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German Pages 1536 [1538] Year 2020
I Festschrift für Christine Windbichler zum 70. Geburtstag
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Festschrift für CHRISTINE WINDBICHLER zum 70. Geburtstag am 8. Dezember 2020 herausgegeben von
Gregor Bachmann Anja Mengel
Stefan Grundmann Kaspar Krolop
De Gruyter
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ISBN 978-3-11-061725-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061980-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061743-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz/Datenkonvertierung: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen www.degruyter.com
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Vorwort Vorwort
Vorwort Mit dieser Festschrift ehren wir eine ebenso ungewöhnliche wie außergewöhnliche Wissenschaftlerin. Christine Windbichler ist nicht nur eine herausragende Vertreterin sowohl der Gesellschaftsrechts- als auch der Arbeitsrechtswissenschaft, sondern sie versteht es in unnachahmlicher Weise, beide Rechtsgebiete als Teile eines ganzheitlichen Unternehmensrechts zu denken. Als Meisterin beider Fächer steht sie in einer Reihe mit Größen wie Alfred Hueck, Herbert Wiedemann oder Wolfgang Zöllner. Enges Kirchturmdenken ist ihr gänzlich fremd. Doch ist dies nur die eine Seite ihrer wissenschaftlichen Persönlichkeit. Nicht minder als das intradisziplinäre prägt das interdisziplinäre und das internationale Denken ihre Person. Was jenseits des eigenen Faches und der heimischen Grenzen vorgeht, wie man von dort auf die deutsche Rechtswissenschaft sieht und was aus diesem hin und her wandernden Blick für das deutsche und europäische Recht zu lernen ist, interessiert die Jubilarin brennend. Diese Neugier (im besten Sinne), gepaart mit der Fähigkeit, sie für ihr publizistisches Wirken fruchtbar zu machen und Schülern wie Weggefährten die Augen für den Blick „hinaus“ zu öffnen, prägt die Jubilarin wie wenige andere. Geboren wurde Christine Windbichler am 8. Dezember 1950 in Wiesbaden, wo sie, zwischen Rheingau und Taunus, ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Die Rechtswissenschaft war ihr – in einem naturwissenschaftlich geprägten Elternhaus – keineswegs in die Wiege gelegt. Dennoch entschied sie sich für das Studium der Rechte, welches sie im nahegelegenen Mainz aufnahm. Von dort wechselte sie Anfang der siebziger Jahre an die Münchener LMU, wo sie rasch den Weg an das Institut für Handels-, Wirtschaftund Arbeitsrecht bei Götz Hueck fand – zunächst als studentische Hilfskraft, später als wissenschaftliche Assistentin. Nach einem hervorragenden ersten Staatsexamen, dem später ein nicht weniger eindrucksvolles zweites folgte, wurde sie bei Hueck mit einer Arbeit über Unternehmensverträge und Zusammenschlusskontrolle promoviert. Von hier zog es sie zunächst in die anwaltliche Praxis und sodann, ihrem unstillbaren Drang nach Erweiterung des Horizonts folgend, zum Masterstudium in die USA, einer damals noch ungewöhnlichen Station. Mit Berkeley wählte sie sich dafür einen lebendigen Westküstenort, dessen Law School für interdisziplinäre Aufgeschlossenheit ebenso bekannt war wie für internationale Offenheit. Die dort gesammelten Eindrücke bewogen sie, bei der Rückkehr doch lieber eine wissenschaftliche Karriere einzuschlagen. Das war damals, Anfang der achtziger Jahre, eine mutige Entscheidung, waren die Besetzungswellen der
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sechziger und siebziger Jahre doch gerade vorüber und fast alle Lehrstühle mit Professoren fern der Altersgrenze besetzt – ganz zu schweigen von „Frauenquoten“, welche die Jubilarin stets auch in ihrer Problematik sah. Hatte bereits die im Schnittfeld von Kartell- und Konzernrecht siedelnde Dissertation Grenzen überschritten, griff Windbichlers mehrfach preisgekrönte Habilitationsschrift zum „Arbeitsrecht im Konzern“ noch weiter aus und durchleuchtete die arbeitsrechtlichen Fragestellungen im verbundenen Unternehmen in einer bis dahin nicht gekannten Präzision. Nachdem ihr noch vor Abschluss der Habilitation bedeutende Lehrstuhlvertretungen (zunächst in Osnabrück, dann in Köln) angeboten worden waren, gelang Windbichler gleichsam aus dem Stand der Sprung auf den ersten Listenplatz der Nachfolge Fritz Rittners auf dessen prominenten Lehrstuhl an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Der Breisgau blieb für die Jubilarin jedoch nur Ausgangspunkt auf dem Weg zu einem anderen, unerwarteten Ziel. Nach der friedlichen Revolution und Wiedervereinigung wurde die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin personell neu aufgestellt, dies mit dem ehrgeizigen Ziel, sie wie schon zu preußischer Zeit und auch – unter ganz anderem Vorzeichen – in der ehemaligen DDR zu einer der ersten Fakultäten des Landes zu machen. Berufen wurden nur Persönlichkeiten, die bereits im Westen ein Ordinariat bekleideten, unter ihnen – als Jüngste inmitten klangvoller Namen – 1992 die Jubilarin. Windbichler zögerte nicht lange und nahm die historische Chance wahr. Dies war ein Wagnis. Pionierarbeit war nötig bei gänzlich nackten Räumen, einer im Auf- und Umbau befindlichen Verwaltung und ohne erwähnenswerte Bibliotheks- oder Technikausstattung. Der Neuaufbau forderte der Jubilarin Improvisationskunst ab, aber auch das didaktische und psychologische Geschick, unter anderen politischen Vorzeichen aufgewachsene junge Menschen an eine marktwirtschaftliche Rechts- und Wirtschaftsordnung heranzuführen und Integrationsarbeit in einem historisch gespaltenen Professorium zu leisten. All das gelang ihr mit großer Kraft und Anstrengung, und trotz, vielleicht auch wegen dieser Herausforderungen fand Windbichler an der HU und in Berlin bald ihre Heimstatt, der sie ungeachtet eines ehrenvollen Rufs nach München bis zu ihrer Pensionierung die Treue hielt und der sie heute noch in vielfältigen Rollen verbunden ist. Immer wieder zog es Windbichler im Laufe ihrer Karriere ins Ausland. Neben diversen Forschungsreisen, die zahlreiche Freundschaften und fruchtbare Kontakte entstehen ließen, bekleidete sie Gastprofessuren in Florida, Cornell, Virginia, Duke und Berkeley. Über viele Jahre wirkte sie in nationalen und internationalen Auswahlgremien wie dem der Alexander-vonHumboldt-Stiftung und gab ihr reiches Wissen als Fachberaterin für internationale Studiengänge gerne und bereitwillig an junge Studierende und Absolventen der Humboldt-Universität weiter. Als Dekanin gelang es ihr, der auch nach zehn Jahren noch mit dem (Wieder-)Aufbau kämpfenden Fakul-
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tät wichtige Ressourcen zu sichern und den Kontakt zur Praxis zu festigen, den sie selber durch die „Berliner Wirtschaftsgespräche“ (über Jahre gemeinsam mit der internationalen Sozietät WilmerHale durchgeführt) maßgeblich vorantrieb. Auch am Aufbau der heute sehr erfolgreichen European Law School (ELS) an der HU hatte die Jubilarin einen nicht unbeträchtlichen Anteil. Trotz ihres umfangreichen Œuvres (nachgewiesen im Anhang zu dieser Festschrift) gehört Windbichler nicht in die Klasse der „Vielschreiber“. Was sie produziert, sind Perlen, die meist schon durch Themenwahl und Titel die Neugier des Lesers wecken, welche dann stets auf fesselnde, manchmal überraschende Weise befriedigt wird. Im besten wissenschaftlichen Sinne verliert sich Windbichler nicht in Glasperlenspielen zu altbekannten Fragen („bitte nicht die zwölfte Theorie zum Bereicherungsausgleich im Dreiecksverhältnis“, beschied sie themensuchende Doktoranden), sondern sie will Fragen aufwerfen, die so bisher noch nicht gestellt wurden, will etablierte Leitbilder hinterfragen und Zusammenhänge herstellen, die allein der zu erkennen vermag, der sich nicht im Spezialistentum verliert. Trotz der vielfältigen Brückenschläge in andere Felder des Rechts und der Nachbardisziplinen behalten Windbichlers Texte dabei immer die juristische Bodenhaftung. Unter ihren größeren, einer breiteren Leserschaft bekannten Werken ragen sicherlich zwei heraus: die Kommentierung des allgemeinen Konzernrechts im Großkommentar zum Aktienrecht sowie ihr Lehrbuch zum Gesellschaftsrecht. Mit ersterem hat sie – weit über den Zuschnitt selbst einer Großkommentierung hinauslangend – eine das Konzernphänomen im Grundsätzlichen erfassende Darstellung vorgelegt, die bis heute ihres Gleichen sucht. Die Unternehmensgruppe als komplexes, omnipräsentes Gebilde hat die Jubilarin seit ihren Qualifikationsschriften fasziniert, und ihr spürte und spürt sie immer wieder von anderem Blickwinkel aus nach – dass der Konzern in der Rechtswirklichkeit kein Randphänomen, sondern gesellschaftsrechtlicher „Normalfall“ ist, schärft sie Hörern wie Schülern gleichermaßen ein. Das Lehrbuch zum Gesellschaftsrecht, welches sie von ihrem Lehrer Götz Hueck übernommen hat und in gegenwärtig 24. Auflage fortführt, kann mit Fug und Recht als Standardwerk des Faches bezeichnet werden. Generationen von Juristinnen und Juristen sind mit ihm groß geworden. Als es Windbichler vor zwanzig Jahren vom C. H. Beck Verlag in die Hände gelegt wurde, datierte die Vorauflage schon neun Jahre zurück, so dass Herkulesarbeit zu leisten war, um das – im Verlag fast schon aufgegebene Werk – noch einmal nach vorne zu bringen. Windbichler hat dem Buch dabei von Auflage zu Auflage ein neues Gesicht verliehen, in dem sich heute die ihr so wichtigen Themen wie Corporate Governance, Bilanzrecht oder Rechtsvergleichung ebenso facettenreich wie eindrucksvoll abgebildet finden.
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Grenzüberschreitungen wagte die Jubilarin in ihren großen Monografien, darüber hinaus aber auch in vielen anderen Projekten und Publikationen. So erklärte sie Studierenden den Zusammenhang zwischen Arbeitnehmermitbestimmung und dem Möbiusband, half sie Arbeitsrechtlern aus der „Baugrube“ des Konzernrechts (FS Kissel), öffnete den Blick dafür, dass das Arbeitsverhältnis, interdisziplinär betrachtet, ebenso Austausch- wie Geschenkverhältnis ist (FS Wiedemann) oder führte dem erstaunten Leser vor Augen, was es mit „Schrödingers Katze“ im Bilanzrecht auf sich hat (FS Kirchner). Neben dem Konzern- und dem Mitbestimmungsrecht, zu dem sie nicht nur selbst viele Denkanstöße lieferte, sondern zu dem sie auch eine Vielzahl innovativer Doktorarbeiten betreute, waren es später vor allem relationale Verträge und hybride Rechtsphänomene, die ihr Interesse fanden, und so erstaunt es nicht, dass ihre Beiträge nicht nur in juristischen, sondern auch in ökonomischen Zeitschriften den Weg zum Leser fanden – immer häufiger in englischer Sprache verfasst, was Windbichler eine für das Fach immer noch außergewöhnliche Resonanz im internationalen Raum verschafft. Man würde der Jubilarin nicht gerecht, würdigte man nicht auch ihr Engagement in der Lehre, welche ihr stets ein besonderes Anliegen war. Hier hat sie über Jahrzehnte sowohl das Gesellschaftsrecht als auch das Arbeitsrecht, und zwar in seiner vollen Breite, vertreten – und damit im Grunde zwei Lehrstühle in einer Person ausgefüllt. Unvergessen bei jedem, der ihre Vorlesungen und Seminare besuchte, sind nicht nur die anschaulichen, oft humorvoll eingekleideten Beispiele, sondern auch der Praxisbezug, der ihr besonders wichtig ist, und für den sie in Vorlesungen und Übungen gerne hochaktuelle Fallstudien heranzieht. Dass sich ihre Seminare besonders bei ausländischen Studentinnen und Studenten größter Beliebtheit erfreuten, versteht sich angesichts ihrer internationalen Aufgeschlossenheit von selbst. Windbichler will dabei nie nur geben, sondern ist begierig, von ihrem Publikum selbst etwas zu lernen. Mit ihrem Schaffen und Wirken hat sich die Jubilarin weit über den engeren Kreis der Rechtswissenschaft hinaus höchste Anerkennung verschafft. Schon 1994 wurde sie in die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften gewählt, der sie bis heute in vielfältigen Funktionen dient. 2011 folgte die Aufnahme in die Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften und somit Dach und Krone der deutschen Akademien. Hoch gefragt war und ist die Jubilarin auch in der Praxis – weniger als Erstellerin lukrativer Privatgutachten, sondern an Stellen, an denen sie ihre Expertise zum Nutzen der Sache einbringen kann, zugleich aus diesem Engagement Anstöße für die eigene Lehre und Forschung erhält. Das betraf, um nur die wichtigsten Engagements zu nennen, Aufsichtsräte und Beiräte (u.a. für die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz und für das Bundeswirtschaftsministerium), den Verbandsausschuss des Deutschen Arbeitsge-
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richtsverbandes, den Arbeitskreis Wirtschaft und Recht oder, über viele Jahre und mit besonderem Engagement, die Abschlussprüferaufsichtskommission (APAK). Hervorzuheben ist daneben ihr Wirken als Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), ein Amt, das sie 2008 übernahm und bis 2014 sehr erfolgreich bekleidete. Privat fand die Jubilarin Erfüllung in der Ehe und Partnerschaft mit ihrem kongenialen, leider viel zu früh verstorbenen Gatten Paul Baltes, Psychologe und Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sowie Wegbereiter der Lebensspannenforschung, der mit ihr die interdisziplinäre Neugier, den Mut zur Grenzüberschreitung, aber auch die Freude am guten Leben und den schöngeistigen Dingen wie Musik und Architektur teilte. Gemeinsam und mit Freunden verbrachten sie eine glückliche Zeit in ihrer hoch über dem Lietzensee gelegenen Charlottenburger Wohnung oder im Feriendomizil auf den Outer Banks in North Carolina. In dieses transatlantische Refugium, das sie gleichermaßen großzügig mit Gästen und Freunden teilten, zog sich Windbichler gerne zurück, um Abstand zum hektischen Berliner Alltag zu finden und um in der nordamerikanischen Abgeschiedenheit an Ideen zu tüfteln, Texten zu schreiben oder Doktorarbeiten zu lesen. Die nahegelegene Duke University bot ihr dabei die willkommene Gelegenheit, ihren reichen Erfahrungsschatz in Vorlesungen zur Comparative Corporate Governance mit wissbegierigen amerikanischen und internationalen Studierenden zu teilen. Obwohl seit einigen Jahren entpflichtet, ist Windbichler keineswegs in den Ruhestand getreten. In der Berlin-Brandenburgischen Akademie und in der Leopoldina wirkt sie weiterhin als aktives Mitglied, deutschen und internationalen Forschungsorganisationen steht sie mit großem Einsatz uneingeschränkt als gefragte Fachgutachterin zur Verfügung und in der Fakultät ist sie als „Feuerwehrfrau“ zur Stelle, wenn es irgendwo „brennt“. All das schafft die Jubilarin mit der ihr eigenen Souveränität, die das Rampenlicht nicht scheut, aber genauso wenig braucht oder gar sucht. Sich selbst mit Lorbeeren zu schmücken, überlässt sie lieber anderen. Wir hoffen, Christine Windbichler mit dieser Festschrift ein Geschenk zu übergeben, das ihre Lehrer- und Forscherinnenpersönlichkeit gebührend ehrt. Es zeichnet sich dadurch aus, dass nicht nur die beiden Hauptarbeitsgebiete der Jubilarin – das Gesellschafts- und das Arbeitsrecht – mit namhaften Vertretern der Fächer vertreten sind, sondern dass auch ihre übrigen Interessenschwerpunkte abgebildet werden. Fast alle Beiträge spiegeln in der Art, wie sie ihr Thema auswählen, anpacken und verbinden, den neugierigen, weltoffenen Ansatz der Jubilarin wieder, der eigene, teils ungewohnte Wege nicht scheut. Den Autorinnen und Autoren sei daher an dieser Stelle ganz herzlich für ihren Einsatz (mit Bibliotheksschließungen wegen Corona!) ebenso gedankt wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beteiligten Lehrstühle, die mit selbstlosem, bisweilen überobligatorischem Einsatz
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für das plangemäße Erscheinen dieser Festschrift gesorgt haben. Ebenso danken wird dem Verlag Walter de Gruyter und seinen tatkräftigen Mitarbeitern, dass das Werk in diesem traditionsreichen Berliner Haus erscheinen darf und so die Reihe herausragender rechtswissenschaftlicher Festgaben, die dort bereits veröffentlicht worden sind, in würdiger Weise fortsetzt. Nicht zuletzt gilt unser Dank den Spendern, die das Erscheinen der Festschrift ermöglich haben, namentlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Kanzlei WilmerHale, dem BDA und der Humboldt European Law School Stiftung. Der Jubilarin wünschen wir, dass sie im kommenden Lebensabschnitt neben neuen juristischen „Entdeckungen“ weiter Zeit für die schönen Dinge des Lebens findet. Auf dem Golfplatz wird man sich Christine Windbichler auch in Zukunft nicht vorstellen können – schon eher in der von ihr so geliebten Philharmonie oder auf dem Motorrad, auch wenn das Gefährt zuletzt etwas häufiger in der Garage geparkt blieb. In der wissenschaftlichen Community bleibt Windbichler ganz sicher präsent, sei es als scharfsinnige Autorin, wortgewandte Diskussionsteilnehmerin, gefragte Gutachterin und Dozentin oder, last but not least, als Wegweiserin für den in jeder Hinsicht über Grenzen spähenden Blick. Wir hoffen, dass wir all dies und vieles mehr noch lange mit ihr teilen dürfen und wünschen Christine Windbichler gemeinsam mit den Autorinnen und Autoren dieser Schrift sowie mit Kollegen, Schülern und Weggefährten zu ihrem runden Geburtstag von Herzen alles Gute. Gregor Bachmann Stefan Grundmann Kaspar Krolop Anja Mengel
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Die Herausgeber danken für großzügige finanzielle Unterstützung bei der Herstellung dieser Festschrift: Deutsche Forschungsgemeinschaft Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände WilmerHale European Law School (Berlin/London/Paris/Rom/Amsterdam/Athen/Lissabon) mit Humboldt European Law School Stiftung
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Autoren Autoren Autoren
Christine Windbichler zum 70. Geburtstag CHRISTIAN ARMBRÜSTER GREGOR BACHMANN THEODOR BAUMS WALTER BAYER FRANK BAYREUTHER BURKHARD BOEMKE CHRISTOPH BRÖMMELMEYER RICHARD M. BUXBAUM MATTHIAS CASPER GERHARD DANNEMANN MEINRAD DREHER KATHARINA DE LA DURANTAYE JENS EKKENGA CHRISTOPH ENGEL ANDREAS ENGERT LORENZ FASTRICH ANDREAS MARTIN FLECKNER HOLGER FLEISCHER AXEL FLESSNER TIM FLORSTEDT MARTIN FRANZEN INGA FROHMANN CARSTEN GERNER-BEUERLE STEFAN GRUNDMANN BARBARA GRUNEWALD MATHIAS HABERSACK SILVIO HÄNSENBERGER LUTZ HAERTLEIN JOHANNES HAGER KRISTINA HARRER-KOULIEV FELIX HARTMANN MARTIN HENSSLER HERIBERT HIRTE PETER HOMMELHOFF KLAUS J. HOPT MATTHIAS JACOBS
SUSANNE KALSS JENS KOCH MICHAEL KORT RÜDIGER KRAUSE GERD KRIEGER KASPAR KROLOP KATJA LANGENBUCHER THOMAS LOBINGER LINA LUYKEN ANJA MENGEL HANNO MERKT RALF MICHAELS HANNAH MODI SVEN MÖLLER FLORIAN MÖSLEIN HANS-FRIEDRICH MÜLLER ANDREAS NELLE ULRICH NOACK EVA INÉS OBERGFELL HARTMUT OETKER CHRISTOPH G. PAULUS HERMANN REICHOLD REINHARD RICHARDI KARL RIESENHUBER MARKUS ROTH GIESELA RÜHL FRANZ JÜRGEN SÄCKER CARSTEN SCHÄFER JAN-ERIK SCHIRMER KARSTEN SCHMIDT KLAUS ULRICH SCHMOLKE WOLFGANG SCHÖN CLAUDIA SCHUBERT PETER SCHÜREN JOACHIM SCHULZE-OSTERLOH ULRICH SEIBERT
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XIV WOLFGANG SERVATIUS REINHARD SINGER GERALD SPINDLER THOMAS STAPPERFEND GAABRIEL TAVITS CHRISTOPH TEICHMANN JAN THIESSEN TOBIAS TRÖGER EBERHARD VETTER GERHARD WAGNER GABRIELA V. WALLENBERG ARTUR WANDTKE
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Autoren
MARTIN WEBER MANFRED WEISS AXEL V. WERDER HARM PETER WESTERMANN HERBERT WIEDEMANN ISABELLE WILDHABER JAAP WINTER ROLAND WOLF JOACHIM WUTTE MIKO YEBOAH-SMITH DIRK ZETZSCHE
Inhaltsverzeichnis
XV
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Grundfragen des Privatrechts und der Rechtswissenschaft RICHARD M. BUXBAUM The Long Life of Property Through War and Revolution . . . . . .
3
GERHARD DANNEMANN Judges and Legislators as Comparative Lawyers . . . . . . . . . . . .
19
CHRISTOPH ENGEL Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft – Spurensuche im Jahrgang 2019 der ZGR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
ANDREAS ENGERT Gleichbehandlungsgebote als Vertragshilfe . . . . . . . . . . . . . . .
51
STEFAN GRUNDMANN Vertrauen und (EU-)Kapitalmarkt – Theorie und Fallstudien zu einer neuen Mesotes im Wirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . .
67
RALF MICHAELS Rechtliches Wissen in der Krise – Eine Zeitkapsel . . . . . . . . . . .
97
CHRISTOPH G. PAULUS Unentgeltlichkeit, Schenkung und die Dresdner Frauenkirche – Grundsatzfragen zur Entscheidung BGHZ 157, 178 . . . . . . . . .
119
REINHARD RICHARDI Lebensschutz durch anonyme Geburt? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
REINHARD SINGER Grundrechte im Privatrecht: Eingriffsverbote, Schutzgebote und Teilhaberechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XVI
Inhaltsverzeichnis
GERHARD WAGNER UND LINA LUYKEN Haftung für Robo Advice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
II. Arbeits- und Mitbestimmungsrecht FRANK BAYREUTHER Die Air Berlin Insolvenz, das Konsultationsverfahren und die Anzeige nach § 17 KSchG – ein (Kurz-)Lehrstück des deutschen Massenentlassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
BURKHARD BOEMKE (Organ-)Kontinuität im Betriebsverfassungsrecht – oder: der ewige Betriebsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191
MARTIN FRANZEN UND JOACHIM WUTTE Betriebsrentenanpassung: Berechnungsdurchgriff im faktischen Konzern nach geltendem Konzernhaftungsrecht . . . . . . . . . . . .
215
FELIX HARTMANN Contract Governance im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . .
231
MATTHIAS JACOBS UND HANNAH MODI Kein Schutz der Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG bei einer SE-Gründung durch Umwandlung . . . . . .
249
RÜDIGER KRAUSE CSR-Berichterstattung über Arbeitnehmerbelange zwischen heteronomen Marktimpulsen und autonomen Lernprozessen . . . .
269
THOMAS LOBINGER Freiheitlich verfasste Tarifpluralität als bleibende Aufgabe der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
289
ANJA MENGEL Digitale Betriebssteuerung und die betriebsverfassungsrechtlichen Begriffe für Betriebe und Betriebsteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
HARTMUT OETKER Mindestanteil von Frauen und Männern im Aufsichtsorgan paritätisch mitbestimmter börsennotierter SE – zugleich ein Beitrag zu den Schranken der Beteiligungsvereinbarung . . . . . . . . . . . . .
323
Inhaltsverzeichnis
XVII
HERMANN REICHOLD Betriebsvereinbarung als Vertragsersatz? Eine (auch ökonomische) Analyse der BAG-Rechtsprechung zur ablösenden Betriebsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343
KARL RIESENHUBER Die sogenannte „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ von Vereinbarungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen . . . . . . .
353
PETER SCHÜREN Tarifliche Boykottpflicht für Verleiher – ein grobes Beispiel für „virtual respresentation“ im tariflich geregelten Arbeitskampfrecht
373
GAABRIEL TAVITS Specifics of Collective Labour Relations in the Digital Economy: Case of Estonian Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
385
CHRISTOPH TEICHMANN Der „Zankapfel“ unternehmerische Mitbestimmung im Entstehungsprozess der Mobilitätsrichtlinie 2019 . . . . . . . . .
395
ARTUR WANDTKE Das Arbeitnehmerurheberrecht – eine Baugrube in der Urheberrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
413
MANFRED WEISS Arbeitnehmermitwirkung in der EU – quo vadis? . . . . . . . . . . .
425
ISABELLE WILDHABER UND SILVIO HÄNSENBERGER Employer’s Claims to Social Media Accounts Used for Business Purposes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
439
ROLAND WOLF UND KRISTINA HARRER-KOULIEV Geschäftsgeheimnisgesetz: Eine neue Herausforderung für das Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
457
III. Gesellschaftsrecht und Corporate Governance CHRISTIAN ARMBRÜSTER Wissenszurechnung in Kapitalgesellschaften, insbesondere bei der D&O-Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . .
473
XVIII
Inhaltsverzeichnis
GREGOR BACHMANN Why Is There No U.S. Code of Corporate Governance? – Some comparative observations on corporate governance regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
495
THEODOR BAUMS Bestellung eines Unternehmensmonitors im Ordnungswidrigkeitenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
521
WALTER BAYER UND SVEN MÖLLER Stellvertretung bei der verbandsrechtlichen Beschlussfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
535
MEINRAD DREHER Die Begründungspflicht für den Vorschlag zur Wahl von Mitgliedern des Aufsichtsrats nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG – ein Plädoyer de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . .
553
JENS EKKENGA Überschießende Regelungstendenzen bei Zwangsbesicherungen nach dem Realkautionsprinzip im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . .
563
LORENZ FASTRICH Treuepflicht der GmbH-Gesellschafter gegenüber Eigenbelangen „ihrer“ GmbH? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
579
ANDREAS MARTIN FLECKNER Das Gesellschaftsrecht in den Institutionen des Gaius . . . . . . . . .
603
HOLGER FLEISCHER Einpersonen-Kapitalgesellschaften: Ein dogmengeschichtlicher Rechtsvergleich . . . . . . . . . . . . . . .
623
AXEL FLESSNER Gesellschaftsrecht und internationaler Investitionsschutz . . . . . . .
643
TIM FLORSTEDT Der deutsche Rechtsrahmen für Loan-to-own-Strategien . . . . . . .
659
CARSTEN GERNER-BEUERLE Of Convergent Evolution and Legal Transplantation: The International Diffusion of the Duty of Care and the Business Judgment Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
679
Inhaltsverzeichnis
XIX
BARBARA GRUNEWALD Probleme bei der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB bei Kaufverträgen über Kommanditanteile . . . . . . . . . . . . . . . . . .
699
MATHIAS HABERSACK „Corporate Purpose“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
707
LUTZ HAERTLEIN Legalitätspflicht, Vorstandshaftung und rechtliche Unsicherheit . .
719
JOHANNES HAGER Wechsel vom Stakeholder zum Shareholder? . . . . . . . . . . . . . .
731
MARTIN HENSSLER Internationale Anwaltskonzerne – berechtigte und überholte Hürden im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
739
PETER HOMMELHOFF Unabhängige Aufsichtsratsmitglieder in der faktisch konzernierten Börsengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
759
KLAUS J. HOPT UND AXEL V. WERDER Aufseher im Aufsichtsrat – Governanceprobleme und Regulierungsansätze (am Beispiel des Enforcement der Rechnungslegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
775
SUSANNE KALSS Aufsichtsratspflicht und dessen Zusammensetzung in der österreichischen GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
799
JENS KOCH Konzerninterne Informations- und Mitwirkungspflichten im Lichte des Europarechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
817
MICHAEL KORT Organpflichten beim Whistleblowing: Paradigmenwechsel durch die Hinweisgeber-Richtlinie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
837
GERD KRIEGER Nochmals: Zum Anwendungsbereich des § 287 Abs. 3 AktG in der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA . . . . . . . . . . . . . . . . . .
857
XX
Inhaltsverzeichnis
HANNO MERKT Kapitalmarktrecht zur Abwehr verdeckten Beteiligungsaufbaus durch ausländische Investoren? – Der Fall Li Shufu / Daimler AG .
873
FLORIAN MÖSLEIN A Nexus of Smart Contracts? Gesellschaftsrechtspraxis und -theorie im Spiegel der Blockchain . . . . . . . . . . . . . . . . . .
889
HANS-FRIEDRICH MÜLLER Konzernhaftung im Lauterkeits- und Immaterialgüterrecht . . . . .
905
ANDREAS NELLE „Management Letter“ der GmbH-Geschäftsführer – Auskunftspflichten und Haftung der Geschäftsführung beim Verkauf von Geschäftsanteilen der GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
925
ULRICH NOACK Künstliche Intelligenz und die Unternehmensleitung . . . . . . . . .
947
MARKUS ROTH Neujustierung der deutschen Unternehmensverfassung nach der COVID-19-Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
963
CARSTEN SCHÄFER Innengesellschaft – die Zündapp unter den Gesellschaften . . . . . .
981
JAN-ERIK SCHIRMER Metaphern und Menschenrechtshaftung im Konzern . . . . . . . . .
997
KARSTEN SCHMIDT Zum Gesellschaftsrecht der Handelsvertreter-GmbH – Eine Skizze – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015 KLAUS ULRICH SCHMOLKE Whistleblowing im Konzern – Einige Gedanken zu den rechtlichen Rahmenbedingungen konzernweiter Hinweisgebersysteme . . . . . 1021 WOLFGANG SCHÖN Zur Grundfreiheitenbindung des Unionsgesetzgebers im Europäischen Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1039 CLAUDIA SCHUBERT Zur Begrenzung der Vergütung von Vorstandsmitgliedern . . . . . . 1065
Inhaltsverzeichnis
XXI
ULRICH SEIBERT Zukunftsüberlegungen zur Corporate Governance . . . . . . . . . .
1081
WOLFGANG SERVATIUS Bezugsrechtskapitalerhöhung „unter Wert“ . . . . . . . . . . . . . . .
1093
GERALD SPINDLER Der Konzern im Konzern im Aktien- und Mitbestimmungsrecht .
1111
EBERHARD VETTER Unternehmenskauf und Vertretung der AG durch den Aufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1129
MARTIN WEBER Das Verständnis des verständigen Anlegers . . . . . . . . . . . . . . .
1147
HARM PETER WESTERMANN Der Aufsichtsrat der AG – ein überfordertes Unternehmensorgan? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1163
HERBERT WIEDEMANN Abschied vom GmbH-Konzern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1185
JAAP WINTER Addressing the Crisis of the Modern Corporation: The Duty of Societal Responsibility of the Board . . . . . . . . . . .
1191
IV. Bilanzrecht JOACHIM SCHULZE-OSTERLOH Der Anspruch des stillen Gesellschafters gegen den Inhaber des Handelsgewerbes, den Jahresabschluss aufzustellen . . . . . . .
1215
THOMAS STAPPERFEND Die Entwicklung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1225
JAN THIESSEN Zoologisches Bilanzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1243
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Inhaltsverzeichnis
V. Wirtschaftsrecht und Marktordnung CHRISTOPH BRÖMMELMEYER The Solvency II System of Governance – Minimum Requirements for Key Functions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1275 MATTHIAS CASPER Der Berliner Kairos Kreis, die religiösen Sozialisten und ihr möglicher Einfluss auf unsere Wirtschaftsordnung – eine Skizze . . 1291 KATHARINA DE LA DURANTAYE Danger Mouse im Kraftwerk – Grauzonen zwischen Kunstfreiheit und Urheberrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1323 HERIBERT HIRTE UND INGA FROHMANN „Law in the Making“- am Beispiel von Sustainable Finance . . . . . 1335 KASPAR KROLOP Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsvergleichs in der Praxis beim No Creditor Worse Off-Vergleich im Abwicklungsregime für Banken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1351 KATJA LANGENBUCHER Financial Rewards for Whistleblowing and Motivation Crowding Theory – A Lesson from Psychology for Transposing EU Directive 2019/1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1379 EVA INÉS OBERGFELL IP durch KI? – Maschine vs. Mensch im Urheberrecht . . . . . . . . 1397 GIESELA RÜHL Die Haftung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen: Die französische Loi de vigilance als Vorbild für ein deutsches Wertschöpfungskettengesetz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1413 FRANZ JÜRGEN SÄCKER Solo-Selbständige und Wettbewerbsrecht – Überlegungen zur Anwendung von Art. 101 Abs. 3 AEUV – . . . . . . . . . . . . . . 1435
Inhaltsverzeichnis
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TOBIAS TRÖGER Marktdisziplin gegen Klimawandel – Veröffentlichungspflichten von Finanzmarktteilnehmern als Baustein der europäischen Strategie zur nachhaltigen Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . .
1447
GABRIELA V. WALLENBERG EU-Fusionskontrolle und außerwettbewerbliche Ziele . . . . . . . .
1461
DIRK ZETZSCHE und MIKO YEBOAH-SMITH Rechtsrahmen zur Finanzierung der Energie-, Digital- und Nachhaltigkeitswende? – Zu Infrastruktur-Investments unter der AIFM-RL und dem KAGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schriftenverzeichnis von CHRISTINE WINDBICHLER . . . . . . . . . . .
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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Grundfragen des Privatrechts und der Rechtswissenschaft
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Richard M. Buxbaum
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The Long Life of Property Through War and Revolution RICHARD M. BUXBAUM*
Christine Windbichler is able – as few are – to provide rigorous doctrinal and policy analysis by means of beautifully chosen examples.** I have been an envious fan of her work ever since reading her antitrust analysis of tying arrangements through the lens of the Oberammergau Passion Play.1 While it is foolish to try to emulate her, I have come upon a topic justifying the effort even if the legal lesson potentially to be learned from its version of the Passion Play is barely worth generalization. This generalization – if the following narrative can even claim one – is that property lasts longer than human life; is entitled to legal protection across generations of claimants; and receives almost instinctive respect from those in charge of the public purse from which such a claim would be satisfied, respect not always found when claims based on lost life, liberty, health or happiness are presented. Every generalization needs to be qualified, and in lieu of a Conclusion some of these are presented.
I. The First Claim, the Barrier to Its Satisfaction, and Its Satisfaction Friedrich Viktor Friedländer (as the name implies, of Jewish descent) was born in 1858 in Gleiwitz, Upper Silesia. In 1891 he married Milly Fuld – * This essay could not have been written without the vital and engaged assistance received from the Deutsche Bank Historisches Institut – from its Director, Prof. Dr. Manfred Pohl during my first visit in 1999; and from his successor, Dr. Martin Müller and his colleague Mr. Reinhard Frost on my return to this project a decade later. My thanks also to the staff of the Deutsche Bundesbank Archiv, who was kind enough not only to help identify but also to provide copies of the Protocols of the Inter-Agency Committee used in Part II of this contribution. I also thank Dr. jur. Sandra Schmieder (LLM Berkeley) for her exellent assistance during the initial research phase of this project, especially for her analysis and evaluation of the Deutsche Bank and Bundesbank materials discussed herein. ** Due to the Corona Crisis and the closure of libraries some references in the footnotes had to be omitted. 1 “Über die Passion des Wettbewerbs in Deutschland”, in: Beiträge zum Handels- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Fritz Rittner zum 70. Geburtstag (1991), 793 .
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hence Friedländer-Fuld; converted to the Lutheran faith in 1898; was raised to the Prussian lower nobility in 1906 – hence von Friedländer-Fuld; and was the undisputed “King of Coal” of that region. As his entry in the Deutsche Biographie puts it, he was recognized as one of the most brilliant and successful representatives of the economy of the Reich in the era before the First World War.2 He also was one of the richest men of the era; and the fact that in the vernacular German “Kohle” became and remains a synonym for wealth may well be traceable to him. It is the Friedländer-Fulds’ daughter, Marie-Anne, who is the subject of this essay. Her first marriage to John Power Bertram Ogilvy FreemanMitford, Fourth Baron Redesdale, in early 1914 in Berlin, was the event of the season, even abroad.3 It also ended almost immediately, after the bridegroom returned to England later that year and the bride successfully filed for divorce – one month before the guns of August roared.4 Her second marriage, in 1920, was to Richard von Kühlmann, whose distinguished service in the Foreign Office and equally distinguished but controversial role in the fierce debates over the sense of continuing to prosecute the war deserves and has received its own biographical notice.5 It also ended in divorce, after only three years. In that same year Marie-Anne converted to Judaism and married Baron Rudolf Maximilian von Goldschmidt-Rothschild, of the banking dynasty but himself a painter. It was the Baron’s second marriage and, like his first and her first two, also ended in divorce. But with that marriage and the name “Baroness Maria Anna von Goldschmidt-Rothschild”
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The full entry can be found at https://www.deutsche-biographie.de/sfz52978.html (all url references throughout were last accessed on 1 July 2020). 3 GERMAN COAL KING’S HEIRESS MARRIED; Fraulein von Friedländer-Fuld the Bride of the Hon. John Freeman-Mitford, New York Times, Jan, 7, 1914, p. 4. 4 “The New Times Correspondent learns that no secret is any longer made of the fact that divorce proceedings between the daughter of the German “Coal King,” Herr von Friedländer-Fuld, and her husband of six months, the Hon. John Freeman-Mitford, son of Lord Redesdale, are now imminent. Both sides have already placed their cases in the hands of counsel. The divorce is sought by the bride. “Mr. Freeman-Mitford returned to Berlin from England a few days ago, evidently for the purpose of defending the suit, which will, of course, be tried before the German courts. A ‘sensational divorce’ case from the point of view of the public is not likely, because it is usual on the request of either side for the court to decide to hold the proceedings in camera. Under such circumstances it is illegal for the newspapers to publish any account of the testimony or even to give the verdict.” New York Times, July 8, 1914 [story title and subtitles omitted], as copied in http:// theesotericcuriosa.blogspot.com/2013/07/uncle-jiksy-mitford-girls-rolling.html. 5 See the biographical Review Essay of von Kühlmann’s unpublished Memoirs, Walter Götz, “Die Erinnerungen des Staatssekretärs Richard von Kühlmann”, Munich 1952, available at https://www.zobodat.at/pdf/Sitz-Ber-Akad-Muenchen-phil-hist-Kl_1952_00010054.pdf.
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she appears in 1926 before the Permanent Court of International Justice and enters this account of property and its legal protection.6 Cases No. 6 and 7 of the Court’s Collection of Judgments, both titled “Case concerning certain German interests in Polish Upper Silesia”, involved the actual or planned expropriation by Poland of a number of major agricultural estates7. The Polish claim was based principally on Article 256 of the Versailles Treaty and the subsequent Convention of 1922 between Germany and Poland.8 These provisions permitted Poland to expropriate estates owned by the German Reich without compensation under specified conditions. Poland claimed this provision, obviously referring to state property generally speaking, was the authority for its reading of Article 5 of the German-Polish Convention as justifying the expropriation of these large agricultural states. The Court disagreed: “…[T]he idea which clearly emerges from Head III of the Geneva Convention9 is…that expropriation, in the cases and under the conditions mentioned therein, is the only measure not allowed by generally accepted international law which may be taken in regard to German private property in Polish Upper Silesia.” “…[T]he Court, though in no way denying that the liquidation regime established by the Treaty of Versailles and the actual measures of expropriation permitted by [Title III of the German-Polish Convention] apply to German private property as such, cannot attach to the fact that Articles 2 and 5 of the 6 Her father had died in 1917 and his testament left his properties to her, in a form more particularly described below. 7 Series A – No. 7, Collection of Judgments – Publications of the Permanent Court of International Justice (Leyden 1926). The companion case, No. 6 in the series, involved jurisdictional issues; but to the extent it bears on the road to the merits it also is cited below. The larger story of the establishment and fate of these estates – as much political as legal and spanning both an earlier period and that of the decade following the issuance of these judgments and running into the fraught Polish relations with the Third Reich – is thoroughly explored in I Giuseppe Motta, Less Than Nations (2003), especially at 295–325. 8 Article 256:“Powers to which German territory is ceded shall acquire all property and possessions situated therein belonging to the German Empire or to the German States, and the value of such acquisitions shall be fixed by the Reparation Commission, and paid by the State acquiring the territory to the Reparation Commission for the credit of the German Government on account of the sums due for reparation. “For the purposes of this Article the property and possessions of the German Empire and States shall be deemed to include all the property of the Crown, the Empire or the States, and the private property of the former German Emperor and other Royal personages.” For an English translation of the relevant provisions of the 1922 Agreement, generally known as the “Geneva Convention of 1922”, see Georges Kaeckenbeeck, The International Experiment of Upper Silesia (1942). For a useful recent evaluation of the Upper Silesia Mandate generally, see Michael Erpelding, “Local International Adjudication: The Groundbreaking ‘Experiment’ of the Arbitral Tribunal for Upper Silesia” in same, B. Hess & H. Ruiz Fabri, eds., Peace Through Law: The Versailles Peace Treaty and Dispute Settlement After World War I (2019), 277. 9 I.e., Title III of the cited German-Polish Convention (concerning Expropriation].
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law of July 14th, 1920, apply to a certain class of property, no matter what the nationality of the owners may be, [or] the importance and effect which are attributed to that fact by Poland. Even if…the law applies equally to Polish and German nationals, it would by no means follow that the abrogation of private rights effected by it in respect of German nationals would not be contrary to [Title III]….Expropriation without compensation is certainly contrary to [Title III]; and a measure prohibited by the Convention cannot become lawful under this instrument by reason of the fact that the State applies it to its own nationals.”10
Political arguments about the situation, which was unacceptable to the Polish government then and later, continued even into the era of Polish accommodation to the new Third Reich,11 but with this Opinion the legal bases of those discussions ended. In any event, all of this review of the legal framework is academic obiter dicta, since in the von Goldschmidt-Rothschild case the Polish Government officially repealed the expropriation order, leading the Court to declare that particular dispute moot. Mooted or not, however, the case provided the background for the far more complicated sequel that arose after the Second World War.
II. The Second Claim, the Barrier to Its Satisfaction, and Its Satisfaction Only in 1940 did Baroness von Goldschmidt-Rothschild and her children manage to emigrate. She had become a French subject, and their voyage to safety took them from France via Spain and Portugal first to Mexico, and then on to the United States, where she settled in Beverly Hills, California. She was the primary heiress12 of her father’s estate; in the present context the inheritor of almost all of the membership interests – Kuxe13 – of two 10 Ibid. Note how this statement resonates with the later PCIJ Judgment in the “Minority Schools in Albania, Advisory Opinion, 1935 P.C.I.J. (ser. A/B) No. 64, in which the fact that all private schools whether Greek or Albanian were prohibited did not matter since the only private schools were Greek. Here the only large agricultural estates (with the exception of Prince Radziwill’s] were German. 11 See Motta, supra n. 7. 12 The “Vorerbin” (provisional heiress), a complex legal term denoting full dispositive power over the inheritance, subject to a duty not to diminish the value of the inherited property unduly to the detriment of the successor heir/ess. For U.S. comparative purposes a bequest subject to a power of appointment may be a useful though imprecise analogy. In the Friedländer-Fuld family context, it seems clear that the testator’s widow (who lived until 1943, following her husband’s death in 1917) would have been the beneficiary of another disposition and did not need to be designated the Vorerbin. 13 The Kux was a type of mining-company share ownership with the unique feature of being subject to further calls on its owners for payment as the mine was further developed; see Richard Buxbaum, “The Provenance of No-Par Stock: A Comparative History”, in
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Upper Silesian coal mines, Charlotte and Rybnik. In 1931 and 1932 she had taken up substantial credits from Swiss banks against the security of these ownership interests. She later also agreed personally to become jointly liable on the debts. In 1941, after her emigration, these interests were subject to the Aryanization decrees of the Third Reich and “purchased” by the Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten “Hermann Göring”, an Imperium in Imperio, (and itself only one of three sectoral Göring Reichswerke). This sectoral entity owned 17 sub-sectoral affiliated-enterprise systems (i.e., Konzerne). In the third of these we find the “Bergwerksverwaltung Oberschlesien GmbH, Reichswerke ‘Hermann Göring’, Kattowitz, with four subsidiaries; one of these, “Erzbergbau Ost GmbH, Kattowitz,” seems to be entity involved in this narrative.14 In the purchase agreement [sic] the purchasing entity accepted the obligation of satisfying any remaining claims of the Swiss creditor banks and to hold the seller harmless in this regard. Soon after World War II, in 1952, the Swiss bank creditors pressed Baroness von Goldschmidt-Rothschild to satisfy their claims, bringing an action in a Swiss court to pursue the matter.15 This dispute remaining unresolved, she filed a claim in a Hamburg court in 1956 against the Federal Republic and the AG [stock corporation] für Berg- und Hüttenbetriebe, successor to the mentioned sectoral Reichswerke Hermann Göring. Two issues were involved: one for the value of the properties; the other for relief from the Swiss banking claims on the guarantees (claims still pending before the Swiss court). The corporate defendant took the expectable position that only the German Reich was responsible; that its predecessor had merely acted as a trustee-agent for the Reich.16 In the context of this paper’s focus on public international law, however, it is, rather, the position of the Federal Republic that becomes interesting. That position was formulated by the German Inter-Agency Committee, a public-and private sector group chaired by the redoubtable Josef Hermann Abs,17 the banker and head of the German negotiating team involved in the Matthias Reimann, ed., The Reception of Continental Ideas in the Common Law World 1820–1920 (1993) 99, 107 ff. 14 See August Meyer, Das Syndikat – Reichswerke “Hermann Göring” (1986) 203ff (207), a listing based on 1942 records. 15 I have not found any primary record of this action, but the German correspondence reviewed below speaks to this filing and its pendency. 16 A nice question, given it is beyond doubt that Göring personally was the moving force behind the 1941 action. 17 For his central role in this period (and later) see Lothar Gall, Der Bankier Hermann Josef Abs: eine Biographie (2004) and in a more immediate and personal sense, Manfred Pohl, Hermann Josef Abs, Der Bankier – Eine Bildbiographie (1981). Where not otherwise indicated, all archival references cited below are from the Abs Papers of the Deutsche Bank Historical Institute, supra note *.
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formulation of the 1953 International Convention known as the London Debt Agreement.18 The Committee, established after LDA came into force, was tasked with consideration of the numerous borderline issues to which the Convention might be relevant. The path to discussion of that position begins with the LDA itself. In very rough terms, it dealt with two categories of claims against the Federal Republic: claims based on prewar bonds issued by the Reich and by subordinate governmental as well as private-sector debtors, as well as foreign (mainly private-sector credit extensions to these bodies on the one hand; and Western Allied governmental claims based on postwar U.S. and British support of the devastated West German economy on the other.19 Both categories of obligations met their limits in the ability of the German government and economy to meet these obligations. The principal ceiling agreed to by the Allied governments was the famous or notorious Article 5, which dealt with the Federal Republic’s obligation to pay reparations over and above the obligations it accepted in the Agreement. Article Five provided a moratorium of indefinite duration for three types of these claims; the here applicable subsection (2) is short enough to be quoted in full: “Consideration of claims arising out of the second World War by countries which were at war with or were occupied by Germany during that war, and by nationals of such countries, against the Reich and agencies of the Reich…shall be deferred until the final settlement of the problem of reparations.”
This moratorium spawned considerable litigation before German courts and thorough academic evaluation20. For present purposes, however, a lessstudied subset of issues is relevant: the causal connection inherent in the 18
Agreement on German External Debts, Feb. 27, 1953, 333 U.N.T.S. 3; see its statutory incorporation, 1953 BGBl II, at 1200. 19 Whether there were French payments of this sort, and their amount if so, was a separate question. 20 In particular, see the exhaustive history, based on primary sources, of Ursula Rombeck-Jaschinski, Das Londoner Schuldenabkommen (2005). An excellent analysis of the economic and financial context and consequences of the LDA, in particular to the Federal Republic, is that of Timothy Guinnane, “Financial ‘Vergangenheitsbewältigung’: The 1953 London Debt Agreement”, 40 Bankhistorisches Archiv 75 (2014). A portion of its introductory Abstract is worth quoting: “The London deal reflects a subtle and responsible understanding of the problems associated with the reparations and debt crises of the 1920s and 1930s, as well as fears about the moral hazard problems that would arise with making any part of the Agreement contingent on events Germany could influence. The generous terms offered to Germany reflected its central role in the European economy as well as U.S. foreign policy goals in the emerging Cold War.” Id. at 75. For a brief legal history of the path to and negotiations over the LDA, with an emphasis on the formulation of the Article 5(2) moratorium provision as it bore on the obligations of the German private-enterprise sector, see Richard Buxbaum, “The London Debt Agreement of 1953 and Its Consequences”, in Balancing of Interests – Liber Amicorum Peter Hay (2005) 55.
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phrase, “claims arising out of” the war. It is this phrase that turned out to be crucial to the determination of the Baroness’ claim. Some borderline situations had been discussed during various phases of the negotiations. The most interesting of these, in my opinion, was the case of German (and in particular, Catholic Church-related) bonds issued between 1925 and 1930, often denominated in Dutch gulden and distributed both through typical financial underwriting channels and informal Dutch Catholic “parish to parish” channels to private purchasers.21 During the wartime occupation period, German authorities forced22 the presentation of these instruments for redemption at arbitrary exchange rates so low as to constitute de facto expropriation. This course of events led the Dutch to classify these bonds as belonging to the same category as those of other prewar private-sector bondholders. In rebuttal, the German negotiators pointed out that these forced redemptions could only have occurred because of the German status as occupiers – and thus only during the war. This argument was accepted by their Allied counterparts, who consequently classified the Dutch claim as a species of reparations, subject to the cited moratorium.23 This rejection of the Dutch argument led that country’s government to refuse participation in the Convention, with the paradoxical result that its prewar creditors (mostly bondholders) could not reap the benefits of the settlement. In consequence, a fair number of claims originally held by Dutch citizens, ineligible for consideration because of their government’s refusal to ratify the LDA, were assigned to Swiss creditors of these claimants and presented by the Swiss assignees to the Committee, with essentially inconclusive results. These and similar cases resulted in numerous discussions both by this Committee and by a similar body established by the new Central Bank, the Bundesbank (successor to the Reichsbank); but the standoff was resolved only with the bilateral Dutch-German Treaty of April 8, 1960, one of the 21 See Richard Buxbaum, “Sovereign Debtors Before Greece: The Case of Germany”, 65 Kansas Law Review 59 (2016), at 91 ff. 22 I.e., under threat of criminal prosecution. 23 This rendered a second argument moot. During the first years of the Third Reich, when all German bonds had defaulted on their interest-payment obligations, the German government offered to exchange hard-currency bonds for others paying interest in Reichsmark only. Those rejecting the offer were left with no current prospects of interest payments let alone repayment of principal otherwise immediately due under the terms of the issuance contracts. The LDA treated both classes of bondholders as the subjects of a “forced conversion” even if as a result, private-sector issuers faced the prospect, later mitigated by a postwar government guarantee, of paying twice. A special treaty exemption, however, rendered this treatment inapplicable to the bonds issued by Catholic Church organisations. See Article 23(5) of Annex IV of the LDA, specifically exempting Catholic Church bonds from the category of “forced conversions” the article applied to other German bonds held by Dutch claimants; see Buxbaum, supra n. 21, at 96.
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14 such entered into between the Federal Republic and Western Allies (plus Sweden and Switzerland) settling a broad range of outstanding claims loosely classified as reparations-related. Because of the lingering effects of the Dutch exclusion from the benefits of the LDA generally and from the “forced conversion” benefits for the Catholic bondholders specifically, those claims were more or less hidden in the treaty, a multi-part agreement dealing with a number of items such border adjustments and settlement of financial accounts.24 A major second category is intriguing because it reveals the blurred line between life and property, a line blurred in part by class distinctions. It concerns the savings accounts of the forced laborers and prisoners of war brought to wartime Germany by the millions, most of whose wages25 were paid into blocked accounts but evidenced by the passbooks often held at least by the workers (some POWs, if “farmed out” to locations in the larger economy, may also have held such blocked savings accounts). Efforts of postwar forced-labor organizations and by the Western governments, especially and not surprisingly by the French, to claim satisfaction from the Federal Republic were rejected by its courts and then brought before the Inter-Agency Committee, resulting in more than four years of tortuous discussions and negotiations that bore almost no relation to the relatively modest sums actually involved. That saga began in January 195426 with an Interagency Committee review of “outstanding wage accounts of prisoners of war, foreign laborers, etc.”27 Some provisional regional “central banks” already had informed the provisional Central Bank (Bank deutscher Länder), predecessor of the later Bundesbank, of the existence and amounts standing in these accounts. In the case of POWs, art. 28 of the 1929 Geneva Convention had provided one guideline: There was no direct employment relationship between the pris24 Vol. 509 U.N.T.S. 194. The full story, only referenced here, is told in Feaux de la Croix, „Staatsvertragliche Ergänzungen der Entschädigung“, in Der Werdegang des Entschädigungsrecht, (Fed.Min. Fin. & W. Schwarz, eds. 1985) at 231 ff. 25 At pay scales defined by country of origin and religion; in descending order of amounts paid to Western, Eastern (“Ostarbeiter”), Polish and Jewish laborers. One bizarre regulation reflects the end stage vividly enough to be worth noting. In a Regulation of March 13, 1945 (1945 RGBl II, April 7, 1945), the Labor Czar Fritz Sauckel decreed that in light of the excellent productivity and morale of the Ostarbeiter their wages, tax obligations and social-insurance benefits should be set from March 31 on at the level of other (i.e., Western) laborers. 26 In other words, well more than a year before the transfer of sovereignty to the Federal Republic became effective in May of 1955. The Minutes of this first meeting indirectly reveal that the “Allies” had expressed the wish to see this problem resolved and payments made to the owners of these (blocked) savings accounts. And from then on, the Allied High Commission became directly engaged in the further discussions. 27 See the documentation of these sessions in Bundesbank Archiv, Section 49/69, Files 9566–3688.
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oner of war and the particular employer (private or municipal firm); therefore, the POWs had no wage claim against these wartime employers. Furthermore, it was still unclear to what extent the latter had made payments directly into individual laborers’ accounts or at least, without such identification, into a general POW camp account. The next step in the Committee’s analysis was to clarify – if that is the appropriate term – the fairly obvious point that these postwar wage claims at the time of their creation could not have been brought at the time they were “earned” against the individual firms,28 but only against the detention camps or against the Reich (i.e., the Third Reich) itself. And thus, the LDA now would come into play; but not the art. 5 moratorium. Rather, and assuming it would be politic to use the LDA at all, the claims would fall under its art. 7, concerning the settlement of certain categories of claims: “The Federal Republic of Germany will authorise payment of obligations outstanding at the date of the entry into force of the present Agreement, and authorise transfer within a reasonable time in respect of such obligations where appropriate in the light of the relevant provisions of the present Agreement and the Annexes thereto, provided that such obligations (a) are non-contractual pecuniary obligations which originated before 8th May, 1945, and the amount of which was not fixed and due before that date.”
Some of these savings-book accounts, however, belonged to French civilian laborers, who initially had been recruited through an originally voluntary program arranged with the Vichy Regime; these did not meet the art. 7 criteria, but would fall within the ambit of a separate process set out in art. 28 of Annex Four of the LDA, which governed wages, salaries and pensions based on employment: “(1) The creditor shall be entitled to demand from the debtor payment to a foreign country of the amount owed in five equal yearly instalments, starting on 1st January, 1953….”
“From the debtor”, in the Committee’s view, was a term of art and meant that not the Federal Republic but the particular employer would be responsible for these payments. So far as POW claims were concerned, however, the responsibility of the Federal Republic to satisfy them was clear; this was resolved at the very first meeting of the Committee. But that was only the start, not the end of the matter. The first problem blocking expedited payments was the suggested procedure for presentation of both types of claims. Paraphrased, the Committee 28 “Firms” implies civilian not military laborers, but it seems clear that even POWs were at times “farmed out” to employers, presumably large farms. While most forced laborers at farms (and even in households – mothers with three or more chlldren under a certain age were “entitled” to domestic help ) were in the civilian laborer category, at least large farmsteads did have POW laborers on the premises.
