA 2002, 355, 367ff. >7 BVerfGE 41, 126, 149; 53, 1, 13; 65, 196, 210. 18 BVerfGE 57, 139, 158 = AP Nr. 1 zu § 4 SchwbG; 308, 332 = AP Nr. 62 zu Art. 12 GG Arbeitnehmerweiterbildung. 19 Müller Die Berufsfreiheit des Arbeitgebers, 1996, S. 16. 20 BVerfGE 81, 242, 255 = AP Nr. 65 zu Art. 12 GG; Müller Die Berufsfreiheit des Arbeitgebers, 1996, S. 15, 30ff.; Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 515. 21 BVerfGE 50, 290 = AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG; BAGE 64, 284 = AP Nr. 56 zu Art. 9 GG; ErfKomm/Dieterich, 3. Aufl. 2003, GG, Art. 12 Rn. 14; Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 516. 22 BVerfGE 77, 308, 336 = AP Nr. 62 zu Art. 12 GG. 16

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richtsbarkeit wiederum obliegt es, bei der Anwendung des einfachen Rechts die Grundrechte zu verwirklichen, arbeitsrechtliche Normen sind verfassungskonform auszulegen. Demgegenüber sind die Arbeitsvertragsparteien keine Grundrechtsadressaten. Eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte ordnet die Verfassung nur für Art. 9 Abs. 3 GG an. 3. Die Verwirklichung von Berufs- und Eigentums/reibeit im Arbeitsrecht Aus alledem folgt, daß weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer durch rechtsgestaltende oder tatsächliche Maßnahmen in das Grundrecht ihrer Arbeits Vertragspartei aus Art. 12 Abs. 1 GG eingreifen können. Normverpflichtete sind insoweit nur der Gesetzgeber und die Rechtsprechung. Insoweit gilt folgendes: Die Grundrechte entfalten ihre Abwehrwirkung gegenüber dem Staat, als sie ihm verbieten, in grundrechtlich geschützte Positionen einzugreifen. Ihre Funktion als Abwehrrechte entfalten im Privatrecht gerade die Berufs- sowie die Eigentumsfreiheit.23 Spricht also der Arbeitgeber eine Entlassung aus, weil er seinen Betrieb umstrukturieren will, so hat das Arbeitsgericht bei der Uberprüfung der Kündigung auf die Sozialwidrigkeit nach § 1 KSchG die Vorgaben des Art. 12 Abs. 1 GG zugunsten des Arbeitgebers unmittelbar zu beachten. Allerdings ist nicht das Rechtsgeschäft Kündigung an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen, sondern der im Wege der Auslegung aus § 1 KSchG zu gewinnende Rechtssatz über das Vorliegen eines betriebsbedingten Kündigungsgrundes. 24 Damit ist die Bedeutung der Grundrechte im Privatrecht freilich noch nicht erschöpft. Weitergehend muß der Staat zur Effektuierung von Grundrechten zugunsten einer der beiden Parteien gegebenenfalls sogar in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte privatautonome Gestaltung der arbeitsvertraglichen Beziehungen eingreifen: In der berühmten Handelsvertreterentscheidung25 sah das BVerfG in dem generellen Ausschluß einer Karenzentschädigung bei Wettbewerbsverboten für Handelsvertreter in den Fällen des § 90 a Abs. 2 S. 2 HGB a.F. einen Grundrechtsverstoß. Art. 12 Abs. 1 GG könne gebieten, so der Erste Senat, daß der Gesetzgeber im Zivilrecht Vorkehrungen zum Schutz der Berufsfreiheit gegen vertragliche Beschränkungen schafft, namentlich wenn es an einem Kräftegleichgewicht der Beteiligten fehle. Es geht also um die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte, die das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Sittenwidrigkeit von Bürgschaften und Schuldmitübernahmen naher Angehöriger26 sowie zuletzt zur Sittenwidrigkeit von vorehelichen Unterhaltsverzichtsverträgen 27 erneut be23

Siehe nur Stern Staatsrecht, Bd. III/l, 1988, 1567.

2< Vgl. auch Canaris AcP 1984, 201, 213. " BVerfGE 81, 242 = AP Nr. 65 zu Art. 12 GG. 26 BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36; dazu Hergenröder 27 BVerfGE 103, 89 = NJW 2001, 957

DZWiR 1994, 485.

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kräftigt hat. Grundrechte sind danach nicht nur Abwehrrechte, sondern sie enthalten auch Schutzgebote. Aus dieser Schutzgebotsfunktion ergibt sich für den Staat und damit auch den Richter die Pflicht, grundrechtlich geschützte Rechtspositionen vor Eingriffen zu bewahren. Der Staat hat schützend aktiv zu werden, wo Teilnehmer des Arbeitslebens offensichtlich außerstande sind, ihre Berufsfreiheit wahrzunehmen. Die verfassungsrechtliche Prüfung bewegt sich dabei zwischen dem Ubermaß- und dem Untermaßverbot: Einerseits darf der Schutz nicht übermäßig, also mehr als erforderlich und verhältnismäßig in die Grundrechte des anderen Privatrechtssubjekts eingreifen. Anderseits darf der Schutz nicht hinter dem verfassungsrechtlich gebotenen Minimum zurückbleiben. 28 Nachdem sich sowohl der Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmerseite auf grundrechtlich geschützte Positionen berufen können, ist die Grundrechtskollision der Arbeits Vertragsparteien unausweichlich. Nach der Rechtsprechung des BVerfG29 sind solche Kollisionen nach dem Prinzip des „schonendsten Ausgleichs" oder der „praktischen Konkordanz" auszugleichen. Keines der beiden betroffenen Grundrechte darf gänzlich zugunsten des anderen geopfert werden, sondern beiden ist ein effizienter Anwendungsbereich zu schaffen bzw. zu erhalten. Der Ausgleich der widerstrebenden Positionen im Einzelfall hängt von den jeweils in Frage stehenden Grundrechten sowie der Verletzungskonstellation ab: So ist nach der Rechtsprechung des BVerfG30 die richterliche Inhaltskontrolle einzelvertraglicher Klauseln, durch welche sich der Arbeitnehmer zur Rückzahlung von Weiterbildungskosten verpflichtet, verfassungsrechtlich geboten. § 242 BGB begründe die Befugnis zu einer richterlichen Inhaltskontrolle von Verträgen. Dabei hätten die Gerichte den konkurrierenden Grundrechtspositionen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgewogen Rechnung zu tragen. Auch nach Einführung der AGB-Kontrolle für Arbeitsverträge durch § 310 Abs. 4 BGB sind ausgehandelte Individualvereinbarungen einer solchen Inhaltskontrolle zu unterziehen, soweit die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte sie gebietet.31 4. Folgerungen für das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Damit ergibt sich folgendes Zwischenergebnis: Sofern man Rechtspositionen einer der beiden Arbeitsvertragsparteien in Art. 12 oder Art. 14 GG verorten kann, müssen sich staatliche Eingriffe in diese Rechtspositionen an Canaris Jus 1989, 161, 163; Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 38. BVerfGE 39, 1, 43. 5 0 BVerfG AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 31 Vgl. nur Thüsing NZA 2002, 594 f.; a.A. insoweit aber Gotthardt Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, 2002, Rn. 220; zum Ganzen auch Annuß BB 2002, 458; Berkowsky AuA 2001, 11; Däubler NZA 2001, 1329; Lingemann NZA 2002, 181. 28

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der Verfassung messen lassen. Ein staatliches Gesetz kann demgemäß ganz im Sinne der Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte verfassungswidrig sein, so etwa der schon genannte § 3 des Hessischen Bildungsurlaubsgesetzes. Der Rechtsprechung obliegt es, die Bestimmungen des einfachen Rechts verfassungskonform auszulegen, also die Grundrechtspositionen beider Seiten im Rahmen der Anwendung von Normen des einfachen Rechts zu berücksichtigen. Insoweit kann auf die Auslegung der „dringenden betrieblichen Erfordernisse" in § 1 KSchG verwiesen werden. Geht es um die Beurteilung der Beziehungen Privater zueinander oder zum Staat, kann sogar das Untätigbleiben des Gesetzgebers gegen die Verfassung verstoßen, so die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte ein Tätigwerden gebietet. Regelmäßig werden hier aber die Gerichte gefragt sein, um strukturelle Imparitäten zwischen den Arbeitsvertragsparteien abzugleichen. Die entsprechende Ubermachtstellung einer Partei kann die Sittenwidrigkeit einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung nach § 138 BGB zur Folge haben - hier mag die schon genannte Handelsvertreter-Entscheidung des BVerfG als Leitbild dienen - , bzw. sogar deren Unbilligkeit nach § 242 BGB nach sich ziehen, wie die Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle von Vereinbarungen über die Rückzahlung von Aus- und Weiterbildungskosten anschaulich beweist.32 Um es ganz deutlich zu sagen. Es ist Sache der Arbeitsgerichte, festzustellen, wo die Rechtsordnung nicht den verfassungsrechtlich gebotenen Mindestschutz zur Verfügung stellt, der notwendig ist, um die einseitige Durchsetzung von Interessen aufgrund einer überlegenen Stellung als Vertragspartner zu verhindern. 33 Das gilt grundsätzlich für beide Arbeitsvertragsparteien, geht aber häufig zu Lasten der Arbeitgeberseite, wie die Einzelanalyse noch zeigen wird. Freilich kann es hier nur um Extremfälle gehen, denn wo staatliches Handeln zum Schutz des Ausgleichs konkurrierender Interessen beider Arbeitsvertragsparteien geboten ist, folgt regelmäßig nicht aus den Grundrechten, sondern ist Sache der Entscheidungsprärogative des einfachen Gesetzgebers. 34 Klarzustellen ist abschließend aber noch folgendes: Ein Eingriff der Rechtsprechung in die verfassungsrechtlich garantierte Privatautonomie der Parteien ist verfassungswidrig, wenn er sich nicht durch die Schutzgebotsfunktion eines anderen Grundrechts rechtfertigen läßt.35

32 BAGE 13,168 = AP Nr. 25 zu Art. 12 GG; BAG AP Nr. 50 zu Art. 12 GG = EzA Art. 12 GG Nr. 11; AP Nr. 14 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe = EzA § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe Nr. 6. " Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 737. 34 Oeter AöR 119, 529, 538. 35 CarumsJus 1989, 161, 164.

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Im Folgenden ist nun der Frage nachzugehen, wie es um die entsprechenden Grundrechtspositionen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite im Einzelnen bestellt ist und wie sie gegeneinander abzuwägen sind.

III. Grundrechtspositionen der Arbeitgeberseite 1.

Berufsfreiheit

Eine spezifische Garantie der Unternehmerfreiheit kennt das Grundgesetz nicht,36 vielmehr ist Art. 12 Abs. 1 GG das Hauptgrundrecht der freien wirtschaftlichen Betätigung und die für das Arbeits- und Wirtschaftsleben maßgebliche Grundsatznorm. 37 Nach Art. 12 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Gem. S. 2 der Vorschrift kann die Berufsausübung durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden. Garantiert werden also die Freiheit der Berufsausübung sowie die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte. Die Rechtsprechung sieht in Art. 12 Abs. 1 GG ein einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit.38 Die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung hat den Schutz der Unternehmerfreiheit durch Art. 12 GG wiefolgt umschrieben:39 „Sofern es sich um Tätigkeiten handelt, die den dargelegten Voraussetzungen eines Berufs entsprechen, ist grundsätzlich auch die Unternehmerfreiheit im Sinne freier Gründung und Führung von Unternehmen durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt". Dabei muß klar gesagt werden, daß der Begriff der unternehmerischen Freiheit lediglich eine Ausübungsform des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG umschreibt; ein eigenständiger materieller Gehalt ist mit dieser Formulierung indes nicht verbunden.40 Die Unternehmerfreiheit umfaßt nicht nur Kleinbetriebe, sondern auch die Tätigkeit von Großunternehmen und Konzernen.41 Geschützt ist auch die negative Berufsfreiheit, also das Recht, einen Beruf aufzugeben oder von einer Erwerbstätigkeit abzusehen.42 Niemand darf auch gegen seinen Willen zur Übernahme des Unternehmerrisikos im Interesse anderer gezwungen 36 Däubler in Blank (Hrsg.), Reform der Betriebsverfassung und Unternehmerfreiheit, 2001, S. 13. 37 Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 500; Sachs/Tettinger Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 12 Rn. 178. 38 BVerfGE 7, 377, 400ff. = AP Nr. 13 zu Art. 12 GG. 39 BVerfGE 50, 290, 363 = AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG. 40 Däubler in Blank (Hrsg.), Reform der Betriebsverfassung und Unternehmerfreiheit, 2001, S. 13. 41 BVerfGE 50, 290, 363 = AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG. 42 BVerfGE 58, 358, 364; 80, 257, 263.

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werden. 43 Insbesondere billigt Art. 12 GG dem Unternehmer das Recht zu, darüber zu entscheiden, welche Größenordnung sein Gewerbebetrieb haben soll, ein Grundsatz, der für das Recht zur Kündigung von ausschlaggebender Bedeutung ist. 2.

Eigentum

a) Verhältnis zu Art. 12 GG Soweit nun die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG in Frage steht, so soll zunächst das Konkurrenzverhältnis zu Art. 12 GG beleuchtet werden. Nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung 44 lautet die Grundregel: „Art. 12 GG schützt den Erwerb, Art. 14 GG das Erworbene". Art. 12 Abs. 1 GG ist demgemäß in erster Linie persönlichkeitsbezogen, weil es das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Bereich der individuellen Leistung und Existenzerhaltung konkretisiert. Demgegenüber ist Art. 14 Abs. 1 GG vor allem objektbezogen. Durch die Gewährleistung des Eigentums soll der Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sichergestellt werden, anerkannt wird insbesondere der durch eigene Arbeit und Leistung erworbene Bestand an Vermögenswerten. 45 Es ist also in Bezug auf die Abgrenzung beider Grundrechtspositionen zu klären, ob eine bestimmte Regelung zukunftsgerichtet ist, oder ob sie „objektbezogen" in den erworbenen Bestand an Vermögensgütern eingreift. 46 Wird durch einen Eingriff in die Berufsfreiheit gleichzeitig in die Vermögenssphäre eingegriffen, so ist Art. 14 GG neben Art. 12 GG zu prüfen. Es müssen jedoch unterschiedliche Schutzbereiche tangiert sein, damit Art. 14 GG eigenständige Bedeutung zukommt. So wird eine zulässige Berufsausübungsregelung grundsätzlich auch eine zulässige Eigentumsbeschränkung sein. 47 Vor diesem Hintergrund kommt Art. 14 GG nur ein eingeschränkter Anwendungsbereich zu, jedenfalls wenn man der Verfassungsrechtsprechung folgt. 48 Selbst wenn man die unternehmerische Freiheit ganz oder überwiegend auf Art. 14 GG stützen wollte, braucht dies hier nicht näher hinterfragt zu werden. Es sei nur darauf hingewiesen, daß der Arbeitgeber gar nicht

43 Henssler in Blank (Hrsg.), Reform der Betriebsverfassung und Unternehmerfreiheit, 2001, S. 33, 34. 44 BVerfGE 84, 133, 157 = AP Nr. 70 zu Art. 12 GG. 45 Gubelt in von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 12 Rn. 98. 46 Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 518; Gubelt in von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 12 Rn. 98. 47 Siehe nur BVerfGE 50, 290, 364 = AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG; Gubelt in von Münch/ Kunig, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 12 Rn. 98. 48 Dazu aber kritisch Beuthien ZfA 1988, 1, 2.

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Eigentümer der Produktionsmittel sein muß. Er kann Mieter oder Pächter sein, das Eigentum kann bei der kreditierenden Bank liegen und - provokatorisch gefragt - wer ist schließlich bei der Aktiengesellschaft Arbeitgeber und wer Eigentümer? Art. 14 Abs. 1 GG wird vom BVerfG insbesondere auch nicht als Prüfungsmaßstab hinsichtlich gesetzlicher Einschränkungen von Arbeitgeberbefugnissen herangezogen. Hinweisen ist insoweit auf einen Beschluß aus dem Jahre 198549: Ein Kaufhausunternehmen wandte sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung eines Arbeitsgerichts, mit der dieses einen Einigungsstellenspruch über die Arbeitszeit des Verkaufspersonals bestätigt hatte. In der Entscheidung des BVerfG findet sich der ausdrückliche Hinweis, der angegriffene Beschluß des Arbeitsgerichts betreffe nicht das Eigentum am Kaufhaus, sondern alleine die unternehmerische Betätigung zu einer bestimmten Zeit, nämlich die Arbeitsleistung von Arbeitnehmern zu einem bestimmten Zeitpunkt verlangen zu können. Und nun folgt ein wichtiger Satz: Das Recht, die Arbeitszeit bestimmen zu können, folge alleine aus dem Arbeitsvertrag und nicht aus dem Eigentum. Noch bedeutsamer dürfte die Feststellung sein, daß aus Art. 14 Abs. 1 GG kein übergreifender Schutz ökonomisch sinnvoller und rentabler Eigentumsnutzung und hierfür maßgeblicher unternehmerischer Dispositionsbefugnisse folgt. 50 Dem kann man zustimmen, wenn man bedenkt, daß der Arbeitgeber gegenüber einem Arbeitnehmer, der Weisungen in Bezug auf die Produktionsmittel nicht befolgt, keine Ansprüche aus §§ 985,1004 BGB, sondern alleine Sanktionen des Vertragsrechts geltend machen kann. b) Verbleibender Anwendungsbereich des Art. 14 GG Will man dem folgen, stellt sich naturgemäß die Frage nach dem verbleibenden Anwendungsbereich der grundrechtlichen Eigentumsgarantie. An staatliche Eingriffe muß man jederzeit denken. 51 So wird man gesetzliche Regelungen, welche den Einsatz der Produktionsmittel einschränken, an Art. 14 GG zu messen haben; zu denken ist hier etwa an Verbote, zu bestimmter Zeit eine unternehmerische Tätigkeit auszuüben - also etwa ein Nachtbackverbot. Der Spielraum des Gesetzgebers ist dabei umso weiter, je stärker die Eigentumsposition durch deren soziale Funktion geprägt ist. Im Ergebnis läuft alles auf die Abwägung zwischen der Anerkennung des Privateigentums als Institut auf der einen Seite sowie der Gemeinwohlbindung auf der anderen Seite hinaus. Auch im Arbeitskampfrecht kann Art. 14 GG an Bedeutung gewinnen, um die koalitionsgemäße Betätigung der Arbeit49 50 51

BVerfG AP Nr. 15 zu 87 BetrVG Arbeitszeit. BVerfGE 77, 84, 118. Siehe nur Söllner NZA 1992, 721, 731.

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nehmerseite im Wege der praktischen Konkordanz zu begrenzen. So kann die gezielte Sachbeschädigung kein zulässiges Arbeitskampfmittel sein.52 Im Verhältnis zur Arbeitnehmerseite ist aber von diesen Ausnahmen abgesehen alleine auf Art. 12 GG zu rekurrieren.

IV. Grundrechtspositionen der Arbeitnehmerseite 1.

Berufsfreiheit

Im Folgenden sind nun die Grundrechtspositionen der Arbeitnehmerseite zu beleuchten und an erster Stelle wiederum Art. 12 GG. Zwar hatte das BVerfG schon im Apothekenurteil von 1958 festgestellt, daß Art. 12 Abs. 1 GG nicht nur die selbständige, sondern auch die unselbständige Arbeit schützt.53 Erst viel später, nämlich beginnend mit der Mitbestimmungsentscheidung aus dem Jahre 1979 wurde vom Gericht betont, daß die Arbeitnehmer sich auf das Grundrecht der Berufsfreiheit stützen können. 54 Später wurde dann judiziert, Art. 12 Abs. 1 GG gebiete nicht, Berufsausübungsregelungen so zu gestalten und auszulegen, daß die unternehmerische Entscheidungsfreiheit unberührt bleibe. Vielmehr könne durch die Einschaltung einer Einigungsstelle eine „Konkordanz" zwischen der Berufsfreiheit des Arbeitgebers und der bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer hergestellt werden.55 Damit liegt der Abwägungsprozeß zwischen den konkurrierenden Grundrechtspositionen offen zutage. Sicherlich wird man aus Art. 12 Abs. 1 GG eine staatliche Schutzpflicht zugunsten der Arbeitnehmerseite ableiten müssen. Fraglich ist allerdings, wie weit diese reicht: An dieser Stelle soll nur die Frage gestellt werden, ob der Staat aus Art. 12 Abs. 1 GG verpflichtet sein kann, einen Beruf entgegen internationalen Marktzwängen aufrecht zu erhalten.56 Kann also das Grundrecht auf Berufsfreiheit insoweit staatliche Lenkungsmaßnahmen gebieten?

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Löwisch/Rieble Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2. Aufl. 1997, 170.2, Rn. 324; Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 621. 53 BVerfGE 7, 377, 397 = AP Nr. 13 zu A n . 12 GG. 5" BVerfGE 50, 290, 349 = AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG. 55 BVerfG AP Nr. 15 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit; siehe auch BVerfGE 99, 367, 392. 56 Däubler in Blank (Hrsg.), Reform der Betriebsverfassung und Unternehmerfreiheit, 2001, S. 13, 16.

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C u r t Wolfgang H e r g e n r ö d e r

2.

Eigentum

a) Erdiente Lohn- und Versorgungsansprüche Neben Art. 12 GG soll abschließend auch noch Art. 14 GG in Bezug auf die Arbeitnehmerseite beleuchtet werden. Auch hinsichtlich der Arbeitnehmerschaft ist festzuhalten, daß die Konkretisierung des Inhalts und der Schutz des Eigentums zunächst die Aufgabe des allgemeinen Zivilrechts ist. Für die Existenzsicherung besonders wichtige Eigentumspositionen - insbesondere Lohn- und Versorgungsansprüche - sind allerdings im Arbeitsrecht verankert. Art. 14 GG hat also genau diejenige Bedeutung, die seiner eingangs skizzierten Funktion als Schutzgrundrecht des bereits Erworbenen entspricht. Neben den Ansprüchen auf Entgeltzahlung sind durch Art. 14 GG auch unverfallbare Versorgungsanwartschaften geschützt.57 Für den erdienten Teil verfallbarer Anwartschaften kann nichts anderes gelten.58 Darüber reden wird man auch können, ob künftig anwachsende Anspruchsteile bei entsprechender Rechtsgrundlage geschützt sind.59 Spezifisch arbeitsrechtliche Fragen in Bezug auf diese geschützten Rechtspositionen, bei denen Art. 12 GG keine Rolle spielt, sind nur schwer denkbar. Entstandene Ansprüche der Arbeitnehmer lassen sich einseitig ohnedies nicht beseitigen. Vorstellen kann man sich, daß ein Vertrag zwischen den Arbeitsvertragsparteien über den Verzicht bzw. das Erlöschen bereits entstandener individualrechtlicher Ansprüche aufgrund der Schutzgebotsfunktion der Art. 12 und 14 GG bei einer entsprechenden Fallkonstellation als unbillig anzusehen ist und an der Inhaltskontrolle scheitert. Im Hinblick auf entstandene Rechte aus einer Kollektivvereinbarung sei hier nur auf § 4 Abs. 4 S. 1 TVG sowie § 77 Abs. 4 S. 2 BetrVG verwiesen, die solche Vereinbarungen für den Regelfall ohnehin unmöglich machen. Außerhalb des Eigentumsschutzes stehen zukünftige Perioden aus dem Dauerschuldverhältnis, die erst nach ungenutztem Verstreichenlassen späterer Kündigungstermine „in Kraft treten". Diese in ihrer Entstehung noch ungesicherten Forderungen sind bloße Hoffnungen und Chancen. b) Eigentum am Arbeitsplatz ? Viel interessanter scheint ein Blick auf die Frage, ob der einzelne Arbeitnehmer eine eigentumsähnliche Rechtsposition am Arbeitsplatz hat - deutlich formuliert: ein Recht auf Eigentum am Arbeitsplatz. Auch hier muß 57 BAG AP Nr. 185 zu § 242 BGB Ruhegehalt = AR-Blattei ES 460 Nr. 51; AP Nr. 7 zu § 1 BetrAVG Wartezeit. 58 BAG AP Nr. 1 zu § 3 RuhegeldG Hamburg = AR-Blattei ES 460.5 Nr. 2; Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 629. 59 Däubler ArbuR 1984, 1, 7ff.; Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 630.

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zunächst betont werden, daß das BVerfG im „Warteschleifen-Urteil"60 die Frage des Erhalts der Arbeitsplätze unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 GG gewürdigt hat. Immerhin könnte man aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Mietrecht, wo ja die Formel vom „Mieter-Eigentümer" geprägt wurde, entsprechende Schlüsse auch für das Arbeitsrecht ziehen.61 Insoweit wird ins Feld geführt, daß sich die Zuordnung zum Schutzbereich des Art. 14 GG aus der Bedeutung ableiten lasse, welche der Arbeitsplatz für den einzelnen habe - also parallel zum entsprechenden Stellenwert der Wohnung. Dem „Mieter-Eigentümer" entspräche also der „Arbeitnehmer-Eigentümer"! Auch wenn das BAG die Frage zuletzt offengelassen hat, 62 so kommt eine solche eigentumsähnliche Arbeitnehmerposition nicht in Betracht. Dies ergibt sich aus der Systematik des Eigentumsschutzes im Dauerschuldverhältnis in Verbindung mit der Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des Arbeitsplatzes. Künftige Ansprüche genießen keinen Eigentumsschutz, die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes schützt nicht den einmal gewählten Arbeitsplatz. 63 Im Übrigen hätte die Gegenansicht tief greifende Wirkungen auf den Grundrechtsschutz des Arbeitgebers, weil es die eigentumsrechtlich begründete Verlängerung des Arbeitsverhältnisses bedeuten könnte. 64 Insoweit ist auch zu berücksichtigen, daß der Arbeitgeber über das „originäre" Eigentum an den Produktionsanlagen verfügt, so daß eine äquivalente Grundrechtsposition der Arbeitnehmerseite allenfalls derivativen Charakter hätte. Nur hingewiesen sei auf die Konsequenzen eines entsprechenden Rechts auf Arbeitnehmerseite in praktischer Hinsicht: So würde man über die bloße Evidenz- und Mißbrauchskontrolle bei der betriebsbedingten Kündigung reden müssen, und die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses ohne Kündigungsgrund, wie sie das Teilzeitbefristungsgesetz zuläßt, müßte einer Grundrechtsabwägung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer weichen. c) Abfindungen Abschließend sei bemerkt, daß Art. 14 GG insbesondere auch keine generelle Verpflichtung enthält, für den Verlust des Arbeitsplatzes eine Abfindung zu bezahlen. 65 Soweit freilich der Anspruch aus §§ 9,10 KSchG einmal 60

BVerfGE 84, 133 = AP Nr. 70 zu Art. 12 GG. Zum Ganzen eingehend Schmidt-Preuß AG 1996, 1, 3 ff. 62 BAGE 89, 80 = AP Nr. 7 zu § 823 BGB zur Frage eines Rechts am Arbeitsplatz als absolutes Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB. 63 BVerfGE 84, 133, 146 = AP Nr. 70 zu Art. 12 GG. 64 Schmidt-Preuß AG 1996, 1, 4. 65 Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 632. 61

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entstanden ist, genießt er den Schutz des Grundrechts auf Eigentum. Da dieser Anspruch eine unberechtigte Kündigung voraussetzt, kann er als Wertersatz für den Arbeitsplatz angesehen werden. Insoweit war es in der Tat verfassungsrechtlich problematisch, wenn § 140 SGB III a.F. seine Anrechnung auf das Arbeitslosengeld vorsah. 66

V. Der Ausgleich der Grundrechtskollision im Einzelfall 1. Schranken des Grundrechtseingriffs aus Art. 12 Abs. 1 GG a) Einschränkungen der Arbeitgeberseite Traditionell darf die Freiheit der Berufswahl vom Gesetzgeber nur eingeschränkt werden, soweit der Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter dies zwingend erfordert. Demgegenüber kann die Freiheit der Berufsausübung bereits beschränkt werden, wenn vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es als zweckmäßig erscheinen lassen. Während also bei Berufsausübungsregelungen sich der Grundrechtsschutz auf die Vermeidung übermäßig belastender und nicht zumutbarer Auflagen beschränkt, gelten bei der Beschränkung der freien Berufswahl strengere Maßstäbe. Zwischenzeitlich sieht man die Einschränkungsmöglichkeiten der Berufsfreiheit freilich in Form einer „Rampe": Je größer der Eingriff, desto zwingender muß die Notwendigkeit des Eingriffs sein. Anders formuliert: je stärker die rechtlichen und faktischen Wirkungen eines Eingriffs in das Grundrecht, desto gewichtiger müssen die damit verfolgten Zwecke des Gesetzgebers sein.67 Betrachtet man die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung, so stand die Abwehrfunktion des Grundrechts deutlich im Vordergrund: Dabei hat das Gericht äußerst gravierende Einschränkungen der Berufsfreiheit zu Lasten der Arbeitgeberseite zugelassen, die im Ergebnis zur Einstellung des Unternehmens führten: So nahm das Gericht eine bloße Berufsausübungsregelung, die auf vernünftige Erwägungen des Gemeinwohl gestützt werden kann, auch dann an, obschon in Folge einer staatlichen Verpflichtung - im konkreten Fall zur Mineralölbevorratung - einzelne Unternehmer aus wirtschaftlichen Gründen zur Aufgabe ihres Berufs gezwungen waren; erst wenn dies zum Regelfall würde, wäre die Freiheit der Berufswahl betroffen und die Schwelle für den Eingriff im Sinne von gravierenden Gemeinschaftsinteressen hochzusetzen. 68

66 67 68

Gagel/Kreitner ArbRGW 35 (1998), 33 ff. ErfKomm/Dieterich 3. Aufl. 2003, GG, Art. 12 Rn. 27 BVerfGE 30, 292, 314 = AP Nr. 48 zu Art. 12 GG.

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Soweit das BVerfG Beschränkungen der Unternehmerfreiheit durch arbeitsrechtliche Normen zu beurteilen hatte, war es recht großzügig: So wurde die gesetzliche Beschränkung der Ladenöffnungszeiten gebilligt, 69 die Pflichtquote von Schwerbehinderten sowie die Ausgleichsabgabe 70 nicht beanstandet und auch die dann später nicht Gesetz gewordene Ausbildungsplatzabgabe für nicht ausbildende Betriebe fand seine Zustimmung. 71 Verfassungsimmanente Schranken der Unternehmerfreiheit ergeben sich aus ihrem sozialen Bezug: So lassen sich die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmerseite sicherlich dadurch rechtfertigen, daß das Unternehmertum nur durch die Hilfe anderer, nämlich der Arbeitnehmer, realisiert werden kann, die ebenfalls durch Art. 12 G G geschützt sind. 72 Man wird aber auch fordern müssen, daß der Wesensgehalt des Grundrechts insoweit nicht angetastet werden darf, wobei hier dahinstehen kann, wie dieser zu definieren ist, da jeweils auf die betroffene arbeitsrechtliche Materie abgestellt werden muß.

b) Einschränkungen der Arbeitnehmerseite Während die Schrankenproblematik bei der Arbeitgeberseite offen zutage liegt, liegt die Eingriffsdimension bei der anderen Vertragspartei des Arbeitslebens nicht so klar zutage. Immerhin wird man festhalten können, daß staatliche Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit der Arbeitnehmerseite denselben Voraussetzungen unterliegen müssen wie im Verhältnis zu selbständiger Erwerbstätigkeit. Brisanz gewinnt diese Feststellung vor dem Hintergrund, daß die „freie Wahl des Arbeitsplatzes" auch das Recht umfaßt, diesen „beizubehalten oder aufzugeben" 73 .

2. Die Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechtspositionen der Arbeitsvertragsparteien Damit gerät die Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechtspositionen im Einzelfall in den Vordergrund des Interesses. Prämisse ist, daß jede Arbeitsvertragspartei im Betrieb ihr Grundrecht auf Berufsfreiheit realisieren möchte. Sache des Gesetzgebers ist es, die konkurrierenden Grundrechtspositionen zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Deutlich gesagt werden muß dabei, daß das eine Recht nur auf Kosten des jeweils

BVerfGE 13, 237, 240 = AP Nr. 4 zu § LSchlG. BVerfGE 57, 139, 159 = AP Nr. 1 zu § 4 SchwbG. 71 BVerfGE 55, 274. 72 Henssler in Blank (Hrsg.), Reform der Betriebsverfassung und Unternehmerfreiheit, 2001, S. 33, 35. 73 BVerfGE 84, 133, 146 = AP Nr. 70 zu Art. 12 GG. 70

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anderen geschützt und gefördert werden kann.74 Im Folgenden sollen die Grundlagen der Privatautonomie in Bezug auf das Individualarbeitsverhältnis exemplarisch beleuchtet werden: die Abschlußfreiheit, die Inhaltsfreiheit und die Freiheit, sich von einem Vertrag wieder zu lösen, also die Kündigungsfreiheit. a) Abschlußfreiheit Im Arbeitsrecht findet sich eine Vielzahl von Bestimmungen, die den Freiraum des Arbeitgebers, einen Arbeitnehmer einzustellen, mehr oder minder beschränken. 75 Erinnert sei hier nur an die §§ 92ff. BetrVG. Abschlußverbote gibt es in Bezug auf beide Arbeitsvertragsparteien,76 auf der anderen Seite treffen den Arbeitgeber sogar Übernahmepflichten, siehe nur § 78 a BetrVG, § 10 AÜG und natürlich § 613 a BGB. All diese Normen greifen in die Berufsfreiheit des Arbeitgebers ein und müssen damit dem Ubermaßverbot standhalten. Gleichwohl bezweifelt man kaum ernstlich die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschriften; der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist insoweit sehr weit.77 Problematisch sind in diesem Zusammenhang echte individualrechtliche Kontrahierungszwänge, deren Verfassungsmäßigkeit umstritten ist. Für manche Autoren sind sie generell verfassungswidrig.78 Andere halten sie als Sanktion bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und 3 für geboten,79 wollen sie zur Sicherung verfassungsrechtlicher Grundsatzentscheidungen (z.B. Art. 3 Abs. 2, 3; Art. 5 Abs. 1; Art. 9 Abs. 3) im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zulassen80 oder erkennen überhaupt nur sachbezogene Gründe bei der Einstellungsentscheidung an.81 Für die Möglichkeit von Kontrahierungszwängen spricht, daß der Gesetzgeber das Untermaßverbot zu Lasten diskriminierter Bewerber oder Bewerberinnen verletzen würde, wenn er keinen Abschlußzwang vorsehen und auch ansonsten keine anderen wirkungsvollen Sanktionen (insb. Schadensersatzansprüche) schaffen würde. Die Rechtsprechung muß die ihr gebotenen

74 Däubler in Blank (Hrsg.), Reform der Betriebsverfassung und Unternehmerfreiheit, 2001, S. 13, 17. 75 Siehe auch Stern AR-Blattei SD 830 Rn. 539 ff. 76 Vgl. ζ. B. § 25 JArbSchG, §§ 20, 22 BBiG in Bezug auf den Arbeitgeber, § 65 BBG, § 20 SoldatenG hinsichtlich der Arbeitnehmerseite; zum Ganzen eingehend Schaub Arbeitsrechtshandbuch, 10. Aufl. 2002, § 32 IV. 77 ErfKomm/Dietench, 3. Aufl. 2003, GG, Art. 12 Rn. 29f. 78 Büchner in MünchHbArbR, Bd. 1, 2. Aufl. 2000, § 36 Rn. 43; so wohl auch Hillgruber ZRP 95, 6, 9. 79 Hanau in Festschrift Kahn-Freund, 1980, S. 457, 470. 80 Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 540. 81 Gamillscheg in Festschrift Weber, 1974, S. 793, 802.

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Instrumente nutzen. 82 Somit ist zwar ein genereller Abschlußzwang (auch aus der Sicht des Arbeitnehmers) verfassungswidrig, ein Abschlußzwang für schutzbedürftige Arbeitnehmer unter gewissen Voraussetzungen jedoch wohl als zulässig zu erachten.83 Der Arbeitsuchende muß wirksam vor Benachteiligungen geschützt werden. Eine Verletzung der Grundrechtsposition des Arbeitgebers aus Art. 12 GG liegt insoweit nicht vor. b) Inhaltskontrolle aa) Aus- und Weiterbildungskosten Unter dem Gesichtspunkt der praktischen Bedeutung viel wichtiger ist die Frage, inwieweit arbeitsvertragliche Vereinbarungen auf ihre inhaltliche Angemessenheit überprüft werden können. Denn jeder Eingriff in die Vertragsfreiheit einer Seite ist ein Grundrechtseingriff, um es nochmals zu sagen. Hintergrund dieser Angemessenheitskontrolle ist die vom Bundesverfassungsgericht postulierte „strukturelle Unterlegenheit" einer Vertragspartei, die durch das Recht kompensiert werden müsse. Dabei hat sich verbreitet die Meinung durchgesetzt, im Verhältnis Arbeitgeber - Arbeitnehmer liege generell ein solches strukturelles Ungleichgewicht vor, welches die Inhaltskontrolle nach § 242 BGB jedenfalls bei vorformulierten Vertragsbedingungen erfordere. Nach der Rechtsprechung trägt im Übrigen der Arbeitgeber die Beweislast dafür, daß es sich um eine nicht paritätsgestörte Individualabrede handelt. In der eingangs angesprochenen Entscheidung des BAG zur Selbstbeteiligung eines Arbeitnehmers an Ausbildungskosten heißt es insoweit unmißverständlich:84 „Wird der Arbeitnehmer durch einzelvertragliche Verpflichtung an den Kosten einer Aus- oder Weiterbildung beteiligt, liegt eine gestörte Vertragsparität auf Grund struktureller Unterlegenheit des Arbeitnehmers nahe." Mit anderen Worten, das Vorliegen einer bestimmten individualvertraglichen Abrede reicht für sich besehen aus, um eine Vermutung dafür zu begründen, daß die Rechtsprechung einschreiten muß, um das durch Art. 12 GG geschützte Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes, aber auch auf Aufgabe eines Arbeitsplatzes für den Arbeitnehmer durchzusetzen. Instruktiv ist insoweit ein Blick auf den insoweit erforderlichen Abwägungsprozeß zwischen den Grundrechtspositionen beider Seiten, wobei das eingangs angeführte Urteil des 5. Senates in den Gesamtkontext arbeitsvertraglicher Klauseln über die Rückzahlung von Ausbildungskosten gestellt werden kann. In der Sache geht es bei diesen zwar um die Frage der Kündigungserschwerung, 82

BVerfGE 89, 276 = AP Nr. 9 zu § 611a BGB; Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 541. Papier RdA 2000, 1, 4. 84 BAG AP Nr. 31 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe = EzA § 611 BGB Inhaltskontrolle Nr. 9; jeweils unter I 2 b der Gründe. 83

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während die Beteiligung an Ausbildungskosten eher die Freiheit betrifft, einen Arbeitsplatz zu wählen. Praktisch handelt es sich aber um dasselbe. Die Interessenabwägung zwischen den Parteien läßt sich vereinfacht auf die Frage reduzieren, ob der Arbeitnehmer durch die Ausbildung einen adäquaten geldwerten Vorteil erlangt. Je größer dieser Vorteil ist, desto eher darf durch Rückzahlungsklauseln eine Bindung an den Arbeitsplatz hergestellt werden. Der Vorteil wiederum kann in einer qualifizierten Ausbildung und damit verbesserten Arbeitsplatzchancen außerhalb des Betriebes des Arbeitgebers oder verbesserten Aufstiegsmöglichkeiten liegen. Zwischen dem Vorteil des Arbeitnehmers und der eingegangenen vertraglichen Bindung muß die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. In der genannten Entscheidung des 5. Senats wog der Vorteil für den Flugzeugführer durch den Erwerb der Musterberechtigung für die Fokker 50 so schwer, daß das BAG eine Beteiligung von 1/3 an den Ausbildungskosten nicht beanstandete. bb) Verfallklauseln in Versorgungszusagen In Bezug auf Ruhegelder wiederum hat das BVerfG ausdrücklich festgestellt, daß Art. 12 Abs. 1 GG Arbeitnehmer vor dem Verfall von betrieblichen Versorgungsanwartschaften schütze, soweit dadurch die freie Wahl eines anderen Arbeitsplatzes unangemessen eingeschränkt werde. 85 Der völlige oder partielle Wegfall einer Versorgungsanwartschaft wirke sich auf die durch Art. 12 GG garantierte Freiheit der Arbeitsplatzwahl aus. Der Umfang der Sicherung erdienter Versorgungsanwartschaften beeinflusse die Entscheidung des Arbeitnehmers, einen anderen Arbeitsplatz zu wählen. Ihr Verfall behindere diese Wahl - das ist sicherlich richtig. Zwar kann der Arbeitnehmer jederzeit einen anderen Arbeitsplatz einnehmen; sofern dies freilich wegen des Verfalls der Versorgungsanwartschaft mit einer existentiellen Verschlechterung einhergeht, wird dies dem Arbeitnehmer idealtypisch kaum möglich sein. Damit ist man wieder bei der Interessenabwägung. Die dem Arbeitnehmer auferlegte Bindung muß zu den Interessen des Arbeitgebers in einem angemessenen Verhältnis stehen. Das natürliche Interesse des Arbeitgebers an der Betriebstreue des Arbeitnehmers ist zwar zu berücksichtigen; indes ist das Abstellen auf die Betriebstreue hier zweischneidig, denn je mehr Betriebstreue ein Arbeitnehmer zeigt, desto stärker wird er durch die Höhe der Anwartschaft in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG betroffen. Regelmäßig dürften daher Eingriffe in erdiente Anwartschaften auch unter Berücksichtigung des Grundrechts der Arbeitgeber aus Art. 12 Abs. 1 GG kaum zu rechtfertigen sein; so im Ergebnis auch das BVerfG im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Prüfung von § 18 BetrAVG. 85

BVerfGE 98, 365 = AP Nr. 26 zu § 18 BetrAVG.

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cc) Nachvertragliche Wettbewerbsverbote Ahnlich verhält es sich bei den Wettbewerbsverboten. Die arbeitsvertragliche Treuepflicht endet mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Ab diesem Zeitpunkt kann der Arbeitnehmer seine Fähigkeiten und Kenntnisse wieder frei verwerten. Damit kann das Bedürfnis entstehen, ihm seine Tätigkeit für eine bestimmte Zeit zu untersagen. Bei der Beurteilung von Verträgen, in denen sich ein Vertragspartner dazu verpflichtet, seinen Beruf auf Zeit oder sogar auf Dauer aufzugeben, muß aber hinreichend beachtet werden, daß Art. 12 GG die Freiheit des Berufes gewährleistet. Ein zeitliches oder gar lebenslanges Berufsverbot greift tief in das Grundrecht der Berufswahl und darüber hinaus in die private und berufliche Existenz des betroffenen Arbeitnehmers ein. Der Lebensplan der betroffenen Person wird zunichte gemacht. Er wird auf Dauer von dem Beruf ausgeschlossen, für den er sich hat ausbilden lassen und den er für sich und seine Angehörigen zur Grundlage der Lebensführung gemacht hat. 86 Je weitreichender das Wettbewerbsverbot, desto gravierender müssen also die durch Art. 12 GG geschützten unternehmerischen Interessen des Arbeitgebers sein, um ein solches zu rechtfertigen. Örtliche, zeitliche und gegenständliche Beschränkungen der Berufsfreiheit dürfen also arbeitsvertraglich nur vereinbart werden, soweit besondere Umstände vorliegen, die ein anerkennenswertes Bedürfnis begründen, den Vertragspartner vor illoyaler Verwertung des Erfolges seiner Arbeit zu schützen. In den §§ 74 ff. HGB finden sich für Handlungsgehilfen entsprechende Regelungen,87 sie werden auf andere Arbeitnehmer entsprechend angewandt. Die gesetzlichen Bestimmungen geben die Richtung vor: Es muß grundsätzlich eine Karenzentschädigung bezahlt werden und der Umfang des Wettbewerbsverbotes darf nur soweit gezogen sein, wie es dem Schutz der berechtigten geschäftlichen Interessen des Arbeitgebers dient. Das Fortkommen des Arbeitnehmers darf überdies nicht unbillig erschwert werden. Eine zeitliche Obergrenze von zwei Jahren normiert § 74 a Abs. 1 S. 3 HGB. Immerhin sind die Interessen, die der Arbeitgeber ins Felde führen kann, gewichtig: Neben der Aufrechterhaltung des Wettbewerbs ist auch an den Schutz kleinerer und mittlerer Unternehmen vor Abwerbungen durch Großunternehmen zu denken; weiter daran, daß der Verlust eines qualifizierten Arbeitnehmers einen Verlust von eigenem Know-how und damit auch eine Arbeitsplatzgefährdung zur Folge haben kann. Bei diesen Problemkomplexen sei es belassen. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Anwendungsfälle der Inhaltskontrolle, genannt seien hier nur noch

st BGH AP Nr. 57 zu Art. 12 GG, Bl. 551. 87

Vgl. näher Hergenröder AR-Blattei SD 880.2 Rn. 25ff.

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Abreden über bzw. Verbote von Nebentätigkeiten 88 sowie Vereinbarungen über die Überbürdung von Haftungsrisiken. 89 Im Kern ist die Problematik freilich immer dieselbe! Die Zulässigkeit entsprechender Vereinbarungen läuft auf eine Grundrechtsabwägung am Maßstab des Art. 12 GG hinaus! c) Kündigungsschutz aa) Rollenverteilung zwischen Gesetzgeber und Richter Zweck des Kündigungsschutzes ist es, einen gerechten Ausgleich zwischen den Arbeitsvertragsparteien zu schaffen, soweit es um die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber geht.90 Es stehen sich das Interesse des Arbeitgebers an der Erhaltung seiner unternehmerischen Dispositionsfreiheit91 und das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes gegenüber.92 Diese Interessen werden durch die Grundrechte vor staatlichen Eingriffen geschützt. Für bestimmte besonders schutzbedürftige Arbeitnehmergruppen hat das BVerfG dabei einen Sonderkündigungsschutz eingefordert. 93 Auf der anderen Seite gewährleisten Art. 12, aber auch Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 14 GG die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers, ein Arbeitsverhältnis zu kündigen; er darf also nicht unbegrenzt an ein einmal begründetes Dauerschuldverhältnis gebunden werden. Art. 12 GG schützt aber auf der anderen Seite auch den Arbeitnehmer vor willkürlichem Verlust seines Arbeitsplatzes. 94 Allerdings vermag Art. 12 GG den Arbeitnehmer nicht grundsätzlich davor zu bewahren, daß dieser seinen Arbeitsplatz verliert. Auch beinhaltet die Berufsfreiheit nicht die Garantie eines Arbeitsplatzes freier Wahl.95 Jedoch erwächst aus Art. 12 GG eine Schutzposition, die der Staat durch geeignete gesetzgeberische Maßnahmen zu verteidigen hat. Das BVerfG hat dazu festgestellt, daß der gesetzliche Kündigungsschutz den genannten Vorgaben des Art. 12 GG mit einem differenzierten und komplizierten Regelwerk entsprochen hat, das zwar insgesamt in seiner konkreten Ausgestaltung nicht verfassungsrechtlich geboten ist, aber weder das Ubermaßverbot

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BAG AP Nr. 3 zu § 611 BGB Doppelarbeitsverhältnis; dazu ferner Wank AR-Blattei SD 1230 Rn. 18 ff. 89 BAGE 70, 337, 345; 78, 56, 65f. = AP Nr. 101; 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 90 Siehe zum Folgenden auch schon Hergenröder ZfA 2002, 355, 373 ff. 91 Siehe Boemke NZA 1993, 532, 537 92 Preis Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen, 1987, S. 204. 93 BVerfGE 84, 133, 155 = AP Nr. 70 zu Art. 12 GG.; dazu Hergenröder ZfA 2002, 355, 363 f. 94 Preis NZA 1995, 241, 242. 9 * BVerfGE 84, 133, 146 = AP Nr. 70 zu Art. 12 GG; 85, 360, 373; 92, 140; 97, 169, 175.

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verletzt - also zu sehr in die Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers eingreift als auch das Untermaßverbot nicht respektiert - nämlich den für den Arbeitnehmer notwendigen Kündigungsschutz enthält.96 Voraussetzung sei allerdings, daß die Generalklauseln des Kündigungsschutzrechts verfassungskonform ausgelegt würden, also die Grundrechtspositionen beider Vertragsparteien angemessen Berücksichtigung fänden. Nachdem der Gesetzgeber hier das Seine getan hat, obliegt es der Rechtsprechung, für den Grundrechtsausgleich im Einzelfall zu sorgen. bb) Betriebsbedingte Kündigung Art. 12 GG billigt dem Arbeitgeber das Recht zu, frei darüber entscheiden zu dürfen, mit welcher Personalstärke er sein unternehmerisches Ziel verfolgt. Deshalb überprüft die Rechtsprechung die Unternehmerentscheidung, die zum Wegfall von Arbeitsplätzen führt, als solche nicht auf ihre Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit. Es erfolgt lediglich eine Mißbrauchskontrolle im Hinblick darauf, ob die Unternehmerentscheidung offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist.97 Der vollen gerichtlichen Uberprüfung unterliegt nur, ob die vom Arbeitgeber geltend gemachten betrieblichen und außerbetrieblichen Faktoren tatsächlich vorliegen und sich im betrieblichen Bereich dahingehend auswirken, daß für die Weiterbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers in Zukunft kein Bedarf mehr besteht. Liegen dringende betriebliche Erfordernisse vor, kommt es zu keiner Interessenabwägung mehr. Allerdings hat das BAG98 die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers insbesondere für solche Fälle erhöht, in denen die Unternehmerentscheidung mit der Kündigung de facto gleichzusetzen ist. Der Arbeitgeber darf sich im Kündigungsschutzprozeß nicht auf schlagwortartige Umschreibungen beschränken. Vielmehr muß er konkrete Angaben dazu machen, wie sich die Verringerung der Produktion auf die Arbeitsmenge auswirkt und in welchem Umfang dadurch ein konkreter Arbeitskräfteüberhang entsteht. Er muß ausführen, welche organisatorischen und technischen Maßnahmen angeordnet worden sind und wie sich die behaupteten Umstände unmittelbar oder mittelbar auf die Beschäftigungsmöglichkeiten für den gekündigten Arbeitnehmer auswirken. Im Wege einer abgestuften Darlegungslast ist es dann Sache des Arbeitnehmers, hierauf zu erwidern. Dazu müßte sich der Arbeitgeber dann wieder erklären.

BVerfGE 84, 133, 147 = AP Nr. 70 zu A n . 12 G G . Däubler in Blank (Hrsg.), Reform der Betriebsverfassung und Unternehmerfreiheit, 2001, S. 11, 37 Zur unternehmerischen Freiheit Franzen Z f A 2001, 805ff. 98 B A G E 92, 61; 71 = AP Nr. 102; 101 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung. 96

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Im Schrifttum ist die skizzierte Rechtsprechung zur betriebsbedingten Kündigung als mit Art. 12 GG kaum vereinbar angegriffen worden. So habe das BAG das positive Tatbestandsmerkmal „dringende betriebliche Erfordernisse" in der arbeitnehmerschützenden Norm des § 1 KSchG durch das negative „nicht willkürlich" ersetzt." Weiter werde anders als bei der Verhaltens- und personenbedingten Kündigung auf eine Interessenabwägung verzichtet. Unterstelle man, daß im Unternehmen kein anderer Arbeitsplatz frei ist und die soziale Auswahl nicht zum Tragen komme, gebe es überhaupt keinen Kündigungsschutz mehr. Mit Art. 12 GG sei es jedenfalls nicht vereinbar, wenn der Arbeitgeber mit der Kündigung eine Kostensenkung erreichen wolle, welche nur der Gewinnsteigerung diene. 100 cc) Kündigungsschutz außerhalb des KSchG Obschon der staatliche Auftrag zum Schutz der Arbeitnehmerrechte aus Art. 12 GG im wesentlich durch den gesetzlichen Kündigungsschutz erfüllt ist, bleibt dennoch für den Rechtsanwender ein Spielraum für die Anwendbarkeit dieses Grundrechts auch außerhalb der unbestimmten Rechtsbegriffe des Kündigungsschutzgesetzes. Exemplarisch genannt werden soll hier der Kündigungsschutz im Kleinbetrieb und während der ersten sechs Monate eines Arbeitsverhältnisses. Freilich besteht an sich kein Anlaß, den vom Gesetzgeber legitim genutzten Spielraum zur Verwirklichung der Berufsfreiheit des Arbeitnehmers zu verengen. Die Rechtsprechung nimmt in bestimmten Fällen freilich eine unmittelbare Ausrichtung an den Grundrechten auch dann vor, wenn der Anwendungsbereich des KSchG nicht eröffnet ist. Allerdings soll jedenfalls dem Lippenbekenntnis nach eine Kündigung im Kleinbetrieb nur bei „krassen" Grundrechtsverstößen unwirksam sein, schließlich dürfe die vom Gesetzgeber im KSchG vorgenommene Grundrechtsabwägung nicht untergraben werden.101 Einfallstor für die grundrechtlichen Wertungen sind die Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB, an denen sich die Kündigung im Kleinbetrieb messen lassen muß. Wörtlich formuliert das BAG: „Für die Bestimmung des Inhalts und der Grenzen eines Kündigungsschutzes außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes ist die Bedeutung gesetzlicher Schutzpflichten, insbesondere der objektive Gehalt des Art. 12 Abs. 1 GG zu beachten. Der durch die zivilrechtlichen Generalklauseln des § 138 und § 242 BGB vermittelte verfassungsrechtliche Schutz ist umso schwächer, je stärker die mit der Kleinbetriebsklausel geschützten Grundrechtspositionen im Einzelfall betroffen sind. Es geht vor allem darum, Arbeitnehmer vor willkürlichen oder Preis, DB 2000, 1124. Däubler in Blank (Hrsg.), Reform der Betriebsverfassung und Unternehmerfreiheit, 2001, 11, 29. •oi BVerfGE 84, 133 = AP Nr. 70 zu Art. 12 GG. 99

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auf sachfremden Motiven beruhenden Kündigungen zu schützen, z . B . vor Diskriminierungen im Sinne von Art. 3 Abs. 3 GG". 1 0 2 Der durch Art. 12 GG gewährleistete Mindestschutz beeinflußt also die Definition von „Treu und Glauben". Zwar wird keine nähere Abwägung der beteiligten Interessen verlangt, immerhin muß sich aber eine Auswahlentscheidung des Arbeitgebers wenigstens auf Erwägungen stützen, die erkennen lassen, daß die Belange besonders schutzwürdiger Arbeitnehmer nicht von vorneherein ausgeklammert worden sind.103

V. Fazit Jede Form der Grundrechtsabwägung zwischen zwei Privatrechtsparteien im Sinne der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte trägt die Gefahr der Beliebigkeit in sich. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, daß das gelegentlich geäußerte bundesverfassungsgerichtliche Gebot, auf der Ebene des einfachen Zivilrechts ein bestimmtes, in der einfachgesetzlichen Rechtsordnung noch nicht angelegtes Ergebnis zu erzielen, in dogmatischer Hinsicht vom Richter ohnehin regelmäßig eine Willkürentscheidung verlangt. Verfassungsinterpretation im Zivilrecht gebietet dann nämlich ergebnisorientiertes Denken und damit eben blanken Dezisionismus bei der Methodenwahl. 104 In einen schier unlösbaren Widerspruch gerät der Rechtsanwender dabei, wenn das einfache Recht eine verfassungskonforme Interpretation an sich nicht zuläßt. Diese Gefahr besteht allerdings nicht, wenn auf die Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB rekurriert werden kann, oder unbestimmte Rechtsbegriffe wie sie § 1 KSchG enthält, ausgefüllt werden müssen. Letztendlich kann niemand eine Antwort darauf geben, wie etwa der „unantastbare Kern" der Unternehmerfreiheit aussehen kann; am allerwenigsten wohl die Verfassungsrichter selbst. Wenn man berücksichtigt, daß es noch bis vor ein paar Jahren völlig einmütige Meinung war, daß von der Gewerkschaft während der Arbeitszeit nicht geworben werden darf und dann das BVerfG105 mit äußerst dünner Begründung sowohl seine bisherige Rechtsprechung zur Kernbereichslehre 106 über den Haufen geworfen hat als auch die überzeugenden Argumente für die Einschränkung des Werberechts bei102 BAG AP Nr. 14 zu § 242 BGB Kündigung (unter II 4 der Gründe); BVerfGE 97, 169 = AP Nr. 17 zu § 23 KSchG 1969. 103 Lakies DB 1997, 1078, 1082; Oetker ArbuR 1997, 41, 52; Stein AR-Blattei SD 830 Rn. 568. 104 Hergenröder Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 205 f. "5 BVerfGE 93, 352 = AP Nr. 80 zu Art. 9 GG. BVerfGE 19, 217; 31, 318; 53, 89.

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seite wischte, dann kann man in der Tat nicht wissen, was dem BVerfG zu Einzelfragen etwa im Bereich des Kündigungsschutzes noch einfällt. O b die Unantastbarkeit der „Unternehmerentscheidung" wirklich so stehen bleibt? Auch die Kleinbetriebsklausel ist ja faktisch gefallen. Jedenfalls lassen sich konkrete Prognosen für die künftige Entwicklung der Rechtsprechung aus der Verfassung nicht ableiten. Zu vielschichtig sind die Materien und die Rechtsfragen: Man denke nur an die Trias Kündigungsschutz - Mitbestimmung - betriebliche Altersversorgung. Zu beliebig ist die Argumentation, zu leicht ist fast jedes Ergebnis mit grundrechtlichen Argumenten zu begründen, als daß abstrakte Abwägungsprozesse insoweit Aussicht auf Erfolg hätten. Von daher bleibt eigentlich nur das resignierende Fazit, daß die jeweilige Mehrheit der Verfassungsrichter entscheiden wird, wohin die Reise geht.

Die Konkurrenz von Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung im neuen Schuldrecht PETER

HUBER

I. Einleitung Lange Zeit war die Frage der Konkurrenz von Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung ein alter Hut. In Deutschland gab es zum früheren Recht eine festgefügte herrschende Meinung, welche dem Käufer die Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums (§ 119 Abs. 2 BGB) versagte, wenn sich der Irrtum auf einen Sachmangel bezog. Warf man dagegen einen Blick über die Landesgrenzen1 und auf jüngere internationale Regelwerke wie die Unidroit Principles of International Contracts oder die Principles of European Contract Law der Lando-Kommission, so ergab sich ein bunteres Bild: Teilweise wurde die Irrtumsanfechtung zugelassen, teilweise nicht. Dies zeigt, daß es offensichtlich keine absolut richtige oder falsche Antwort auf die Frage geben kann, sondern daß die Lösung entscheidend von den Rahmenbedingungen der betreffenden Rechtsordnung abhängt, konkret also vom jeweiligen Irrtums- und Sachmängelrecht. Es lohnt sich deshalb zu untersuchen, wie sich die Lage nach Inkrafttreten der Schuldrechtsreform darstellt, die ja das Sachmängelrecht beim Kauf grundlegend umgestaltet hat. Der Beitrag faßt kurz die Lage zum alten Recht zusammen (II), gibt einen Uberblick über internationale Entwicklungen (III), behandelt knapp die methodischen Grundlagen (IV) und wendet sich auf dieser Basis schließlich den dogmatischen Fragen des neuen Rechts zu (V).

II. Überblick zum alten deutschen Recht 1. Herrschende

Meinung

Das Reichsgericht ging - für die Zeit nach Gefahrübergang - in ständiger Rechtsprechung von dem Grundsatz aus, daß der Käufer nicht nach § 119 Abs. 2 BGB anfechten kann, wenn sein Irrtum sich auf Umstände bezieht, 1

Vgl. Flesch Mängelhaftung und Beschaffenheitsirrtum beim Kauf, 1994; Bacher Irrtumsanfechtung, vertragswidrige Leistungen und Sachmängelgewährleistung beim Kauf, 1996.

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die grundsätzlich geeignet sind, Gewährleistungsansprüche nach § 459 BGB auszulösen. 2 Zur Begründung verwies das Gericht in der Regel auf den Charakter der Gewährleistungsregeln als Sondervorschriften und auf die Gefahr der Umgehung der im Kaufrecht zum Schutze der Verkehrssicherheit vorgesehenen Vorschriften, insbesondere der §§ 460 S. 2, 461, 477 a.F. BGB.3 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs lehnte sich im Wesentlichen an die vom Reichsgericht aufgestellten Grundsätze an, ohne die Konkurrenzproblematik tiefgehend zu erörtern. 4 Für die Zeit vor Gefahrübergang ging die Rechtsprechung davon aus, daß die Irrtumsanfechtung nicht ausgeschlossen sei, weil vor Gefahrübergang noch keine Gewährleistungsansprüche existierten, welche die Irrtumsregeln ausschließen könnten. 5 Daran ändere sich auch dann nichts, wenn im konkreten Fall ausnahmsweise schon vor Gefahrübergang Gewährleistungsansprüche geltend gemacht werden könnten, weil die ausnahmsweise Vorverlegung der Gewährleistungsansprüche eine Vergünstigung für den Käufer darstellen solle, die man nicht im Konkurrenzwege konterkarieren dürfe. 6 Die Literatur folgte der Rechtsprechung jedenfalls in der grundsätzlichen Haltung zur Konkurrenzfrage ganz überwiegend. Zur Begründung wurden vor allem folgende Argumente vorgebracht: Viele Autoren verwiesen auf die Umgehungsgefahr in Bezug auf die §§ 477, 460 S. 2, 461 a.F. BGB.7 Teilweise wurde auf den Gedanken der abschließenden Regelung abgestellt: Die §§ 459 ff. a.F. BGB stellten eine solche dar und ließen deshalb keinen Raum für die Irrtumsanfechtung des Käufers. 8 Vereinzelt wurde die Ausschlußwirkung der §§ 459ff. a.F. BGB mit einer begrifflich-formell begründeten 2 Vgl. nur RGZ 61,171 (Hausschwamm); RGZ 97, 351 (Sologeigen); RG Gruchot 66,452 (Spitzweg); RG, RGZ 135, 339 (Ruisdael); RGZ 138, 354 (Gastwirtschaft); RG LZ 1929, 547 (Yacht); RG LZ 1931, 240 (Yacht). 3 Vgl. RG Gruchot 66, 452, 454 (Spitzweg). 4 Vgl. z.B. BGH NJW 1979, 160 (Gebrauchtwagen); BGH JR 1981, 151 (Mähdrescher). S. auch BGH NJW 1959, 1584, 1585; BGH NJW 1969, 184; BGHZ 16, 54; OLG Stuttgart NJW 1989, 2547; OLG Düsseldorf NJW 1992, 1326; OLG Karlsruhe NJW-RR 1993, 1138. Vgl. zum Ganzen ausführlich Huber Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung, 2001, S. 29ff. 5 Vgl. RG Warneyer 1909, Nr. 200, S. 190; RG JW 1914, 295; BGHZ 34, 32, 34; BGH, WM 1962, 511, 512. « BGHZ 34, 32. 7 Vgl. nur Brox Die Einschränkung der Irrtumsanfechtung. Ein Beitrag zur Lehre von der Willenserklärung und deren Auslegung, 1960, S. 201 ff.; Flume Eigenschaftsirrtum und Kauf, 1948, S. 133ff.; MünchKommBGB/ Westermann, 3. Aufl. 1995, § 459 Rn. 83ff.; Erman/Grunewald BGB, 10. Aufl. 2000, vor § 459 Rn. 14; Soergel/Hefermehl BGB, 13. Aufl. 1999, § 119 Rn. 78, 34; Staudinger/HonsellBGB, 13. Bearb. 1995, vor § 459 Rn. 27ff. 8 Vgl. z.B. Haymann Anfechtung, Sachmängelgewähr und Vertragserfüllung beim Kauf, Vortrag gehalten am 24. Februar 1913 in der Juristischen Gesellschaft in Frankfurt a.M., 1913, S. 9ff.; ähnlich Soergel/HuberBGB, 12. Aufl. 1991, vor § 459 Rn. 195ff.; Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag. Eine Untersuchung von Möglichkeiten und Grenzen der Abschlußkontrolle im geltenden Recht, 1997, S. 304ff.

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Spezialität begründet, indem (m.E. völlig unzutreffend) die Tatbestandsmerkmale miteinander verglichen wurden und § 459 a.F. BGB der Vorrang eingeräumt wurde, weil er eines mehr enthielte (nämlich die Minderung der Gebrauchstauglichkeit).9 2. Abweichende Ansichten Allerdings regte sich in der Literatur auch Kritik an der eingefahrenen Haltung der Rechtsprechung zur Konkurrenzfrage.10 Als Beispiel soll der von Wasmuth entwickelte Versuch dienen, die Ausschlußregel der herrschenden Meinung zu widerlegen.11 Der zentrale Punkt seiner Argumentation ist die These, daß bei Zulassung der Irrtumsanfechtung neben dem Gewährleistungsrecht ein differenziertes, die Interessen von Käufer und Verkäufer sachgerecht berücksichtigendes Anspruchssystem entstehe. Innerhalb der in § 477 BGB genannten Frist ergibt sich seiner Ansicht nach eine erhebliche Privilegierung des Käufers. Dieser werde so gestellt, als habe er den Vertrag nicht geschlossen. Der Verkäufer dagegen müsse es gegebenenfalls hinnehmen, erheblich schlechter zu stehen, als er ohne den Abschluß des Vertrages stünde. Er laufe wegen der möglichen Haftung auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung und wegen der Verteilung des Rückabwicklungsrisikos Gefahr, „draufzahlen" zu müssen.12 Nach Ablauf der Frist des § 477 BGB ende die beschriebene Privilegierung des Käufers. Zwar könne er sich über die Anfechtung noch vom Vertrag lösen, doch resultiere daraus keine Gefahr für den Verkäufer, Vermögensverluste zu erleiden. Das Rückabwicklungsrisiko bezüglich der Sache trage weitgehend der Käufer, der dem Verkäufer auch die gezogenen Nutzungen herausgeben müsse. Darüber hinaus könne der Verkäufer vom Käufer aus § 122 BGB Ersatz des Ver-

9 Vgl. z . B . Haußmann Der Irrtum im alten und neuen Recht, 1907 (Nachdruck 1969), S. 45 ff. 10 Vgl. z . B . Larenz/Wolf Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Aufl. 1997, § 36, Rn. 53; Köhler BGB Allgemeiner Teil, 25. Auflage 2001, § 14, Rn. 33; Wasmuth Wider das D o g m a vom Vorrang der Sachmängelhaftung gegenüber der Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums, in Festschrift für Piper, 1996, S. 1083ff.; Siehrist ein Caracci ein schlechter Poussin? Z u m Irrtum beim Kauf von Kunstwerken, in Festschrift für Hanisch, 1994, S. 247; aus der älteren Literatur: Oertmann Bürgerliches Gesetzbuch, 2. Buch, Recht der Schuldverhältnisse, 5. Aufl. 1929, S. 419; Lent Die Gesetzeskonkurrenz im bürgerlichen Recht und Zivilprozeß, Band 1, Die Gesetzeskonkurrenz im Strafrecht. Die bürgerlich-rechdiche Gesetzeskonkurrenz im allgemeinen. Einzelne Fälle von Gesetzeskonkurrenz, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1912, 1970, S. 346ff. S. auch P. Huber Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung, 2001, S. 247ff., 306ff.

11 Wasmuth Wider das D o g m a vom Vorrang der Sachmängelhaftung gegenüber der Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums, in Festschrift für Piper, 1996, S. 1083 ff. 12 Ebd. S. 1083, 1087

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trauensschadens verlangen.13 Der Käufer könne also dem Verkäufer über die Anfechtung lediglich den Gewinn entziehen, den dieser sich aus dem Geschäft versprochen habe. Dieser solle ihm aber ohnehin nur unter der Annahme zufließen, daß die Sache fehlerfrei sei. Insgesamt ermögliche deshalb das BGB bei einer Zulassung der Anfechtung ein interessengerechtes System von Rechtsbehelfen. 14 Die zunehmende Kritik zeigt, daß die Ausschlußthese der herrschenden Meinung in Deutschland in jüngerer Zeit zumindest stärker hinterfragt wurde als Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts.

III. Internationale Entwicklungen Ein Blick in die Rechtsvergleichung zeigt, daß die in Deutschland entwikkelte Ausschlußthese keineswegs die einzig vernünftige Lösung der Frage darstellt. So ist es etwa im schweizerischen Recht - bei ähnlicher Ausgangslage - ganz herrschende Meinung, daß der Käufer die freie Wahl zwischen der kaufrechtlichen Wandelung (Art. 205 Obligationenrecht) und der Irrtumsanfechtung wegen des sog. Grundlagenirrtums (Art. 2 3 , 2 4 Abs. 1 Nr. 4 Obligationenrecht) hat. 15 Zum gleichen Ergebnis gelangt - bei etwas anderer Ausgangslage - das österreichische Recht. 16 Im französischen Recht hat sich die Auffassung der Rechtsprechung seit den 60er-Jahren mehrfach gedreht, die derzeitige Rechtslage ist nicht ganz eindeutig.17 Symptomatisch für die Uneinigkeit, die in Bezug auf die Frage der Konkurrenz von Irrtumsanfechtung und Gewährleistungsrecht besteht, sind die voneinander abweichenden Aussagen in den beiden wichtigsten einheitsrechtlichen Regelwerken, die im Bereich des vertraglichen Schuldrechts in den letzten Jahren entwickelt wurden, nämlich den Principles of European Contract Law (Lando-Prinzipien, PECL) und den Unidroit Principles of

13 Ebd. S. 1083, 1088. Hinweisen könnte man in diesem Zusammenhang auch auf das Fehlen einer Schadensersatzhaftung des Verkäufers. 14 Ebd. S. 1083, 1088 f. 15 Vgl. nur BGE 56.11.424; BGE 98.11.15; BGE 83.11.18; BGE 114.11.131; zur (überwiegend zustimmenden) Literatur vgl. Schmidlin in Berner Kommentar, 1995, Art. 23/24 Rn. 249; kritisch Honseil Schweizerisches Obligationenrecht, Besonderer Teil, 4. Aufl. 1997, S. 102 ff. 16 Vgl. OGH SZ 55 Nr. 2; OGH SZ 48 Nr. 56; OGH SZ 42 Nr. 180; Koziol/Welser Grundriß des bürgerlichen Rechts, Band I, Allgemeiner Teil und Schuldrecht, 10. Aufl. 1995, S. 265f.; Schwimann!Apathy Praxiskommentar zum Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch samt Nebengesetzen, 1988, §§ 871, 872 ABGB Rn. 19; teilweise aA Kramer Die Abgrenzung von Gewährleistung und Irrtumsanfechtung beim Kauf nach schweizerischem, deutschem und österreichischem Recht, JB1 1971, 294, 299ff.; Honseil Aktuelle Probleme der Sachmängelhaftung, JB1 1989, 205 ff. 17

Vgl. dazu P. Huber Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung, S. 71 ff.

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International Commercial Contracts (PICC). Beide gehen im Irrtumsrecht und im Leistungsstörungsrecht von vergleichbaren Grundlagen und von einem einander angenäherten Rechtsbehelfssystem aus. Dennoch enthalten sie in Bezug auf die Konkurrenzfrage diametral entgegengesetzte Lösungen: Art. 4:119 PECL bestimmt, daß die irrtumsrechtlichen Rechtsbehelfe nach Wahl des Berechtigten neben denjenigen des Leistungsstörungsrechts geltend gemacht werden können. Die Lösung orientiert sich also am schweizerischen und österreichischen Vorbild. Zur Begründung wird in den Erläuterungen zu den Principles gesagt, es gebe keinen Grund, dem Berechtigten die Wahl zwischen mehreren an sich gegebenen Rechtsbehelfen zu nehmen.18 Art. 3.7 der Unidroit Principles hingegen schließt die Irrtumsanfechtung aus, wenn die Umstände, auf die sich die irrende Partei beruft, einen Rechtsbehelf wegen Nichterfüllung gewähren oder gewährt haben würden. Konkret bedeutet dies, daß das Leistungsstörungsrecht vorrangig ist. Die Lösung ähnelt also der in Deutschland vertretenen Ausschlußthese. Zur Begründung wird angeführt, die Nichterfüllungsregeln seien besser geeignet und flexibler als die radikale Lösung der Irrtumsanfechtung.19 Der kurze Blick über die Grenzen zeigt, daß über die „richtige" Lösung des Konkurrenzproblems international kein Konsens besteht. Darüber hinaus zeigt sich bei genauerer Betrachtung ein weiterer bemerkenswerter Aspekt: Die Begründung der abweichenden ausländischen bzw. internationalen Konkurrenzlösungen stützt sich nicht in erster Linie auf diejenigen Punkte, in denen sich das Irrtumsrecht oder das Kaufrecht der jeweiligen Rechtsordnung vom deutschen Recht unterscheidet. Vielmehr werden ähnliche methodische Konstruktionen herangezogen wie in der deutschen Diskussion (zum Beispiel Spezialität und Umgehungsgefahr). Nur werden sie anders verstanden als bei uns. Daraus ergibt sich die Konsequenz, daß auch international betrachtet noch Klärungsbedarf hinsichtlich der methodischen Instrumente besteht, mit deren Hilfe die Konkurrenzfrage beantwortet werden kann.

IV. Lösungsvorschlag Die Frage, mit welchen methodischen Instrumenten eine Ausschlußwirkung des kaufrechtlichen Sachmängelrechts gegenüber der Irrtumsanfechtung begründet werden kann, wurde bisher in Literatur und Rechtspre18 Lando/Beale The Principles of European Contract Law, Parts I and II, 1999, Comment zu Art. 4:119 PECL; in deutscher Fassung in: von Bar/Zimmermann Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, Teile I und II, 2002. 19 Unidroit Principles, Comment (1) zu Art. 3.7 PICC.

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chung noch nicht abschließend geklärt, und zwar weder im Inland noch im Ausland. Bisher ist es noch nicht einmal gelungen, eine einheitliche Terminologie zu entwickeln. Zwar tauchen Begriffe wie Spezialität, Subsidiarität und Gesetzes- bzw. Anspruchskonkurrenz immer wieder auf, doch verstehen die einzelnen Autoren darunter durchaus verschiedene Dinge. Ich habe an anderer Stelle20 versucht, ein methodisches Lösungsmodell zu entwikkeln. Dieses soll im Folgenden kurz geschildert werden. Anschließend soll es auf das neue deutsche Schuldrecht angewendet werden (unten V.) 1. Gesetzeskonkurrenz

und

Anspruchskonkurrenz

Der folgende Ansatz legt für die Konkurrenzentscheidung zwei mögliche Lösungsansätze zu Grunde: Gesetzeskonkurrenz bedeutet, daß eine Norm bzw. ein Normkomplex Vorrang vor der anderen Norm bzw. dem anderen Normkomplex genießt und dessen Anwendung ausschließt.21 Liegt zwischen zwei Anspruchs- bzw. Berechtigungsnormen keine Gesetzeskonkurrenz vor, so besteht zwischen ihnen Anspruchskonkurrenz: Beide können grundsätzlich unabhängig voneinander geltend gemacht werden. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, daß einzelne Normen des einen Normkomplexes auf den anderen Normkomplex „einwirken"; so werden beispielsweise bestimmte Vorschriften des Vertragsrechts auf parallel laufende deliktische Ansprüche analog angewendet, insbesondere im Bereich der Verjährung und der Haftungsmilderungen.22 2. Wertungsonentiertes

Verständnis der

Gesetzeskonkurrenz

Die Frage, ob zwischen zwei Anspruchsgrundlagen bzw. Rechten Gesetzeskonkurrenz besteht, ob also die eine die andere ausschließt, ist m.E. allein anhand von Wertungen zu beantworten. Begriffliche Kriterien spielen dabei keine Rolle. Insbesondere ist eine formell begründete Spezialitätsregel abzulehnen, die allein aus einem bestimmten Verhältnis der Tatbestände das Vorliegen von Gesetzeskonkurrenz ableiten würde.23 Im Rahmen der rein wertungsorientierten Begründung der Gesetzeskonkurrenz muß auch das auf einzelne Normen des angeblich vorrangigen Normkomplexes bezogene Argument der Umgehungsgefahr außer Betracht bleiben. Es taugt nicht zur pauschalen Begründung von Gesetzeskonkurrenz (also der völligen Verdrängung des anderen Normkomplexes), Huber Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung, 2001, S. 177ff. Vgl. Staudinger/Peters BGB, Neubearbeitung 2001, § 195 Rn. 19ff.; MünchKommBGB/ Kramer, 4. Aufl. 2001, § 241 Rn. 25 ff. 22 Vgl. Jauemtg/Vollkommer BGB, 10. Aufl. 2003, § 241 Rn. 17; Staudinger/Peters BGB, Neubearbeitung 2001, § 194 Rn. 23 ff. 23 Huber Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung, 2001, S. 202 ff. 20 21

Die Konkurrenz von Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung

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sondern allenfalls zur Rechtfertigung der Einwirkung im Rahmen der Anspruchskonkurrenz. Denn wenn sich im vorrangigen Normkomplex bestimmte Normen identifizieren lassen, die nicht durch die Anwendung des anderen Normkomplexes umgangen werden dürfen, so genügt es, diese einfach im Wege der Einwirkung auf den anderen Normkomplex zu erstrekken, sie dort also zusätzlich analog zur Anwendung zu bringen.24 Gesetzeskonkurrenz liegt vielmehr nur dann vor, wenn sich ein Normkomplex (hier das Sachmängelrecht) generell und umfassend als eine abschließende Regelung darstellt. Die entscheidende Frage lautet dann, welche Wertungsgesichtspunkte es rechtfertigen könnten, das Sachmängelrecht als abschließende Regelung in diesem Sinne einzuordnen. 3. Die (Beschränkung der) Verfügbarkeit der Vertragsaußebung als entscheidendes Kriterium Die Entscheidung, ob das Sachmängelrecht eine derartige abschließende Regelung darstellt, ist m.E. anhand des Kriteriums der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung zu treffen: Nur wenn das betreffende Sachmängelrecht die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung in erheblicher Weise einschränkt, stellt es eine abschließende Regelung dar, die zur Gesetzeskonkurrenz führt. Diese These erfordert zunächst eine Klärung des Konzepts der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung. a) Verfügbarkeit und Modalitäten der Vertragsaufhebung aa) Die Voraussetzungen, die eine Rechtsordnung für die Entstehung eines Vertragsaufhebungsrechts aufstellt, lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Entweder bestimmen sie über die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung oder sie regeln deren Modalitäten. Die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung beschreibt den Rang, den dieser Rechtsbehelf unter den verschiedenen Sanktionen für eine Leistungsstörung einnimmt. Sie bringt zum Ausdruck, ob die Aufhebungsmöglichkeit als gewöhnliche, sofort verfügbare Reaktion zur Verfügung steht oder ob sie lediglich ein sekundärer, gegenüber anderen Sanktionen nachrangiger Rechtsbehelf ist. Bedeutung und Reichweite des Kriteriums der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung erschließen sich aus einer Analyse der modernen internationalen Regelwerke zur Vereinheitlichung des Vertragsrechts, insbesondere des UN-Kaufrechts (CISG), der Principles of European Contract Law und der Unidroit Principles of International Commercial Contracts. Diese Regelwerke stimmen in dem Bemühen überein, die Vertragsaufhebung als Sanktion für Pflichtverletzungen zugunsten anderer Rechtsbehelfe, insbe24

Ebd. S. 233 ff.

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Peter H u b e r

sondere der Nacherfüllung, dem Schadensersatz und der Minderung, zurückzudrängen. Dies beruht auf zwei Überlegungen. Zum einen soll der Vertrag in Wahrung des Grundsatzes „pacta sunt servanda" möglichst aufrechterhalten und doch noch durchgeführt werden. 25 Zum anderen sollen aus ökonomischer Sicht unnötige Güterbewegungen möglichst vermieden werden. 26 Konkret lassen sich drei Instrumente herausarbeiten, die einzeln oder in Kombination verwendet werden, um die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung zu beschränken: erstens das Konzept der wesentlichen Vertragsverletzung, das die Vertragsaufhebung nur bei besonders schweren Vertragsverletzungen gewährt; 27 zweitens das Nachfrist-Modell, das zunächst über eine Nachfristsetzung einen Behebungsversuch des Verkäufers vorschaltet; 28 und drittens das Modell der Abwendungsbefugnis, das dem Verkäufer selbständig das Recht gibt, eine vom Käufer erklärte Aufhebung abzuwenden, indem er den Mangel behebt. 29 Das Zusammenspiel der drei eben beschriebenen Instrumente läßt sich am Beispiel der Unidroit Principles demonstrieren: Art. 73.1 bestimmt (in deutscher Ubersetzung): (1) Eine Partei kann den Vertrag aufheben, wenn die Nichterfüllung einer der anderen Partei nach dem Vertrag obliegenden Pflicht eine wesentliche Nichterfüllung darstellt. (...) (3) Im Fall der Verzögerung kann die benachteiligte Partei den Vertrag auch dann aufheben, wenn die andere Partei nicht vor Ablauf der ihr nach Artikel Z1.530 gewährten Frist erfüllt. Art. 71.4 bestimmt: (1) Die nichterfüllende Partei kann auf eigene Kosten jede Nichterfüllung durch Nachleistung heilen, vorausgesetzt daß (a) sie unverzüglich die

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Vgl. Schuldrechtkommission, Abschlußbericht, B-§ 323, VI; Boneil An International Restatement of Contract Law: The UNIDROIT-Principles of International Commercial Contracts, 1994, S. 65ff., 77f.; Beale Remedies, Termination, in Hartkamp, Arthur u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code, 2. Aufl. 1998, S. 350. 26 Vgl. z.B. Staudinger Magnus BGB, Neubearbeitung 1999, Art. 49 CISG Rn. 4; von CaemmererOie wesentliche Vertragsverletzung im international-einheitlichen Kaufrecht, in Festschrift für Coing, Band II, 1982, S. 33, 50. 27 So Art. 49 Abs. 1 lit. a CISG, Art. 73.1 Abs. 1 der Unidroit Principles, Art. 9:301 Abs. 1 der European Principles. 28 So, jeweils für den Fall der Leistungsverzögerung, Art. 49 Abs. 1 lit. b CISG, Art. 7.3.1 Abs. 3 der Unidroit Principles, Art. 9:301 Abs. 2 der European Principles. 29 So Art. 48 CISG (allerdings mit in seiner Reichweite umstrittenen Vorbehalt zugunsten der Vertragsaufhebung); Art. 71.4 der Unidroit Principles, Art. 8:104 der European Principles. 30 Art. 71.5 lautet: (1) Im Fall der Nichterfüllung kann die benachteiligte Partei durch Erklärung gegenüber der anderen Partei eine Nachfrist gewähren. (...)

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Nachleistung anzeigt und die vorgesehene Weise und den vorgesehenen zeitlichen Ablauf mitteilt; (b) die Nachleistung nach den Umständen geeignet ist; (c) die benachteiligte Partei kein berechtigtes Interesse an der Zurückweisung der Nachleistung hat; und (d) die Nachleistung umgehend vorgenommen wird. (2) Das Recht auf Nachleistung wird durch eine Aufhebungserklärung nicht ausgeschlossen. (...) bb) Diejenigen Regelungen eines Normkomplexes, die sich nicht auf die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung auswirken, kann man dagegen als Modalitäten der Vertragsaufhebung bezeichnen. Darunter fallen zunächst die Tatbestandsvoraussetzungen, die keine rangbildende Funktion haben, beispielsweise Fristen oder für alle Rechtsbehelfe einheitlich geltende Ausschlußgründe. Zu den Modalitäten gehören ferner die technische Konstruktion des Aufhebungsbegehrens (Gestaltungsrecht oder Anspruch auf Abschluß eines Aufhebungsvertrages) und die Ausgestaltung der Rückabwicklung. Kurz gesagt: Während die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung über das „Ob" der Vertragsaufhebung entscheidet, regeln die Modalitäten lediglich das „Wie" der Vertragsaufhebung. b) Gesetzeskonkurrenz und Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung Warum soll nun gerade das Kriterium der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung über die Frage nach der Gesetzeskonkurrenz entscheiden? Die Antwort beruht auf zwei Überlegungen: Die erste Überlegung beruht auf der fundamentalen Bedeutung der Frage der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung für das leistungsstörungsrechtliche Rechtsbehelfssystem. Die Festlegung der Grenze, ab der man eine Leistungsstörung nicht mehr auf der Basis der geschlossenen Vereinbarung zu behandeln versucht, sondern die vertragliche Vereinbarung bewußt aufgibt und neue Regelungen an ihre Stelle setzt, bringt die grundlegenden Wertungen des betreffenden Leistungsstörungsrechts zum Ausdruck. Die zweite Überlegung ergibt sich aus einer Betrachtung von Wirkungsgrund und Wirkungsrichtung einer Beschränkung der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung. Sie erklärt zugleich den Unterschied zu den bloßen Modalitäten der Vertragsaufhebung. Jene mögen zwar in ihrer praktischen Rechtsfolge auch dazu führen, daß die Vertragsaufhebung nicht zulässig ist. Doch liegt darin nicht ihr Hauptzweck. Ratio der Modalitäten ist es nicht, über die Frage des „Ob" der Vertragsaufhebung zu entscheiden. Zweck dieser Vorschriften ist vielmehr ein allgemeiner, z.B. die Gewährleistung von Rechtssicherheit bei den Verjährungsregeln oder das Bedürfnis nach Klarheit im Handelsverkehr bei den handelskaufrechtlichen Rügevorschriften. Dieser Zweck mag zwar (u. a.) auch dadurch verwirklicht werden, daß dem

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Peter Huber

Käufer ggf. die Aufhebung des Vertrages versagt wird. Doch ist diese Folge nicht das eigentliche Ziel der Regelung. Anders ist es hingegen bei den Regeln über die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung. Hier besteht eine Identität von Wirkungsgrund und Wirkungsrichtung: Ziel dieser Regeln ist es gerade, über das „ O b " der Vertragsaufhebung bzw. über deren Rang im Rechtsbehelfssystem zu entscheiden. Aus diesen beiden Überlegungen ergibt sich, daß die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung Ausdruck einer fundamentalen Wertentscheidung des betreffenden Rechtsbehelfssystems ist, deren wesentliche Zielsetzung darin besteht, zu entscheiden, ob bzw. wann die Aufhebung des Vertrages angemessen ist oder nicht. Dies rechtfertigt es m . E . , dieses Kriterium als Auslöser für die Gesetzeskonkurrenz heranzuziehen. Man kann gegen diese Lösung nicht etwa einwenden, die Grundwertungen bzgl. der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung seien ebenso gut im Wege der Einwirkung im Rahmen der Anspruchskonkurrenz durchsetzbar, indem man die entsprechenden Instrumente der Beschränkung der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung auf den anderen Normkomplex im Wege der Analogie übertrage. Dies ist m . E . nicht zutreffend, weil jeder Normkomplex aufeinander abgestimmte Regelungen enthält. So ist es durchaus nicht fernliegend, daß die Ausgestaltung der einzelnen Modalitäten der Vertragsaufhebung davon abhängt, wie das Gesetz es mit der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung hält. Deshalb ist es vorzugswürdig, die Wertentscheidung über die Zurückdrängung der Vertragsaufhebung generell und pauschal im Wege der Gesetzeskonkurrenz durchzusetzen. 31 Konkret für die Fälle der Konkurrenz von Irrtumsrecht und Sachmängelhaftung bedeutet dies: Das Sachmängelrecht stellt eine abschließende, die Irrtumsregeln im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängende Regelung dar, wenn es die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung in erheblicher Weise beschränkt. Dies wiederum bemißt sich danach, inwieweit eines oder mehrere der oben genannten Instrumente (wesentliche Vertragsverletzung, Nachfristmodell, Abwendungsbefugnis des Verkäufers) verwirklicht sind. 4. 'Weitere Fragen Das Konkurrenzproblem wirft weitere Fragen auf: Wenn nach den eben geschilderten Kriterien ein Fall der Gesetzeskonkurrenz vorliegt, ist weiter zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen die Vorrangwirkung einsetzt. Im Fall des Sachmängelrechts wird dies in der Regel der Fall sein, wenn es um Merkmale der Sache geht, die Eigenschaften im Sinne des betreffenden Mangelbegriffs sind. Wenn dagegen keine Gesetzeskonkurrenz besteht, ist weiter zu prüfen, ob einzelne Normen des Sachmängelrechts 31

Huber Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung, 2001, S. 270f.

Die Konkurrenz von Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung

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im Wege der Einwirkung auf das Irrtumsrecht erstreckt werden müssen. Auf Einzelheiten hierzu kann im vorliegenden Rahmen nicht eingegangen werden.

V. Anwendung des Lösungsmodells auf das neue Schuldrecht 1. Rückblick Eine Anwendung des eben beschriebenen Modells auf das alte Schuldrecht hätte zu folgenden Ergebnissen geführt: Die §§ 459ff. a.F. BGB sahen keine Beschränkung der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung vor. Die Wandelung war weder an die Wesentlichkeit der Vertragsverletzung geknüpft § 459 Abs. 1 S. 2 a.F. BGB schloß nur Bagatellfälle aus, erschwerte die Vertragsaufhebung aber nicht wesentlich - noch an eine obligatorische Nachfristsetzung. Auch sah das BGB keine Abwendungsbefugnis des Verkäufers vor. Deshalb war die h.M., die von Gesetzeskonkurrenz ausging, nicht gerechtfertigt. Vielmehr lag die richtige Lösung darin, Irrtumsanfechtung und Wandelung im Wege der „Anspruchskonkurrenz" dem Käufer zur Wahl zustellen. Aus Gründen, die im vorliegenden Rahmen nicht erörtert werden können, wären allerdings die §§ 460 S. 2, 461 a.F. BGB und § 377 HGB im Wege der Einwirkung auf die Anspruchskonkurrenz zu erstrecken gewesen. 32 2. Herrschende Meinung zum neuen Kaufrecht Nach herrschender Meinung hat sich durch die Schuldrechtsreform an der Lösung der Konkurrenz zwischen Irrtumsanfechtung und Sachmängelrecht nichts geändert.33 Die Ausschlußwirkung des Sachmängelrechts wäre demnach mit der Umgehungsgefahr zu begründen, die sich zum einen daraus ergibt, daß das Irrtumsrecht kein dem § 442 S. 2 entsprechenden Ausschlußgrund bei grober Fahrlässigkeit des irrenden Käufers enthält, und zum anderen aus den nach wie vor bestehenden Unterschieden bei den zeitlichen Grenzen: Die Irrtumsanfechtung muß zwar unverzüglich nach Kenntnis vom Anfechtungsgrund erfolgen, unterliegt aber einer relativ großzügigen objektiven Ausschlußfrist von 10 Jahren (§ 121). Für das kaufrechtliche Rücktrittsrecht gilt über die Verweisung in § 438 Abs. 4 S. 1 die 3 2 Vgl. zum Ganzen näher Huber Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung, 2001, S. 306ff. 33 Vgl. Regierungsbegründung BT-Drucks. 14/6040, S. 210; Lorenz/Riehm Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, 2002, Rn. 573; Oetker/Maultzsch Vertragliche Schuldverhältnisse, 2002, S. 110f.; Oechsler Schuldrecht, Besonderer Teil - Vertragsrecht, 2003, Rn. 299; Jauernig/Berger BGB, 10. Aufl. 2003, § 437 Rn. 32.

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Vorschrift des § 218. Der Rücktritt ist demnach unwirksam, wenn der Ansprach auf die Nacherfüllung verjährt ist und der Schuldner sich darauf beruft. Im praktischen Ergebnis schlagen also die Verjährungsfristen für den Nacherfüllungsanspruch auf das Rücktrittsrecht durch. Bei beweglichen Sachen bedeutet dies eine objektive Verjährungsfrist von zwei Jahren ab Ablieferung der Kaufsache. 34 3. Eigener Lösungsansatz M.E. handelt es sich bei den nach der herrschenden Meinung heranzuziehenden Vorschriften der §§ 442 S. 2 und 438 lediglich um Modalitäten der Vertragsaufhebung, die den vollständigen Ausschluß der Irrtumsanfechtung im Wege der Gesetzeskonkurrenz nicht rechtfertigen können. Die Ausschlußwirkung läßt sich nach dem oben beschriebenen Lösungsansatz vielmehr nur begründen, wenn das kaufrechtliche Sachmängelrecht die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung beschränkt. Es ist also zu untersuchen, ob und in welchem Umfang die dafür zur Verfügung stehenden Instrumente Lehre von der wesentlichen Vertragsverletzung, Nachfristmodell, Abwendungsbefugnis des Verkäufers - im neuen Kaufrecht verwirklicht wurden. Im neuen Kaufrecht gilt, grob gesagt, Folgendes: Die Vertragsaufhebung wegen Sachmängeln setzt gemäß §§ 437 Nr. 2, 323 Abs. 1 grundsätzlich voraus, daß der Käufer dem Verkäufer eine Frist zur Nacherfüllung setzt. Diese ist in engen Grenzen, ζ. B. bei Unmöglichkeit (§ 326 Abs. 5), bei einer Erfüllungsverweigerung durch den Verkäufer (§ 323 Abs. 2 Nr. 1, § 440 S. 1) oder bei Unzumutbarkeit der Nacherfüllung für den Käufer (§ 440 S. 1), entbehrlich. Was bedeutet dies nun für die Frage der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung? a) Lehre von der wesentlichen Vertragsverletzung Auf das Instrument der wesentlichen Vertragsverletzung greift das neue Kaufrecht - jedenfalls auf den ersten Blick - nicht zurück. Es fehlt eine Norm wie z . B . Art. 49 Abs. 1 lit. a CISG oder Art. 7.3.1 der Unidroit Principles, welche die Vertragsaufhebung grundsätzlich an die Wesentlichkeit der Vertragsaufhebung knüpft. Allerdings war die ursprüngliche Schuldrechtkommission der Ansicht, über § 323 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs, der weitgehend dem jetzigen § 323 Abs. 2 BGB entspricht, mittelbar doch das Erfordernis der Wesentlichkeit der Vertragsverletzung umgesetzt zu haben. Das Erfordernis der Wesentlichkeit lasse sich regelungstechnisch auf zwei Wegen verwirklichen. Entweder man gebe eine abstrakte Schwelle vor und sehe zur Klärung der 34

Zu Sonderregeln für andere Kaufgegenstände vgl. § 438 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2.

Die K o n k u r r e n z von I r r t u m s a n f e c h t u n g u n d Sachmängelhaftung

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Wesentlichkeit in Zweifelsfällen ein Nachfristverfahren vor; dieses Prinzip sei in den einheitlichen Kaufrechten und in den Unidroit Principles verwirklicht. Oder man verlange grundsätzlich die Nachfristsetzung und mache davon Ausnahmen für besonders schwere (eben die „wesentlichen") Fälle, wie in § 323 geschehen. Diese Lösung habe den Vorteil, daß das Gebot, den Vertrag ein- und durchzuhalten, stärker betont werde.35 Die Auffassung der Schuldrechtkommission trifft jedoch in dieser Form nicht zu. Außerhalb des Bereichs der Leistungsverzögerung kennen weder das UN-Kaufrecht noch die European oder die Unidroit Principles ein Nachfristverfahren zur Klärung der Wesentlichkeitsfrage. Es gibt keine Möglichkeit, einen an sich nicht wesentlichen Pflichtenverstoß durch ein Nachfristverfahren automatisch zu einer wesentlichen Vertragsverletzung aufzuwerten, die zur Vertragsaufhebung berechtigt. Von diesem Regelungssystem unterscheidet sich das neue Kaufrecht (ebenso wie der ursprüngliche Kommissionsentwurf) deutlich. Denn selbst wenn man die in § 323 Abs. 2 genannten Fälle als Umschreibung des Instituts der wesentlichen Vertragsverletzung akzeptiert, ergibt sich ein anderes Bild als nach dem UN-Kaufrecht. Das Vorliegen eines Falles des § 323 Abs. 2 ist nämlich keine notwendige Voraussetzung für die Vertragsaufhebung. Es dispensiert nur vom Nachfristverfahren. Daneben besteht jedoch die Möglichkeit, auch bei Nichtvorliegen dieser Voraussetzungen, also bei „unwesentlichen" Vertragsverletzungen, zur Vertragsaufhebung über § 323 Abs. 1 zu gelangen, indem eine Nachfrist gesetzt wird. Man kann also nicht davon ausgehen, daß das neue deutsche Kaufrecht generell auf die aus den internationalen Regelwerken bekannte Lehre von der Wesentlichkeit der Vertragsverletzung zurückgreift, um die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung zu beschränken. Allerdings weisen die Ausführungen der Schuldrechtkommission auf einen anderen Aspekt hin, der im Rahmen der Behandlung des Nachfristmodells Bedeutung erlangen wird: Die (meisten) Fälle, in denen nach neuem Kaufrecht eine Nachfristsetzung entbehrlich ist, lassen sich mit denen einer wesentlichen Vertragsverletzung gleichsetzen. b) Nachfristmodell und Abwendungsbefugnis des Verkäufers Das neue Kaufrecht ist durch das Instrument der Nachfristsetzung geprägt. Die grundsätzlich vom Käufer gem. §§ 437 Nr. 2, 323 Abs. 1 zu setzende Frist für die Nacherfüllung dient dazu, dem Verkäufer eine zweite Chance zur Erfüllung seiner Pflicht zur Leistung mangelfreier Ware zu geben. Im praktischen Ergebnis gibt das neue deutsche Kaufrecht dem Verkäufer also die Möglichkeit, die Vertragsaufhebung durch Nacherfüllung ab35

Vgl. Schuldrechtkommission,

Abschlußbericht, B-§ 323, VI.

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zuwenden. Diese Abwendungsbefugnis wird lediglich - anders als z . B . in Art. 48 CISG - nicht ausdrücklich angeordnet, sondern ergibt sich mittelbar aus dem Erfordernis der Fristsetzung durch den Käufer. Damit verwendet das neue deutsche Kaufrecht zwei der zentralen Instrumente, die zur Beschränkung der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung herangezogen werden können. Allerdings ließe sich einwenden, daß die Nachfristsetzung in einigen Fällen entbehrlich ist, insbesondere nach § 323 Abs. 2, nach § 440 oder auch nach § 478 Abs. 1. Jedoch greifen diese Einwände aus zwei Gründen nicht durch. Erstens kommt es für die Frage nach der Beschränkung der Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung auf die Grundstruktur des betreffenden Sachmängelrechts an. An der Grundtendenz des neuen Kaufrechts, über das Instrument der Nachfristsetzung den Rücktritt zugunsten anderer Rechtsbehelfe zurückzudrängen, ändern jedoch die genannten punktuellen Ausnahmen nichts. Zweitens lassen sich die meisten der genannten Ausnahmen - insofern ist der oben erwähnten Aussage der Schuldrechtkommission zuzustimmen - als Fälle einer wesentlichen Vertragsverletzung einordnen. Auf diese Weise kommt auch in diesen Fällen eines der genannten Instrumente zum Tragen. Als Ergebnis ergibt sich also, daß auch das neue Kaufrecht weitreichend auf die oben beschriebenen Instrumente zurückgreift, um die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung zu beschränken. Allerdings zeigt ein Vergleich mit den internationalen Regelwerken, insbesondere den European Principles, den Unidroit Principles und dem UN-Kaufrecht, daß die Zurückdrängung der Vertragsaufhebung im neuen deutschen Recht weniger konsequent erfolgt als dort. Dies liegt daran, daß das BGB die Wesentlichkeit der Vertragsverletzung nicht als zentrale Voraussetzung für das Rücktrittsrecht vorsieht, sondern diesem Instrument nur die Funktion verleiht, vom Nachfristerfordernis zu befreien. Auch verwirklicht das neue Kaufrecht die mit der Zurückdrängung der Vertragsaufhebung verfolgten Ziele nur teilweise, nämlich in Bezug auf das Streben nach Aufrechterhaltung des Vertrages. Soweit jedoch über § 439 die Nacherfüllung auch durch Ersatzlieferung erbracht werden kann, wird das Ziel der Vermeidung von Güterbewegungen nicht erreicht, weil die ursprüngliche (mangelhafte) Lieferung zurückgewährt werden muß. Diese „Schwäche" teilt das deutsche Recht mit den Unidroit Principles und den European Principles, die als Nacherfüllung ebenfalls die Ersatzlieferung zulassen. 36

36 Vgl. Unidroit Principles, Comment (6) zu An. 7.1.4; Wonlaut des A n . 8:104 der European Principles.

Die Konkurrenz von Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung

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c) Reichweite der Verdrängungswirkung Die Ausschlußwirkung der §§ 434ff. betrifft diejenigen Fälle, in denen sich der Irrtum des Käufers auf ein Merkmal der Sache bezieht, das (bzw. dessen Fehlen) einen Sachmangel i.S.d. § 434 darstellen kann. Fraglich ist, ob die Ausschlußwirkung auch vor Gefahrübergang eintritt. Dies ist m.E. zu bejahen. Denn der Vorrang des Sachmängelrechts wird nicht etwa damit gerechtfertigt, daß bereits Gewährleistungsansprüche des Käufers entstanden sind, sondern mit abstrakten Wertungen des Sachmängelrechts.37 Auch ist zu berücksichtigen, daß § 323 Abs. 4 zum Ausdruck bringt, daß die Wertungen des Rücktrittsrechts bereits vor Fälligkeit gelten sollen.

VI. Ergebnisse Die Irrtumsanfechtung des Käufers gem. § 119 Abs. 2 wird im neuen Schuldrecht durch die abschließende Regelung der §§ 434 ff. im Wege der Gesetzeskonkurrenz ausgeschlossen, wenn sich der Irrtum auf ein Beschaffenheitsmerkmal i.S.d. § 434 bezieht. Dies gilt auch schon vor Gefahrübergang. Der Grund dafür liegt (m.E.) nicht etwa darin, daß einzelne Normen des Kaufrechts, insbesondere §§ 438, 442 S. 2, durch die Anwendung des Irrtumsrechts umgangen werden könnten, sondern in der grundlegenden Wertentscheidung des neuen Kaufrechts, die Verfügbarkeit der Vertragsaufhebung zu beschränken. Von diesen Erwägungen unberührt bleibt die Möglichkeit, den Vertrag gemäß § 119 Abs. 1 anzufechten.

37 Huber in Huber/Faust Schuldrechtsmodernisierung, Einführung in das neue Recht, 2002, S. 381 f.; Lorenz/Riehm Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, 2002, Rn. 573; in diese Richtung tendierend auch die Regierungsbegründung BT-Drucks. 14/6040, S. 210.

Zeitweilige Unmöglichkeit DAGMAR

KAISER

A. Problem I. Fälle Leistungsverzögerung heißt, daß der Schuldner nicht leistet, obwohl er, u.U. erst nach erheblichen Anstrengungen, leisten könnte; Unmöglichkeit heißt, daß der Schuldner nicht leistet, weil er auch unter größtmöglicher Anstrengung zur Leistung außerstande ist. Die Grenze zieht § 275 Abs. 2 BGB. Dazwischen stehen die Fälle der vorübergehenden oder zeitweiligen Unmöglichkeit: Der Leistung steht ein momentan nicht überwindbares Hindernis entgegen, es ist aber (ex ante) zu erwarten, daß dieses Hindernis innerhalb des vom Vertrag vorgegebenen Erfüllungszeitraums überwunden werden kann (oder wie § 308 Abs. 1 BGB a.F. es formulierte, „gehoben" werden kann). Die Leistung ist zwar gegenwärtig unmöglich, wird aber voraussichtlich möglich werden. Das klammert von vornherein die Fälle aus, in denen die Leistungszeit so wichtig ist, daß die Verspätung die Leistung absolut unmöglich macht (absolute Fixgeschäfte). Hauptfälle sind Embargos und Exportverbote: Verspricht der Schuldner die Lieferung von 40 Rindern aus Großbritannien, erläßt aber die EU wegen der BSE-Seuche nach Vertragsschluß ein Exportverbot für britische Rinder, kann der Schuldner nicht liefern. Da das Exportverbot mit Eindämmung der Seuche wieder wegfallen soll, besteht das Leistungshindernis nur vorübergehend. 1 Vorkommen kann auch der Fall, daß eine von mehreren Miterbinnen laut testamentarischer Teilungsanordnung (§ 2048 S. 1 BGB) ein wertvolles Schmuckstück erbt und dieses im Glauben an ein mit dem Tod unmittelbar begründetes Alleineigentum veräußert, bevor die Erbengemeinschaft auseinandergesetzt ist. § 2040 Abs. 1 BGB hindert die Erbin bis zur Auseinandersetzung daran, das Schmuckstück ohne Zustimmung der

ι Siehe auch RG vom 16. 3. 1936 - IV 293/35 - RGZ 151, 35, 38 und vom 22. 2. 1937 IV 270/36 - RGZ 153, 384, 386f. zur vorübergehenden Unmöglichkeit, weil das Deutsche Reich die Zahlung von Schulden in Auslandswährung 1932 durch Devisengesetze verbot. Zur Abgrenzung zwischen dauernder und vorübergehender Unmöglichkeit m.w.N. Staudinger/Löwisch BGB, 2001, § 275 Rn. 33 ff.

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Dagmar Kaiser

Miterbinnen dem Gläubiger zu übereignen. Solange die Zustimmung der Miterbinnen fehlt oder die Erbengemeinschaft nicht auseinandergesetzt ist, ist die Erfüllung unmöglich. Neben diesen Fällen einer zeitweiligen rechtlichen Unmöglichkeit kommen auch Fälle einer vorübergehenden tatsächlichen Unmöglichkeit vor. Das RG hatte einen Fall zu entscheiden, in dem der Betreiber einer Mühle Roggenmehl aus eigener Produktion verkaufte, die Mühle aber vor dem Liefertermin mitsamt allen Vorräten abbrannte. Dauern Wiederaufbau der Mühle und Wiederaufnahme der Produktion 15 Monate, ist die Leistung jedenfalls dann lediglich vorübergehend unmöglich, wenn es sich um ein Spezialmehl handelt, an dessen Erhalt der Gläubiger erkennbar ein besonderes Interesse hat. 2 Noch deutlicher ist dies, wenn lediglich Vorräte und Getreide verbrennen und der Schuldner binnen Kürze wieder liefern kann. Denkbar ist auch der Fall, daß durch Werkvertrag das Bohren eines Tunnels versprochen wird, der dafür erforderliche Spezialbohrer aber bei der ersten Bohrung beschädigt und seine Reparatur drei Monate dauern wird. Aus Sicht des Gläubigers unterscheiden sich Leistungsverzögerung und zeitweilige Unmöglichkeit nicht: Der Vertrag kann durchgeführt werden, aber die vertraglich geschuldete Leistung wird verspätet erbracht. Warum der Schuldner verspätet leistet, ist aus Sicht des Gläubigers unerheblich; auch für den Schadensersatz statt der Leistung interessiert ihn lediglich, ob der Schuldner die zur Verspätung führenden Umstände zu vertreten hat. Ebenso bestehen für den Schuldner nur graduelle Unterschiede: Ob das Leistungshindernis schon gegenwärtig bzw. in nächster Zukunft behoben werden kann, steht häufig nicht zweifellos fest; bis zur Grenze des § 275 Abs. 2 BGB ist er verpflichtet, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Leistung erbringen zu können. Das gilt auch in den Fällen der zeitweiligen Unmöglichkeit. Etwa muß die Erbin, die ein ihr nach Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft kraft Teilungsanordnung zustehendes Schmuckstück schon vorher verkauft hat, alles unternehmen, um die Auseinandersetzung voranzutreiben. Auch der Schuldner, der durch das Exportverbot eines Drittlandes an der Leistung gehindert wird, ist verpflichtet, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um doch noch an die Leistung zu kommen, etwa Ausnahmetatbestände suchen. 3 Ebenso muß der Werkunternehmer für eine schnelle Reparatur des Bohrers sorgen. 4 Endgültig von der Leistung frei wird der Schuldner nicht; er muß sich zu dieser für den Fall bereithalten, daß das Leistungshindernis wegfällt.

2 3 4

Anders RG vom 6. 7. 1898 - I 174/98 - RGZ 42, 114, 115 f. zum gemeinen Recht. Vgl. den Fall RG vom 14. 8. 1941 - II 49/41 - RGZ 168, 321 ff. Hingegen ist der Müller nicht verpflichtet, die Mühle wiederaufzubauen.