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“held” that neither the military nor civilian departments of the Allied governments could present and demand payment of the claims in their own right. Only the depositary banks could do so, and they only as trustees (Treuhänder). It therefore was for the individual passbook holder to present and prove the claim, though granting a power of attorney to state or other organizations should be permitted.29 To mitigate the burdens implicit in this approach, the Committee suggested that the passbook-holder lists held by the Hamburg and Düsseldorf provisional “central banks”, as well as by the Rastatt Volksbank in the French Zone of Occupation should be made available to the affected states – which in the main meant France.30 These could then notify the holders [but at what current addresses a decade later?] or be used by those mentioned agencies and organizations already granted specific powers of attorney by the former. A few other restrictions were put into place; for example, that German firms involved with either type of workforce did not at this time already have to transfer funds to the “collective accounts” – Sammelkonten – (i.e., the general accounts that had been set up for the entire, typically national cohort of these laborers at each firm). Only current corrections to these lists would be required. Finally, the states representing the applicants were to have no right to any unclaimed amounts; the possibility of turning these over to an appropriate international organization was suggested, but only on an ex gratia basis. The obvious objections to these cumbersome and inadequate procedures were not long in coming. Less than one month later the first discussions with representatives of the three Western Allies took place, and quickly descended into a morass of details that would try the patience of any reader. Especially the French representative argued against the proposed approach: The affected individuals had now waited almost a decade to receive their funds; an expeditious resolution was a matter of considerable political and social significance. The German side earlier had made clear that the only issue needing clarification was the avoidance of double payments, an issue for which the Allies would provide an appropriate guarantee. In sum, the only sensible
29 The civilian claims, however, received a first warning shot across the bow: “assuming such claims could be brought”. This has to be understood as a placeholder for the possible applicability of the art. 5 moratorium. 30 The Agency proposal did make clear that because the repayments were to be paid in German money, the citizenship of the claimant was irrelevant, an exception to the territorial limitations expressed in art. 10 of the LDA. The only limitation on that exception was a version of the “Hallstein Doctrine”; namely, that no payments would be made to subjects of states with which the Federal Republic did not have a diplomatic relationship (unless the federal Executive specifically permitted the transfers, such as to the Soviet Union itself and post-1949 Yugoslavia – but, again, that is another story).
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resolution was to make the payments now to the respective governments, and they would take care of the transfers to the individual beneficiaries. In response the German team brandished their theretofore sheathed sword: Since the states purporting to represent their former POWs could make their claims only against the Federal Republic, that would qualify as a type of reparations within the moratorium of art. 5(2) of the LDA.31 The German proposal therefore was a concession, not an obligation, and should be accepted as such. More arcane details followed, but the basic tenor was clear. Rather than tracing the many ensuing discussions over the reach of the mentioned special provisions of the LDA, of the possibility that the waivers contained in the Allied-Italian Peace Treaty of 1947 applied to bar the passbook-wage claims of Italian military and civilian laborers, and of the constant disagreements concerning the scope of waiver provisions against possible further payments32 – rather than all these exhaustive details, one single year-long internal review of a private-sector firm’s obligations to a Polish forced laborer will serve both to exemplify and to conclude this saga. In January of 1957 the Dortmunder Bergbau AG requested an opinion from the Finance Ministry whether the claim of a Polish forced laborer could be rejected on the basis of LDA art. 5(2) or required compensation under its Annex 4 art. 1 par. 2 item n. 7 (“wage claims”). Months of interagency correspondence ensued, until the reply paraphrased here emanated from the Ministry in August. First, Dortmunder Bergbau needed to determine whether it fit the art. 5(2) definition in that it had used the claimant’s labor as an “agency of the Reich”. However, this conclusion could not be reached simply on the basis of the private-law service or output agreements [zivilrechtliche Dienstoder Werkverträge] it had concluded with the Reich. Further, the fact that the worker was housed in a guarded camp was not in and of itself sufficient to bring art. 5(2) into play. On the other hand, it also needed to be clarified [by whom was left unspecified] whether the seizure of the worker in Poland and his compulsory placement in a German camp would justify the assumption that no genuine employment relationship had existed, but only a rela-
31 At least by implication, that also would been true of Allied- state efforts to press the former “employers” of civilian workers if these firms chose not to enter into voluntary negotiations to settle the passbook claims. 32 Important because the number of confirmed claims and the sums sought in them were not determinable; thus either the German government would have to replenish the sums agreed on or the other governments would have to accept proportionate reductions in the “certified” amounts. That would be the case if the number and amount of these claims exceeded the projections on which the negotiations were based. The three mentioned banks did have records of the deposited (and blocked) payments, but these did not necessarily reflect all, especially civilian workers’, claims.
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tionship analogous to that of a POW; in which case the moratorium would apply. To paraphrase the response: ‘In that case there would have been no labor contract between you; instead, it would be a case of the Reich having put the worker at your disposition, under imposed conditions such as paying him a prescribed amount, in order to put your company in a position to act on behalf/by order of the Reich.’ “In checking whether a contractual relationship existed, extreme care should be used, since recognition of wage claims probably would immediately lead to numerous such demands and thus confront not only you but presumably other enterprises with significant claims of the same type.”
Dortmunder Bergbrau provided the somewhat hapless answer that while it had paid only RM 36 per month instead of the RM 170 normally paid Polish laborers, in the latter case that was before deductions for union dues [sic], room and board. The relevant files, which were organized by the particular ministry that had created the memorandum or initiated the discussion, end at this point. These archives (the “Abs Archives” of the Deutsche Bank) provide no further information about this matter. It may be that the payments were deemed satisfactory; it may be that simple exhaustion had set in for the Allies; but it also may be that the prospect of indirectly subsuming these issues in the future Bilateral Treaty negotiations already foreshadowed by 1957 and in fact begun by 1959 with 14 Allied and Neutral countries33 was the key. And with that the story returns to the other coalmines and the core of the second act involving the Baroness von Goldschmidt-Rothschild. In July of 1958 the action laid before the Hamburg court two years earlier was brought to the attention of the Federal Minister of Finance (which represented the government in the matter) by Dr. Franz Ludwig, a Lübeck attorney and notary representing the Baroness in that proceeding. His letter focused on the operation of the LDA moratorium and requested a statement of the Ministry’s position. Presumably this was an element of his litigation strategy; in any event it went unanswered, although a similar note sent to the AG für Berg- und Hüttenbetriebe provoked the expected response that its predecessor, the Reichswerke AG “Hermann Göring Werke” had acted only as an agency – literally, a trustee (Treuhänder) – of the Reich and bore no responsibility for the transaction. The next stage in the effort to break this impasse was the presentation three months later of a lengthy and thorough disquisition on all aspects of the LDA that might bear on the matter by the plaintiff’s expert, a Hamburg attorney by the name of Martin Luther. And this formal Rechtsgutachten, 33
In the case of the Franco-German Treaty in 1960.
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an opinion of some 35 pages addressed to the Ministry of Finance, did receive the desired attention from the Inter-Agency Committee. The Finance Ministry sent the document, along with its own provisional view of the legal aspects, to its institutional colleagues: the Foreign Office, the Economics Ministry, the Ministry of Justice, the Central Bank; and last but most certainly not least, to the Committee’s informal Chair, Abs. The exact sequence of events is provided in the Expert Opinion, and as it was not challenged on the facts by its recipients I use it here. The two mines, Charlotte and Rybnik, being Polish entities until September 1939, were subject to the annual German-Swiss Credit Agreement (Deutsches Kreditabkommen = DKA),34 which in its 1941 version allowed for the possibility of the German Reich taking over the proceeds of loans earlier made to debtors whose seat was in Eastern Upper Silesia, which had been absorbed into the Reich.35 The Hermann Göring Werke, the “purchaser” of the mines, took on that repayment obligation. This, according to Luther’s Opinion, occurred in the form of a Decision (Beschluss) of the Hermann Göring Werke of December 9, 1941. Repayment of these credits was deferred pursuant to each annually renewed Swiss-German Credit Agreement. Only in 1945, with the expiration of the last Agreement of 1944, was the repayment of the credits due. That this did not occur then goes without saying. And as mentioned, not long thereafter the Swiss Banks pressed the Baroness for repayment. Luther’s Opinion takes the position (again, uncontested) that the 1941 arrangement with the Swiss banks under the 1941 DKA did not enure to the benefit of the Baroness. In general legal terms I would say the “holdharmless” phrasing in that purchase agreement amounted to an attempted novation, but one that would have no legal effect on the rights of the creditor against the primary joint debtor in the absence of a specific declaration to the contrary. Basically, I read the Luther Opinion as taking the same position.36 The Opinion went on, as expected, to demonstrate why the LDA moratorium did not affect this claim. I spare the reader some of the more arcane details, in particular the effort, rejected by the Inter-Agenc y Committee, to read Appendix VIII of the LDA as overriding the art. 5(2) moratorium; as
34 This is the concept later known as the “Standstill Agreements” the Reich also signed annually with the United Kingdom (until 1940) and with the United States (until 1942). These are a story unto themselves, but not one that can be pursued within the limits of this presentation. Their consequences were treated in the complex Annex III of the LDA; see UNTS No. 4764 at 150ff (1959). 35 “Eingegliedert” – a legal term of art; literally, “made a member of”. 36 The German passage in the Opinion reads: “…beim Fehlen besonderer Stundungsvereinbarungen zwischen dem schweizerischen Bankverein und der Klägerin….”
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will be clear from the following, that in any event was moot given the outcome of the Committee’s deliberations. The first internal reaction came from the addressee of the Opinion, the Ministry of Finance. Its Memorandum, submitted to the other members of the Inter-Agency Committee provisionally opined that the moratorium did apply; presumably at least in part because that was the position the Federal Republic had taken in the Swiss litigation, into which it had been summoned by a version of a cross-complaint the Baroness had submitted there. The Memorandum at first proceeds in straightforward fashion. The German Enemy Property Administrator (Feindsvermögensverwalter) took over the property by means of the January 3, 1941 contract; at that time the Baroness was a French subject; that sufficed to trigger the moratorium. But it then takes a curious turn. It states that the only way the moratorium could not apply would be if the 1941 transaction had been a “purely commercial transaction.” And it then rejects this possibility on the basis of the claimant’s religion: “[The commercial exception cannot apply;] the purchase of the shares occurred, rather, because the two mines were of Jewish ownership…and the Baroness also is a Jew. The records repeatedly refer to the fact that the purchase had to be carried out as an Aryanization measure.”
The Ministry’s analysis even went on to point out that only Jewish and Polish-owned properties were sold, whereas “Aryan German” property in the region was returned to its former owners. Nevertheless, it at least provisionally took the position that the Purchase Agreement itself could fall under the moratorium; its doubts were limited to the function of the obligation of the purchaser to take care of the Swiss loan – an obligation that in 1941 might well have seemed trivial given the annually renewed DKAdeference granted German debtors. In the end the Ministry requested the views of its official colleagues, and that included the views of Abs. He left aside the Finance Ministry’s questions concerning interpretative rules that might or might not override the moratorium, and limited his response to the art. 5(2) issue. It is worth quoting in full, as in fact it ended any possibility of denying relief to the claimant: “The justification for applying art. V par. 2, provided in the letter [of the Ministry] seems self-contradictory to me. There it is pointed out that the sale of the mining companies to the Hermann Göring Werke was an Aryanization measure. If I take this starting point as correct, then I cannot understand how [art. 5(2) could apply here. This provision relates to all claims arising out of the 2nd World War; thus assuming a causal relation between the 2nd World War and the creation of the applicable claim. It may be true that during the course of the war the Aryanization measures were intensified. But there can be no doubt that [these measures] were not a consequence of the war. It does not take detailed demonstration [to recognize that] Aryanization measures existed
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long before the war began and that the war merely provided a welcome ground for their intensification. Thus, if the view of the Federal Ministry of Finance is correct, that the sale was an Aryanization measure, then in my opinion it has been conclusively demonstrated that [art. 5(2)] is not applicable. The reference that the complainant at that time [1941] already was a French citizen should have no significance in this connection.”
Abs closes by expressing his view that the current discussion of a settlement would be the most advantageous solution for the German side. And so it came to be. The clarity and power of this response to the ministerial effort to bring the moratorium into play brooked no counterargument.
III. In lieu of a conclusion, a brief comment on the distinction between the claims for redress of wrongful death or injury and those for damages to property found in a USGerman treaty of this century may suffice. The German statute enacting the Agreement concerning the Foundation “Remembrance, Responsibility and the Future”37 provides that only forced laborers who survived until 1999 (when the treaty negotiations were completed), or if deceased thereafter their surviving spouses and children or grandchildren, were eligible to make any claim for compensation. If a property seizure was the wrong, however, any direct descendants of the original victims even of those who died before 1999, was eligible to present that claim. Of course, nuances always exist. Had that qualification not been made, not 800,000 but approximately eight million forced-labor claims would have been possible. The already inadequate amounts available for distribution were set by the German mediator Otto Graf Lambsdorff and the Amercian Stuart Eizenstat, who had been asked to provide their good offices by counsel for both sides after these were unable to agree on a settlement amount after much rancorous debate.38 They were set at roughly the levels that decades earlier had been set first by the Allies and then, after the Transfer-ofSovereignty Agreement, adopted by the German government in its Compensation Act – the level of payments which at that time was provided those who survived the wartime concentration and extermination camps. The compensation funds of 2000 having been fixed at roughly this benchmark, reduction of individual compensation to one-tenth of that already meager amount, in order to accommodate ten times the number of labor claims, was politically a non-starter. Even as it was, because of the number of claims that did come in, the national organizations charged with administering the 37 Gesetz zur Errichtung einer Stiftung “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft”, August 2, 2000, BGBL II (2000) p. 35. 38 See Stuart Eizenstat, Imperfect Justice (2005).
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payment system had to engage in economic triage: forced laborers in industry receiving the highest per capita payment, agricultural laborers very little, and domestic household laborers nothing. The amounts the Baroness claimed were in the thousands, not millions. That could be taken as a sufficient rebuttal of the property-life argument, thus making the long-lived nature of property a moot point. However, where the POW and civilian forced-labor savings accounts fit – their aggregate was in the low millions of D-Marks, not in the five billion Euro range of the 2000 statute – the reader may decide.
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Judges and Legislators as Comparative Lawyers Gerhard Dannemann
Judges and Legislators as Comparative Lawyers GERHARD DANNEMANN
The present inquiry into judges and legislators as comparative lawyers begins with an encounter in a small town called Zabid, located in Yemen. It was once was a city of wealth and learning, but its fortunes changed. When the German traveller Carsten Niebuhr visited Zabid in 1763, he noticed that the city was only “a shadow of its former grandeur”.1 I myself visited Zabid in 1988, just before I would pass my final examinations as a legal trainee. Many buildings had collapsed. Many residents were living in the ruins of a city the former glory of which was barely perceptible. It was a sad and gloomy sight. Waiting at a restaurant for a bus to take us away, my (then future) wife and I noticed two well-dressed locals. One of them, after learning that my wife spoke good Arabic, struck up a conversation and became interested and rather lively when he heard that I was a lawyer. It turned out that he was the local qadi, i.e. judge. He presented me with a legal problem. Assume that a Yemeni man leaves for Saudi-Arabia to take on work. His pregnant wife remains in Yemen where she gives birth. She becomes pregnant again before her husband returns from Saudi-Arabia. “So”, the qadi asked me, “in the eyes of the law, who is the father if the husband decides to treat this second child as his own?” I noticed that the qadi was waiting eagerly until my wife had eventually translated my account of German law. Then he exclaimed “Tamam!” (Very good!) He clearly also thought that husband should be the father in the eyes of the law, even though he could not possibly be the biological father. We had the impression that he had just been involved in such a case, and that furthermore he had given, or was about to give, the same ruling. We also thought that the excitement about my response related less to the similarity of those rules in general, but more to the confirmation he had just received for the legal policy which was behind the German and presumably 1
Carsten Niebuhr Entdeckungen im Orient. Reise nach Arabien und in anderen Ländern 1761–1767, ed. by Robert and Evamaria Grün/K. Thienemann 1983, 72 („nur noch ein Schatten ihrer einstigen Größe“). I am grateful to Sarah Meyer for her careful proofreading and her help with the footnotes.
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the Yemeni rule. Namely, if the husband decides to accept this second child as his own in the interest of the family, then the law should not interfere.2 This anecdote shows the commonality which can exist between law and lawyers from different systems, traditions, professions and backgrounds – between a man in his fifties and another in his twenties, a presumably well respected judge and an unknown legal trainee, between religious law and secular law, between a Yemeni and a German, the local and the urban. It also shows that a comparative legal discussion involving a judge can occur at what may look like a highly unlikely meeting place. The following part A will explore briefly how legislators use comparative law. Part B distinguishes different situations which may or may not trigger judicial use of comparative law according to whether or not such use is envisaged by the legislator. Part C then explores different purposes of comparative enquiries undertaken by judges and legislators, while Part D discusses potential pitfalls of such enquiries. Part E presents brief conclusions.
I. Legislators as comparative lawyers There is a long history of legislators looking abroad when drafting rules. Smits notes that even the Codex Hammurabi, written some 4,800 years ago, is presumed to be based on contemporary regional laws. Likewise, the early Roman legislation of the Twelve Tables “was influenced by Roman visits to foreign (in particular Greek) cities”.3 1. European 19th and 20th century codifications The great European codifications of the 19th and 20th century involved extensive comparative enquiries. Within civil law, both the French Civil Code of 1804 and the German Civil Code of 1900 were based on comparative enquiries, and both were highly influential on codification throughout the world.4 French law spread widely through colonisation, but also by way of persuasion, as French civil law influenced Spanish, Portuguese and Latin American civil law. The German Civil Code influenced i.a. Greek and Japanese law. Where law spreads by way of persuasion, the result is rarely a simple copy. Legislators can be selective about what they want to adopt. 2 Note that German law has changed since, and that the mother, another potential father and the child can each challenge the husband’s paternity under § 1600 BGB. 3 Jan Smits Comparative Law and its Influence on National Legal Systems in Mathias Reimann and Reinhard Zimmermann (eds), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2nd ed. OUP 2019, 502, 504. 4 Konrad Zweigert/Hein Kötz An Introduction to Comparative Law, transl. by Tony Weir, 3rd ed. OUP 1998, 85ff, 143 ff.
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Comparative legislation is not limited to civil codes. Similar observations can be made about other large codifications, such as constitutions and criminal codes. 2. Normal legislation projects Today, it is very common for lawmakers to look abroad even for smaller legislative projects. Legislators throughout the world want to benefit from the imagination, creativity and thought which other legal systems have invested. They also want to profit from their experience in the application of rules which have been tried and tested abroad. There is probably not a single legal system nowadays which does not include foreign elements imported by legislation. Furthermore, most modern legislation will be based on comparative research at least to some extent.5 This will often work well, but sometimes it will not. So-called “legal transplants” – the export of a rule or institution from one legal system to be imported into another legal system – have been the subject of much debate. We will return to this below. 3. International unification and harmonization If there is one area of legislation which simply cannot function without comparative law, it is the international unification of law. It would not have sufficed to simply copy the bill of rights of any one country for formulating the International Covenant on Civil and Political Rights, nor to take one national sales law for drafting the UN Convention on the International Sale of Goods. Unification projects should be drafted in a system neutral way so that they can operate with similar ease in the context of numerous domestic laws.6 Drafting style, language and points of connection to neighbouring areas of law must be set in a system neutral way. Similar considerations apply to the substance. For example, the UN Convention on the International Sale of Goods does not contain a rule on the amount of interest to be paid, because this would have excluded legal systems based on Islamic law.7 For this reason, drafts for unification projects are usually formulated jointly by jurists from many different legal systems. Frequently, these are 5 Smits (fn. 3), 506 Rudolph Schlesinger, Hans W. Baade, Peter E. Herzog and Edward M Wise, Comparative Law: cases, texts, materials, 6th ed. 1998, 13 emphasize that “All legal systems are, to some extent, mixed; no legal system has been constructed out of purely indigenous materials”. 6 See Gerhard Dannemann In search of system neutrality: methodological issues in the drafting of European contract law rules in Maurice Adams and Jacco Bomhoff (eds.), Practice and Theory in Comparative Law, CUP 2012, 96 ff. 7 The compromise formulation in Art. 78 CISG provides a claim for interest but leaves all details to applicable domestic law.
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comparative lawyers. It is nevertheless inevitable that the drafting process will be influenced by different perspectives which delegates have based on their own legal traditions.8 This makes it all the more important that the courts in all member states of such conventions cooperate in the application of the uniform law and take into account each other’s judgments.
II. Judges as comparative lawyers There is also a long history of judges having used the experiences of other legal systems when deciding cases – particularly in difficult cases where the answer of the own legal system was not entirely obvious.9 Events similar to the one sketched at the beginning of this article may well have taken place two thousand years ago. However, records of reasoned judgments begin much later than those for written legislation, making it difficult to determine when this practice started. There are also considerable differences as to how judgments are structured and drafted. The following will use many examples from common law and in particular from English judgments. One reason is that much of English law is still judge-made, and that the judges will look abroad where otherwise a legislator would. Moreover, English judgments are fully reasoned, almost verbose, whereas for example French judgments are consistently written in one single sentence and brutally short. This makes it very hard to obtain evidence of French judges as comparative lawyers. Most importantly, though, English judgments argue very openly why and how comparative law can help them with their work. Modern English judges seem generally more interested in comparative law than their German colleagues, who make only very occasional use of experiences of other legal systems when deciding German law cases, as a study by Siems has shown.10 There are some differences in legal culture which may explain whether courts are eager or reluctant to rely on the experience of other legal systems. But it should also be noted that this is dynamic rather than static. In a period of extensive development and rationali8 Gyula Eörsi ‘Unifying the Law. A Play in One Act, With a Song’, American Journal of Comparative Law, 25 (1977), 658 ff. is arguable both the best and the funniest account of this phenomenon. 9 On judicial use of comparative law, see generally Thomas Kadner Graziano Is it Legitimate and Beneficial for Judges to Compare? in Mads Andenas and Duncan Fairgrieve (eds.), Courts and Comparative Law, OUP 2015, 25 ff.; Ewoud Hondius in FS Schwenzer zum 60. Geburtstag, Vol I, 2011, 759 ff. 10 Mathias M. Siems The Adjudication of the German Federal Supreme Court (BGH) in the Last 55 Years – A Quantitative and Comparative Approach, (2007) Oxford U Comparative L Forum 4, https://ouclf.law.ox.ac.uk/the-adjudication-of-the-german-federalsupreme-court-bgh-in-the-last-55-years-a-quantitative-and-comparative-approach/.
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sation of English law during the 19th century, English judges quoted much to Roman law, the French jurist Robert-Joseph Pothier and in some cases also to the German scholar Friedrich Carl von Savigny. This includes landmark cases in contract law such as Hadley v Baxendale, Taylor v Caldwell and Coutourier v Hastie.11 English courts then became much more inward oriented for most of the 20th century, until a new period of broad comparative judicial interest began in 1990.12 German courts also had periods in which they were more open towards using comparative sources. Between the creation of the Imperial Court (Reichsgericht) in 1879 and the end of the century, comparative law did not have to venture beyond German borders. At that time, the German Empire included regions with a Roman law based “common law” (gemeines Recht), regions where the French Code civil was in force, and yet others with regional codifications. Comparisons between these diverse German legal systems were not infrequently used to approach unresolved legal questions.13 The Reichsgericht continued to apply comparative law reasoning until the late 1920s. Its successor, the Federal Court of Justice (Bundesgerichthof), as well as the newly created Federal Constitutional Court (Bundesverfassungsgericht) resumed this practice from 1951 until 1961, after which incidents of comparative judicial reasoning became increasingly rare.14 What makes judges turn towards other legal systems even if a case does not involve any application of foreign law? We can distinguish between different triggers and different uses of foreign law as some kind of persuasive authority. We will first deal with triggers, which are specific to judges as opposed to legislators. 1. Legislation invites comparative reasoning Some legislators invite judges to look abroad, at least in some situations. One such example is Art. 39 of the Constitution of South Africa: When interpreting the Bill of Rights, a court (…) must consider international law and may consider foreign law.
11 Hadley and Another v Baxendale and Others (1854) 9 Exch 341, Taylor and Another v Caldwell and Another (1863) B&S 825 309; Coutourier and Others v Hastie and Another (1856) 5 HLC 673 (HL). 12 In re State of Norway’s Application [1990] 1 AC 723. 13 See e.g. RG 8.6.1895, RGZ 35, 63 (Ariston). 14 Bernard Aubin RabelsZ 1970, 458 ff., lists in n. 16 30 judgments handed down by RG, BGH and BVerfG between 1909 and 1961 which employ comparative reasoning.
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2. International conventions and other harmonized law invite comparative reasoning International Conventions have shaped national legal systems for a long time. When they have to be applied by national courts, it is not uncommon to enquire whether similar cases have been decided by the courts of other states which are parties to the same convention. The same applies to other forms or harmonized law, be it European Union Law or various Model Laws such as the Principles of European Contract Law, or the Principles of International Commercial Contracts by UNIDROIT.15 3. “Uninvited” use of comparative law In many cases, judges will use the experience of other legal systems without having been invited to do so by the legislator, or without having to apply an international convention or harmonised law. Some judges will discuss openly why they want to draw on the experience of other legal systems. This is what Blackburn J said in Taylor v Caldwell:16 “Although the Civil law is not of itself authority in an English Court, it affords great assistance in investigating the principles on which the law is grounded.”
But this “great assistance” is not just about persuasive authority. Handson empirical experience is also sometimes named as a reason, as for example by Lord Steyn in Arthur JS Hall v Simon:17 “I regard the Canadian empirically tested experience as the most relevant. It tends to demonstrate that the fears that the possibility of actions in negligence against barristers would tend to undermine the public interest are unnecessarily pessimistic.“
However, this “uninvited” use of comparative law can be controversial.18 A case in point is the US Supreme Court case of Roper v Simmons.19 The Court had to decide whether the imposition of the death penalty was constitutional in cases where the offender was a minor at the time when the crime was committed. The Court held by 5 to 4 votes that this was unconstitutional. Kennedy J observed for the majority:
15 Kadner Graziano (fn. 9), 38 distinguishes a specific category of “Soft harmonization of the law within the context of regional integration”. 16 Taylor and Another v Caldwell and Another (1863) B&S 825 309. 17 Arthur JS Hall & Co (a firm) v Simons [2002] UKHL 38. 18 For a fuller discussion, see Kadner Graziano (fn. 9), 26 ff. 19 Roper v Simmons 543 U.S. 551 (2005).
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“In sum, it is fair to say that the United States now stands alone in a world that has turned its face against the juvenile death penalty.”20
In his dissent, Scalia J opposed on principle: “I do not believe that the meaning of […] provisions of our Constitution, should be determined by the subjective views of five Members of this Court and like-minded foreigners. […] “Acknowledgment” of foreign approval has no place in the legal opinion of this Court unless it is part of the basis for the Court’s judgment–which is surely what it parades as today.”
III. Purposes of judicial and legislative comparative reasoning Judges and legislators may turn towards comparative law for a variety of reasons. The following list is not exhaustive, and individual reasons may overlap.21 1. Interpretation of international norms and other harmonized law This first reason has been already mentioned above. It appears to be uncontroversial that courts cooperate across the borders when applying international and harmonized law. Legislators may likewise take note of international developments when transposing international conventions into domestic law. 2. Setting a frame of reference Comparative law can also be used for positioning the own legal system within legal developments beyond the borders. This has been well expressed by Lord Steyn in Macfarlane v Tayside Health Board:22 “My Lords, the discipline of comparative law does not aim at a poll of the solutions adopted in different countries. It has the different and inestimable value of sharpening our focus on the weight of competing considerations. And it reminds us that the law is part of the world of competing ideas markedly influenced by cultural differences.”
Setting a frame of reference could range from “there are many ways of seeing this” to confirming the existing position (“we are in good company”, 20 The prohibition on capital punishment for minors is enshrined in Art. 37(a) of the UN Convention on the Rights of the Child. The US is the only UN Member State which has not ratified this convention. See https://treaties.un.org/doc/Publication/MTDSG/ Volume%20I/Chapter%20IV/IV-11.en.pdf. 21 See also Kadner Graziano (fn. 9), 42 ff., who discusses some of the following aspects in his analysis of benefits of judicial comparative enquiries. 22 Macfarlane and Another v Tayside Health Board (Scotland) [1999] UKHL 20.
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even “most of the others do it the same way”), leading to the confirmation of the present law at home. But it can also be used for closing existing gaps, or even to overcome the present law: “nobody else is doing this” is a powerful argument in particular if one’s own solution is felt to be awkward. We will return to this below. 3. Tracking change The function of “setting a frame of reference” is often used for legal questions which involve value judgments. It can also be used for showing a general sense of direction within this framework, as an indicator of change. One example is a judgment delivered by Justice Mahomed of the Supreme Court of Namibia:23 “The question as to whether a particular form of punishment authorised by the law can properly be said to be inhuman or degrading involves the exercise of a value judgment by the Court (…) which requires objectively to be articulated and identified, regard being had to contemporary norms, aspirations, expectations and sensitivities of the Namibian people as expressed in its national institutions and its Constitution, and further having regard to the merging consensus of values in the civilised international community (of which Namibia is a part) which Namibians share. This is not a static exercise. It is a continually evolving dynamic. What may have been acceptable as a just form of punishment some decades ago, may appear to be manifestly inhuman or degrading today. Yesterday’s orthodoxy might appear to be today’s heresy.”
How well the “tracking change” variant can be used depends on the way in which the legal system or legal tradition concerned deals with change. It is less valid in a legal context which denies or tries to avoid legal change. 4. Confirming home grown solutions A review of comparative law could naturally also be used to confirm that one’s domestic law is in good company and does not need to be developed. Of course one would wonder why in this case the additional effort of a legal comparison was needed in the first place. And legislators will not usually draft lengthy reports only to show that the law is good as it is.
23 Ex Parte: Attorney-General, Namibia: In re Corporal Punishment by Organs of State, SA 14/90) [1991] NASC 2 (05 April 1991), https://namiblii.org/na/judgment/ supreme-court/1991/2/. The question to be decided relates to Art. 7 International Covenant on Civil and Political Rights: “No one shall be subjected to torture or to cruel, inhuman or degrading treatment or punishment. In particular, no one shall be subjected without his free consent to medical or scientific experimentation.”.
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5. Closing gaps Judges will frequently turn towards other legal systems if their own law has a gap. One example is an English case in which newly built skyscrapers in London interfered with the terrestrial television reception for neighbouring houses. There was no suitable English case law which would have covered this situation. The House of Lords relied on a distinction developed by German law, namely that adjacent properties are protected against “positive emissions” through e.g. water, light, dust, or toxic substances, but not against “negative emissions”, i.e. the mere blocking or obstruction of emissions which come from elsewhere.24 Legislators frequently use comparative enquiries for the same purpose. 6. Persuasive authority for overcoming a problematic rule The majority in the above-mentioned US Supreme Court case Roper v Simmons used a comparative survey for this purpose.25 Another well-argued example can be found in Fairchild v Glenhaven, where Lord Bingham said:26 Development of the law in this country cannot of course depend on a headcount of decisions and codes adopted in other countries around the world, often against a background of different rules and traditions. The law must be developed coherently, in accordance with principle, so as to serve, evenhandedly, the ends of justice. If, however, a decision is given in this country which offends one’s basic sense of justice, and if consideration of international sources suggests that a different and more acceptable decision would be given in most other jurisdictions, whatever their legal tradition, this must prompt anxious review of the decision in question.
7. Developing an imported rule In a situation which also involves closing gaps, judges sometimes have to apply and interpret a rule (or even an entire legal institution) which their legal system imported from another legal system. This is one additional reason why English cases are quoted throughout the common law world. However, the same can occur for legislation which has been based on a comparative survey. Justice Kriegler of the South African Constitutional Court stated this in Bernstein and Others v Bester and Others NO:27 24 Hunter and Others v Canary Wharf Ltd; Hunter and Others v London Docklands Development Corp. [1997] UKHL 14. 25 Roper v Simmons 543 U.S. 551 (2005). 26 Fairchild v Glenhaven Funeral Services Ltd and others etc., [2002] UKHL 22. 27 Bernstein and Others v Bester and Others NO, 1996 (2) SA 751 (CC), http:// www.saflii.org/za/cases/ZACC/1996/2.pdf. Kriegler goes on to warn: “But that is a far cry from blithe adoption of alien concepts or inapposite precedents.”.
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Comparative study is always useful, particularly where courts in exemplary jurisdictions have grappled with universal issues confronting us. Likewise, where a provision in our Constitution is manifestly modelled on a particular provision in another country’s constitution, it would be folly not to ascertain how the jurists of that country have interpreted their precendential provision.
Legislators may similarly enquire about foreign case law before importing a foreign institution, and may also keep an eye on foreign developments, although this may not be done very frequently. 8. Rebutting “floodgates” arguments The ”floodgates“ argument rallies against the introduction of a new rule on the ground that its effects could not be controlled, using the metaphor that the existing law serves as a floodgate, so that its removal would have catastrophic consequences similar to a flooding. It is helpful if one can then point to another country which has already lived with the new rule without having experienced any flood. We have already seen one such example. Lord Goff said in Kleinwort Benson Ltd v Lincoln City Council.28 “For present purposes, however, the importance of this comparative material is to reveal that, in civil law systems, a blanket exclusion of recovery of money paid under a mistake of law is not regarded as necessary. In particular, the experience of these systems assists to dispel the fears expressed in the early English cases that a right of recovery on the ground of mistake of law may lead to a flood of litigation […]”.
Legislators may likewise use comparative surveys for rebutting the floodgates argument. 9. Harmonization with related systems References to other legal systems can be used to achieve greater harmony within a certain family of legal systems or within a certain legal tradition, such as the common law countries, or the four schools of Sunnite law, or within the European Union. This applies to both judges and legislators. 10. International harmonization of law International harmonization of law is of course the main objective of international conventions and international model laws. But harmonization may also be on the minds of national legislators, particularly when regulating areas of law which are highly connected to other legal systems, and should consequently be on the minds of judges who apply such harmonized law. 28
Kleinwort Benson Ltd v Lincoln City Council et al. [1998] UKHL 38.
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Occasionally, one can also find judgments in which a comparative legal review is used to argue for the international harmonisation of purely domestic law, or at least for seeing international harmony as an advantage. Lord Bingham continues the above-mentioned quote from Fairchild v Glenhaven as follows:29 In a shrinking world (in which the employees of asbestos companies may work for those companies in any one or more of several countries) there must be some virtue in uniformity of outcome whatever the diversity of approach in reaching that outcome.
IV. Pitfalls of judicial and legislative comparative reasoning While it has been shown above that there are many benefits in the use of comparative law by judges and legislators, it must not be overlooked that this can equally involve some difficulties or dangers. 1. Incorrect or outdated information Most lawyers have been trained in only one legal system. Investigating another legal system involves a greater risk of obtaining incorrect or outdated information. Hondius cites two examples in which German researchers failed to notice a shift in Dutch law or where the highest court in the Netherlands, the Hooge Raad, relied on a judgment by the German Federal Court of Justice which had since been overruled by the German Federal Constitutional Court.30 2. Inconclusive outcome The wider a comparative enquiry is framed, the more information will be available. But this may also lead to an inconclusive outcome. In one case which has already been mentioned above, Arthur JS Hall v Simons, the judges arrived at opposing conclusions to be drawn from the comparative review.31 While Lord Hope relied on countries where the law was similar to the English position for stating that the law should be maintained as it was, Lord Steyn used the same survey to rebut the “floodgates” argument against any change. Both points can be validly made.
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Fairchild etc. v Glenhaven Funeral Services Ltd and others etc. [2002] UKHL 22. Hondius (fn. 9), 769 f. 31 Arthur JS Hall & Co (a firm) v Simons (and other cases), [2002] 1 AC 615 (HL). 30
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3. Loss of context Some see loss of context as the most serious danger when legislators or judges import a particular legal solution, perhaps even an entire legal institution. In his influential book on “Legal Transplants”, Alan Watson argued that such transplants were very common and useful, and even acted as the primary driver of legal development.32 Ever since, there has been a lively debate on the merits and demerits of legal transplants.33 This discussion centres around the context which invariably is lost in the process of transplanting, making it likely that the transplant will work differently, and with unintended consequences, in the new legal environment. The lost context could be legal, but could also concern cultural, social or economic factors. Legal aspects of context relate to the diversity between legal systems and legal traditions. They can be broken down to the following main aspects:34 – legal sources (divine revelation, tradition, legislation, judgments, academic opinions) – main actors (legislators, judges, academics) – main methodology (deductive, inductive, analogy) – principle or case-oriented – the process of law-finding (instantaneous, through procedure, using an adjudicator) – level of formality – finality of individual application – notions of change of the law Those who are critical of legal transplants tend to argue that their danger increases with the diversity of legal systems between which a transplant occurs.35 It is certainly important to keep an eye on legal and non-legal contexts of imported legal solutions. However, as the anecdote at the outset of this article demonstrates, judicial comparative enquires can easily cross many of those borders.
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Alan Watson, Legal Transplants. An Approach to Comparative Law, 2nd ed. 1993, 95,
108. 33 See Michaele Graziadei Comparative Law, Transplants, and Receptions, in: Oxford Handbook of Comparative Law (fn. 3), 442 ff. 34 This follows rather loosely Patrick Glenn, Legal Traditions of the World, 5th ed. OUP 2014, who uses many of these aspects to distinguish between different legal traditions. 35 See Graziadei (fn. 33) 466 ff., critical 471: “One problem is that the search for overall coherence may lead us to ignore the actual reasons why transplants succeed or fail. They may fail on rather specific grounds, rather than because of a lack of ‘fit’, for example because they are opposed by vested interests.”.
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V. Conclusions Legislators have for long used comparative enquires to support draft legislation. Today this practice is common and largely uncontroversial as method. Criticism normally focuses on whether the imported rule or legal institution is good as a matter of policy, and only rarely on the methodology as such. It is not equally common for judges to base the application and development of their domestic law on a comparative review of solutions and institutions used by other legal system. One can observe differences between legal systems, and within legal systems over time, as to how frequently this is done, and how controversial this may be. Nevertheless, judges have relied on comparative enquires in many legal systems and throughout different ages. They will do so particularly when the law to be applied has an international origin or context, when their domestic law has no clear authority, and in cases which involve difficult legal, political or ethical questions. The concluding example concerns a legal transplant which was first rejected by judges, then adopted by the legislator - with apparent success. Under English common law, third parties cannot acquire rights under a contract concluded by other parties (so-called doctrine of privity).36 No such limitation exists e.g. in French and German law. Both have enacted provisions on contracts in favour of third parties in their Civil Codes.37 The House of Lords looked at German law as potential source of inspiration in White v Jones and discussed the German model of contracts with protective effects towards third parties.38 Lord Goff held: “Indeed the concept is not an easy one for a common lawyer to grasp; and […] I do not feel sufficiently secure to adopt it as part of my reasoning in this opinion. Even so, I find it comforting (though not surprising) to be told that in German law the same conclusion would be reached as I have myself reached on the facts of the present case.”
The Law Commission for England and Wales subsequently published a consultation paper on the doctrine of privity, invited comments i.a. by com36 Tweddle v Atkinson (1861) 1 B&S 393 (QB): “It would be a monstrous proposition to say that a person was a party to the contract for the purpose of suing upon it for his own advantage, and not a party to it for the purpose of being sued.” (Crompton J). 37 Art. 1205 Cc (stipulation pour autrui); § 328 BGB (Vertrag zugunsten Dritter). 38 White and Another v Jones and Others [1995] UKHL 5. Lord Goff commented on the factually similar German case BGH 6.7.1965 - VI ZR 47/64, NJW 1965, 1955, where a disappointed intended beneficiary was allowed to sue a legal practitioner who had negligently delayed drafting a new will at the request of the testator. The so-called Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, developed initially in analogy to § 328 BGB, allows third parties to sue for damage suffered by breach of a contract to which they are not a party provided they are within the sphere of persons to be protected by the contract.
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parative scholars, and then proposed the abolition of the doctrine.39 Parliament followed suit by enacting the Contracts (Rights of Third Parties) Act 1999. This shows how judges may feel that they would overstep their authority by adopting a foreign legal institution which the legislator is free to import.
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The Law Commission Consultation Paper No. 121, “Privity of Contract - Contracts for the Benefit of Third Parties”, published on 23 October 1991; The Law Commission Report No. 242, “Privity of Contract: Contracts for the Benefit of Third Parties”, published on 31 July 1996.
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Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft – Spurensuche im Jahrgang 2019 der ZGR CHRISTOPH ENGEL
I. Einleitung Es gibt einen Grund, warum das Fach Jurisprudenz heißt und nicht Jurisscienz. Juristen müssen entscheiden. Wenn sie zu der Überzeugung gelangen, dass ein Gesichtspunkt für diese Entscheidung wichtig ist, dürfen sie den Gesichtspunkt nicht ignorieren. Das gilt auch dann, wenn dieser Gesichtspunkt noch nicht vollständig verstanden ist. Ein normatives Anliegen darf nicht mit der Begründung verworfen werden, dass seine theoretische Grundlage umstritten ist. Wenn die Sorge um einen normativ unerwünschten Effekt besteht, darf der Effekt nicht mit der Begründung außeracht gelassen werden, dass er unerforscht oder noch nicht verlässlich genug bewiesen ist. Potentiell muss das Recht auch auf unsicherer konzeptioneller oder tatsächlicher Grundlage entscheiden. Das ist der Grund, warum das deutsche Recht, anders als das amerikanische, vom Richter kein Wahrscheinlichkeitsurteil erwartet, sondern eine persönliche Überzeugung (§ 286 I 2 ZPO). Hinter dem Streit zwischen den Rechtsordnungen auf dem europäischen Kontinent und dem common law über das Beweismaß steht eine Divergenz zwischen zwei regulativen Ideen.1 Wer Wahrscheinlichkeitsurteile fordert, will die Rechtsprechung so weit als irgend möglich objektivieren. Wer dagegen auf die persönliche Überzeugung der Person setzt, der das Amt des Richtens anvertraut ist, der will nach Möglichkeit dem konkreten Fall gerecht werden. Hinter den konkurrierenden regulativen Ideen steht eine unterschiedliche Definition des regelungsbedürftigen Problems.2 Wahrscheinlichkeitsurteile sind angemessen, wenn die Eigenheiten eines Falles vernachlässigt werden können, die der notwendigen Standardisierung zum Opfer fallen. Die persönliche Überzeugung ist dagegen gefordert, wenn man nicht an die Standardisierbarkeit der Fälle des Lebens glaubt. Das fran1 Engel Preponderance of the Evidence Versus Intime Conviction. A Behavioral Perspective on a Conflict Between American and Continental European Law, Vermont Law Review 33, 2009, 435–467. 2 Daston Objectivity versus Truth, Bödeker u.a. Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750–1900, 17–32.
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zösische Recht bringt diese Position besonders eindringlich mit der Instruktion zum Ausdruck, die Strafrichter erhalten. Sie werden aufgefordert, nach Maßgabe ihrer „intime conviction“ zu entscheiden3. In diesem Streit der Rechtsordnungen habe ich mich auf die Seite meiner eigenen Rechtsordnung geschlagen. Ich bin überzeugt, dass juristische Fälle nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig „ill defined“ sind. Deshalb kann die Entscheidung nicht allein mit den Mitteln der Logik aus konsentierten normativen Prinzipien abgeleitet werden.4 Deshalb glaube ich nicht, dass die Entscheidungen von Richtern vollständig formalisiert und modelliert werden können. Allenfalls kann man (in einem „satisficing“ Ansatz) äußerste Grenzen bestimmen, die die Entscheidung im Einzelfall nicht überschreiten darf.5 Heißt das, dass auch die Rechtswissenschaft lieber Geisteswissenschaft bleiben und die hermeneutische Kunst der Auslegung des Gesetzes verfeinern sollte? Die Dogmatik wird der Kern der Disziplin bleiben. Aber auch eine Rechtswissenschaft, die ihre vornehmste Aufgabe im Dienst an der Rechtspraxis sieht, kann deshalb doch mit Gewinn sozialwissenschaftliche Methoden verwenden. Der Dienst besteht dann in der kritischen Überprüfung normativer Argumente, die für rechtsdogmatische oder rechtspolitische Entscheidungen hinreichend wichtig sind. Der Rechtswissenschaftler entscheidet dann allerdings nicht mehr selbst. Er liefert aber eine sehr viel belastbarere Entscheidungsgrundlage. Im Ergebnis können die Rechtsanwender lernen, dass bestimmte Argumente ganz falsch sind, viel zweifelhafter als man glaubte, oder bloß spekulativ. Umgekehrt können sozialwissenschaftliche Methoden auf normative Belange aufmerksam machen, die bislang keinen oder zu wenig Einfluss auf die Entscheidung hatten. Wenn Rechtswissenschaft sozialwissenschaftlich arbeitet, wird die Arbeitsteilung zwischen Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft ausgeprägter. Aber stärkere Arbeitsteilung erhöht die Chance auf bessere Entscheidungen. Das Gesellschaftsrecht eignet sich für diese Art von Arbeitsteilung besonders gut. Sein Gegenstand ist die Organisation und das Funktionieren von Unternehmen. Unternehmen sind juristische Zweckschöpfungen. Die Erzielung von Gewinn ist typischerweise zumindest einer dieser Zwecke. Dieser Gegenstand führt zu einer Nähe zu den Wirtschaftswissenschaften. Auch in der historischen Entwicklung ist diese Nähe zu spüren. Das Gesellschaftsrecht hat sich für ökonomische Argumente viel früher geöffnet als andere Teilrechtsgebiete. Deshalb eignet sich das Gesellschaftsrecht besonders gut für die Art von Spurensuche, die dieser Aufsatz beabsichtigt. Sozi3
Art. 353 Code de Procédure Pénale. S. zu dem Komplement des Problems auf der Seite der normativen Theorie Engel Offene Gemeinwohldefinitionen, Rechtstheorie 32, 2001, 23–52. 5 Engel/Güth, Modeling a Satisficing Judge, Rationality and Society 30, 2018, 220– 246. 4
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alwissenschaftliche Methoden schaffen Distanz zur Rechtspraxis. Spuren dieser Methoden sind deshalb eher in einer Archivzeitschrift zu erwarten. Sozialwissenschaftliche Argumente im Gesellschaftsrecht haben zwar eine lange Tradition.6 Die ökonomische Analyse des Rechts hat jedoch erst in den siebziger Jahren Fahrt aufgenommen.7 Das empirical legal movement ist kaum mehr als ein Jahrzehnt alt.8 Deshalb sind in jüngeren Publikationen mehr Spuren zu erwarten als in älteren. Diese Überlegungen motivieren die Wahl des Jahrgangs 2019 der ZGR als den Ort für die Spurensuche.
II. Das Material Der Jahrgang 2019 der Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht ZGR enthält auf 1170 Seiten 31 Aufsätze von 32 Autoren. Vier Aufsätze haben zwei Autoren. Zwei Autoren (Klaus Hopt und Patrick Leyens) haben einen gemeinsamen und je noch einen weiteren Aufsatz als Alleinautor veröffentlicht. 26 Autoren sind Universitätsprofessoren, fünf sind Rechtsanwälte. Ein promovierter Autor habilitiert sich (Korch). Der Koautor eines Professors ist noch nicht promoviert (Bialluch). Zwei Professoren lehren in Österreich (Doralt, Leyens) und je einer in Belgien (Cools) und Luxemburg (Zetzsche). Die übrigen Autoren lehren an deutschen Universitäten oder Max Planck Instituten. Vier Professoren sind emeritiert (Beuthien, Hommelhoff, Hopt, Wiedemann). Sechs Autoren berichten auf ihren Websites, dass sie auch eine ökonomische Ausbildung haben (Anzinger, Bueren, Fleischer, Hopt, Schön, Thole). Alle sechs sind Universitätsprofessoren. Sieben Texte sind Urteilsanmerkungen, der Rest sind Archivaufsätze. 25 Aufsätze sind einem Thema der Corporate Governance gewidmet. Die größte Aufmerksamkeit gilt der Aktiengesellschaft (22 Aufsätze). Mit Themen aus dem Recht der GmbH beschäftigen sich 6 Aufsätze, genauso viele mit dem Recht der Personengesellschaft. Ein Aufsatz hat das Stiftungsrecht zum Gegenstand. Das größte Interesse gilt dem Konzernrecht (11 Aufsätze), gefolgt vom Vorstand einer Aktiengesellschaft (8 Aufsätze) und vom Aufsichtsrat (7 Aufsätze). Fünf Aufsätze gelten dem Kapitalmarktrecht. Vier haben prozessrechtliche Fragen zum Gegenstand. 21 Aufsätze sind im engeren Sinne dogmatischer Natur, widmen sich also der Auslegung einer oder mehrerer Normen des geltenden Gesellschaftsrechts. 18 Aufsätze haben jedenfalls auch eine rechtspolitische Ausrichtung. 6
S. den noch heute viel zitierten Text von Berle/Means Modern Corporation and Private Property, 1932. 7 S. nur Posner Economic Analysis of Law, 2014. 8 Die erste Conference on Empirical Legal Studies fand 2006 statt.
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20 Aufsätze möchten ein normatives Leitbild formen. Drei Aufsätze zeichnen die historische Entwicklung nach, sechs Aufsätze berichten über politische Entwicklungen.
III. Sozialwissenschaftliche Forschungsfragen Wenn man den sozialwissenschaftlichen Charakter eines Textes eng definiert, sucht man im Jahrgang 2019 der ZGR vergebens. Kein Text entwickelt ein formales Modell, oder nutzt Daten, um einen kausalen Effekt zu identifizieren. Ein Aufsatz sticht jedoch heraus. Katja Langenbucher umreißt das Potenzial für eine kognitive Wende im Gesellschaftsrecht. Sie macht die Juristen auf die Bedeutung der Verhaltenswissenschaften für das Design und die Interpretation gesellschaftsrechtlicher Institutionen aufmerksam. Sie greift dafür weit aus. Sie berichtet nicht nur über Relativierungen und Verfeinerungen des klassischen mikroökonomischen Modells. Sie tastet auch die Bedeutung von Sozial- und Organisationspsychologie ab und greift sogar auf die Neurowissenschaften aus.9 Auch in den Sozialwissenschaften haben solche Überblicksaufsätze ihren Platz. Sie verschaffen Orientierung und machen auf Forschungslücken aufmerksam. Vier weitere Aufsätze kann man als Transferleistungen beschreiben. Sie dokumentieren den Stand der Diskussion in einer Sozialwissenschaft und machen deutlich, in welcher Weise das Gesellschaftsrecht daraus Nutzen ziehen kann. Alle vier Aufsätze beziehen sich dabei auf die Wirtschaftswissenschaften. Eckart Bueren bezieht sich in seinem Aufsatz zum Konzept der nachhaltigen Finanzierung vor allem auf betriebswirtschaftliche Literatur. Diese Literatur hilft ihm zunächst, seinen Gegenstand zu definieren und seine wirtschaftliche Bedeutung einzuschätzen. Aus dieser Literatur entnimmt er eine für die rechtliche Einordnung bedeutsame Unterscheidung: ist die Rücksicht auf Nachhaltigkeit der beste Weg zum unternehmerischen Erfolg, oder gibt es einen Zielkonflikt zwischen dem Gewinnstreben und der Rücksicht auf konkurrierende normative Belange? Die eigentliche Forschungsfrage ist dann aber genuin juristischer Natur: auf welche Weise kann und sollte nachhaltige Finanzierung rechtlich gesichert werden?10 Tobias Tröger nutzt den konzeptionellen Apparat von law and economics, um Anliegen der neuen Aktionärsrechterichtlinie besser zu verstehen und Vorschläge für die geeignete Umsetzung in das deutsche Recht zu machen. Typischerweise liegen die Aktien börsennotierter Unternehmen bei 9
Langenbucher ZGR 2019, 717–759. Bueren Sustainable Finance, ZGR 2019, 813–875.
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Anlegern, die wenig Anreiz haben, die Verwaltung des Unternehmens wirksam zu kontrollieren. Das konstituiert ein Prinzipal-Agent-Problem. Herrschaft und Haftung fallen tendenziell auseinander. Dieser Konflikt wird durch die Zwischenschaltung von institutionellen Anlegern und Vermögensverwaltern verschärft. Im Grundsatz führt das zu einem Marktversagen. Regulatorische Interventionen sind gerechtfertigt. Ob die Verpflichtung institutioneller Anleger auf „Stewardship“ dem abhelfen kann, erscheint Tobias Tröger jedoch zweifelhaft.11 Auch Tim Florstedt interessiert sich für die Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie. Er konzentriert sich jedoch auf die Vorschriften über die Vergütung von Mitgliedern des Vorstands und des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft. Er rezipiert die ökonomische Literatur zu Fehlanreizen für diese Organwalter. Aus diesen Konzeptualisierungen folgt allerdings nicht viel für die anschließende dogmatische Analyse.12 Klaus Ulrich Schmolke diskutiert Rechtsregeln für Whistleblower. Zur Analyse der regulatorischen Entwicklung greift er auf betriebswirtschaftliche und psychologische Literatur zurück. Aus der rechtsökonomischen Literatur zu einer expressiven Funktion von Rechtsregeln entnimmt er einen zusätzlichen Wirkungskanal: explizite rechtliche Regeln können die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Whistleblowern verändern. Im Zentrum der Analyse steht dann aber das Anreizproblem: warum sollte sich jemand zum Wohle des gesamten Unternehmens oder der Allgemeinheit Risiken am Arbeitsplatz aussetzen? Deshalb bedarf es nicht nur des Schutzes, sondern grundsätzlich auch positiver Anreize. Sie müssen allerdings in ein Gleichgewicht gegenüber dem Missbrauchspotenzial gebracht werden.13
IV. Literarische Spuren Bei sechs weiteren Aufsätzen muss man die Fußnoten schon genau lesen, um die literarischen Spuren aus den Sozialwissenschaften zu entdecken. Wolfgang Schön begründet die Regelung der Rechtsbeziehungen im Konzern mit der Einsicht von Ronald Coase, dass Märkte nicht der beste institutionelle Rahmen für die Allokation knapper Güter sind, wenn die Transaktionskosten prohibitiv hoch wären. Deshalb widmet sich der Aufsatz den institutionellen Anforderungen an eine effiziente Allokation und vor allem der richtigen Balance zwischen dem Schutz der abhängigen Gesellschaft und dem Gruppeninteresse.14 11
Tröger ZGR 2019, 126–162. Florstedt ZGR 2019, 630–663. 13 Schmolke ZGR 2019, 876–922. 14 Schön ZGR 2019, 343–378, Fn. 34, s. auch Fn. 35 und Fn. 67. 12
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Birgit Weitemeyer begründet die Notwendigkeit von Rechtsregeln für die governance von Stiftungen mit der klassischen Einsicht von Berle und Means, dass die Herrschaft (ausgeübt von den Stiftungsorganen) und Haftung (durch den Stifter) auseinanderfallen.15 Heribert Anzinger interessiert sich für die Regeln über die Vergütung von Mitgliedern des Vorstands und des Aufsichtsrats. Er zitiert ein ökonomisches Diskussionspapier, das die Gründe für den Anstieg der Vergütungen erörtert.16 Hans Christoph Grigoleit ist an den Regeln der Aktionärsrechterichtlinie über Geschäfte mit nahestehenden Personen interessiert. Er untersucht vor allem das Verhältnis zum deutschen Konzernrecht. Zur Beschreibung des normativen Problems verweist er auf den in der ökonomischen Literatur verwendeten Begriff des Tunneling, und zitiert dazu einen Text, der in der American Economic Review erschienen ist.17 Klaus Hopt und Patrick Leyens analysieren den Corporate Governance Code 2020. Als Teil des reichen Materials zitieren sie einen Überblicksaufsatz über vergleichbare Regelwerke in ausländischen Rechtsordnungen, der im Journal of Institutional and Theoretical Economics erschienen ist18. Klaus Hopt stellt den Aufsichtsrat in den historischen Kontext. Dazu gehört auch die Konvergenz des amerikanischen und des deutschen Systems. Sie zeigt sich an der gewachsenen Bedeutung von independent directors im board amerikanische Unternehmen. Diese Entwicklung belegt er mit einem Aufsatz, der im Journal of Finance erschienen ist.19
V. Das unausgeschöpfte Potential Die im dritten Abschnitt berichteten Texte verwenden offen sozialwissenschaftliche Argumente. Der natürliche nächste Schritt bestünde in der Validierung dieser Argumente. Wenn das Argument in der sozialwissenschaftlichen Literatur bereits ausgearbeitet ist, könnte ein Rechtswissenschaftler die Ergebnisse berichten. Oft interessieren sich Sozialwissenschaftler aber nicht genau für das Argument, auf das es dem Juristen ankommt. Das gilt vor allem häufig für die Ausgestaltung von Institutionen. Wer etwas über die Bedeutung der Eingriffskondiktion für das Investitionsverhalten von Unternehmen lernen will, darf nicht mit Vorarbeiten der Ökonomen oder Psychologen rechnen. Auch wenn das juristisch relevante Argument in einer Sozialwissenschaft diskutiert ist, betrifft diese Diskussion doch meist nicht 15
Weitemeyer ZGR 2019, 238–270, Fn. 26. Hanzinger ZGR 2019, 39–96, Fn. 7; s. auch Fn. 155. 17 Grigoleit ZGR 2019, 412–462, Fn. 5. 18 Hopt/Leyens ZGR 2019, 929–995, Fn. 83. 19 Hopt ZGR 2019, 507–543, Fn. 37. 16
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gerade die juristische Anwendung. Dann bleibt die Frage, ob die Einbettung in den juristisch relevanten Kontext den Effekt verändert. Diese Frage wird oft unter dem Gesichtspunkt der externen Validität diskutiert. Aus all diesen Gründen kann es lohnen, dass Juristen selbst sozialwissenschaftliche Methoden einsetzen. Im folgenden skizziere ich am Beispiel des Jahrgangs 2019 der ZGR, wie groß das unausgeschöpfte Potenzial ist. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive sind Rechtsregeln Interventionen. Sie beschränken den Handlungsraum ihrer Adressaten. Das kann in der Absicht geschehen, normativ unerwünschtes Verhalten weniger wahrscheinlich zu machen. Die Beschränkung kann aber umgekehrt auch den Zweck verfolgen, normativ erwünschtes Verhalten wahrscheinlicher zu machen. Diese Ermöglichungsfunktion hat für das Gesellschaftsrecht besondere Bedeutung. In seinem Kern ist es ja Organisationsrecht. Es stellt der Wirtschaft einen Vorrat an Gestaltungsmöglichkeiten für die Selbstorganisation zur Verfügung. Der corporate governance code ist bekanntlich kein zwingendes Recht. Klaus Hopt und Patrick Leyens halten ihn dennoch für wirksam, weil der „in § 161 AktG niedergelegte[…] Grundsatz ‚comply or explain‘ einen Anreiz zur Befolgung“ setzt.20 “Die deutschen börsennotierten Gesellschaften wollen Abweichungsbegründungen möglichst vermeiden, wie aus der Praxis zu hören und wie die hohen Befolgungsquoten nahelegen“.21 Es wäre reizvoll, diese Wirkbeziehung theoretisch genauer auszuarbeiten (wofür wäre solch eine Begründung am Kapitalmarkt ein Signal?) und den kausalen Effekt zu belegen. Christian Decher setzt sich kritisch mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auseinander, die den Bezugsrechtsausschluss in der Aktiengesellschaft einschränkt. Der Kern seiner Kritik ist funktional: “Damit war das genehmigte Kapital seiner gesetzlich gedachten Funktion beraubt, der Gesellschaft bei sich bietenden Möglichkeiten schnell und flexibel neues Eigenkapital zur Verfügung zu stellen“.22
Aber hat die gerichtliche Kontrolle des Hauptversammlungsbeschlusses am Maßstab der Verhältnismäßigkeit auch wirklich diese Wirkung? Und in welchem Verhältnis steht die potenziell beschränkende Wirkung zu ermöglichenden Vorwirkungen? Wenn Anleger weniger Sorge darum haben müssen, dass das Bezugsrecht später ausgeschlossen wird, könnten sie eher bereit sein, Aktien zu erwerben. Die widerstreitenden Effekte könnte man modellieren und empirisch testen. Heribert Anzinger fragt, ob die Veröffentlichung der Vorstandsbezüge eine dämpfende Wirkung hat. “Vorstandsmitglieder könnte die öffentliche 20
Hopt/Leyens ZGR 2019, 929–995, 930 f. Ebda. 947. 22 Decher ZGR 2019, 1122–1170, 1132. 21
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Wahrnehmung überzogener Gehälter zur Zurückhaltung motivieren“.23 Es würde sich lohnen, die Kanäle genauer auszuarbeiten, auf denen dieser Effekt eintreten könnte. Dazu braucht man zunächst eine Vorstellung über handlungsleitende Motive. Geht es den Vorstandsmitgliedern nur oder jedenfalls maßgeblich um Geld? Dafür könnte Selektion eine Rolle spielen. Auch das Risiko, die gut bezahlte Aufgabe schnell zu verlieren, könnte Wirkung tun. Wenn das Einkommen das maßgebliche Motiv ist, kommt es auf die Möglichkeit von Einkommenseffekten an. Im Unternehmen könnte die Bereitschaft von Arbeitnehmern leiden, sich für das Unternehmen einzusetzen. Das könnte den Gewinn und in der Folge den Bonus schmälern. Öffentlicher Druck könnte den Aufsichtsrat motivieren, das Vorstandsmitglied abzuberufen. Patrick Leyens hat Zweifel, ob die Information der Aktionäre in der Hauptversammlung einen legitimierenden Effekt hat: „Erstens findet kein echter Austausch statt, weil über die Berechtigung des Auskunftsverlangens und den Umfang der zu erteilenden Information unter großer Eile zu entscheiden ist, die Antworten zur Vermeidung von Anfechtungsklagen von einem back office nur mit dem Mindestinhalt versehen und sodann vom Versammlungsleiter letztlich allein zur Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht verlesen werden. Zweitens ist eine Informationsverarbeitung und echte Meinungsbildung der Aktionäre zu komplexen Entscheidungssachverhalten wie Strukturentscheidungen nicht ernsthaft ad hoc zu erhoffen. Dazu wäre eine komplexe Abwägung zwischen alternativen Möglichkeiten von Kurz-, Mittel- und Langfristerträgen des Gesellschaftskapitals Voraussetzung“.24
Das ist nicht unplausibel. Aber die Notwendigkeit zur expliziten Information der Hauptversammlung könnte den Kapitalmärkten bei der Neubewertung des Unternehmens helfen. Letztlich wäre eine genauere Wirkungsanalyse erforderlich, die idealerweise auch empirisch wäre. Die Aktionärsrechterichtlinie ist besorgt, dass die Organe einer Aktiengesellschaft nicht wirksam kontrolliert werden, weil die Aktionäre überhaupt nicht informiert sind. Deshalb verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten, ein Verfahren zur Identifikation der Aktionäre einzuführen. Dirk Zetzsche vergleicht Optionen zur Umsetzung dieser Verpflichtung.25 Diese technischen Überlegungen sind wichtig. Aber sie bleiben auf Distanz zu dem normativen Anliegen. Welche Unternehmens- und Konzernstruktur macht die Kontrolle der Unternehmensleitung besonders schwierig? Genügt der vorgeschlagene Eingriff, die Kontrolle effektiv zu machen? Die Aktionärsrechterichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, das Verhalten von Stimmrechtsberatern zu regulieren. Martin 23
Anzinger ZGR 2019, 39–96, 52. Leyens ZGR 2019, 544–587, 557. 25 Zetzsche ZGR 2019, 1–38. 24
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Schockenhoff und Anton Nußbaum analysieren den Regelungsbedarf. Herrschaft (Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen) und Haftung (ein Wertverlust der Aktien) können auseinanderfallen,26 weil Aktionäre keinen Anreiz haben, die Empfehlungen der Berater zu überprüfen.27 Es gibt Interessenkonflikte, wenn der Stimmrechtsberater nicht nur die Inhaber von Stimmrechten berät, sondern auch die Unternehmensleitung.28 Die abgestimmte Beratung der Aktionäre von Konkurrenten kann ein Kartell ersetzen.29 All das ist Stoff für ökonomische Modelle. Walter Doralt sorgt sich, dass der diszipliniere Effekt der Organhaftung durch D&O Versicherungen konterkariert wird. „Die Reaktion des Gesetzgebers blieb daher ein etwas halbherziger Kompromiss und beschränkte sich auf die Einführung eines – wirtschaftlich gut tragbaren, aber doch spürbaren – zwingenden Selbstbehalts in § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG“.30
Das ist eine testbare Hypothese: wenn Vorstandsmitglieder nicht den vollen Schaden begleichen müssen, den die Gesellschaft erlitten hat, haben sie einen geringeren Anreiz, das Gesellschaftsinteresse zu verfolgen. Das muss nicht richtig sein. Das normative Ziel ist ja nicht Kompensation, sondern Verhaltenssteuerung. Der Schaden aus unternehmerischen Fehlentscheidungen wird häufig so groß sein, dass das Vorstandsmitglied sein gesamtes Vermögen verlöre, wenn es dafür aufkommen müsste. Der Effekt könnte sogar kontraproduktiv sein und Vorstandsmitglieder zu waghalsigen Entscheidungen motivieren; wenn die Sache schief geht, hätten sie ohnehin ihre bürgerliche Existenz verloren. Nach § 93 II 1 AktG haften die Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft gegenüber der Gesellschaft für einen Schaden, der aus der Verletzung ihrer Pflichten entsteht. Der Bundesgerichtshof hat nun entschieden, dass der bloße Nachweis eines Kompetenzverstoßes noch keine Haftung begründet. Damit hat er den Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens eröffnet. Maximilian Goette begrüßt diese Entscheidung: „der II. Zivilsenat [eröffnet] hiermit in Anspruch genommenen Vorständen eine weitere Verteidigungsmöglichkeit”.31 Die alternativen Interpretationen der Norm könnte man modellieren und dann besser abschätzen, welche Wirkungen auf die Erhebung einer Klage zu erwarten sind. Jens Ekkenga fragt sich, ob die Macht des Minderheitsgesellschafters einer GmbH beschränkt werden muss, wenn diese Macht allein darauf beruht, 26
S. erneut Berle/Means Modern Corporation and Private Property, 1932. Schockenhoff/Nußbaum ZGR 2019, 163–190, 169. 28 Ebda. 29 Ebda. 170. 30 Doralt ZGR 2019, 996–1049, 1001. 31 Goette ZGR 2019, 324–338, 331. 27
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dass der Mehrheitsgesellschafter nach § 47 IV GmbHG von der Abstimmung ausgeschlossen ist. Er plädiert dafür, dass der Minderheitsgesellschafter keine verbandsschädlichen Entscheidungen treffen darf, und dass ihn dafür die Beweislast trifft.32 Es würde sich lohnen, den Vorwirkungen dieser Umkehr der Beweislast auf die Entscheidungen des Minderheitsgesellschafters nachzugehen. Wird dadurch der Schutz der Minderheit beseitigt, den das Gesetz wegen eines Interessenkonflikts des Mehrheitsgesellschafters gewünscht hat? Klaus Hopt wendet sich gegen die These, der Aufsichtsrat dürfe nicht am Vorstand vorbei Fragen an die Belegschaft richten. Andernfalls drohe ein Verlust der Autorität des Vorstands.33 Wollte man es genau wissen, müsste man Wirkungskanäle spezifizieren. Muss der Vorstand eine tiefer wirkende Kontrolle durch den Aufsichtsrat gewärtigen? Das wäre vermutlich im Sinne des Gesetzes. Geht es um die Sorge, dass oppositionelle Strömungen im Unternehmen den Aufsichtsrat auf ihre Seite ziehen? Zumindest bei mitbestimmten Unternehmen wäre auch das wohl vom Willen des Gesetzes gedeckt. Oder ist man besorgt, dass der Vorstand auf Entscheidungen verzichtet, um dem Aufsichtsrat keine Gelegenheit zur Intervention zu bieten? Das wäre vermutlich nicht mehr im Sinne des Gesetzes. Die unternehmerische Mitbestimmung ist bekanntlich eine Besonderheit des deutschen Rechts. Das Europäische Gerichtshof hatte über eine Folgefrage zu entscheiden. Ist es mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu vereinbaren, wenn ein Arbeitnehmer das aktive und passive Wahlrecht für die Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat verliert, wenn er von einer inländischen zu einer ausländischen Tochter wechselt? Er verliert dann gegebenenfalls auch sein Aufsichtsratsmandat. Achim Seifert billigt die Entscheidung im Ergebnis, kritisiert aber, dass der Gerichtshof kein Kriterium für eine „Beschränkung“ der Freizügigkeit entwickelt hat.34 Es hätte nahe gelegen, die Vorwirkungen dieser Auslegung zu untersuchen. Der Verlust des aktiven Wahlrechts wird schwerlich so viel Gewicht haben, dass ein Arbeitnehmer auf die Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat verzichtet. Der Verlust des Aufsichtsratsmandats dürfte aber einen „chilling effect“ haben. Die Aktionärsrechterichtlinie schreibt vor, dass „related party transactions“ geregelt werden. Hans Christoph Grigoleit behauptet: „Jedoch fällt der „zusätzliche“ Schutzeffekt der neuen Regulierung bei näherer Betrachtung nicht wesentlich ins Gewicht“.35 Für den Nachweis bräuchte man sozialwissenschaftliche Methoden. Man müsste zunächst operationalisieren, welchen Gefahren möglicherweise wirksamer begegnet wird als mit den 32
Ekkenga ZGR 2019, 191–237, 237. Hopt ZGR 2019, 507–543, 529. 34 Seifert ZGR 2019, 702–716, 707. 35 Grigoleit ZGR 2019, 412–462, 413. 33
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hergebrachten Mitteln des Konzernrechts. Der empirische Nachweis wäre schwierig, weil die Regeln der Richtlinie und ihre Umsetzung in das deutsche Recht breit diskutiert worden sind. Deshalb kann man nicht einfach die Ergebnisse vor und nach der Änderung der Regeln vergleichen. Hans-Friedrich Müller konzentriert sich auf die Weise, mit der der deutsche Gesetzgeber diese Verpflichtung der Richtlinie umsetzen will. Dazu gehört die in § 48a I 1 WpHG-E vorgesehene Publizität von Geschäften mit nahestehenden Unternehmen oder Personen. Die Veröffentlichung muss zwar unverzüglich, aber erst nach Abschluss des Geschäfts erfolgen. „Immerhin können aber auch ex-post zur Verfügung gestellte Informationen die Erhebung einer Schadensersatzklage der Aktionäre erleichtern und für potentielle Investoren Grundlage ihrer Anlageentscheidung sein“.36 Es würde lohnen, diese beiden Kanäle genauer auszuarbeiten. Es ist eigentlich nicht die Aufgabe eines Richters beim Bundesgerichtshof, in Eigeninitiative das Recht fortzuentwickeln. Ein ehemaliges Mitglied des II. Zivilsenats hat diesen Versuch jedoch unternommen. Zum Schutz der Aktionäre einer verschmelzenden Gesellschaft soll nach dem sog. Linde/Praxair-Verfahren genügen, wenn ihnen ein Umtauschangebot für ihre Aktien gemacht wird. Lutz Strohn fordert stattdessen einen Hauptversammlungsbeschluss. Jens Koch prüft diesen Vorschlag.37 Doch um die alternativen Lösungen wirklich vergleichen zu können, müsste man die Schutzeffekte modellieren (und idealerweise auch empirisch testen). Peter Hommelhoff betont die Legitimität eines faktischen Konzerns als Organisationsform für arbeitsteiliges Wirtschaften.38 Die Legitimität speist sich auch aus der „rechtlich induzierte[n] Handlungsdynamik“.39 Das ist eine spannende These, die nach einem empirischen Test ruft. Führt der partielle rechtliche Schutz vor dem Einfluss der Konzernmutter tatsächlich zu größerer Autonomie der Konzerntöchter? Wolfgang Schön fordert eine Neujustierung des Konzernrechts. Die Aufgabe dieses Rechtsgebiets beschränkt sich nicht auf den Schutz der Minderheit einer Konzerntochter vor dem Missbrauch der Leitungsmacht der Konzernmutter. Das Konzernrecht hat auch eine Ermöglichungsfunktion. Es soll der Mutter erlauben, Synergien zu nutzen. Die rechte Balance findet man, wenn man den Schutz der Minderheit im Sinne eines „dulde und liquidiere“ auf das Gewinninteresse beschränkt.40 Das ist ein spannender Vorschlag, der nach einem Modell ruft: welche Effekte sind im Gleichgewicht zu erwarten, wenn der Minderheit die Möglichkeit verwehrt wird, ihr nachteilige Leitungsentscheidungen abzuwehren? Würden dann Konzerne 36
Müller ZGR 2019, 97–125, 105. Koch ZGR 2019, 588–629. 38 Hommelhoff ZGR 2019, 379–411, 390. 39 Ebda. 40 Schön ZGR 2019, 343–378, 356 f. 37
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gar nicht mehr entstehen, deren Bildung effizient wäre? Könnte sich die Konzernmutter den wirtschaftlichen Wert einer Minderheitsbeteiligung in einer zuvor selbstständigen Tochter aneignen, weil die Minderheit aus dem Konzern gedrängt wird? Holger Fleischer und Sofie Cools zeichnen die Geschichte des Personengesellschaftsrechts und seine Entwicklung in anderen Rechtsordnungen nach.41 Der Text stellt keine funktionalen Thesen auf. Man könnte Konvergenz und Divergenz aber auch quantitativ analysieren. Interessant wäre zum Beispiel, ob machine learning algorithms die Rechtsfamilien finden, die die juristische Diskussion erwartet.42 Volker Beuthien will das Konzept der Gesamthand tiefer verstehen. Die Botschaft findet sich gleich auf der ersten Seite: „Da sowohl die Personen der Gesamthänder als auch die Gegenstände eines Gesamthandvermögens beliebig sind, kann kennzeichnend für eine Gesamthand als solche nur sein, dass die an ihr beteiligten Personen durch die Gemeinschaftlichkeit ihrer Rechtsinhaberschaft in der Rechtsausübung beschränkt sind, während das aus der gemeinsamen Verwaltung ihres Sondervermögens ergebende persönliche Rechtsverhältnis der Gesamthänder untereinander nicht Ursprung, sondern nur Folge der Rechtsgemeinschaft ist“43.
Normativ ist die Rechtsordnung natürlich frei, die Gesamthand aus der Perspektive der Vermögensbeziehungen zu konstruieren. Aber verfolgt die Rechtsordnung mit der Institution der Gesamthand nicht auch den Zweck, dem Rechtsverkehr geeignete Institutionen zur Verfügung zu stellen? Dann könnte es durchaus wichtig sein, die Institution so auszugestalten, dass enge persönliche Beziehungen entstehen, die die gemeinsam gewählte Aufgabe tragen können. Dazu hätte die Sozial- und Organisationspsychologie etwas zu sagen. Christine Osterloh-Konrad hält das Gebot der Selbstorganschaft in der Personengesellschaft für überlebt. „An der überkommenen Vorstellung, das Fehlen einer persönlichen Haftung führe generell zu übertrieben risikofreudiger Unternehmensführung, scheint nicht viel dran zu sein“.44 Das mag ja stimmen. Aber was ist falsch an der Sorge um das Auseinanderfallen von Herrschaft und Haftung?45 Welche institutionellen Sicherungen sind an die Stelle getreten? Nach § 172 IV HGB lebt die persönliche Haftung eines Kommanditisten wieder auf, wenn er Anteile entnommen hat und das Unternehmen so viel
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Fleischer/Cools ZGR 2019, 463–506. S. zum Vergleich Chang et al. Drawing the Legal Family Tree: An Empirical Comparative Study of 108 Property Doctrines in 128 Jurisdictions, Journal of Legal Analysis. 43 Beuthien ZGR 2019, 664–701, 665. 44 Osterloh-Konrad ZGR 2019, 271–300, 296. 45 S. erneut Berle/Means Modern Corporation and Private Property, 1932. 42
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Verlust macht, dass der Wert seines Kapitalanteils unter den Betrag der geleisteten Einlage sinkt. Der Bundesgerichtshof hatte über eine prozessrechtliche Folgefrage zu entscheiden. Wie weit reicht die Darlegungslast des Kommanditisten im Rechtsstreit mit dem Insolvenzverwalter? Christoph Thole plädiert dafür, den normativen Konflikt offen zu legen: „Der Kommanditist trägt die Darlegungs- und Beweislast für die fehlende Erforderlichkeit zur Gläubigerbefriedigung“.46 Die Analyse der resultierenden Anreize wäre spannend. Wie würde sich ein auf die Maximierung seines Einkommens zielender Kommanditist verhalten? Würde er bereits auf die Entnahme von Gewinnen verzichten? Oder gäbe es sogar Vorwirkungen auf die Entscheidung, sich als Kommanditist an einer Personengesellschaft zu beteiligen? Wären solche Vorwirkungen normativ als Selektionsinstrument erwünscht? Nach § 116 II HGB bedürfen außergewöhnliche Entscheidungen in einer Personengesellschaft der Zustimmung aller Gesellschafter. Der Bundesgerichtshof hatte über die Wirksamkeit einer Satzungsklausel zu entscheiden, die auch für solche Entscheidungen eine qualifizierte Mehrheit vorschreibt. Das hat der Bundesgerichtshof gebilligt, weil § 116 II HGB dispositives Recht sei. Herbert Wiedemann hält die Entscheidung für richtig: „In einer Publikumsgesellschaft, an der sich eine große Zahl untereinander (zunächst) nicht verbundener, geschweige denn organisierter Kapitalanleger beteiligen, muss der ‚Gesellschaftswille‘ von der Stimmenmehrheit gebildet werden, weil Vertragsänderungen sonst nicht durchzubringen wären, selbst wenn sie offenkundig im Interesse des Gemeinwohls liegen“.47
Die Analyse der Anreizeffekte wäre interessant. Welche Vorwirkungen auf die Anlageentscheidung hat die resultierende Unsicherheit über den Gegenstand und damit die Werthaltigkeit der Anlage? Unterscheidet sich die Unsicherheit, die aus künftigen Entscheidungen einer dann bestehenden Mehrheit resultiert, von der Unsicherheit über den Erfolg des Unternehmens am Markt? Letztere Unsicherheit ist mit jeder Beteiligung an einem Unternehmen verbunden. Stefan Korch interpretiert eine Vorschrift der Restrukturierungsrichtlinie als legislative Definition des Unternehmenszwecks. Wenn das Unternehmen in eine Krise gerät, ist der Geschäftsleiter nach Art. 19 verpflichtet, die Interessen der Gläubiger, der Anteilseigner sowie weiterer stakeholder in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.48 Eine sozialwissenschaftliche Folgefrage liegt nahe: welche verhaltenslenkenden Effekte haben gesetzliche Definitionen des Unternehmenszwecks? Darf der Alleingesellschafter einer GmbH das Unternehmen dadurch sanieren, dass er es mit einer zweiten GmbH verschmilzt, an der er die Mehrheit 46
Thole ZGR 2019, 301–323, 310. Wiedemann ZGR 2019, 923–928, 924. 48 Korch ZGR 2019, 1050–1081. 47
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hält? Der Bundesgerichtshof hat die Frage für den Fall verneint, dass dadurch die Existenz der aufnehmenden Gesellschaft vernichtet wird. Jan Lieder und Martin Bialluch fordern außerdem eine Differenzhaftung: Daran „führt schon aus materiellen Gerechtigkeitserwägungen kein Weg vorbei: Wird ein neuer Anteil an den Inferenten ausgegeben, erfordert das Gebot eines effektiven Kapitalschutzes, dass die erbrachte Einlage werthaltig ist“.49 „Gerechtigkeitserwägungen“ sind ein wenig klarer normativer Maßstab. Geht es um Verteilungsgerechtigkeit? Aber müsste dann nicht jeder Konzern verboten werden? Oder geht es um Anreizeffekte? Würden normativ erwünschte Konzerne nicht mehr gebildet, wenn die Rechtsordnung diesen Schutz verwehrt? Oder geht es um den Schutz des Schwächeren? Aber ist jeder Minderheitsgesellschafter von vornherein der Macht des Mehrheitsgesellschafters ausgeliefert? Warum hat er sich dann an dem Unternehmen beteiligt? York Schnorbus plädiert für die Zulässigkeit einer Direktabspaltung als Gestaltungsform für einen Spin-Off. Die bisherige Konzernmutter gibt die Anteile an der bisherigen Tochter auf. Aktionäre der Mutter erwerben diese Anteile. Der Spaltungsfreiheit soll aber die gesamtschuldnerische Haftung von Mutter und Tochter für die Altschulden der Mutter korrespondieren. Andernfalls ginge den Gläubigern der Mutter Haftungsmasse verloren.50 Dieses Argument lässt sich als Anwendung eines schon mehrfach verwendeten Kerngedankens der ökonomischen Analyse des Rechts interpretieren: Herrschaft (in diesem Fall: die Freiheit der bisherigen Konzernmutter zur Auflösung der Konzernbeziehung) und Haftung sollen gleichlaufen.51 Jannik Otto kritisiert die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Schiedsfähigkeit von Streitigkeiten über Mängel gesellschaftsrechtlicher Beschlüsse. „Die Rechtsordnung geht […] im Ausgangspunkt von einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Streitbeilegung im Schiedsverfahren mit der Streitbeilegung vor staatlichen Gerichten aus. […] Eine Benachteiligung einer Partei kann sich also nur aus hinzutretenden Umständen ergeben. Die Wirksamkeitsprüfung gem. § 138 Abs. 1 BGB ist daher auf die Umstandskontrolle beschränkt“.52
Es ist natürlich legitim, normative Fragen positivistisch zu entscheiden: der Gesetzgeber hat die Verantwortung übernommen. Der Interpret will sich nicht über diese Entscheidung hinwegsetzen. Diese Art von „academic self-restraint“ ist jedoch selten geworden. Normalerweise möchte ein Rechtswissenschaftler die Entscheidung des Gesetzgebers nicht nur berichten, sondern auch verstehen. Dann wäre die Frage berechtigt, ob Schiedsverfahren für diese Klasse von Streitigkeiten wirklich gleich geeignet sind. Das 49
Lieder/Bialluch ZGR 2019, 760–779, 764. Schnorbus ZGR 2019, 780–812, 788. 51 S. noch einmal Berle/Means Modern Corporation and Private Property,1932. 52 Otto ZGR 2019, 1082–1121, 1087. 50
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könnte eine Wirkungsanalyse zeigen, für die man sozialwissenschaftliche Methoden bräuchte.
VI. Korrelationen Kausalität ist ein anspruchsvolles Konzept. Ob ein bestimmter Gegenstand, eine bestimmte literarische Gattung, eine bestimmte Ausbildung oder ein bestimmtes Wirkungsfeld ursächlich dafür ist, dass ein Autor sozialwissenschaftliche Methoden oder Ergebnisse rezipiert, lässt sich aus der Durchsicht eines Jahrgangs einer Zeitschrift nicht belegen. Andere Ursachen könnten entscheidend sein, die so nicht zu beobachten sind. Vor allem ist aber die Richtung der Kausalität unklar. Sucht sich der Gegenstand seine Methode, oder motiviert die Eignung zur Anwendung einer Methode die Wahl des Gegenstands? Hat ein Autor auf die Rezeption sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse verzichtet, weil sich eine Urteilsanmerkung dafür nicht eignet, oder hat er sich für das Schreiben einer Anmerkung entschlossen, weil ihm die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht zugänglich sind? Benutzt ein Autor sozialwissenschaftliche Literatur, weil er dafür die Ausbildung hat, oder hat er die Ausbildung erworben, um diese Literatur nutzen zu können? Berücksichtigt ein Autor sozialwissenschaftliche Ergebnisse, weil er das als Universitätsprofessor für seine Pflicht hält, oder ist er Professor geworden, damit er seine Aussagen auch interdisziplinär absichern kann? Die folgende Tabelle berichtet deshalb nur Korrelationen. Zwei Variablen stehen in einem Zusammenhang. Wenn die Wahrscheinlichkeit sehr klein ist, dass dieser Zusammenhang auf Zufall beruht, lohnt es, den Zusammenhang näher zu untersuchen. Die Konvention der Sozialwissenschaften wird als p-Wert ausgedrückt. Bei kleinen Datensätzen wie diesem gilt ein p-Wert unter 0,05 als bedeutsam, und ein p-Wert unter 0,1 als berichtenswert. Corporate Governance Anmerkung sozial-wissenschaftliche Ausbildung Prof cons
Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Modell 5 Modell 6 Modell 7 0,640 0,560 0,629 0,716 (0,066) (0,093) (0,058) (0,034) –0,667 –0,600 –0,543 –0,435 (0,041) (0,059) (0,081) (0,168) 0,440 0,457 0,394 (0,187) (0,139) (0,201)
–0,000 (1,000)
0,667 (0,000)
0,417 (0,012)
0,593 (0,154) –0,000 (1.000)
0,200 (0,517)
0,029 (0,929)
0,513 (0,201) –0,499 (0,337)
Tabelle 1: abhängige Variable: 2: intensive Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlicher Literatur, 1: einzelne Zitate, 0: keine Zitate, lineare Modelle N = 31, p-Werte in Klammern
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Auch wenn es nur Korrelationen sind, sind die Ergebnisse interessant. Alle sieben Modelle korrelieren das Ausmaß, in dem ein Aufsatz sozialwissenschaftliche Literatur auswertet, mit beobachteten Eigenschaften des Gegenstands, der literarischen Gattung oder des Autors. Modelle 1–4 korrelieren die Auswertung sozialwissenschaftlicher Literatur mit nur je einer anderen Variablen. Dass der Autor eine wirtschaftswissenschaftlicher Ausbildung hat und dass er ein Professor ist, hat zwar den erwarteten positiven Effekt. Die p-Werte sind aber weit von dem konventionellen Maß für die Signifikanz eines Effekts entfernt. Das mag daran liegen, dass die 31 Aufsätze des Jahrgangs 2019 ein zu kleines Sample sind. Große Bedeutung haben diese beiden Faktoren aber jedenfalls nicht. Blickt man nur auf bivariate Korrelationen, ist die literarische Gattung am wichtigsten. Modell 2 zeigt nicht nur einen klar signifikanten, negativen Effekt (p = 0,041). Tatsächlich addieren sich die Konstante und der Koeffizient für den Umstand, dass der Aufsatz eine Urteilsanmerkung ist, zu 0. In keiner der sieben Urteilsanmerkungen findet sich ein einziges sozialwissenschaftliches Zitat. Dass der Aufsatz eine Frage der corporate governance zum Gegenstand hat, hat einen deutlich positiven Effekt. Auch in Modell 1 lohnt der Blick auf die Konstante. Sie ist exakt 0. Sozialwissenschaftliche Literatur wird im Jahrgang 2019 der ZGR nur zitiert, wenn es um corporate governance geht. Dieser Effekt hat allerdings einen p-Wert von 0,066. Er ist nur „schwach signifikant“. Die bivariate Korrelation ist nur bedingt verlässlich. Modelle 5–7 „kontrollieren“ dann aber für mehrere der beobachteten Variablen. Das ändert die Interpretation der Koeffizienten. Sie sind nun konditioniert darauf, dass die übrigen Variablen 0 sind. Am Beispiel von Modell 5: wenn der Aufsatz keine Urteilsanmerkung ist, dann wird weniger wichtig, ob er corporate governance zum Thema hat (der Koeffizient ist kleiner als in Modell 1, der p-Wert ist größer). Umgekehrt wird auch weniger wichtig, dass der Text ein Urteil kommentiert, wenn es dabei nicht um corporate governance geht (der Koeffizient ist kleiner als in Modell 2, der p-Wert ist größer). Diese Unterschiede zwischen Modellen 1 und 2 auf der einen und Modell 5 auf der anderen Seite beruhen darauf, dass beide Variablen negativ korreliert sind. Urteilsanmerkungen widmen sich häufiger Gegenständen außerhalb von corporate governance. Modelle 6 und 7 „kontrollieren“ zusätzlich noch für Charakteristika des Autors. Tut man das, erweist sich, dass der Gegenstand wichtiger ist als die literarische Gattung. In Modell 7 ist der Koeffizient für den Gegenstand corporate governance am größten von allen Modellen. Der Koeffizient dafür, dass der Text ein Urteil kommentiert, ist am kleinsten. Mit den p-Werten verhält es sich genau umgekehrt.
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VII. Entwicklungsoptionen Die deutsche Rechtswissenschaft ist zu Recht stolz auf ihre Nähe zur Rechtspraxis. Rechtswissenschaft will zuerst einmal nützlich sein. Sie dient den Rechtsunterworfenen, weil sie Gerichten, Behörden und Vertragsparteien hilft, bessere Entscheidungen zu treffen. Das gilt auch für das Gesellschaftsrecht. Der amerikanischen Rechtswissenschaft werfen deutsche Wissenschaftler nicht selten vor, dass sie diese Verbindung zur Rechtspraxis gekappt hat. Wissenschaftlichkeit ist für einen Juristen kein Selbstzweck. Trotzdem hoffe ich, dass diese Spurensuche belegt, wie viel unmittelbaren Nutzen gerade die Rechtspraxis ziehen könnte, wenn sich das Gesellschaftsrecht noch stärker auf die sozialwissenschaftliche Literatur einlässt. Am Ende wird sich die Disziplin dann auch dafür öffnen müssen, selbst sozialwissenschaftliche Methoden anzuwenden. Denn was der Rechtspraxis dient, weiß ein Rechtswissenschaftler viel besser und genauer als sein Kollege, der vor allem das wissenschaftliche Gespräch zwischen Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen oder Soziologen sucht.
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Gleichbehandlungsgebote als Vertragshilfe Andreas Engert
Gleichbehandlungsgebote als Vertragshilfe ANDREAS ENGERT
I. Einleitung Der Titel des Beitrags ist der Jubilarin entliehen. Vor etwas über zwanzig Jahren hat Christine Windbichler die betriebliche Mitbestimmung bei vergleichbarer Gelegenheit als „institutionalisierte Vertragshilfe“ gedeutet.1 Mit dieser Einsicht verblüffte sie kurz darauf den Verfasser bei einem Bewerbungsgespräch an ihrem Lehrstuhl am Bebelplatz. Frisch aus den USA zurückgekehrt, hatte er nicht damit gerechnet, die ökonomische Vertragstheorie so selbstverständlich und geläufig im deutschen Arbeitsrecht angewendet zu sehen. Obwohl es ihn aus anderen Gründen letztlich an die Isar statt an die Spree zog, blieb Christine Windbichler ein Vorbild für gelungene sozialwissenschaftliche, insbesondere ökonomische Reflexion des Rechts: nicht als Belehrung der Juristen aus der überlegenen Warte einer umfassenden sozialen Welterklärung, sondern in umgekehrter Suchrichtung als Bestreben, die ökonomische Rationalität hinter den gewachsenen Institutionen des Rechts aufzuspüren und theoretisch nachzuzeichnen – durchaus mit dem Ziel, das so verfeinerte Verständnis für Verbesserungen nutzen zu können.2 In ihrem damaligen Beitrag hatte Windbichler die betriebliche Mitbestimmung neben andere Mittel der Vertragsausfüllung und -anpassung gestellt, darunter das Weisungsrecht des Arbeitgebers, die Grundlagenstörung, die Betriebsübung, aber auch den Gleichbehandlungsgrundsatz.3 Die folgenden Überlegungen greifen das Gleichbehandlungsgebot, vor allem aber den Gedanken auf, dass allgemeine Rechtsfiguren der vertraglichen Lückenfüllung dienen können. Beim Gleichbehandlungsgebot konkurriert eine solche Interpretation allerdings mit sozial- und verteilungspolitischen Gleichheitszielen, wie sie in den letzten Jahren wieder mehr Aufmerksamkeit und 1 Ihr Beitrag zur Festschrift für Wolfgang Zöllner trägt den Titel: „Betriebliche Mitbestimmung als institutionalisierte Vertragshilfe“, Windbichler in FS Zöllner, 1999, 999. 2 Ein weiteres Beispiel behutsamer institutioneller Analyse im Dialog mit der USamerikanischen Rechtswissenschaft bildet die Untersuchung des Für und Widers der unternehmerischen Mitbestimmung sowie von Reformperspektiven in Windbichler EBOR 6 (2005), 507. 3 Als eines von mehreren „individualrechtlichen Gestaltungsmitteln mit kollektivem Einschlag“, Windbichler in FS Zöllner, 1999, 999, 1002.
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Zuspruch finden. Zudem läuft sie der traditionellen Deutung als Ausfluss der iustitia distributiva zuwider; nicht zuletzt Windbichlers akademischer Lehrer Götz Hueck hat diese Zuordnung betont.4 Als „Vertragshilfe“ würden Gleichbehandlungsgebote demgegenüber die Kooperation der Beteiligten fördern, im Sinne des ökonomischen Effizienzziels also eine höhere Wertschöpfung. Ob eine solche „produktive“ Umdeutung anstelle der vorherrschenden distributiven Begründung gelingen kann, erscheint schon für sich genommen von Interesse. Darüber hinaus kann eine genauere Fundierung zu eindeutigeren Rechtsfolgen führen. Bei einer für ihre Unbestimmtheit berüchtigten Forderung wie der nach gleicher Behandlung des (wesentlich) Gleichen müsste jede Konkretisierung willkommen sein. Privatrechtliche Gleichbehandlungsgebote sind allerdings wohl unterschiedlich zu begründen.5 Zu Beginn der Ausführungen werden deshalb mögliche Anwendungsfälle für die hier zu entwickelnde lückenfüllende Funktion von Gleichbehandlungsgeboten skizziert, darunter der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz (Abschnitt II.). Sodann wird die These vom Gleichbehandlungsgebot als Vertragshilfe vorgestellt (Abschnitt III.), bevor sie aus einer ökonomischen Modellbetrachtung hergeleitet wird (Abschnitt IV.). Aus der Begründung ergeben sich Hinweise darauf, was als gleich zu behandeln und welche Differenzierungen zu rechtfertigen sind (Abschnitt V.). Auch wenn das so verstandene Gleichbehandlungsgebot ökonomisch keine vollkommen effiziente Lückenfüllung verspricht, dürfte es Regelungsalternativen überlegen sein (Abschnitt VI.). Der Beitrag ist während der Coronavirus-Epidemie im Frühjahr 2020 entstanden und konnte sich nur auf die dem Verfasser am heimischen Arbeitsplatz erreichbaren Quellen stützen. Nicht verfügbar waren in den letzten Jahren entstandene, zentrale Schriften zu Gleichbehandlungsgeboten und zur Verteilungsgerechtigkeit im Privatrecht.6 Der Verfasser hofft, das 4 G. Hueck in GS Dietz, 1973, 241, 252 ff. Vgl. aber Canaris Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, 36 („erstaunliche[s] Phänomen“ allgemeiner Anerkennung distributiver Kriterien trotz umstrittener Begründung und Widerspruchs zur Vertragsfreiheit). Abweichend – als Anwendung ausgleichender Gerechtigkeit (iustitia commutativa) – deutet den gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot hingegen Verse Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, 77 ff. Zur Unterscheidung zwischen verteilender und ausgleichender Gerechtigkeit erhellend Rödl Gerechtigkeit unter freien Gleichen, 2015, 54 ff. 5 Für die gesellschaftsrechtliche Gleichbehandlung hat Verse den Gesichtspunkt einer prozeduralen Richtigkeitsgewähr herausgearbeitet, Verse Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, 58 ff., 79; zu Diskriminierungsverboten etwa Engert German L.J. 4 (2003), 685, 693 ff.; eine originelle ökonomische Begründung des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebotes bietet von Randow in FS Baums, 2017, 931. 6 Insbesondere Arnold Vertrag und Verteilung, 2014; Grünberger Personale Gleichheit, 2013; Kainer Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Zivilrecht, in Vorbereitung; Mörsdorf Ungleichbehandlung als Norm, 2018.
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gegen diese Werke und ihre Autoren Versäumte bei anderer Gelegenheit nachholen zu können.
II. Referenzfälle von Gleichbehandlungsgeboten Die Vertragspraxis liefert einen deutlichen Hinweis, dass Gleichbehandlung nicht von Vorstellungen über gerechte Verteilung geleitet sein muss: In Verträgen zwischen Unternehmen verspricht eine Partei der anderen mitunter, sie ebenso zu behandeln wie andere, entsprechende Vertragspartner. Ein Beispiel bietet die berühmte Lieferbeziehung zwischen General Motors und Fisher Body, der vielleicht bekanntesten Fallstudie der ökonomischen Vertragstheorie. General Motors hatte sich 1919 verpflichtet, seinen gesamten Bedarf an geschlossenen Fahrzeugkarosserien ausschließlich von Fisher Body zu beziehen. Da sowohl die zu liefernden Karosserien als auch die Produktionskosten nicht im Voraus bestimmbar waren, vereinbarten die Parteien keinen Festpreis, sondern eine Formel zur Preisbestimmung und daneben eine Meistbegünstigungsklausel.7 Fisher Body sicherte General Motors also bei der Preissetzung Gleichbehandlung mit anderen, entsprechenden Abnehmern zu. Meistbegünstigungsklauseln sind indes keine historische oder US-amerikanische Eigenheit. Sie sind unter anderem auch für das Verhältnis zwischen Förderern von Erdgas und Pipelinebetreibern als dessen Abnehmern institutionenökonomisch beleuchtet worden.8 In der deutschen Vertragspraxis finden sie sich „regelmäßig“ in Lizenzverträgen,9 ebenso aber beispielsweise in einem Vertragsmuster über die Auslagerung der Datenverarbeitung von Banken.10 Es erscheint einigermaßen fernliegend, dass kapitalistische Unternehmen besondere Vorstellungen über eine erwünschte gleiche Gewinnverteilung untereinander entwickeln. Zudem ließe sich schwer erklären, weshalb Meistbegünstigungsklauseln in bestimmten Vertragstypen gehäuft auftreten, 7 Klein J. L. & Econ. 42 (2000), 105, 109. Zu den weiteren Umständen des Falls siehe dort, 107 ff., sowie erstmals Klein/Crawford/Alchian J. L. & Econ 21 (1978), 297, 308 ff. 8 Mulherin J. L. Econ. & Organ. 2 (1986), 105, 107, 111 ff.; Crocker/Lyon J. L. & Econ. 37 (1994), 297. 9 So Fock in Wandtke (Hrsg.), Medienrecht, Band I, 2. Aufl. 2011, § 5 Rn. 190; nach zum Teil vertretener Auffassung soll sich eine Meistbegünstigungspflicht sogar ohne Vereinbarung aus § 242 BGB ergeben, Pahlow Lizenz und Lizenzvertrag im Recht des geistigen Eigentums, 2006, 325. 10 Bartsch in Hoffmann-Becking/Gebele (Hrsg.), Beck’sches Formularbuch Bürgerliches-, Handels- und Wirtschaftsrecht, 13. Aufl. 2019, „Outsourcing-Vertrag“, § 13 IV: „Die X-AG bietet der Bank stets zumindest alle die Dienste an, die sie anderen Banken im Bereich des Wertpapierhandels durch Outsourcing oder Softwareüberlassung anbietet, und zwar zu finanziellen und sonstigen Bedingungen, die auch in Hinblick auf das mit der Bank zu verabredende Leistungsvolumen nicht schlechter sind als die zwischen der X-AG und den anderen Kunden vereinbarten Bedingungen.“
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sonst aber kein verbreitetes Gestaltungselement sind. Dass Banken oder Lizenznehmer ein feineres Gerechtigkeitsgefühl aufweisen als andere kommerzielle Vertragsparteien, ist bislang nicht behauptet worden. Die selektive Verwendung deutet darauf hin, dass die vereinbarte Gleichbehandlung kein allgemeines, am Markt verbreitetes Gleichheitsideal widerspiegelt, sondern in bestimmten Verträgen funktional vor einer Vereitelung des Vertragszwecks schützen soll. Das Kartellrecht wittert hinter Meistbegünstigungsklauseln häufig eben dies – die eigennützige Zweckverfolgung einer Partei, namentlich ein Streben nach Beschränkung des Wettbewerbs.11 Tatsächlich verteuert eine Gleichbehandlungspflicht mögliche Preiszugeständnisse des Anbieters gegenüber anderen Abnehmern, weil er sie sogleich auf den geschützten Vertragspartner ausdehnen müsste; jeder Euro Nachlass kostet ihn so weit mehr als einen Euro. Dies erleichtert die Koordination unter konkurrierenden Anbietern und schwächt tendenziell den Preiswettbewerb.12 Gleichwohl missbilligt das Kartellrecht Meistbegünstigungsklauseln nicht schlechthin, offenbar weil es auch mögliche legitime Zwecke anerkennt.13 Gegenüber marktmächtigen Unternehmen stellt es sogar selbst eine Forderung nach Gleichbehandlung auf: Art. 102 S. 2 c) AEUV und § 19 II Nr. 1 F. 2 GWB verbieten dem Marktbeherrscher ausdrücklich die Diskriminierung von Handelspartnern bzw. Unternehmen. Ein aktuelles Beispiel ist die Pflicht, anderen Unternehmen eine Lizenz zu fairen, zumutbaren und diskriminierungsfreien Bedingungen14 zu gewähren, wenn die Nutzung eines Patents erforderlich ist, um Produkte nach einem vereinbarten oder tatsächlich am Markt vorherrschenden Standard herzustellen.15 Das Diskriminierungsver11 Ein aktuelles Beispiel ist die von Buchungsplattformen auferlegte Verpflichtung von Hotels, keine günstigeren Übernachtungspreise als auf der Plattform anzubieten, dazu OLG Düsseldorf NZKartR 2015, 148 (Weite Bestpreisklausel); OLG Düsseldorf NZKartR 2019, 379 (Enge Bestpreisklausel). 12 Eingängig Baker/Chevalier Antitrust 27 (2013), 23 („effectively ‚taxing‘ pricecutting“). 13 Grundsätzlich sollen Meistbegünstigungsklauseln zwar gegen Art. 101 I a) AEUV verstoßen, Zimmer in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2019, Art. 101 AEUV Rn. 255. Anbieter mit einem Marktanteil unter 30% dürfen sie aber zugunsten ihrer Abnehmer grundsätzlich vereinbaren, Art. 2 I, 3 I, 4 I a) Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (EU) Nr. 330/2010; zu entsprechenden Pflichten der Abnehmer beim Weiterverkauf siehe EU-Kommission, Vertikal-Leitlinien der (2010/C 130/01), Rn. 48; ähnlich für Lizenzgebühren Art. 2 I, 4 I a), II b) Technologietransfer-Gruppenfreistellungsverordnung (EU) Nr. 316/2014, dazu Fuchs in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2019, Art. 4 Technologietransfer-Gruppenfreistellungsverordnung Rn. 14. 14 Sogenannte FRAND-Bedingungen: „fair, reasonable and non-discriminatory“. 15 Im ersten Fall müssen die an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen sich selbst zu FRAND-Lizenzierungen verpflichten, so die Leitlinien der EU-Kommission zur horizontalen Zusammenarbeit (2011/C 11/01), Rn. 285, 287 ff.; zur Durchsetzung im Rahmen des Missbrauchsverbots EuGH ECLI:EU:C:2015:477, Rn. 48 ff. (Huawei/ZTE). Eine Lizenzierungspflicht kann sich aber bei einem De-facto-Standard aus dem Diskriminie-
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bot führt zu einem Vergleich mit anderen Lizenznehmern und liefert damit einen zusätzlichen Maßstab neben der ebenfalls geforderten, aber schwer kontrollierbaren „Fairness“.16 Begründet wird dieses Gleichbehandlungsgebot damit, die Geschäftspartner des marktmächtigen Unternehmens sollten im Wettbewerb untereinander nicht benachteiligt werden.17 Dies entspricht genau dem Regelungszweck von Meistbegünstigungsklauseln, wie sie die Rechtsprechung bei der Auslegung von Lizenzverträgen zugrunde legt.18 Die kartellrechtliche Rechtsprechung und Literatur betont allerdings die Differenziertheit des Diskriminierungsverbots; es handle sich um kein generelles Meistbegünstigungsgebot.19 Den Anlass dieses Beitrags liefert das Arbeitsrecht als eines der Hauptforschungsgebiete der Jubilarin. Die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer gilt dort als allgemein anerkannter Grundsatz des Rechtsgebiets. Man hat keine Scheu, ihn unmittelbar dem „überpositiven Ideal der Gerechtigkeit“ zuzuordnen, „die es gebietet, Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend seiner Eigenart ungleich zu behandeln“.20 Näher begründet wird er mit der Machtstellung des Arbeitgebers und seiner Fürsorgepflicht, aber auch dem Kollektiv- bzw. Gemeinschaftsbezug des Arbeitsverhältnisses.21 Wie im Kartellrecht wird vom Arbeitgeber keine umfassende Gleichbehandlung verlangt. Insbesondere löst eine Begünstigung nur einzelner Arbeitnehmer noch keine Gleichbehandlungspflicht aus. Erst wenn vom Arbeitgeber selbst aufgestellte Regeln erkennbar werden, sind sie erstens allgemein anzuwenden und werden sie zweitens auf nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen überprüft.22 Daraus kann sich zum Beispiel ein Anspruch des Arbeitnehmers errungsverbot ergeben, BGHZ 180, 312, Rn. 22 ff. (Orange-Book-Standard); BGH GRUR 2004, 966, 968 f. = BGHZ 160, 67 (Standard-Spundfass). 16 Zu den dabei auftretenden Bewertungsproblemen EU-Kommission, HorizontalLeitlinien (2011/C 11/01), Rn. 289 f. Insgesamt zu dieser Funktion des kartellrechtlichen Gleichbehandlungsgebots Fuchs in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2019, Art. 102 AEUV Rn. 388 („letztlich ein Beweisproblem“). 17 BGH NZKartR 2016, 374, Rn. 48 (NetCologne). 18 BGH GRUR 1965, 591, 595 (Wellplatten). 19 BGH NZKartR 2016, 374, Rn. 48 (NetCologne); BGH NJW-RR 2011, 774, Rn. 25 (Entega II); BGH GRUR 2004, 966, 969 = BGHZ 160, 67 (Standard-Spundfass); Loewenheim in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 19 GWB Rn. 47. 20 BAGE 149, 69, Rn. 18; aus der Kommentarliteratur Joussen BeckOK Arbeitsrecht, Stand: 1.3.2020, § 611a BGB Rn. 313 und Maties BeckOGK BGB, Stand: 1.12.2019, § 611a BGB Rn. 1442, beide unter Berufung auf G. Hueck in FS Dietz, 1973, 241, 252 ff. 21 Zu Letzterem Richardi ZfA 2008, 31, 34 f.; Überblick der Begründungsansätze bei Maties BeckOGK BGB, Stand: 1.12.2019, § 611a BGB Rn. 1446 ff. 22 BAG NZG 2010, 632, Rn. 24, 29; BAG NZA 2003, 215, 216 (fehlender kollektiver Bezug bei Gehaltserhöhung für vier Arbeitnehmer, die weniger als 5% der außertariflich Angestellten des Arbeitgebers ausmachen); BAG NJW 1983, 679, 680 (kollektiver Bezug gegeben bei Anwendung von unterschiedlichen Vergütungssystemen auf jeweils 26 und 150 Arbeitnehmer ohne erkennbare Kriterien „nach Gutdünken“); zusammenfassend
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geben, an Gehaltserhöhungen, einer freiwilligen tariflichen Vergütung oder Aktienoptionsprogrammen teilzuhaben.23 III. These Die These des Beitrags lautet, dass die eben beispielhaft beschriebenen Gleichbehandlungsgebote am besten funktional zu erklären sind, nämlich als Hilfestellung für die Beteiligten einer langfristigen Kooperationsbeziehung. Den Ausgangspunkt bildet das klassische Problem unvollständiger Verträge, das auch Windbichler in dem eingangs erwähnten Beitrag beschäftigte: Die Parteien bedürfen rechtlicher Bindung, ohne sich aber bereits auf eine bestimmte Regelung festlegen zu können, weil die Zukunft zu viele Unwägbarkeiten bereithält; die Ungewissheit der technischen und wirtschaftlichen Umstände verbietet eine Fixierung der Sachleistungen und der dafür zu zahlenden Preise. Wie aber soll man sich binden, wenn man noch nichts Konkretes festschreiben kann und will? Das Gleichbehandlungsgebot bietet darauf in einer besonderen Konstellation eine halbwegs befriedigende Antwort. Wenn sich die angestrebte Kooperation zwischen einer Einzelpartei auf der einen und einer Mehrzahl von Beteiligten auf der anderen Marktseite abspielt, erreicht ein Gleichbehandlungsgebot Flexibilität und Bindung zugleich: Die Einzelpartei kann im Lichte der eingetretenen Umstände entscheiden, zu welchen Bedingungen sie geschäftsbereit ist, muss der mehrgliedrigen Marktseite dann aber einheitlich dieselben Konditionen anbieten; ihre Gestaltungsmacht beschränkt ein von ihr selbst gewählter Fixpunkt. Wie zu zeigen sein wird, erzeugt diese Einengung nicht immer und in jeder Hinsicht optimale Anreize.24 Sie hindert die Einzelpartei jedoch daran, sich bestimmte Vorteile aus individuellen Anstrengungen ihrer Geschäftspartner anzueignen. Damit erhält das Gleichbehandlungsgebot Anreize der mehrgliedrigen Marktseite zu Investitionen in die Kooperationsbeziehung – und erreicht so weitgehend das ökonomische Ziel einer rechtlichen Bindung, ohne dass es im Voraus einer konkreten Regelung bedürfte.25 Spinner in Münchener Kommentar, BGB, 8. Aufl. 2020, § 611a BGB Rn. 1043, 1045, 1047; Preis in Erfurter Kommentar, 20. Aufl. 2020, § 611a BGB Rn. 579 ff. 23 BAG NJW 1987, 1285, 1286 f. = BAGE 49, 346 (Teilhabe an „Lohnwelle“ und Inflationsausgleich); BAGE 149, 69, Rn. 21 ff. (allgemeine Lohnerhöhungen für Arbeitnehmer mit Standardarbeitsvertrag); BAG NJW 1983, 679 (freiwillige tarifliche Vergütung von Musikschullehrern); BAG NZG 2010, 632, Rn. 25ff. (Aktienoptionsprogramm für Führungskräfte). Zum Gleichbehandlungsgrundsatz bei Gehaltserhöhungen zusammenfassend Fischinger in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Individualarbeitsrecht I, 4. Aufl. 2018, § 14 Rn. 17. 24 Näher unten IV.3. und VI. 25 Eine einfachere, aber auch begrenztere ökonomische Erklärung liefern Crocker/Lyon J. L. & Econ. 37 (1994), 297, 301 ff. Danach dient das Meistbegünstigungsgebot als eine Art
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IV. Ökonomische Herleitung Für die ökonomische Herleitung und Erläuterung ist die Kooperationsbeziehung analytisch in zwei Phasen zu unterteilen. In der ersten Phase („ex ante“) lassen sich die Parteien aufeinander ein, indem eine oder beide Seiten in das Entstehen gewinnbringender Austauschmöglichkeiten investieren. Für die zweite Phase des eigentlichen Leistungstauschs („ex post“) entsteht daraus eine Abhängigkeit, weil die erforderliche Investition auf die geplante Transaktion zugeschnitten ist und außerhalb der Kooperationsbeziehung keinen Wert hat. Sie lohnt sich daher ex ante nur, wenn dem Investierenden ex post ein auskömmlicher Anteil an dem erhofften Vertragsgewinnen zufällt. Das zu lösende Problem liegt darin, dass die Parteien sich ex ante nicht in jeder Hinsicht verbindlich auf Art und Umfang ihrer geplanten Leistungen ex post und damit die Aufteilung des Vertragsgewinns festlegen können: Die Parteien des Lizenzvertrags wissen nicht, welche Nutzungsmöglichkeiten die patentierte Erfindung bieten wird; Bank und IT-Dienstleister sehen bei Abschluss des Auslagerungsvertrags nicht voraus, welche technischen Möglichkeiten wenige Jahre später zur Verfügung stehen, aber auch welche Kosten sie verursachen werden; der Arbeitgeber ahnt nicht, dass er zehn Jahre später einem börsennotierten Konzern angehören und seinen leitenden Angestellten einen Aktienoptionsplan anbieten wird. Das Gleichbehandlungsgebot ermöglicht in solchen Fällen eine Bindung, ohne die genauen Konditionen ex ante bereits festzuschreiben. Voraussetzung dafür ist die erwähnte asymmetrische Struktur einer Einzelpartei und einer Mehrzahl von Geschäftspartnern. Zumindest die mehrgliedrige Seite investiert ex ante und macht sich so von der alleinigen Gegenpartei abhängig. Nicht erforderlich ist, dass zu diesem Zeitpunkt bereits ein Vertrag abgeschlossen wird. So können im kartellrechtlichen Kontext Unternehmen ex ante bereits in ihre Wertschöpfung auf einer bestimmten Marktstufe investieren und dann ex post auf Vertragsabschlüsse mit einem Marktbeherrscher angewiesen sein. Gerade solche Investitionen soll das kartellrechtliche Diskriminierungsverbot nach der hier vertretenen These ermöglichen. Die ökonomische Analyse beginnt bei der strategischen Situation ex post, wenn die mehrgliedrige Marktseite sich mit spezialisierten Investitionen in Abhängigkeit von einer einzigen Gegenpartei gebracht hat (Abschnitt 1.). Diese Machtverhältnisse ex post und ihre Auswirkungen bestimmen die Bereitschaft zu Investitionen ex ante (Abschnitt 2.). Indem ein Gleichbehandlungsgebot die Macht der Einzelpartei ex post beschränkt, kann es InvestiBieterverfahren, um eine nicht vermehrbare vertragliche Leistung dem Abnehmer mit der höchsten Wertschätzung zuzuweisen.