Zeitweilige Unmöglichkeit

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Das wirft die Grundfrage auf, ob zeitweilige Leistungshindernisse ein Unterfall der Unmöglichkeit sind und den §§ 275, 283, 311a, 326 BGB unterstehen oder doch ein Sonderfall der Leistungsverzögerung, auf den die §§ 281, 284ff., 323 BGB Anwendung finden. II. Rechtslage nach dem BGB a.F. Die Frage der zeitweiligen Unmöglichkeit war unter Geltung des BGB in der Fassung bis zur Schuldrechtsreform (BGB a.F.) streitig.5 Ganz überwiegend wurden die Unmöglichkeitsvorschriften nur auf dauernde Leistungshindernisse angewandt. Das galt sowohl für die nachträgliche als auch für die anfängliche Unmöglichkeit der Leistung; dafür sprach bei anfänglichen Leistungshindernissen § 308 BGB a.F. Vom Schuldner zu vertretende, nach Vertragsschluß eintretende vorübergehende Leistungshindernisse wurden von der h.M. mit §§ 284ff., 326 BGB a.F. den Regeln des Verzugs unterstellt, so daß der Gläubiger dem Schuldner eine Nachfrist zur Leistung unter Ablehnungsandrohung setzen und nach deren fruchtlosem Ablauf vom Vertrag zurücktreten oder Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen konnte. 6 Streitig waren die Fälle der zeitweiligen, vom Schuldner nicht zu vertretenden nachträglichen Leistungshindernisse. Die h.M. suspendierte die Leistungspflicht des Schuldners nach § 275 BGB.7 Ausschlaggebend war die Gefahr, daß der Gläubiger ansonsten ein Leistungsurteil erstreiten und über § 283 BGB a.F. bei Uneinbringlichkeit der Leistung Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen konnte, obwohl der Schuldner die Leistungsstörung nicht zu vertreten hatte. 8 Weil §§ 325, 326 BGB a.F. für den Rücktritt des Gläubigers eine vom Schuldner zu vertretende Leistungsstörung verlangten, konnte sich der Gläubiger wegen der bloß zeitweiligen Unmöglich-

5 Nachweise bei U. Huber Leistungsstörungen, Band I, 1999, § 4 II 2, S. 107 ff. und Band II, 1999, § 58 II, S. 786 ff; Emmerich Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl. 2003, § 4 II, S. 59f. und MünchKommBGB/Emmerich, 4. Aufl. 2001, Vor § 275 Rn. 27ff., § 275 Rn. 39ff. 6 Medicus Schuldrecht Allgemeiner Teil, 12. Aufl. 2000, Rn. 373; U. Huber Leistungsstörungen, Band II, 1999 § 58 II S. 786ff.; MünchKommBGB/Emmerich, 4. Aufl. 2001, Vor § 275 Rn. 27, § 275 Rn. 39 jeweils m.w.N. auf die Rechtsprechung. 7 RG vom 23. 11. 1922 - I 682/21 - RGZ 106, 16, 17; vom 21. 5. 1927 - 1 1 9 / 2 7 - RGZ 117, 127, 130; vom 16. 3. 1936 - IV 293/35 - RGZ 151, 35, 38; U. Huberm Festschrift H.J. Gaul, 1997, S. 217, 221 ff. und ders. Leistungsstörungen, Band I, 1999, § 3 I 2 b, S. 66 ff., Band II, 1999, § 58 II 1 und 4, S. 786f. und 790f.; Erman/Battes BGB, 10. Aufl. 2000, § 275 Rn. 10; Soergel/Wiedemann BGB, 12. Aufl. 1990, § 275 Rn. 42; Staudinger/Löwisch BGB, 2001, § 275 Rn. 33; Palandt/Heinrichs BGB, 61. Aufl. 2002, § 275 Rn. 17. 8 U. Huber in Festschrift H.J. Gaul, 1997, S. 217, 225 f. und ders. Leistungsstörungen, Band I, 1999 § 3 I 3, S. 68 m.w.N.

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keit andererseits nicht endgültig vom Vertrag lösen. Um zu helfen, wurde in den Fällen, in denen dem Gläubiger ein weiteres Zuwarten nicht zuzumuten war, die Leistung als endgültig unmöglich angesehen. 9 III. Rechtslage nach der Schuldrechtsreform Da § 323 BGB dem Gläubiger bei jeder Leistungsstörung ein verschuldensunabhängiges Rücktrittsrecht einräumt, kann der Gläubiger auch bei vorübergehenden Leistungshindernissen vom Vertrag zurücktreten und so endgültig von seiner Gegenleistungspflicht frei werden - unabhängig davon, ob der Schuldner die zeitweilige Unmöglichkeit zu vertreten hat oder nicht. Ein wesentliches Problem ist weggefallen; die Fälle der zeitweiligen Unmöglichkeit müßten leichter zu lösen sein. Die Vielfalt der vertretenen Auffassungen lehrt ein Anderes. Teilweise wird ausschließlich das Recht der Leistungsverzögerungen, 10 teilweise ausschließlich das Unmöglichkeitsrecht angewandt.11 Ganz überwiegend wird die zeitweilige Unmöglichkeit als Unterfall der Leistungsverzögerung angesehen, auf den die §§ 281, 286, 323 BGB Anwendung finden und der mit § 275 Abs. 1 BGB durch eine einzelne Vorschrift des Unmöglichkeitsrechts überlagert wird.12 Andere nehmen zwar Unmöglichkeit an, verlangen vor Rücktritt und Schadensersatz aber eine Fristsetzung analog §§ 281 Abs. 1 S. 1, 323 Abs. 1 S. 1 BGB. 13 Was ist richtig? Um diese Frage zu beantworten, muß man die Probleme trennen: (1) Unter welchen Voraussetzungen entfallen die Leistungspflichten von Schuldner und Gläubiger? (2) Kann der Gläubiger den Schuldner an dessen vertraglicher Leistungspflicht festhalten und gleichwohl Schadensersatz (neben der Leistung) verlangen? Der Anschaulichkeit halber sind diese

9 Rechtsprechungsnachweise bei Erman/Battes BGB, 10. Aufl. 2000, § 275 Rn. 11. Für ein verschuldensunabhängiges Rücktrittsrecht des Gläubigers analog §§ 361, 636 Abs. 1 BGB a.F., § 376 HGB MünchKommHGB/fmmerzcA, 4. Aufl. 2001, § 275 Rn. 46; für den Wegfall der Geschäftsgrundlage U. Huber Leistungsstörungen, Band II, 1999 § 56 I 7 S. 711 f. 10 Schwab/Witt Einführung in das neue Schuldrecht, 2002, S. 112 f f J a u e m i g / V o l l k o m m e r BGB, 10. Aufl. 2003, § 275 Rn. 10 und § 286 Rn. 5; siehe auch Ehmann/Sutschet Modernisiertes Schuldrecht, 2002, S. 55ff.; bei vom Schuldner zu vertretenden zeitweiligen Leistungshindernissen Dedek in Henssler/von Westphalen, Praxis der Schuldrechtsreform, 2. Aufl. 2003, § 275 Rn. 6. 11 Faust in Huber/Faust, Schuldrechtsmodernisierung, 2002, 8. Kapitel Rn. 6ff.

12

Arnold JZ 2002, 866, 868 ff.; Maier-Reimer

in Dauner-Lieb/Konzen/K.Schmidt, Das

neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 291, 298, 305ff.; Emmerich Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl. 2003, § 4 I V , S. 64f.; Palandt/Heinrichs BGB, 62. Aufl. 2003, § 275 Rn. 10; auch Medicus Schuldrecht I, Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 2003, Rn. 383. 13 WfeerMDR 2002, 858, 861; MünchKommBGB/£nzsi, 4. Aufl. 2003, § 275 Rn. 132ff.; zur konsolidierten Fassung des Regierungsentwurfs auch Canaris JZ 2001, 499, 500.

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Zeitweilige Unmöglichkeit

Fragen sowohl mit Hilfe der Unmöglichkeitsvorschriften als auch mit Hilfe der Vorschriften für die Leistungsverzögerung zu beantworten. Erst im Anschluß kann eine abschließende Bewertung vorgenommen werden.

B. Leistungsbefreiung von Schuldner und Gläubiger I. Problem Ist die Erfüllung der Leistung nur zeitweilig unmöglich, stellt sich die Frage nach dem Schicksal von Leistungs- und Gegenleistungspflicht: Zum einen ist problematisch, ob Schuldner und Gläubiger zur Leistung verpflichtet bleiben, während das vorübergehende Leistungshindernis besteht. Zum anderen ist fraglich, unter welchen Voraussetzungen der Gläubiger endgültig von seiner Gegenleistungspflicht frei wird. Wendet man die Vorschriften des Unmöglichkeitsrechts an, entfällt nach § 275 Abs. 1 BGB die Leistungspflicht des Schuldners, soweit er zur Leistung außerstande ist. Übertragen auf die zeitweilige Unmöglichkeit bedeutet dies, daß das Leistungshindernis die Leistungspflicht des Schuldners suspendiert, solange es besteht. Nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB ist damit zugleich die Gegenleistungspflicht des Gläubigers suspendiert; eine bereits erbrachte Vorleistung kann der Gläubiger u.U. nach §§ 326 Abs. 4, 346 Abs. 1 BGB zurückverlangen.14 Um die beiderseitigen Leistungspflichten endgültig zu beseitigen, muß der Gläubiger gem. § 326 Abs. 5 BGB vom Vertrag zurücktreten.15 Wendet man ausschließlich die für die Leistungsverzögerung geltenden Vorschriften an, ändert die zeitweilige Unmöglichkeit nichts an der Leistungspflicht des Schuldners. Diese entfällt erst, dann aber vollständig, wenn der Gläubiger dem Schuldner eine Nachfrist zur Leistung gesetzt hat und nach deren Ablauf vom Vertrag zurücktritt, §§ 323, 346 Abs. 1 BGB, oder Schadensersatz statt der Leistung verlangt, § 281 Abs. 4 BGB. Mit Rücktritt oder Schadensersatzverlangen endet auch die Pflicht des Gläubigers, die Gegenleistung zu erbringen. Bis zu diesem Zeitpunkt kann der Gläubiger ein vollstreckbares Urteil auf die Leistung erwirken. Die überwiegende Meinung will die Leistungspflicht des Schuldners gem. § 275 BGB suspendieren, erlaubt dem Gläubiger die endgültige Lösung vom Vertrag aber nur nach § 323 BGB, also grundsätzlich erst nach Nachfristsetzung.16 14 So Canaris]Z 2001, 4 9 9 , 5 0 0 ; Faust in H u b e r / F a u s t , 2 0 0 2 , 8. Kapitel R n . 8; Wieser M D R 2 0 0 2 , 858, 861. 15 16

So nur Faust in Huber/Faust 2 0 0 2 , 8. Kapitel R n . 9. Amold]Z 2 0 0 2 , 866, 8 6 9 f . ; Wieser M D R 2 0 0 2 , 858, 861; Maier-Reimer

in

D a u n e r - L i e b / K o n z e n / K . Schmidt, Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2 0 0 3 , S. 291, 2 9 8 , 305ff.; M ü n c h K o m m B G B / £ r a s f , 4. Aufl. 2 0 0 3 , § 275 Rn. 134, 145, 148; zur konsoli-

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II. Zeitweilige

Suspendierung

der

Leistungspflichten

1. Argumente für die Suspendierung Die h.M. geht selbstverständlich davon aus, daß die Leistungspflicht des Schuldners suspendiert ist, solange ein Leistungshindernis besteht. Der Wortlaut des § 275 BGB läßt die Subsumtion der zeitweiligen Unmöglichkeit zu. Denn das Gesetz reagiert mit „soweit" nicht zwingend auf eine bloß gegenständliche Einschränkung des Leistungshindernisses i.S. einer teilweisen Unmöglichkeit; „soweit" kann ebenso zeitlich begrenzte Leistungshindernisse i.S. einer zeitweiligen Unmöglichkeit erfassen. Dafür spricht die Gesetzgebungsgeschichte: Zwar ist das Wort „solange", das § 275 Abs. 1 BGB in der Fassung des Regierungsentwurfs enthielt,17 nach Kritik des Bundesrates18 auf Empfehlung des Rechtsausschusses gestrichen worden.19 Dies ist aber lediglich geschehen, um die Problematik der zeitweiligen Leistungshindernisse der Lösung durch Rechtsprechung und Lehre zu überlassen,20 nicht aber, um die zeitweilige Unmöglichkeit aus dem Anwendungsbereich des § 275 Abs. 1 BGB auszuklammern. Für die Suspendierung der Leistungspflicht des Schuldners wird angeführt, der Gläubiger könne anderenfalls ein Leistungsurteil erwirken, obwohl der Schuldner zur Leistung außerstande sei.21 Huber formuliert schärfer, daß es bei einer auf gesetzlichen Verboten beruhenden zeitweiligen Unmöglichkeit schlechterdings unzulässig sei, den Schuldner dazu zu verurteilen, ein gesetzliches Verbot zu übertreten.22 Den Schuldner zur Leistung zu verurteilen, obwohl er im Zeitpunkt der Urteilsverkündung nicht leisten kann, erscheint auf den ersten Blick in der Tat absurd. Weil das Leistungsurteil dem Gläubiger die Möglichkeit eröffnet, die Leistung im Wege der Zwangsvollstreckung zu erzwingen, etwa die verkaufte Sache durch den Gerichtsvollzieher suchen zu lassen (§§ 884, 883 Abs. 1 ZPO) beschwört es zudem die Gefahr unnötiger Vollstreckungskosten herauf.

dierten, das Rücktrittsrecht des § 326 Abs. 5 BGB noch nicht enthaltenden Fassung des Regierungsentwurfs auch Canaris JZ 2001, 499, 500 und 510. 17 Regierungsentwurf BT-Drucks. 14/6040, S. 128f., 189. 18 Stellungnahme des Bundesrats, BT-Drucks. 14/6857, S. 11 f.; dazu die Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drucks. 14/6857, S. 47. 19 Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/7052, S. 271 f. 20 Bericht des Rechtsausschusses aaO. Sinngemäß Wieser MDR 2002, 858, 861. 22 U. Huber Leistungsstörungen, Band II, 1999, § 58 II 4, S. 790; auch BGH vom 7. 10. 1977 - V 2R 131/75 - NJW 1978, 1262, 1263.

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2. Gegenargumente a) Prozeßrecht Seit Streichung des § 283 BGB a.F. sprechen keine Gründe des materiellen Rechts für die Suspendierung der Leistungspflicht des Schuldners bei vorübergehenden Leistungshindernissen.23 Daß der Schuldner nicht zu einer Leistung verurteilt werden dürfe, die uneinbringlich ist, wird folgerichtig wenn überhaupt - prozessual begründet. 24 Deutlich sagte etwa das RG zu einer - dauernd - unmöglichen Leistung: „Den Hauptzweck eines Leistungsurteils ... bildet die Vollstreckung; darum ist die Verurteilung zu einer festgestelltermaßen objektiv unmöglichen Leistung widersinnig"25. Hingegen hat die Rechtsprechung zum BGB a.F. den Schuldner zur vertraglich geschuldeten Leistung verurteilt, obwohl die Unmöglichkeit der Leistung zweifelhaft war, wenn nur feststand, daß der Schuldner die etwaige Unmöglichkeit zu vertreten hat. 26 Die Frage nach der Unmöglichkeit der Leistung wurde in diesen Fällen dem Zwangsvollstreckungsverfahren überantwortet, d.h. den Vollstreckungsorganen die Suche nach dem Leistungsgegenstand übertragen. 27 Prozessuale Gründe sprechen damit nur dann zwingend gegen ein Leistungsurteil, wenn feststeht, daß dieses in keinem Fall vollstreckt werden kann. Das ist bei vorübergehenden Leistungshindernissen aber gerade nicht der Fall: Das Urteil kann vollstreckt werden, sobald das Hindernis weggefallen ist; lediglich der Zeitpunkt, in dem dies der Fall sein wird, ist in der Regel zweifelhaft. Die Frage nach dem Schicksal von Leistungs- und Gegenleistungspflicht ist bei vorübergehenden Leistungshindernissen damit dahin zu konkretisieren, ob man es dem Erkenntnisverfahren oder dem Zwangsvollstreckungsverfahren überlassen will, den Wegfall des Hindernisses festzustellen.

23

Ehmann/Sutschet Modernisiertes Schuldrecht, 2002, S. 56. Deutlich Hans Stoll]Z 2001, 589, 591. 25 RG vom 16. 5. 1923 - I 441/22 - RGZ 107, 15, 17; auch Huber Leistungsstörungen, Band II, 1999, § 5812, b S. 777f. m.w.N. auf die Rechtsprechung; Knütel}K 2001,353,355; Hans StollJZ 2001, 589, 591. 26 Etwa RG vom 18. 2. 1903 - I 344/02 - RGZ 54, 28, 31 ff.; vom 7. 3. 1923 - V 473/22 JW 1924, 292, 293 Nr. 4 mit zust. Anm. Rabel; OLG H a m m vom 29. 10. 1987 - 15 W 361/85 - NJW-RR 1988, 268, 269; OLG Koblenz vom 17. 1. 1988 - 5 U 320/ 88 - AnwBl. 1990, 107, 108; OLG Düsseldorf vom 4. 10. 1990 - 10 U 93/90 - NJW-RR 1991, 137, 138; OLG Karlsruhe vom 21. 11. 1996 - 19 U 136/96 - NJW-RR 1998, 1761. Ausschlaggebend war, daß der Schuldner bei einer von ihm zu vertretenden Unmöglichkeit ohnehin Schadensersatz nach §§ 280 Abs. 1, 325 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. schuldet und deswegen nicht benachteiligt wird, wenn der Gläubiger zunächst seinen vertraglichen Leistungsanspruch durchzusetzen versucht und über § 283 BGB a.F. erst anschließend Schadensersatz verlangt. 27 Deutlich Knütel JR 2001, 353, 355. 24

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Die h.M. entscheidet sich mit der Suspendierung der Leistungspflicht nach § 275 BGB für das Erkenntnisverfahren: Ist der Schuldner zur Leistung nicht verpflichtet, solange der Leistung ein Hindernis entgegensteht, muß die Leistungsklage des Gläubigers als zur Zeit unbegründet abgewiesen werden. 28 Ein solches Urteil muß genügen, um die kurze dreijährige Verjährungsfrist nach §§ 195, 199 Abs. 1 BGB auf die dreißigjährige Frist des § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB zu verlängern: Wird die Klage als zur Zeit unbegründet abgewiesen, sagt der Tenor, daß der eingeklagte Anspruch grundsätzlich besteht. Das ist aber der einzige Vorteil. Meint etwa der Gläubiger nach einer gewissen Zeit, die Leistung sei inzwischen möglich geworden, und leistet der Schuldner nicht, muß der Gläubiger erneut auf Leistung klagen. Die Rechtskraft des abweisenden ersten Urteils steht einer erneuten Klage nicht im Wege, da die Klage laut Tenor lediglich „zur Zeit" unbegründet ist. Die Notwendigkeit mehrfacher Leistungsklagen beschwört - ebenso wie die Suche nach dem Leistungsgegenständ im Wege der Zwangsvollstreckung - die Gefahr unnötiger Kosten herauf, allerdings unnötiger Klagekosten. Sie widerspricht zudem dem anerkennenswerten Interesse des Gläubigers daran, eine mehrfache Prozeßführung zu vermeiden, und damit dem Gebot der Prozeß Wirtschaftlichkeit.29 Es wird vorgeschlagen, dem Gläubiger mit einer Klage auf künftige Leistung zu helfen. 30 Es gibt jedoch nur ein Beispiel aus der Rechtsprechung. 31 Das verwundert nicht. Denn § 259 ZPO zieht eine Grenze, die der Verurteilung häufig im Wege stehen wird: Klage auf künftige Leistung kann der Gläubiger nach § 259 ZPO nur erheben, wenn die Besorgnis gerechtfertigt ist, daß der Schuldner sich der rechtzeitigen Leistung entziehen werde. Davon wird man zwar ausgehen können, wenn der Schuldner sich im Prozeß darauf beruft, die Klage müsse abgewiesen werden, weil er dauernd zur Leistung außerstande sei. 32 Ist der Schuldner hingegen grundsätzlich leistungsbereit, beruft sich aber zutreffend auf die zur Zeit bestehende Unmöglichkeit der Leistung, fehlt es an der von § 259 ZPO geforderten Besorgnis der Leistungsverweigerung für die Zukunft: 33 Der Schuldner will i.S. des § 259 ZPO rechtzeitig leisten, nämlich dann, wenn das Leistungshindernis 28 BT-Drucks. 14/6040, S. 128; Canans JZ 2001, 499, 500; Wieser MDR 2002, 858, 861; Ehmann/Sutschet Modernisiertes Schuldrecht, 2002, S. 57; MünchKommBGß/frnsi, 4. Aufl. 2003, § 275 Rn. 134. 29 Dazu etwa BGH vom 14. 12. 1998 - II ZR 330/97 - NJW 1999, 954, 955. 30 U. Huber Leistungsstörungen, Band II, 1999, § 58 II 4, S. 790f.; BT-Drucks. 14/6040, 5. 128; Canans J Z 2001, 499, 500; Wieser MDR 2002, 858, 861; Palandt/Heinrichs BGB, 62. Aufl. 2003, § 275 Rn. 10; MünchKommBGB/£mit, 4. Aufl. 2003, § 275 Rn. 134. 31 BGH vom 7. 10. 1978 - V ZR 131/75 - NJW 1978, 1262, 1263; siehe auch RG vom 12. 2. 1918 - III 229/18 - JW 1919, 188, welches die Problematik des § 259 ZPO allerdings vollständig verkennt. 32 So im Fall des BGH aaO. 33 Fälschlich nicht problematisiert von RG aaO.

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wegfällt.34 Da die Beweislast für die Besorgnis der Leistungsverweigerung den Gläubiger trifft, ist die Klage als unzulässig abzuweisen, wenn ihm dieser Beweis nicht gelingt.35 Um die Zwangsvollstreckung zu ermöglichen, ist in den Urteilstenor die aufschiebende Bedingung aufzunehmen, von der die Vollstreckung abhängt. 36 Etwa dürfte der Schuldner zur Ubergabe und Ubereignung der 40 Rinder nur unter der Bedingung verurteilt werden, daß die EU das Exportverbot aufhebt, oder der Müller zur Lieferung des Roggenmehls unter der Bedingung, daß die Produktion des Roggenmehls wieder angelaufen ist. Während bei tatsächlichen Leistungshindernissen - wie dem Brand der Mühle - schon die Bestimmtheit des Urteilstenors i.S. des § 322 Abs. 1 ZPO zweifelhaft ist, 37 stellt sich bei dem hinreichend rechtssicher zu bestimmenden Wegfall rechtlicher Leistungshindernisse das Problem, wie das Urteil vollstreckt werden kann. Für die Zwangsvollstreckung von Urteilen auf künftige Leistungen greifen die §§ 721 Abs. 2, 726, 751 ZPO, 38 bei gegenwärtig bestehender Unmöglichkeit § 726 Abs. 1 ZPO. Nach § 726 Abs. 1 ZPO erhält der Gläubiger eine vollstreckbare Ausfertigung des Urteils nur, wenn er durch öffentliche oder öffentlich beglaubigte Urkunde die Bedingung nachweist, von der nach dem Urteilstenor die Verpflichtung zur Leistung abhängt. § 726 Abs. 1 ZPO greift aber nur, wenn die Vollstreckung von einem durch den Gläubiger zu beweisenden Eintritt einer Tatsache abhängt. Materiell-rechtlich hat jedoch nicht der Gläubiger zu beweisen, daß die Leistung möglich ist, sondern der Schuldner, daß er zu Leistung außerstande ist. 39 Deswegen kann die Bedingung des künftigen Wegfalls eines Leistungshindernisses nicht vom Beweis des Gläubigers abhängig gemacht werden. 40 Die Vollstreckungsklausel muß daher ohne weiteres erteilt werden: Ob die Bedingung eingetreten ist, prüft das Vollstreckungsorgan. 34 O b es für die Zulässigkeit einer Klage auf künftige Leistung ausreicht, daß der Schuldner sich weigert, den Anspruch nach § 307 ZPO anzuerkennen (was sich für ihn unter Kostengesichtspunkten geradezu aufdrängt, § 93 ZPO), ist zweifelhaft: Voraussetzung für die Klage auf künftige Leistung ist, daß aus dem Verhalten des Schuldners der Schluß gezogen werden muß, daß er nicht leisten wolle; erforderlich ist das ernstliche Bestreiten des Anspruchs durch den Schuldner: BGH vom 14. 12. 1998 - II ZR 330/97 - NJW 1999, 954, 955. 35 Zöller/Greger ZPO, 23. Aufl. 2003, § 259 Rn. 3. 36 BGH vom 7 10. 1978 - V ZR 131/75 - NJW 1978, 1262, 1263; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann ZPO, 61. Aufl. 2003, § 259 Rn. 12; MünchKommZPO/Lüke, 2. Aufl. 2000, § 259 Rn. 17 37 Siehe U. Huber Leistungsstörungen, Band II, 1999, § 58 II 4, S. 790f. 38 MünchKommZPO/Lüke, 2. Aufl. 2000, § 259 ZPO Rn. 18; Zöller/Greger ZPO, 23. Aufl. 2003, § 259 Rn. 4; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO, 61. Aufl. 2003, § 259 Rn. 12. 39 Staudinger/Löwisch BGB, 2001, § 275 Rn. 63 f. m.w.N. 40 Allgemein MünchKommZPO/ Wolfssteiner, 2. Aufl. 2000, § 726 Rn. 3; abw. offenbar BGH vom 7 10. 1978 - V ZR 131/75 - NJW 1978, 1262, 1263 zu der von einer behördlichen Genehmigung abhängigen Pflicht zum Abriß eines Hauses. Daß der BGH die vollstreckbare

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Viel gewonnen ist damit durch eine Klage auf künftige Leistung nicht: Sofern diese wegen der Besorgnis der Leistungsverweigerung durch den Schuldner überhaupt zulässig ist, bringt sie als Plus gegenüber der Verurteilung zu gegenwärtigen Leistung lediglich, daß im Tenor die Bedingung genannt ist, nach deren Eintritt vollstreckt werden kann. 41 Diese Bedingung ändert aber nichts daran, daß die Vollstreckungsorgane prüfen müssen, ob die Zwangsvollstreckung Erfolg haben wird - die Prüfung wird durch die Bedingung lediglich erleichtert. Zudem begründet die Klage auf künftige Leistung - anders als die Klage auf gegenwärtige Leistung - nicht den Verzug des Schuldners nach § 286 Abs. 1 S. 2 BGB.42 Ist die Klage auf künftige Leistung unzulässig, weil der Schuldner seine Leistungspflicht nicht bestreitet, sondern sich lediglich auf das momentan bestehende Leistungshindernis beruft, zwingt man den Gläubiger dazu, die Leistungsklage weiterzuverfolgen und ein die Klage zur Zeit abweisendes Urteil zu akzeptieren. Denkbar ist auch, daß der Schuldner ein Feststellungsurteil nach § 256 ZPO zu erstreiten versucht. 43 § 256 ZPO ist neben § 259 ZPO anwendbar.44 Insoweit ist aber das Bestehen eines besonderen Feststellungsinteresses zweifelhaft; zudem rechnet der Gläubiger bei Klagerhebung mit der Leistung, so daß ein Feststellungsverfahren aus seiner Sicht fern liegt.45 Da das Feststellungsurteil nicht vollstreckt werden kann, muß der Gläubiger nach Möglichwerden der Leistung gegebenenfalls Leistungsklage erheben. Daß die Vollstreckungsorgane die Frage beantworten müssen, ob die Leistung inzwischen möglich geworden ist, schadet nicht: Ist der Schuldner verUrteilsausfertigung vom Nachweis der Abrißgenehmigung durch öffentliche Urkunden abhängig macht, gründet wahrscheinlich darauf, daß der Gläubiger im konkreten Fall verwaltungsgerichtliche Verpflichtungsklage auf Erteilung der Abrißgenehmigung erhoben hatte und so durch eine Nachweispflicht tatsächlich nicht (gleichwohl aber rechtlich) belastet war. Abw. auch das RG vom 14. 8. 1941 - II 49/41 - RGZ 168, 321, 325 f. in einem Fall, in dem die Lieferung von noch herzustellenden Rasierpinselgriffen daran scheiterte, daß die Reichsstelle Chemie nach Kriegsausbruch 1939 sämtliche ungeformten Kunststoffe beschlagnahmte und ein Verarbeitungsverbot erließ; hiervon konnte eine Ausnahmegenehmigung für den Export erteilt werden. Die Verurteilung zur künftigen Leistung „nach Vorlage entsprechender Bescheinigungen der zuständigen Stellen für Ausfuhren" hat das RG erwogen, aber für zu unbestimmt gehalten; das ist ein Ausnahmefall, da nur der ausfuhrwillige Gläubiger die Ausnahmegenehmigung erwirken konnte. « Siehe RG vom 12. 2. 1918 - III 229/18 - JW 1919, 188: Verurteilung zur Leistung von Kunstseide nach Aufhebung der Beschlagnahme durch das Generalkommando. 42 PalandtlHeinrichs BGB, 62. Aufl. 2003, § 286 Rn. 21; Jauernig/Vollkommer BGB, 10. Aufl. 2003, § 286 Rn. 21; MünchKommBGB/£rwi, 4. Aufl. 2003, § 286 Rn. 54. 43 U. Huber Leistungsstörungen, Band II, 1999, § 58 II 4, S. 791. 44 MünchKommZPO/Lüke, 2. Aufl. 2000, § 259 Rn. 15; Stein-Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl. 1996, § 259 Rn. 21. 45 Eine Zwischenfeststellungsklage aus § 256 Abs. 2 ZPO kommt nicht in Betracht, da das Bestehen der Leistungspflicht des Schuldners in den Fällen, in denen eine Klage auf künftige Leistung ausscheidet, gerade nicht streitig ist.

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pflichtet, bewegliche Sachen zu leisten, so heißt Zwangsvollstreckung nach §§ 884, 883 Abs. 1 ZPO, daß der Gerichtsvollzieher diese Sachen dem Schuldner wegnehmen und dem Gläubiger übergeben muß. 46 Besteht das Leistungshindernis fort oder ist die Beschaffung des Gegenstandes i.S. des § 275 Abs. 2 B G B überobligationsmäßig, muß der Gerichtsvollzieher mit leeren Händen abziehen; dem Schuldner entsteht kein Schaden. Wird dem Schuldner die Leistung nach Rechtskraft des Leistungsurteils dauernd unmöglich, kann er dies gem. § 767 Z P O mit der Vollstreckungsgegenklage einwenden. 47 Hat der Schuldner sich zu einer Werkleistung verpflichtet, etwa zum Bohren eines Tunnels, richtet sich die Vollstreckung nach §§ 887, 888 Z P O : Handelt es sich um eine vertretbare Handlung, kann das Prozeßgericht des ersten Rechtszuges den Gläubiger nach § 887 Abs. 1 ZPO auf Antrag ermächtigen, die geschuldete Handlung auf Kosten des Schuldners selbst vorzunehmen. Das hindert die Vollstreckung, solange das vorübergehende Leistungshindernis besteht. Handelt es sich um eine nicht vertretbare, nur vom Schuldner erbringbare Handlung, kann das Prozeßgericht des ersten Rechtszuges diesen gem. § 888 Abs. 1 ZPO durch Zwangsgeld oder Zwangshaft zur Leistung anhalten. Voraussetzung für die Verhängung der Zwangsmittel ist aber, daß der Schuldner die Handlung überhaupt vornehmen kann, da sie nur dann i.S. des § 888 ZPO allein von Schuldnerwillen abhängt. Zwangsmaßnahmen scheiden aus, solange die Unmöglichkeit der Erfüllung feststeht; 48 das gilt unabhängig davon, ob die Leistung nach § 275 Abs. 1 BGB oder wegen § 275 Abs. 3 BGB unmöglich ist. Durch die Verlagerung der Frage vorübergehender Leistungshindernisse in das auf Kosten des Gläubigers betriebene Zwangsvollstreckungsverfahren wird der Schuldner damit nicht belastet. b) Interessen von Schuldner und Gläubiger Auch die Interessen der Vertragspartner sprechen für eine unbedingte Verurteilung zur Leistung: § 275 Abs. 1 B G B dient dem Schutz des Schuldners. 4 9 Wird die Leistungspflicht wegen eines bloß vorübergehenden Lei-

46 Die Verpflichtung, die Kaufsache zu übereignen, ist nach §§ 894 Abs. 1 S. 2,726 Abs. 2 ZPO erst vollstreckt, wenn der Schuldner die Erbringung der Gegenleistung oder den Annahmeverzug des Vertragspartners nachweist und eine vollstreckbare Ausfertigung des Urteils erhält. 47 So zum auf die nachfolgende dauernde Unmöglichkeit gestützten Einwand des Schuldners gegen die Zwangsvollstreckung aus einem Schadensersatzurteil aus § 283 BGB a.F. BGH vom 14. 12. 1998 - II ZR 330/97 - NJW 1999, 954, 955. 48 OLG Hamm vom 18. 2. 1988 - 14 W 147/87 - NJW-RR 1988, 1087, 1088; OLG Saarbrücken vom 31.10.1990 - 5 W 191/90 - OLGZ 1991,225ff.; OLG Celle vom 26.11.1997 4 W 253/97 - MDR 1998, 923f.; Stein-Jonas/Brehm ZPO, 21. Aufl. 1996, § 888 Rn. 10f.; MünchKommZPO/Schilken, 2. Aufl. 2001, § 888 Rn. 7; Zöller/Stöber ZPO, 23. Aufl. 2003, § 888 Rn. 11. 49 Faust in Huber/Faust, 2002, 8. Kapitel Rn. 2.

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stungshindernisses suspendiert, reicht der Schutz des Schuldners aber nicht weit. Die Abweisung der Klage auf gegenwärtige Leistung als zur Zeit unbegründet stellt ihn nicht besser als ein stattgebendes Leistungsurteil: Solange die Leistung unmöglich ist, gehen Zwangsvollstreckungsversuche des Gläubigers ins Leere; die Kosten der Zwangsvollstreckung trägt der Gläubiger. Anders als bei dauernder Unmöglichkeit wird dem Schuldner seine Dispositionsfreiheit über § 275 Abs. 1 BGB nicht zurückgegeben; er muß sich weiterhin zur Leistung bereithalten. Den nicht vorhandenen Vorteilen für den Schuldner stehen erhebliche Nachteile des Gläubigers gegenüber, obwohl das Leistungshindernis nicht aus seiner Sphäre kommt: Wird die Klage als zur Zeit unbegründet abgewiesen, muß er gegebenenfalls mehrfach klagen und neben den Zwangsvollstreckungskosten auch die Klagkosten tragen. Die Suspendierung der Leistungspflicht bringt dem Gläubiger keine Vorteile: § 326 Abs. 1 S. 1 BGB gibt dem Gläubiger seine Dispositionsfreiheit nicht zurück, sondern befreit ihn von seiner Gegenleistungspflicht nur so lange, wie der Schuldner nicht leisten muß. Insoweit ist der Schutz durch § 326 Abs. 1 S. 1 BGB überflüssig; dem Gläubiger wird schon hinreichend durch das Leistungsverweigerungsrecht des § 320 BGB geholfen. Dem hat U. Huber entgegengehalten, § 320 BGB helfe nicht, wenn der Gläubiger vorleistungspflichtig sei50 - etwa wenn der Verkäufer mit einem Monat Zahlungsziel vorleisten soll, dem ausländischen Käufer die Gegenleistung aber durch eine Genehmigungspflicht für Auslandszahlungen unmöglich gemacht wird, 51 oder der Käufer den Kaufpreis vorab entrichten soll, um dem Verkäufer die Aufnahme der Produktion zu ermöglichen und die Produktion durch kriegsbedingte Beschlagnahmeanordnungen vorübergehend unmöglich wird. In diesen Fällen ergibt aber schon die Vertragsauslegung, daß die Vorleistungspflicht in Abhängigkeit zur Leistung des Schuldners steht und entfällt, solange der Schuldner zur Leistung außerstande ist; auf § 326 Abs. 1 S. 1 BGB braucht nicht zurückgegriffen zu werden: Kann der Kaufpreis sicher nicht erlangt werden, braucht der Verkäufer vorerst nicht zu liefern, da er dem Käufer lediglich ein einmonatiges, nicht aber ein darüber hinausgehendes Zahlungsziel eingeräumt hat. Steht fest, daß der Verkäufer die Produktion nicht beginnen kann, weil alle Rohstoffe beschlagnahmt sind, entfällt schon nach dem Vertrag die Zahlungspflicht des Käufers, solange seine Geldmittel die Produktion nicht ankurbeln können. Im Übrigen kann dem Gläubiger mit § 321 BGB geholfen werden. 52 Uber § 390 BGB genügt das Leistungs-

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RG vom 14. 8. 1941 - II 49/41 - RGZ 168, 321. U. Huber Leistungsstörungen, Band I, 1999, § 4 II 2, S. 111. 52 Arnold JZ 2002, 686, 689; siehe auch Regierungsbegründung BT-Drucks. 14/6040, S. 179; Palandt/Heinnchs BGB, 62. Aufl. 2003, § 312 Rn. 6; MünchKommBGB/fmmencÄ, 4. Aufl. 2003, § 312 Rn. 12. 51

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verweigerungsrecht aus § 320 BGB auch, um den Schuldner daran zu hindern, seine Kaufpreisforderung gegen eine Geldforderung des Gläubigers aufzurechnen. Hat der Gläubiger vorgeleistet, hilft ihm § 326 BGB ohnehin nicht. Entgegen einer verbreitet vertretenen Auffassung 53 kann der Gläubiger seine Gegenleistung nicht nach §§ 326 Abs. 4,346 Abs. 1 BGB zurückverlangen. Denn nach der Systematik des BGB findet eine Rückabwicklung des Vertrages nach Rücktrittsvorschriften nur statt, wenn und soweit die beiderseitigen Leistungspflichten endgültig beendet worden sind, typischerweise aufgrund einer Gestaltungserklärung. Weil mit Unmöglichkeit die beiderseitigen Leistungspflichten automatisch wegfallen und eine Gestaltungserklärung des Gläubigers überflüssig ist, dehnt § 326 Abs. 4 BGB die Rückgewähr nach §§ 346ff. BGB auf diesen Fall aus. Das ändert nichts daran, daß eine Rückabwicklung nur bei endgültigem Wegfall der Leistungspflichten möglich ist, also auf den Fall der dauernden Unmöglichkeit beschränkt bleibt. 54 Berechtigte Interessen des Gläubigers stehen dem nicht entgegen: Besteht der Gläubiger auf der Leistung, obwohl diese momentan unmöglich ist, hält er am Vertrag fest; die erbrachte Vorleistung behält ihren Sinn. Daß der Gläubiger so unter Umständen das Insolvenzrisiko des Schuldners trägt, 55 wird hinreichend durch den Satz gerechtfertigt: „Wer vorleistet, handelt auf eigenes Risiko" 56 . Aus Sicht des Gläubigers besteht zwischen der Leistungsverzögerung und der zeitweiligen Unmöglichkeit kein Unterschied: Der Gläubiger hat einen vertraglichen Anspruch auf die Leistung, diese wird momentan nicht erbracht, kann aber erbracht werden. Sind bei Importware Einfuhrbestimmungen zu überwinden, so heißt Leistungsverzögerung in Abgrenzung zur zeitweiligen Unmöglichkeit nur, daß feststeht, daß die Bemühungen des Schuldners zum Erfolg führen werden, der Leistung also kein objektives Hindernis entgegensteht. Den Gläubiger, der oftmals keinen Einblick in die Gründe für die Leistungsverzögerung hat (möglicherweise stehen die 40 Bullen aus England schon vor dem Exportverbot im Stall des Verkäufers), in die Ungewißheit mehrerer Klagen zu stürzen, benachteiligt ihn über Gebühr. Häufig wird es auch im Interesse des Schuldners liegen, Klarheit über seine Leistungspflicht zu erlangen. Das ist aber nur möglich, wenn die Alternative heißt: unbedingte Verurteilung zur Leistung oder Klagabweisung. 53 CanarisJZ 2001, 499, 500; Faust in Huber/Faust, 2002, 8. Kapitel Rn. 8; Wieser Μ DR 2002, 858, 861. 54 Auch MünchKommBGB/Ernst, 4. Aufl. 2003, § 275 Rn. 137, der aber falsch von einer Kondiktion der Gegenleistung nach §§ 326 Abs. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB spricht. Arnold]Z 2002, 866, 868 Fn. 21 will dem Gläubiger bei kurzzeitigen Hindernissen mit der dolo-agit-Einrede helfen; das greift zu kurz. 55 Faust in Huber/Faust, 2002, 8. Kapitel Rn. 8. 56 Vgl. Lange JuS 1971, 511, 513.

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Nur dann muß der Richter beurteilen, ob das Leistungshindernis innerhalb des nach dem Vertrag vorgesehenen Erfüllungszeitraums überwindbar ist oder ob die beiderseitigen Leistungspflichten wegen dauernder Unmöglichkeit der Leistung endgültig wegfallen. Die Möglichkeit, die Klage als zur Zeit unbegründet abzuweisen oder ihr unter der Bedingung stattzugeben, daß das Leistungshindernis entfällt, erlaubt hingegen eine oberflächliche Prognose. 57 § 275 BGB ist auf die Fälle bloß vorübergehender Leistungshindernisse nicht anzuwenden: die Leistungspflicht des Schuldners wird nicht nach § 275 Abs. 1 S. 1 BGB suspendiert. 58 III. Endgültige Lösung von den

Leistungspflichten

1. Unmöglichkeitsrecht Will sich der Gläubiger endgültig von seiner Pflicht zur Gegenleistung lösen, muß er vom Vertrag zurücktreten oder Schadensersatz statt der Leistung verlangen: nach § 346 Abs. 1 BGB und § 281 Abs. 4 BGB beenden Rücktrittserklärung und Schadensersatzverlangen den Anspruch auf die vertraglich geschuldete Leistung. Das klingt unproblematisch, ist es aber nicht. Wendet man strikt die Vorschriften des Unmöglichkeitsrechts an, eröffnet § 326 Abs. 1 S. 2, Abs. 5 BGB nur die Möglichkeit des Rücktritts mit § 346 Abs. 1 BGB. Hingegen fehlt sowohl in § 283 BGB als auch in § 311a Abs. 2 BGB eine dem § 281 Abs. 4 BGB entsprechende Vorschrift, nach der die Leistungspflicht mit dem Schadensersatzverlangen erlischt59 - da die beiderseitigen Leistungspflichten gem. §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 S. 1 BGB schon mit der Unmöglichkeit der Leistung automatisch (dauerhaft) wegfallen. Schwerer wiegt es, daß § 326 Abs. 5 BGB dem Gläubiger ein Recht zum Rücktritt vom Vertrag ohne vorherige Nachfristsetzung gewährt. Das ist konsequent, wenn dem Schuldner, weil er dauernd zur Leistung außerstande ist, keine Chance gegeben zu werden braucht, doch noch zu leisten. Auf die Fälle vorübergehender Leistungsunfähigkeit paßt die Entbehrlichs7 Exemplarisch der BGH vom 7 10. 1978 - V ZR 131/75 - NJW 1978,1262,1263 im Abrißfall: Verurteilung zur künftigen Leistung mit Erteilung der Abrißgenehmigung, obwohl in aller Regel mit einer Genehmigung daher nicht gerechnet werden kann" und die Verpflichtungsklage des Gläubigers auf die Abrißgenehmigung in erster Instanz abgewiesen worden war. 58 So auch Ehmann/Sutschet Modernisiertes Schuldrecht, 2002, S. 56. Zum BGB a.F. schon Coester-Waltjen AcP 183 (1983), 279, 281; Soergel/Wiedemann BGB, 12. Aufl. 1990, § 280 Rn. 13 für vom Schuldner zu vertretende Leistungshindernisse. 59 CanarisJZ 2001,499, 510, 515 möchte mit einer analogen Anwendung des § 281 Abs. 3 KF = § 281 Abs. 4 BGB helfen.

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keit der Fristsetzung hingegen nicht. Der Gläubiger hat auch kein Interesse an einem sofortigen Vertragslösungsrecht. Er befindet sich in einer erheblichen Unsicherheit, weil er nicht weiß, warum der Schuldner nicht leistet. Mit Hilfe der Nachfrist kann der Gläubiger den Schuldner zwingen, den Grund für die Nichtleistung zu erklären, und dann entscheiden, ob er am Vertrag festhalten möchte, insbesondere weil das Leistungshindernis in Kürze behoben sein wird oder weil er ein so großes Interesse an der Leistung hat, daß sich das Abwarten der vom Schuldner in Aussicht gestellten Zeit lohnt. Reagiert der Schuldner auf die Fristsetzung nicht, kann der Gläubiger entscheiden, ob er dies als Signal mangelnder Leistungsbereitschaft ausreichen läßt und deshalb vom Vertrag zurücktritt oder Schadensersatz statt der Leistung verlangt. Während die Interessen des Gläubigers kein sofortiges Recht zur Lösung vom Vertrag fordern, sprechen die Interessen des Schuldners - anders als bei der dauernden Unmöglichkeit - gegen ein solches Gläubigerrecht: Durch den sofortigen Rücktritt nimmt der Gläubiger dem Schuldner die Chance, entweder doch noch zu leisten (wenn das Leistungshindernis inzwischen weggefallen ist) oder aber den Gläubiger von seiner bestehenden Leistungsbereitschaft und einem Zuwarten bis zum voraussichtlichen Wegfall des Hindernisses zu überzeugen. Für ein Rücktrittsrecht des Gläubigers aus § 326 Abs. 5 BGB plädiert folgerichtig außer Faust niemand. Auch Faust schränkt die Rücktrittsbefugnis ein - analog § 323 Abs. 5 S. 1 BGB: Der Gläubiger könne nur dann zurücktreten, wenn er kein Interesse daran habe, die Leistung nach Wegfall des Hindernisses noch zu erhalten. 60 Auf diesem Weg wird aber weder für den Gläubiger noch für den Schuldner ein Mehr an Rechtssicherheit erreicht, sondern im Gegenteil für beide die Frage, ob sich der Gläubiger vom Vertrag lösen darf oder wirksam gelöst hat, schwerer zu beantworten. Eine Beschränkung des Vertragslösungsrechts durch eine Pflicht zur Nachfristsetzung wird den Interessen der Vertragspartner besser gerecht. 61 2. Leistungsverzögerungsrecht Die h.M. gibt dem Gläubiger den Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung und das Recht zum Rücktritt vom Vertrag erst, nachdem er dem Schuldner eine angemessene Nachfrist gesetzt hat - entweder analog §§ 281 Abs. 1 S. 1, 323 Abs. 1 S. 1 BGB (soweit auch auf die vorübergehende Unmöglichkeit grundsätzlich die Unmöglichkeitsvorschriften angewendet wer-

60 Faust in Huber/Faust, 2002, 8. Kapitel Rn. 9, der das Problem nur für den Rücktritt erörtert. 61 Abi. auch Canaris JZ 2001, 499, 510 Fn. 111; Amold]Z 2002, 866, 868; Wieser MDR 2002, 858, 862; MünchKommBGB/Ernst, 4. Aufl. 2003, § 275 Rn. 144.

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den) 62 oder in unmittelbarer Anwendung der §§ 281, 323 BGB (trotz Suspendierung der Schuldnerpflicht gem. § 275 BGB) 6 3 . Das zwingt zu einem doppelten Salto. Zum einem muß die h.M. ignorieren, daß § 275 Abs. 4 BGB ausschließlich auf die §§ 283-285, 311a und 326 BGB verweist 64 - und tut dies mit dem Argument, die in Bezug genommenen Vorschriften paßten nur für den dauernden Ausschluß der Leistungspflicht. 65 Zum anderen muß sich die h.M. über das Erfordernis in §§ 281 Abs. 1 S. 1, 323 Abs. 1 S. 1 BGB hinwegsetzen, daß der Schuldner eine fällige und durchsetzbare Leistung nicht oder anders als geschuldet erbringt: Eine Nachfrist zur Leistung kann der Gläubiger nur setzen, soweit er berechtigt ist, die Leistung überhaupt zu verlangen; das sagt das Gesetz für die Fälligkeit ausdrücklich. 66 Ist die Leistungspflicht des Schuldners suspendiert, kann der Gläubiger diese aber nicht fordern. Das erkennt auch die h.M. und problematisiert die „Fälligkeit" der Leistung. Die Konzentration auf die Fälligkeit mag auf Canaris zurückgehen 67 oder darauf, daß das Gesetz nur diese ausdrücklich nennt. Ab wann der Gläubiger nach dem Vertrag berechtigt ist, die Leistung zu fordern, und damit die Fälligkeit der Leistung hängt aber nicht davon ab, ob der Leistung ein vorübergehendes Hindernis entgegensteht. Vielmehr hindert ein vorübergehendes Hindernis die Durchsetzbarkeit des Gläubigeranspruchs. 68 Das ist für das Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 2 und 3 BGB evident. 69 Daran, daß der Anspruch auf die Leistung nicht durchsetzbar - oder in der Diktion der h.M. nicht „fällig" - ist, wenn § 275 Abs. 1 BGB die Lei62 Wieser M D R 2 0 0 2 , 858, 861; M ü n c h K o m m B G B / E m s t , 4. Aufl. 2 0 0 3 , § 2 7 5 Rn. 145, 148; zur konsolidierten Fassung des Regierungsentwurfs auch Canaris JZ 2001, 4 9 9 , 5 0 0 , 510, 515, 523. 63 AmoldJZ 2 0 0 2 , 866, 8 6 9 ; Emmerich § 4 IV, S. 6 4 f. 64

Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl. 2 0 0 3 ,

Diesem Vorwurf entgeht nur Faust in H u b e r / F a u s t , 2 0 0 2 , 8. Kapitel R n . 9.

CanarisJZ 2001, 4 9 9 , 510; ArnoldJZ 2 0 0 2 , 866, 869. D a ß die Durchsetzbarkeit im Gesetz anders als die Fälligkeit nicht ausdrücklich genannt wird, schadet nicht. U. Huber Leistungsstörungen Band I, 1999, § 1 1 1 1 , S. 2 8 9 und Faust in H u b e r / F a u s t , 2 0 0 2 , 3. Kapitel Rn. 134 sehen die Durchsetzbarkeit als „Unteraspekt der Fälligkeit" an; das hält Pohlmann in D a u n e r - L i e b / K o n z e n / K . Schmidt, 2 0 0 3 , S. 273, 2 8 2 mit Recht für entbehrlich. 65

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67 Canaris J Z 2001, 4 9 9 , 516, auch 5 0 8 und 510. Auch der B G H hat bei Fehlen einer Baugenehmigung die Fälligkeit der Gläubigerforderung verneint, vom 21. 3. 1974 VII ZR 139/71 - NJW 1974, 1080; anders jetzt für das NichtVorliegen des Baufreigabescheins, vom 17 1. 2 0 0 2 - VII ZR 4 9 0 / 0 0 - NJW 2 0 0 2 , 1568, 1569. 68 U. Huber in Festschrift H . J . Gaul, 199^ 217, 2 2 3 und den. Leistungsstörungen, Band I, 1999, § 11 II 1 S. 2 9 3 ; Medicus Schuldrecht I Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 2 0 0 3 , Rn. 397a BGB; siehe auch Amold]Z 2 0 0 2 , 866, 868. 69 Emmerich Das Recht der Leistungsstörungen, mer in D a u n e r - L i e b / K o n z e n / K . Schmidt, 2 0 0 3 , beim Rücktritt nicht mit § 3 2 3 Abs. 4 BGB helfen die Erfüllungsverweigerung vor Fälligkeit gedacht

5. Aufl. 2 0 0 3 , § 6 I 2, S. 2 3 2 ; Maier-ReiS. 291, 3 0 7 Deswegen kann man auch - der ohnehin für andere Fälle, nämlich ist.

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stungspflicht des Schuldners suspendiert und eine Leistungsklage deswegen als zur Zeit unbegründet abgewiesen werden muß, zweifelt niemand. Um gleichwohl §§ 281 Abs. 1 S. 1, 323 Abs. 1 BGB anwenden zu können, greift die h.M. zu einem Kunstgriff. Deutlich sagt Arnold: „Man muß bei Prüfung der §§ 281, 323 BGB die Suspendierung der Leistungspflicht nach § 275 BGB außer Betracht lassen und fragen, ob ohne das Leistungshindernis eine fällige Leistungspflicht bestünde" 70 . So biegt man sich das Gesetz zurecht, bis die gewünschte Norm paßt. Entgegen dem Vorschlag von U. Huber zum BGB a.F. kann man die Fälle der vom Schuldner zu vertretenden und die der von ihm nicht zu vertretenden vorübergehenden Leistungshindernisse nicht trennen und bei zu vertretenden Hindernissen den Fortbestand der Leistungspflicht annehmen:71 Nach der Schuldrechtsreform spricht § 275 BGB nicht mehr davon, daß der Schuldner nur dann von seiner Leistungspflicht frei wird, wenn er die zur Unmöglichkeit führenden Umstände zu vertreten hat. § 275 Abs. 1 BGB behandelt die Fälle der zu vertretenden und der nicht zu vertretenden Unmöglichkeit gleich. Den Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung und das Recht zum Rücktritt vom Vertrag trotz Suspendierung der Leistungspflicht des Schuldners nach § 275 Abs. 1 BGB muß sich die h.M. mit einer - unzulässigen Erweiterung des Anwendungsbereichs der §§ 281, 323 BGB erkaufen. Diese Schwierigkeiten werden vermieden, wenn man annimmt, daß zeitweilige Hindernisse die Leistungspflicht nicht suspendieren.

C . Schadensersatz neben der Leistung

I, Problem Möchte der Gläubiger die Leistung trotz des vorübergehenden Hindernisses bekommen, sind ihm durch die Verzögerung aber Nachteile entstanden, wird er neben dem Anspruch auf die vertragliche Leistung Schadensersatz verlangen. Etwa kann der Käufer, der der Miterbin ein wertvolles Schmuckstück abgekauft hat, für die geplante Übergabe schon einen besonderen Transport organisiert und das Schmuckstück versichert haben. Ist die Erbengemeinschaft zu diesem Zeitpunkt noch nicht auseinandergesetzt und die Miterbin deswegen außerstande, den Schmuck zu übergeben, schlagen

70 Arnold JZ 2002, 866, 869 (Hervorhebung durch Verf.), auch schon S. 868; ebenso Canaris]7. 2001, 499, 508, 510 und 516; Maier-Reimer in Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt, 2003, S. 291, 305f., 307. 7> U. Huber in Festschrift H.J. Gaul, 1997, S. 217, 224; Soergel/Wiedemann BGB, 12. Aufl. 1990, § 275 Rn. 42 und § 280 Rn. 13.

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die Aufwendungen fehl. Hat der Käufer das Schmuckstück gewinnbringend weiterveräußert und wird die Erbengemeinschaft innerhalb der kurzen Frist nicht auseinandergesetzt, für die sich der Drittkäufer an das Angebot gebunden hält, entgeht dem Käufer ein unter Umständen erheblicher Gewinn. Ahnliche Schäden sind denkbar, wenn der Schuldner das versprochene Vieh nicht liefern kann, weil die EU ein Exportverbot für britische Rinder verhängt. Hier ist insbesondere denkbar, daß der Käufer Ersatz für die Mehrkosten verlangt, die ihm entstanden sind, weil er sich nicht rechtzeitig mit anderen Rindern eingedeckt hat. Versucht man diese Fälle ausschließlich mit Hilfe des Unmöglichkeitsrechts zu lösen, kommt im Schmuckstückfall ein Schadensersatzanspruch wegen anfänglicher Unmöglichkeit aus §§ 311a Abs. 2,284 BGB in Betracht und im Rinderfall wegen nachträglicher Unmöglichkeit aus §§ 280 Abs. 1, 3 mit 283, 284 BGB.72 Diese Normen gewähren einen Anspruch aber nur auf Schadensersatz statt der Leistung, nicht aber neben der Leistung. Ganz überwiegend wird der Ersatzanspruch des Gläubigers deswegen auf § 286 BGB gestützt. 73 Das bereitet Schwierigkeiten, wenn man mit der h.M. die Leistungspflicht des Schuldners nach § 275 BGB suspendiert, da es dann an einer durchsetzbaren Leistung fehlt. Deswegen ziehen manche § 280 Abs. 1 BGB als Anspruchsgrundlage heran. 74

II. Grundlage 1. §§ 280 Abs. 1, 3 mit 283, 284 BGB und §§ 311a Abs. 2, 284 BGB Weil die beiderseitigen Leistungspflichten gem. §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 S. 1 BGB mit Unmöglichkeit der Leistung erlöschen, gewähren §§ 280 Abs. 1, 3 mit 283, 284 BGB und §§ 311a Abs. 2, 284 BGB Schadensersatz nur statt der Leistung: Ist die Leistungspflicht weggefallen, kann es einen Anspruch auf Schadensersatz neben der Leistung nicht geben. Um dem Gläubiger einen Anspruch auf Schadensersatz neben der Leistung zu geben, schlägt Faust vor, die §§ 280 Abs. 1, 3 mit 283 BGB und § 311a BGB für die Fälle der vorübergehenden Unmöglichkeit teleologisch zu reduzieren und Schadensersatz „statt der Leistung" als Schadensersatz „statt der rechtzeitigen Leistung" zu lesen. 75 Das verwischt aber unzulässig 72

Faust in Huber/Faust, 2002, 8. Kapitel Rn. 14, 16ff. Arnold}Z 2002, 866, 869; Maier-Reimer in Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt, 2003, S. 291, 298, 305 und 307; Emmerich Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl. 2003, § 4 IV, S. 64f.; Palandt/Heinrichs BGB, 62. Aufl. 2003, § 275 Rn. 10. 74 MünchKommBGB/Emst, 4. Aufl. 2003, § 275 BGB Rn. 146; Canaris]Z 2001, 499, 508 für Hindernisse bei Vertragsschluß, hingegen S. 516 wohl für § 286 BGB bei nachträglichen Leistungshindernissen. 75 Faust in Huber/Faust, 2002, 8. Kapitel Rn. 14, 16ff. 73

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die Grenze zwischen dem Schadensersatz statt der Leistung und dem Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung. 76 Der Verspätungsschaden kann, wie es § 281 Abs. 2 BGB ausdrücklich formuliert, „nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 286 BGB" verlangt werden. Der Gläubiger hat, wenn der Schuldner die Leistung nicht rechtzeitig erbringt, ein Wahlrecht: entweder er besteht auf Erfüllung und macht daneben gem. §§ 280 Abs. 1, 2 mit § 286 BGB Schadensersatz wegen der Leistungsverzögerung geltend, oder er verlangt Schadensersatz statt der Leistung gem. §§ 280 Abs. 1, 3 mit § 281 Abs. 1 BGB und verzichtet nach § 281 Abs. 4 BGB auf seinen Primärleistungsanspruch. Damit trennt § 281 BGB den Schadensersatz statt der rechtzeitigen Leistung deutlich vom Schadensersatz statt der Leistung. Wie insbesondere § 280 Abs. 3 BGB zeigt, der für den „Schadensersatz statt der Leistung" sowohl auf § 281 BGB als auch auf § 283 BGB verweist, verwendet das Gesetz den Begriff einheitlich. Eine teleologische Reduktion dieser Schadensersatzform nur für zwei Vorschriften (§§ 283, 311a Abs. 2 BGB) und nur für einen Sonderfall (den der vorübergehenden Unmöglichkeit) ist mit der Systematik des BGB nicht vereinbar.

2. § 280 Abs. 1 B G B Außer § 286 BGB gewährt auch § 280 Abs. 1 BGB einen Ersatzanspruch trotz Fortbestehens des Leistungsanspruchs; als Anspruchsgrundlage bietet er sich wegen seiner weiten Formulierung an. Für diejenigen, die vorübergehende Leistungshindernisse als Unterfall der Unmöglichkeit einordnen, liegt es deswegen nahe, den Ersatzanspruch für Verspätungsschäden auf § 280 Abs. 1 BGB zu stützen. 77 Gegen diese Lösung spricht aber wiederum die Systematik des Leistungsstörungsrechts: Zwar kann die Pflichtverletzung i.S. des § 280 Abs. 1 BGB in der Herbeiführung der vorübergehenden Unmöglichkeit gesehen werden,78 etwa darin, daß der Müller keine hinreichenden Maßnahmen gegen das Abbrennen seiner Mühle unternommen oder der Angestellte des Werkunternehmers als dessen Erfüllungsgehilfe den Spezialbohrer beschädigt hat. Das ändert aber nichts daran, daß Ziel des Anspruchs Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung ist: Der Gläubiger erhält die Leistung später als vereinbart und verlangt Ersatz für zwischenzeitlich eingetretene Schäden. Canaris spricht ausdrücklich von einem „Verzögerungsschaden i.S. von § 280 Abs. 2 KF", auf den „man wohl sogar § 280 Abs. 1

Abi. auch Amold]2 2002, 866, 868. MünchKommBGB/£mst, 4. Aufl. 2003, § 275 BGB Rn. 146; für bei Vertragsschluß bestehende Hindernisse auch Canaris JZ 2001, 499, 508. 78 MünchKommBGB/Ernst, 4. Aufl. 2003, § 275 BGB Rn. 146; vgl. auch Faust in Huber/ Faust, 2002, 8. Kapitel Rn. 15. 76

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KF unmittelbar anwenden können" werde. 79 Für den Verzögerungsschaden gilt aber die Beschränkung des § 280 Abs. 2 BGB, der einen Ersatzanspruch „nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 286 B G B " zubilligt insbesondere nach Mahnung. 80 Damit begrenzt § 280 Abs. 2 BGB den Anwendungsbereich des § 280 Abs. 1 BGB. Diese Beschränkung kann durch kunstvoll formulierte Pflichtverletzungen nicht umgangen werden. Denn § 280 Abs. 2 und 3 BGB machen die besonderen Voraussetzungen für den Ersatzanspruch nicht von der Art der Pflichtverletzung abhängig, sondern von Art und Umfang des Schadensersatzanspruchs. Bei anfänglichen Leistungshindernissen paßt § 280 Abs. 1 BGB von vornherein nicht. Vor Vertragsschluß kann die Pflichtverletzung des Schuldners nicht darin liegen, daß er seine vorübergehende Leistungsunfähigkeit herbeigeführt hat: Da den Schuldner vor Vertragsschluß keine Leistungspflicht trifft, ist es nicht pflichtwidrig, wenn er ein Leistungshindernis verursacht oder nicht beseitigt. Pflichtwidrig kann nur sein, daß der Schuldner den Vertrag abgeschlossen und sich zu einer Leistung verpflichtet hat, obwohl er wußte oder hätte wissen müssen, daß der Leistung ein vorübergehendes Hindernis entgegensteht. 81 Das entspricht aber der Pflichtverletzung des § 311a Abs. 2 BGB, der dem Gläubiger wegen Nichterfüllung des nach § 311a Abs. 1 BGB wirksamen Leistungsversprechens einen Anspruch auf das positive Interesse gewährt 82 und ihn mit §§ 311a Abs. 2 S. 1, 284 BGB wahlweise auf einen Ausschnitt des negativen Interesses beschränkt, nämlich auf den Ersatz vergeblicher Aufwendungen. 83 Anwendungsbereich und Rechtsfolgen des § 311a Abs. 2 BGB würden umgangen, wenn der Gläubiger bei anfänglichen vorübergehenden Leistungshindernissen Schadensersatz gem. § 280 Abs. 1 BGB verlange könnte. Ein von § 311a Abs. 2 BGB abweichendes Fehlverhalten des Schuldners kann nicht begründet werden. Zwar könnte man es als pflichtwidrig i.S. des § 280 Abs. 1 BGB ansehen, daß der Schuldner es unterlassen hat, den Gläubiger über das der Leistung entgegenstehende Hindernis aufzuklären. Das wäre aber eine Haftung aus culpa in contrahendo gem. §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 BGB. Diese ist neben dem Schadensersatzanspruch aus § 311a Abs. 2 BGB 79 Canans]Z 2001, 499, 508 zur anfänglichen vorübergehenden Unmöglichkeit. Mittelbar auch MünchKommBGB/£iTzsi, 4. Aufl. 2003, wenn er bei vorübergehender Unmöglichkeit die §§ 281, 323 BGB für einschlägig hält (§ 275 BGB Rn. 145, 148) und dies damit begründet, daß „Verzug und zu vertretende Unmöglichkeit fließend ineinander übergehen" (§ 275 BGB Rn. 150). 8 0 Abi. auch ArnoldJZ 2002, 866, 868 Fn. 24. 81 Faust in Huber/Faust, 2002, 8. Kapitel Rn. 17; Hirsch Jura 2003, 289, 297 82 H.M. Sehr kritisch etwa Altmeppen DB 2001, 1399, 1400f.; Ehmann/Sutschet Modernisiertes Schuldrecht, 2002, S. 122. 83 Canans JZ 2001, 499, 507; R. Schwarze JURA 2002, 73, 80; Riehm in Lorenz/Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, 2002, Rn. 332; Faust in Huber/Faust, 2002, 1. Kapitel Rn. 17; Dauner-Lieb in Anwaltkommentar zum Schuldrecht, 2002, § 311a Rn. 15.

Zeitweilige U n m ö g l i c h k e i t

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ausgeschlossen: 84 Denn zum einen knüpft auch § 311a Abs. 2 BGB - wie die Entlastungsmöglichkeit des § 311a Abs. 2 BGB zeigt - an einen Verstoß gegen vorvertragliche Informationspflichten an. 85 Zum anderen erhielte der Gläubiger über § 280 Abs. 1 BGB das gesamte negative Interesse ersetzt, einschließlich etwa der Nachteile, die ihm entstanden sind, weil er im Vertrauen auf den Erhalt der Leistung den Abschluß eines Ersatzgeschäftes unterlassen hat (Rinderfall). 86 § 280 Abs. 1 BGB ist neben § 311a Abs. 2 BGB deswegen nicht anwendbar87 - auch nicht im Fall der vorübergehenden Unmöglichkeit. 88 3. §§ 280 Abs. 1, 2 mit 286 B G B Richtige Anspruchsgrundlage für den Ersatz des Verzögerungsschadens ist §§280 Abs. 1, 2 mit 286 BGB; das entspricht auch der überwiegenden Meinung. 89 Hauptproblem ist für die h.M., daß § 286 BGB Verzug voraussetzt. Denn in Verzug kann nur der Schuldner geraten, der trotz bestehender Leistungspflicht, d.h. trotz fälligen und durchsetzbaren Gläubigeranspruchs nicht rechtzeitig leistet. Ist der Schuldner aber nach § 275 Abs. 1 BGB von seiner Leistungspflicht befreit, besteht kein durchsetzbarer Leistungsanspruch. Einen Schadensersatzanspruch wegen Verzögerung der Leistung kann die h.M. daher nur geben, wenn sie - wie bei §§ 281, 323 BGB (oben Β III 2) - das Gesetz ignoriert und so tut, als ob die Leistung trotz des Hindernisses gegenwärtig durchsetzbar ist. 90 Das bleibt ein mit dem Gesetz nicht zu vereinbarender Kunstgriff. Zweites Problem bei Anwendung des § 286 BGB ist, daß der Schuldner Schadensersatz nur leisten muß, wenn er die Leistungsverzögerung, d.h. nach § 286 Abs. 4 BGB die Umstände zu vertreten hat, die zum Ausbleiben der Leistung führen: 91 Der Schuldner muß das zeitweilige Leistungshinder84 Faust in H u b e r / F a u s t , 2 0 0 2 , 7. Kapitel Rn. 17; Palandt/Heinrichs BGB, 62. Aufl. 2 0 0 2 , § 311a Rn. 13; siehe aber Rieble in D a u n e r - L i e b / K o n z e n / K . Schmidt, 2 0 0 3 , S. 137, 152f.; M ü n c h K o m m B G B / E m s t , 4. Aufl. 2 0 0 3 , § 311a Rn. 21 a.E. 85 CanarisJZ 2001, 4 9 9 , 5 0 7 ; Zimmer Njy/ 2 0 0 2 , 1, $; Hirschjmi 2 0 0 3 , 2 8 9 , 2 9 7 ; Faust in Huber/Faust, 2 0 0 2 , 7 Kapitel R n . 17; Palandt/Heinrichs BGB, 62. Aufl. 2 0 0 2 , § 311a Rn. 6. 86 Wilmowsky Pflichtverletzungen im Schuldverhältnis, JuS 2 0 0 2 , Beilage zu Heft 1, S. 5; Faust in H u b e r / F a u s t , 2 0 0 2 , 8. Kapitel Rn. 17. 87

Wilmowsky JuS 2 0 0 2 , Beilage zu Heft 1, S. 5.

88

Faust in Huber/Faust, 2 0 0 2 , 8. Kapitel Rn. 17.

89 Arnold J Z 2 0 0 2 , 866, 8 6 9 ; Maier-Reimer in D a u n e r - L i e b / K o n z e n / K . Schmidt, 2 0 0 3 , S. 291, 3 0 5 f . ; siehe auch Canaris]Z 2001, 4 9 9 , 516. 90 Arnold ]Z 2 0 0 2 , 866, 869, auch schon S. 8 6 8 ; ebenso Canaris J Z 2001, 4 9 9 , 508, 510 und 516; Maier-Reimer in D a u n e r - L i e b / K o n z e n / K . Schmidt, 2 0 0 3 , S. 291, 3 0 5 f . , 3 0 7 91 Mit dem Einwand, er habe die zeitweilige Unmöglichkeit nicht zu vertreten, ist der Schuldner durch die materielle Rechtskraft eines Leistungsurteils nicht präkludiert, da die Frage des Vertretenmüssens nicht Gegenstand des Prozesses über den Leistungsanspruch ist, Ehmann/Sutschet Modernisiertes Schuldrecht, 2 0 0 2 , S. 56.

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nis vorsätzlich oder fahrlässig verursacht oder eine Garantie für das Nichtbestehen des Hindernisses abgegeben haben, § 276 BGB. Insoweit helfen dem Gläubiger §§ 280 Abs. 1 S. 2, 286 Abs. 4 BGB, die das Vertretenmüssen des Schuldners vermuten. Häufig wird dem Schuldner der Nachweis gelingen, er könne für das vorübergehende Leistungshindernis nichts. Insbesondere bei rechtlichen Erfüllungshindernissen, wie einem vorübergehenden Exportverbot, kommt kaum in Betracht, daß der Schuldner das Hindernis vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt hat oder dessen Entstehen hätte hindern müssen. Ausnahmen sind denkbar: Leistet die Erbin das Schmuckstück nicht rechtzeitig, weil die Erbengemeinschaft noch nicht auseinandergesetzt ist, hat sie dies zu vertreten, wenn sie die Auseinandersetzung willentlich verzögert (Vorsatz) oder keine hinreichenden Anstrengungen unternimmt, um die Auseinandersetzung voranzutreiben (Fahrlässigkeit). In Betracht kommt ein Vertretenmüssen des Schuldners vor allem bei tatsächlichen Leistungshindernissen. Der Müller hat das Abbrennen seiner Mühle mitsamt allen Vorräten zu vertreten, wenn er keine hinreichenden Sicherheitsmaßnahmen gegen Brände ergriffen hat. Der Werkunternehmer muß für seinen Arbeitnehmer als Erfüllungsgehilfen einstehen, wenn dieser den Spezialbohrer durch unsachgemäße Handhabung beschädigt hat. In vielen Fällen, auch in dem der Miterbinnen, besteht das vorübergehende Leistungshindernis aber schon bei Vertragsschluß. Der Vorwurf gegen den Schuldner ist dann nicht, daß er die Leistungsverzögerung herbeigeführt hat, sondern daß er eine Leistung versprochen hat, obwohl er wissen mußte, daß er sie auf absehbare Zeit nicht erbringen kann. Das entspricht dem Entlastungsnachweis des § 311a Abs. 2 S. 2 BGB bei anfänglicher Unmöglichkeit. Man kann überlegen, § 311a Abs. 2 BGB i.R. des § 286 BGB analog anzuwenden, weil dieser die einzige Sondervorschrift für anfängliche Leistungshindernisse ist. Man muß dies aber nicht tun. Ebenso kann man ein Vertretenmüssen mit § 286 Abs. 4 BGB begründen und es dem Schuldner als Übernahmeverschulden vorwerfen, daß er es übernommen hat, die Leistung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erbringen, obwohl diese innerhalb dieses Zeitraums gar nicht erbracht werden konnte. 92 So läßt sich ein Vertretenmüssen der Erbin begründen, wenn diese ohne Rücksicht auf die noch ausstehende Auseinandersetzung der Miterbengemeinschaft die sofortige Ubereignung des Schmuckstücks versprochen hat. Unproblematisch ist die Zufallshaftung des § 287 BGB, wenn die vorübergehende Unmöglichkeit in eine dauernde umschlägt: Sie tritt nur ein, wenn 92 So Staudinger/Löwisch BGB, 2001, § 285 BGB Rn. 5 zum BGB a.F.; Soergel/Wiedemann BGB, 12. Aufl. 1999, § 275 Rn. 32; auch OLG Karlsruhe vom 24. 5. 1989 - 6 U 192/88 NJW-RR 1989, 1245, 1246.

Zeitweilige Unmöglichkeit

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der Schuldner sich in Verzug befindet, d.h. nach § 286 Abs. 4 BGB nur, wenn er die Leistungsverzögerung und damit das vorübergehende Leistungshindernis zu vertreten hat. In diesem Fall ist es konsequent, nicht erneut das Vertretenmüssen des Schuldners zu prüfen, wenn aus der zunächst vorübergehenden bzw. als vorübergehend erscheinenden Unmöglichkeit eine dauernde wird, sondern ihn ohne weiteres gem. §§ 280 Abs. 1 und 3, 283 BGB haften zu lassen.93

D. Ergebnis Die „zeitweilige Unmöglichkeit" ist kein Unterfall der Unmöglichkeit, sondern bewirkt lediglich ein Hinausschieben der Leistungserbringung über den Zeitpunkt der Fälligkeit hinaus. Sie ist damit bloße Leistungsverzögerung. Kann ein Leistungshindernis innerhalb des vom Vertrag vorgegebenen Erfüllungszeitraums behoben werden, bleibt die Leistung möglich; sie wird auch nicht für die Dauer des Hindernisses nach § 275 Abs. 1 BGB suspendiert. Der Gläubiger ist nicht darauf beschränkt, ein Urteil auf künftige, durch den Wegfall des Hindernisses bedingte Leistung zu erstreiten, sondern kann ein unbedingtes Leistungsurteil erwirken. Der Schuldner wird durch das Zwangsvollstreckungsverfahren hinreichend geschützt, da die Vollstreckung unzulässig ist (§ 888 ZPO) bzw. fehlschlägt (§§ 883, 887 ZPO), solange die Leistung unmöglich ist. Ist die Leistungspflicht des Schuldners nicht nach § 275 Abs. 1 BGB suspendiert, bereiten die Sekundäransprüche des Gläubigers keine Probleme: Will sich der Gläubiger auf Dauer vom Vertrag lösen, kann er nach §§ 280 Abs. 1, 3 mit 281 BGB Schadensersatz statt der Leistung verlangen oder gem. § 323 BGB vom Vertrag zurücktreten. Gegenüber dem Rücktritt nach § 326 Abs. 5 BGB hat dies den Vorzug, daß der Gläubiger sich erst nach Ablauf einer angemessenen Nachfrist vom Vertrag lösen kann und dem Schuldner so die Chance erhalten bleibt, zu leisten oder den Gläubiger von einem Zuwarten bis zum voraussichtlichen Wegfall des Hindernisses zu überzeugen. Will der Gläubiger am Vertrag festhalten, kann er zwischenzeitlich eingetretene Schäden nach § 286 BGB liquidieren. Demgegenüber ist die Lösung der h.M., die Leistungspflicht des Schuldners zu suspendieren und für §§ 281, 286, 323 BGB so zu tun, als sei die Leistung gleichwohl fällig und durchsetzbar, nicht mit dem Gesetz vereinbar.

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Siehe auch Maier-Reimer in Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt, 2003, S. 291, 307

Die AGB-Kontrolle im Arbeitsvertragsrecht HORST

KONZEN

I. Erstreckung der AGB-Kontrolle auf das Arbeitsrecht Das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz1 hat nicht nur das AGB-Gesetz und, nachdem bereits aus Anlaß des FernAbsG2 die Legaldefinition des Verbrauchers in § 13 BGB aufgenommen und mit Hilfe des Unternehmerbegriffs (§ 14 BGB) bestimmt worden war, die meisten Verbraucherschutzgesetze3 in das BGB integriert. Der neue § 310 Abs. 4 BGB erstreckt nunmehr auch die Anwendbarkeit des AGB-Rechts bei vorformulierten Verträgen, darunter auch die Inhaltskontrolle (§§ 307-309 BGB), auf Arbeitsverträge. Er nimmt das Arbeitsrecht aus der umfassenden Bereichsausnahme des bisherigen § 23 Abs. 1 AGB-Gesetz, die § 310 Abs. 4 S. 1 BGB für das Erb-, Familien- und Gesellschaftsrecht unverändert fortschreibt, heraus und schließt die Anwendbarkeit des AGB-Gesetzes nur noch für Tarifverträge, Betriebsund Dienstvereinbarungen aus. Während der Gesetzgeber seinerzeit einen Schutz durch das AGB-Recht nicht erforderlich, nicht angemessen oder nicht systemgerecht fand, für das Arbeitsrecht auf zwingende Vorschriften und kollektive Vereinbarungen verwies und etwaige Verbesserungen durch besondere gesetzgeberische Maßnahmen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts selbst vornehmen wollte4, liegt der neuen Regelung ein Sinneswandel zugrunde. Zwar wollte der Regierungsentwurf des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes die Bereichsausnahme beibehalten5, jedoch bat der Bundesrat um die Prüfung, ob die Ausnahme für das Arbeitsrecht noch sachgerecht sei. Er verwies darauf, daß § 23 Abs. 1 AGB-Gesetz eine Kontrolle nicht als solche untersage und das BAG Arbeitsvertragsbedingungen auf der Grundlage der §§ 242 und 315 BGB so überprüfe, als fände § 9 AGB-Gesetz Anwendung6. Die Bundesregierung, der sich der Rechtsausschuß des Bundestags 1

Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26. 11. 2001, BGBl. I, S. 3138. Fernabsatzgesetz vom 27 6. 2000, BGBl. I, S. 897 3 Fernabsatzgesetz, Verbraucherkreditgesetz, Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften, Teilzeitwohnrechtegesetz. 4 BT-Drucks. 7/3919, S. 41. 5 BT-Drucks. 14/6040, S. 12. 6 BT-Drucks. 14/6857, S. 17; abgedruckt bei Canons, Schuldrechtsmodernisierung 2002 (2002), S. 954. 2

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insoweit anschloßt stimmte dieser Begründung des Bundesrats zu, hob hervor, daß eine sich selbst überlassene Vertragsfreiheit keinen ausreichenden Schutz gewähren könne, beklagte die Rechtsunsicherheit durch eine uneinheitliche Rechtsprechung und folgerte, daß (erst) durch die Streichung der Bereichsausnahme das Schutzniveau der Vertragsinhaltskontrolle im Arbeitsrecht nicht hinter demjenigen des Zivilrechts zurückbleibe 8 . Namentlich die Argumente der Bundesregierung sind dabei für die Neufassung des § 310 Abs. 4 BGB nur wenig tragfähig. Immerhin war angesichts der vorhergehenden Inhaltskontrolle durch die Arbeitsgerichte die Vertragsfreiheit nicht „sich selbst überlassen". Und die uneinheitliche Rechtsprechung ließ sich schwerlich mit zwei Entscheidungen begründen, von denen eine die Anwendung des AGB-Gesetzes offen ließ, die andere dessen Anwendung ablehnte 9 . Schließlich ist die Sorge über ein bislang geringeres arbeitsrechtliches Schutzniveau voreilig, solange sich die Angleichung nur auf vorformulierte Allgemeine Arbeitsbedingungen erstreckt und die seitherige Kontrolle von Individualarbeitsvertragen unbeachtet bleibt10. Die Kodifikation ist - von der Fachöffentlichkeit unbemerkt - ersichtlich überhaupt nicht sorgfältig vorbereitet worden, sondern ein „Schnellschuß", der nicht selten kritisch beurteilt wird11. Dennoch muß die Praxis mit der Neuregelung leben, deren Wortlaut bereits schwierige Fragen aufwirft. Klar ist lediglich die grundsätzliche Anwendbarkeit des AGB-Rechts auf Arbeitsverträge, freilich im Einklang mit § 305 Abs. 1 BGB nur für vorformulierte Allgemeine Arbeitsbedingungen. Ausgeschlossen ist nach § 310 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 BGB der § 305 Abs. 2, 3 BGB. Anwendbar sind andererseits die §§ 307ff. BGB. O b dabei § 310 Abs. 3 BGB zu berücksichtigen ist, hängt davon ab, ob der Arbeitnehmer ein Verbraucher ist (§ 13 BGB) und ob er deshalb § 310 Abs. 3 BGB unterfällt12. Ganz unklar ist die Relativierung in § 310 Abs. 4 S. 2 BGB, der anordnet, die „im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen". Das Schrifttum beurteilt diese Modifikation ziemlich kontrovers 13 . Die Begründung der Bundesregierung führt dafür lediglich an, die besonderen Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit (§ 309 BGB) sollten im Arbeitsrecht nicht uneingeschränkt anwendbar sein14. Gesetzge-

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BT-Drucks. 14/7052, S. 54; abgedruckt bei Canans (Fn. 6), S. 1087 BT-Drucks. 14/6857, S. 53; abgedruckt bei Canans (Fn. 6), S. 1016. 9 Einerseits BAG DB 1996, 989 (überraschende Klausel, Inhaltskontrolle offen gelassen), andererseits BAG NZA 2001, 723 (keine analoge Anwendung des AGB-Gesetzes). 10 Vgl. II 1. 11 Vgl. etwa Joost, FS Ulmer (2003), S. 1199; Lieb, FS Ulmer (2003), S. 1231. 12 Vgl. näher III 2. 13 Vgl. zuletzt ausführlich Birnbaum, NZA 2003, 944ff.; ferner etwa Hromadka, NJW 2002, 2525; Richardi, NZA 2002, 1061; Singer, RdA 2003, 198f.; Thüsing, NZA 2002, 591. 14 BT-Drucks. 14/6857 S. 53; abgedruckt bei Canans (Fn. 6), S. 1016. 8

Die AGB-Kontrolle im Arbeitsvertragsrecht

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berisch mißglückt und teilweise auch sachlich fragwürdig ist sodann die Ausklammerung der Kollektivvereinbarungen aus der AGB-Kontrolle. Weder beim Tarifvertrag noch bei einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung ist die Definition für Allgemeine Geschäftsbedingungen in § 305 Abs. 1 BGB erfüllt. Der Arbeitgeber stellt nicht als „Verwender" dem Arbeitnehmer vorformulierte Vertragsbedingungen. Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen und die diesen gleichstehenden Dienstvereinbarungen gelten unmittelbar und zwingend (§ 4 Abs. 1 TVG, § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG). Eine Inhaltskontrolle kann sich daher nicht aus dem AGB-Recht ergeben. Anders ist es nur bei Bezugnahmen auf Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen in Allgemeinen Arbeitsbedingungen, die zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vereinbart sind. Bei diesen Bezugnahmen ist nämlich § 305 Abs. 1 BGB einschlägig, da der Verwender die Vertragsbedingungen nicht selbst vorformuliert haben muß 15 . Die Bezugnahme führt oft zur individualrechtlich vereinbarten, also nicht normativen Anwendung von Tarifverträgen auf Außenseiter. Daher könnte eine AGB-Kontrolle je nach dem Umfang der Bezugnahme in der Tat mittelbar auf die von der Bundesregierung befürchtete Konterkarierung der Tarifautonomie 16 hinauslaufen, allerdings nicht bei der Verweisung auf eine Betriebsvereinbarung. Auch eine solche Verweisung ist freilich denkbar, etwa bei einem betriebsratslosen Betrieb, in dem die Arbeitsverträge auf eine Betriebsvereinbarung eines anderen Betriebs desselben Unternehmens Bezug nehmen 1 ? Bei der Betriebsvereinbarung stößt § 310 Abs. 4 S. 1 BGB allerdings auch dann auf eine überkommene Inhalts- oder auch Billigkeitskontrolle18, ohne deren Verhältnis zum Ausschluß der AGB-Kontrolle zu regeln. Schließlich knüpft § 310 Abs. 4 S. 3 BGB offenbar an S. 1 an. Die Äußerung der Bundesregierung entnimmt S. 3, der sich allein auf § 307 Abs. 3 BGB bezieht, daß durch die Gleichstellung mit Rechtsvorschriften ein Tarifvertrag auch dann keiner Rechtskontrolle unterliegt, wenn auf ihn im Arbeitsvertrag global verwiesen wird19. Übrig bleibt insoweit gemäß § 307 Abs. 3 i.V. mit Abs. 1 S. 2 und 1 BGB nur die Transparenzkontrolle. Ohne die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag läßt der Wortlaut des § 310 Abs. 4 S. 3 BGB immerhin die Frage aufkommen, ob ein einschlägiger, aber weder durch Gesetz noch durch Vereinbarung anwendbarer Tarifvertrag im Rahmen des § 307 Abs. 3 BGB einen Kontrollmaßstab für eine Inhaltskontrolle bilden kann 20 . Auch für § 310 Abs. 4 S. 3 BGB ist bei Betriebsvereinbarungen erneut zu beachten, ob die Vorschrift die überkommene gerichtliche Kontrolle künftig ausschließt. 15

Richardi, NZA 2002, 1058. >' BT-Drucks. 14/6857, S. 53; abgedruckt bei Canaris (Fn. 6), S. 1016. 17 Richardi, NZA 2002, 1058. 18 Vgl. unten II 1 a aa [1], 19 BT-Drucks. 14/6857, S. 54; abgedruckt bei Canaris (Fn. 6), S. 1017 20 Vgl. vorerst nur Däubler, NZA 2001, 1335 sowie näher unten III 3.

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Insgesamt resultiert aus § 310 Abs. 4 BGB eine Fülle von Zweifelsfragen. Sie lassen sich noch durch die Überlegung vertiefen oder erweitern, welche Auswirkungen die Erstreckung der AGB-Kontrolle in § 310 Abs. 4 BGB und deren Grenzen auf die bisherige Inhalts-, Billigkeits- und Ausübungskontrolle im Arbeitsrecht haben.

II. AGB-Kontrolle und traditionelle Vertragsinhaltskontrolle im Arbeitsrecht 1. Vertragskontrolle vor der Schuldrechtsmodemisierung Der Bundesrat und die Bundesregierung weisen im Vorfeld des § 310 Abs. 4 BGB übereinstimmend, wenn auch mit unterschiedlicher rechtlicher Beurteilung, auf die arbeitsgerichtliche Vertragskontrolle nach den §§ 315 und 242 BGB hin. O b in dieser im Vergleich zur AGB-Kontrolle im Privatrecht wirklich ein Schutzdefizit lag, ist keineswegs sicher. Richtig ist aber, daß die Judikatur uneinheitlich und unter Wahrung der arbeitsrechtlichen Spezifika eine Angleichung wünschenswert war. Ob die Erstreckung der AGB-Kontrolle dieses Ziel erreicht hat, muß sich allerdings erst noch erweisen. a) Vertragskontrolle bei Allgemeinen Arbeitsbedingungen und EinzelarbeitsVerträgen aa) Fallgestaltungen Das BAG hat in der Vergangenheit eine Vielzahl von Vertragsklauseln als unwirksam bezeichnet oder inhaltlich modifiziert. Hervorzuheben sind Mankoabreden21, Verfallklauseln22 und Ausschlußfristen23, vertragliche Abreden über den Verlust einer Mehrarbeitsvergütung24, Vertragsstrafen25, die Rückzahlung von Gratifikationen 26 und Ausbildungsbeihilfen27, den Widerruf von Lohnzuschlägen 28 und Ruhegeldversprechen29, über Provisionen30

Vgl. BAG AP Nr. 2 zu § 611 BGB Mankohaftung. BAG NZA 2001, 723. 23 BAG AP Nr. 1 zu § 3 AGB-Gesetz. 24 BAG AP Nr. 11 zu § 611 BGB Mehrarbeitsvergütung. 2 5 BAG AP Nr. 12 zu § 339 BGB. 2« BAG AP Nr. 15, 22, 23, 28, 75, 77, 78, 83, 176 zu § 611 BGB Gratifikation. 2 7 BAG AP Nr. 1, 18, 28 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 2 8 BAG AP Nr. 4 zu § 305 BGB Billigkeitskontrolle. 2 9 BAG AP Nr. 13 zu § 242 BGB Ruhegehalt. μ BAG AP Nr. 6 zu § 65 HGB. 21

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Die AGB-Kontrolle im Arbeitsvertragsrecht

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und die Ausschließung von Tantiemen31, Ruhegeldordnungen 32 und deren Änderung 33 , die Aufhebung einer Freizeitregelung34 und schließlich Wettbewerbsverbote 35 . Viele weitere Klauseln36 sind potentielle Kontrollgegenstände. Das BAG hat die Kontrolle nicht auf Allgemeine Arbeitsbedingungen (Vertragliche Einheitsregelungen, Gesamtzusagen) beschränkt, obwohl diese regelmäßig der Entscheidungsgegenstand waren3? Es erblickt die Legitimation bislang nicht speziell in der Vorformulierung des Vertrags, die eine Seite nutzt, sondern in der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers sowie der fehlenden Richtigkeitsgewähr und der gestörten Vertragsparität beim Arbeitsvertrag38. Daher werden die Aussagen des BAG, obwohl es bereits vor der Schuldrechtsreform Gegenstimmen gab39, zu Recht auf Einzelverträge bezogen40. Ein Urteil des BAG bestätigt das41. Allerdings wird die Kontrolle des Einzelvertrags bisher kaum problematisiert. Wer trotz § 23 Abs. 1 AGB-Gesetz für die Anwendbarkeit des AGB-Rechts auf Arbeitsverträge eingetreten ist42, vernachlässigte regelmäßig den Einzelarbeitsvertrag. Wer dagegen die Ungleichgewichtigkeit oder die soziale Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers 43 für maßgeblich und nicht durch zwingende Vorschriften und das kollektive Arbeitsrecht für kompensiert hielt44, bezog den Einzelarbeitsvertrag ein45; allerdings mit Modifikationen bei Klauseln, die auf Veranlassung des Arbeitnehmers formuliert waren46. Die überkommene Vertragskontrolle des BAG beruhte im Übrigen nicht

3· BAG AP Nr. 2 zu § 305 BGB Billigkeitskontrolle. " BAG AP Nr. 144, 161 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 33 BAG AP Nr. 170 zu § 242 BGB Ruhegehalt; vgl. auch BAG AP Nr. 1 zu § 242 BGB Ruhegehalt-Unterstützungskassen. 34 BAG AP Nr. 43 zu § 242 BGB Betriebliche Übung. 35 Grundlegend BAG AP Nr. 21 zu § 611 BGB Konkurrenzklausel; vgl. auch Fn. 51. 36 Uberblick und Kommentierung nach der Schuldrechtsreform bei Preis (Hrsg.), Der Arbeitsvertrag, Handbuch der Vertragspraxis und -gestaltung (2002), S. 185ff. 37 Ebenso Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 159ff. 38 BAG AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe, Bl. 4; AP Nr. 144 (Bl. 3), Nr. 161 (Bl. 3R), jeweils zu § 242 BGB Ruhegehalt; h.M., vgl. nur Fastrich (Fn. 37), S. 184 m.w.N. in Fn. 139. 39 Fenn, FS Söllner (2000), S. 346f.; Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 253ff.; vgl. nach Geltung des § 310 Abs. 4 BGB auch Hanau, NJW 2002,1242; Hönn, ZfA 2003, 352; Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 20, 25; Söllner ZfA 2003, S. 160; wohl auch Lieb, FS Ulmer (2003), S. 1233. 40 Fastrieb (Fn. 37), S. 165. « BAG AP Nr. 6 zu § 65 HGB. « Fenn, FS Söllner (2000), S. 349 ff. 43 Zöllner, RdA 1989, 156. 44 Vgl. näher Fastrich (Fn. 37), S. 192; Preis (Fn. 39), S. 267 45 Dieterich, RdA 1995, 135; Fastrich (Fn. 37), S. 165; Hromadka, FS Dieterich (1999), S. 254ff.; Zöllner, RdA 1989, 157; vgl. nach Geltung des § 310 Abs. 4 BGB auch Richardi, NZA 2002, 1060; Thüsing, BB 2002, 2667 46 Zöllner, RdA 1989, 158.

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nur auf ganz unterschiedlichen Rechtsgrundlagen. Auch die Rechtsfolgen divergierten. Neben die auch im AGB-Recht geläufige, dort heute durch § 306 Abs. 1 BGB bestätigte Wirksamkeitsprüfung der Klauseln47 trat eine richterliche Vertragsanpassung 48 . Das ist trotz der Uberlagerung der Kasuistik durch die §§ 305 ff. BGB etwas näher auszuführen. bb) Rechtsgrundlagen und Rechtsfolgen Das BAG hat die Klauseln mit Hilfe sehr verschiedener Instrumente geprüft. Manchmal wurde die Korrektur durch eine Vertragsauslegung kaschiert 49 , beispielsweise indem ein freier Widerrufsvorbehalt als ein solcher nach billigem Ermessen „ausgelegt" und seine Ausübung dann § 315 BGB unterworfen wurde 50 . Andere Klauseln bewältigte das BAG - wie bei Wettbewerbsverboten - durch eine Analogie51 oder retirierte wie bei der Kündigungserschwerung 52 teilweise unter Anwendung des § 134 BGB auf die Gesetzesumgehung; beides ist wegen des engeren Normzwecks dem Rückzug auf eine Generalklausel - künftig auch den §§ 305 ff. BGB - prinzipiell vorzuziehen 53 . In Extremfällen half die Nichtigkeit nach § 138 BGB54, die durch das AGB-Recht ohnehin nicht tangiert wird. Im Übrigen traten, soweit das BAG nicht auf eine konkrete Rechtsvorschrift verzichtete 55 , neben die §§ 315 und 242 BGB, auf die sogleich näher einzugehen ist, vereinzelte Hinweise auf das Grundgesetz 56 , die Fürsorgepflicht 57 und das Schutzprinzip 58 . Nähere Betrachtung verdient vorab die unmittelbare 59 oder entsprechende 60

47 BAG AP Nr. 11 zu § 611 BGB Mehrarbeitsvergütung; vgl. auch BAG AP Nr. 18, 28 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 48 BAG AP Nr. 144, 152, 161, 170 zu § 242 BGB Ruhegehalt; AP Nr. 4 zu § 305 BGB Billigkeitskontrolle; AP Nr. 12 zu § 315 BGB; AP Nr. 6 zu § 65 HGB. 49 Fastrieb (Fn. 37), S. 168 f. 50 Vgl. dazu BAG AP Nr. 12 zu § 315 BGB (Bl. 1R); vgl. auch BAG AP Nr. 5 zu § 87a HGB. 51 Beim Wettbewerbsverbot zu §§ 74ff. HGB; vgl. näher BAG AP Nr. 21 zu § 611 BGB Konkurrenzklausel; seit 1. 1. 2003 gilt - eingeführt durch Gesetz vom 24. 8. 2002, BGBl. I, S. 3412 - der neue § 110 G e w O , der auf die entsprechende Anwendung der §§ 74 ff. HGB verweist. 52 BAG AP Nr. 7 zu § 65 HGB; AP Nr. 5 zu § 620 Teilkündigung; AP Nr. 20 zu § 1 TVG Tarifverträge: Lufthansa; ZIP 1983, 719, 721; BB 1994, 432; vgl. dazu auch ErfKomm-Pre«, 3. Auflage 2003, §§ 305-310 Rn. 6. 53 Die Prämisse ist freilich, daß der Zweck einer „umgangenen" Vorschrift wirklich einschlägig ist, vgl. auch ErfKomm-/Ve« (Fn. 52), §§ 305-310 Rn. 6. 54 Beispiel: BAG AP Nr. 17 zu § 611 BGB Berufssport; AP Nr. 5 zu § 87a HGB. 55 BAG NZA 1990, 345. 56 Vgl. nur BAG AP Nr. 7 zu § 65 HGB. 57 Vgl. Fastrich (Fn. 37), S. 176. 58 Vgl. Fastrieb (Fn. 37), S. 173; von Hoyningen-Huene, Die Billigkeit im Arbeitsrecht (1977), S. 132. 59 Vgl. oben Fn. 42.

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Anwendung des AGB-Rechts, die das Schrifttum schon früher befürwortet hat. Das BAG zog das ABG-Gesetz nur zu Verträgen heran, die wie Darlehens- oder Kaufverträge mit Rücksicht auf das Arbeitsverhältnis abgeschlossen wurden, aber rechtlich selbständig waren61. Einmal ist offen geblieben, ob § 3 AGB-Gesetz bei einer überraschenden Klausel neben § 242 BGB anwendbar sei, an dem das BAG die Klausel mißt 62 . Grundsätzlich aber wurde bis in die neueste Zeit die unmittelbare und sogar die analoge Anwendung des AGB-Gesetzes verworfen63. Maßgeblich dafür war allerdings die Bereichsausnahme des § 23 Abs. 1 AGB-Gesetz, die nunmehr entfallen ist. Im Schwerpunkt entschied das BAG freilich auf der Grundlage der §§ 315 und 242 BGB, die es bisweilen nicht unterschied und teilweise mit anderen Vorschriften nebeneinander anführte64. Dennoch ist zwischen beiden Grundlagen zu trennen. [1] Billigkeitskontrolle. Im Mittelpunkt der Billigkeitskontrolle nach § 315 BGB standen zunächst die Änderung65 und der Widerruf^6 freiwilliger Leistungen. Das BAG stellte diese Fälle der in der Vorschrift explizit geregelten einseitigen Leistungsbestimmung gleich. Allerdings war die Anwendung des § 315 Abs. 3 BGB anfänglich auf eine Ausübungskontrolle begrenzt, wie sie auch bei der Ausübung des neuerdings in § 106 GewO geregelten Direktionsrechts erfolgen kann. Soweit notfalls mittels einer - manchmal fragwürdigen - Auslegung feststand, daß ein Widerruf oder eine Änderung nur nach billigem Ermessen vorbehalten war, prüfte das BAG nach § 315 BGB, ob der erfolgte Widerruf oder die Änderung billigem Ermessen entsprach6^ Eine solche Ausübungskontrolle ist noch keine Billigkeitskontrolle des Vertrags. Sie läßt den Inhalt des Vertrags unberührt. Das BAG überschritt allerdings bald diese Grenze zur Billigkeitskontrolle des Vertrags, indem es den Vorbehalt einer freien Widerruflichkeit mit Hilfe des § 315 BGB auf ein Widerrufsrecht nach billi-

60 Fastrich (Fn. 37), S. 70ff., 280ff.; Preis (Fn. 39), S. 249ff.; Manfred Wolf, RdA 1988, 271; Zöllner, RdA 1989, 159 ff. « BAG AP Nr. 1 zu § 611 BGB Arbeitnehmerdarlehen (Bl. 2R); vgl. auch BAG AP Nr. 4 zu § 611 BGB Arbeitnehmerdarlehen; AP Nr. 3 zu § 23 AGB-Gesetz. 62 BAG AP Nr. 1 zu § 3 AGB-Gesetz (Bl. 2). ω BAG NZA 2001, 723, 724; vgl. bereits BAG AP Nr. 12 zu § 315 BGB. 6 4 BAG AP Nr. 1 zu § 242 BGB Ruhegehalt-Unterstützungskassen (Bl. 8); AP Nr. 11 zu § 611 BGB Mehrarbeitsvergütung (Bl. 3R); NZA 2001, 723, 724; NZA 2002, 551. 6 5 BAG AP Nr. 10 zu § 315 BGB. « BAG AP Nr. 13 zu § 242 BGB Ruhegehalt; AP Nr. 12 zu § 315 BGB; AP Nr. 4 zu § 305 BGB Billigkeitskontrolle. 6 7 BAG AP Nr. 13 zu § 242 BGB Ruhegehalt; AP Nr. 8 zu § 611 BGB FleischbeschauerDienstverhältnis; AP Nr. 12 zu § 339 BGB; AP Nr. 10 zu § 315 BGB; AP Nr. 5 zu § 87a HGB.

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gem Ermessen reduzierte 68 . Auf diese Weise wurde der Maßstab der Vertragskontrolle an die Ausübungskontrolle angeglichen. Beim Streit über die Zulässigkeit eines Widerrufs stand das Resultat durch das Ergebnis der Vertragskontrolle praktisch fest. Dennoch ist wie stets die Vertragskontrolle auch dabei von der Ausübungskontrolle zu unterscheiden. Die Grenzüberschreitung führte schließlich bei freiwilligen Leistungen und überhaupt bei Vertragswerken, denen es nach Ansicht des BAG an der Vertragsparität mangelte, weitergehend zur Billigkeitskontrolle. Beispiele sind die Ausschüttung von Tantiemen 69 , der Erlaß einer Ruhegeldordnung 70 einschließlich der darin enthaltenen Befugnis zu deren Änderung 71 sowie zur Kürzung des Ruhegelds 72 und der Ausschluß einer Provisionszahlung nach Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis 73 ; letzteres im Fall eines Einzelvertrags. Das BAG gelangte in diesen Fällen nicht zu einer Unwirksamkeit der Vertragsklauseln. Die Anwendung des § 315 BGB ermöglichte der Judikatur, ohne daß dies in jedem Fall deutlich wird, im Ergebnis eine Vertragsanpassung nach billigem Ermessen 74 . Die Judikatur, die anfänglich im Schrifttum eher Zustimmung fand 75 , aber später überwiegend kritisch gesehen wurde 76 , ist nicht zuletzt aus diesem Grund auf Ablehnung gestoßen; einmal deshalb, weil damit die in § 315 BGB an sich vorgesehene gerichtliche Vertragshilfe überdehnt wird77, zum anderen auch, weil auf diese Weise in die Billigkeitsentscheidung unter Abwägung aller Umstände individuelle Maßstäbe einfließen, die jedenfalls bei den auf Einheitlichkeit abzielenden Allgemeinen Arbeitsbedingungen keinen Platz haben 78 . Das ist ungeachtet der Erstrekkung des AGB-Rechts auf das Arbeitsvertragsrecht schon wegen des noch ungelösten Problems bei IndividualarbeitsVerträgen festzuhalten und möglicherweise auch unter der Herrschaft der AGB-Kontrolle mit Blick auf die Besonderheiten des Arbeitsrechts (§ 310 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 BGB) bedeutsam. 68 BAG AP Nr. 4 zu § 305 BGB Billigkeitskontrolle (Bl. 3R); vgl. auch BAG AP Nr. 4 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk. " BAG AP Nr. 1, 2 zu § 305 BGB Billigkeitskontrolle. 70 BAG AP Nr. 144, 161 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 71 BAG AP Nr. 170 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 72 BAG AP Nr. 152 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 7> BAG AP Nr. 6 zu § 65 HGB. 74 Vgl. oben Fn. 48. 75 Grundlegend Söllner, Einseitige Leistungsbestimmung im Arbeitsverhältnis (1966), S. 55ff.; weiterhin vor allem Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht (1972), S. 205 ff. 76 Von Hoyningen-Huene (Fn. 58), S. 129; Lieb, AcP 178 (1978), S. 196ff.; Preis (Fn. 39), S. 186ff.; Westhoff, Die Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen (1978), S. 62ff.; Manfred Wolf, RdA 1988, 271; Zöllner, RdA 1989, 158. 77 Von Hoyningen-Huene (Fn. 58), S. 129; Preis (Fn. 39), S. 178, 195; zust. Fastnch (Fn. 37), S. 164. 78 Fastnch (Fn. 37), S. 164; von Hoyningen-Huene (Fn. 58), S. 111, 155; Lieb, AcP 178 (1978), 211 f.; Preis (Fn. 39), S. 187, 194f.

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[2] Inhaltskontrolle nach § 242 BGB Der Billigkeitskontrolle steht in der Judikatur eine auf § 242 BGB gestützte Wirksamkeitskontrolle gegenüber. Die Abgrenzung zur Billigkeitskontrolle schien dem BAG, das sich in einer ganz grundlegenden Entscheidung auf § 242 oder § 315 BGB berief 79 , ersichtlich nicht wichtig. Dennoch hat die Inhaltskontrolle nach § 242 BGB, mit der das BAG die Wirksamkeit von Vertragsklauseln prüfte, mit der Judikatur zu § 315 BGB nichts zu tun. Deutlich ist die Bezugnahme auf § 242 BGB in den Entscheidungen über die Rückzahlung von Ausbildungsbeihilfen 80 . Hierher gehört der Sache nach, obwohl das Gericht die Anwendbarkeit von § 242 oder § 315 BGB dahinstehen ließ81, das Urteil vom 24. 10. 1990 über die Unwirksamkeit einer Klausel, die den Verlust der Mehrarbeitsvergütung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorsah 82 . Erwähnenswert ist bei einer überraschenden Klausel in Allgemeinen Arbeitsbedingungen, mit der eine Ausschlußfrist begründet wurde, die Berufung auf § 242 BGB83. Allerdings ging es dabei um die Ablehnung der Einbeziehung in den Arbeitsvertrag. Bedeutsam ist auch bei diesen Entscheidungen die statuierte Rechtsfolge. Bei der Rückzahlung der Ausbildungsbeihilfen nach Ausscheiden des begünstigten Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb der vertraglich fixierten Rückzahlungsfrist führte das BAG die Bindungsdauer auf das zulässige Maß zurück 84 oder stellte fest, in welchem Maß die Erstattungspflicht zumutbar und die Klausel unwirksam sei85. Das steht in bemerkenswertem Gegensatz zur starren Unwirksamkeitsfolge im AGB-Recht und bedarf ebenso einer weiteren Überlegung wie überhaupt der Rückgriff auf § 242 BGB. Das Schrifttum hat die Vertragskontrolle im Arbeitsrecht überwiegend gleichfalls auf § 242 BGB gestützt 86 , der freilich nach seinem Wortsinn auch nur eine Ausübungskontrolle ermöglicht8? Die Ausweitung durch die Judikatur beruhte auf einer Rechtsfortbildung 88 , die durch eine Generalklausel begünstigt wurde. Zöllner spricht bei der Konkretisierung von Generalklauseln vom Richterrecht einer uralten, dem Gewaltenteilungsprinzip nicht widersprechenden Sorte89. Die Legitimation dafür lag auch nach Ansicht des 79

BAG AP Nr. 1 zu § 242 BGB Ruhegehalt-Unterstützungskassen (Bl. 8). s» BAG AP Nr. 1, 18, 28 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 81 BAG AP Nr. 11 zu § 611 BGB Mehrarbeitsvergütung (Bl. 3R). 82 BAG AP Nr. 11 zu § 611 BGB Mehrarbeitsvergütung. 83 BAG AP Nr. 1 zu § 3 AGB-Gesetz (Bl. 2). 84 BAG AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe (Bl. 10). ss BAG AP Nr. 28 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe (Bl. 2). 86 Fastrieb (Fn. 37), S. 164ff.; Preis (Fn. 39), S. 146ff.; Manfred Wolf, RdA 1988, 271 f.; Zöllner, RdA 1989, 158. 87 Annuß, BB 2002, 459. 88 Fastrich (Fn. 37), S. 61 ff.; Lieb, AcP 178 (1978), 212; Preis (Fn. 39), S. 237ff.; Zöllner, RdA 1989, 156. 89 Zöllner, RdA 1989, 156.

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Schrifttums in der fehlenden Richtigkeitsgewähr des Arbeitsvertrags 90 oder der sozialen Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers91. In wieweit diese Gedanken nach der Erstreckung der AGB-Kontrolle durch die Schuldrechtsreform noch bedeutsam sind, mag vorerst dahinstehen92. Soweit sie zutreffen, fehlte jedenfalls im Arbeitsverhältnisrecht eine Prämisse der Vertragsfreiheit, da das BGB nur einen sehr begrenzten Schutz des Schwächeren vorsah. Es war von einer „großen Rechtslücke" 93 auszugehen, die nach freilich bestrittener Ansicht durch eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung zu schließen ist 94 . Das BVerfG bestätigt diese Zulässigkeit, indem es in Fällen gestörter Vertragsparität sogar eine Pflicht zur Rechtsfortbildung annimmt 95 . Die richterliche Rechtsfortbildung bedarf allerdings insoweit eines normativen Rückhalts, als sie sich in das Gesamtsystem einfügen soll. Insofern bot sich eine Verortung in § 242 BGB an 96 . Das entsprach nicht nur der Judikatur des B G H im AGB-Recht vor dessen Kodifikation, bei der es ebenfalls um eine Korrektur eines nicht materiell ausgehandelten Vertrags geht. Der Maßstab des § 242 BGB entspricht weiterhin auch der Angemessenheitskontrolle des heutigen § 307 BGB. Schließlich beruht die Kontrollfunktion des § 242 BGB anders als in § 315 BGB nicht auf einer vertraglichen Ermächtigung und ist inhaltlich nicht auf eine Einzelfallentscheidung begrenzt, sondern schließt eine generalisierende Interessenabwägung ein9? Der Rückgriff auf § 242 BGB war daher in Fällen gestörter Vertragsparität, unabhängig davon, ob die Sanktion in der Unwirksamkeit einer Vertragsklausel bestand oder eine Korrektur im Wege einer geltungserhaltenden Reduktion angebracht war, in der Tat angemessen. Für den statistischen Regelfall der Allgemeinen Arbeitsbedingungen ist dieser Punkt zwar nunmehr erledigt, für die Inhaltskontrolle von Einzelarbeitsverträgen möglicherweise aber weiterhin relevant, soweit die §§ 305 ff. BGB nicht abschließend gemeint sind und eine weitergehende Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht versperren. Darauf ist sogleich zurückzukommen.

b) Kontrolle von Betriebsvereinbarungen Zuvor ist schon wegen § 310 Abs. 4 BGB auf die Betriebsvereinbarung einzugehen. Das BAG hat sich nämlich nicht mit der Billigkeitskontrolle von Arbeitsverträgen begnügt, sondern § 315 BGB auch auf BetriebsvereinH.M., vgl. nur Fastrich (Fn. 37), S. 184 m.w.N. in Fn. 139. Zöllner, RdA 1989, 156. « Vgl. unten IV. 93 Preis (Fn. 39), S. 238. 94 Vgl. näher Preis (Fn. 39), S. 238f.; im Ergebnis auch Fastrich (Fn. 37), S. 196ff.; Westhoff (Fn. 76), S. 122ff., 133. 95 BVerfGE 81, 242, 255 (Handelsvertreter); 89, 214, 234 (Bürgschaft). 96 Anders Fastrich (Fn. 37), S. 199: § 138 BGB. 97 Zöllner, RdA 1989, 158. 90 91

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barungen angewendet98. Das zeigt sich einmal bei der hier nicht näher interessierenden Fallgruppe der Ablösung einer Betriebsvereinbarung durch eine andere verschlechternde Betriebsvereinbarung, bei der das BAG die Verschlechterung durch eine Billigkeitskontrolle analog § 315 BGB abmildert". Die Billigkeitskontrolle bezieht sich in anderen Fällen aber auch - insoweit der Kontrolle der Allgemeinen Arbeitsbedingungen ähnlich - schlechthin auf den Regelungsgegenstand der Betriebsvereinbarung. Die Legitimation entnimmt das BAG - wiederum der gestörten Parität bei Vertraglichen Einheitsregelungen ähnlich100 - der nach seiner Ansicht fehlenden Unabhängigkeit des Betriebsrats vom Arbeitgeber101. Daher soll der Betriebsvereinbarung anders als dem Tarifvertrag die Riehtigkeitsgewähr fehlen. Das BAG zieht ergänzend weiterhin § 75 Abs. 1 BetrVG heran102. Beides hat das Schrifttum, das diese Billigkeitskontrolle überwiegend ablehnt103, nicht überzeugt. Es bezweifelt die Abhängigkeit des Betriebsrats und verweist vor allem auf freiwillige Einigungen bei Mitbestimmungstatbeständen104, die jedenfalls in gewissem Umfang die Durchsetzungsfähigkeit des Betriebsrats dokumentieren. Außerdem werden die Einwände gegen die Billigkeitskontrolle bei Allgemeinen Arbeitsbedingungen sinngemäß wiederholt. Auch die Betriebsvereinbarung regelt generelle Tatbestände, auf die - ganz abgesehen von einer fehlenden Kontrollermächtigung - die auf den Einzelfall zugeschnittene Billigkeitskontrolle nicht paßt105. Das BAG beruft sich deshalb bisweilen ergänzend auf die §§ 75 Abs. 1, 76 Abs. 5 S. 3 BetrVG106. Aber auch das ist nicht hilfreich. § 76 Abs. 5 S. 3 BetrVG ist in den Verfahrenszusammenhang der Einigungsstelle eingebunden, und § 75 Abs. 1 BetrVG legitimiert mitnichten eine Billigkeitsentscheidung, sondern verweist auf die Grundsätze von Recht und Billigkeit, die der Vorschrift nicht zu entnehmen sind10? Damit ist jedoch das Problem der Kontrolle noch nicht erledigt. Das BAG hat nämlich die Billigkeitskontrolle nicht nur mit Hilfe von § 2 Abs. 1 BetrVG konkretisiert und sich an einem Ausgleich zwischen Belegschafts-

98 Auflistung der Entscheidungen bei GK-Kreutz, BetrVG, Band II, 7. Auflage 2002, § 77 Rn. 299. 99 Grundlegend BAG AP Nr. 142 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 100 Fastrich (Fn. 37), S. 282. 1°' Vgl. nur BAG AP Nr. 142 zu § 242 BGB Ruhegehalt (Bl. 7). 102 BAG AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Altersversorgung (Bl. 4). κ» Streitstand bei GK-Kreutz (Fn. 98), § 77 Rn. 300. 104 Vgl. etwa von Hoyningen-Huene (Fn. 58), S. 165; Kreutz, ZfA 1975, 78f.; Reuter, ZfA 1995, 59. 105 GK-Kreutz (Fn. 98), § 77 Rn. 301; von Hoyningen-Huene (Fn. 58), S. 163; Konzen, Anm. BAG AP Nr. 21 zu § 112 BetrVG 1972 (Bl. 5R). 106 BAG AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Ablösung (Bl. 4). ™ GK-Kreutz (Fn. 98), § 77 Rn. 304.