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tionen ex ante fördern, die ohne eine solche Absicherung unterbleiben würden (Abschnitt 3.). 1. Machtstellung der Einzelpartei ex post Die Macht einer geeint handelnden Marktseite kann man ökonomisch als Monopolstellung beschreiben. Der Begriff des Monopols wird hier nur als ökonomische Beschreibung gebraucht; eine Bewertung soll ebenso ausgeblendet bleiben wie die Frage, ob kartellrechtlich eine Marktbeherrschung nach § 18 GWB oder Art. 102 S. 1 AEUV vorliegt. Des Weiteren beschränkt sich die Darstellung auf den vertrauteren Fall, dass die Einzelpartei die Sachleistung anbietet; gerade im Arbeitsrecht verhält es sich umgekehrt, so dass dort von einem Monopsonisten („Einzelkäufer“) zu sprechen wäre. Die Überlegungen zum Monopol sind aber leicht auf die Monopsonie zu übertragen.26 Abbildung 1 zeigt die klassische ökonomische Analyse eines Monopolmarktes. Die schmale, aufsteigende Linie stellt die Angebotsfunktion des Monopolisten, die fett gezeichnete, absteigende Linie die Nachfragefunktion dar. Seine Marktmacht erlaubt es dem Monopolisten, Menge und Preis einseitig festzusetzen. Anstelle der Wettbewerbsmenge QW bietet der Monopolist eine geringere Menge QM; aus der Nachfragelinie ergibt sich daraus der höhere Monopolpreis PM. Dieser Mengenrückgang verringert die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung: Zum Wettbewerbspreis PW hätten mehr Güter produziert und nutzbringend eingesetzt werden können. Der volkswirtschaftliche Verlust („deadweight loss“) liegt in der schraffierten Fläche rechts von QM. Der über dem Wettbewerbspreis PW liegende Teil der Fläche zeigt den entgangenen Gewinn der Nachfrager. Jede nicht ausgetauschte Einheit des Gutes bis zur Wettbewerbsmenge QW wäre ihnen ausweislich der Nachfragelinie mehr wert als der Preis PW. Der Teil der schraffierten Fläche unterhalb von PW stellt die verlorenen Anbietergewinne des Monopolisten dar. Trotz dieser Einbuße bleibt der höhere Preis PM für ihn von Vorteil, weil er ihm bei den noch zustande kommenden Geschäften die gepunktete Fläche links von QM als zusätzlichen Gewinn (Monopolrente) im Vergleich zu einem Wettbewerbsmarkt verschafft. Würde er stattdessen nur den Wettbewerbspreis PW fordern, fielen diese Vertragsgewinne den Nachfragern zu. 26 Sofern die mehrgliedrige Marktseite ihrerseits auf anderen Märkten konkurriert, ergibt sich die weitere Besonderheit, dass der vom Monopolisten einem Konkurrenten gebotene Preis die eigenen Wettbewerbsbedingungen beeinflusst. Die vom Monopolisten seinen verschiedenen Geschäftspartnern gebotenen Konditionen hängen auf diese Weise zusammen. Dies spielt im Kartellrecht, ebenso aber bei vielen vertraglichen Meistbegünstigungsklauseln eine Rolle, vgl. oben Fn. 17 und 18. Die Ergebnisse der folgenden Analyse verändert diese Komplikation aber im Kern nicht.
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Abbildung 1: Monopolrente und Wohlfahrtsverlust ohne Preisdiskriminierung
Diese Ausgangsbetrachtung unterstellt, dass der Monopolist zwar einseitig die Menge bestimmen kann, aber der resultierende Preis einheitlich für alle Nachfrager gilt, wie sich an den horizontalen Preislinien in Abbildung 1 zeigt. Dem Monopolisten fehlt die Möglichkeit, den Preis für verschiedene Nachfrager zu differenzieren. Kann er hingegen „Preisdiskriminierung“ betreiben, verringert dies zunächst die Wohlfahrtseinbußen. Der Monopolist kann nun weiterhin die Menge QM zum Preis PM absetzen, zugleich aber zusätzliche Güter bis zur Menge QW zu niedrigeren Preisen. Zwar fallen die zusätzlichen Vertragsgewinne überwiegend dem Monopolisten zu, weil er über abgestufte Preise den Nachfragern (fast) jeden Vertragsgewinn entziehen kann. Dies betrifft aber nur die Verteilung, nicht das Entstehen der Vertragsgewinne und damit nicht die Effizienz. Die differenzierten Preise ermöglichen mehr gewinnbringende Transaktionen und verringern damit in der Summe die schädlichen Folgen von Marktmacht. Dies erklärt die zum Teil positive Bewertung von „Preisdiskriminierung“ in der Wettbewerbsökonomik.27 Die beiden schraffierten Flächen in Abbildung 2 verdeutlichen allerdings, wie weitgehend die Möglichkeit zu umfassender Preisdiskriminierung Ver27
Lehrbuchdarstellung bei Belleflamme/Peitz Industrial Organization, 2. Aufl. 2015, 197 ff.; Literaturüberblick bei Stoll in Armstrong/Porter (Hrsg.), Handbook of Industrial Organization, Bd. III, 2007, 2221. Grundlegend Spence Am. Econ. Rev. 66 (1976), 407; Spence Rev. Econ. Stud. 43 (1976), 217.
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tragsgewinne von den Nachfragern zum Monopolisten verschieben würde. Die vertikal schraffierte Fläche rechts von QM spiegelt den vermiedenen Wohlfahrtsverlust wider. Kann der Monopolist aber seine Preise nach Wunsch differenzieren, braucht er sich darauf nicht zu beschränken. Vielmehr wird er den Nachfragern dann auch links von QM ihre verbliebenen Vertragsgewinne – die horizontal schraffierte Fläche – entziehen. Im Ergebnis könnte der Monopolist sämtliche Kooperationsgewinne des Marktes vereinnahmen.
Abbildung 2: Zusätzliche Monopolrenten mit vollkommener Preisdiskriminierung
2. Investitionen der mehrgliedrigen Marktseite ex ante Eine gesamtwirtschaftliche Einbuße liegt darin noch nicht. Sie tritt erst auf, wenn man die Entscheidungen vor dem Zusammentreffen der beiden Marktseiten berücksichtigt:28 Dass Vertragsgewinne überhaupt erzielbar sind, setzt häufig vorhergehende Investitionen voraus. Dazu wird eine Partei ex ante nur bereit sein, wenn sie ex post mit einem ausreichenden Rückfluss rechnen kann.29 Die zu erwartende Aufteilung der Vertragsgewinne 28 Eine – hier nicht verfolgte – Erklärung besteht darin, dass die Erringung von Marktmacht unnötige Kosten verursachen kann. Je höher die erreichbaren Monopolgewinne, desto stärker die Anreize, gesamtwirtschaftlich unsinnige Ausgaben zu tätigen, etwa in Gestalt von Lobbyismus für wettbewerbsbeschränkende Regelungen. 29 Die Angebots- und Nachfragekurven in Abbildung 1 und Abbildung 2 setzen Exante-Investitionen als gegeben voraus, berücksichtigen also deren Kosten nicht.
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entscheidet darüber, ob die Beteiligten überhaupt die Möglichkeit zu deren Erzielung schaffen.30 Damit ist ein Ansatz für die Effizienzbegründung von Gleichbehandlungsgeboten gefunden: Indem sie Preisdiskriminierung verhindern, könnten sie den Anreiz der Gegenseite bewahren, mit kostspieligen Investitionen die Grundlage für Vertragsgewinne zu legen. Ex-ante-Investitionen können darin bestehen, dauerhaft spezialisierte Kapitalgüter zu schaffen; „spezialisiert“ ist ein Kapitalgut, wenn es sich nur für die Kooperation mit dem fraglichen Geschäftspartner eignet, also nicht für andere Verwendungen umgewidmet werden kann. Beispiele sind auf dem Patent eines Lizenzgebers oder auf bestimmte Zulieferungen ausgerichtete Herstellungsanlagen. Aber auch mit einer langfristigen rechtlichen Bindung spezialisiert man sich auf einen Geschäftspartner und liefert sich ihm aus. Die „Investition“ liegt in der Aufgabe von Handlungsmöglichkeiten, ihr Zweck in der für die andere Seite geschaffenen Sicherheit; diese wiederum kann Voraussetzung für spezialisierte Investitionen des Geschäftspartners sein. So diente die langfristige Ausschließlichkeitsbindung von General Motors dazu, Fisher Body die Errichtung seiner Fabriken in örtlicher Nähe zu ermöglichen.31 Im arbeitsrechtlichen Kontext kann eine Spezialisierung darin liegen, dass Arbeitnehmer unternehmensspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten (Humankapital) aufbauen.32 Die Entscheidung für einen Arbeitgeber verursacht dem Arbeitnehmer darüber hinaus Opportunitätskosten, weil er sich nicht zugleich bei einem anderen Arbeitgeber bewähren kann; die Einschätzung des Arbeitgebers von der Befähigung des Arbeitnehmers beruht (auch) auf dessen Zeitinvestition.33 Schließlich liegt eine Art spezifischer Investitionen des Arbeitnehmers darin, seinen Wohnort, seine Familien- und sonstigen Beziehungen auf seinen Arbeitsplatz auszurichten.34 Die damit verbundenen persönlichen Vorteile und abnehmende Mobilität kann der Arbeitgeber über eine geringere Entlohnung oder höhere Leistungsanforderungen abschöpfen. 3. Effizienzfördernde Wirkung von Gleichbehandlungsgeboten In allen beschriebenen Fällen der Spezialisierung erlangt die jeweilige Gegenpartei ex post die Stellung eines Monopolisten, weil sich die Investition 30 Effizient ist dies selbstredend nur, wenn die Quasi-Renten die Investition zuzüglich einer Mindestrendite übersteigen. 31 Klein J. L. & Econ. 42 (2000), 105, 108, 111 ff. 32 Grundlegend Becker J. Pol. Econ. 70 (1962), 9, 12 f.; verfeinernd Lazear J. Pol. Econ. 117 (2009), 914. 33 Vgl. Becker J. Pol. Econ. 70 (1962), 9, 17 f. 34 Zum Zusammenhang zwischen Familienbindung und fehlender örtlicher Mobilität im Arbeitsmarkt Alesina/Algan/Cahuc/Giuliano J. Eur. Econ. Assoc. 13 (2015), 599.
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nur im Verhältnis mit ihr bezahlt machen kann. Ein Gleichbehandlungsgebot unterbindet eine Differenzierung von Konditionen und damit die in Abbildung 2 dargestellte Preisdiskriminierung. Dies verbessert die Anreize für Ex-ante-Investitionen entscheidend: Sofern ein Nachfrager damit rechnen kann, dass seine Zahlungsbereitschaft den Monopolpreis PM überschreiten wird, kommt jede weitere Erhöhung in vollem Umfang ihm selbst zugute. Erwartet also zum Beispiel ein Lizenznehmer nur überhaupt, mit der Nutzung des lizenzierten Patents Gewinne zu erzielen, verbleibt ihm jeder Mehrgewinn aus einer attraktiveren Produktgestaltung oder kostengünstigeren Produktion. Dieses verblüffende Ergebnis erzielt das Gleichbehandlungsgebot, indem es die Preissetzung für die „inframarginale“ Nachfrage (links von QM) an ein aus Sicht des einzelnen Nachfragers externes Datum koppelt, nämlich den Preis PM; dieser ergibt sich aus dem gewinnmaximierenden Verhalten des Monopolisten und der Nachfragekurve. Auch wenn die genaue Höhe des Preises PM ex ante nicht feststeht, können sich die Nachfrager darauf verlassen, dass sie einen Mehrertrag aus individuell größeren Anstrengungen nicht mit dem Ex-post-Monopolisten zu teilen haben – solange der Preis PM die geplante Tätigkeit für sie nur überhaupt lohnend sein lässt. Die zuletzt genannte Bedingung verweist allerdings auf ein ungelöstes Anreizproblem: Der einem Nachfrager verbleibende Ertrag muss ausreichen, um die erforderliche Mindestinvestition ex ante zu decken. In Abbildung 1 ergibt sich sein Vertragsgewinn aus der Differenz zwischen der jeweiligen Zahlungsbereitschaft – der Position des Nachfragers auf der Nachfragekurve – und dem Preis PM. Eine Investition lohnt sich ex ante nur, wenn die Kosten geringer sind als der zu erwartende Ertrag ex post. Bezogen auf einen Lizenzvertrag könnte die Lizenzgebühr von PM höher sein als die Erlöse des Lizenznehmers nach Abzug seiner Herstellungs- und Absatzkosten. In diesem Falle würde der Lizenznehmer von vornherein keine Produktion aufnehmen und keinen Lizenzvertrag abschließen, so dass sich die Frage nach zusätzlichen Investitionen zur Produktverbesserung oder Kostensenkung gar nicht stellen würde. Unter Umständen überwindet ein Gleichbehandlungsgebot auch dieses Hindernis. Sofern die Ertragsmöglichkeiten der (möglichen) Nachfrager ex post in Abhängigkeit von den getätigten Investitionen ex ante zufällig variieren, ergäbe sich daraus eine bestimmte Nachfragekurve und mittelbar ein für den Monopolisten ex post optimaler Preis PM. Je nach Verlauf der Nachfragekurve könnte PM ausreichend vielen Nachfragern Gewinne ermöglichen, so dass die Erwartung dieser Gewinnchancen ex ante die nötigen Investitionen hervorruft. Zudem kann der Monopolist die benötigten Investitionen fördern, indem er sich im Voraus auf einen Höchstpreis festlegt oder für bestimmte Mindestinvestitionen seiner künftigen Nachfrager selbst aufkommt. Genügend viele Nachfrager anzuziehen, muss in seinem
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Interesse liegen, weil ohne sie auch für ihn keine Vertragsgewinne zu erzielen sind.
V. Zulässige Differenzierungen: „Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandeln“ Die ökonomische Fundierung von Gleichbehandlungsgeboten kann Hinweise geben, wie deren größte juristische Schwierigkeit zu lösen ist: die Frage, welche Personen oder Umstände als gleich zu werten sind und wann demgegenüber eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt ist. Für gesetzliche Generalklauseln wie im Kartell- und Arbeitsrecht ist diese Konkretisierung besonders dringlich. Nach der hier entworfenen Begründung hindert das Gleichbehandlungsgebot die Einzelpartei daran, die auf Anstrengung (und Zufall) beruhenden Unterschiede in den individuellen Vertragsgewinnen seiner Geschäftspartner abzuschöpfen; Vorteile sind bei ihren Verursachern zu internalisieren. Darin liegt zugleich die Richtschnur für gebotene Differenzierungen: Soweit Vorteile unmittelbar bei der Einzelpartei entstehen, aber auf Anstrengungen der jeweiligen Geschäftspartner beruhen, erfordert eine Internalisierung, deren Leistungen über abgestufte Konditionen zu belohnen. Die Einzelpartei kann Ungleichbehandlungen also damit rechtfertigen, dass bestimmte Geschäftspartner für sie wertvoller sind als andere. Ein marktmächtiges Unternehmen verletzt daher nicht das kartellrechtliche Diskriminierungsverbot, wenn es zum Beispiel besondere Leistungen eines Abnehmers für Endkunden honoriert.35 Besonders nahe liegt eine Differenzierung gegenüber Erbringern der vertragstypischen Sachleistung. Arbeitgeber dürfen deshalb die Entlohnung von Arbeitnehmern nach Einsatz, Befähigung und Erfolg differenzieren.36 Entsprechendes muss für marktmächtige Abnehmer nach dem kartellrechtlichen Diskriminierungsverbot gelten. Der höhere Wert eines Geschäftspartners für die Einzelpartei kann auf spezialisierten Investitionen beruhen, etwa wenn ein Arbeitnehmer für seine betriebliche Aufgabe besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten erworben hat. Ebenso rechtfertigen aber marktgängige Leistungsunterschiede eine Differenzierung der Konditionen, weil sie höhere Opportunitätskosten des Geschäftspartners bedingen und ebenfalls eine Internalisierung erfordern.37 Während also die Begründung von Gleichbehandlungsgeboten auf 35 Viele Beispiele finden sich in der kartellrechtlichen Kasuistik zu Rabattsystemen, siehe nur Fuchs in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2020, § 19 GWB Rn. 156 ff. 36 Beispiel: BAG AP BGB § 242 Gleichbehandlung Nr. 43 (Zulagendifferenzierung nach Aufgaben unterschiedlicher Dienststellen); siehe ferner Fn. 37. 37 BAG NJW 1983, 190, 192 = BAGE 39, 336 (Zulage für Nachtschichtarbeiter, weil diese nur mit höherer Entlohnung zu gewinnen sind); BAG NJW 2003, 2333, 2334 (Jah-
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der besonderen Gefährdung spezialisierter Investitionen beruht, ist eine Ungleichbehandlung immer dann geboten, wenn sie als Leistungsanreiz erforderlich ist. Ohne solche Differenzierungsmöglichkeiten könnte das Gleichbehandlungsgebot schwere Wohlfahrtsverluste hervorrufen – zumal als Generalklausel wie im Arbeits- und Kartellrecht. Im Ergebnis sind Ungleichbehandlungen zulässig, um Anreize für die Bereitstellung einer besonders wertvollen Leistung zu setzen. Man kann dies auf den Nenner einer Leistungsgerechtigkeit zugunsten der Einzelpartei bringen: Belohnt werden darf, wer für sie mehr leistet. Verpönt sind hingegen Differenzierungen aufgrund der individuellen Vorteile einzelner Geschäftspartner aus der Kooperation, namentlich deren Abschöpfen über die Einräumung von im Vergleich schlechteren Konditionen.
VI. Gleichbehandlungsgebote als zweitbeste Regelungen Gleichbehandlungsgebote können nach alledem die ökonomische Effizienz fördern. Eine in jeder Hinsicht optimale Lösung bieten sie indes nicht. Wie festgestellt besteht keine Gewähr, dass der ex post von der Einzelpartei gesetzte Preis ex ante genügend Anreize zu spezialisierten Investitionen der mehrgliedrigen Marktseite setzt. Dasselbe gilt umgekehrt für die Investitionsanreize der Einzelpartei. Indem das Gleichbehandlungsgebot ihre erzielbaren Vertragsgewinne begrenzt, könnten sich je nach Umständen erforderliche Investitionen für sie nicht mehr lohnen und die Kooperationsbeziehung daran scheitern. Schließlich kann ein Verbot von Preisdiskriminierung – wie gesehen – ex post lohnende Geschäfte verhindern.38 Die gesammelten möglichen Nachteile führen zu der Frage, weshalb sich die Vertragsparteien oder die Rechtsordnung mit einer so unvollkommenen Regelung begnügen sollten. Die geläufige Antwort darauf lautet, vertragliche oder gesetzliche Regelungen könnten eben häufig nicht „vollständig“ getroffen werden.39 In dieser Allgemeinheit ist der Aussage kaum zu widersprechen, doch wünschte man sich eine nähere Begründung. So ist es regelungstechnisch vorstellbar, die Einzelpartei auf eine „angemessene“, nämlich ressonderzuwendung nur an Angestellte einer Schnellrestaurantkette, wenn diese schwerer zu binden und kostspieliger zu ersetzen sind). 38 Oben Fn. 27. 39 So die Jubilarin in dem eingangs zitierten Beitrag, Windbichler FS Zöllner, 1999, S. 999, 999, 1002; im vorliegenden Zusammenhang etwa Crocker/Lyon, J. L. & Econ. 37 (1994), 297, 301 („In many cases, it is difficult or impossible for courts to verify the state of the world on which contingent contractual specifications would have to depend“); grundlegend Williamson J. L. & Econ. 22 (1979), 233, 241 f. (Begründung mit beschränkter Rationalität und Opportunismus); Grossman/Hart J. Pol. Econ. 94 (1986), 691, 698 (fehlende Beschreibbarkeit oder externe Überprüfbarkeit); Hart/Moore J. Pol. Econ. 98 (1990), 1119, 1125 f. (fehlende Überprüfbarkeit).
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anreizoptimierende Preissetzung zu verpflichten. Mit etwas juristischem Wagemut kann man eine solche Vorgabe in das kartellrechtliche Verbot einer unbilligen Behinderung (§ 19 II Nr. 1 F. 1 GWB) hineinlesen; Art. 102 S. 2 a) AEUV untersagt wörtlich „unangemessene Einkaufs- oder Verkaufspreise“. Der Vorteil eines Gleichbehandlungsgebots liegt demgegenüber in seiner besseren Justiziabilität: In einem Rechtsstreit lässt sich vergleichsweise einfach feststellen, ob die Einzelpartei anderen Geschäftspartnern bessere Konditionen geboten hat. Schwieriger zu beurteilen ist, ob sich Differenzierungen mit Leistungsunterschieden rechtfertigen lassen.40 Dennoch ist ein Gleichbehandlungsgebot weitaus leichter anzuwenden als ein umfassendes „Optimalitätsgebot“. Immerhin sind nämlich nur Abweichungen von Konditionen zu überprüfen, die sowohl die Einzelpartei als auch andere Geschäftspartner in anderen Verträgen bereits akzeptiert haben. Damit besteht ein Anhaltspunkt, zu welchen Bedingungen der Austausch und die dafür erforderlichen Investitionen für beide Seiten lohnend sind. Diesen archimedischen Punkt müsste ein Gericht erst selbst finden, wenn es „angemessene“ Konditionen ermitteln sollte – und liefe dabei Gefahr, für eine der Parteien nicht kostendeckende, unannehmbare Bedingungen festzusetzen. Anstelle einer theoretisch optimalen, aber schwer handhabbaren Vorgabe können Gleichbehandlungsgebote daher eine praktikable, „zweitbeste“ Regelungsmöglichkeit sein.41
VII. Schluss Nach der hier vorgeschlagenen Deutung hindern privatrechtliche Gleichbehandlungsgebote die Einzelpartei in einer asymmetrischen Kooperationsbeziehung daran, ihren Geschäftspartnern deren selbst geschaffene Vorteile zu entziehen. Ein besonderer Bedarf für einen solchen Schutz besteht, wenn die mehrgliedrige Seite des Austauschverhältnisses in erheblichem Maße spezialisierte Investitionen tätigen soll. Diese Voraussetzung dürfte bei den Nutzern eines lizenzierten Immaterialgüterrechts, bei Lieferanten oder Abnehmern eines marktmächtigen Unternehmens oder bei langfristig beschäftigten Arbeitnehmern gegeben sein. Gleichbehandlung ist nach dieser Lesart eine zwar unvollkommene, aber immerhin justiziable Regel zur Förderung 40 Zum Auskunftsanspruch von Arbeitnehmern über Differenzierungsgründe und zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast Spinner Münchener Kommentar, BGB, 8. Aufl. 2020, § 611a BGB Rn. 1062. 41 „Zweitbeste“ Lösungen kennzeichnet, dass sie nicht einfach in einer möglichst weitgehenden Annäherung an die idealerweise gewünschte, „erstbeste“ Lösung bestehen, sondern – wie das Gleichbehandlungsgebot – eine andere Grundstruktur aufweisen können, vgl. Lipsey/Lancaster Rev. Econ. Stud. 24 (1956), 11.
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ökonomisch effizienter Investitionen. Geboten sind danach grundsätzlich gleiche Konditionen von Seiten der Einzelpartei; die gewollten Auswirkungen dieser Gleichbehandlung bestehen darin, den Beteiligten auf der mehrgliedrigen Marktseite ihre ungleichen Vertragsgewinne zu sichern. Der scheinbare Gegensatz verdeutlicht, dass Gleichbehandlungsgebote erst mit einer maßgeblichen Bezugsgröße überhaupt Gehalt annehmen. Gleichbehandlungsgebote rühren an das Selbstverständnis und die Stellung des Privatrechts im Rechtssystem. Verteilungserwägungen liegen dem Privatrecht tendenziell fern. Rechtsphilosophisch wird es eher der ausgleichenden (Tausch-)Gerechtigkeit als der Verteilungsgerechtigkeit zugeordnet.42 Die Rechtsökonomik kommt zu einem ähnlichen Schluss, wenn sie die Umverteilung von Wohlstand allein im Steuer- und Sozialrecht verorten möchte, wo sie kostengünstiger zu erreichen sein soll.43 Soweit Gleichbehandlungsgebote daher nicht auf originären Verteilungsgründen beruhen, sondern die Aneignung selbst geschaffener Werte in einer Austauschbeziehung bewirken sollen, fügen sie sich harmonischer in das eigenständige Regelungsprogramm der Privatrechtsordnung.
neue rechte Seite! 42 Canaris Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, 125 ff. (Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der ausgleichenden Gerechtigkeit im Vertragsrecht); grundlegende Rekonstruktion des Privatrechts als Verwirklichung ausgleichender Gerechtigkeit bei Rödl Gerechtigkeit unter freien Gleichen, 2015; skeptisch gegen die Tragfähigkeit dieser Zuordnung hingegen Schweitzer AcP 220 (2020), im Erscheinen, unter II.1. 43 Grundlegend Kaplow/Shavell J. Legal Stud. 23 (1994), 667; die jüngere Kritik an dieser These hinterfragt die politische Durchsetzbarkeit von Umverteilung allein im Steuerund Sozialrecht, dazu Liscow U. Chi. L. Rev. 85 (2018), 1649, 1662 ff.; Fennell/McAdams Minn. L. Rev. 100 (2016), 1051.
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Vertrauen und (EU-)Kapitalmarkt – Theorie und Fallstudien zu einer neuen Mesotes im Wirtschaftsrecht STEFAN GRUNDMANN
I. Thema Kapitalmarktrecht ist in Europa über die letzten drei Dekaden zu genuinem EU-Recht geworden – dies praktisch allumfassend auf der Ebene der Standard- und Regelsetzung selbst (einschließlich Ausführungsrechtsakte), (etwas) schwächer auf anderen relevanten Ebenen.1 Den machtvollen Auftakt zu einem wahrhaft europäisierten Kapitalmarktrecht in ganzer Breite – also zu einem Marktrecht, das in Breite und Tiefe über ein nur sektorales Börsenrecht weit hinausreicht – machten zwei Rechtsakte, die im Folgenden auch als paradigmatisch für die Fallstudien ausgewählt werden. Das sind die allgemeine EG-Wertpapierprospekt-Richtlinie, die – über mehrere Rechtsakts-Generationen fortentwickelt – heute in die EU-Prospekt-Verordnung eingegangen ist, Kernrechtsakt des (EU-kapitalmarktrechtlichen) Primärmarktrechts, und die EG-Insiderhandels-Richtlinie, die – ebenfalls über mehrere Generationen fortentwickelt – heute in die EU-Marktmissbrauchs-Verordnung (Market Abuse Regulation – MAR) eingegangen ist,2 als Kernstück dieses Rechtsakts, den sie mit dem Konzept der „Insiderinformation“ weiterhin dominiert. Die MAR bildet ihrerseits gemeinsam mit der (hier nicht behandelten) sog. MiFID II3 den Kern des (EU-kapital1 Für diese Stufen der Europäisierung – umfassend bei Regelsetzung, weitreichend auch auf drei weiteren wichtigen Ebenen – vgl. breit Grundmann Europäisierung des Kapitalmarktrechts – insbesondere Wertpapierhandelsrecht (WpHG) in FS 25 Jahre WphG: Entwicklung und Perspektiven des deutschen und Europäischen Wertpapierhandelsrechts, 2019, 1. 2 Verordnung (EU) 2017/1129 …, ABl.EU 2017 L 168/12; und Verordnung (EU) Nr. 596/2014 …, ABl.EU 2014 L 173/1; flankierend und zeitgleich Richtlinie 2014/57/EU …, ABl.EU 2014 L 173/179 (zur strafrechtlichen Bewährung); ursprünglich Richtlinie 89/592/EWG … ABl.EG 1989 L 334/30; zu allem näher Grundmann Bankvertragsrecht [Bd. 2] – Investment Banking, (Sonderausgabe des Staub’schen Großkommentars zum Handelsgesetzbuch, 5. Aufl.), 2020, Teil 6. 3 Richtlinie 2014/65/EU …, ABl.EU 2014 L 172/349 (verbunden mit Verordnung [EU] Nr. 600/2014); zu diesem Rechtsakt vgl. bereits ebenfalls vorige Fn, allerdings Teil 8;
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marktrechtlichen) Sekundärmarktrechts. Beide Kernrechtsakte zum (in der Folge zunehmend europäisierten) Primär- und Sekundärmarktrecht wurden 1989 erlassen und läuteten den genannten Übergang von einem eng auf Börsen bezogenen Regulierungskonzept zu einem breit kapitalmarktrechtlichen Regulierungskonzept ein. Zur Zentralität in der Wirkgeschichte kommt die im Inhalt. Namentlich mit dem Erlass der EG-InsiderhandelsRichtlinie, deren Verabschiedung lange durch den Widerstand gerade in Deutschland gebremst wurde,4 wurde ein Schritt getan, der Kapitalmärkte generell als zentral für die Volkswirtschaft und zugleich als in besonderem Maße von robustem Vertrauen abhängig versteht. Im Prospektrecht ist die Bezugnahme auf Vertrauen ungleich schwächer, eher erst im jüngsten Rechtsakt zögerlich zu spüren. Wenn also nach Vertrauen im (Europäischen) Kapitalmarkt und Kapitalmarktrecht gefragt wird, liegen diese beiden Regelungsfelder als Fallstudien und Paradigmen nahe (unten III. und IV.). Die Jubilarin ist eine Meisterin des Konkreten. Sie liebt Anschaulichkeit, plastische Fälle oder Fallstudien. Für den Autor dieser Zeilen war sie in der Münchener Alma Mater wie der/die Valedictorian der gymnasialen Abschlussklasse, welche die Abiturrede hält, während er selbst noch eine mittlere Klasse besuchte. In der Tat hielt sie eine Rede zu ihrem Abschied aus München – mit dem ersten Ruf nach Freiburg, formal aus Anlass des damaligen IABA-Treffens – zum Thema „Passion Play in Oberammergau and Economic Law“, wie ich sie in ihrer Anschaulichkeit – als Gesamtbild in einer einzigen Fallstudie – kaum noch einmal erlebt habe, in ihrer Plastizität noch nach drei Jahrzehnten unmittelbar präsent. Die Jubilarin liebt freilich nicht nur die Anschaulichkeit und Fallstudien, sie liebt in gleichem Maße die Akademie – bis hin zur Nationalakademie. Und wenige Orte sind so sehr die Heimat von Theorie ebenso wie des Diskurses zwischen den Disziplinen wie die Akademien. Freilich nie schätzt die Jubilarin die Theorie um der Theorie willen, sondern stets nur, wenn und soweit sie den Unterschied macht. Daher sei gefragt – namentlich in Fallstudien gefragt –, was Theorie und gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen zu einem Verständnis von Vertrauen in Kapitalmärkten und (Europäischem) Kapitalmarktrecht wirklich beitragen – oder ob es sich nicht doch im Wesentlichen nur um eine Fasowie Busch/Ferrarini (Hrsg.) Regulation of the EU Financial Markets – MiFID II and MiFIR, 2017, mit (im Geiste der folgenden Ausführungen breit pluralistisch in den herangezogenen Theorieansätzen): Grundmann/Hacker op.cit. 165 (zu den Interessenkonflikten). 4 Zur Aufgabe des Grundsatzwiderstandes aus Deutschland im April 1989 etwa Assmann AG 1994, 196, 199; vgl. vor Erlass der EWG-Insiderhandels-Richtlinie 89/592/ EWG vor allem Hopt/Will Europäisches Insiderrecht – Einführende Untersuchung, ausgewählte Materialien, 1973; und direkt im Anschluss Hopt/Wymeersch (Hrsg.) European Insider Dealing – Law and Practice, 1991.
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cette oder Spielart der (wohl) herrschenden (halbstrengen Form der) Efficient Capital Market Hypothesis (ECMH) handelt.5 In der Tat: Die letzte Dekade zeichnet sich nicht nur durch eine machtund leidvolle Omnipräsenz des Finanzrechts aus. Vielmehr scheint parallel gleichfalls ein geradezu exponentieller Bedeutungszuwachs unverkennbar auch beim zweiten Kernelement in Titel und Beitrag – der Theorie und beim Vertrauen als einem Zentralgegenstand von Theoriebetrachtung. Vertrauen bewegt gleichsam – wie kaum ein Konzept – gleichermaßen Kapitalmarkt(rechts)entwicklung in Europa wie auch komplexe, speziell auch interdisziplinär vielfältige Theorie. Der Zuwachs an Bedeutung von theoriebezogenen Studien und Ansätzen allgemein und insbesondere auch, wie facettenreich-pluralistisch der (Theorie-)Fächer geworden ist, kann auf internationaler Ebene ebenso beobachtet werden6 wie auf nationaler, etwa für solche Themenfelder wie – angestoßen durch die Jubilarin – Regulierung/ Durchsetzung und Privatrecht7 oder aber für privat- und vertragsrechtsthe5 Nach dieser reflektieren Kapitalmärkte im Wesentlichen akkurat zwar nicht alle relevanten Informationen über Unternehmen, ihre Chancen und Risiken, also allgemeiner auch der „Realwirtschaft“, wohl jedoch die öffentlich bekannten. Vgl. zur ECMH in diesem Zuschnitt: Fama 25 Journal of Finance 383 (1970); in Umsetzung auf das Kapitalmarktrecht: Gilson/Kraakman 70 Virginia Law Review 549, 553 f. (1984); zur Frage, ob die Finanzkrise die Grundlagen erschüttert hat (grds. dies ablehnend) Gilson/Kraakman 100 Virginia Law Review 313 (2014). 6 Vgl. etwa im Bereich Vertragstheorie (alle – außer den angegebenen Ausnahmen – bei den „Weltverlagshäusern“ Harvard, Cambridge und Oxford University Press erschienen): Alces A Theory of Contract Law: Empirical Insights and Moral Psychology, 2011; Benson Justice in Transactions – a Theory of Contract Law 2020; Dagan/Heller Choice Theory of Contracts, 2017; Ribeiro The Decline of Private Law. A Philosophical History of Liberal Legalism, 2019 (Hart); Oman The Dignity of Commerce. Markets and the Moral Foundations of Contract Law, 2017 (Chicago Univ. Press); anders im Zugriff, doch ebenfalls Saprai Contract Law Without Foundations – Toward a Republican Theory of Contract Law, 2019; und Grundmann/Möslein/Riesenhuber (Hrsg.) Contract Governance – Dimensions in Law and Interdisciplinary Research, 2014; Grundmann/Hacker (Hrsg.) Theories of Choice. The Social Science and the Law of Decision Making, 2020; Micklitz (Hrsg.) Politics of Justice in European Private Law, 2018; sicherlich klassisch für das Common Law (dieselben Verlagshäuser): Fried Contract as Promise – a Theory of Contractual Obligation, 1981; Collins Regulating Contracts, 1999; Kennedy The Rise and Fall of Classical Legal Thought, 2006; auch Kreitner Calculating Promises, 2004 (Stanford Univ. Press); Smith Contract Theory, 2004. 7 Grundlegend Windbichler AcP 198 (1998), 261, bes. 271 f. (zur Marktschaffung und Erhaltung durch Kaufrecht); daran anschließend Bachmann Private Ordnung, 2006, bes. 73 ff. (zur Infrastrukturfunktion); Micklitz GPR 2009, 254, 255 ff. (Europäisches Vertragsrecht als „Regulierungsprivatrecht“); im abgelaufenen Jahrzehnt besonders Hellgarth Regulierung und Privatrecht – Staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, 2016; auch Buck-Heeb/Dieckmann Selbstregulierung im Privatrecht, 2010; Bumke/Röthel (Hrsg.) Autonomie im Recht, 2017. Fornasier Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht, 2013, bes. 65 ff.; Podszun Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte, 2014; Poelzig Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012; sowie Grundmann FS Canaris 2017, 907 (Regulierung und
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oretische Schriften.8 Und auch zum hier in den Blick genommenen Thema selbst – Vertrauen, seiner Theorie, und Finanz- oder Kapitalmarktrecht – wurden in wenigen Jahren seit der globalen Finanzkrise mehrere vorzügliche, knappere oder ausführlichere Studien vorgelegt,9 teils fokussiert auf das insoweit prominente Kapitalmarktstrafrecht.10 Warum dann hierzu ein weiterer Beitrag? Festschriftenbeiträge unterscheiden sich heute von Beiträgen zu Archivzeitschriften u.a. dadurch, dass sie prägnant sein müssen, aber auch dürfen. Daher sollen drei Thesen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen: 1. Interdisziplinäre Theoriebetrachtung sollte sich heute nicht mehr auf eine „Einführung“ mit einigen Fußnoten zu Hauptwerken und einigen prägnanten Zitaten beschränken, sondern Tiefenschärfe und Vielfalt in einer pluralistischen Wertebetrachtung spürbar machen und ausloten – tatsächlich den Unterschied machen und die Pluralität der Ansätze, gerade auch ihre gegenläufigen Aussagen, herausarbeiten und fruchtbar machen (unten II.). Selbst dies muss im vorgegebenen Rahmen skizzenhaft geschehen, fast holzPrivatrecht); und schon für verschiedene Gebiete Binder Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht, 2012; Franck Marktordnung durch Haftung: Legitimation, Reichweite und Steuerung der Haftung auf Schadensersatz zur Durchsetzung marktordnenden Rechts, 2016; auch Grünberger Personale Gleichheit – der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht, 2013; Schmolke Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht – Rechtspaternalismus und Verhaltensökonomik im Familien-, Gesellschafts- und Verbraucherrecht, 2014. 8 Vgl. nur Arnold Vertrag und Verteilung. Die Bedeutung der iustitia distributiva im Vertragsrecht, 2014; Auer Erkenntnisziel der Rechtstheorie – Philosophische Grundlagen pluridisziplinärer Rechtswissenschaft, 2018; Gutmann Iustitia Contrahentium. Zu den gerechtigkeitstheoretischen Grundlagen des deutschen Schuldvertragsrechts, 2020 (im Erscheinen); Lomfeld Die Gründe des Vertrags – eine Diskurstheorie der Vertragsrechte, 2015; Schmolke (vorige Fn); breit Grundmann/Micklitz/Renner Privatrechtstheorie (2 Bde.), 2015; Überblick bei Grünberger/Jansen (Hrsg.) Privatrechtstheorie heute – Perspektiven deutscher Privatrechtstheorie, 2017; Falleinkleidung bei Lomfeld (Hrsg.) Die Fälle der Gesellschaft – eine neue Praxis soziologischer Jurisprudenz, 2017. 9 Namentlich (alle zu Vertrauen und Finanz- bzw. Kapitalmarktrecht) Colombo 35 Del. J. Corp. L. 829 (2010); ders. 55 Vill. L. Rev. 577 (2010); Sapienza in Evanoff/Hartmann/ Kaufmann (Hrsg.) The First Credit Market Turmoil of the 21st Century, 2009, 29 (mit bes. Betonung der Rolle von Regulierung, 36–38); Kalss Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2010 (JJZ 2011), 9; schon vor der Finanzkrise vereinzelt, etwa Huang 151 University of Pennsylvania Law Review 1059 (2003); dann ausführlicher Mülbert ZHR 177 (2013), 160 und stärker flächendeckend Mülbert/Sajnovits ZfPW 2016, 1. Vielfach wird auch darauf hingewiesen, dass die erste tiefe Konzeptualisierung der Prospekthaftung im deutschen Privatrecht, von Canaris im Vertrauensgrundsatz fußte, vgl. unten IV. 10 Namentlich Beckemper ZIS 2011, 318; Wendrich ZIS 2013, 238; Pizarro Das erlaubte Vertrauen im Strafrecht – Studie zu dogmatischer Funktion und Grundlegung des Vertrauensgrundsatzes im Strafrecht, 2017; auch Beckemper Ökonomische Auslegung der Täuschungsdelikte des Wirtschaftsstrafrechts, 2009. Herausgehoben ist seine Stellung namentlich im Insiderrecht (unten III.), und das Prospektrecht (unten IV.) ist Gegenstand eines speziellen, auf das Kapitalmarktvertrauen abhebenden Straftatbestandes (§ 264a StGB).
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schnittartig, aber doch mit Unterscheidungskraft. Wohl nirgends werden solche Unterschiede so deutlich wie in Fallstudien, hier zum Insiderrecht (unten III.) und – aus Platzgründen nur punktuell – zum Prospektrecht (IV.) – diesen beiden Beispielen, weil sie nicht nur zentral im, sondern auch paradigmatisch für das (europäisierte) Primär- und Sekundärmarktrecht stehen und zugleich im Hinblick auf das Konzept „Vertrauen“ stark divergieren. Sie werden gewählt, weil in dem einen Fall (Insiderhandel) der EU-Gesetzgeber das Vertrauen als Leitziel ganz in den Mittelpunkt rückte, während in dem anderen (Prospekt) das Paradigma rationaler Entscheidung unter Minimierung der Unsicherheiten und fehlenden Verlässlichkeit tendenziell weiterhin im Vordergrund steht. Daher gehen Thesen zwei und drei dahin, dass 2. Vertrauen, das explizit als Leitziel in den Mittelpunkt gerückt wird, noch ungleich intensiver als Leitidee durch Regelsetzung und Einzelfallentscheidung auch durchgespielt und ernst genommen werden muss, und dass 3. dennoch auch für den anderen Fall getestet werden sollte, wie ein stärker auf „Vertrauen“ gegründetes Regulierungsmodell – als Alternative – geformt sein könnte und ob es in nuce sogar bereits erkennbar ist. Die Ausarbeitung in diesem Punkt muss freilich aus Platzgründen weitgehend einer späteren Studie vorbehalten bleiben. Dabei wird Vertrauen insgesamt einem Streben nach maximaler Informationsaufbringung und -verarbeitung, maximaler Kontrolle (Monitoring) und Beherrschbarkeit dezidiert gegenübergestellt.
II. Vertrauen – Leitlinien in verschiedenen Disziplinen 1. Unterschiede als Erkenntnisziel Der hier vorgeschlagene Generaltenor – Vertrauen ist grundlegend andersartig und selbständig gegenüber einem Streben nach maximaler Informationsaufbringung und -verarbeitung, maximaler Kontrolle (Monitoring) und Beherrschbarkeit –11 bildet die Umkehrung des Ansatzes, der fast einhellig in der ökonomischen und kapitalmarktrechtlichen Literatur gewählt 11 Namentlich in der soziologischen Vertrauensforschung immer wieder unterstrichen. Besonders dezidiert: Giddens Konsequenzen der Moderne, 1995 (englisch 1990), 48: „Hauptbedingung des Vertrauenserfordernisses … Fehlen vollständiger Informationen“; demnach bauen moderne Gesellschaften institutionelle Rahmungen für als risikobehaftet erkanntes Handeln auf („trust settings, rounding frameworks of trust“, dort, 35). Das wird auch so zusammengefasst, dass hier ein mittlerer Zustand zwischen Wissen und (gänzlichem) Nichtwissen bestehe: vgl. Simmel Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung – Gesamtausgabe Bd. 11, 1992 (Erstausgabe 1908), 393; Barbalet Social emotions – confidence, trust and loyalty, 16 Int’l Journal of Sociology and Social Policy 75 (1996); dazu auch Merkt Unternehmenspublizität – die Offenlegung von Unternehmensdaten als Korrelat der Marktteilnahme, 2000, 347.
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wird und nach dem Vertrauen de facto als ancilla informationis verstanden wird.12 Es wird von dem Beispiel ausgegangen, in dem Vertrauen vielleicht am signifikantesten in den Vordergrund gerückt wurde (Insiderrecht, unten III.), und dann die Fruchtbarkeit des Konzepts auch in einem (noch heute) stärker vom Informationsparadigma geprägten Bereich getestet (Prospektrecht, unten IV.). Dies steht nach dem eben Gesagten zwar im Gegensatz zum traditionell vorherrschenden Ansatz in Ökonomik und wirtschaftsrechtlichem Schrifttum (ancilla informationis). Damit soll jedoch umgekehrt keineswegs flächendeckend ein Informationsmodell abgelehnt werden. Vielmehr soll ein Pluralismus der Wertungskonzepte auch im Kapitalmarktrecht aufgezeigt werden. Auch das Kapitalmarktrecht wird – trotz sehr hohem Professionalisierungsgrad und stringent wirtschaftsrechtlichem Zuschnitt – weder als ein Platz eines allein dominanten Rationalitätsparadigmas gesehen noch als einer für exklusiv oder auch nur primär aus der Ökonomik gespeiste Theorieansätze. In diesem Abschnitt zu den Grundlagen von Vertrauen werden daher – obwohl die Verständnisse in den relevanten Disziplinen auch deutliche Züge von methodologischer Konvergenz aufweisen und es insoweit notwendig holzschnittartig bleibt, von soziologischer, ökonomischer, philosophischer Theorie etc. zu sprechen –13 vor allem die Unter12
Vgl. nur Sapienza in Evanoff/Hartmann/Kaufmann (oben Fn. 9), 29, 30; und Mülbert/Sajnovits ZfPW 2016, 1, passim, jedoch auch, 23 (denkbar „weitere Erwägungen wie verteilungspolitische Erwägungen, der Schutz des Anlegers [!] oder allgemeine Fairnessüberlegungen … [wodurch dann] der Gesetzgeber gleichwohl gefordert“ ist. Da freilich keinerlei Beispiele folgen, bleibt das freilich ein theoretischer Vorbehalt). Im Vordergrund stehen Vertrauensschaffung durch Information und durch Institutionen, bei denen Abwicklung praktisch vollständig gesichert ist. Das gegenteilige Extrem bei Kalss in Aichberger-Beig/Aspöck/Leupold/Oelkers/Perner/Ramharter (oben Fn. 9), 9, 31 ff., wo ein flächendeckendes Versagen des Informationsmodells im Kapitalmarktrecht postuliert wird. 13 Zu den berühmtesten Beispielen zählt Rawls A Theory of Justice, 1971 (deutsch: Theorie der Gerechtigkeit, rev. edn. 1991). In ihr übernimmt Rawls in seine Gerechtigkeitstheorie typische Elemente aus den Gesellschaftswissenschaften, namentlich der Ökonomik, wie Rationalität als Grundannahme beim Regelgeber und individuelle Anreizsteuerung, ansatzweise auch Gesamtnutzenmaximierung, und argumentiert dennoch nicht nur vehement gegen utilitaristische Theorien, sondern gelangt mit seinen beiden Gerechtigkeitsprinzipien dennoch zu Ergebnissen, die gänzlich von denen der Ökonomik und utilitaristischer Theorieansätze abweichen. Vgl. dazu etwa Sen The Idea of Justice, 2009, 52 ff.; Fleurbaey et al. (Hrsg.), Justice, Political Liberalism, and Utilitarianism, 2008; Grundmann in Grundmann/Micklitz/Renner New Private Law Theory – A Pluralist Approach, 2020, Kapitel 6. Ähnliche Konvergenztendenzen (wiederum zu den genannten Hauptelementen) etwa bei Coleman, wenn er (parallel zu Bourdieu) das für die Vertrauensforschung zentrale Konzept vom „social capital“ entwickelt – als einen nicht Marktgesetzen folgenden, jedoch auch in Märkten wichtigen, teils unverzichtbaren Wertefundus – zugleich jedoch rationale, Eigennutz maximierende Akteure zugrunde legen will, vgl. Coleman Foundations of Social Theory, 1990, bes. Kap. 1; und unten 2 a); näher zum „Sozialkapital“ als Konzept etwa – alle zentral, schon im Titel, zum sozialen Kapital im Gegensatz zum Ökonomischen – Bourdieu Soziale Welt (Sonderband 2) 1983, 183; Coleman 94 American Journal of Sociology 95 (1988); zusammenfassend etwa Haug Soziales Kapital – ein kritischer Über-
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schiede angesprochen, um den Fundus nicht vorschnell auf eine Richtung einzuengen (unten 2.). Anders und positiver gewendet: Untersucht – und gesucht – wird gleichsam eine „Mesotes-Position“ im klassisch Aristotelischen Sinne, wie sie sich als (verfassungs-)dogmatisch fruchtbar gemachte Rechtsidee auch im prägenden Rechtskonzept der praktischen Konkordanz wiederfindet14 – als die goldene Mitte zwischen verschiedenen gesellschaftswissenschaftlich fundierten Gegensätzen, zugleich gespeist von diesen. Zentral für fast all diese Erklärungsansätze ist im Ausgangspunkt der kategoriale Unterschied zwischen personalisiertem Vertrauen und Systemvertrauen – sowie auch ggf. Organisationsvertrauen als weiterer (evtl. hybrider) Kategorie.15 Dies wird im Folgenden in verschiedenen Kontexten aufgenommen. Schon in diesem Ausgangspunkt wird deutlich: Während im ökonomischen und wirtschaftsrechtlichen Schrifttum für diese Fundamentalunterscheidung häufig nur Quellen aus diesen Disziplinen herangezogen werden, wurde sie doch begründet von Max Weber sowie Simmel und in der Tiefe durchgearbeitet vor allem im soziologischen und sozialtheoretischen Schrifttum. Der Hinweis auf Konvergenzelemente zwischen den Disziplinen sollte nicht verschleiern, dass verschiedene Disziplinen unterschiedliche Mechanismen, die bei einem Phänomen zentral sind, auch unterschiedlich stark betonen und vertiefend erfassen. Als Heuristik in den Rechtswissenschaften liegt daher zweierlei nahe. Zum einen sind alle Ansätze zu befragen und zum anderen jedenfalls diejenigen Disziplinen vertieft zu konsultieren, die das fragliche Phänomen zu einem Zentralgegenstand ihrer Analyse erkoren haben.16 All dies gilt auch im Hinblick auf das Phänomen Vertrauen. Daher erscheint beispielsweise eine (ausschließlich oder auch nur primär) ökonomiblick über den aktuellen Forschungsstand, 1997; Portes 24 Annual Review of Sociology 1 (1998). 14 Grundlegend dafür Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl. 1999, Rn. 72. 15 Vgl. – häufig die Gegenüberstellung schon im Titel – Evers Vertrauen und Wandel sozialer Dienstleistungsorganisationen – eine figurationssoziologische Analyse, 2003, u.a. Kap. 2 (mit Diskussion und Übersicht zur Lit. in der Frage, ob System- und Organisationsvertrauen evolutorischen Wandel begünstigen oder hindern); Hardin, in: Zeckhauser (Hrsg.) Strategy and Choice, 1991, 185; Kramer 50 Review of Psychology 569 (1999); Lane/Bachmann (Hrsg.) Trust within and between organizations – conceptual issues and empirical applications, 1998; Mülbert/Sajnovits ZfPW 2016, 1, 7–10, 12 f.; Schweer/Thies Vertrauen als Organisationsprinzip: Perspektiven für komplexe soziale Systeme, 2003. 16 Näher zu dieser Art Methodenpluralismus und (noch sehr offenen) Frage nach geeigneten Methodenfiltern näher Einleitung von Grundmann/Hacker in dies. (Hrsg.) Theories of Choice. The Law and Social Science of Decision Making, 2020, 1 und Grundmann Pluralistische Privatrechtstheorie – Prolegomena zu einer pluralistischen Rechtstheorie als Desiderat aus einer pluralistisch verfassten Wertegrundlage („normativer Pluralismus“) (Manuskript). Gegen eine rein (oder auch nur primär) ökonomische Lesart von Vertrauen explizit auch Luhmann Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1994, 210 f.
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sche Analyse des Vertrauens (etwa im EU-Kapitalmarkt und EU-Kapitalmarktrecht) sogar doppelt verfehlt. Es gibt keineswegs exklusiv eine Vertrauensforschung der Ökonomik (oder in dem Sinne, wie sie die Ökonomik fasst). Außerdem bildet Vertrauen in der Ökonomik nicht einmal ein Zentralkonzept, während dies etwa in der Soziologie und Sozialtheorie der Fall ist. 2. Divergierende Disziplin- und Erklärungsansätze für Vertrauen Vertrauen ist Gegenstand soziologischer Forschung bereits bei den Gründungsvätern, am nachhaltigsten für die heutige Konzeptionierung des Forschungsgegenstands wohl bei Max Weber. Es bleibt Gegenstand soziologischer Forschung dauerhaft, jedoch mit einer neuerlichen Intensivierung, gerade bei zentralen Erkenntniszugewinnen, in etwa den drei letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts, verbunden vor allem mit den Namen von Luhmann (Bielefeld), Giddens (London) und Coleman (Chicago)17 sowie danach vor allem Beckert (MPI Köln), Gambetta (EUI, Florenz) und Sztompka (Krakau). Zusammenfassend kann Vertrauen als ein absolut zentraler Forschungsgegenstand der Soziologie gesehen werden, für manchen „Welt“-Soziologen seiner Zeit geradezu den stilbildenden Forschungsgegenstand. Und wenn dann jenseits der Soziologie in den frühen 2000er Jahren zwei der führenden, vielleicht die führenden Vertrauensforscher ihrer jeweiligen Disziplin einen breit-interdisziplinären Sammelband zum Vertrauen herausgeben, Hartmann und Offe, so sind die drei Hauptlinien der soziologischen, der philosophischen und der politologischen Vertrauensforschung gewidmet,18 nicht hingegen der ökonomischen oder regulatorischwirtschaftsrechtlichen. In der Tat erscheint Vertrauen als Forschungsgegenstand ungleich weniger wichtig in der ökonomischen Theoriebildung. Hier steht im 20. Jahrhundert – eher schon als Solitär – Kenneth Arrow in den 1970er Jahren, wurde dann zu Vertrauen kurz vor der globalen Finanzkrise bereits von einzelnen, etwa von Rippeger und Sapienza, wieder intensiver geforscht (dazu sogleich noch), nach dieser Krise – die Vertrauenserschütterung war jetzt offensichtlich – dann bezogen auf diese deutlich verstärkt. 17
Prägnanter Überblick bis zu diesem Zeitpunkt etwa bei Endreß Vertrauen, 2002 (auch zum Folgenden); weitere zusammenfassende Darstellungen bzw. Abhandlungen zur Zentralität des Konzepts in der Soziologie etwa bei Preisendörfer Zeitschrift für Soziologie 24 (1995) 263 (Vertrauen als soziologische Kategorie); Funder Österreichische Zeitschrift für Soziologie 1999, 76; Beckert 31 Zeitschrift für Soziologie 27 (2002); letztlich auch Beckert Grenzen des Marktes – die sozialen Grundlagen wirtschaftlicher Effizienz, 2003, 103–400 (passim) (bes. Émile Durkheim, Talcott Parsons, Niklas Luhmann und Anthony Giddens jedoch weit über „Vertrauen“ hinausreichend); Gambetta (Hrsg.) Trust – Making and breaking cooperative relations, 1988; Misztal Trust in modern societies – the search für the bases of social order, 1996 (2. Aufl. 1998). 18 Hartmann/Offe (Hrsg.) Vertrauen – Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, 2001.
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Wird im wirtschafts- und vor allem finanzmarktrechtlichen Schrifttum Vertrauen analysiert, so erscheinen jedoch trotz dieser Verteilung der Gewichte Perspektiven dominant, die primär im (eher jungen und für die Ökonomik auch eher marginalen) Schrifttum zur ökonomischen Theorie des Vertrauens fußen (auch dazu sogleich noch). Einer der zentralen Inhalte der kurzen Überlegungen im Folgenden, vor allem dann auch der Fallstudien, wird sein, wie die Überlegungen der oben genannten soziologischen Denker des Vertrauens stärker zu betonen und fruchtbar zu machen wären (neben den Ansätzen in den unter b) genannten weiteren Disziplinen). a) Soziologie und Ökonomik des Vertrauens Hauptcharakteristikum der langen Entwicklung der Vertrauensforschung in der Soziologie scheint mir, dass zwar einerseits eine Rationalisierungsfunktion des Vertrauens als zentral betont wird, andererseits Vertrauen doch als grundsätzlich andersartig gegenüber rationalem Kalkül – dem Denken des homo oeconomicus – verstanden wird. Bosshardt spricht in einer Abhandlung, die von der ökonomischen zur soziologischen Vertrauensforschung überleitet, gar vom homo confidens.19 Schon Max Weber hatte – neben Simmel – den bahnbrechenden Schritt getan, die beiden großen Kategorien des personalisierten Vertrauens und des Vertrauens in ein System (Systemvertrauen) einander gegenüberzustellen. Er sprach freilich noch statt Systemvertrauen von der modernen Gesellschaft als „Einverständnisgemeinschaft“, und mit dieser Gegenüberstellung erhob er die nähere Erfassung dieser beiden Alternativformen, der Vergleichbarkeiten und der Unterschiede zum zentralen Forschungsgegenstand.20 Dass später auch noch Hybridformen wie etwa ein sog. Organisationsvertrauen – Vertrauen in Organisationen, etwa Aktiengesellschaften (Fn. 15) – konstatiert wurden, fügt dem nichts kategorial Neues hinzu. Denn schon bei Weber ist der Gedanke präsent, dass es sich bei beiden Hauptformen grds. um Typen handelt, mit (variiert stark ausgeprägten) Unterscheidungsmerkmalen, jedoch auch zentralen Gemeinsamkeiten. Mit anderen Worten: Vom reinen Systemvertrauen ohne jedes personale Element – wie vielleicht bei Algorithmen – zum rein personalisierten Vertrauen – wie vielleicht in einer Liebesbeziehung von absoluten Außenseitern der Gesellschaft – gibt es eine ganze Bandbreite an 19 Bosshardt Homo confidens – eine Untersuchung des Vertrauensphänomens aus soziologischer und ökonomischer Perspektive, 2001, S. 196. 20 Weber Wirtschaft und Gesellschaft – Grundriß der verstehenden Soziologie (Ausgabe Winckelmann bei Mohr 1976), 1920–21, bes. 382 f.; näher zum Konzept des Systemvertrauens, genauer: der modernen Gesellschaft als Einverständnisgemeinschaft Weber Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie in ders. Gesammelte Aufsätze zu Wissenschaftslehre, 7. Aufl. 1988, 442, 456, 470 ff. Häufig wird, da das Wort „Vertrauen“ nicht selbst gewählt wird, für Systemvertrauen (erst) auf Luhmann als primäre Quelle rekurriert, der hier sicherlich weitere zentrale Arbeit leistete (vgl. unten).
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Mischformen. Weber hatte dabei auch bereits in nuce hervorgehoben, dass Arbeitsteilung und die zunehmende (technisch gedachte) Rationalisierung den Übergang von einer Dominanz des personalisierten zu einer immer wichtigeren Stellung des Systemvertrauens bedinge: Ohne dass personalisiertes Vertrauen gänzlich verdrängt werde, nehme Systemvertrauen in Märkten und Wirtschaftsprozessen doch zunehmend die zentrale Stellung ein – wobei jedoch immer das jeweilige Mischverhältnis näher zu erkunden ist. Wie bei Adam Smith Arbeitsteilung und (exponentiell steigende Bedeutung von) Markt einander bedingen, so konstatiert Weber jetzt die dadurch bedingte Veränderung beim Phänomen Vertrauen. Denn den Markt im Allgemeinen charakterisiert er als die „unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können.” (Einleitung zu Kapitel VI – Die Marktvergesellschaftung) – was zugleich bedeutet, dass hier Systemvertrauen besonders stark im Vordergrund steht. Für Kapitalmärkte gilt das sicherlich nochmals verschärft. Zugleich sind damit die Entstehung von Systemvertrauen und die Suche nach den Elementen, auf die es sich stützt, ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt. Gerade diese Kernfrage ist es, zu der in der zweiten Jahrhunderthälfte wichtige, vielleicht die zentralen Beiträge folgen. So reizvoll es wäre, auch auf Durkheim und Simmel einzugehen, namentlich ihren Verweis auf Moral und Ethik als Vertrauensfaktor (Durkheim) und darauf, dass breiter als Systemvertrauen auch noch Gesellschaftsvertrauen eine wichtige Kategorie bildet (Simmel), muss dies doch einer ausführlicheren Studie vorbehalten bleiben.21 In der Tat scheinen die nächsten epochalen Schritte (erst) mit den Namen Luhmann und Giddens verbunden, deutlich nach dem Zweiten Weltkrieg. Luhmann legte nicht nur 1968 eine zentrale Monographie vor, die er allein dem Phänomen Vertrauen widmete – mit dem wohl bekanntesten Kernsatz zum Vertrauen überhaupt, der Vertrauen als Instrument zur „Reduktion von Komplexität“ umreißt. Von einer Vielzahl von Möglichkeiten der Zukunft (Zeitdimension) oder einer Unbekannten (Sachdimension) wird auf eine konkrete vertraut, diese also als maßgeblich der zu treffenden Entscheidung (bzw. einem Unterlassen – „Laufenlassen“) zugrunde gelegt.22 Dieser instrumental-funktionale Charak21 So wird die Frage gestellt, ob in Gesellschaften, die mehr Vertrauen in Gesellschaft als solche und ihre Robustheit setzen als etwa in Staaten oder auch Institutionen wie Banken (mit ihrer jeweils stärkeren Verfestigung als System), nicht auch die Anlageneigung etwa von Privatanlegern grds. höher sein muss oder jedenfalls weniger stark vom Fehlen oder Versagen gut erwartungsschützenden Kapitalmarktrechts negativ beeinflusst wird: vgl. hierzu Olsen 37 The Journal of Socio-Economics 2008, 2189; auch Lunawat 94 Journal of Economic Behavior & Organization 2013, 130. 22 Luhmann Vertrauen – ein Mechanismus der Reduktion von Komplexität, 1968 (5. Aufl. 2014), 5 et passim; dazu etwa Endreß Vertrauen, 2002, 30–34 („Vertrauen ‚überwindet‘ … die Informationsunsicherheit.“); Baecker Information und Risiko in der Marktwirtschaft, 1988, 219; auch Beckert Grenzen des Marktes (Fn. 17), 290–312.
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ter von Vertrauen in gesellschaftlichen Systemen, aber gerade auch in der Wirtschaft als einem so fundamentalen Subsystem von Gesellschaft, war durchaus schon bei Max Weber präsent – und ist dann in der ökonomischen Theorie zentral, schon bei Arrow.23 Bei Luhmann freilich wird er schärfer und systemtheoretisch eingefasst, namentlich mit dem Konzept des Systemvertrauens in Bezug gesetzt. Wenn Vertrauen Komplexitätsreduktion bedeutet, bildet es auch einen Vorteil, vertrauen zu können (allerdings mit der schwierigen Gegenrechnung der Verluste aus Vertrauensenttäuschung), ist es also grds. sinnvoll diesen Zustand zu befördern. Wenn dann Systeme – wie in der Systemtheorie – so gesehen werden, dass sie sich nur autopoetisch (selbstreferentiell) – aus ihren eigenen Wirkgesetzen und Strukturen heraus – fortentwickeln,24 wird damit auch eine große Stabilität behauptet und die fehlende Offenheit für Außeneinflüsse als ein Vorteil für die Vertrauensaffinität von Systemarrangements. In der Tat ist zentral für Luhmanns Verständnis von Vertrauen die sog. Reflexivität (auch „prozessorale Selbstreferenz“), die gegenseitige Bezugnahme auf gewährtes und erwartetes Vertrauen anderer25 – die jedoch, anders als in der Ökonomik, gerade nicht davon ausgeht, dass Vertrauen nur dann auch honoriert wird, wenn dies dem eigenen Nutzen dient, sondern weil eine allgemeine Reflexivitätserwartung besteht und dies Systeminhalt ist. Damit ist indirekt das Element Verbürgung von gleichmäßiger Anwendung und damit auch Gleichbehandlung als Inhalt von Vertrauenserwartungen angesprochen, das dann in der philosophischen zentral erscheint (unten b)), für die ökonomische hingegen weitgehend irrelevant. In der Reflexivitätserwartung liegt für Luhmann die Logik des Vertrauens, in den autopoetischen Fortentwicklungsmechanismen von Systemen ihr Stabilisator. Daher betont Luhmann auch den Charakter von Vertrauen als – ungeschützter (oder: nur systemgeschützter) – Vorleis23 Zum Wert von Vertrauen als Ermöglichungsfaktor – anerkannt über die Disziplinen hinweg – vgl. (neben Luhmann und Arrow unten Fn. 33) etwa (auch in Politologie und Philosophie): Fukuyama Trust – the social virtues and the creation of prosperity, 1995; Geramanis Vertrauen, Die Entdeckung einer sozialen Ressource, 2002, 7 ff.; Morrison/Firmstone International Journal of Advertising 19 (2000), 599, 602; Coleman Foundations of Social Theory, 1990, 394 ff.; Hartmann in Hartmann/Offe (Hrsg.) Vertrauen (oben Fn. 18), 14. 24 Luhmann Soziale Systeme, 1984 (4. Aufl. 1991); englisch ders. Law as a Social System, 2004; dazu Teubner Recht als autopoietisches System, 1989 (englisch 1993); FischerLescano Philosophy & Social Criticism 38 (2012), 3; Hejl Rechtstheorie 13 (1982) 45; Kjaer Ancilla Iuris 2006, 66; Schulte Eine soziologische Theorie des Rechts, 2011; Willke Systemtheorie, 4. Aufl. 1993. 25 Luhmann, Vertrauen (oben Fn. 22), 90 ff.; ders. Soziale Systeme, Grundriss einer allgemeinen Theorie, 4. Aufl. 1991, 90; Luhmann Das Recht der Gesellschaft, 5. Aufl. 2010, 132, jeweils mit einer über die personale Ebene hinausreichenden Grundierung von Vertrauen; dazu etwa für den insoweit besonders herausfordernden Kontext des sich immer mehr durchsetzenden e-commerce: Morrison/Firmstone International Journal of Advertising 19 (2000), 599, bes. 602; sowie Beckemper ZIS 2011, 318, 321 ff.
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tung.26 Gemeinsam ist soziologischer und ökonomischer Theorie die Erkenntnis von Risiko, das es zu bewältigen gilt. In der Ökonomik liegt das Hauptaugenmerk auf Information und Kontrolle zur Risikoeingrenzung, bei Luhmann auf (systemstabilisiertem) Vertrauen (mit ungleich vagerer Informationsbasis und arm an Kontrollmechanismen im Einzelfall). Stärker die Entstehensvoraussetzungen von Vertrauen rückt dann Giddens in den Mittelpunkt. Aus seinem reichen Werk seien zwei Kernerkenntnisse hervorgehoben – zu Aspekten, die für einen größeren Kreis zentral bzw. gar konsentiert sind. Das ist zum einen, dass Vertrauen überhaupt gefördert werden sollte – so etwa aus Sicht der Ökonomik, da es Wertschöpfung erlaubt, der Soziologie, da es soziale Kontexte und Beziehungen stabilisiert, aus der Sicht von praktischer oder Moralphilosophie, da es Normund Ethikbindung stärkt. Das ist zum anderen, dass möglichst verhindert werden soll, dass Vertrauen in die Irre führt – aus Sicht der Ökonomik, da dann die informationelle Basis von Entscheidungen verzerrt wäre (adverse Selektion), aus der Sicht der Soziologie, da jedenfalls eine Enttäuschung, zu der es dann kommen kann, soziale Kontexte und Beziehungen destabilisiert, und von einer philosophischen Perspektive her scheint hierfür vehement das Autonomieprinzip zu streiten. Für Giddens bildet Vertrauen wohl den Lackmustest für sein Bild der Moderne; und sein Moderneverständnis begründete in besonderem Maße seine Stellung als „Jahrhundertsoziologe“ – jedenfalls für die angloamerikanische Welt (und für New Labour). Wenn er Moderne analysiert, sieht er keine andere Veränderung auf dem Weg in die Moderne als so zentral für die Textur von Gesellschaft wie das gewandelte Verständnis von Vertrauen, namentlich mit der ungleich gesteigerten Bedeutung von Systemvertrauen (bedingt durch „die mit der Moderne einhergehende raumzeitliche Abstandsvergrößerung“). Konkreter und absolut zentral insoweit: Giddens erkennt, wie sich auch Systemvertrauen idR nicht erschöpft in einem Vertrauen abstrakt in die institutionellen Strukturen und die Regelbasis dieser Systeme– etwa die Absicherung von Einlagen bis zu 100.000,– € durch das vom gesamten Kreditwesen getragene Einlagensicherungssystem –, sondern wie personales Vertrauen in Exponenten dieses Systems – etwa Angela Merkels Diktum „Ihre Einlagen sind sicher“ – in einer signifikanten Weise hinzukommt. Giddens erkennt also, dass Systemvertrauen in den meisten Fällen der Lebenswirklichkeit ein hybrides Vertrauen ist – ein Konglomerat (mit verschiedenen Mischanteilen) von Vertrauen in Regeln, in eine institutionelle Praxis, in Exponenten des Systems. Das Gewicht des personalen Vertrauens im Rahmen von Systemvertrauen, etwa auch welchen Personen es warum und in welchem Maße entgegengebracht 26 Luhmann Vertrauen (oben Fn. 22), 27 ff., 53 („riskante Vorleistung“); Coleman Foundations of Social Theory, 1990, 91 ff.; Güth/Kliemt Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 12 (1993), 253 (Evolutionstheorie).
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wird, avanciert zu einer zentralen Forschungsfrage.27 Und dass dies zentral ist, wenn es darum geht, Handlungen herauszuarbeiten, die Systemvertrauen in besonderer Weise erschüttern, liegt auf der Hand. Die zweite zentrale Erkenntnis in Giddens Forschung – bei Luhmann allenfalls ansatzweise zu finden – betrifft die Frage nach dem Verhältnis zwischen Vertrauen einerseits und Information und Entscheidungsfindung andererseits. Insoweit geht Giddens davon aus, dass Systemvertrauen in der Moderne den Normalfall bildet, dass es als das Übliche erlernt wird, also nicht bewusst und primär informationsgesteuert ist – blindes Systemvertrauen gleichsam als Evolutionsvorteil, da nicht mehr gerechnet werden muss.28 Dabei ist jedoch wichtig, dass anders als bei personalisiertem Vertrauen, das („blinde“) Vertrauen erschüttert werden kann durch Erkenntnis der Fehlerhaftigkeit von Theorien oder Erfahrungssätzen und durch Verhalten Unbekannter oder beliebiger Exponenten. Die Bedeutung auch dieser zweiten zentralen Erkenntnis bei Giddens liegt wiederum auf der Hand, etwa wenn es etwa darum geht, ob und in welchen Fällen Vertrauen durch Informationsregeln gefördert, beeinflusst oder kanalisiert werden kann und sollte – etwa auch die Systemgrundlage transparent gemacht werden muss. Auf Luhmann und Giddens folgen Coleman und bald Beckert und Sztompka. Während Coleman für die Überlegungen vorliegend von geringerer Bedeutung ist,29 ist ein Wort zu Beckert und Sztompka für das Folgen27 Giddens The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, 1984 (Systeme und Akteure in ihrem Wechselspiel Träger der „Structuration“ of Modernity); aufgenommen etwa bei Beckert Grenzen des Marktes (Fn. 17), 378 f.; demgegenüber recht weitgehend noch von Irrelevanz personalisierten Vertrauens in diesem Kontext ausgehend: Weber Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972, 382 f.; zur Rolle dieser persönlichen Träger von Vertrauen in Systemen interessant: Shapiro 83 American Journal of Sociology 623 (1987) (fragend, ob nicht der allzu starke Versuch einer Disziplinierung dieser Träger von Vertrauen geeignet ist, kontraintentionale Effekte hervorzurufen). 28 Giddens Konsequenzen der Moderne, 7. Aufl. 1996, 33 ff., 109 (Giddens The consequences of modernity, 1990); aufgenommen und prägnant zusammengefasst etwa in Beckert Grenzen des Marktes (Fn. 17), 377–380; Hartmann in Hartmann/Offe Vertrauen (oben Fn. 18), 1, 25 (Vertrauen „kommt erst dann zu sich, wenn es unbewusst ist.“); sowie Zucker Research in organizational behaviour 8 (1986), 53; schöne Zusammenfassung auch bei Endreß Vertrauen, 2002, 48 f. („Vertrauen läßt sich bestimmen als Zutrauen zur Zuverlässigkeit einer Person oder eines Systems …, wobei dieses Zutrauen einen Glauben an die Redlichkeit oder Zuneigung einer anderen Person oder an die Richtigkeit abstrakter Prinzipien (technisches Wissens) zum Ausdruck bringt.“); ähnlich Luhmann Vertrauen (oben Fn. 22), 56 ff., 90 ff. Das Systemvertrauen ist blind – und wird erst bewusst, wenn es zu Vertrauensbrüchen kommt: Pennington/Wilcox/Grover 20 Journal of Management Information Systems 197, 201 (2003); vergleichbar (auf dem Hintergrund der Pädagogik): Schweer/Thies Vertrauen (oben Fn. 15), 154. 29 Zentral für ihn ist die Suche nach einer Einheit in der sozialwissenschaftlichen Erklärungsheuristik, namentlich der Versuch, die soziologische Vertrauenstheorie mit der ökonomischen besonders kompatibel zu machen (etwa unter Heranziehung strenger Rationalitätsannahmen): vgl. Coleman Foundations of Social Theory, 1990 (deutsche Ausgabe 1991), passim.
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de unverzichtbar. Beckert zählt nicht nur zu den großen modernen Soziologen, die sich am unmittelbarsten dem System Markt zuwenden, sondern fokussiert seine Überlegungen in besonderem Maße auf die Unterschiede zur ökonomischen Theorie des Vertrauens, namentlich zur Rationalitätsannahme. Nicht so sehr im Eigennutzdenken als vielmehr in der Anerkennung oder Nichtanerkennung (Ausblenden) einer grundsätzlichen Unüberwindbarkeit von Informationsproblemen sieht er den kardinalen Gegensatz – darin, dass in weiten Bereichen der Entscheidungsfindung auf Grund von hingegebenem Vertrauen ein informiertes Kalkül, auch nur Wahrscheinlichkeitskalkül schlicht als Alternative illusorisch erscheint.30 Beckert ist besonders radikal in der Ablehnung eines Analyserahmens, in dem Kalkulation in irgendeiner Form als dominante Prämisse gesetzt wird. Schließlich ist im Werk Sztompkas die – auch aus der Erfahrung von Jahrzehnten kommunistischer Planwirtschaft gespeiste – Sicht zentral, dass Allgegenwart von Kontrolle eine Unfähigkeit zu vertrauen nach sich ziehe.31 Auch diese beiden Erkenntnisse sind für das Design von Regulierungsansätzen von erheblicher Bedeutung. Die Geschichte der Vertrauensforschung in der Ökonomik ist deutlich schlanker. Während das Informationsmodell und die Informationsökonomik längst dem „slum dwelling“ entwachsen sind, in dem sie am Ausgangspunkt der Informationsökonomik gesehen wurden,32 verharrt das Vertrauen als Phänomen doch weiterhin ebendort – jedenfalls, wenn man seine ungleich reichere Ausprägung, die es im Kranz vieler Disziplinen erfahren hat, und die Verankerung dieses Bildes im Kapitalmarktrecht als Maßstab nimmt. Als Ausgangspunkt der Betrachtungen zum Phänomen Vertrauen in der Ökonomik werden verbreitet Arrows Überlegungen aus den 1970er Jahren gesehen, namentlich zwei Beiträge von 1972 und 1974.33 In ihnen kons30 Beckert Grenzen des Marktes (Fn. 17), bes. 19–97, 403–415; vgl. bereits Nachw. oben Fn. 11; und auch Hartmann in Hartmann/Offe (Hrsg.) Vertrauen (oben Fn. 18), 7, 11–14 und 16–18; zu Beckerts Vertrauenskonzept etwa Strulik Nichtwissen und Vertrauen in der Wissensökonomie, 2004, 74 ff. 31 Zugespitzt („Vertrauen als fehlende Ressource in der postkommunistischen Gesellschaft“): Sztompka Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Sonderheft 35) 1995, 254; ders. 11 International Sociology 37 (1996). Allgemeiner ders. Trust – a sociological theory, 1999. 32 So der Auftakt des bahnbrechenden Beitrages zu den „economics of information“ von Stigler 69 Journal of Political Economy 213 (1961); zu Entwicklung und theoretischen und transnationalen Kontexten (auch weiteren Kernetappen der Informationsökonomik): Grundmann in Grundmann/Micklitz/Renner (oben Fn. 13), Kapitel 12. 33 Arrow Philosophy and Public Affairs 1 (1972), 343, bes. 356 f.; ders. The Limits of Organization, 1974, bes. 15–29, insbes. 26 f.; zentral der Ausgangspunkt, aber auch die Schlussfolgerung: „Virtually every commercial transaction has within itself an element of trust, certainly any transaction conducted over a period of time.“ (357) und „trust has a very important value …“ (26). „But they are not commodities for which trade on the open market is technically possible or even meaningful.“ (26); früh auch Albach ZfgS 136 (1980), 2.
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tatiert er dreierlei: Erstens, den ökonomischen Wert von Vertrauen, indem es nutzbringende Transaktionen ermöglicht, die andernfalls nicht stattfinden könnten, jedenfalls erleichtert (kostengünstiger zulässt), ein Gedanke, den er vor allem mit Luhmann teilt, der heute jedoch universal anerkannt wird (Fn. 23); zweitens, die weitgehende Unmöglichkeit, die Vorteile vertrauensbildender Maßnahmen (und ihrer Kosten) hinreichend zu „privatisieren“, d.h. denjenigen, die sie unternehmen, zukommen zu lassen ([positive] „externalities“); drittens, die daraus resultierende Schwierigkeit, Märkte für Vertrauen zu konzipieren. Mit diesen Überlegungen – und dem Paradox, wie bei „blindem“ Vertrauen ein rationales Nutzenkalkül zu konzipieren sei – kämpft eine ökonomische Vertrauenstheorie bis heute, grundsätzlicher im Schrifttum, das unabhängig von der großen Finanzkrise entstand. Zwei Hauptlinien sind erkennbar. In der einen wird betont, vertrauensbegründendes Verhalten – etwa mittels Aussendens von Signalen, etwa indem Investitionen getätigt werden, die bei späterem vertrauensschädigenden Verhalten nutzlos würden – begründe Reputation und schaffe so die Voraussetzung von Renditen. Mit anderen Worten: Auf der einen Seite unterlassen die potentiellen Adressaten von Vertrauen vertrauensschädigende (opportunistische) Handlungen, um durch Vertrauensrenditen (über)kompensiert zu werden, oder investieren in vertrauensbildende Maßnahmen mit dem gleichen Ziel, zugleich jedoch und auf der anderen Seite, ebendies kann auch von den potentiellen Investoren von Vertrauen hinreichend verlässlich prognostiziert und honoriert werden.34 In dieser Begründungslinie wird weiterhin von Kalkulation (vor allem zukünftiger Wahrscheinlichkeiten) ausgegangen und werden Kosten von vertrauensbildenden Maßnahmen (einschließlich der Opportunitätskosten unterlassenen Vertrauensbruchs) und Kostenvorteile von Vertrauen der anderen Seite als Posten in eine virtuelle Bilanz eingestellt.35 Die Gegenlinie kann an der zentralen wirtschaftswissenschaftlichen Monographie im deutschen Schrifttum vor der Finanzkrise – von Ripperger – festgemacht werden, vor allem ihrer Rezension.36 Die Arbeit, welche die zentralen Eigenschaften von Vertrauen stringent institutionenökonomisch „durchdekliniert“, mit vielen begrifflichen Klärungen, jedoch ohne Opera-
34 Zu dieser Überlegungslinie und namentlich zum Reputationskonzept: Klöhn/ Schmolke NZG 2015, 689 (Unternehmensreputation); Sumser Evolution der Ethik – der menschliche Sinn für Moral im Licht der modernen Evolutionsbiologie, 2016, bes. 139– 144. Für die Kritik, dass dies gänzlich illusorisch sei, besonders vehement und tief die Ausführungen von Beckert und Bosshardt (oben Fn. 30 und 19). 35 Zu solch einer Vertrauens-Kalkulation etwa Williamson 36 Journal of Law and Economics 453 (1993) (zu „Calculativeness and Trust“); tendenziell auch Mülbert/Sajnovits ZfPW 2016, 1, 14 f. 36 Ripperger Ökonomie des Vertrauens – Analyse eines Organisationsprinzips, 1998; Anm. Gebert ZfP 1998, 494.
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tionalisierungsvorschläge, hat eine „Achillesferse“ – ob nicht kalkulierendes Vertrauen einen Widerspruch in sich darstelle. Entsprechend arbeitet Gebert heraus, wie Ripperger das Nutzenkalkül auch weder als empirisch belegte Verhaltensweise postuliert, noch als normatives Leitbild verstanden wissen will, sondern nur als „methodologisches Konzept“, und „wie gerade mit zunehmender Ausdifferenzierung dieser [Denkfigur – stringentes Nutzenkalkül] … die kognitiv-emotionalen Voraussetzungen für die Freisetzung von Vertrauen in der Praxis beeinträchtigt werden.“ In der Tat bleibt es das große Paradoxon einer auf Nutzenkalkül basierten Analysemethode, wie erklärt werden soll, dass die Gegenseite tatsächlich Vertrauen in eine Person setzen soll, die stets ihren eigenen Nutzen für die Zukunft hochrechnet.37 Die Gegenseite kann emotional vor allem Vertrauen aufbauen, wenn ihr das Nutzenkalkül und dahinterstehende Anreizsystem systematisch verheimlicht wird. Denn es ist allenfalls in Ausnahmesituationen (etwa bei Investitionen in Reputation, die bei „effizientem Vertrauensbruch“ verloren gingen) vergleichbar stabilisiert und für die Gegenseite verlässlich wie etwa das Systemvertrauen bei Luhmann. Diese Erkenntnis führt Autoren wie Bosshardt oder Beckert in Fragen der Konstruktion und des Schutzes von Vertrauen dazu, institutionenökonomische Ansätze erst nach Validierung im Lichte der soziologischen Vertrauensforschung, und soweit eine solche möglich ist, einzubeziehen. b) Philosophie, Politologie und sonstige Beiträge zum Vertrauen Neben die skizzierten Beiträge zu einem breit gesellschaftswissenschaftlichen Theoriepanorama zum Vertrauen treten wichtige weitere Stränge, in Philosophie und Politologie (Fn. 18), aber auch in Psychologie (und Sozialpsychologie), Pädagogik und Anthropologie bzw. Evolutionsbiologie.38 So wichtig jeder Strang für eine Gesamtsicht ist, so sehr stehen dennoch soziologische und ökonomische Vertrauenstheorie für Kapitalmarkt und Kapitalmarktrecht im Vordergrund. Im Rahmen einer Skizze liegt daher der Fokus auf ihnen. Denn einerseits versteht keine Disziplin so sehr wie die 37
Etwa Endreß Vertrauen, 2002, 49 (hier wird Vertrauen zu sehr „systematisch auf Bilanzierung, Effizienz und Effektivität hin zu[ge]spitzt.“, was „die Intention dieses Schrittes zu konterkarieren droht.“ „Leben doch die besagten ersten Schritte gerade davon, dass sie als nicht berechnend verstanden werden.“); Kern in Hradil (Hrsg.), Differenz und Integration – die Zukunft moderner Gesellschaften (28. Kongress der Dt. Ges. f. Soziologie), 1997, 271. Zwar scheint es möglich, dass die eine Seite weiß, dass die Nutzenbilanz des Gegenübers positiv ist - und dann ist dessen Haltung/Handlung ja sogar ziemlich berechenbar. Allerdings ist es um dieses Wissen häufig nicht gut bestellt. Schwierig ist ferner die potentielle Fragilität (bei Änderung der Nutzenbewertung), und genau dieses scheint bei philosophischen/sozialen Einstellungen potentiell deutlich anders. 38 Nachweise zu all diesen Disziplinen in der Langfassung und etwa – zu Schweer/Thies – oben Fn. 14.
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Soziologie Vertrauen als Kernthema der Disziplin – außer vielleicht die Psychologie, allerdings viel weniger als in der Soziologie fokussiert auf das gesellschaftliche Vertrauen – und wurde andererseits in den bisherigen interdisziplinären Anwendungen auf Kapitalmärkte und Kapitalmarktrecht die (eigentlich gar nicht so reiche) ökonomische Theorie des Vertrauens in den Vordergrund gerückt. In der Politologie bezieht sich die Vertrauensforschung auch primär auf ein anderes Objekt des Vertrauens, sowohl die politischen Entscheidungsträger als auch auf Wahlvolk sowie Verfassungsgeber (pouvoir constituant),39 während Soziologie und Ökonomik ihr Augenmerk primär auf Gesellschaft und seit Anbeginn gerade auch Wirtschaft richten, damit auf Markt- und Transaktionsfragen und die Akteure in diesen. Damit entscheidet auch das klassische Kriterium der Sachnähe über die berücksichtigungswürdigen Disziplinen. Gänzlich zentral ist jedoch ein Aspekt der Vertrauensforschung, der in der philosophischen Diskussion – naheliegender Weise – besonders betont wird. Mit einer Tradition von mehreren Jahrtausenden wird er in der Vertrauensforschung eigentlich nur in einem neuen Kontext aufgegriffen. Es geht um den Aspekt, dass Vertrauen gleichheitssensibel ist. Mit anderen Worten: Das Gefühl, zu Gleichbehandlung berechtigt zu sein, ist so stark ausgeprägt, dass sich Vertrauen besonders intensiv dahingehend bildet, dass die maßgeblichen Systeme dies auch verbürgen.40 Vertrauen in Gleichbehandlung im System ist besonders zentral, seine Enttäuschung umgekehrt auch in besonderem Maße geeignet, Vertrauen in die Institution insgesamt zu erschüttern. Dies wird nicht zuletzt damit begründet, dass das Gleich39 Vgl. Dunn in Goodin/Pettit (Hrsg.) A Companion to contemporary political philosophy, 1993, 638; Offe 96 Theoria: A Journal of Social and Political Theory 1 (2000); Warren (Hrsg.) Democracy & Trust, 1999; sowie die Beiträge in Hartmann/Offe (Hrsg.) Vertrauen (oben Fn. 18), 241–369. 40 Grundlegend Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Kant Metaphysik der Sitten mit der ersten (gleichheitsbezogenen) und der zweiten (gleichheits- und menschenwürdebezogenen) Form des kategorischen Imperativs (im zweitgenannten Werk, Werkausgabe Suhrkamp 1985, etwa 562: „Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner [des Getäuschten] Menschenwürde.“ Und der Imperativ selbst: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck [an sich], niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Grundlegung, Ausgabe Reclam 1984, 79); dazu Drewermann Wege und Umwege der Liebe – Christliche Moral und Psychotherapie, 2005, 224, der Vertrauensbruch in Anlehnung an Kant als Verletzung des Anspruchs auf gleiche Menschwürde versteht („in Wirklichkeit benutzt man seine Person mit ihrem Vertrauen und ihrem geistigen Anspruch auf Wahrheit für ein Ziel [den Mensch also als bloßes Mittel], das man ohne List der Unwahrheit nicht glaubt erreichen zu können“); aufgenommen in Mersits Ethik, Konflikt, Situation – von der Situiertheit des Menschen zur situativen Ethik, exemplifiziert an Karl Jaspers, 2016, 303 f.; besonders dezidiert die britische Rawls-Schülerin Onara O’Neill Reith Lectures 2002 a Question of Trust – Lecture 4: Trust and Transparency, 19: ”Deceivers do not treat others as moral equals, they exempt themselves from obligations that they rely on others to live up to.” (Hervorhebung hinzugefügt).
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heitspostulat in Ethik und Gerechtigkeitslehre eine so zentrale Stellung (als Gerechtigkeitsidee) einnehme, dass sich auch ein gesellschaftsweites Vertrauen auf seine Beachtung in gesellschaftlichen Systemen mit besonders hervorgehobener Bedeutung ausbildet.41 Diese Verknüpfung von normativem Postulat und tatsächlicher Verbreitung von Vertrauen ist nicht auf diesen Fall beschränkt. Auch in der juristischen Diskussion – namentlich um die grundlegende Schrift von Canaris zur Vertrauenshaftung – wird (wenig überraschend) dem Einwand, Vertrauen sei in den herangezogenen Fallkonstellationen häufig nur fiktiv,42 vor allem mit dem Argument begegnet, dass von schützenswertem Vertrauen in der normativen Setzung (Haftung) jedenfalls dann auszugehen sei, wenn Vertrauen normativ und typisiert als „Guter Glaube“ festzustellen ist.43 Der Gleichheitsaspekt wiederum ist nicht nur für die philosophische Diskussion zentral und umgekehrt für die Ökonomik grds. irrelevant, sondern als solcher auch offensichtlich relevant für das Kapitalmarktrecht. Denn gerade auch auf der gleichen Marktseite – etwa auf Anlegerseite – treffen die Interessen von Anlegergruppen, die unterschiedliche Fähigkeiten haben, häufig aufeinander – etwa bei den Fragen nach der Ausgestaltung von Informations-, etwa Prospektpflichten. In Sekundärmärkten liegen – da die Rolle von Transaktion zu Transaktion wechseln kann – Gleichbehandlungsaspekte auch zwischen Akteuren auf beiden Marktseiten nahe, offensichtlich etwa bei Insiderverboten.
41 Neben den vorige Fn Zitierten vgl. nochmals Hartmann in Hartmann/Offe (Hrsg.) Vertrauen (oben Fn. 18), 7, 11–14; Ziegler in Hradil (Fn. 37), Hg) 241 (zu „Interesse, Vernunft und Moral“); vgl. allgemeiner Faulkner/Simpson (Hrsg.) The philosophy of trust, 2017. 42 Im allgemeinen Zivilrecht, etwa für die falsus-procurator-Haftung MünchKommBGB/Schubert § 179 Rn. 1; deutlich verbreiteter die Kritik im Prospektrecht, für das Canaris’ Vertrauenshaftungsansatz anfangs in Deutschland das/ein Hauptkonzept bildete, alternativ aber auf ein Konzept der Haftung kraft beruflichem Auftreten gesetzt wurde: Hopt AcP 180 (1980) 608; schon ders. FS Fischer 1979, 237; ihm folgend etwa Lang AcP 201 (2001), 451, 557–565, wohl auch Schwark NJW 1987, 2041, 2045; vgl. auch Köndgen Selbstbindung ohne Vertrag – zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln, 1981, bes. 224–227. 43 In Antwort auf die genannte Kritik vor allem Canaris Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, passim, etwa 540 Fn. 78, und besonders § 40 (starke Differenzierung nach normspezifischen Gutglaubenstatbeständen); zur Prospekthaftung Canaris a.a.O. 272–276; ders. Bankvertragsrecht, 1975/88, Rn 12–35; zuletzt noch Herresthal Bankrechtstag 2015, 2016, 103, bes. 105–108. Rechtsvergleichend für die schärfere zivilrechtliche Haftung in Vertrauenstatbeständen Beale/Fauvarque-Cosson/Rutgers/ Tallon/Vogenauer Cases, Materials and Texts on Contract Law, 2. Aufl. 2010, 371–425; und strafrechtsvergleichend für die stärkere Strafbewährung: Rönnau ZStW 122 (2010), 299.
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III. Vertrauen als Leitbild des EU-Insiderhandelsverbotsregimes 1. Rechtspolitische und theoriebezogene Dispute bei Verabschiedung Als 1989 der Durchbruch zum Europäischen Insiderhandels- und einem (noch personell beschränkten) -weitergabeverbot gelang, wurde die Regel gerne unter der Formel „disclose-or-abstain“ zusammengefasst.44 Die Regel (heute Art. 14 MAR) sagt: Geheime und erheblich kursrelevante Information darf vom Geheimnisträger weder zum Handel (direkten eigenen Vorteil) ausgenutzt werden, noch darf sie weitergegeben werden und so das Risiko von Insiderhandel durch andere gestreut werden. Völlig richtig wiedergegeben war das Verbot durch die Formel „disclose-or-abstain“ nicht einmal bei beschränktem Weitergabeverbot, heute ist es das noch weniger, da jeder dem Weitergabeverbot unterliegt – einschließlich Personen, denen keine Möglichkeit einer legalen Aufdeckung durch die Mittel der Ad-hocPublizität zur Verfügung steht. Das war auch 1989 schon bei einem Teil der Primärinsider der Fall, heute ist es dies bei allen Normadressaten mit Ausnahme derjenigen, die legal weitergeben dürfen und können – und dies ist ausschließlich durch Ad-hoc-Publizität möglich, zu der etwa allein Organe des Emittenten berufen sind.45 Beispielsweise genügt auch eine „Veröffentlichung“ auf Pressekonferenz oder Hauptversammlung nicht,46 sicherlich nicht dem jeweiligen Transaktionspartner gegenüber. Hinter dem Motto „disclose-or-abstain“ steht sichtlich das Grundmodell der Informationsökonomik. Bei korrekter Aufdeckung der Fakten entfällt jede inhaltliche Pflicht – explanation beats abstention. Dieses Motto trifft jedoch die gewählte rechtliche Lösung nicht, es verfälscht den Blickwinkel. Das Regime der Insiderverbote – samt Pflicht zur ad-hoc-Publizität – wurde nämlich anders gefasst. Abstain before ad hoc disclosure – full-stop. Das Paradigma ist ein anderes. Es ist kein Paradigma der Aufklärung des Transaktionspartners. Vielmehr ist es ein Paradigma der Gleichheit beim Informationszugang für alle, nicht nur der beiden Transaktionspartner, und der Stärkung der Vertrauensbasis beim Anlegerkreis – mit den Querbezügen zwischen beiden 44 Damals etwa Assmann AG 1994, 196, 201–204; dann – jeweils bereits im Titel – etwa Livingston/Haskell 55 Washington and Lee Law Review 199 (1998); und heute Sifuna 27 Journal of International Banking Law and Regulation 340 (2012). 45 Bekanntgabe allein über allgemein zugängliche Informationssysteme: Buck-Heeb Kapitalmarktrecht, 8. Aufl. 2016, Rn 297; Kumpan DB 2016, 2039, 2042; Cloppenburg/ Kruse WM 2007, 1109, 1113; Schneider NZG 2005, 702, 706; BankR-Hdb/Hopt/Kumpan § 107 Rn 53. 46 Assmann AG 1994, 237, 242; wohl selbst bei Übertragung im Internet: vgl. Claussen/Florian AG 2005, 745, 749. Für Hauptversammlungen und Gerichtsverhandlungen: Assmann ZGR 1994, 494, 512; Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Fassung vom 25.3.2020, Modul C, I.2.1.1. und I.2.1.5.8.
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Paradigmenteilen, Gleichheit und Vertrauen, wie sie insbesondere in philosophischen Vertrauenskonzepten herausgearbeitet werden.47 Gesehen wird dies dennoch als ein „disclose-or-abstain“ – Ausdruck eines Verständnisses von Gleichheit und Vertrauen als „ancilla informationis.“ Im Folgenden soll hingegen beleuchtet werden, wie sehr sich das gewählte Paradigma von einem Informationsparadigma unterscheidet – und neben es tritt! Das Insiderinformationsregime hätte in der Tat nicht geregelt werden müssen, wie es geregelt wurde – bezogen auf Anlegervertrauen als zentralem Wert. Es lagen andere Theorieansätze vor, die ebenfalls zugrunde gelegt hätten werden können. Es wurde jedoch Vertrauen als Kernrechtfertigungselement postuliert. Wichtig ist, dass mit diesem Ansatz und dieser Regelung zugleich auch über Theorieansätze entschieden wurde und zwar nicht nur mit der Einführung der Insiderverbote, sondern auch mit ihrem konkreten Zuschnitt. Manche Theorien wurden (implizit, ggf. nicht einmal bewusst) verworfen, andere zugrunde gelegt, und dies sollte als Gesetzgeberentscheidung ebenso ernst genommen werden wie die Fassung einzelner Tatbestandsmerkmale. Die Theoriegrundlagen sollten stimmig mit der Gesetzgebungsarchitektur verstanden werden – auch dies ist Aufgabe einer breit verstanden (Kapitalmarkt-)Rechtswissenschaft. Offensichtlich verworfen wurde die – vor den 1980er Jahren in der Ökonomik wohl herrschende – Theorie, die Henry Manne begründet hatte. Nach ihr wurde Insiderhandel als ein Mittel zur Infiltration maßgeblicher (namentlich geheimer und erheblich kursrelevanter) Information in die Kapitalmärke gesehen, das diese informations- und damit allokationseffizienter mache.48 Mülbert/Sajnovits in ihrer Studie zu Vertrauen und Kapitalmarkt halten diese Theorie offenbar weiterhin im Kern für zutreffend: „Was den Sekundärmarkt anbelangt, befürwortet die Kapitalmarkttheorie das Insiderhandelsverbot trotz seiner negativen Auswirkungen auf die Kapitalmarkteffizienz unter Hinweis darauf, dass das Vertrauen in die Fairness des Markts dessen Liquidität erhöhe.“49 Dass mit der Ad-hoc-Publizität (der breiten Publikation von Insiderinformationen direkt nach ihrer Generierung) auch 47 Für equal access vor allem EuGH und Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-384/02 Grøngaard/ Bang, Slg. 2005, I-9961.und Urt. v. 23.12.2009 – Rs. C-45-08 Spector Photo Group, Slg. 2009, I-12073. 48 Grundlegend Manne Insider Trading and the Stock Market, 1966, 76–91, 111–158 et passim; ders. 44 Harvard Business Review 113 (1966); sowie Carlton/Fischel 35 Stan. L.Rev. 857, 866–872 (1983); Ruder 59 N. W. U. L. Rev. 185, 210–212 (1964/65); vorsichtig auch noch Fenn/McGuire/Prentice in Hopt/Wymeersch (Hrsg.) European Insider Dealing – Law and Practice, 1991, 3, 6; aber auch nächste Fn. 49 Mülbert/Sajnovits ZfPW 2016, 1, 15; unter Verweis auf: Mülbert ZHR 177 (2013), 160, 172 f. – wiederum unter allgemeinem Verweis auf die Legal-Origins-Literatur von LaPorta/Lopez-de-Silanes/Shleifer/Vishny 52 Journal of Finance 1131 (1997); LaPorta/ Lopez-de-Silanes/Shleifer 54 Journal of Finance 471 (1999); und weite Teile der USamerikanischen Law and Finance-Literatur.
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eine alternative Verbreitungsform zur Verfügung steht, spielte und spielt in diesem Theoriestrang (auch im genannten Zitat) keine nennenswerte Rolle. Selbst dass Insiderhandel mit Roulette verglichen wurde, bei dem ein Spieler systematisch setzen darf, wenn die Kugel bereits gefallen ist, sich also fundamental unfair verhalten darf, erschien hier unerheblich.50 Mit dem philosophischen Vertrauensverständnis – seinem Gleichheitsanspruch als Inhalt von (Kapitalmarkt-)Vertrauen – liegt dies offensichtlich und diametral im Widerspruch. Mit O’Neill (Fn. 40) könnte man wortgleich (!) formulieren: „Deceivers [insiders] do not treat others as moral equals, they exempt themselves from obligations [framework conditions] that they rely on others to live up to.” Zwar kam es – in den 1960er bzw. 1980er Jahren in den USA bzw. in Europa – entgegen dem von Manne initiierten Theoriestrang zu einem Insiderhandelsund -weitergabeverbot. Dezidiert befürwortet wurde dieses lange jedoch primär nur von Juristen und teils bis 1989 auch nur als Selbstregulierung.51 Erst zeitgleich mit der Verabschiedung des Verbots in Europa kam es auch innerhalb eines institutionenökonomischen Analyserahmens zu Modellen, die ein Verbot von Insiderhandel und der Weitergabe von Insiderinformationen ökonomisch begründeten. Argumentiert wurde, dass Insider nicht zufallsgetrieben mit beliebigen Mitgliedern der Anlegermasse handeln, die ohnehin den Handel zu diesem Preis getätigt hätten, sondern primär und geballt jeweils mit professionellen Händlern und Market Makers – mit der Folge, dass diese Gruppe, wenn die Insiderinformation dann zeitnah durchschimmert und schließlich deutlich wird, zuvörderst den Verlust trägt, der mit dem vom Insider erzielten Insidergewinn korrespondiert (Preisunterschied mit und ohne Insiderinformation). Diese Gruppe würde dies antizipieren, dafür Risikoprämien als Aufschläge einrechnen und so die Kapitalaufnahme insgesamt verteuern.52 Hauptgeschädigte wären demnach die Emittenten als Gruppe. Dem wirke ein Insiderhandelsverbot entgegen. Diese Erklärung scheint stringent und klar. Diese Ableitung klingt freilich in der Gesetzgebungsgeschichte nirgends an. Vielmehr setzt der Gesetzgeber – auf den ersten Blick überraschend – 50 Dieses (vorher geprägte) Bild selbst bei Manne, vgl. Manne 4 Cato J. 933, 937 (1984), der allerdings auch von als „victimless crime“ spricht. 51 Hopt/Will Europäisches Insiderrecht – Einführende Untersuchung, ausgewählte Materialien, 1973; Amihud/Mendelson 17 Financial Management 5, 11 (1988) (Vertrauensschwund bei den Händlern); aus jüngerer Zeit Buck-Heeb/Dieckmann Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, 244 ff.; Ehrhardt/Nowak AG 2002, 336, 343; Nietsch ZHR 174 (2010) 556, 589; auch Krauel Insiderhandel – eine ökonomisch-theoretische und rechtsvergleichende Untersuchung, 2000, 58; 52 Besonders klar die Ableitung bei Schmidt Insider Regulation and Economic Theory in Hopt/Wymeersch (oben Fn. 48), 21, 28 ff.; ähnlich Rudolph in FS Moxter 1994, 1333, 1345–1349; dazu auch Krauel Insiderhandel (vorige Fn), 56 f.; zu den Kosten des Insiderhandels auch Klöhn MAR, 1. Aufl. 2018, Vorb. Art. 7, Rn. 106 ff.; Mülbert/Sajnovits ZfPW 2016, 1, 14 f.
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auf das ungleich weniger stringent-prägnante Konzept von Anlegervertrauen. Er rechtfertigte das Verbot von Insiderhandel und der Weitergabe von Insiderinformationen in der Tat zentral damit, dass solcher Handel geeignet sei, das Anlegervertrauen in die Fairness von Kapitalmärkten massiv zu unterminieren.53 Dieses kann dann wieder als Unterziel eines kapitalmarktrechtlichen Allokations- und Liquiditätsziels (Fn. 49) verstanden werden (fiducia ancilla efficaciae) oder im Lichte der breiteren Vertrauensforschung und -bestimmung als eigenständiges Konzept. Auf die zweitgenannte Weise soll im Folgenden die spätere Regelsetzungsgeschichte verstanden (unten 2.) und sollen auch weiterhin offene Auslegungsfragen analysiert werden (unten 3.). 2. Vertrauensparadigma als Grundlage für flankierende Verbote Wenn aus der bisherigen Diskussion der soziologischen und philosophischen Vertrauensforschung als drei Zentralgesichtspunkte hervorstachen, dass auch Systemvertrauen sich mit Vertrauen in zentrale Einzelexponenten mischt, dass Systemvertrauen idR subkutan unbewusst in Systeme gesetzt wird und aktiviert wird weniger im Moment des Vertrauens als vielmehr dem der Enttäuschung des Vertrauens, und schließlich, dass Vertrauen zentral mit dem Anspruch auf Gleichbehandlung verknüpft erscheint, so erscheinen alle zentralen gesetzgeberischen Entscheidungen zum Insiderregime (einschließlich Ad-hoc-Publizität) mit diesen Überlegungen deutlich schlüssiger erklärbar als mit einem Denken in Nutzenkalkülen. Man hätte zwar – wie der more economic approach für das Wettbewerbsrecht in der Tat vorschlägt – eine Gesamtwohlfahrtsrechnung aufstellen können.54 Dann wäre – mit dem jüngeren ökonomischen Ansatz zu den Insiderverboten – von der Steigerung der Kapitalaufnahmekosten (wegen Risikoaufschlag) auszugehen gewesen. Diese hätten dann gegen die Vorteile einer schnelleren Informationsinfiltration konkret gerechnet werden müssen und auch gegen 53 Erw.gründe 2, 23, 24, 32, 55, 58 und Art. 1 MAR und Erw.grund 1 MAD-Crim, schon im Ausgangspunkt Erw.gründe 3–6 der EG-Insider-RL; EuGH Rs. C-45-08 Spector Photo Group, Slg. 2009, I-12073 (1. LS); Assmann AG 1994, 196, 202; ders. ZGR 1994, 494, 499; dazu auch Dedeyan Regulierung der Unternehmenskommunikation, 2015, 678 ff.; als nur untergeordnet sieht die Rolle des Anlegervertrauens allerdings Bachmann Das Europäische Insiderhandelsverbot, 2015, 18 ff. 54 Vgl. Bechtold/Bosch GWB – Kartellgesetz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, 9. Aufl. 2018, Einführung Rn. 75–79; Huttenlauch/Lübbig in Loewenheim/Meessen/ Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 102 AEUV Rn. 16; Wiedemann/Ewald, Kartellrecht, 4. Aufl. 2020, § 7 Rn. 18 f.; Bishop/Walker The Economics of EC Competition Law: Concepts, Application and Measurement, 2. Aufl. 2012, Rn. 1–009, detaillierter in Kap. 6 und 7; Schmittchen/Albert/Voigt (Hrsg.) The More Economic Approach to European Competition Law, 2007; auch Basedow 42 Texas International Law Journal 429 (2007).
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die möglichen Schäden bei Emittenten, die aus (alternativer und breiter) Adhoc-Publizität resultieren (und bei bloßem Insiderhandel ggf. milder ausfallen würden) – mit all den Unwägbarkeiten und Wissensproblemen bei einer Kalkulation. Man hätte ein Insiderhandelsverbot sogar – wie der more economic approach für das Kartellierungs- und vor allem Fusionsverbot vorschlägt (vorige Fn) – davon abhängig machen können, dass von den Regulierungsbefürwortern bewiesen wird, dass der – negative – Preisaufschlag in der Tat die anderen – positiven – Wirkungen langfristig übersteigt (Umkehr der Begründungs- und Nachweislast, ggf. mit Langzeitperspektive). Dies ist nicht geschehen. Schäden beim Emittenten durch Ad-hocPublizität werden für irrelevant erklärt, wenn ein Aufschub der Aufdeckung begehrt wird, jedoch nicht verbürgt werden kann, dass kein vertrauensschädigender Insiderhandel einsetzt (Art. 17 Abs. 4 lit. c und Abs. 5 lit. c MAR).55 Die Interessen der Anleger – als der „Souveräne“ dieses Marktes – stehen sichtlich zuoberst. Dies ist auch unmittelbar einsichtig, wenn man nur den Gleichbehandlungsanspruch aller Anleger in der Nachfolge der philosophischen Vertrauenskonzeption als Kernstück des Vertrauensschutzziels sieht. Oder bildet solch ein Festhalten an ethischen Dimensionen des Vertrauens im Zeitalter von Fake News einen reinen Anachronismus? Auch der massive Flankenschutz, der so charakteristisch für das Insiderregime ist, wäre mit einem Gesamtnutzenkalkül als Grundlage des Regelkomplexes ungleich weniger stringent zu begründen als mit den genannten Kernelementen aus soziologischer und philosophischer Vertrauensforschung. Das Insiderregime ist nämlich mindestens dreistufig aufgebaut – auf zwei Stufen ein Flankenschutz, der durchaus begründungsbedürftig erscheint. Das Verbot, das monetäre Schaden verhindert, ist (allein) das Handelsverbot selbst – d.h. das Verbot, (geheime, erheblich kurzrelevante) Insiderformation zum privaten Nutzen „auszunutzen“ (Insiderhandel ieS). Schon die zweite Stufe gibt nur Flankenschutz hierzu – das zunächst enger gefasste, heute flächendeckende Verbot, Insiderinformationen weiterzugeben, auch indirekt durch Empfehlungen weiterzugeben (Art. 14 lit. b und c MAR). Auf der Grundlage eines Effizienzkalküls wird dies damit erklärt, dass die Weitergabe die Chance auf (den eigentlich schädlichen) Insiderhandel erhöht, das Verbot auf der zweiten Stufe also generalpräventiv der effizienten Durchsetzung des Verbots auf der ersten Stufe diene.56 So treffend diese Überlegung (ebenfalls) ist, so viel spezifischer erscheinen zwei andersartige Überlegungen. Sieht man, erstens, die Regelung wieder unter einem 55 Näher hierzu (schon Aufkommen von Gerüchten ist schädlich): Hopt/Kumpan in BankR-Hdb, § 107 Rn 165; Zetzsche Enzyklopädie Europarecht, Bd. 6, § 7 C Rn 188; Klöhn AG 2016, 423, 431. 56 Klöhn in KölnKommWpHG, Vor § 12–14 Rn 16 und § 14 Rn 258; Hilgendorf/ Kusche in Park Kapitalmarktstrafrecht, 5. Aufl. 2019, Kap. 7.1. Rn. 12.
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philosophisch begründeten Gleichbehandlungsparadigma, so liegt schon allein in der Einräumung der Chance, Vorteilswissen gegenüber allen anderen zu haben und nutzen zu können, der Verstoß, und der Schaden bereits in der daraus resultierenden Vertrauenserschütterung bei allen anderen, soweit sie davon erfahren. Dies ist eine neue Sicht, die etwa den Einwand im Strafprozess ausschließt, der Tipp-Geber sei sich sicher gewesen, dass der Empfänger ihn nicht nutzen würde – er habe diesen beispielsweise nur beeindrucken wollen. Das allgemeine Vertrauen und der allgemeine Gleichbehandlungsanspruch wären dennoch erschüttert. Nicht nur auf den Informationsfluss bei den Informationshändlern kommt es dann an – so das ökonomische Vertrauenskonzept –, sondern auf den Gleichbehandlungsanspruch, den das allgemeine Anlegervertrauen umfasst und den es zu respektieren gilt. Betont man, zweitens, wie zentral personalisiertes Vertrauen auch im Systemvertrauen ist und wie sehr gerade Versagen von wichtigen Exponenten des Systems als Versagen auch des Systems und als vertrauenserschütternd empfunden wird, so liegt es nahe, dass diesen Exponenten besondere Pflichten auferlegt werden. Zentrale Exponenten, nämlich Funktionsträger bei Emittenten und ggf. Aufsichtsbehörden, trifft das Weitergabeverbot primär – obwohl es allgemein formuliert ist. Ohne eine Weitergabe durch sie wird Insiderwissen weiteren Personen nur in Lehrbuchbeispielen zugänglich. Dieser Begründungsstrang – des personalisierten Exponentenvertrauens im Systemvertrauen – kann in den weiteren Überlegungen noch vertieft werden. Schließlich findet sich nämlich auf der dritten Regelungsebene ein weiterer Flankenschutz, die Registrierungspflicht aller Transaktionen in eigenen Wertpapieren für diejenigen Primärinsider, bei denen Insiderinformationen idR zuerst anfallen (sog. „Directors Dealing“, Art. 18 f. MAR). Während die Exponenten des Systems beim Weitergabeverbot noch „nur“ primär angesprochen waren, trifft diese Regel nun tatsächlich ausschließlich sie, auch durchaus signifikant und in besonderem Maße präventiv. Zwar wird ihnen ein Handeln in Wertpapieren der eigenen Gesellschaft durchaus gestattet. Denn dieser Handel bildet potentiell auch ein wichtiges Signal dafür, dass die Geschäftsleiter selbst Vertrauen in die eigene Gesellschaft haben. Sie werden jedoch einer umfassenden aufsichtlichen Registrierungspflicht auch der Einzeltransaktionen unterworfen. Dass dies im Vergleich zu anderen Konstellationen im EU-Wirtschaftsrecht ungewöhnlich weit geht, kann hier nicht erörtert werden (zu einem noch offensichtlicheren Fall besonders weitgehender Pflichten unten 3.). Jedenfalls ist auch eine besonders weitgehende Pflichtenstellung damit zu erklären, welches Gewicht dem personalisierten Vertrauen in Systemexponenten als Teilstück auch im Rahmen des Systemvertrauens zukommt. An diese Exponenten wird offensichtlich – wie es Justice Cardozo vor fast einem Jahrhundert so bildhaft umschrieb – der Standard einer „punctilio of an honor the most sensitive, not honesty alone“
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gelegt.57 Nicht nur einfache Redlichkeit wird erwartet. Ein höheres Ethos für Systemexponenten – erklärlich vor allem mit der Struktur von (auch blindem) Vertrauen, dessen Enttäuschung unvorhersehbare Reaktionen hervorrufen kann, das jedoch vielleicht auch aus ethischen Gründen besonders unbedingten Schutz verdient. Welche unvorhersehbaren Reaktionen? Die verbreitete Überzeugung, Systemvertrauen sei nur gefährdet, wenn das System versagt, nicht schon, wenn dies nur der Einzelne sei, d.h. das System versage erst, wenn das Versagen des Einzelnen nicht geahndet wird,58 ist jedenfalls in dieser Allgemeinheit am Anfang der globalen Finanzkrise schmerzlich widerlegt worden. Mit Lehman Brothers wurde ein Motor des Marktes für Subprime Debt Verbriefungen bewusst der härtesten Sanktion – der Insolvenz – ausgesetzt, dennoch litt das Systemvertrauen in und vor allem zwischen Banken global und massiv. Dieser Befund rechtfertigt es, Exponenten von Vertrauen in besonderem Maße bei jeder Transaktion präventiv zur sorgfältigen Prüfung anzuhalten und ihre Handlungen auch für das gesamte Anlegerpublikum (bzw. die für sie agierende Kapitalmarktaufsicht) gänzlich transparent zu halten (und Beweise ex ante zu sichern). Wieder ist die Erklärung dieses Instruments als generalpräventives zwar durchaus zutreffend. Wieder erklärt und rechtfertigt jedoch erst das spezifische Gewicht personalisierten Vertrauens innerhalb des Systemvertrauens auch inhaltlich die Fokussierung auf diese Gruppe von Akteuren und auch das Maß an Anforderungen. Zudem wird der Gesetzgeber mit solch einer präventiven Gestaltung in besonderem Maße dem Umstand gerecht, dass Systemvertrauen nach dem Gesagten überwiegend blind ist – und erst durch nachherige Erschütterung als Gefühl aktiviert wird. Wenn für den Moment der Vertrauenserschütterung sichtbar Vorsorge getroffen wurde und eine Aufarbeitungsgrundlage sofort im Zeitpunkt der Vertrauenserschütterung vorliegt, sinkt nicht nur die Wahrscheinlichkeit von Zuwiderhandlungen (durch Auslagerung der Transaktionen auf Strohleute bleiben solche ggf. sogar möglich). Ganz sicher helfen diese Vorkehrungen jedoch, die Erschütterung des Systemvertrauens zu minimieren. 3. Vertrauensparadigma und Tatbestandsauslegung in der Rechtsprechung Gleichbehandlungsneigung von Vertrauen und das besondere Gewicht von personalisiertem Vertrauen auch innerhalb des Systemvertrauens sind auch zentral, wenn es um die Auslegung strittiger Tatbestandsmerkmale geht. Zwar lehnte der EuGH ein Gleichbehandlungsgebot als allgemeinen Gehalt des EU-Kapitalmarktrechts bekanntlich ab.59 Doch nicht nur korri57
Meinhard v. Salmon, 164 N.E. 545, 546 (N.Y. 1928). Beckemper ZIS 2011, 318, 322 f.; Lepsius in Hradil (Fn. 37), Hg) 283, 289. 59 EuGH Rs. C-101/08 Audiolux, Slg. 2009-I, 9864; dazu etwa Habersack/Tröger NZG 2010, 1, 4; Rieder GWR 2009, 392; auch Haar GPR 2010, 187, 189 f.; allgemeiner Basedow FS Hopt 2010, 27, 30 ff.; auch Schön FS Hopt 2010, 1347. 58
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gierte der Europäische Gesetzgeber den EuGH im konkret entschiedenen Fall mit dem Erlass der EG-Übernahme-Richtlinie (mit Einführung eines Gleichbehandlungsgebots in Form des sog. zwingenden Angebots).60 Vielmehr ist für das Insiderrecht das Optieren für ein Leitziel Anlegervertrauen ohnehin gesichert und auch vom EuGH nicht in Frage gestellt (Fn. 53). Zentral in der EuGH-Rechtsprechung zu den Insiderverboten ist der Begriff des „Ausnutzens“ einer Insiderinformation, namentlich die Frage, wie weit er Vorsatz voraussetzt. Der EuGH verneint Letzteres im Grundsatz, was umgekehrt im deutschen Schrifttum vehement kritisiert wird, weil dies dem Wortlaut „ausnutzen“ widerspreche und auch für die Strafdrohung das Vorsatzerfordernis angesichts des rein patrimonialen Charakters der Transaktionen unverzichtbar sei.61 Eine Strafdrohung bei bloßer Erkennbarkeit sei übermäßig und systemfremd. Geht man davon aus, dass das Verhalten von Systemexponenten zentral für das Fortbestehen von Systemvertrauen ist und bei ihnen der gleichheitssensible Vorteil eines privilegierten Zugangs zu Insiderinformationen besonders vertrauensrelevant erscheint, liegt demgegenüber ein extensives Verständnis des Verbots sehr wohl nahe. Die „punctilio of honor the most sensitive“ diesen Exponenten abzuverlangen, die idR hervorragend vergütet sind, ist auch bei sehr wirtschaftsfreundlicher Grundhaltung m.E. keineswegs als übermäßiger Eingriff zu sehen und umgekehrt ethisch sogar gefordert – wenn man denn von einem Gleichheitsparadigma der Beteiligten und ihrer Interessen, einer Mesotes im jeweiligen Ausgleich, ausgeht. Daher ist das Verbot so auszulegen, dass es von den betroffenen Insidern schon bei vernünftigen Zweifeln Enthaltung gebietet. Ein Handel bei Vorliegen von Informationen, bei denen Systemexponenten es für möglich halten sollten, dass sie noch geheim sind und vor allem, dass sie erheblich kursrelevant sein können, muss als ein Ausnutzen ihres Informationsvorsprungs – um den sie in jedem Fall wissen – verstanden werden, wenn dann objektiv die Eignung zur erheblichen Kursbeeinflussung und die fehlende Veröffentlichung festgestellt werden. Will man für das Strafrecht nicht so weit gehen (etwa weil man – anders als vorliegend – das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Vorhersehbarkeitsgebot als bereits tangiert ansieht), so führt – entgegen h.M. – kein Weg an einer gespalteten Auslegung zwischen Straf- und sonstigem Recht vorbei,62 wenn man umgekehrt beim In60 Vgl. Art. 3, 5–8 der Richtlinie 2004/25/EG … betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12. 61 EuGH Rs. C-45-08 Spector Photo Group Slg. 2009, I-12073 (1. LS); vgl. nur Klöhn WM 2017, 2085, bes. 2088; sowie Kumpan/Schmidt in Schwark/Zimmer Kapitalmarktrechtskommentar, 5. Aufl. 2020, Art. 8 VO (EU) 596/2014, Rn. 56 ff.; Zusammenfassung bei Grundmann Bankvertragsrecht (oben Fn. 2), Teil 6 Rn. 383 f. 62 Cahn ZHR 162 (1998), 1 (3–11); zustimmend Schürnbrand NZG 2011, 1213; Hirte in KölnKomm-WpHG § 21 Rn 7.; ursprünglich weit überwiegende Ablehnung, heute str., Zusammenfassung bei Grundmann Bankvertragsrecht (oben Fn. 2), Teil 6 Rn. 139.