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und Betriebsinteressen orientiert108. Vor allem hat es später zwischen der abstrakten und der konkreten Billigkeitskontrolle unterschieden109, soweit Betriebsvereinbarungen die Rechtsposition von Arbeitnehmern verschlechtert haben, und bald darauf die abstrakte Billigkeitskontrolle jedenfalls bei Sozialplänen ganz aufgegeben110. Die konkrete Billigkeitskontrolle aber läuft, wie bald erkannt worden ist111, praktisch auf den Gleichbehandlungsgrundsatz und in anderen Fällen auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hinaus, mit der die Arbeitnehmer vor Eingriffen in Besitzstände, vor allem in grundrechtlich gewährleistete Positionen, geschützt werden112. Zu nennen ist die Verschlechterung von Ansprüchen und Anwartschaften. Diese Fälle haben erhebliche Konkretisierungsprobleme aufgeworfen, die freilich an dieser Stelle dahinstehen können. Die konkrete (individuelle) Kontrolle ist nämlich von der abstrakten Billigkeitskontrolle, die allein mit der überkommenen Billigkeits- oder Angemessenheitskontrolle im Arbeitsvertragsrecht zu vergleichen ist, deutlich zu trennen. Mit dieser hat die mit der individuellen Kontrolle bewirkte Randkorrektur der normativen Wirkung einer Betriebsvereinbarung nichts zu tun.

2. AGB-Kontrolle

und sonstige

Vertragskontrolle

Mit der Aufhebung der für das Arbeitsrecht umfassenden Bereichsausnahme in § 23 Abs. 1 AGB-Gesetz durch die Schuldrechtsreform sind die §§ 307 ff. BGB, die für vorformulierte Verträge zur Inhaltskontrolle berechtigen, grundsätzlich auch im Arbeitsvertragsrecht anwendbar. Dabei gilt die Prämisse des vorformulierten Vertrags (§ 305 Abs. 1 BGB). Die Inhaltskontrolle erstreckt sich also jedenfalls primär auf Allgemeine Arbeitsbedingungen. Das gilt grundsätzlich auch, wenn in diesen auf kollektive Regelungen, insbesondere in Tarifverträgen Bezug genommen wird. Die Grenze bildet § 310 Abs. 4 S. 1 BGB. Die Vorschrift schließt die AGB-Kontrolle nur auf den ersten Blick total aus. Geboten ist eine Differenzierung: § 310 Abs. 4 BGB betrifft, wie der Begründung der Bundesregierung zu entnehmen ist, nur die Verweisung auf den gesamten Inhalt einer Tarifregelung113. Selbst in diesem Fall muß es sich um einen einschlägigen Tarifvertrag handeln. Betrifft der Geltungsbereich des Tarifvertrags nicht das Vertragsunternehmen, so ist § 310 Abs. 4 BGB nicht anwendbar. Die Verweisung auf einen fremden Tarifvertrag erlaubt keinen Rückschluß auf eine Richtigkeitsgewähr für das BAG AP Nr. 142 zu § 242 BGB Ruhegehalt. BAG AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Ablösung (Bl. 4); AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Unterstützungskassen. 110 BAG AP Nr. 11 (Bl. 4R), Nr. 14 (Bl. 2R), Nr. 21 (Bl. 2R), jeweils zu § 112 BetrVG 1972. 111 Vgl. nur Konzen, Anm. BAG Nr. 21 zu § 112 BetrVG 1972 (Bl. 6R). 112 GK-Kreutz (Fn. 98), § 77 Rn. 306. 113 BT-Drucks. 14/6857, S. 54, abgedruckt bei Canaris (Fn. 6), S. 1017 108 109

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betroffene Unternehmen 1 1 4 . Wird nur auf einzelne Teile des Tarifvertrags Bezug genommen, kann gleichfalls nicht von einer Richtigkeitsgewähr ausgegangen werden 115 . Dasselbe gilt auch für Teilverweisungen, soweit nicht der Gesetzgeber Teilverweisungen auf einzelne Tarifnormkomplexe wie in § 622 Abs. 4 S. 2 B G B oder § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG ausdrücklich ermöglicht 116 . Die Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. B G B ist zudem, wie noch einmal zu unterstreichen ist, im Arbeitsvertragsrecht stets durch die in § 310 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 B G B erwähnte angemessene Berücksichtigung der Besonderheiten des Arbeitsrechts begrenzt. Dieses unbestimmte Tatbestandselement, dessen Konkretisierung noch aussteht, ist ganz offenbar die Konzession an die spezifisch arbeitsrechtlichen Interessen, die bislang durch die Bereichsausnahme des § 23 Abs. 1 ABG-Gesetz gewahrt worden sind. Die mit § 310 Abs. 4 B G B angestrebte Annäherung an das Zivilrecht sagt weiterhin, daß jedenfalls bei Allgemeinen Arbeitsbedingungen allein das AGB-Recht anzuwenden und ein Rückgriff auf die §§ 315 oder 242 B G B verwehrt ist. Eine richterliche Befugnis zur Vertragsanpassung nach § 315 B G B ist insoweit ausgeschlossen. Auch der Weg der geltungserhaltenden Reduktion ist gem. § 306 Abs. 1 B G B grundsätzlich versperrt und allenfalls durch die „Besonderheiten im Arbeitsrecht" zu eröffnen 11 ? Durch die Anwendbarkeit der §§ 305 ff. B G B wird schließlich auch die im Rahmen der Billigkeitskontrolle bisweilen verwischte Trennung zwischen Ausübung- und Inhaltskontrolle deutlicher. Diese geht jener stets vor 118 . Erst bei Wirksamkeit des Vertrags kommt es zur Ausübungskontrolle. Diese ist eine zusätzliche Schranke der Rechtsausübung, sowohl bei der Prüfung des billigen Ermessens in § 315 B G B als auch bei derjenigen einer unzulässigen Rechtsausübung im Rahmen des § 242 B G B . Die Ausübungskontrolle bleibt deshalb vom AGB-Recht unberührt 119 . Weniger eindeutig ist das bei der Kontrolle von Einzelarbeitsverträgen, die das AGB-Recht jedenfalls unmittelbar nicht erfaßt. Bei ihnen geht es nicht um einen Schutz wegen einseitiger Ausnutzung eines vorformulierten Textes, sondern allenfalls um die Korrektur einer fehlenden Richtigkeits gewähr im Arbeitsvertragsrecht, die auch auf Einzelarbeitsverträge bezogen wird. Freilich wird dieser Gedanke regelmäßig nur bei Allgemeinen Arbeitsbedingungen angeführt, ist auch bei Einzelverträgen bislang kaum problematisiert worden. Gleichwohl muß die Legitimation zur Vertragskontrolle bei solchen Verträgen an dieser Stelle (noch) nicht abschließend beantwortet

i" ErfKomm-/Vm (Fn. 53), §§ 305-310 Rn. 17. 115 Däubler, NZA 2001, 1335; ErfKomm-ZVe« (Fn. 53), §§ 305-310 Rn. 19. »' Streitig, vgl. Däubler, NZA 2001, 1335; ErfKomm-Pre« (Fn. 53), §§ 305-310 Rn. 20f. 117 Vgl. zur geltungserhaltenden Reduktion unten III 1 b. » 8 BGHZ 89, 206, 213; 93, 29. 119 Vgl. auch ErfKomm-/Vew (Fn. 53), §§ 305-310 Rn. 8.

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werden120. Wichtig ist nur, ob die §§ 305 ff. BGB für eine sonstige Vertragskontrolle eine Anwendungssperre enthalten. Der Gesetzestext selbst beantwortet diese Frage nicht. Der Vorrang der Individualabrede (§ 305b BGB) verwehrt nicht, daß individuelle Abreden in Teilbereichen aus einem anderen Grund kontrolliert werden können. Und § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB, dessen Anwendbarkeit im Arbeitsrecht davon abhängt, ob der Arbeitnehmer ein Verbraucher im Sinn des § 13 BGB ist121, sagt nur, daß die Inhaltskontrolle auch auf vorformulierte Vertragsbedingungen anwendbar ist, die nur zur einmaligen Verwendung bestimmt sind. Er besagt aber gleichfalls nicht, daß ohne Vorformulierung eine Inhaltskontrolle aus anderen Gründen ausgeschlossen ist. Im Schrifttum sind die Meinungen geteilt. Teilweise nimmt man die Weitergeltung der Inhaltskontrolle bei Einzelarbeitsverträgen an122. Die Gegenposition betont nicht selten die Reintegration des Arbeitsrechts in das allgemeine Zivilrecht123 und folgert, daß dem Arbeitsrecht ein Stück Vertragsfreiheit zurückgegeben worden sei124. Dieses Systemargument ist wenig überzeugend, da das Arbeitsrecht von vielen bislang keineswegs als total eigenständig verstanden, sondern stets von den - nicht selten dann modifizierten - Grundlagen des Zivilrechts her gedacht worden ist. Daran hat sich durch die Erstreckung der AGB-Kontrolle auf das Arbeitsvertragsrecht im Prinzip nichts geändert. Vor allem aber streitet der Zweck der neuen Regelung für die Befürworter einer weiteren Kontrolle. Bezweckt war nicht die schematische Gleichstellung mit dem Zivilrecht, sondern die Angleichung zur Beseitigung eines (vermeintlichen) Schutzdefizits. Dieses Ziel spricht nachdrücklich gegen die Beseitigung eines bislang zusätzlichen arbeitsrechtlichen Schutzes durch die Kontrolle von Einzelarbeitsverträgen. Diese Kontrolle, die abschließend aufzugreifen ist, wird daher jedenfalls durch das ausgeweitete AGB-Recht nicht verändert. Uberwiegend nimmt das Schrifttum weiterhin an, auch bei der Kontrolle von Betriebsvereinbarungen125 habe sich durch § 310 Abs. 4 BGB nichts geändert. Das läßt sich indessen weder aus dem Wortlaut des § 310 Abs. 4 BGB entnehmen 126 noch daraus, daß die Angemessenheitsprüfung wegen einer Fehleinschätzung des Gesetzgebers weiter gelte127, noch hilft der allgemeine Hinweis auf die beabsichtigte Stärkung des Arbeitnehmerschutzes weiter 128 . Vorzugswürdig ist jedenfalls im Ansatz die Gegenposition. Aller-

120 121 122 123 124 125 126 127 128

Vgl. unten IV. Vgl. dazu unten III 2. Vgl. oben Fn. 45. Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 25. Hanau, NJW 2002, 1242; Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 25. Vgl. oben II 1 b. So aber Däubler, NZA 2001, 1334. Richardi, NZA 2002, 1062. Tbüsing, BB 2002, 2669.

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dings ist hier mit Annuß zu differenzieren: Die Ausklammerung der Betriebsvereinbarung aus der AGB-Kontrolle kann, selbst wenn der Gesetzgeber die überkommene Billigkeitskontrolle der Betriebsvereinbarung durch Hektik und fehlende Sorgfalt übersehen hat, nur bedeuten, daß eine Angemessenheitskontrolle untersagt ist129. Könnte eine solche nämlich gleichwohl unter „anderer Flagge segeln", liefe § 310 Abs. 4 BGB total leer. Die Neuregelung schließt daher künftig die allgemeine Billigkeitskontrolle von Betriebsvereinbarungen aus. Soweit jedoch die Kontrolle auf eigenständigen Wertungen des Betriebsverfassungsrechts beruht - wie etwa beim Schutz vor Eingriffen in Ansprüche oder Anwartschaften - , hat diese Rechtskontrolle mit § 310 Abs. 4 BGB nichts zu tun130.

III. AGB-Kontrolle und Allgemeine Arbeitsbedingungen 1. Inhaltskontrolle und Besonderheiten im Arbeitsrecht Nach dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz sind nunmehr schlechthin Vertragsklauseln in (vorformulierten) Allgemeinen Arbeitsbedingungen grundsätzlich an den besonderen Klauselverboten der §§ 308 und 309 BGB sowie an § 307 BGB zu messen. Eine Einschränkung, die die Angemessenheitskontrolle des § 307 BGB betrifft, enthält bereits nach AGB-Recht dessen Abs. 3. Er übernimmt wörtlich die Regelung des früheren, unglücklich formulierten § 8 AGB-Gesetz. Die Vorschrift soll ausdrücken, daß die Inhaltskontrolle nur auf Vertragsbedingungen anwendbar ist, die die Rechtsstellung des Vertragspartners gegenüber dispositivem Gesetzesrecht oder, was für die in vielen Punkten unkodifizierte arbeitsrechtliche Materie höchst bedeutsam ist, gegenüber (gesetzesvertretendem) Richterrecht verändert. Wichtig ist dies für die gesetzlich nicht fixierten vertraglichen Hauptleistungen, vor allem für Entgeltabreden. Der Marktpreis ist nicht geregelt, § 307 Abs. 3 BGB läßt die Entgeltabrede deshalb von der Inhaltskontrolle frei131. Das ist im Arbeitsrecht jedenfalls künftig zu beachten132. Anders ist es nur bei fixierten Vergütungsordnungen für Vertragsleistungen. Die Auswirkungen der AGB-Kontrolle für einzelne Vertragsklauseln des Arbeitsrechts sind naturgemäß noch offen und auf begrenztem Raum auch nicht im Einzelnen begründbar. Preis, nach seinen Publikationen als besonderer Kenner der Vertragskontrolle ausgewiesen, prognostiziert für die 129

Annuß, BB 2002, 459; im Ergebnis auch Lieb, FS Ulmer (2003), S. 1241. Vgl. auch Annuß, BB 2002, 459. 131 Vgl. nur Thüsing, BB 2002, 2673. 132 Vgl. zur überkommenen Vertragskontrolle aber Reuter, in: Eckert/Delbrück (Hrsg.), Reform des deutschen Schuldrechts, Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen (NF), Band 38, 2003, S. 111. 130

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meisten Klauseln keine inhaltlichen Veränderungen133. Dennoch dürfte die grundsätzliche Anwendung des AGB-Rechts, konkreter: die Anknüpfung an dessen zivilrechtliche Kasuistik, an einigen Punkten für eine Verschärfung sorgen. Es liegt beispielsweise nahe, die Ausgleichsquittung künftig mit Blick auf die Beurteilung vorformulierter Verzichtserklärungen im Zivilrecht für unwirksam zu halten134. Umgekehrt dürfte sich unter der Herrschaft des § 308 Nr. 4 BGB bei Änderungs- und Widerrufsvorbehalten wenig ändern135. Unsicher ist die Rechtslage bei der Wirksamkeitskontrolle des Aufhebungsvertrags, der neben dem Vertragsstrafeversprechen, auf das zurückzukommen ist, gegenwärtig im Mittelpunkt des Interesses steht. Allerdings gilt beim Aufhebungsvertrag die hauptsächliche Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit der möglichen Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers einem Widerrufsrecht nach §§ 312, 355 BGB 136 . Für die Wirksamkeitskontrolle des Aufhebungsvertrags verweist Preis neuerdings im Anschluß an Gotthardt auf § 307 Abs. 3 BGB, da der Hauptbestandteil des Aufhebungsvertrags nach dieser Vorschrift der Kontrolle entzogen sei13-! Das kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. a) Merkmal der „Besonderheiten" Die Grundfrage für den Umfang der Inhaltskontrolle liegt jedenfalls in den „Besonderheiten des Arbeitsrechts", deren angemessene Berücksichtigung § 310 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 BGB verlangt. Die Unbestimmtheit der Formel, die in der Gesetzgebung ohne Beispiel ist, erschwert die Fixierung von Konturen außerordentlich. Der Gesetzgeber gibt mit den eingangs erwähnten Bedenken gegen die Anwendung von Klauselverboten ohne Wertungsmöglichkeit nur eine partielle und zudem eine vage Auskunft. Aus dieser auf die alleinige Anwendung des § 307 BGB zu schließen138, ist schwerlich überzeugend139. Überhaupt ist ungeachtet zahlreicher Bemühungen140 eine klare Antwort bisher nicht gefunden und auch nicht zu erwarten. Sicher sind radikale Antworten, die die Besonderheiten des Arbeitsrechts für mißbräuchlich halten oder umgekehrt darin eine Wahrung der Kontinuität der seitherigen Judikatur erblicken141, nicht geeignet. Gegen die Kontinuität spricht,

133 134 135

1336. 136 137 138 139 140 141

Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 20. Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 29; Reinecke, DB 2002, 586. Linnemann, NZA 2002, 190; Ricbardi, NZA 2002, 1063; a.A. Däubler, NZA 2001, Vgl. unten III 2. Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 31. Lingemann, NZA 2002, 183. Richardi, NZA 2002, 1061. Vgl. vor allem Hönn, ZfA 2003, 328ff.; Thüsing, BB 2002, 592ff. Lingemann, NZA 2002, 183; Thüsing, BB 2002, 593.

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daß der Gesetzgeber durchaus eine Veränderung bewirken wollte142. Auch das Dauerschuldverhältnis ist, wie die Miete zeigt, kein Grund, die Vertragskontrolle zu mildern143. Man muß sich ersichtlich mit ungenaueren Ansatzpunkten begnügen. Ein erster liegt darin, daß § 310 Abs. 1 BGB auf die Gewohnheiten des Handelsverkehrs hinweist und geeignet ist, die Formulierung des § 310 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 BGB damit zu vergleichen. § 310 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 BGB verlangt die angemessene Berücksichtigung, akzeptiert also nicht die rein tatsächliche Handhabung144. Die tatsächliche Handhabung kann allenfalls einen ersten Schritt bilden und die entscheidende Folgefrage auslösen, aus welchem Grund eine arbeitsrechtliche Lösung von derjenigen des Zivilrechts abweichen darf. Dafür ist es zu starr, wenn Thüsing als Kriterium nur rechtliche Besonderheiten anerkennt und abweichende Bedürfnisse negieren will145. Entscheidend ist vielmehr eine abweichende Interessenlage146, wie sie beispielsweise bei der teleologischen Reduktion einer gesetzlichen Vorschrift herangezogen wird. Daß die Literatur praktisch so verfährt, erkennt man an Autoren, die mit Rücksicht auf die Besonderheiten des Arbeitsrechts in diesem Gebiet Vertragsstrafeabreden entgegen § 309 Nr. 6 BGB für wirksam halten, da der Arbeitgeber bei Vertragsverletzungen - beispielsweise, wenn der Arbeitnehmer nicht mehr erscheint147 - einen Schaden nicht nachweisen kann148 und die Vertragsstrafe seine einzige Sicherungsmöglichkeit ist149. Auch in diesem Fall ist die Rechtslage unsicher150. Das Beispiel genügt dennoch, um das Tatbestandmerkmal der „Besonderheit" ein wenig aufzuhellen. b) Geltungserhaltende Reduktion Während § 306 Abs. 1 S. 1 BGB von der Unwirksamkeit der Vertragsklausel ausgeht, hat die überkommene arbeitsrechtliche Judikatur die Verträge nicht selten angepaßt oder die Unwirksamkeit auf einen Teil der Klausel begrenzt und die Wirksamkeit des anderen Teils angenommen. Letzteres stößt im AGB-Recht auf das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion. Annuß, BB 2002, 461; Singer, RdA 2003, 118. Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 26, 28. 144 Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 26; Thüsing, BB 2002, 593. 145 Thüsing, BB 2002, 592. 146 Singer, RdA 2003, 199. 147 Däubler, NZA 2001, 1336. 148 Lingemann, NZA 2002, 191; Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 32. "9 Annuß, BB 2002,463; Singer, RdA 2003, 202 unter Hinweis auf § 883 Abs. 3 ZPO, § 61 Abs. 2 ArbGG. •so Zweifelnd von Koppenfels, NZA 2002, 598; Richardi, NZA 2002, 1064; Thüsing, NZA 2002, 592; gegen eine Besonderheit im Arbeitsrecht AG Bochum, DB 2002, 1659; Däubler, NZA 2001, 1336. 142 143

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Der Verwender Allgemeiner Geschäftsbedingungen soll das Risiko der gesetzwidrigen Verwendung tragen151; er soll daraus keinen Vorteil ziehen152. Die Möglichkeit einer geltungserhaltenden Reduktion kann allenfalls wegen der Besonderheiten des Arbeitsrechts eröffnet werden. Eine solche Reduktion wird im Ergebnis nicht selten befürwortet153, ohne das überzeugend zu begründen154. Den entscheidenden Punkt hat indessen bereits früher Zöllner angedeutet. Wem ein Recht eingeräumt werde, der könne die Grenze der Ermächtigungsnorm oft nicht erkennen; die (starre) Unwirksamkeit sei daher im Arbeitsrecht unzuträglich155. Das trifft im Ergebnis zu. Der Unterschied zum AGB-Recht liegt eben darin, daß es in solchen Fällen weder ein dispositives Gesetzesrecht noch ein orientierungsfähiges Richterrecht gibt. Im Ergebnis müssen das auch die Gegner der geltungserhaltenden Reduktion akzeptieren, indem sie bei einer solchen Unwirksamkeit auf eine ergänzende Vertragsauslegung156 oder darauf verweisen, daß ein Arbeitnehmer, der einer Vertragsänderung nicht zustimme, gegen § 242 BGB verstoße15? Im Arbeitsrecht ist daher eine geltungserhaltende Reduktion anzuerkennen. 2. Inhaltskontrolle und

Verbraucherbegnff

§ 310 Abs. 3 BGB erweitert auf der Grundlage der EG-Richtlinie 93/13 EWG158 die Inhaltskontrolle der §§ 307 ff. BGB für Verbraucherverträge in mehrfacher Hinsicht. Praktisch bedeutsam für das Ausmaß der Inhaltskontrolle ist vor allem § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB, der im Weg einer konkretindividuellen Kontrolle die Berücksichtigung der den Vertragsschluß begleitenden Umstände fordert. Zu denken ist beispielsweise an die Ausnutzung einer Überrumpelungssituation oder der geschäftlichen Unerfahrenheit159. Solche Umstände sind anders als die - insoweit kaum praktischen Sachverhalte in § 310 Abs. 3 Nr. 1 und 2 BGB - auch bei Arbeitsverträgen denkbar. Dennoch ist die Anwendbarkeit des § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB auf den Vertragsschluß mit Allgemeinen Arbeitsbedingungen fraglich. Die Voraussetzung dafür liegt in einer Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers, über die heftig gestritten wird. Den Ausgangspunkt für ein dahingehendes, zunächst erstaunlich anmutendes Verständnis bildet § 13 BGB, der den Ver-

Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 28. Thüsing, BB 2002, 2674. 153 A.A. Preis, Ν ZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 28; Singer, RdA 2003, 204. 154 Annuß, BB 2002, 461 f.; Lingemann, NZA 2002, 187: „nicht adäquat"; wohl auch Hromadka, NJW 2002, 2529f.; Thüsing, NZA 2002, 594; ders., BB 2002, 2674. 155 Zöllner, RdA 1989, 161. 156 Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 28. 157 Singer, RdA 2003, 204. 158 ABl EG Nr. L 95 vom 5. 4. 1993, S. 29. 159 Palandt/Heinrichs, BGB, 62. Auflage 2003, § 310 Rn. 19. 151

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braucher vom Unternehmer (§ 14 BGB) her definiert. Wenn diese Gegenüberstellung bedeutet, daß eine Rechtsperson entweder Verbraucher oder Unternehmer ist und es eine weitere Kategorie nicht gibt, gehört der Arbeitnehmer fraglos zu den Verbrauchern. Auf diese "Weise wäre dann im Ansatz, nämlich vorbehaltlich des jeweiligen Normzwecks der einzelnen Vorschriften, nicht nur die Anwendbarkeit des § 310 Abs. 3 BGB zur Debatte gestellt. Beispielsweise wäre dann außerhalb der Inhaltskontrolle bei Aufhebungsverträgen die praktisch bedeutsame Frage eines Widerrufsrechts nach §§ 312, 355 BGB zu stellen. Die Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers ist nun, um eine Formulierung von Preis aufzugreifen, die „arbeitsrechtliche Megafrage des Jahres 2000" 160 . Die numerisch überwiegenden Befürworter und die Gegner der Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers haben in kurzer Zeit gewaltige Meinungsblöcke gebildet161. Die Argumente sind ausgetauscht 162 . Ihre Wiederholung bringt keinen weitergehenden Nutzen. Entscheidend ist, worauf sich der eigene Standpunkt im Meinungsspektrum im Wesentlichen gründet. Dabei ist im Einklang mit dem Gesetzeswortlaut von der Negativdefinition des § 13 BGB auszugehen. Wer nicht Unternehmer ist, ist danach Verbraucher. Daß die Umgangssprache darunter jemanden versteht, der konsumiert, kann an einem anderweitigen Rechtsbegriff nichts ändern. Es hat zudem früher auch keinen feststehenden, eindeutigen Verbraucherbegriff gegeben 163 , dessen Kriterien den Arbeitnehmer ausgeklammert hätten und der in § 13 BGB einfach fortgeschrieben worden wäre. Daß der Gesetzgeber das Verbrauchermerkmal nicht einheitlich verwendet und den Verbraucher beispielsweise in § 312b BGB mit der Lieferung von Waren oder mit Dienstleistungen in Verbindung bringt, spricht nicht gegen eine andere Verwendung in § 13 BGB. Richtig ist, daß der Gesetzgeber bei der Formulierung des § 13 BGB offenbar an den Arbeitnehmer nicht erkennbar gedacht hat. Darin liegt aber kein eindeutiges Indiz dafür, den Arbeitnehmer gegen den Wortlaut der Vorschrift aus § 13 BGB heraus zu nehmen. Zwar unterfällt der Arbeitnehmer unstreitig nicht der Richtlinie der EG über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen 164 , an der sich seinerzeit § 24a AGB-Gesetz orientiert hatte. Aber ebenso unstreitig ist der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung nicht an die Grenzen des EG-Rechts gebunden. Schließlich spricht auch teleologisch für den auf Arbeitnehmer erstreckten Verbraucherbegriff, daß die durch Gesetze prinzipiell anerkannte Schutzwürdigkeit beider Gruppen jedenfalls in manchen Situationen durchaus vergleichbar ist. Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 25. Vgl. Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 25 Fn. 27, 28. 162 Überblick bei Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 22ff. 163 Preis, ZHR 158 (1994), 593 f. 1M Vgl. oben Fn. 158. 160 161

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Die Konsequenz daraus ist, wie schon § 312b BGB zeigt, keineswegs, daß alle Vorschriften, die an einem Verbraucher anknüpfen, auf Arbeitnehmer anwendbar sind. Das Merkmal des Verbrauchers bildet nur ein erstes Indiz, das eine Differenzierung nach den unterschiedlichen Normzwecken einer Vorschrift selbstverständlich nicht ausschließt. Das zeigt sich am Widerrufsrecht nach §§ 312, 355 BGB, das Däubler sogleich auf den arbeitsrechtlichen Aufhebungsvertrag erstreckt hat165. Dieses Widerrufsrecht wird auch von den Befürwortern eines den Arbeitnehmer einschließenden Verbraucherbegriffs nur ganz selten bejaht 166 . In der Tat paßt dafür § 312 BGB nicht. Dort geht es um die Anbahnung eines Vertrags außerhalb von Verkaufs- und Geschäftsräumen. Für Arbeits- und auch für Aufhebungsverträge aber ist die Arbeitsstelle ein normaler Geschäftsraum. An dieser droht dem Arbeitnehmer nicht die für Haustürgeschäfte oft nicht untypische Gefahr der Überrumpelung. Zudem ist § 312 BGB gesetzestechnisch den „besonderen Vertriebsformen" unterstellt und weist systematisch vom Arbeitsvertrag weg16? Die ganz herrschende Meinung lehnt daher das Widerrufsrecht beim Aufhebungsvertrag zu Recht ab. Aber dieses Resultat beruht auf der Interpretation des § 312 BGB, nicht auf einer Verdrängung des Arbeitnehmers aus dem Verbraucherbegriff in § 13 BGB. Für § 310 Abs. 3 BGB ist demgegenüber zu beachten, daß der Verbraucherbegriff ganz vertragsunabhängig verwendet wird. § 310 Abs. 3 BGB ist deshalb bei der Inhaltskontrolle von Allgemeinen Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen, beispielsweise, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zur sofortigen Unterschrift drängt oder wichtige Vertragspassagen bagatellisiert168.

3. Entgeltabreden und Kontrolle durch Tarifverträge Vertragliche Hauptleistungen, insbesondere Entgeltabreden unterliegen grundsätzlich nicht der Inhaltskontrolle. Anders ist es nur bei existenten Vergütungsordnungen 169 . Das drückt § 307 Abs. 3 BGB dadurch aus, daß er für die Inhaltskontrolle Regelungen verlangt, die von Rechtsvorschriften abweichen. Andererseits stellt der Wortlaut des § 310 Abs. 4 S. 3 BGB unter anderem Tarifverträge den Rechtsvorschriften im Sinn von § 307 Abs. 3 BGB gleich. Das hat Däubler auf die Idee gebracht, Branchentarifverträge und für eine Branche „repräsentative" Firmentarifverträge als Kontrollmaßstab heranzuziehen, ersichtlich in Fällen, in denen weder eine Tarifgebundenheit besteht, noch eine arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den Tarifver165

Däubler, NZA 2001, 1334. Hümmerich/Holthausen, NZA 2002, 178; Schleusener, NZA 2002, 949ff.; vgl. neuerdings auch Singer, RdA 2003, 196. 167 Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 30. 168 Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 27. 169 Vgl. oben III 1 vor a. 166

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trag vorliegt170. Die Unangemessenheit im Sinn des § 307 Abs. 1 BGB soll dann nach gesetzlichen Vorbildern aus dem Mietpreis- und dem Berufsbildungsrecht bei einer Unterschreitung des Tariflohns um mehr als 20 % vorliegen171. Die Details interessieren hier nicht, da bereits der Ansatz nicht zutrifft. Bemerkenswert ist, daß Däubler diesen Gedanken nur auf das Entgelt bezieht, während er doch bei konsequenter Argumentation dann § 307 BGB überhaupt anwenden, also beispielsweise auch auf tarifvertragliche Ausschlußfristen erstrecken müßte172. Vor allem aber wird damit der Normzweck des § 310 Abs. 4 S. 3 BGB verkannt. Er besteht, wie bereits die Stellungnahme der Bundesregierung deutlich macht173, darin, die Inhaltsfreiheit über die ohnehin nach dem TVG bestehende Gebundenheit an den normativen Teil des Tarifvertrags hinaus auf Fälle zu erstrecken, in denen auf den Tarifvertrag Bezug genommen wird174. Der Sinn des § 310 Abs. 4 S. 3 BGB widerstreitet demgegenüber den von Däubler aus dem Wortlaut abgeleiteten Folgerungen.

IV. Vertragskontrolle beim Einzelarbeitsvertrag Der Einzelarbeitsvertrag ist ausgehandelt. Der Arbeitgeber „setzt" dem Arbeitnehmer keine vorformulierten Vertragsbedingungen, die die AGBKontrolle rechtfertigen. Entscheidend war in Doktrin und Praxis bislang die fehlende Riehtigkeitsgewähr, die die Vertragskontrolle vor der Schuldrechtsreform bestimmt hat. Sie war für Allgemeine Arbeitsbedingungen bislang nahezu unangefochten175. Die Folgerungen für die Einzelarbeitsverträge hat vor allem Zöllner verdeutlicht. Er meint, bei einheitlichen Bedingungen sei „das Gewicht" der Arbeitnehmerseite eher größer als bei individuellen, und fügt hinzu, empirisch scheine es so zu sein, daß in Betrieben ohne Einheitsbedingungen die Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen sogar schwächer sein könne176. Für die von Zöllner intendierte Gleichstellung, bei der er zu Recht Vertragsklauseln ausnimmt, die auf Veranlassung des Arbeitnehmers formuliert sind177, spricht die Reichweite der arbeitsrechtlichen Schutzgesetze, der Mitbestimmung und der Kollektivver173 Däubler, Ν ZA 2001, 1334 f. i?1 Däubler, NZA 2001, 1335. 172 Preis, NZA 2003, Heft 16, Sonderbeilage, S. 31 f. BT-Drucks. 14/6857, S. 54, abgedruckt bei Canaris (Fn. 6), S. 1017 174 ErfKomm-/Vm (Fn. 52), §§ 305-310 Rn. 38; Gotthardt, ZIP 2002, 282; Lingemann, NZA 2002, 188; Richardi, NZA 2002, 1062; vgl. auch Annuß, BB 2002, 460: Widerspruch zur autonomen Regelungsordnung; Singer, RdA 2003, 198: Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit; ausführlich neuerdings Bayreuther, RdA 2003, 81 ff. 175 Vgl. oben Fn. 90. 176 Zöllner, RdA 1989, 156. 177 Zöllner, RdA 1989, 158.

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einbarungen, die nicht zwischen Allgemeinen Arbeitsbedingungen und Einzelarbeitsverträgen unterscheiden. Daß generell beim Abschluß von Arbeitsverträgen schlechthin keine Richtigkeitsgewähr besteht, ist angesichts der bislang gescheiterten Versuche, die Parität zu messen 178 , allerdings nicht exakt nachweisbar. Immerhin läßt die Unausgewogenheit der Marktverhältnisse, für die der Schutz durch arbeitsrechtliche Gesetze einschließlich der Ermächtigung zu Kollektiwereinbarungen zumindest ein Indiz ist, einen Schluß auf eine typischerweise fehlende Richtigkeits gewähr zu179, die - angesichts des nur begrenzten Schutzes durch Gesetz und Kollektivvereinbarungen180 - eine Vertragskontrolle rechtfertigen kann. Darüber hinaus läßt sich den Schutzgesetzen, vor allem der Garantie der Koalitionen und der Tarifautonomie, die Vorstellung des Gesetzgebers entnehmen, daß die Vertragsfreiheit den Arbeitnehmer nicht hinreichend schützt. Darin liegt eine Prognose des Gesetzgebers, die, wie an anderer Stelle erwähnt181, bei der Rechtsanwendung bindend ist und deren Korrektur dem Gesetzgeber obläge182. Das muß als Fundament für eine Vertragskontrolle beim Einzelvertrag im Wege der Rechtsfortbildung und in Anlehnung an § 242 BGB 183 genügen. Die Konkretisierung des § 242 BGB läßt sich dann, wie bereits vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz verschiedentlich erwogen worden ist184, unter Anlehnung an das AGB-Recht vornehmen. Möglicherweise läuft es auf dasselbe hinaus, das AGB-Recht auf Einzelverträge analog anzuwenden und dann mittels der „Besonderheiten des Arbeitsrechts" zu modifizieren. In jedem Fall müssen die Ergebnisse mit denen der AGB-Kontrolle bei Allgemeinen Arbeitsbedingungen abgestimmt werden. Das gilt auch für die Frage, ob eine Vertragsklausel unwirksam ist oder im Weg der geltungserhaltenden Reduktion teilweise gerettet werden kann.

178 179 180 181 182 183 184

Vgl. nur Fastnch (Fn. 37), S. 216ff. Fastnch (Fn. 37), S. 233. Vgl. oben Fn. 44. Konzen, ZfA 1991, 394; den., NZA 1995, 914. Vgl. näher BVerfGE 50, 290, 331 ff. Vgl. oben II 1 a bb [2]. Vgl. oben Fn. 60.

Schenkung auf Römisch und ketzerische Fragen an die aktuelle Anweisungsdogmatik BERTHOLD

KUPISCH

Üblicherweise präsentiert in einem Festschriftbeitrag der Autor ein Problem (oder das, was er für ein Problem hält), um dann mit einer Lösung aufzuwarten, zu der er sich die Zustimmung des Jubilars erhofft. Auch hier soll so verfahren werden, das Schwergewicht aber mehr auf dem Problem liegen, das den Schreibenden wiederholt beschäftigt hat.1 Es wird dem septuagenanus als ausgewiesenem Kenner des Rechts der Anweisung vorgelegt, im Medium des Schenkungsrechts2, am Ende aber auch - die Gelegenheit ist günstig - noch einmal darüber hinaus, in gebotener, aber vielleicht nicht unpassender Kürze. Dabei ist Anweisung nachstehend im weiteren Sinn gemeint. Zudem wird prinzipiell nicht unterschieden zwischen „sachenrechtlichen" und „schuldrechtlichen" Anweisungslagen, auch wenn die sachenrechtliche Anweisungslage deutlich im Vordergrund steht. Doch geht es um einen einheitlichen Grundgedanken, der die Unterscheidung gegenstandslos erscheinen läßt.3

1

Ausführliche Nachweise (über die hinwegzulesen der lector benevolens gebeten wird)

i.f. 2 Vgl. Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 442, 449f., wo dieser Aspekt nur mehr oder weniger kursorisch behandelt werden konnte. 3 Zur Unterscheidung unterschiedlicher Anweisungskategorien vgl. Larenz/Canaris Schuldrecht Bd. II/2, 13. Aufl. 1994, S. 201 und 223, ferner ebd. S. 223, 224 sowie u. (bei) Fn. 36.

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Berthold Kupisch

Α. Römisches Recht I. Das Verbot von Schenkungen unter Ehegatten Die Annäherung an unsere Fragen beginnt im antiken römischen Recht.4 Nach altem ius civile waren in Rom Schenkungen unter Ehegatten verboten5 - verboten, um die Eheleute zu hindern, sich aus Liebe in Armut zu stürzen, durch maßlose, verschwenderisch großzügige Geschenke, wie der spätklassische Jurist Domitius Ulpianus um die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert n.Chr. schrieb.6 Ferner liest man in einer das Schenkungsverbot lockernden Senatsrede des Kaisers Septimius Severus aus dem Jahre 206 n. Chr. (gehalten von seinem Sohn Caracalla), die mawres hätten Schenkungen unter Ehegatten untersagt, da wahre Liebe allein auf Zuneigung, nicht auf Geld beruhe. Und deshalb seien sie um das Ansehen der ehelich Verbundenen besorgt gewesen, auf daß deren Eintracht nicht erkauft erscheine.7 Wer hätte soviel Fürsorglichkeit bei den Alten erwartet! In Wirklichkeit wird man in der späteren Kaiserzeit die historischen Gründe für das überkommene Schenkungsverbot gar nicht mehr gekannt haben. Einer neueren Meinung zufolge lagen sie vermutlich vor allem darin, einer gesellschaftlichen und politischen Deklassierung der Familie des Ehemannes (auch damals schenkte regelmäßig der Mann seiner Frau) vorzubeugen, eine Annahme, die für ein timokratisch verfaßtes Gemeinwesen, wie es die römische Republik mit ihrem alle fünf Jahre stattfindenden census war, nicht von der Hand zu weisen ist.8 4 Es versteht sich von selbst, daß aus den Überlegungen, die Antike und Moderne vergleichend miteinander in Beziehung setzen, nicht unvermittelt präskriptive Ansprüche an eine moderne Anweisungsdogmatik resultieren. Im subjektiv - (selbst)kritischen Spiel sind vielmehr sachbezogene Vorstellungen einer denkbaren begrifflichen Ordnung der Gegenstände. Dies gilt umgekehrt (in Uberwindung Rankes) auch für die Beschäftigung mit der Rechtsgeschichte, wenngleich hier, günstiger als im allgemeinen sonst, zu Buche schlägt, daß es um Texte normativen Inhalts von regelmäßig hoher, ausdifferenzierter Rationalität geht, in deren Tradition das abendländische Denken steht. 5 Zur Herkunft des Verbots s. Misera Der Bereicherungsgedanke bei der Schenkung unter Ehegatten, 1974, S. 238ff., ferner Kunkel/Honseil Römisches Recht, 4. Aufl. 1987, S. 347 f. 6 Dig. 24,1,1; s. auch die Bemerkung des Paulus, eines Zeitgenossen Ulpians, in Dig. 24,1,28,2. Für Lebensdaten der hier sowie i.f. angeführten römischen Juristen sei grundsätzlich auf Kunkel/Schermaier Römische Rechtsgeschichte, 13. Aufl. 2001, S. 140 ff. verwiesen; vgl. aber auch u. Fn. 12. 7 Vgl. Ulpian Dig. 24,1,3 pr.; Dig. 24,1,32 pr. 8 S. Giuffre Ii diritto dei privati nell'esperienza romana, 3. Aufl. 2002, S. 328f. Anklänge an diese These vielleicht bei Proculus (1. Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr.): Nicht eine Bereicherung des Beschenkten habe verhindert werden sollen, sondern ein ärmer werden des Schenkenden aus Liebe zum Beschenkten; vgl. Pomponius Dig. 24,1,31,7 Auf Schenkungen an die Konkubine fand das Schenkungsverbot keine Anwendung; Scaevola Dig. 24,1,58 pr.; Papinian Dig. 39,5,31 pr. Von aktuellem rechtvergleichenden Interesse: Der italienische

Schenkung auf Römisch

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Bewehrt war das Schenkungsverbot mit der Rechtsfolge der Nichtigkeit ipso iure: Jegliche Vereinbarung schenkungshalber war ohne weiteres unwirksam, ein Leistungsversprechen etwa ebenso wie ein Schulderlaß oder eine Eigentumsübertragung. 9

II. Anweisung:

Schenkung Schenkung

im Deckungsverhältnis im

mit

verbotener

Valutaverhältnis

Die römischen Juristen wären keine Rechtsexperten gewesen und ihre Tätigkeit verdiente nicht, als Rechtswissenschaft bezeichnet zu werden, wenn die Anwendung des Schenkungsverbots nicht nach allen Richtungen hin gedanklich durchgespielt worden wäre (Praxisbezug hin oder her). Das wird man in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft im einzelnen leicht nachlesen können. 1 0 Im Augenblick interessiert die Kombination von Sachschenkung und Schenkungsverbot im Rahmen einer Anweisung. Wir konzentrieren uns auf einen Fall, mit dem sich P. Salvius Iulianus befaßt hat, 1 1 der uns Heutigen neben P. Iuventius Celsus als der bedeutendste römische Jurist der hochklassischen Zeit gilt. 12 In diesem Fall geht es u m Handschenkung 1 3 (und bei Handschenkung soll es in den folgenden Ausführungen der Argumentation wegen vorerst im wesentlichen auch bleiben 1 4 ):

Codice civile von 1942 hatte das Schenkungsverbot unter ausdrücklicher Berufung auf die romanistische Tradition aufgenommen. Indes wurde der einschlägige Art. 781 im Jahre 1973 durch den Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt. Vgl. Giuffre aaO. 9 Ulpian Dig. 24,1,3 10. 10 In Bd. IV, Digesten 21-30 (sedes materiae ist Dig. 24,1) der in Arbeit befindlichen neuen deutschen Ubersetzung der justinianischen Digesten; s. Behrends, Knütel, Kupisch, Seiler (Hrsg.), Corpus iuris civilis, Text und Ubersetzung, Bd. I, Institutionen, 2. Aufl. 1997; Bd. II, Digesten 1-10,1995; Bd. III, Digesten 11-20,1999. Mit den komplementären, für den Tatbestand der Unwirksamkeit maßgebenden Begriffen pauperior - locupletior sowie mit der Haftung auf die noch vorhandene Bereicherung befaßt sich die Monographie

von Misera, o. Fn. 5.

Mitgeteilt von Ulpian in Dig. 24,1,3,13. Julian hat unter den Kaisern Hadrian (der ihm die abschließende Redaktion der Jurisdiktionsedikte anvertraute), Antoninus Pius sowie Mark Aurel gewirkt und, wie für angesehene Juristen seit dem 2. Jahrhundert üblich, auch hohe Staatsämter bekleidet, u.a. das des Statthalters in Untergermanien mit Sitz in Köln. Der eine Generation ältere Celsus ist Statthalter in Thrakien und zweimal Konsul gewesen. Unter seinem zweiten Konsulat 129 n. Chr. erging in einer Erbschaftssache auf Veranlassung Hadrians ein Senatsbeschluß (das sog. Senatusconsultum luventianum), dessen Kommentierung durch die späteren Juristen (Dig. 5,3,20ff.) ein Lehrstück zu den Fragen des Umfangs der Bereicherungshaftung ist. Celsus' Neigung zu sprichwörtlichen Formulierungen zeitlos gültiger Einsichten in die Arbeit des Juristen dokumentieren Dig. 1,1,1 pr.; Dig. 1,3,17; Dig. 1,3,24. 11

12

13 Wie § 516 Abs. 1 BGB; vgl. noch in MünchKommBGB/Kollhosser, 3. Aufl. 1995, § 516 Rn.l. 14 Vgl. im übrigen u. Β III.

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Der Schenkende D (donator), der dem Ehemann Μ (maritus) eine Sache schenken will, wird von Μ angewiesen, die Sache statt an ihn, M, an die Ehefrau U (uxor) des Μ zu übereignen, die Μ seinerseits mit der Sache beschenken will. Spätestens seit Starjuristen wie Julian und Celsus ist die allgemeine Meinung unter den römischen Juristen die, daß Μ das Schenkungsverbot nicht auf diese Weise umgehen kann: Die Eigentumsübertragung von D an U geht (trotz untadeliger Anweisungserklärung des M) ins Leere; U erwirbt kein Eigentum an der Sache.15 III. Wirtschaftliche

Betrachtungsweise

In der romanistischen Literatur findet sich zu der einleuchtenden Handhabung des Schenkungsverbots durch Julian und Celsus die Erklärung, die Sache, deren rechtsformale Übereignung von D an U im Vollzug der Anweisung intendiert ist, komme wirtschaftlich betrachtet aus dem Vermögen des M. 16 Insoweit wären also die Ehegatten im Valutaverhältnis Μ - U unmittelbar betroffen, so daß das Schenkungsverbot folgerichtig und unproblematisch eingreifen kann. Ich halte diese Erklärung für zutreffend17 und knüpfe im Anschluß an sie folgende Fragen: Wenn die (faktisch) an U gelangte Sache kraft wirtschaftlicher Wertung aus dem Vermögen des Μ kommt (Valutaverhältnis), muß man dann nicht konsequenterweise annehmen, daß - immer wirtschaftlich betrachtet - die Sache zuvor aus dem Vermögen des D in das Vermögen des Μ gelangt ist (Deckungsverhältnis)? Ist also, mit anderen Worten, bei der Anweisung wirtschaftlicher Wertung zufolge eine wirtschaftliche Bewegung des Anweisungsgegenstandes von D an Μ und anschließend von Μ an U anzunehmen, wobei die Abfolge der Bewegungen entsprechend der Anweisungslage (und im Unterschied zu einer Ubereignungskette) zeitlich zusammengezogen erscheint und in ein und denselben Zeitpunkt fällt - in den Zeitpunkt der berühmt - berüchtigten juristischen oder logischen Sekunde? Für diese Überlegung spricht meiner Ansicht nach, was Julian unmittelbar zu unserem Fall sagt:18 Perinde enim habendum, atque si ego acceptam et rem meam factam uxori meae dedissem („Der Vorgang müsse nämlich ebenso

S. noch Afrikan Dig. 46,3,38,1. " Käser Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode. Ausgewählte, zum Teil grundlegend erneuerte Abhandlungen, 1986, S. 287; Weyand Der Durchgangserwerb in der juristischen Sekunde, 1989, S. 125. S. ferner Haeberlin Zeitschr. der Savigny - Stiftung f. Rechtsgesch., Rom. Abtlg. 74 (1954), 100, 129; Beseler Beiträge zur Kritik der römischen Rechtsquellen, Heft IV, 1920, S. 319. Die Überlegung findet sich auch zum geltenden Recht, vgl. Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 458 Fn. 75 und 84 m.N. (insbes. Larenz u. bei Fn. 44). 15

17 18

Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 431, 440ff. (S. 443f. mit Fn. 34) u. ö. S. Ulpian Dig. 24,1,3,13.

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angesehen werden, als ob19 ich [M] die Sache empfangen und die mein Eigentum gewordene meiner Frau [U] gegeben hätte"). Allgemeiner und für die Anweisung schlechthin gültig - was für das Folgende von besonderer Bedeutung ist - werden die von uns in Auge gefaßten Zusammenhänge von Julians Fachgenossen Celsus ausgedrückt, und zwar für den Fall, in dem ein Ehemann seiner Frau im Wege der Anweisung Geld schenken will. Ich paraphrasiere: Auch wenn, so Celsus, die Schenkung nicht vom ius civile verboten wäre, würde die Abfolge des Geschehens die sein, daß das Geld vom Angewiesenen an den anweisenden Ehemann Μ und dann (deinde) von Μ an die Anweisungsempfängerin und Ehefrau U gelangte20. Man darf ausschließen, Julian und Celsus hätten mit ihren Formulierungen, die vergleichend an dem Fall der Ubereignungskette orientiert sind,21 dafür plädiert, in jedem Fall von Anweisung die Fiktion eines sachenrechtlichen Zwischenerwerbs durch den Anweisenden einzuschalten.22 Ein derartiges Gedankenkonstrukt ohne reales Substrat, also entgegen dem (römischen) Traditionsprinzip, würde die Rechtsfigur der Anweisung denaturieren23 und stünde auch im Widerspruch zu der veranschaulichenden Funktion des Vergleichsfalls, dessen sachenrechtliche Voraussetzungen in dem zu entscheidenden Fall gerade nicht gegeben sind; daher ja der Blick auf den Vergleichsfall. Was also soll der Vergleichsfall der Ubereignungskette für den Anweisungsfall verdeutlichen? Man könnte an Rechtsfolgen wie Schuldbefreiung denken, die im Anweisungsfall auch nach römischem Recht ebenso eintreten wie bei 19 Sprachlich und sachlich äquivalent: „wie wenn ich" oder „als hätte ich"; vgl. Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 436; ferner auch u. Fn. 28. 20 Vgl. das Zitat bei Ulpian Dig. 24,1,3,12. Es geht bei Celsus freilich nicht um doppelte Schenkung, sondern, für das thema probandum (vgl. sofort im Text) aber ebenso einschlägig, um Schenkung an die Ehefrau, indem der Ehemann seinen Schuldner anweist, an die Ehefrau zu zahlen: nam et si donatio iure civtli non impendiretur, eum ret gestae ordinem futurum, utpecunia ad te [anweisender Ehemann] a debitore tuo [Angewiesener], deinde a te ad mulierem [Anweisungsempfänger] perueniret. 21 Bei Celsus ist nicht expressis verbis von Ubereignung die Rede, was möglicherweise darauf hindeutet, daß er den von uns intendierten wirtschaftlichen Zusammenhang unmittelbar ausspricht. Das kann indes dahinstehen. 22 Unmißverständlich, für den Fall der Begründung einer Verpflichtung aus Darlehen im Wege der Anweisung, Dig. 12,1,15, wo Ulpian den Anweisenden an die Adresse des Empfängers sagen läßt: obligaris mihi, quamvis meos nummos non acceperis („du wirst mir gegenüber verpflichtet, obwohl du nicht Münzen aus meinem Eigentum empfangen hast" sondern aus dem Eigentum des Angewiesenen, wie man mit Rücksicht auf den Anfang der Stelle ergänzen kann). S. vorstehend noch Flume Rechtsakt und Rechtsverhältnis, Römische Jurisprudenz und modernrechtliches Denken, 1990, S. 71; Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 439. 23 Gegen diese Gefahr sind die römischen Juristen offenbar besser gefeit als manche ihrer modernen Interpreten. Vgl. zur Kritik nur Flume (Fn. 22), S. 65 ff., S. 69 f. mit Fn. 27 im Anschluß an Kupisch Studi Sanfilippo II, 1982, S. 285, 298; s. ferner Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 438f. und S. 446 Fn. 41 m.w.N. aus jüngster Zeit (Schanbacher, Emst). Vgl. noch u. Fn. 32.

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der Übereignungskette. Doch ist das zumal für die Julianstelle auszuschließen, denn im Spiel sind Handschenkungen. 24 Meines Erachtens dient das Argumentationsmuster hier vielmehr in der Tat dazu, die Einsicht zu befördern, daß wir uns bei der Anweisung institutionell die Bewegung des Wirtschaftsguts Sache wie bei der Ubereignungskette vorzustellen haben. Das heißt also: Wird kraft gültiger Anweisungserklärung die Anweisung vollzogen, so liegt - anders als im Vergleichsfall einer Ubereignungskette - rechtsformal die Eigentumsübertragung im Verhältnis vom Angewiesenen zum Anweisungsempfänger (Abkürzungsfunktion der Anweisung); hingegen verhält es sich wirtschaftlich betrachtet (wirtschaftlicher Wertung gemäß) so, daß - wie im Vergleichsfall einer Ubereignungskette zwischen den drei Beteiligten - eine Bewegung des Anweisungsgegenstands anzunehmen ist, welche vom Angewiesenen zum Anweisenden geht und (logisch) anschließend von diesem zum Anweisungsempfänger.25 Rechtsformale und wirtschaftliche Bewegung des Transfergegenstandes, die bei der Ubereignungskette parallel verlaufen, gehen bei der (vollzogenen) Anweisung verschiedene Wege. 26 Die Beobachtung, daß in unserem Ausgangsfall der Anweisungsgegenstand wirtschaftlich gesehen von Μ an U geht, was die Anwendung des Schenkungsverbots nach sich zieht (die Eigentumsübertragung D - U scheitert), wäre also durch die anweisungsspezifische Annahme einer vorausgehenden wirtschaftlichen Bewegung des Anweisungsgegenstandes von D an Μ zu vervollständigen.27 Vgl. im einzelnen Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 440 ff. Die Bewegung vom Angewiesenen zum Anweisenden läßt sich anscheinend schwerer vermitteln als der Umstand, daß der an den Empfänger gelangte Anweisungsgegenstand wirtschaftlich aus dem Vermögen des Anweisenden kommt. So etwa heißt es bei Celsus, die Bewegung resp. Handlung (actio) im Deckungsverhältnis sei wegen der „Schnelligkeit der miteinander verbundenen Handlungen" „verdeckt"; vgl. Ulpian/Celsus Dig. 24,1,3,12. Und Ulpian Dig. 23,3,43,1 spricht in einem vergleichbaren Fall von einem im Deckungsverhältnis brevi manu Empfangenen, was einhelliger Meinung nach nichts mit einer brevi manu traditio zu tun hat. Vgl. Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 447; zur aktuellen Dogmatik ebd. S. 461 Fn. 84 und S. 463 (hier zu Autoren, die eine gewisse Sensibilität für das Problem erkennen lassen). 26 Eingehend Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 440ff-, 443ff. Zum modernen Recht (vorgreifend) ders. JZ 1997, 213, 218f.; ders. WM 1999, 2381, 2383f. Dem heutigen Juristen ist es aus dem Recht der Treuhand vertraut, zwischen rechtsformaler und wirtschaftlicher Zuständigkeit zu unterscheiden, vgl. WM aaO. Auch im Bereicherungsrecht wird auf diese Kategorien zurückgegriffen, s. etwa BGHZ 105, 365, 368: „... es sei grundsätzlich zu berücksichtigen, daß das Bereicherungsrecht in besonderem Maße eine wirtschaftliche und nicht rechtsformale Betrachtungsweise gebiete" (Hervorhebung hinzugefügt). Vgl. ferner u. bei Fn. 37 27 Die Konstellation (Anweisung, Vollzug der Anweisung, Schenkungsverbot im Valutaverhältnis) wird von den römischen Juristen auf unterschiedliche Weise einer abschließenden Regelung zugeführt. Im einzelnen hierzu Kupisch Bullettino dell'Istituto di Diritto Romano 37-38 (1995-1996), 45, 56 f. 24

25

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B. Geltendes Anweisungsrecht und wirtschaftliche Betrachtungsweise I. Schenkung im Valutaverhältnis Mit den Überlegungen zu Julian und Celsus komme ich zu Anweisungslagen des geltenden Rechts und zu einer rechtsvergleichenden Einbeziehung der bisherigen Erörterung.28 In § 7 Abs. 1 Nr. 1 Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuergesetz wird die Schenkung unter Lebenden definiert als „jede freigebige Zuwendung unter Lebenden, soweit der Bedachte durch sie auf Kosten des Zuwendenden bereichert wird". Die Regelung ist für uns zunächst deswegen von Interesse, weil - offensichtlich in der Natur der Sache liegend - die Ausdrücke „auf Kosten" und „bereichert" anzeigen, daß es um wirtschaftliche Verminderung und Vermehrung von Vermögen geht. 29 Wie diese Zusammenhänge im Fall einer Schenkung durch Anweisung zu verstehen sind, hat der Gesetzgeber freilich nicht eigens geregelt. Die begriffliche Erfassung dieser Konstellation bleibt also Wissenschaft und Praxis überlassen - Wissenschaft und Praxis, wohlgemerkt, des BGB.30 Dieser Umstand hat sich in Rechts-

28 Die aus dem römischen Recht gewonnene „als ob" - Betrachtung (vgl. o. bei Fn. 19) hat der Schreibende erstmals in Gesetzespositivismus im Bereicherungsrecht, 1978, S. 20, 23 (und passim) für Anweisungslagen im geltenden Bereicherungsrecht fruchtbar zu machen gesucht (zustimmend im MünchKommBGB/Zje£, s. 3. Aufl. 1997, § 812 Rn. 30ff.). Die vorstehend postulierten wirtschaftlichen Bezüge sind indes erst nach und nach in sein Blickfeld getreten, insbesondere seit Bullettino dell'Istituto di Diritto Romano 37-38 (1995-1996), 45 ff. u n d J Z 1997, 213 (vgl. ebd. Fn. 64), gewissermaßen als substantielle Unterfütterung der Argumentationsfigur, worüber man sich natürlich zusätzlich streiten kann; vgl. noch Festschrift Seiler, 1999, S. 467 Fn. 110. Anklang gefunden hat die „als ob" - Betrachtung auch bei König in Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. II, 1981, S. 1424 (§ 4 Abs. 1 des Gesetzesvorschlags), ohne daß der Autor freilich seinen Gewährsmann genannt hätte; darauf hat bereits Lieb in Ungerechtfertigte Bereicherung, Symposium König, 1984, S. 97 hingewiesen. Neuerdings wird die (normative) Betrachtungsweise „als ob" programmatisch von St. Lorenz JuS 2003, 732 und Fn. 30 befürwortet, im Anschluß zumal an MünchKommBGB/Lieb aaO., kurioserweise aber primär unter Zitat von Larenz/Canans (Fn. 3), S. 205 f., das heißt unter Zitat eines Autors, den man bisher überhaupt und auch im Hinblick auf Äußerungen ebd. S. 251 schwerlich als einen Vertreter der „als ob"-Betrachtung hätte bezeichnen wollen. S. hierzu noch Kupisch J Z 1997, 219 Fn. 66 ff. und insbes. den. W M 1999, 2384 Fn. 17; ferner Zöllner J Z 1997, 293 f., der beim Lehrbuchverfasser Canons eine stärkere Auseinandersetzung mit dem „grundsätzlich abweichenden Ansatz" von Kupisch und Lieb vermißt. 29 S. etwa Kapp/Ebeling Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuergesetz, Kommentar, 12. Aufl. 2000, § 7 Rz. 4. 30 Vgl. Kapp/Ebeling (Fn. 29), § 7 Rz. Iff.; Meincke Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuergesetz, Kommentar, 13. Aufl. 2002, § 7 Rn. 3; ferner das im folgenden angeführte Urteil des Bundesfinanzhofes aaO.

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ausführungen des Bundesfinanzhofes für den Fall der Schenkung einer Sache im Valutaverhältnis folgendermaßen niedergeschlagen:31 „Die Bereicherung aus dem Vermögen des Schenkers kann auch darin liegen, daß dieser einem anderen mit seinen Mitteln einen Gegenstand von einem Dritten verschafft, ohne daß der Schenker selbst Eigentümer geworden zu sein braucht. Denn es kann rechtlich keinen Unterschied bedeuten, ob jemand einen fremden Gegenstand, den er verschenken will, sich zunächst selbst übertragen läßt und ihn dann an den Beschenkten weitergibt, oder ob er ihn dem Beschenkten dadurch verschafft, daß er den Berechtigten aufgrund der mit diesem getroffenen Vereinbarung veranlaßt, den zu schenkenden Gegenstand [für Rechnung des Schenkers] unmittelbar an den Beschenkten zu übertragen". Die Formulierungen des zweiten Satzes berühren uns vertraut. Sie korrespondieren (wie könnte es auch anders sein, möchte man sagen) mit den Beobachtungen zum römischen Recht. Das heißt: Die schenkungsrechtliche relevante Lage von Verminderung und Vermehrung des Vermögens ist im Valutaverhältnis dieselbe wie in dem zweiten Glied des Vergleichsfalls einer Ubereignungskette. Oder, in der von dem Römer Julian bevorzugten Formulierung ausgedrückt: Die Lage im Valutaverhältnis ist so anzusehen, als ob (der Dritte an den Schenker und) der Schenker an den Beschenkten übereignet hätte. Daß der Bundesfinanzhof, objektiv gesehen, mit seinen Überlegungen wirtschaftliche Zusammenhänge (mit rechtlicher Bedeutung) im Auge hat und nicht die Fiktion eines sachenrechtlichen Zwischenerwerbs des Schenkers, steht, anders als es bei der Lektüre des antiken Textes prima facie ersichtlich ist, ganz außer Zweifel: Der vom Schenker dem Beschenkten geschenkte Gegenstand kommt aus dem Vermögen des Schenkers, obwohl er sich sachenrechtlich - wenn es sich denn um eine Sache handelt nie im Vermögen des Schenkers befunden hat. 32 Das hat das Gericht dem oben wiedergegebenen Diktum unmißverständlich vorausgeschickt: „Auch das Erfordernis der Bereicherung aus dem Vermögen des Schenkers setzt nicht voraus, daß der Gegenstand, um den der Beschenkte bereichert wird, sich vorher in derselben Gestalt in dem Vermögen des Schenkers befunden habe und wesensgleich übergehe". II. Schenkung zusätzlich im

Deckungsverhältnis

Welche Rolle spielt für den Bundesfinanzhof die Lage im Deckungsverhältnis? Wenn die im Wege der Anweisung geschenkte Sache, wirtschaftlich 31 Bundessteuerblatt 1976, S. 633. Hervorhebungen durch Kursive im folgenden Zitat hinzugefügt; zu ihnen u. Β II. 3 2 Es fehlt freilich auch im geltenden Recht nicht die Ansicht, bei der Anweisung komme es zu einem sachenrechtlichen Zwischenerwerb; vgl. zuletzt Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 439 mit Fn. 25 und insbes. S. 456 mit Fn. 71, m.N.

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gesehen, aus dem Vermögen des Schenkers in dasjenige des Beschenkten kommt - muß sie dann nicht, wiederum wirtschaftlich gesehen, zuvor aus dem Vermögen des Dritten (des Angewiesenen) in das Vermögen des Schenkers gelangt sein? Muß diese soeben im römischen Recht angetroffene Überlegung für das geltende Recht nicht ebenso gültig sein wie für das römische, da die Anweisung (delegatio) eine römische Schöpfung ist33 und daher delegatio gleich Anweisung (im weiteren Sinn), wie wir in der Nachfolge Roms einmal kühn postulieren wollen? Im Hinblick auf § 7 Abs. 1 Nr. 1 Erbschafts- und Schenkungssteuergesetz würde das bedeuten, daß der Beschenkte die geschenkte Sache insoweit „auf Kosten" des Schenkers erlangt hat, als diese wirtschaftlich ein (Durchgangs-) Posten im Vermögen des Schenkers gewesen ist. Der Bundesfinanzhof sieht das anders, traditioneller Dogmatik entsprechend und fallspezifisch fündig, wie man hinzufügen muß. Das Gericht subsumiert unter das Tatbestandsmerkmal „auf Kosten" das, was der Schenker gegenüber dem angewiesenen Dritten für das Geschenk an den Anweisungsempfänger aufgewendet hatte. Im Urteil ist davon die Rede, daß der Schenker dem Beschenkten „mit seinen Mitteln einen Gegenstand von einem Dritten verschafft", und davon, daß der Schenker den Dritten „veranlaßt, den zu schenkenden Gegenstand [für Rechnung des Schenkers] unmittelbar an den Beschenkten zu übertragen". Nach Lage des Falles ging es im Deckungsverhältnis also um ein Geschäft unter Einsatz von Vermögen des Schenkers. 34 So weit, so gut? Man möchte zweifeln, und zwar, wenn man im Anschluß an den antiken Fachgenossen Julian den Fall dahin abwandelt, daß auch im Deckungsverhältnis Schenkung (des angewiesenen Dritten an den anweisenden Schenker) vorliegt. Wie und was muß man dann im Hinblick auf die Schenkung im Valutaverhältnis unter das Tatbestandsmerkmal „auf Kosten" subsumieren? In diesem Fall gibt es im Deckungsverhältnis, dem Angewiesenen gegenüber, naturgemäß keinen Einsatz von Vermögenswerten des anweisenden Schenkers, die dafür in Betracht kämen. Hat der beschenkte Anweisungsempfänger das Geschenk etwa nicht auf Kosten des " S. die Eloge von Stampe AcP 107 (1911), 284, 285; vgl. Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 449. 3 4 Allein an solche Konstellationen bei Schenkung durch Anweisung scheint auch sonst gedacht zu werden, etwa in MünchKommBGB/Kollhosser, (Fn. 13) § 516 Rn. 5: „... wenn der Schenker ... durch Anweisung an seinen Schuldner dem Beschenkten durch seinen Schuldner etwas zukommen läßt". Vgl. o. Fn. 21. Was die Regelung der Anweisung nach BGB (§§ 783ff.) betrifft, s. § 783: „für Rechnung des Anweisenden", worunter die Anweisung auf Schuld (§ 787 Abs. 1) und die auf Kredit fällt; statt aller in MünchKommBGB/ Hüffen 3. Aufl. 1997, § 783 Rn. 4 und 32. Zu diesem Modell näher u. Β IV 2. Vgl. zu § 783 BGB noch Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 461 Fn. 84 (wo es statt „in bezug auf die von Α an Β konkret zu erbringende Leistung" richtig „in bezug auf die von Α an C konkret zu erbringende Leistung" heißen muß.

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anweisenden Schenkers erlangt? Und liegt im Deckungsverhältnis keine schenkungssteuerrechtlich relevante Zuwendung vor, durch die der Anweisende auf Kosten des Angewiesenen bereichert ist? Das alles läßt sich schwerlich annehmen. Man kann den Fall einer doppelten Schenkung für zugespitzt halten und darauf verweisen, eine findige Kautelarjurisprudenz werde schon Wege zu finden wissen, derartige Fallvarianten zu vermeiden. Um die Rechtsfrage als solche kommt man nicht herum. (Hand-) Schenkung zusätzlich im Deckungsverhältnis scheint in gewisser Weise eine Nagelprobe dafür zu sein, daß das Tatbestandsmerkmal „auf Kosten" auf den Anweisungsgegenstand zu beziehen ist, welchen der anweisende Schenker, wirtschaftlich gesehen, vom Angewiesenen erwirbt und welcher, indem er in einem gedachten anschließenden Augenblick weiter an den Anweisungsempfänger geht, von diesem auf Kosten des Anweisenden erworben wird. 35 Mit anderen Worten: Wirtschaftlich betrachtet entsprechen die wirtschaftlichen Bewegungen bei der ausgeführten Anweisung, zeitlich spezifisch gerafft, den wirtschaftlichen Bewegungen der Ubereignungskette. 36 Unserer Überlegungen zielen im Ergebnis auf eine Lage, wie sie anerkanntermaßen bei der Auszahlung eines Barschecks besteht. Trotz der Eigentumsübertragung bankeigenen Geldes von der angewiesenen Bank an den Scheckinhaber (und Anweisungsempfänger) ist in der Auszahlung wirtschaftlich keine Zuwendung der Bank an den Empfänger zu sehen (so wenig wie es eine solche im Rahmen der Giroüberweisung gibt). Dieser Fall einer (rechtsformalen) Übereignung ohne wirtschaftlichen Gehalt wäre danach keine, wie auch immer begrifflich vermittelte, bankenspezifische Ausnahme, sondern wäre - unser Thema - paradigmatisch für das Besondere der Anweisung überhaupt. 37 Mit anderen Worten: Die sog. sachenrechtliche Anweisungslage, für die eine wirtschaftliche Zuwendung des Angewiesenen an den Empfänger charakteristisch sein soll, unterscheidet sich bei näherer Betrachtung nicht von der schuldrechtlichen, sprich bankenspezifischen Anweisung, 38 bei der eine solche wirtschaftliche Zuwendung allgemein und mit Recht verneint wird. Dem entspricht es, daß die im Voraufgegangenen 35

Der Gedanke an ein Schenkungsversprechen im Deckungsverhältnis führt nicht weiter, da die mit dem Vollzug der Anweisung eintretende Befreiung des Angewiesenen (offensichtlich!?) nicht, was widersprüchlich genug wäre, auf einem Einsatz von Vermögen des Anweisenden zugunsten des Angewiesenen beruht. Vgl. u. nach Fn. 40, insbes. auch Fn. 47 36 Auch die Wirtschaftswissenschaften sprechen davon, daß die Anweisungslage wirtschaftlich äquivalent der Übereignungskette ist (freundliche Auskunft meines münsterischen Kollegen Adam). 37 S. vorstehend (allgemein zum Girorecht) Schön AcP (1998), 401, 408 sowie (themenspezifisch) Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 458 Fn. 75 und S. 457ff. m . N . 38 Vgl. o. (vor) Fn. 3; ferner (zur These einer wirtschaftlichen Zuwendung des Angewiesenen an den Empfänger im Rahmen der sog. sachenrechtlichen Anweisungslage) Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 454 Fn. 62 und S. 455 Fn. 66 jew. m . N .

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gegebene Antwort auf die Frage nach der Lokalisierung der wirtschaftlichen Zusammenhänge bei der Anweisung einer Kritik an traditionellen dogmatischen Mustern der Anweisung in bezeichnender Weise entgegenzukommen scheint. III. Allgemeine Folgerungen und Kritik an Grundannahmen der aktuellen Anweisungsdogmatik Auf der Basis der hier vorausgesetzten wirtschaftlichen Bewegung des Anweisungsgegenstands vollziehen sich in unserem Modellfall die beiden Handschenkungen 39 mit entsprechend schenkungssteuerrechtlichen Folgen. Und auf derselben Basis beruht etwa das Umsatzsteuerrecht bei den sog. Reihengeschäften.40 Insoweit kommt hinzu, daß sich mit dem Vollzug der Anweisung auch die Rechtsfolge einer Schuldbefreiung von Leistungspflichten plausibel konzipieren läßt (des Angewiesenen gegenüber dem Anweisenden und des Anweisenden gegenüber dem Empfänger). Es lohnt sich, nicht zuletzt diese Konstellation (noch) einmal im Spiegel der herrschenden Anweisungsdogmatik zu betrachten. So stößt man etwa im Kontext der Meinung, mit der (rechtsformalen) Übereignung vom Angewiesenen an den Empfänger gehe auch die wirtschaftliche Bewegung parallel,41 so gut wie immer auf die Formulierung, die Zuwendung des Angewiesenen an den Empfänger bewirke gleichzeitig, simultan zwei Leistungen·, eine im Deckungs- und eine im Valutaverhältnis; zuweilen ist insoweit auch von zwei gleichzeitigen Vermögenszuwendungen die Rede, die mit der Leistung des Angewiesenen an den Empfänger gegeben seien.42 Macht man sich einmal frei von der Suggestion dieses stereotypen Lehrsatzes, dann ist man verblüfft, daß es bei einer Zuwendung des Angewiesenen an den Anweisungsempfänger gleichzeitig zwei Leistungsempfänger von zwei Leistungsgegenständen geben soll: neben dem Anweisungsempfänger zusätzlich den Anweisenden. Das erscheint nicht gerade 39

Für das römische Recht der (erlaubten) Schenkung sei auf eine Stelle wie Julian Dig. 39,5,2,2 verwiesen, wo es heißt: „Wenn aber ich, der dem Titius [Anweisungsempfänger] Geld schenken wollte, dich, der ebensoviel mir zu schenken beabsichtigte, angewiesen habe, dem Titius [das Geld] zu versprechen, ist [mit dem Versprechen] unter allen betreffenden Personen die Schenkung vollzogen" (cum vero ego Titio pecuniam donaturus te, qui mihi tatundem donare volebas, iussero Titio promittere, inter omnes personas donatio perfecta est). Dahinter steht (wieder) die Wertung: als hätte der Angewiesenen das Geld dem Anweisenden gegeben, der Anweisende es dem Anweisungsempfänger und dieser es dem Angewiesenen kreditiert. Vgl. Celsus Dig. 39,5,21,1. 40

S. näher Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 451 f. Vgl. soeben (nach) Fn. 37 42 Zu Einzelheiten Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 453 ff. m . N . Aus der Rechtsprechung vgl. zuletzt BGH WM 2003, 15 1. Sp. Hier wird es zwar im Hinblick auf bereicherungsrechtliche Fragen gesagt, ist deswegen aber (offensichtlich) nicht minder einschlägig. 41

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logisch und ist bezeichnenderweise auf die (in meinen Augen formalistischbegriffsjuristische) Annahme gegründet, es liege in der - als solcher nicht zu leugnenden - Befreiung etwa des Anweisenden gegenüber dem Empfänger ein vom Anweisenden (durch den Angewiesenen) erlangter Wert. Solche Dogmatik, die anscheinend von den beiden unzweifelhaft nebeneinander bestehenden Rechtsfolgen der Schuldbefreiung des Angewiesenen und des Anweisenden auf zwei nebeneinander bestehende Leistungen und Empfänger von Leistungsgegenständen zurückschließt, 43 bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine wundersame Vermehrung der Werte; denn der „Befreiungswert" des Anweisenden, besteht ja, wie gesagt, zusätzlich neben dem vom Anweisungsempfänger erlangten Wert - ein erstaunliches Ergebnis! Paradigmatisch hierfür ist die Äußerung eines prominenten Dogmatikers, bei dem einerseits zu lesen ist, daß der Anweisungsempfänger „die [vom Angewiesenen] empfangene Zahlung als eine Zahlung [des Anweisenden] betrachtet" (was zweifellos Zustimmung verdient 44 ), und bei dem andererseits - im Hinblick auf die Relevanz der vom Angewiesenen an den Empfänger erbrachten Zahlung für das Verhältnis des Angewiesenen zum Anweisenden - ausgeführt wird, durch die Zahlung werde „das Vermögen [des Anweisenden] insoweit vermehrt, als er von seiner Schuld gegenüber [dem Anweisungsempfänger] befreit wird". 45 „Schafft hier das Recht mehr Werte, als tatsächlich vorhanden sind?", ist gelegentlich nicht ohne Grund gefragt worden. 46 Dem Fragenden könnte geholfen werden durch die Berücksichtigung der hier angenommenen wirtschaftlichen Zusammenhänge, in deren Rahmen 43 Vgl. Larenz/Canaris (Fn. 3), S. 39: „Leistet der Angewiesenen an den Anweisungsempfänger, so tritt grundsätzlich sowohl im Deckungs- als auch im Valutaverhältnis Erfüllung ein. Wegen dieser Doppelwirkung spricht man hier von einer Simultanleistung" (Hervorhebung im Original); ferner ebd. S. 202: „Vielmehr stellt die Ubereignung von V [Angewiesener] an D [Anweisungsempfänger] eine Leistung des V an Κ [Anweisender] und zugleich eine solche des Κ an D dar, weil sie zur Erfüllung der beiden Kaufverträge zwischen diesen Personen erfolgt." Kursiv im Original, Klammern nicht. Vgl. noch i. f., insbes. Fn. 49. 44 Vgl. o. (bei) Fn. 16. « Latenz Schuldrecht Bd. II, 12. Aufl. 1981, S. 527f. Vgl. noch Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 461 Fn. 84, ferner u. Fn. 51 und Fn. 56. Die Formulierungen Larenzdie folgerichtig der aktuellen Anweisungsdogmatik entsprechen, finden sich, soweit ich sehe, in dieser Form bei anderen Autoren nicht, worüber man spekulieren darf. 46 E. SchmidtyZ 1971, 601, 603 r. Sp. (im Zusammenhang mit dem berechtigenden Vertrag zugunsten Dritter). Die Werteproduktion im Wege der herrschenden Anweisungsdogmatik ist folgerichtig sogar eine dreifache: Der Empfänger hat den Anweisungsgegenstand erlangt, der Anweisende Befreiung von seiner Verbindlichkeit gegenüber dem Empfänger und der Angewiesene Befreiung von seiner Verbindlichkeit gegenüber dem Anweisenden. Besonders prägnant (im Rahmen des Bereicherungsrechts) Larenz Schuldrecht Bd. II, 9. Aufl. 1968, S. 375f. (§ 62 II b; vgl. auch die einschlägigen Passagen in der 10., 11. und 12. Aufl., jew. § 68 I a. Vgl. im übrigen noch Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 455, 460ff.; ders. WM 1999, 2384f.

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die Erscheinung einer Wertevermehrung - schon an sich befremdlich genug 47 - folgerichtig nicht zu befürchten ist. Wertträger ist allein der Anweisungsgegenstand. Dessen wirtschaftliche Bewegung geht, entsprechend der Lage bei der Ubereignungskette, vom Angewiesenen an den Anweisenden (Befreiung des Angewiesenen) und darauf (deinde) vom Anweisenden an den Empfänger (Befreiung des Anweisenden). Es ist immer ein und derselbe Anweisungsgegenstand, und dieser gelangt nicht simultan, nicht gleichzeitig an den Anweisenden und an den Empfänger, sondern nacheinander über den Anweisenden an den Empfänger, so freilich, daß die Bewegungen der Natur der Anweisung gemäß anders als bei der Ubereignungskette in ein und denselben Zeitpunkt fallen. Von daher zeigt sich, daß man mit den Begriffen „simultan" und „gleichzeitig" eine Vorstellung von Leistungen verbunden hat, die allem Anschein nach nicht sachgerecht konzipiert und zu Ende gedacht ist48 und außerdem ihre eigene bezeichnende Geschichte hat, welche den Gewährsmann für den Begriff „gleichzeitig" vermutlich nicht wenig überrascht hätte.49 Im übrigen wäre noch nachzutragen: 47 Gegen das herkömmliche Verständnis der Schuldbefreiung als Vermögensvermehrung eingehend Kupisch in Festschrift Niederländer, 1991, S. 305, 312ff.; s. auch ders. WM 1999, 2385. Schon der dogmatische C o m m o n sense sollte sich dagegen sträuben, in der Schuldbefreiung als solcher bürgerlichrechtlich einen vom Schuldner erlangten Wert zu sehen, sofern nicht, wie bei einem Erlaß, der Gläubiger eigenes Vermögen zugunsten des Schuldners eingesetzt hat. Die Schuldbefreiung zeigt vernünftigerweise an, daß der Schuldner einen Wert weggegeben und nicht gleichzeitig qua Schuldbefreiung einen äquivalenten Wert (zurück·) erlangt hat. Zur Vermehrung der Werte s. noch i.f. 48 Eine Folge davon ist ferner, wenn es, um bei defektem Deckungsverhältnis eine Leistungskondiktion des Angewiesenen gegen den Empfänger auszuschließen, heißt, die Übereignung vom Angewiesenen an den Anweisungsempfänger sei keine Leistung im bereicherungsrechtlichen Sinn; Larenz/Canaris (Fn. 3), S. 202. Die Ubereignung ist dies aus unserer Sicht schon deshalb nicht, weil sie überhaupt keine wirtschaftliche Zuwendung an den Empfänger ist, so daß von vornherein weder ein Leistungs- noch eine Nichtleistungskondiktion des Angewiesenen gegen den Empfänger in Betracht kommt. Vgl. Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 454 Fn. 62 und S. 469, ferner u. Β IV 2. Sieht man indes in der Übereignung eine wirtschaftliche Zuwendung des Angewiesenen an den Empfänger, so muß man sich (zusätzlich) damit befassen, die Ablehnung der Nichtleistungskondiktion gegen den Empfänger zu begründen (was übrigens bei Larenz/Canans ebd., S. 202f. so intensiv und umfänglich geschieht, daß darüber, wenn ich richtig sehe, die Frage offen bleibt, was denn nun Gegenstand der - jedenfalls schlüssig - befürworteten Leistungskondiktion des Angewiesenen gegen den Anweisenden ist; die Antwort kann man erst ebd., S. 205 indirekt, gewissermaßen einem Obiter dictum bei Gelegenheit der Erörterung des sog. Doppelmangels entnehmen; vgl. noch u. Β IV 1). 49

Für die Simultanleistungen wird gewöhnlich Stampe AcP 107 (1911), 284, 285 in Anspruch genommen. Aber Stampe spricht von Simultantilgung, von „gleichzeitige(r) Tilgung mehrerer gleich großer Schuldposten durch einen Tilgungsakf (Hervorhebung hinzugefügt), der von ihm auch „Leistungsakt" genannt wird. „Gleichzeitige Tilgung" geht offensichtlich auf die Rechtsfolgen der Schuldbefreiung des Angewiesenen wie des Anweisenden, die in der Tat beide gleichzeitig (in dem angegebenen Sinn eines logischen Nacheinander) und nebeneinander bestehen, vgl. o. (bei) Fn. 43. Wenn ich richtig sehe,

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Würde die traditionelle Lehre es sich versagen, in der Schuldbefreiung als solcher einen Wert zu sehen, so stünde sie, wenn eine Kondiktion des Angewiesenen gegen den Anweisenden angezeigt ist, bei der Frage nach deren Inhalt vor einem Vakuum. 50 Das heißt mit anderen Worten: Die Uberzeugung, daß keine Kondiktion nicht sein kann (oder nicht sein darf), wird mit einer schwer erträglichen Zumutung an die Aufgabe, Dogmatik widerspruchsfrei zu halten, bezahlt.51 Überdies führt die Auffassung einer Wertschöpfung durch Schuldbefreiung in ihren Auswirkungen zu unannehmbaren Ergebnissen, die dann - unter Beibehaltung der problematischen Ausgangsannahme - korrigiert werden (und auch korrigiert werden müssen). 52 Die Auffassung einer Wertschöpfung ist zudem bei der Erfüllung eines Schenkungsversprechens im Valutaverhältnis in sich widersprüchlich und geht bei einer Handschenkung von vornherein ins Leere, weil in diesem Fall eine Verbindlichkeit, von welcher der Anweisende befreit werden könnte, nicht besteht. Daß in solchen Fällen die Kondiktion des Angewiesenen gegen den Empfänger ginge (vgl. §§ 816 Abs.l Satz 2, 822 BGB), enthebt den Dogmatiker nicht der Aufgabe anzugeben, was der Anweisende erlangt hat.

ist es erstmals E. Ulmer AcP 126 (1926), 143, der unter Berufung auf Stampe statt von Simultantilgung von „Simultanleistungen" spricht. S. andererseits MünchKommBGB/Hiiffer (Fn. 34) § 787 Rn. 6, § 788 Rn. 5: „Simultanerfüllung"! Vgl. noch Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 453f. 50 Das Phänomen des Vakuums hat eine in die Pandektistik zurückreichende Tradition; s. Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 446 Fn. 42 m.N. 51 Hinzu kommt, daß mit der Vermögensvermehrung durch Schuldbefreiung das, was der Anweisende vom Angewiesenen bekommt, nicht aus dem DeckungsVerhältnis, sondern aus dem Valutaverhältnis bestimmt wird. Zu diesem „abdriften" noch u. Β IV 1, insbes. Fn. 56. 52 Vgl. etwa Canaris in Festschrift Larenz, 1973, S. 809f., 811; ferner u. Β IV 1. Wie verwurzelt überhaupt der Gedanke ist, die Befreiung von der Verbindlichkeit sei ein Vermögenswert, dokumentiert etwa die Erörterung des § 816 Abs. 1 Satz 1 BGB bei Latenz! Canaris (Fn. 3), S. 267 und Fn. 9. Es geht um die Frage, ob der verfügende Nichtberechtigte auch einen Geschäftsgewinn herausgeben muß. Abgelehnt wird die verbreitete Auffassung, der Nichtberechtigte habe mit der Verfügung die Befreiung von seiner Verbindlichkeit erlangt und damit deren Wert, so daß ihm der Geschäftsgewinn, der in der Forderung gegen den Empfänger steckt, verbleibt. Die Ablehnung läuft aber nicht (auch) über eine Kritik am „Befreiungswert" (der ja an anderer Stelle, beispielsweise bei der Anweisung, seinen festen Platz hat), sondern wird unmittelbar mit dem Gegenargument begründet, der Nichtberechtigte habe mit seiner Verfügung eine u.a. von der Einrede des § 320 BGB freie Forderung gegen den Empfänger erlangt, so daß er zu deren Abtretung resp. zur Herausgabe des auf sie Geleisteten verpflichtet ist, womit er also auch den Geschäftsgewinn abführen muß. Zur hochkontroversen Auslegung von § 816 Abs.l Satz 1 BGB vgl. noch Kupisch JZ 1997, 216 f. m.w.N.

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IV. Abschließende Folgerungen Bei aller Kritik bleibt das Beharrungsvermögen einer eingefahrenen Dogmatik anzuerkennen, die, so sie denn an den aufgezeigten Defiziten leidet, im allgemeinen doch mit zutreffenden Ergebnissen gehandhabt wird, selbst wenn nicht gleichzeitig nach einem einsichtigen inneren Begründungszusammenhang gefragt wird. 53 Was soll's, könnte man also salopp ausrufen; Kunstgriffe, mögen sie auch gegen den Satz vom Widerspruch verstoßen, dürfen wohl einmal erlaubt sein, und gedankliche Verwicklungen sind das tägliche Brot des Juristen! So gesehen ist es freilich um so legitimer, darauf aufmerksam zu machen, welchen Stellenwert im Hinblick auf die Ausformulierung einer leistungsfähigen Anweisungsdogmatik die antike Sichtweise haben kann: bei der Anweisung institutionell Besonderheiten der wirtschaftlichen Zusammenhänge anzunehmen, welche zudem für die sog. schuldrechtliche Anweisungslage (Giroverkehr) außer Frage stehen. Insoweit sei unser Räsonnement mit zwei weiteren Bemerkungen abgeschlossen.

1. Die Kondiktion im Deckungsverhältnis Das oben entwickelte Konzept hat unmittelbar praktische Auswirkungen zum Beispiel für die bereicherungsrechtliche Frage, was bei defektem Deckungsverhältnis Gegenstand der Kondiktion des Angewiesenen gegen den Anweisenden ist. Die Antwort darauf ist von unserem Standpunkt aus ebenso einfach wie allseits erwünscht und wurde vom untrüglichen Judiz schon immer gegeben: 54 Gegenstand ist, wie bei der Veräußerungskette, grundsätzlich das, was der Anweisende vom Angewiesenen erlangt hat resp. dessen Wert, weil der Anweisungsgegenstand, wirtschaftlich gesehen, an den Anweisenden gegangen ist und von diesem weiter an den Anweisungsempfänger 55 . Gegenstand ist nicht die Befreiung des Anweisenden von seiner Verbindlichkeit dem Empfänger gegenüber, was anzunehmen aber

53 Anschaulich BGH WM 2002, 2501, 2502 wo statuiert wird (im Ergebnis nicht zu beanstanden, aber eben statuiert): „Soweit die Uberweisung der Darlehensvaluta an einen Dritten einen Darlehensrückzahlungsanspruch begründet, muß dies auch für die Begründung einer Rückzahlungspflicht nach Widerruf [gem. § 312 BGB] ausreichen." Und: „Wird die Darlegensvaluta auf Weisung des Darlehensnehmers an einen Dritten ausgezahlt, so hat der Darlehensnehmer regelmäßig den Darlehensbetrag im Sinne des § 607 BGB [a. F.] empfangen, wenn der von ihm als Empfänger namhaft gemachte Dritte das Geld vom Darlehensgeber erhalten hat." 54 S. etwa v. Caemmerer J Z 1962, 385f. = Ges. Schriften I, 1968, S. 323; vgl. Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 455 Fn. 66. 55 Eingehend Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 466ff.; s. ferner MünchKommBGB/ Lieb (Fn. 28), § 812 Rn. 34ff. und Fn. 94, jew. m.N.

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die Logik der herrschenden Doktrin nahelegt. 56 Diese muß zu punktuellen Wertungen ihre Zuflucht nehmen, um mißliche Konsequenzen ihres theoretischen Ansatzes zu korrigieren und zu einem (inzwischen allseits angestrebten) akzeptablen Ergebnis zu kommen, 5 7 das sich bei spezifischer Einbeziehung wirtschaftlicher Zusammenhänge in die Anweisung unmittelbar ergibt. 58 Wir wollen nicht weiter darauf eingehen, ob das von uns unproblematisch gefolgerte sachgemäße Ergebnis bereits für einen effizienten theoretischen Ansatz spricht. Der zugrundeliegende Gedanke bewährt sich jedenfalls auch im Fall des sog. Doppelmangels, in welchem nicht nur das Deckungs-, sondern auch das Valutaverhältnis defekt ist, wenn man (anders als die Römer) einen Durchgriff des Angewiesenen gegen den Empfänger ausschließt. Gegenstand der Kondiktion des Angewiesenen gegen den Anweisenden ist primär der (wirtschaftlich) erlangte Anweisungsgegenstand resp. dessen Wert, da der Gegenstand selbst ja vom Anweisenden weiter an den Empfänger gegangen ist; Gegenstand ist nicht die Kondiktion des Anweisenden gegen den Empfänger (was wiederum in der Logik der herrschenden Anweisungslehre läge 59 ). Das schließt, wie bei der Ubereignungskette, natürlich nicht aus, dem Anweisenden nach Lage des Falles die Berufung auf § 818 Abs. 3 BGB zu gestatten und ihm damit zu gestatten, den Angewiesenen auf die Abtretung der Kondiktion gegen den Anweisungsempfänger zu verweisen. Im Ergebnis trifft man auch im Rahmen der traditionellen Lehre auf eine so offensichtlich gebotene flexible Regelung, begleitet freilich von einer vehementen doktrininternen Kritik, deren Schlüssigkeit hier dahingestellt bleiben kann, deren Entbehrlichkeit aber aus unserer Sicht auf der Hand liegt. 60

56 Diese Logik, die beispielsweise allen Arbeiten von Canaris folgerichtig zugrunde liegt, besteht darin, daß ein ausschließlich an Rechtsfolgen orientierter Blick auf die Anweisungskonstellation bei defektem Deckungsverhältnis (der Angewiesene ist zum Beispiel nicht Schuldner des Anweisenden) im Verhältnis des Angewiesenen zum Anweisenden nichts entdeckt, woran er eine Kondiktion knüpfen könnte, sondern nur - abdriftend - im Verhältnis des Anweisenden zum Empfänger (Valutaverhältnis) die Befreiung des Anweisenden konstatieren kann - ein Ergebnis, das unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten zutreffend als korrekturbedürftig angesehen wird. Vgl. i.f. u. schon oben III a.E. Zu weiteren Einzelheiten s. Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 463, 465ff. m.N.; vgl. auch den. WM 1999, 2386 1. Sp. 57 Vgl. etwa Canaris in Festschrift Larenz, 1973, S. 809 f. 58 Vgl. Kupisch }Z 1997, 213, 215 1. Sp.; den. in Festschrift Seiler, 1999, S. 465f., jew. m.N. Die Rechtsprechung tut sich dagegen schwer, von einer Kondiktion der Schuldbefreiung oder gar einer Kondiktion der Kondiktion (bei Doppelmangel, vgl. i.f.) Abschied zu nehmen, vgl. BGH WM, 1989, 1364, 1367f. 59 Vgl. nochmals Canaris in Festschrift Larenz, 1973, S. 811 sowie o. Fn. 56. 60 Vgl. Larenz/Canaris (Fn. 3), S. 205f.

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2. Der Begriff der anweisungsspezifischen Deckung In der Konsequenz unserer Überlegungen liegt eine Versuchung, der wir nicht ohne selbstkritische Distanz auch hier - einmal nachgeben wollen: den Begriff der Deckung inhaltlich zu modifizieren. 61 Eine traditionelle Vorstellung von Deckung beruht darauf, daß der Angewiesene dem Empfänger (auch) wirtschaftlich eine Zuwendung macht, 62 die er sich über das Deckungsverhältnis, das heißt über ein Kausalverhältnis zu einem Dritten, dem Anweisenden, von diesem kompensieren läßt (was bei Schenkung an den Anweisenden dogmatisch auf Schwierigkeiten stößt 63 ). Aus unserer Sicht verlaufen die wirtschaftlichen Bewegungen bei der Anweisung parallel zu denjenigen der (zweigliedrigen) Veräußerungskette, in welchem das Kausalverhältnis des ersten Kettengliedes (das selbstverständlich auch Schenkung sein kann) für den Empfänger im zweiten aufgrund des Abstraktionsprinzips und des darin zum Ausdruck kommenden Verkehrsschutzes grundsätzlich unbeachtlich ist. 64 „Gedeckt" ist hier ein Erwerb des Endempfängers folglich dadurch, daß dessen Kontrahent eben das, was er dem Endempfänger zuwenden will, diesem auch zuwenden kann, weil er es von seinem Vormann erworben hat. Entsprechend verhält es sich bei der Anweisung bezüglich des Anweisungsgegenstandes, immer wirtschaftlich gesehen: „Gedeckt" ist der Erwerb des Anweisungsempfängers durch den (logisch) vorausgegangenen, wie auch immer kausal fundierten Erwerb des Anweisenden. Als Grundlage einer so verstandenen Deckung wäre die gültige und zurechenbare Anweisungserklärung des Anweisenden an den Angewiesenen anzusehen: das (intakte) Deckungsverhältnis. Den wirksamen Anweisungsvollzug seitens des Angewiesenen vorausgesetzt, ersetzt die - im übrigen abstrakte - Anweisungserklärung sozusagen den Erwerbs- und Veräußerungsakt der in der Mitte stehenden Partei bei der Ubereignungskette. Auf diese Weise ergäbe sich ein schlüssiges Konzept, welches beispielsweise auch begrifflich-dogmatisch die zutreffende Regelung erkennen läßt, daß bei gültiger und zurechenbarer Anweisungserklärung trotz Mängel im Kausalverhältnis zwischen dem Angewiesenen und dem Anweisenden die Anweisungslage grundsätzlich bestehen bleibt und damit die für das Bereicherungsrecht als maßgebend anzusehende wirtschaftliche Bewegung 65 des Anweisungsgegenstands „übers Eck", so daß nur im Kausalverhältnis zwischen dem Angewiesenen und dem Anweisenden kondiziert und das ValuZum Folgenden ansatzweise schon Kupisch in Festschrift Seiler, 1999, S. 462 Fn. 86. Vgl. o. (bei) Fn. 38; den bargeldlosen Zahlungsverkehr lassen wir einmal beiseite, o. (bei) Fn. 37 « Vgl. ο. Β II. 64 S. nur Kupisch WM1979, Sonderbeilage Nr. 3, S. 7 65 Vgl. o. Fn. 26. 61

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taverhältnis nicht durch einen Durchgriff aufgestört werden kann. 66 Es leuchtet ja nicht ohne weiteres ein, daß ein gültiges Valutaverhältnis trotz Mängel im Kausalverhältnis zwischen dem Angewiesenen und dem Anweisenden (fehlende Deckung im üblichen Sinn) und außerdem bei Annahme einer wirtschaftlichen Zuwendung des Angewiesenen an den Empfänger seine Aufgabe gleichwohl soll erfüllen können. Anders und unmittelbar einsichtig verhält es sich dagegen, wenn die vorstehend vorausgesetzte Eigenart der Anweisung, die wirtschaftliche Bewegungen der Ubereignungskette zu reproduzieren, berücksichtigt wird, wenn, mit anderen Worten, der Empfänger kraft gültiger und zurechenbarer Anweisungserklärung den Anweisungsgegenstand nur rechtsformal vom Angewiesenen erhalten hat, wirtschaftlich aber vom Anweisenden, so daß sein Erwerb gerechtfertigt ist, weil dem Anweisenden gegenüber ein Rechtsgrund besteht, worauf es in diesem Fall wie bei der Ubereignungskette allein ankommen kann. Den zentralen Stellenwert einer gültigen und zurechenbaren Anweisungserklärung, gewissermaßen den Angelpunkt der Anweisungslage, 67 haben übrigens auch jüngste Entscheidungen des BGH, die sich gegen den sog. Empfängerhorizont aussprechen, betont. 68

C. Fazit Statt eines Fazits kehren wir zum Anfang zurück: Schenkung auf Römisch - und ketzerische Fragen an die moderne Anweisungsdogmatik. Wie heißt es doch bei Montesquieu? Ii ne s'agit pas de faire lire, mais de faire penser.

6 6 Vgl. demgegenüber die „dogmatische U m s e t z u n g " dieser Regelung durch Latenz/ Canaris (Fn. 3), S. 201 ff. D a z u schon o. Fn. 48. 6 7 Hierzu eingehend Kupisch Gesetzespositivismus (Fn. 28), S. 73ff.; ders. J Z 1997, 214 r. Sp.; ders. in Festschrift Seiler, 1999, S. 468 u. Fn. 117 jew. m . w . N . (insbes. Canaris). 68 WM 2001, 954; WM 2003, 14. Vgl. demgegenüber etwa die Ausführungen des B G H WM 1989, 1364, 1367 r. Sp. zu dem Fall einer unwirksamen Anweisungserklärung. Gegen den Empfängerhorizont dezidiert schon Kupisch Gesetzespositivismus (Fn. 28), S. 65, 69 ff.

Zur Abrechnung bei Veräußerung von Wohnungseigentum WERNER

MERLE

I. Problem und Meinungsstand Der Verwalter einer Gemeinschaft von Wohnungseigentümern hat nach § 28 WEG jeweils für ein Wirtschaftsjahr einen Wirtschaftsplan und nach Ablauf des Wirtschaftsjahres eine Abrechnung aufzustellen. Uber Wirtschaftsplan und Abrechnung beschließen die Wohnungseigentümer durch Stimmenmehrheit (§ 28 Abs. 5 WEG). Die hierbei anzuwendenden Rechtsgrundsätze sind in den letzten Jahrzehnten in Rechtsprechung und Schrifttum konkretisiert worden und heute weitestgehend anerkannt.1 Hinsichtlich des umstrittenen2 Verhältnisses von Wirtschaftsplan zu Abrechnung hat sich die Auffassung des BGH 3 durchgesetzt, wonach die Beitragspflicht der Wohnungseigentümer eine einheitliche Schuld ist, die sich aus Vorschußpflichten aufgrund des Beschlusses über den Wirtschaftsplan und aus eventuellen Nachschußpflichten aufgrund des Beschlusses über die Jahresabrechnung zusammensetzt. Der Abrechnungsbeschluß, der i.d.R. keine schuldumschaffende, novierende Wirkung hat, hat bezüglich rückständiger Vorschüsse lediglich eine den Beschluß über den Wirtschaftsplan bestätigende oder rechtsverstärkende Wirkung. Er begründet folglich nur in Höhe des Betrages, um den der Abrechnungssaldo die nach dem Wirtschaftsplan geschuldeten Vorschüsse übersteigt, originär eine neue Forderung. Anspruchsgrundlage für nicht erfüllte Vorschußpflichten bleibt daher auch nach dem Abrechnungsbeschluß der Beschluß über den Wirtschaftsplan. Ist allerdings der nach dem Beschluß über die Abrechnung von einem Wohnungseigentümer geschuldete Betrag niedriger als die Vorschüsse, die aufgrund des beschlossenen Wirtschaftsplans von ihm gezahlt worden sind, so steht dem Wohnungseigentümer ein Anspruch auf Auszahlung des Guthabens gegen die Wohnungseigentümer zu. Hat ein Wohnungseigentümer Vgl. etwa Drasdo NZM 2003, 297 ff. Zum Meinungsstand siehe Merle in Bärmann/Pick/Merle, WEG, 9. Aufl. 2003, § 28 Rn. 45. 3 BGH NJW 1996, 725 (726). 1

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bei einer solchen Fallgestaltung seine Vorschußpflichten noch nicht erfüllt, steht ihm nach ganz h.M. eine rechtsvernichtende Einwendung zu: Der Anspruch auf die im Wirtschaftsplan beschlossenen Vorschüsse wird durch das Ergebnis der beschlossenen Abrechnung begrenzt; 4 dies bedeutet, daß der Anspruch der Wohnungseigentümer aus dem Wirtschaftsplan auf Zahlung rückständiger Vorschüsse insoweit erlischt. Schwierigkeiten bei der Einzelabrechnung ergeben sich aber nach wie vor, wenn während des Wirtschaftsjahres ein Eigentumswechsel stattgefunden hat. Hier ist insbesondere die Frage, wer den Fehlbetrag schuldet, wenn die auf ein Wohnungseigentum entfallenden Kosten geringer sind, als die nach dem Wirtschaftplan insgesamt geschuldeten Beitragsvorschüsse, für den Fall heftig umstritten, daß Veräußerer und/oder Erwerber ihre Vorschußpflichten aus dem Beschluß über den Wirtschaftsplan nicht oder nicht voll erfüllt haben. 5 Die Problematik soll an folgender von Demharter in die Diskussion eingeführten Fallgestaltung aufgezeigt werden: Die auf ein Wohnungseigentum entfallenden Gesamtkosten betragen im mit dem Kalenderjahr identischen Wirtschaftsjahr 3000 € , die nach dem Wirtschaftsplan geschuldeten Vorschüsse monatlich 300 € , insgesamt also 3600 € für das Wirtschaftsjahr. Am 30.9. hat ein Eigentumswechsel stattgefunden. Der Veräußerer hat statt der von ihm nach dem Wirtschaftsplan für neun Monate geschuldeten Vorauszahlungen von 2700 € nur 2000 € und der Erwerber statt 900 € nur 300 € bezahlt, zusammen also 2300 € . Bei objektbezogener Abrechnung ergibt sich ein Fehlbetrag von 700 € für die Eigentumswohnung. Die Frage, von wem die Wohnungseigentümer Zahlung des objektbezogenen Fehlbetrages verlangen können, wird völlig kontrovers diskutiert. Vielfach wird vertreten, 6 daß dieser Betrag anteilig sowohl von dem Erwerber als auch vom Veräußerer zu tragen ist, weil sie ihre nach dem Wirtschaftsplan geschuldeten Vorauszahlungen nicht vollständig erbracht hätten: Von den Gesamtkosten von 3000 € seien dem Veräußerer drei Viertel ( = 2250 € ) zuzurechnen, weil er neun Monate Eigentümer war, und dem Erwerber ein Viertel ( = 750 € ) . Abzüglich der geleisteten Vorschüsse ergebe sich für den Erwerber ein Nachzahlungsbetrag von 450 € ( = 750 € ./. 300 € ) und für der Veräußerer errechne sich ein Betrag von 250 € ( = 2250 € ./. 2000 € ) . Demgegenüber hält Slomian allein den Veräußerer zur Zahlung des 4 H . M . : BayObLG ZMR 2000,111; OLG Zweibrücken ZWE 2002, 542 (544); Demharter FGPrax 1996, 50; Wenzel WE 1997, 124 (128); Merle in Bärmann/Pick/Merle WEG, § 28 Rn. 46 f. 5 Vgl. Demharter ZWE 2001, 60; den. ZWE 2002, 294; ders. GE 2003, 575; Slomian ZWE 2002, 206; Syring ZWE 2002, 565; Niedenführ/Schulz WEG, 6. Aufl. 2002, § 28 Rn. 70ff.; Weitnauerl Hauger WEG, 8. Aufl. 1995, § 28 Rn. 7. 6 Demharter ZWE 2001, 60; ZWE 2002, 294; ders. GE 2003, 575; Niedenführ/Schulz WEG, § 28 Rn. 73; Wercze/WE 199^ 124 (128); HaugerViG 44, 173 (183f.).

Zur Abrechnung bei Veräußerung von Wohnungseigentum

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gesamten Fehlbetrags von 700 € für verpflichtet, während Syring für eine Art gesamtschuldnerische Haftung bis zur Höhe der jeweils rückständigen Vorschüsse von Veräußerer ( = 700 € ) und Erwerber (= 600 € ) plädiert. Drasdo schließlich meint,7 der Gemeinschaft blieben die Ansprüche aus dem Wirtschaftsplan gegen Veräußerer und Erwerber erhalten, letzterer könne jedoch aufrechnen. Die umstrittene Frage der Abrechnung im dargestellten Beispiel kann nur vor dem Hintergrund der in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten, allgemein anerkannten Abrechnungsgrundsätze bei Eigentumswechsel während eines Wirtschaftjahres beantwortet werden.

II. Abrechnung bei Erfüllung der Vorschußpflichten 1. Abrechnung bei Fehlbetrag (negative Abrechnungsspit2e) Ergibt sich aufgrund einer Einzelabrechnung für ein Wohnungseigentum, daß die gemäß Einzelwirtschaftsplan zu leistenden und von Veräußerer und Erwerber auch geleisteten Vorschüsse zur Deckung der auf dieses Wohnungseigentum entfallenden Kosten nicht ausreichen, ist bei einem Eigentumswechsel während des Wirtschaftsjahres allein der Erwerber aufgrund des Abrechnungsbeschlusses verpflichtet, diesen Fehlbetrag (sog. negative Abrechnungsspitze) zu zahlen.8 Denn der Beschluß über die Einzelabrechnung kann Verbindlichkeiten nur für die zur Beschlußfassung berufenen Wohnungseigentümer, nicht aber für deren Rechtsvorgänger begründen, also den aus der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer ausgeschiedenen Veräußerer nicht verpflichten.9 Betragen im obigen Beispiel von Demharter die auf das Wohnungseigentum entfallenden Gesamtkosten 4000 € und haben sowohl Veräußerer als auch Erwerber die nach dem Wirtschaftsplan geschuldeten Vorschüsse von insgesamt 3600 € bezahlt, so muß der Erwerber die Abrechnungsspitze von 400 € aufgrund des Beschlusses über die Abrechnung allein tragen. 2. Abrechnung bei Guthaben (positive Abrechnungsspitze) Übersteigen die aufgrund eines Einzelwirtschaftsplans zu leistenden und von Veräußerer und Erwerber auch geleisteten Vorschüsse die auf das Wohnungseigentum entfallenden Kosten, so steht das Abrechnungsguthaben Drasdo NZM 2003, 297 (301). BGH NJW 1996, 725. 9 Vgl. BGH NJW 1996, 725 (726); BGH ZWE 2000, 29 = NJW 1999, 3713 (3715); Merle in Merle/Bärmann/Pick WEG, § 28 Rn. 112, 143. 7 8

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(sog. positive Abrechnungsspitze) nach allgemein anerkannter und zutreffender Ansicht 10 allein dem Erwerber zu, so wie er auch einen Fehlbetrag allein und in voller Höhe zu tragen hätte. Denn der aus der Gemeinschaft ausgeschiedene Veräußerer ist an dem Beschluß über die Jahresabrechnung nicht beteiligt, so daß dieser keine Rechtswirkungen für ihn erzeugt. Eine eventuelle Ausgleichspflicht zwischen Veräußerer und Erwerber kann sich allenfalls aus deren Verhältnis zueinander (i.d.R.: Kaufvertrag) ergeben. Haben in dem von Demharter gebildeten Fall11 Veräußerer und Erwerber ihre nach dem Wirtschaftsplan insgesamt geschuldeten Vorschüsse von 3600 € ordnungsgemäß bezahlt, so ergibt sich bei Gesamtkosten von 3000 € aufgrund der Jahresabrechnung ein Guthaben von 600 € . Diese Differenz zwischen den geleisteten Vorschüssen und den Gesamtkosten steht allein dem Erwerber zu.