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siderverbot – für die aufsichts- und zivilrechtlichen Folgen – das Marktvertrauen als zentrales Schutzziel hinreichend hochhalten will. Zutreffender erscheint mir eine extensive Auslegung auch beim – für das Insiderrecht – zentralen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht.
IV. Vertrauen als Leitbild der Reform des EU-Prospektrechts? Ein zweites Beispiel – aus Platzgründen gänzlich beschnitten – bildet das Prospektrecht, namentlich mit seinen jüngeren Entwicklungen auf EUEbene. In einem ersten Punkt ist zu sagen, dass die Prospektpflicht offensichtlich in der ECHM (Fn. 3) fußt, ihr Ziel also ist, alle für den realwirtschaftlichen Wert des Investments zentralen Informationen für den Anleger öffentlich zu machen – und deswegen der Forderung nach einem bloßen Kurzprospekt (für den Privatanleger verständlicher) eine Absage erteilt wurde und Vollständigkeit das Leitziel blieb.63 Hat Sztompka (Fn. 31) mit seinen umfänglichen Untersuchungen zum Verhältnis von Kontrolle und Vertrauen recht, so kann eine detailliert ausdifferenzierte und intensiv kontrollierte Informationspreisgabe, bei der Vollständigkeit angestrebt wird, die jedoch offensichtlich auf die professionellen Informationsbedürfnisse ausgelegt ist, sogar dazu führen, Vertrauen zu mindern. Und in der Tat investieren Privatanleger in Kapitalmärkten weit weniger als bei einem rationalen Nutzenkalkül zu erwarten wäre.64 In einem zweiten Punkt ist zu sagen, dass Instrumente wie Prospektzusammenfassung (Art. 5 EU-Prospekt-VO) oder auch der sog. „Beipackzettel“ (Key Information Document, KID) als ein Weg zu mehr Verständlichkeit für Privatanleger zu sehen sind, also ggf. auch als ein stärkeres Setzen auf Vertrauen verstanden werden könnten – 63 Art. 6 Abs. 1 VO und Erw.grund 7; vgl. dazu nur Überblick Grundmann Bankvertragsrecht (oben Fn. 2), Teil 6 Rn. 115 f.; zur Vollständigkeitskontrolle bei der Prospekthaftung, Assmann/Kumpan in Assmann/Schütze/Buck-Heeb, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 5. Aufl. 2020, § 5, Rn. 151. Zur Verwerfung von Forderungen nach Kurzprospekt Grundmann ZSR 115 n.F. (1996) 103, 133; Heinze Europäisches Kapitalmarktrecht – Recht des Primärmarktes, 1999, 374 f. In der Tat nennt die Verordnung nur an wenigen Stellen – vager – „Vertrauen“ oder „Anlegervertrauen“ als Schutzziel. Bei genauerer Betrachtung sind die Verweise auf „Vertrauen“ auch eher als Verweise auf das Transparenzparadigma zu verstehen: 5. und 83. Erw.grund („Vertrauen in Transparenz“), 53. Erw.grund („Vertrauen, dass … einheitliche Offenlegungsvorschriften); anders allenfalls 7. und 83. Erw.grund („Vertrauen in Wertpapiere“ bzw. „Vertrauen in KMU“ – nochmals in Art. 15 als Leitlinie für Durchführungsregeln). Auch der 64. Erw.grund („Vertrauen der Öffentlichkeit“) bildet potentiell eine Ausnahme, ist allerdings auf Werbung beschränkt. 64 Vgl. nur Bertaut/Haliassos 105 Economic Journal 1110 (1995); Campbell 61 The Journal of Finance 1553 (2006). Für statistisches Material insbes. Chater/Huck/Inderst Consumer Decision-Making in Retail Investment Services: A Behavioural Economics Perspective, (November 2010) Final report 1–480 (“non-participation puzzle“).
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eine Frage, deren Untersuchung jedoch einer Langfassung der Studie vorbehalten bleiben muss. Informationsökonomische Erklärungen und vertrauenskonzeptionelle Erklärungsansätze können hier plastisch einander gegenübergestellt werden, kulminierend in der kompromisshaften Regelung zur Haftung. Bisher fehlt jedenfalls die – für die Rückabwicklung im allgemeinen Zivilrecht 2002 durchgesetzte – Lösung eines verschuldensunabhängigen Rechts auf Rückabwicklung bei Fehlerhaftigkeit (§§ 323, 326 BGB – Geld zurück, wenn fehlerhafte Leistung, Äquivalenzinteresse). Solch eine Lösung wäre sicherlich vertrauensinduzierend. Vielleicht die größte Chance für eine ungleich stärkere Berücksichtigung von Vertrauensfragen beim Design von Primärmärkten, speziell ihrer Regulierung, liegt – etwas versteckt – in der Reform der Schwellen, ab denen die Prospektpflicht nach EU-Recht zwingend eingreift. Auf den ersten Blick wirkt es paradox, dass nach der Gesetzgebungsbegründung zur EUProspekt-Verordnung einerseits der Anlegerschutz gesteigert werden sollte, andererseits jedoch die Schwelle, ab der ein Emissionsprospekt EUrechtlich vorgegeben ist, angehoben wurde. Das Freistellungsvolumen, das Mitgliedstaaten je Emission wählen können, liegt nunmehr bei 8 Mio. € (Art. 3 Abs. 2 lit. b) EU-Prospekt-VO), statt zuvor 5 Mio. €, so dass Mitgliedstaaten den Kreis der freigestellten Emissionen erheblich ausweiten können.65 Potentiell aufzulösen ist das Paradox mit folgenden Überlegungen, die jedoch noch am Anfang stehen. Die Anhebung der Schwelle wird primär mit dem Interesse von KMUs begründet, ebenfalls Kapitalmärkte in Anspruch zu nehmen, aber nicht die erheblichen Kosten (bei relativ kleinem Emissionsvolumen) tragen zu müssen.66 Dies klingt noch nach einem klassischen Zielkonflikt – mit KMU-Förderung um den Preis von Einbußen beim (Klein-)Anlegerschutz. Eher unbemerkt wurde jedoch eine zweite Begründungslinie vorgetragen, die Neuland betritt und auch nur unklar angedeutet erscheint – dass nämlich gleichsam neue, potentiell verbesserte Schutzmodelle für Privatanleger gesucht und erprobt werden sollten und dies auf einem von der Personenzahl her begrenzten Umfeld.67 Wichtig ist, dass sich 65 Übersicht zu der Art und Weise, wie die Mitgliedstaaten dieses Optionsrecht ausgeübt haben (weit überwiegend weitgehend oder vollumfänglich), bei ESMA National thresholds below which the obligation to publish a prospectus does not apply, ESMA 31-621193, 8 February 2019. 66 Vgl. Erw.gründe 12 und 13 der VO, vor allem bezogen auf die paneuropäisch geltende Untergrenze von 1 Mio. €, unter der eine Ausnahme von der Prospektpflicht stets gilt. Zu diesem Ziel näher Commission Staff Working Document Impact assessment accompanying the document Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on the to be published when securities are offered to the public or admitted to trading’, SWD (2015) 255 final, 30.11.2015, 22. 67 Commission Staff Working Document (oben Fn. 66), SWD (2015) 255 final, 20, 22 (“it is open to what extent such investor protection concerns would actually materialize … attract and convince investors”).
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diejenigen Emissionen, die sich in einem Bereich bewegen, für den der jeweilige Mitgliedstaat von seinem Optionsrecht Gebrauch machte und den er von der Prospektpflicht ausnahm, auch nicht auf das europaweite Anerkennungsregime berufen können („Europäischer Pass“).68 Ausdrücklich wird es jedoch den Mitgliedstaaten gestattet – sie werden geradezu dazu eingeladen –, in diesem Bereich umgekehrt alternative Schutzregime zu entwickeln.69 Und ebenfalls ausdrücklich wird dies und die Anhebung der Schwelle mit der Überlegung gerechtfertigt, dass sich insbesondere Entwicklungsmöglichkeiten für den Markt für Crowdinvesting frei entfalten können sollen.70 Das Bild wird plausibel, vielleicht sogar wirklich stimmig, wenn man Grunderkenntnisse der Föderalismustheorie hinzunimmt: Durch Vorenthaltung des Europäischen Passes sollen hier offenbar lokale Lösungen angestoßen, aber eben auch auf diesen Kreis beschränkt werden. Zu den Hauptvorteilen dezentraler Lösungen wird – allgemein anerkannt – die gesteigerte Möglichkeit von Experimentieren gezählt, jedoch auch die des besseren Zuschnitts auf lokale Präferenzen.71 Hierher zählen auch Risikopräferenzen oder dem jeweiligen Mitgliedstaat und seinen Privatanlegern angemessene Risikozuschnitte. Zudem scheint es auf lokaler Ebene ungleich leichter, auf detaillierte Information zugunsten von Vertrauenssignalen zu verzichten – etwa die Bekanntheit der Initiatoren, ihr institutionelles Umfeld, auch etwa von Fürsprechern, die Plausibilität des Projekts anhand lokaler Gegebenheiten, jedoch auch die Wahrscheinlichkeit sozialen Drucks, der einem allzu leichten „Ausstieg“ des Projektträgers vorbeugt. Um der besseren Chance willen, personalisiertes Vertrauen tatsächlich im Systemvertrauen zu verankern, wird der sonst grds. globale Kapitalmarkt auf eine lokale Dimension hin kalibriert. Auf lokaler Ebene scheint ein Funktionieren von „Vertrauen als Komplexitätsreduktion“ wahrscheinlicher, und ein Wettbewerb, ein Experimentieren um gute Designs für stärkeres Anlegervertrauen und um eine gesteigerte Neigung von Privatanlegern zu investieren, scheint in der Tat ein lohnendes Ziel – zumal wir noch nicht genug zum Vertrauen wissen. Mehr noch: Handelt es sich hier nicht sogar um eines der vorrangigen und besonders aktuellen Petita allgemein im Europäischen Kapitalmarkt- und Unternehmensrecht? 68
Erw.grund 13 S. 3 der VO. Erw.grund 13 S. 2 der VO; auch Commission Staff Working Document (oben Fn. 66), SWD (2015) 255 final, 20 (jedenfalls im richtig verstandenen Emittenteninteresse). 70 Näher zur Diskussion, insbes. auch der gegenläufigen Befürchtung einer Marktsegmentierung: Commission Staff Working Document (oben Fn. 66), SWD (2015) 255 final, 0, speziell für Crowdfunding, 17 f., 20 f., 44 f.; zu diesen Überlegungen beim Crowdinvesting etwa auch Weitnauer GWR 2015, 309, 312 f. 71 Grundlegend Hayek Freiburger Studien, 1969, 249; Bar-Gill/Barzuza/Bebchuk 162 Journal of Institutional and Theoretical Economics (JITE), 134; (2006) Gatsios/Holmes in Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 1, 1998, 271, 273–275; Cleveland 41 U.C. Davies L. Rev. 1829, bes. 1868 (2008); ausf. Schmidtchen/Kirstein Ordo 54 (2003), 75. 69
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Stefan Grundmann
V. Ausblick und Thesen Der Kranz an Theorien und Erklärungsansätzen zum Vertrauen, namentlich Systemvertrauen, ist ein breiter – zu breit, um im Wesentlichen auf einen bloßen Flankenschutz zum Informationsparadigma reduziert zu werden. Da die soziologische Vertrauensforschung die Vertrauensforschung in anderen Disziplinen in Vielfalt und Tiefe überragt – m.E. klar überragt –, ist sie in all ihren Kernaussagen in eine rechtswissenschaftlich-interdisziplinäre Betrachtung mit Gewicht einzubringen. M.E. bildet sie sogar den Ausgangspunkt. Erst durch eine Mehrpolarität der disziplinären Beiträge ist eine neue Mesotes im Privat- und Wirtschaftsrecht eröffnet. Elemente wie Systemstabilisierung als Vertrauensanker, personalisiertes Vertrauen im Systemvertrauen, unreflektiertes („blindes“) Vertrauen als sozial-evolutionäre Wirklichkeit oder Gleichheitswunsch als Vertrauensgrundlage sind ernst zu nehmen. Dies gilt uneingeschränkt in den Fällen, in denen der Gesetzgeber den Schutz von Vertrauen – etwa Anlegervertrauen – ganz in den Mittelpunkt gerückt hat, wie bei den Insiderverboten. Dort hat es auch bei der Tatbestandsauslegung berücksichtigt zu werden. Eine tiefere Auseinandersetzung mit Grundstrukturen der Vertrauensforschung ist jedoch auch in denjenigen Fällen sinnvoll, in denen die Regulierung nicht primär unter dem Gesichtspunkt eines Schutzes des Anlegervertrauens gerechtfertigt wird – wie etwa bei der Prospektpflicht und flankierenden standardisierten Informationspflichten. Insiderverbote und Prospektpflicht standen also nicht nur am Beginn eines allgemeinen EU-Kapitalmarktrechts und seiner Europäischen Entwicklung, sondern sind auch (die) zwei Pole in einer kapitalmarktrechtlichen Vertrauensforschung – zwei Pole von großer Varianz.
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Rechtliches Wissen in der Krise Ralf Michaels
Rechtliches Wissen in der Krise – Eine Zeitkapsel RALF MICHAELS
0. Home Office Zuhause, im vom Virus notwendig gemachten Home Office. Was anliegt: Fertigstellung des Beitrags für die Festschrift Windbichler. Die eigentliche Deadline ist schon verpasst, die Gnadenfrist noch nicht. Theoretisch ließe sich der geplante Beitrag über das internationale Kaufrecht noch fertigstellen. Aber braucht die Welt zum Zeitpunkt der Festschriftübergabe einen solchen Beitrag überhaupt? Wie wird die Welt dann überhaupt aussehen? Wozu ist solches rechtliches Wissen in Zeiten der Krise und Unsicherheit nützlich? Überhaupt: wie kann rechtliches Wissen in der Krise nützlich sein? Dieser Beitrag, geschrieben und abgeschlossen Mitte April 2020, inmitten der Corona-Pandemie, versucht, diese Fragen auszuloten, während sie aktuell sind. Es fehlt ihm also die distanzierte Perspektive, die für die rechtswissenschaftliche Analyse normalerweise vorausgesetzt wird – zumal für theoretische Fragen. Es fehlt ihm auch, mangels regelmäßigen Bibliothekszugangs, die umfangreiche Literaturrecherche; er beruht (bewusst) ganz weitgehend auf tagesaktuellen Blog-Posts und anderen im Internet zugänglichen Stellungnahmen. Wenn er erscheint, wird er notwendig veraltet sein. Insofern handelt es sich um ein Experiment, und rechtfertigen lässt er sich vielleicht gerade als solches: als ein Situationsbericht, für eine spätere ungewisse Zeit aufgeschrieben und vergraben wie eine Zeitkapsel, für Leser*innen in einer im Moment unabsehbaren Zukunft.
I. Die Zeit der Experten Die Krise ist die Zeit der Expertinnen – der echten und der vermeintlichen. Wenn wir nicht genug wissen über das, wovor wir Angst haben, hoffen wir auf Expertinnen, die es wissen. Und wenn ein Problem komplex ist wie eine weltweite Epidemie, dann braucht es viele Experten, weil kein einzelner und keine einzelne Disziplin allein die Krise überblicken kann. Zu Anfang mag das Coronavirus primär als Frage der Virologie und der Medi-
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zin aufgefasst worden sein; spätestens seit Einsetzen der Pandemie hat es aber alle Bereiche und alle Disziplinen erfasst. Nicht umsonst setzt sich die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften, nach zwei Stellungnahmen zu gesundheitsrelevanten und -politischen Fragen in ihrer dritten Stellungnahme mit „psychologischen, sozialen, rechtlichen, pädagogischen und wirtschaftlichen“ Aspekten der Pandemie auseinander.1 Virologen und Epidemiologinnen untersuchen das Virus selbst, seine biologischen und insbesondere seine viralen Eigenschaften, seine Vermehrungsmethoden und auch seine Behandlung. Mathematiker entwerfen Modelle, um die Verbreitung des Virus voraussagen zu können. Medizinerinnen untersuchen Methoden zum Schutz vor dem Virus, aber auch zur Behandlung von Erkrankten. Ökonomen befassen sich mit den Folgen regulatorischer Maßnahmen wie Kontaktsperren sowie Betriebsschließungen für die Volkswirtschaft. Geschlechterforscherinnen beobachten die Auswirkungen von Ausgangssperren auf die häusliche Gewalt und untersuchen, inwieweit die Tatsache, dass Hilfs- und Heilberufe vor allem von Frauen besetzt werden, bestehende Geschlechterunterschiede noch verstärkt. Soziologen fragen, wie sich Ausgangssperren auf die Gesellschaft auswirken. Psychologinnen warnen, ab wann solche Maßnahmen zu einschneidend in die Psyche des Einzelnen einwirken. Pädagogen denken über Methoden der Ausbildung und Schulung nach, die nicht die physische Präsenz voraussetzen. Informatiker entwickeln Wege, das Internet, auf das sich ein Großteil des sozialen und wirtschaftlichen Lebens verlagert hat, einerseits effektiver zu machen und andererseits von Störungen freizuhalten. Politologinnen fragen kritisch nach dem Einfluss der Krise auf die Demokratie und den politischen Diskurs. Jedes Feld, so scheint es, ist gefragt. Gilt das auch für die Rechtswissenschaft?2 Nach einer kurzen Anfangsphase, in der Juristen und Rechtswissenschaftlerinnen das Feld ganz weitge1 Leopoldina Dritte Ad-hoc-Stellungnahme: Coronavirus Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden, 13.4.2020. Vgl. zuvor die erste Ad-hoc-Stellungahme: CoronavirusPandemie in Deutschland: Herausforderungen und Interventionsmöglichkeiten, 21.3.2020; Zweite Ad-hoc-Stellungnahme: Coronavirus-Pandemie – Gesundheitsrelevante Maßnahmen, 3.4.2020. Alle erhältlich unter https://www.leopoldina.org/publikationen/stellung nahmen/stellungnahmen/. 2 Ja, meint Björn Engelmann Es lebe der Diskurs! Die Rolle der Juristen in der CoronaKrise, JuWissBlog Nr. 57/2020 v. 15.4.2020, https://www.juwiss.de/57-2020. Rechtsfragen der Pandemie wurden vor Covid 19 diskutiert etwa in Michael Kloepfer (Hrsg.) Pandemien als Herausforderung für die Rechtsordnung (2011); Tobias H. Witte Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall – Bevorratung, Verteilung und Kosten knapper Arzneimittel im Falle eines Seuchenausbruchs (2013); Anna-Maria Grüner Biologische Katastrophen: Eine Herausforderung an den Rechtsstaat (2016); Anika Klafki Risiko und Recht. Risiken und Katastrophen im Spannungsfeld von Effektivität, demokratischer Legitimation und rechtsstaatlichen Grundsätzen am Beispiel von Pandemien (2017); Jutta Mers Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat (2019). Dass diese Bücher, soweit ich sehe, in der jetzigen Krise fast nicht rezipiert werden, ist bezeichnend für die Diskussion.
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hend den Virolog*innen und Ökonom*innen überließen, hat es nunmehr den Eindruck, als ob die Rechtswissenschaft sich anschicke, die gesamte Diskussion wenn schon nicht zu übernehmen, dann zumindest maßgeblich zu beeinflussen. Juristische Zeitschriften entwerfen Sonderhefte zur Coronakrise, juristische Blogs rufen zu Beiträgen auf, Rechtswissenschaftler geben ihre Ansichten in den sozialen Medien zum Besten. Das Recht, so möchte man meinen, behauptet sich in der Krise. Aber steckt das Recht nicht selbst in seiner eigenen Krise, die nun besonders deutlich wird? Es gibt im Moment zu viel und zu wenig Recht zur gleichen Zeit. Zu viel Recht: eine schnelle Abfolge von Gesetzesmaßnahmen und Allgemeinverfügungen, die in allerkürzester Zeit hochwichtige Dinge regeln. In den USA wurden Billionen von Dollar verteilt, ohne dass Zeit blieb, das Gesetz im Einzelnen durchzuverhandeln. In Deutschland stellen die immer neuen Allgemeinverfügungen und Regierungsbeschlüsse ein „moving object“ dar, das sich nur schwer einfangen lässt. Und gleichzeitig gibt es zu wenig Recht: Angesichts der Krise pocht man auf das Primat der Politik. Jurist*innen scheinen nur im Weg zu stehen. Die vom europäischen Gerichtshof in der Flüchtlingsfrage verurteilten EUMitgliedstaaten Polen, Ungarn und Tschechien haben bereits durchblicken lassen, dass sie das Urteil nicht umsetzen wollen.3 In verschiedenen Ländern – Ungarn, Israel, USA – machen die Staatschefs deutlich, dass sie die Krise zur Machterhöhung nutzen wollen und sich davon durch Jurist*innen oder verfassungsrechtliche Argumente nicht abbringen lassen wollen. Der österreichische Bundeskanzler meint, mit den Feinheiten des Rechts könne man sich jetzt nicht auseinandersetzen.4 Vielerorts wird – tatsächlich oder implizit – der Ausnahmezustand ausgerufen und genutzt als eine Situation, in der das Recht nicht mehr gelten soll.
1. Multidisziplinarität In der Tat stellt die Krise das Recht vor wenigstens drei Herausforderungen, denen es nur unzulänglich gewachsen ist. Die erste Herausforderung folgt aus der Komplexität der Pandemie, die alle Disziplinen betrifft, und dem sich daraus ergebenden Streit der Fakultäten hinsichtlich optimaler Regelungen.5 Die verschiedenen Disziplinen, die alle mit der Coronakrise zu 3
EuGH, Urteil v. 2.4.2020, Kommission ./. Polen, Rs. C-715/17. Siehe Alexander Somek Is the Constitution Law for the Court Only? A Reply to Sebastian Kurz, VerfBlog, 16.4.2020, https://verfassungsblog.de/is-the-constitution-lawfor-the-court-only/. 5 Siehe dazu aus systemtheoretischer Sicht Dirk Baecker Corona I: Die pulsierende Gesellschaft (27.3.2020), https://kure.hypotheses.org/839; Rudolf Stichweh An diesem Imperativ kann die Politik scheitern, FAZ, 7.4.2020. 4
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tun haben, haben ja jeweils ihre eigenen Rationalitäten.6 Teilweise führt das, nicht überraschend, zu unterschiedlichen Präferenzen:7 Virolog*innen und Statistiker*innen bevorzugen strikte Maßnahmen, Ökonom*innen hingegen verlangen zum Schutz der Wirtschaft die Einschränkungen so gering wie möglich zu halten. Freilich, auch innerhalb jeder Disziplin gibt es Meinungsstreitigkeiten. Schwieriger noch als diese Unterschiede in den Ergebnispräferenzen sind aber die Unterschiede in den Rationalitäten und Expertisen selbst. Was Virologen können, können eben nur Virologen. Ob das, was sie sagen, richtig ist, können wir als Nichtvirolog*innen nur eingeschränkt selbst nachprüfen.8 Dass der angeblich gesunde Menschenverstand und die Intuition versagen, haben wir spätestens dann merken müssen, als die Infektionszahlen tatsächlich exponentiell zu wachsen begannen.9 Ob und wie sehr Masken vor Ansteckung schützen oder nicht, wissen offenbar selbst die Experten nicht sicher; wir selbst können es nicht beurteilen.10 Statt Herdenimmunität betreiben wir Herdenrationalität: Wir glauben an die meistgeteilten Zeitungsartikel, und wir kaufen Toilettenpapier, weil es andere tun. Die herrschende Meinung als Richtigkeitskriterium. Richtigerweise müssten wir wohl darauf vertrauen, dass die innerdisziplinären Methoden zur Beurteilung jedenfalls halbwegs gut funktionieren und unsere Bedenken gegenüber der Abgeschlossenheit epistemischer Gemeinschaften jedenfalls teilweise überwinden.11 Für die Rechtswissenschaft ergeben sich daraus drei Probleme. Erstens muss die Rechtswissenschaft akzeptieren, dass sie im Streit der Fakultäten nur eine von vielen ist. Die Differenzierung Recht/Unrecht allein besagt noch nicht, was getan werden soll. Zweitens ist das notwendige Wissen enorm komplex und damit für das Recht schwierig zu verarbeiten. Drittens aber kommt der Rechtswissenschaft die besondere Rolle zu, auch im Streit der Fakultäten (oder der Rationalitäten) Entscheidungen zu treffen, weil alle 6
Ebenso Leopoldina Dritte Ad-hoc-Stellungnahme, Fn. 1, 12. Dass Epidemiologen, anders als Ökonomen, an das Denken in trade-offs nicht gewohnt seien, erscheint indes zu simpel; so aber Noah Feldman The Real Reason Epidemiologists and Economists Keep Arguing, Bloomberg, 2.4.2020, https://www.bloom berg.com/opinion/articles/2020-04-02/coronavirus-why-epidemiologists-and-economistskeep-arguing. 8 Das hindert einige nicht daran, es trotzdem zu versuchen; siehe etwa Tyler Cowen What does this economist think of epidemiologists?, 12.4.2020, https://marginalrevolution. com/marginalrevolution/2020/04/what-does-this-economist-think-of-epidemiology.html. Zu Richard Epstein siehe weiter unten im Text. 9 Siehe auch Tilo Gräser Warnende Experten, 3.4.2020, https://www.rubikon.news/ artikel/warnende-experten. 10 Siehe Thomas Grundmann Wer verdient Vertrauen?, FAZ, 3.4.2020. 11 Das sieht mittlerweile selbst Bruno Latour so, dessen wissenschaftssoziologische Studien lange Zeit die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse in Frage stellten: Bruno Latour Elend der Kritik – Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, 2007. 7
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gesellschaftlichen Fragen nicht nur potentiell zu rechtlichen Fragen werden sondern auch gerichtlich überprüft werden können.12 Aus der Sicht des Rechts jedenfalls stellt sich jedes Problem auch als rechtliches Problem. Es ist ja gerade die Aufgabe des Rechts, gesellschaftliche Konflikte in rechtliche zu übersetzen und dadurch ihre Lösbarkeit zu ermöglichen oder zumindest zu erleichtern. Ob die Rechtswissenschaft dazu in der globalen Krise in der Lage ist, ist deshalb zweifelhaft, weil die globale Krise zwei weitere Herausforderungen stellt: ihr globaler Charakter und die Geschwindigkeit und Größe der Pandemie.
2. Der globale Charakter der Pandemie Eine Pandemie ist per definitionem global. Wenn in China ein Sack Reis umfällt, mag uns das egal sein; wenn sich aber in China ein Virus von einem Tier auf einen Menschen überträgt, kann das noch globalere Effekte haben als der sprichwörtliche Schmetterling, der mit seinem Flügelschlag in Brasilien einen Tornado in Texas auslöst. Dabei bedeutet auch hier Globalität selbstverständlich weder Gleichzeitigkeit noch Gleichheit: Das Virus trifft einige Länder früher und andere später, einige stärker und andere weniger stark, und es verstärkt noch bestehende Ungleichheiten: In vielen Teilen der USA stellen Minderheiten die Mehrzahl der Kranken; in weniger entwickelten Ländern sind sowohl Social Distancing als auch angemessene Behandlung weit seltener als in den entwickelten Ländern Europas und Nordamerikas. Dem Recht stellt sich das nun deshalb als Problem dar, weil Maßnahmen gegen die Pandemie national sind: Auf globaler Ebene kann die Weltgesundheitsorganisation allenfalls Koordinations- und Informationspolitik betreiben, nicht aber bindende Vorgaben machen.13 Für Rechtsvergleicher*innen ist das attraktiv: Spätestens seitdem Länder ihre Grenzen dicht gemacht haben, ergeben sich einzigartige Forschungsmöglichkeiten: Wie sonst nur im Labor lassen sich die Auswirkungen unterschiedlicher Regulierungen in unterschiedlichen Ländern messen und vergleichen, unter weitgehendem Ausschluss grenzüberschreitender Effekte.14 Dabei deutet sich jetzt 12 Gunther Teubner Altera pars audiatur: das Recht in der Kollision anderer Universalitätsansprüche, in Pawlowski/Roellecke (Hrsg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, ARSP-Beiheft 65, 1996, 199–220. 13 Vgl. schon Walter Haas Präventionsmaßnahmen in einer Pandemie und die Strategien ihrer Bekämpfung auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene, in Kloepfer, Fn. 2, 45–54; Anika Klafki International Health Regulations and Transmissible Diseases, German Yearbook of International Law 61 (2018), 73–102. 14 Siehe etwa den Oxford Covid-19 Government Response Tracker, https://www. bsg.ox.ac.uk/research/research-projects/oxford-covid-19-government-response-tracker;
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schon an, dass Länder mit rechtspopulistischen Regierungen (United Kingdom, USA, Brasilien) weniger erfolgreich sind, asiatische Länder dagegen, vielleicht mit der Ausnahme Japans, unabhängig vom Regierungssystem erfolgreicher. Für Regulatoren ist es dagegen problematisch, denn globale Probleme lassen sich naturgemäß langfristig nur schwierig national lösen: Es hilft China wenig, durch radikale Maßnahmen das Virus zurückgedrängt zu haben, wenn es aus anderen, weniger erfolgreichen Ländern wieder zurückkommt. Die Krise mag „die Stunde der Nationalstaaten“ sein, weil diese die notwendigen Mittel und die notwendige Akzeptanz für Maßnahmen haben.15 Wenn man aber die Grenzen nicht dauerhaft verschlossen halten will, wird man sich mit der Pandemie als globales Problem auseinandersetzen müssen.
3. Geschwindigkeit und Ausmaß der Pandemie Multidisziplinarität und Globalisierung sind nun nicht neue Probleme; sie sind auch nicht grundsätzlich unüberwindbar. Ein drittes Problem ist spezifisch für die Krise: ihre Geschwindigkeit und ihr Ausmaß. Das Virus hat sich rasend schnell ausgebreitet – schneller jedenfalls, als es den Intuitionen der Bevölkerung entsprach, und schneller auch, als es der normalen Geschwindigkeit des Rechts entspricht. Denn Recht, zumal demokratisches Recht, ist von Natur aus langsam16 – Gesetze und Rechtsprechung müssen gefunden und verstanden, Argumente müssen gewogen und ausgetauscht, Parteien und Zeugen und Betroffene müssen angehört und beteiligt werden. Zu all solchen Schritten bleibt angesichts einer sich fast täglich ändernden Fakten- und Erkenntnislage kaum die Zeit. Das Recht ist mit dieser Geschwindigkeit überfordert: Es kann versuchen, neue Problem nachzuvollziehen, riskiert aber ständig, dass seine Entscheidungen schon nicht mehr systemadäquat sind. Recht ist grundsätzlich konservativ: Es geht ganz weitgehend um Rechtsauslegung statt Rechtsschaffung, um Schutz gegen Maßnahmen, nicht die Begründung von Maßnahmen. Damit ist das Recht im liberalen Staat auch häufig antiregulatorisch: Es ist gut den ICNL Covid-19 Civic Freedom Tracker, https://www.icnl.org/covid19tracker, sowie die Länderberichte: „Fighting Covid 19 – Legal Powers and Risks”, https://verfassungs blog.de/category/debates/fighting-covid-19-debates. 15 Leopoldina Dritte Ad-hoc-Stellungnahme, Fn. 1, 15. 16 Niklas Luhmann Das Recht der Gesellschaft, 1995, 457; William E. Scheuerman Global Law in our High Speed Economy’ in Richard P. Appelbaum u.a. (Hrsg.) Rules and Networks: The Legal Culture of Global Business Transactions (2001) 103; Wolfgang Merkel, Andreas Schäfer Zeit und Demokratie: Ist demokratische Politik zu langsam? in Holger Straßheim, Tom Ulbricht (Hrsg.), Zeit der Politik – Demokratisches Regieren in einer beschleunigten Welt, 2015, S. 217–237. Zur Frage der Beschleunigungsmechanismen siehe Christoph Henke Über die Evolution des Rechts, 2010, 165 ff.
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darin zu sagen, was nicht erlaubt ist, aber weniger gut darin zu sagen, was getan werden kann und soll, oder gar unterschiedliche Lösungen zuzulassen. Das ist schon in „normalen“ Zeiten gerade auch aus demokratischer Sicht nicht unproblematisch. In der Krise wird es angesichts ihres Ausmaßes fatal. In kleineren Fragen ist die Trägheit des Rechts ein nur relativ kleines Problem; sie mag sogar übermäßigen Aktionismus auszugleichen helfen. Ein Virus, das droht, Millionen Menschen zu töten, sieht da anders aus. Auf einmal erscheint das Bewahrungsinteresse des Rechts als Hindernis für von Gesellschaft und Politik als notwendig erachtete Einschnitte. Hier führt also genau das, was das Recht in normalen Zeiten legitimiert, nämlich der Schutz vor Eingriffen, plötzlich zu einem Legitimationsdefizit.
4. Ungewissheit Schließlich das vielleicht größte Problem: die Ungewissheit. „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“, paraphrasiert Habermas Sokrates, und die Wissenshistorikerin Lorraine Daston sieht uns sogar „in a moment of ground-zero empiricism, in which almost everything is up for grabs, just as it was for the members of the earliest scientific societies – and every-one else – circa 1660.“17 Mit solch epistemischer Unsicherheit kann das Recht schwer umgehen. „Da mihi facta, dabo tibi ius“ verspricht das Recht – was aber, wenn diese Fakten ganz unsicher sind, erst erzeugt werden müssen, sich ständig ändern? Auf welcher Grundlage sollen dann normative Urteile gesprochen werden? Gewiss hat das Recht Erfahrung mit Erkenntnismängeln; es kennt Beweislastverteilungen und Vermutungen. Es ist aber eher zweifelhaft, dass solche Techniken im Angesicht der Krise helfen. Die Mechanismen des Rechts statuieren einen angenommenen Normalfall und legen die Begründungslast demjenigen auf, der eine Ausnahme von diesem Normalfall behauptet. Diese Methode kann dann nicht funktionieren, wenn unbestreitbar ein Ausnahmefall besteht, wie es in der Krise der Fall ist. Zur epistemischen Unsicherheit kommt nun auch noch eine normative Unsicherheit. Das Recht hat seine normativen Beurteilungskriterien am Normalfall gelernt und typischerweise nicht an der Krise erprobt. Es ist also nicht automatisch gesagt, dass die normativen Grundlagen des Rechts gegenüber der Krise adäquat sind. Das Recht kann sich seine Normativität nicht von anderen Disziplinen wie der Epidemiologie vorschreiben lassen; es muss sie aus sich selbst hervorbringen. Aber es verliert auch an Glaubhaf17 Jürgen Habermas über Corona: „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“, Frankfurter Rundschau, 10.4.2020; Lorraine Daston, Ground-Zero Empiricism, 10.4.2020, https://critinq.wordpress.com/2020/04/10/ground-zeroempiricism/.
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tigkeit, wenn es nicht zur Anpassung bereit und damit auch grundsätzlich offen für normative Forderungen aus anderen Disziplinen ist.
II. Die Hybris des Rechts Angesichts all dieser Herausforderungen könnte man vom Recht eine gewisse Bescheidenheit erwarten. An Selbstbewusstsein hat es der Rechtswissenschaft indes noch nie gefehlt. Sie stellt den Anspruch, gewissermaßen als Königin der Wissenschaften, eigenmächtig entscheiden zu können. Dabei ergeben sich zwei unterschiedliche aber gleichermaßen problematische Rollen, die, ganz grob, bestimmten deutschen und US-ameri-kanischen Rollenbildern entsprechen: Juristen als Blockierer und Juristen als Superexperten.
1. Juristen als Blockierer In Deutschland tritt die Hybris der Rechtswissenschaft primär in der Blockade auf. Die ersten juristischen Reaktionen auf die Pandemie befassten sich zuvörderst mit der Verfassungswidrigkeit staatlicher Maßnahmen zur Eindämmung staatlicher Maßnahmen. Sicher läuft der Staat in Panik Gefahr, Grundrechte übermäßig einzuschränken. Jurist*innen müssen da warnen und entgegenwirken. Indes zeigt sich in der Diskussion doch manchmal, dass die angelernte Subsumtionsfähigkeit des Juristen, gepaart mit der in normalen Zeiten angewöhnten und für diese auch gerechtfertigten Tendenz, im Zweifel die Grundrechte hochzuhalten, für die Krisenzeit nicht immer passt. Dabei finden sich notwendige und absolut angemessene Kritiken am Ausnahmezustand in Ungarn18 sowie bedenkenswerte Bemerkungen zum Schutz wichtiger Grundrechte wie etwa der Versammlungsfreiheit.19 Die Krisensituation scheint jedoch in der Auslegung nicht immer berücksichtigt. Ist es zum Beispiel wirklich so, dass wir das (schon in der Normalsituation zweifelhafte) Prinzip „in dubio pro libertate“ auch dann noch heranziehen können, wenn der Zweifel Ausbreitungsrate und -wege des Virus und somit fundamentale 18 Renáta Uitz Pandemic as Constitutional Moment, VerfBlog, 24.3.2020, https://verfas sungsblog.de/pandemic-as-constitutional-moment/; Kim Lane Scheppele Orban’s Emergency, VerfBlog, 29.3.2020, https://verfassungsblog.de/orbans-emergency/; Kriszta Kovács Hungary’s Orbánistan: A Complete Arsenal of Emergency Powers, VerfBlog, 6.4. 2020, https://verfassungsblog.de/hungarys-orbanistan-a-complete-arsenal-of-emergencypowers/. 19 Andreas Gutmann, Nils Kohlmeier Versammlungsfreiheit Corona-konform, VerfBlog, 8.4.2020, https://verfassungsblog.de/versammlungsfreiheit-corona-konform/; Aidan Harker, Jonas Deyda, Katharina Söker, Laurens Brandt Versammlungsfreiheit in der Krise, VerfBlog, 14.4.2020, https://verfassungsblog.de/versammlungsfreiheit-in-der-krise/.
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Lebensbedingungen betrifft? Muss man wirklich die Begründungslast regelmäßig denjenigen auferlegen, die Einschränkungen fordern? Spricht nicht vielmehr die Unsicherheit dafür, einstweilen den Grundrechtsschutz zurückzustellen? In Normalzeiten verlangt man von den Regierenden volle Transparenz ihrer Entscheidungskriterien, aber ist nicht im Moment der Krise unter Umständen die Eindeutigkeit der Maßnahmen wichtiger? Lässt sich wirklich „das Erfahrungswissen aller Verfassungsorgane und der gesamten Zivilgesellschaft,“ die sicherlich für die Bekämpfung einer Pandemie maßgeblich sind, auch praktisch in der gebotenen Geschwindigkeit zur Verfügung stellen? Besteht im (sicherlich isoliert betrachtet übermäßigen) Verbot des Buchlesens auf der Parkbank wirklich gleich ein Angriff auf den Rechtsstaat als solchen? Dreierlei ist an solchen liberalen Argumenten zumindest verdächtig. Das erste ist, dass die Ausnahmesituation nur unvollständig juristisch verarbeitet wird. Der Jurist nutzt nicht selten unverändert die Mittel der Normalsituation – vielleicht weil er sich nach dieser Situation zurücksehnt, vielleicht weil das die Situation ist, die er am besten beherrscht, oder vielleicht auch einfach, weil sich aus der Perspektive seiner eigenen Kompetenz und Rationalität das Problem als nicht so gravierend darstellt wie für andere. Das ist indes fatal. Gerade weil das Recht in Zeiten der Krise so wichtig ist, muss es, um relevant und gleichzeitig hilfreich zu sein, die Situation der Krise einarbeiten,20 muss flexibel sein, um nicht irrelevant zu werden. Das Recht der Normalsituation ist auf die Ausnahmesituation nicht ohne Anpassung anwendbar. Das zweite ist die Selbstsicherheit der Jurist*innen im Angesicht der Krise.21 Naturwissenschaftler formulieren, zumal in der Krise, vorläufige Erkenntnisse, immer offen für Falsifikation durch neue, bessere Einsichten. Wenn aufgrund der Krise die Faktenlage unklar ist und die Voraussetzungen der für den Normalfall formulierten Rechtsregeln nur teilweise weiterbestehen, würde man sich von der Rechtswissenschaft dieselbe Vorläufigkeit und Flexibilität wünschen, die wir auch bei den Naturwissenschaftlern im Moment erkennen können. Unsicherheit und Vorläufigkeit liegen uns deutschen Jurist*innen – anders als Naturwissenschaftler*innen – weniger als die Subsumtion und das Finden der richtigen rechtlichen Lösung; die zu Beginn des Gutachtens gestellte Frage muss am Ende gelöst sein. Ergebnisoffenheit des Rechts erscheint regelmäßig als Legitimationsdefizit, auch wenn sie hier helfen würde.
20 Siehe den Einwurf von Armin Steinbach Krisenmanagement für Jurist_innen, VerfBlog, 5.4.2020, https://verfassungsblog.de/krisenmanagement-fuer-jurist_innen/. 21 Julian Krüper Nix wissen macht nix: unsere fiebrige Lust am Pandemic Turn, VerfBlog, 2.4.2020, https://verfassungsblog.de/nix-wissen-macht-nix-unsere-fiebrige-lust-ampandemic-turn/.
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Das dritte Problem schließlich ist die relative Unfähigkeit des Rechts, bei der Eingriffsintensität den Faktor Zeit einzubeziehen und zwischen vorläufigen und langfristigen Regelungen zu unterscheiden. Rechtsregeln in der Krise sind Experimente; sie lassen sich anpassen, zurücknehmen. Ein solcher Prozess muss in einer Situation der Unsicherheit möglich sein. Das Recht sollte den Prozess nicht unmöglich machen, wenn im Gegenzug die Regelungen den Charakter der Vorläufigkeit behalten. Hybris zeigt sich auch bei einem zweiten Beispiel, der Triage. Angesichts der Knappheit von Behandlungsmöglichkeiten für Schwersterkrankte stellt sich als ganz reale Frage, was über Jahrzehnte in Ethikseminaren eher hypothetisch gelehrt wurde: Wie sollen Ärzt*innen auswählen, wer behandelt werden soll und wen man sterben lassen soll?22 In Italien gab es eine Regelung, die das Alter des Kranken als Kriterium miteinbezog,23 aus Frankreich wurde berichtet, dass alte Menschen teilweise nicht behandelt wurden, damit Plätze für Jüngere freigehalten werden können. In Deutschland hat der Ethikrat Grundsätze herausgegeben, die sowohl den Prozess (Vieraugenprinzip) als auch die Kriterien (klinische Erfolgsaussichten) sehr plausibel auflisten.24 Indes droht dem entscheidenden Arzt weiterhin Bestrafung, wenn er nicht „eine Gewissensentscheidung trifft, die ethisch begründbar ist und transparenten – etwa von medizinischen Fachgesellschaften aufgestellten – Kriterien folgt.“25 Was nun die richtige ethische Begründung ist, und insbesondere, ob das Alter ein Kriterium sein kann, darüber gehen die Meinungen auseinander: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwa entwickelte sich ein Streit zwischen der (jungen) Leipziger Strafrechtlerin Eva Hoven und der (ebenfalls jungen) utilitaristischen Medizinethikerin Bettina Schöfe-Seifert einerseits, die auch das Alter als Entscheidungskriterium berücksichtigen wollen,26 und dem (gerade siebzig Jahre alt gewordenen) Strafrechtsprofessor und Mitglied der Ethikkommission Reinhard Merkel, der eine solche Einbeziehung für mit dem Recht unvereinbar erklärt.27
22 Alexander Brech, Triage und Recht – Patientenauswahl beim Massenanfall Hilfebedürftiger in der Katastrophenmedizin (2008); Jochen Taupitz Infektionsschutzrechtliche „Triage“: Wer darf überleben? – Zur Verteilung knapper medizinischer Güter aus juristischer Sicht, in Kloepfer, Fn. 2, 103–126; Witte, Fn. 2. 23 Kritisch dazu Weya Lübbe Corona-Triage, VerfBlog, 15.3.2020, https://verfassungs blog.de/corona-triage/. 24 Deutscher Ethikrat Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, 27.3.2020, https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/adhoc-empfehlung-corona-krise.pdf. 25 Ebd., 4. 26 Elisa Hoven Auch auf das Alter kommt es an, FAZ, 31.3.2020; Bettina Schöne-Seifert Wen soll man sterben lassen?, FAZ, 31.3.2020. 27 Reinhard Merkel Eine Frage von Recht und Ethik, FAZ, 4.4.2020.
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Wer recht hat, ist hier nicht entscheidend. Wiederum fällt zweierlei auf. Erstens ist Merkels Ansicht, im Konflikt zwischen Ethik und Recht müsse das Recht sich bewahren, aus Sicht des (nachnaturrechtlichen) Rechts plausibel, aus Sicht der Ethik und Politik aber jedenfalls zweifelhaft. Muss man wirklich tragische Entscheidungen in Kauf nehmen, um die Fundamente des Rechts zu erhalten? Sollte nicht vielmehr auch das Recht fähig sein, die Tragik dieser Entscheidungslage zu berücksichtigen? Zum zweiten fragt sich jedenfalls der Nichtstrafrechtler, ob die Keule des Strafrechts hier adäquat ist. Bringt es mehr Nutzen als Schaden, wenn Ärzt*innen, auf die wir in der Extremsituation angewiesen sind, sich auch von Strafdrohungen leiten lassen? Gewiss ist die Einhaltung des Rechts wesentlich, und dazu gehört auch das Leben und die Menschenwürde. Aber glauben wir wirklich, dass Gerichte im Nachgang diese Güter besser beurteilen können als der unmittelbar mit ihnen konfrontierte Arzt? Sollte das Recht nicht statt der paternalistischen „entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung“ in der Extremlage erwägen, dass es seinerseits der Extremlage nicht besser gewachsen ist? Anders gesagt: gibt die Beobachterposition des Rechts außerhalb der konkreten Entscheidungssituation dem Juristen wirklich eine epistemische und normative Überlegenheit gegenüber dem Arzt, der in dieser Situation entscheiden muss?28 Sollten nicht vielmehr weiterhin bestehende Meinungsunterschiede sogar unter Juristen zur Bescheidenheit anleiten? 2. Juristen als Superexperten Ist die Rolle des deutschen Juristen eher die des Verweigerers, des „so nicht“, so beansprucht jedenfalls ein Teil der US-amerikanischen Juristen umgekehrt die Rolle des Superexperten. Tocqueville bemerkte bekanntlich schon 1835, in den Vereinigten Staaten gebe es „kaum eine politische Frage, die nicht früher oder später zu einer gerichtlichen Frage wird.“29 Einerseits zwingt das zu einer Juridifizierung des gesellschaftlichen Diskurses und, wieder Tocqueville, zwingt „die Parteien, im täglichen Meinungsstreit ihre Gedanken und ihre Sprache dem Rechtsleben zu entleihen.“ Andererseits fühlen sich Jurist*innen nicht nur berufen zu allen Themen und Fragen etwas sagen zu können, sondern sie meinen auch, diese Fragen selbst beant-
28 Kritisch aus ärztlicher Perspektive Axel Heller, Ulrich Schuller, Barbara Schubert, Rückhalt für Ärzte, FAZ, 15.4.2020. Vgl. auch Joachim Hübner u.a., Rechtsfragen der Ressourcenzuteilung in der COVID-19-Pandemie Zwischen Utilitarismus und Lebenswertindifferenz, Deutsche medizinische Wochenschrift 2020, DOI: 10.1055/ a-1146-1160. 29 Alexis de Tocqueville Über die Demokratie in Amerika, erster Teil, 1987, 405.
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worten zu können. Insofern jedenfalls hat der amerikanische Rechtsrealismus mit seiner Betonung der Interdisziplinarität und der Folgenorientierung nicht nur positive Folgen gehabt. Das US-amerikanische Unbehagen an der Kraft des dogmatischen Arguments, die Entdeckung der Interdisziplinarität, die Tatsache, dass alle Juristen im College ein anderes Fach studiert und viele Rechtsprofessor*innen in einem anderen Fach promoviert haben, ist sicherlich hilfreich für ein gesellschaftsorientiertes Rechtsdenken. Sie hat aber auch dazu geführt, dass amerikanische Juristen sich und ihre Kompetenz überschätzen. Richard Posners selbstbewusste Aussage, er könne französisches Recht schon deshalb verstehen, weil er Jurist sei,30 stößt dem Rechtsvergleicher auf,31 bewegt sich aber immerhin noch innerhalb des Rechts. Aber Posner und mit ihm viele andere US-amerikanische Juristen haben sich seit jeher als public intellectuals verstanden, die zu anderen als juristischen Fragen nicht nur Allgemeines zu sagen, sondern auch spezifische Kenntnisse hätten. In der Coronakrise führt diese selbsternannte Expertise nun zu tiefproblematischen Konsequenzen. Hier konnte Cass Sunstein, Professor an der Harvard Law School, zu einem frühen Vertreter der „behavioral economics“ werden, ohne entweder Wirtschaftswissenschaften oder Psychologie in der Universität studiert zu haben (sein Fokus war Englisch, übrigens wie bei Posner, der auch kein wirtschaftswissenschaftliches Studium absolviert hat). Die von ihm mitentwickelte Idee des „nudging,“ also einer scheinbar sanfteren Form der Regulierung durch Appell an das Unbewusste,32 hat in England zur Bildung einer „nudging unit“ geführt, die ihrerseits maßgeblich für die abwartende Politik des Vereinigten Königreichs hinsichtlich des Coronavirus verantwortlich war.33 Nicht erst im Lichte von mittlerweile Tausenden Toten und der zwischenzeitlichen Einlieferung des Premierministers in die Intensivstation ist das heftig kritisiert worden34 600 Verhaltensforscher veröffentlichten einen Brandbrief,35 die Regierung änderte ihre Politik. Sunstein selbst schob die Furcht vor dem Coronavirus lange Zeit auf systematische Irrationalität, nämlich die Überschätzung höchst unwahrscheinli-
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Bodum USA, Inc. v. La Cafetiere, Inc., 621 F.3d 624 (7th Cir. 2010). Etwa Pierre Legrand Proof of Foreign Law in US Courts: A Critique of Epistemic Hubris, Journal of Comparative Law (8) 2013, 343. 32 Richard H. Thaler, Cass R. Sunstein Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness, 2008. Der Ökonom Thaler erhielt dafür 2017 den Nobelpreis. 33 Tony Yates Why is the government relying on nudge theory to fight coronavirus?, The Guardian, 13.3.2020. 34 Anne-Lise Sibony, The UK COVID-19 Response: A Behavioural Irony?, European Journal of Risk Regulation, im Ersch., DOI: https://doi.org/10.1017/err.2020.22. 35 Coronavirus: how the UK government is using behavioural science, The Conversation, 24.3.2020. Der Brief selbst findet sich im Netz unter https://sites.google.com/view/ covidopenletter/home. 31
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cher Ereignisse („probability negligence“).36 Erst spät änderte er seine Ansicht (ohne seinen Meinungswandel selbst zu thematisieren).37 Dramatischer noch ist der Fall von Richard Epstein, einem führenden Vertreter der ökonomischen Analyse und überzeugten Vertreter der Überlegenheit von Marktlösungen gegenüber staatlicher Regulierung. Epstein spekulierte in einem Mitte März veröffentlichten Artikel, am Virus würden in den USA nicht mehr als 500, weltweit nicht mehr als 50.000 Menschen sterben, die erheblichen Eingriffe in die Gesellschaft seien daher nicht gerechtfertigt.38 Der Artikel war offenbar einflussreich für die abwartende Politik der US-Regierung.39 Schon Mitte März war die prognostizierte Zahl von 500 eher niedrig – Epstein berief sich auf einen Schreibfehler und erhöhte die Zahl auf 2500,40 später auf 5000;41 mittlerweile legt er einen „revidierte“ Form des Aufsatzes vor, in der er seine Zahlen zurückzieht, an seinem Argument aber unbeirrt festhält.42 Epstein wurde heftig kritisiert.43 Wissenschaftlich berief er sich auf zwei Argumente, die beide von Fachwissenschaftlern bezweifelt werden: Viren würden grundsätzlich über die Zeit milder, und Menschen passten sich über die Zeit von selbst an die Gefahr an (also das genaue Gegenteil der Voraussage der nudge unit im Vereinigten Königreich).44 Die stärkste Kritik aber war von 36
Cass R. Sunstein The Cognitive Bias That Makes Us Panic About Coronavirus, Bloomberg, 28.2.2020, https://www.bloomberg.com/opinion/articles/2020-02-28/corona virus-panic-caused-by-probability-neglect. 37 Cass R. Sunstein This Time the Numbers Show We Can’t Be Too Careful, Bloomberg, 26.3.2020, https://www.bloomberg.com/opinion/articles/2020-03-26/coronaviruslockdowns-look-smart-under-cost-benefit-scrutiny. 38 Richard A. Epstein Coronavirus Perspective, 16.3.2020, https://www.hoover.org/re search/coronavirus-pandemic. 39 Jet Heer All the President’s Crackpots, The Nation 30.3.2020; Virginia Heffernan Column: Trump’s inexcusable coronavirus failures may stem from an inexcusable source, L.A. Times, 2.4.2020, https://www.latimes.com/opinion/story/2020-04-02/coronavirusdonald-trump-richard-a-epstein-isaac-chotiner-rex-douglass. 40 Richard A. Epstein Coronavirus Overreaction, 23.3.2020, https://www.hoover.org/re search/coronavirus-overreaction. 41 Richard A. Epstein Coronavirus Perspective, Fn. 38 (“Correction & Addendum as of March 24, 2020”); siehe auch Nick Gillespie Richard Epstein Cops to a ‘Stupid Gaffe’ in Controversial Coronavirus Essay That Caught Trump Administration Attention, Reason, 24.3.2020, https://reason.com/2020/03/24/richard-epstein-cops-to-a-stupid-gaffe-in-con troversial-coronavirus-essay-that-caught-trump-admin-attention/. 42 Richard A. Epstein Coronavirus Perspective – Revised, 6.4.2020, https://www. hoover.org/research/coronavirus-perspective-revised. Am 16. April sind für die USA über 30.000 Todesfälle gemeldet, mit stark steigender Tendenz. 43 Etwa Jonathan Chait The Coronavirus and Conservatism’s War on Science, 30.3. 2020, https://nymag.com/intelligencer/2020/03/coronavirus-trump-war-science-richardepstein-neil-ferguson.html. 44 Siehe Epsteins Aussagen und die eingeschobenen Expertenkommentare in Isaac Chotiner The Contrarian Coronavirus Theory That Informed the Trump Administration, 30.3.2030, https://www.newyorker.com/news/q-and-a/the-contrarian-coronavirus-theory
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grundsätzlicherer Art und kam von einem Statistiker.45 Epstein arbeite unwissenschaftlich: er formuliere keine klare (und falsifizierbare) Frage, interessiere sich nicht wirklich für die Antwort, berufe sich nur auf Daten und Stimmen, die seine eigene Meinung unterstützten, sei nicht zur Revision seiner Theorie bereit und verliere sich in entscheidenden Aspekten in ungenauer Sprache. Insgesamt gehe es ihm nur darum, eine bereits vorhergefasste Meinung bestätigt zu sehen. Das wären für Naturwissenschaftler*innen vernichtende Urteile. Für Anwält*innen dagegen sind es geradezu Auszeichnungen – nur wenig verändert stellen die Vorwürfe Qualitäten dar, die im Prozess zum Sieg führen können. Der Anwalt will die vorgefasste Meinung (die Position seines Mandanten) durch den Richter bestätigt sehen. Er beruft sich daher auf das, was diese Meinung stützt. Gutachtenfragen, die er stellt, dienen nicht der Ermittlung objektiver Erkenntnis; insofern jedenfalls interessiert er sich nicht für die Antwort. Und tatsächlich beruft sich Epstein, im Interview nach seiner Qualifikation in Fragen der Epidemiologie befragt, ausdrücklich auf seine juristische Ausbildung:46 I’m trained in all of these things. I’ve done a lot of work in these particular areas. And one of the things that is most annoying about this debate is you see all sorts of people putting up expertise on these subjects, but they won’t let anybody question their particular judgment. One of the things you get as a lawyer is a skill of cross-examination. I spent an enormous amount of time over my career teaching medical people about some of this stuff, and their great strengths are procedures and diagnoses in the cases. Their great weakness is understanding general-equilibrium theory.
Mit dieser Gleichsetzung von cross-examination – genauer, der Methode des Rechtsanwalts, durch geschickt gestellte Fragen die Glaubwürdigkeit eines Zeugen oder einer Partei zu unterminieren47 – und der wissenschaftlichen Methode steht Epstein nicht allein da. John Wigmore, ein Doyen des US-amerikanischen Beweisrechts, bezeichnete zu Beginn des 20. Jahrhunderts, cross-examination als „beyond any doubt the greatest legal engine ever invented for the discovery of truth;“48 der Supreme Court hat das -that-informed-the-trump-administration. Weiterhin im Interview mit Jane Coaston The legal scholar who shaped Trump’s coronavirus response defends his theory, 31.3.2020, https://www.vox.com/2020/3/31/21195449/richard-epstein-trump-coronavirus-theorypandemic. 45 Rex Douglass How to be Curious Instead of Contrarian About COVID-19: Eight Data Science Lessons From ‘Coronavirus Perspective’ (Epstein 2020), 30.3.2020, https:// rexdouglass.github.io/TIGR/Douglass_2020_How_To_Be_Curious_Instead_of_Contrari an_About_Covid19.nb.html. 46 Chotiner, Fn. 44. 47 Dazu Haimo Schack Einführung in das US-amerikanische Zivilprozessrecht, 4. Aufl., 2011. 48 John Wigmore, James Chadbourn Evidence in trials at common law, überarbeitete Aufl., 1974 § 1367, 32. Die Idee von der Wissenschaft erscheint auch in der Praktikerlitera-
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wiederholt zitiert.49 Rudy Giuliani, Rechtsberater des US-Präsidenten, begründet seine Erwartung, ein bestimmtes Medikament werde gegen das Virus erfolgreich sein, ebenso mit seiner Erfahrung als Staatsanwalt:50 “One of the things that a good litigator becomes, is you kind of become an instant expert on stuff, and then you forget about it. I don’t claim to be a doctor. I just repeat what they said.” Und in der Tat hat die Gleichsetzung von crossexamination und Wissenschaft in den USA Tradition. Indes, wie ein Kommentator zu Wigmore lakonisch hinzufügt, “truth is rarely what a trial lawyer is after.”51 Gerade im Rahmen der Naturwissenschaften hat das USamerikanische Beweisrecht mit der civil jury und dem Instrument der crossexamination besondere Schwierigkeiten. Die Wahrheit des Prozesses und die Wahrheit der Naturwissenschaften sind eben unterschiedliche Kategorien.52 Die Expertise von Jurist*innen und die von Naturwissenschaftler*innen sind es auch.
III. Was weiß das Recht? Hybris steht dem Recht also nicht an. Die Juristin weiß nicht besser als die Naturwissenschaftlerin, welche Maßnahmen gegen das Virus helfen. Sie weiß nicht besser als die Wirtschaftswissenschaftlerin, welche Maßnahmen für die Wirtschaft gut sind und welche nicht. Sie weiß nicht besser als die Politikerin, was gemacht werden soll und was nicht. Sie kennt bestimmte Werte, die im Recht niedergelegt sind – die Grundrechte, die parlamentarische Demokratie, die Vertragsfreiheit. Diese kann sie in die Diskussion einbringen. Aber sie weiß nur unvollständig, wie diese Werte gegen andere Interessen und Notwendigkeiten abgewogen werden können, die sich aus der Krise ergeben. Was also kann das Recht leisten? Wie können Jurist*innen und Rechtswissenschaftler*innen, gefangen zwischen Hybris einerseits und dem Gefühl der Irrelevanz, in der Krise helfen? Was ist das rechtliche Wissen, das in der Krise helfen kann?
tur: Larry Pozner, Roger J. Dodd Cross-Examination: Science and Techniques, 3. Aufl., 1993. 49 Z.B. California v. Green, 399 U.S. 149, 158 (1970); Lilly v. Virginia, 527 U.S. 116 (1999); Stuart v. Alabama, 139 S.Ct. 36 (2018) U.S. (2018) (Gorsuch diss.). 50 Trump’s Aggressive Advocacy of Malaria Drug for Treating Coronavirus Divides Medical Community, 6.4.2020, https://www.nytimes.com/2020/04/06/us/politics/corona virus-trump-malaria-drug.html. 51 David Berg Cross-examination, 1987, Litigation 14 No. 1, 25. 52 Dazu etwa Debra Kalmuss Scholars in the Courtroom: Two Models of Applied Social Science, American Sociologist (16) 1981, 212; Graham Burnett Cross-Examination?, Isis (98) 2007, 310.
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1. Rechtsstaat Die offensichtlichste Expertise, die Jurist*innen mitbringen, betrifft maßgeblich das materielle Recht und den Rechtsstaat: Grundrechte, die durch Maßnahmen des Staates eingeschränkt werden, Verfassungsprinzipien, die der Diktatur und dem Autoritarismus entgegengesetzt werden können, die Tariffreiheit, die durch staatliche Maßnahmen nicht unterlaufen werden sollte, die Vertragsfreiheit, in die der Staat nicht eingreifen soll, und so weiter. (Es ist kein Wunder, dass die Beispiele zumeist aus den Grundrechten und dem Privatrecht kommen, beides Bereiche, die vor staatlichem Übergriff geschützt sein sollen.). Gerade in der Krise muss der Rechtsstaat hochgehalten werden, und daraus ergibt sich eine wichtige Aufgabe des Juristen. Gerade in der Krise wird indes der Rechtsstaat in der Gesellschaft keineswegs uneingeschränkt von allen vorausgesetzt. Der (zurückgetretene oder entlassene) Direktor des European Research Council (ERC) etwa erhielt für seine Forderung, die Kompetenz- und Verfahrensregeln des ERC müssten im Krisenfall eben zurücktreten, recht weitreichenden Beifall.53 Implizit darin ist die Idee, das Recht sei für den Normalfall da, im Extremfall müssten Maßnahmen gegen das Recht aufgrund der Notwendigkeit durchgesetzt werden. Die Antwort des ERC, der auf seine normalen Verfahren verwies, wirkte angesichts dieser Forderung seltsam blass, eben weil er nicht erklärte, warum diese Verfahren auch in der Krise gelten sollen. Dass der Rechtsstaat gegen konkurrierende Rationalitätsansprüche bewahrt werden muss, erscheint richtig. Man kann das aber nicht seinerseits mit rechtsstaatlichen Argumenten begründen, ohne zirkulär zu argumentieren. Anders gesagt: Die Erfordernisse des geltenden Rechts, zumal des außerhalb der Krisenzeit formulierten Rechts, werden im gesellschaftlichen Diskurs gegen andere, durch die Krise in den Vordergrund geratene Erwägungen in Frage gestellt. Ob dieser Streit seinerseits durch das Recht entschieden werden kann, ist eine durchaus offene Frage. Dass Gerichte bislang Zurückhaltung dabei zeigen, gegen staatliche Maßnahmen wegen Verfassungsverstoßes vorzugehen, lässt sich vielleicht genau dadurch erklären. Dabei kann der Jurist allerdings nicht genauso argumentieren wie außerhalb der Krise. So spricht etwa die bestehende Unsicherheit, gepaart mit dem großen gesellschaftlichen Risiko der Pandemie und der Komplexität der zu treffenden Entscheidungen dafür, jedenfalls im Moment der Krise der Regierung einen größeren Beurteilungsspielraum zu überlassen als zu 53
Mauro Ferrari Return to the Frontlines, to the Frontier, http://prod-upp-imageread.ft.com/65f5a27e-78dd-11ea-af44-daa3def9ae03, auch in https://sciencebusiness.net/ news/read-all-key-statements-ferraris-resignation-erc-post; dort auch Abdruck der Stellungnahmen des ERC und der Kommission.
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anderen Zeiten, im Gegenzug für die Vorläufigkeit ihrer Regelungen.54 Gerade wenn die Zukunft unsicher ist, muss das Recht dem Gesetzgeber relativ breiten Beurteilungsspielraum zugestehen.55 Zur Vermeidung des „quasi grundrechtsfreien Raums“, den Christoph Möllers feststellt,56 ist es erforderlich, dass das Recht sich an die Krise anpasst und einerseits der Politik den notwendigen Spielraum überlässt und andererseits dort Grenzen setzt, wo entweder Fundamentalinteressen bedroht sind oder aber ein Abwarten nicht möglich ist. Das bedeutet kein Nachgeben des Rechtsstaates, sondern umgekehrt ein Zeichen seiner Anpassungsfähigkeit an veränderte Situationen. Dass deutsche Gerichte es bislang fast ausnahmslos abgelehnt haben, einstweilige Maßnahmen gegen ergangene Allgemeinverfügungen zu erlassen, ist daher der Krisensituation vielleicht tendenziell angemessen. Einschränkungen der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit anderseits mag man wegen der Ansteckungsgefahr zu Krisenzeiten eher dulden als normalerweise, aber Demonstrationen gegen die Pandemieregelungen selbst können eben nur während der Pandemie wirksam sein und müssen deshalb im Zweifel erlaubt sein.57 Hinzu kommt ein weiteres. Die Verteidigung des Rechtsstaates ist zwar eine wesentliche Aufgabe des Rechts. Insofern teilt die Rechtswissenschaft aber die notwendige Expertise mit anderen Disziplinen, die sich mit dem Rechtsstaat befassen, zuvörderst etwa die Politikwissenschaft, daneben aber auch etwa die Soziologie. Was der Jurist hier speziell einbringen kann, ist Erfahrung mit dem Funktionieren des Rechtsstaates.
2. Technik Werte und materielles Recht sind also eine Expertise mit nur begrenzter Bedeutung. Ein mindestens ebenso wichtiges, aber oft unterschätztes Wissen ist das technische Wissen. Juristen wissen nicht die Abwägungsergebnisse besser als andere, aber sie kennen die Prozesse, innerhalb derer rational abgewogen werden kann. Juristen können oft wenig zum Inhalt der notwendigen Verordnungen sagen, wohl aber wissen sie, in welcher Form diese erlassen werden müssen, wie sie klar formuliert werden können und was dafür notwendig ist, dass sie durchgesetzt werden können. Dieses technische Wissen wird oft kritisiert – entweder als irrelevant (weil die eigentlichen politischen Entscheidungen anderswo getroffen werden) oder sogar als suspekt (weil damit scheinbare Neutralität suggeriert wird). Solche Kritik bleibt auch in der Krise relevant. Sie wird aber aufgewogen durch den Nutzen, den 54
So auch Leopoldina Dritte Ad-hoc-Stellungnahme, Fn. 1, 11. BVerfGE 7, 377, 412. 56 „Wir leben in einem quasi grundrechtsfreien Zustand“, Tagesspiegel 12.4.2020. 57 BVerfG, Beschl. v. 15.4. 2020, 1 BvR 828/20. 55
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das technische Wissen mit sich bringt. Technisches Wissen ermöglicht es notwendige Maßnahmen schnell und erfolgreich durchzuführen, politische Entscheidungen in juristische zu überführen und gleichzeitig ihre Vereinbarkeit mit dem Recht zu beurteilen. Tatsächlich ist es dieses technische Wissen, das die juristische Kritik an existierenden Maßnahmen am stärksten macht. Als Beispiel mag ein Beitrag von Oliver Lepsius dienen, der zur Verhinderung der Aushöhlung von Grundrechten auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit pocht: Er sieht „die Essentialia grundrechtlichen Denkens in kurzer Zeit zur Disposition stehen“ und meint, der Rechtsstaat sei „schwer beschmutzt.“58 Der Beitrag ist, auch wegen seiner Ergebnisse, heftig kritisiert worden. Das wichtigste daran sind aber nicht Lepsius‘ Resultate und nicht einmal seine Polemik, sondern seine Erinnerung daran, dass es bestimmte juristische Schritte gibt, die man einhalten muss, um auch in der Krise rational entscheiden zu können. Für die Bemessung eines Grundrechtseingriffs geht es darum, das Ziel klar zu benennen und dann die Mittel hinsichtlich der Geeignetheit, Erforderlichkeit, und Angemessenheit im engeren Sinne zu beurteilen. Diese Prüfungsschritte stellen eine juristische Technik dar, die sich indes für rationale Entscheidungen insgesamt anbietet. Nicht umsonst fordert auch die Leopoldina in ihrer kürzlichen Stellungnahme, in dieser Weise zu entscheiden.59 Jurist*innen haben hier die Fähigkeit, die doch sehr allgemein gehaltenen Schritte zu konkretisieren. Dabei mag die Krisensituation durchaus dazu führen, dass ein weniger strenger Maßstab angelegt wird als sonst, wenn genug Zeit und Wissen vorhanden sind, dass alle potentiellen milderen Mittel durchdacht werden können. Vor allem kann die Juristin vielleicht erfolgreicher als andere auf das Erfordernis der Angemessenheit im engeren Sinne bestehen.60 Sie kann also darauf bestehen, dass bestimmte Freiheiten nicht aufgegeben werden sollen, selbst wenn dadurch Menschenleben gefährdet werden. Die Juristin kann das deshalb besonders gut, weil für sie diese Angemessenheit im engeren Sinne nur der letzte Schritt in einem vielstufigen Prüfungsschema ist und gerade nicht als umfassendes und damit viel zu abstraktes Kriterium für Entscheidungen herhalten muss. 3. Prozesse Das dritte wichtige Wissen, das Jurist*innen beizutragen haben, ist die Erfahrung mit Prozessen. Darin liegt der wahre Kern in Richard Epsteins 58 Oliver Lepsius Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der CoronaPandemie, VerfBlog, 6.4.2020, https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtli cher-denkkategorien-in-der-corona-pandemie. 59 Leopoldina Dritte Ad-hoc-Stellungnahme, Fn. 1, 10–12. 60 Alexander Somek Die Thyrannei der Ziele. Die Presse 18.4.2020, https://www.press reader.com/austria/diepresse/20200418/282286732400923.
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Berufung auf die cross-examination als relevante Expertise. Das Recht ist daran gewöhnt, dass man erst die andere Seite gehört haben muss, bevor man einem Experten recht geben kann. Das Recht kennt Beweislastverteilungen und widerlegliche Vermutungen, um mit unvereinbaren Behauptungen umzugehen. Das Recht kann naturwissenschaftliche Thesen nicht eigenständig bestätigen oder widerlegen, es kennt aber Verfahren dazu, auch solches Wissen zu verarbeiten, dessen Richtigkeit es selbst nicht nachprüfen kann. Das ist eine Fähigkeit, die die meisten anderen Disziplinen nicht haben. Es ist gleichzeitig eine enorm wichtige Leistung, um das in Kakophonie geäußerte Wissen der Experten so zu übersetzen, dass es für Entscheidungen zur Verfügung steht. Das Recht sagt nicht selbst, was die (naturwissenschaftliche oder ökonomische) Wahrheit ist; macht aber dadurch rationale Entscheidungen möglich.61 Dem Juristen erscheint diese Expertise selbstverständlich. Dass sie es nicht ist, wird ihm oft im Austausch mit Nichtjuristen klar, die ihre Argumente durch andere Prozesse bewerten. Hier kann das Recht daher dabei helfen, unterschiedliche Positionen zu einem Ergebnis zu führen. Dass der Rechtswissenschaft als Entscheidungswissenschaft das Entscheiden unter Unsicherheit seit jeher vertraut ist, ist dafür nützlich. Und es hilft, die Rechtswissenschaft als Kunst zu verstehen, als Juris-Prudenz, die nicht in mathematischer Form die richtige Lösung herbeirechnet, sondern die Argumentation rationalisiert. Auch hier ist indes Hybris fehl am Platze. Damit das Recht solche Prozesse wirksam zur Verfügung stellen kann, muss es sich selbst zurücknehmen, kann insofern nicht selbst Partei sein. Das bedeutet insbesondere, dass die relevanten politischen Entscheidungen zwar in rechtlich geformten Prozessen erfolgen können, dadurch aber nicht ausschließlich zu rechtlichen werden. Das Recht kann eben nicht beanspruchen, die notwendige Entscheidung selbst mit Geltung für alle zu treffen.
4. Systemdenken Das leitet über zum vierten juristischen Wissen, das in der Krise helfen kann. Die Krise ist ein Systemproblem und erfordert systemisches, disziplinenübergreifendes Denken.62 Das Recht ist nicht die einzige Disziplin, die 61 Dazu etwa Andreas Thier Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit – Wirklichkeitskonstruktion und Wahrheitsanspruch im Recht, Zeitschrift für Kulturphilosophie 2014, 247–260; Ulfried Neumann Wahrheit im Recht, in Thomas Fischer (Hrsg.), Beweis, 2019, 27–40. 62 Zeynep Tufekci It Wasn’t Just Trump Who Got It Wrong, The Atlantic, 24.3.2020, https://www.theatlantic.com/technology/archive/2020/03/what-really-doomed-americascoronavirus-response/608596/; Stichweh Fn. 5; Leopoldina Dritte Ad-hoc-Stellungnahme, Fn. 1, 12.
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systemisch denkt und Konflikte zwischen anderen Funktionssystemen aufgrund seiner eigenen Rationalität verarbeitet. Es ist aber, in seiner Funktion der Konfliktlösung, dazu besonders geeignet.63 Solches systemisches Wissen hilft zunächst einmal dabei, Einzelregelungen, von denen es gerade in der Krise viele gibt, in den Zusammenhang des Rechts als Ganzes zu stellen. Es braucht etwa Juristen mit ihrem technischen Wissen, um darzulegen, dass ungarische Verfassungsänderungen keineswegs unschuldige Anleihen aus westlichen Verfassungen sind, sondern vielmehr in ihrer Zusammenschau ein neues problematisches Konglomerat bilden – einen Frankenstate, wie Kim Scheppele es einmal genannt hat.64 Systemisches Wissen hilft aber auch dabei, zwischen den unterschiedlichen Disziplinen zu vermitteln. Dazu ist das Recht, vielleicht kontraintuitiv, dann am besten in der Lage, wenn es sich selbst einer substantiellen Position enthält, weil es so die Streitschlichtung besonders gut erfüllen kann. Und systemisches Wissen hilft schließlich dabei, Konsistenz in den Maßnahmen zu erkennen und etwa zu fragen, ob das Öffnen von Schulen und Schließen von Kirchen miteinander vereinbar sind,65 ohne dass man Juristin, Pädagogin oder Theologin sein muss.
IV. Selbstbewusstsein und Bescheidenheit Das Ergebnis ist beruhigend. Das Recht ist nicht die Königswissenschaft, die das Wissen über die Krise an sich reißen soll, es ist aber auch nicht irrelevant. Gerade wenn es auf Hybris verzichtet, kann es eine wichtige Rolle spielen. Das Recht hat eine Doppelfunktion. Zum einen muss es seine Fachexpertise neben diejenigen der anderen Disziplinen stellen. Entscheidungen in der Krise sind nicht nur Entscheidungen der Naturwissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft, der Politik. Sie sind auch Entscheidungen des Rechts und über das Recht und den Rechtsstaat, und sie bedürfen der rechtlichen Formulierung. Zum anderen hat das Recht eine Expertise darin, zwischen unterschiedlichen Standpunkten und Rationalitäten zu vermitteln und Streitigkeiten zu einer Lösung hinzuführen. Fähig ist das Recht dazu freilich nur, wenn es sich bescheiden gibt. Das Recht muss auf seinen Letztentscheidungsanspruch verzichten und anerkennen, dass es nur eine Stimme unter mehreren ist. Und es muss bereit sein, die Sondersituation der Krise zu erkennen und sich an diese anzupassen. Darin liegt ein Grund zum 63
Teubner, Fn. 12. Kim Lane Scheppele The Rule of Law and the Frankenstate: Why Governance Checklists Do Not Work, Governance (26) 2013, 559. 65 Interview mit Christian Hillgruber, Legal Tribune Online, 16.4.2020, https://www. lto.de/recht/hintergruende/h/religionsfreiheit-corona-gottesdienst-messe-kirchen-mo scheen-verhaeltnismaessigkeit/. 64
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Selbstbewusstsein und zur Bescheidenheit zugleich – und auch die Hoffnung auf eine Selbstreflektion des Rechts, die nach dieser Krise zur nötigen Neuidentifizierung hilfreich sein mag.
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Unentgeltlichkeit, Schenkung und die Dresdner Frauenkirche
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Unentgeltlichkeit, Schenkung und die Dresdner Frauenkirche Christoph G. Paulus
Unentgeltlichkeit, Schenkung und die Dresdner Frauenkirche – Grundsatzfragen zur Entscheidung BGHZ 157, 178 CHRISTOPH G. PAULUS
Anknüpfend an die vielgestaltigen Diskussionen, die der Autor dieser Zeilen Freude und Vergnügen hatte, mit der Jubilarin bei so manch gemeinsamen Mensabesuchen zu gemeinsamer Assistentenzeit in München zu führen, soll im Folgenden eine juristische Figur beleuchtet werden, die auf den ersten Blick höchst präzise zu sein scheint, sich auf jeden weiteren Blick aber eben dieser Präzision immer weiter entzieht. Wie es sich schon bei den damaligen Gesprächen so oft ergeben hatte, kreist auch diese Freundesgabe um eine höchstrichterliche Entscheidung, die zwar nicht zum Kernbereich unserer jeweiligen Kompetenzen gehört, gleichwohl aber von grundlegendem – und daher auch schon einmal von der Jubilarin thematisierten1 – Interesse ist.
I. Ein juristischer Terminus mit uralten sozialen Hintergründen Die Unentgeltlichkeit kommt in Gesetzestexten relativ häufig vor. Vielleicht am Ausdrücklichsten im Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuergesetz, aber auch noch darüber hinaus in unzähligen weiteren Legislativakten – von Sozialgesetzbüchern (etwa V, VII und IX) über das Bundesbesoldungsgesetz bis hin zum Arzneimittelgesetz, der Weinverordnung oder dem Verpackungsgesetz. All diese Erscheinungen bleiben jedoch im Folgenden ausgeblendet; stattdessen soll es allein (oder doch vornehmlich) um das BGB gehen, in dem natürlich § 516 BGB eine zentrale Rolle spielt. Bekanntlich ist dies der Einleitungsparagraph für den eigens normierten Vertragstypus des Schenkungsvertrags. Mit dem Ausdruck „Schenkungsvertrag“ ist man mit der Juridifizierung eines gesellschaftlichen Phänomens konfrontiert, das als Schenkung auf uraltes, vermutlich auf ein anthropologisch relevantes menschliches Verhalten zurückblicken kann. Losgelöst von den etymologischen Besonderheiten – 1 Windbichler Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und „Geschenkverältnis“ in FS Wiedemann, 2002, 673 ff.
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das deutsche Wort „schenken“ hat einen, juristisch gesprochen, besonders schillernden Hintergrund, der sich im „einschenken“2 ebenso offenbart wie im Amt des „Mundschenks“3 –, geht es bei einer Schenkung um die Einflussnahme auf das Verhalten eines anderen, sei es um Dankbarkeit auszudrücken oder auszulösen,4 sei es um ein schlechtes Gewissen hervorzurufen, oder sei es gar um der Sanktionierung von Fehlverhalten Willen. Was letzteres anbelangt, so gab es zumindest Ethnien, die beispielsweise mit der öffentlichen Hingabe eines besonders großen Jamsknollen aus dem eigenen Vorrat den Übeltäter beschämt haben, so dass dieser zu einer Gegengabe genötigt war, wollte er denn sein Ansehen in der Ethnie bewahren.5 Mit dieser Form des Austauschs von Geschenken kommt man in Gepflogenheiten so mancher Gesellschaften, die David Daube unter den Begriff des „giftsale“ fasst, und die auch uns Heutigen nicht fremd sind. Daube6 rekurriert auf eine Stelle im Alten Testament (1. Mose 23), in der es darum geht, dass Abraham einen Begräbnisplatz für seine Frau Sarah sucht. Der alttestamentarische Text ist konziser als die Daube’sche Darstellung, die allerdings wohl das tatsächlich erfolgte, rituelle Geschehen authentischer wiedergibt. Abraham fragt den Eigentümer Ephron, ob er den auserkorenen Landflecken von ihm kaufen könne. Dieser schenkt ihn ihm jedoch, freilich mit dem Hinweis, dass der Platz 400 Lot Silber wert ist: „was ist das aber zwischen mir und dir?“ Diese wunderbare Geste pietätsvoller Absage an merkantiles Gebaren erwidert Abraham nicht minder pietätvoll damit, dass er dem Wohltäter ein wenig später ein Geldgeschenk in Höhe just dieser 400 Lot Silber darreicht: Damit addieren sich die beiden Geschenke zu einem gift-sale. Es ist genau dieser Austauschcharakter, dieses moralisch begründete und sanktionierte do ut des von Geschenken, der das Interesse auch der Soziologen nachhaltig interessiert hat, wobei Marcel Mauss7 mit seinem Werk 2 Vgl. Wacke Europäische Spruchweisheiten über das Schenken und ihr Wert als rechtshistorisches Argument, in: Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 1999, 325, 331. 3 S. darüber hinaus Pfeifer Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 1993, 1192. Dazu v. Finckenstein Die Rolle des Geschenks in Mediation und Verhandlung im Spiegel historische Beispiele unter Berücksichtigung rechtlicher und steuerlicher Aspekte (Masterarbeit Frankfurt/O. / Humboldt-Universität), 2018, 1 f. 4 Die Motivation zu einem Geschenk kann mithin altruistisch, egoistisch oder beides zugleich sein. 5 Dazu etwa Roberts Ordnung und Konflikt. Eine Einführung in die Rechtsethnologie, 1981, 110; Young Fighting with Food, 1971, 125 ff. 6 Daube Studies in Biblical Law, 1947 (Neudr. 1969), 34 f.; ders. Money and Justiciability, Zeitschrift der Savigy-Stiftung, rom. Abt. 96, 1979, 1, 2 f. S. auch Graeber Debt – The First 5000 Years, 2011, 21 ff. Zum heutigen sog. Doppelkauf etwa MüKo-BGB/Emmerich 8. Aufl. 2019, BGB § 320 Rn. 29. 7 Es ist mir eine nachhaltige Freude, den Autor dieses Namens in der Festschrift für die Jubilarin zitieren zu können: Die Gabe, dt. 1990 (Suhrkamp).
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„Die Gabe“ (Essai sur le don) die entscheidenden Fundamente gelegt hat. Wir kennen derartige Mechanismen auch heute noch von wechselseitigen Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenken, oder auch dem „Mitbringsel“ zu einer Einladung.8 Auch hierbei ertappt sich wohl jeder bei der gelegentlichen Frage, wie man mit dabei auftretenden Ungleichgewichten umgehen soll? Kann und soll man Undankbarkeit sanktionieren, also – juristisch gesprochen – wie eine Schlechtlieferung behandeln? Insbesondere § 530 BGB legt diesen Gedanken nahe,9 und er kann sich auf antike Vorbilder stützen. Cicero diskutiert in seinem ethischen Hauptwerk de officiis wiederholt10 das Problem der Undankbarkeit, aber auch in seinen unzähligen Empfehlungsschreiben11 wird das Gebot der Dankbarkeit als eine der tragenden Säulen des damaligen Sozialgefüges erkennbar. Und Seneca äußert sich nicht nur philosophisch über das heikle Gemisch aus Dankbarkeit und Undankbarkeit,12 sondern auch höchst praxisnah, indem er – erfolgreich – ein wohl von Nero geplantes Gesetz gegen Undankbarkeit zu unterbinden verstand.13 Damit sollte ermöglicht werden, Freilassungen von ehemaligen Sklaven zu widerrufen, um durch diese Sanktionsmöglichkeit Dankbarkeit der Freigelassenen gegenüber dem die Freiheit schenkenden, ehemaligen Eigentümer erzwingen zu können.
II. Die juristische Seite Im BGB kommt die Unentgeltlichkeit auch wiederholte Male vor; über den Schenkungsvertrag in den §§ 516 ff. hinaus etwa in den §§ 31a und b, 330, 514, 515, 662, 690, 816, 822, 988, 1390, 2205; der Begriff der Schenkung etwa in den §§ 516, 1641, 2287, 2301, 2325 oder 2330. Es wird immer mal wieder propagiert, dass zumindest den Verträgen, denen auf der einen Seite eine unentgeltliche Leistung zugrunde liegt, eine gemeinsame Haftungsordnung übergestülpt werden sollte, doch hat sich insbesondere die Rechtsprechung14 dazu bislang nicht verstehen können. 8 Dazu etwa Wacke Europäische Spruchweisheiten über das Schenken und ihr Wert als rechtshistorisches Argument in Zimmermann (Hrsg.) Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 1999, 325, 329. 9 Dazu erst jüngst wieder BGH, Urt. v. 22.10.2019 – X ZR 48/17, JZ 2020, 419 mit Anm. v. Koch/Holle. 10 Insb. II.1 ff. 11 Ad familiares, insbes. Buch 13. 12 Etwa und besonders in de beneficiis III.1 ff. 13 Hierzu Paulus, Auf der Suche nach Unsterblichkeit – mentalitätsgeschichtliche, soziale und rechtliche Überlegungen zum römischen Testament, 2018, 53, 56 ff. 14 Nachweise insbesondere bei Medicus/Petersen Bürgerliches Recht, 27. Aufl., 2019, Rn. 369 ff.; MüKoBGB/Koch 2019, BGB § 521 Rn. 8. Zur Lehre s. etwa Grundmann Zur Dogmatik der unentgeltlichen Rechtsgeschäfte, AcP 198, 1998, 457, 461 ff.
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Eine andere Gemeinsamkeit ist dagegen sehr wohl bei den unentgeltlichen Transaktionen zu konstatieren, nämlich ihre „Schwäche“.15 Damit ist das bei vielen Rechtverschaffungsvorgängen zu beobachtende Phänomen gemeint, dass der Erwerb auf recht unsicherem Fuß steht, wenn seine Grundlage ein unentgeltliches Geschäft gewesen sein sollte. Zu erwähnen sind hier beispielsweise unentgeltliche Verfügungen eines Nichtberechtigten, die nach § 816 Abs. 1 S. 2 einer Kondizierbarkeit ausgesetzt sind; der unentgeltlich erlangte Besitz, der nach § 988 sogar den redlichen Besitzer zur Nutzungsherausgabe verpflichtet; die Herausgabepflicht des Beschenkten nach den §§ 2287, 1390, wenn der Schenker „bösliche“16 Absichten gegenüber seinem Erben oder Ehegatten verfolgte – oder gar, wenn der Schenker nicht mehr 10 Jahre nach Schenkung am Leben bleibt, § 2329, oder einfach nur, weil er eine Schenkung und nicht ein entgeltliches Geschäft getätigt hat, § 134 InsO. Diese bei weitem nicht erschöpfende Auflistung (s. sogleich sub C) macht bereits hinreichend deutlich, dass der Gesetzgeber des BGB unentgeltlichem Erwerb gegenüber deutlich skeptischer eingestellt ist als einem entgeltlichen. Das hinter dieser Haltung steckende Motiv wird weniger eine merkantilistisch geprägte (und als solche dann jeder Unentgeltlichkeit gegenüber misstrauende) Grundüberzeugung sein17 als vielmehr der Argwohn gegenüber den Schädigungsmöglichkeiten mittels Unentgeltlichkeit. Geradezu paradigmatisch steht dafür die letztgenannte insolvenzrechtliche Vorschrift: Ist ein Insolvenzverfahren eröffnet worden, so kann der Insolvenzverwalter alle unentgeltlichen Leistungen des Schuldners, die dieser vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens getätigt hatte, über § 143 InsO zurückverlangen, ohne dass etwas anderes als die Unentgeltlichkeit nachgewiesen werden müsste. Es obliegt nämlich dem Anfechtungsgegner die Beweislast darüber, dass diese Leistungen länger als vier Jahre zurückliegen und somit von der Anfechtbarkeit ausgeschlossen sind! Allein die Kombination von Insolvenzverfahren und unentgeltliche Leistung genügt also für die Rückforderbarkeit, und zwar letzten Endes deswegen, weil gemäß der klassischen, römisch-rechtlichen Maxime niemand freigiebig sein solle, der nicht seinerseits schuldenfrei ist, nemo liberalis nisi liberatus.18 Es geht also um
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So genannt nach Medicus/Petersen Bürgerliches Recht, 27. Aufl., 2019, Rn. 382 ff. Medicus/Petersen (vorige Fn.), Rn. 386. 17 Immerhin enthält das BGB – in bewusster Abkehr früherer Vorbilder – keine Vermutungsregel gegen Unentgeltlichkeit, vgl. Wacke, Europäische Spruchweisheiten über das Schenken und ihr Wert als rechtshistorisches Argument, in: Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 1999, 325, 353 ff. 18 S. etwa BGH, Urt. v. 15.4.1964 – VIII ZR 232/62 NJW 1964, 1960, 1964; BGH, Urt. v. 25.6.1992 – IX ZR 4/91 ZIP 1992, 1089, 1092. Ob dieser in seiner Sinnhaftigkeit unmittelbar einleuchtende Grundsatz bei einer Anfechtungsfrist von vier Jahren wirklich noch berechtigt ist, darf freilich bezweifelt werden. 16
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den Schutz Dritter: Da die sich aus einer unentgeltlichen Leistung ergebende Gegenleistung der Dankbarkeit bzw. des moralisch Verpflichtet-Seins gegenüber dem Zuwendenden nicht – im Rechtssinn – übertragen lässt, muss der Empfänger der Zuwendung leisten.
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1. Der Sachverhalt Wie schon angedeutet, setzt sich die Schwäche unentgeltlichen Erwerbs noch viel weiter fort. Ein Beleg dafür ist die in den Mittelpunkt dieser Freundesgabe gestellte Entscheidung des BGH,19 deren Sachverhalt recht einfach ist, gleichwohl aber im Instanzenzug zu widersprechenden Entscheidungen geführt hat. Gerade hieran wird die Vieldeutigkeit des hier untersuchten Begriffs besonders gut erkennbar; denn bei diesem erbrechtlich gefärbten Fall hing alles davon ab, ob eine entgeltliche oder eine unentgeltliche Leistung und damit eine Schenkung vorlag. Der Sachverhalt betraf eine Spende des verstorbenen Vaters der Klägerin an die Stiftung, die, 1994 gegründet, den Wiederaufbau und den nachfolgenden Erhalt der Dresdner Frauenkirche durchzuführen und sicherzustellen hatte. Die Klägerin ist Alleinerbin ihres Vaters; sie erhielt als Erbin einen Betrag (ca. € 1,3 Mio), der deutlich unter dem Wert der Spende (ca. € 4,7 Mio) lag. Sie verklagte daher die Stiftung auf Zahlung nach Maßgabe der §§ 2325, 2329 BGB. Weil dies für die nachfolgenden Ausführungen bedeutsam ist, ist zum Sachverhalt noch präzisierend hinzuzufügen, dass Auslöser der Spende offenbar eine Aktion Stifterbrief gewesen ist, die dem Vater u.a. eine ideelle Zuweisung einer konkreten Turmspitze in Aussicht stellte. Die beiden ersten Instanzen, LG und OLG Dresden, wiesen die Klage ab, der BGH gab ihr statt.20 Alle drei Instanzen richten ihre Argumentationen hauptsächlich an der für das Vorliegen eines Geschenkes erforderlichen Bereicherung auf Seiten des Empfängers21 aus. Während die Vorinstanzen eine solche verneinten, weil eine Stiftung Spenden nur zur treuhänderischen Verwahrung entgegen-
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Urt. v. 10.12.2003 – IV ZR 249/02 BGHZ 157, 178. Damit wird das Spendenwesen hierzulande eingeschränkt und steht damit im deutlichen Kontrast zu den Gepflogenheiten in den USA, wo es kein Pflichtteilsrecht gibt. 21 Zur historischen Wurzel dieses Erfordernisses Staudinger-Chiusi 2013, Vorbem zu §§ 516 ff. Rn. 2, 43. 20
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nehme,22 widersprach der BGH und sah in der Spende ein Geschenk, also „eine Zuwendung, die den Empfänger aus dem Vermögen des Gebers bereichert und bei der beide Teile darüber einig sind, dass sie unentgeltlich erfolgt.“23 2. Abgrenzungen An diesem Argumentationskonflikt zwischen den Instanzen ist zunächst einmal einleuchtend, dass die oben schon angesprochene Grundproblematik des in § 516 BGB geregelten Vertragstypus‘ die ist, zu bestimmen, wann aus dem eingangs geschilderten Sozialphänomen des Schenkens eine vertragsrechtlich relevante Aktion wird. Diese Frage spielt nicht nur bei Gefälligkeitsverhältnissen die alles entscheidende Rolle, sondern auch etwa bei § 517 BGB (Unterlassen eines Vermögenserwerbs zu Gunsten eines anderen), bei § 525 BGB (Schenkung unter einer Auflage), bei der Gratifikation, bei der bedingten, der Zweck- oder der gemischten Schenkung, bei den Zuwendungen unter Ehegatten oder an Erben bis hin zur Spende. Der Fall der Dresdner Frauenkirche ist auch insofern höchst aufschlussreich, als er belegt, welche massiven rechtlichen Konsequenzen mit der jeweiligen Antwort einhergehen. Man bewegt sich hier zwangsläufig auf der Grenzlinie zwischen (weitgehend) rechtsfreiem24 und rechtlich geregeltem Bereich, dem ein dazwischen liegendes tertium beigegeben wird in Gestalt von „rechtsgeschäftlichen Nebenpflichten“,25 die der rechtsfreien Beziehung rechtliche Schutz- und Obhutspflichten auferlegen. 3. Unentgeltlichkeit Mit dieser einen Hybridität ist es jedoch noch nicht getan; vielmehr kommt sofort eine zweite hinzu, wenn man sich – wie der BGH im Falle der geschilderten Spende – für den Rechtsraum entscheidet; diese zweite Hybridität allerdings unterschlägt der BGH in seiner Entscheidung. Die von ihm statuierte Gleichung ‚Bereicherung liegt vor, daher also Schenkungsvertrag‘ springt zu kurz. Denn mit der Bejahung einer Bereicherung ist noch nichts über die Unentgeltlichkeit ausgesagt; auch sie muss nämlich erst einmal bejaht werden, um dann tatsächlich über § 516 BGB zu den Vorschriften des Pflichtteilsergänzungsanspruchs zu gelangen. Die Versuche, 22 OLG Dresden, Urt. v. 2.5.2002 – 7 U 29ß5/01 NJW 2002, 3181; dazu etwa Rawert NJW 2002, 3151. 23 Ebenso etwa Leipold Erbrecht, 21. Aufl., 2016, Rn. 840. 24 Interessant hierzu Manchot Die sittliche Pflicht im Sinne von § 814 Alternative 2 BGB – ein Tor zum rechtsfreien Raum?, 2001. 25 Canaris JZ 2001, 499, 520; Schulze-BGB/Schulze 2019, Vorbem zu §§ 243–853 Rn. 27.
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diese weitere Grundschwierigkeit im Schenkungsrecht in den Griff zu bekommen, sind auf abstrakter Ebene recht einleuchtend, helfen im konkreten Anwendungsfall aber nur bedingt. Es nimmt nicht weiter wunder, dass sich die wohl intensivsten Erörterungen zur Unentgeltlichkeit in der Rechtsprechung und Kommentierung zum § 134 InsO finden; denn nachdem einmal das Anfechtungsrecht der §§ 129 ff. InsO hierzulande als optimale Masse-Anreicherungsmaterie erkannt und etabliert war,26 und nachdem in dieser Materie die Anfechtbarkeit allein mit dem Nachweis der Unentgeltlichkeit bewirkt werden kann, war und ist es recht naheliegend, wie Goldschürfer hinter der Unentgeltlichkeit herzujagen. 1.) Auf der besagten, abstrakten Ebene also findet sich immer wieder die Aussage, dass Unentgeltlichkeit vorliege, wenn der vom Schenker erbrachten Leistung keinerlei Gegenleistung vom Bedachten (oder einem Dritten) an den Schenker (oder, mit dessen Einverständnis, an einen Dritten27) gegenübersteht.28 Die bloße Hoffnung des Schuldners auf eine Gegenleistung ändere an der Unentgeltlichkeit seiner Leistung29 ebenso wenig wie sonstige einseitige Vorstellungen über mögliche wirtschaftliche Vorteile,30 wohl aber unter Umständen das bloße Ausbleiben einer geschuldeten Gegenleistung.31Aber selbst wenn der Bedachte eine Leistung erbringt, stelle sich immer noch die Folgefrage, ob es sich überhaupt um eine Gegenleistung im Rechtssinn handelt.32) Denn nicht jede vom Bedachten erbrachte Leistung steht in einer Wechselbezüglichkeit mit der vom Schuldner erbrachten. Grundsätzlich ist es den involvierten Betroffenen nämlich anheimgestellt, ob sie ihre jeweiligen Leistungen in eine Wechselbezüglichkeit stellen oder nicht.33) Wenn also eine Wechselbezüglichkeit nicht ausdrücklich vereinbart 26 Kritisch dazu etwa Paulus Zur Auslegung anfechtungsrechtlicher Vorschriften in FS G.Fischer, 2008, 445 ff. 27 BGH, Urt. v. 25.6.1992 – IX ZR 4/91 ZIP 1992, 1089, 1092; BGH, Urt. v. 4. 3. 1999 – IX ZR 63/98 NJW 1999, 1549; BGH, Urt.v. 30.3.2006 – IX ZR 84/05 NJW-RR 2006, 1136, dazu EWiR 2006, 469 (Henkel) („Cash-Pool“ – dazu gesellschaftsrechtlich Altmeppen ZIP 2006, 1025; sowie umfassend Rittscher Cash-Management-Systeme in der Insolvenz, 2007, 196 ff. insbesondere zur Anfechtung); s. auch Kayser WM 2007, 1. 28 BGH, Urt. v. 13.8.2008 – IX ZR 117/07 MDR 2008, 882. Aufschlussreicher Überblick etwa bei Neuberger, Eine unentgeltliche Leistung nach § 134 InsO ist eine unentgeltliche Leistung, ZInsO 2020, 629 ff. 29 OLG Celle, Urt. v. 17.10.1989 – 20 U 25/89 NJW 1990, 720 (betr sog. unbenannte Zuwendungen, die zwischen den Ehegatten selbst keine Schenkung darstellen, im Verhältnis zu Dritten dagegen doch; s. auch BGH, Urt. v. 20.7.2011 – XII ZR 149/09 NJW 2012, 523. S. überdies Staudinger-Chiusi § 516 Rn. 104 ff. 30 BGH, Urt. v. 29.11.1990 – IX ZR 29/90 NJW 1991, 560. 31 BGH, Urt. v. 21.1.1999 – IX ZR 429/97 ZIP 1999, 316, dazu EWiR 1999, 367 (Gerhardt). 32 BGH ZIP 1993, 1170, 1173. 33 BGH, Urt. v. 13.3.1978 – VIII ZR 241/76, NJW 1978, 1326, 1327; vgl. auch RG, Urt. v. 30.6.1914 – Rep. VII 133/14, Gruchot 59 (1915), Nr. 52, 521; aA etwa Siemon BB 1991, 81, 83.
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ist, kann eine unentgeltliche Leistung des Schuldners vorliegen, obgleich der Bedachte seinerseits eine Leistung an den Schenker34) oder an einen Dritten35 erbracht hat. Deswegen sind etwa Werbegeschenke oder Bestechungsleistungen trotz der Erbringung einer Leistung durch den Bedachten dann unentgeltliche Zuwendungen, wenn der Bedachte hinsichtlich seiner Leistung eine Auswahlfreiheit hat; so kann beispielsweise die mit einem Geschenk bedachte Erbtante zwischen Vermächtnis oder voller oder teilweiser Erbeinsetzung wählen.36) Bei einem einheitlichen Vertrag kann jedoch nicht unterschieden werden, dass sich das vom „Bedachten“ zu zahlende Entgelt nur auf die vom Schuldner zu erbringenden Dienstleistungen bezieht, nicht aber auch auf die aus dieser Dienstleistung resultierenden Gewinnausschüttung.37) Dagegen kann der Austausch von Pflichtteilsverzicht und Übertragung eines (Mit-)Eigentums(-anteils) sehr wohl dem Gegenleistungsbegriff unterfallen.38) Für die Festlegung, ob der wechselseitige Austausch von Leistungen zu einer Entgeltlichkeit geführt hat, bieten folgende Kriterien eine immer wieder39 angeführte Hilfestellung an. Danach ist die Unentgeltlichkeit ausgeschlossen, wenn die Verknüpfung der beiden ausgetauschten Leistungen synallagmatisch, konditional oder kausal ist. Hinsichtlich der synallagmatischen Verknüpfung wird auf Rechtsprechung und Literatur zu den Hauptleistungspflichten der jeweiligen Verträge verwiesen, sofern sie gesetzlich oder kautelarjuristisch ausgeformt sind40 – ansonsten auf die subjektiven Vorstellungen der Parteien darüber, welche Pflichten im einzelnen im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen. Hierzu ist etwa die nachträgliche Sicherheitenbestellung für einen bereits gewährten Kredit zu rechnen; sie stellt keine unentgeltliche Leistung dar.41 Des weiteren bedingt die synallagmatische Verbundenheit, dass eine Entgeltlichkeit selbst dann vorliegt, 34 Vgl. BFH, Urt. v. 10.2.1987 – VIII R 122/84 NJW 1988, 3174, zu den Grenzen einer nachträglichen Vereinbarung der Wechselbezüglichkeit. 35 Dazu etwa Kayser WM 2007, 1, 4 f. 36 Beispiel nach Siemon BB 1991, 81, 83. 37 Unrichtig daher BGH WM 1991, 331, 332; zur Problematik der Scheingewinne vgl. auch OLG Köln, Urt. v. 21.2.1990 – 16 U 105/89 ZIP 1990, 461, 462, dazu Pape EWiR 1990, 389; OLG Nürnberg, Urt. v. 19.12.1989 – 1 U 3158/89 ZIP 1990, 463, 464. 38 Anders allerdings BGH ZIP 1991, 454, 455, sowie Wagner KTS 1991, 379; vgl. auch Brandner in FS Merz, 3. 39 Etwa Weidenkaff in Palandt, § 516 Rn. 8 f.; Chiusi in Staudinger § 516 Rn. 44 ff.; Koch in MüKo BGB, § 516 Rn. 27 f.; Gehrlein in BeckOK BGB, § 516 Rn. 7. 40 Weihnachtsgratifikationen etwa werden behandelt, als seien sie synallagmatisch mit der Arbeitsleistung verbunden, BGH, Urt. v. 12.12.1996 – IX ZR 76/96 ZIP 1997, 247, 248 (mit der Besonderheit, dass die Gratifikation von dem wirtschaftlichen Inhaber des Arbeitgebers stammte); vgl. dazu Paulus WuB VI B. § 32 Nr. 1 KO 1/97, 345 und (abl.) Huber EWiR 1997, 267. 41 BGH, Urt. v. 12.7.1990 – IX ZR 245/89, BGH ZIP 1990, 1088, 1089, dazu Gerhardt EWiR 1990, 919.
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wenn die Gegenleistung des anderen nicht erbracht wird; denn in diesen Fällen wird das Synallagma durch die Regelung der §§ 280 ff BGB fortgeführt. Eine konditionale Verknüpfung liegt vor, wenn die Leistungen durch eine ausdrückliche oder konkludent vereinbarte Bedingung i.S.d. § 158 BGB aufeinander bezogen sind. Schwierigkeiten bereitet dagegen wegen ihrer Weite die kausale Verknüpfung. Wörtlich genommen schließt sie die Unentgeltlichkeit nahezu vollkommen aus, weil psychologische, soziologische und ökonomische Untersuchungen nachgewiesen haben, dass es zweckfreie Zuwendungen so gut wie gar nicht gibt.42 „Unentgeltlich“ ist daher als ein normativer Begriff zu verstehen. Seine inhaltliche Konkretisierung ist primär an den Vorstellungen der Parteien auszurichten, ob der Erwerb in seiner Endgültigkeit von einer ausgleichenden Leistung oder Zuwendung abhängig ist oder nicht.43 Es spielen also auch hier subjektive Komponenten eine Rolle. Da sie schwer nachzuweisen sind, kommt es zu ihrer Bestimmung regelmäßig auf Indizien an. So liegt eine kausale Verknüpfung etwa bei eigenem wirtschaftlichen Interesse des Leistenden44 nahe – wenn also beispielsweise der Bestechende den anvisierten Auftrag erhält, oder wenn – im umgekehrten Fall – eine „belohnende Schenkung“ vorliegt. Zu den Kriterien für die Entgeltlichkeit gehören dagegen nicht ohne weiteres die objektive Wertrelation oder die zeitliche Koinzidenz45 zwischen den ausgetauschten Leistungen. Diesen Faktoren kommt lediglich ein indizieller Charakter zu, da das allgemeine Vermögensrecht generell weder einen „gerechten Preis“ noch eine Gegenleistungszeitspanne vorschreibt, sondern die Beurteilung, ob ein Ausgleich vorliegt, den Betroffenen überlässt.46 Nach zutreffender Ansicht des Bundesgerichthofs47 gehört zu den vorgenannten Kriterien auch nicht die fehlende Personenidentität zwischen Insolvenzschuldner und Empfänger der Gegenleistung; wenn zwischen beiden nur eine hinreichend enge, wirtschaftliche Verbundenheit besteht, kann eine die Unentgeltlichkeit aufhebende Wechselbezüglichkeit der Leistungen vorliegen. Das kann insbesondere bei der Erbringung der Gegenleistung an ein (anderes) Konzernmitglied eine Rolle spielen. 42
In diese Richtung bereits Aden, BB 1985, 366, 368; vgl. auch Paulus WuB VI B. § 32 Nr. 1 KO 1.97, 345. Zum ökonomischen Ansatz der „grants economy“ vgl. Ehricke Das abhängige Konzernunternehmen in der Insolvenz, 1998, 50 f. 43 BGH, Urt. v. 24.6.1993 – IX ZR 96/92 ZIP 1993, 1170, 1173. 44 RG, Urt. v. 10.3.1913 – Rep. VI 487/12 JW 1913, 608, 609; RG, Urt. v. 25.11.1940 – VIII 484/39 RGZ 165, 223, 225; siehe auch BGH (wie Fn. 25) ZIP 1999, 316. 45 Der BGH beurteilt demgegenüber die Unentgeltlichkeit in dem Zeitpunkt der Vornahme der (unentgeltlichen) Leistung, ZIP 1993 (wie Fn. 42), 1170, 1173. 46 Mansel in Jauernig BGB, § 516 Rn. 8. 47 BGH, Urt. v. 12.12.1996 – IX ZR 76/96, WM 1997, 277: der Schenker war Alleininhaber der Gegenleistungsempfängerin; vgl. schon BGH, Urt. v. 15.4.1964 – VIII ZR 232/62 NJW 1964, 1960; BGH, Urt. v. 25.6.1992 – IX ZR 4/91, ZIP 1992, 1089, 1092.
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2.) Inwieweit helfen die vorgenannten abstrakten Kriterien zur Bestimmung einer Unentgeltlichkeit im konkreten Fall weiter? Laut der Entscheidung des BGH (und der beiden Vorinstanzen) jedenfalls nicht; denn unbeschadet der Verwendung des Wortes “unentgeltlich” im Urteil adressiert das Gericht die Fragestellung in dem Urteil mit keinem Wort. Vielmehr konzentriert sich die Begründung allein – dabei auf dem durch die Vorinstanzen eingeschlagenen Pfad weiterschreitend48 – auf die Hingabe des Geldes, die als Spende ausgewiesen ist und somit auch sprachlich wie eine leistungsmäßige Einbahnstraße wirkt, vom Spender hin zum Empfänger. Dabei ist in der ohnedies recht knappen Sachverhaltsdarstellung zumindest von Berufungs- und Revisionsinstanz der zuvor schon erwähnte, entscheidende Hinweis enthalten, der jedoch in der Begründung völlig unberücksichtigt bleibt – mit der Folge, dass der Fall wohl falsch entschieden worden ist. Wörtlich heißt es nämlich in der Sachverhaltsmitteilung: „Der Erblasser wandte der Bekl. im Rahmen der so genannten Aktion Stifterbrief im April 1995 … Mio. DM zu, wofür ihm ideell die Turmspitze des Treppenhauses A zugeordnet und ein Stifterbrief ausgestellt wurde.“
Diese Kausalität ist von entscheidender Bedeutung.49 Dem Stifter ist bereits im Vorfeld eine Gegenleistung angeboten worden, die man unter den Begriff eines „Unsterblichkeitsmals“ fassen kann.50 So wie ein Denk-mal dazu anhalten soll, der dargestellten Person oder Allegorie zu gedenken, will ein Unsterblichkeits-mal dafür Sorge tragen, dass der Stifter selbst in der Erinnerung verhaften bleibt – being remembered. Das ist Unsterblichkeit – und zwar in einer Form und Weise, wie das die Menschen buchstäblich seit Jahrtausenden tun. Wir erfahren das am Deutlichsten erneut bei Cicero, der in seinen Tuskulanen, ausgelöst durch den Tod seiner Tochter, unter anderem seine Gedanken zur Unsterblichkeit niederlegt; dort51 schreibt er: „Das stärkste Argument dafür (also für das Streben nach Unsterblichkeit, C.P.) liegt aber darin, dass die Natur selbst schweigend ihr Urteil über die Unsterblichkeit der Seelen fällt, weil sich ja alle sorgen, und zwar am meisten darüber, was denn nach dem Tod geschieht.“ Als Belege werden genannt, dass ein Bauer Bäume pflanzt, deren Früchte er nie wird essen können, dass Kinder gezeugt oder adoptiert werden, dass Grabmäler errichtet werden, usw. 48 Diesen Pfad verlassen auch nicht die Kommentatoren der Entscheidung Worm RNotZ 2004, 163; Kollhosser ZEV 2004, 117; Otte JZ 2004, 973; Schiffer NJW 2004, 1565. 49 Zur Kontextualisierung gerade von Sachverhaltsdarstellungen lesenswert O. Lepsius JZ 2019, 793, 797 ff. 50 Hierzu und zum Folgenden Paulus Auf der Suche nach Unsterblichkeit – mentalitätsgeschichtliche, soziale und rechtliche Überlegungen zum römischen Testament, 2018, passim. 51 I.31.
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Diese Überlegung eröffnet spannende Einblicke.52 Wenn Unsterblichkeit so verstanden wird, dass ein Eigen-Geschaffenes die individuelle Sterblichkeit überdauert und Anlass zur Erwähnung bzw. zum Gedenken nach dem eigenen Ableben wird, dann hat etwa Pharao Cheops nachhaltigen Erfolg erzielt; denn seine Pyramide ist auch heute noch, etwa 4600 Jahre nach dem Tod des Erbauers, allseits berühmt und in aller Munde. Ca. 2300 Jahre später hat ein gewisser Herostratos in dem Bestreben, unsterblichen Ruhm zu erlangen, ebenfalls vollen Erfolg, wenn auch mit einer geradezu diametral entgegengesetzten, nämlich höchst destruktiven Methode, gehabt: Er zerstörte den Artemis-Tempel in Ephesos und wurde wegen dieser Freveltat nicht nur zu Tode verurteilt, sondern sollte auch der Vergessenheit anheimfallen (damnatio memoriae). Und dass Autoren ihre Werke verfassen, um ein vergleichbares Pfand für die postmortale Präsenz unter den Weiterlebenden zu haben, findet sich als Motiv etwa erneut bei Cicero und vielen weiteren Schriftstellern wieder und wieder, ist aber am Prägnantesten von Horaz formuliert worden: In einer seiner Oden53 findet sich die berühmte Beschreibung seines Œevres: Ein Monument habe ich geschaffen, dauerhafter als Erz.“ Auch wenn heutzutage mittels der sog. Kryonik der Wunsch nach Unsterblichkeit sehr viel handfester, nämlich in dem tatsächlich physischen (tiefgekühlten) Fortbestand angestrebt wird,54 und auch wenn die Debatte um ein Recht auf Vergessen-Werden heute so aktuell55 ist wie wohl nie zuvor, sind die soeben geschilderten Bestrebungen, Unsterblichkeit in jenem ideellen Sinne zu erlangen, keineswegs auf die ferne Antike beschränkt. Das liest man etwa in Isabel Allendes Roman ‚Eva Luna’, in dem die Mutter Consuelo, auf dem Sterbebett liegend, ihrer sechsjährigen Eva sagt: „Den Tod gibt es nicht, Kind. Die Menschen sterben nur, wenn sie vergessen werden. Wenn du mich im Gedächtnis behältst, werde ich immer bei dir sein.“56 Aber auch im ungleich alltäglicheren Gebrauch findet sich dieser Gedanke: So sind seit einiger Zeit sogar schon Tore, die ein Fußballer schießt, in den Sportreportagen solche „für die Geschichtsbücher“. Aber auch jede einzelne Parkbank etwa im Central Park in New York stellt ein Unsterblich-
52 In dem hinreißenden Beitrag der Jubilarin, Realitätenbesitzerswitwe, zu dem Band „Abecedarium der Sprache“ hgg. V. Fröhlich / Grötschel / Klein, 2019, 189 ff., finden sich Äußerungen zu einer Grabinschrift, die genau in diese Richtung zielen. 53 3.30. 54 Dass auch das zu Rechtsproblemen führt, zeigt etwa Schack JZ 2019, 864. 55 Jüngst etwa EuGH, Urt. v. 24.9.2019 – C-507/17 – Google RIW 2019, 748; BVerfG, Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 und BvR 276/17 GRUR 2020, 74. S. auch Art. 17 DSGVO mit Kommentierung etwa von Spindler/Dalby in Spindler/Schuster (Hrsg.) Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, DS-GVO Art. 17 Rn. 1–29. 56 Allende Eva Luna, dt. 1988, 60.