III. Abrechnung bei unvollständiger Erfüllung der Vorschußpflicht Die für den Fall ordnungsgemäßer Erfüllung der Vorschußpflichten aus dem Wirtschaftsplan bei einem Eigentumswechsel geltende Rechtslage ist auch bei unvollständiger Erfüllung der Vorschußpflichten von Veräußerer oder/und Erwerber konsequenterweise zugrunde zu legen, sollen Wertungswidersprüche vermieden werden. 1. Gesamtkosten höher als Vorschußfordemngen Sind die auf ein Wohnungseigentum entfallenden Gesamtkosten höher als die nach dem Wirtschaftsplan insgesamt geschuldeten, aber noch nicht bezahlten Vorschüsse, so bleibt der Beschluß über den Wirtschaftsplan trotz Abrechnung Rechtsgrundlage für Ansprüche der Wohnungseigentümer bezüglich der rückständigen Vorschüsse eines Wohnungseigentümers; dieser wirkt gemäß § 10 Abs. 3 WEG auch gegen den Erwerber. Nicht geleistete Vorschüsse aus dem Einzelwirtschaftsplan hat daher im Falle des Eigentumswechsels der jeweils Säumige zu zahlen, und zwar der Veräußerer in Höhe der bis zum Eigentumsübergang fälligen Beträge 12 und der Erwerber die ab diesem Zeitpunkt fälligen Beträge. 13 Haben in dem unter II.l. genannten Beispiel der Veräußerer nur 2000 € der von ihm geschuldeten 2700 € , und der Erwerber statt 900 € nur 300 € Demharter ZWE, 2002, 294; Drasdo ZMR 2003, 297 (300); Hauger PiG 44, 173 (183). Oben unter I. 12 BGH NJW 1996, 725; Wenzel WE 1997 124 (126f.); Drasdo NZM 2003, 297 (300). 13 BGH ZWE 2000, 29; NJW 1988, 1910; Wenzel WE 1997, 124 (127); Drasdo NZM, 297 (300). 10 11

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der geschuldeten Vorschüsse bezahlt, so ergibt sich bei Gesamtkosten von 4000 € ein Fehlbetrag von 1700 € (= 4000 € ./. bezahlte Vorschüsse von 2300 €). Der Fehlbetrag von 1700 € ist aufgrund des Wirtschaftsplans vom Veräußerer in Höhe seines nicht geleisteten Vorschusses von 700 € (= 2700 € geschuldeter Vorschuß ./. 2000 € gezahlter Vorschuß) und vom Erwerber in Höhe von 600 € (= 900 € geschuldeter Vorschuß./. 300 € gezahlter Vorschuß) sowie aufgrund der Jahresabrechnung vom Erwerber in Höhe von weiteren 400 € (negative Abrechnungsspitze) zu tragen.14 2. Gesamtkosten niedriger als

Vorschußforderungen

Sind die auf ein Wohnungseigentum entfallenden Gesamtkosten aber niedriger als die nach dem Wirtschaftsplan von Veräußerer und Erwerber insgesamt geschuldeten aber noch nicht bezahlten Vorschüsse, dann sollen nicht erfüllte Vorschußpflichten aus dem Beschluß über den Wirtschaftsplan durch den Beschluß über die Jahresabrechnung der Höhe nach begrenzt werden. Soweit diese Rechtsfolge für nicht erfüllte Pflichten des Erwerbers angenommen wird,15 ist dem zuzustimmen und entspricht der allgemein gebilligten Rechtslage16, wonach nicht erfüllte Vorschußpflichten eines Wohnungseigentümers aus dem Beschluß über den Wirtschaftsplan (§ 10 Abs. 3 WEG) durch das Ergebnis der Jahresabrechnung der Höhe nach begrenzt werden. a) Das Problem Durch den Abrechnungsbeschluß sollen aber auch nicht erfüllte Pflichten des Veräußerers17 begrenzt werden, obwohl dieser zum Zeitpunkt des Abrechnungsbeschlusses kein Wohnungseigentümer mehr ist. Quelle dieser Rechtsansicht ist - soweit ersichtlich - eine Entscheidung des Bayrischen Obersten Landesgerichts18, in der dies damit begründet wird, die überholende Wirkung der Jahresabrechnung könne nicht zum Nachteil des ausgeschiedenen Wohnungseigentümers eintreten, weil andernfalls ein unzulässiger Gesamtakt zu Lasten Dritter vorläge. Diese Argumentation ist nicht nach14 Ebenso: Niedenführ/Schulz WEG, § 28 Rn. 71 f.; Drasdo NZM 2003, 297 (300); OLG Zweibrücken ZMR 1996, 340. 15 BayObLGReport 2001, 18 = NJW-RR 2001, 659; Demharter FGPrax 1996, 50. 16 Vgl. oben zu Fn. 4. 17 BayObLG WE 1990, 220; NJW-RR 2001, 659 (660); Demharter I'GPrax 1996, 50; den. ZWE 2001, 60 (62); 2002, 294 (295); ders. GE 2003, 575; Bub Finanz- und Rechnungswesen, V, Rn. 176; Staudinger/Bub WEG, § 28 Rn. 253; Wenzeln 1997, 124 (126f.); Niedenführ/Schulz § 28 Rn. 73; Palandt/Bassenge, BGB, 62. Aufl. 2003, § 28 WEG Rn. 6; Hauger PiG 44, 173 (183); Syring ZWE 2002 (565 (566); a.A. Merle in Bärmann/Merle/Pick WEG, § 28 Rn. 89; Merle/Merle GE 2003, 307 (308); Drasdo NzM 2003, 297 (300). •8 BayObLG 1990, 220.

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vollziehbar, weil es letztlich darum geht, ob der Abrechnungsbeschluß zu Gunsten des Veräußerers wirkt. Soweit im Übrigen überhaupt die Begrenzung nicht erfüllter Vorschußforderungen eines Veräußerers durch den Abrechnungsbeschluß begründet wird,19 beruft man sich auf unzulässige Rechtsausübung,20 Rechtsmißbrauch, 21 den Zweck der Vorauszahlungen22 und fehlendes Interesse der Wohnungseigentümer23. Ob das Ergebnis der Jahresabrechnung im Falle eines Eigentumswechsels die Verpflichtung des Veräußerers begrenzt, Vorschüsse auf Grund des Wirtschaftsplans zu leisten, d. h. ob der Beschluß über die Abrechnung zum Erlöschen nicht erfüllter Vorschußforderungen aus dem Beschluß über den Wirtschaftsplan gegen den Veräußerer führt, wenn die Gesamtkosten niedriger sind, als die nach dem Wirtschaftsplan von Veräußerer und Erwerber insgesamt geschuldeten und noch nicht bezahlten Vorschüsse, hängt davon ab, ob der Beschluß über die Abrechnung Rechtswirkungen für den Veräußerer auslöst. Ein eventuelles Erlöschen der Vorschußforderungen der Wohnungseigentümer gegen den Veräußerer durch den Abrechnungsbeschluß kann nur auf Rechtsgeschäft oder auf Gesetz beruhen. b) Erlöschen der Vorschußforderungen kraft Rechtsgeschäfts Rechtsgeschäftlich könnte der Anspruch der Wohnungseigentümer gegen den Veräußerer auf Zahlung rückständiger Vorschüsse aufgrund des Wirtschaftsplan nur erlöschen, wenn in dem Beschluß über die Jahresabrechnung zugleich ein Erlaß gemäß § 397 BGB zugunsten des Veräußerers liegen würde; denn der Veräußerer ist nicht mehr Wohnungseigentümer und deshalb am Abrechnungsbeschluß nicht beteiligt. Mehrfach hat der BGH 2 4 zutreffend entschieden, daß ein Abrechnungsbeschluß nicht gegen Rechtsvorgänger wirkt: Verbindlichkeiten vermag er nämlich nur für die zur Beschlußfassung berufenen Wohnungseigentümer, nicht aber für deren Rechtsvorgänger zu begründen, weil dies ein unzulässiger Gesamtakt zu Lasten Dritte wäre. Er entfaltet aber auch keine Wirkung/«reinen Rechtsvorgänger, wie der BGH 2 5 für die privative Schuldübernahme entschieden hat, die mangels einer Rechtsgrundlage nur durch individuelles Rechtsgeschäft, nicht dagegen durch organschaftlichen Gesamtakt begründet werden könne. i» Ohne Begründung: BayObLG NJW-RR 2001, 659 (660); Palandt/Bassenge BGB, § 28 WEG Rn. 6; Niedenführ/Schulze WEG, § 28 Rn. 73; Bub, Finanz- und Rechnungswesen, V, Rn. 176; Hauger PiG 44, 173 (183); Syring ZWE 2002, 565 (566). 20 Staudinger/Bub WEG, § 28 Rn. 253. 21 Wenzel WE 1997, 124 (127). 22 Demharter GE 2003, 575. 23 Demharter Gl· 2003, 575 f. 2 4 BGHZ 104, 197 (203); BGH NJW 1994, 2950 (2953); 1996, 725 (726). 2 5 BGH ZWE 2000, 29 (32).

Zur Abrechnung bei Veräußerung von Wohnungseigentum

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Entsprechendes gilt für den Erlaß der Vorschußschuld eines Veräußerers. Abgesehen davon, daß ein solcher Erlaß als Verfügung zugunsten eines Dritten von der h.M. 26 als unzulässig angesehen wird, würde ein solcher Gesamtakt zugunsten eines Dritten entsprechend § 328 BGB auch den Willen der Wohnungseigentümer voraussetzen, dem Veräußerer durch den Abrechnungsbeschluß seine noch offene Schuld aus dem Wirtschaftsplan zu erlassen. Ein solcher Wille der Wohnungseigentümer wird i.d.R. durch den die Abrechnung billigenden Beschluß nicht erklärt. 27 Zudem widerspräche es dem Interesse der Wohnungseigentümer, auf Ansprüche gegen einen Schuldner zu verzichten, so lange die Gesamtkosten nicht gedeckt sind und insbesondere auch - abgesehen von etwaigen für die Vorschußforderungen bestehenden Sicherungs- und Vorzugsrechten - ihrem Interesse an dem Erhalt der wegen Verzugs des Veräußerers entstandenen Zins- und Schadensersatzansprüche. Rechtsgeschäftlich kann daher das Erlöschen der Vorschußschuld des Veräußerers für den Fall, daß und soweit die Gesamtkosten niedriger sind als die nach dem Wirtschaftsplan geschuldeten Vorschüsse, nicht begründet werden. c) Erlöschen der Vorschußforderungen kraft Gesetzes aa) Unmöglichkeit 28

Demharter nimmt ohne Bezug auf eine Rechtsgrundlage an, der Vorauszahlungsanspruch erlösche, wenn die Abrechnung ergäbe, daß die tatsächlich geleisteten Vorauszahlungen die anteiligen Kosten decken, weil dann der ausschließliche Zweck der Vorauszahlungen erreicht sei, nämlich sicherzustellen, daß die Kosten des gemeinschaftlichen Eigentums gedeckt seien. Unter den rechtlichen Gesichtspunkten der Zweckerreichung und des Zweckfortfalls könnte Unmöglichkeit der Leistung anzunehmen sein, was nach § 275 Abs. 1 BGB zum Ausschluß des Anspruchs der Wohnungseigentümer auf die rückständigen Vorschüsse führen würde. Ein Fall der Zweckerreichung29 liegt indessen nicht vor, weil der Leistungserfolg - vollständige Zahlung der Vorschüsse - nicht auf andere Weise als gerade durch Handlung des schuldenden Veräußerers eingetreten ist. Aber auch Zweckfortfalli0 kann nicht angenommen werden, weil der Eintritt des Leistungserfolges 26

Vgl. BGHZ 126, 261 (266); a.A. MünchKommBGB/Gottwald, 4. Aufl. 2002, § 328 Rn. 184. 27 So auch Drasdo NZM 2003, 297 (300). 28 Demharter Gl· 2003, 575. 29 Vgl. MünchKommBGB/Emmerich, 4. Aufl. 2003, Vor § 275 Rn. 38; Palandt/Heinrichs BGB, § 275 Rn. 18; Staudinger/Löwisch BGB, 2001, § 275 Rn. 12f. 30 Vgl. MünchKommBGB/Emmerich, Vor § 275 Rn. 37f.

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nicht verhindert wird, denn der Veräußerer könnte nach wie vor den geschuldeten Vorschuß leisten. Vielmehr kommt ein Fall der Zweckstörungn in Betracht, denn die Leistung des Vorschusses ist an sich durchaus noch möglich, hat aber infolge einer nachträglichen Veränderung der Umstände (Abrechnung) für den Gläubiger (die Wohnungseigentümer) ihren Sinn verloren, weil er mit dem Vorschuß seine ursprünglichen Zwecke (Deckung der anteiligen Gesamtkosten) nicht mehr verwirklichen kann. Es handelt sich indessen nicht um einen Fall der Unmöglichkeit mit der Rechtsfolge des § 275 Abs. 1 BGB, sondern es stellt sich allenfalls die Frage, ob ausnahmsweise die Geschäftsgrundlage weggefallen ist. bb) Störung der Geschäftsgrundlage Eine Verminderung der Vorschußschuld des Veräußerers entsprechend § 313 BGB würde als Geschäftsgrundlage des Beschlusses über den Wirtschaftsplan voraussetzen, daß die künftige Abrechnung nicht zu einem Guthaben führt. Davon kann aber keinesfalls ausgegangen werden, da der Beschluß über den Wirtschaftsplan und damit über die Höhe der zu zahlenden Vorschüsse auf einer Prognoseentscheidung basiert. Anders als in der Konstellation des § 313 BGB ist für die Wohnungseigentümer beim Beschluß über den Wirtschaftsplan durchaus vorhersehbar, daß die Höhe der insgesamt zu zahlenden Vorschüsse von der Höhe der Gesamtkosten der künftigen Abrechnung nach oben oder nach unten abweichen kann und regelmäßig auch abweicht. Das Problem, daß die Abrechnung ein Guthaben ausweist, ist mithin dem durch das WEG vorgegebenen Finanz- und Abrechnungssystem immanent und kann nicht unter Rückgriff auf die Grundsätze über die Störung der Geschäftsgrundlage gelöst werden. cc) Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung Um die Begrenzung des Vorschußanspruchs der Wohnungseigentümer aus dem Wirtschaftsplan gegen den Veräußerer zu begründen, wenn die Kosten nach Abrechnung niedriger sind als die nach dem Wirtschaftsplan geschuldeten Vorschüsse, wird die Geltendmachung des nicht oder unvollständig erfüllten Anspruchs als Rechtsmißbrauch32 oder als unzulässige Rechtsausübung33 eingeordnet. Aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ergibt sich im Falle eines Rechtsmißbrauchs die Rechtsfolge, daß ein an sich bestehendes Recht nicht ausgeübt werden kann, ohne daß dies einredeweise geltend gemacht werMünchKommBGB/Emmerich, Vor § 275 Rn. 38; Palandt/Heinrichs BGB, § 275 Rn. 19; Staudinger/Löwisch BGB, § 275 Rn. 20. 32 So Wenzel WE 1997, 124 (127). 33 So Staudinger/Bub WEG, § 28 Rn. 253. 31

Zur Abrechnung bei Veräußerung von Wohnungseigentum

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den müßte. 34 Als einschlägige Fallgruppe rechtsmißbräuchlicher Verwirklichung eines individuellen Rechts kommt allein das Fehlen eines schutzwürdigen Eigeninteresses35 in Betracht, weil die Wohnungseigentümer nach Abrechnung den vom Veräußerer geschuldeten Vorschuß zur Kostendeckung nicht mehr benötigen. (1) Die Geltendmachung des rückständigen Vorschuß ist nicht etwa deshalb unzulässig, weil der noch zu zahlende Vorschuß wegen des Ergebnisses der Abrechnung sofort wieder zurückgewährt werden müßte (dolo facit qui petit quod redditurus est). Denn ein Guthaben, das auf einem Vorschuß beruht, der die tatsächlichen Kosten übersteigt, steht nach den oben 36 dargelegten Wertungen, die dem Finanz- und Rechnungswesen der Wohnungseigentümer zugrunde liegen, allein dem Erwerber zu, unabhängig davon, inwieweit die Vorschüsse von Veräußerer und Erwerber bezahlt worden sind. Jedenfalls kann ein Rückzahlungsanspruch des Veräußerers nicht mit § 242 BGB begründet werden, sondern dessen Anwendung würde einen Rückzahlungsanspruch voraussetzen. (2) Würden mit der Geltendmachung eines rückständigen Vorschusses nur sachfremde Ziele verfolgt, wäre sie unzulässig.37 Solche sind indessen nicht ersichtlich. Die Wohnungseigentümer würden zwar die rückständigen Vorschüsse des Veräußerers zur Kostendeckung nicht mehr benötigen. Da sich das aus der Einziehung der Vorschußforderung gegen den Veräußerer ergebende Guthaben wirtschaftlich aber dem zur Gemeinschaft gehörenden Erwerber zusteht, verfolgen die Wohnungseigentümer jedenfalls keine sachfremden Ziele, wenn sie eine der Gesamtheit der Wohnungseigentümer zustehende Forderung im Interesse eines Mitgemeinschafters geltend machen. Daß dies ordnungsmäßiger Verwaltung widerspricht, wie Dembarter}s annimmt, vermag angesichts der zwischen den Wohnungseigentümern bestehenden gesteigerten Treuebindungen39 nicht zu überzeugen. Hieraus läßt sich nämlich die von Demharter vermißte Pflicht der Wohnungseigentümer gegenüber dem Erwerber herleiten, die noch ausstehenden Vorauszahlungen des Veräußerers einzuziehen, zumal dann, wenn sie dies bei deren Fälligkeit versäumt haben. Jedenfalls ist es nicht rechtsmißbräuchlich, wenn die Wohnungseigentümer die nicht erfüllte Vorschußforderung gegen den Veräußerer geltend machen.

34

Vgl. MünchKommBGB/Λοώ, § 242 Rn. 62, 338; Palandt/Heinrichs Rn. 38 ff. 35 Vgl. BGHZ 107, 296 (310f.); MünchKommBGB/Λοώ, § 242 Rn. 383. 36 Vgl. unter II.2. 37 Vgl. Jauermg/Vollkommer BGB, § 242 Rn. 38. 3 * GE 2003, 575 (576). 39 Siehe dazu Armbrüster in Festschrift Merle, 2000, S. 1 ff.

BGB, § 242

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(3) Eine einschlägige, unter § 242 BGB fallende Fallgruppe des Rechtsmißbrauchs ist nicht erkennbar. Im Übrigen darf insoweit auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß sich der die fälligen Vorschüsse nicht bezahlende Veräußerer pflichtwidrig verhalten hat. Sein rechtswidriges Unterlassen der vollständigen Erfüllung seiner Vorschußpflichten würde ihm einen unverdienten Vorteil einbringen, wenn es auch noch mit der Unzulässigkeit der Einziehung des rückständigen Vorschusses belohnt würde.40 Demharter41 meint, dies würde erst recht für den Erwerber gelten: Auch dieser habe seine Vorauszahlungen nicht vollständig geleistet und damit die Zahlungsfähigkeit der Gemeinschaft gefährdet; dafür würde er belohnt, weil den Schuldsaldo allein der Veräußerer ausgleichen müßte. Daß der Veräußerer allein in dem von Demharter gebildeten Fall den Schuldsaldo ausgleichen muß, ist keine Belohnung des Erwerbers, sondern konsequente Anwendung der für den Fall der Veräußerung von Wohnungseigentum geltenden Abrechnungsgrundsätze. Richtig ist auch, daß sich im Falle der Insolvenz des Veräußerers die Wohnungseigentümer nicht an den Erwerber halten können. Auch diese Folge ist nur konsequent, weil der Erwerber nicht für rückständige Vorschußschulden des Veräußerers haftet.42 d) Ergebnis Es ist daher festzuhalten, daß ein Beschluß über die Abrechnung keine Rechtswirkungen für den Veräußerer entfaltet, der am Abrechnungsbeschluß nicht beteiligt war. Nicht erfüllte Vorschußpflichten eines solchen Veräußerers werden durch den Beschluß über die Jahresabrechnung auch dann nicht begrenzt, wenn die Gesamtkosten niedriger sind als die nach dem Wirtschaftsplan geschuldeten, aber noch nicht erfüllten Vorschußforderungen. Weder führt dies zum Erlöschen der Vorschußforderungen gegen den Veräußerer, noch kann sich dieser auf unzulässige Rechtsausübung berufen.

IV. Folgerungen Die Frage, von wem Wohnungseigentümer bei Veräußerung von Wohnungseigentum einen objektbezogenen Fehlbetrag verlangen können, wenn die auf dieses Wohnungseigentum entfallenden Kosten niedriger sind als die nach dem Wirtschaftsplan insgesamt zu zahlenden Vorschüsse und wenn Veräußerer oder/und Erwerber die geschuldeten Vorschüsse nicht So schon Merle/Merle GE 2003, 307 (308). « GE 2003, 575 (576). 42 BGHZ 142, 290; Merle in Bärmann/Pick/Merle WEG, § 28 Rn. 88. 40

Zur Abrechnung bei Veräußerung von Wohnungseigentum

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oder nicht in voller Höhe bezahlt haben, läßt sich vor diesem Hintergrund widerspruchsfrei zur Rechtslage bei vollständiger Erfüllung der Vorschußpflichten von Veräußerer und Erwerber beantworten. 1. Unvollständige Erfüllung der Vorschußpflicht des Erwerbers Hat nur der Erwerber seine Vorschußpflicht aus dem Wirtschaftsplan nicht vollständig erfüllt, übersteigen aber die gezahlten Vorschüsse die auf das Wohnungseigentum entfallenden Gesamtkosten, so steht das Guthaben dem Erwerber zu. Der nicht erfüllte Teil der Vorschußschuld des Erwerbers wird durch das Ergebnis der Jahresabrechnung begrenzt. 43 Wenn in dem von Dembarter gebildeten Fall (unter I.) der Veräußerer die geschuldeten Vorschüsse von 2700 € bezahlt hat, der Erwerber aber nur 600 € der von ihm geschuldeten 900 € , so ergibt sich bei Gesamtkosten von 3000 € ein Guthaben von 300 € , das dem Erwerber zusteht. Da die nicht erfüllte Vorschußschuld des Erwerbers in Höhe von 300 € ( = 900 € geschuldeter Vorschuß ./. 600 € bezahlter Vorschuß) durch die Jahresabrechnung begrenzt wird, d. h. erlischt, braucht der Erwerber nichts mehr zu zahlen. Sind die gezahlten Vorschüsse niedriger als die auf das Wohnungseigentum entfallenden Gesamtkosten, schuldet der Erwerber aufgrund des Beschlusses über den Wirtschaftsplan, weiterhin die rückständigen Vorschüsse, allerdings nur bis zur Höhe der objektbezogenen Abrechnungsschuld; denn seine Zahlungspflicht aus dem Wirtschaftsplan wird durch das Ergebnis der Jahresabrechnung begrenzt. Betragen im eben behandelten Beispiel die Gesamtkosten 3500 € , braucht der Erwerber, der aufgrund des Wirtschaftsplans noch 300 € rückständiger Vorschüsse schuldete, nach dem Beschluß über die Jahresabrechnung nur noch 200 € zu bezahlen. Das wirtschaftliche Ergebnis für Veräußerer und Erwerber ist in beiden Fällen identisch mit dem bei vollständiger Erfüllung der Vorschußpflicht durch den Erwerber. Der Veräußerer hat seine Vorschüsse in voller Höhe bezahlt, dem Erwerber steht die Differenz zwischen den auf das Wohnungseigentum entfallenden Gesamtkosten und den nach dem Wirtschaftsplan insgesamt geschuldeten Vorschüssen zu: Entweder steht dem Erwerber ein Guthaben zu oder aber er braucht nicht geleistete Vorschüsse nicht mehr oder nur noch teilweise zu bezahlen. 2. Unvollständige Erfüllung der Vorschußpflicht des Veräußerers Hat nur der Veräußerer seine Vorschußpflicht aus dem Wirtschaftsplan nicht vollständig erfüllt, übersteigen aber die gezahlten Vorschüsse die auf das Wohnungseigentum entfallenden Gesamtkosten, so steht das Guthaben dem 43

Drasdo (NZM 2003, 297, 301) nimmt eine Aufrechnungslage an.

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Erwerber zu. Der nicht erfüllte Teil der Vorschußschuld des Veräußerers wird durch das Ergebnis der Jahresabrechnung n i c h t begrenzt, d.h. erlischt nicht. Wenn in dem von D e m h a r t e r gebildeten Fall44 der Erwerber die von ihm geschuldeten Vorschüsse von 900 € bezahlt hat, der Veräußerer aber nur 2000 € der geschuldeten Vorschüsse von 2700 € , so ergibt sich aufgrund der Jahresabrechnung bei Gesamtkosten von 2500 € ein Guthaben von 400 € . Dieses steht dem Erwerber zu. Der Veräußerer muß dennoch seine restliche, nicht erloschene Vorschußschuld von 700 € erfüllen; das daraus resultierende Guthaben von 700 € steht nach den dem Finanz- und Rechnungswesen zugrunde liegenden Wertungen ebenfalls dem Erwerber zu. Sind die gezahlten Vorschüsse niedriger als die auf das Wohnungseigentum entfallenden Gesamtkosten, schuldet der Veräußerer aufgrund des Wirtschaftsplan die rückständigen Vorschüsse in voller Höhe, da seine Zahlungspflicht aus dem Wirtschaftsplan durch das Ergebnis der Jahresabrechnung nicht begrenzt wird; das daraus resultierende Guthaben steht dem Erwerber zu. Betragen in dem eben gebildeten Beispiel die Gesamtkosten 3000 € , so ergibt sich aufgrund der Jahresabrechnung ein Fehlbetrag von 100 € . Der Veräußerer schuldet aus dem Wirtschaftsplan noch 700 € , die er in voller Höhe zu bezahlen hat, da seine Schuld durch den Beschluß über die Jahresabrechnung nicht verändert wird. Das sich daraus ergebende Guthaben von 600 € steht dem Erwerber zu. Wiederum ist das wirtschaftliche Ergebnis für Veräußerer und Erwerber identisch mit dem bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Vorschußpflichten durch den Veräußerer. Der Veräußerer muß seine Vorschüsse in voller Höhe bezahlen, dem Erwerber steht das Guthaben aus der Differenz zwischen den auf sein Wohnungseigentum entfallenden Gesamtkosten und den nach dem Wirtschaftsplan insgesamt geschuldeten Vorschüssen zu. D e m h a r t e r 4 5 hat die Frage aufgeworfen, worauf sich ein Auszahlungsanspruch des Erwerbers gegen die Wohnungseigentümer in Höhe der ihm hiernach zustehenden Guthaben gründet. Haben die Wohnungseigentümer die noch ausstehenden Vorschüsse des Veräußerers eingezogen, läßt sich der Anspruch des Erwerbers auf Auszahlung des ihm zustehenden Guthabens entweder auf das Gemeinschaftsverhältnis oder auf eine ergänzende Auslegung des Beschlusses über den Wirtschaftsplan stützen; denn nach den dem Finanzund Rechnungswesen zugrunde liegenden Wertungen steht ein Guthaben dem Erwerber zu. Haben die Wohnungseigentümer die unerfüllte Vorschußforderung noch nicht eingezogen, können sie diese Forderung, soweit sie dem Erwerber gebührt, an diesen abtreten oder aber auch den Erwerber ermächtigen, die gemeinschaftliche Forderung im eigenen Namen geltend zu machen.46 44 45 46

Oben unter I. GE 2003, 575 (576). Vgl. Merle in Bärmann/Pick/Merle WEG, § 21 Rn. 27

Zur Abrechnung bei Veräußerung von Wohnungseigentum 3. Unvollständige

Erfüllung der Vorschußpflichten von und Erwerber

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Veräußerer

Haben sowohl Veräußerer als auch Erwerber ihre Vorschußpflichten aus dem Wirtschaftplan nicht vollständig erfüllt, ergeben sich die Rechtsfolgen aus einer Kombination der zuvor erörterten Fallgestaltungen. Der Veräußerer, dessen Zahlungspflichten aus dem Wirtschaftsplan durch das Ergebnis der Jahresabrechnung nicht begrenzt wird, ist zur Erfüllung seiner rückständigen Vorschußschuld in voller Höhe verpflichtet, während der Erwerber zur Erfüllung seiner restlichen Vorschußschuld nur bis zur Höhe des Gesamtkosten der Jahresabrechnung, abzüglich der noch geschuldeten Beträge des Veräußerers, verpflichtet ist. 47 Die Annahme einer Art gesamtschuldnerischen Haftung von Veräußerer und Erwerber (Synng) scheitert daran, daß eine rückständige Vorschußschuld des Erwerbers durch das Ergebnis der Jahresabrechnung begrenzt wird und dementsprechend erlischt. Für das eingangs48 geschilderte Beispiel von Demharter bedeutet dies, daß der Veräußerer seine rückständige Vorschußschuld von 700 € in voller Höhe zu erfüllen hat, während die rückständige Vorschußschuld des Erwerbers durch den Beschluß über die Jahresabrechnung begrenzt wird: Da die vom Veräußerer (2000 € ) und Erwerber (300 € ) bereits geleisteten Vorschüsse sowie die vom Veräußerer noch zu zahlenden 700 € dem Betrag der auf das Wohnungseigentum entfallenden Gesamtkosten von 3000 € entsprechen, erlischt die restliche Vorschußschuld des Erwerbers in Höhe von 600 € . Das wirtschaftliche Ergebnis ist identisch mit dem bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Vorschußpflichten durch Veräußerer und Erwerber. 49 Der Differenzbetrag zwischen den geschuldeten Vorschüssen und den Gesamtkosten steht wirtschaftlich dem Erwerber zu.

V. Ausblick Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß in dem von Demharter in die Diskussion eingeführten Beispiel allein der Veräußerer zur Zahlung des gesamten Fehlbetrages von 700 € verpflichtet ist. Seine Kritik an der im Ergebnis identischen Lösung von Slomian ist zwar insoweit berechtigt, als bei objektbezogener Abrechnung die tatsächlichen Ausgaben den tatsächlichen Einnahmen gegenüberzustellen sind, so daß nicht von einem fiktiven Guthaben ausgegangen werden kann. Dies rechtfertigt aber nicht sein abweichendes Ergebnis. Die bei Eigentumswechsel erforderliche Klärung der 47 Im Ergebnis ebenso Slomian ZWE 2002, 206 (208); ähnlich Drasdo (NZM 2003, 301), der Aufrechnungslage bejaht. 48 Oben unter I. 4 9 Siehe oben unter II.2.

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Frage, von wem die Wohnungseigentümer Ausgleich eines objektbezogenen Fehlbetrages verlangen können, hängt von den Zahlungspflichten der Beteiligten aufgrund der Beschlüsse über Wirtschaftsplan und Jahresabrechnung (Sollzahlungen) ab. Davon zu unterscheiden ist die förmliche Gestaltung der Abrechnung. Die Annahme einer quotenmäßigen, zeitanteiligen Haftung von Veräußerer und Erwerber (Demharter) läßt sich mit den in Rechtsprechung und Schrifttum entwickelten und anerkannten Abrechnungsgrundsätzen nicht vereinbaren; Gerechtigkeitsvorstellungerl'0 reichen als Rechtsgrundlage nicht aus. Wäre die von Demharter vorgeschlagene Lösung richtig, müßte jedem veräußerungswilligen Wohnungseigentümer geraten werden, im Jahre der Veräußerung keine Vorschüsse zu zahlen, weil er dann bei einem Uberschuß der geschuldeten Vorschüsse über die Gesamtkosten nur zeitanteilig haften würde und somit wirtschaftlich besser stünde, als bei ordnungsmäßiger Erfüllung seiner Vorschußpflichten. Ein solch rechtswidriges Verhalten, welches zu einer Gefährdung der Zahlungsfähigkeit der Gemeinschaft führen könnte, kann nicht auch noch mit einer wirtschaftlichen Besserstellung des säumigen Veräußerers belohnt werden.

50

So Demharter FGPrax 1996, 50 (51).

Abschied von der Haftung des Verkäufers aus culpa in contrahendo oder Wiedergeburt? GERD

MÜLLER

I. Vorbemerkung Ulrich Huber1 hat das Kaufrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches einmal als die „schwächste Stelle" im gesamten herkömmlichen Bereich unseres Schuldrechts bezeichnet. Durch das neue Schuldrecht2 wurde bekanntlich die hierfür in erster Linie verantwortlich gemachte extrem kurze Gewährleistungsfrist des § 477 Abs. 1 BGB a.F. beseitigt. Nach § 438 BGB hat der Fahrniskäufer nunmehr im Regelfall zwei Jahre Zeit, um den Verkäufer wegen eines Fehlers der Kaufsache im Sinne des § 434 BGB in Anspruch zu nehmen. Dafür hat der Verkäufer nach den neuen Regelungen des § 439 Abs. 1 BGB grundsätzlich das Recht, entweder den gerügten Fehler im Wege der Nachbesserung zu beseitigen oder eine einwandfreie Sache zu liefern. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die Fachsenate des Bundesgerichtshofs in bestimmten Grenz- und Einzelfällen zukünftig ausschließlich auf das Gewährleistungsrecht, statt wie bisher auf die allgemeinen Regeln der culpa in contrahendo zurückgreifen. Es erscheint daher reizvoll, das Verhältnis der Sachmängelhaftung des Verkäufers zur vorvertraglichen Verschuldenshaftung im Lichte des neuen Schuldrechts näher zu betrachten.

1 Siehe den Diskussionsbericht von Wolter über die Sondertagung der Zivilrechtslehrer im Januar 1983, AcP 183 (1983), 562ff., 564; siehe auch Baumann AcP 187 (1987), 511, 515; Anger in Festschrift 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 381. 2 Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26. 11. 2001, BGBl. I, 3138.

200

Gerd Müller

II. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Verhältnis der kaufrechtlichen Sachmängelhaftung zur culpa in contrahendo 1. Grundsatz: Absoluter Vorrang der

Sachmängelhaftung

Nach feststehender Judikatur des V. und VIII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs3 sind die Gewährleistungsvorschriften i.S.d. §§ 459ff. BGB a.F. gegenüber der Haftung wegen culpa in contrahendo grundsätzlich leges speciales. Zwar entspricht es ständiger Rechtsprechung, daß der Verkäufer für sogenannte „Mangelfolgeschäden" nicht nur infolge Fehlens einer zugesicherten Eigenschaft oder eines arglistig verschwiegenen Sachmangels gemäß §§ 463, 480 Abs. 2 BGB a.F. auf Schadensersatz haftet, sondern auch dann, wenn er für den Fehler entweder als Hersteller der Sache verantwortlich ist oder ihn bei pflichtgemäßer Sorgfalt (§ 276 BGB a.F.) erkennen mußte. Der auf einem Verschulden beruhende Schadensersatzanspruch des Käufers wegen eines erlittenen „Mangelfolgeschadens" wird aber seit jeher auf eine positive Vertragsverletzung des Verkäufers und nicht auf eine culpa in contrahendo gestützt.4 Seit der grundlegenden „Seegrundstück-Entscheidung" des V. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs5 wird die Exclusivität der §§ 459 ff. BGB a.F. gegenüber der Rechtsfigur der culpa in contrahendo damit begründet, daß das in sich geschlossene Gewährleistungssystem nicht durch eine allgemeine Verschuldenshaftung unterlaufen werden dürfe. Es gehe nicht an, daß der Käufer über den Umweg der culpa in contrahendo Ansprüche gegen die Verkäufer geltend mache, die ihm nach den speziellen Regelungen der §§ 459 ff. BGB a.F. gar nicht zustünden.6 Die Gewährleistungshaftung entfaltet demnach auch in den Fällen gegenüber den Regeln der culpa in contrahendo „Sperrwirkung", in denen mangels Beschaffenheitsvereinbarung der Vertragsparteien weder ein Sachmangel gemäß § 459 Abs. 1 BGB a.F. vorliegt noch der Verkäufer eine nicht vorhandene Eigenschaft gemäß § 459 Abs. 2 BGB a.F. zugesichert hat.

3 Grundlegend BGHZ 60, 319ff.; danach z.B. BGH WM 1976, 740; WM 1978, 1052; WM 1979, 949; BGHZ 96, 302, 311; BGH NJW-RR 1990, 78; WM 1990, 1210, 1212; ZIP 1991, 321, 323; BB 1991, 1004; ZIP 1992, 695, 696ff.; aus der reichsgerichtlichen Rechtsprechung siehe vor allem RGZ 135, 339, 345; aus dem umfangreichen Schrifttum siehe Marutschke JuS 1999, 729ff. m.w.N. 4 Siehe etwa BGH LM § 459 Abs. 1 BGB Nr. 5 („Leimfall"); BGH NJW 1965,148 („Heizofenfall"); dazu eingehend Huber AcP 177 (1977), 281 ff., insbesondere S. 293ff. m.w.N. 5 BGHZ 60, 319ff. (siehe Fn. 3). 6 BGHZ 60, 319, 321 ff.

Abschied von der culpa-Haftung des Verkäufers

2. Einschränkung der

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Sachmängelhaftung

a) Grundsätze Der Vorrang der Gewährleistungshaftung i.S.d. §§ 459ff. BGB a.F. gegenüber der Haftung des Verkäufers aus culpa in contrahendo ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kein absoluter. Der Grund hierfür liegt hauptsächlich darin, daß der Fehlerbegriff i.S.d. § 459 Abs. 1 BGB a.F. - und zum Teil auch der Eigenschaftsbegriff i.S.d. § 459 Abs. 2 BGB a.F. - bewußt eng gefaßt werden. Zwar wird aus der Anerkennung des subjektiven Fehlerbegriffs gefolgert, daß ein Sachmangel nicht nur bei natürlichen Beschaffenheitsmerkmalen in Frage kommt, sondern auch bei Umweltbeziehungen. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs7 muß es sich bei ihnen aber um einen der Kaufsache „ohne weiteres" oder „unmittelbar" anhaftenden Umstand handeln. Mit dieser Wendung soll begründet werden, daß es bestimmte Umweltbeziehungen gibt, die zwar noch als eine Eigenschaft i.S.d. § 459 Abs. 2 BGB a.F., nicht aber als ein für die schlichte Fehlerhaftung nach § 459 Abs. 1 BGB a.F. notwendiges „Beschaffenheitsmerkmal" anzusehen sind.8 Bei solchen Eigenschaften der Kaufsache „im weiteren" Sinne greift die höchstrichterliche Rechtsprechung regelmäßig auf die allgemeinen Regeln der culpa in contrahendo zurück. Betroffen sind hiervon vor allem falsche oder unvollständige Ertrags-, Umsatz- und Bilanzangaben des Unternehmens· oder Anteilsverkäufers. Zwar wird die „Ertragsfähigkeit" oder „Ertragskraft" eines Unternehmens wenn auch nicht für ein „Beschaffenheitsmerkmal" im Sinne der Fehlerhaftung des § 459 Abs. 1 BGB a.F., so aber doch für eine zusicherungsfähige „Eigenschaft" gemäß § 459 Abs. 2 BGB a.F. erachtet.9 Diese Differenzierung führt jedoch nur dann zu einer Verdrängung der allgemeinen Regeln der culpa in contrahendo durch die immerhin partiell anwendbare Sachmängelhaftung, sofern sich die bei den Vertragsverhandlungen vorgelegten falschen oder unvollständigen Bilanzen über eine „längere" Geschäftsperiode erstrecken. Denn andernfalls lassen sie im Regelfall keine seriösen Rückschlüsse auf die „Ertragsfähigkeit" oder

7 Vgl. etwa BGHZ 70, 47, 49; 111, 75, 78; 114, 263, 266; BGH NJW 1985, 2472, 2473; NJW 1991,1673, 1675; NJW 1992, 2563, 2565; WM 1979, 949, 950; WM 1988, 48, 50f.; NJW 1991, 1673, 1675. 8 Dazu eingehend Singer in Festschrift 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 381, 386ff. m.w.N. 9 Grundlegend BGH NJW 1970, 653, 655; siehe ferner BGH WM 1974, 51 = BB 1974, 152; NJW 1977, 1528; WM 1979, 944; WM 1988, 1700, 1701 f.; NJW 1990, 1658; zum Eigenschaftscharakter der „Ertragsfähigkeit" oder „Ertragskraft" eines Unternehmens auch BGH WM 1977, 999; BGHZ 69, 53 = NJW 1977, 1536; BGH WM 1988, 1700; ZIP 1992, 1317 = NJW 1992, 2564; ZIP 1995, 655 = WM 1995, 767, 768; WM 1999, 1034 = NJW 1999, 1404; vormals schon RG JW 1935, 1558; zur reichsgerichtlichen Rechtsprechung, siehe Müller, ZIP 2000, 817, 818 in Fn. 7 und 8.

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„Ertragskraft" des U n t e r n e h m e n s zu und k ö n n e n infolgedessen auch keine Haftung des für die Richtigkeit der Bilanzen garantierenden Verkäufers nach § 4 5 9 Abs. 2 B G B a.F. begründen. 1 0 Dagegen stellen E r t r ä g e eines Geschäfts- o d e r Miethauses nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 1 1 ohne weiteres eine zusicherungsfähige Eigenschaft i.S.d. § 4 5 9 A b s . 2 B G B a.F. u n d unter U m s t ä n d e n sogar eine „Beschaffenheit" gemäß § 4 5 9 A b s . 1 B G B a.F. dar. Fahrlässig falsche oder unvollständige Angaben des Verkäufers über die bisher erzielten Mietoder Pachterträge k ö n n e n daher -

anders als bei U n t e r n e h m e n s k a u f

-

grundsätzlich keine H a f t u n g wegen culpa in c o n t r a h e n d o begründen.

b) Die Folgen Ein solches „enges" Fehlerverhältnis bringt für den Käufer sowohl Vorteile als auch Nachteile mit sich. Ein Nachteil besteht zweifellos darin, daß die Haftung wegen culpa in c o n t r a h e n d o den Nachweis einer schuldhaften vorvertraglichen Pflichtverletzung voraussetzt. Die Verschuldenshaftung des Verkäufers betrifft aber eher eine Ausnahmesituation, weil ihn hinsichtlich der Beschaffenheit der Kaufsache gewöhnlich keine besondere Aufklärungs- oder Hinweispflicht gegenüber d e m Käufer trifft. 12 10 Vgl. Müller, ZIP 2000, 817, 818. Soweit ersichtlich gibt es für den Unternehmens- und Anteilskauf keine Entscheidung, in der der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs eine Anwendung der Regeln über die culpa in contrahendo mit der Begründung abgelehnt hat, daß sich falschen oder unvollständigen Angaben des Verkäufers auf die „Ertragsfähigkeit" bzw. „Ertragskraft" des Unternehmens beziehen und die Sachmängelhaftung i.S.d. § 459 Abs. 2 BGB a.F. - auch wenn sie mangels Zusicherung des Verkäufers nicht eingreift - gegenüber den allgemeinen Regeln der culpa in contrahendo absoluten Vorrang hat. 11 Siehe ζ. B. BGH NJW 1980, 1456; WM 1982, 696; vgl. ferner BGH ZIP 1981, 67 = I>^W 1981, 45; BB 1989, 519; WM 1988, 1238; BB 1990, 1583; aus jüngster Zeit BGH NJW-RR 2002, 522. Nach BGH NJW-RR 1990, 970 kann die Dauer eines bestehenden Mietverhältnisses in Verbindung mit der Höhe des Mietertrags sowohl Gegenstand einer Beschaffenheitsangabe (§ 459 Abs. 1 BGB a.F.) als auch einer Eigenschaftszusicherung (§ 459 Abs. 2 BGB a.F.) sein. 12 Vgl. etwa BGH NJW 1983, 2493, 2494; LM Nr. 52 zu § 123 BGB; siehe auch Singer in Festschrift 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 381, 398 m.w.N; allerdings kann sich aus den besonderen Umständen und Verhältnissen - namentlich beim Unternehmens- oder Anteilskauf - eine aus Treu und Glauben (§ 242 BGB) abgeleitete Aufklärungs- und Hinweispflicht des Verkäufers ergeben, siehe BGH NJW 1970, 653, 655: Die Umsätze und Erträge des verkauften Juweliergeschäfts waren so niedrig, daß der Käufer damit nicht sein Auskommen finden konnte. Der BGH hat in casu eine Aufklärungs- und Hinweispflicht bejaht; vgl. ferner BGH NJW-RR 1989, 306f.; NJW-RR 1996, 429; aus jüngerer Zeit BGH NJW 2001, 2163, 2165 = ZIP 2001, 918, 920 = LM § 276 BGB (Fb) Nr. 84 m. Anm. v. Wolf: Gesteigerte Aufklärungspflicht beim Unternehmens- bzw. Anteilskauf: „Geht es um die Beteiligung des Erwerbers an einem lebensfähigen Unternehmen, dann erstreckt sich die Aufklärungspflicht des Käufers namentlich auch auf alle Umstände, welche die Überlebensfähigkeit ernsthaft gefährden, insbesondere also drohende oder bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung".

Abschied v o n der culpa-Haftung des Verkäufers

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Ist die Hürde des Verschuldensnachweises vom Käufer genommen, so steht er sich nach der „culpa-Lösung" des Bundesgerichtshofs grundsätzlich besser als bei einer Anwendung der §§ 459 ff. BGB a.F. Denn während ihm zur Geltendmachung seiner Gewährleistungsansprüche gemäß § 477 Abs. 1 BGB a.F. - von der Arglisthaftung des Verkäufers abgesehen - nur sechs Monate ab Ablieferung der Sache zur Verfügung standen, verjährten die Ansprüche aus culpa in contrahendo, auch wenn sie nur auf einer Fahrlässigkeit des Verkäufers beruhen, gemäß § 195 BGB a.F. erst nach dreißig Jahren. 13 Das darin liegende Ubermaß an Käuferschutz wurde gegenüber der viel zu kurzen Verjährung des § 477 Abs. 1 BGB a.F. für das weitaus kleinere Übel erachtet.14 Sonst besteht zwischen der Fehlerhaftung und der Verschuldenshaftung auf der Rechtsfolgenseite kein großer Unterschied. Nach dem Grundsatz der Naturalrestitution (§ 249 Satz 1 BGB) ist der Geschädigte so zu stellen, wie er ohne die pflichtwidrige Einwirkung auf seine Willensbildung stünde. Die Rückgängigmachung des Vertrages kann daher verlangt werden, wenn der Irrende bei richtiger und vollständiger Information vom Vertragsschluß vermutlich Abstand genommen hätte. Dabei helfen einige Zivilsenate des Bundesgerichtshofs dem Irregeführten, indem sie die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Kausalität umkehren. Dem Täuschenden obliegt danach - auch wenn ihm lediglich Fahrlässigkeit zur Last fällt - der kaum zu führende Nachweis, daß der Vertrag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch bei korrektem Verhalten geschlossen worden wäre. 15 Statt der Vertragsaufhebung kann der Geschädigte an dem für ihn nachteiligen Vertrag festhalten und Herabsetzung seiner Leistung auf das angemessene Maß verlangen. 16 Der Schaden wird also - entgegen einer im Schrifttum 17 vertretenen Ansicht - nicht schon in der Bindung an den Vertrag gesehen, sondern darin, daß der Irregeleitete im Vertrauen auf die Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Vorstellungen für die Kaufsache zu viel aufgewendet hat.18 Auch in diesem Fall braucht der (noch schwierigere) « Z u m U n t e r n e h m e n s - o d e r Anteilskauf siehe z . B . B G H W M 1974, 51 = BB 1974, 152; N J W 1977, 1 5 3 6 , 1 5 3 7 (insoweit in B G H Z 6 9 , 53 ff. nicht abgedruckt); B G H N J W 1 9 7 7 , 1 5 3 8 , 1 5 3 9 = W M 1917, 712; W M 1990, 1344. Allgemein z u r A n w e n d u n g der dreißigjährigen Regelverjährung des § 195 BGB a.F. auf Schadensersatzansprüche aus culpa in contrahendo B G H Z 4 9 , 78, 80 = N J W 1968, 5 4 7 ; B G H ZIP 1998, 154 = N J W 1998, 3 0 2 . » Vgl. Hiddemann W M 1982, Beilage Nr. 5, S. 6 ; Soergel/Huber BGB, 12. A u f l . 1991, § 4 5 9 R n . 2 4 6 f f . , v o r allem R n . 2 5 2 . 15 Siehe etwa B G H Z 72, 9 2 , 1 0 6 ; 114, 8 7 , 9 4 . Ausführlich z u m Kausalitätsbeweis Grigoleit Vorvertragliche Informationshaftung-Vorsatzdogma, Rechtsfolgen, Schranken, 1997, S. 1 6 4 f f . ; vgl. ferner Müller ZIP 2 0 0 0 , 817, 818 beide m . w . N . 16 Siehe ζ . B. B G H Z 6 9 , 53, 5 8 ; B G H ZIP 1980, 5 4 9 ; ZIP 1999, 574, 5 7 7 m . w . N ; vgl. auch dazu Müller ZW 2 0 0 0 , 817, 818. 17 Z u m Meinungsstand siehe Wiegand Vertragliche Beschränkungen der Berufung auf Willensmängel, 2 0 0 0 , S. 53 f. m . w . N . ι 8 Grundlegend B G H ZIP 1998, 154 = N J W 1998, 3 0 2

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Kausalitätsnachweis, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des anderen Teils zum Abschluß eines anderen Vertrages gekommen wäre, nicht geführt zu werden. Dem Schädiger wird hier noch nicht einmal der Gegenbeweis gestattet.19 Dies entspricht im Ergebnis einer „schadensersatzrechtlichen Minderung", die mit dem in § 249 Satz 1 BGB normierten Grundsatz der Naturalrestitution und der Privatautonomie des Schädigers nur schwer zu vereinbaren ist.20 Trotzdem hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Wahlrecht des Käufers zu Recht durchgesetzt. Denn abgesehen davon, daß die Herabsetzung des Kaufpreises gegenüber der Vertrauensaufhebung die schonendere und auch sonst sachgerechtere Lösung darstellt, handelt der Verkäufer in aller Regel treuwidrig, wenn er sich einer berechtigten „schadensersatzrechtlichen Minderung" widersetzt. 21 Damit übernahm die Rechtsfigur der culpa in contrahendo im Ergebnis weitgehend Aufgaben des Gewährleistungsrechts i.S.d. §§ 459ff. BGB a.F., speziell der Fehlerhaftung gemäß § 459 Abs. 1 BGB a.F. Dies zeigt sich auch darin, daß an den Verschuldensnachweis nicht immer die notwendigen strengen Anforderungen gestellt werden. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der sich nicht nur der Unternehmensverkäufer, sondern auch der Verkäufer von GmbH-Anteilen die von dem Steuerberater bzw. Wirtschaftsprüfer verschuldeten Bilanzfehler gemäß § 278 BGB zurechnen lassen muß, so daß der durch sie irregeleitete Käufer beide wegen culpa in contrahendo auf Ersatz des Vertrauensschadens in Anspruch nehmen kann. 22 Dies ist namentlich beim Verkauf kleinerer Gesellschaftsbeteiligungen bedenklich und kommt im Ergebnis einer Verschuldensvermutung sehr nahe. 23 19

Vgl. BGHZ 69, 53, 57f.; 114, 87, 94; BGH NJW 1999, 2032, 2034. Vgl. Canaris ZGR 1982, 395, 421 f.; Tiedtke JZ 1989, 569ff.; Lorenz NJW 1999, 1001, 1002. 21 So auch etwa Wiegand Vertragliche Beschränkungen der Berufung auf Willensmängel, 2000, S. 54: „... wesentlich interessengerechte Lösung". 22 Grundlegend BGH WM 1974,51,52 = BB 1974,152: Zur Begründung der Anwendung des § 278 BGB hat der BGH vor allem darauf hingewiesen, daß die Erstellung der Bilanz handelsrechtlich (damals § 38 HGB, jetzt § 283 HGB) eine eigene Verpflichtung des Kaufmanns darstelle; vgl. ferner BGH DB 1976, 37, 38; grundlegend zum Verkauf von GmbHAnteilen unter Vorlage falscher oder unvollständiger Bilanzen der letzten Geschäftsjahre durch den Gesellschafter und Geschäftsführer BGH WM 1976, 10, 12 (insoweit in BGHZ 65, 246ff. nicht abgedruckt); vgl. ferner BGH ZIP 1980, 549 = NJW 1980, 2408 = BB 1980, 1392 m. Anm. Müller, BGHZ 69, 53 ff.; sowie jüngst BGH ZIP 2003,1399, 1402: „Der Käufer eines Gesellschaftsanteils haftet unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen auch für das Fehlverhalten derjenigen für die Gesellschaft tätigen Personen, die durch Buchungsfehler überhöhte Gewinnausweisungen in zum Gegenstand der Vertragsverhandlungen gemachten Gewinn- und Verlustrechnungen verursacht haben" (Leitsatz). 23 Müller ZIP 1993, 1045, 1054; ders. ZIP 2000, 817; 822 f.; ebenso Jaques Β Β 2002, 417, 420, 422; differenzierend Huber he? 202 (2002), 179, 190, 215f.: Keine Anwendung des 20

Abschied von der culpa-Haftung des Verkäufers

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Hält der Bundesgerichtshof an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, so ergibt sich vor allem bei der Verjährung für den Käufer immer noch ein erheblicher Vorteil. Zwar beträgt die für die Haftung aus culpa in contrahendo im allgemeinen geltende Regelverjährung nach neuem Recht nur noch drei Jahre (§ 195 BGB). Sie beginnt aber erst mit dem Schluß des Jahres zu laufen, in dem der Ersatzanspruch entstanden ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat (§ 199 Abs. 1 BGB). Dagegen beträgt die Verjährungsfrist für Gewährleistungsansprüche des Käufers gemäß § 438 BGB regelmäßig nur zwei Jahre nach Ablieferung der Kaufsache. 24 Was die weitere wesentliche Änderung des kaufrechtlichen Gewährleistungsrechts in Gestalt des Anspruchs des Käufers auf Nacherfüllung gemäß § 437 Nr. 1, § 439 Abs. 1 BGB anbetrifft,25 so muß ein „Ausweichen" auf die vorvertragliche Verschuldenshaftung für ihn nicht nachteilhaft sein. Zwar ist eine Nachbesserung oder Lieferung einer einwandfreien Sache für den Käufer vielleicht günstiger als eine sofortige Minderung oder Wandelung. Dies ändert aber nichts daran, daß der gesetzliche Zwang zur Geltendmachung des Anspruchs auf Nacherfüllung eine erhebliche Schlechterstellung gegenüber dem alten Recht bedeutet, nach dem grundsätzlich sofort Wandelung, Minderung oder Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangt werden konnte. 26 3. Alternativkonkurrenz bei Arglisthaftung des Verkäufers Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs27 stellt sich das komplizierte Verhältnis der Sachmängelhaftung zur culpa in contrahendo in den Fällen anders dar, in denen der Verkäufer einen Fehler arglistig verschwiegen hat und demzufolge gemäß § 463 Satz 2 BGB a.F. auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung haftet. Unter diesen besonderen Umständen kommen die allgemeinen Regeln der culpa in contrahendo neben der spe§ 278 BGB beim Beteiligungskauf, sofern der Verkäufer nicht der Geschäftsleitung der Gesellschaft angehört und daher an der Aufstellung der Bilanz nicht „beteiligt" ist. 24 Ausführlich zur Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Verjährungsbeginn, Leenen]Z 2001, 552, 559; Wagner JZ 2002, 475ff. m.w.N. 2 5 Für den Verbrauchsgüterkauf ist das uneingeschränkte Wahlrecht des Käufers zwischen Fehlerbeseitigung (Nachbesserung) und Lieferung einer neuen (mangelfreien) Sache zwingend vorgeschrieben, siehe Art. 3 Abs. 3 Satz 1 VerbrGK-RiL. 26 Boemer ZIP 2001, 2264, 2269; befürwortend: Krebs DB 2000, Beilage Nr. 14/2000 zu Heft Nr. 48, S. 18f.; Zimmer in Ernst/Zimmermann, Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsreform, Zum Diskussionsentwurf eines Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes des Bundesministeriums der Justiz, 2001, S. 191, 200; eher kritisch DaunerlLieb JZ 2001, 8, 13. 27 Siehe z.B. BGH NJW-RR 1988, 10, 11; NJW 1992, 2564f.; NJW 1995, 45f.; NJW 1999, 1404, 1405; zum Verhältnis der Sachmängelhaftung des Verkäufers und einer vorsätzlichen culpa in contrahendo, siehe aus neuerer Zeit auch Oerie der NJW 2001, 1161 ff.

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ziellen Sachmängelhaftung zur Anwendung. Der Käufer muß also nicht erst den Kaufvertrag nach § 123 BGB wegen arglistiger Täuschung anfechten, um den Weg für eine Schadensersatzhaftung des Verkäufers wegen vorsätzlicher culpa in contrahendo zu ebnen. Diese differenzierende Betrachtungsweise der höchstrichterlichen Spruchpraxis ist zumindest auf den ersten Blick nicht leicht zu verstehen. Sie erschließt sich erst, wenn man bedenkt, daß die im Rahmen des § 463 BGB a.F. zugunsten des Käufers geltende Rentabilitätsvermutung widerlegbar ist. Der Verkäufer kann also nachweisen, daß die Aufwendungen, die der Käufer im Vertrauen auf die vertragsgemäße Beschaffenheit der Sache gemacht hat, ohnehin unwirtschaftlich waren. 28 Die Widerleglichkeit der Rentabilitätsvermutung kann unter bestimmten Umständen dazu führen, daß der Käufer auf den infolge der Mangelhaftigkeit der Kaufsache getätigten nutzlosen Aufwendungen sitzen bleibt. Er wird daher versuchen, den Schaden anders zu berechnen und geltend machen, er hätte den Kaufvertrag bei Kenntnis des Sachmangels nicht geschlossen und deshalb keinen Schaden erlitten. Hier kommt ihm zugute, daß der Bundesgerichtshof bei einer Arglist des Verkäufers auf die allgemeinen Grundsätze der culpa in contrahendo zurückgreift und es nicht bei der Haftung aus § 463 Satz 2 BGB a.F. bewenden läßt. Zwar wird in der Literatur29 zum Teil die Ansicht vertreten, der Vertrauensschaden sei sozusagen als „Minus" in dem Nichterfüllungsschaden enthalten. Dem Interesse des Gläubigers, von dem Vertragsgegner so gestellt zu werden, als ob der Vertrag nicht geschlossen worden wäre, soll aber in erster Linie das frühere Wandelungsrecht (jetzt: Rücktrittsrecht) Rechnung tragen. 30 Nach dem neuen Schuldrecht ist der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Anwendbarkeit der Regeln der culpa in contrahendo neben der kaufrechtlichen Gewährleistungshaftung nicht die Grundlage entzogen. Zwar kann der Käufer im Rahmen der Schadensersatzhaftung wegen schuldhafter Schlechterfüllung (§ 280 BGB) auch die mangelbedingten frustrierten oder gar schädlichen Aufwendungen ersetzt verlangen (§ 284 BGB), soweit der Vermögensschaden nicht auch aufgrund anderer Umstände eingetreten wäre. Daraus ist aber nicht zu folgern, daß der arglistig getäuschte Käufer kraft Gesetzes darin gehindert ist, den Verkäufer mit Hilfe der culpa in contrahendo auf Ersatz des Vertrauensschadens in Anspruch zu nehmen. Vielmehr hat der Gesetzgeber in § 284 BGB nur die von 28 Vgl. z . B . B G H 2 114, 193, 196ff.; 123, 96, 99f.; 136, 102, 104f.; B G H WM 1999, 1064, 1065; siehe dazu auch Huber Leistungsstörungen, Bd. II, 1999, § 39 II 3, S. 271 ff. m . w . N . 2 9 Siehe Schmidt in Festschrift Gernhuber, 1999, S. 423, 429f.; Müller-Laube J Z 1995, 538, 542f.; für die Schadensberechnung nach §§ 463, 480 Abs. 2 BGB a.F. siehe Oerlederl Abramjuk A c P 190 (1990), 624ff. 3 0 Zutreffend und überzeugend Huber Leistungsstörungen (Fn. 28), § 39 II 1, S. 268 f. m.w.N.

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der Rentabilitätsvermutung und ihrer Widerlegbarkeit durch den Schädiger festgeschrieben. 31 Dennoch ist fraglich, ob es wirklich einer Alternativkonkurrenz zwischen Sachmängelhaftung und vorsätzlicher culpa in contrahendo bedarf. Daß sich ein „vorsätzlicher Vertragsbruch" für den Verkäufer im Ergebnis nicht lohnen darf, steht außer Frage. Am besten scheint es deshalb, in solchen Ausnahmefällen durch schlichten Rückgriff auf das Prinzip von Treu und Glauben (§ 242 BGB) Abhilfe zu schaffen. Der Verkäufer, der es bei einem arglistigen Verschweigen des Sachmangels bewußt darauf ankommen läßt, daß sich die im berechtigten Vertrauen auf die Fehlerfreiheit der Kaufsache gemachten Aufwendungen des Käufers als nutzlos oder schädlich erweisen, ist nach Treu und Glauben verpflichtet, ihm diese Aufwendungen in vollem Umfang zu ersetzen. Es handelt sich daher um eine Sonderregelung für einen Sonderfall, der keinen Anlaß bietet, den Vorrang der Fehlerhaftigkeit i.S.d. § 434 BGB (§ 459 BGB a.F.) gegenüber der Haftung wegen culpa in contrahendo in Frage zu stellen.32

III. Analyse der „Seegrundstück-Entscheidung" (BGHZ 60, 319)

1. Der Streitfall Verkauft war ein Grundstück am See. Der Uferstreifen gehört dem Verkäufer nicht, sondern er hat ihn dazugepachtet. Der Käufer glaubt, der Uferstreifen sei Bestandteil des Grundstücks. Der Kaufpreis wird nach Eintragung der Auflassungsvormerkung bezahlt. Noch bevor die Genehmigung nach dem Bundesbaugesetz erteilt ist, ficht der Käufer den - schwebend unwirksamen - Kaufvertrag wegen arglistiger Täuschung durch den Verkäufer an. Dieser betreibt daraufhin das Genehmigungsverfahren nicht weiter und erklärt sich bereit, den Kaufpreis als ungerechtfertigte Bereicherang zurückzugeben. Der Käufer verlangt aber außerdem Schadensersatz wegen der Kreditkosten, die ihm bei Aufbringung des Kaufpreises entstanden sind. Arglist kann er dem Verkäufer nicht nachweisen. Deshalb stützt er seine Klage auf die Regeln der culpa in contrahendo. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat eine Verschuldenshaftung des Verkäufers abgelehnt. Nach dem „subjektiven" Fehlerbegriff i.S.d. § 459 Abs. 1 BGB a.F. hätte zwar ein Sachmangel des Grundstücks vorgelegen, wenn die Vertragsparteien sich darüber einig gewesen wären, daß das Vgl. Palandt/Heinrichs BGB, 63 Aufl. 2004, § 284 Rn. 1, 2. So auch Huber Leistungsstörungen (Fn. 28), § 39 II 5, S. 279 ff. m.w.N zur Frage der Ersatzfähigkeit von nichtwirtschaftlichen Zwecken dienenden Aufwendungen in Fällen vorsätzlicher Vertragsverletzung. 31

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Grundstück mit einem eigenen Zugang zum See verkauft sein sollte. In diesem Falle wären die Kreditkosten des Käufers als typischer „Mangelfolgeschaden" zu ersetzen gewesen; denn sie wären daraus entstanden, daß er im Vertrauen auf die vertragsgemäße Beschaffenheit des Grundstücks nachteilige Vermögensdispositionen vorgenommen hatte. Nach dem Sach- und Streitstand war aber zwischen den Parteien über die Frage des Zugangs zum See keine Vereinbarung zustande gekommen und von Seiten des Käufers nicht einmal der Versuch einer Beschaffenheitsabrede unternommen worden; er hielt es offenbar für selbstverständlich, das Grundstück reiche zum See, und der Verkäufer hielt es vermutlich für selbstverständlich, der Käufer kenne die Grundstücksgrenzen. Das Grundstück war demnach so verkauft, wie es war, und ein Sachmangel gemäß § 459 Abs. 1 BGB a.F. nicht gegeben. In diesem Fall hält der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs angesichts des Spezialcharakters der Gewährleistungshaftung auch eine Haftung des Verkäufers wegen fahrlässiger culpa in contrahendo für ausgeschlossen. 2. Kritik Canaris33 hat die Entscheidung des V. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs „empörend ungerecht" und „dogmatisch geradezu abwegig" bezeichnet. Nach Ansicht von Flume34 zeigt der Streitfall „geradezu exemplarisch, daß der Verkäufer jedenfalls aus culpa in contrahendo auf das negative Interesse haften mußte". Für LeenenK ist die von Canaris geübte Kritik in der Formulierung zwar „sehr scharf" geraten, in der Sache aber durchaus „zutreffend". Dem ist - um es vorwegzunehmen - nicht beizupflichten. Allerdings ist streitig, ob ein Vertragsteil den anderen mit der Begründung in Anspruch genommen werden kann, er hätte das Mißverständnis bei Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt rechtzeitig erkennen und den Schaden verhindern können. Dabei ist es gerade Flume36, der eine Anwendung der Regeln der culpa in contrahendo bei einem versteckten Dissens ablehnt, weil im rechtsgeschäftlichen Verkehr grundsätzlich „jeder das Risiko für den Inhalt seiner Willenserklärungen tragen" sollte. Aber wie dem auch sei: Nach der Wertung des § 459 Abs. 1 BGB a.F. - und des an seine Stelle getretenen § 434 BGB - kann der bona fide handelnde Verkäufer im allgemeinen nicht für einen Irrtum des Käufers über die sachliche oder rechtliche Beschaffenheit der Kaufsache verantwortlich gemacht werden. Vielmehr ist es die ureigene Aufgabe des Käufers, die für wesentlich er-

Canaris ZGR 1982, 395 ff., 417 (Fn. 60). Flume AcP 193 (1993), 89ff., 114. 35 Leenen § 477 BGB: Verjährung oder Risikoverlagerung?, 1997, S. 34. 36 Flume Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2. Bd., Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl., 1979, § 34 5, S. 625 f. m.w.N. 33 34

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achteten Eigenschaften zum Vertragsinhalt zu machen und damit die Voraussetzungen für eine Sachmängelhaftung des Verkäufers zu schaffen. Zumindest muß er deutlich sichtbar den Versuch einer Beschaffenheitsvereinbarung unternehmen. Unterläßt er dies, etwa weil er sich absolut sicher ist, daß die Kaufsache seinen Wünschen entspricht, und weicht sie von diesen ab, so verstößt er in krasser Weise gegen das alte „caveat emptor-Prinzip". Der Irrtum über die Beschaffenheit der Kaufsache fällt daher auch dann in seinen Verantwortungsbereich, wenn der Verkäufer den Irrtum bei Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 BGB a.F.) erkennen mußte. Sieht man die Dinge anders, würde der Verkäufer im Ergebnis genauso haften, als wenn er über die Kaufsache falsche oder unvollständige Angaben macht und den Käufer dadurch fahrlässig irreleitet. Daß dies nicht richtig sein kann, liegt auf der Hand. Sowohl die alte Gewährleistungsvorschrift des § 459 BGB wie auch der an seine Stelle getretene § 434 BGB sagen also nicht nur positiv, wofür der Verkäufer haftet, sondern auch negativ, wofür er nicht haftet. 37 Diese Wertung darf durch die allgemeinen Regeln der culpa in contrahendo nicht unterlaufen werden. Anderenfalls besteht die Gefahr, daß der Verkäufer über den Umweg der allgemeinen Verschuldenshaftung für etwas haftet, für das das Gewährleistungsrecht keine Haftung vorsieht. 38

IV. Die Auswirkungen der Schuldrechtsreform auf das Verhältnis der Sachmängelhaftung gegenüber der culpa in contrahendo in Sonderfällen 1. Ausgangspunkt a) Betonung des subjektiven Fehlerbegriffs Die zentrale Vorschrift des neuen kaufrechtlichen Sachmängelrechts (§ 434 BGB) ist ein Produkt des unter Geltung des § 459 Abs. 1 BGB a.F. von der Rechtsprechung und der Lehre entwickelten rein subjektiven (vertragsbezogenen) Fehlerbegriffs. 39 Die neue Fassung betont daher stärker als § 459 Abs. 1 BGB a.F. den Vorrang der Beschaffenheitsvereinbarung der Vertragsparteien vor der Maßgeblichkeit der gewöhnlichen Verwendung der 3 7 Pointiert Soergel/Huber BGB (Fn. 14), Vor § 459 Rn. 195f.; siehe auch Huber AcP 177 (1977), 281, 295; zustimmend Lorenz Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, S. 307; Singer in Festschrift 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 381, 385. 3» Huber (Fn. 37). 39 Zur Entwicklung und Bedeutung des subjektiven Fehlerbegriffs, siehe Flume AcP 193 (1993), 89ff. m.w.N.

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Kaufsache. 40 Ein „Sachmangel" (nicht mehr „Fehler") ist danach jede Abweichung der tatsächlichen Beschaffenheit, die den Wert der Sache oder ihre Tauglichkeit zu dem gewöhnlichen oder dem nach dem Vertrag vorausgesetzten Gebrauch aufhebt bzw. mindert. Nur wenn diese subjektiven Merkmale nicht vorliegen, kommt es - wie auch schon bei § 459 Abs. 1 BGB a.F. - auf objektive Merkmale an. 41 In diesem Fall ist die Kaufsache mangelfrei, wenn sie sich für die gewöhnliche Verwendung eignet und eine Beschaffenheit aufweist, die bei Sachen der gleichen Art üblich ist und die der Käufer nach Art der Sache normalerweise auch ohne besondere Vereinbarungen erwarten kann. 42 Hierbei handelt es sich sozusagen um den „Grundtatbestand" der Gewährleistungshaftung. Dieser kann durch die Vertragsparteien dadurch erweitert werden, daß sie aufgrund der schuldrechtlichen Verpflichtungsfreiheit bestimmen, über welche Eigenschaften die Kaufsache zur Erfüllung der vertraglich vorausgesetzten Gebrauchstauglichkeit verfügen soll. Indessen sind sie nicht in der Lage, zu bestimmen, welche Umweltbeziehung noch zur Beschaffenheit der Sache zählt und welche nicht. Diese Entscheidung muß notfalls der Tatrichter unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung und Interessenlage treffen. b) Wegfall der Zusicherungshaftung i.S.d. § 459 Abs. 2 B G B a.F. Die Vorschrift des § 434 BGB unterscheidet nicht mehr zwischen einem Sachmangel bzw. „Fehler" i.S.d. § 459 Abs. 1 BGB a.F. und dem Fehlen einer zugesicherten „Eigenschaft" gemäß § 459 Abs. 2 BGB a.F. Wie sich vor allem aus den Begründungen zu §§ 276 und 442 BGB ergibt, findet sich die „Bedeutung" der Zusicherung alten Rechts aber an anderer (besser passender) Stelle im Gesetz wieder, nämlich in § 276 Abs. 1 BGB. Dort habe der Gesetzgeber neben Vorsatz und Fahrlässigkeit auch den Fall der „Garantie" geregelt, die zu einer inhaltlichen Bestimmung dessen führe, was der Schuldner zu vertreten habe. In der Sache selbst stehe dies der Zusicherung einer Eigenschaft i.S.d. § 459 Abs. 2 BGB a.F. gleich, bei der der Verkäufer die Erklärung abgebe, für die Folgen des Fehlens der Eigenschaft verschuldensunabhängig einstehen zu wollen. 43 Als Norm des Allgemeinen Teils regelt der neue § 276 Abs. 1 BGB somit alle Arten von Garantien/Zusicherungen. Immer dann, wenn ein Schuldner für einen bestimmten Erfolg oder den Nichteintritt eines bestimmten Ereignisses die „Garantie" übernimmt, konkretisiert diese Erklärung als Inhalt des Schuldverhältnisses den Ver40 Lorenz/Riem Lehrbuch des neuen Schuldrechts, 2002, Rn. 483; vgl. auch Boemer ZIP 2001, 2264, 2266. 41 Zur Bedeutung des sog. objektiven Fehlerbegriffs im alten Kaufrecht, siehe etwa Müllerin Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, Bd. 2, 2001, Vor § 373 Rn. 36 m.w.N. 42 Siehe etwa Boemer ZIP 2001, 2264, 2266. 4 3 Vgl. BT-Drucks. 14/6040, S. 237, 240.

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schuldensmaßstab. Worauf sich die Garantieerklärung inhaltlich beziehen kann, ist eine Frage des speziellen (gesetzlichen oder vertraglichen) Schuldverhältnisses. 44 Garantien des Verkäufers, die sich ihrem Inhalt nach auf die sachliche Beschaffenheit der Kaufsache beziehen, können daher - wie unter Geltung des § 459 Abs. 2 BGB a.F. - als eine besonders „intensive" Beschaffenheitsvereinbarung gemäß § 434 BGB begriffen werden. Nur sind die dem Kaufrecht als Sonderregelung zugehörigen Termini „Fehler" und „Zusicherung" beseitigt worden. 4 5 2. Ausweitung der Sachmängelhaftung, „status quo " oder Erweiterung der culpa-Haftung f a) Thesen Nach Auffassung mehrerer Autoren 46 führt die Schuldrechtsreform in Grenzfällen - namentlich bei falschen bzw. unvollständigen Bilanz-, Umsatz- oder Ertragsangaben des Unternehmens oder Anteilsverkäufers dazu, daß ausschließlich Sachmängelrecht gemäß §§ 434 ff. BGB und nicht mehr die allgemeinen Regeln der culpa in contrahendo anzuwenden sind. Da das Gesetz nicht mehr zwischen der Fehlerhaftung (§ 459 Abs. 1 BGB a.F.) und der Haftung für das Fehlen einer zugesicherten Eigenschaft (§ 459 Abs. 2 BGB a.F.) unterscheide, seien die von der höchstrichterlichen Judikatur nur für zusicherungsfähige Eigenschaften gehaltenen Umweltbeziehungen jedenfalls jetzt zu den Beschaffenheitsmerkmalen des § 434 BGB zu zählen, zumal dieser nach Wortlaut und Schutzzweck im Zweifel weit auszulegen sei. 47 Zudem dürfe das nunmehr im Gesetz normierte Recht des Verkäufers zur Nachbesserung oder Lieferung einer fehlerfreien Sache durch ein Ausweichen auf die Rechtsfigur der culpa in contrahendo nicht unterlaufen werden. Mit Abschaffung der kurzen Verjährung des § 477 Abs. 1 BGB a.F. sei schließlich auch der eigentliche Grund für die Nichtanwendung der Sachmängelhaftung entfallen. In gleicher Weise hat sich auch die Schuldrechtsreformkommission 48 geäußert.

Jaques BB 2002, 417, 418. « Vgl. Flume AcP 193 (1993), 89, 98; Müller ZIP 2002, 1178. 46 Siehe von Gierke/Paschen GmbHR 2002, 457, 462f.; GaulZHR 166 (2002), 35, 45ff.; Weitnauer NJW 2002, 2511, 2513; Gronstedt/Jürgens ZIP 2002, 52, 54 f.; Triebel/Hölzle Β Β 2002, 521, 525; Wolf/Kaiser DB 2002, 411, 414. 47 Vgl. Palandt/Putzo (Fn. 31), § 434 Rn. 11; Westermann JZ 2001, 530, 532. 48 Siehe den Abschlußbericht der Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts, 1992, S. 239 f. 44

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b) Gegenthesen Nach der Einschätzung von Ulrich Huber49 ist nicht damit zu rechnen, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung die Neuformulierungen des Gesetzes zum Anlaß nehmen wird, ihre Beurteilung der Rechtslage auf dem Sondergebiet des Unternehmens- und Anteilskaufs grundlegend zu ändern. Im Gegenteil: Mit der neuen Gesetzeslage sei der Spruchpraxis des Bundesgerichtshofs zur Zusicherung der „Ertragsfähigkeit" des Unternehmens gemäß § 459 Abs. 2 BGB die Grundlage entzogen. Umstände, die wie z . B . vermeintlich erzielte Erträge oder Umsätze nicht zur „Beschaffenheit" der Sache i.S.d. § 459 Abs. 1 BGB a.F. gehörten, sondern nur Gegenstand einer Zusicherung nach § 459 Abs. 2 BGB a.F. sein könnten, fielen daher nicht mehr in den Anwendungsbereich des Sachmängelrechts. Sollte es tatsächlich noch einmal vorkommen, daß der Verkäufer eine Zusicherung für die „Ertragsfähigkeit" des Unternehmens abgebe, so würde er hierfür nicht mehr nach Sachmängelrecht haften, sondern unabhängig hiervon aufgrund eines die Regeln der culpa in contrahendo nicht verdrängenden „selbständigen Garantieversprechens". 50 c) Stellungnahme Schon unter Geltung des alten Gewährleistungsrechts wäre es am besten gewesen, wenn der Bundesgerichtshof 51 die allzu subtile Unterscheidung zwischen „Beschaffenheit" i.S.d. § 459 Abs. 1 BGB a.F. und „Eigenschaft" i.S.d. § 459 Abs. 2 BGB a.F. aufgegeben hätte. Es gibt keinen sachlichen Grund, der es rechtfertigt, den Verkäufer für falsche oder unvollständige Angaben über bestimmte Umweltbeziehungen „im weiteren Sinne" nur deshalb nicht wegen culpa in contrahendo haften zu lassen, weil es sich bei ihnen, wenn auch nicht um eine „Beschaffenheit" gemäß § 459 Abs. 1 BGB a.F., so aber doch um eine zusicherungsfähige Eigenschaft nach § 459 Abs. 2 BGB a.F. handelt. Zwar plädieren einige Autoren 52 dafür, die Sachmängelvorschriften i.S.d. §§ 459ff. BGB a.F. gegenüber der culpa in contrahendo auch dann als Spezialregelung aufzufassen, wenn im konkreten Einzelfall von vornherein nur eine Anwendung des § 459 Abs. 2 BGB a.F. in Betracht kommt. Diese differenzierende Betrachtungsweise ist aber sowohl methodisch als auch aus teleologischen Gründen unhaltbar. Von einem logischen

« Huber AcP 202 (2002), 179f., 223ff., insbesondere S. 231 ff.; ähnlich Jaques 417 f. 50 51

BB 2002,

Huber AcP (Fn. 49), S. 225 f.

Siehe die Nachweise in Fn. 7-11.

Siehe vor allem Soergel/Huber BGB, (Fn. 14), Vor § 459 Rn. 227; ebenso Soergel/Wiedemann BGB, 12. Aufl. 1990, Vor § 275 Rn. 277; Erman/Grunewald BGB, 10. Aufl. 2000, 52

Vor § 459 Rn. 26.

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Verhältnis der Spezialität kann grundsätzlich nur dort gesprochen werden, wo der Anwendungsbereich der spezielleren Norm vom Geltungsbereich der allgemeinen Norm vollständig erfaßt wird. 53 Das ist ersichtlich nicht der Fall, wenn es Konstellationen gibt, in denen der Käufer ausschließlich bei einer „Garantie" oder „Zusicherung" des Verkäufers gemäß § 459 Abs. 2 BGB a.F. Gewährleistungsansprüche haben kann, obwohl an die einfache Fehlerhaftung nach § 459 Abs. 1 BGB a.F. geringere Anforderungen zu stellen sind. Überdies ist auch unter allgemeinen Billigkeitsgesichtspunkten nicht einzusehen, warum der Verkäufer über bestimmte Umweltbeziehungen sanktionslos falsche oder unvollständige Angaben machen darf, sofern er nicht für deren Richtigkeit und Vollständigkeit die „Garantie" übernimmt und ihm auch keine Arglist zur Last fällt. 54 Dies bedeutet aber keineswegs, daß es für die häufig und heftig kritisierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keinen vernünftigen Grund gibt. Zwar mag sie auf den ersten Blick ein Relikt aus früheren Zeiten sein, als sich das rein vertragsbezogene (subjektive) Fehlerverständnis noch nicht in vollem Umfang durchgesetzt hatte. 55 Es ist aber eine stark verkürzte und oberflächliche Sicht der Dinge, wenn man dem Bundesgerichtshof immer wieder vorhält, einfach nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, daß jede „Beschaffenheit" i.S.d. § 459 Abs. 1 BGB a.F. automatisch auch eine „Eigenschaft" i.S.d. § 459 Abs. 2 BGB a.F. der Kaufsache darstellt wie umgekehrt. Genauso gut läßt sich nämlich behaupten, daß es besser wäre, wenn etwa vermeintlich erzielte Erträge und Umsätze oder in den Bilanzen nicht ausgewiesene Verluste - auch wenn sich die Geschäftsangaben auf mehrere Geschäftsjahre beziehen und damit die „Ertragsfähigkeit" bzw. „Ertragskraft" des Unternehmens betreffen - nicht für Beschaffenheitsmerkmale gemäß § 434 BGB gehalten werden. 56 Dies hat sicher auch mit begrifflichen Bedenken zu tun. So ist nicht zu bestreiten, daß es sich bei Erträgen und Umsätzen nur um flüchtige und nicht Vgl. Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 267, 268. Siehe Müller ZIP 1993, 1045, 1052; Singer in Festschrift 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 381, 389: „... risikoloses Verschweigen solcher, für den Käufer durchaus nicht unerheblicher Umstände und - wenn nicht nachgewiesen werden kann - sogar risikolose Falschangaben". 55 Grundlegend Flume Eigenschaftsirrtum und Kauf, 1948 (Nachdruck 1975), S. 187ff.; vormals bereits Heck Grundriß des Schuldrechts, 1929, § 91,7 S. 286f., aus neuerer Zeit Immenga AcP 171 (1971), 1, 12; Huber ZGR 1972, 395ff.; Prölss ZIP 1981, 337ff.; Willemsen AcP 182 (1982), 515, 540ff.; Mössle BB 1983, 2146, 2150ff.; MünchKommHGB/Z.^, 1996, Anh. § 25 Rn. 60ff.; Lieb in Festschrift Gernhuber, 1993, S. 259, vor allem S. 264ff.: Übereinstimmung der Bilanz mit den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung sei die „Normalbeschaffenheit" des Unternehmens, Nichtübereinstimmung also ein Fehler im Sinne des § 459 Abs. 1 BGB a.F., und zwar sowohl beim Unternehmenskauf als auch beim Beteiligungskauf. 53 54

5« So MüllerZHR 147 (1983), 537ff., 539; ders. ZIP 1993, 1045, 1053; ders. ZIP 2000, 817, 823 ff.; ebenso jetzt auch Huber AcP 202 (2002), 179, vor allem S. 211 ff.

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allein im Unternehmen begründete Umweltbeziehungen handelt und daß Bilanzfehler regelmäßig auf einem Verstoß gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung beruhen. Man kann daher mit Fug und Recht behaupten, daß in den pathologischen Fällen eigentlich nur die bei den Vertragsverhandlungen zum Zweck der Wertermittlung des Unternehmens vorgelegten Bilanzen der letzten Geschäftsjahre fehlerhaft seien und nicht das verkaufte Unternehmen selbst. 57 Werden der oder die Bilanzfehler korrigiert, so gibt es nichts, was dieses noch als fehlerhaft erscheinen lassen könnte. Die Rechtslage kann daher nicht mit den Fällen verglichen werden, in denen es sich bei dem aufgrund eines Gutachtens verkauften Gemälde um eine geschickte Fälschung handelt. 58 Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß ein Unternehmen, um „fehlerfrei" zu sein, über eine Reihe von bestimmten sachlichen und rechtlichen Beschaffenheitsmerkmalen verfügen müsse und dazu vor allem auch die bisherigen Umsätze und Erträge gehörten. Denn es gibt eben keine „Normalbeschaffenheit" eines Unternehmens, die unter Heranziehung des objektiven Fehlerbegriffs zur Begründung der Sachmängelhaftung herangezogen werden könnte. Der Unternehmensverkäufer darf daher im allgemeinen erwarten, daß der Käufer bei den Vertragsverhandlungen deutlich erklärt, auf was es ihm besonders ankommt. 59 Unterläßt er dies, darf nicht so getan werden, als seien die Geschäftsergebnisse der letzten Jahre - wenn auch nur stillschweigend - zum Vertragsinhalt gemacht worden und damit Gegenstand einer „Beschaffenheitsvereinbarung" gemäß § 434 BGB (früher § 459 Abs. 1 BGB). 6 0 Es stellt daher keineswegs eine Verkennung des subjektiven Fehlerbegriffs in seiner reinsten Ausprägung dar, wenn das Reichsgericht61 eine Gewährleistungshaftung des Unternehmensverkäufers grund57 Müller ZIP 1993,1045,1053: „Fehlerhaft ist... allein die Kalkulationsgrundlage"; siehe auch Huber AcP 2002 (2002), 179, besonders deutlich S. 213 Fn. 116 a.E. 58 Vgl. etwa BGHZ 63, 369, 371 ff.; BGH NJW 1980, 1619ff., jeweils zu ähnlichen Fällen. 59 So Huber AcP 202 (2002), 179, 21 Iff. Dies entspricht im Kern der reichsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. vor allem RGZ 63, 57 und RGZ 67, 86), die für eine Gewährleistungspflicht des Unternehmensverkäufers grundsätzlich eine „deutliche" Zusicherung i.S.d. § 459 Abs. 2 BGB verlangte; siehe auch Hommelhoff Die Sachmängelhaftung beim Unternehmenskauf, 1975, passim. 60 Huber AcP 202 (2002), 179, 212f.: „Bei Unternehmen gibt es diese Standardbeschaffenheit überhaupt nicht". Wie schon erwähnt, kann die Parteivereinbarung nicht allein über die Anwendbarkeit der Sachmängelvorschriften entscheiden, siehe aber S t e r i n Festschrift 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 381, 390; Immenga AcP 171 (1971), 1, 9ff.; vgl. ferner Staudinger/HonsellBGB, 13. Bearb. 1995, § 459 Rn. 35ff.; MünchKommBGB/ Westermann BGB, 3. Aufl. 1993, § 459 Rn. 18. 61 Siehe insbesondere RGZ 63, 57 und RGZ 67, 86 (vgl. dazu auch Fn. 59): Wenn das Reichsgericht insoweit zwischen zusicherungsfähigen „Eigenschaften" gemäß § 459 Abs. 2 BGB a.F. und bloßen „Beschaffenheitsmerkmalen" i.S.d. § 459 Abs. 1 BGB a.F. unterschieden hat, statt das Erfordernis einer „echten" Zusicherung des Verkäufers in den Vordergrund zu rücken, so mag dies auf den ersten Blick den Eindruck einer „objektiven" und

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sätzlich nur in den Fällen einer deutlichen Zusicherung gemäß § 459 Abs. 2 BGB a.F. bejaht und der Bundesgerichtshof diese Rechtsprechung im Grundsatz fortgeführt hat. Allerdings wird dieses diffizile Problem durch die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs favoritisierte „culpa-Lösung" nur bedingt gelöst. Insoweit sollte man sich nämlich - anders als Ulrich Huber''1 meint von dem Verschuldenserfordernis nicht allzu viel versprechen. Dies gilt jedenfalls so lange, wie einige Zivilsenate des Bundesgerichtshofs in den Fällen der culpa-Haftung dem Schädiger die Darlegungs- und Beweislast dafür auferlegen, daß die falschen oder unvollständigen Angaben keinen maßgebenden Einfluß auf den Willensentschluß des Vertragsgegners hatten. 63 Darüber hinaus neigt die höchstrichterliche Rechtsprechung64 - wie schon erwähnt - namentlich im Bereich des Unternehmens- und Anteilskaufs dazu, an den Verschuldensnachweis nicht immer die notwendigen strengen Anforderungen zu stellen. Dies stellt aber die „culpa-Lösung" des Bundesgerichtshofs nicht generell in Frage. So wäre relativ leicht zu begründen, daß der Unternehmens- oder Anteilskäufer aufgrund der besonderen Verhältnisse im einzelnen dartun und beweisen muß, daß er den Vertrag ohne die irreführenden Bilanzangaben entweder gar nicht oder mit einem anderen Inhalt geschlossen hätte. 65 Ferner hängt es naturgemäß von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab, ob der Unternehmens- oder Anteilsverkäufer sich den bzw. die Fehler des Bilanzerstellers gemäß § 278 BGB zurechnen lassen muß oder er sie bei Vertragsschluß normalerweise kennen mußte. Dagegen ist eine Kollision der „culpa-Lösung" mit dem in den neuen Regelungen des § 439 BGB angelegten Anspruch des Verkäufers zur Nachbesüberholten Fehlerbegriffsbestimmung erwecken. Da man offensichtlich ohnehin nur von einer entsprechenden Anwendbarkeit der §§ 459ff. BGB a.F. auf den Unternehmenskauf ausging, hätte es jedenfalls näher gelegen, ausschließlich die Regelungen des § 459 Abs. 2 BGB a.F. wegen des Erfordernisses einer Zusicherung des Verkäufers für entsprechend anwendbar zu erklären. Eine andere Frage ist freilich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn man einen Analogieschluß ganz abgelehnt und in den Fällen der „Zusicherung" bzw. „Garantie" des Unternehmens- oder Anteilsverkäufers statt dessen auf die allgemeinen Regeln des selbständigen (besonderen) Garantievertrages i.S.d. §§ 241, 305 BGB a.F. mit der dreißigjährigen Regelverjährung des § 195 BGB a.F. zurückgegriffen hätte. 62 Huber AcP 202 (2002), 179, 215 ff., der in diesem Zusammenhang davon spricht, daß die „culpa-Haftung des Verkäufers ... als vermittelnde Lösung" bleibt. 63 Siehe die Nachweise in Fn. 15 und 19. 64 Siehe die Nachweise in Fn. 22 und 23. 65 Siehe etwa OLG Hamburg ZIP 1994, 944ff.: Das OLG konnte nicht mit der gebotenen Sicherheit feststellen, daß der vom Käufer behauptete Bilanzfehler für den Abschluß des Kaufvertrages zu den vereinbarten Bedingungen ursächlich war. Es ist fraglich, ob der BGH eine solche in der Revisionsinstanz nur beschränkt überprüfbare tatrichterliche Würdigung angesichts der von ihm angenommenen Umkehr der Darlegungs- und Beweislast für rechtlich unvertretbar erachten würde.

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serung oder Lieferung einer fehlerfreien Sache ausgeschlossen. Fehleinschätzungen des Käufers infolge falscher oder unvollständiger Bilanzen und dergleichen lassen sich durch eine „Nacherfüllung" nicht aus der Welt schaffen. 66 Auch daran zeigt sich im übrigen, daß vermeintlich erzielte Umsätze und Erträge oder andere Bilanzfehler nicht zur sachlichen bzw. rechtlichen Beschaffenheit des Unternehmens gehören und daher keine Gewährleistungshaftung gemäß § 434 BGB auszulösen vermögen. Schließlich sollte man auch der These, daß die neuen Gewährleistungsfristen des § 438 BGB der rechtspolitisch gefärbten „culpa-Lösung" die Grundlage entziehen, mit Vorsicht begegnen. Zwar wird die neue Verjährung von regelmäßig zwei Jahren gewöhnlich zur Durchsetzung der Gewährleistungsansprüche ausreichen. Dies muß aber nicht unbedingt auch für versteckte Bilanzfehler gelten, die der Käufer erfahrungsgemäß häufig erst nach vielen Jahren entdeckt. 67 Der Verkäufer, dem ein echtes Verschulden zur Last fällt, wird durch die im Rahmen der culpa-Haftung obligatorische neue dreijährige Regelverjährung des § 195 BGB auch nicht unzumutbar belastet. Daß sie erst mit Kenntnis des Käufers vom Bestehen des Schadensersatzanspruchs beginnt (§§ 195, 199 BGB), mag zwar für ihn lästig sowie der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in gewisser Weise abträglich sein. Hält man sich vor Augen, daß die alte Regelverjährung des § 195 BGB dreißig Jahre betrug und zu einer „Endloshaftung" des nur fahrlässig handelnden Verkäufers führte, so sind diese Belastungen aber zu vernachlässigen. d) Ausblick Insgesamt gesehen ist nach dem Vorgesagten nicht zu erkennen, daß der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zur Haftung des Unternehmensverkäufers für falsche Umsatz-, Ertrags- und Bilanzangaben unbedingt ändern müßte. Sollte er es dennoch tun, müßten konsequenterweise alle die Kaufsache betreffenden Umweltbeziehungen „im weiteren Sinne" zu den Beschaffenheitsmerkmalen gemäß § 434 BGB gezählt werden. 68 Außerdem 6 6 So auch ausdrücklich Huber AcP 202 (2002), 179,232. Ein „Nachbesserungsrecht" des Unternehmenskäufers gemäß § 437 Nr. 1 B G B n.F. habe bisher wohl wirklich noch niemand vermißt; es handele sich für den Käufer um einen von vornherein „ungeeigneten Rechtsbehelf". Zu den möglichen Gegenständen eines Nachbesserungsrechts des Unternehmenskäufers, siehe Hommelhoff Die Sachmängelhaftung beim Unternehmenskauf, 1975, S. 112; vgl. auch dens. Z H R 140 (1976), 271, 299. 6 7 Zutreffend und überzeugend Huber AcP 202 (2002), 179, 233 f.: „Die Erfahrung lehrt, daß es bei Bilanzfehlern durchaus längere Zeit dauern kann, bis der in der Bilanz verborgene „stille Verlust" aufgedeckt wird". 68 So gibt es z . B . keinen sachlichen Grund, der es rechtfertigt, den Verkäufer eines Geschäfts- oder Miethauses für falsche bzw. unvollständige Ertragsangaben nach Gewährleistungsrecht und damit in den zeitlichen Grenzen des § 438 B G B , den Unternehmensver-

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käme im Bereich des Verkaufs von GmbH-Anteilen ein weiteres Problem hinzu: Nach Ansicht der höchstrichterlichen Rechtsprechung 69 setzt die Gleichstellung von Unternehmens- und Anteilskauf grundsätzlich den Verkauf aller oder nahezu aller Geschäftsanteile voraus. Der Anteilsverkäufer hat daher im Regelfall nicht für Fehler des von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens nach Gewährleistungsrecht (§§ 459 ff. BGB a.F.) einzustehen. Dennoch haftet der Verkäufer von GmbH-Anteilen in den Fällen unrichtiger Angaben über den Wert des Unternehmens häufig im Ergebnis „wie" ein Unternehmensverkäufer. Dies liegt nicht nur daran, daß die §§ 459 ff. BGB a.F. nach Ansicht des Bundesgerichtshofs beim Unternehmenskauf nur beschränkte Anwendung finden und die Regeln der culpa in contrahendo eindeutig im Vordergrund stehen. Vielmehr ist letztlich entscheidend, daß die dem Käufer bei den Vertragsverhandlungen vorgelegten falschen oder unvollständigen Bilanzen des Steuerberaters bzw. Wirtschaftsprüfers grundsätzlich sowohl dem Unternehmensverkäufer als auch dem Anteilsverkäufer gemäß § 278 BGB zugerechnet werden, und zwar offenbar ohne Rücksicht auf die Größe der verkauften Beteiligung. 70 Für den Anteilskäufer ist es unter Umständen sogar wesentlich günstiger, wenn der Anteilskauf bei wirtschaftlicher Betrachtung nicht wie ein Unternehmenskauf - und damit wie ein Sachkauf - behandelt wird. Denn abgesehen davon, daß beim Anteilskauf - wie überhaupt beim Rechtskauf - ein Ausschluß der culpa-Haftung wegen des Spezialcharakters des § 459 Abs. 2 BGB a.F. von vornherein nicht in Betracht kommt, 71 finden in den Fällen der Garantieübernahme des Verkäufers hinsichtlich der „Ertragskraft" bzw. „Ertragsfähigkeit" des Unternehmens der Gesellschaft nicht Gewährleistungsrecht, sondern die Regeln des selbständigen (besonderen) Garantievertrages mit der für den Käufer weitaus günstigeren Regelverjährung Anwendung. 72 käufer dagegen wegen fahrlässiger culpa in contrahendo und u.U. gemäß §§ 195, 199 BGB wesentlich länger haften zu lassen. Auch macht es keinen Sinn, „Ertragszusicherungen" oder dergleichen in dem einen Fall dem Gewährleistungsrecht und in dem anderen den allgemeinen Regeln des selbständigen (besonderen) Garantievertrages mit der wesentlich längeren Verjährung zu unterstellen. 6 9 Siehe etwa BGHZ 65,246ff.; BGH WM 1969,67; WM 1975,230; WM 1978, 59; BGHZ 85, 367, 370 = ZIP 1983, 74; BGHZ 138, 195, 204 = ZIP 1998, 908, 911 f.; dazu eingehend Müller ZIP 2000, 817ff. m.w.N. auch zu den verschiedenen Lösungsvorschlägen in der Literatur. 70 Grundlegend BGH WM 1976, 10, 12 (insoweit in BGHZ 65, 246ff. nicht abgedruckt); siehe auch die Nachweise in Fn. 22. 71 Siehe dazu Müller ZIP 2000, 817, 823. 72 Müller ZIP 2000, 817, 823. Dieser ins Auge springende Wertungswiderspruch läßt sich am besten dadurch vermeiden, daß vermeintlich erzielte Erträge und Umsätze oder unzulässige Wertangaben in den vor Vertragsschluß vorgelegten Bilanzen der letzten Jahre grundsätzlich nicht zur sachlichen bzw. rechtlichen Beschaffenheit des Unternehmens gezählt werden und daher nicht dem Gewährleistungsrecht unterfallen.

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Wer vor diesem Hintergrund für eine „große Gewährleistungslösung" plädiert, darf sich davon nicht zu viel versprechen. Zwar sind nach den neuen Regelungen des § 453 BGB die Vorschriften über den Sachkauf auch auf den Rechtskauf anzuwenden. Daraus ist aber nicht zu schließen, daß ein Fehler des Unternehmens der Gesellschaft nach neuem Recht automatisch einen Fehler des verkauften Geschäftsanteils darstellt. "Wer solches ernsthaft behauptet 73 , übersieht, daß § 453 BGB keine Haftung des Verkäufers für die sachliche oder rechtliche Beschaffenheit der Sache anordnet, auf die sich das veräußerte Recht unmittelbar oder mittelbar „bezieht". Es bleibt daher dabei, daß Sach- oder Rechtsmängel des durch die Beteiligung vermittelten Gesellschaftsvermögens nur dann vom Käufer geltend gemacht werden können, wenn bei wertender Betrachtung ein Unternehmenskauf und nicht nur ein Rechtskauf vorliegt. 74 Es wäre auch absurd, anzunehmen, daß etwa der Kleinaktionär nach dem Willen des Gesetzgebers gemäß § 453 BGB für Rechts- oder Sachmängel des Unternehmens wegen Nicht- oder Schlechterfüllung des Kaufvertrages auf Schadensersatz haften soll. Sollte sich der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs im Bereich des Unternehmenskaufs der „weiten Gewährleistungslösung" anschließen und bleibt es bei der stereotypen Zurechnung des Verstoßes des Bilanzerstellers gegen die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung gemäß § 278 BGB, 7 5 so lassen sich Wertungswidersprüche kaum vermeiden. Denn während der Unternehmensverkäufer unter diesen Umständen für falsche oder unvollständige Ertrags-, Umsatz- und Bilanzangaben oder dergleichen gemäß § 434 BGB haftet und insoweit die zweijährige Verjährungsfrist des § 438 BGB gilt, haftet der Anteilsverkäufer nach den Regeln der culpa in contrahendo und der regelmäßig erst mit Kenntnis des Haftungstatbestandes beginnenden dreijährigen Regelverjährung des § 195 BGB n.F. Dabei sollte eigentlich der Unternehmenskäufer - und nicht der Anteilskäufer - gegenüber dem Verkäufer über die bessere Rechtsposition verfügen. 76

V. Schlußbetrachtung O b der V. und VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs ihre Rechtsprechung hinsichtlich des Verhältnisses der kaufrechtlichen Sachmängelhaftung und der Haftung des Verkäufers aus culpa in contrahendo aufgrund des neuen Gewährleistungsrechts ganz oder teilweise ändern werden, läßt sich 73 Vgl. Wolf/Kaiser DB 2002, 411, 416f.; Gaul ZHR 166 (2002), 35, 39; Gronstedt/Jörgens ZIP 2002, 52, 55. 74 So auch Jaques BB 2002, 417; eingehend Huber AcP 202 (2002), 179, 229ff.; vgl. auch Wertenbruch Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 493, 505 ff., vor allem S. 508. 75 Siehe dazu die Nachweise in Fn. 22. 7« Vgl. Müller ZIP 2000, 817, 823.

Abschied von der culpa-Haftung des Verkäufers

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nicht voraussehen. Jedenfalls ist aber an der vom V. Zivilsenat in BGHZ 60, 319ff. begründeten „Seegrundstück-Doktrin" festzuhalten. Auch unter Geltung des weit gefaßten § 434 BGB ist es nicht zulässig, den Verkäufer für einen Irrtum des Käufers über die Beschaffenheit der Kaufsache einstehen und wegen fahrlässiger culpa in contrahendo auf Schadensersatz haften zu lassen. § 434 BGB entfaltet insoweit - genauso wie § 459 BGB a.F. - gegenüber der vorvertraglichen Verschuldenshaftung „Sperrwirkung", sofern es der Käufer - aus welchen Gründen auch immer - versäumt hat, den Verkäufer mit Hilfe einer ausdrücklichen oder konkludenten Beschaffenheitsvereinbarung zu binden oder zumindest den deutlichen Versuch einer BeschaffenheitsVereinbarung zu unternehmen. Was die sogenannten Grenzfälle anbetrifft, so mag zwar auf den ersten Blick einiges dafür sprechen, daß der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zum Verhältnis der Sachmängelhaftung des Verkäufers gegenüber der Haftung wegen fahrlässiger culpa in contrahendo ändern und künftig auch bestimmte Umweltbeziehungen „im weiteren Sinne" - wie z . B . Umsätze und Erträge - zu den Beschaffenheitsmerkmalen der Kaufsache im Sinne des § 434 BGB zählen wird. Bei näherem Hinsehen wäre dies aber ein Schritt in die falsche Richtung. Es stellt nämlich eine künstliche Erweiterung der Sachmängelhaftung dar, derartige Umstände und Verhältnisse im Ergebnis wie „echte" Beschaffenheitsmerkmale der Kaufsache zu behandeln. Außerdem wird sich im Zweifel nicht mit der gebotenen Sicherheit feststellen lassen, ob im konkreten Einzelfall wirklich eine stillschweigende Beschaffenheitsvereinbarung der Parteien hinsichtlich der betreffenden Umweltbeziehung „im weiteren Sinne" vorliegt. Der Bundesgerichtshof sollte daher die Gesetzesänderung zum Anlaß nehmen, in den besagten Grenzfällen überhaupt mehr auf das Gewährleistungsrecht zurückzugreifen.

Über Erscheinungsweisen von Rechtsschein HANS PETER

PECHER""

Es soll einem Meister der eindeutigen und unmißverständlichen Rechtssprache der Versuch gewidmet werden, einer Floskel, die in einer sich zunehmend kraftloser in Schlagwörtern erschöpfenden höchstrichterlichen Rechtsprechung ihr koboldhaftes Unwesen treibt, beizukommen. 1) Die Rede vom „Rechtsschein" entstammt der notwendigen, aber verspätet aufgekommenen Gegenwehr gegen die als „Willenstheorie" bezeichnete emanzipatorische Rechtsideologie des bürgerlichen Selbstbewußtseins, das rechtsgeschäftliche Gebundenheit nur zulassen mochte, wenn und „weil sie gewollt" sei, und damit dem „Spruch der Rechtsordnung" nur die Aufgabe der „Anerkennung" des Privatwillens zugestand.1 Damit hat sich die auf eine Verständigung im Freiheitsraum individueller Willensentfaltung reduzierte Dogmatik des Vertrages der Orientierung an einem vorgegebenen und übergeordneten objektiven Recht, in dessen Ordnung der rechtsgeschäftliche Wille eintritt und sich einzufügen hat, entschlagen. Dem Instrumentarium der Rechtsgeschäftstheorie verlorengegangen sind dadurch mit der objektiven Ordnungsfunktion des Rechtsgeschäfts auch die in Jahrhunderten errungenen, zur Rechtsanwendung hinführenden Strukturbegriffe des Vertragsrechts (die essentialia oder substantialia, die naturalia und die accidentalia negotii) 2 , die von der Aufnahme in eine allgemeinverständliche Rechtssprache ausgeschlossen geblieben sind. Deren Regelungsleistung muß seither auf einem konstruktiven Umweg, für den sich der Name „Erklärungstheorie" ergeben hat, zurückgewonnen werden. Und zwar soll auf den Krücken einer angeblichen „Auslegung" des Erklärungstatbestandes, dem auch ein stillschweigender oder zu vermutender Parteiwille zugeschlagen wird, der rechtsgeschäftliche Gestaltungsbeitrag des Erklärenden auf die Sicht des Adressaten uminterpretiert werden, die ihrerseits nicht vorrangig * Mainzer Fakultätskollege des Jubilars seit 1983. 1 Die klassische Formel findet sich in Mot. zum BGB I, S. 126. 2 Dazu Flume, Allg. Teil, § 6, 2, § 33, 6c; Windscheid, Pandekten I, § 85. - Als Beispiel: Lauterbach/Schütz, Compendium Juris, 5. Aufl. 1694, Liber XVIII, Tit.l: „Substantialia ... contractus sunt, quae ad eius constitutionem necessario requirunt. - Naturalia sunt, quae contractum perfectum naturaliter concomitantur, eique insunt. - Accidentalia in specie sunt, quae ultra substantialia et naturalia, libera contrahentium voluntate ... accedunt."

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von diesem bestimmt, sondern den Maßstäben des beiden Beteiligten von der Rechtsordnung zugestandenen Vertrauensschutzes untergeordnet wird. Mit der darin in Wahrheit versteckten Hineinlegungsmethode läßt sich zwar traditionelles Rechtsverständnis als selbstverständlich mitgewollt in den Regelungssinn eines Vertrages einbeziehen. Doch fehlt der um ihre früheren Errungenschaften gebrachten Dogmatik nunmehr die Rechtfertigung für eine Umsetzung fortentwickelter Verkehrsanschauungen in objektives Recht, das seinen Ausdruck nicht in einem rechtsgeschäftlichen Parteiwillen finden kann, sondern seine originäre Geltung in neuen oder in ihren Elementen abgewandelten Regelungstypen des Vertragsrechts erhält. Ihren Ursprung hat „die Rechtsscheintheorie" 3 in regelungstechnisch eng begrenzten Konflikten des Wertpapierrechts, deren Entscheidungsergebnisse sich bereits aus dem Zusammenhang der Umstände ergeben und die dafür nur noch einer nachvollziehbaren Erklärung bedürfen. Die Rede vom Rechtsschein hat somit nur die Aufgabe, feststehende oder sich aus vorrangigen objektiven Gründen ergebende Rechtsfolgen besser als andere Erklärungsversuche verständlich zu machen. Eben dafür aber kann sie, wollte man sich auf ihren Aussagewert verlassen, nur als irreführend befunden werden. Kann doch die Vorstellung von Scheinrechten, von einem Schein von Rechtsfolgen oder von einem Anschein rechtserheblicher Tatbestände kaum zur Darstellung anwendbarer materieller Rechtsnormen beitragen. 4 Letztlich ist der Rechtsscheingedanke als dogmatische Gegenposition zu der die obersten Werte des Privatrechts für sich in Anspruch nehmenden Willenstheorie deren Tabus und Denkverboten unterworfen geblieben und deshalb ohne eigenständigen positiven Inhalt. Gleichwohl haben sich die gegen die Einseitigkeit und den Verlust am objektiven Ganzen der Rechtsgeschäftsordnung gerichteten Gegenbewegungen nicht nur als berechtigt, sondern auf den eingeschlagenen Umwegen auch als überaus erfolgreich erwiesen. Inzwischen findet sich der Verzicht auf das konstitutive Erfordernis der wirklichen Willensbestimmung offen ausgesprochen 5 ; und damit ist die Rechtsgeschäftstheorie bei der nach der Willenstheorie undenkbaren fahrlässigen Willenserklärung angekommen. Der Erklärende hat auch für sich selbst einzustehen wie für Erfüllungsgehilfen. Rechtsgeschäft ist jedes seinem Urheber zurechenbare Verhalten, dessen Mitteilungswert in einem Adressaten das berechtigte Vertrauen in eine rechtsverbindliche Inhaltsbestimmung erweckt. Aus der Sicht des objektiven Rechts ist mithin Regelungsgegenstand der tatsächliche Gesamtzusammenhang von Verhalten und Unterlassen 6 Von der Rechtspraxis zuerst in Betracht gezogen von RGZ 134, 33, 35. Auch nicht in der Floskel, „der Rechtsschein" könne dieselben Wirkungen auslösen wie „die Rechtswirklichkeit" (RGZ 145, 155, 159). 5 BGHZ 91, 324. 6 Beispiele: BGH MDR 1953, 345 = LM § 167 BGB Nr.4; RGZ 105. 183, 185; BGH NJW 1991, 1225. 3

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eines Teilnehmers am rechtsgeschäftlichen Verkehr und der individuelle Gestaltungswille davon nur ein Element. Für das reduzierte Darstellungsvermögen der Willenstheorie, die sich dem in Wahrheit schon immer letztlich hat fügen müssen, bleibt nur die Anerkennung auch eines Scheins oder Anscheins von Willenserklärungen. 7 2) Einen gesicherten Platz scheint die Rechtsscheintheorie aber im Recht der Stellvertretung gefunden zu haben. Hier hat sich die Willenstheorie in der allein dem Willen des Geschäftsherrn untergeordneten (§ 164 Abs.l S. 1 BGB) und allein auf der Erteilung gegenüber dem Vertreter beruhenden (§§ 167 Abs.l, 168 S. 3) Innenvollmacht ein theoriegeborenes Eigengewächs geschaffen, das nach Wirksamkeit und inhaltlicher Tragweite nicht aus dem Empfängerhorizont dessen, den ein Gebrauchmachen von der Vertretungsmacht angeht, auf eine vorgegebene Verantwortlichkeit des Vollmachtgebers zurechtgebogen werden kann. Freilich bietet das Gesetz für die Bevollmächtigung auch noch ein weiteres Instrument 8 , das die Zurechnung von Vertreterhandeln im direkten Verhältnis durch eine an den Geschäftspartner gerichtete Erklärung bestimmt (§§ 167 Abs.l, 170). Eine solche Außenvollmacht kommt dem Interesse eines Geschäftspartners schon deshalb entgegen, weil ihr als Legitimation für den Bevollmächtigten vernünftigerweise nur ein verallgemeinernder Handlungsrahmen zugrundegelegt werden kann, der dem Vertreter eine der Geschäftsart und seiner Tätigkeit angemessene Entscheidungsbefugnis zuweist und ihm damit ein dem Geschäftspartner zugutekommendes „Können" verschafft, hinter dem interne Weisungen des Geschäftsherrn und damit eine Beschränkung des „Dürfens" zurücktreten. Dem hätte als „selbständige Bevollmächtigung" nach der „Auffassung des Lebens wie nach der vernünftiger Weise anzunehmenden Absicht des Vollmachtgebers" die Ausstattung des Vertreters mit einer Vollmachtsurkunde, die er dem Geschäftspartner „zum Nachweise" seiner Bevollmächtigung „vorlegt", gleichgestellt werden können; 9 und zwar auch schon ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung. Doch hat es der Gesetzgeber letztlich für gut befunden, der dem zugrundeliegenden und vorausgegangenen Bevollmächtigung im Innenverhältnis einen vorrangigen Platz zuzuweisen und die urkundliche Kundgabe der Vollmacht nicht daneben und zusätzlich als einen rechtsgeschäftlich selbständigen und in seiner Wirksamkeit allein aus dem Verhältnis zwischen Geschäftsherrn und intendiertem Geschäftspartner bestimmten „Dispositivakt" anzuerkennen, sondern ihr einerseits nur einen Mitteilungswert (§§ 171,172 BGB) „über eine in der Vergangenheit lie-

Womit sie sich selbst widerlegt und aufgibt. - W. H. Von „zwei Vollmachtssystemen" spricht Rudolf Leonhard, Allg. Teil des BGB, 1900, S. 323. 9 So BGB E.I §§ 120f. und dazu Mot.I, S. 237f. 7 8

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gende Tatsache" zuzubilligen, sie aber andererseits gleichwohl „als Bevollmächtigung gelten" zu lassen 10 , und zwar kraft Gesetzes mit der „vollen Rechtswirkung der Vollmachtserteilung" 11 . Man braucht hierin nur eine theoretische Konstruktion in Gesetzesform zu sehen, die ohne Schaden für richtige Rechtsfindung als unrichtig hätte abgetan werden können. 12 Doch hat sich hieran in dem Bedürfnis, rechtsgeschäftliche Folgen auch willenstheoretisch unzureichenden Tatbeständen beizumessen, eine angeblich „entsprechende Anwendung" 13 angeschlossen, die nach und nach zu einer „Allgemeinen Rechtsscheinhaftung"14 und zur Annahme völlig neuer „Rechtssätze" 15 ausgewachsen ist. Eben weil diese aber aus ihrer Herkunft keine gesicherte Orientierung mitbringen kann, bleibt sie der Frage ausgesetzt, worum es sich nach Tatbestand und Rechtsfolge überhaupt handelt. Gerade auf dem Feld der Urkunden-Blankette, auf dem die Rechtsscheintheorie für sich den am besten gefestigten Stand behauptet, nimmt sich ihre Darstellung so fern allen wesentlichen Erfordernissen rechtsgeschäftlicher Zurechnung aus wie eine gesetzliche Gefährdungshaftung für von Sachen verursachten Schaden. Wer ein Blankett mit seiner Unterschrift „aus der Hand gebe", müsse den durch dessen Ausfüllung geschaffenen Inhalt einem gutgläubigen Dritten gegenüber als seine Erklärung gegen sich gelten lassen, unabhängig davon, ob der vervollständigte Text seinem Willen entspreche oder nicht. 16 Während in älteren Entscheidungen 17 stets noch der Fall selbst unmißverständlich verdeutlicht, daß und unter welchen Umständen es sich nach übergeordneten Erfordernissen einer „Sicherheit des Verkehrs" um die Verantwortlichkeit für den eigenen Geschäftskreis handelt, vermitteln die zu einem angeblichen Grundsatz eingekürzten Schlagwörter der neuen Formel nicht einmal mehr einen zuverlässigen Tatbestandsbezug und auch keinen Anschluß an die Erwägungen und Einsichten früherer Rechtsprechung. Bei der „Anwendung" von „Grundsätzen über das Entstehenlassen eines Rechtsscheins oder derjenigen über den sogenannten Vertrauensschutz" 18

Prot.I, S. 146. - Dem in der Konstruktion folgend RGZ 108, 125, 127f. RGZ 56, 63, 67 - Von einem „den Vertretenen bindenden Rechtsschein einer wirksamen Bevollmächtigung" ist in BGHZ 102, 60, 62 f., 64, die Rede. 12 Von einem MißVerständnis spricht Flume, Allg.Teil, § 49, 2c; grundsätzlich kritisch auch Pawlowski, JZ 1996, S. 125, 127. - Man vergleiche demgegenüber den begrifflichen Aufwand, der erforderlich ist, wenn eine im Innenverhältnis unwirksame Vollmacht im Außenverhältnis nach Rechtsscheingrundsätzen als „gleichwohl" gültig „behandelt" werden soll (BGH NJW 2003, 2088, 2089 zu II lc und 2091 f. zu II 2). 13 BGHZ (Fn.15). 14 BGHZ 102, 60, 64. 15 BGHZ 40, 65, 68. " BGHZ 132, 119, 127: Bürgschaftsblankett (unter Berufung auf BGHZ 40, 65, 68). 17 Beispielhaft: RGZ 138, 265, 269. 18 So (noch mit Vorsicht) RGZ 170, 281, 284. 10

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kann es nur um die Zurechnung des „Handelns von Personen" 19 nach Kriterien gehen, die Unterscheidungen nach der von diesen eingenommenen Rolle erbringen. Solche Kriterien müssen sich dem althergebrachten und im Rechtsverständnis tief verwurzelten Grundsatz einfügen, nach dem „der Herr" (dominus, Prinzipal, Geschäftsherr) für „seine Leute" (Gesinde, Gehilfen, Repräsentanten) einzustehen hat wie für sich selbst. Uber die Art der Nähebeziehung, die Tragweite der Verantwortlichkeit20 und deren Grenzen bestimmt die Regelbildung des objektiven Rechts in gleicher Weise wie über die Zurechnung von Erfüllungsgehilfen, die als naturale negotii nicht allein und auch nicht wesentlich vom Gestaltungswillen des Geschäftsherrn abhängt, wie sich dies zumindest begrifflich bei der Erteilung einer Innenvollmacht verhalten soll. Schon die ihrer Formelpräsentation wegen herausgestellte ältere Entscheidung des BGH 2 1 weist dazu den inzwischen schon wieder übersehenen Weg. Nach einem „weiteren Grundsatz" 22 , der in Wahrheit der vorrangig wesentliche ist, hat der Blankettgeber für einen an der Blankettausfüllung beteiligten Gehilfen nicht einzustehen, wenn dieser als Verhandlungs- oder Abschlußgehilfe des Geschäftspartners „entsprechend § 278 BGB" 2 3 diesem zuzurechnen ist. Das gilt für den Verkäufer, der mit Darlehens-Antragsformularen eines Kreditinstituts die Finanzierung seiner Kaufgeschäfte zu fördern sucht, und kann gar nicht anders sein bei Versicherungsvertretern, die sich mit Formularen eines Versicherers um die Einwerbung von Vertragsabschlüssen bemühen 24 . Nicht nach anderen objektiven Kriterien ist die Zurechnung von Hilfspersonen zum Verantwortungsbereich des Blankettgebers zu bestimmen und dadurch eine Abgrenzung zwischen den rechtsgeschäftlichen Risikosphären der Beteiligten zu finden. Das mag für den an der Ausfüllung eines Bürgschaftsblanketts beteiligten Hauptschuldner schwierig und zumeist zweifelhaft bleiben, zumal sich eine Entscheidung kaum allein daraus ergibt, von welcher Seite der Formulartext des Blankettentwurfs herstammt. In den Grundsätzen aber bietet das traditionelle Kaufmannsrecht Rechtsregeln, die für alle verkehrsüblichen Umstände den Vertrauensschutz im rechtsgeschäftlichen Verkehr sicherstellen. Schon immer waren die „Leute" 25 des Kaufmanns nach der Gesamtheit der kundbar gemachten oder erkennbaren geschäftstypischen Umstände handlungsfähig,

So ausdrücklich RGZ (Fn.17). Auch dazu RGZ (Fn.17). 21 BGHZ 40, 65, 68; präzisiert durch BGH WM 1973, 750. 22 BGH WM 1973, 750, 751. 23 BGH (Fn. 21). 2< BGHZ 107, 322, 324. 2 5 Nur dem Gastwirt sind „seine Leute" bis auf den heutigen Tag verblieben (§ 701 BGB). Der Kaufmannsstand bedurfte schon immer beruflicher Prädikate von bürgerlicher Reputation wie „Faktor, Disponent, Handlungsvorsteher" (Pr.ALR 11,8 § 497). 19

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und der Geschäftsherr dafür verantwortlich. Für den „Ladendiener" tritt dies nur am anschaulichsten hervor. 26 Die Zurechnung der geschäftlichen Tätigkeit von Hilfspersonen zum Verantwortungsbereich eines Geschäftsherrn unterliegt deshalb - und zwar in Entstehungsgründen, Begrenzung und Beendigung - nicht lediglich einem zu erklärenden und widerrufbaren freien Geschäftswillen, sondern einer Gesamtheit von Umständen, die als geschäftsbezogene Tatsachen nach objektiven Rechtsregeln ein Vertrauen in die Übernahme rechtsgeschäftlicher Verantwortlichkeit begründen. Will der Geschäftsherr sich den rechtlichen Folgen solcher Tatsachen entziehen, m u ß er ihrem Kundbarkeitswert, der den Vertrauensschutz rechtfertigt, durch aktives Handeln gegen die daraus erwachsende Wirksamkeit eines Vertreterhandelns entgegentreten. Das gilt nur insbesondere für die Rechtswirkungen von Vollmachtsurkunden. 27 Damit ist die Zurechnung von Vertreterhandeln als Verantwortlichkeit für Personen 28 dem von der ideologisch bedingten Einseitigkeit der Willenstheorie befreiten Verständnis vom Rechtsgeschäft entsprechend wieder in eine die Tatbestände des Geschäftsverkehrs erschöpfende Rechtsfolgenbestimmung zurückgeführt. Der Vertreter, und zwar nicht nur der „gesetzliche" (§ 278 S. 1 BGB), sondern jeder ist stets auch Erfüllungsgehilfe. Das prägt umgekehrt auch die rechtliche Zuweisung von Vertretungsmacht. Da sich aber die materiellrechtliche Dogmatik herkömmlich auf die Vorstellungswelt an sich feststehender Regelungstatbestände beschränkt, kann sie eine wesentliche Dimension der praktischen Entscheidungsaufgabe, die sich nur besonders anschaulich in Konflikten um sogenannte Rechtsscheintatbestände stellt, noch gar nicht erfassen. Ein grundlegender und weiterreichender Vertrauensschutz, der auch schon von vornherein über rechtsgeschäftliches Verhalten bestimmt, ergibt sich erst aus den Regeln der Rechtsfeststellung. 3) „Rechtswirklichkeit" 29 untersteht den Bedingungen der Rechtsverwirklichung und bestimmt sich nicht an sich aus einer Gesamtheit der auf einen vorausgesetzten Tatbestand bezogenen Rechtsfolgen, sondern ist in einer rechtlich geschaffenen Staffelung von Tatbestandsstufen von vornherein auf die Voraussetzungen einer späteren Streitentscheidung abgestimmt. Und zwar ist die Verteilung der Beweislast Instrument und damit auch schon Bestandteil der materiellen Rechtszuweisung, in der ein dem Geschäftsverkehr zugesprochener Vertrauensschutz wirksam wird. Das gilt nicht nur für die von Rechts wegen nach Regel und Ausnahme („wenn

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Pr.ALR 11,8 § 546; ADHGB Art. 50; HGB § 56. So schon ROHGE 16, 337: zu deren Geltung und Fortwirkung. - S. i.ü. OLG Dresden OLGE 35, 314 f. 28 S. noch einmal oben bei Fn. 18. 29 S. noch einmal Fn. 4. 27

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n i c h t . . . es sei denn, daß") gegliederten Inhalte vertraglicher Rechtsfolgenbestimmung, sondern auch für die den Beteiligten freistehenden Gestaltungsformen. Wer auf schriftförmiger Fixierung von Erklärungen oder Vereinbarungen besteht, oder sich darauf einläßt, verschafft sich dadurch Rechtsvorteile oder setzt sich Erfolgsrisiken aus. Eine Urkunde ist nicht nur Ausdruck rechtsgeschäftlicher Willensbestimmung, sondern als deren äußerer Anschein auch Grundlage einer Rechtsvermutung. Sie steht für die Richtigkeit ihres Inhalts und damit für die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen. 30 Es ist deshalb zwischen der „verpflichtenden" und der „beweisenden" Funktion einer Erklärungsurkunde zu unterscheiden. 31 Nimmt ein Beteiligter aufgrund weiterer, nicht urkundlicher Umstände oder eines anderen Verständnisses ihres Mitteilungswerts für sich andere Rechtswirkungen in Anspruch, hat er dafür den Gegenbeweis zu erbringen. 32 Dies gilt nur insbesondere für Vollmachtsurkunden. Ein Geschäftspartner, mit dem unter Vorlegung einer Vollmachtsurkunde abgeschlossen wird, „darf den gesetzlich präsumtiven Umfang der Vollmacht voraussetzen" 33 ; die Kenntnis von Umständen, die einem Vertrauensschutz die Grundlage entziehen, ist ihm nachzuweisen (§ 173 BGB). An denselben Grundsätzen für Beweislast und Beweiserbringung ist auch eine Erklärungsurkunde zu messen, von der streitig ist, ob es sich in Wahrheit um ein von einem Dritten gegen die rechtsgeschäftliche Intention des Ausstellers ausgefülltes Blankett handelt. Blankettausfüllung durch einen Dritten unterliegt als rechtsgeschäftliches Handeln dem Recht der Stellvertretung 34 , bedarf also an sich und letztlich zunächst eines rechtsgeschäftlichen Handelns des Geschäftsherrn durch „Ermächtigung" 35 einer Hilfsperson und ist in ihrer Rechtswirkung auf die Grenzen der erteilten Vertretungsmacht beschränkt. Der Blankettgeber muß also nicht nur „seinen Namen auf ein leeres Blatt Papier geschrieben" und dieses irgendwie aus der Hand gegeben haben, 36 sondern er muß es „einem anderen mit der Ermächtigung übergeben" haben, „eine bestimmte Willenserklärung über den Namen zu schreiben oder schreiben zu lassen". Nur bestimmt sich der Umfang der damit erteilten Vertretungsmacht (die verpflichtende Funktion) nicht nach den einer Innenvollmacht gesetzten Grenzen, sondern, da schon mit dem Blankett ein für Geschäftspartner bestimmter Erklärungstatbestand geschaffen ist, der einer dem Vertreter zur Vorlegung ausgehändigten ° RGZ 85, 322, 326; BGH NJW 2002, 3164 f. So (in aller Klarheit) schon RG2 17, 115, 117. " BGH NJW 2001, 144, 145 zu II 2a. 33 ROHGE 23, 348, 350. 3 4 Auch dazu in unübertrefflicher Klarheit RGZ 17, 115, 117 3 5 So der hier seit jeher übliche Ausdruck für die Bevollmächtigung (s. RGZ, aaO). 3 6 Zu ungenau BGHZ 40, 297, 305, wo nur von einem „in Verkehr gebrachten Blankett" die Rede ist. 3

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Vollmachtsurkunde gleichwertig ist3^ nach dem dafür gesetzlich bestimmten Rahmen für eigene Entscheidungsbefugnisse des Vertreters bis zur selbstverständlichen38 Grenze erkennbaren Mißbrauchs. Darüber hinaus und unabhängig davon kommen aufgrund des einer urkundlichen Erklärung gesetzlich zugewiesenen Vertrauensschutzes wesentliche Beweiserleichterungen hinzu (beweisende Funktion), die sich gegenüber dem an sich rechtsbegründenden Tatbestand als Verkürzung auswirken. Wer sich zur Geltendmachung vertraglicher Rechte auf eine urkundliche Erklärung des Vertragspartners stützt, hat zunächst nur schlüssig darzutun, daß die von ihm behauptete Rechtsfolge sich aus deren Inhalt ergibt. Darüber hinaus trifft ihn nur die Beweislast für die Echtheit der Unterschrift des Ausstellers (§§ 416, 440 Abs.l ZPO). Steht diese fest, ergibt sich daraus die Vermutung der Echtheit des darüberstehenden Erklärungstextes und damit dessen Zurechnung als Erklärung des Ausstellers. Das gilt auch gegen die Behauptung von Blankettmißbrauch oder -fälschung insoweit, als die Beweisvermutung sich auch darauf erstreckt, daß „die nachträgliche Ausfüllung des Blanketts ... inhaltlich dem Willen des Unterzeichners entspricht" 39 . Ihre Widerlegung erfordert den Beweis des Gegenteils.40 Der Blankettgeber muß also gegen den Anschein der urkundlich ausgefüllten Erklärung den Beweis erbringen können, daß ihm überhaupt kein rechtsgeschäftliches Handeln zugerechnet werden kann, ihm also etwa eine Unterschriftenprobe abhandengekommen oder entwendet worden ist,41 oder daß der ihm an sich zuzurechnende Erklärungstext nachträglich verfälscht worden ist, oder daß die Ausfüllung nicht von einer wirksamen Bevollmächtigung gedeckt ist, oder schließlich, daß ein dem Adressaten erkennbarer Vollmachtsmißbrauch vorliegt, der einen Vertrauensschutz nach § 173 BGB ausschließt. Erst dieses Beweisprogramm bezeichnet den Zuweisungstatbestand einer ausgefüllten Blanketturkunde vollständig. Deshalb ist die als Rechtssatz ausgegebene Rechtsscheinformel42 im Wesentlichen unzureichend und also unrichtig. Als Ergebnis der Überlegungen zur sogenannten Rechtsscheinhaftung für aus der Hand gegebene Urkundenblankette sind somit nach dem leitenden Gesichtspunkt zwei unterschiedliche Feststellungen zu treffen, die unab37 So RGZ 81, 257, 260f.: in „entsprechender Anwendung der §§ 171, 172 BGB"; (ähnlich für nachträglich ausgefüllte Vollmachtsblankette Pr.ALR I, 13 § 113). - Danach wäre auch BGHZ 40, 297, als einfacher Fall einer Außenvollmacht und ohne Zuflucht zu einer „Haftung aus verursachtem Rechtsschein" (S. 304) zu entscheiden gewesen. Der rechtsgeschäftliche Tatbestand ergibt sich nicht aus der „Schutzwürdigkeit" (S. 305) des Adressaten; vielmehr entfällt umgekehrt nach § 173 BGB die Rechtsfolge, wenn es dem Adressaten an der Schutzwürdigkeit fehlt. 38 So ausdrücklich RG2 (Fn. 36), S. 261. 39 BGHZ 104, 172, 176. 40 BGHZ (Fn. 38), S. 177. 41 BGHZ 65, 13 (entwendete Vollmachtsurkunde). 42 S. bei Fn. 15.

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hängig voneinander bestehen bleiben müssen, weil sie verschiedenartigen Betrachtungsweisen entstammen. (1) Ist ein Geschäftsherr für eine Hilfsperson als seinen bevollmächtigten Vertreter verantwortlich, so gilt dies für ein von diesem durch Blankettausfüllung zustandegebrachtes Rechtsgeschäft nicht anders als für sonstige von der Vollmacht gedeckte Geschäftstätigkeiten. (2) Ist über ein ausgefülltes Urkundenblankett als Beweismittel für geltendgemachte Rechte zu befinden, so gelten dafür die auch sonst für urkundliche Erklärungen bestehenden Rechtsregeln für Vermutungen und deren Widerlegung. Die Rede vom „Rechtsschein" (davon, was eigentlich nicht sein kann, aber sein muß, und deshalb dafür zu gelten hat) bezeichnet einen wichtigen Fortschritt in dem gegen die Willenstheorie geführten Kampf um die Wiedergewinnung der objektiven Ganzheit des Rechtsgeschäfts. Auf erfolgreich zurückgewonnenem Feld ist sie nur noch Ausdruck dogmatischer Hilflosigkeit.

Die Stiftung zwischen Verwaltungsund Treuhandmodell DIETER

REUTER

I. Die Entwicklung Die Unterscheidung von verwaltungs- und treuhandorientierten Stiftungsrechten ist relativ neu. Zu verdanken ist sie Andreas Richter, der sie in seiner ausgezeichneten rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Studie über „Rechtsfähige Stiftung und Charitable Corporation" als Grundlage der Entwicklung des deutschen Stiftungsrechts einerseits und des anglo-amerikanischen Stiftungsrechts andererseits ausgemacht hat.1 In der Tat ist die Stiftung in Deutschland traditionell nicht privates Rechtssubjekt, sondern entweder ein Sondervermögen der Kirche oder ein Sondervermögen des Staates. Am Anfang steht die Privilegierung der piae causae, die das Stiftungswesen und das Stiftungsrecht über mehr als 1000 Jahre prägte.2 Die sog. Verweltlichung des Stiftungswesens im 18./19. Jahrhundert hat nicht die Zuständigkeit des Kirchenrechts durch die des Privatrechts ersetzt oder doch wenigstens erweitert, sondern neben den kirchlich verwalteten staatlich und vor allem kommunal verwaltete Stiftungen ermöglicht.3 Insbesondere hat sie die Stiftung nicht vom Erfordernis eines gemeinnützigen Zwecks befreit. Die Familienstiftung, der Prototyp der privatnützigen Stiftung, ist ζ. B. im preußischen ALR wie das Familienfideikommiß ein Rechtsinstitut des Familienrechts mit eigener familienrechtlicher Funktion und Legitimation. Sonstige privatnützige Stiftungen hat es nicht gegeben.4 Gewiß hat die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts den Stiftungsbegriff entmaterialisiert. Wie sich im allgemeinen Privatrecht das juristische Interesse von den Zielen und Wirkungen auf die Rechtsformen des gesellschaftlichen Handelns verlagerte, so wurde auch die Stiftung juristisch nicht mehr als dauerhafter Dienst an einem gemeinnützigen Zweck, sondern als Rechtsform dauerhafter Bindung der Verwaltung eines Vermögens an den Willen

Richter Richter 3 Richter 4 ALR II 1

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Rechtsfähige Stiftung und Charitable Corporation, 2001, S. 122 ff., 218 ff. aaO. (Fn. 1), S. 47 ff. aaO. (Fn. 1), S. 65 ff. § 4 §§ 21-46; vgl. Frommhold AcP 117 (1919), 87, 110 ff.

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des Stifters wahrgenommen. 5 Aber weder die Urheber der Verwandlung der Stiftung von einem rechtlich privilegierten sozialen Sachverhalt in eine zweckneutrale juristische Person noch die Väter des BGB haben damit an der Zuständigkeit der öffentlichen Hand für die Zulassung und die Verwaltung von Stiftungen etwas ändern wollen. Für die von Savigny angeführte Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ist es gar keine Frage gewesen, daß nicht nur die Zulassung von Stiftungen, sondern darüber hinaus die von juristischen Personen überhaupt nach öffentlichem Recht zu entscheiden sei. Denn für sie begann die Zuständigkeit des öffentlichen Rechts, sobald ein öffentliches Interesse feststellbar war. Selbst das Familienrecht war für Savigny ein überwiegend dem öffentlichen Recht angehörendes Rechtsgebiet. 6 In den Beratungen zum BGB setzte sich zwar für die Vereine wie schon vorher für die Aktiengesellschaften der Gegenstandpunkt durch. Für die Stiftungen dagegen blieb es bei der überkommenen Sicht. Die Reichstagskommission zur Schaffung eines BGB stellte kurz und bündig fest, das Stiftungsgeschäft gehe weit über die der Privatautonomie sonst gezogenen Grenzen hinaus. Wenn die Rechtsordnung dem Einzelnen die außerordentliche Machtvollkommenheit beilege, eine Vermögensmasse auf unbeschränkte Zeit einem bestimmten Zweck zu widmen, so geschehe dies nicht in Anerkennung seiner Freiheit und seines Eigentums, sondern wegen des dadurch beförderten Nutzens der Allgemeinheit. 7 In den Protokollen der 2. Kommission zur Schaffung eines BGB wird eine Unterscheidung von privatrechtlichen und öffentlichrechtlichen Stiftungen abgelehnt, weil alle Stiftungen Institute seien, die in den wesentlichsten Beziehungen dem öffentlichen Recht angehörten. Die einmal existent gewordene Stiftung sei stets ein Institut des öffentlichen Rechts. 8 Zwar einigte man sich unter Hinweis auf die Unterscheidung zwischen privatrechtlichen Vereinen und öffentlichrechtlichen Körperschaften letztlich darauf, die auf Rechtsgeschäft beruhende Stiftung als privatrechtliche Stiftung zu qualifizieren. 9 Doch hat das die Grundüberzeugung, privatrechtliche und öffentlichrechtliche Stiftungen seien nach ihrer Entstehung mangels materiellen Unterschieds rechtlich gleich zu beurteilen, nicht berührt. Bis Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts galt im größten Teil Deutschlands ohnehin noch das Landesstiftungsrecht des Obrigkeitsstaates, das z.T. - so das preuß. ALR - den Unterschied zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht noch gar nicht kannte, 10 z.T. so das badische Stiftungsrecht - die in den Protokollen favorisierte Ein5 Schulze in Deutsches Stiftungswesen 1977-1988, 1989, S. 29, 32ff.; vgl. auch Reuter in Hopt/Reuter, Stiftungsrecht in Europa, 2001, S. 139, 140. 6 Vgl. Richter aaO. (Fn. 1), S. 87f. 7 Mugdan I, S. 961 f. 8 Mugdan I, S. 657 f. ' Mugdan I, S. 658. 10 Richter aaO. (Fn. 1), S. 85.

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Ordnung der sog. Stiftungen des öffentlichen Wohls in das öffentliche Recht vorweggenommen hatte.11 Aber auch die danach erlassenen sog. modernen Landesstiftungsgesetze setzen z.T. privatrechtliche und öffentlichrechtliche Stiftungen ausdrücklich gleich.12 Dem entspricht die zumindest noch zu Beginn der 70er Jahre herrschende Ansicht, der Staat entscheide über die Genehmigung der Stiftung wie sonst über die Errichtung eines Trägers mittelbarer Staatsverwaltung nach freiem, der gerichtlichen Uberprüfung entzogenem Ermessen13 und übe die Aufsicht über die entstandene Stiftung wie sonst die Aufsicht über Träger der mittelbaren Staatsverwaltung als Fachaufsicht aus.14 Die Gegenbewegung hat mit dem 44. Deutschen Juristentag 1962 und dort insbesondere mit dem Referat Mestmäckers eingesetzt, der in Anlehnung an den anglo-amerikanischen charitable trust und an die charitable corporation ein materiell privatrechtliches Modell der Stiftung entworfen hat.15 Dieses Modell gründet in verfassungsrechtlicher Hinsicht auf der Prämisse, daß der Staat kein Monopol für die Definition und die Verwirklichung des Gemeinwohls, sondern die Konkurrenz privater Gemeinwohlvorstellungen hinzunehmen hat, soweit das Nebeneinander sich noch im Rahmen einer Gesamtordnung einfangen und dadurch an einem schädlichen Gegeneinander hindern läßt.16 In privatrechtlicher Hinsicht geht damit das Zugeständnis einher, daß Freiheit und Eigentum des Einzelnen durchaus die Möglichkeit einschließen, ein Vermögen auf unbeschränkte Zeit einem bestimmten Zweck zu widmen, dies freilich mit der Einschränkung, daß die praktische Konkordanz mit der Freiheit anderer und der Verantwortung des Staates für die Gerechtigkeit der sozialen Verhältnisse gewahrt bleiben muß.17 Daraus ergibt sich einerseits, daß der Staat nicht mehr - wie nach dem Verwaltungsmodell - die zulässigen Stiftungszwecke festlegen, sondern nur unzulässige Stiftungszwecke ausgrenzen darf. Es ist nicht verboten, was nicht erlaubt, sondern erlaubt, was nicht verboten ist. Anzuwenden sind die allgemeinen Grenzen der Privatautonomie (§§ 134,

11 Vgl. Neuhoff/Winken Deutsche Stiftungen für Bildung, Wissenschaft und Kultur, S. XIV. 12 So in Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, Geltungsbereich des DDR-StiftG (Sachsen, Thüringen, in der Sache auch Sachsen-Anhalt), im wesentlichen auch Baden-Württemberg. Vgl. den Abdruck der Landesstiftungsgesetze in Seifert/v. Campenhausen Handbuch des Stiftungsrechts, 2. Aufl. 1999, S. 819ff. 13 OVG Lüneburg OVGE 22, 484, 485; vgl. auch Staudinger/Coing BGB, 12. Aufl. 1980, § 80 Rn. 21. 14 Staudinger/Coing BGB (Fn. 13). Vor § 80 Rn. 17. 15 Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentags, 1962, G 63 ff. 16 Böckenförde Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973, S. 27. 17 Ausführlicher MünchKommBGB/Äewier, Vor § 80 Rn. 4 ff.

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138 BGB).18 Hinzu kommen besondere Grenzen, die deshalb notwendig sind, weil einzelne Zwecke sich schon abstrakt einer reibungslosen Integration in die Gesamtrechtsordnung entziehen. Dazu gehören z.B. Stiftungen mit dem Zweck, das Vermögen des Stifters in seinem Interesse oder im Interesse bestimmter anderer Personen zu verwalten, weil es mit dem geltenden Haftungsrecht unvereinbar ist, dem Zugriff der Gläubiger entzogene Haftungsexklaven zuzulassen. 19 Andererseits ist die Beteiligung des Staates auf die Wahrnehmung privatrechtlicher Funktionen zu reduzieren die Uberprüfung der Tauglichkeit zur Teilnahme am Rechtsverkehr vor der Entstehung und die Überwachung des pflichtgemäßen Handelns der Stiftungsorgane während des Bestehens der Stiftung. 20 Da diese Funktionen nicht Verwaltungsfunktionen, sondern Funktionen rechtspflegerischer Natur sind, drängen sie zugleich auf Ablösung der traditionell zuständigen Verwaltungsbehörden durch Organe der Rechtspflege (oder politisch unabhängige Sonderbehörden) nach dem Vorbild anderer Länder, deren Stiftungsrecht vom Treuhandmodell bestimmt ist. 21

II. Der gegenwärtige Zustand Der gegenwärtige Zustand der Stiftungsrechtspraxis ist dadurch gekennzeichnet, daß die Prämissen des Treuhandmodells mehr oder weniger akzeptiert sind, die Konsequenzen jedoch nach wie vor dem traditionellen Verwaltungsmodell entnommen werden. Die sog. Modernisierung des Stiftungsrechts im Jahre 2001 hat unter Berufung auf die verfassungsrechtliche Stifterfreiheit ein bundesrechtliches subjektives Recht auf Anerkennung der Stiftung eingeführt, vorausgesetzt, das Stiftungsvorhaben erfüllt die in den §§ 80 II, 81 I BGB - wie ausdrücklich hervorgehoben wird - abschließend aufgezählten Normativbedingungen. 22 Zu den Normativbedingungen zählen freilich auch die Forderungen, die dauernde und nachhaltige Erfüllung des Stiftungszwecks müsse gesichert erscheinen und der Stiftungszweck dürfe das Gemeinwohl nicht gefährden. Damit sind Anerkennungskriterien in das Bundesstiftungsrecht übernommen worden, die schon im Landesstiftungsrecht Einfallstore für verwaltungspolitischen Opportunismus gewesen sind. Was die Prognose über die dauernde und nachhaltige Erfüllung des Stiftungszwecks betrifft, so ist in einer früheren empirischen Untersuchung bereits ein erheblicher Mestmäcker aaO. (Fn. 15) G 76. " Ausführlicher MünchKommBGB/Äe«ier aaO. (Fn. 17), Vor § 80 Rn. 36. 20 Mestmäcker aaO. (Fn. 15), G 84 und 86. 21 Grundlegend Mestmäcker aaO. (Fn. 15), G 85 f. Vgl. auch Reuter im Non Profit Law Yearbook 2001, 2002, S. 27, 39f., 40f. 22 BT-Drucks. 14/8277, S. 5. 18

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Einfluß von „Pietätsgründen, menschlichen Erwägungen und politischem Druck" registriert worden. 23 Dem entspricht für § 80 II BGB die Annahme, es bestehe ein „gerichtsfreier Prognosespielraum" der Anerkennungsbehörde, 24 was unbeschadet der verwaltungsrechtlichen Unterscheidung von gerichtsfreiem Beurteilungsspielraum und Ermessen darauf hinausläuft, daß die Anerkennung der Stiftung scheitern kann, weil die Behörde sie nicht für zweckmäßig organisiert hält. Die Ausübung eines Grundrechts darf aber nicht davon abhängig gemacht werden, ob eine Behörde sie für zweckmäßig hält oder nicht. 25 Ob und ggf. auf welchem Weg ein Stiftungsvorhaben Erfolg verspricht, hat kraft seiner Privatautonomie der Stifter zu beurteilen; ihm - nicht der Behörde - steht der gerichtsfreie Prognosespielraum zu. In anderen Rechtsordnungen, die in der Stiftungserrichtung privatautonomes Handeln sehen, ist die Prüfung der „Lebensfähigkeit" des Stiftungsvorhabens folgerichtig unbekannt. 26 Vollends unvereinbar mit einem subjektiven Recht auf Anerkennung der Stiftung ist die Abhängigkeit davon, daß das Stiftungsvorhaben das Gemeinwohl nicht gefährdet. Das Gemeinwohl ist „nicht rechtlich vorgegeben, sondern politisch aufgegeben"2? Wer der Stiftungsbehörde die Verwerfung eines Stiftungsvorhabens wegen Gefährdung des Gemeinwohls gestattet, gibt den Weg frei für politische Selektion. Eben deshalb hat die Kommentarliteratur vor der sog. Modernisierung des Stiftungsrechts die Aufhebung der Stiftung wegen Gefährdung des Gemeinwohls nach § 87 BGB in verfassungskonformer Rechtsfortbildung analog §§ 43 I BGB, 396 I AktG, 62 GmbHG, 81 I GenG durch die Aufhebung wegen Gefährdung des Gemeinwohls durch gesetzwidriges Organhandeln ersetzt. 28 Die Berufung des Gesetzgebers auf die verwaltungsgerichtlichen Urteile in Sachen Republikaner-Stiftung belegt, daß die Annahme einer Befugnis der Stiftungsbehörde zur politischen Selektion kein MißVerständnis ist. Denn diese Urteile widerlegen diese Befugnis nicht, sondern bestätigen sie, indem sie den Republikanern den Zugang zur Rechtsform Stiftung verweigern, jedoch zugleich auf die Rechtsform des Vereins verweisen.29 Die tragende Begründung, die Stif-

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HärtlIst das Stiftungsrecht reformbedürftig?, 1990, S. 114f. Burgard Ν ZG 2002, 697, 699; a.A. Andrick ZSt 2003, 1, 9 (ohne Auseinandersetzung mit Burgard und der von ihm zitierten verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur). 25 BVerfGE 47, 46, 78f.; 49, 89, 145f.; 50, 290, 354f.; 57, 295, 319ff.; 58, 233, 247 26 Richter aaO. (Fn. 1), S. 412f. 27 Isensee in Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159, 177; in der Sache deshalb völlig richtig Meyn FAZ v. 7 8. 2002, S. 6. 28 Ausführlicher Reuter in Hopt/Reuter aaO. (Fn. 5), S. 139, 150; MünchKommBGB/ Reuter aaO. (Fn. 17), § 87 Rn. 5. Unrichtige Bezugnahme auf die §§ 43 I BGB, 396 I AktG, 62 GmbHG und § 81 I GenG bei Andrick ZSt 2003, 1, 10. 29 BVerwG NJW 1998, 2545, 2547; OVG Münster NVwZ 1996, 913, 918. 24

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tungsbehörde dürfe nicht gezwungen sein, „im Rahmen der ihr obliegenden Stiftungsaufsicht eine Mitverantwortung für die Verwirklichung eines verfassungsbeeinträchtigenden Stiftungszwecks zu übernehmen" 30 , stellt das subjektive Recht auf Anerkennung der Stiftung in der Sache unter den Vorbehalt der Funktionsanforderungen des Verwaltungsmodells. Sie nimmt nämlich Rücksicht darauf, daß Verwaltungsbehörden nicht erst an der Förderung verfassungswidriger Ziele, die selbstverständlich auch in Vereinsform unzulässig ist, sondern bereits an der Förderung politisch anrüchiger Ziele im Vorfeld der Verfassungswidrigkeit gehindert sind. Wenn die Stifterfreiheit - wie der Gesetzgeber annimmt (und die Verwaltungsgerichte offen lassen) - als Bestandteil der Privatautonomie verfassungsrechtlich geschützt ist, dann ist diese Rücksicht indessen evident verfassungswidrig. Denn selbst die Beschränkung des schwächsten Grundrechts setzt voraus, daß sie zum Schutz anderer Rechtsgüter geeignet ist. Wenn sie nur zur Folge hat, daß das Rechtsgüter verletzende, gemeinwohlwidrige Handeln in anderer Rechtsform stattfindet, ist das nicht der Fall. Lassen sich Stifterfreiheit und behördliche Mitverantwortung für die Verwirklichung des Stiftungszwecks nicht auf einen Nenner bringen, so hat nicht die Stifterfreiheit, sondern die behördliche Mitverantwortung zu weichen. 31 Tatsächlich hat das BVerwG seiner Rede von der Mitverantwortung der Stiftungsbehörde für die Verwirklichung des Stiftungszwecks in einer früheren Entscheidung bereits die Grundlage entzogen. Schon im Jahre 1972 hat es eine Befugnis der Stiftungsbehörde zur Mitverwaltung der Stiftung verneint. Die Stiftungsaufsicht soll reine Rechtsaufsicht sein. 32 Die Verantwortung für die Verwirklichung des Stiftungszwecks liegt danach allein bei den Stiftungsorganen. Die Stiftungsbehörde trägt sie nicht mit, sondern setzt sie durch, soweit Gesetzgeber oder Stifter (Gesetz oder Satzung) rechtlich verbindliche Vorgaben geschaffen haben. Durch diese Herauslösung der Stiftung aus der Mitverwaltung und Mitverantwortung der öffentlichen Verwaltung hat das BVerwG seinerzeit bewußt die Rolle der privatrechtlichen Stiftung als eines Trägers mittelbarer Staatsverwaltung beendet und sie den übrigen juristischen Personen des Privatrechts gleichgestellt.33 Das Urteil in Sachen Republikaner-Stiftung ist ein Rückschritt, der sich wohl auch daraus erklärt (wenngleich keineswegs rechtfertigt), daß die fortdauernde Zuständigkeit der öffentlichen Verwaltung für die Genehmigung (Anerkennung) der Stiftung und die Aufsicht über sie ein wirkliches Umdenken nicht zuge-

30 BT-Drucks. 14/8894, S. 10 unter Berufung auf BVerwG NJW 1998, 2545 (übereinstimmend OVG Münster NVwZ 1996, 913, 914). 31 Ausführlicher Reuter ΆΆΟ. (Fn. 21), S. 27, 43 ff. 32 BVerwGE 40, 347 ff. 33 Vgl. Seifert/v. Campenhausen-Hof aaO. (Fn. 12), § 11 Rn. 5 (272).

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lassen hat. Hier, wie überall, gilt, daß Aufgaben, Kompetenz und Verfahren einander entsprechen müssen. • Es ist nicht gleichgültig, ob Normativbestimmungen für die Anerkennung von Stiftungen von (Register-)Gerichten oder von Verwaltungsbehörden angewendet werden. Das gilt insbesondere dann, wenn mit unbestimmten Rechtsbegriffen zu arbeiten ist. 34 Die Erfahrung mit den (überwiegend mit dem jetzigen Bundesstiftungsrecht übereinstimmenden) landesstiftungsrechtlichen Normativbestimmungen belegt, daß daraus in der Verwaltungspraxis Rahmenrichtlinien werden, die verwaltungspolitische Einflüsse nicht ausschließen, sondern bestenfalls begrenzen. 35 Sicherlich ist das Bedürfnis, den Bürger durch Rechtsbindung vor Verwaltungswillkür zu schützen, im Verfahren über die Anerkennung der Stiftung regelmäßig abgeschwächt: Soweit die Stifter - wie in der Regel - eine verwaltungspolitisch erwünschte Förderung der Allgemeinheit beabsichtigen, treten sie der Behörde auf gleicher Augenhöhe gegenüber. Großstifter können bisweilen sogar den Spieß herumdrehen und die unzureichende Rechtsbindung der Verwaltung zur Durchsetzung von (aus Sicht der Allgemeinheit problematischen) Sonderwünschen nutzen. Aber die Situation ändert sich schlagartig, wenn das Stiftungsvorhaben aus verwaltungspolitischer Sicht überflüssig oder gar unerwünscht ist. Gerade das ist indessen die Bewährungsprobe des Grundrechts auf Stiftung. Grundrechte sind vor allem dazu da, Außenseiter zu schützen. 36 Umgekehrt besteht der Ordnungsauftrag des Rechts auch gegenüber Stiftungsvorhaben. Normativbestimmungen für Stiftungsvorhaben sind erforderlich, um die Stiftungen und „ihr Wirken in die allgemeine Rechtsordnung einzufügen" sowie „schutzwürdigen Belangen Dritter oder auch öffentlichen Interessen Rechnung zu tragen". Die Unterlegenheit der Stiftungsbehörde in „Verhandlungen" mit Großstiftern macht sie nicht entbehrlich, sondern im Gegenteil besonders dringend, und zwar einschließlich der Durchsetzung durch unabhängige Gerichte (oder gleichwertig politisch unabhängige andere Stellen). Die von Härtl berichtete Klage einzelner Genehmigungsbehörden über politische Kungelei im Vorfeld von Stiftungserrichtungen, die sie zu Befehlsempfängern von oben machen, ist ein deutlicher Beleg dafür. 37 • Es ist auch nicht gleichgültig, ob die Rechtsaufsicht über Stiftungen durch unabhängige Gerichte oder abhängige Verwaltungsbehörden ausgeübt wird. Der Schutz der Stiftung vor pflichtwidrigem Verhalten ihrer 34 Ausführlicher Reuter in Hopt/Reuter aaO. (Fn. 5), S. 139, 151 ff.; diametral entgegengesetzt K. Schmidt 'm Stiftungen in Deutschland und Europa, 1998, S. 229, 232ff. 35 Härtl aaO. (Fn. 23), S. 167. 36 Statt aller Böckenförde NJW 1974, 1529, 1537. 37 Härtl aaO. (Fn. 23), S. 121.

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Organe hängt nach geltendem Recht ausschließlich vom guten Willen der Stiftungsaufsicht ab. Wenn Stiftungsorgane und Stiftungsaufsicht sich einig sind, können sie nach Belieben das Stiftungsvermögen zweckentfremden, Pflichten nicht erfüllen und Pflichtverletzungen ungeahndet lassen. Denn Mitglieder, die - wie der Jubilar für das Gesellschaftsrecht grundlegend herausgearbeitet hat 38 - in einem solchen Fall subsidiär für pflichtgemäßes Verhalten der Organe sorgen könnten, gibt es in der Stiftung nicht. 39 Die Gefahr von Einigungen zulasten der Stiftung mag gering gewesen sein, solange die Stiftungen im Regelfall der Gemeinnützigkeit mittelbare Träger der Staatsverwaltung waren. Denn insoweit hatte die Verwaltung ein eigenes Interesse an der Stiftung. Geht man mit optimistischen Einschätzungen der Stiftungsrechtsreform davon aus, daß in Zukunft auch verwaltungspolitisch unerwünschte Stiftungen anerkannt werden, 40 so ist mit einer deutlichen Zunahme solcher Einigungen zu rechnen. Die Verwaltung wird schwerlich gegen ein Handeln der Stiftungsorgane einschreiten, das den „unvernünftigen" Willen des Stifters im Sinne des von der Mehrheit für vernünftig Gehaltenen korrigiert. Eher ist wahrscheinlich, daß solches Verhalten wohlwollend begleitet wird. Zu einer ganz eigentümlichen Situation führt die Verwandlung der Stiftung vom Träger mittelbarer Staatsverwaltung in eine juristische Person des Privatrechts wie jede andere, wenn die Stiftung durch Pflichtverletzungen ihrer Organe geschädigt wird. Da die Stiftungsaufsicht durch diese Verwandlung zur Amtspflicht der Behörde gegenüber der Stiftung geworden ist, 41 hat die Stiftung dann regelmäßig nicht nur einen Anspruch auf Schadensersatz gegen die Mitglieder der Stiftungsorgane, der von der Stiftungsbehörde geltend zu machen ist, sondern auch einen Schadensersatzanspruch gegen die Anstellungskörperschaft der Aufsichtsbeamten nach Art. 34 GG, § 839 BGB, der von den Stiftungsorganen zu realisieren ist. Die Stiftungsbehörde riskiert also ihrerseits die Inanspruchnahme durch die Stiftung, vertreten durch das zuständige Organ, wenn sie gegen die Stiftungsorgane vorgeht. Die Verweisungsklausel des § 839 I 2 BGB hilft jedenfalls nicht in den relativ häufigen Fällen, in denen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Organmitglieder der Stiftung zum Ausgleich des Schadens nicht ausreicht. Eine derartige Konstellation lädt mangels einer Ersatz(not-)zuständigkeit nach dem Vorbild der actio pro socio geradezu zu „Nichtangriffspakten" ein. 42 Die Haftung von Stiftungsorganen spielt in Deutschland folgerichtig - anders als in den USA, wo sie zu den stifHadding Actio pro socio, 1966. Vgl. Blydt-Hansen Die Rechtsstellung der Destinatare der rechtsfähigen Stiftung Bürgerlichen Rechts, 1998, S. 80ff. 4 0 Zuletzt Andrick ZSt 2003, 1, 8 ff. BGHZ 68, 142, 151. 42 Reuter in Hopt/Reuter aaO. (Fn. 5), S. 139, 153; Richter aaO. (Fn. 1), S. 370. 38

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tungsrechtlichen Hauptthemen gehört - praktisch keine Rolle.43 Die einzige höchstrichterliche Entscheidung dazu bezieht sich nicht zufällig auf einen Sachverhalt aus einer Zeit, in der der stiftungsrechtlichen Praxis die Vorstellung, die Stiftungsaufsicht sei Amtspflicht gegenüber der Stiftung (und nicht nur Ausdruck des öffentlichen Interesses daran sicherzustellen, daß die Stiftung die Bedingungen ihrer Genehmigung einhält)44, noch fremd gewesen ist. Das Zwischenfazit: Der gegenwärtige Zustand der Stiftungsrechtspraxis entspricht nicht dem Grundrecht auf Stiftung, weil die Errichtung rechtsfähiger Stiftungen nach wie vor nicht von der Beachtung gerichtlich überprüfbarer Voraussetzungen, sondern von der Billigung durch Instanzen abhängt, die politischem Einfluß zugänglich sind und über - für politischen Einfluß offene - gerichtsfreie Beurteilungsspielräume verfügen. Die Stiftungsfreiheit des Außenseiters, der vor allem des Grundrechtsschutzes bedarf, wird dadurch beeinträchtigt, die des Inhabers sozialer und wirtschaftlicher Macht, die vor allem der rechtlichen Einbindung bedarf, zum Nachteil Dritter und der Allgemeinheit erweitert. Der gegenwärtige Zustand der Stiftungsrechtspraxis entspricht nicht den Grundrechten der Stiftung, weil die zweckgerechte Tätigkeit nur gegen Störungen von außen, nicht dagegen gegen pflichtwidriges Handeln der Stiftungsorgane zureichend geschützt ist. Auch das trifft vor allem, wenn auch keineswegs allein (Außenseiter-) Stiftungen mit dem Auftrag - so der bekannte amerikanische Industrielle und Stifter Andrew Carnegie45 - , die Häresie von heute auf ihrem Weg zur Orthodoxie von morgen zu unterstützen. Der Versuch, die Stiftungsfreiheit durch Gesetze einerseits (mittels Beseitigung der Abhängigkeit von Ermessen und gerichtsfreien Beurteilungsspielräumen) gegen verwaltungspolitische Bevormundung zu schützen und andererseits (mittels Ausgrenzung von Zwecken, die aus dem Blickwinkel der Gesamtrechtsordnung Wertungs- oder Wirkungswidersprüche erzeugen) in die allgemeine Rechtsordnung einzufügen, ist am vereinten Widerstand der Stiftungsbehörden und Stiftungsverbände gescheitert, und zwar aus durchsichtigen Gründen: Die Stiftungsbehörden sehen überkommenes „Hausgut" der (Innen-)Verwaltung bedroht. Auch scheint man die Forderung nach Reform vor allem als Kritik an der eigenen Arbeit zu verstehen, gegen die man „sich verwahrt". Jedenfalls geht der Bericht der von den Stiftungsbehörden dominierten Bund-Länder-Arbeitsgruppe Stiftungsrecht, der seinerseits Grundlage der sog. Modernisierung des Stiftungsrechts geworden ist, auf den verfassungsrechtlichen Ansatz der Reformforderungen 43 44

Richter aaO. (Fn. 1), S. 370; vgl. auch Härtl aaO. (Fn. 23), S. 154f. Vgl. Richter aaO. (Fn. 1), S. 109f.

45 Zitiert nach Flory Der Standort der Stiftungen im Forschungssystem. Ein OEDCReport, 1974, S. 22.

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genausowenig ein wie auf den Umstand, daß sie im Kern den Stiftungsrechten der stiftungspolitisch erfolgreichen Länder (vor allem USA, Schweiz, Niederlande) korrespondieren. Statt dessen wird eine geschönte Nabelschau geboten mit dem Ergebnis, daß - von kosmetischen Verbesserungen abgesehen - ein Reformbedarf verneint wird, weil angeblich alles zum Besten steht.46 Die Stiftungsverbände vertreten die Interessen ihrer Mitglieder, die in ihren einflußreichen Teilen nicht unter der Fähigkeit der Stiftungsbehörden (und Finanzbehörden) zur politischen Entscheidung gelitten, sondern dank ihrer Verhandlungsmacht davon profitiert haben. 47 Die Mitglieder werden ihrerseits durch ihre Vorstände vertreten, die naturgemäß nichts dagegen einzuwenden haben, daß sie lästige Bindungen an den Stifterwillen im Konsens mit der Stiftungsaufsicht relativ leicht abschütteln können und einen Regreß wegen Schädigung der Stiftung durch pflichtwidriges Verhalten wegen des drohenden Bumerangeffekts für die Stiftungsbehörde im Regelfall nicht zu fürchten haben. 48 Mit einem Stiftungsrecht, das zu positiver Gesellschafts- und Politikkritik ermutigt, indem es potentiellen Stiftern die Möglichkeit gibt, soziale Anliegen zu fördern, deren der Staat sich ihrer Ansicht nach zu Unrecht nicht oder doch nicht in ausreichendem Maße annimmt, haben solche Interessen nichts zu tun. Sie sind ihm im Gegenteil entgegengesetzt.49 Die unter ihrem Einfluß zustande gekommene sog. Modernisierung des Stiftungsrechts hat folgerichtig allenfalls Impulse für ein Weiterwuchern der kautelarjuristischen Konstruktionsphantasie gebracht, die alles andere als gemeinwohlorientiert ist. 50 Von den in der Entwurfsbegründung vollmundig angekündigten neuen Impulsen für ein gemeinwohlorientiertes Stiftungswesen fehlt jede Spur.51

III. Durchsetzung des Treuhandmodells über die nicht anerkannte Stiftung? 1. Der Ansatz Die Unfähigkeit des Gesetzgebers, den Abschied vom Verwaltungsmodell gegen Stiftungsbürokratie und -lobby durchzusetzen, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, ob sich nicht die unselbständige (besser: nicht anerkannte) Stiftung als echte privatrechtliche Alternative ausbauen läßt. 46 Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Stiftungsrecht vom 19. Oktober 2001. Ausführlich dazu Reuter aaO. (Fn. 21), S. 27, 36ff. 47 Vgl. dazu MünchKommBGB/Reuter aaO. (Fn. 17), Vor § 80 Rn. 48. 48 Richter aaO. (Fn. 1), S. 370. 49 Vgl. schon Reuter aaO. (Fn. 21), S. 27, 62. 50 Dazu trefflich K. Schmidt Z H R 166 (2002) S. 145ff. 51 Vgl. schon Reuter aaO. (Fn. 21), S. 27ff.; anders Andnck ZSt 2003, 1, 12f.

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Unstreitig ist, daß die nicht anerkannte Stiftung auf der Grundlage der derzeit h.M. „unpassendem Recht" unterliegt. Die sog. Treuhandlösung, die den Stifter als Treugeber und den Stiftungsträger als Treuhänder ansieht, begründet die Gefahr, daß das Treuhandverhältnis (= Geschäftsbesorgungsverhältnis) wenn nicht vom Stifter selbst so doch von seinen Erben gekündigt und das Stiftungsvermögen nach § 667 BGB zurückgefordert wird. Mit dem Zweck einer Stiftung, der eine endgültige Vermögenszuwendung impliziert, ist das nicht vereinbar, ganz abgesehen davon, daß ohne die endgültige Vermögenszuwendung die steuerrechtliche Gemeinnützigkeit nicht erreichbar ist. 52 Aber auch die danach vorzugswürdige Auflagenlösung hat in stiftungsrechtlicher Sicht Schwächen. Zwar ist die Schenkung oder die letztwillige Verfügung unter Auflage mit einem endgültigen Vermögenstransfer verbunden. Doch gibt es dafür keinen Schutz des Stiftungsvermögens gegen schädliche Einflüsse aus der Sphäre des Stiftungsträgers. Schon der Schutz gegen Schädigungen durch den Stiftungsträger setzt eine komplizierte Vorsorge des „Stiftungsgeschäfts" voraus. Denn an sich ist das Stiftungsvermögen eigenes Vermögen des Stiftungsträgers; es gibt weder Rechte der „Stiftung" gegen den Stiftungsträger noch eine Instanz, die solche Rechte wahrnehmen könnte. 53 In der Zwangsvollstreckung gegen den Stiftungsträger und in der Insolvenz des Stiftungsträgers hilft nicht einmal das Stiftungsgeschäft. Denn die Auflage, deren Bestandteil das Stiftungsgeschäft ist, kann die Rechtsstellung der Gläubiger nicht verschlechtern. Unpassendes Recht ist freilich nicht immer korrekturbedürftig. Es kann absichtsvoll eingesetzt sein, damit der Rechtsverkehr sich den Zugang zum passenden Recht durch die Unterwerfung unter gesetzliche Zulassungsvoraussetzungen erkaufen muß. Ich bin daher bisher Versuchen zur Korrektur des unpassenden Rechts durch Übertragung stiftungsspezifischer Vermögenssicherungen mit der Begründung entgegengetreten, dadurch werde die vom Gesetzgeber gewollte staatliche Beteiligung an der Entstehung und Tätigkeit von Stiftungen ausgehöhlt. 54 Diese Argumentation setzt allerdings voraus, daß die staatliche Beteiligung ihrerseits verfassungs- und sachgerecht ist. Soweit das - wie vorstehend erläutert - nicht der Fall ist, wird die Rechtsfortbildung mit dem Ziel des Austausche des unpassenden gegen passendes Recht legitim. Die Verweisung des nichteingetragenen Vereins auf das unpassende Gesellschaftsrecht in § 54 BGB hat bekanntlich für den Idealverein deshalb nicht durchgestanden, weil der dafür maßgebliche Vorbehalt der Verwaltungskontrolle gegenüber der freien Körperschaftsbildung durch die 52 K. Schmidt in Hopt/Reuter aaO. (Fn. 5) S. 175, 177ff.; Westebbe Die Stiftungstreuhand, 1993, S. 24, 26; anders freilich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Stiftungsrecht, vgl. dazu Reuter aaO. (Fn. 21) S. 27, 41 f. 53 Ausführlich Reuter in Stiftungen in Deutschland und Europa, 1998, S. 203, 209ff.; insoweit zustimmend K. Schmidt in Hopt/Reuter aaO. (Fn. 5), S. 175, 183.

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Reuter aaO. (Fn. 53), S. 203, 228.

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verfassungsrechtliche Entwicklung, insbesondere die Anerkennung der Vereinsfreiheit überholt worden ist.55 Analoges gilt angesichts des Grundrechts auf Stiftung für das überkommene Verwaltungsmodell im Stiftungsrecht. Auch fehlt es nicht an Vorbildern dafür, daß Rechtsprechung und Rechtswissenschaft verfassungsrechtliche Gestaltungsaufträge ausführen, obwohl entsprechende gesetzliche Regelungsversuche am Widerstand mächtiger Interessengruppen gescheitert sind. Das bekannteste Beispiel ist die Durchsetzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, obwohl es der Presse gelungen ist, die Durchsetzung durch Gesetz zu verhindern. 56 Es ist deshalb nicht richtig, wenn im stiftungsrechtlichen Schrifttum die Ansicht vertreten wird, die unter Berufung auf das Grundrecht auf Stiftung und auf das Gebot der Wertungs- und Wirkungswiderspruchsfreiheit (praktische Konkordanz) der Rechtsordnung entwickelten Reformvorstellungen57 seien vom Tisch, weil sie sich im Gesetzgebungsverfahren nicht durchgesetzt haben. 58 Zumindest der ungeschriebene Wille des Gesetzgebers kann die Rechtsanwendung nicht von der Pflicht entbinden, Wertungs- und/oder Wirkungswidersprüche im Recht zu vermeiden.59 Erst recht hebt er verfassungsrechtliche Gestaltungsaufträge nicht auf. 2. Durchsetzung des Treuhandmodells kraft rechtsgeschäftlicher Gestaltungsfreiheit? K. Schmidt hat auf einem internationalen Stiftungsrechtssymposion auf Schloß Salzau (Schleswig-Holstein) die These entwickelt, ein am Treuhandmodell orientiertes Stiftungsrecht gebe es für die unselbständige Stiftung kraft rechtsgeschäftlicher Gestaltungsfreiheit, ohne daß es einer Rechtsfortbildung bedürfe. Wer eine unselbständige Stiftung errichte, wende nämlich dem Stiftungsträger das Stiftungsvermögen nicht unter einer normalen Auflage zu, sondern mit der Maßgabe, es nach näherer Regelung einer Satzung so zu verwalten und zu verwenden, als ob es in einer rechtsfähigen Stiftung verselbständigt sei. Die unselbständige Stiftung sei eine „virtuelle juristische Person". 60 Daran ist sicher richtig (und auch noch von niemandem bestritten worden), daß der Inhalt der Auflage, unter der der Stiftungsträger das Stiftungsvermögen unter Lebenden oder von Todes wegen erhält, dazu verpflichtet, das Vermögen wie ein fiktives Stiftungsorgan zu verwalten und zu verwenden. Auch spricht nichts dagegen, diese Pflicht als treuhänderische zu kennzeichnen. Denn das Verhältnis des Stiftungsorgans zur selbständi55 56 57 58 59 60

Ausführlicher MünchKommBGB/Äe«ter aaO. (Fn. 17), § 54 Rn. 3. Vgl. dazu MünchKommBGB/Rixecker aaO. (Fn. 17), § 12 Anh Rn. 10. Zusammenfassend Reuter aaO. (Fn. 21), S. 27, 28 ff., 48 ff. Andnck ZSt 2003, 1, 13; Schwarz DStR 2002, 1767, 1771. Vgl. auch Hüttemann ZHR 167 (2003), 36, 60ff. K. Schmidt in Hopt/Reuter aaO. (Fn. 5) S. 175, 183.

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gen Stiftung hat ebenfalls treuhänderischen Charakter.61 Aber dieser Inhalt der Auflage ändert nichts an ihrer Grundlage in einem (Schenkungs-)Vertrag bzw. in einer letztwilligen Verfügung. Daß der Stiftungsträger sich kraft Auflage so verhalten muß, als wäre das Stiftungsvermögen rechtlich verselbständigt, kann daher nur relative Wirkungen gegenüber demjenigen entfalten, der den Anspruch auf Vollziehung der Auflage hat. Rechtsnachteile für Dritte, wie K. Schmidt sie in Gestalt der Vollstreckungs- und Insolvenzimmunität des Stiftungsvermögens gegenüber den Privatgläubigern des Stiftungsträgers annimmt, 62 folgen daraus nicht. Allenfalls Rechtsfortbildung kann bewirken, daß die durch die Verpflichtung gegenüber dem Inhaber des Anspruchs auf Vollziehung notwendige Trennung des Stiftungsvermögens vom Eigenvermögen des Stiftungsträgers auch im Außenverhältnis zu den Gläubigern des Stiftungsträgers erheblich wird.

3. Durchsetzung des Treuhandmodells

kraft

Rechtsfortbildungt

Eine solche Rechtsfortbildung ist in der jüngeren Vergangenheit - unter Anlehnung an den anglo-amerikanischen trust - in der Dissertation von Westebbe über „Die Stiftungstreuhand" und vor allem in der noch unveröffentlichten Konstanzer Habilitationsschrift von Koos über „Fiduziarische Person und Widmung - Das stiftungsspezifische Rechtsgeschäft und die Personifikation treuhänderisch geprägter Stiftungen" entwickelt worden. Die nicht anerkannte Stiftung soll danach grundsätzlich die gleiche Rechtsstellung wie die anerkannte Stiftung erhalten können, weil die rechtliche Verselbständigung des Stiftungsvermögens auch auf anderem Wege als durch staatliche Anerkennung herbeigeführt werden kann. Die Rede von der unselbständigen Stiftung soll genauso zur falsa demonstratio werden, wie die Rede vom nichtrechtsfähigen Verein zur falsa demonstratio geworden ist. 63 Soweit dies den folgenlosen Ausfall staatlicher Beteiligung an der Entstehung „rechtsfähiger" Stiftungen impliziert, ist dem zu widersprechen. Die oben geübte Kritik aus dem Gesichtspunkt des Grundrechts auf Stiftung ist Kritik an der A r t der staatlichen Beteiligung (durch Verwaltungsbehörden mit gerichtsfreien Beurteilungsspielräumen), nicht an der staatlichen Beteiligung überhaupt. In der stiftungsrechtlichen Reformdiskussion haben mit vorübergehender Ausnahme der FDP auch die Befürworter des Treuhandmodells für die Notwendigkeit staatlicher Anerkennung der Stiftung, nämlich durch Eintragung in ein beim Amtsgericht geführtes Stiftungsregister nach Feststellung der Erfüllung gesetzlicher Normativbestimmungen durch den Re-

61 Das folgt schon aus der Verweisung des § 86 BGB auf § 27 III BGB, der seinerseits auf das Auftragsrecht verweist. 62 K. Schmidt in Hopt/Reuter aaO. (Fn. 5) S. 175, 185. 63 Zu letzterem Soergel/Hadding BGB, 13. Aufl. 2000, § 54 Rn. 1.

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gisterrichter plädiert. 64 Wenn die staatliche Anerkennung fehlt, kann die Stiftung nur aufgrund wirksamen Stiftungsgeschäfts einschließlich der Erfüllung sämtlicher Normativbestimmungen entstehen. Die von der h.M. für die anerkannte Stiftung befürwortete Entstehung trotz Unwirksamkeit des Stiftungsgeschäfts ist ausgeschlossen, weil mangels staatlicher Uberprüfung eine Wirksamkeitsvermutung nicht gerechtfertigt ist. 65 Handeln des Stiftungsträgers für die Stiftung ist folgerichtig Eigenhandeln. Eine Beschränkung der Haftung auf das Stiftungsvermögen scheidet von vornherein aus. Der Stiftungsträger ist allenfalls im Innenverhältnis zum Stifter bzw. seinen Erben dadurch geschützt, daß er gegenüber dem Rückforderungsanspruch nach § 812 I 1, 1. Var. BGB gemäß § 818 III BGB Entreicherung einwenden kann. Auch die staatliche Aufsicht über die Tätigkeit des Stifters kann nicht folgenlos entfallen. Denn es bedarf aus Sicht des stiftungsrechtlichen Treuhandmodells zwar keiner Mitverwaltung und Mitverantwortung einer Verwaltungsbehörde, wohl aber einer Instanz, die die Rechte der Stiftung gegen ihre Organe wahrnimmt. Soweit das Grundverhältnis der nicht anerkannten Stiftung (Schenkung oder letztwillige Verfügung unter Auflage) eine dazu geeignete Instanz nicht hergibt, gehört es zu ihren Normativbestimmungen, daß ihre Satzung eine entsprechende Vorsorge trifft. Fehlt es daran, so ist das Stiftungsgeschäft unwirksam mit der Folge, daß weiterhin unpassendes Recht maßgebend ist. Jenseits dieser unterschiedlichen Anforderungen an die Entstehung der Stiftung und der an die Wirksamkeit des Stiftungsgeschäfts, die wegen des Ausfalls der staatlichen Beteiligung auf jeden Fall zu stellen sind, ist die rechtliche Verselbständigung von Stiftungen ohne staatliche Anerkennung deshalb zu problematisieren, weil sie sich einer ungewohnten Verselbständigungstechnik bedienen muß. Darin liegt ein Hindernis, das es bei der parallelen Schaffung passenden Rechts für den nichtrechtsfähigen Verein nicht gegeben hat. Denn es ist seit jeher akzeptiert, daß eine Personenvereinigung nicht nur als juristische Person, sondern auch als Gesamthandsgemeinschaft - je nach Art der Gesamthandsgemeinschaft mehr oder weniger umfassend - rechtlich verselbständigt werden kann. 66 Ebenso ist seit langem bekannt gewesen, daß Gesamthandsgemeinschaften im Hinblick auf das Ausmaß ihrer rechtlichen Selbständigkeit ganz nahe an die juristische Person heranrücken können. Ihre Fähigkeit, Rechte und Pflichten zu haben, ist nicht eine Entdeckung unserer Tage, sondern für die O H G und die KG schon Ende des 19. Jahrhunderts in § 124 HGB gesetzlich festgelegt worden. 67 Demgegenüber vollzieht sich die rechtliche Verselbständigung von Vgl. dazu Crezelius/Rawert ZIP 1999, 337, 343. Ausführlich MünchKommBGB/i?e«teraaO. (Fn. 17), § 80 Rn. 4. 66 Vgl. dazu MünchKommBGB/ÄeaieraaO. (Fn. 17), Vor § 21 Rn. 7, 8. 67 Vgl. auch Mülbert AcP 199 (1999), 3 8 , 4 7 ; Breuninger Die BGB-Gesellschaft als Rechtssubjekt im Wirtschaftsverkehr, 1991, S. 30ff. 64

65

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Vermögen prinzipiell ausschließlich über die juristische Personifikation. 68 Immerhin gibt es Ausnahmen. Im Steuerrecht ist die nicht rechtsfähige Stiftung nach § 1 I Nr. 5 KStG Steuersubjekt. BFH v. 29. 1. 2003 - 1 R 106/00 entnimmt dem f ü r das Steuerrecht die Rechtsfähigkeit einschließlich der Parteifähigkeit im finanzgerichtlichen Prozeß. Die Annahme der Vorinstanz, der Stiftungsträger habe gegen den an die Stiftung gerichteten Steuerbescheid zu klagen, wird ausdrücklich verworfen. Der BFH geht damit freilich sehr weit. Seine apodiktische Feststellung hinterläßt Zweifel, ob er die Konsequenzen für die Rechtsstellung des Stiftungsträgers (Organ der Stiftung?) u n d vor allem für die H a f t u n g , die Vollstreckungsfähigkeit und die Insolvenzfähigkeit des Stiftungsvermögens hinreichend bedacht hat. Näher liegt es, für die nicht anerkannte Stiftung die Anlehnung an die Art u n d das Ausmaß der rechtlichen Verselbständigung zu suchen, die das Treuhandmodell des Investmentrechts für die Investmentfonds vorsieht. D e n n dort ist die dem Stiftungsträger funktional vergleichbare KAG nicht O r gan, sondern treuhänderischer Verwalter des Investmentfonds; die Anleger sind - wie die Destinatäre der nicht anerkannten Stiftung - nur Nutznießer, nicht Mitglieder. 69 Auf der anderen Seite haftet der Investmentfonds nicht für die Verbindlichkeiten der KAG. Soweit die KAG den Investmentfonds durch schuldhaft pflichtwidrige Verwaltung geschädigt hat, kann sie von der Depotbank als weiterem Treuhänder des Investmentfonds auf Ausgleichsleistung in den Fonds in Anspruch genommen werden. Die Depotbank ist ferner berufen, die KAG unter besonderen Voraussetzungen durch einen anderen (Haupt-)Treuhänder zu ersetzen. 7 0 Als Vorbild für die rechtliche Verselbständigung der nicht anerkannten Stiftung ist das Treuhandmodell des Investmentrechts vor allem deshalb interessant, weil es sich u m die Übernahme einer spezifischen Form des anglo-amerikanischen trust handelt, der schon die vorliegenden Entwürfe einer rechtlichen Verselbständigung der nicht anerkannten Stiftung, namentlich die Arbeiten von Westebbe und Koos beeinflußt hat. 71 Inhaltlich hat es den Vorteil, daß es die Verselbständigung des Investmentfonds auf die Punkte beschränkt, die auch die Desiderata der Verselbständigung der nicht anerkannten Stiftung sind: Immunität des Stiftungsvermögens gegen das rechtliche Schicksal des Stiftungsträgers; H a f t u n g des Stiftungsträgers für Beschädigungen des Stiftungsvermögens u n d Existenz einer Instanz, die den etwaigen Ausfall des Stiftungsträgers kompensiert und seine H a f t u n g realisiert. Dabei kann es im Ansatz bei der Vorstellung bleiben, daß der Stiftungsträger das Stiftungsvermögen durch Schenkung bzw. letztwillige Verfügung unter der Auflage er68

Zur Ausnahme Einmal-Vor-GmbH vgl. Flume Die juristische Person, 1983, S. 172. Vgl. dazu Roth Das Treuhandmodell des Investmentrechts. Eine Alternative zur Aktiengesellschaft?, 1972, S. 138 f. 70 Roth aaO. (Fn. 69), S. 135f., 157ti. 71 Westebbe aaO. (Fn. 52), S. 24f., 50ff., 73f., 80, 102ff„ 112ff., 135f. 69

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wirbt, es wie ein Stiftungsorgan nach Maßgabe einer vom Stifter geschaffenen Satzung zu verwalten und im Fall seines Todes bzw. seiner Auflösung an einen in der Satzung benannten oder gemäß der Satzung vom Vollziehungsberechtigten zu benennenden neuen Stiftungsträger herauszugeben. 72 Ebensowenig muß sich etwas daran ändern, daß (nur) der Vollziehungsberechtigte die Erfüllung der Auflage ( = die Verwaltung und Verwendung des Stiftungsvermögens nach Maßgabe der Satzung) verlangen kann. Allerdings tut der Stifter gut daran, es insoweit nicht bei der gesetzlichen Regelung nach § 525 BGB bzw. § 2194 BGB zu belassen. Soweit es sich um eine privatnützige Stiftung handelt, bietet sich für die Zeit nach dem Tod des Stifters die Berufung der Begünstigten an. Im Fall der Schenkung unter Auflage ist dieser Weg unstreitig zulässig. 73 Im Fall der letztwilligen Verfügung unter Auflage gibt es zwar Vorbehalte wegen der Gefahr der Vermischung von Auflage und Vermächtnis, 74 doch sind diese jedenfalls dann unbegründet, wenn der Vollziehungsanspruch wie bei der nicht anerkannten Stiftung nicht auf Leistung an die Begünstigten, sondern auf satzungsmäßige Verwaltung und Verwendung des Stiftungsvermögens gerichtet ist. Handelt es sich um eine gemeinnützige Stiftung, so scheint das Gesetz bereits die angemessene Lösung zu bieten, indem es in § 525 II BGB bzw. in § 2194 S. 2 BGB der zuständigen Behörde den Vollziehungsanspruch zuweist. Tatsächlich trifft das indessen allenfalls zu, wenn sich der Stiftungszweck mit den herrschenden Gemeinwohlvorstellungen deckt. Und selbst dann kann dem Stifter daran gelegen sein, eine Person oder Institution aus dem Bereich der Gesellschaft zu berufen, ist doch der Vorbehalt gegen die behördliche Stiftungsaufsicht einer der wichtigsten Gründe dafür, daß selbst im Fall relativ großer Stiftungsvermögen die nicht anerkannte Stiftung der anerkannten vorgezogen wird. Schließlich kann man mittels entsprechender Satzungsbestimmung eine Haftung des Stiftungsträgers für die Schädigung des Stiftungsvermögens einführen. Auch dies fällt noch in das Innenverhältnis, in dem man die nicht anerkannte Stiftung - der Lehre K. Schmidts entsprechend - durch Rechtsgeschäft zur virtuellen juristischen Person machen kann. 75 Rechtsfortbildung muß nur stattfinden - insoweit ist sie freilich unerläßlich - , um der rechtlichen Verselbständigung der nicht anerkannten Stiftung auch Wirksamkeit im Außenverhältnis zu verleihen. Das Treuhandmodell des Investmentrechts zeigt, was erforderlich ist, um eine solche Rechtsfortbildung zu rechtfertigen: Das Stiftungsvermögen muß getrennt vom Vermögen des Stiftungsträgers verwaltet werden; durch eine effektive Kontrolle K. Schmidt in Hopt/Reuter aaO. (Fn. 5), S. 175, 184f., 186f. MünchKommBGB/Äo///)o«er, 3. Aufl. 1995, § 525 Rn. 7 74 Vgl. MünchKommBGB/Schlichtung, 3. Aufl. 1997, § 2194 Rn. 3 und 5; Staudinger/Otte BGB, 13. Aufl. 1996, § 2194 Rn. 9 einerseits und SoergeUDieckmann BGB, 12. Aufl. 1992, § 2194 Rn. 7 75 Insoweit nehme ich meine Bedenken (Fn. 53, S. 203, 222 f.) zurück. 72

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muß sichergestellt sein, daß eine Vermögensvermischung unterbleibt. 76 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so haftet weder das Stiftungsvermögen den Eigengläubigern des Stiftungsträgers noch das Eigenvermögen des Stiftungsträgers den Stiftungsgläubigern. Umgekehrt haften beide Vermögensmassen beiden Gläubigergruppen, wenn sie nicht vorliegen. Nur den Zugriff der Eigengläubiger des Stiftungsträgers auf das Stiftungsvermögen zu sperren, den Zugriff der Stiftungsgläubiger auf das Eigenvermögen des Stiftungsträgers dagegen zuzulassen, ist entgegen K. Schmidt nicht angängig.77 Fraglich ist, wer die Eigengläubiger des Stiftungsträgers durch Drittwiderspruchsklage in der Zwangsvollstreckung und durch Aussonderungsklage in der Insolvenz abwehren kann. Der Vollziehungsberechtigte kommt dafür prima facie deshalb nicht in Betracht, weil das Recht, den Vollzug der Auflage zu verlangen, einen Anspruch gegen den Stiftungsträger darstellt, der dogmatisch mit der Schuldnerfremdheit des Stiftungsvermögens nichts zu tun hat. Wenn der Vollziehungsberechtigte jedoch das Eigeninteresse der nicht anerkannten Stiftung gegen den Stiftungsträger zu wahren hat, dann ist er folgerichtig auch insofern als Sachverwalter dieses Interesses anzuerkennen, als es Außenwirkung entfaltet. Der Umschlag des Interessenschutzes in das Außenverhältnis muß, wenn er praktische Bedeutung haben soll, mit einem Umschlag der Durchsetzungsmacht ins Außenverhältnis einhergehen. Eine Rechtsfortbildung, die sich auf den Schutz bezieht, ohne auch seine praktische Relevanz zu gewährleisten, hat keinen Sinn.

IV. Die Normativbestimmungen der unselbständigen Stiftung. Für das Stiftungsgeschäft ( = die Schenkung bzw. letztwillige Verfügung unter Auflage) gilt § 811 BGB entsprechend. Auch die nicht anerkannte Stiftung muß eine Satzung erhalten, die Namen, Sitz, Zweck und Vermögen regelt, so daß klar ist, worauf sich die treuhänderischen Pflichten des Stiftungsträgers, des Als-ob-Vorstands, beziehen. Dagegen sind die weiteren Voraussetzungen des § 80 II BGB - die Lebensfähigkeitsprognose und der Ausschluß der Gefährdung des Gemeinwohls - wegen ihrer Unvereinbarkeit mit der Privatautonomie des Stifters nicht verbindlich. Die Privatautonomie des Stifters stößt erst an ihre Grenze, wenn feststeht, daß es für die Stiftung unmöglich ist, ihren Zweck zu erreichen. Das hat sich früher aus § 306 BGB a.F. ergeben. Heute folgt es daraus, daß von vornherein vorliegende Auflösungsgründe logischerweise bereits Entstehungshindernisse sein müssen. 78 Zweifel am Sinn eines Rechtsgeschäfts auf ihre Tragfähigkeit zu beurteilen, 76 77 78

Roth aaO. (Fn. 69), S. 131 f. K. Schmidt in Hopt/Reuter aaO. (Fn. 5), S. 175, 185 f. Das gilt jedenfalls insofern, als die Anerkennung versagt werden kann und muß.

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ist Sache desjenigen, der das Rechtsgeschäft vornimmt. I m übrigen gelten die §§ 134, 138 B G B , die die Verbotswidrigkeit oder Sittenwidrigkeit des Stiftungsgeschäfts mit seiner Nichtigkeit ahnden. D a b e i ist Sittenwidrigkeit nach den Grundsätzen des Lüth-Urteils des BVerfG 7 9 u . a . dann anzunehmen, wenn das Stiftungsgeschäft verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter verletzt. Für eine darüber hinausgehende Grenze wegen Gefährdung des Gemeinwohls infolge der „nicht bloß entfernt liegenden M ö g l i c h k e i t . . . , daß die Erlangung der Rechtsfähigkeit u n d die damit verbundene Verfolgung des Stiftungszwecks durch die dann rechtswidrige Stiftung zu einer Beeinträchtigung von Verfassungsrechtsgütern führen w ü r d e n " 8 0 , läßt die Privatautonomie des Stifters genausowenig R a u m wie die Privatautonomie von Vereinsgründern in analogen Vereinsgründungsfällen. D e r § 80 II B G B letztlich zugrunde liegende Vorbehalt gegen eine Fürsorge der staatlichen Verwaltung für wenig erfolgversprechende Stiftungsvorhaben u n d / o d e r Stiftungsvorhaben von zweifelhafter Förderungswürdigkeit ist im Fall der nicht anerkannten Stiftung mangels Staatsaufsicht gegenstandslos, ganz abgesehen davon, daß ihm auch im Fall der selbständigen Stiftung von Verfassungs wegen nicht durch Einschränkung der Privatautonomie des Stifters, sondern durch Abschaffung der Mitverwaltung und Mitverantwortung staatlicher Verwaltungsbehörden Rechnung zu tragen ist. 8 1 D a die nicht anerkannte Stiftung nur mittels Rechtsfortbildung zu einem mit Drittwirkung rechtlich verselbständigten Vermögen wird, gilt für sie noch mehr als für die anerkannte Stiftung das G e b o t , keine Wertungs- u n d Wirkungswidersprüche in der Rechtsordnung zu erzeugen. Ich habe deshalb an anderer Stelle unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien z u m B G B die Auffassung vertreten, auf die nicht anerkannte privatnützige Stiftung sei § 2210 B G B analog anzuwenden. 8 2 D e m hat K. Schmidt widersprochen. Wie auch von mir zugestanden werde, sei der Minderheitsantrag, die zeitliche Grenze der Verwaltungstestamentsvollstreckung auf die Auflage zu erstrekken, weil der Erblasser sonst in der L a g e sei, „ohne landesgesetzliche G e nehmigung eine Stiftung oder, ohne den landesgesetzlichen Erfordernissen zu genügen, ein deutschrechtliches Familienfideikommiß ins Leben zu rufen", an der Kommissionsmehrheit gescheitert. 8 3 Es gebe deshalb keine A n schauungslücke des Gesetzgebers, die die analoge A n w e n d u n g des § 2210 B G B rechtfertigen könnte. 8 4 Dieser Gedankengang unterschlägt die von mir maßgeblich hervorgehobene Begründung für die Haltung der K o m m i s sionsmehrheit. Die Kommissionsmehrheit hat das Anliegen der Minderheit 79 80

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BVerfGE 7, 193 ff. BT-Drucks. 14/8894, S. 10.

Ausführlicher Reuter aaO. (Fn. 21), 27, 43 f. AaO. (Fn. 53), S. 203, 225 ff. Protokolle V, S. 308.

K. Schmidt in Hopt/Reuter aaO. (Fn. 5), S. 175, 188 f.

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nicht als unberechtigt verworfen, sondern die Auflage wegen ihrer bloß schuldrechtlichen Wirkung als ungeeignetes Mittel zur Gesetzesumgehung angesehen.85 Eben mit der bloß schuldrechtlichen Wirkung soll es indessen nach dem Konzept der nicht anerkannten Stiftung als virtueller juristischer Person (und jetzt auch nach der hier vertretenen Ansicht) ein Ende haben. Zumindest insoweit ist die Anschauungslücke des historischen Gesetzgebers nicht bezweifelbar. Für die nicht anerkannte gemeinnützige Stiftung paßt die analoge Anwendung des § 2210 BGB freilich nicht. Denn die Verwaltungstestamentsvollstreckung betrifft allein die Vermögensverwaltung anstelle (wenn auch nicht nach dem Willen) der Erben des Erblassers. Das Recht des angloamerikanischen trust bestätigt die Unanwendbarkeit der Dreißig)ahresgrenze auf die gemeinnützige Stiftung, nimmt es doch den trust mit einem charitable purpose vom Geltungsanspruch der (der deutschen Dreißigjahresgrenze entsprechenden) rules against perpetuities aus.86 Wertungswidersprüchlich wäre es auch, wollte man die rechtliche Verselbständigung zur nicht anerkannten Stiftung für wirtschaftliche Zwecke zulassen. Wie im Fall des wirtschaftlichen Vereins87 muß es im Fall der wirtschaftlichen Stiftung beim unpassenden Recht (keine Immunität des Stiftungsvermögens in der Zwangsvollstreckung und im Insolvenzverfahren gegen den Stiftungsträger) bewenden. Zu Unrecht wird immer wieder bestritten, daß die Vorbehalte gegen den wirtschaftlichen Verein auch gegenüber der wirtschaftlichen Stiftung bestehen. 88 Wenn § 22 BGB den Verein grundsätzlich als Rechtsform für wirtschaftliche Tätigkeit sperrt, dann ist der Grund dafür im Fehlen von am wirtschaftlichen Schicksal des Geschäftsbetriebs interessierten Anteilseignern zu sehen. Nur dadurch unterscheidet der Verein sich nämlich von allen Rechtsformen, zu deren Gunsten die Sperre eintritt.89 Die Kapitalbindung, die man vielfach als Besonderheit der Vereine des Handelsrechts nennt, 90 gibt es auch beim Verein, und zwar viel weitergehend. Denn wegen der nichtvermögensrechtlichen Natur der Vereinsmitgliedschaft scheiden Ausschüttungen und Abfindungen an die Mitglieder von vornherein aus; Grenzen nach Art der kapitalgesellschaftsrechtlichen Kapitalbindung sind überflüssig. Im übrigen gehört zu den Vereinen des Handelsrechts auch die Genossenschaft, die genausowenig Kapi-

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Protokolle V, S. 308. Westebbe aaO. (Fn. 52), S. 56. 87 Ausführlich MünchKommBGB/Äe«ter aaO. (Fn. 17), § 54 Rn. 6 ff. 88 K. SchmidtOB 1987, 261, 262; Stengel Stiftung und Personengesellschaft, 1993, S. 39f. 89 Ausführlicher MünchKommBGB//?e«teraaO. (Fn. 17), §§ 21, 22 Rn. 10 ff. 90 Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Stiftungsrecht Η III 2 hält gar die Sperre analog § 22 BGB deshalb bei Stiftungen für unerheblich, weil die kapitalgesellschaftsrechtliche Kapitalbindung durch die stiftungsrechtliche Vermögenserhaltung vollwertig ersetzt werde (ebenso Burgard NZG 2002, 697, 702). 86

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talaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften kennt wie der Verein.91 In den Materialien zum UmwG heißt es folgerichtig, im Verhältnis zum wirtschaftlichen Verein verstärkten sich die Bedenken gegenüber der wirtschaftlichen Stiftung noch, weil es dort nicht nur wirtschaftlich desinteressierte, sondern überhaupt keine Mitglieder gebe. 92 Die Rechtsvergleichung bestätigt diese Sichtweise. In den USA beschäftigt man sich mit den wirtschaftlichen und rechtlichen Besonderheiten von Non-Profit-Organisationen. O b sie Mitglieder haben oder nicht 93 , spielt keine Rolle. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist der Ausfall von share-holders. 94 Gewiß ist in den USA ebenso wie in Deutschland noch nicht abschließend geklärt, welche rechtlichen Konsequenzen aus dem Fehlen von Anteilseignern zu ziehen sind. Gesichert ist jedoch auf jeden Fall die Einsicht, daß die Entwicklung nicht unterschiedlich verlaufen darf je nachdem, ob der Ausfall von Anteilseignerinteressen auf der nichtvermögensrechtlichen Natur der Mitgliedschaften oder auf dem Totalausfall von Mitgliedschaften beruht. Das gilt nicht nur für Verein und Stiftung als juristische Personen, sondern auch als jenseits der juristischen Person verselbständigte Personenvereinigung oder Vermögensmasse.

V. Schluß Das Stiftungsrecht ist so etwas wie die Irredenta des privaten Organisationsrechts in Deutschland. Während Entstehung und Tätigkeit von Vereinen längst dem Einfluß der staatlichen Verwaltung entzogen sind, sind Entstehung und Tätigkeit von (selbständigen) Stiftungen ihm nach wie vor unterworfen. Das ist so, obwohl die Grundlagen des Stiftungsrechts inzwischen fast unbestritten mit denen des Vereinsrechts übereinstimmen: Es gibt nicht nur eine verfassungsrechtlich geschützte Vereinsfreiheit, sondern auch eine verfassungsrechtlich geschützte Stiftungsfreiheit. Dementsprechend gehört die Gründung von Stiftungen genauso zur Privatautonomie wie die Gründung von Vereinen; die Stiftung ist genauso juristische Person des Privatrechts wie der Verein. Da der Gesetzgeber offenbar nicht die Kraft hat, die Stiftungen gegen die Eigeninteressen der Verwaltung und gegen die der positiven Entwicklung des Stiftungswesens abträglichen Sonderinteressen innerhalb der Stiftungsverbände folgerichtig in die Privatrechtsordnung zu integrieren, ist es Aufgabe von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft ge-

Kühler Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 147f. '2 BT-Drucks. 12/6699, S. 116. 93 RichteraaO. (Fn. 1), S. 229. 94 Vgl. dazu Rose-Ackerman in Hopt/Reuter aaO. (Fn. 5), S. 73ff.; Hansmann ebda. S. 241 ff. 91

Die Stiftung zwischen Verwaltungs- und Treuhandmodell

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worden, das Stiftungsrecht extra legem sed intra ius fortzubilden. Dazu gehört, daß das Regime unpassenden Rechts für die nicht anerkannte Stiftung genauso korrigiert wird, wie das Regime unpassenden Rechts für den nicht eingetragenen Verein - unter maßgeblicher Beteiligung des Jubilars 95 - korrigiert worden ist.

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Soergel/HaddingBGB,

13. Aufl. 2000, § 54 Rn. Iff.

Zur Problematik des Vertrags zu Lasten Dritter ANDREAS

ROTH

1. Einleitung Waltber Hadding hat sich während seiner wissenschaftlichen Laufbahn immer wieder mit dem Vertrag zu Rechten Dritter befaßt,1 so daß es reizt, dieses Rechtsinstitut für die ihm gewidmete Festschrift zum Thema zu machen. Doch ist das schwierig, will man nicht „Eulen nach Athen tragen". Die folgenden Überlegungen nähern sich diesem Thema nur von seinem Rande her, d.h. von seinem Gegenteil, dem Vertrag zu Lasten Dritter, der allerdings auch bereits Gegenstand einiger Abhandlungen geworden ist,2 auf denen der folgende Beitrag aufbaut. Anlaß sind zwei höchstrichterliche Entscheidungen der letzten Jahre, in denen Dritte durch rechtsgeschäftliches Handeln, an denen sie nicht beteiligt waren, Nachteile erleiden sollten. In der Rechtsprechung bzw. den dazu ergangenen Stellungnahmen war in diesem Zusammenhang von einem - unzulässigen - Handeln3 zu Lasten Dritter die Rede. Diese Thesen sollen im folgenden überprüft werden. Ein Zivilrecht, das auf dem Prinzip der Privatautonomie beruht, ist auf die Selbstbestimmung der Individuen ausgerichtet, kennt keine Fremdbestimmung und damit auch keinen Vertrag zu Lasten Dritter. Rein dogmatisch läßt sich dieses Ergebnis auch aus der Tatsache, daß in den §§ 328 ff. BGB nur der Vertrag „zugunsten Dritter" geregelt ist, als Umkehrschluß ziehen. So sah es schon das Reichsgericht4 und sieht es die heute ganz übereinstimmende Lehre.5 1 Hadding, Der Bereicherungsausgleich beim Vertrag zugunsten Dritter, Tübingen 1970; Zur Auslegung des § 335 BGB, AcP 171 (1971), 403ff.; Zur Theorie des Vertrages zu Rechten Dritter im deutschen Recht, Festschrift Imke Zajtay, Tübingen 1982, S. 185ff.; Schuldverhältnis und Synallagma beim Vertrag zu Rechten Dritter, Festschrift Joachim Gernhuber, Tübingen 1993, S. 153ff.; Kommentierung im Soergel, BGB, 12. Aufl. 1990, zu §§ 328-335 BGB. 2 Vgl. Martens AcP 177, 113; Habersack Vertragsfreiheit und Drittinteressen, 1992; Klein JZ 1997, 390 (zu Haftungsbeschränkungen). 3 Es geht hier nicht nur um Verträge, sondern auch um Beschlüsse eines Vereins oder einer Wohnungseigentümergemeinschaft (unten 4.). 4 RGZ 111, 116; vgl. auch BGHZ 58, 219; 78, 375. 5 Palandt/Heinrich BGB, 62. Aufl. 2003, Vor § 328 Rn. 10; Erman/Westermann BGB, 10. Aufl. 2000, Vor § 328 Rn. 10; Martens AcP 177, 139; Staudinger/Jagemann BGB, 13. Aufl. 2000, Vor § 328 Rn. 42.

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Andreas Roth

Überdies wird das „Prinzip der eigenen Gestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen durch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) gewährleistet"6 und bedeutet den Ausschluß vertraglicher Fremdbestimmung. So eindeutig und einleuchtend das Verbot eines Rechtsgeschäfts zu Lasten Dritter dem Gesetz entnommen werden kann, so unklar ist die daraus zu ziehende Konsequenz in Einzelfragen. So wird beispielsweise behauptet, der Gesetzgeber habe mit dem 1977 eingefügten § 1629 Abs. 3 BGB 7 eine Art Vertrag zu Lasten Dritter anerkannt,8 ein Unterhaltsverzicht könne ein solcher Vertrag zu Lasten Dritter sein9 oder der vereinbarte Wegfall einer „Altenteilverpflichtung" bei Heimunterbringung des Berechtigten,10 und auch die Belastung des Erwerbers von Wohnungseigentum mit Schulden seines Vorgängers sei wegen der Drittbelastung unzulässig.11 Schon diese wenigen Beispiele zeigen, daß der Begriff „Vertrag zu Lasten Dritter" sehr unterschiedlich gebraucht wird, was dann schnell hinsichtlich der Konsequenzen zu Mißverständnissen führt. Daher zunächst zur begrifflichen Klarstellung: Einige Autoren unterscheiden bei Verträgen mit Drittwirkung zu Recht zwischen solchen, bei denen die juristischen Folgen des Vertrages den Dritten treffen, weil dies von den Vertragsparteien gewollt ist, und Verträgen, bei denen die Drittwirkung reflexartig nicht unmittelbar als Folge eines Willens - eintritt.12 Erstere werden als Verträge zu Lasten Dritter bezeichnet, die ipso iure unzulässig seien, letztere als Verträge mit Lastwirkung für Dritte, bei denen im Einzelfall zu prüfen ist, inwieweit sie zulässig sind. Als Beispiel diene die Schlüsselgewalt gemäß § 1357 BGB: Hier wird zwar ein Ehegatte ohne seine Beteiligung durch einen Vertrag zweier anderer Personen verpflichtet; jedoch tritt diese Wirkung unabhängig davon ein, ob sie von den Parteien des Vertrages gewollt ist. Es handelt sich somit um einen Vertrag mit Lastwirkung für Dritte.

2. Die bisher diskutierten Probleme Viele Fragen sind in diesem Zusammenhang bereits weitgehend ausdiskutiert: Ein klassischer Fall der Drittbelastung ist die bereits erwähnte Schlüsselgewalt gemäß § 1357 BGB, wonach ein Ehegatte den anderen bei BVerfG NJW 1986, 1860. 1. EheRG vom 1. 7. 1977, geändert durch das UnterhaltsänderungsG vom 1. 4. 1986. 8 Staudinger/Kaduk BGB, 12. Aufl. 1986, vor § 328 Rn. 64. 9 Staudinger/Jagemann aaO. (Fn. 5), § 328 Rn. 45. i» BGH WM 2002, 598; ZErb 2003, 259. 11 Vgl. RollDNotZ 1986, 132; Wenzel WuM 2000, 106. 12 Martens aaO. (Fn. 2), S. 169; Habersack aaO. (Fn. 2), S. 28f. 6

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Geschäften zur Deckung des angemessenen Lebensbedarfs der Familie mit verpflichten kann. Die an dieser Bestimmung geübte Kritik hat unter anderem auch die in Art. 2 Abs. 1 G G geschützte Privatautonomie verletzt gesehen. 13 Richtig ist, daß der nicht handelnde Ehegatte durch ein Rechtsgeschäft, das sein Gatte abschließt, als Gesamtschuldner verpflichtet wird, ohne selbst in irgendeiner Weise an diesem Rechtsgeschäft beteiligt zu sein. Andererseits tritt diese Rechtsfolge unabhängig vom Willen der handelnden Personen ein. Diese nachteiligen Wirkungen könnten daher gerechtfertigt sein. Das Bundesverfassungsgericht hat gegenüber der Kritik auf die mit einer Heirat übernommene gegenseitige Verantwortung und die Pflicht der Ehegatten zur Sicherung des Familienunterhalts abgestellt; diese rechtfertige die Einschränkung finanzieller Selbstbestimmung, zumal die gesetzliche Regelung wegen der Möglichkeit zur Beschränkung und zur Ausschließung (nach § 1357 Abs. 2 BGB) keine übermäßige Belastung darstelle. 14 Außerdem, so ist zu ergänzen, hat die Vorschrift in der Mitberechtigung beider Ehegatten noch eine weitere Komponente, die über den Gläubigerschutz hinausgeht. Diese Mitberechtigung stärkt die Ehe als Wirtschaftsgemeinschaft und bildet einen Ausgleich für die Belastung des nicht handelnden Ehegatten. Dies dürfte letztlich den Eingriff in die Privatautonomie rechtfertigen, 15 ohne daß damit etwas über die Sinnhaftigkeit der Vorschrift in der heutigen Gesellschaft ausgesagt ist. In vielen Konstellationen resultiert die Drittbelastung aus dem Verlust einer Regreßmöglichkeit, so wenn der Gläubiger einem von mehreren Gesamtschuldnern die Schuld erläßt, ohne daß dies für die anderen Gesamtschuldner gelten soll. Der Erlaß selbst stellt keinen Rechtsnachteil für die übrigen Gesamtschuldner dar, da der Gläubiger ohnehin nicht gehindert ist, sich willkürlich einen von ihnen herauszugreifen. Problematisch ist der Verlust eines Regreßanspruches. Es ist nach allgemeiner Ansicht eine Folge der Unzulässigkeit drittbelastender Verträge, daß eine solche geschilderte Vereinbarung den Rückgriff unter den Gesamtschuldnern nach § 426 BGB nicht berührt. 16 Auch für eine vorgängige vertragliche Haftungsfreistellung besteht weitgehend Einigkeit, daß der Dritte durch sie keinen Nachteil erleiden darf und sein Rückgriff gegen den Freigestellten nicht gehindert ist. 17 Auch der Bürge, der sich für eine Gesamtschuld verbürgt hat 18 , kann, wenn Derleder FUR 1990, 106; Palandt/Diedenchsen BGB, 57 Aufl. 1988, § 1357 Anm. 1 d. BVerfG NJW 1990, 175. 15 So auch: Käppier AcP 179, 256; Holzhauer JZ 1977, 731. 16 BGHZ 11, 174, NJW 1992, 2287; Erman/Westermann BGB, § 423 Rn. 1; Palandt/Heinrichs BGB, § 423 Rn. 3; Selb Mehrheit von Gläubigern und Schuldnern, 1984, § 6 II 7 a. " BGHZ 12, 213, 218, NJW 1989, 2387; Medicus]Z 1967, 398; Keuk AcP 168, 182f.; a.A. nur Riedel Haftungsausschluß in der Energieversorgung, 1972, S. 61 f. 18 Etwas anderes gilt, wenn er sich nur für einen Gesamtschuldner verbürgt hat (vgl. MünchKommBGB/Habersack, § 774 Rn. 7; § 765 Rn. 103; BGHZ 46, 14). 13 14

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der Gläubiger einem anderen Gesamtschuldner die Schuld erläßt, von diesem gleichwohl Ausgleich verlangen.19 Schließlich ist vergleichbar die Situation, daß der Gläubiger einer OHG dieser eine Schuld erläßt und mit ihr verabredet, die Haftung eines Gesellschafters - in der Praxis meist eines ausgeschiedenen - solle bestehen bleiben. Während das Reichsgericht eine solche Vereinbarung für zulässig hielt,20 hat der BGH gegenteilig entschieden.21 Letzterer begründet seine Auffassung mit der drittbelastenden Wirkung der Vereinbarung: Obwohl der Gesellschafter genauso wie ein Gesamtschuldner die Möglichkeit des Rückgriffs (gemäß § 670 BGB oder § 774 BGB analog) behalte, werde seine Rechtstellung verschlechtert, da er seine Rechte aus § 129 HGB verlöre.22 Deshalb sei die Vereinbarung als Vertrag zu Lasten Dritter unzulässig. Zum gleichen Ergebnis kommt die herrschende Lehre.23 Im Ergebnis wird in allen diesen Fällen die belastende Drittwirkung dadurch ausgeschaltet, daß der Regreß zugelassen wird. Umgekehrt liegt die Situation bei dem mit einer Schuldübernahme verbundenen Gläubigerwechsel, wenn sie nach § 414 BGB zwischen dem Gläubiger und dem Ubernehmenden vereinbart wird und somit der Schuldner nicht beteiligt ist. Zwar wird dem moralischen Aspekt, seine Schulden selbst zahlen zu wollen, vom Gesetz keine rechtliche Qualität zugesprochen. Ein darüber hinausgehender rechtlicher Nachteil könnte aber in dem Regreß bestehen, dem sich der Schuldner durch den Ubernehmenden ausgesetzt sieht. Um die darin liegende Fremdbestimmung zu vermeiden, wurde erwogen, den Bereicherungsrückgriff gem. § 814 analog auszuschließen.24 Viele Autoren wenden die §§ 404 f. BGB auf den Regreß des Übernehmenden analog an,25 damit der Schuldner durch die Schuldübernahme keine rechtlichen Nachteile erleide. Eine verbreitete Ansicht will weitergehend dem Schuldner analog zu § 333 BGB ein Zurückweisungsrecht zusprechen. 26 Dieses Anliegen mag rechtspolitisch verständlich sein, doch

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Selb aaO. (Fn. 16), § 6 II 7f. RG JW 28, 2612. 21 BGHZ 47, 376. 22 B G H Z 47, 376, 379 f. 23 Allerdings ist die Begründung in der Literatur eine andere: Sie zieht die Konsequenz aus der in § 129 HGB normierten Akzessorietät (Fischer H G B - G r o ß Kommentar, § 129 Rn. 12; K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 1997, § 49 II 3 a; Röhrichthon Westphalen/ von Gerkan HGB, 2. Aufl. 2001, § 128 Rn. 1). 24 So Reeh Grundprobleme des Bereicherungsrechts, 1975, S. 84; dagegen: Medicus Bürgerliches Recht, 19. Aufl. 2002, Rn. 952; Erman/H.P. Westermann BGB, § 814 Rn. 4. 25 Canaris Festschrift Karl Larenz (hrsg. v. Paulus, Diederichsen, Canaris), 1973, S. 845; MünchKommBGB/Möschel, 4. Aufl. 2003, § 414 Rn. 6; Palandt/Heinrichs BGB, § 414 Rn. 1; Medicus Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2002, Rn. 61; RGRK/ Weier BGB, 12. Aufl. 1978, § 414 Rn. 2; Coester-Waltjen Jura 1999, 659. 26 Larenz Schuldrecht Bd. 1,14. Aufl. 1987, § 351 a; Esser/Schmidt Schuldrecht Bd. 1, Allg. Teil, Teilbd. 2, 8. Aufl. 2000, § 37 II; Döraer Dynamische Relativität, 1985, S. 131; Erman! 20

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liegt hinsichtlich der fehlenden Mitwirkung des Schuldners keine unbewußte Gesetzeslücke vor, wie die Motive deutlich belegen.27 Der Gesetzgeber hat hier den Schuldnerschutz bewußt zurücktreten lassen.28 Außerdem würde auch eine analoge Anwendung des § 333 BGB nicht immer schützen, da ein Dritter eine Schuld mit befreiender Wirkung nach § 267 BGB tilgen und dann, gestützt auf GoA oder §§ 812 f. BGB, beim Schuldner Rückgriff nehmen kann. In letzter Konsequenz sieht sich der Schuldner lediglich einem anderen Gläubiger gegenüber - der Abtretung ähnlich. Eine analoge Anwendung von § 333 ist nicht zu befürworten, da durch die analoge Anwendung der §§ 404 f. BGB die Parallelität zur Abtretung gewahrt bleibt, die einen weitergehenden Schutz auch nicht kennt. Die Verkehrsfähigkeit rechtfertigt die minimale Drittbelastung. Ein weiteres, in der Vergangenheit diskutiertes Thema in diesem Zusammenhang sind die Auswirkungen vertraglicher Haftungsbeschränkungen auf Dritte, insbesondere solche, hinsichtlich derer der Vertrag Schutzwirkung entfaltet; hier wird vor allem der Grundsatz der wirtschaftlichen Verbundenheit mit einem Vertragspartner29 oder ein Wissenselement als Zurechnungsgrund herangezogen30: Kannte der Dritte die entsprechende Klausel oder mußte er mit einer entsprechenden Verwendung rechnen, so wird sie ihm auch zugerechnet.31 Schon sehr lange diskutiert wird die Abgrenzung einer Vereinbarung mit belastender Drittwirkung von dem in § 328 f. BGB geregelten Vertrag zugunsten Dritter, der ich im folgenden zunächst ein paar Gedanken widmen möchte. Anschließend werden zwei derzeit aktuelle Fragen der Drittbelastung diskutiert, nämlich die Unterhaltsvereinbarungen in Eheverträgen sowie Beschlüsse einer Wohnungseigentümergemeinschaft, die dem Erwerber von Wohnungseigentum Verpflichtungen des Voreigentümers auferlegen.

Westermann BGB, § 414 Rn. 1; Westermann/Bydlinski BGB-Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1999, § 19/4; Fikentscber Schuldrecht, 9. Aufl. 1997, Rn. 615. 27 „Dagegen ist die Einwilligung des Schuldners, welcher zur Folge der Übernahme der Schuld an seiner Stelle seitens eines Dritten aus dem Schuldverbande austreten soll, an sich nicht erforderlich ..." (Motive zum BGB, Bd. 2, S. 143). 28 Vgl. Kübels Entwurf zum Schuldrecht (Schubert Die Vorlagen der Redaktoren zum BGB, Schuldrecht 1, S. 991). 29 BGHZ 116, 293, 296. Μ Soergel/Hadding BGB, Anh. § 328 Rn. 21 ff.; Klein }Z 1997, 390. 31 Räcke Haftungsbeschränkungen zugunsten und zu Lasten Dritter, 1995, S. 205; Klein JZ 1997, 396; BGH NJW 1985, 2411, 2412; kritisch: Soergel/Hadding BGB, Anh. § 328 Rn. 22; zur Berücksichtigung der Drittinteressen bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Rahmen der Inhaltskontrolle siehe Habersack aaO. (Fn. 2), S. 103ff.

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3. Abgrenzung zum Vertrag „zugunsten" Dritter Das „zu Lasten" ist offenbar die Kehrseite des „zugunsten". Allerdings wird das hier interessierende Tatbestandsmerkmal im Gesetz anders umschrieben: Der Dritte erwirbt das Recht, eine Leistung zu fordern (§ 328 BGB). Konsequent spricht Hadding daher von einem Vertrag zu Rechten Dritter.32 Die Begünstigung liegt also in dem Erwerb eines Anspruchs. Zieht man hieraus den Umkehrschluß, dann ist es nicht zulässig, einen Dritten ohne seine Mitwirkung mit einer Verpflichtung zu belasten oder ihm einen bestehenden Anspruch zu entziehen. So einfach sich diese Abgrenzung anhört, so schwierig ist die Bewertung im Einzelfall. Zunächst stellt sich die Frage, ob ein erworbener Anspruch auch immer vorteilhaft ist. Nach ganz h.M. ist dieses Günstigkeitsprinzip rein rechtlich und nicht wirtschaftlich zu verstehen.33 Insoweit besteht eine Parallele zu § 107 BGB, der dem Minderjährigen die Befugnis einräumt, ein für ihn lediglich rechtlich vorteilhaftes Geschäft ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters abzuschließen. Daher wird das Günstigkeitsprinzip in §§ 328 f. BGB in bewußter Anlehnung an § 107 BGB verstanden.34 Für die Vorteilhaftigkeit wird als entscheidend angesehen, ob der erworbene Anspruch (bei § 328 BGB) oder das Recht (bei § 107 BGB) mit rechtlichen Pflichten verbunden ist, die den Nutzen zu einem Nachteil werden lassen. Im Minderjährigenrecht besteht eine reichhaltige Kasuistik: Nebenpflichten und Obliegenheiten scheiden für die Bewertung als nachteilhaft ebenso aus35 wie öffentlich-rechtliche Lasten (Steuern, Gebühren), die beispielsweise mit einem Grundstückserwerb verbunden sind. 36 Die gleiche Überlegung gilt bei § 107 BGB für ein Grundstück, das mit einer Hypothek oder einem Nießbrauch belastet ist. 37 Erworben werde unmittelbar ein Vorteil, der Nachteil sei in diesem enthalten, mindere also lediglich den Nutzen, ohne eine selbständige Belastung zu bilden. Bei dem Anspruch auf Erwerb von Wohnungseigentum wird teilweise wegen der persönlichen Haftung immer ein rechtlicher Nachteil bejaht; 38 dagegen differenziert die herrschende AaO. (Fn. 1). MünchKommBGB/Gottwald, 4. Aufl. 2003, § 328 Rn. 97 f. Rechtsgeschäfte, die wirtschaftliche Nachteile für Dritte nach sich ziehen, sind innerhalb einer Marktwirtschaft grundsätzlich zulässig und nur in engen Grenzen (§ 138 BGB) unwirksam. Diese Grenzen sind vor allem Gegenstand des Wettbewerbsrechts. 34 Martens AcP 177, 142. 35 Soergel/Hadding BGB, § 328 Rn. 121. 36 KGJ 45, 238; Staudmger/Dilcher BGB, § 107 Rn. 15; Erman/Palm BGB, § 107 Rn. 6; MünchKommBGB/Schmitt, § 107 Rn. 39; Brox Allgemeiner Teil des BGB, 26. Aufl. 2002, Rn. 239. 37 RGZ 148, 321, 324; BGH MDR 1971, 380; Staudmger/Dilcher BGB, § 107 Rn. 16; Erman/Palm BGB, § 107 Rn. 6; kritisch im Falle des Nießbrauchs: Lange NJW 1955, 1339; Klüsener RPfleger 1981, 258, 262. 38 JauemigJuS 1982, 576; Brox aaO. (Fn. 36), Rn. 239; Gottwald BGB - Allgemeiner Teil, 2002, Rn. 106. 32

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Meinung: Die mit dem Eintritt in eine Wohnungseigentümergemeinschaft verbundenen gesetzlichen Pflichten seien nicht nachteilhaft, darüber hinausgehende vertraglich vereinbarte nach § 10 Abs. 1 S. 2 WEG wohl. 39 Ubereinstimmung herrscht, daß der Erwerb eines Mietshauses wegen des Eintritts des Erwerbers in die Mietverträge (§ 566 BGB) ebenso nachteilhaft ist 40 wie der Erwerb einer Mitgliedschaft einer Kommanditgesellschaft. Letztlich dient als entscheidendes Abgrenzungskriterium die Frage, ob die Last unmittelbar mit dem Rechtserwerb verbunden ist oder nur mittelbar.41 Diese Sichtweise gilt nach herrschender Meinung auch beim Vertrag zugunsten Dritter. Schon ein Forderungserwerb unter einer Auflage wird wegen der damit verbundenen unmittelbaren Verpflichtung als ein belastender Vertrag angesehen. 42 Zulässig sei dagegen die Zuwendung eines Anspruchs auf einen Grundstückserwerb und zwar auch dann, wenn es sich um ein Mietshaus handelt, da der Übereignungsanspruch noch nicht den Eintritt in die Mietverhältnisse auslöse. Die Ubereignung eines Grundstücks selbst ist dagegen im Rahmen des § 328 BGB schon wegen der Bedingungsfeindlichkeit der Auflassung gemäß § 925 Abs. 2 BGB nicht möglich; dasselbe Ergebnis ergebe sich daraus, daß eine Verfügung zugunsten Dritter nicht zulässig sei. 43 Die Ablehnung der Zulässigkeit einer rechtsgeschäftlich vereinbarten Nachfolgeklausel in einem Gesellschaftsvertrag wird vom BGH deshalb folgerichtig mit zwei Erwägungen begründet: Zum einen sei dem BGB eine Verfügung zugunsten Dritter unbekannt, zum anderen stelle eine solche Klausel einen unzulässigen Vertrag zu Lasten Dritter dar.44 Denn ein solches Mitgliedschaftsrecht bilde ein Bündel von Rechten und Pflichten, für das eine Abwägung der Vor- und Nachteile mangels geeigneten Maßstabs nicht in Frage komme. Überdies sei es generell unzulässig, einem an einem Rechtsgeschäft nicht Beteiligten Pflichten aufzudrängen, soweit sie diesen unmittelbar träfen, und genau das sei bei Pflichten aus einem Gesellschaftsvertrag der Fall. 45 Ob die Übertragung der zu § 107 BGB entwickelten Grundsätze auf die hier interessierende Abgrenzung passend ist, bedarf der Begründung. Der " BGHZ 78, 28, 32; Palandt!Heinrichs BGB, § 107 Rn. 4; MünchKommBGB/Schmidt, § 107 Rn. 39. 40 BGH NJW 1989, 451; BayObLG NJW 2003, 1129. 41 So Staudinger/Dilcher BGB, § 107, Rn. 11; Soergel/Hadding BGB, § 328 Rn. 120. 42 Martens AcP 177, 143; MünchKommBGB/ Gottwald, § 328 Rn. 177 m.w.N.; a.A. Schmalzl AcP 164, 454. RGZ 66, 128; BGHZ 41, 95 = NJW 1964, 1121; vgl. auch Soergel/Hadding BGB, § 328 Rn. 106f.; Erman/Westermann BGB, § 328 Rn. 3; MünchKommBGB/Gottwald, § 328 Rn. 104f.; a.A. Staudinger/Jagemann BGB, § 328 Rn. 45. 44 BGHZ 68, 231. 45 So auch die h.M. der Literatur: MünchKomm/Gottwald, § 328 Rn. 174; Palandt/Heinrichs BGB, § 328 Rn. 10; Staudinger/Jagemann BGB, § 328 Rn. 44; K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 1997 § 45 V.

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Wortlaut des § 328 BGB trägt zur Lösung nicht bei: Der Anspruch auf Übereignung von Wohnungseigentum ist genauso Erwerb eines Rechts wie der eines mit einer Auflage versehenen Rechts oder der Erwerb eines Mitgliedschaftsrechts. Es ist zu überprüfen, ob die Wertungen, die im Rahmen des § 107 BGB angemessen sind, auch für die Unterscheidung zwischen dem Vertrag zu Rechten und dem zu Lasten Dritter passen. Die sprachliche Fassung beider Regelungen ist nicht identisch (hier die lediglich vorteilhafte Willenserklärung, dort der Erwerb des Rechts, eine Leistung zu fordern) und gebietet daher keine Gleichbehandlung. Vergleicht man die Regelungen hinsichtlich ihrer Rechtsfolgen, so ergeben sich einige wesentliche Unterschiede: Wertet man die strittigen, teils günstigen, teils nachteiligen Rechtsgeschäfte als nicht rechtlich vorteilhaft, führt der Vertragsschluß durch den Minderjährigen zur schwebenden Unwirksamkeit mit der Möglichkeit einer Genehmigung durch den gesetzlichen Vertreter. Ein Vertrag zu Lasten Dritter kann dagegen nicht mittels Genehmigung in Kraft gesetzt werden, da ein solcher Vertrag unzulässig ist. Der Minderjährige kann also noch in den Genuß des Rechtsgeschäftes gelangen, der Dritte dagegen nicht. Wird umgekehrt ein Geschäft als vorteilhaft eingestuft, so führt das gemäß § 107 BGB unmittelbar zur vertraglichen Bindung des Minderjährigen, während beim Vertrag zugunsten Dritter die Möglichkeit der Zurückweisung gemäß § 333 BGB besteht. 46 Bei der beschränkten Geschäftsfähigkeit sieht das BGB also eine elastische Rechtsfolge für die nachteiligen Rechtsgeschäfte vor, beim Vertrag zugunsten Dritter besteht diese Flexibilität dagegen bei den vorteilhaften Geschäften. Es liegt demnach nahe, aufgrund dieser Rechtsfolgen für den Minderjährigenschutz eine restriktive Auslegung der Vorteilhaftigkeit wegen der endgültigen Bindung zu befürworten, und genau umgekehrt beim Vertrag zugunsten Dritter großzügiger zu sein: Hier gibt es keine schwebende Unwirksamkeit; der Dritte hat das Recht nicht erworben, wenn das Geschäft als belastend eingestuft wird, während im umgekehrten Fall keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden. Diese ganz anders geartete rechtliche Ausgestaltung der Rechtsfolgen spricht für eine unterschiedliche Auslegung: Im Minderjährigenrecht ist das Geschäft im Zweifel nachteilhaft, beim Vertrag zugunsten Dritter umgekehrt. Die unterschiedlichen Rechtsfolgen deuten darauf hin, daß auch die Schutzrichtung der beiden Regelungen eine andere ist: § 107 BGB trägt der Privatautonomie des Minderjährigen Rechnung bei vorteilhaften Geschäften, während die Genehmigungsbedürftigkeit der nachteiligen Geschäfte dem Vermögensschutz dient. Umgekehrt ist es bei § 328 BGB: Das Verbot

4 6 Zur Rechtsnatur der Zurückweisung: Hadding Zur Theorie des Vertrages zu Rechten Dritter im deutschen Recht, Festschrift Imre Zajtay (hrsg. v. Graveson/Kreuzer), 1982, S. 185 f. Allgemeine Meinung ist, daß die Zurückweisung auf den Vertragsschluß rückwirkt, so daß der Dritte das Recht niemals erworben hatte.

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drittbelastender Verträge schützt die Privatautonomie, die Zulässigkeit begünstigender Verträge das Vermögensinteresse. Der Minderjährige schließt das Rechtsgeschäft persönlich ab, er wird lediglich vor sich selbst geschützt. Bei der Unzulässigkeit drittwirkender Verträge geht es darum, daß einem Dritten nicht etwas aufgedrängt werden darf, was er nicht will. Letzteres gilt für Belastungen genauso wie für Geschenke. Die §§ 328ff. BGB eröffnen insoweit keine wirkliche Ausnahme für begünstigende Verträge: Denn sie drängen dem Dritten nicht etwas auf, sondern eröffnen ihm lediglich die Möglichkeit, von einer begünstigenden Position zu profitieren, die er gleichwohl ablehnen kann. Insoweit wahrt das Zurückweisungsrecht des § 333 BGB (in begrenztem Umfang) die Privatautonomie.47 Ihre Berechtigung findet der Vertrag zu Rechten Dritter in der Erfahrung, daß Begünstigungen normalerweise angenommen werden, weshalb man als Regelfall die Wirksamkeit eines solchen Vertrages unterstellen kann. Somit ist die parallele Bewertung zum lediglich rechtlich vorteilhaften Geschäft nicht zu befürworten. Im Ergebnis sollte dies zu einer anderen Bewertung der Zuwendung unter einer Auflage führen. Möglicherweise könnte auch der Erwerb eines Gesellschaftsanteils mittels einer Nachfolgeklausel neu zu beurteilen sein, eine Frage, die allerdings einer gründlicheren Auseinandersetzung bedarf.48

4. Eheverträge zu Lasten des Kindes 4.1 Die

Rechtsprechung

Eheverträge enthalten mitunter Vereinbarungen über den Unterhalt, insbesondere einen Unterhaltsverzicht, aufgrund dessen dann ein nachrangig unterhaltspflichtiger Dritter (oder die Sozialhilfe) in Anspruch genommen wird. Zwar ist ein Unterhaltsverzicht ehevertraglich grundsätzlich zulässig (§ 1585 c BGB), doch könnte eine solche Vereinbarung, wenn durch sie unterhaltspflichtige Dritte benachteiligt werden, einen ungültigen Vertrag zu Lasten Dritter bilden.49 Gegen eine automatische Nichtigkeit spricht, daß die Inanspruchnahme des Dritten nicht unmittelbar durch diesen Ehevertrag erfolgt, da die Unterhaltspflicht auf dem Gesetz beruht. Zwar trifft den Dritten die Wirkung des Ehevertrages, jedoch nicht, weil dies von den Ver47 Börner aaO. (Fn. 26), S. 128 ist skeptisch, ob das Zurückweisungsrecht geeignet ist, die Privatautonomie wirksam zu schützen, da die Praxis häufig einen konkludenten Verzicht auf dieses Recht annehme (vgl. z.B. RGZ 119, 3). 48 Im Ergebnis gegen die h.M.: Franz-Jürgen Säcker Gesellschaftsvertragliche und erbrechtliche Nachfolge in Gesamthandsmitgliedschaft, 1979, S. 64; Brox Erbrecht, 17 Auf. 1998, Rn. 754. 49 Vgl. die Formulierungen in: BGH NJW 1983, 1851; OLG Karlsruhe FamRZ 1983, 174; Göppinger/Wax Unterhaltsrecht, 7 Aufl. 1999, Rn. 1389; Meder FUR 1993, 12ff.

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tragsparteien gewollt ist. Ein Recht, nicht in Anspruch genommen zu werden, besteht für einen nachrangigen Unterhaltsschuldner nicht. Seine Benachteiligung ist rein faktisch, da ein vor ihm Haftender ausfällt. Insoweit handelt es sich um einen Vertrag mit Lastwirkung für Dritte, der nach ständiger Rechtsprechung allerdings gemäß § 138 BGB sittenwidrig sein kann; 50 dies kommt sogar dann in Betracht, wenn die Inanspruchnahme des Dritten nicht bezweckt war.51 Das grundlegende Urteil des BVerfG vom 2. 6. 2001 52 hat in diesem Zusammenhang eine weitere Dimension eröffnet. 53 Zwar ging es in dieser Entscheidung in erster Linie um die Benachteiligung des Vertragspartners des Ehevertrages und die Frage der gestörten Verhandlungsparität unter Ehegatten, insbesondere bei Vereinbarungen zum Nachteil der schwangeren Ehefrau; 54 doch hat das Gericht zusätzlich darauf hingewiesen, daß ein Ehevertrag auch deshalb unzulässig sein kann, weil er sich zu Lasten eines Kindes auswirkt. „Die Freistellung eines Elternteils vom Kindesunterhalt durch den anderen ... verändert die wirtschaftliche Lage des Kindes jedoch wesentlich, wenn der betreuende Elternteil nicht über erhebliche finanzielle Mittel verfügt. Führt die Vereinbarung der Eltern dazu, daß der sorgende Elternteil im Falle der Scheidung wegen der Übernahme der Kindesunterhaltslasten vom anderen Elternteil seinen Unterhalt und den des Kindes nicht mehr durch Einkünfte decken oder aus Vermögen bestreiten kann, beeinträchtigt dies die Lebensumstände des Kindes in einer der Elternverantwortung zuwiderlaufenden Weise." 55 Das gleiche gelte, wenn der für das Kind sorgende Elternteil einer Erwerbstätigkeit nachgehen muß und die Mittel, das Kind in Obhut zu geben, nicht völlig gesichert sind. Im Ergebnis erkennt das Gericht einen verfassungsrechtlichen Schutz des Kindes vor verantwortungsloser Ausübung des Elternrechts zu Lasten des Kindeswohls 56 an, der auch in die Beziehung unter den Eltern hineinwirkt. 57 In den Stellungnahmen zu dem Urteil wird das Verbot der Drittbelastung zur Begründung herangezogen. 58

5 0 BSG NJW-RR 1994, 1346; BGHZ 86, 82, 87; OLG Köln FamRZ 1990, Hamm FamRZ 1996, 116; vgl. auch BGH FamRZ 1992, 1403. 51 MünchKommBGB/AWiT, § 1585 c Rn. 42 m.w.N. 52 BVerfG FamRZ 2001, 343, 346. 5 3 Zu diesem Urteil (u.a.): Dauner-Lieb AcP 202, 295; Schubert FamRZ Schwab FamRZ 2001, 350; Bergschneider FamRZ 2001, 1339; Köthel NJW 2001, 54 Dazu: Schwenzer AcP 196, 88; Büttner FamRZ 1988, 1; Dauner-Lieb AcP 55 BVerfG FamRZ 2001, 348. 5 6 So Schwab FamRZ 2001, 350. 57 Schwab FamRZ 2001, 350. 58 Dauner-Lieb AcP 2002, 308; Bergschneider FamRZ 2001, 1339; Köthel 1334 f.

634; OLG

2001, 723; 1334. 202, 295ff.

NJW 2001,

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4.2 Die Folgen der Entscheidung Fraglich ist, welche Konsequenzen aus diesem Urteil hinsichtlich der Drittbelastung zu ziehen sind, da diese nicht im Vordergrund der richterlichen Überlegungen standen. Zunächst zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen: Ein Unterhaltsverzicht eines Ehegatten auf nachehelichen Unterhalt ist grundsätzlich möglich (§ 1585 c BGB), ein Verzicht auf den Kindesunterhalt nicht (§ 1614 BGB). Daher wird zwischen Ehegatten in der Praxis statt eines Verzichts auf den Kindesunterhalt vereinbart, daß der eine Ehegatte den anderen von seiner Pflicht gegenüber dem Kind freistellt. Da der Kindesunterhalt durch eine Freistellungsvereinbarung nicht berührt wird, denn das Kind könnte seinen Anspruch gegen den aus der Vereinbarung Begünstigten nach wie vor geltend machen, ist kein Verstoß gegen § 1614 BGB und damit keine Nichtigkeit gem. § 134 BGB gegeben. Die Rechtsstellung des Kindes wird unmittelbar nicht verschlechtert. Das Familienrecht enthält somit keine Schranke für eine Freistellung vom Kindesunterhalt, so daß aus der Privatautonomie bisher auch auf die Zulässigkeit einer solchen Vereinbarung geschlossen wurde. 59 Fest steht, daß der Vertrag nicht nach den oben entwickelten Grundsätzen als Vertrag zu Lasten Dritter automatisch unzulässig ist, weil eine Benachteiligung des Kindes, soweit sie eintritt, nicht unmittelbar durch die Willenserklärungen der Eltern herbeigeführt wird. Auf der anderen Seite ist eine nachteilige Wirkung für das Kind nicht generell auszuschließen. Nun könnten die geschilderten Wirkungen gerechtfertigt sein, weil das Kindesinteresse im Vertrag durch den einen Elternteil geschützt wird, da die Mutter und das bei ihr lebende Kind parallele Interessen verfolgen, das Kind somit in dem Vertrag der Eltern quasi repräsentiert wird, so daß die Richtigkeitsgewähr des Vertrages zunächst für die Zulässigkeit der Wirkungen auf das Kind spricht. 60 Auf den ersten Blick scheint die Regelung des § 1629 Abs. 2 Satz 2 BGB diesen Gedanken zu bestätigen, da die Vorschrift dem Elternteil, der das Kind betreut, die Befugnis einräumt, Unterhaltsansprüche des Kindes gegen den anderen Elternteil allein geltend zu machen. Dagegen spricht jedoch § 1614 BGB, der der elterlichen Disposition über die Kindesinteressen eine deutliche Grenze setzt. Und - noch entscheidender - ist hier die Rechtsprechung des BVerfG anzuführen, die das Kindeswohl als eigenständigen Verfassungswert anerkennt und dies in der jüngsten Entscheidung auch auf das Unterhaltsrecht übertragen hat. Im Ergebnis schließt daher die 5 9 So die bisher h.M.: BGH NJW 1986, 1167; MünchKommBGB/Ζ,κώί», § 1606 Rn. 43; Gerber Festschrift aus Anlaß des 50jährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim BGH, 2000, S. 49; a.A. OLG Hamm FamRZ 1977; 556. 60 Vgl. Habersack (aaO. (Fn. 2), §§ 6,^14), der diesen Gedanken für Fragen der Drittbelastung fruchtbar gemacht hat.

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Vertretung des Kindes durch seinen gesetzlichen Vertreter nicht aus, die Unterhaltsvereinbarung für unzulässig anzusehen. So sieht es auch das BVerfG, das allerdings eine Verfassungswidrigkeit des Vertrages wegen einer Belastung des Kindes nur annimmt, wenn sich die Vereinbarung auch tatsächlich negativ für das Kind auswirkt. Daran würde es etwa bei sehr guten finanziellen Verhältnissen des freistellenden Ehepartners fehlen.61 Mag letzteres auch eher selten sein,62 zwingt die Tatsache, daß eine solche Konstellation nicht auszuschließen ist, zur Beurteilung jeden Einzelfalles. Dies könnte zur Folge haben, daß es letztlich auf eine Gesamtbetrachtung hinausläuft, die den gesamten Ehevertrag einschließlich seiner Regelungen über den Zugewinnausgleich oder den Versorgungsausgleich einbezieht, um dann zu bewerten, wie viel Geldmittel dem freistellenden Elternteil zur Verfügung verbleiben. Zu überlegen ist, ob nicht wenigstens für die Fälle mit Beteiligung minderjähriger Kinder eine generellere Sicht möglich und geboten ist. Faktisch führt eine solche Freistellungsvereinbarung dazu, daß der eigentlich Verpflichtete seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem minderjährigen Kind letztlich nicht nachkommt und daß der Betreuende doppelt zahlt. Angesichts des gesetzlichen Vertretungsrechts des einen Elternteils gemäß § 1629 Abs. 2 Satz 2 BGB ist es äußerst unwahrscheinlich, daß der freigestellte Elternteil von dem Kind, dessen Vertreter ja der andere Elternteil ist, in Anspruch genommen wird. Der Anspruch des Kindes steht nur auf dem Papier. Inwieweit der freistellende Elternteil tatsächlich den von dem anderen Elternteil geschuldeten Beitrag erbringt oder die Freistellung auf dem Rücken des Kindes austrägt, ist kaum zu kontrollieren. Daher kommt die Freistellungsvereinbarung einem Unterhaltsverzicht zumindest in den tatsächlichen Auswirkungen sehr nahe; sie gerät in die Nähe einer Umgehung des § 1614 BGB. Ein weiteres Argument ist die Tatsache, daß § 1606 BGB die Eltern anteilig zum Unterhalt verpflichtet und nicht als Gesamtschuldner. Mit dieser Wertung signalisiert der Gesetzgeber, daß grundsätzlich jeder Elternteil über seinen Unterhaltsbeitrag, den er an das Kind erbringt, seine Verantwortlichkeit spüren soll. Eine Freistellungsvereinbarung läßt genau diese Verantwortlichkeit entfallen. Da sich eine solche Freistellungsvereinbarung bei minderjährigen Kindern meistens nachteilhaft für das Kind auswirkt, spricht - auch wegen der Nähe zum unzulässigen Unterhaltsverzicht - ein erster Anschein für die Unzulässigkeit einer Freistellungsvereinbarung in solchen Fällen. Es wird aber vertreten, daß ein mittelbarer Nachteil nur relevant ist, wenn er eine gewisse Schwere erreicht.63 Da aber § 1614 BGB jeglichen Ver61

BVerfG FamRZ 2001, 348. Schwab FamRZ 2001, 350. 63 Für letzteres: Langenfeld DNotZ 2001, 272, 276: nur bei extrem ungerechten Ergebnissen. 62

Zur Problematik des Vertrags zu Lasten Dritter

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zieht auf den Kindesunterhalt untersagt und das Kindeswohl nicht zur Disposition der Eltern steht, ist eine Schwere der Beeinträchtigung nicht zu fordern. Nur wenn ein sachlicher Grund für eine solche Freistellungsvereinbarung besteht und eine Beeinträchtigung der Kindesinteressen ausgeschlossen ist, ist eine solche Freistellung hinnehmbar, im übrigen aber gemäß § 138 BGB unwirksam. Beim Verzicht auf Ehegattenunterhalt gemäß § 1570 BGB liegt die Situation insoweit anders, als dieser Verzicht den Kindesunterhalt selbst nicht (auch nicht mittelbar) berührt. Allerdings kann gleichwohl das Kindeswohl auch durch einen solchen Verzicht tangiert sein - ganz ähnlich wie bei einer Freistellungsvereinbarung: Der das Kind betreuende Elternteil kann aufgrund seines Unterhaltsverzichtes dem Kind möglicherweise nicht die gleichen finanziellen Möglichkeiten bieten und muß Einschränkungen für sich und das Kind hinnehmen. Oder er ist gezwungen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, was dann zu seelischen Nachteilen für das Kind führen kann. Auch insoweit wird von einem Rechtsverzicht des Ehegatten zu Lasten des Kindes gesprochen.64 Ahnlich wie bei der Freistellungsvereinbarung kann im Einzelfall eine Belastung des Kindes ausscheiden, doch setzt das Bestehen des Anspruchs aus § 1570 BGB ja gerade die Bedürftigkeit des Ehegatten voraus, was dafür spricht, daß ein Verzicht auf diesen Unterhaltsanspruch für das Kind Nachteile nach sich ziehen wird.65 Für die Zulässigkeit eines solchen Verzichts spricht, daß der Ehegatte auf einen ihm zustehenden Anspruch verzichtet. Insoweit besteht eine Parallele zu einem Verzicht auf den Zugewinn- oder Versorgungsausgleich, der sich mittelbar zum Nachteil des Kindes auswirken könnte. Steht also jegliche Vereinbarung, die sich in irgendeiner Form zu Lasten des Kindes auswirkt, unter der Gefahr der Nichtigkeit? Sicher nicht. Vielmehr bedarf es der Differenzierung: Der auf den Zugewinnausgleich verzichtende Ehegatte gibt eine originär eigene Rechtsposition auf, was ihm grundsätzlich gestattet sein muß. Die Nachteile, die ein Kind durch unvorteilhaftes geschäftliches Verhalten seiner Eltern erleidet, hat es grundsätzlich hinzunehmen. Das Kind teilt insoweit die elterliche Vermögens- und Einkommenssituation und hat keinen Anspruch auf ein bestimmtes ökonomisch vernünftiges Verhalten der Eltern. Der Unterschied zu den zuvor erörterten Vereinbarungen (Freistellungsvereinbarung und Verzicht auf den Ehegattenunterhalt des § 1570 BGB) besteht darin, daß im Falle des Verzichts auf den Zugewinnausgleich rechtlich geschützte Interessen des Kindes nicht tangiert sind, aus denen sich eine Unzulässigkeit ergeben könnte. Bei der Freistellungsvereinbarung wurde aber bereits oben begründet, daß hier ein Recht des Kindes ausgehöhlt wird. Für den Ehegattenunterhalt wegen der Betreuung eines minderjährigen Kindes gemäß § 1570 BGB ist der Anspruch zwar formal

64 65

Bergschneider FamRZ 2001, 1339. Schwab Familienrecht, 10. Aufl. 2003, Rn. 390.

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dem betreuenden Elternteil zugeordnet, inhaltlich geht es aber um einen Anspruch, der dem Kinde zugute kommen soll. Der Anspruch steht zuvorderst im Interesse des Kindeswohls,66 hat also treuhänderischen Charakter. Gemhuber nennt in diesem Zusammenhang den sozialpolitischen Zweck, Kindern, die das Elternhaus verloren haben, nicht auch noch den betreuenden Elternteil zu entziehen, evident.67 Ist die Vorschrift somit in erster Linie zum Schutze des Kindes geschaffen, ist dies auch für die Frage eines Verzichts maßgebend: Im Regelfall ist daher ein solcher Verzicht unzulässig.

5. Die Haftung des Erwerbers einer Eigentumswohnung für Schulden des Veräußerers 5.1 Die Siebt des BGH Folgende, hier etwas vereinfacht dargestellte Konstellation ist in den letzten Jahren von verschiedenen Oberlandesgerichten und schließlich im Jahre 1999 auch vom BGH zu entscheiden gewesen: Der Erwerber von Wohnungseigentum wurde von der Wohnungseigentümergemeinschaft auf Zahlung von Rückständen des Veräußerers, die aus der Zeit vor der Veräußerung stammten, in Anspruch genommen. 68 Der ausgeschiedene Wohnungseigentümer hatte die ihm aufgrund des Wirtschaftsplans obliegenden Leistungen nicht oder jedenfalls nicht in dem erforderlichen Umfang erbracht. Die nach der Eigentumsübertragung erstellte Jahresabrechnung hatte dann diese Fehlbestände aufgelistet und mit Beschluß der Gemeinschaft dem neuen Eigentümer aufgebürdet. Dieser Beschluß wurde als Grundlage für die Forderung gegen den neuen Eigentümer angesehen. Es stellt sich unter dem hier diskutierten Blickwinkel die Frage, ob eine solche Haftung, wie vielfach überlegt, einen unzulässigen „Gesamtakt zu Lasten Dritter" darstellt.69 Zunächst ist festzustellen, daß es keinen gesetzlichen Haftungsübergang der Schulden des Veräußerers von Wohnungseigentum auf den Erwerber gibt. 70 Zulässig wäre eine Regelung in der Teilungsordnung, die eine solche Haftung vorsieht, denn dadurch würde lediglich der Inhalt des Sondereigen-

6 6 MünchKommBGB/jMij»rer, § 1570 Rn. 1; vgl. auch BGH FamRZ 1996, 796, 797 sowie BVerfG FamRZ 1981, 745, 749. 67 Gernhuber/Coester-Waltjen Lehrbuch des Familienrechts, 4. Aufl. 1994, § 30 II. 68 BGHZ 142, 290. 69 Vgl. die Formulierungen in BGHZ 104, 197, 203; Roll DNotZ 1986, 132: „Rechtsgeschäft zu Lasten Dritter"; StobbeWuM 1998, 585, 586; Wraze/WuM 2000,106, der auf den Rechtsgedanken der Unzulässigkeit von Verträgen zu Lasten Dritter hinweist. 70 BGHZ 88, 302, 305; 99, 398, 360; NJW 1994, 2951 m.w.N.; Niedenführ/Schulze WEG,

6. Aufl. 2002, § 16 Rn. 60; a.A. Roll NJW 1983, 153.

Zur Problematik des Vertrags zu Lasten Dritter

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turns gemäß § 5 Abs. 4 WEG ausgestaltet. 71 Das Eigentum wird dann in Kenntnis der bestehenden Belastung erworben. Eine solche Bestimmung lag in den zu entscheidenden Fällen in der Teilungsordnung nicht vor. Es kommt somit darauf an, ob der Erwerber aus einem anderen Grund für die Schulden seines Vorgängers einzustehen hat. Während die meisten Oberlandesgerichte eine Haftung bejahten, hat der BGH diese in Ubereinstimmung mit dem vorlegenden KG abgelehnt. 72 Er vertrat die Ansicht, daß die Jahresabrechnung keine novierende, also schuldbegründende Wirkung habe, weil dies nicht dem Willen der Beteiligten entsprechen würde. Denn den Wohnungseigentümern könne nicht unterstellt werden, daß sie den Alteigentümer aus seiner Schuld entlassen und ihr eigenes Interesse am Erhalt etwaiger Sicherungs- und Vorzugsrechte, die auf dem früheren Beschluß über den Wirtschaftsplan beruhen, aufgeben wollen. 73 Der Beschluß über die Jahresabrechnung solle den Beschluß über den Wirtschaftsplan nicht ersetzen, sondern nur bestätigen. Ähnlich hatte das Gericht bereits früher entschieden, daß nur die sogenannte Abrechnungsspitze, also der Betrag, um den der nach der Jahresabrechnung geschuldete Betrag den nach dem Wirtschaftsplan beschlossenen Betrag übersteigt, festgelegt werde. 74 Etwaige Rückstände seien von dieser Abrechnung jedenfalls insoweit nicht betroffen, als sie deren rechtlichen Gehalt veränderten. Eine Novation liefe, so der BGH, auf eine schuldbefreiende Übernahme der Altschulden durch den Erwerber hinaus, was nur durch eine Vereinbarung mit dem Ubernehmenden, nicht aber durch Beschluß möglich sei.

5.2 Die Kritiker und ihre Argumente Die Begründungen der Gegenansicht setzen unterschiedlich an: Die ältere Rechtsprechung hatte in der Jahresabrechnung eine Ersetzung des Wirtschaftsplans gesehen und daraus eine Haftung hergeleitet. 75 In der jüngeren Kontroverse hatten die Oberlandesgerichte, die im Ergebnis gegenteilig wie der BGH entschieden hatten, darauf abgestellt, daß der gefaßte Beschluß über die Jahresabrechnung, weil er nicht angefochten wurde, bestandskräftig geworden sei und deshalb die Haftung begründe. 76 Auch in der Literatur

BGH NJW 1994, 1877 BGHZ 142, 290. 7> BGHZ 142, 290, 297 74 BGH NJW 1994, 1877; OLG Köln NJW-RR 1997, 1102; Staudinger/Bub BGB, § 28 WEG Rn. 252; Niedenführ/Schulze WEG, § 16 Rn. 74; Weitnauer/Hauger WEG, 8. Aufl. 1995, § 16 Rn. 51; a.A. Sauren WEG, § 16 Rn. 36 a; Demharter FGPrax 1999, 134. 75 Nachweise bei Köhler ZMR 2000, 272 Fn. 18. 76 OLG Hamburg MDR 1998, 1404; OLG Düsseldorf NJW-RR 1997, 714; OLG Köln NJW-RR 1997, 1102; so auch Weitnauer/Hauger aaO. (Fn. 74), § 16 Rn. 51. 71

72

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ist die BGH-Entscheidung überwiegend kritisch aufgenommen worden. 77 Der Wille der Eigentümer gehe dahin, die Verpflichtung zur Zahlung der Umlage gegen eine Verpflichtung zur Zahlung des Fehlbetrages zu ersetzen, 78 insoweit sei die Jahresabrechnung eindeutig und nicht auslegungsfähig. 79 Ferner wird vertreten, daß es sich bei dem Fehlbetrag nicht um eine Schuld des Veräußerers handele, sondern um eine originäre des Erwerbers. 80 Schließlich wird auf die praktischen Problemen bei einer Einzelabrechnung hingewiesen; die Abrechnung für das Jahr der Veräußerung begründe für eine Wohnung eine wohnungsbezogene Gesamtschuld. 81 Die Überlegung, was die Wohnungseigentümer mit einer Jahresabrechnung (in diesem konkreten Fall oder generell) erreichen wollen, hat stark spekulativen Charakter. Festhalten läßt sich jedenfalls, daß die in der Praxis übliche Abrechnung nach Wohnungen nicht zu einer „wohnungsbezogenen Gesamtschuld" führt, auch wenn dies für den Verwalter sicher eine sehr praktische Lösung wäre. Für eine solche Gesamtschuld fehlt es aber an einer gesetzlichen Grundlage. Im übrigen wird man sagen müssen, daß der Wille zur Begründung einer neuen Schuld schon deutlich zum Ausdruck kommen müßte. Ist dies nicht der Fall, kann ein entsprechender Wille nicht unterstellt werden. 82 Das Argument, es handele sich originär um eine Schuld des Erwerbers, vermeidet diese Spekulation. Danach würde der Wirtschaftsplan, der bestimmte laufende Zahlungen vorsieht, überhaupt keine Verpflichtungen nach sich ziehen; diese würden erst durch die Jahresabrechnung geschaffen. Köhler begründet dies Ergebnis mit dem Beispiel, daß anderenfalls bei Zuvielzahlungen des früheren Eigentümers der Erwerber einen Anspruch auf Auszahlung des Uberschusses habe. Dem ist entgegenzuhalten, daß ein Wirtschaftsplan, der Vorauszahlungen vorsieht, aber dazu nicht verpflichtet, wenig Sinn macht. Nur wenn die Wohnungseigentümer die laufenden Beiträge leisten müssen, läßt sich sinnvoll wirtschaften. 83 Nach dem Sinn und Zweck eines Wirtschaftsplanes muß dieser als verbindlich eingestuft werden. Originär handelt es sich somit um eine Schuld des früheren Wohnungseigentümers. Daher kann nur eine Novation eine Verpflichtung des Erwerbers begründen. Als nächstes ist die Frage zu beantworten, wie sich die fehlende Anfechtung der Jahresabrechnung auswirkt. Wenn man, wie der BGH, dem Beschluß schon die Intention abspricht, die Schuld beim Erwerber neu zu begründen, bedarf es selbstverständlich auch keiner Anfechtung: bestands77 78 79 80 81 82 83

Happ ZMR 2001, 85; Köhler ZMR 2000, 270; Sauren NJW 2000, 1536. Happ ZMR 2001, 87 Köhler ZMR. 2000, 271. Köhler ZMR 2000, 273. Sauren NJW 2000, 1537; ders. WEG, 4. Aufl. 2002, Rn. 43. Falls ein solcher Wille vorhanden ist, siehe unter 5.3. Wie hier: Staudingerl Bub BGB, § 28 WEG Rn. 252 m.w.N.

Zur Problematik des Vertrags zu Lasten Dritter

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kräftig wird nur das, was in dem Beschluß enthalten ist. Fehlt es an einer Schuldübernahme, so ist die fehlende Anfechtung unschädlich; insoweit ist die Entscheidung des BGH konsequent. 53 Die Novation - ein Gesamtakt zu Lasten Dritter? Aber schließlich ist der Fall zu lösen, daß die Jahresabrechnung zum Ausdruck bringt, den Erwerber für die Fehlbeträge des Veräußerers haften zu lassen. 84 Zum einen ist zu überlegen, ob die Wohnungseigentümer dies rechtswirksam beschließen können und wie sich in diesem Fall eine fehlende Anfechtung auswirkt. Möglich wäre eine Übertragung der Altschulden auf den Erwerber durch die Jahresabrechnung über ein Schuldanerkenntnis im Sinne des § 782 BGB. In der Literatur wird vertreten, daß der Beschluß über die Jahresabrechnung wie die Anerkennung eines Saldos wirke. 85 Dazu ist aber eine entsprechende Willenserklärung des zu Verpflichtenden erforderlich, an der es gerade fehlt. Die Parallele zur Saldoanerkennung überzeugt schon deshalb nicht, da diese nach richtiger Ansicht keine Novationswirkung hat. 86 Im übrigen hat die Jahresabrechnung einer Wohnungseigentümergemeinschaft eine andere Funktion: Sie ergänzt den Wirtschaftsplan und korrigiert ihn in Einzelfragen, während der Saldo lediglich feststellenden Charakter hat. Insoweit sind beide nicht vergleichbar. Handelt es sich also um einen Gesamtakt zu Lasten Dritter? Die in Rechtsprechung und Literatur verwendeten Formulierungen, die dies behaupten, 87 übergehen in ihrer Pauschalität die Tatsache, daß eine Wohnungseigentümergemeinschaft in der Lage ist (und sein muß), durch Beschluß Verpflichtungen der Wohnungseigentümer auch gegen deren Willen zu begründen. Anderenfalls gäbe es keinen Mehrheitsbeschluß gemäß § 10 Abs. 4 WEG, den das Gesetz zu Recht zuläßt, weil der einzelne Wohnungseigentümer gar nicht Dritter ist, sondern als Mitglied der Wohnungseigentümergemeinschaft selbst an dem Gesamtakt beteiligt ist; dies gilt auch dann, wenn er an dem konkreten Beschluß nicht mitwirkt oder überstimmt wird. Als Mitglied der Gemeinschaft ist er stimmberechtigt und kann auf den Willensbildungsprozeß Einfluß nehmen. Genauso wie bei einem Verein oder einer Gesellschaft geht das einzelne Mitglied mit dem Eintritt in eine Wohnungseigentümergemeinschaft eine Bindung ein, die sich aus dem Gesetz und gegebenenfalls der Teilungserklärung ergibt. Insoweit läßt sich der einzelne Wohnungseigentümer freiwillig fremd bestimmen; ein unzulässiger 84

So der „Praxistipp" von Sauren NJW 2000, 1537

85

Hauger S. 363; Weitnauer azO. (Fn. 74), § 23 WEG, Rn. 5a.

86

MünchKommBGB/Hüffer, § 781 Rn. 15; Erman/Westermann BGB, § 364 Rn. 8; Cana-

ris Großkommentar HGB, § 355 Rn. 88 f. 87 Vgl. die Nachweise in Fn. 69.

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Akt zu Lasten Dritter liegt damit nicht generell vor, wenn dem Wohnungseigentümer gegen seinen Willen eine Verpflichtung auferlegt wird. Bedeutet dies nun, daß entsprechende Vereinbarungen niemals als Akt zu Lasten Dritter zu betrachten sind? Eine solche Schlußfolgerung wäre zu weitgehend. Das Verbot der Drittbelastung trifft die Wohnungseigentümergemeinschaft selbstverständlich im Verhältnis zu Außenstehenden. Zu diesen gehört z.B. auch der bereits ausgeschiedene Wohnungseigentümer, dem nach seinem Ausscheiden keine neuen Verpflichtungen durch Beschluß auferlegt werden können. Aber auch ein aktuelles Mitglied kann im Einzelfall wie ein Dritter anzusehen sein, wenn die Wohnungseigentümergemeinschaft ihm gegenüber eine Verpflichtung begründet, die ihn wie einen Außenstehenden trifft. Damit sind die Grenzen der Zulässigkeit eines Mehrheitsbeschlusses angesprochen. So kann eine Änderung der Lastenverteilung in Abweichung von der Gemeinschaftsordnung nicht durch Mehrheitsbeschluß erfolgen; hierfür ist vielmehr Einstimmigkeit notwendig (§ 16 Abs. 2 WEG).88 Ferner hat der BGH schon früh entschieden, daß generell ein Mehrheitsbeschluß zur Änderung der Gemeinschaftsordnung (soweit eine solche Änderung in der Gemeinschaftsordnung für zulässig erklärt ist) nur möglich ist, wenn sich die Mehrheit nicht über schutzwürdige Interessen der Minderheit hinwegsetzt.89 Im vorliegenden Fall geht es um Verpflichtungen, die nicht alle Wohnungseigentümer treffen, sondern allein einem Wohnungseigentümer aufgebürdet werden. Damit wird er als einziger von diesem Beschluß negativ betroffen, so daß es sich nur formal um eine Regelung einer Angelegenheit der Wohnungseigentümergemeinschaft handelt. Inhaltlich geht es um Altschulden, d. h. um Verpflichtungen, denen das frühere Mitglied der Wohnungseigentümergemeinschaft nicht nachgekommen ist, also um das Verhältnis des Veräußerers zur Gemeinschaft. Insoweit ist der Erwerber Dritter. Selbst wenn man der Meinung ist, daß die rückständigen Beiträge zwischen Veräußerer und Erwerber zu regeln seien, so ist auch dieses Verhältnis nicht Sache der Gemeinschaft. Diese hat ihre Rückstände bei ihrem Schuldner einzutreiben, nicht bei dessen Vertragspartner. Letztlich belastet die Gemeinschaft den neuen Eigentümer wie einen Außenstehenden; er ist daher als „Dritter" anzusehen. Eine solche Übertragung von Schulden ist daher ohne Zustimmung des neu zu verpflichtenden Wohnungseigentümers als Gesamtakt zu Lasten Dritter nicht möglich.90 Da der Erwerber wie ein Dritter betroffen ist, kann die Rechtsfolge nur in der Nichtigkeit des Beschlusses liegen. Eine fehlende Anfechtung des Beschlusses ist damit unschädlich. 88

MünchKommBGB/Äö//, § 16 WEG, Rn. 5. BGHZ 95, 137. 90 Im Ergebnis wohl ähnlich: Niedenführ/Schulze, beschluß ist nichtig. 89

aaO. (Fn. 70), § 16 Rn. 65: Mehrheits-

Grundsätze ordnungsgemäßer Anlage von Stiftungsvermögen HANS-PETER

SCHWINTOWSKI

A. Ertragsminimierung versus Erhaltungsgrundsatz Stiftungen, gleich, ob sie in privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Form gegründet werden, erfüllen ihren Zweck regelmäßig aus den Erträgnissen des Stiftungsvermögens. Sie sind folglich daran interessiert, möglichst hohe Erträge zu erzielen, weil sie auf diese Weise ein besonders großes Volumen zur Erfüllung des Stiftungszweckes zur Verfügung haben. Der Wunsch, möglichst hohe Erträge zu erzielen, steht allerdings in einem erheblichen Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Erhaltung des Stiftungskapitals. Dieser in den Stiftungssatzungen regelmäßig enthaltene, das gesamte Stiftungsrecht prägende, allgemeine Erbaltungsgrundsatz verlangt vom Stiftungsvorstand dafür zu sorgen, daß zumindest das Nominalkapital der Stiftung und unter bestimmten Voraussetzungen sogar das Realkapital der Stiftung langfristig und dauerhaft erhalten bleibt. Nur auf diese Weise gelingt es nämlich den Stiftungen, den Stiftungszweck zeitlich unbegrenzt zu erfüllen. Viele Stiftungen sind in den vergangenen Jahren als Folge des dramatischen Kurseinbruches an den Börsen in Schwierigkeiten geraten, weil sie das Stiftungsvermögen zumindest teilweise in Aktien und gelegentlich sogar in Derivaten angelegt hatten. Die massiven Verluste am Kapitalmarkt seit 1999 haben dazu geführt, daß die Stiftungsvermögen in diesen Fällen erheblich abgesunken und häufig unter den Nominalwert des Stiftungsvermögens gefallen sind. Daraus resultiert die Frage nach den Grundsätzen der ordnungsgemäßen Anlage des StiftungsVermögens, verknüpft mit der Frage, wie es eine Stiftung evtl. erreichen kann, das verloren gegangene Stiftungsnominalkapital wiederzuerlangen.

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Β. Grundsätze ordnungsgemäßer der Stiftungsvermögensanlage 1. Grundlagen und Grundfragen Die Frage nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Kapitalanlage läßt sich aus ökonomisch-risikotheoretischer Perspektive und aus juristischer Perspektive stellen. Die Antworten ergeben sich häufig aus einer Gemengelage zwischen ökonomischen und juristischen Annahmen. Grundlegend ist darauf zu verweisen, daß es die eine für alle Lebenssachverhalte zutreffende und folglich auch immer gleiche richtige Anlagestrategie nicht gibt und nicht geben kann, weil die Ziele, denen ein anzulegendes Vermögen dienen soll, sehr unterschiedlich sein können. Will ein Anleger beispielsweise für seine Familie oder sein Alter Vorsorgen, so muß er vorsichtige Anlagestrategien, die auf Substanzerhaltung gerichtet sind, wählen. Es muß ihm darum gehen, eine der Höhe nach bestimmte monatliche Rente zu erzielen. Will derselbe Anleger überschüssiges Geld für einen gewissen Zeitraum unter Ausnutzung aller Steuervorteile anlegen, ohne daß er einen weitergehenden Sicherungszweck mit dem Geld verbindet, so wird der Anleger eine Fonds-Lebensversicherung abschließen. Das Risiko, daß die Papiere im Fonds während der Laufzeit an Wert verlieren können, nimmt er in Kauf, weil er auf das Geld nicht unbedingt angewiesen ist. Gleichzeitig erhöht sich bei dieser Art der Anlage aber auch die Chance, einen überdurchschnittlichen Gewinn zu erzielen. Diese Chance kann noch größer werden, wenn der Anleger Anteile an Investmentfonds erwirbt oder frei gehandelte Aktien kauft. Am höchsten wird das Gewinn- allerdings auch das Verlustrisiko, wenn der Anleger in Derivate (zum Beispiel Futures oder Optionen) investiert (nach Schätzungen beträgt hier das Risiko eines Totalverlustes 70%). Trotz des hohen Verlustrisikos kann es für einen Anleger sehr sinnvoll sein, beispielsweise ein auf Dollar lautendes Devisentermingeschäft einzugehen, jedenfalls dann, wenn es dem Anleger nicht um Gewinn und Verlust aus der Währungsoption geht, sondern um die Absicherung eines Währungsrisikos beispielsweise bei einem Kaufgeschäft, das in drei Monaten fällig ist und auf Dollar lautet. Die Antwort auf die Frage nach der ordnungsgemäßen Kapitalanlage hängt, wie die Beispiele zeigen, entscheidend davon ab, welchen Zwecken die Kapitalanlage dienen soll. Uber die Einzelheiten ist unten vertieft zu sprechen. Bevor dies geschieht, soll im Folgenden sowohl aus ökonomischer als auch aus juristischer Perspektive auf grundlegende Annahmen und auf Referenzmodelle verwiesen werden, die in gewissem Maße Leitbildcharakter für die Grundsätze ordnungsgemäßer Kapitalanlage erworben haben. Auf diese Weise wird außerhalb des Stiftungsrechtes deutlich, worüber man eigentlich reden kann, wenn es um Grundsätze ordnungsgemäßer Kapitalanlage geht.

Grundsätze ordnungsgemäßer Anlage von Stiftungsvermögen II.

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Portfolio-Theorien

Im Mittelpunkt der Diskussion über die Grundsätze ordnungsgemäßer Kapitalanlage stehen heute die Portfolio-Theorien, die allesamt auf einen Aufsatz von Harry Markowitz aus dem Jahr 1952 zurückgeführt werden können. 1 Ausgangspunkt der im Jahre 1990 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Überlegungen war, daß der Wert eines Wertpapiers letztlich durch den Schwankungsgrad, also die Volatilität sinnvoll beschrieben und vor allem auch mathematisch erfaßbar ist. Bei zunehmendem Schwankungsgrad sinkt regelmäßig der Preis das Wertpapiers. Diese verhältnismäßig simple Erkenntnis gilt auch für andere Märkte. Der Wert einer Sache sinkt, wenn der Preis wild hin und her schwankt.2 Um diesem Schwankungsrisiko zu begegnen, sollen die Anleger ihre Investitionen diversifizieren, weil dies, so Markowitz, die beste Waffe gegen Wertschwankungen darstellt.3 Die Kapitalanlage auf der Grundlage der Portfolio Management Theory ist relativ aufwendig.4 Würde das Unternehmen jedoch die Portfolio-Theorie mit dem Capital Asset Pricing Modell oder der Efficient Market Theory kombinieren, so wären „Anteile an sämtlichen gehandelten Wertpapieren entsprechend ihrem Anteil am Markt zu erwerben, und anschließend wäre unter Umständen eine Risikoadjustierung vorzunehmen" 5 . Risikoadjustierung bedeutet in diesem Zusammenhang Verringerung des Risikos durch risikoärmere Wertpapiere, zum Beispiel Staatsanleihen oder Erhöhung des Risikos durch Zuerwerb von Wertpapieren auf Kredit (Index-Fonds-Konzept). Der Erwerb und das Halten eines solchen Markt-Portfolios macht die Selektion bestimmter Aktien sowie die ständige Überwachung des Portfolios überflüssig. Die im Portfolio enthaltenen Risiken sind mit dem Gesamtmarktrisiko nahezu identisch. Gelegentliche Risikoadjustierungen können ohne großen Aufwand vom Unternehmen selbst durchgeführt werden. Eine Markt-Portfoliostrategie dieser Art sorgt dafür, daß sich das jeweils angelegte Vermögen genau so entwickelt, wie es der Gesamtmarkt tut. Gemeint ist nicht ein Marktaus schnitt, also zum Beispiel der Markt für Aktien oder für festverzinsliche Wertpapiere, sondern der Gesamtmarkt für an Börsen und im Freiverkehr gehandelte Papiere überhaupt. Anleger, die ihr Geld auf diese Weise, also entsprechend der Gesamtmarktentwicklung, anlegen wollen, können dies heute auch tun, indem sie Anteile an Fonds erwerben, die den Gesamtmarkt widerspiegeln (Index Konzept).

Portfolio Selection in: Journal of Finance, 1952, Bd. 7, S. 7 und 70. Bernstein Wider die Götter, die Geschichte vom Risiko und Risikomanagement von der Antike bis heute, 2. Aufl. 1998, S. 330. 3 Bernstei, aaO., S. 321. 4 Schäfer Anlegerschutz und die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns bei der Anlage der Sondervermögen durch Kapitalanlagegesellschaften, 1987, S. 59ff. 5 Schäfer aaO., S. 65. 1

2

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Die eigentliche Kernfrage für jeden Anleger lautet, ob er an der Gesamtmarktentwicklung mit seinem Vermögen teilnehmen will oder nicht. Anleger, die nicht an der Gesamtmarktentwicklung teilnehmen wollen, müssen wissen, daß es statistisch-mathematisch keinen Weg gibt, prinzipiell besser als der Markt abzuschneiden. Das schließt nicht aus, daß ein einzelner Fonds oder eine einzelne Aktie einmal weit mehr erzielt als der Marktdurchschnitt. Sollte der Anleger zufällig sein gesamtes Vermögen auf diesen einen Wert gesetzt haben, so hätte er selbstverständlich weit oberhalb des Marktdurchschnitts gewonnen. Er müßte dabei allerdings wissen, daß das Risiko, weit mehr als den Marktdurchschnitt zu verlieren, ganz erheblich wächst, wenn man, wie beim Roulett, alles auf eine einzige Karte setzt. Möchte der Anleger also ein Glücksspiel machen, so kann er dies selbstverständlich auch an der Börse betreiben - er muß nur wissen, was er tut, und er muß es innerhalb des Kapitalrahmens machen, der ihm zum Verspielen von Geld zur Verfügung steht. Markt-Portfoliotheorien gehen also von einem rational handelnden Anleger aus, der eine Strategie sucht, um seinen Nutzen zu maximieren. Dies gelingt im statistischen Mittel, wenn er dafür sorgt, daß sich sein Portfolio so entwickelt wie der Gesamtmarkt. Schaut man auf Marktentwicklungen, die seit Anfang 1999 dazu geführt haben, daß nahezu zwei Drittel des Wertes von börsennotierten Unternehmen am Kapitalmarkt verloren gegangen sind, so zeigt dies, daß es mit Mitteln der Markowitz-Theorien nicht möglich ist, das Risiko des Marktverfalls in den Griff zu bekommen. Ein Anleger, der, beispielsweise wie eine Stiftung, darauf angewiesen ist, sein Vermögen zu erhalten, darf sich nicht allein auf eine Markt-Portfoliostrategie bei der Anlage des Stiftungsvermögens verlassen. Es muß eine Bremse in das Anlagesystem eingebaut werden, die den Systemwechsel erzwingt, wenn der Wert des Markt-Portfolios unter eine bestimmte Grenze (Stiftungsvermögen) abzusinken beginnt. Bremsen dieser Art können Hedging-Strategien oder Stop-Loss-Vereinbarungen sein. Ein Anleger, der darauf angewiesen ist, daß ein bestimmter Vermögenswert nicht unterschritten werden darf, muß umgekehrt wissen, daß Absicherungsstrategien dieser Art nicht kostenlos zu haben sind. In guten Zeiten führen Absicherungsstrategien dieser Art dazu, daß der Anleger, wegen der Sicherungskosten, insgesamt weniger erzielt als der Marktdurchschnitt. In schlechten Zeiten zahlt sich das Sicherungsmanagement aus, weil es ein weiteres Absinken unter eine bestimmte Mindestgrenze verhindert. III. Grundsätze ordnungsgemäßer Kapitalanlage im Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften Das Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG) enthält in den §§ 7a bis 7d und in den §§ 8 bis 8k ausdifferenzierte Anlagegrundsätze, die vom Prinzip der Risikomischung und von Prinzip der Risikominimierung geprägt

Grundsätze ordnungsgemäßer Anlage von Stiftungsvermögen

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sind. In den §§ 7 a bis 7d KAGG finden sich besondere Vorschriften über Gesellschaften, die das bei ihnen eingelegte Geld in Geldmarktinstrumenten und Bankguthaben anlegen. Geldmarktinstrumente sind verzinsliche Wertpapiere und Schuldscheindarlehen, die im Zeitpunkt ihres Erwerbs für das Sondervermögen eine Restlaufzeit von höchstens zwölf Monaten haben und deren Verzinsung regelmäßig marktgerecht angepaßt wird (§ 7a Abs. 2 KAGG). Gesellschaften, die das bei ihnen eingelegte Geld auf diese Weise anlegen, investieren also verhältnismäßig konservativ. U m den Anlegerschutz noch zu erhöhen, erlaubt § 7b KAGG den Erwerb von Geldmarktinstrumenten nur von solchen Unternehmen, die eine gute Bonität haben. Sehr viel stärker risikoorientiert arbeiten die meisten Kapitalanlagegesellschaften. Für sie gelten die §§ 8 bis 8k KAGG. Für bestimmte, risikoreichere, Wertpapiere dürfen nur bis maximal zehn Prozent des Sondervermögens aufgewendet werden (§ 8 Abs. 2 KAGG). Bis zu maximal fünf Prozent des Wertes des Sondervermögens darf der Fonds Papiere von ein und demselben Aussteller (Schuldner) erwerben (§ 8a KAGG). Anteile an anderen Fondsgesellschaften dürfen nicht erworben werden (§ 8b KAGG). Geschäfte über Finanzinstrumente (Terminkontrakte/Optionsrechte/Terminkontrakte auf einen Aktienindex) dürfen nur unter eng begrenzten Voraussetzungen und der Höhe nach beschränkt durchgeführt werden (§ 8d bis 8i KAGG). Devisenterminkontrakte dürfen nur zur Währungssicherung bestimmter gehaltener Papiere erworben werden (§ 8j KAGG). Auch für Swaps gelten Sonderregelungen (§ 8k KAGG).

IV. Grundsätze ordnungsgemäßer Kapitalanlage im Versicherungsauf sichtsrecht In § 54 Abs. 1 VAG sind allgemeine Anlagegrundsätze für das gebundene Vermögen normiert. Danach muß unter dem Aspekt möglichst großer Sicherheit und Rentabilität bei jederzeitiger Liquidität in Abhängigkeit von der Art der betriebenen Versicherungsgeschäfte sowie der Unternehmensstruktur angelegt werden. Weiterhin soll eine angemessene Mischung und Streuung der Vermögenswerte erreicht werden. 6 Dem Grundsatz der Sicherheit kommt im Versicherungsaufsichtsrecht die höchste Bedeutung zu. 7 Sicherheit meint Kapitalerhaltung, wobei eine nominelle oder reale Kapitalerhaltung gemeint sein kann. Die Erfüllbarkeit der Versicherungsverträge soll nach den Vorstellungen des BAV (heute: BaFin) traditionell durch Sicherung des Nominalwertes der gesamten Anlagen, aber auch jeder einzelnen Anlage gewährleistet werden. Da in der Le6 Ausführlich Mark Ortmann Kapitalanlage deutscher und britischer Lebensversicherer, VersWissStud, Bd. 21, 2002, S. 95 ff. 7 Rundschreiben BAV R 4/95 II. 1, abgedruckt in VerBAV 1995, 358.

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bensversicherung regelmäßig Garantien gegeben werden, müssen Kapitalanlagen, die diese Verpflichtungen bedecken, im Interesse der Sicherstellung der dauernden Erfüllbarkeit der Verträge nominal erhalten bleiben. Diese nominelle Deckung der festen Verpflichtungen entspricht grundsätzlich einer Portfoliozusammenstellung nach dem Shortfall-Ansatz. Nach diesem Ansatz 8 setzt das Lebensversicherungsunternehmen zunächst eine Mindestrendite (target) für das die Verpflichtungen deckende Vermögen fest. Als nächstes muß die (gerade noch erlaubte) Ausfallwahrscheinlichkeit bestimmt werden. Es kann eine Mindestrendite mit der dazu gehörigen Ausfallwahrscheinlichkeit vorgegeben werden, es können aber auch mehrere Renditestufen mit abgestuften Ausfallwahrscheinlichkeiten festgelegt werden, um ein noch feiner abgestimmtes Portfolio zu erhalten. Das größte Short-Fall-Risiko ergibt sich aus der Garantieverzinsung des Deckungskapitals. Entsprechend den derzeit in Deutschland verwendeten Tarifen beträgt die Garantieverzinsung jährlich 3,25 %. Die dazu gehörige Ausfallwahrscheinlichkeit muß sehr niedrig angesetzt werden, da es sich um eine vertragliche Verpflichtung handelt, die in jedem Fall zu erfüllen ist. Eine vernünftige Ausfallwahrscheinlichkeit läge zwischen 0 % und 5 %, wobei 0 °/o ausscheidet weil es eine hundertprozentige Sicherheit nicht gibt. 9 Garantierte Leistungen erfordern auf der Kapitalanlageseite sehr geringe Ausfallwahrscheinlichkeiten. Das wiederum führt dazu, daß der Aktienanteil im effizienten Portfolio sehr klein wird. Dies ist darauf zurückzuführen, daß Nominalwertpapiere viel geringere Ausfallwahrscheinlichkeiten haben als Aktien, da Renten bei Fälligkeit zum Nennwert zurückgezahlt werden. Ihre Ausfallwahrscheinlichkeit ist, vom Bonitätsrisiko abgesehen, sehr viel geringer als diejenige von Aktien, die unvorhersehbaren Kursschwankungen unterliegen. Dem entsprechen die Bilanzierungsvorschriften des HGB (§§ 341b Abs. 2 i.V.m. 253 Abs. 3 Satz 1 HGB). Hiernach muß in der Regel auf den niedrigsten Wert abgeschrieben werden, so daß bei einem Anstieg des Marktzinses ein Verlust auszuweisen ist. Gleichzeitig spielt der Anlagehorizont für die Portfoliozusammensetzung eine erhebliche Rolle. Je länger er ist, desto höher kann der Aktienanteil sein, da die vorgegebene Mindestrendite wahrscheinlicher erreicht wird und gleichzeitig die Chance auf noch höhere Erträge steigt.10 Bei einer auf dem Schweizer Aktienmarkt basierenden Berechnung sollte schon bei einem Anlagehorizont von 25 Jahren zu 100 % in Aktien investiert werden können, wenn als Mindestrendite Kaufkraftschutz bei einer Ausfallwahrscheinlichkeit von 3 , 2 % gegeben wird.11 Auch hohe

Vertiefend Ortmann aaO., S. 78ff. Goldberg/Müller VAG Kommentar, § 54 Rn. 7; Ortmann aaO., S. 79. 10 Förterer ZVersWiss 1996, 208, 212. 11 Spremann Portfoliomanagement, 2000, S. 439.

8 9

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Aktienquoten (zum Beispiel 50 %) sollen langfristig zu kaum höheren Standardabweichungen der Durchschnittsrenditen gegenüber reinen Rentenanlagen führen. 12 An diesem Punkt ist jedoch Vorsicht angebracht. Wie oben schon erwähnt, benötigt die Portfoliotheorie für die Bildung des effizienten Portfolios die Vorgabe der Rendite- und Ausfallwahrscheinlichkeiten. Betrachtet man etwa die Entwicklung des Aktienmarktes in Japan seit dem Crash 1989/1990, muß man feststellen, daß eine damalige Anlage in Aktien zu nicht vorhersehbaren erheblichen Verlusten geführt hätte, die bis heute nicht einmal zur Hälfte aufgeholt sind (der Nikkei-Index ist von knapp 40000 Punkten auf 12250 Punkte im Jahre 1998 gefallen). Ähnlich düster sieht es für die deutschen Lebensversicherer mit hoher Aktienquote wegen des Kursverfalls an den europäischen und amerikanischen Börsen seit 1999 aus. 13 Hier liegen die Gründe, warum in der seit dem 1. Januar 2002 geltenden Anlageverordnung eine Fülle weitergehender Kapitalanlagebindungen insbesondere für Lebensversicherer bestehen. Die maximale Aktienquote darf 35 % des Deckungsstocks nicht überschreiten; Beteiligungen dürfen maximal 10% des Deckungsstocks ausmachen (§ 2 Abs. 3 AnlV). Weiterhin bestehen Quoten für Immobilien (§ 2 Abs. 4 AnlV) und für Schuldverschreibungen (§ 2 Abs. 3 AnlV). Kongruenzregeln verpflichten zu einer Bedeckung der Verpflichtungen in derselben Währung (§ 4 AnlV). Das gebundene Vermögen muß im EWR-Raum belegen sein (§ 5 AnlV). Anlagen in Aktien und Genußrechten außerhalb des EWR sind verboten, ebenso wie Beteiligungen an Unternehmen außerhalb des EWR (§ 1 Abs. 1 Nr. 12 und Nr. 13 AnlV). Außerhalb des EWR notierte Schuldverschreibungen dürfen bis 10 % erworben werden (§ 2 Abs. 2 AnlV); Immobilien dürfen für das gebundene Vermögen nur erworben werden, wenn sie im EWR belegen sind (§ 1 Abs. 1 Nr. 14 AnlV). Grundsätzlich verboten sind Long Calls und ZinsEquity-Swaps; weitgehend beschränkt sind Short Puts. 14 V. Anforderungen an eine ordnungsgemäße Risikomessung Die heute gebräuchlichen Risikomesssysteme beruhen auf den „Mindestanforderungen an das Betreiben von Handelsgeschäften der Kreditinstitute, die das BAKred (heute BaFin) am 23. 10. 1995 veröffentlicht hat. 15 Ähnliche

12 Maurer/Stephan Vermögensanlagevorschriften für deutsche Versicherungsunternehmen, Arbeitspapier der Universität Frankfurt Nr. 54, Juli 2000, S. 17 13 Vertiefend und weiterführend Ortmann aaO., S. 81 ff. 14 Vertiefend Ortmann aaO., S. 422. 15 Einzelheiten bei LutterlSeheffleriSchneider Handbuch der Konzernfinanzierung, 1989, S. 871-914.

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Grundsätze gelten im Versicherungswesen und in der Bankpraxis.16 Die Risikomessung beruht bei allen Systemen auf einem value-at-nsk (VAR). Mit Hilfe dieser Konzepte ist es möglich, zukünftige Wertveränderungen eines Portfolios über einen fixierten Zeitraum durch eine Schranke (VAR) abzuschätzen. Auf diese Weise wird das Verlustpotenzial eines Portfolios bei vorgegebener Wahrscheinlichkeit quantifiziert. Die Anforderungen an die Berechnungen dieses Wertes werden in § 34 Grundsatz I genannt. Die quantitativen Anforderungen enthält § 36 Grundsatz I. Schließlich ist die Prognosegüte eines Risikomodells nach § 37 Grundsatz I „mittels eines täglichen Vergleichs der Modellberechnungen gegenüber den wirklichen Entwicklungen zu ermitteln (Back testing)". Value-at-risk-Systeme beschränken sich nicht nur auf die Risikomessung - sie werden durch Limite ergänzt. In der Bankpraxis darf das Einzelgeschäft in Derivaten höchstens 10 % des Eigenkapitals ausmachen, das Höchstrisiko für tägliche Derivategeschäfte beträgt ein Drittel des Eigenkapitals. Sämtliche Risiken aus Derivaten müssen täglich mit 100% Eigenkapital unterlegt sein. Diese Grundsätze binden über § 91 Abs. 2 AktG auch den Vorstand eines Unternehmens, ebenso wie den Wirtschaftsprüfer nach § 317 HGB. VI. Der Blick über den Zaun: Uniform Prudent Investor Act von 1994 in den USA Der Uniform Prudent Investor Act (UPIA) ist als Mustergesetz verfaßt worden, der allen Bundesstaaten als Vorbild dienen soll, um eine Vereinheitlichung des Rechts zu erreichen.17 Das Gesetz behandelt primär die Verantwortlichkeiten der frei gegründeten Vermögensanlagegesellschaften, insbesondere die Verantwortung von Vermögensverwaltern für Investitionen und für die Vermögensverwaltung. § 2 UPIA gilt als Herzstück des Gesetzes und beschreibt den Vernünftigkeitsmaßstab, den die Vermögensverwalter zu beachten haben. Zu den vom Vermögensverwalter zu berücksichtigenden Umständen gehören: -

ökonomische Gegebenheiten mögliche Folgen von Inflation oder Deflation die zu erwartenden steuerlichen Folgen die Rolle, die jede einzelne Investition für das Gesamtportfolio spielt der zu erwartende Gewinn aus Einkünften und Kapital andere Ressourcen des Anlegers

16

Schwintowski ZNER 2002, 171, 172. Nahezu 150 Veröffentlichungen zum UPIA und zur Prudent-Investor-Rule findet man unter http://web2.westlaw corn/result/text. . ..!.= term +Service=search+Tab+Cit+Lis. 17

Grundsätze ordnungsgemäßer Anlage von Stiftungsvermögen

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- die Notwendigkeit von Liquidität, regelmäßigen Einkünften und die Erhaltung des Kapitals - besondere Vermögensbeziehungen und ein besonderer Wert für den Begünstigten entsprechend dem Zweck der Vermögensanlage. Ferner hat sich der Vermögensverwalter zu bemühen, Fakten, die für die Investition oder Verwaltung relevant sind, zu überprüfen. Grundsätzlich sind alle zweckdienlichen Investitionen erlaubt. § 3 UPIA beinhaltet den Risikomischungsgrundsatz. Nach § 4 UPIA muß der Vermögensverwalter nach einer angemessenen Zeit über seine Verwaltung unter Berücksichtigung der Ziele, die er erreichen soll, berichten. Damit spiegelt das UPIA ebenso wie die Prudent Investor Rule jene Grundsätze, die in Deutschland unter dem Stichwort ordnungsgemäße Kapitalanlage ebenfalls diskutiert werden, faßt diese Grundsätze aber in einem Modellgesetz zusammen, das in nahezu unveränderter Form inzwischen von einer großen Zahl amerikanischer Bundesstaaten kodifiziert worden ist. VII. Erfahrungen in der Schweiz Eine der extrem seltenen Entscheidungen zur Frage der ordnungsgemäßen Anlage des Stiftungsvermögens hat der schweizerische Bundesgerichtshof am 4. März 1982 gefällt.18 Nach Art. 84 Abs. 2 ZGB hat die Aufsichtsbehörde dafür zu sorgen, daß das Stiftungsvermögen nur zu den in der Stiftungsurkunde genannten und gesetzlich zulässigen Zwecken verwendet wird. Dies schließt die Befugnis ein, darüber zu wachen, daß das Stiftungsvermögen nach Maßgabe der Stiftungsurkunde sowie im Interesse der Destinatäre erhalten bleibt und nicht spekulativ und allzu risikoreich angelegt oder seinem Zweck entfremdet wird. In diesem Rahmen ist die Aufsichtbehörde befugt, den Stiftungsorganen bindende Weisungen zu erteilen und bei deren Nichtbefolgung Sanktionen zu ergreifen.19 Das Bundesgericht führt weiter aus, daß das Schweizer Bundesrecht über die Anlage von Stiftungsvermögen praktisch keine Vorschriften enthält, bis auf einen unbedeutenden Hinweis in Art. 89 Abs. 4 ZGB. Die Rechtsprechung hat in dieser Hinsicht lediglich negative Kriterien aufgestellt, indem sie spekulative oder risikoreiche Anlagen verbietet. Nach der Rechtslehre sind bei der Anwendung von Stiftungsvermögen die Grundsätze der Liquidität, der Rendite, der Sicherheit, der Risikoverteilung und der Substanzerhaltung zu beachten. Diese Grundsätze, so das Bundesgericht weiter, sind nicht immer miteinander vereinbar. Liquidität und Sicherheit lassen sich oft nur zum Nachteil der Rendite erreichen.20 Bei fortschreitender Inflation ist auch BGE 108 II 352. BGE 101 I b 235, 100 I b 144 und 99 I b 258. 20 BGE 99 I b 262. 18

19

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die mündelsichere Anlage nicht immer angezeigt. Die angeführten Grundsätze müssen in Berücksichtigung der gesamten Umstände in einer Weise angewendet werden, daß dem Stiftungszweck dauernd Achtung verschafft werden kann. Dabei muß auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. VIII. Zwischenergebnis Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, daß es zwar den einen, immer richtigen Grundsatz ordnungsgemäßer Kapitalanlagen nicht gibt, daß aber umgekehrt bei der Anlage von Vermögen etwa von Kapitalanlagegesellschaften oder Lebensversicherern hochdifferenzierte und in sich fein abgestimmte Kapitalanlagevorschriften existieren. Um die innerhalb der Wertpapier-Portfolios täglich variierenden Risiken angemessen und zutreffend zu messen und infolgedessen auch zu reagieren, haben sich im Recht und am Markt value-at-risk-Systeme durchgesetzt, bei deren konsequenter Anwendung zumindest ein Wertverfall, der die Existenz des jeweiligen Vermögens bedrohen könnte, vermieden wird. Für das Stiftungsrecht sind diese Referenzmodelle durchaus interessant, wenngleich letztlich nicht wirklich zielführend. Das hängt primär mit dem stiftungsrechtlichen Grundsatz der Vermögenserhaltung zusammen. Die daraus resultierenden Bindungen sind im Folgenden zu untersuchen.

C. Die stiftungsrechtlichen Bindungen I. Der Grundsatz der Erhaltung des Stiftungsvermögens Alle Stiftungsgesetze der Länder enthalten die Vorschrift, daß das Stiftungsvermögen „in seinem Bestand zu erhalten" ist21. Diese Regel gilt als „wichtiger und charakteristischer stiftungsrechtlicher Grundsatz'>n, nach anderer Meinung sogar als „wichtigster Grundsatz für die Verwaltung des Stiftungsvermögens"23. Trotz dieser anerkannt überragenden Bedeutung finden sich in den Landesstiftungsgesetzen keine Aussagen darüber, was Vermögenserhaltung im Stiftungsrecht genau meint.

21 Vgl. die Ubersicht bei Hüttemann Der Grundsatz der Vermögenserhaltung im Stiftungsrecht, in Festschrift Flume 1998, 59; Carstensen Die Wirtschaftsprüfung 1996, 781 f., Fn. 9; Seifart BB 1987,1889,1893ff.; /io/in Handbuch des Stiftungsrechts, 2. Aufl. 1999, § 10 Rn. 34 ff. 22 Pohley Kommentar StiftG Bay, 2. Aufl., 1996, An. 10 Anm. 1. 23 Ebersbach Handbuch des deutschen Stiftungsrechts, 1972,1-8.1, S. 115.

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In der stiftungsrechtlichen Literatur ist anerkannt, daß das Stiftungsvermögen zunächst einmal in seinem Bestand und zwar ungeschmälert zu erhalten ist (Gedanke der Substanzerhaltung). Dies bedeutet, daß das Stiftungsvermögen nicht verschenkt, verbraucht, weit unter seinem tatsächlichen Wert veräußert, angetastet oder angegriffen werden darf. 24 Streitig wird dem gegenüber diskutiert, ob Vermögenserhaltung als nominale oder reale Werterhaltung zu verstehen ist. Bei realer Werterhaltung müßte bei einem Stiftungsvermögen in Geld - wie hier - zumindest ein jährlicher Inflationsausgleich dem Stiftungsvermögen zunächst einmal zugeführt werden. Demgegenüber genügt es bei nomineller Werterhaltung, das Stiftungsvermögen, wie es im Zeitpunkt der Stiftung aufgebracht wurde, zu erhalten. In Ermangelung eindeutiger gesetzlicher Bindungen ist zur Lösung des Konfliktes zwischen nominaler bzw. realer Werterhaltung, wie Hüttemann2i zutreffend entwickelt, auf den Stifterwillen abzustellen. Erkennt man, wie Hüttemann, daß die Vermögenserhaltungspflicht ihre Konkretisierung im Widmungsakt des Stifters findet, dann ist klar, daß es kein einheitliches übergeordnetes Vermögenserhaltungskonzept geben kann. Alle Versuche, den Grundsatz der Vermögenserhaltung auf ein ganz bestimmtes, und zugleich starres, Erhaltungskonzept zurückzuführen, müssen scheitern, weil sie der individuellen Regelungsbefugnis des Stifters widerstreiten. 26 Diesen Erwägungen ist zuzustimmen, da sie dem für die Stiftung letztlich entscheidenden Stifterwillen zum Durchbruch verhelfen. Für den Stifter kann es ganz wichtig sein, daß das zugewendete landwirtschaftliche Gut auch dann in seiner bisherigen Nutzung fortgeführt werden soll, wenn die Erträge abnehmen und es aus der Sicht vernünftiger Kapitalanleger vielleicht besser wäre, das Vermögen umzuschichten.

II. Maßnahmen zur Rückführung des Vermögens der Stiftung auf den Nominalwert 1. Grundsätze Vermögensverluste können eine Stiftung aus verschiedenen Gründen treffen. Es können zum Beispiel sächliche Vermögenswerte durch Brand oder andere Schadensereignisse zugrunde gehen. Auch können Vermögensbestandteile auf andere Weise ihren Sach-, Gebrauchs- oder Marktwert einbüßen. Relativ einfach läßt sich - wie hier - der Vermögensverlust bei marktgängigen Wertpapieren feststellen, indem man ihre Börsenkurse zugrunde legt. Das gilt übrigens auch für festverzinsliche Wertpapiere. Die genaue 24 25 26

Carstensen aaO., S. 782; Hüttemann aaO., S. 61. AaO., S. 67 ff. Hüttemann aaO., S. 69.

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Höhe etwaiger nomineller Verluste ergibt sich, wenn man das Wertpapiervermögen unter Berücksichtigung des jeweiligen Tageszeitwertes feststellt. Dies ist auch satzungsrechtlich der gebotene und zutreffende Bewertungsmaßstab. Häufig sehen die Satzungen der Stiftungen vor, daß der Jahresabschluss in Anlehnung an das Handelsrecht unter Beachtung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung einschließlich der ergänzenden Vorschriften der §§ 264 ff. HGB aufzustellen ist. Insoweit sind die Vorschriften für große Kapitalgesellschaften zu beachten. Dabei kann davon ausgegangen werden, daß der Wertpapierbesitz der Stiftung zum Anlagevermögen gehört (§ 266 Abs. 2 Α III Nr. 5 HGB). In einem solchen Fall ist eine voraussichtlich dauernde Wertminderung nach § 253 Abs. 2 HGB bei der Bewertung des Wertpapierbestandes zu berücksichtigen. Da der Fall der Aktienkurse an den amerikanischen und europäischen Börsen inzwischen seit mehr als drei Jahren anhält, wird allgemein davon ausgegangen, daß Wertpapiere, die im Jahre 1999 angeschafft wurden, heute dauernd wertgemindert sind. Rückschlüsse können insoweit aus den Bilanzierungspraktiken der Lebensversicherer gezogen werden. Sollten sich die Kurse eines Tages wieder positiv entwickeln, so sind die Werterhöhungen nach § 280 HGB (Wertaufholungsgebot) wieder zuzuschreiben. Solange aber die Wertpapiere in ihrem Wert gemindert sind, ist auch auf der Grundlage der satzungsgemäß anzuwendenden Rechnungsvorschriften des HGB eine nominelle Unterdeckung festzustellen. Der Stiftungsvorstand hat folglich dafür zu sorgen, daß diese Unterdeckung ausgeglichen wird, um die Substanz, also den Nominalwert, des Stiftungskapitals dauerhaft zu sichern und zu erhalten. Insoweit ist die Stiftungsaufsichtsbehörde dazu berufen, dafür zu sorgen, daß die Erhaltung des nominellen Stiftungskapitals, wie in der Satzung gefordert, gewährleistet wird. 2. Sicherung des Nominalwertes Das bedeutet zunächst einmal, daß die Aufsicht den Stiftungsvorstand auffordern sollte, über den jeweiligen Nominalwert des Stiftungskapitals Auskunft zu geben. Dies kann der Vorstand tun, indem eine Wertpapieraufstellung überreicht wird, die auf Tageswerten beruht. Im zweiten Schritt müßte die aktuelle Unterdeckung festgestellt werden. Der Vorstand müßte darüber hinaus Vorschläge zur Erhaltung des nominalen Stiftungskapitals machen. Dabei kann in erster Linie an die Nichtausschüttung von Erträgen und die Bildung von Rücklagen gedacht werden. Die Grenzen von § 58 Nr. 7a AO sind zu beachten.

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3. Die Bildung eines Garantiefonds - Null-Coupon-Anleihe Schließlich ist an eine Vermögensumschichtung zu denken. Umschichtungen des Stiftungsvermögens sind Veränderungen der Zusammensetzung des Grundstocks, also Änderungen der Anlageform. Sie können nötig werden, um unrentierlich gewordene Vermögensanlagen abzustoßen und dafür rentierliche zu erwerben. Für die Aktien, die gehalten werden, könnte ζ. B. ein Garantiefonds gebildet werden. In diesem Fonds würde der Wert dieser Aktien zum Tageswert garantiert (gehedged) werden. Solche Garantien kosten Geld, mindern somit die Performance der Gesamtfonds, sichern aber auf Mindestniveau den gewünschten Nominalwert ab. Auf diese Weise werden zwar Verluste realisiert, aber der Wert der Aktien wird für die Zukunft gesichert. Falls - wie häufig - auch Anleihen im Stiftungsvermögen sind, sind zwei Wege denkbar. • Man kann die Anleihen entweder behalten und nichts ändern. • Man könnte aber auch für den Teil des Geldes, der gebraucht wird, um in etwa acht bis zehn Jahren einen bestimmten Gegenwert (das Nominalkapital) zu haben, Null-Coupon-Anleihen kaufen. Bei einer solchen Null-Coupon-Anleihe handelt es sich um eine Bundesanleihe, von der der Zinscoupon abgetrennt ist (die Anleihe ist gestripped). Der Erwerber einer solchen Null-Coupon-Anleihe bezahlt für diese, weil der Zinscoupon abgetrennt ist, einen deutlich niedrigeren Betrag, statt 100 € zum Beispiel nur 60 € oder 65 € . Gleichzeitig bekommt er die Garantie, nach Ablauf der Laufzeit der Anleihe (zum Beispiel zehn Jahre) den Gegenwert von 100 € zurückzubekommen. Null-Coupon-Anleihen sind also verhältnismäßig preiswert zu bekommen und führen dazu, daß das der Stiftung fehlende Nominalkapital nach Ablauf der Anleihezeit in Höhe von 100 % wieder zur Verfügung steht. Die Stiftung hätte, wenn sie diesen Weg wählt, für einen gewissen Zeitraum keine oder nur sehr niedrige Zinserträge, würde auf der anderen Seite aber nach Ablauf der Anleihezeit zumindest das Nominalkapital wieder besitzen. Bevor dieser Weg gegangen wird, müßte durch den Vorstand noch eine eingehende steuerrechtliche Prüfung stattfinden. Es muß geklärt werden, ob der Erwerb einer solchen Null-Coupon-Anleihe mit § 58 Nr. 7a AO in Einklang steht. III. Die Haftung des Stiftungsvorstandes Hiervon ausgehend wird man die Frage der persönlichen Haftung des Vorstands für Pflichtverletzungen bei der Erhaltung des Stiftungskapitals stellen müssen. Auf die Stiftung sind nach § 86 BGB einige Vorschriften des

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Vereinsrechts, insbesondere § 27 Abs. 3 BGB anzuwenden. Danach gelten für die Geschäftsführung des Vorstands die für den Auftrag geltenden Vorschriften. Das in Bezug genommene Auftragsrecht begründet unter anderem auch die Schadensersatzpflicht, jetzt nach § 280 BGB. 2 7 In § 280 Abs. 1 BGB heißt es, daß ein Schuldner, der eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis (hier: aus dem Vorstandsverhältnis) verletzt, dem Gläubiger (hier: der Stiftung) den Ersatz des durch seine Pflichtverletzung entstandenen Schadens zu ersetzen hat. Diese Regeln gelten auch für öffentlich-rechtliche Stiftungen, soweit diese schuldrechtsähnliche Leistungsbeziehungen begründen und die Eigenart des öffentlichen Rechts - wie hier - nicht entgegensteht.28 Damit liegt es nahe, an die Sorgfaltsmaßstäbe anzuknüpfen, die § 43 GmbHG und § 93 Abs. 1 AktG aufstellen. Danach haben die Geschäftsführer bzw. Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Die Haftung ist, wie im BGB, Verschuldenshaftung. Die Schadensersatzpflicht tritt also nicht ein, wenn ein Vorstandsmitglied den in § 93 Abs. 1 S. 1 AktG umschriebenen Sorgfaltsstandard gerecht geworden ist. Maßgeblich ist danach, wie ein pflichtbewußter, selbständig tätiger Leiter eines Unternehmens der konkreten Art (hier der Stiftung), der nicht mit eigenen Mitteln wirtschaftet, sondern ähnlich wie ein Treuhänder fremden Vermögensinteressen verpflichtet ist, zu handeln hat. 29 Dabei handelt es sich um einen normativen Maßstab; abweichende tatsächliche Übung exculpiert nicht. 30 Das Hauptproblem der Pflichtverletzung liegt in der Abgrenzung einer Verletzung der allgemeinen Sorgfaltspflicht gegenüber bloßen Fehlschlägen oder Irrtümern. Letztere rechtfertigen bei insgesamt unglücklicher Unternehmensführung personalpolitische Konsequenzen, begründen aber wegen des unverzichtbaren weiten unternehmerischen Ermessensspielraumes31 noch keine Haftung. Diese kann nach der Rechtsprechung des BGH 3 2 erst bei schlechthin unvertretbarem Vorstandshandeln eingreifen, wenn also eine deutliche Überschreitung der aus dem Unternehmenswohl ableitbaren Grenzen vorliegt. Erforderlich ist zunächst, daß überhaupt ein Leitungsfehler vorliegt, ferner aber auch, daß er im Zeitpunkt der Entscheidung, aus der sich später die Haftung ergibt, objektiv evident war. Dies ist etwa der Fall, wenn der Finanzvorstand 55 Mio. DM ohne zuvor vereinbarte Sicherheiten

BGH NJW 1987, 1077 BGHZ 17, 142; 54, 299; BVerwGE 13, 20. 29 BGHZ 129, 30, 34 = NJW 1995, 1299; OLG Düsseldorf AG 1997, 231, 235; Kölner Kommentar zum AktG, § 93 Rn. 6 m.w.N. 30 Hiiffer AktG, 5. Aufl. 2002, § 93, Rn. 4. 31 BGHZ 135, 244, 253 = NJW 1997, 1926. 32 BGHZ 135, 244, 253. 27

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Mertens in

Grundsätze ordnungsgemäßer Anlage von Stiftungsvermögen

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an ein Anlageunternehmen auszahlt, das alsbald zusammenbricht.33 So ist es auch bei Lieferung von Fahrzeugen ins Ausland ohne entsprechende Bürgschaft und anschließendem Ausfall der Forderung.34 IV. Haftung der Wirtschaftsprüfer Schließlich stellen sich Fragen nach der Haftung des Wirtschaftsprüfers. Die Grundlagen hierfür liegen in § 323 HGB. Danach haben die Wirtschaftsprüfer unter bestimmten Voraussetzungen für fahrlässiges Verhalten der Höhe nach begrenzt und für vorsätzliches Verhalten der Höhe nach unbegrenzt zu haften. Zu den Einzelheiten dieser Haftung, die gegenüber der Stiftung bestehen würde, sind viele Einzelfragen zu klären. Immerhin sollten bestimmte Fragen geklärt werden. In welcher Weise hat der Wirtschaftsprüfer auf die sich abzeichnende Unterdeckung des nominellen Stiftungsvermögens hingewiesen? Hat er im Jahresabschluß, insbesondere im Lagebericht, auf die Gefahren für das Stiftungskapital hingewiesen? - Wenn nein, warum nicht? Wurden die Jahresabschlüsse uneingeschränkt testiert oder hat der Wirtschaftsprüfer auf Probleme der Unterdeckung beim nominellen Stiftungsvermögen hingewiesen?

D. Wesentliche Ergebnisse 1. Es erscheint nicht sinnvoll, Grundsätze zur Anlage des Stiftungsvermögens durch die Stiftungsaufsicht (und nicht durch die Stiftung selbst) festzulegen, weil die Stiftungsaufsicht keine Fachaufsicht, sondern reine Rechtsaufsicht ausübt.35 Im Rahmen der Rechtsaufsicht sollte die Stiftungsaufsicht dafür sorgen, daß ein ordnungsgemäßes und hinreichendes Risikomanagement in Form einer mittel- und langfristigen Finanzplanung festgelegt wird. 2. Gegenstand einer solchen mittel- und langfristigen Finanzplanung müßte die dauernde Erhaltung des nominellen Stiftungskapitals sein. Dies kann letztlich nur über Garantien auf der Grundlage von Mindestwerten oder durch Anlage in sichere festverzinsliche Wertpapiere oder über den Erwerb von Null-Coupon-Anleihen gelingen. 3. Die Maßnahmen, die erforderlich sind, um das nominelle Stiftungskapital jederzeit zu erhalten, können dazu führen, daß die Stiftung für eine gewisse Zeit ihren Stiftungszweck nicht erfüllen kann. Unter diesen Voraussetzungen wird man im Einzelfall erwägen müssen, durch Satzungsänderung das nominelle Stiftungskapital herabzusetzen. " OLG Düsseldorf AG 199^ 231, 234. 34 OLG Jena N 2 G 2001, 86ff. « BVerwG DVB1. 1973, 795.

Paradigmenwechsel im Schadensersatzrecht durch die Schuldrechtsmodernisierung ARNDT TEICHMANN UND GOLO

WEIDMANN

I. Einleitung Bei der Schilderung der Struktur der Leistungsstörungen im bestehendem Schuldverhältnis1 und den daraus folgenden Schadensersatzansprüchen nach dem bisherigen Recht gehen Schuldrechtskommission, DiskE und RegBegr. von der bekannten Trias aus: Neben die den Erfüllungsanspruch aufhebende gesetzlich geregelte Unmöglichkeit und den Verzug sei als dritte Art, inzwischen gewohnheitsrechtlich anerkannt, die positive Forderungsverletzung oder positive Vertragsverletzung getreten. Die als naheliegend bezeichnete Konsequenz, es bei diesem Modell zu belassen und die p W nun ebenfalls gesetzlich zu umschreiben, wird jedoch verworfen. Es gebe definitorische Abgrenzungsprobleme im Allgemeinen Teil des Schuldrechts; insbesondere bestünden im Besonderen Teil ungeklärte Konkurrenzen zwischen der Mängelgewährleistung und dem Anspruch aus pVV bei Folgeschäden. Die Beseitigung dieser Unsicherheiten, wesentliches Ziel der Schuldrechtsmodernisierung, solle nicht nur durch eine Vereinheitlichung der Verjährungsfristen erreicht werden, „sondern durch eine neue Ordnung der Normen über die Anspruchsbegründung" 2 . Wie diese Neuordnung aussehen soll, wird jedoch nicht im Einzelnen dargelegt. Schuldrechtskommission und Begründung zum DiskE greifen zunächst - auch im Anschluß an Huber 3 - das System des HEK und des späteren CISG auf, wonach „Grundelement jeder Schadensersatzpflicht aus einer Sonderverbindung" sei, „daß der Schuldner die sich aus dem Schuldverhältnis ergebenden Pflichten zur Leistung (§ 241 Abs. 1) oder zur besonderen Rücksicht (§ 241 Abs. 2) nicht erfülle". Nach diesem Verständnis wird § 280 Abs. 1 als „Grund- und Auf-

1 Die Behandlung vorvertraglicher Pflichtverletzungen wird aus Raumgründen ausgeklammert. 2 Abschlußbericht der Kommission zur Überarbeitung der Schuldrechts, 1991, S. 129; Begründung zum DiskE (s. C a n a r i s [Hrsg.] Schuldrechtsmodernisierung 2002, 2002, S. 667); RegBegr., BT-Drs. 10/6040, S. 133 = Canans aaO., S. 667 3 Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. I, 1981, S. 647, 699 ff.

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Arndt Teichmann und Golo Weidmann

fangtatbestand für Schadensersatzansprüche" konzipiert, der durch Spezialvorschriften ergänzt werde.4 Bekanntlich ist auf Initiative der vom Bundesjustizministerium eingesetzten „Kommission Leistungsstörungen" der Begriff der Unmöglichkeit in § 275 wieder eingeführt worden 5 ; daraus sind auch Konsequenzen für die §§ 280 bis 283 gezogen. Vermutlich deswegen hat die Regierungsbegründung den zitierten Passus über die beiden in § 241 Abs. 1 und Abs. 2 erwähnten Pflichtenkreise nicht übernommen: Es wird nun darauf verwiesen, daß Unmöglichkeit, Verzug und Schlechterfüllung Erscheinungsformen einer Verletzung des Schuldverhältnisses beschreiben, wobei Gemeinsamkeiten und fließende Ubergänge bestünden. 6 Canaris hat aus den durch die Kommission Leistungsstörungen vorgenommenen Änderungen geschlossen, aus der Trias der §§ 281 bis 283 und bei Hinzunahme des § 280 Abs. 2 werde deutlich, daß die altvertrauten Kategorien wiederkehren und die unterschiedlichen Grundtypen der Leistungsstörung deutlich hervortreten: Verzug, Nichterfüllung, Erfüllungsverweigerung, Schlechterfüllung, Verletzung einer nicht leistungsbezogenen Nebenpflicht bzw. Schutzpflicht, Unmöglichkeit. 7 Es liegt dann nahe, davon auszugehen, daß die Fälle der positiven Vertragsverletzung primär von § 280 Abs. 1 erfaßt werden.8 Sind wirklich weiterhin Unmöglichkeit, Verzug, Schlechterfüllung, ergänzt um die nicht leistungsbezogene Schutzpflichtverletzung, zu unterscheiden? Zentraler Punkt ist dabei die Funktion der p W innerhalb des Systems.

II. Die Verabschiedung der p V V Die pVV ist - unabhängig von ihrer Bezeichnung im Einzelnen - bei ihrer Entwicklung und auch später grundlegenden Einwendungen ausgesetzt gewesen. Es lohnt sich, diesen Einwendungen noch einmal nachzugehen. Sie gewinnen möglicherweise auch für das neue Schuldrecht Gewicht. 1. Grundlegend ist gegen die „Entdeckung" der pVV bzw. ihre Konstituierung eingewandt worden, sie beruhe auf einem Irrtum. 9 Staub hatte in Schuldrechtskommission und Begr. z. DiskE aaO. S. dazu CanarisJZ 2001, 499ff. 6 RegBegr., Vorbemerkung zu §§ 280ff., BT-Drs. 10/6040 S. 134 = Canaris aO. (Fn. 2), S. 669. 7 Canaris JZ 2001, 499, 512. « So z.B. Canaris J Z 2001, 499, 511. 9 So z.B. MünchKommBGB/Emmerich, 4. Aufl., vor § 275 Rn. 204f.; U. Huber Leistungsstörungen, Bd. I, 1999, § 3 II, S. 39, 79 ff.; Jacobs Unmöglichkeit und Nichterfüllung, 1969, S. 58 ff. 4

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Paradigmenwechsel im Schadensersatzrecht

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seiner großen Abhandlung 10 die These aufgestellt, daß das BGB keine allgemeine Haftungsnorm, sondern nur spezielle Regelungen zur Unmöglichkeit und zum Verzug (sowie zur Mängelgewährleistung) enthalte. Er hat dann eine Fülle von Beispielsfällen zusammengestellt, die nicht als Unmöglichkeit oder Verzug qualifiziert werden könnten. Ein Beispiel ist der - noch von der RegBegr. 11 erwähnte - Sachverhalt, daß der Geschäftsführer einer Gesellschaft innerhalb der vorgesehenen Zeit eine Bilanz aufstellt, die Bilanz aber Fehler aufweist. Entdecke der Gesellschafter diese Fehler und korrigiere er die Bilanz noch innerhalb des gesetzlichen Zeitraums, seien aber bereits auf Grund der ursprünglich fehlerhaften Bilanz zu Schäden führende Dispositionen getroffen worden, so liege weder Verzug noch Unmöglichkeit vor: Die Bilanz sei innerhalb der gesetzlichen Frist richtig aufgestellt worden, ihre Richtigkeit sei niemals unmöglich gewesen.12 Gegen Staub hat bereits Himmelschein eingewandt, daß die von Staub gekennzeichnete Problematik einer allgemeinen Haftungsnorm den Gesetzesverfassern schon vom Römischen Recht her durchaus bekannt gewesen sei und daß sie auch eine normative Regelung getroffen hätten. § 224 Ε I 13 habe diese allgemeine Haftung für Pflichtverletzungen begründet. Die dann Gesetz gewordene Fassung des § 276 beruhe auf einem redaktionellen Fehler und habe in der Sache gerade nicht allein den Haftungsmaßstab gekennzeichnet. 14 Dieser Meinungsstreit ist heute nur noch von historischem Interesse. Durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz ist eine klare Regelung getroffen worden. § 276 enthält nun eindeutig in Fortsetzung des bisherigen praktisch einhelligen Verständnisses allein den Haftungsmaßstab. Die Funktion einer umfassenden Haftungsnorm hat § 280 Abs. 1 übernommen. Die - vermutete oder vermeintliche - Gesetzeslücke im Sinne Staubs existiert unzweifelhaft nicht mehr. Die Lückenproblematik ist gelöst. 15 Offen ist allein das Verhältnis der bisherigen drei Rechtsinstitute zueinander. 2. Der Weg, die bisherige pVV - unter welcher Bezeichnung auch immer - in der Sache neben Unmöglichkeit und Verzug unverändert beizube10 Staub Die positiven Vertragsverletzungen, 1904; Nachdruck: Ihenng Culpa in Contrahendo und Staub Die positiven Vertragsverletzungen, 1969, S 94 ff. " BT-Drs. 10/6040, S. 133 = Canaris aaO. (Fn. 2), S. 667 (Vorbemerkung zu §§ 280ff.). 12 Staub aaO., S. 116. 13 „Der Schuldner ist verpflichtet, die nach dem Schuldverhältnisse ihm obliegende Leistung vollständig zu bewirken. Er haftet nicht bloß wegen vorsätzlicher, sondern auch wegen fahrlässiger Nichterfüllung seiner Verbindlichkeit." » AcP 135 (1932), S. 255,258ff.; AcP 158 (1959/60), S. 273,282ff. (posthum zum 80. Geburtstag seines akademischen Lehrers Hoeniger, s. Isete, AcP 158, S. 302, 304ff.); die Entstehungsgeschichte schildern ausführlich z . B . Kuhlmann Leistungspflichten und Schutzpflichten, 2001, S. 389ff.; HuberLeistungsstörungen, aaO. (Fn. 9). 15 Palandt/Heinrichs BGB, 63. Aufl., § 280 Rn. 5.

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halten, sind Schuldrechtskommission, DiskE und RegBegr., wie dargelegt, gerade nicht gegangen. In dem Versuch, das Verhältnis dieser drei Typen der Leistungsstörungen zueinander neu zu bestimmen, kann die scharfsinnige, wenn auch im Ergebnis weit überzogene Kritik von Himmelschein an Staub weiterhelfen. Himmelschein hatte sich nicht allein mit der Diskussion der Lückenproblematik begnügt.16 Er hat die auf einer tieferen Ebene liegende These aufgestellt, Staub habe zu einer neuen Rechtsfigur neben Unmöglichkeit und Verzug allein deshalb kommen können, weil er von einem im Ergebnis zu engen und nicht alle erforderlichen Elemente enthaltenden Leistungsbegriff ausgegangen sei. Der Begriff der Leistung sei bei Staub zu generell gefaßt, die Leistung sei darin weder qualitativ noch zeitlich individualisiert. Habe beispielsweise der Verkäufer dem Käufer wurmstichige Apfel geliefert - zu ergänzen nach bisherigem BGB: und die anderen Apfel beim Käufer verdorben - so liege nach Staub eine vollständige Erfüllung, nämlich die Lieferung der vereinbarten Menge von Äpfeln einer bestimmten Sorte vor; zusätzlich habe der Verkäufer eine positive, zum Schadensersatz führende Verletzungshandlung begangen. Diese Umschreibung der Erfüllung beruhe jedoch nicht auf dem Leistungsbegriff von Mommsen, der auch dem BGB zu Grunde liege: Vertraglicher Leistungsgegenstand sei die durch gegenständliche, örtliche und zeitliche Momente individualisierte Leistung. Eine verspätet erbrachte Leistung sei nicht mehr dieselbe; die Lieferung wurmstichiger Apfel sei ein Fall der Nichterfüllung, weil gesunde Äpfel geschuldet seien. Himmelschein will dem Mommsenschen Leistungsbegriff schließlich entnehmen, daß Redlichkeit und Sorgfalt keine vierte Dimension neben Gegenstand, Ort und Zeit, sondern Elemente einer weiteren Konkretisierung der drei genannten Modalitäten seien. Es sei ein Fehler der Staub folgenden herrschenden Lehre, die Schuldnerpflicht mit der Hauptleistungspflicht gleichzusetzen. Die Verpflichtung des Schuldners sei nicht nur ein „dare", sondern beispielsweise auch ein Anzeigen, Aufklären, Verwahren.17 Das Ergebnis von Himmelschein ist konsequent: Bei dem geschilderten weiteren - genauer: individualisierten durch Treu und Glauben geprägten Begriff der Leistungsstörungen kann es keine Leistungsstörungen neben Unmöglichkeit und Verzug geben, damit aber auch keine pVV. Auch hier kann man streiten, ob Himmelschein den von Mommsen geprägten Leistungsbegriff zutreffend umschrieben hat.18 Nach der Schuldrechtsmodernisierung ist jedoch das Ergebnis auch insoweit eindeutig: Wenn § 281 Abs. 1 darauf abstellt, ob der Schuldner „die fällige Leistung nicht oder nicht wie geschuldet erbringt", so sind damit alle Aspekte der Leistung, nach Him16 17

18

AcP 135, 255, 282ff.; AcP 158, 273, 285. AcP 135, 255, 289.

Krit. z.B. Stoll AcP 136 (1932), S. 257, 268ff.

Paradigmenwechsel i m S c h a d e n s e r s a t z r e c h t

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melschein also Gegenstand, Ort und Zeit der Leistung wie auch ihre Art genannt. Die Lieferung wurmstichiger Apfel löst gem. §§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 einen Anspruch auf Nacherfüllung, auf Lieferung mangelfreier Apfel, aus. Ebenso besteht bei einer fehlerhaften Bilanz ein Nacherfüllungsanspruch gem. §§ 634 Nr. 1, 635. Handelt es sich in einem anderen Fall um eine fehlerhafte Dienstleistung, so ist ebenfalls nicht ordnungsgemäß erfüllt. Ist der nicht ordnungsgemäß erbrachte Teil der Dienstleistung noch nachholbar (Beispiel: Der Hotelservice vergißt die Handtücher, die Handtücher sind verschmutzt), so besteht ein Erfüllungsanspruch auf den Rest. Im Ergebnis hat der Gesetzgeber der Schuldrechtsmodernisierung beide „Defizite" korrigiert, die für Staub Anlaß zur Entwicklung der pVV waren: Das Gesetz enthält nunmehr eine allgemeine Haftungsnorm, parallel dazu ist der Leistungsbegriff umfassend. Ein Unterschied zwischen Haupt- und Nebenpflicht, im Gesetz auch nicht mehr vorgesehen, macht systematisch keinen Sinn. Der „Abschied von der Lehre von der positiven Vertragsverletzung", von Äo//im Jahr 1932 propagiert,19 ist nun definitiv geworden und zwar, um es zu wiederholen, weil die rechtstheoretischen Grundlagen der pVV entfallen sind.

III. Paradigmenwechsel: A n k n ü p f u n g des Schadensersatzanspruchs an die Zweiteilung von Erfüllungsund Schutzpflichten 1. Die Aussage, die pVV sei als Rechtsinstitut nicht mehr Teil des schuldvertraglichen Haftungssystems, ist selbstverständlich wertlos, wenn nicht aufgezeigt werden kann, was an die Stelle des bisherigen Systems getreten ist, und weiter, ob sich mit diesem anderen System hinreichend praktikable Lösungen ergeben. Schuldrechtskommission und im Anschluß daran der DiskE sind die Antwort darauf nicht schuldig geblieben. Der tief greifende Paradigmenwechsel ist im Grundsatz bewußt vollzogen. Freilich sind die Konsequenzen gegenüber dem bisherigen System nicht bis zum Ende durchgeführt; auch sind die Abgrenzungsschwierigkeiten innerhalb des neuen Systems - wohl unausweichlich - nur benannt, nicht gelöst. Im Anschluß an die „moderne Schuldrechtslehre"20 wird nun zwischen Leistungs- und Schutzpflichten un19

Stoll AcP 136, S. 257ff.

Genannt werden Larenz Schuldrecht I, § 9; Gemhuber D a s Schuldverhältnis, § 2 III, IV 2; zur Entwicklung ausführlich s. Kuhlmann a a O . (Fn. 14), S. 41 ff., der als Begründer Kress, Lehrbuch des Allgemeinen Schuldrechts, 1929, S. Iff., 578ff., und im Anschluß daran Stoll AcP 136, S. 257, 288 ff. sowie in: Die Lehre von den Leistungsstörungen, 1936, S. 232 ff., nennt. 20

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terschieden und dementsprechend der Aufbau des § 241 mit seinen beiden Absätzen als „Grundnorm für das Schuldverhältnis" bezeichnet. Auf diese gesetzliche Zweiteilung wird in der Begründung zu § 280 BGB-KE bzw. § 280 DiskE ausdrücklich Bezug genommen. 21 Aus Sicht der Schuldrechtskommission ist damit deutlich: Mit der Formulierung „Verletzt der Schuldner (in zu vertretender Weise) eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis" in § 280 Abs. 1 BGB-KE wird ausdrücklich Bezug auf § 241 BGB-KE als Ganzes (Überschrift des § 241 BGB-KE: „Pflichten aus dem Schuldverhältnis") und damit auf beide Fallgruppen genommen. In § 280 Abs. 2 BGB-KE werden dann zusätzliche Anforderungen für den Schadenersatz statt der Leistung und den Verzögerungsschaden aufgestellt. § 280 Abs. 1 ist damit nicht isoliert anwendbar. 22 Vielmehr öffnet sich zum einen bei Erfüllungsansprüchen 23 der Weg über § 241 Abs. 1 auf das Äquivalenzinteresse zum Schadenersatz neben der Leistung (Verzögerungsschaden) und zum Schadensersatz statt der Leistung, zum anderen bei einer Schutzpflichtverletzung der Weg über § 241 Abs. 2 auf das Integritätsinteresse ohne zusätzliche Voraussetzungen. An diesem System hat sich durch die Wiederaufnahme der Unmöglichkeit in den Tatbestand des § 275 und des § 283 sowie durch die Strukturierung der §§ 281-283 (sowie der §§ 323, 324, 326) nichts geändert. Durch die Konkretisierungen, die sich allein auf die Verletzung einer Pflicht gemäß § 241 Abs. 1 beziehen, wird die grundsätzliche Unterscheidung von Erfüllungspflichten (Leistungspflichten) und Schutzpflichten nicht berührt. Es ist deshalb zu bedauern, daß die RegBegr. in ihrer Begründung den Hinweis auf § 241 Abs. 1 einerseits, § 241 Abs. 2 andererseits nicht mehr aufgenommen hat. Stattdessen finden sich in diesem Abschnitt eher irreführende Hinweise auf die pVV. Dies kann Zweifel daran aufkommen lassen, ob der vorgenommene Paradigmenwechsel noch gesehen und durchgehalten worden ist. So heißt es, der Entwurf verkenne nicht, „daß Unmöglichkeit, Verzug und Schlechterfüllung die typische Erscheinungsformen einer Verletzung des Schuldverhältnisses umschreiben", des Weiteren, Verzug und Schlechterfüllung seien die heute typischen und vor allem regelungsbedürftigen Fälle, nicht die Unmöglichkeit, schließlich, die pVV sei die wichtigste Lei-

21

Schuldrechtskommission aaO. (Fn. 2), S. 130; DiskE = Canaris aaO. (Fn. 2), S. 159f. Anders z . B . Palandt/Heinrichs BGB, § 280 Rn. 28; Jauemig/Vollkommer BGB, § 280 Rn. 1; Dauner-Lieb in Dauner-Lieb/Heidel/Lepa/Ring, Das neue Schuldrecht in der anwaltlichen Praxis, 2002, S. 64, 95;Grunewaldin Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt, Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2002, S. 313, 319; Wilmowsky JuS 2002, Beil. 1, S. 4, 7; Canaris ZIP 2003, 321, 324. 23 Die Begriffe „Erfüllungsanspruch" und „Erfüllungspflicht" kennzeichnen den Unterschied z u m Schutzanspruch bzw. zur Schutzpflicht exakter als der Begriff „Leistungspflicht"; denn auch Schutzpflichten müssen geleistet werden, stellen aber i . d . R . (s.u. Nr. IV 1 a) nicht die vertraglich geschuldete Erfüllung dar. 22

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stungsstörungsform. 2 4 Damit bliebe doch alles beim Alten - ungeachtet der Tatsache, daß, wie dargelegt, die rechtstheoretische Grundlagen für eine Schlechterfüllung neben Unmöglichkeit und Verzug entfallen sind und auch ungeachtet der programmatischen Äußerung zur N e u o r d n u n g der N o r m e n über die Anspruchsbegründung. 2 5 2. Macht man mit dem Paradigmenwechsel von der Dreigliederung von Unmöglichkeit, Verzug und pVV zur grundsätzlich anderen Zweiteilung zwischen Erfüllungspflichten und Schutzpflichten Ernst, so fehlt freilich noch die Bewährung; denn der Nachweis, daß dieses System theoretisch umfassend und praktisch handhabbar ist, ist noch nicht geführt worden. Zur Verfügung stand stets der Rückgriff auf die pVV. Schuldrechtskommission, DiskE und RegBegr weisen gleichlautend darauf hin, daß zwischen Leistungs- und Schutzpflichten „nicht überall eine klare Grenze" bestehe. Der gesteigerte Schutz der Rechtsgüter des anderen könne beispielsweise bei den Bewachungs- u n d Beratungsverträgen vertragliche Erfüllungspflicht i.S.d. § 241 Abs. 1 sein, Aufklärungspflichten wie z.B. über die richtige Bedienung eines Gerätes könnten sowohl dem Leistungswie auch den Sicherungsinteresse dienen. 2 6 Diese nicht zu bestreitende Tatsache lädt dazu ein, etwas genauer nach dem Verhältnis der verschiedenen Arten von Leistungsstörungen zu fragen und damit nach den Konsequenzen, die sich für die H a n d h a b u n g des neuen Systems ergeben. Himmelschein hat dazu in seinem Angriff gegen die pVV interessante Aspekte angeführt. 2 7 Sie treffen nicht den Kern, machen aber, von Himmelschein selbst nicht gesehen, einen entscheidenden Aspekt deutlich. In der Absicht, die Überflüssigkeit der pVV aufzuzeigen, hat Himmelschein darzulegen versucht, daß alle Leistungsstörungen als Unmöglichkeit beziehungsweise Teil-Unmöglichkeit qualifiziert werden könnten. Werde die Verpflichtung des Schuldners durch die Elemente von Gegenstand, O r t und Zeit umschrieben und würden diese Elemente durch die Merkmale der Sorgfalt und Redlichkeit geprägt, dann sei die Leistung, die nicht am richtigen O r t und zur richtigen Zeit ordnungsgemäß erbracht wird, als solche und damit als vertraglich geschuldete nicht nachholbar. Hier von einer „TeilUnmöglichkeit" zu sprechen, sei sprachlich unglücklich; festzuhalten sei jedoch, daß der Schuldner unter-obligationsmäßig geleistet habe u n d dies auch bei Berücksichtigung aller Modalitäten nicht mehr vollständig ausgleichen könne. Auch die Verzögerung könne, wenn die Zeit mit z u m Lei24

RegBegr. aaO., BT-Drs. 10/6040, S. 134 = Canaris aaO. (Fn. 2), S. 669f. S. Fn. 2. 26 Schuldrechtskommission aaO. (Fn. 2), S. 113; DiskE, Canaris aaO. (Fn. 2), S. 151 f.; RegBegr. BT-Drs. 10/6040, S. 125 = Canaris aaO. (Fn. 2), S. 653, jeweils zu § 241 Abs. 2. 27 AaO. (Fn. 14) S. 289ff. 25

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stungsbegriff gezogen werde, als teilweise Unmöglichkeit verstanden werden.28 Bereits Stoll hat die maßgebende Kritik formuliert: Das Modell von Himmelschein sei theoretisch denkbar, es sei aber vom Gesetzgeber nicht gewollt.29 Wesentlich für die jetzigen Überlegungen ist zunächst die Feststellung, dieses Modell sei logisch denkbar. Deutlich wird damit, daß bei dem von Himmelschein angenommenen weiten Verständnis des Leistungsbegriffs - er findet sich, wie erwähnt, im gegenwärtigen BGB wieder grundlegende strukturelle Unterschiede zwischen den einzelnen Pflichtverletzungen nicht bestehen. Unproblematisch kann deshalb ein Verzögerungsschaden als Schadensersatz statt der Leistung verstanden werden, nämlich dann, wenn der Gläubiger den Schuldner gemahnt, ihm eine Frist gesetzt hat und der Gläubiger nach Ablauf der Frist vom Erfüllungsanspruch auf den Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung überwechselt.30 Dies gilt auch für Schutzpflichten. Himmelschein greift das von Staub31 gebildete Beispiel auf, jemand habe Leuchtstoffröhren geliefert und dabei den Käufer nicht darüber informiert, daß die Röhren explosive Stoffe enthalten. Der Verkäufer sei hier in Verzug mit seiner Verpflichtung zur Anzeige gekommen, der Explosionsschaden sei ein Verzögerungsschaden.32 Zunächst ist die von Himmelschein gezogene Schlußfolgerung unangreifbar: Trifft den Verkäufer eine Verpflichtung zur Information über die Gefährlichkeit der in den Röhren enthaltenen Substanz, so ist sie nicht rechtzeitig (spätestens bei der Lieferung) vorgenommen. Kann die Information beispielsweise, wenn mehrere Röhren geliefert und beim Käufer eingesetzt wurden, aber nur eine explodiert ist - sinnvoll noch nachgeholt werden, so befindet sich der Verkäufer mit der Informationsverpflichtung im Verzug. Der Grund, weshalb die Regelungen über Verzug und Unmöglichkeit auch auf Schutzpflichten - theoretisch - anwendbar sind, ist relativ banal: Es handelt sich bei den Paaren Erfüllungs- und Schutzpflicht einerseits, Verzug und Unmöglichkeit andererseits um ganz unterschiedliche Kategorien. Erfüllungspflicht und Schutzpflicht beschreiben den Inhalt der Schuldnerpflicht, Unmöglichkeit und Verzug die Formen der Leistungsstörung.33 Der „Fehler" von Himmelschein - die Unterscheidung zwischen Erfüllungs- und Schutzpflichten ist, wie dargelegt, erst auf Grund der späteren Arbeiten von Stoll in das allgemeine Bewußtsein gedrungen - war, daß er die Formen der AaO. (Fn. 14), S. 307 AcP 136, 257, 274; ähnlich Huber Leistungsstörungen, aaO. (Fn. 9), S. 85ff. 30 Desgl. z.B. Recker NJW 2002, 1247; a.A., von dem Begriff des Schadensersatzes statt der Leistung ausgehend, S. Lorenz NJW 2002, 2497, 2500. 31 AaO. (Fn. 14), S. 93. 32 AcP 135, 255, 323; Himmelschein hält hier eine Mahnung nicht für erforderlich, weil sie ihren Zweck nicht erfüllen könne. Damit seien alle Voraussetzungen des Verzugs gegeben. 33 Desgl. Kuhlmann aaO. (Fn. 14), S. 52. 28

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Leistungsstörungen (Unmöglichkeit und Verzug), die im Gesetz für die Erfüllungspflicht entwickelt worden sind, auf die Schutzpflichten übertragen hat. Dies ändert aber im Ausgangspunkt nichts daran, daß auch Schutzpflichten erfüllbar und einklagbar sein können. 34 Sichert beispielsweise ein Bauunternehmer beim Umbau eines Wohnhauses die Zugänge für die Bewohner nicht ordnungsgemäß, so können die Mieter einen Erfüllungsanspruch (vor einem befürchteten Unfall) gegen den Bauherrn als Vermieter und auch gegen den Unternehmer aus dem Vertrag zwischen Bauherrn und Unternehmer mit Schutzwirkungen für Dritte haben. Dann aber können die Sicherungspflichten auch verzögert erbracht werden, ihre Leistung kann (in einem anderen Fall) dem Schuldner unmöglich sein. Der zutreffende Einwand von Stoll,K das von Himmelschein entwickelte Modell sei vom Gesetzgeber nicht gewollt, läßt sich jetzt präzisieren: Aus nahe liegenden Gründen hat der Gesetzgeber an Verzug und Unmöglichkeit nur im Zusammenhang mit der Erfüllungspflicht angeknüpft, nicht bei den Schutzpflichten; denn anders als beim Leistungsinteresse muß Schadensersatz wegen der Verletzung einer Schutzpflicht geltend gemacht werden können, ohne daß es einer Fristsetzung bzw. der Feststellung bedarf, die Schutzpflicht als solche könne nicht mehr erfüllt werden. Im erwähnten Beispiel ist Schadensersatz also auch dann zu leisten, wenn bei der zunächst nicht hinreichenden Sicherung der Zuwege jemand zu Schaden kommt und dann auf Grund des geltend gemachten Sicherungs-Erfüllungsanspruches eine ordnungsgemäße Absperrung vorgenommen wird. Im Ergebnis sind die Auswirkungen des Paradigmenwechsels gravierender, als es ursprünglich den Anschein hatte: Die Entscheidung des Gesetzgebers, bei der inhaltlichen Umschreibung der Schuldnerpflichten nicht mehr die Trias von Unmöglichkeit, Verzug und pVV zugrunde zu legen, sondern auf die systematische Zweiteilung von Erfüllungs- und Schutzpflichten abzustellen, 36 hat zur Folge, daß auch nur diese beiden Gruppen von Pflichten verletzt werden können. Das Begriffspaar Erfüllungspflicht/ Schutzpflicht ist also abschließend. 37 Die schadensersatzrechtlichen Voraussetzungen sind je nach Gruppe unterschiedlich. Gemeinsam ist das Erfordernis, daß die Pflichtverletzung - bei Umkehr der Beweislast (§ 280 Abs. 1) - vom Schuldner zu vertreten sein muß. Für die Erfüllungspflicht finden sich je nachdem, ob die Erfüllung noch möglich ist oder nicht, zu34 Anders z.B. Canaris in E. Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2002, S. 5; ReischlJuS 2003,40,45; differenzierend PalandtJHeinrichs BGB, § 280 Rn. 22 (i.d.R. nicht einklagbar). 33 S.o. Fn. 18. 36 Desgl. Reischl ]uS 2003, 40, 43; JuS 2003, 250; Wagner]Ζ 2002, 475, 479; nach Lorenz NJW 2001, 2497, 2500, soll man sich freilich mit dem Begriffspaar Äquivalenz- und Integritätsinteresse den Blick auf die Systematik des neuen Schadensersatzrechts nicht verstellen. 37 Kuhlmann aaO. (Fn. 14), S. 52.

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sätzliche Anforderungen in § 280 Abs. 2 bzw. § 280 Abs. 3 mit den jeweiligen Verweisungen. 38 3. Auch begrifflich ist die Änderung zumindest im Ansatz verdeutlicht. Die Bezeichnung „Schadensersatz wegen Nichterfüllung" in §§ 325, 326 B G B a.F., auch in §§ 538, 635, 651f BGB a.F., stellte auf die Ursache des Anspruchs ab und umfaßte damit theoretisch alle aus der Nichterfüllung abzuleitenden Beeinträchtigungen, also sowohl das Erfüllungsinteresse einschließlich des entgangenen Gewinns wie auch den weiteren Mangelfolgeschaden, also den Schaden wegen der Rechtsgutsverletzungen im Bestand des Gläubigers. „Schadensersatz statt der Leistung" verdeutlicht, daß hiermit (nur) das enttäuschte Erfüllungsinteresse gekennzeichnet werden soll. 3 9 Der Anspruch tritt, wie der B G H im Zusammenhang mit § 635 B G B a.F. formuliert hat, an die Stelle des ursprünglichen Rechts z . B . auf Mangelbeseitigung. 40 O b es zu seiner Geltendmachung des Setzens einer Frist bedarf, hängt davon ab, ob dem Schuldner die Mängelbeseitigung möglich ist oder nicht. Etwas unschärfer ist die Bezeichnung „Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung"; sie gibt aber ebenfalls besser als der Begriff des „durch den Verzug entstandenen Schadens" in § 286 Abs. 1 BGB a.F. wieder, daß damit (nur) die Kompensation für die zeitweilig ausgebliebene Leistung gemeint ist, nicht der Schaden, der an den anderen Rechtsgütern des Gläubigers infolge der Verzögerung der Leistung entstanden ist. Eine streng kausale Bezeichnung ist in § 280 Abs. 1 („Ersatz des hierdurch entstandenen Schadens") beibehalten; dies paßt auch für die Schutzpflichtverletzung und ermöglicht den unmittelbaren Anschluß an § 249 Satz 1.

IV. Schlußfolgerungen Die rechtlichen Konsequenzen der neuen Struktur des Schadensersatzrechts sind im Einzelnen noch auszuloten. Dies soll an einigen Beispielen kurz skizziert werden: 3 8 § 2 8 2 durchbricht dieses System nicht, sondern ordnet lediglich an, daß eine Schutzpflichtverletzung unter der genannten Voraussetzung der Unzumutbarkeit dem Gläubiger über den Anspruch auf Schadenersatz wegen der Rechtsgutsverletzung (Integritätsinteresse) hinaus die Möglichkeit gibt, vom Erfüllungsverhältnis auf das Sekundärschuldverhältnis überzuwechseln und Schadensersatz statt der Leistung zu fordern. 3 9 In der Regierungsbegründung (BT-Drs. 14/6040 S. 137 = Canans aaO. [Fn. 2], S. 674 zu § 2 8 0 Abs. 3), desgl. auch schon im Bericht der Schuldrechtskommission ( s . o . Fn. 2, S. 131) wird der Begriffswechsel damit begründet, der Schadensersatz trete nicht an die Stelle der Erfüllung, sondern an die Stelle der primär geschuldeten Leistung, die nicht mehr erbracht werden könne. Dies ist insofern unklar, weil nach § 362 der Schuldner mit seiner Leistung erfüllt. N u r dem zweiten Teil des zitierten Satzes ist also zuzustimmen.

B G H Z 96, 221, 226.

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1. Im Vordergrund steht naturgemäß die Frage, welcher Kategorie - Verletzung von Erfüllungspflichten gem. § 241 Abs. 1 oder von Schutzpflichten gem. § 241 Abs. 2 - mögliche Schadensposten zugerechnet werden können. Daraus ergeben sich die erforderlichen Rechtsvoraussetzungen. Die Zuordnung kann im Einzelfall schwierig sein. a) Zunächst können Erfüllungspflichten u n d Schutzpflichten im theoretischen Ansatz genau unterschieden werden: - Bei der Erfüllungspflicht geht es u m die Güterbewegung von einem Rechtsträger z u m anderen, also u m das „Bekommen" f ü r den jeweiligen Gläubiger. 41 Dessen Interesse ist, die empfangene Leistung zu verwenden, beispielsweise die erworbene Sache weiter zu veräußern, zu verschenken, zu vermieten, in eine Gesellschaft einzubringen, das empfangene Geld z u m Ankauf neuer Ware, zu Investitionen, zur Bedienung von Krediten, zur Vergütung von Dienstleistungen, für beliebige private Ziele einzusetzen. Der Ersatz des Erfüllungsinteresses („Schadensersatz statt der Leistung") bedeutet danach Kompensation der Einbußen, die durch die nicht mögliche bzw. teilweise nicht mögliche Verwendung entstanden sind, wie auch Ersatz des entgangenen Gewinns. 4 2 Nicht umfaßt ist ein Schaden an den Rechtsgütern des Gläubigers; sie mögen zwar kausal auf die Nichtleistung zurückzuführen sein; auf die Kausalität k o m m t es jedoch für die Zuordnung nicht an, sondern auf die Art des Interesses. 43 Auch der Verzögerungsschaden ist vom Erfüllungsinteresse her zu u m schreiben: Er soll die Einbußen bzw. den nicht realisierten Gewinn k o m pensieren, die dem Gläubiger durch das zeitliche Hinausschieben der Erfüllung bzw. nicht ordnungsgemäßen Erfüllung entstanden sind. Vom Verzögerungsinteresse ist auch hier nicht erfaßt der Schaden an den übrigen Rechtsgütern des Gläubigers (Beispiel: Wegen einer schuldhaft verzögerten Reparatur eines Kühlgeräts k o m m t es z u m Verderb der Ware); denn w e n n dieser Schaden im Fall der Unmöglichkeit oder nach dem erfolglosen Ablauf einer Nachfrist nicht z u m Erfüllungsinteresse (Schadensersatz statt der Leistung), sondern z u m Schutzinteresse zu rechnen ist,

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S. z.B. Soergel/Huber, BGB, 12. Aufl., vor § 459 Rn. 55; MünchKommBGB//framer, § 241 Rn. 2; Kuhlmann aaO. (Fn. 14), S. 36ff. Die von Wieacker herausgearbeitete Ambivalenz zwischen Leistungshandlung und Leistungserfolg ist hier weniger relevant. In der Erfüllungslehre und damit für die Unmöglichkeit, weitgehend auch für den Verzug, ist die Bewirkung des Leistungserfolges das maßgebende Element. 42 Desgl. Recker NJW 2002, 1247: Erfaßt werden nicht nur der durch Schlechtleistung eingetretene Verlust, sondern auch Begleit- und Folgeschäden einschließlich des entgangenen Gewinns; damit sind wohl nicht Beeinträchtigungen des Integritätsinteresses gemeint. 43 A.A. Lorenz NJW 2001, 2497, 2500 (keine Trennung zwischen Äquivalenz- und Integritätsinteresse); Wilmowsky JuS 2002, Beil. 1, S. 5 (für Eingriffe in Rechtsgüter im Rahmen des Schuldverhältnisses sollen die §§ 281 ff. gelten).

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kann die systematische Einordnung für die zeitweilige Nicht-Leistung nicht anders sein.44 - Schutzpflichten haben die Funktion, mögliche Verletzungen von Gütern und Interessen des Gläubigers abzuwenden. Geschützt sind die beim Gläubiger bereits vorhandenen Güter und Interessen, aber auch die vom Schuldner erworbenen Güter (Beispiel: Infolge einer fehlerhaften Gebrauchsanweisung wird das vom Gläubiger erworbene Gerät beschädigt). b) Beide Verpflichtungen können miteinander verwoben sein. So können bekanntlich Erfüllungspflichten auch Schutzcharakter haben. 45 Die Verpflichtung zur mangelfreien Leistung - z.B. beim Verkauf eines Kraftfahrzeuges, bei dem Errichten eines Gebäudes - hat auch zum Inhalt, Schäden an anderen Rechtsgütern des Erwerbers oder eines in den Schutzbereich einbezogenen Dritten zu verhindern. Spiegelbildlich kann der Schutz des Integritätsinteresses gleichzeitig Erfüllungspflicht sein. In der Regierungsbegründung ist als Beispiel der Bewachungsvertrag erwähnt, 46 weitere Beispiele sind Werkverträge über Schutzeinrichtungen oder auch schlicht der Vertrag mit einem Dachdecker.47 Gedanklich können auch hier beide Pflichtenkreise voneinander getrennt werden. Das „Bekommen" ist die Dienstleistung der Bewachung, das vertraglich geschuldete Werk als solches. Der vom Schuldner akzeptierte Verwendungszweck des Gläubigers liegt in der gewollten Reduzierung des Beschädigungsrisikos. „Schadensersatz statt der Leistung" als Kompensation bedeutet dann, wenn eine Nachbesserung vom Schuldner nicht vorgenommen wird, Ersatz möglicher Mehraufwendungen, um die zugesagte Reduzierung des Risikos zu erreichen, u. U. Ersatz für zusätzliche vorläufige Sicherungsmaßnahmen (z.B. Beauftragung eines Wachdienstes bis zur vollständigen Errichtung des sicheren Bauzauns) oder auch für höhere Kosten einer Selbsthilfe. Kommt der Schuldner seiner Verpflichtung zur Nacherfüllung nach, so könnte ein Verzögerungsschaden in den zeitlich davor liegenden vorläufigen Sicherungsmaßnahmen liegen. Schadensersatz bei einer Verletzung des Integritätsinteresses wäre beispielsweise der Geldausgleich für abhanden gekommene oder beschädigte Güter des Gläubigers, für die aus der Beschädigung folgenden zusätzlichen Aufwendungen wie Gewinneinbußen, Ersatz von Kosten zur Ermittlung von Schadensursache und Schadenshöhe. 44 Im Ergebnis desgl. wohl Jauernig/Vollkommer BGB, § 280 Rn. 49 ff. (vergl. die dort erwähnten Fallgruppen), wobei allerdings die Definition des Verzögerungsschadens weiter ist (aaO. Rn. 50): alle Vermögensnachteile, die dadurch entstehen, daß der Schuldner nicht rechtzeitig, sondern verspätet erfüllt. 45 S.o. Nr. IV 1 b. 46 S.o. Nr. II 2. 47 Beispiel von Canaris ZIP 2003, 321, 325.

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c) Im Ergebnis folgt also der Charakter als Erfüllungs- bzw. Schutzpflicht aus dem Gläubigerinteresse.48 Es kann vereinbart sein, oder es ist durch ergänzende Auslegung bzw. gem. § 242 zu ermitteln. 2. Die Konsequenzen der ausschließlichen Einteilung in Erfüllungs- und Schutzpflichten sollen an zwei Beispielen erörtert werden. a) Repariert ein Dachdecker das Dach nicht zu dem von ihm angekündigtem und auch vom Gläubiger akzeptierten Datum - ein Termin i.S.d. § 286 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 soll nicht vertraglich vereinbart gewesen sein - , so macht er sich im Ergebnis wegen eines Unwetterschadens nur ersatzpflichtig, wenn er vorher gemahnt worden war.49 Betroffen ist das Integritätsinteresse des Hauseigentümers, so daß eine Schutzpflicht verletzt sein muß. Das Verwendungsinteresse (Äquivalenzinteresse) wäre z.B. nur dann tangiert, wenn der Betrieb des Bestellers ausgelagert worden war und nun erst später rückverlagert wird, die Produktion später aufgenommen werden konnte etc. Die Schutzpflicht des Handwerkers ist hier identisch mit der Verpflichtung zur Erfüllung. Für die Sanktion im Blick auf die Erfüllungspflicht setzt das Gesetz aber eine Mahnung voraus; vorher liegt nach dem hier unterstellten Regelfall keine „Pflichtverletzung" i.S.d. §§ 280 Abs. 1 S. 1, 286 Abs. 1 S. 1 vor. Demgemäß kann die Verletzung einer mit der Erfüllungspflicht identischen Schutzpflicht auch erst zu dem Zeitpunkt angenommen werden, an dem das Verhalten als ein Verzug der Erfüllungspflicht qualifiziert werden kann. 50 Dasselbe gilt, wenn der Dachdecker das Dach nicht vollständig gedeckt hat, wenn also eine Teilleistung vorliegt. Nach dem Gesagten realisiert sich die hier vertraglich angelegte Schutzpflicht bei rechtzeitiger Erfüllungshandlung - ein Verzug soll hier nicht vorliegen - mit der Vornahme der Sachleistung. Dabei mögen sich Differenzierungen im Einzelnen ergeben, die durch Auslegung zu ermitteln sind. Beispielsweise mag es erforderlich sein, abgedeckte Teile des Daches vorläufig zu sichern oder vor dem Ausheben einer Baugrube ein Hochwasserschutz je nach Gefahrenlage zu installieren.51 48 Die Frage, ob man sich für die Anwendung einer bestimmten schadensersatzrechtlichen Norm am Tatbestand oder an den intendierten Rechtsfolgen orientieren soll, wird unterschiedlich beantwortet; für die Orientierung an den Rechtsfolgen ζ. B. Lorenz/Riehm, Lehrbuch des neuen Schuldrechts, 2002, Rn. 185; Grunewald in Dauner-Lieb/Konzen/ K. Schmidt, aaO. (Fn. 22), S. 317f.; einschränkend Canaris ZIP 2003, 321, 322, 324 (rechtsfolgenorientiert für § 280 Abs. 3, tatbestandsorientiert für § 282 Abs. 2). 45 Fliegner JR 2002, 323; Canaris ZIP 2003, 321, 325. 50 Desgl. i. Erg. Canaris aaO., der zwar ebenfalls auf die Identität von Leistungs- und Schutzpflicht abstellt, zusätzlich aber für maßgebend hält, daß der Dachdecker nicht auf die Güter des Bestellers aktiv eingewirkt, sondern eine schützende Handlung unterlassen hat. Dies kann angesichts möglicher relevanter Unterlassungen nicht maßgeblich sein. 51 S. BGHZ 137, 36ff. (Schürmann-Bau).

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In dem gewählten Beispiel sollen solche Umstände nicht gegeben sein. Eine konkrete Schutzpflicht bestand damit erst zu dem Zeitpunkt, zu dem der Dachdecker mit der Restleistung in Verzug geriet.52 Hat der Dachdecker das Dach vollständig, aber fehlerhaft gedeckt, so ist der Anspruch wegen eines Unwetterschadens gem. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 - Vertretenmüssen unterstellt - ohne weitere Voraussetzungen gegeben. Spätestens mit dem Abschluß der Arbeiten hat sich die vertraglich angelegte Schutzpflicht, wie dargelegt, realisiert, diese ist verletzt. b) Eine ausführliche Diskussion hat sich inzwischen zum so genannten Betriebsausfallschaden oder Nutzungsausfallschaden ergeben. Gemeint ist damit ein Schaden, der dadurch entsteht, daß beispielsweise der Verkäufer oder Hersteller des Werks eine fehlerhafte Maschine liefert und es bis zur Beseitigung des Mangels durch Nacherfüllung zu einem Stillstand kommt, der wiederum zu einer Vermögenseinbuße beim Käufer bzw. Besteller führt. Die wohl überwiegende Auffassung sieht darin eine Verzögerung der vertraglich geschuldeten Leistung zur Lieferung einer mangelfreien Maschine, so daß der Schadensersatzanspruch aus § 286 zu entwickeln ist.53 Demgegenüber halten die Regierungsbegründung 54 und ein Teil der Lehre § 280 Abs. 1 unmittelbar für anwendbar.55 Nach der hier entwickelten Auffassung ist zu differenzieren: Führt der durch den Mangel bedingte Stillstand der Maschine dazu, daß der Betrieb insgesamt oder Betriebseinheiten auf Zeit nicht fortgeführt werden können, so liegt sicherlich ein Eingriff in die Rechtsgütersphäre des Erwerbers gem. § 241 Abs. 2 vor.56 Unterstellt, der Erwerber wolle im Wesentlichen allein mit dieser Maschine arbeiten, 57 so läßt sich wohl nicht bezweifeln, daß (nur) die vom Erwerber gewollte Verwendung zeitweise nicht möglich ist. 52 Nicht geprüft werden soll hier, ob ein Verzug gem. § 286 Abs. 2 Nr. 4 auch ohne Mahnung angenommen werden kann. 53 Dauner-Lieb in Ernst/Zimmermann, Zivilrechtwissenschaft und Schuldrechtsreform, 2001, 311 f.; Dauner-Lieb/Dötsch DB 2001, 2357; Dauner-Lieb in Dauner-Lieb/Heidel/ Lepa/Ring, aaO. (Fn. 22), S. 64, 93; Huber/Faust Schuldrechtsmodernisierung, 2002, Rn. 3/223; Oetker/Maultzscb Vertragliche Schuldverhältnisse, 2002, S. 98; Fliegner ]K 2002, 322; i. Erg. auch Recker NJW 2002, 1247; nach Jauernig/Vollkommer BGB, § 280 Rn. 4, ist § 286 anzuwenden, wenn der Schaden durch rechtzeitige Nacherfüllung hätte abgewendet werden können. 54 BT-Drs. 14/6040, S. 225 = G w u m a a O . (Fn. 2), S. 834. 55 Lorenz/Riehm aaO. (Fn. 48), Rn. 546f.; Canaris ZIP 2003, 321, 326; Reischl]uS 2003, 251; Gruber ZGS 2003, 131, 133; Haas in Haas/Medicus/Rolland/Schäfer/Wendtland, Das neue Schuldrecht, 2002, Rn. 5/246; Jauernig/VollkommerBGB, § 280 Rn. 4 (bis zum Verzug mit der Nacherfüllung). 56 Desgl. Wilmowsky JuS 2002, Beil. 1, 20. 57 Dauner-Lieb/Dötsch DB 2001, 2357 haben das Beispiel eines Pizzabäckers gebildet, bei dem der Ofen mangelbedingt ausfällt. Ein vergleichbares Beispiel wäre ein Freiberufler, der allein mit einem PC arbeitet und bei dem die Hard- oder Software ausfällt.

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Damit wird das Erfüllungsinteresse und nicht das Schutzinteresse betroffen. Bessert der Lieferant innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nach, kann auch nur das Erfüllungsinteresse wegen einer temporären Nichterfüllung kompensiert werden. Dieser Konsequenz kann man wohl nicht mit der Begründung entgehen, die Rechtsprechung habe in derartigen Fällen bisher einen Mangelfolgeschaden angenommen und damit einen Anspruch aus einer pVV entwickelt. 58 Die neue Systematik führt gerade zu einer Abkehr von der kausalen Betrachtung und zum Abstellen auf das jeweilige enttäuschte bzw. verletzte Interesse. Das gewonnene Ergebnis wird durch eine Kontrollüberlegung bestätigt: Angenommen, der Lieferant läßt die Nachfrist verstreichen, so ist der Anspruch des Käufers auf §§ 437 Nr. 3, 280 Abs. 1, 281 Abs. 1 S. 1 zu stützen. Für den Fall der temporären nicht ordnungsgemäßen Leistung kann dann nicht grundsätzlich anderes - also etwa der Weg über §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 - gelten. 59 Mit der Feststellung, daß der entstandene Schaden als Verzögerungsschaden qualifiziert werden muß, ist aber noch nicht entschieden, daß es eines vereinbarten Termins oder einer Mahnung bedarf. Es wäre geradezu unsinnig, von dem Empfänger der Maschine eine Mahnung gem. § 286 Abs. 1 S. 1 zu verlangen und damit darauf abzustellen, wann die Mängelanzeige dem Lieferanten zugeht - vorausgesetzt, sie kann überhaupt als Geltendmachen des Nacherfüllungsanspruchs und damit als Mahnung interpretiert werden. Das entscheidende Argument gegen das Erfordernis einer Nachfrist ist, daß bis zum Entdecken des Mangels ein Nacherfüllungsanspruch und damit ein Anspruch auf Leistung weder geltend gemacht noch erfüllt werden konnte. In einem vergleichbaren Sachverhalt 60 hat der BGH auch für das bisherige Werkvertragsrecht von dem Erfordernis einer Nachfrist abgesehen. Im Sachverhalt waren Medikamente infolge der mangelhaften Installation eines Kühlgeräts verdorben. Der BGH hat einen Anspruch aus § 635 BGB a.F. (nicht aus pVV, weil ein sog. engerer Mangelfolgeschaden angenommen wurde) ohne Fristsetzung bejaht; die nach § 634 Abs. 1 BGB a.F. erforderliche Frist zur Nachbesserung gem. § 633 Abs. 2 BGB a.F. habe den bereits eingetretenen Schaden nicht mehr verhindern oder beseitigen können. Gehe es um den Ersatz eines Schadens, der von vornherein neben dem Nachbesserungsanspruch bestehe, bedürfe es nicht der Fristsetzung. 61 Das Ergebnis kann nach der Schuldrechtsmodernisierung nicht anders sein. Sachlich läßt 58 So wohl Canaris ZIP 2003, 321, 326 unter Hinweis auf BGH ZIP 2002, 355, 356; ein Verhalten, das bisher als positive Forderungsverletzung zu qualifizieren gewesen sei, könne jetzt nicht plötzlich in den Anwendungsbereich des Verzuges gefallen. 59 So aber wohl Haas und Jauemig/Vollkommer aaO. (s. Fn. 55). 60 BGHZ 93, 308, 310. 61 BGHZ 96, 221,226 unter Berufung auf die in der Vornote zitierte Entscheidung. Dieselbe Auffassung hatte bereits Himmelschein vertreten, s.o. Fn. 32.

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sich der Verzicht auf die Notwendigkeit einer Fristsetzung - ohne den Bezug auf das Erfüllungsinteresse aufzugeben 62 - aus zwei Gründen ableiten. Denkbar ist eine Anwendung des § 286 Abs. 2 Nr. 4; auch läßt sich § 286 Abs. 1 S. 1 mit dem BGH teleologisch reduzieren. 3. Schon mehrfach ist darauf hingewiesen, daß die Einteilung der Schäden in Mangelschäden und (engere wie weitere) Mangelfolgeschäden auf das neue System entgegen der Regierungsbegründung 63 nicht mehr paßt. 64 Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Zum einen ist - als zunächst etwas vordergründiges Argument - der Zweck dieser Einteilung entfallen, nämlich im Kaufrecht Schadensersatzansprüche über den Tatbestand des § 463 BGB a.F. hinaus zu ermöglichen und im Recht des Werkvertrags die Verjährungsregelung des § 638 BGB a.F. zu überspielen. Wichtiger ist, daß sich die in der Praxis vorgenommenen Abgrenzungen nicht mit der Differenzierung zwischen Äquivalenzinteresse und Integritätsinteresse decken. Zwar hat der BGH in seinem Grundsatzurteil zu einem Anspruch aus pVV bei einem schuldhaft verursachten Mangel im Rahmen eines Kaufvertrages 65 auf die Unterschiede zwischen Äquivalenzinteresse (Mangelschaden) und Integritätsinteresse (Mangelfolgeschaden) abgestellt. Im Konkreten sind aber in dem Zweck, zum Tatbestand des § 463 BGB a.F. bzw. § 635 BGB a.F. eine billige Abgrenzung zu schaffen - Differenzierungen vorgenommen worden, die sich nicht mit der Einteilung in Erfüllungspflicht-Verletzungen und Schutzpflichtverletzungen vereinbaren lassen. 66 So werden in Zusammenhang mit dem Kaufvertrag beispielsweise Vermögensaufwendungen, die der Käufer im Vertrauen auf die Mangelfreiheit der Sache gemacht hatte und die nun wegen eines Mangels wertlos geworden sind, als Mangelfolgeschaden behandelt, obwohl das Äquivalenzinteresse betroffen war. 67 An den genannten Beispielen wird zugleich deutlich, daß auch sprachlich der insoweit bewußt gewählte Begriff des Mangel/o/geschadens die Problematik für die neue Abgrenzung nicht exakt kennzeichnet; denn auch 6 2 Anders wohl Palandt/Heinrichs BGB, § 280 Rn. 18 im Anschluß an Lorenz NJW 2002, 2500: Anwendung des § 280 Abs. 1. « S. BT-Drs. 10/6040, S. 224f. = Carums aaO. (Fn. 2), S. 834 (zu § 437 Nr. 3); desgl. Palandt/Heinrichs BGB, § 280 Rn. 18. 64 Lorenz NJW 2001, 2497, 2500; Recker NJW 2002, 1247; Dauner-Lieb, u.a. in DaunerLieb/Heidel/Lepa/Ring, aaO. (Fn. 22), S. 64, 87f.; Gruber ZGS 2003, 130, 132; Ady ZGS 2003, 13; anders Schultz in Westermann, Das Schuldrecht 2002, S. 17, 83. 6 5 BGHZ 77, 215, 218. 6 6 Dabei kann hier unberücksichtigt bleiben, daß der BGH sog. engere Mangelfolgeschäden in den Anwendungsbereich des § 635 BGB a.F. mit einbezogen hat. Entscheidend für die hier vorzunehmende Prüfung der Vergleichbarkeit ist die grundsätzliche Einordnung als Mangelschaden bzw. Mangelfolgeschaden in einem ersten Schritt. 6 7 Im einzelnen s. z.B. Soergel/HuberBGB, Anh. § 463 Rn. 31, 32ff., 35, jeweils mit zahlreichen Nachweisen; ders. AcP 177 (1977), S. 281, 288 f.; Wagner J Ζ 2002, 475, 479.

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spätere, durch neue Ursachen gesetzte Schäden können das Äquivalenzinteresse beeinträchtigen. Sie beruhen also auf der Verletzung einer Erfüllungspflicht und lösen einen entsprechenden Anspruch auf Schadensersatz aus. 4. Ein wesentlicher Kritikpunkt an der Schuldrechtsmodernisierung ist, daß das Gesetz dem Anschein nach für den Kaufvertrag und den Werkvertrag über Sachleistungen in § 438 Abs. 1 Nr. 3 bzw. in § 634 Abs. 1 Nr. 3 alle Schadensersatzansprüche einer objektiven Verjährung unterstellt hat und damit einen erheblichen Widerspruch zu Schadensersatzansprüchen in anderen Vertragstypen, auch zum Werkvertrag über nichtkörperliche Werke und zu Ansprüchen aus unerlaubter Handlung in Kauf nimmt: Insbesondere die kenntnisunabhängige Höchstfrist von zehn Jahren, bei Personenschäden von dreißig Jahren (§ 199 Abs. 3 Nr. 1, § 199 Abs. 2) geht weit über die objektiven Verjährungsfristen für die Mängelgewährleistung hinaus. Dieser Widerspruch wird als schwer verständlich, teilweise als widersinnig gekennzeichnet. 68 Zu fragen ist deshalb, ob es bei dem skizzierten Wertungswiderspruch bleiben muß oder ob bei Schutzpflichtverletzungen gem. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 die Bestimmungen zur Regelverjährung angewandt werden können, sich die Gewährleistungs-Verjährung also allein auf das Erfüllungsinteresse bezieht. 6 9 In einem ersten Schritt ist freilich festzuhalten, daß nach der Regierungsbegründung alle Ansprüche und Rechte, die aus einem Mangel folgen, § 438 bzw. § 634 a unterfallen sollen. Im Text der Begründung werden zunächst recht ungeordnet, d.h. ohne systematische Strukturen, verschiedene mögliche Schadensfälle genannt: 70 Der Käufer könne einen Schaden erleiden, weil die Sache infolge des Mangels nicht den erwarteten Wert habe, der Käufer könne sich an der Sache verletzen, der Verkäufer könne die Nachbesserung verzögern, so daß es zu einem Produktionsausfall komme, eine gewinnträchtige Weiterveräußerung könne scheitern. Später71 wird ausgeführt, daß über §§ 437 Abs. 1 Nr. 3, 280 Abs. 1 der Mangelfolgeschaden (also z . B . der Schaden wegen der Körperverletzung) erfaßt werde, der eigentliche Mangelschaden über §§ 437 Abs. 1 Nr. 3, 280 Abs. 3, 281. Die Bestimmung des § 283 wird in der Begründung nicht genannt, auf § 282 wird auch im Gesetzestext nicht verwiesen. Eine systematische Durchdringung, gerade unter dem an anderer Stelle propagierten, allerdings auch undeutlich dargestell68 S. z.B. Eidenmüller]Z 2001, 285; Leerten JZ 2001, 552f.; Emst in Ernst/Zimmermann (Hrsg.), Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsreform, 2001, S. 581, 584ff.; Zimmermann/Leenen/Mansel/Ernst]2. 2001, 687, 690; Canaris ZRP 2001, 334, 336; Zimmermann in Schlechtriem (Hrsg.), Wandlungen des Schuldrechts, 2002, S. 53, 63f. 6 9 So Wagner JZ 2002, 475, 478 f. 70 BT-Drs. 10/6040, S. 224 = Canaris aaO. (Fn. 2), S. 832. 7> BT-Drs. 10/6040, S. 225 = Canaris aO. (Fn. 2), S. 834.

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ten 7 2 System einer Zweiteilung von Erfüllungs- und Schutzpflicht ist nicht zu erkennen, ebenso nicht eine politische Entscheidung, für diese beiden Vertragstypen - Kaufvertrag und Werkvertrag über Sachleistungen - Ansprüche auch wegen Sach- und Personenschäden einer kurzen Verjährung zu unterstellen. Wäre dies wirklich gewollt, so hätte sich eine Begründung für die Abweichung von der allgemeinen Regelung zwingend angeboten. Stattdessen wirken die Ausführungen eher wie eine technische Subsumtion unter die allgemeinen Schadensersatznormen. Auch die Tatsache, daß § 282 in § 437 Abs. 1 Nr. 3 und in § 634 Nr. 4 nicht erwähnt ist und sich damit die Gewährleistungs-Verjährung nicht auf den dort geregelten Anspruch bezieht, spricht gegen eine bis zum Ende durchdachte Konzeption. In der Sache ist denkbar, daß infolge eines schuldhaft verursachten Mangels oder in der Nachbesserungsphase eine Schutzpflichtverletzung geschieht, die es dem Gläubiger unzumutbar macht, am Vertrag festzuhalten; dies kann beispielsweise bei Teillieferungsverträgen eintreten. Weshalb dieser Anspruch der regelmäßigen Verjährung und nicht der Gewährleistungs-Verjährung unterliegt, ist nicht einsehbar. Im Ergebnis sollte der Regierungsbegründung an dieser Stelle keine ausschlaggebende Bedeutung zugemessen werden. Angeknüpft werden kann daran, daß in den Bestimmungen zur Gewährleistungs-Verjährung auf § 241 Abs. 2 nicht Bezug genommen wird. Dann erscheint es möglich, den erwähnten Wertungswiderspruch zu den übrigen Vertragstypen in der Weise aufzulösen, daß für Schutzpflichtverletzungen die regelmäßige Verjährung gilt und sich die Sonderbestimmungen nur auf Ansprüche beziehen, die der Sicherung des Aquivalenzinteresses dienen. 73 Erreicht würde damit auch eine Realisierung eines Grundanliegens der bisherigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Werkvertrag, nämlich Ansprüche wegen der Verletzung des Integritätsinteresses (Anspruch aus pVV) den Verjährungsfristen des § 638 BGB a.F. zu entziehen. 5. Nur kurz sei angedeutet, daß die Systematik der Verletzung von Erfüllungs- und Schutzpflichten selbstverständlich auch für andere Vertragstypen, etwa Dienst- und Gesellschaftsverträge, gilt. Gefordert ist freilich eine Differenzierung statt des bisher möglichen pauschalen Hinweises auf die pVV. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß beispielsweise auch im bisherigen Recht des Dienstvertrages zwischen Erfüllungs- und Schutz-

π S.o. III 1 (zu Fn. 24). 73 WagnerJZ 2 0 0 2 , 4 7 5 , 4 7 9 f . ; Canaris, 2001, 329, 3 3 5 (in der Abgrenzung zwischen Mangel- und Mangelfolgeschaden; s. dazu o . Nr. IV 3); Palandt/Heinrichs BGB, § 195 Rn. 9 (Regelverjährung für alle Schadensersatzansprüche, die nicht mit dem Äquivalenzinteresse deckungsgleich sind); a.A. z . B . Manselin Dauner-Lieb/Heidel/Lepa/Ring, aaO. (Fn. 22), S. 10, 4 5 ; zu den verschiedenen Lösungsmodellen s . a . JägerZGS 2 0 0 2 , 2 3 6 .

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pflichten zu unterscheiden war, daß auf Erfüllung - mit Modifikationen - 7 4 geklagt und daß damit auch das Erfüllungsinteresse nunmehr als Schadensersatz statt der Leistung unter den Voraussetzungen der §§ 280 Abs. 3, 281, 282, 283 geltend gemacht werden kann, 75 ebenso ein Verzögerungsschaden. 76 Die Schutzpflichtverletzung als solche ist unproblematisch.

V. Zusammenfassung Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der Abschied von der pVV und die Einordnung möglicher Schadensersatzansprüche als Ausgleich für das beeinträchtigte Erfüllungs- bzw. Aquivalenzinteresse (Schadensersatz statt der Leistung, Verzögerungsschaden) einerseits und für das beeinträchtigte Integritätsinteresse andererseits zunächst zumindest teilweise ungewohnt ist. Es dürften sich aber im Ergebnis erhebliche Vereinfachungen ergeben, weil die Abgrenzung zwischen beiden Schadensarten bei einer konsequenten Umschreibung des Integritätsinteresses trotz der erwähnten Schwierigkeiten leichter fallen dürfte, als dies bisher bei den verschiedenen Schadenstypen möglich war.

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S. z.B. Soergel/Kraft BGB, § 611 Rn. 99; Jauernig/Schlechtriem BGB, § 611 Rn. 11. A.A. Jauemig/Vollkommer BGB, § 280 Rn. 11. 76 Zum Schadensersatz wegen Nichterfüllung s. z.B. Soergel/Kraft BGB, § 611 Rn. 101 ff., zum Verzugsschaden Soergel/Kraft BGB, § 611 Rn. 96. 75

II. Handels- und Gesellschaftsrecht

Zum Haftungsprivileg der Vorgesellschafter - Rechtliche Gründungshilfe zu Lasten der Gläubiger? VOLKER

BEUTHIEN

I. Verwickelter Streitstand Uber die persönliche Vorgesellschafterhaftung (insbesondere bei der VorGmbH) ist viel geschrieben worden. In Schrifttum und Rechtsprechung wurden unterschiedlichste Lösungsansätze entwickelt. Das verwundert nicht. Gibt es doch zu viele Gesichtspunkte, die es in ein in sich stimmiges Haftungssystem einzubinden gilt. Im Einzelnen streitet man: (a) Über den Inhalt der Haftung (Tilgung der Vorgesellschaftsschuld oder eines Vorverlustes oder Unterbilanzausgleich?), (b) über die Haftungsrichtung (unmittelbar nach außen gegenüber den Vorgesellschaftsgläubigern oder nur mittelbar über die Vorgesellschaft?), (c) über den Umfang der Haftung (voll oder nur begrenzt?), (d) über den Begrenzungsmaßstab (bis zur Höhe der oder im Verhältnis zur geschuldeten Einlage bzw. Nachschußpflicht?), (e) über die Fälligkeit der Vorgesellschafterschuld (derjenigen der Vorgesellschaftsschuld folgend, bei Vorverlust oder Unterbilanz oder erst bei Registereintrag oder Scheitern des Eintragungsverfahrens?), (f) über das Verhältnis von Vorgesellschaftsschuld und Vorgesellschafterschuld (Gesamtschuld oder akzessorisch?) sowie (g) über das Ziel der Handelndenhaftung und deren Verhältnis zur Vorgesellschafterschuld (nur Managerhaftung oder auch Haftung aller bzw. der zustimmenden Gesellschafter?).

II. Lösungsrahmen Wie soll man aus diesem rechtsdogmatischen Irrgarten den rechten Ausweg finden? Möglich ist das nur, wenn man sich auf fünf wesentliche rechtliche Grundwertungen besinnt und diese strikt zusammen mit einer rechtssystema-

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Volker Beuthien

tischen Erwägung beachtet. Das sei am gängigen Beispiel der Vor-GmbH verdeutlicht: (a) Im Privatrecht gilt das Prinzip der persönlichen Haftungsverantwortung. Dieser können sich Personen nicht allein dadurch entziehen, daß sie sich zu einer Vereinigung zusammenschließen, es sei denn, sie verfassen diese als statt ihrer alleinverantwortliche juristische Person. (b) Die Vor-GmbH ist noch keine G m b H und damit noch keine juristische Person. Das ordnet § 111 GmbHG ebenso unmißverständlich wie rechtsverbindlich an. Also dürfen eine Vor-GmbH und damit auch deren Gesellschafter haftungsrechtlich noch nicht so behandelt werden, als sei die Vorgesellschaft bereits eine eingetragene GmbH. (c) Die Vor-GmbH befindet sich (spätestens seit Stellung des Eintragungsantrages) in einem Durchgangsstadium. Sie ist daher kein gewöhnlicher Wirtschaftsverein, sondern eine Gründungsvereinigung. Deren Mitglieder streben, wenn die Vor-GmbH nach außen als solche auftritt, ersichtlich eine Vereinigungsform ohne persönliche Gesellschafterhaftung an. Das gilt es auch haftungsrechtlich zu berücksichtigen. Indes dürfen die Vorgesellschafter nicht zu Lasten der Vorgesellschaftsgläubiger so weitgehend geschont werden, daß sie von diesen bis zur Eintragung praktisch überhaupt nicht in Anspruch genommen werden können. Denn sonst stellt man die Vorgesellschaftsgläubiger so, als hätten sie es bereits mit einer eingetragenen GmbH zu tun. (d) Bei allen Vereinigungen, die nicht als juristische Person verfaßt sind, bilden die Gesellschaftsverbindlichkeit und die persönlichen Gesellschafterschulden zwar keine rechtliche, wohl aber eine wirtschaftliche Einheit.1 Deshalb muß ein Vorgesellschaftsgläubiger die Vorgesellschafter grundsätzlich schon persönlich in Anspruch nehmen dürfen, sobald seine Forderung gegenüber der Vorgesellschaft fällig geworden ist. (e) Die Vorgesellschaftsgläubiger dürfen keine Sorge davor haben, daß sich ihre Rechtsstellung mit der von ihnen nicht zu beeinflussenden Registereintragung ohne ihr Zutun verändert. Das gilt insbesondere, wenn sie bereits gegen die Vorgesellschafter Klage erhoben haben. (f) Art und Ausmaß der Vorgesellschafterhaftung sollten sich, sofern dem nicht vereinigungsspezifische Besonderheiten entgegenstehen, bei allen Vorkörperschaften gleichen. Deshalb sind neben der Vor-GmbH und der Vor-AG auch der Vor-eV und die Vor-eG mit in den Blick zu nehmen. 1 Bei der GbR kam das in der lange geltenden Lehre von der Einheit der Schuld mit mehreren Haftungsmassen zum Ausdruck. Diese ist zwar gesellschaftsrechtlich, nicht aber wirtschaftlich überholt. Vielmehr bilden die Gesellschaftsverbindlichkeit und die mit dieser akzessorisch verknüpften Gesellschafterschulden insbesondere aus der Sicht der Gesellschaftsgläubiger nach wie vor einen Haftungsverbund.

Zum Haftungsprivileg der Vorgesellschafter

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III. Gegenwärtige Schonung der Vorgesellschafter Alle diese Gesichtspunkte lassen freilich der BGH 2 und die ihm folgenden erheblichen Teile des Schrifttums3 weithin außer acht: 1. Die bei nicht als juristische Person verfaßten Vereinigungen übliche Außenhaftung der Gesellschafter (§§ 714,427, 421 BGB; 128 S. 1 HGB; 161 II, 1711 Halbs. 1 HGB; 8 I PartGG; s. auch § 54 S. 1 BGB) wird durch eine Binnenhaftung der Vorgesellschafter gegenüber der Vorgesellschaft ersetzt. Zugleich wird diese (zumindest im Regelfall, daß mehrere Vorschulden verschiedener Vorgesellschaftsgläubiger bestehen) von der einzelnen Vorschuld und deren Erfüllung in Natur gelöst und auf eine stets nur auf Geld gehende Verlustdeckungshaftung verkürzt, die ab Eintragung zu einer wiederum nur auf Geld gehenden Vorbelastungshaftung im Sinne einer Unterbilanzhaftung wird. Infolgedessen kann ein Vorgesellschaftsgläubiger bei Sach-, Dienst- und Werkleistungen nur von der Vorgesellschaft, nicht aber von den Vorgesellschaftern persönlich Erfüllung verlangen, und zwar auch nicht mittelbar.4 Für seine auf Geldleistung gerichteten Ansprüche muß ein Vorgesellschaftsgläubiger erst ein obsiegendes Urteil gegen die Vorgesellschaft erstreiten, bevor er deren Verlustdeckungsanspruch gegen die Vorgesellschafter pfänden und sich überweisen lassen kann. Das ist nicht nur umständlich, zeitraubend und kostspielig. Bis dahin hat sich die Angelegenheit meist erledigt. Faßt das neugegründete Unternehmen Fuß, so werden in aller Regel auch die Vorschulden beglichen. Mißlingt dies (was angesichts der ungedeckten Vorschulden alles andere als die Ausnahme ist), so kommt der Vorgesellschaftsgläubiger mit seinen Prozessen meist zu spät. Darüber hinaus gerät der Vorgesellschaftsgläubiger gegenüber den Vorgesellschaftern, solange diese nur nach innen haften, in Darlegungs- und Beweisnot. Denn er kennt nur die Art und die Höhe der Vorgesellschaftsschuld, nicht aber die für die Verlustdeckung wesentlichen betrieblichen Daten der Vorgesellschaft. Gewiß sind die Vorgesellschafter als Drittschuldner verpflichtet, dem Vorgesellschaftsgläubiger, der die Binnenausgleichsansprüche der Vorgesellschaft gegen sie gepfändet hat, sich über die Höhe ihrer Binnenschuld zu erklären (§ 840 I Nr. 1 ZPO). Aber zu erzwingen vermag das der Vorgesellschaftsgläubiger nicht.5 Zudem haben die Vorgesellschafter, sofern sie nicht zugleich Geschäftsführer sind, ihrerseits nicht stets den vollen Uberblick

2 Seit BGHZ 134, 333. 3 Nachweise bei Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 11 Rn. 24 u. Scholz/K. Schmidt GmbHG, Bd. I, 9. Aufl. 2000, § 11 Rn. 80 Fn. 254. 4 Darauf, ob der einzelne Vorgesellschafter kraft Satzung dazu verpflichtet ist, die betreffende Sach-, Dienst- oder Werkleistung der Vorgesellschaft gegenüber zu erbringen, kommt es im Rahmen der Verlustdeckungshaftung nicht an! 5 Der Drittschuldner ist ihm nur gem. § 840 II 2 ZPO zum Schadensersatz verpflichtet.

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darüber, wie hoch jeweils der Verlust der Vorgesellschaft ist und welcher verhältnismäßige Anteil davon auf sie entfällt. Sie müssen insoweit erst ihrerseits Auskunft von der durch den Geschäftsführer vertretenen VorG m b H verlangen oder sich persönlich aus den Büchern und Schriften der Gesellschaft ein eigenes Bild machen (§ 51a GmbHG). 6 Je mehr Vorgesellschafter es gibt, desto länger kann es dauern, bis der Vorgesellschaftsgläubiger alle erforderlichen Daten zusammengetragen hat. Damit aber droht die Vorgesellschafterbinnenhaftung vor Eintragung zum Papiertiger zu werden. 2. Außerdem wird den Vorgesellschaftsgläubigern zugemutet, mit ihren Ansprüchen gegen die Vorgesellschafter so lange still zu halten, bis das Eintragungsverfahren abgebrochen wird oder scheitert oder die Gesellschaft eingetragen ist. So soll der Verlustdeckungsanspruch zwar mit dem Vorverlust entstehen, aber erst fällig werden, wenn das Eintragungsverfahren endgültig nicht zur Eintragung führt. 7 Andere gestehen den Vorgesellschaftern (obwohl grundsätzlich von deren Außenhaftung ausgehend) bis zur Registereintragung die Einrede des laufenden Eintragungsverfahrens zu, die von der Eintragung ab auf Dauer erhoben werden darf. 8 Beides ist nicht nur konstruktiv eigenartig9, sondern bürdet den Vorgesellschaftsgläubigern von ungeschriebenen Rechts wegen für die Dauer des Eintragungsverfahrens eine Zwangsstundung auf. Darüber brauchten sich diese (so wird ihnen bedeutet) nicht zu beklagen. Stünden die Vorgesellschaftsgläubiger doch spätestens bei Eintragung so, wie wenn sie von vornherein mit einer eingetragenen G m b H abgeschlossen hätten. Aber das haben diese gerade nicht getan! Möglicherweise haben sie sogar nur deshalb schon mit der Vorgesellschaft abgeschlossen, weil sie damit rechneten, daß ihnen dort die Vorgesellschafter persönlich haften. Anders ausgedrückt: Mit der frisch eingetragenen G m b H hätten sie womöglich nur abgeschlossen, wenn sich deren Gesellschafter für die Gesellschaftsschuld persönlich verbürgt hätten!10

6 O b ein solches Einsichtsrecht auch bei der Vor-AG (s. § 131 I AktG) und bei der Vor-eG besteht, ist sehr zweifelhaft. 7 So Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 11 Rn. 24. 8 So LangenbucherJZ 2003, 628 (630): „wird peremptorisch". 9 Denn jeweils greift die zuvor im Grundsatz bejahte Verlustdeckungs- oder persönliche Außenhaftung praktisch in der Regel nicht ein, weil sie bei Fälligkeit entweder in der Vorbelastungshaftung aufgeht oder (neben dieser) auf Dauer undurchsetzbar wird. 10 Gewiß hätten sie darauf auch gegenüber der Vor-GmbH bestehen können. Aber darum geht es nicht und auch nicht darum, daß es ein den Vorgesellschaftsgläubigern zur Last fallender Rechtsirrtum ist, wenn diese nicht hinreichend mit der neuen Rechtsprechung des B G H zur Vor-GmbH vertraut sind. Vielmehr gilt es die Vorgesellschaftsgläubiger vor der Unterstellung zu bewahren, sie hätten sich von vornherein damit begnügt, die G m b H als Schuldnerin zu haben, und könnten (weil sie spätestens bei deren Eintragung den Schuldner hätten, den sie von vornherein hätten haben wollen) nur froh sein, wenn sie (von Richterrechts wegen) die anteilige Binnenhaftung der Vorgesellschafter dazubekämen.

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Auch droht die Zwangsstundung die Vorgesellschafter dazu anzureizen, das Eintragungsverfahren zu verzögern, um so die erst mit der Eintragung einsetzende Vorbelastungshaftung hinauszuschieben.

IV. Vorgesellschafterhaftung als Problem der Risikoverteilung 1. Damit ist man beim Kern des Problems: Jede Rücksicht, welche die Vorgesellschafter vor der im Handelsverkehr üblichen persönlichen und gesamtschuldnerischen Außenhaftung nach Art des § 128 S. 1 HGB verschont, läuft auf ein Haftungsprivileg zu Lasten der Vorgesellschaftsgläubiger hinaus.11 Bei dieser realistischen Sicht der Dinge erweisen sich die Art, das Ausmaß und das Fälligwerden der Vorgesellschafterschuld als ein Problem der Risikoverteilung, und zwar der Zuweisung des Unternehmensgründungsrisikos im Rahmen schuldvertraglicher Geschäftsabschlüsse mit einer Vorgesellschaft. Ein Unternehmen zu gründen, ist mit erheblichen wirtschaftlichen Gefahren verbunden. Sein Wirtschaftsrisiko trägt grundsätzlich jeder selbst; andere kann er daran nicht ohne weiteres beteiligen. Dem Wirtschaftsrisiko der Unternehmensgründer steht das Kreditrisiko der Gläubiger der Gründungsgesellschaft gegenüber. Das Kreditrisiko besteht gewöhnlich in der Ungewißheit darüber, ob sich der Schuldner seinem Leistungsversprechen gemäß als leistungsfähig und leistungsbereit erweisen wird. Dabei muß der Gläubiger grundsätzlich auch einen besonderen Schuldinhalt sowie eine besondere Schuld- und Haftungsstruktur in Rechnung stellen. Daher fragt sich, ob es zum besonderen Kreditrisiko von Vorgesellschaftsgläubigern gehört, daß sie sich eigens mit einer Gründungsgesellschaft eingelassen haben. Indes kann man ihnen das kaum entgegenhalten. Denn Unternehmensgründungen beleben den volkswirtschaftlich nützlichen Wettbewerb. Mit Unternehmen, die sich noch in der Gründungsphase befinden, Geschäftsabschlüsse zu tätigen, ist ohnehin risikoreich genug, weil das neugegründete Unternehmen noch in den Markt eindringen und sich Rücklagen noch auf-

11 Darauf weist zu Recht Langenbucher aaO., 629 hin. Gewiß standen die Vorgesellschaftsgläubiger nach dem alten Vorbelastungsverbot noch schlechter, weil danach alle werbenden Geschäftsabschlüsse der Vor-GmbH unwirksam waren und die Gesellschaftsgläubiger sich daher darauf beschränkt sahen, ihre Vorleistung aus § 812 I 1 Fall 1 (in den Grenzen des § 818 III BGB) zurückzufordern oder die Geschäftsführer aus § 11 II GmbHG oder aus § 1791 BGB in Anspruch zu nehmen. Aber das zu strenge Vorbelastungsverbot ist durch den erst bei Eintragung wirkenden Unversehrtheitsgrundsatz (s. Fn. 23) ersetzt worden. Damit wurde das Haftungsvorfeld vor Eintragung frei. Daher gilt es nicht zu begründen, warum dort die Vorgesellschafter gegenüber den Gesellschaftsgläubigern unmittelbar persönlich haften. Vielmehr obliegt es dem B G H und dem ihm folgenden Schrifttum, sachlich überzeugende Gründe dafür darzutun, warum diese Normalhaftung dann ausnahmsweise nicht eingreifen soll!

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bauen muß. Angesichts dessen ist es nicht von vornherein Sache der Vorgesellschaftsgläubiger, sich am wirtschaftlichen Gründungsrisiko der Vorgesellschafter zu beteiligen. Vielmehr lautet die entscheidende Frage: Warum und inwieweit haben Kreditgeber die Gesellschafter einer Gründungsgesellschaft mehr zu schonen als die Mitglieder anderer nichteingetragener oder nicht als juristische Person verfaßter wirtschaftlicher Vereinigungen? Dazu bedarf es einer umfassenden Interessenabwägung. In diese sind außer den Interessen der Vorgesellschafter und der Vorgesellschaftsgläubiger öffentliche Ordnungsbelange einzubeziehen. 2. Was die Vorgesellschafter angeht, so zwingt diese niemand dazu, schon vor der Eintragung mit dem Geschäftsbetrieb zu beginnen. 12 In aller Regel werden sie dies tun, um zu ihrem eigenen wirtschaftlichen Vorteil vorzeitig Marktchancen wahrzunehmen. Zeichnen sich ernstliche Startschwierigkeiten ab, so können sie den Geschäftsbetrieb frühzeitig wieder einstellen. Vor allem haben sie ihr gesellschaftsrechtliches Endziel der persönlichen Nichthaftung mangels Eintragung der G m b H noch nicht erreicht. Anzunehmen, die Vorgesellschaftsgläubiger verzichteten schlüssig auf die sofortige persönliche (Außen-)Haftung der Vorgesellschafter, wäre deshalb reine Fiktion. Die Vorgesellschaftsgläubiger haben, insbesondere wenn sie ihrerseits bereits an die Vorgesellschaft geleistet haben, keinerlei Anlaß, erst einmal die weitere Gründungsentwicklung abzuwarten, bevor sie (falls die Vorgesellschaft nicht leistet) die Vorgesellschafter persönlich haftbar machen. Einzelpersonen, die ein Unternehmen gründen, brauchen deren erste Gläubiger ja auch keine wirtschaftliche oder rechtliche Starthilfe zu geben! Also führt kein Weg daran vorbei, daß die Vorgesellschafter persönlich haften, und zwar müssen diese das in einer Art und Weise tun, welche die Vorgesellschaftsgläubiger weder vertröstet noch sie auf allzu lange Umwege verweist, sondern ihnen möglichst zügig Erfüllung verschafft.

V. Systemfremdheit der Binnenhaftung 1. Die derzeit vom BGH schon vor der Eintragung befürwortete Binnenhaftung der Vorgesellschafter ist nicht nur zu unpraktisch. Die Außenhaftung der Vorgesellschafter ist (entgegen vielfacher Behauptung) weder mit dem Kapitalgesellschaftsrecht unvereinbar, noch widerspricht sie der beson-

12 Das gilt nicht nur, wenn sie ein eigenes Unternehmen gründen, sondern auch, wenn sie ein bereits am Markt tätiges Unternehmen fortführen. Denn auch dann können sie den Zeitpunkt der Unternehmensübernahme mit dem der Eintragung abstimmen.

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deren Eigenart einer GmbH. 13 Vielmehr ist gerade die Vorverlusthaftung vor Eintragung dem geltenden Kapitalgesellschaftsrecht unbekannt. a) Gewiß gelten für Kapitalgesellschaften sowohl der Grundsatz der Kapitalaufbringung als auch der Grundsatz der Kapitalerhaltung. Indes bezieht sich der Grundsatz der Kapitalauflmngung nur auf das von Gesetz und Satzung vorgeschriebene Mindesthaftkapital (§51 GmbHG)14. Er fordert lediglich, daß die Gesellschafter das Haftkapital einmal bereitstellen, mögen die Gesellschaftsschulden dieses auch alsbald aufzehren oder sogar übersteigen. Zudem muß das Mindesthaftkapital erst bei Eintragung der Gesellschaft zur Verfügung stehen. Vorher brauchen die Gründungsgesellschafter, sofern die Satzung nichts anderes bestimmt, von Rechts wegen keinerlei Kapital aufzubringen. Daß schon bei Anmeldung mindestens ein Viertel des Stammkapitals tatsächlich aufgebracht sein muß, ist für die Gründer nur ein Gebot des eigenen Interesses. Die Gesellschaft wird sonst nicht eingetragen (§ 7 II 1 GmbHG).15 Leisten die Vorgesellschafter ihre Einlage ganz oder teilweise vor Eintragung der Gesellschaft, so haben sie damit ihre gesellschaftsvertragliche Einlagepflicht gegenüber der Gesellschaft endgültig erfüllt (§ 362 I BGB).16 Wird das eingelegte Kapital vorzeitig aufgebraucht, so lebt die statutarische Einlagepflicht nicht wieder auf.17 Die Vorgesellschafter laufen dann freilich Gefahr, daß die Gesellschaft wegen gemäß § 7 Π 1 GmbHG unzureichender Kapitalaufbringung nicht eingetragen wird oder daß sie bei Eintragung so viel nachschießen müssen, bis das Stammkapital von Vorschulden unversehrt ist. Die vom BGH entwickelte, der Vorbelastungshaftung bei Eintragung entsprechende Vorverlustdeckungshaftung vor Eintragung hat nichts mit § 9 I GmbHG zu tun. Vielmehr befaßt sich diese Vorschrift lediglich damit, daß die geleistete Sacheinlage nicht werthaltig ist. Eine allgemeine Verlustdeckungshaftung vor oder Vorbelastungshaftung

13 So aber insbesondere Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 11 Rn. 25, wobei offenbleibt, worin im Einzelnen das besondere „Wesen des GmbH-Rechts" und damit einer G m b H gegenüber dem einer Kapitalgesellschaft bestehen soll. Ebenso Ulmer ZIP 1996, 590, 592, der ebenso allgemein bleibend auf den Widerspruch zu den „Strukturprinzipien des GmbH-Rechts" abstellt. Dagegen zu Recht schon Scholz/K. Schmidt GmbHGesetz, § 11 Rn. 80 a.E. Hingewiesen sei auch auf § 278 I AktG. 14 Bei der AG § 7 AktG. 15 Bei der AG § 38 I i.V.m. §§ 36 II, 36a I AktG. 16 Nicht etwa liegt dann eine „freiwillige Mehrleistung" vor, wie RG und BGH bis 1988 in ständiger Rechtsprechung (RGZ 83, 370, 373; 149, 293, 302ff.; BGHZ 37, 75, 77f.; 51, 157, 159; 80, 129, 137), obschon der Sachlage zuwider, angenommen haben, wenn diese Einlagen der Gesellschaft bei Eintragung nicht mehr unverbraucht zur Verfügung standen. Die Vorgesellschafter wollten dann ersichtlich nicht mehr, sondern nur vorzeitig das zahlen, was sie der Gesellschaft als Einlage schuldeten. 17 Die Gesellschafter trifft dann, obwohl sie ihre statutarische Einlagepflicht erfüllt haben, infolge des Unversehrtheitsgrundsatzes (s. bei Fn. 23) von Rechts wegen eine Nachschußpflicht.

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bei Eintragung läßt sich daher auf diese Sonderregelung nicht stützen, schon gar nicht im Vorfeld der Eintragung. b) Der Grundsatz der Kapitalerhaltung verbietet nur, daß den Gesellschaftern zu Lasten der Gesellschaftsgläubiger Mindesthaftkapital zurückgewährt wird (§§ 30 I GmbHG, 57 I AktG). Dies darf auch nicht mittels Verzinsung der Einlagen geschehen (§ 57 II AktG). Dagegen gebietet der Grundsatz der Kapitalerhaltung nicht, daß die Gesellschafter das Mindesthaftkapital nicht antasten dürfen oder gar ständig oder zu bestimmten Zeitpunkten wiederauffüllen müssen. 18 Zudem gilt der Grundsatz der Kapitalerhaltung erst ab Eintragung der Gesellschaft. Deshalb läßt sich auch aus ihm für die Zeit vor Eintragung der Gesellschaft nichts ableiten. Das ist keineswegs verwunderlich, sondern entspricht vollends der Grundwertung des § 11 I GmbHG. Wo aber noch nicht die kapitalgesellschaftsrechtlichen Grundsätze der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung gelten, herrscht das privatrechtliche Grundprinzip der persönlichen Erfüllungshaftung. Dem können sich, weil dieses Prinzip im Gesellschaftsrecht nicht nur die Personengesellschafter erfaßt, auch die Gesellschafter einer Kapitalvorgesellschaft nicht entziehen. 2. Der B G H hat sich zu sehr von der vorgefaßten und daher fixen Idee leiten lassen, daß die Haftung der Vorgesellschafter bei Eintragung nicht nur ihre inhaltliche, sondern auch ihre strukturell-dogmatische Entsprechung in deren Haftung vor Eintragung der Gesellschaft finden müsse. 19 Das Gericht spricht insoweit von einem „notwendigen Äquivalent" der nach Eintragung eingreifenden Vorbelastungshaftung. 20 Indes sind Spiegelbilder nicht ohne Trug. Insbesondere in der rechtlichen Argumentation verzerren sie nicht selten den Blick. Bald vereinfachen sie zu stark, bald überdecken sie Andersgelagertes. So ist es auch bei der persönlichen Vorgesellschafterhaftung. Bei der vom B G H richterrechtlich ins Werk gesetzten Äquivalenzhaftung der Vorgesellschafter vor Eintragung gehen verschiedene Blickwinkel durcheinander. Ausgangspunkt für die vom BGH erstrebte Einheitlichkeit der Gründerhaftung war die richtige Erkenntnis, daß sich die Haftung der Vorgesellschafter (die nach der bis dahin geübten Rechtsprechung jeweils nur bis zur Höhe ihrer Einlageschuld hafteten21) 18 Zu Recht heißt es deshalb bei Stimpel in Festschrift Fleck, 1988, S. 345 (363): „Es ginge viel zu weit, wäre wenig praktikabel und auch sonst rechtlich nicht geboten, von den Gesellschaftern zu fordern, das Stammkapital laufend unversehrt zu halten, bis die G m b H eingetragen oder das Eintragungsverfahren aufgehoben wird." 19 Uberraschenderweise soll dies freilich nicht so weit gehen, daß sich die Vorgesellschafterhaftung vor und bei Eintragung im Umfang vollends gleicht (vor Eintragung: Verlustdeckung, bei Eintragung: Unterbilanzausgleich). 20 BGHZ 134, 333 (337). 21 BGHZ 65, 378; 72, 45 ; 80, 182.

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nicht unversehens 22 zu einer diese Grenze überschreitenden Vorbelastungsausgleichshaftung steigern dürfe. In der Tat ließe sich eine solche Haftungsverschärfung sachlich weder erklären noch rechtfertigen. Aber darum geht es nicht. Vielmehr vermengt der B G H verschiedene Schutzziele miteinander. Gewiß ist die Vor-GmbH bereits eine werdende GmbH, die mit der Eintragung, ohne ihre Identität zu verlieren, vollends zur als juristische Person verfaßten G m b H wird. Aber allein deshalb verliert die Registereintragung nichts von ihrem Charakter als gesellschaftsrechtlich maßgebliche Grenzlinie. Vorher gilt es die Vorgläubiger zu schützen, nachher geht es um den Schutz der ersten Neugläubiger. Welchen Schutz man für die ersten Neugläubiger der G m b H zu gewährleisten hat, liegt auf der Hand. Mit einer Kapitalgesellschaft, deren Mindesthaftkapital bereits durch Vorschulden angegriffen oder gar aufgebraucht ist, bei der keiner der Gesellschafter persönlich haftet und in die keiner mehr Kapital einzulegen hat, schließt niemand ab. Dem beugt der an die Stelle des zu starren Vorbelastungsverbotes getretene Unversehrtheitsgrundsatz vor.23 Dieser Grundsatz besagt, daß die Vorgesellschaft zwar vor Eintragung Vorschulden aller Art begründen darf, daß aber ein daraus entstandener Vorverlust bei Eintragung der Gesellschaft durch eine entsprechende, von Rechts wegen einsetzende Nachschußpflicht ausgeglichen wird. Der Unversehrtheitsgrundsatz bezieht sich demgemäß ausschließlich auf den Zeitpunkt der Eintragung. Er soll kapitalschwache oder gar kapitallose Kapitalgesellschaften, 24 die, wären sie bereits eingetragen, sogleich oder alsbald Insolvenz anmelden müßten, von vornherein vom Rechtsverkehr fernhalten. Nicht etwa soll der Unversehrtheitsgrundsatz dafür sorgen, daß die Vorgläubiger spätestens bei Eintragung eine Mindesthaftkapitaldeckung vorfinden. U m die Kapitaldeckung von deren Ansprüchen hat sich das Gesellschaftsrecht ja auch vorher nicht gekümmert. 25 Warum soll das also plötzlich rückwirkend ab Eintragung der Gesellschaft geschehen? Schon das macht deutlich, daß eine eigens kapitalgesellschaftsrechtliche Äquivalenzhaftung der Vorgesellschafter gegenüber den Vorgesellschaftsgläubigern sich jedenfalls nicht aus der Natur der Sache erklärt, geschweige denn ergibt. Der Unversehrtheitsgrundsatz jedenfalls zielt in eine ganz andere Richtung. Dieser soll die Neugläubiger davor bewahren, daß das Mindeststartkapital der Gesellschaft schon bei Eintragung durch Vorschulden belastet oder auf-

Scholz/K. Schmidt GmbHG, § 11 Rn. 80: „gleichsam aus dem Nichts". Zu dessen gesellschaftsrechtlicher Grundlage und insolvenzrechtlichem Hintergrund näher Beuthien ZIP 1996, 360 (363 f.). 24 Das Gleiche gilt für Genossenschaften. 25 Mit der realen Kapitalaufbringung hat der Unversehrtheitsgrundsatz ohnehin nichts zu tun. Mit dieser befaßt sich das Gesetz als Eintragungsvoraussetzung nur im Zusammenhang mit der Anmeldung (s. § 7 II 1 GmbHG). 22 23

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gezehrt ist. Es soll also sichergestellt werden, daß der als juristische Person einzutragenden Gesellschaft bei Eintragung das Stammkapital (tatsächlich aufgebracht oder in Gestalt von Einlageansprüchen) ungeschmälert zur Verfügung steht und daß keine nicht durch das sonstige Gesellschaftsvermögen gedeckten Vorschulden bestehen. Deshalb sind die Vorgesellschafter im Interesse der Neugläubiger der Gesellschaft gegenüber bei Eintragung zum Vorbelastungsausgleich verpflichtet. 3. Mit den Vorgesellschaftsgläubigern hat dieser Kapitalausstattungsvorgang nichts zu tun. Aus dem Unversehrtheitsgrundsatz läßt sich daher für die Zeit vor Eintragung der Gesellschaft nichts herleiten, und zwar weder zugunsten noch zu Lasten der Vorgesellschafter. Der BGH vermengt also die auf Erfüllung gehende Vorgründerschuld gegenüber den Vorgesellschaftsgläubigern mit der erst ab Eintragung einsetzenden Gründemachschußhaftung gegenüber der Gesellschaft. Er tut dies (wie gezeigt), um zu verhindern, daß sich die Vorgesellschafterhaftung mit der Eintragung der Gesellschaft verschärft. Dieses Ziel aber läßt sich weit einfacher und rechtsdogmatisch bruchloser dadurch erreichen, daß sich die Vorgesellschafterschuld mit der Eintragung nicht wandelt, sondern diese unverändert überdauert! Da die Eintragung der Gesellschaft die Vorgesellschaftsgläubiger nicht befriedigt, ist ohnehin unerfindlich, warum diese von diesem Zeitpunkt ab ihre, ihnen nach dem Prinzip der persönlichen Haftungsverantwortung zustehenden Erfüllungsansprüche gegen die Vorgesellschafter verlieren sollen. 26 Damit, daß die Gründerhaftung gegenüber den Altgläubigern vor und nach Eintragung einheitlich sein müsse, ist das jedenfalls nicht begründbar. Denn auch die Einheitlichkeit der Gründerhaftung läßt sich nicht nur durch die Vorverlagerung der die Neugläubiger schützenden Vorbelastungshaftung, sondern auch durch die Fortgeltung der Vorgesellschafterschuld über die Eintragung hinaus, mithin (was allseits übersehen wird) so oder so erreichen. Nur tauscht man bei dem zweiten

26 Dazu, daß die Eintragung der Gesellschaft den Vorgesellschaftsgläubigern keine Befriedigung verschafft und daher kein zu deren Lasten wirkender Schulderlöschensgrund sein kann, Beuthien ZIP 1996, 360 (361 ff.). Stimpel in Festschrift Fleck, S. 345 (350f.) gibt zu Recht zu bedenken, daß die unbefriedigten Vorgesellschaftsgläubiger dadurch gleichsam „entschädigungslos enteignet" werden. Der Gegeneinwand, ab Eintragung bestehe „kein Grund mehr für eine Privilegierung der Altgläubiger gegenüber den GmbH-Neugläubigern" (so K. Schmidt ZUR 156 (1992), 93, 122), verzerrt die Rechts- und Interessenlage. Die persönliche Erfüllungshaftung der Vorgesellschafter vor Eintragung ist kein Gläubigerprivileg, sondern das haftungsrechtlich Normale. Erst mit der Eintragung der Gesellschaft entsteht dann das Schuldnerprivileg der persönlichen Nichthaftung. Im praktischen Ergebnis kommt das Erlöschen der persönlichen Erfüllungsaußenhaftung der Vorgesellschafter bei Eintragung einer rückwirkenden Anwendung des § 13 II GmbHG, die § 11 I GmbHG eindeutig ausschließt, gefährlich nahe.

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Lösungsweg ungeachtet dessen, daß es im Recht in aller Regel zwei Seiten zu beachten gilt, ein Übel durch das andere aus: Auf der Schuldnerseite verschärft sich zwar die Vorgesellschafterhaftung nicht; aber auf der Gläubigerseite verschlechtert sich ähnlich unversehens27 die Rechtsstellung der Vorgesellschaftsgläubiger. Ist das eher einsehbar als die befürchtete, aber konstruktiv mühelos vermeidbare Haftungsverschärfung zu Lasten der Vorgesellschafter? 4. Für die Vorverlustausgleichspflicht der Vorgesellschafter müßte sich zudem ein passender Zeitpunkt finden lassen. Daß eine Vor-GmbH als Kapitalvorgesellschaft zu jedem Zeitpunkt mindestens über das statutarisch vorgesehene Stammkapital verfügen muß, geht entschieden zu weit. Denn die Verfügbarkeit des Stammkapitals müssen GmbH-Gesellschafter nicht ständig, sondern nur für einen bestimmten Zeitpunkt, den der Eintragung, und nicht etwa auch danach gewährleisten. Man kann also vor Eintragung schwerlich eine weiterreichende Kapitalaufbringung verlangen als nach der Eintragung. Das wäre nicht nur entsprechenswidrig. Vielmehr macht das eine weitere, funktionale Schwäche der vom BGH ersonnenen Aquivalenzhaftung deutlich: Vorverluste pflegen zu schwanken, da eine Vorgesellschaft in aller Regel auch Einnahmen erzielt, die den Vorverlust ganz oder teilweise ausgleichen. Deshalb läßt sich ein Vorverlustsaldo schwer einklagen, da sich dieser ständig verändert und womöglich zwischenzeitlich ganz verschwindet.28 Der Ausgleich einer Unterbilanz sowie eines diese übersteigenden Vorverlustes läßt sich daher sinnvoll nur praktizieren, wenn man diesen nicht auf einen bestimmten Zeitraum (zwischen Aufnahme des Geschäftsbetriebes und Eintragung), sondern auf einen bestimmten Zeitpunkt (den der Eintragung) bezieht. Damit aber erledigt sich jede inhaltliche Entsprechung der Vorgesellschafterinnenhaftung vor und bei Eintragung! 5. Das Binnenhaftungskonzept des BGH überzeugt auch im praktischen Ergebnis nicht. Nach Ansicht des BGH 29 soll die Binnenhaftung 30 der Vorgesellschafter einem unzuträglichen Gläubigerwettlauf vorbeugen und dazu beitragen, daß nicht nur einige der Gläubiger befriedigt werden. Aber bevor ein Insolvenzverfahren eröffnet wird, kommt derjenige Gläubiger zum Zuge, der zuerst zugreift. Das ist leistungswettbewerbsgerecht. Deshalb be-

27 28

Also wiederum (s. Fn. 22) „aus dem Nichts". Zutreffend Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck GmbHG, § 11 Rn. 24 im Anschluß an

Monhemius GmbHR 1997, 387 u. Gummen DStR 1997, 1009 f. 29

BGHZ 134, 333 (340). Beim Wechsel von der Außen- zur Binnenhaftung liegt sachlich zunächst deren Binnenausgleich nahe, was aber weder vom BGH noch vom Schrifttum in Betracht gezogen wird! 30

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steht keinerlei Anlaß, insoweit vom zwangsvollstreckungsrechtlichen Prioritätsprinzip abzuweichen. 31 Zudem ist gesellschaftsrechtlich in keiner Weise gewährleistet, daß der Geschäftsführer der Vor-GmbH die von den Vorgesellschaftern eingezogenen Deckungsbeiträge anteilig oder in sonst angemessener Weise auf die Vorgesellschaftsgläubiger verteilt. 6. Die Vorgesellschafterhaftung kann daher nur an der jeweiligen Vorschuld selbst ansetzen. Nur diese unmittelbare Außenhaftung der Vorgesellschafter entspricht bei nichteingetragenen Wirtschaftsvereinen dem körperschaftsrechtlichen Haftungssystem (s. § 54 S. 1 BGB i.V.m. §§ 714, 427, 421 BGB oder § 128 S. 1 HGB). Nicht von ungefähr hat daher das RG die Handelndenhaftung i.S. der §§ 11 II GmbHG, 41 12 AktG ursprünglich zugleich als Gründerhaftung begriffen. 32 Nicht zufällig fordert das europäische Gemeinschaftsrecht in Art. 7 Publizitätsrichtlinie (68/151/EWG) für die Gründungsphase von Kapitalgesellschaften die unbeschränkte Außenhaftung aller Handelnden (s. insoweit auch Art. 9 II EWIV-VO). Dabei erfaßt der Handelndenbegriff grundsätzlich auch die Gründergesellschafter 33 , und zwar vorrangig zu Recht. Denn die Handelndenhaftung des Geschäftsführers einer Vor-GmbH oder der Vorstandsmitglieder einer Vor-AG ist mangels Registerpublizität der Vorgesellschafter eine lediglich ausnahmsweise eingreifende NothaftungiA. Diese ist daher nicht nur gegenüber der Vorgesellschaftsschuld 35 , sondern auch gegenüber der Haftung der Vorgesellschafter subsidiär. Nehmen doch nur diese unmittelbar am Ertrag des vorzeitig aufgenommenen Geschäftsbetriebes teil. Insbesondere brauchen sich mit der Geschäftsführung für Rechnung der Vorgesellschafter betraute Dritte 36 nicht haftungsrechtlich gegenüber den Vorgesellschaftsgläubigern gleichrangig am für sie fremden Wirtschaftsrisiko der Unternehmenseigner zu beteiligen. Gewiß können die von den Vorgesellschaftsgläubigern persönlich in Anspruch genommenen geschäftsführenden Personen bei der Vorgesellschaft Rückgriff nehmen (§§ 675, 611, 670 BGB). Aber das nützt ihnen nichts, wenn die Vorgesellschaft (wie in solchen Fällen regelmäßig) notleidend ist. Und ob sie aus Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 683 S. 1, 677, 670 BGB) mit Erfolg bei den gegenüber den Vorgesellschaftsgläubigern von ihrer Außenhaftung befreiten Vorgesellschaftern Rückgriff nehmen können, ist auch ungewiß. Jedenfalls gehört ein solches Ausfallrisiko nicht zum Be-

31 Wärend des Insolvenzverfahrens beugt § 93 InsO einem dann gleichheitswidrigen Gläubigerwettlauf vor. 32 RGZ 55, 303; 70, 301. 33 Kersting Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 364. 34 Näher dazu Beuthien ZIP 1996, 360 (367). 35 Dazu Beuthien ZIP 1996, 360 (367). 36 Bei vorzeitiger Fremdorganschaft gem. §§ 6 III 1 GmbHG, 76 III 1 AktG.

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rufsrisiko eines dienstvertraglich angestellten Geschäftsführers. Nicht um Managerrisiko geht es, sondern um Eigentümerrisiko. Deshalb stehen vorrangig die Vorgesellschafter in der persönlichen Haftungsverantwortung!

VI. Verhältnismäßige Außenteilschuld der Vorgesellschafter 1. Allerdings ist die bei nicht als juristische Person verfaßten wirtschaftlichen Vereinigungen übliche gesamtschuldnerische Außenhaftung für die Gründer einer Kapitalvorgesellschaft insofern außerordentlich streng, als sie deren tatsächliche Risikobereitschaft und oft auch deren Vermögensverhältnisse übersteigt. Da Unternehmensgründungen wettbewerbswirtschaftlich erwünscht sind, sollte das für die Unternehmensgründer geltende Gesellschaftsrecht nicht derart streng sein, daß die Gründungskapitalgeber ein solches, ihre vorgesehene Einlage weit übersteigendes Haftungsrisiko scheuen und deshalb davon absehen, sich einer Vorgesellschaft anzuschließen. Die persönliche Vorgesellschafteraußenhaftung darf auch nicht ein derartiges Ausmaß annehmen, daß eine betriebswirtschaftlich sinnvolle vorzeitige Aufnahme des Geschäftsbetriebes praktisch unterbleiben muß. Das wäre im Ergebnis ein Rückfall in das alte, operative Vorgeschäfte untersagende Vorbelastungsverbot! Daher gilt es anstelle der die Vorgesellschaftsgläubiger vor Eintragung allzu einseitig belastenden Aquivalenzhaftung einen allseits zumutbaren Haftungskompromifl zu finden. Leitlinie hat dabei einerseits zu sein, daß die Vorgesellschafter haftungsrechtlich noch nicht so stehen dürfen, als sei die Vor-GmbH bereits eingetragen, also noch nicht nur bis zur Höhe ihrer Einlage haften können, sondern den Vorgesellschaftsgläubigern unmittelbar Erfüllung schulden. Andererseits ist den Vorgesellschaftsgläubigern eine gewisse Rücksicht darauf zuzumuten, daß sie es mit einer werdenden GmbH zu tun haben, deren Gesellschafter eine Kapitalgesellschaft ohne gesamtschuldnerische Außenhaftung anstreben und daher ersichtlich nicht volles Risiko gehen wollen.37 Deshalb ist die gesamtschuldnerische Haftung jedes einzelnen Vorgesellschafters nicht nur allzu strikt. Sie läßt sich gegenüber dem einzelnen Vorgesellschafter oft auch nicht durchsetzen, weil er sie in dieser Höhe nicht zu erfüllen vermag. 2. Als einziger noch nicht beschrittener Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich eine Außenteilschuld jedes einzelnen Vorgesellschafters für sämtliche Vorschulden im Verhältnis seiner gesellschaftsvertraglich übernommenen Einlage zu den von den Mitvorgesellschaftern geschuldeten Einlagen 37 Die Vorgesellschaftsgläubiger vermögen das freilich nur dann zu erkennen, wenn die Vorgesellschaft eigens als V o r - G m b H (z.B. als G m b H i.Gr.) auftritt.

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an. 38 Allerdings wissen die Vorgesellschaftsgläubiger mangels Registereintrags oft noch nicht, wieviele Vorgesellschafter es gibt, wieviele Geschäftsanteile die einzelnen Vorgesellschafter übernommen haben und welche Höhe diese haben. Damit droht den Vorgesellschaftsgläubigern bei der Außenteilschuld die gleiche praktische Schwierigkeit wie bei der vom BGH befürworteten verhältnismäßigen Binnenhaftung gegenüber der Gesellschaft. Indes kann man dem dadurch vorbeugen, daß jeder Vorgesellschafter zwar grundsätzlich nach außen als Gesamtschuldner haftet, daß sich aber die ihn treffende Gesamtschuld in eine Teilschuld umwandelt, sobald der Vorgesellschaftsgläubiger davon Kenntnis erlangt, wie hoch das statutarisch vorgesehene Stammkapital sowie die Beteiligung des betreffenden Vorgesellschafters ist. 39 Es ist daher für jeden Vorgesellschafter ein Gebot des eigenen Interesses, die Vorgesellschaftsgläubiger unverzüglich dahingehend zu informieren oder (insbesondere durch den Geschäftsführer) unterrichten zu lassen. 40 Fehlinformationen gehen zu seinen Lasten. Diese Kombination von Außenhaftung und Teilschuld ist zwar dem geltenden Gesellschaftsrecht unbekannt und ist auch dogmatisch schwer einzuordnen. Sie läßt sich aber damit erklären und rechtfertigen, daß die Gründer einer Kapitalgesellschaft nur gemeinsam die wirtschaftliche Gesamtverantwortung übernehmen wollen und daß der Rechtsverkehr von ihnen als Körperschaftsmitgliedern anders als von Personengesellschaftern, für die das Prinzip der vollen Einzelverantwortung gilt, nicht mehr erwarten kann. 41 Darauf müssen und können sich die Vorgesellschaftsgläubiger, ohne daß ihnen wie derzeit von Rechts wegen eine unzumutbare Gründungshilfe abverlangt wird, einstellen. 3. Fraglich ist allerdings, wer das Ausfallrisiko trägt, wenn einzelne Teilschuldner sich als leistungsunfähig erweisen. Das Stammkapital haben die Mitgesellschafter im Verhältnis ihrer Geschäftsanteile aufzubringen, wenn einzelne Gesellschafter insoweit ausfallen (§ 24 GmbHG). Der BGH wendet diese Vorschrift sowohl in Bezug auf die mit der Eintragung der Gesellschaft einsetzende Vorbelastungshaftung als auch in Bezug auf die vor Eintragung bestehende Vorverlustausgleichshaftung entsprechend an. 42 Deshalb schei38

Dazu bereits Beuthien WM 2002, 2261 (2263). Auf diese Lösungsmöglichkeit hat mich der Geschäftsführer des Marburger Instituts für Genossenschaftswesen, Dr. Otto Körte, aufmerksam gemacht. 40 Von der Eintragung der Gesellschaft an wirkt insoweit, wenn im Register auch die Mitglieder einzutragen sind, § 15 II HGB. Bei der eG dürfte genügen, daß jeder Genossenschaftsgläubiger die vom Genossenschaftsvorstand zu führende Mitgliederliste einsehen darf (§ 31 I GenG). Wird die Einsicht verweigert, bleibt die Gesamtschuld zu Lasten der Mitglieder bestehen. 41 Bei unteilbaren Liefer-, Dienst- und Werkleistungen schuldet jeder Vorgesellschafter anteilig Schadensersatz gem. § 281 BGB. 42 BGHZ 134, 333. 59

Zum Haftungsprivileg der Vorgesellschafter

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nen die Vorgesellschafter auch als Teilschuldner entsprechend § 24 GmbHG im Verhältnis ihrer Geschäftsanteile für den Ausfall einzelner Teilschuldner einstehen zu müssen. Indes käme man damit letztlich wiederum zu einem der gesamtschuldnerischen Haftung ähnelnden Ergebnis.43 Vor allem erklärt sich die Ausfallhaftung der Mitgesellschafter gemäß § 24 GmbHG daraus, daß das Stammkapital zum Schutz der GmbH-Neugläubiger in jedem Fall aufgebracht werden muß. In § 24 GmbHG kommt also der Grundsatz der Mindestkapitalaufbringung zum Ausdruck. Darum aber geht es vor Eintragung der Gesellschaft nicht. Deshalb paßt § 24 GmbHG nicht zur persönlichen Vorgesellschafterhaftung vor Eintragung44 und ist daher insoweit nicht entsprechend anwendbar. 4. Die (mögliche) Außenteilschuld der Vorgesellschafter hat zudem den Vorteil, daß sie sich anders als der Gesichtspunkt der unzureichenden Kapitalaufbringung, der im Genossenschaftsrecht nicht paßt, auch bei der Vor-eG bewährt45 und daher eine für alle Vorkörperschaften einheitliche Gründerhaftung ermöglicht. Diese Art der Vorgesellschafterhaftung ist zwar noch nicht geltendes Gesetzesrecht, steht diesem aber näher als die ebenso schillernde wie systemfremde Äquivalenzhaftung, wie sie der BGH entwickelt hat. Eines jedenfalls ist gewiß: Wem auch die hier vorgeschlagene Teilmilde zu Lasten der Vorgesellschaftsgläubiger zu weit geht,46 muß es bei der dann unumgänglichen strengen gesamtschuldnerischen Außenhaftung jedes Vorgesellschafters belassen.

VII. Ergebnis 1. Die vom BGH für die Zeit vor der Eintragung entwickelte Vorverlustbinnenhaftung der Vorgesellschafter wird weder von dem Grundsatz der Kapitalaufbringung noch von dem Grundsatz der Kapitalerhaltung gedeckt, weil beide Grundsätze vor Eintragung der Gesellschaft noch nicht gelten. Für sie fehlt, da die Vorgesellschafter nicht zum fortlaufenden Vor43 Die einzelnen Teilschuldner würden demgegenüber nur insofern geschont, als sie nicht wie bei der Gesamtschuld sogleich voll, sondern nur zeitlich gestuft in Anspruch genommen werden (erst verhältnismäßige Teilschuld, alsdann zeitlich später, gleichsam nach einer Erholungsphase, verhältnismäßige Ausfalldeckung). 44 In WM 2002, 2261 (2263) habe ich das noch nicht hinreichend berücksichtigt. 45 Zur Haftung der Mitglieder einer Vor-eG näher Beuthien WM 2002, 2261 ff. 46 Etwa wegen Widerspruchs zu § 176 I HGB, der gegenüber noch nicht als solche eingetragenen Kommanditisten keinerlei Gnade kennt. Aber dort geht es um eine Personengesellschaft und darum, daß bis zur Eintragung als Kommanditist der Rechtsschein erweckt wird, dieser sei ein persönlich voll auf Erfüllung haftender Gesellschafter. Ein vergleichbares Vertrauen wird weder bei der Vor-GmbH noch bei der Vor-AG noch bei der Vor-eG erweckt.

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Volker Beuthien

Verlustausgleich verpflichtet sind, vor Eintragung auch ein passender Zeitpunkt. 2. Solange eine Vereinigung nicht als alleinverantwortliche juristische Person eingetragen wird, haften deren Mitglieder den Gesellschaftsgläubigern gegenüber unmittelbar auf Erfüllung. Für Vorgesellschafter gilt insoweit keine Ausnahme. 3. Die Außenschuld der Vorgesellschafter gegenüber den Vorgesellschaftsgläubigern wird nicht erst bei Eintragung der Gesellschaft fällig. 4. Die Außenschuld der Vorgesellschafter gegenüber den Vorgesellschaftsgläubigern erlischt nicht zu deren Lasten mit der Eintragung, sondern überdauert diese, solange die Vorgesellschaftsgläubiger nicht befriedigt werden oder die Vorgesellschafter nicht bei oder nach Eintragung für den entsprechenden Vorbelastungsausgleich sorgen. 47 Die vom BGH geforderte Einheitlichkeit der Vorgesellschafterhaftung läßt sich gesellschaftsrechtlich so am einfachsten gewährleisten. 5. Jeder Vorgesellschafter haftet zwar grundsätzlich als Gesamtschuldner. Seine Gesamtschuld sollte sich aber zur Teilschuld im Verhältnis seines Geschäftsanteils zu denen der Mitgesellschafter wandeln, sobald der betreffende Vorgesellschaftsgläubiger Kenntnis von der Höhe des Stammkapitals und dem Umfang der Beteiligung des Vorgesellschafters erhält. 48 6. Die Handelndenhaftung der Geschäftsführer ist als Nothaftung nicht nur gegenüber der Vorgesellschaftsschuld, sondern auch gegenüber den Vorgesellschafterschulden subsidiär. Sie erlischt, sobald der Vorgesellschaftsgläubiger die Namen und die Anschrift der vorrangig verantwortlichen Vorgesellschafter erfährt. 49 Ζ Diese Haftungsregeln gelten nicht nur bei der Vor-GmbH und Vor-AG, sondern auch bei der Vor-eG, bei der die GmbH-lastige Argumentation des BGH nicht paßt. 47 Die Außenschuld der Vorgesellschafter erlischt dann entsprechend § 171 I Halbs. 2 HGB. Näher dazu Beuthien ZIP 1996, 360 (365 f.). 48 Wenn der Vorgesellschaftsgläubiger den Vorgesellschafter bereits als Gesamtschuldner verklagt hat, dürfte eine Teilerledigung der Hauptsache (§ 91a ZPO) mit entsprechender Kostentragungspflicht des Beklagten vorliegen. 4 9 Das kann insbesondere dadurch geschehen, daß die Handelnden ihm dies, um ihre persönliche Inanspruchnahme zu vermeiden, mitteilen (dazu Beuthien ZIP 1996, 360, 367) oder daß mit der Eintragung der Gesellschaft und ihrer Gesellschafter die entsprechende Registerpublizität einsetzt (s. Fn. 40). Hat der Vorgesellschaftsgläubiger bereits Klage erhoben, so empfiehlt es sich, diese, wenn der für die Vorgesellschaft tätig gewordene Geschäftsführer zugleich Gesellschafter ist, im Klagegrund umzustellen. Hat ein drittorganschaftlich bestellter Geschäftsführer gehandelt, ist es ratsam, die Klage auf die Vorgesellschafter umzustellen. Statt dessen kommt in Betracht, den Rechtsstreit für erledigt zu erklären (§ 91a ZPO) oder die Klage auf Feststellung der Kostentragungspflicht des Beklagten umzustellen (§ 263 ZPO), falls dieser gegenüber dem Kläger in Schuldnerverzug geraten ist (§§ 280 II, 286 BGB). Bei Klagrücknahme ist eine Vollstreckungsabwehrklage (§ 767 ZPO) zu erwägen.

Handelsregisterpublizität von Kommanditisten und GbR-Gesellschaftern - Rechtsprobleme der Neufassung des § 162 HGB ULRICH

BURGARD

I. Einführung Seit Jahren sind wir einer ständig steigenden Flut neuer Gesetze ausgesetzt. Und gegen diese Flut helfen keine Dämme. Sie betrifft nicht nur neue Rechtsgebiete, wie das Kapitalmarktrecht, sondern ist inzwischen auch in altes Stammland, wie etwa das BGB, breitflächig übergeschwappt. Ursache ist nicht allein die geänderte rechtspolitische Großwetterlage, also der anschwellende Regelungsstrom aus Brüssel. Vielmehr überschüttet uns auch der heimische Gesetzgeber mit einem regulatorischen Dauerregen. Dabei dürften die volkswirtschaftlichen Kosten dieser anhaltenden legislativen Überschwemmung weitaus höher sein als die Kosten der Flutkatastrophe im Jahr 2002. 1 Freilich ist nicht jedes dieser Gesetze ein Unwetter. Vielmehr bedarf es, um reiche Ernte einzufahren, bekanntlich einer gewissen Niederschlagsmenge. Wird diese jedoch nachhaltig überschritten, dann wird aus Segen Fluch. Und derzeit ist die Regelungsdichte derart hoch, daß dem Gesetzgeber selbst zuweilen der Durchblick abhanden gekommen zu sein scheint. Folge für den Rechtsanwender ist, daß er sich plötzlich auf unsicher schwankendem Boden bewegt, wo er eben noch festes, trockenes Land wähnte. Ein Beispiel für diese unheilvolle Regelungsschwemme ist die Neufassung von § 162 HGB. Innerhalb eines Jahres hat der Gesetzgeber die Vorschrift gleich zweimal mit einem Guß bedacht, und zwar in beiden Fällen gleichsam aus heiterem Himmel, nämlich in Artikelgesetzen mit einem völlig anderen Regelungsschwerpunkt. Zunächst wurden §§ 162 Abs. 2, 175 S. 2 HGB im Gesetz zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung - dem sog. NaStraG - vom 18. 1. 2001 neu gefaßt. 2 Und 11 Monate später wurde im Gesetz über elektronische Register und Justizkosten

1 Die Flutkosten betrugen „lediglich" rund 11 Mrd. Euro, FAZ vom 12. 08. 2003, S. 1. 2 BGBl. I, 123.

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für Telekommunikation (ERJuKoG) § 162 Abs. 1 HGB durch einen Satz 2 ergänzt.3 Die Frage, welche Folgen sich für die Handelsregisterpublizität von Kommanditisten aus der Neufassung der §§ 162 Abs. 2, 175 S. 2 HGB ergeben, haben bereits Karsten Schmidt4 und Jan Wilhelm5 aufgegriffen,6 sind dabei aber zu konträren Ergebnissen gelangt. Einig sind sie sich zu Recht nur darin, daß es sich um eine gesetzgeberische Fehlleistung handelt. Ähnliche Fragen stellen sich überdies im Blick auf den angefügten § 162 Abs. 1 S. 2 HGB. Die Vorschrift verstärkt den Eindruck, daß der Gesetzgeber nicht mehr so recht weiß, was er tut. Der folgende Beitrag behandelt beide Fragenkomplexe und soll auf diese Weise mithelfen, die entstandene Rechtsunsicherheit zu beseitigen. Um die Tragweite der Gesetzesänderungen zu beurteilen, hat man sich zunächst nochmals Inhalt und Bedeutung der nach § 162 HGB erforderlichen Eintragungen vor Augen zu führen.

II. Inhalt und Bedeutung von § 162 HGB § 162 HGB regelt zunächst in Absatz 1 Satz 1, welche Angaben bei der Anmeldung einer Kommanditgesellschaft zum Handelsregister zu machen sind. Das sind zum einen die auch bei einer OHG gemäß § 106 Abs. 2 HGB erforderlichen Angaben, also insbesondere die Identitätskennzeichen der Gesellschafter. Zum anderen sind die Kommanditisten mit dem Einlagebetrag, bis zu dem sie haften, zu bezeichnen. Ändert sich die Zusammensetzung des Gesellschafterkreises durch Ein- und Austritt oder wird die Hafteinlage herauf- oder herabgesetzt, so ist auch dies nach §§ 162 Abs. 3, 175 S. 1 HGB zum Handelsregister anzumelden. Aufgrund der Anmeldung trägt das Registergericht die betreffenden Tatsachen sodann in das Handelsregister ein. Die Bedeutung dieser Eintragungen liegt darin, daß die Gläubiger von Personenhandelsgesellschaften anders als bei Kapitalgesellschaften bekanntlich nicht durch Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsvorschriften geschützt werden. An deren Stelle tritt vielmehr die persönliche Haftung der Gesellschafter, sei sie unbeschränkt oder wie im Falle der Kommanditisten beschränkt. Für die Beurteilung der Kreditwürdigkeit einer Kommanditgesellschaft ist daher die Bonität der Gesellschafter von erheblicher Bedeutung.7

3 4 5 6 7

BGBl. I, 3422. ZIP 2002, 413. DB 2002, 1979. Jüngst auch Grunewald ZGR 2003, 541 ff. und S. nur BGHZ 148, 291, 294.

Terbrack Rechtspfleger 2003, 105 ff.

Handelsregisterpublizität von Kommanditisten und GbR-Gesellschaftern

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Im Blick hierauf müssen die Geschäftspartner einer KG zweierlei wissen: erstens, wer die Gesellschafter sind, und zweitens, in welchem Umfang sie haften. Und damit sie auf diese wichtigen Informationen jederzeit zugreifen können, sind sie in das Handelsregister einzutragen. Das ist der Hintergrund, vor dem die Änderungen des § 162 HGB zu beurteilen sind. Zu beginnen ist - gleichsam in „historischer" Reihenfolge mit der Neufassung der §§ 162 Abs. 2, 175 S. 2 HGB.

III. Die Neufassung von § 162 Abs. 2 HGB § 162 Abs. 2 HGB n.F., auf den § 175 S. 2 HGB n.F. verweist, enthält zwei Halbsätze, die es getrennt voneinander zu würdigen gilt. Zunächst zu Halbsatz 1: 1. § 162 Abs. 2 Hs. 1 HGB: Verzicht auf Bekanntmachungen Im Blick auf § 162 Abs. 2 Hs. 1 HGB sei zunächst daran erinnert, daß sich die Handelsregisterpublizität grundsätzlich aus zwei Elementen zusammensetzt, nämlich erstens der Eintragung und zweitens der Bekanntmachung der eingetragenen Tatsachen im Bundesanzeiger sowie in einer Tageszeitung (§ 10 HGB). Durch diese Bekanntmachung soll die Publizität des Handelsregisters gesteigert werden, indem der Geschäftsverkehr auf die Neueintragungen aufmerksam gemacht wird.8 Dabei wird die Eintragung grundsätzlich ihrem ganzen Inhalt nach bekannt gemacht. Von dem Grundsatz einer vollständigen Bekanntmachung der eingetragenen Tatsachen sah das Recht der Kommanditgesellschaft allerdings seit jeher9 Ausnahmen vor. So bestimmte § 162 Abs. 2 HGB a.R: „Bei der Bekanntmachung der Eintragung ist nur die Zahl der Kommanditisten anzugeben; der Name, das Geburtsdatum und der Wohnort der Kommanditisten sowie der Betrag ihrer Einlagen werden nicht bekannt gemacht. "Und § 175 S. 2 HGB a.F. lautete: „In der Bekanntmachung der Eintragung [der Erhöhung oder Herabsetzung einer Hafteinlage] ist nur allgemein auf die Änderung der Beteiligung hinzuweisen."

8

Statt aller MünchKommHGB/Bokelmann, 1. Aufl. 1996, § 10 Rn. 1. § 162 Abs. 2 HGB geht auf Art. 151 Abs. 3 S. 2 ADHGB von 1861 zurück. Nach Art. 65 S. 2 des Entwurfs eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland von 1848/49, abgedr. bei Baums ZHR Beiheft 54 (1982), 114, sollte sogar die Eintragung der Namen der „Commandit-Gesellschafter" unterbleiben, weil diese „verborgen bleiben" wollten (Motive, ebd., S. 151). 9

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D e r historische Grund für diese Einschränkung war die N ä h e von K o m manditbeteiligung und stiller Beteiligung 10 . 11 Das überzeugte allerdings von Anfang an nicht. 1 2 So gesehen ist es zu begrüßen, daß sich der Gesetzgeber dieser Vorschriften nunmehr angenommen hat. Zumindest auf den ersten Blick überraschend ist jedoch, wie er das getan hat. Seit Jahren wird Publizität und Transparenz von Rechts- und Wirtschaftswissenschaft zunehmende Bedeutung zugemessen, und zwar zu Recht. U n d der Gesetzgeber hat dieser Erkenntnis mit zahlreichen neuen Offenlegungspflichten Rechnung getragen. 1 3 Vor diesem Hintergrund hätte es nahe gelegen, die verfehlten Einschränkungen der §§ 162 Abs. 2, 175 S. 2 H G B a.F. ersatzlos zu streichen und damit die Bekanntmachungen über Kommanditisten auf das gesetzliche Regelniveau des § 10 H G B anzuheben. O h n e diese Möglichkeit auch nur zu erörtern, hat der Gesetzgeber statt dessen den genau entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Weil die bisherigen

10 Eine Trennung von stiller Gesellschaft und Kommanditgesellschaft erfolgte erst im Laufe der Beratungen zum ADHGB, s. Protokolle der Commission zur Berathung eines allgemeinen deutschen Handelsgesetz-Buches, Nürnberg 1858, S. 1077ff.; ferner Bomemann/Waldeck/Strohn/Bürges Das Allgemeine Deutsche Handels-Gesetzbuch, 1862, Vorbemerkung Art. 150, S. 113ff.; s. auch o. Fn. 9. 11 Die Begründung des Regierungsentwurfes meint demgegenüber, die Angaben zu den Kommanditisten seien von jeher für den Rechtsverkehr von untergeordneter Bedeutung, da die Kommanditisten nach dem gesetzlichen Modell von der Geschäftsführung ausgeschlossen seien und nach ihrer Eintragung die Haftung auf die Einlage beschränkt sei, BT-Drs. 14/4051, S. 18f. 12 Zu Recht sahen die ersten beiden Entwürfe zum HGB von 1895 (§ 132) und 1896 (§ 148) vor, daß auch die Identitätskennzeichen der Kommanditisten sowie der Betrag ihrer Einlage veröffentlicht werden sollten (abgedr. bei Schubert/Schmiedel/Krampe (Hrsg.) Quellen zum Handelsgesetzbuch von 1897, Band I, 1986, S. 254, 384); denn es ließe sich nicht mehr rechtfertigen (vgl. o. Fn. 9), daß bei der Bekanntmachung der Eintragung gerade die für Dritte wesentlichen Umstände weggelassen würden. Wolle der Kommanditist verborgen bleiben, solle er sich in Form einer stillen Gesellschaft beteiligen. Eben dies sei Sinn und Zweck des Nebeneinanders von Kommanditgesellschaft und stiller Gesellschaft, s. Denkschrift zu dem Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für das Deutsche Reich i.d.F. von 1895 (abgedr. bei Schubert/Schmiedel/Krampe wie vor, Band II, 1. Halbband, 1987, S. 100). Dieser Vorschlag stieß freilich auf heftige Kritik. Der 23. Deutsche Handelstag sah in der Veröffentlichung dieser Angaben gar eine unnütze Befriedigung müßiger Neugier (ebd. S. 605 f.). Sie widerspreche dem Gefühl der Kaufmannschaft und werde vielfach von der Wahl dieser Gesellschaftsform abhalten (so die Protokolle über die Berathungen der Kommission zur Begutachtung des Entwurfs, ebd. S. 338). Ahnlich sahen es verschiedene Bundesregierungen (s. ebd. Band II, 2. Halbband, 1988, S. 788f.). Für die endgültige Fassung von § 162 Abs. 2 HGB gab denn auch die Besorgnis Ausschlag, daß die Beteiligten auf die Form der stillen Gesellschaft ausweichen würden, um einer Veröffentlichung zu entgehen; denn ein solches Ausweichen sei im Interesse der Gesellschaftsgläubiger unerwünscht (Denkschrift zum Entwurf eines Handelsgesetzbuchs und eines Einführungsgesetzes i.d.F. von 1897, Reichstags-Drs. 632, abgedr. ebd. S. 1042). 13 Ausf. zur Entwicklung und Bedeutung von Publizität Merkt Unternehmenspublizität,

2001.

Handelsregisterpublizität v o n K o m m a n d i t i s t e n u n d G b R - G e s e l l s c h a f t e r n

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Bekanntmachungen einerseits nichtssagend und andererseits kostenträchtig seien, sollen nunmehr nach (§ 175 S. 2 i.V.m.) § 162 Abs. 2 Hs. 1 HGB n.F. Angaben zu Kommanditisten überhaupt nicht mehr bekannt gemacht werden.14 Das aber heißt - um im nassen Sinnbild zu bleiben - das Kinde mit dem Bade auszuschütten. Auf den naheliegenden Gedanken, daß die mangelnde Aussagekraft der Bekanntmachungen über Kommanditisten auf ihrem zu geringen, von der gesetzlichen Regel abweichenden Informationsgehalt beruht, kommen die Verfasser nicht. Allerdings könnte man den Verzicht auf Bekanntmachungen mit der zweifelhaften Effektivität dieser zweiten Säule der Handelsregisterpublizität rechtfertigen; denn „wer liest schon den Bundesanzeiger zum Frühstück"15. Überdies nimmt die Bedeutung der Bekanntmachungen in dem Maße ab, in dem das Handelsregister elektronisiert und den Interessenten ein elektronischer Zugriff auf die Handelsregisterdaten ermöglicht wird.16 Insofern schafft das 11 Monate später erlassene ERJuKoG - wenn auch etwas halbherzig17 - weitere Erleichterungen. Von einer vollständigen Elektronisierung der Handelsregister sind wir jedoch noch weit entfernt, und zwar nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich.18 Die Lücke füllen private Informationsdienste. 19 Sie bieten schon heute an, was beim Handelsregister noch nicht einmal geplant ist, nämlich Interessenten über Eintragungsänderungen bei bestimmten Unternehmen auf elektronischem Wege automatisch zu benachrichtigen. Für die tatsächliche Verbreitung publizitätspflichtiger Tatsachen sind daher auch im vorliegenden Zusammenhang private Informationsmittler von erheblicher Bedeutung. Dabei basieren ihre Daten in erster Linie auf einer systematischen Auswertung der Bekanntmachungen im Bundesanzeiger. Ein Verzicht auf diese Bekanntmachungen erschwert daher die Arbeit dieser Informationsdienste erheblich. Wer Eintragungsänderungen bei Kommanditgesellschaften zeitnah verfolgen will, ist nunmehr gezwungen, alle zwei Wochen (vgl. § 15 Abs. 2 S. 2 HGB) vorsorglich in das Handelsregister Einsicht zu nehmen. Durch den Verzicht auf jegliche Bekanntmachung bezüglich von Kommanditisten wird daher der Zugang zu diesen Informationen deutlich erschwert. Zudem werden die Handelsregister infolge gehäufter Anfragen eher be- als entlastet. Von einem „begrüßenswerten Beitrag zur Deregulierung

" Begr. RegE, BT-Drs. 14/4051, S. 19. 15 Windbichler CK 1988,447. 16 K. Schmidt ZIP 2002, 413, 419; Noak in Festschrift Ulmer, 2003, S. 1244, 1253f.; Grunewald ZGR 2003, 541, 546. 17 Vgl. Noak BB 2001, 1261, 1262ff. is Vgl. Noak BB 2001, 1261, 1263 ff. 19 Auch dazu Noak BB 2001, 1261, 1263, 1266.

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der registerrechtlichen Praxis"20 kann mithin keine Rede sein. Vielmehr handelt es sich um ein typisches Beispiel von unbedachtem gesetzgeberischen Aktionismus. Noch erheblich problematischer ist freilich der zweite Halbsatz des neuen § 162 Abs. 2 HGB. Um das zu erkennen, bedarf es allerdings zunächst eines Blicks auf Inhalt und Bedeutung des § 15 HGB.

2. Exkurs: Inhalt und Bedeutung des § Ii HGB Das Handelsregister kann seine Funktion als zuverlässige Informationsquelle für den Rechts- und Geschäftsverkehr nur erfüllen, wenn sein Inhalt richtig ist und auf die Richtigkeit seines Inhalts vertraut werden kann. Diesen Zielen ist § 15 HGB verpflichtet. Die Vorschrift dient also erstens dem Vertrauensschutz. 21 Nach § 15 Abs. 3 HGB soll der Rechts- und Geschäftsverkehr auf die Richtigkeit der Handelsregisterpublizität22 vertrauen dürfen. Und § 15 Abs. 1 HGB schützt das Vertrauen darauf, daß sich die verlautbarte Rechtslage zwischenzeitlich nicht geändert hat. Dabei geht es freilich nicht um einen konkret-individuellen, sondern um einen abstrakt-generellen Vertrauensschutz. 23 Es kommt daher nicht darauf an, ob ein Dritter das Handelsregister tatsächlich eingesehen oder die Bekanntmachung tatsächlich gelesen und im Vertrauen auf deren Richtigkeit Dispositionen getroffen hat. Geschützt wird vielmehr das Vertrauen in das Handelsregister als Institution. Zweitens dient die Vorschrift daher dem Institutionenschutz. Nach § 15 Abs. 1 und 3 HGB darf sich der Rechts- und Geschäftsverkehr grundsätzlich 24 auf die verlautbarte Rechtslage verlassen, einerlei, ob sie der wahren Rechtslage entspricht oder nicht. Die Richtigkeit der Handelsregisterpublizität wird dadurch gleichsam fingiert (öffentlicher Glaube des Handelsregisters). 25 Damit dient die Vorschrift drittens dem Verkehrsschutz. Indem sich die Verkehrsteilnehmer grundsätzlich auf die verlautbarte Rechtslage berufen So K. Schmidt ZW 2002, 413, 420. H.M., etwa MünchKommHGB/iiei? (Fn. 8) § 15 Rn. 6; Hüffer in Großkomm. HGB, 4. Aufl. 1982, § 15 Rn. 1. 2 2 Richtigerweise gilt § 15 Abs. 3 HGB nicht nur bei einer falschen Bekanntmachung, sondern analog auch bei einer falschen Eintragung, zutreffend MünchKommHGB/Zjei (Fn. 8) § 15 Rn. 65 m.w.N. 23 Anschaulich K. Schmidt Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, S. 391 ff. m.w.N. 2 4 Ausnahme bei Kenntnis der wahren Rechtslage. § 15 Abs. 3 HGB setzt überdies richtigerweise eine Veranlassung der Bekanntmachung voraus, h.M. statt anderer Ammon/Röhrichth. Westphalen HGB, 2. Aufl. 2001, § 15 Rn. 42 m.w.N. 25 Gehrlein in Ebenroth/Boujong/Joost HGB, 1. Aufl. 2001, § 15 Rn. 2; Baumbach/Hopi HGB, 30. Aufl. 2000, § 15 Rn. 1; Schlege\ber%er/Hildebrandt/Steckhan HGB, 5. Aufl. 1973 ff., § 15 Rn. 3b f. 20 21

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dürfen, werden sie der Schwierigkeit enthoben, die wahre auf gesellschaftsinternen Tatsachen beruhende Rechtslage zu ermitteln. 26 Viertens schützt die Vorschrift die Richtigkeit der Handelsregisterpublizität. 27 Der Mechanismus ist so einfach wie wirkungsvoll und im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig. Nach § 15 Abs. 1 und 3 HGB kann sich derjenige, in dessen Angelegenheit eine Tatsache einzutragen ist, im Falle einer Nicht- oder Falscheintragung28 bzw. -bekanntmachung grundsätzlich nicht auf die wahre Rechtslage berufen. Das kann für ihn höchst nachteilhaft sein. Scheidet beispielsweise der Gesellschafter einer KG aus der Gesellschaft aus, so haftet er materiell-rechtlich nicht mehr für die nach seinem Ausscheiden begründeten sog. Neuverbindlichkeiten der Gesellschaft. Solange sein Ausscheiden aber nicht eingetragen und bekannt gemacht ist, kann er sich gemäß § 15 Abs. 1 HGB grundsätzlich nicht gegenüber Dritten darauf berufen. Trotz seines Ausscheidens haftet er also weiterhin auch für Neuverbindlichkeiten der Gesellschaft. Um diesen Nachteil zu vermeiden, wird er daher darauf hinwirken, daß sein Ausscheiden alsbald ordnungsgemäß eingetragen und bekannt gemacht wird. Und wenn es eingetragen und bekannt gemacht wurde, belohnt ihn § 15 Abs. 2 S. 1 HGB damit, daß ein Dritter sich das Ausscheiden grundsätzlich29 auch entgegenhalten lassen muß. Damit dient die Vorschrift schließlich fünftens der Entlastung des Kaufmanns von einer aufwendigen und unzuverlässigen anderweitigen Information des Rechtsverkehrs. 30 § 15 HGB folgt mithin der Einsicht, daß die Richtigkeit der Handelsregisterpublizität von dritter Seite nur sehr schwer, von demjenigen, in dessen Angelegenheiten Eintragungen und Bekanntmachungen erfolgen, dagegen relativ leicht kontrolliert werden kann. 31 Zwar sieht § 14 HGB vor, daß die Anmeldungen zum Handelsregister auch mit Zwangsgeld durchgesetzt werden können. Die Vorschrift hat jedoch eher geringe Bedeutung, weil die Registergerichte zumeist gar nicht erfahren, daß eine Anmeldepflicht entstanden ist, und sie natürlich zu flächendeckenden Nachforschungen nicht in der Lage sind. § 15 HGB ist daher die zentrale Vorschrift, um die Funktion des Handelsregisters als zuverlässige und vertrauenswürdige Informationsquelle des Rechts- und Geschäftsverkehrs zu gewährleisten.32

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Baumbach/Hopt (Fn. 25) § 15 Rn. 1; Schle%e\h,ergcr/Hildebrandt/Steckhan

(Fn. 25) § 15

Rn. 2ff.; Wilhelm DB 2002, 1979, 1982. Zutreffend K. Schmidt IIP 2002, 413, 415f.; a.A. Wilhelm DB 2002, 1979, 1982. 2« S.o. Fn. 22. 2 9 Ausnahme § 15 Abs. 2 S. 2 HGB. 3 0 Das hebt MünchKommHGB/Liei (Fn. 8) § 15 Rn. 2 zutreffend hervor. 31 K. Schmidt ZW 2002, 413, 418. 3 2 Zutr. K. Schmidt ZIP 2002, 413, 415 f.

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3. § 162 Abs. 2 Hs. 2 HGB: Unanwendbarkeit von § 15 HGB Vor diesem Hintergrund ist nun der 2. Halbsatz des neuen § 162 Abs. 2 HGB zu würdigen. Um sich ihm zunächst als unbefangener Leser zu nähern, ist der ganze Absatz im Zusammenhang zu lesen. Dort heißt es: „Bei der Bekanntmachung der Eintragung der Gesellschaft sind keine Angaben zu den Kommanditisten zu machen; die Vorschriften des 5 15 sind insoweit nicht anzuwenden." Nun könnte man dies auf den ersten Blick so verstehen, daß § 15 HGB lediglich insoweit nicht anzuwenden ist, als es nach § 15 HGB auf eine Bekanntmachung ankommt. 33 Und dieses Verständnis liegt auch insofern nahe, als schon bisher nach § 162 Abs. 2 HGB a.F. die im Blick auf Kommanditisten bekannt zu machenden Tatsachen hinter den einzutragenden Tatsachen zurückgeblieben sind (s.o. III.l.). Gleichwohl wurde § 15 HGB zu Recht auf alle bezüglich Kommanditisten einzutragenden Tatsachen ohne Rücksichtdarauf angewandt, ob diese Tatsachen auch vollständig bekannt zu machen waren. 34 Anders gewendet wurde § 15 Abs. 1 HGB unausgesprochen wie folgt gelesen: „Solange eine in das Handelsregister einzutragende Tatsache nicht eingetragen und - soweit bekanntmachungspflichtig - bekanntgemacht ist, kann sie von demjenigen, in dessen Angelegenheiten sie einzutragen war, einem Dritten nicht entgegengesetzt werden ... ".35 Und diese Interpretation scheint auf den ersten Blick durch § 162 Abs. 2 Hs. 2 HGB lediglich konsequent fortgeschrieben zu werden: Mangels Bekanntmachungspflicht soll es bei der Anwendung des § 15 HGB künftig lediglich nicht mehr auf die Bekanntmachung ankommen. Tatsächlich liegt möglicherweise manchen im Jahr 2002 erschienenen Kommentierungen dieses Verständnis zugrunde. Das wäre jedenfalls eine Erklärung dafür, daß sie die Neufassung des § 162 HGB zwar der Kommentierung voranstellen, die Anwendung des § 15 HGB auf Eintragungen bezüglich Kommanditisten aber unverändert fortschreiben. 36 Der Gesetzesverfasser wollte es jedoch offenbar anders. In der Gesetzesbegründung ist nämlich überraschenderweise zu lesen: „Mangels Bekanntmachung können die Vorschriften des § 15 HGB auch auf die Eintragungen bezüglich der Kommanditisten keine Anwendung finden, was im zweiten 33 A.A. Grunewald ZGR 2003, 541, 544 f., mit dem - schwachen - Argument, daß der 2. Halbsatz bei diesem Verständnis eine „bloße Selbstverständlichkeit" enthalten würde. 34 S. nur die Nachweise in Fn. 36. Eine Reihe von Autoren erblickten allerdings in § 172 Abs. 1 HGB eine Ausnahme, s. Hüffer in Großkomm. HGB (Fn. 21) § 15 Rn. 16f.; Heymann/Horn HGB, 2. Aufl. 1996, § 172 Rn. 2; Enstbaler/Nickel GK-HGB, 6. Aufl. 1999, § 15 Rn. 9; Ensthaler/Fahse ebd. § 172 Rn. 2. 35 K. Schmidt ZIP 2002, 413, 414. 36 Strohn in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB (Fn. 25), § 173 Rn. 23f.; v. Gerkan in Röhricht/v. Westphalen HGB, 2. Aufl. 2001, § 173 Rn. 18f.; MünchKommHGB/Grunewald (Fn. 8) § 15 Rn. 13; Stuhlfeiner in HeidelbergerKomm. HGB, 6. Aufl. 2002, § 173 Rn. 4.

Handelsregisterpublizität von Kommanditisten und GbR-Gesellschaftern

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Halbsatz des neuen § 162 Abs. 2 klargestellt wird.ayl Und diese vorgebliche Klarstellung ist das Problem. Wäre nämlich § 15 HGB auch auf die Eintragungen bezüglich der Kommanditisten nicht mehr anwendbar, dann würde der von § 15 HGB bezweckte Vertrauens-, Institutions- und Verkehrs schütz sowie der von dieser Vorschrift bewirkte Sanktionsmechanismus zur Durchsetzung der Eintragungspflicht entfallen. Das aber bedeutete, daß die Funktion des Handelsregisters als zuverlässige und vertrauenswürdige Informationsquelle des Rechts- und Geschäftsverkehrs in Bezug auf Eintragungen über Kommanditisten gefährdet wäre. Und damit würde zum Regulierungsproblem, was als Deregulierung geplant war. Denn wie soll es den Geschäftspartnern einer KG möglich sein, die Kreditwürdigkeit der Gesellschaft zu prüfen, wenn sie sich nicht mehr auf die Richtigkeit des Inhalts des Handelsregisters verlassen können? 4. Folgen einer Unanwendbarkeit

von § 15 HGB

Im Blick auf den individuellen Vertrauensschutz wären allerdings keine schwerwiegenden Defizite zu befürchten. Anstelle des durch § 15 HGB gewährleisteten abstrakten Vertrauensschutzes träte ein konkreter Vertrauensschutz nach allgemeinen Regeln (Rechtsscheinhaftung38). Damit wären zugleich - wie Karsten Schmidt meint39 - die von § 15 HGB bewirkten überschießenden Haftungsfolgen beseitigt, was den Vorteil individueller Fallgerechtigkeit für sich hätte. Die Kehrseite ist freilich, daß ein Kommanditist wegen unterlassener oder unrichtiger Eintragung eine Haftung nur noch dann befürchten müßte, wenn ein Dritter das Handelsregister tatsächlich eingesehen und im Vertrauen auf dessen Richtigkeit Dispositionen getroffen hätte und dies im Streitfall auch beweisen könnte.40 Das dürfte in der Praxis eher die Ausnahme sein. Diese gegenüber § 15 HGB viel schwächere Haftungsdrohung alleine reicht daher kaum aus, um Kommanditisten dazu anzuhalten, Unrichtigkeiten im Handelsregister zu vermeiden. Vielmehr ist, wie der II. Senat des Bundesgerichtshofs zu Recht betont hat, „der Rückgriff auf allgemeine Rechtsscheingesichtspunkte angesichts der zur Begründung einer Rechtsscheinhaftung erforderlichen zusätzlichen Voraussetzungen nicht geeig-

BT-Drs. 14/4051, S. 19. Dazu etwa Carums Handelsrecht, 23. Aufl. 2000, § 6 Rn. 68ff.; MünchKommHGB/ Lieb (Fn. 8) § 15 Rn. 82 ff. jew. m.w.N. 39 ZIP 2002, 413, 416 ff. 40 Hinsichtlich der Kausalität zwischen Rechtsschein und Rechtsgeschäft greifen allerdings Beweiserleichterungen, s. BGHZ 17, 13, 19; 61, 59, 64; 64, 11, 18f.; Canaris (Fn. 38) § 6 Rn. 77; MünchKommHGB/Z.^ (Fn. 8) § 15 Rn. 82. 37 38

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net, dem Rechtsverkehr ein gleiches Maß an Rechtssicherheit zu gewähren wie die Anwendung des § 15 Abs. 1 HGB."4,1 Allerdings wird die Verläßlichkeit des Handelsregisters hinsichtlich von Eintragungen über Kommanditisten teilweise auch durch andere Rechtsnormen als § 15 HGB sichergestellt. Zu nennen ist zum einen § 176 HGB, wonach Kommanditisten, solange sie nicht als solche eingetragen sind, unbeschränkt haften. Ähnlich wie von § 15 HGB geht daher von § 176 HGB ein erheblicher Druck aus, auf die Eintragung hinzuwirken. Zu nennen ist zum anderen § 172 Abs. 1 HGB, wonach sich die Höhe der Hafteinlage im Verhältnis zu den Gläubigern der Gesellschaft grundsätzlich nach den Eintragungen bestimmt. Und gemäß § 174 HGB wird eine Herabsetzung der Hafteinlage gegenüber den Gesellschaftsgläubigern erst mit der Eintragung wirksam. 42 Eine Lücke ergäbe sich dagegen im Blick auf das Ausscheiden von Kommanditisten. Bei Unanwendbarkeit von § 15 Abs. 1 HGB würde ein ausgeschiedener - und dann oft haftungsschädlich abgefundener - Kommanditist für Neuverbindlichkeiten der Gesellschaft selbst dann nicht mehr haften, wenn sein Ausscheiden nicht eingetragen wird. Verlautbarte und wahre Rechtslage fielen auseinander, ohne daß sich die Gesellschaftsgläubiger ohne weiteres auf die verlautbarte Rechtslage berufen könnten. Ein gewisser Druck zur Eintragung des Ausscheidens ginge allerdings (außer von der allgemeinen Rechtsscheinhaftung) weiterhin von § 160 Abs. 1 Satz 2 HGB aus, wonach die Nachhaftungsbegrenzungsfrist erst mit der Eintragung zu laufen beginnt. Schwerwiegende Defizite ergäben sich aber vor allem in Fällen einer Rechtsnachfolge, also insbesondere bei der Veräußerung eines Kommanditanteils. In diesen Fällen bedarf es bekanntlich der Eintragung eines sog. Nachfolgevermerks, damit die Rechtsnachfolge im Handelsregister nicht als bloßer Ein- und Austritt mit der Folge einer Verdoppelung der Haftsumme erscheint. 43 Wäre § 15 Abs. 1 HGB nicht mehr anwendbar, entfiele das wirksamste Druckmittel zur Durchsetzung der Eintragung eines Nachfolgevermerks. Eine Haftung des Veräußerers bei Fehlen des Nachfolgevermerks ließe sich nur noch nach den Regeln der allgemeinen Rechtsscheinhaftung begründen. 44 Diese gewährleisten jedoch, wie gesagt, nicht das gleiche Maß « BGHZ 148, 291, 296. 42 Näher zu den Folgen einer Unanwendbarkeit von § 15 HGB K. Schmidt ZIP 2002, 413, 416ff.; Wilhelm DB 2002, 1979ff. 43 BGHZ 81, 82, 85, 87; dazu aus der Lit. v. Gerkan in Röhricht/v. Westphalen (Fn. 36) § 173 Rn. 9ff., 27; Strohn in Ebenroth/Boujong/Joost (Fn. 25) § 173 Rn. 10ff.; MünchKommHGB/tf. Schmidt (Fn. 8) § 173 Rn. 24ff., 36, 45; Baumbach/Hopi (Fn. 25) § 173 Rn. 13, 15; ausf. v. Ohlshausen in Gedenkschrift Knobbe-Keuk, 1997, 247, 262ff. 44 Ulrich Huber ZGR 1984, 146, 153 ff., hat allerdings die Ansicht vertreten, der Veräußerer eines Kommanditanteils hafte bei Fehlen eines Nachfolgevermerks unabhängig von § 15 Abs. 1 HGB nach § 172 Abs. 4 HGB (s. auch Baumbach/Hopt (Fn. 25) § 173 Rn. 13). Das überzeugt indessen deswegen nicht, weil der Nachfolgevermerk dadurch erstens gleichsam

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an Rechtssicherheit wie § 15 Abs. 1 HGB. 45 Der Verkehr könnte sich nicht mehr immer auf die verlautbarte Rechtslage verlassen, sondern müßte u.U. nachforschen, ob möglicherweise ein oder mehrere Kommanditisten Rechtsnachfolger von ausgeschiedenen Kommanditisten sind. Schließlich würden Manipulationsmöglichkeiten Tür und Tor geöffnet. Eine Unanwendbarkeit des § 15 HGB hätte mithin zur Folge, daß die Funktion des Handelsregisters als zuverlässige und vertrauenswürdige Informationsquelle des Rechts- und Geschäftsverkehrs partiell beeinträchtigt würde. Zwar mag es übertrieben erscheinen, deswegen eine Beschädigung des Handelsregisters als Institution oder der Kommanditgesellschaft als Rechtsform zu befürchten. Doch sollte man diese Defizite auch nicht klein schreiben. Es handelt sich nicht nur um Einzelfälle. Das wird deutlich, wenn man auch § 162 Abs. 1 S. 2 HGB n.F. in den Blick nimmt.

IV. Die Anfügung des § 162 Abs. 1 S. 2 H G B Die Vorschrift lautet: „Ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts Kommanditist, so sind auch deren Gesellschafter entsprechend § 106 Abs. 2 und spätere Änderungen in der Zusammensetzung der Gesellschafter zur Eintragung anzumelden. " Sie gießt eine Entscheidung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs in Gesetzeskraft, die dieser keine 5 Monate zuvor verkündet hatte.46 Dabei bestand keinerlei Grund zur Eile. Vielmehr hätte im Gegenteil guter Grund bestanden, die weitere Rechtsentwicklung abzuwarten.47 Zur Begründung der Vorschrift verweist der Rechtsausschuß, auf dessen Empfehlung § 162 Abs. 1 S. 2 HGB eingefügt wurde, auf die Senatsentscheidung und führt im Anschluß an sie aus, dass die Eintragung der Gesellschafzur Tatbestandsvoraussetzung der Rechtsnachfolge wird und der Veräußerer zweitens auch dann haftet, wenn dem Dritten die wahre Rechtslage bekannt ist und es daher gar keinen durch den Nachfolgevermerk zu zerstörenden Rechtsschein gibt. 45 BGHZ 148, 291, 296. 46 BGHZ 148, 291 mit Anm. u.a. von BaumannJZ 2002, 402ff.; ElsingBB 2001, 2338f.; v. Gerkan BGHReport 2001, 829; Heil DNotZ 2002, 60ff.; Roth EWiR § 705 BGB 2 / 0 2 ; Ulmer ZIP 2001, 1714ff.; Wagner NZG 2001, 1133ff.; Wertenbruch WuB I I J . § 705 BGB 2.01; Wilhelm LM BGB § 705 Nr. 83. 47 So spricht vieles dafür, daß eine GbR nicht nur Kommanditistin, sondern auch persönlich haftende Gesellschafterin sein kann (LG Berlin BB 2003,1351 ff.; v. Gerkan in Röhricht/v. Westphalen (Fn. 36), § 105 Rn. 64a; Schlegelberger/AT. Schmidt (Fn. 25), § 105 Rn. 68ff.; Soer&VHadding BGB, 11. Aufl. 1985, § 718 Rn. 6; Hadding. ZGR 201, 712, 722; Steinheck DStR 2001, 1162ff.; anders die früher h.M. BGHZ 46, 291, 296; Baumbach/Hopi (Fn. 25) § 105 Rn. 29; Boujong in Ebenroth/Boujong/Joost (Fn. 25) § 105 Rn. 102, jew. m.w.N.). Dann aber hätte nicht § 162 Abs. 1 HGB, sondern §§ 106, 107 HGB entsprechend ergänzt werden müssen. Freilich wäre auch dies nur eine unbefriedigende Teillösung der sich aus der höchstrichterlichen Anerkennung der Gruppenlehre ergebenden Probleme, s. Heil DNotZ 2002, 60 ff.

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ter einer als Kommanditistin beteiligten GbR deswegen zwingend erforderlich sei, weil andernfalls mangels Publizität der GbR die Aussagekraft des Handelsregisters sinnentleert wäre. 48 Wenn dem aber so ist, muß dann nicht auch die Durchsetzung der Eintragungspflicht abgesichert, die Richtigkeit der Eintragung gewährleistet und der Rechtsverkehr in seinem Vertrauen auf sie geschützt werden? Der II. Senat hatte diese Fragen mit einem klaren „Ja" beantwortet und die Eintragungspflicht ausdrücklich damit begründet, daß andernfalls § 15 HGB nicht anwendbar wäre. Nur die Anwendbarkeit von § 15 HGB gewährleiste die erforderliche Sicherheit im Rechtsverkehr. 49 Dabei ging das Gericht allerdings mit keinem Wort auf § 162 Abs. 2 HGB n.F. ein, obwohl die Vorschrift zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits seit einem halben Jahr in Kraft getreten war. Hat der Senat, was kaum vorstellbar erscheint, die Neufassung übersehen? Gewiß ist jedoch eines: Hält man mit der Gesetzesbegründung zu § 162 Abs. 2 HGB die Vorschrift des § 15 HGB auf Eintragungen bezüglich von Kommanditisten für nicht anwendbar, dann muß dies erst recht für Eintragungen bezüglich der Gesellschafter einer als Kommanditistin beteiligten GbR gelten. 50 Das aber hätte all diejenigen Folgen, die der II. Senat mit seiner Entscheidung gerade abzuwenden suchte. Und das wiederum wirft die Frage auf, was es zu bedeuten hat, daß der Gesetzgeber sich eine Entscheidung zu eigen macht, deren tragende Gründe im klaren Widerspruch zu der amtlichen Begründung eines von ihm kurz zuvor selbst erlassenen Gesetzes stehen. 51 Fest steht jedenfalls, daß bei Unanwendbarkeit des § 15 HGB der Zweck des § 162 Abs. 1 S. 2 HGB teilweise verfehlt und die Verläßlichkeit des Handelsregisters weiteren Schaden nehmen würde. Insbesondere wäre die Durchsetzung der Eintragung des Austritts von GbR-Gesellschaftern nicht hinreichend gewährleistet. 52

BT-Drs. 14/7348, S. 29. BGHZ 148, 291, 295f. (s. auch o. das Zitat bei Fn. 41). 50 Ebenso Baumann]Z 2002, 402, 404, 405. 51 Dazu sogleich VI., insbes. Fn. 71; ferner Grunewald ZGR 2003, 541, 545f. 52 Vgl. Grunewald ZGR 2003, 541, 548. Im Blick auf die Eintragung des Eintritts von GbR-Gesellschaftern wurde erwogen, § 176 Abs. 2 HGB analog anzuwenden. Dafür spricht, daß § 162 Abs. 1 S. 2 HGB die Gesellschafter einer als Kommanditistin beteiligten GbR registerrechtlich mit Kommanditisten gleichstellt und § 176 Abs. 2 HGB insbesondere im Blick auf die Durchsetzung der Eintragungspflicht partiell dieselben Gesetzeszwecke verfolgt wie § 15 Abs. 1 HGB. Dagegen spricht allerdings, daß allein die GbR und nicht ihre Gesellschafter Kommanditistin der KG ist; aus diesem Grund gegen eine analoge Anwendung von § 176 Abs. 2 HGB auf eintretende GbR-Gesellschafter Ulmer ZIP 2001, 1713, 1717; Wagner Ν ZG 2001, 1133, 1134; Grunewald wie vor; unentschieden Elsing BB 2001, 2338, 2339. 48

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V. Beschränkung der Unanwendbarkeit des § 15 H G B auf das Erfordernis einer Bekanntmachung Will man hier Abhilfe schaffen, bleiben zwei Möglichkeiten: Die erste Möglichkeit ist, mit Karsten Schmidt nach dem Gesetzgeber zu rufen und eine erneute Gesetzesänderung zu verlangen.53 Ein solcher Ruf gleicht jedoch - um abermals im Bild zu bleiben - einem Gebet nach Regen. Ob es erhört wird, ist höchst ungewiß. Die andere Möglichkeit ist, mit Jan Wilhelm § 162 Abs. 2 Halbsatz 2 HGB so zu verstehen, daß § 15 HGB lediglich „insoweit" nicht anzuwenden ist, als § 15 HGB eine Bekanntmachung voraussetzt.54 Der Wortlaut des Halbsatzes 2 läßt eine solche Deutung zu, ja legt sie - wie dargelegt wurde - sogar nahe. Damit würde nicht nur die bisherige Norminterpretation konsequent fortgeführt. Vor allem wären alle durch die Gesetzesbegründung hervorgerufenen Probleme mit einem Schlag gelöst. Die Richtigkeit und Verläßlichkeit des Handelsregisters bliebe gewährleistet.

VI. Zur Bedeutung der Materialien für die Auslegung von Gesetzen Indes steht diese Interpretation in klarem Widerspruch zu der Gesetzesbegründung. Aufgeworfen ist damit die methodische Frage der Bedeutung des sog. „Willens des Gesetzgebers" für die Auslegung einer Norm. Die Frage ist in der Methodenlehre umstritten. Gegenüber stehen sich eine „subjektive"55 und eine „objektive"56 Theorie. Nach der subjektiven Theorie ist primär die subjektive Absicht des historischen Gesetzgebers zu ermitteln und zu verwirklichen. Nach der objektiven Theorie kommt es hingegen auf den objektiven Sinn des Gesetzes an, wie er sich aus dem Wortlaut, der Systematik und dem - objektiv zu ermittelnden - Zweck des Gesetzes ergibt. In der Lehre sind heute vermittelnde Auffassungen auf der Grundlage der objektiven Theorie vorherrschend.57 Die Position der Rechtsprechung ist ZIP 2002, 413, 420. 5t DB 2002, 1979, 1984; i.E. ebenso Grunewald ZGR 2003, 541, 546. 55 Grundlegend v. Savigny System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, Berlin 1840, S. 213; Windscheid Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I, Ί. Aufl. 1891, S. 52. 56 Grundlegend Binding Handbuch des Strafrechts, Bd. I 1885, S. 450ff.; Wach Handbuch des deutschen Civilprozeßrechts, Bd. I 1885; KohlerGrünhutsZ 13 (1886), S. Iff. 57 Mit Unterschieden Kramer Juristische Methodenlehre, 1998, S. 101 ff.; Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 316ff.; Zippeüus Juristische Methodenlehre, 7. Aufl. 1999, S. 23f.; fry Juristische Methode und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 428ff.; kritisch Müller Juristische Methodik, Bd. I, 8. Aufl. 2002, Rn. 493; Rüthers Rechtstheorie, 1999, Rn. 806ff.; a.A. Pawlowski Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, Rn. 622; Wank Die Auslegung von Gesetzen, 2. Aufl. 2001, S. 40f. 53

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schwankend und nicht immer eindeutig.58 Zwar betont das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt wird. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. *59 Gleichwohl werden die Gesetzesmaterialien häufig zum Dreh- und Angelpunkt der Auslegung gemacht.60 Auch in der Literatur ist diese Vorgehens weise keineswegs selten. Der Beitrag von Karsten Schmidt61 verdeutlicht das exemplarisch. Schließlich wird in Rechtsprechung und Lehre teilweise auch danach unterschieden, ob es sich um Gesetze jüngeren oder um Gesetze älteren Datums handelt, bei denen sich der ursprüngliche Wille des Gesetzgebers möglicherweise überholt hat. 62 Spricht man von dem Willen des Gesetzgebers, ist zunächst einmal fraglich, auf wessen Willen es ankommen soll. Von der Gesetzgebungskompetenz aus betrachtet müßte man auf den Willen der Parlamentarier, d.h. auf die Protokolle der Parlamentssitzungen und der Aus schußsitzungen abstellen. Das Problem dabei ist, daß diese Protokolle zumeist recht unergiebig sind, was schon daran liegt, daß den Abgeordneten regelmäßig der erforderliche Sachverstand und die erforderliche Detailkenntnis fehlt. Uber den erforderlichen Sachverstand verfügen vielmehr diejenigen Ministerialbeamten, die mit der Ausarbeitung der Gesetzentwürfe betraut werden. Dabei entwerfen sie nicht nur den Gesetzestext selbst und die Regierungsbegründung dazu, sondern in der Praxis zuweilen auch die Stellungnahme des Bundesrates, die Gegenäußerung der Bundesregierung zu dieser Stellungnahme sowie den Bericht des mit dem Gesetz befaßten Ausschusses. Der Grund für diese bemerkenswerte Praxis ist stets derselbe: Die betreffenden Ministerialbeamten sind in der „Gesetzgebungsmaschinerie" oft die Einzigen, die über ausreichenden Sachverstand verfügen. Das, was uns an verwertbaren Gesetzesmaterialien entgegentritt, stammt daher nicht selten überwiegend aus ein oder zwei Federn. So kann man sagen, daß das neue Gesetz zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren und von Unternehmensübernahmen (WpÜG) samt der dazu gehö-

S. nur BGHZ 46, 74, 79ff. m.w.N. St. Rspr. seit BVerfGE 1, 299, 312; etwa 8, 274, 307; 10, 234, 244; 11, 126, 130f.; 105, 135, 157 60 Bspw. BVerfGE 2, 266, 275ff.; 103, 111, 125ff.; BGHZ 124, 147, 149f.; dazu auch 58

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Rüthers (Fn. 57) Rn. 799 f. m.w.N. 61 ZIP 2002, 413ff.; s. auch Grunewald ZGR 2003, 541, 546, die zur Begründung ihres Ergebnisses ebenfalls maßgeblich auf die Materialen abstellt. 62 Vgl. etwa BVerfGE 54, 277, 297; BGHZ 124, 147, 150; Wank (Fn. 57) S. 40ff.; Schmalz Methodenlehre für das juristische Studium, 4. Aufl. 1998, Rn. 264.

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renden Materialien zum größten Teil von Thorsten Pötzsch und Andreas Möller formuliert wurde. Dementsprechend spiegeln das Gesetz und seine Materialien in mancherlei Hinsicht deren Rechtsauffassung wider. Die Ministerialbeamten sind jedoch - ebenso wenig wie einzelne Parlamentarier - nicht „der Gesetzgeber". Im Blick hierauf wird zum Teil die Ansicht vertreten, daß sich die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft in der Regel denjenigen Sinn zu eigen machen würden, den die eigentlichen Gesetzesverfasser dem Gesetz gegeben hätten. 63 Das überzeugt jedoch aus zwei Gründen nicht. Erstens handelt es sich bei dieser Annahme um eine Fiktion; denn tatsächlich ist die ganz überwiegende Mehrzahl der Parlamentarier gar nicht in der Lage, sich über die Einzelheiten von Gesetzen und deren Begründung Gedanken zu machen. Vielmehr billigen sie in der Regel lediglich den Zweck des Gesetzes, dessen Ziele und Grundentscheidungen, nicht aber konkrete Vorstellungen der Gesetzesverfasser über die Bedeutung, Auslegung, Reichweite oder die Rechtsfolgen einzelner Normen und Normbestandteile. 64 Und das ist - zweitens - auch gar nicht die Aufgabe des Parlaments. Abgestimmt wird nur über den Gesetzestext, nicht über seine Begründung. Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht daher entschieden, daß solche konkreten, in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Vorstellungen zwar zuweilen erhellend sein mögen, die Gerichte aber keinesfalls binden. 65 Eine gegenteilige Auffassung wäre zudem mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung unvereinbar, da andernfalls Exekutivorgane vielfach die Auslegung von Gesetzen präjudizieren könnten. Schließlich sind im Rahmen einer historischen Auslegung bekanntlich auch die allgemeinen und besonderen Umstände, unter denen ein Gesetz zustande kommt, zu berücksichtigen. 66 Zu berücksichtigen ist daher auch, daß heutzutage eine zunehmend unüberschaubare Vielzahl von Gesetzen zumeist unter (oft unnötigem) Zeitdruck erarbeitet und verabschiedet werden. Die Folge ist eine nachlassende Qualität der Gesetzgebung. Unter solchen Umständen können Gesetzesmaterialien nur noch mit Vorsicht zu Rate gezogen werden. Methodisch folgt aus der nachlassenden Qualität der Gesetzgebung daher eine - weiter - abnehmende Bedeutung der Gesetzesmaterialien für die Interpretation von Gesetzen. § 162 Abs. 2 Hs. 2 HGB ist hierfür ein gutes Beispiel: Die Vorschrift wurde durch ein Artikelgesetz mit völlig anderem Regelungsschwerpunkt

63 Engisch Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl. 1983, S. 95; s. auch Pawlowski (Fn. 57) Rn. 618 ff. 64 Zutr. Urem (Fn. 57) S. 328ff.; a.A. Wank (Fn. 57) S. 35, 75. « BVerfGE 54, 277, 297f. in Anschluß an Larenz (Fn. 57) S. 328ff.; dem folgend Vogel Juristische Methodik, 1998, S. 129f. ^ Statt anderer Vogel (Fn. 65), S. 128; Wank (Fn. 57) S. 74.

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eingeführt. 6 7 Ausweislich des Wortlauts der Begründung 6 8 w a r dem Gesetzesverfasser dabei offenbar nicht klar, daß es trotz Wegfalls der Bekanntmachungspflicht ohne weiteres bei einer Anwendung des § 15 H G B bleiben kann. Z u d e m war ihm anscheinend nicht bewußt, welche Auswirkungen eine Unanwendbarkeit des § 15 H G B haben könnte. Eine solchermaßen fehlerhafte Gesetzesbegründung kann, ja m u ß man außer Acht lassen, zumal wenn andernfalls die generellen Zielsetzungen des Gesetzes verfehlt würden. Abseits von solchen generellen Zielvorstellungen des Gesetzgebers k o m m t den Gesetzesmaterialien daher nur sehr eingeschränkte Bedeutung zu. Sie geben lediglich einen ersten Anhaltspunkt für die Auslegung, sind aber keineswegs verbindlich. Maßgeblich sind vielmehr in erster Linie der Wortlaut und der Sinnzusammenhang des Gesetzes. F ü r die Auslegung von § 162 Abs. 2 H s . 2 H G B bedeutet das: D e r W o r t laut der Vorschrift ist nicht eindeutig. 6 9 Der Sinnzusammenhang ist Deregulierung im Blick auf die Bekanntmachung einerseits bei Aufrechterhaltung der Eintragungspflicht andererseits. Dieser Sinnzusammenhang erfordert aber nicht die Unanwendbarkeit des § 15 H G B , sondern im Gegenteil dessen Anwendbarkeit, weil andernfalls sowohl das Ziel der Deregulierung 7 0 als auch das Ziel der Eintragung drohen, verfehlt zu werden. 7 1

67 Nämlich im Gesetz zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung - dem sog. NaStraG - vom 18. 1. 2001, BGBl I, 123. 68 S.o. bei Fn. 37. " S.o. III.3.; Grunewald ZGR 2003, 541, 544f. 70 Nämlich im Blick auf die zunehmende Rechtsunsicherheit und schwierigere Handhabung und Durchsetzung der Handelsregisterpublizität. 71 Allerdings dürfte bei näherem Hinsehen auch die subjektive Theorie zu keinem anderen Ergebnis gelangen. Auf den ersten Blick wäre danach zwar § 15 HGB aufgrund der eindeutigen Gesetzesbegründung von § 162 Abs. 2 Hs. 2 HGB nicht anwendbar. In Betracht zu ziehen ist jedoch auch die - zeitlich spätere - Gesetzesbegründung zu § 162 Abs. 1 S. 2 HGB. Diese nimmt ausdrücklich auf die oben referierte Senatsentscheidung Bezug (BTDrs. 14/7348, S. 29), die ihrerseits die Eintragungspflicht der Gesellschafter einer als Kommanditistin beteiligten GbR gerade damit begründet, daß andernfalls § 15 HGB unanwendbar wäre (BGHZ 148, 291, 295 f.). Damit hat sich der Gesetzgeber eine Entscheidung zu eigen gemacht, deren tragende Gründe im klaren Widerspruch zu der amtlichen Begründung von § 162 Abs. 2 Hs. 2 HGB stehen. Diese müßte mithin auch nach der subjektiven Theorie unberücksichtigt bleiben, und zwar entweder, weil sie aufgrund der Begründung zu § 162 Abs. 1 S. 2 HGB überholt ist (vgl. Wank (Fn. 57) S. 39f., 41f., 113f.; Larenz (Fn. 57) S. 317 m.w.N.) oder weil sich der Gesetzgeber in Widerspruch zu sich selbst gesetzt hat. In den Vordergrund rücken damit objektive Auslegungskriterien, deren Berechtigung auch von der subjektiven Theorie ja keineswegs in Abrede gestellt werden (s. nur Wank (Fn. 57) S. 42). Danach aber bleibt es, wie aufgezeigt wurde, bei der Anwendbarkeit von § 15 HGB.

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VII. Resümee 1. § 162 Abs. 2 Hs. 2 HGB ist daher so zu verstehen, daß § 15 HGB lediglich „insoweit" nicht anzuwenden ist, als diese Vorschrift eine Bekanntmachung voraussetzt. Dagegen bleibt § 15 HGB insbesondere im Blick auf die nach §§ 162 Abs. 1 und 3 HGB erforderlichen Eintragungen anwendbar. Dementsprechend unverändert bleiben die Haftungsfolgen bei Nichteintragung. 2. Überdies sollte deutlich geworden sein, daß jedes neue Gesetz, selbst das allerkleinste, nicht nur Rechtsprobleme löst, sondern auch auslöst. So wird die Frage, wie der kurze zweite Halbsatz des neuen § 162 Abs. 2 HGB zu interpretieren ist, Rechtsprechung und Lehre gewiß noch einige Zeit beschäftigen. Bis dahin bleibt Rechtsunsicherheit. Und das ist allemal ein Schaden, von den Kosten, die jede Rechtsunsicherheit und ihre Beseitigung verursachen, ganz abgesehen. Der Gesetzgeber ist daher dringend zur Zurückhaltung aufzurufen. Das gleicht freilich einem Gebet um Sonnenschein.

Die Insolvenzhaftung gegenüber dem „Neugesellschafter" nach GmbHund Aktienrecht JENS

EKKENGA*

I. Vorbemerkung Das von Hadding in jüngerer Zeit neu kommentierte Vereinsrecht bestimmt in § 42 Abs. 2 S. 2 BGB, daß die Vorstandsmitglieder den Vereinsgläubigern persönlich haften, wenn sie bei Vorliegen eines Insolvenzgrundes nicht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragen. Eine Haftung gegenüber den Vereinsmitgliedern ist dort nicht vorgesehen.1 Im GmbH- und Aktienrecht ist die Frage der Aktivlegitimation für Insolvenzhaftungsfälle nicht ausdrücklich geregelt, doch sieht die weit überwiegende Meinung auch hier ausschließlich die Gläubiger begünstigt. Der nachfolgende Beitrag zieht diesen Standpunkt in Zweifel. Anlaß sind Umstellungen in der Rechtsprechung des BGH, die auf eine Erweiterung des deliktsrechtlichen Haftungsregimes abzielen und die die früher konsequent durchgehaltene Bevorzugung der Gläubigerinteressen gegenüber den Gesellschafterbelangen zunehmend fraglich erscheinen lassen.

II. Bisheriger Meinungsstand 1. (Keine) Haftung wegen Schutzgesetzverletzung nach § 823 Abs. 2 BGB GmbH-Geschäftsführer oder AG-Vorstände, die ihrer Verpflichtung zur rechtzeitigen Einleitung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Gesellschaft nicht nachkommen (§ 64 Abs. 1 GmbHG, § 92 Abs. 2 AktG), * Das Manuskript wurde am 15. 08. 2003 abgeschlossen. 1 Vgl. Soergel/Hadding BGB, 13. Aufl. 2000, § 42 Rn. 12. Unklar ist die Rechtslage für den nichtrechtsfähigen Verein aufgrund der normativen Aussage des § 54 S. 1 BGB einerseits (Gleichstellung mit GbR) und des § 11 Abs. 1 S. 2 InsO andererseits (insolvenzrechtliche Gleichstellung mit AG, s. Hadding aaO., § 54 Rn. 35). Nach altem Konkursrecht sollte § 42 Abs. 2 BGB entsprechend anwendbar sein, vgl. Staudinger/Weick BGB, 13. Aufl. 1995, § 42 Rn. 15.

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haften nicht nur der späteren Gemeinschuldnerin 2 , sondern u . U . auch einzelnen Kapitalgebern direkt oder im Einziehungsverfahren nach § 92 InsO für den entstandenen Insolvenzverschleppungsschaden. Das ist im Kern seit langem anerkannt. Anerkannt ist auch, daß die genannten Vorschriften Schutzgesetze im Interesse der Gesellschaftsgläubiger sind, so daß diese ihre Ersatzansprüche auf § 823 Abs. 2 BGB stützen können. 3 Und schließlich scheint spätestens seit dem Grundsatzurteil des BGH von 1994 im Prinzip geklärt, daß neben den Altgläubigern auch diejenigen Personen, die mit der Gesellschaft erst nach Eintritt der Insolvenzreife kontrahiert haben (Neugläubiger), in den persönlichen Schutzbereich der deliktischen Insolvenzhaftung einbezogen sind - sei es unter Beschränkung des auf ihre Neuforderung entfallenden (weiteren) Insolvenzverschleppungsschadens 4 , sei es unter Erstreckung des sachlichen Schutzbereichs auf den Kontrahierungsoder Vertrauensschaden, der durch das negative Haftungsinteresse der Neugläubiger determiniert ist. 5 Nicht ganz so einmütig ist die ablehnende Haltung des Schrifttums zur Frage der Aktivlegitimation sonstiger Dritter, insbesondere der Gesellschafter. Sie sollen nach h.M. haftungsrechtlich leer ausgehen, weil sich der Schutzbereich der deliktischen Außenhaftung nicht über den Kreis der Insolvenzgläubiger hinaus ausweiten lasse.6 Auf eine nähere Begründung wird durchweg verzichtet. Möglicherweise beruht die insolvenzrechtliche Schlechterstellung der Gesellschafter noch auf dem engen, von der Rechtsprechung des BGH überholten Norm Verständnis, wonach sich der Zweck der Insolvenzantragspflicht darin erschöpfe, den Gesellschaftsgläubigern möglichst viel Vermögensmasse zu erhalten und das zu ihrem Schutz eingerichtete System der Kapitalaufbringung und -erhaltung auf diese Weise zu 2 Str. ist die Art der Schadensabwicklung, wenn mangels Masse das Insolvenzverfahren nicht eröffnet wird, s. dazu Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 32. Zur O r ganhaftung gegenüber der Gesellschaft ders. aaO., Rn. 36. 3 S. statt vieler Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 37ff.; Hüffer AktG, 5. Aufl. 2002, § 92 Rn. 16 ff. 4 So noch BGHZ 29, 100, 105 ff. 5 So BGHZ 126, 181, 192ff. mit zahlr. Nachweisen zum Meinungsstand, bestätigt von BGH BB 2003, 2144. 6 S. etwa Michalski/Nerlich GmbHG, 1. Aufl. 2002, § 64 Rn. 56; Hachenburg/Ulmer GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 64 Rn. 2; Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck GmbHG, 17 Aufl. 2000, § 64 Rn. 82; Schmidt-Leithoffm Rowedder GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 64 Rn. 38; LutterlHommelho f f GmbHG, 16 Aufl. 2003, § 64 Rn. 36; Scholz/K.Schmidt, GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 57; Mertens in Kölner Komm. AktG, 2. Aufl. 1988, § 92 Rn. 50; Hüffer AktG, 5. Aufl. 2002, § 92 Rn. 16; Habersack in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 92 Rn. 71; a.A. Wiesner in Münch. H d b . GesR, Bd. IV AG, 2. Aufl. 1999, § 26 Rn. 30; Geßler/Hefermehl AktG, 1973, § 92 Rn. 24; Geilen in Kölner Komm. AktG, 1985, § 401 Rn. 4; weitere Nachweise älterer Gegenansichten bei K.Schmidt aaO. Rn. 37 Fn. 172. Wie die h.M. schon RGZ 73, 30, 34f. G m b H ; RGZ 63, 324f. AG; anders RGZ 81, 269, 271 f. f. Genossenschaft.

Die Insolvenzhaftung nach G m b H - u n d Aktienrecht

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ergänzen.7 Danach erscheint die Einbeziehung der Gesellschafter in den persönlichen Schutzbereich in der Tat eher fernliegend, wenn auch nicht vollkommen abwegig (s. sogleich unter 2.). Der vom BGH in der Entscheidung von 1994 neu beschriebene Zweck der Insolvenzantragspflicht reicht jedoch um einiges weiter. Er umfaßt neben der Masseerhaltung auch die Vermeidung von Fehlinvestitionen, indem der Geschäftsleitung aufgegeben wird, bei Vorliegen eines Insolvenzgrundes „für eine rechtzeitige Beseitigung der Gesellschaft zu sorgen". 8 Warum Neugesellschafter hiervon nicht betroffen sein sollen, ist erklärungsbedürftig, denn ihr Kapital ist nicht weniger fehlinvestiert als das der Neugläubiger. Sie erscheinen sogar noch schutzbedürftiger, weil ihnen nicht einmal die Chance auf einen quotalen Liquidationsanteil verbleibt. 2. Das BuM-Urteil zur Verschleppungshaftung gegenüber dem Gesellschafter nach §826 BGB In die gleiche Richtung weist das offenbar etwas in Vergessenheit geratene BuM-Urteil des BGH aus dem Jahre 1985, das sich mit Insolvenzschäden von Aktionären befaßt. 9 Dort ging es zwar nicht um eine Schutzgesetzverletzung im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, sondern um die Haftung wegen vorsätzlicher sittenwidriger Konkursverschleppung nach § 826 BGB. Beklagt war außerdem kein Vorstandsmitglied als geschäftsführendes Organ der AG, sondern deren Paketaktionärin und kreditgebende Bank, die durch scheinbar sanierungswirksame Maßnahmen an der Konkursverschleppung mitgewirkt hatte. Doch enthält die Entscheidung einige Leitgedanken zum Umfang der deliktischen Vorsatzhaftung gegenüber dem Gesellschafter, die in der Diskussion um den Schutzzweck anderer deliktischer Haftungstatbestände nicht außer Betracht bleiben dürfen.10 Der Zweite Senat hebt einleitend hervor, daß zwischen der Konkursverschleppung und dem Aktienerwerb nach Eintritt der Konkursreife ein adäquater ursächlicher Zusammenhang bestehen kann, der u.U. eine Haftung gegenüber dem Neugesellschafter zur Folge hat.11 Er unterscheidet zwischen (Neu-)Aktionären, die neu ausgegebene Aktien erworben haben („Einleger"), und anderen (Neu-)Aktionären, die ihre Anteile während der Krise am Zirkulations-

7

So noch BGHZ 29, 100, 105. 8 BGHZ 126, 181, 197 im Anschluß an K. Schmidt ZIP 1988, 1497; ders. NJW 1993, 2934. ' BGHZ 96, 231. Ebenso Hüffer AktG, 5. Aufl. 2002, § 92 Rn. 16. 11 BGHZ 96, 231, 236. Der Senat bedient sich der aktienrechtlichen Terminologie, wonach „Neuaktionäre" die Zeichner neuer Aktien und „Altaktionäre" die Erwerber umlaufender Aktien sind. Das darf nicht zu MißVerständnissen führen. „Neugesellschafter" oder ,,-aktionäre" sind nach insolvenzrechtlicher Lesart diejenigen, die ihre Anteile nach Beginn der Insolvenantragspflicht erworben haben.

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markt erworben haben („Anleger"). Letztere seien vom Schutzzweck des § 826 BGB nicht erfaßt, denn ihr Eintritt in die Gesellschaft sei nicht das Ergebnis einer dolosen Anwerbung frischen Kapitals und stehe daher mit der Insolvenzverschleppung nicht in einem inneren Zusammenhang.12 Dagegen könne die Plazierung junger Aktien als sittenwidrige Schädigung der zeichnenden Anleger zu qualifizieren sein, wenn die Kapitalerhöhung gerade dazu diente, die Unkenntnis der Kapitalgeber von der Konkursreife auszunutzen und die Insolvenz hinauszuzögern.13 Mit den Altgesellschaftern, die ihre Aktien schon vor Entstehung der Insolvenzantragspflicht erworben haben, befaßt sich das BuM-Urteil nicht ausdrücklich. Sie sind nicht deliktisch geschützt, denn ihr Anteil am Gesellschaftsvermögen ist bei Eintritt der Insolvenzreife normalerweise vollständig aufgezehrt, so daß es am Kausalzusammenhang zwischen Insolvenzverschleppung und Vermögensschaden fehlt. Zwar mag es ausnahmsweise dann anders liegen, wenn die Gesellschaft wegen Zahlungsunfähigkeit insolvenzreif ist, gleichwohl aber noch über ein positives (nicht ausreichend liquides) Reinvermögen verfügt. Eine auf Ersatz des reinen Verschleppungsschadens gerichtete Sachwalterhaftung, die neben die Haftung auf Ausgleich des den Altgläubigern entstandenen Quotenschadens treten könnte, ist deshalb nicht von vornherein gänzlich auszuschließen. Aus den im BuM-Urteil formulierten haftungsbegründenden Leitsätzen läßt sich dafür aber nichts ableiten. 3. (Keine) Haftung wegen Verschuldens bei Vertragsschluß Die Insolvenzhaftung läßt sich nach im Kern unbestrittener Meinung auf den Tatbestand der culpa in contrahendo (c.i.c., § 280 Abs. 1 i.V.m. 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB) stützen, wenn der für die insolvenzreife GmbH oder AG Handelnde den neu hinzugewonnenen Investor über den Zustand der Insolvenzreife bzw. - nach einer weitergehenden Auffassung über die sich abzeichnende Krise pflichtwidrig nicht aufgeklärt oder ihn gar aktiv darüber hinweggetäuscht hat.14 Soweit ersichtlich, findet diese Option allerdings nur für die (Neu-)Gläubiger der Gesellschaft Beachtung; eine mögliche Anspruchsberechtigung der (Neu-)Gesellschafter spielt in der Diskussion keine Rolle. Das mag nicht zuletzt damit zu tun haben, daß die Insolvenzhaftung aus c.i.c. in erster Linie gegen die Gesellschaft und nur ausnahmsweise gegen den Handelnden in Person gerichtet ist. In ihrer Grundvariante hat sie daher für den geschädigten Insolvenzgläubiger keinen

12 BGHZ 96, 231, 237 » BGHZ 96, 231, 238 „BuM". 14 Statt anderer Scholz/K.Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 64; Habersack in Großkomm. AktG (Fn. 6), § 92 Rn. 88, jew. m.w.N.

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praktischen Nutzen. 15 Der Neugesellschafter erhielte obendrein die Chance, einen Teil seiner geleisteten Einlage zum Zwecke der Restitution seines Kontrahierungsschadens zurückfordern zu können. Das wäre mit den Vorschriften über die Kapitalerhaltung (§ 30 Abs. 1 GmbHG, § 57 AktG) womöglich nicht vereinbar (vgl. unten IV, 2). Die praktische Bedeutung der c.i.e.-Insolvenzhaftung ist weiter dadurch gemindert, daß der BGH in seinem Grundsatzurteil aus 1994 die Haftungsausweitung gegen Dritte, namentlich diejenige gegen den handelnden GmbH-Geschäftsführer auf ein nurmehr bescheidenes Restmaß zurückgeführt hat. Bekanntlich hatte die Rechtsprechung gelegentlich eine solche personelle Haftungserstreckung in Erwägung gezogen, wenn nach den Umständen anzunehmen war, daß der Geschäftsführer - etwa aufgrund seiner alleinigen oder mehrheitlichen Beteiligung an der GmbH oder weil er GmbH-Gläubigern Sicherheiten zur Verfügung gestellt hatte - der Gewinnung neuer Investoren zur Fortführung der Gesellschaft ein wirtschaftliches Eigeninteresse entgegenbrachte. 16 Dieser im Schrifttum vielfach kritisierten Judikatur 17 ist der Gesetzgeber bei der Abfassung des neuen § 311 Abs. 3 BGB nicht gefolgt; schon zuvor hatte der Zweite Senat sie im Einvernehmen mit dem Achten und Neunten Senat aufgegeben. 18 Dem Grunde nach erhalten blieb hingegen der nunmehr in § 311 Abs. 3 S. 2 BGB verankerte Erstreckungsgrund, die Inanspruchnahme eines besonderen persönlichen Vertrauens im Vorfeld des Vertragsschlusses. Die Ausführungen des Senats lassen aber keinen Zweifel daran, daß er diesen Haftungstatbestand jedenfalls in Insolvenzfällen nur noch ausnahmsweise anzuwenden gedenkt (s.u. III, 2, b). Beide Restriktionen begründet der Senat letztlich mit dem Hinweis, daß die Insolvenzgläubiger ihren Kontrahierungsschaden schon kraft Deliktsrechts, nämlich unter Berufung auf § 823 Abs. 2 BGB liquidieren könnten (s.o. unter 1) und eines weitergehenden Schutzes nach den Grundsätzen der c.i.e.-Haftung nicht bedürften. 19 Dahinter steht eine in derselben Entscheidung enthaltene Änderung der Rechtsprechung, die im Schrifttum auf vereinzelte Kritik gestoßen ist und die darauf abzielt, neben dem persönlichen (subjektiven) auch den sachlichen (objektiven) Schutzbereich der deliktischen Insolvenzhaftung zu erweitern. Der Senat befürwortet nämlich eine Angleichung der Haftungsfolgen aus § 823 Abs. 2 BGB, § 64 Abs. 1 GmbHG an die einer c.i.e.-Vertreterhaftung, indem er den Neugläubigern vollen Ersatz des Kontrahierungs- oder Vertrauensschadens, letztlich also

15 16 17 18 19

Habersack in Großkomm. AktG (Fn. 6), § 92 Rn. 88. BGHZ 126, 181, 184 ff. mit umfänglichen Nachweisen. Nachweise bei Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 66. BGHZ 126, 181, 186ff.; bestätigt von BGH NJW 1995, 398, 399. BGHZ 126, 181, 189 oben und S. 190 oben.

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das Recht auf Restitution der in die Gesellschaft investierten Mittel zuspricht.20 Die vordem h.M. hatte sich demgegenüber dafür ausgesprochen, den Neugläubigern insoweit allenfalls einen Anspruch auf Ersatz des durch die Insolvenzverschleppung ausgelösten Quotenschadens (Verschleppungsschadens) zuzubilligen.21 4.

Folgebetrachtungen

Ob die Kritik an dieser Neuorientierung zutrifft, ist hier nicht zu erörtern. Hervorgehoben sei aber die Konsequenz, die sich ergibt, wenn man den BGH beim Wort nimmt. Sie besteht darin, daß die Neugläubiger zu einer privilegierten Gruppe von Haftungssubjekten avancieren, deren Anerkennung die Grenzen zwischen Gläubiger- und Gesellschafterschutz weiter verschwimmen läßt, als dies unter dem Regime der früheren BGH-Judikatur ohnehin schon der Fall war. Hierzu zwei Folgebetrachtungen: (1) Die Neugläubiger sind in den persönlichen Schutzbereich einbezogen, obwohl sie bei Eintritt der Insolvenzreife noch nicht Gesellschaftsgläubiger waren. Es fällt deshalb schwer, Neugesellschaftern diese Begünstigung aus dem nämlichen Grund (fehlende Gläubigereigenschaft bei Insolvenzreife) zu verweigern. (2) Der Kontrahierungs- oder Vertrauensschaden der Neugläubiger ist in den sachlichen Schutzbereich einbezogen, obwohl damit eine Andersbehandlung - und zwar in der Regel eine Privilegierung22 - gegenüber den Altgläubigern verbunden ist, die ihrerseits nur in Höhe ihres Verschleppungsschadens (Quotenschadens) bedient werden. Deshalb drängt sich nicht ohne weiteres auf, Neugesellschaftern den gleichen Schutz deshalb zu versagen, weil sie bei Eintritt der Insolvenzreife nicht mehr über ein Vermögen verfügen, das durch Insolvenzverschleppung geschädigt werden könnte (dazu oben unter 2.). Die Klärung hängt davon ab, ob es Gründe einer notwendigen Gleichbehandlung gibt, die entweder nur das Verhältnis zwischen Neu- und Altgläubigern oder eher dasjenige zwischen Neugläubigern und Neugesellschaftern betreffen. Dem ist - getrennt nach Art und Unrechtserfolg der jeweils in Betracht zu ziehenden Pflichtverletzung - näher nachzugehen. Einwände

20 Der Neugläubiger ist so zu stellen, wie er stünde, wenn er mit der Gesellschaft nicht kontrahiert hätte. Zum Ganzen BGHZ 126,181,190ff.; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 33, 39f. m.w.N.; abl. Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 64 Rn. 84. 21 Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 38 m.w.N. 22 Dazu Ekkenga WM 1996, Sonderbeilage Nr. 3, S. 6.

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sonstiger Art, die gegen einen insolvenzhaftungsrechtlichen Schutz der Neugesellschafter sprechen könnten, werden erst im Anschluß unter IV. behandelt.

III. Konkretisierung des Schutzbereichs anhand einzelner Haftungsgründe 1. Verletzung der Insolvenzantragspflicht (deliktisch-insolvenzrechtliche Verschleppungshaftung). a. Verschleppungsbedingte Masseschädigung Zwischen Alt- und Neugläubigern gibt es, wenn man den Schutzzweck der Masseerhaltung in den Mittelpunkt rückt, eine haftungsrechtlich relevante Gemeinsamkeit insofern, als beide einen kausal auf die Verletzung der Insolvenzantragspflicht zurückzuführenden Verschleppungs- oder Quotenschaden erleiden. Man kann darüber streiten, wie stark diese Gemeinsamkeit ausgeprägt ist: Der BGH hatte die auf die Neugläubiger entfallende Verlustquote ursprünglich unter Zugrundelegung des Verschleppungszeitraumes seit Erwerb der Neuforderung errechnet und den Altgläubigern die in der Regel höhere - Wertdifferenz zwischen der bei (erstmaligem) Eintritt der Insolvenzreife noch erzielbaren mit der später tatsächlich erreichten (niedrigeren) Befriedigungsquote zugebilligt.23 Im Schrifttum wird aber auch vorgeschlagen, diesen Unterschied aus Praktikabilitätsgründen zu vernachlässigen und den Quotenschaden von Alt- und Neugläubigern einheitlich zu berechnen.24 Nach beiden Varianten laufen die Haftungsfolgen auf einen insolvenzrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung von Alt- und Neugläubigern hinaus, wobei zugunsten Letztgenannter impliziert ist, daß es sich bei der Verletzung der Insolvenzantragspflicht um ein Dauerdelikt handelt, das sich über die Begründung der Gläubigerstellung hinaus fortsetzt.25 Zwischen Neugläubigern und Neugesellschaftern gibt es derartige Gemeinsamkeiten nicht. Zwar würden, wenn man die Insolvenzhaftung des geschäftsführenden Organs gegenüber den Neugesellschaftern bejahte, diese womöglich ihrerseits zu Neugläubigern der Gesellschaft.26 Um der 23 BGHZ 29, 100, 104 ff., 107. In Ausnahmefällen kann der Quotenschaden der Neugläubiger auch höher sein, s. Hachenburg/Ulmer GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 64 Rn. 54 mit Beispiel. 24 Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 33; Hachenburg/Ulmer GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 64 Rn. 54; dagegen BGHZ 138, 211, 215; kritisch auch Flume ZIP 1994, 337, 339. 25 BGHZ 29, 100, 104. 26 Nämlich dann, wenn das Fehlverhalten des geschäftsführenden Organs der Gesellschaft haftungsrechtlich zuzurechnen ist; dazu unter IV, 2.

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Gefahr einer petitio principii aus dem Wege zu gehen, muß aber die Gleichbehandlung auf diejenigen Kapitalgeber beschränkt bleiben, die ihre Gläubigerposition unabhängig von der Verwirklichung des Haftungstatbestandes, um dessen Nachweis es geht, erworben haben. Durch die Ausweitung des sachlichen Schutzbereichs hat allerdings der BGH der (Teil-)Parallelität der haftungsrechtlich relevanten Alt- und Neugläubigerinteressen ein Ende gesetzt - letztlich mit dem Ergebnis, daß die Neugläubiger am Ausgleich des der Gläubigergesamtheit entstandenen Quotenschadens überhaupt nicht mehr teilnehmen, auch nicht mit demjenigen Teil ihrer Neuforderung, um dessen Entwertung im Zuge der fortgesetzten Insolvenzverschleppung es geht. Die Neuforderung nimmt an der kollektiven Abwicklung von vornherein nicht teil, weil ihr - im Gegensatz zu den Altforderungen - kein „positives" Erfüllungsinteresse zugrunde liegt. Sie ist somit als solche nicht „schützenswert", wird dadurch aber nicht zum haftungsrechtlichen Nullum, sondern begründet ein negatives Herstellungsinteresse des Neugläubigers, der deshalb einen Individualanspruch auf Kompensation in Höhe der in die Masse erbrachten Leistung hat. 27 Diese nach Ausweitung des sachlichen Schutzbereichs in BGHZ 126, 181 nur folgerichtige Rechtsprechung ist im Schrifttum zu Unrecht kritisiert worden. 28 Sie hat zur Konsequenz, daß für Neugläubiger nunmehr Gleiches gilt wie das soeben zum Neugesellschafter Gesagte: Seine Gleichbehandlung mit den übrigen Insolvenzgläubigern durch Einbeziehung in den kollektiven Schadensausgleich liefe auf eine petitio principii hinaus, weil die Neuforderung keine den Altforderungen vergleichbare Belastung der Insolvenzmasse darstellt. Auch das hat der BGH in wünschenswerter Deutlichkeit hervorgehoben. 29 Schließlich ist die Fiktion einer solchen Belastung, die man mit einer extensiven Interpretation der in § 64 Abs. 2 GmbHG, § 92 Abs. 3 AktG enthaltenen Verbotstatbestände begründen mag 30 , nicht geeignet, die divergierenden Haftungsinteressen der Alt- und Neugläubiger einander anzunähern. Sie hätte im Gegenteil eine Ungleichbehandlung zur Folge, weil die Altgläubiger durch die dann zulässige zentrale Einziehung der Neuforderung zu Lasten der Neugläubiger begünstigt würden.31

Eingehend BGHZ 138, 211, 215 ff. Vor allem von Scholz/K.Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 42 („auf das Entschiedenste abzulehnen"). 2 9 BGHZ 138, 211, 215; dagegen wiederum zu Unrecht Scholz/K.Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 42. 30 Dafür etwa Scholz/K.Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 23; Lutter/Hommelboff GmbHG, 16. Aufl. 2003, § 64 Rn. 31; Roth/Altmeppen GmbHG, 4. Aufl. 2003, § 64 Rn. 25; dagegen Hachenburg/Ulmer GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 64 Rn. 40; Hüffer AktG, 5. Aufl. 2002, § 92 Rn. 14 a; Habersack in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 92 Rn. 94. 27 28

31

BGHZ 138, 211, 217 m.w.N.

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b. Verschleppungsbedingte Fehlinvestitionen Da sich die Zuerkennung eines Individualanspruchs der Neugläubiger auf Ersatz des negativen Interesses wiederum nur mit dem Zweck der Vermeidung insolvenzbedingter Fehlinvestitionen begründen läßt, ist die Ungleichbehandlung von Alt- und Neugläubigern für sich noch kein ausreichender Anlaß, auch den Neugesellschaftern diese Aktivlegitimation zuzubilligen. Vielmehr müßten hierfür ausreichende Parallelen zwischen den Haftungsinteressen der Neugläubiger und Neugesellschafter positiv festzustellen sein. Die Frage lautet also: Wenn die Insolvenzantragspflicht (auch) potentielle Investoren vor einem Engagement an falscher Stelle bewahren soll marktwirtschaftlich würde man das als Vermeidung von „Fehlallokationen" bezeichnen gibt es dann einen Grund, diese Vermeidungsstrategie auf Fremdkapital zu beschränken? Die Antwort fällt eindeutig negativ aus, wenn man den Schutzzweck dahin konkretisiert, daß die Neugläubiger - um mit den Worten des Zweiten Senats zu sprechen - „sozusagen im Vertrauen auf das Vorhandensein einer im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorhandenen Konkursmasse geschützt werden" sollen.32 Es gibt keinen Rechtssatz des Inhalts, daß der Vertrauensschutz im Recht der Kapitalgesellschaften unter Ausklammerung der Eigenkapitalgeber stattfindet. Daß die Insolvenzantragspflicht wohl zu Recht als Ergänzungsinstitut zu den Vorschriften der Kapitalaufbringung und -erhaltung begriffen wird, 33 ändert an dieser Einschätzung nichts. Denn es hieße ein längst überholtes Normverständnis wiederbeleben, wollte man bestreiten, daß die Kapitalschutzregeln auch zum Schutze der Gesellschafter zu dienen bestimmt sind, jedenfalls soweit sie den eintretenden (Neu-)Gesellschafter mit den für seine Investitionsentscheidung erheblichen Informationen versorgen, soweit es also um Vorgänge der Kapitalausstattung (statt um Vorgänge der Mittel Verwendung im Unternehmen) geht.34 Nach Ansicht von Karsten Schmidthesttbt allerdings der Normzweck tatsächlich in der Abwehr gläubigerschädigender Mittelverwendungen, wenn er - bezogen auf die Insolvenzantragspflicht nach § 64 Abs. 1 GmbHG formuliert: „§ 64 GmbHG schützt überhaupt kein konkretes Vertrauen, sondern schützt die bekannten und unbekannten, die gegenwärtigen und künftigen Gläubiger der GmbH gegen die schuldhafte Schmälerung der Haftungsmasse." 35 Dem liegt das erklärte Ziel zugrunde, die Schutzzweck32 BGH NJW 1993, 2931, 2932 (Hervorhebung vom Verf.), unter Bezugnahme auf Hachenburg/Ulmer GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 64 Rn. 2, der dies dort allerdings keinesfalls behauptet. 33 So unwidersprochen BGHZ 126, 181, 197 unter Bezugnahme auf K. Schmidt NJW 1993, 2934. 34 Ausführlich Ekkenga Anlegerschutz, Rechnungslegung und Kapitalmarkt, 1998, S. 71 ff., 108. 33 K. Schmidt NJW 1993, 2934.

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komponenten der Masseerhaltung einerseits und der Abwendung von Fehlallokationen andererseits einander anzugleichen bzw. auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen.36 Ob damit viel gewonnen ist, sei hier dahingestellt. Jedenfalls ist der BGH, wie Karsten Schmidt selbst zugesteht,37 diesem einheitlichen Vorstellungsbild gerade nicht gefolgt. Vielmehr erscheint die Einbeziehung der Neugläubiger in den Schutzzweck der Masseerhaltung - wie zuvor dargelegt - ausgeschlossen, nachdem sich der Zweite Senat entschlossen hat, ihre Individualansprüche konsequent nach ihrem negativen Haftungsinteresse zu bemessen.38 c. Einbeziehung von Zweiterwerbern? Mit der Einbeziehung des Neugesellschafters in den persönlichen Schutzbereich ist noch nicht entschieden, ob neben dem Übernehmer/Zeichner neuer Anteile auch der Anteilskäufer schutzbetroffen ist. Die Frage ist für den Sekundärhandel in fungiblen Fremdkapitaltiteln (Anleihen, verzinsliches Genußkapital) kaum diskutiert; offenbar stellt man sich unter einem „Neugläubiger" stets nur den unfreiwilligen Sanierer vor, dessen Kredit der Gesellschaft für eine gewisse Zeit über die Krise hinweghilft. Für den Aktienkäufer gibt das BuM-Urteil immerhin Aufschluß über die Grundhaltung des Zweiten Senats. Danach bleibt der haftungsrechtliche Verschleppungsschutz auf die Zeichner bzw. Ersterwerber junger Aktien beschränkt, wobei mit „Ersterwerb" offenbar auch der Kauf von einer Bank gemeint ist, die die Anteile als Mitglied eines Ubernahmekonsortiums gezeichnet hatte.39 Wie der Senat in derselben Entscheidung ausführt, soll diese Eingrenzung gerade auch für den Schutzbereich der Vorschriften über die Insolvenzantragspflicht gelten.40 Dahinter steht allerdings noch die - durch die spätere Entwicklung überholte - Vorstellung, der Unrechtsgehalt der Insolvenzverschleppung zeige sich gerade in der Zuführung frischen Kapitals, die die zeitweilige Fortsetzung des Geschäftsbetriebs erst ermögliche. Im Verhältnis zum Zweiterwerber, dessen Mittel dem Aktienverkäufer zufließen, fehle es an einer solchen haftungsauslösenden Zweck-Mittel-Relation.41 Nachdem der Zweite Senat die Haftungsfolgen zugunsten der Neugläubiger auf den Schutz des negativen Interesses umgestellt hat, kann es jedoch auf den Aspekt der Kapitalzuführung nicht mehr entscheidend ankommen. Der Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, 38 Deutliche Ablehnung der These von der 126, 181, 195 ff. 39 BGHZ 96, 231, 238. Im BuM-Fall war die 40 BGHZ 96, 231, 237 41 BGHZ 96, 231, 237f. 36 37

§ 64 Rn. 10. § 64 Rn. 11. „einheitlichen Schutzrichtung" bei BGHZ beklagte Bank Konsortialführerin.

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Kontrahierungs- oder Vertrauensschaden der Neugläubiger manifestiert sich vielmehr in der Fehlinvestition als solchen, ob die Erwerbsmittel nun in die Gesellschaftskasse fließen oder nicht. Entsprechendes muß dann auch für den Aktienkäufer gelten. Dieser Befund deckt sich mit den allgemeinen Haftungsgrundsätzen des Kapitalmarktrechts. Die dort etablierte Vertrauenshaftung nach den Grundsätzen der c.i.c. hat sich - insoweit dem Leitbild der börsengesetzlichen Prospekthaftung folgend - bekanntlich längst vom Vorstellungsbild einer Haftung für Fehlverhalten im Rahmen sozialer bzw. geschäftlicher Individualkontakte gelöst. Ihre verhaltenssteuernde Funktion besteht darin, den Anbietern von Kapitalanlagen die Verantwortung für Fehlentwicklungen im anonymen Massengeschäft aufzuerlegen, und dies geschieht durch Übernahme der Haftung auf das negative Interesse42 auch gegenüber dem Zweiterwerber.43 Dem BGH ist im Ergebnis dennoch zuzustimmen, weil es im Falle des Zweiterwerbs nach Eintritt der Insolvenzreife keinen Grund gibt, die erworbene Kapitalposition a priori von der kollektiven Abwicklung der Insolvenzmasse auszunehmen. Hierdurch unterscheidet sich die Situation des Anleihekäufers von der eines kreditgebenden Neugläubigers, jedenfalls wenn man die neuere Rechtsprechung des Zweiten Senats zugrundelegt. Danach beruht der Individualanspruch des Neugläubigers auf Ersatz seines Vertrauensschadens auf dem Fehlen jeglicher Verbindung seiner Person zur Gläubigergemeinschaft (s.o. unter a.) oder, anders formuliert, auf dem Umstand, daß die vom Neugläubiger erworbene Forderung eine Neuforderung ist. Der Zweiterwerber ist hingegen Inhaber einer Altforderung und kann im Verhältnis zur Gesellschaft sein Erfüllungsinteresse verfolgen. Er verhielte sich widersprüchlich, wenn er das geschäftsführende Organ außerdem auf Ersatz seines negativen Interesses in Anspruch nähme. 44 Ihm bleibt die Möglichkeit, seinen Verkäufer auf Gewährleistung in Anspruch zu nehmen. Nichts anderes kann für den Aktienkäufer gelten, wenn man auf sein wenn auch kaum jemals realisierbares - Recht auf Teilhabe am Resterlös abstellt.

42 BGHZ 123,106, 111 f. „Hornblower-Fischer", dort auch zur Inanspruchnahme des geschäftsführenden Organs. 43 Allgemein Ekkenga Anlegerschutz, Rechnungslegung und Kapitalmarkt, 1998, S. 45f.; speziell zur gesetzlichen Prospekthaftung Henze in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2000, § 57 Rn. 18. 44 Anders freilich Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 42f., der - von seinem Standpunkt konsequent - davon ausgeht, daß der Neugläubiger sowohl den Quotenschaden als auch seinen individuell erlittenen Kontrahierungsschaden liquidieren kann.

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2. Verletzung von Hinweispflichten (vorvertragliche oder kapitalmarktrechtliche Verschleppungshafimg) a. Parallelen und Unterschiede zur deliktisch-insolvenzrechtlichen Verschleppungshaftung Die c.i.e.-gestützte Insolvenzhaftung gegenüber den Gesellschaftern kennt insgesamt drei Anwendungsvarianten, die der deliktischen Haftung teils angenähert sind, teils darüber hinausgehen: (1) Nach h.M. unterliegt die Gesellschaft im vorvertraglichen Stadium der Pflicht zur (ungefragten) Offenbarung ihrer Insolvenzreife.45 Meist wird in diesem Stadium die Insolvenzantragspflicht bereits verletzt sein, so daß die deliktisch-insolvenzrechtliche und die c.i.e.-gestützte Verschleppungshaftung de facto zusammenfallen.46 Deshalb und weil die c.i.c.-Haftung ebenfalls auf Ersatz des negativen Interesses gerichtet ist, kann der Kreis der Anspruchsberechtigten schwerlich anders definiert sein als im Deliktsrecht, d.h. die Neugesellschafter sind hier in gleicher Weise schutzbetroffen. Wie nicht zuletzt das BuM-Urteil zeigt, beschränkt sich die Haftung auf Fehlinformationen im Zuge von Kapitalerhöhungsmaßnahmen. Erfaßt sind also die Fälle, in denen Investoren die neuen Anteile in Unkenntnis einer schon bestehenden Insolvenzreife oder wirtschaftlichen Krise übernommen/gezeichnet oder von der Konsortialbank erworben haben. (2) Die Pflicht zur Offenbarung einer wirtschaftlichen Problemlage kann je nach Einzelfall schon vor Eintritt der Insolvenzreife entstehen.47 In der Sache geht es dann um eine c.i.c.-Haftung wegen unterlassener Offenbarung einer wirtschaftlichen Krise, die gerade nicht dem Neugläubiger zugute kommt (er bedarf ihrer nicht), sondern (ausnahmsweise) dem Altgläubiger. Auf ihn trifft der Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens nicht zu, wenn er sein negatives Haftungsinteresse gegenüber dem Management verfolgt. Konsequenterweise ist er zu behandeln wie ein Neugläubiger, d.h. er nimmt an der Masseabwicklung nicht teil. Für Altgesellschafter kann wiederum nichts anderes gelten.

4 5 Sehr Str., vgl. Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 69 m.w.N. Der Übergang zur Haftung wegen Falschinformation ist fließend, vgl. dazu OLG München BKR 2002, 1096, 1098ff. mit Besprechung von Fuchs/Dühn BKR 2002, 1063, 1064ff.; Möllers/Letsch WM 2001, 1648, 1652 ff. Zum Sonderfall der Ad-hoc-Meldepflicht bei börsennotierten AG s. unten IV, 1. 46 Vgl. auch Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 40, 58 (Unterschied beider Haftungstatbestände im wesentlichen rechtsdogmatischer Natur). 47 Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 69 a.E.; Altmeppen/Wilhelm NJW 1999, 680.

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(3) Im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum wird schließlich vertreten, daß die Gesellschaft bei Meidung einer c.i.e.-Haftung die Neugesellschafter vor der Anteilszeichnung oder dem Ersterwerb über die Angreißarkeit der Kapitalerhöhung aufklären muß.48 Ein solcher Fall kann eintreten, wenn die Kapitalerhöhung noch nicht durch Eintragung ins Handelsregister wirksam geworden ist und nunmehr ein Umstand eintritt, der die Eintragung hindert. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist nach h.M. ein solcher Umstand, wenn die Investoren oder einige von ihnen daraufhin von ihrem Übernahme/Zeichnungsvertrag zurücktreten oder wenn der Kapitalerhöhungsbeschluß aufgehoben wird.49 Konsequenterweise wird man allerdings eine Hinweispflicht schon im Hinblick auf die Möglichkeit, daß ein Eintragungshindernis entsteht, mithin bei Eintritt der Insolvenzreife annehmen müssen. b. Passivlegitimation der Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder Ein weiterer, wesentlicher Unterschied betrifft die persönliche Haftung der geschäftsführenden Organe. Die c.i.e.-Haftung ist hier enger, weil sie den GmbH-Geschäftsführer bzw. das AG-Vorstandsmitglied nur unter besonderen Umständen persönlich trifft. Diese wiederum differieren danach, ob es sich um individuell verabreichte oder öffentlich verbreitete Fehlinformationen handelt: (1) Geht es um die Vorenthaltung einer der soeben erwähnten Informationen im Rahmen einer Privatplazierung, so haftet die Geschäftsleitung nach den allgemeinen Grundsätzen der c. i. c. -Dritthaftung, also bei Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens50, das beispielsweise im Rahmen individueller Kontakte des Managements zu potentiellen Investoren („Investor Relations") entstanden sein kann.51 Bei Zugrundelegung der Rechtsprechung wird diese Variante allerdings kaum große Bedeutung erlangen, weil die Unterstützung von Maßnahmen der Eigenkapitalbeschaffung mit Hilfe garantieähnlicher Versprechungen der Geschäftsführung, wie

48 Meyer-Panhusen Die fehlerhafte Kapitalerhöhung, 2003, S. 159f. m.w.N. Vgl. auch BGHZ 139, 225, 231 ff. „Elsflether Werft" zur Warnpflicht bei Veröffentlichung eines Unternehmensberichts . 49 Hachenburg/Ulmer GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 55 Rn. 29; MünchKommAktG//Ä#f>r, 2001, § 264 Rn. 74. 50 Inbegriffen sind die Fälle der „Prospekthaftung im weiteren Sinne". Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß der Emittent einen inhaltlich zu beanstandenden Prospekt verwendet, dessen sich das Organmitglied bedient, um individuell neue Investoren für das Unternehmen zu gewinnen, s. Assmann in Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 2. Aufl. 1997, § 7 Rn. 15. 51 Vgl. Schanz Börseneinführung, 2. Aufl. 2002, § 10 Rn. 12 ff.

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sie dem Zweiten Senat wohl vorschweben,52 nicht unbedingt üblich ist. Ob es für eine Haftungserstreckung auf das Management auch ausreicht, wenn dieses zu Werbezwecken seine besonderen Befähigungen und Leistungen herausstellt, ist nach dem bisherigen Stand der Erkenntnisse eher fraglich. Die von Karsten Schmidt für das GmbH-Recht vorgeschlagene Erweiterung des Haftungssystems in Richtung einer Repräsentantenhaftung, der die Vorstellung einer Art „typisierten Vertrauens" der GmbH-Geschäftspartner in die persönliche Integrität und Bonität der Geschäftsführer zugrunde liegt,53 hat der Zweite Senat jedenfalls abgelehnt.54 (2) Beruht der Erwerbsvorgang hingegen auf einem Public Offering, so ist die individuelle Inanspruchnahme persönlichen Vertrauens regelmäßig nicht nachweisbar. Statt dessen kommt eine kapitalmarktrechtliche Haftung für die Folgen typisierten Vertrauens nach den Vorschriften über die börsengesetzliche Prospekthaftung55 oder - wenn Aktien angeboten werden, die für den Handel außerhalb der geregelten Aktienmärkte vorgesehen sind - nach den Grundsätzen über die „bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung" in Betracht56, wobei die Prospektwerbung für eine insolvenzreife Gesellschaft wohl stets geeignet ist, den Vorwurf einer haftungsbegründenden Fehlinformation auszulösen.57 Doch gibt es auch hier keinen Rechtssatz des Inhalts, daß das typisierte Vertrauen stets dem handelnden Organ entgegengebracht werde. Mitglieder der Geschäftsleitung haften vielmehr nur dann, wenn es Gründe gibt, sie dem Kreis der sog. „Prospektverantwortlichen" zuzuordnen, also etwa wenn sie den Prospekt verantwortlich (mit-)gestalten.58

52 BGHZ 126, 181, 189f. im Anschluß an Hachenburg/Ulmer GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 64 Rn. 70; Str., s. Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 68 m.w.N. Speziell zur „Prospekthaftung im weiteren Sinne" in diesem Zusammenhang Assmann in Assmann/ Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 2. Aufl. 1997, § 7 Rn. 100. 53 Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 68. st BGHZ 126, 181, 189 f. 55 §§ 44ff. BörsG direkt oder aufgrund spezialgesetzlicher Verweisung; s. Schanz Börseneinführung, 2. Aufl. 2002, § 13 Rn. 29. » BGH WM 1985, 1520f., bestätigt von BGHZ 123, 106, 109 „Hornblower-Fischer". Zur Subsidiarität dieser Haftung gegenüber der börsengesetzlichen Prospekthaftung s. Schanz Börseneinführung, 2. Aufl. 2002, § 13 Rn. 29: Krause ZGR 2002, 799, 827 f. (ablehnend). Zur Anwendbarkeit der Grundsätze über die bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung auf ein Fehlverhalten im Rahmen der Ad-hoc-Publizität s. unter IV, 1. 57 Für Emissionsprospekte gelten, was die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage angeht, ähnliche Grundstandards wie für Jahresabschlüsse, vgl. § 32 Abs. 1 Ziff. 2 BörsG i.V.m. § 13 BörsZulV, § 7 Abs. 2 Ziff. 3 VerkaufsprospektG i.V.m. § 2 Abs. 1 Verkaufsprospekt VO. 58 Anwendungsbeispiel aus der Judikatur: BGHZ 123, 106, 110 „Hornblower-Fischer". Vgl. ferner Baums ZHR 167 (2003), 139, 174 m.w.N.; Assmann in Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 2. Aufl. 1997, § 7 Rn. 99 f., 107, 113 ff.

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3. Verletzung von Vermögensbetreuungspflichten (gesellschaftsrechtliche Verschleppungshaftung) Nach den Vorschriften über die gesellschaftsrechtliche Organhaftung kann die Gesellschaft von den Mitgliedern des geschäftsführenden Organs der Gesellschaft Schadensersatz verlangen, wenn diese mit dem Gesellschaftsvermögen unsorgfältig umgegangen sind (§ 43 Abs. 2 GmbHG, § 93 Abs. 2 AktG). Aus insolvenzrechtlicher Sicht gibt es hierzu eine Reihe offener, hier nur am Rande behandelter Fragen 59 : Rechtsprechung und Schrifttum wollen die Organhaftungsvorschriften auch noch nach Eintritt der Insolvenzreife anwenden, so daß sie Grundlage einer Insolvenzverursachungshaftung60 wie auch einer Insolvenzverschleppungshaftung sein können und ggf. mit den übrigen Regeln über die Verschleppungshaftung konkurrieren. 61 Daran ist sicher richtig, daß die für das Management in der Going-Concern-Phase geltenden Sorgfaltsmaßstäbe unmöglich mit denen während der Verschleppungsphase identisch sein können, nachdem das Gesetz die Auflösung der Gesellschaft zwingend angeordnet hat. Soweit es aber um die Verwaltung des Gesellschaftsvermögens nach dem Break-Up-Prinzip geht, soweit sich also die Pflichten des Managements in der Erhaltung der Vermögenssubstanz erschöpfen, enthalten die §§ 64 Abs. 2 GmbHG, 92 Abs. 3, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG haftungsbewehrte und speziellere Verbotsregeln. Daneben die allgemeinen Organhaftungsregeln anzuwenden, liegt umso ferner, je extensiver man jene Verhaltensverbote handhabt. 62 Weitere Unstimmigkeiten ergeben sich unter Zugrundelegung der h.M. im Hinblick auf die Aktivlegitimation, wobei Aktien- und GmbH-Recht gegenläufige Tendenzen aufweisen. Im Aktienrecht ist den Gläubigern konsequenterweise nach Maßgabe von § 93 Abs. 5 S. 1 AktG ein eigenes Klagerecht zuzusprechen, mit dessen Hilfe sie den Verschleppungsschaden „der Gesellschaft" (genauer: den auf die Gesamtgläubiger entfallenden Quotenschaden63) liquidieren können. Die Neugläubiger lassen sich hiervon nicht ausnehmen, weil die Organhaftung - im Gegensatz zur deliktischen und vorvertraglichen Verschleppungshaftung - eine Innenhaftung der Organmitglieder ist, so daß zwischen Aktiv- und Passivlegitimation keine inhalt59 Zu den Sorgfaltsstandards in der Geschäftsführung während der Krise s. Reuter BB 2003,1797 60 Dazu K. Schmidt in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbHG in Krise, Sanierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2003, Rn. 1944 ff. 61 BGH NJW 1974, 1088, 1089; Scholz/K. Schmidt GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 Rn. 36; Hachenburg/Ulmer GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 64 Rn. 46; Michalski/Nerlich GmbHG, 2002, § 64 Rn. 98; Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck GmbHG; 17. Aufl. 2000, § 64 Rn. 80; wohl auch Habersack in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 92 Rn. 74. 62 Zu dieser Frage s.o. bei Fn. 30. 63 Vgl. Habersack in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rn. 96.

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liehe Verbindung hergestellt werden muß: Ist erst der Anwendungsbereich des § 93 Abs. 2 A k t G eröffnet, so spielt keine Rolle, daß der Neugläubiger mit seiner Klage ein positives, individuelles Haftungsinteresse verfolgt, 64 selbst wenn er vom beklagten Vorstandsmitglied zugleich - nämlich in seiner Eigenschaft als dessen Delikts gläubiger - Schadensersatz unter Zugrundelegung eines ausschließlich negativen Ersatzinteresses verlangt. Mit der Rechtsprechung des B G H , wonach der Neugläubiger an der Abwicklung der reinen Verschleppungsschäden nicht teilnimmt, läßt sich das schwerlich vereinbaren. Zwecks Vermeidung von Wertungswidersprüchen wird man vor diesem Hintergrund sogar einen Schritt weitergehen und Neugläubigern das Klagerecht aus § 93 Abs. 5 S. 1 A k t G auch vorenthalten müssen, soweit Altforderungen der AG auf Schadensersatz wegen schuldhafter Insolvenzverursachung betroffen sind. § 43 Abs. 2 GmbHG sieht dagegen eine aktive Gläubigerbeteiligung an der Durchsetzung der Organhaftung nicht vor. Dennoch wird sie gerade für den Insolvenzfall immer wieder in Erwägung gezogen - sei es in Gestalt einer Direkthaftung 65 , sei es nach dem Modell des § 93 Abs. 5 S. 1 AktG 6 6 . Dem ist aus den genannten Gründen - im Ergebnis übereinstimmend mit der h.M. 6 7 - zu widersprechen. 68 Im entsprechenden Umfang ist allen Versuchen entgegenzutreten, den Gesellschaftern ein individuelles Anspruchsoder Klagerecht zum Zwecke der Restitution des Gesellschaftsvermögens zuzubilligen. Rechtsprechung und Schrifttum geben sich hier ohnehin sehr zurückhaltend; meist beschränken sich die befürwortenden Stellungnahmen auf den Fall, daß der Geschäftsführer zugleich Gesellschafter ist, so daß sich der haftungsbegründende Vorwurf auf den Gesichtspunkt der mitgliedschaftlichen Treuepflicht stützen läßt. 6 9 Für den während des Ver6 4 Der Gläubiger darf und muß auf Leistung an sich selbst klagen, er handelt also nicht etwa im Interesse der Gläubigergesamtheit: Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rn. 411; Mertens in Kölner Komm. AktG, 2. Aufl. 1996, § 93 Rn. 143. 65 Michalski/Haas GmbHG, 2002, § 43 Rn. 288. 66 Bieletzki Ν ZG 1999, 290; ablehnend Lutter/Hommelhoff GmbHG, 16. Aufl. 2003, § 43 Rn. 31.

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BGH DB 1979, 1694; Lutter/Hommelho ff GmbHG, 16. Aufl. 2003, § 43 Rn. 31; Scholz/

Schneider GmbHG, 9. Aufl. 2000, § 43 Rn. 217; Hachenburg/Mertens GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 43 Rn. 110; Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 43 Rn. 42. 68 Die h.M. gerät hier allerdings in Erklärungsschwierigkeiten, weil sie § 43 Abs. 2 GmbHG - im Gegensatz zur hier vertretenen Meinung - im Verschleppungsstadium noch anwendet. Unter Zugrundelegung dieses Standpunktes leuchtet nämlich nicht ein, warum § 64 GmbHG Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ist, § 43 Abs. 2 GmbHG hingegen nicht. 6 9 BGH ZIP 1982, 1203; Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 43 Rn. 43; Michalski/HaasGmbHG, 2002, § 43 Rn. 273; Raiser ZHK 153 (1989), 1, 25f.; weitergehend (Eigenanspruch kraft Deliktsrechts) Hachenburg/Mertens GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 43 Rn. 105; ders. in Festschrift Fischer, 1979, S. 461, 468ff. Zur Zubilligung

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schleppungszeitraumes eintretenden Neugesellschafter läßt sich dieser Ansatz nicht fruchtbar machen, es sei denn, man bejaht mit einer neueren Ansicht die Existenz einer vorwirkenden bzw. vormitgliedschaftlichen Treuebindung. 70 Im Aktienrecht stoßen derartige Überlegungen von vornherein kaum auf Resonanz. 71

IV. Mögliche Einwände 1. Verstoß gegen die Sperrklausel des § 37 b Abs. 5 WpHG Das Kapitalgesellschafts- und Kapitalmarktrecht folgt dem Grundsatz, daß die geschäftsführenden Organe für die Folgen der von ihnen begangenen Fehler, erst recht für die Schulden der Gesellschaft nicht persönlich nach außen haften. Vor allem die Implementierung einer deliktischen Haftung durch Qualifizierung abstrakter, einer einzelfallorientierten Differenzierung nicht zugänglicher Verhaltensnormen als „Schutzgesetz" bringt die Gefahr mit sich, daß jenes Haftungsprivileg auf breiter Fläche - und damit systemwidrig - unterlaufen wird. Das alles ist in der Vergangenheit vielfach - nicht zuletzt auch unter rechtspolitischen Aspekten - behandelt worden 72 und hier nicht erneut aufzugreifen. In Erinnerung gerufen sei aber jene neu hinzugetretene gesetzgeberische Wertung, die in der Haftungsnorm des durch das 4. FinanzmarktförderungsG eingeführten § 37 b Abs. 1, 2 WpHG zum Ausdruck kommt. Danach haftet eine AG, deren Aktien zum Handel an einer inländischen Börse zugelassen sind, für die Folgen der vorsätzlich oder grob fahrlässigen Verletzung einer Ad-hoc-Meldepflicht. 73 Der Haftungstatbestand dieser Vorschrift ist breit genug angelegt, um problemlos sämtliche Fälle zu erfassen, die bisher unter dem Etikett „c.i.e.-Haftung wegen Insolvenzverschleppung" diskutiert wurden. Denn daß der plötzliche Eintritt der Insolvenzreife eine kursrelevante Tatsache ist, die der Emittent nach § 15 Abs. 1 S. 1 WpHG veröffentlichen muß, versteht sich von selbst. Nichts anderes kann bei einem vorhersehbaren Eintritt der Insolvenzreife gelten, wenn sich seine eines Verfolgungsrechts nach den Grundsätzen der actio pro societate s. Lutter/Hommelhoff GmbHG, 16. Aufl. 2003, 33; auch insoweit eher ablehnend Zöllner in Baumbach/Hueck GmbHG, 17 Aufl. 2000, § 43 Rn. 27; Hachenburg/Hüffer GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 46 Rn. l l l f . 70 Dazu Weber Vormitgliedschaftliche Treuebindungen, 1999, S. 213 ff. sowie die Rezension von Kort ZHR 164 (2000), 444; ferner Krause ZGR 2002, 799, 837 ff. 71 S. statt anderer Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rn. 469ff.; Hüffer AktG, 5. Aufl. 2002, § 93 Rn. 19 m.w.N. 72 Vgl. etwa Baums ZHR 167, 139, 171 ff.; Fuchs/Dühn BKR 2002, 1063, 1070 mit zahlr. Nachw. 73 Erste Stellungnahmen hierzu bei Möllers/Leisch N Z G 2003, 112, 113 f.

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Vermögens-, Finanz- und Ertragslage entsprechend verschlechtert hat. 74 Der Unterschied ist nur: Die Haftung aus § 37 b WpHG trifft - wie gesagt die AG als Emittentin, nicht ihre Organe. Wenngleich die Materialien zu den Motiven schweigen, 75 dürfte der Gesetzgeber damit klar Position gegen die Einbeziehung des Managements in die außenhaftungsrechtliche Verantwortung bezogen haben, denn es ist kaum anzunehmen, daß er seine Entscheidung in Unkenntnis der hiervon abweichenden Ansichten und Reformvorschläge in früheren Stellungnahmen der Literatur 76 getroffen hat. 77 Man wird also § 37 b Abs. 5 WpHG, wonach „weitergehende Ansprüche" nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts aufgrund von Verträgen oder vorsätzlichen unerlaubten Handlungen „unberührt" bleiben, nicht etwa im Sinne einer Offnungsklausel deuten dürfen, um sodann die Organaußenhaftung durch die Hintertür einzuführen. Ähnliche Versuche hatte es schon zu § 15 Abs. 6 WpHG a.F. gegeben, 78 auch ihnen blieb der Erfolg versagt. 79 Allerdings besteht in Anbetracht neuer Reformpläne die Aussicht, daß der Gesetzgeber seinen bisherigen Standpunkt womöglich korrigieren und die Organaußenhaftung breitflächig einführen wird. 80 Bis es soweit ist, muß die in § 37 b Abs. 5 WpHG enthaltene Sperrklausel beachtet werden. Sie besagt, daß eine deliktische Haftung des Emittenten wegen der Versäumung einer Ad-hoc-Meldung bei einfacher und grober Fahrlässigkeit ausscheidet, es sei denn, ihn verbindet mit dem Geschädigten ein Vertragsverhältnis. Und weil der Emittent stets durch sein geschäftsführendes Organ handelt, muß dieser Haftungsausschluß auch ihm - dem Organmitglied - zugute kommen. 81 Was daraus für das Recht der Insolvenzhaftung folgt, ist bislang nicht einmal ansatzweise diskutiert. Nachstehend können nur erste Denkanstöße gegeben werden.

74 Ebenso Kumpel/Assmann in Assmann/Schneider W p H G , 3. Aufl. 2 0 0 3 , § 15 Rn. 72 f.; eng Reuter BB 2 0 0 3 1797, 1800. 75

Begr. RegE BT-Dr. 14/8017, S. 93.

Ausführlich Krause Z G R 2 0 0 2 , 799, 806ff.; ferner Rieckers BB 2 0 0 2 , 1213, 1220, jew. mit Nachweisen älterer Quellen. 76

7 7 Zutreffend Veit Z H R 167 (2003), 3 6 5 , 3 9 6 ; ebenso Maier-Reimer/Webenng W M 2002, 1857, 1864; Rössner/Bolkort Z I P 2 0 0 2 , 1471, 1476; Horn, Festschrift U l m 2 0 0 3 , S. 817, 828. 78 Gebrt Die neue Ad-hoc-Publizität nach § 15 Wertpapierhandelsgesetz, 1997, S. 208ff.; vgl. auch v. Klitzing Die Ad-hoc-Publizität, 1999, S. 2 2 0 . 7 9 In der Sache ging es um die Qualifizierung des § 15 Abs. 1 W p H G als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB. Ablehnend hierzu etwa O L G München Z I P 2002, 1989 „Infomatec II" m. Anm. Möllers/Leich; LG Kassel Ν ZG 2 0 0 3 , 136, 137 80 Baums Z H R 167 ( 2 0 0 3 ) , 139, 171 ff.; lesenswerte Kritik u. a. bei Fuchs/Dühn BKR 2 0 0 2 , 1063, 1070f. Mülbert, Die Aktiengesellschaft und der Kapitalmarkt, Generalbericht, in: Die Aktiengesellschaft und der Kapitalmarkt - Der Anlegerschütz, 11. Tagung der griechischen Handels- und Gesellschaftsrechtler, 2 0 0 2 , S. 43, 75 f. 81

a.F.

So die zutr. Argumentation von O L G München BKR 2 0 0 2 , 1096, 1101 zu § 15 W p H G

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Was zunächst die c.i.e.-Haftung wegen pflichtwidrigen Verschweigens der Insolvenzreife anbelangt: Sie ist in § 37 b Abs. 5 WpHG nicht erwähnt, obwohl dem Gesetzgeber klar sein mußte, daß gerade auch von ihr erhebliche Haftungsrisiken ausgehen, und zwar vor allem überall dort, wo mit der Rechtsfigur des „typisierten Vertrauens" gearbeitet wird (s. unter III, 2, b). Besondere Bedeutung hat diese Frage für die künftige Würdigung jener Erweiterungsvorschläge, die auf den haftungsrechtlichen Ausbau der Regeln über die Ad-hoc-Publizität durch Anwendung der Grundsätze über die bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung abzielen. 82 Auf den ersten Blick scheint das Problem nicht lösbar zu sein, ohne eine Grundsatzentscheidung dahin zu treffen, ob die (kapitalmarktrechtliche) c.i.e.-Haftung eher „quasi-vertraglichen" Charakter hat (dann keine Haftungssperre) oder ob sie mehr „quasi-deliktisch" geprägt ist (dann nur Vorsatzhaftung). 83 Andererseits ist schwer vorstellbar, daß die Sperrklausel auch solche Deliktstatbestände erfaßt, die mit der Haftung nach § 37 b WpHG nicht in einem - noch zu definierenden - Zusammenhang stehen. Der Umfang der Sperrklausel bedarf vielmehr der Konkretisierung. Zwei Möglichkeiten bieten sich an: Man könnte erstens bei der Art des Fehlverhaltens ansetzen und daraufhin die Haftung bei (grober) Fahrlässigkeit des geschäftsführenden Organs nach § 823 Abs. 2 BGB eröffnen, weil die Verletzung der Insolvenzantragspflicht etwas anderes ist als die Verletzung einer durch die Insolvenzreife ausgelösten Informationspflicht. Sonderlich überzeugend ist das allerdings nicht, wenn man bedenkt, wie eng die beiden Haftungsgründe in rechtstatsächlicher Hinsicht beieinander liegen (s. unter III, 2, a). Gravierender ist die zweite Abweichung der deliktischen Insolvenzhaftung, die sich in deren Beschränkung auf Vorgänge im Primärmarkt äußert und Zweiterwerbe ausklammert (III, 1, c), während § 37 b WpHG auf den Ausgleich von Vermögensschäden im Sekundärhandel hin konzipiert ist. Letzteres vor allem hatte den Gesetzgeber ursprünglich veranlaßt, es beim öffentlich-rechtlichen Zuschnitt der Ad-hoc-Publizität zu belassen und von ihrer Einbindung in ein privatrechtliches Haftungsregime abzusehen, denn man schreckte davor zurück, den Emittenten mit unkalkulierbaren Schadensersatzrisiken zu belasten, wie sie im Börsenhandel auftreten können. 84 Dieser Gedanke kehrt in den Materialien zu § 37 b WpHG wieder.85 Er kann demzufolge auch bei der Konkretisierung der Sperrklausel nicht außer Betracht bleiben.

«2 Dazu einmal mehr Krause ZGR 2002, 799, 826 ff. 83 Dazu statt vieler MünchKommBGB/fmmenc/), 4. Aufl. 2001, Vor § 275 Rn. 53 m.w.N. 84 Vgl. Kumpel in Assmann/Schneider WpHG, 2. Aufl. 1999, § 15 Rn. 188 ff. zu § 15 Abs. 6 S. 1 WpHGa.F.; hierzu kritisch Geibelin Schäfer WpHG/BörsG, 1999, § 15 WpHG Rn. 151 ff. es BT-Dr. 14/8017, S. 94.

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2. Verstoß gegen den Grundsatz der Kapitalerhaltung Ebenfalls nicht neu ist der Einwand, die persönliche Inanspruchnahme des geschäftsführenden Organs durch einen Gesellschafter ziehe über die Zurechnungsnorm des § 31 BGB eine in mehrfacher Hinsicht unerwünschte (Mit-)Haftung der Gesellschaft nach sich.86 Die Inanspruchnahme der Gesellschaft durch einen oder mehrere Gesellschafter auf Schadensersatz widerspreche dem Kapitalschutz, den Nachteil trügen die (übrigen) Gesellschafter, noch mehr aber deren Gläubiger, denen ein Teil des in ihrem Interesse gebundenen Vermögens genommen werde.87 Gegen diese Angriffe gibt es eine Reihe möglicher Repliken, von denen zwei besonders häufig vorgebracht werden: (1) Entweder man verweist darauf, daß der geschädigte Gesellschafter seinerseits eine Gläubigerposition erworben hat und somit neben den übrigen Gläubigern am Kapitalschutz teilnimmt. Dieser Gedanke liegt dem kapitalmarktrechtlichen Haftungssystem zugrunde, wie nunmehr an § 37 b WpHG unmittelbar abzulesen,88 trägt aber nicht ohne weiteres bei verbandsintern erworbenen Ansprüchen. Er versagt schließlich dann, wenn es sich bei dem Gesellschafter um den Zeichner des Anteils („Einleger") handelt, also gerade in den die Insolvenzhaftung betreffenden Fällen. Der Grund: Zeichnungsverträge lassen sich nach Durchführung der Kapitalerhöhung schlechterdings nicht mehr rückgängig machen, auch nicht im Wege des Schadensersatzes.89 (2) Oder man gibt dem Kapitalschutz Vorrang, zieht daraus aber lediglich die Konsequenz, daß die Gesellschaft nicht neben dem Organmitglied haftet. Das entspricht dem herkömmlichen Lösungsansatz im Gesell86 § 31 BGB ist auf Kapitalgesellschaften entsprechend anwendbar, vgl. Soergel/Hadding BGB, 13. Aufl. 2000, § 31 Rn. 6 m.w.N. Auch Unterlassungen können eine „zum Schadensersatz verpflichtende Handlung" sein, s. HaddingZiO., Rn. 14. 87 Ausführlich Baums ZHR 167 (2003), 139, 166ff. mit umfassenden Nachweisen; ferner Krause ZGR 2002, 799, 815 f. 88 Veil ZHR 167 (2003), 365, 394 ff. (der allerdings vor dem Hintergrund der EU-Kapitalschutzrichtlinie zu dem Ergebnis gelangt, daß das zur Deckung des Grundkapitals und der gesetzlichen Rücklagen erforderliche Vermögen nicht ausgeschüttet werden darf). Ebenso verhält es sich mit der gesetzlichen Prospekthaftung (zum Börsenrecht: Henze in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2000, § 57 Rn. 19f.; zu § 12 WpÜG: Ehricke/Ekkenga/Oechsler, WpÜG, 2003, § 12 Rn. 8; zur übernahmerechtlichen Haftung der Zielgesellschaft: Ehricke/Ekkenga!Oechsler, ebenda, § 33 Rn. 39). 89 OLG Frankfurt AG 2000, 132, 134; Henze in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2000, § 57 Rn. 22; Assmann in Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 2. Aufl. 1997, § 7 Rn. 202; gegen eine derartige Differenzierung Horn in Festschrift Ulmer, 2003, S. 817, 826 f. Anders ist wiederum der Erwerb von der mit der Erstplazierung im Übernahmeverfahren befaßten Konsortialbank zu beurteilen; er gilt als Umsatzgeschäft, s. Henze aaO., Rn. 24; Renzenbrink/Holzner BKR 2002, 434, 431.

Die Insolvenzhaftung nach GmbH- und Aktienrecht

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schaftsrecht, der sich auf eine teleologische Reduktion des § 31 BGB stützen läßt und gegen dessen Übertragung auf das Kapitalmarktrecht keine grundsätzlichen Bedenken entgegenstehen.90 Wenn neuerdings vereinzelt gemahnt wird, die Entlastung der Gesellschaft entspreche als Rechtsfolge nicht dem Sinn und Zweck des § 31,91 so ist das im Grunde weiter nichts als eine vernachlässigenswerte Tautologie, weil die Konsequenz einer jeden teleologische Reduktion darin besteht, daß die betroffene Norm (hier: die Belastung der Gesellschaft mit den Risiken fehlerhaften Organverhaltens) nicht zur Anwendung gelangt. 3. Kein (ersatzfähiger) Schaden Der Gesellschafter erleidet keinen ersatzfähigen Vermögensschaden, wenn und soweit er trotz Anteilszeichnung seine Einlage noch nicht erbracht hat und hierzu auch künftig nicht verpflichtet ist. Nach früher vorherrschender Auffassung kann genau dieser Effekt eintreten, wenn das Insolvenzverfahren eröffnet wird, bevor die Kapitalerhöhung im Handelsregister eingetragen und damit wirksam geworden ist. 92 Ein Eintragungshindernis würde jedoch voraussetzen, daß der Kapitalerhöhungsbeschluß aufgrund der Insolvenzeröffnung nachträglich mängelbehaftet ist; eine solche Annahme findet, wie der BGH im Jahre 1994 klargestellt hat, im Gesetz keine Stütze. 93 Allenfalls mag eine Anspruchskürzung nach § 254 Abs. 2 S. 1 BGB in Betracht kommen, wenn der Gesellschafter nach den Umständen - z.B. weil er schon vor dem Neuerwerb über ein größeres Anteilspaket verfügte einen Aufhebungsbeschluß der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung hätte herbeiführen können. 94

9 0 Ausführlich Gehrt Die neue Ad-hoc-Publizität nach § 15 Wertpapierhandelsgesetz, 1997, S. 208 f., der diese schon seit langem bekannte Lösung (s. statt anderer Mertens in Kölner Komm. AktG, 2. Aufl. 1988, § 76 Rn. 74; § 93 Rn. 171) zum Gegenstand eines eigenen Vorschlages macht; teils zustimmend, teils kritisch von Klitzing Die Ad-hoc-Publizität, 1999, S. 220f.; ablehnend Krause ZGR 2002, 799, 816; Sehlingen Die Ad-hoc-Publizität nach § 15 WpHG, 1999, S. 203. 91 In diesem Sinne wird man wohl die Ausführungen von Sehlingen aaO. zu verstehen haben. Diesem zustimmend Krause aaO., der sich seinerseits zu Unrecht auf Schwark in Festschrift Raisch, 1995, S. 269, 285 beruft. RGZ 77, 152, 154 f.; 85, 205, 207; Zöllner in Baumbach/Hueck GmbHG, 17 Aufl. 2000, § 55 Rn. 2 a; Lutter/Hommelhoff GmbHG, 16. Aufl. 2003, § 55 Rn. 57 a; Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1994, § 182 Rn. 95. 93 BGH NJW 1995, 460; MünchKommAktG///«/fer, 2. Aufl. 2001, § 264 Rn. 74; Hachenburg/Ulmer GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 55 Rn. 28. Vgl. hierzu auch schon oben unter III, 2, a. 94 Zu dieser Möglichkeit MünchKommAktG///«/fer, 2. Aufl. 2001, § 264 Rn. 74.

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Jens Ekkenga

V. Fazit Es besteht Anlaß, die bisher vorherrschende, ablehnende Haltung zur Anspruchsberechtigung der Gesellschafter in den Fällen schuldhafter Insolvenzverschleppung zu überdenken. Mehrere Gründe sprechen dafür, Neugesellschafter den Neugläubigern der insolvenzreifen Gesellschaft haftungsrechtlich gleichzustellen. Auf das negative Interesse haftet dann dem geschädigten Gesellschafter das schuldhaft handelnde Organmitglied persönlich und direkt, nicht aber die Gesellschaft. Nach Maßgabe der BGHRechtsprechung kann der Neugesellschafter in weiterer Konsequenz ebenso wie der Neugläubiger - seinen Schaden an der Insolvenzmasse vorbei liquidieren; § 92 InsO findet danach keine Anwendung. 95

95 BGHZ 126,181, 201; BGH NJW 1995, 398; in der Lit. str., s. MünchKommlnsO/fira«des, 2001, § 92 Rn. 36 m.w.N.

Informationsansprüche und -pflichten im Idealverein ULRICH HAAS / STEFANIE

SCHOLL

1. Bedeutung von Informationsansprüchen Die Mitgliedergesamtheit als Organ ist im BGB-Vereinsrecht unverzichtbar.1 Anders aber als im Aktien- oder Genossenschaftsrecht hat der Gesetzgeber die Zuständigkeit der Mitgliederversammlung nicht klar festgelegt (§§ 119 AktG, 48 GenG). § 32 BGB bestimmt lediglich eine Auffangzuständigkeit der Mitgliederversammlung. Danach hat diese die „Angelegenheiten des Vereins" zu ordnen, soweit nicht nach Gesetz oder Satzung ein anderes Vereinsorgan zuständig ist. Damit gilt - jenseits der wenigen zwingenden Zuständigkeiten der Mitgliederversammlung - der Grundsatz der Gestaltungsfreiheit.2 Die zulässige Grenze der Gestaltungsfreiheit ist allerdings dort überschritten, wo die Mitgliederversammlung nicht mehr „oberstes Vereinsorgan" bleibt.3 Unabhängig davon, wie weit oder eng der Aufgabenkreis der Mitgliederversammlung gefaßt ist, kann letztere ihre Befugnisse nur dann sinnvoll und verantwortungsvoll ausüben, wenn die Gesamtheit der Mitglieder bzw. die einzelnen Mitglieder über die hierzu erforderlichen Informationen verfügen. 4 Nur wer über die Geschäftsführung des Vorstands informiert ist, kann beispielsweise von dem Kontroll-, Weisungs- oder Abberufungsrecht Gebrauch machen bzw. den Vorstand entlasten. Ob und inwieweit den Mitgliedern (einzeln oder in ihrer Gesamtheit) ein Auskunfts- und Informationsanspruch zusteht, ist folglich für das Vereinsbinnenrecht von entscheidender Bedeutung.

1 Soergel/Hadding BGB, 13. Aufl. 2000, § 32 Rn. 2; MünchKommBGB/Äeaier, 4. Aufl. 2001, § 32 Rn. 1. 2 Soergel/Hadding BGB, § 32 Rn. 4; MünchKommBGB/.R