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keitsmal dar; denn auf allen ist die kleine Plakette mit dem Namen des Stifters aufgebracht. Von hier ist es nicht weit zu insbesondere den USamerikanischen Universitäten (die der Jubilarin vertraut sind wie kaum einer zweiten), in denen nicht nur die Lehrstuhlbezeichnungen das ideelle Fortdauern des Stifters sicherstellen, sondern auch nahezu jeder freie Fleck in der Bibliothek, den Hörsälen oder dem Gesamtgebäude. 3.) Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen; doch das soll hier nicht weiter interessieren. Die gegebenen Beispiele nämlich genügen, um das Defizit der BGH-Entscheidung zu offenbaren. Die nach der Bejahung der Bereicherung zu prüfende Frage wäre demnach gewesen, ob der Gegenwert, der dem Erblasser für seine Spende zu Gunsten des Wiederaufbaus der Frauenkirche zugesichert worden ist, eine (vertrags-)rechtlich relevante Gegenleistung darstellt. Ob also die Benennung einer bestimmten Turmspitze mit dem Namen des Spenders – und sei dies auch nur ideell –, eine Gegengabe ist, die an dem rein altruistischen Verhalten des Spenders nichts ändert, oder ob sie mitbestimmender Anlass für die Spende gewesen ist. Diese Gegenüberstellung von purem Altruismus und eigennützigen Hintergedanken zeigt in der heutigen Zeit, in der sowohl psychologische wie ökonomische Studien im Übermaß festgestellt haben, dass die erste Kategorie, also der reine Altruismus, in der Lebenswirklichkeit wenn überhaupt, dann nur sehr selten und hauptsächlich als Hilfestellung in Notsituationen vorkommt, dass die von der Theorie vorgeschlagene Kategorie einer kausalen Verknüpfung57 zwischen Leistung und Gegenleistung nichtssagend, weil allumfassend und damit das Geschenk als Vertragstypus eliminierend ist. Wenn man diese Kategorie jedoch beibehalten will, indem man diese Kausalität mittels mannigfacher Einschränkungen zurückstutzt,58 dann kommt man nach dem soeben zum urmenschlichen Bestreben zur Schaffung eines Unsterblichkeitsmals Gesagten nicht umhin, eine kausale Verknüpfung zwischen Spende und ideeller Namensgebung mit Stifterbrief anzunehmen. Es fragt sich aber auch darüber hinaus, ob es sich bei der Verknüpfung zwischen Spende und Benennung nicht um ein handfestes juristisches Synallagma handelt, also um ein do ut des i.S.d. § 320 BGB? Wenn der Spender, damit (nicht nur) antiken Vorbildern folgend, sich dazu entschieden hätte, für sich als Unsterblichkeitsmal eine Eloge59 auf seine Ruhmestaten bei einem Dichter in Auftrag zu geben, wäre für jedermann klar, dass sich dies nur über einen Werkvertrag und damit mit einer im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Vergütungspflicht erreichen ließe. Wenn dem57
S. oben Fn. 37. Das ist gängige Vorgehensweise der Kommentarliteratur, vgl. nur Koch in MüKo BGB, § 516 Rn. 27 (Geschäftsgrundlage, Vorleistungs- oder Veranlassungsfälle); Chiusi in Staudinger, § 516 Rn. 47 ff. 59 Elogen sind naturgemäß so etwas wie ein Klassiker der Unsterblichkeitsmale. 58
Unentgeltlichkeit, Schenkung und die Dresdner Frauenkirche
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gegenüber die ideelle Benennung einer Turmspitze als Gegenleistung60 in Frage steht, kann bei gleichem Bestreben, ein Unsterblichkeitsmal zu errichten, schwerlich eine andere Form der Verknüpfung angenommen werden. Dem könnte ein sich als modern-aufgeklärt fühlender Leser entgegenhalten wollen, dass dieses Schaffen eines Unsterblichkeitsmals Humbug sei. Man kommt mit einem derartigen Einwand in die Nähe einer Fragestellung, die hochspannend ist, und bezüglich deren Beantwortung sich in den letzten Jahrzehnten Änderungen im BGB ergeben haben. Nämlich, was taugt als rechtlich anzuerkennende Gegenleistung?61 Die Änderung belegt kein Urteil des BGH so eindringlich wie das, das er in Bezug auf einen Wahrsagervertrag62 gefällt hat. Nach Wegfall des alten § 306 BGB sah er nämlich die Freiheit der Vertragsparteien verletzt, wenn dem Leistungsaustausch von Kartenlegen gegen Bezahlung von vornherein der Stempel der Unwirksamkeit aufgedrückt würde.63 Es ist in Anbetracht des § 311 Abs. 1 BGB nicht am Staat und seinen Richtern, den Parteien zu sagen bzw. zu diktieren, welche Leistung rechtlich akzeptabel ist und welche nicht, solange nur nicht die allgemeinen Grenzen der Privatautonomie64 überschritten sind. Dass der Spender des vorliegenden Falles ein Verbotsgesetz verletzt oder gegen die guten Sitten65 verstoßen haben sollte, ist jedoch nicht wirklich ersichtlich. Und dass Unsterblichkeit in dem oben genannten Sinn objektiv unmöglich wäre, lässt sich am prägnantesten66 mit Horaz in seiner oben bereits zitierten Ode (3.30) widerlegen; dort heißt es nämlich weiter: „Ich werde nicht ganz sterben, und ein großer Teil von mir wird den Tod meiden; permanent werde ich durch den Ruhm der Nachwelt neu wachsen, solange der Priester mit der schweigsamen Jungfrau zum Kapitol steigen wird. Ich werde erwähnt werden, wo der Aufidus tosend entgegen rauscht und wo, 60 Die Gegenleistung muss nicht vermögensrechtlicher Art sein, ein immaterieller Charakter genügt vollauf, BGH, Urt. v. 17.1.1990 – XII ZR 1/89 NJW-RR 1990, 386. 61 Dazu jüngst etwa Witschen Zivilrechtliche Fragen übersinnlicher Dienstleistungen, NJW 2019, 2805. 62 BGH, Urt. v. 13.1.2011 – III ZR 87/10, NJW 2011, 756 mit Anm. Looschelder JA 2011, 385 sowie NJW 2017, 3091; Pfeiffer LMK 2011, 314413; Alexander JA 2015, 321. 63 So noch für das Erstellen eines Horoskops auf astrologischer Grundlage OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.2.1953 NJW 1953, 1553; für die Zurückholung des Ehegatten mittels Magie LG Kassel, Urt. v. 26.5.1988 – 1 S 483/87, NJW-RR 1988, 1517; für Lebenshilfe durch ein Medium auf parapsychologischer Grundlage AG Grevenbroich, Urt. v. 3.11.1997 – 11 C 323/97, NJW-RR 1999, 133. 64 Hierzu etwa Paulus/Zenker JuS 2001, 1. 65 Zur möglichen Sittenwidrigkeit eines Wunderheilervertrages vgl. OLG Stuttgart NJW-RR 2018, 1257; zur möglichen Strafbarkeit BVerfG NJW 2004, 2890; AG Meldorf NStZ 2012, 458. Zur „Heilung“ durch einen Schamanen s. OLG Köln, Urt. v. 21.11.2012 – 16 U 80/12, NJOZ 2013, 1085, 1090 (zu § 826 BGB). 66 Eine bundesweit bekannte Sozialsiedlung in Augsburg trägt heute noch, nach genau 500 Jahren, den Namen ihres Stifters: Fuggerei.
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arm an Wasser, Daunus über ein bäuerliches Volk herrschte; aus niederem (kommend) mächtig, habe er als erster das äolische Lied zu italischen Weisen kunstvoll ausgearbeitet.“67
Zumindest dieser Beitrag mit diesem Zitat gibt Horaz vollauf Recht.
IV. Ergebnis Die heute in nahezu allen Kommentaren unter Hinweis auf die hier besprochene Entscheidung des BGH zu findende Aussage, dass Spenden Geschenken i.S.d. § 2325 BGB gleichzusetzen seien, bedarf dringend der Korrektur. Die Richter aller drei Instanzen (sowie die Anwälte) hatten sich in eine Pfadabhängigkeit hineinmanövriert, in der sie die im Austausch zur Spende hingegebene, in der kargen Sachverhaltsdarstellung sogar eigens erwähnten Gegenleistung komplett ausgeblendet haben. Dadurch haben sie allesamt verkannt, dass eben gerade keine Unentgeltlichkeit und damit gerade kein Geschenk vorlag, sondern ein gegenseitiger Vertrag, mittels dessen sich der Erblasser ein Unsterblichkeitsmal verschafft hatte – freilich mit der für die pflichtteilsberechtigte Tochter nicht wirklich erfreulichen Konsequenz, dass ihr infolgedessen kein Ergänzungsanspruch zustand.
neue rechte Seite! 67 Übersetzung bei https://www.lateinoase.de/autoren/horaz/oden%20buch%203/ horazode-3,30-uebersetzung.html.
Lebensschutz durch anonyme Geburt?
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Lebensschutz durch anonyme Geburt? Reinhard Richardi
Lebensschutz durch anonyme Geburt? REINHARD RICHARDI
I. Gesetzgebungsinitiative von Baden-Württemberg und Bayern Das Gesetz zum Ausbau der Hilfen für Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt vom 28.8.2013 (BGBl. I S. 3458) regelt in Abschnitt 6 von Art. 7 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) die „vertrauliche Geburt“. In einer Pressemitteilung ihres Hauses vom 14.6.2004 hatte die Bayerische Staatsministerin der Justiz der Öffentlichkeit mitgeteilt, dass die Pläne Baden-Württembergs und Bayerns, einen gemeinsamen Gesetzentwurf zur anonymen Geburt im Bundesrat einzubringen, konkrete Gestalt angenommen hätten. Die Pressemitteilung beschränkt sich auf das wörtliche Zitat der Staatsministerin, es sei Realität, dass immer noch jedes Jahr Neugeborene ausgesetzt oder getötet würden. Man könne sich vorstellen, in welcher verzweifelten und aussichtslosen Lage sich die – meist jungen – Mütter befinden müssten. Diese Frauen brauchten Hilfe. Ziel sei es daher, die Mütter mit einem qualifizierten Beratungsangebot zu erreichen, dass sie sich für ihr Kind entscheiden. In jedem Fall solle sichergestellt werden, dass die Mütter ihr Kind im Konfliktfall wenigstens mit ausreichender medizinischer Versorgung entbinden. Man stellt sich die Frage, was diese Zielsetzung mit der Ermöglichung einer als vertrauliche Geburt bezeichneten anonymen Geburt zu tun haben soll. Aber gerade darum geht es in dem Gesetz: die anonyme Geburt als Mittel des Lebensschutzes! Bei unbefangener Beurteilung liegt das Gegenteil nahe: die anonyme Geburt als Verweigerung der Elternschaft! Wenn nämlich niemand an die Stelle der Eltern tritt, ist der Tod des Kindes bei einer anonymen Geburt das ihm bestimmte Schicksal.
II. Widerstreit verfassungsrechtlich verbürgter Rechtsgüter? Ein ausgewogenes Urteil zu dem Gesetz ist nur möglich, wenn man den Regelungsinhalt kennt. Skeptisch stimmt allerdings schon die merkwürdige Gegenüberstellung in der Begründung: „Gewichtige Rechtsgüter stehen miteinander im Widerstreit: Körperliche Unversehrtheit und Leben von Mutter und Kind stehen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite haben
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Kinder ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf Kenntnis ihrer Abstammung.“ Das Gesetz geht demnach also von einem Widerstreit verfassungsrechtlich verbürgter Rechtsgüter aus, mit dem sich für den Gesetzgeber ein Problem praktischer Konkordanz stellt. Doch bereits dieser Grundansatz ist verfehlt. Das verfassungsrechtlich verbürgte Recht des Kindes auf Elternschaft, zu der die Kenntnis der Abstammung gehört, steht in keiner Wechselwirkung zu einem entsprechend verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht der Mutter gegenüber ihrem Kind, das den Gesetzgeber befugt, als deren Recht eine anonyme Geburt zuzulassen. Das bestätigt nicht zuletzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28.5.19931 zum Schwangerschaftsabbruch: Die einzigartige Verbindung von Mutter und Kind erschöpfe sich nicht in einer Pflicht der Frau, den Rechtskreis eines anderen nicht zu verletzen, sondern enthalte „zugleich eine intensive, die Frau existentiell betreffende Pflicht zum Austragen und Gebären des Kindes“ und ziehe „eine darüber hinausgehende Handlungs-, Sorgeund Beistandspflicht nach der Geburt über viele Jahre nach sich“.2 Kriterium für eine Ausnahmelage sei das der Unzumutbarkeit; sie könne allerdings nicht aus Umständen hergeleitet werden, die im Rahmen der Normalsituation einer Schwangerschaft verblieben.3 Der Gesetzgeber hat deshalb das sog. Untermaßverbot zu beachten, um zu verhindern, dass aus einer Ausnahme die Regel wird. Die Zulassung einer anonymen Geburt muss deshalb den Nachweis ihrer Erforderlichkeit, der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit erbringen, um durch sie das Ziel des Lebensschutzes zu erreichen. Die bloße Motivation, Leben zu retten, ist noch kein Rechtfertigungsgrund unter dem Blickwinkel der Erforderlichkeit, der Geeignetheit und der Verhältnismäßigkeit.
III. Überblick über die Gesetzesregelung 1. Zielsetzung und finanzielle Auswirkungen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der anonymen Geburt war bereits von Baden-Württemberg im Bundesrat eingebracht worden.4 Nach einer Abstimmung mit Bayern hat er dort am 23.6.2004 einen Unterausschuss beschäftigt, der die Empfehlung aussprach, den Gesetzentwurf in einer geänderten Fassung gemäß Art. 76 Abs. 1 GG beim Deutschen Bundestag einzubringen. 1
BVerfGE 88, 203 ff. BVerfGE 88, 203 (256). 3 BVerfGE 88, 203 (257). 4 BR-Drucks. 506/02. 2
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Modell für die Gesetzesregelung ist das Beratungskonzept für die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs. Wie dort unter dem Deckmantel einer Beratung zum Lebensschutz die als Unrecht eingestufte Abtreibung erlaubt wird, soll hier unter dem Deckmantel einer Beratung zum Lebensschutz eine anonyme Geburt im Rahmen eines abgestuften Modells zugelassen werden. Fragt man bei der vorgesehenen Lösung nach den Rechten des anonym geborenen Kindes, so wird ein außerordentlich verengter Blickwinkel deutlich. Mit keinem Wort erscheint im Gesetz, dass nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG Pflege und Erziehung der Kinder das „natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ ist. Im Mittelpunkt steht ausschließlich die Abstammungsproblematik. Immerhin wird hervorgehoben, dass es eine auf Dauer anonyme Geburt als Ausnahme „nur in einer extremen Konfliktsituation“ geben könne. Dass ein Kind existentiell auf die Zuwendung seiner Mutter angewiesen ist, wird verdrängt. Der Vater wird mit keinem Wort erwähnt. War er in längst vergangener Zeit ursprünglich der Ernährer der Familie, so ist er hier durch das Gesetz in einen rechtlosen Raum verbannt. Den Großeltern geht es nicht anders. Soweit es um die finanziellen Auswirkungen geht, wird ausschließlich an die öffentlichen Haushalte gedacht. Für den Bund verursache die geplante Regelung keine unmittelbaren Haushaltsausgaben. Für die Länder entstünden zusätzlich Haushaltsausgaben durch den Erstattungsanspruch der Krankenhausträger für die Durchführung einer anonymen Geburt. Das ist die Perspektive, die der Gesetzgeber dem anonym geborenen Kind bietet. Nur in einer Wohlstandsgesellschaft ist es wohl möglich, dass die zentrale Frage nach der Nahrung und Versorgung eines Kindes nicht einmal mehr am Rand eine Rolle spielt. 2. Beratung zur vertraulichen Geburt Das Rechtsinstitut der vertraulichen Geburt mit seiner komplexen Regelung soll Kindsaussetzungen verhindern. Es liegt jedoch auf der Hand, dass dadurch keine Kindsaussetzung verhindert wird, für die erst Beweggründe der Frau unmittelbar vor der Geburt, insbesondere auf Grund einer Panikhandlung, ursächlich sind. Erreicht werden deshalb nur die Fälle, in denen eine Frau nach Ablauf der Frist für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch vor der Entbindung die Kindstötung in Erwägung zieht und deshalb in einer geheimen Geburt eine Alternative erblickt. Das Gesetz regelt den Inhalt, die Durchführung und den Zeitpunkt der Beratung – dabei keineswegs mit der Zielsetzung, die anonyme Geburt zu verhindern. Die Beratungsstelle hat nach Abschluss der Beratung der ratsuchenden Frau eine mit Datum versehende Bescheinigung darüber auszustellen, dass eine Beratung stattgefunden habe und dass die Frau in ihr ihren Willen erklärt habe, nicht in den Geburtseintrag ihres Kindes aufgenommen zu werden.
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Die Beratungsbescheinigung – und nur sie – öffnet das Tor zur anonymen Geburt. Mit ihrer Erteilung sind die staatlich anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen betraut. In Betracht gezogen werden deshalb auch privatrechtliche Verbände, deren Anerkennung ausschließlich durch den Aufgabenbereich nach § 5 SchKG bestimmt wird. Bei der Zulassung einer anonymen Geburt geht es aber um die staatliche Mitwirkung an einer Handlung, durch die das Kind seiner Elternschaft beraubt wird. Es handelt sich um die Ausübung einer hoheitsrechtlichen Befugnis, die gemäß Art. 33 Abs. 4 GG als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen ist, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Den Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen wird dadurch eine Pflicht auferlegt, deren Einhaltung keiner Kontrolle unterliegt. Das mag für den straffreien Schwangerschaftsabbruch offenbleiben können, weil seine Zulassung allein vom Formaltatbestand der Beratung abhängig ist. Bei der Zulassung einer anonymen Geburt unterliegt aber familiengerichtlicher Rechtskontrolle materieller Kriterien, die nur bei ihrem Vorliegen das Recht zur anonymen Geburt geben. Deshalb bleiben ungeklärt die Fälle, in denen die Beratungsstelle die Notoder Konfliktlage der Frau bejaht, obwohl sie nicht vorliegt, oder verneint, obwohl sie gegeben ist. Gleiches gilt erst recht für die Feststellung einer extremen Konfliktsituation mit Gefahr für Leib oder Leben der Mutter oder des Kindes. Keinem Zweifel unterliegt es, dass bei einer Fehlbeurteilung eine Pflichtverletzung vorliegt, die sich der Rechtsträger der Beratungsstelle zurechnen lassen muss, wenn die für ihn tätige Person sie zu vertreten hat. Es kommen deshalb Schadensersatzansprüche in Betracht, für deren Höhe die höchst umstrittene Problematik „Kind als Schaden“ eine erhebliche Rolle spielt, zumal das Bundesverfassungsgericht für diese Frage in seinen beiden Senaten keine einheitliche Auffassung vertritt.5 3. Recht auf Kenntnis der Abstammung Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Leitentscheidungen mit Gesetzeskraft festgestellt, dass jeder Mensch auf Grund seines in der Menschenwürde verankerten Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG ein Grundrecht auf Kenntnis seiner biologischen Abstammung hat.6 Dieses Recht wird durch das Gesetz nicht nur eingeschränkt, sondern beseitigt. Mit seinem Beratungskonzept verbindet er zwei neue Rechtsinstitute, das Rechtsinstitut einer „geheimen Geburt“ und das Rechtsinstitut einer 5 Vgl. zur Verneinung BVerfGE 88, 203 (295 f., 358); zur Bejahung BVerfGE 96, 375 (400 ff.). 6 BVerfGE 79, 256 ff.; 96, 56 ff.
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„anonymen Geburt“. Auch insoweit wird den Beratungsstellen eine Pflicht auferlegt. Für den Regelfall wird der Frau auferlegt, ihre persönlichen Daten mitzuteilen. Die Beratungsstelle hat diese Daten aufzunehmen, verschlossen zu verwahren und nach Mitteilung der Geburt dem zuständigen Standesamt in einem verschlossenen Kuvert zu übermitteln. Das Kind erhält nach Vollendung seines 16. Lebensjahres das Recht, den beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben verwahrten Herkunftsnachweis einzusehen oder Kopien zu verlangen (§ 31 Abs. 1). Doch wird ihm dieses Recht genommen, wenn die Mutter der Auskunftserteilung nach Vollendung des 15. Lebensjahres des Kindes widerspricht (§ 31 Abs. 2). Die „geheime Geburt“ wird dadurch endgültig zur „anonymen Geburt“. Verweigert das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben dem Kind die Einsicht in seinen Herkunftsnachweis, so entscheidet das Familiengericht auf dessen Antrag über das Einsichtsrecht (§ 32). Es hat, wie es heißt, zu prüfen, „ob das Interesse der leiblichen Mutter an der weiteren Geheimhaltung ihrer Identität aufgrund der durch die Einsicht befürchteten Gefahren für Leib, Leben, Gesundheit, persönliche Freiheit oder ähnliche schutzwürdige Belange gegenüber dem Interesse des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung überwiegt“. Damit wird letztlich einer praktischen Konkordanz befürchteter Gefahren mit einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung zugeführt. Bestand kann diese Regelung des einfachen Gesetzesrechts nicht haben – jedenfalls nicht in einem Rechtsstaat.
IV. Gesamtwürdigung Die Zielsetzung, dem Lebensschutz zu dienen, mag ehrenwert erscheinen. Wie das Gesetz ihn aber durch die Zulassung einer anonymen Geburt realisiert, ist völlig missglückt. Wer sich wie der Autor dieser Zeilen noch persönlich an die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern vermag, hat noch im Ohr die täglichen Suchmeldungen des Radios, in denen stundenlang durch Flucht anonym gewordene Kinder ihre Eltern suchten oder Eltern nach dem Verbleib ihrer Kinder fragten, die bei der Trennung von ihnen noch nicht ihren Namen wussten. Damals wäre niemand auf den Gedanken gekommen, in der Anonymität einen Beitrag zum Lebensschutz zu sehen. Ein Recht auf Anonymität war völlig undenkbar in einer Zeit, in der, bedingt durch Evakuierung, Ausbombung, Flucht, Vertreibung und was es sonst noch für Spezialitäten der Zeit gab, die Anonymität für nicht wenige Kinder zu deren Schicksal wurde. Aber die Zeiten ändern sich, und mit ihnen schwindet die Sensibilität. Die Regelungswut unserer Zeit belässt es nicht dabei, dass bereits nach dem geltenden allgemeinen Notstandsrecht keiner niederkommenden Frau medizinische Hilfe nur deshalb verweigert wird, weil sie anonym bleiben will. Wenn im konkreten Fall die Tötung ei-
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nes Kindes nur deshalb verhindert werden kann, weil einer Frau die Anonymität zugesichert wird, war dies bereits vor der geltenden Gesetzeslage rechtmäßig. Zu diesem Zweck braucht nicht aufgehoben zu werden, dass das Verhalten der Frau Unrecht gegenüber ihrem Kind bleibt. Das Gesetz beschränkt sich nicht auf eine spezifische Notstandsregelung. Wie die Vielzahl der Babyklappen zeigt, wird auch das von ihm vorgesehene Beratungskonzept Aussetzungen und Tötungen von Babys nicht verhindern. Es mag im Einzelfall anders sein. Aber darüber kann nicht hinwegtäuschen, dass es eine anonyme Geburt auch Frauen eröffnet, die an keine Aussetzung oder Tötung ihres Kindes gedacht haben. Selbst wenn man sie im konkreten Fall hinnimmt, um das Leben des Kindes zu sichern, bleibt die anonyme Geburt ein Unrecht der Mutter gegenüber ihrem Kind. Nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind Pflege und Erziehung das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Recht und Pflicht bedingen hier einander. Damit unvereinbar ist eine gesetzliche Entpflichtung der Mutter und damit de facto für den Regelfall auch des Vaters. Ein Gesetz, das eine anonyme Geburt zulässt, verletzt außerdem die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG).
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Grundrechte im Privatrecht
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Grundrechte im Privatrecht Reinhard Singer
Grundrechte im Privatrecht: Eingriffsverbote, Schutzgebote und Teilhaberechte REINHARD SINGER
Die Diskussion um den Einfluss der Grundrechte im Privatrecht ist in Deutschland ruhiger geworden, obwohl man auch heute nicht sagen kann, dass alle Fragen geklärt seien. Neben der vor allem in der Rechtsprechung vorherrschenden Theorie der mittelbaren Drittwirkung1 hat sich die Theorie von der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte2 durchgesetzt. Offen sind aber nach wie vor grundsätzliche Fragen, insbesondere in welcher Weise bei der Durchsetzung der Grundrechte und des dabei zur Anwendung kommenden Verhältnismäßigkeitsprinzips die Privatautonomie bewahrt werden kann, ob bei den verfassungsrechtlichen Schutzgeboten statt des Übermaßverbots ein Untermaßverbot gelten soll und ob dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz als oberstes Zivilgericht zusteht.3 Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in jüngeren Entscheidungen die Drittwirkung auf die Funktion der Grundrechte als Teilhaberechte ausgedehnt – eine Weiterentwicklung, die als stille Abkehr von der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung angesehen wird.
I. Unmittelbare Drittwirkung Einigkeit besteht zunächst darüber, dass den Grundrechten der deutschen Verfassung die Funktion zukommt, den Bürgern Abwehrrechte gegen den Staat zu verleihen, wenn dieser ihre individuelle Freiheit unverhältnismäßig einschränkt.4 Für einen Schutz gegen Private bietet die Verfassung daher 1 Grundlegend BVerfGE 7, 198, 205 f. („Lüth“); seither st. Rspr., vgl. BVerfGE 25, 256, 263; 89, 214, 229 f.; 96, 375, 398 f.; 103, 89, 100; 114, 339, 347 f.; 137, 273, 313 f.; BVerfG NJW 2018, 1667, 1668 Rn. 32 (Stadionverbot); Herdegen in Maunz/Dürig GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 59; Linke AD Legendum 2016, 332, 233 ff.; krit. Alexy Theorie der Grundrechte 2. Aufl., 1994, 477 ff.; Michl Jura 2017, 1062, 1064 f. 2 Grundlegend Canaris AcP 184 (1984) 201, 225 ff. im Anschluss an das erste Urteil des BVerfG zur Reform der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs gem. § 218 StGB, BVerfGE 39, 1, 42 ff. 3 Rüfner in FS Martens, 1987, 215, 224 ff. 4 Dreier Jura 1994, 505.
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grundsätzlich keine Grundlage, da sich die Rechtssubjekte im Privatrechtverkehr auf der Ebene der Gleichordnung bewegen. 1. Grundrechtsschutz gegenüber sozialer Macht Die Anhänger der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte vertraten dennoch die Auffassung, dass ein Schutz gegenüber Privaten jedenfalls dann gerechtfertigt sei, wenn Private über eine vergleichbare Machtposition wie der Staat verfügten. Diese Voraussetzung sei etwa im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegeben. Insofern war es kein Zufall, dass die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung früher vor allem vom Bundesarbeitsgericht5 vertreten wurde sowie von Nipperdey,6 dem ersten Präsidenten des BAG. Auch der Bundesgerichtshof hat zunächst der Sache nach die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung vertreten, indem er das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als sonstiges Recht im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB anerkannte und Rechtsschutz gegenüber Eingriffen durch andere Privatrechtssubjekte gewährte. Nach diesem Konzept handelte es ich bei der Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts um eine unerlaubte Handlung.7 2. Keine Grundrechtsbindung von Privatrechtssubjekten Gegen diese Gleichsetzung von staatlicher Gewalt und sozialer Macht spricht, dass der Schutz der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 2 GG die Verpflichtung „aller staatlichen Gewalt“ ist und die nachfolgenden Grundrechte gem. Art. 1 Abs. 3 GG „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“ binden, also gerade nicht die Privatrechtssubjekte.8 Außerdem eignet sich die Schrankensystematik des Grundrechtskatalogs nur für staatliche Eingriffe, nicht für solche durch Private. Diese verfolgen weder Gemeinwohlinteressen, noch besitzen sie die Kompetenz, von den Ge5 BAGE 1, 185, 193 f.; 4, 240, 243; 4, 274, 276; 13, 168, 174; BAG AP Nr. 1 zu Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie; Wall/Wagner JA 2011, 734, 735. Inzwischen folgt das BAG auch der h.L. von der mittelbaren Drittwirkung, vgl. BAG NZA 1985, 702, 703 (unter C I 2); 2002, 397, 401. 6 RdA 1950, 121, 124 ff.; ders. in FS Molitor, 1962, 17, 25 f.; für eine unmittelbare Geltung der Grundrechte im Privatrecht auch Leisner Grundrechte und Privatrecht, 1960, 113 ff.; Schwabe Die sog. Drittwirkung der Grundrechte, 1971, 19 ff., zusammenfassend 154 ff.; ders. AöR 100 (1975) 442, 444 ff. (Eingriffe in Grundrechte auch im Privatrecht als Resultat staatlicher Rechtsmacht, dazu auch unten Fn. 10); Hager JZ 1994, 373, 376 (aus Gründen der Normenhierarchie); für eine Auffächerung der Grundrechtsgeltung nach den verschiedenen Grundrechtsfunktionen (Institutsgarantie, Abwehrfunktion und Schutzauftrag) Ruffert Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, 69 f. und im Detail 75 ff. 7 BGHZ 13, 334, 338; 24, 72, 76 f.; 27, 284, 285. 8 Canaris AcP 184 (1984) 201, 203 f.
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setzesvorbehalten in Art. 2 Abs. 2 S. 2, 5 Abs. 2 und 12 Abs. 1 S. 2 GG Gebrauch zu machen. 3. Grundrechtskontrolle bei gestörter Vertragsparität Eine gewisse Berechtigung ist dem Gedanken der sozialen Macht allerdings nicht abzusprechen. Das zeigt schon das reiche Instrumentarium des Zivil- und Wirtschaftsrechts, das dazu dient, soziale Macht zu bändigen, insbesondere im Arbeitsrecht und im Verbraucherrecht. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass der Schutz des Schwächeren durch den Gesetzgeber durchaus unvollkommen ist. Es ist der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verdanken, dass privatrechtlichen Vereinbarungen, die unter dem Einfluss von sozialem Druck zustande gekommen sind, zum Schutze der verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsfreiheit die Anerkennung versagt wurde. Wer gezwungen ist, für einen Ehemann oder den Vater eine Bürgschaft zu übernehmen, damit dieser einen dringend benötigten Kredit bekommt, weiter Geschäfte machen und seinen Lebensunterhalt verdienen kann, befindet sich in einem unlösbaren Konflikt zwischen familiärer Verbundenheit und wirtschaftlicher Vernunft. Das Bundesverfassungsgericht nimmt auf diese „strukturelle Unterlegenheit“ des Bürgen Rücksicht und beschränkt die Vertragsfreiheit des einen zum Schutze der verfassungsrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 GG garantierten Selbstbestimmungsfreiheit des anderen.9 Es ist also durchaus nachvollziehbar, dass das Grundrecht der Vertragsfreiheit dazu mobilisiert wird, der Fremdbestimmung in sozialen Ungleichgewichtslagen Grenzen zu setzen. Aber es handelt sich hier nicht um einen Eingriff, der mit öffentlicher Gewalt vergleichbar ist und von staatlicher Gewalt ausgeht,10 sondern um eine Lage, in der private Selbstbestimmung Schutz verdient. Mit anderen Worten: es geht nicht um die Grundrechte als Eingriffsverbote, sondern um ihre Rolle als Schutzgebote, die einen anderen – gesetzeskonformen – Anknüpfungspunkt haben als die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung, weil der Staat Adressat der Schutzgebote ist.11
9 BVerfGE 89, 214 (229 ff.); s. bereits BVerfGE 81, 242 (254 ff.) – HandelsvertreterEntscheidung; diese Entscheidungen prägen inzwischen das Sozialmodell des BGB vgl. Singer in Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2010, 981 ff. 10 Dies gilt auch für die Lehre von Schwabe für den erlaubtes privates Handeln zwangsläufig auf staatlicher Ermächtigung beruht, so dass die Grundrechte – unmittelbar – in ihrer Abwehrfunktion mobilisiert werden könnten (Fn. 6, 19 ff., 45 ff.); gegen diese Verantwortung des Gesetzgebers für Eingriffe Privater mit Recht Canaris AcP 184 (1984) 201, 209; Alexy (Fn. 1), 416 ff.; Ruffert (Fn. 6), 18. 11 Vgl. dazu näher unten im Text unter III.
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II. Mittelbare Drittwirkung 1. Privatrechtswirkung der Grundrechte über die zwingenden Generalklauseln des BGB Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner älteren Rechtsprechung der von dem Tübinger Rechtswissenschaftler Günther Dürig entwickelten Lehre von der mittelbaren Drittwirkung angeschlossen.12 Ihr Grundgedanke besteht darin, dass die Grundrechte vor allem über die wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln des Privatrechts zur Anwendung kommen sollen. In der grundlegenden Entscheidung des BVerfG hatte der damalige Leiter der Pressestelle der Freien und Hansestadt Hamburg – Lüth – zu einem Boykott des Films „unsterbliche Geliebte“ des Nazi-Regisseurs Veit Harlan aufgerufen. Die Filmproduktionsgesellschaft und die Verleiherin des Films erwirkten beim Hamburger Landgericht eine einstweilige Verfügung, durch die Lüth gemäß § 826 BGB eine Verbreitung des Boykottaufrufs verboten wurde. § 826 BGB verpflichtet zum Schadensersatz, wer vorsätzlich unter Verstoß gegen die guten Sitten einem anderen einen Schaden zufügt. Auf die Verfassungsbeschwerde von Lüth hat das BVerfG das Urteil des Landgerichts aufgehoben, weil es bei der Anwendung des § 826 BGB dessen ehrenhaftes Motiv, sich von nationalsozialistischer Gesinnung zu distanzieren, und die dabei in Anspruch genommene, von Art. 5 GG gewährleistete Meinungsfreiheit nicht ausreichend gewürdigt habe. 2. Vager Prüfungsmaßstab und unmittelbare Bindung des Privatrechtsgesetzgebers Die Theorie der mittelbaren Drittwirkung hat berechtigte Kritik erfahren. Der Begriff ist vage und unbestimmt.13 Es fehlt bereits an einem Maßstab, an dem die Reichweite und – eingeschränkte – Wirkungskraft der Grundrechte gemessen werden könnte. Außerdem bindet die Verfassung zwar nicht die Privatpersonen, wohl aber den Privatrechtsgesetzgeber unmittelbar, nicht nur mittelbar. Dies folgt mit aller Klarheit aus Art. 1 Abs. 3 GG, der den Gesetzgeber – also auch den Privatrechtsgesetzgeber – der Bindung an die Grundrechte unterwirft. Soweit es um Eingriffe in Grundrechtspositionen geht, besteht auch kein Grund, zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Gesetzen zu unterscheiden. So ist es eine bare Selbstverständlichkeit, dass Beschränkungen der Privatautonomie wie zB das Recht des Vermie12 13
FS Nawiasky 1956, 157, 176 ff. Canaris Grundrechte 1999, 16 „mysteriös“.
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ters, ein Mietverhältnis zu kündigen, der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedürfen und daraufhin überprüft werden können, ob der Gesetzgeber ein legitimes Ziel des Gemeinwohls verfolgt und die Beschränkung der Privatautonomie zur Erreichung dieses Zieles geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ieS ist. Genau dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 8.1.1985 getan und dem Gesetzgeber attestiert, dass die Beschränkung der Kündigungsfreiheit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, weil sie dem vertragstreuen Mieter Schutz vor ungerechtfertigten Kündigungen unabhängig von der Lage auf dem Wohnungsmarkt gewähre14. Entsprechendes gilt für Mitbestimmungsregelungen im Betriebsverfassungsrecht und Beschränkungen der Vertragsfreiheit durch das AGG, die dementsprechend auch verfassungsrechtlich angegriffen worden sind.15 3. Unmittelbare Bindung der Rechtsprechung an die Grundrechte als Eingriffsverbote Die gleichen Grundsätze wie für den Privatrechtsgesetzgeber gelten für die Privatrechtsrechtsprechung. Zum einen gilt auch für die Rechtsprechung Art. 1 Abs. 3 GG, der die Bindung an die Grundrechte ausdrücklich auch für die Judikative anordnet. Zum anderen folgt die Notwendigkeit, Gerichtsentscheidungen an den Grundrechten zu messen, aus der Funktion der Judikative, die Gesetze anzuwenden und ihren Inhalt zu konkretisieren. Die dabei entwickelten Rechtssätze entsprechen – unabhängig von der rechtsquellentheoretischen Einordnung des Richterrechts – inhaltlich und funktional der Gesetzgebung.16 Es ist daher sachlich geboten, die Grundrechte als Eingriffsverbote nicht nur gegenüber Regelungen des Privatrechtsgesetzgebers zur Geltung zu bringen, sondern auch gegenüber Eingriffen, die sich mit letzter Klarheit erst aus dem Urteil eines Gerichts ergeben. Auf dem Prüfstand steht auch in diesem Fall das Gesetz in der Gestalt, wie es sich aus dem Urteil des Gerichts ergibt. Eine wichtige Konsequenz aus diesem Ansatz besteht darin, dass Gesetze und Gerichtsentscheidungen, die grundrechtliche Freiheiten beschränken, am Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu messen sind. Macht man damit Ernst, wird das Bundesverfassungsgericht zu einer Superrevisionsinstanz über Urteile der höchsten Zivilgerichte, namentlich des Bundesgerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts.17 Das Problem ist jedoch kein Spezifikum 14
BVerfGE 68, 361, 370 f. Zur Kritik am AGG vgl. Picker Karlsruher Forum 2004, 70 ff.; ders. ZfA 2005, 167 (177 ff.); Franzen Diskriminierungsverbote und Privatautonomie, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Jahresband 2004 (2005), 49 (67 f.). 16 Canaris JuS 1989, 162; ebenso Michl Jura 2017, 1062, 1065 ff. 17 Kritisch zur Rolle des Bundesverfassungsgerichts als „oberstes Zivilgericht“ Diederichsen AcP 198 (1998) 171 ff.; zur Rechtsprechung im Familienrecht Neuner FamRZ 2017, 15
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der Privatrechtsordnung, sondern stellt sich genauso bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Urteilen anderer Gerichtszweige. Im Übrigen ist es nur konsequent, Eingriffe in Grundrechte am Maßstab der Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit zu messen, da nur diese Kriterien einen Prüfungsmaßstab zur Verfügung stellen, der rationale Entscheidungen ermöglicht.
III. Grundrechte als Schutzpflichten Seit dem ersten Urteil des BVerfG zur Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs (§ 218 StGB) ist anerkannt, dass Grundrechte nicht nur Eingriffsverbote, sondern auch Schutzgebote darstellen.18 Dieser Ansatz kann auch für den Grundrechtsschutz bei kollidierenden Grundrechten als auch im Vertragsrecht herangezogen werden. 1. Die Grundrechte als Schutzgebote im Vertragsrecht a) Vertragsfreiheit und ihre Schranken im positiven Recht Zum Wesen der Vertragsfreiheit gehört, dass die Parteien sich selbst binden und sich in gewissem Umfang ihrer in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Freiheit begeben. Eine Rechtsordnung, die Vertragsfreiheit anerkennt, muss solche Entscheidungen zwangsläufig akzeptieren, auch wenn die eingegangene Bindung bei objektiver Betrachtung unvernünftig erscheinen mag. Schutzbedürftig ist aber ein Vertragspartner, wenn seine Willenserklärung nicht auf freier Selbstbestimmung beruht, sondern das Ergebnis von Fremdbestimmung ist.19 Es ist daher nur konsequent, dass das geltende Zivilrecht der Privatautonomie seit jeher Grenzen gesetzt hat. Wer getäuscht wird oder sich irrt, kann das Rechtsgeschäft anfechten. Gefährliche Geschäfte wie Bürgschaften sind nur gültig, wenn das Bürgschaftsversprechen schriftlich abgegeben wurde (§ 766 BGB), und Grundstücksverträge bedürfen sogar notarieller Beurkundung (§ 311b Abs. 1 BGB). Im Verbraucherrecht schützen Informations- und Belehrungspflichten sowie Widerrufsrechte bei situationsbedingten Gefährdungen durch Absatzstrate1805 ff.; zum „gleitenden Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“ Böckenförde in ders. Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, 159, 190 f. 18 BVerfGE 39, 1, 42 ff.; daran anknüpfend für die Drittwirkungslehre Canaris, AcP 184 (1984) 201, 225 ff.; vertiefend aus verfassungsrechtlicher Sicht Dietlein Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten 1992, 62 ff.; Ruffert (Fn. 6), 21 ff., 141 ff. 19 Singer in Staudinger BGB, 2017, Vorbem. 11 zu §§ 116 ff.; Canaris AcP 200 (2000) 273, 277 ff.
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gien des Unternehmers und bei gefährlichen Geschäftstypen wie Kreditverträgen und anderen Finanzierungshilfen.20 b) Der Schutz des Schwächeren durch das Bundesverfassungsgericht Trotz dieser weitgespannten Sicherheitsnetzes zum Schutze des Schwächeren traten immer wieder Lücken in Erscheinung, die das BVerfG in mehreren Urteilen Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts aufdeckte. Der erste Fall betraf ein vertraglich vereinbartes Wettbewerbsverbot für einen Handelsvertreter, der ausschließlich für ein bestimmtes Unternehmen tätig war und dieses – in Übereinstimmung mit § 90a Abs. 2 Satz 2 HGB – von der Zahlung einer Entschädigung befreite, wenn es das Vertragsverhältnis aus wichtigem Grund wegen schuldhaften Verhaltens des Handelsvertreters kündigte.21 Der zweite Fall betraf eine 21-jährige Bürgin, die für ihren Vater eine Bürgschaft über 100.000.- DM übernommen hatte, damit ihm von seiner Sparkasse Kredit für sein Unternehmen gewährt wurde. Die Konsequenzen waren für die Verpflichteten hart: der Handelsvertreter war ohne Entschädigung für die Einhaltung des vereinbarten nachvertraglichen Wettbewerbsverbots faktisch für zwei Jahre an einer Berufsausübung gehindert, und die junge Bürgin war mit ihrem geringen Einkommen nicht in der Lage, auch nur die Zinsen für die übernommene Schuld zu tilgen. Während die Zivilgerichte trotz der offensichtlichen Unterlegenheit des Handelsvertreters und der Bürgin in beiden Fällen der Auffassung waren, dass die vertraglichen Verpflichtungen mit Rücksicht auf das Prinzip „pacta sunt servanda“ eingehalten werden müssten, trat das Bundesverfassungsgericht dieser formalen Sicht entgegen und mobilisierte die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte. Habe einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, dass er vertragliche Regelungen faktisch einseitig setzen könne, bewirke dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung. Der Schutzauftrag der Verfassung richte sich hier an den Richter, der den objektiven Grundentscheidungen der Grundrechte in Fällen gestörter Vertragsparität mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen habe. Auf der Grundlage der Rechtsprechung im Handelsvertreter- und Bürgschaftsfall lag es nahe, auch Eheverträge, die eine ungleiche Lastenverteilung für einen der beiden Ehegatten zur Folge hatten, einer Angemessenheitskontrolle zu unterwerfen, wenn es Hinweise auf ein fehlendes Kräftegleichgewicht gibt. Diese Voraussetzungen waren erfüllt, wenn ein einseitig belastender Ehevertrag vor der Ehe und im Zusammenhang mit der Schwangerschaft der benachteiligten Frau geschlossen worden ist. Eine 20
Vgl. nur Bülow/Artz Verbraucherprivatrecht, 5. Aufl. 2016, Rn. 12 und 26. BVerfGE 81, 242 (255 f.). -Vgl. dazu kritisch Zöllner AcP 196 (1996) 1, 9 ff.; ders. Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat 1996, 36 f. 21
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strukturelle Unterlegenheit ist nach Ansicht des Gerichts regelmäßig anzunehmen, „wenn eine nicht verheiratete schwangere Frau sich vor die Alternative gestellt sieht, in Zukunft entweder allein für das erwartete Kind Verantwortung und Sorge zu tragen oder durch Eheschließung den Kindesvater in die Verantwortung einzubinden, wenn auch um den Preis eines mit ihm zu schließenden, sie aber stark belastenden Ehevertrages“.22 2. Schutzpflichten bei Eingriffen von Privatrechtssubjekten Die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte kann nicht nur bei Störungen der Vertragsparität mobilisiert werden, also in Fällen, in denen privatautonomer Selbstschutz versagt, sondern auch bei Eingriffen durch Privatrechtssubjekte. Da diese nicht an Grundrechte gebunden sind, kommen die Grundrechte nicht in ihrer Funktion als Eingriffsverbote zur Geltung, sondern als Schutzgebote. Ein solcher Schutz ist zB erforderlich, wenn ein Presseunternehmen durch einen politisch motivierten Boykottaufruf eines Konkurrenzunternehmens in der Wahrnehmung seiner Pressefreiheit gehindert wird wie dies bei der Zeitung Blinkfüer der Fall war. Da die Zeitung auch nach dem Bau der Berliner Mauer weiterhin ostdeutsche Fernseh- und Rundfunkprogramme abdruckte, drohte der Springer-Verlag den Zeitungshändlern, die sich dem Boykott nicht anschlossen, mit dem Abbruch der Geschäftsbeziehungen. Während der BGH die Schadensersatzklage von Blinkfüer abgewiesen hatte, erkannte das BVerfG, dass die Pressefreiheit den Schutz der Presse gegenüber Versuchen erfordere, den Wettbewerb der Meinungen durch wirtschaftliche Druckmittel auszuschalten.23 Eine Güterabwägung ist zwar nicht entbehrlich,24 fällt aber eindeutig zugunsten von Blinkfüer aus, da sich Springer nicht der durch Art. 5 GG geschützten Mittel des geistigen Meinungskampfes bediente, sondern unlauterer Methoden, die unschwer als sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB) zu qualifizieren sind und daher nicht den Schutz der Rechtsordnung genießen sollten. 3. Das Untermaßverbot als Prüfungsmaßstab für grundrechtliche Schutzpflichten Im Unterschied zur Funktion der Grundrechte als Eingriffsverbote kommt es bei der Funktion als Schutzgebote nicht auf die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Grundrechtsbeeinträchtigung an. Diese Kriterien passen nur bei staatlichen Eingriffen, nicht bei solchen 22
BVerfGE 103, 89, 102; s. ferner BVerfG NJW 2001, 2248; Schwenzer AcP 196 (1996) 88, 108 ff. 23 BVerfGE 25, 256, 268. 24 Canaris JuS 1989, 161, 168.
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von Privatrechtssubjekten. Canaris hat daher vorgeschlagen, die Notwendigkeit des Grundrechtsschutzes nicht an dem für Eingriffe allgemein anerkannten „Übermaßverbotes“ zu messen, sondern stattdessen an dem von ihm so genannten „Untermaßverbot“.25 a) Schwächere Wirkungskraft der Schutzgebote? Dieses soll vor allem ausdrücken, dass die Wirkungskraft der Schutzgebotsfunktion grundsätzlich „schwächer“ sei als die Eingriffsverbotsfunktion. Da es sich um ein Unterlassen des Gesetzgebers handele, bedürfe es einer begründungsbedürftigen Rechtspflicht zum Handeln. Darüber hinaus bestünde gleichsam natürliche Grenzen des Schutzes, weil ein umfassender Schutz der Bürger „faktisch gar nicht möglich“ sei und schließlich müsse man dem Gesetzgeber einen Gestaltungspielraum zubilligen, wie er seiner Schutzpflicht nachkomme. Praktisch wirke sich das dahingehend aus, dass mit diesem „schwächeren“ Instrument der Eigenständigkeit des Privatrechts und der Privatautonomie in erforderlichem Maße Rechnung getragen werden könne. b) Das Verhältnis von Untermaßverbot und Übermaßverbot An dem Kriterium des Untermaßverbotes stört, dass es anders als das Prinzip der Verhältnismäßigkeit keinen justiziablen Maßstab gibt, anhand dessen man beurteilen kann, ob das Untermaßverbot verletzt ist oder nicht26. Canaris nennt zwar eine Reihe von Kriterien wie zB die tatbestandliche Einschlägigkeit eines Grundrechts, das Schutzbedürfnis und die Art und den Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts. Aber die Frage, ob ein Schutzbedürfnis besteht oder nicht, erfordert kein bestimmtes „Maß“, auch kein Untermaß, sondern ist elementare Voraussetzung für die Feststellung einer Schutzpflicht. Das rechte Maß des Schutzes stellt sich erst auf der zweiten Ebene, wenn nämlich geprüft werden muss, ob eine Schutzpflicht Interessen Dritter, insbesondere die anderer Privatrechtssubjekte berührt. Canaris stellt demgegenüber die Frage, ob der bestehende Schutz durch das einfache Recht wirksam und angemessen ist. Dabei habe der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, weil dieser von Verfassungswegen nur zu einem Mindestschutz verpflichtet sei. Indessen leuchtet nicht ein, warum aus dem Bestehen von Schutzpflichten nur folgen soll, dass diese einen Minimalschutz verwirklichen sollen.27 Wenn ein Grundrecht von Privaten verletzt wird, besteht aus der Perspektive des 25 Canaris AcP 184 (1984) 201, 228; ders. JuS 1989, 161, 163 und Grundrechte 1999, 43 ff.; ihm folgend Ruffert (Fn. 6), 208 ff., 218 ff. 26 Kritisch Dietlein (Fn. 18), Vorbem. zur 2. Aufl. 2005, S. II; ders. ZG 1995, 131, 141. 27 Der für notwendig erachtete Freiraum des Gesetzgebers (Ruffert Fn. 6, 219 und öfter) besteht in Wahrheit nicht, wenn der Schutz erforderlich ist.
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Grundrechtsschutzes ein Anspruch auf einen voll wirksamen, effektiven Schutz. Erst wenn dieser Schutz mit gegenläufigen Interessen in Konflikt gerät, besteht ein Bedürfnis, den Grundrechtsschutz des einen mit dem Grundrechtsschutz des anderen in ein rechtes Verhältnis zu setzen. Da es aus der Perspektive des anderen um einen Eingriff in seine Rechte geht, ist das Übermaßverbot der geeignete Maßstab, um die Schutzpflicht zu begrenzen. Hinter dem Untermaßverbot verbirgt sich daher in Wahrheit ein Übermaßverbot, bei dem die Interessen des zu Schützenden mit den Interessen Drittbetroffener in Ausgleich zu bringen sind. Der Vorteil dieser Betrachtungsweise ist, dass sie einen Maßstab für die Bestimmung der Reichweite der Schutzpflicht liefert, der dem Untermaßverbot fehlt. Insofern kommt es auf der Ebene der Abwägung mit den Grundrechten anderer auch bei der Mobilisierung der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, die sich im Rahmen der bewährten Kategorien der Grundrechtskontrolle – Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – bewegt und daher eine rationale Handhabung des „Untermaßverbotes“ ermöglicht, wenn man an dem Begriff festhalten möchte. Am Beispiel des Lüth-Falles kann man zeigen, dass die Anwendung der Grundrechte als Eingriffsverbote und Schutzgebote zu identischen Ergebnissen führt. Darf Lüth zum Boykott aufrufen, stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber eine Schutzpflicht zugunsten Veit Harlans und der Theaterbetreiber hat. Das kann man – entgegen Canaris, der hier die Grundrechte von Harlan und der Theaterbesitzer nur als „berührt“ ansieht – bejahen, weil diese vor Eingriffen in ihre Kunst- und Berufsfreiheit geschützt werden sollen. Wenn man diese schützen und ihnen demzufolge ein Abwehrrecht gegen den Boykottaufruf sowie Schadensersatzansprüche zubilligen wollte, würde man jedoch zugleich in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit des Lüth eingreifen. Ob dieser Eingriff gerechtfertigt wäre, hinge wiederum davon ab, ob das zum Schutze der gewerblichen Interessen der Theaterbesitzer verhängte Boykottverbot verhältnismäßig wäre. Man käme also zur exakt gleichen Prüfung wie sie das BVerfG im Ausgangsfall vorgenommen hat, als es die Verfassungsmäßigkeit des gegen Lüth gerichteten Verbots des Boykottaufruf prüfte. Untermaßverbot und Übermaßverbot sind daher zwar nicht deckungsgleich, führen aber nach der hier vertretenen Lösung im Ergebnis zur Anwendung des gleichen Prüfungsmaßstabs – nur auf systematisch unterschiedlichen Prüfungsstufen. Der Freiraum des Gesetzgebers resultiert bei Schutzpflichten, die sich auf das Rechtsverhältnis unter Privatrechtssubjekten auswirken, daraus, dass er die Freiheit derer beachten muss, die von Eingriffen als Folge von Schutzmaßnahmen betroffenen sind. Schutzpflichten, die nur durch den Einsatz staatlicher Mittel zu bewältigen sind, müssen darüber hinaus beachten, dass die staatlichen Mittel begrenzt sind und kein individueller Anspruch darauf
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besteht, dass der Staat unbegrenzt Haushaltsmittel zur Verfügung stellt. Um eine vergleichbare Grenzziehung geht es bei der Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht auch, wenn von Dritten verlangt wird, dass sie Mittel zum Schutze von Grundrechten, zB des Persönlichkeitsrechts, einsetzen. Verlangen muss man aber, dass der Staat oder Dritte Mittel einsetzen, wenn der abzuwehrende Schaden größer wäre als der Aufwand, den der Schutz erfordert. Auch bei dieser Abwägung liefert das Prinzip der Verhältnismäßigkeit den geeigneten Prüfungsmaßstab für die Begründung und zugleich die Begrenzung der Schutzpflichten. 4. Schutzpflichten im europäischen Recht Dass sich die Lehre von den Schutzpflichten auch bei den europäischen Grundrechten bewährt, demonstriert die Google-Spain Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Recht auf Vergessenwerden.28 Der spanische Staatsbürger Costeja González verlangte im Jahre 2010 von dem Suchmaschinenbetreiber Google die Beseitigung eines Links, der den Benutzer bei Eingabe seines Namens auf zwei Seiten einer Tageszeitung führte, die 1996 über eine bevorstehende Versteigerung seines Grundstücks wegen rückständiger Sozialabgaben informierte. Der EuGH leitete aus Art. 7 (Schutz der Privatsphäre) und Art. 8 (Schutz personenbezogener Daten) der europäischen Grundrechte-Charta (GrCh) das Recht auf Schutz personenbezogener Daten ab, das bei der Auslegung der europäischen Datenschutzrichtlinie, die am 25. Mai 2018 durch die Datenschutzgrundverordnung abgelöst wurde, zu berücksichtigen ist. Art. 12 lit. b der RL 95/46 garantierte das Recht, von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen je nach Fall die Berichtigung, Löschung oder Sperrung von Daten zu erhalten, deren Verarbeitung nicht den Bestimmungen der Richtlinie entspricht. Gem. Art. 6 der RL 95/46 hatte der für die Verarbeitung Verantwortliche dafür zu sorgen, dass die personenbezogenen Daten „nach Treu und Glauben und auf rechtmäßige Weise verarbeitet werden … und nicht länger, als es für die Realisierung der Zwecke, für die sie erhoben oder weiterverarbeitet werden, erforderlich ist, in einer Weise aufbewahrt werden, die die Identifizierung der betreffenden Personen ermöglicht“.29 Daraus leitet der EuGH ab, dass auch wahrheitsgemäße Daten nicht länger zugänglich sein dürfen, als es für die Realisierung der Zwecke, für die sie erhoben oder weiterverarbeitet werden, erforderlich sei (Grundsatz der Zweckbindung). Wegen der Schwere des 28 EuGH NJW 2014, 2257; vgl. dazu Kühling EuZW 2014, 527; Ziebarth ZD 2014, 394; Boehme-Neßler NVwZ 2014, 825; Streinz JuS 2014, 1140 (zustimmend); Hoeren ZD 2014, 325; Masing, verfassungsblog.de/ribverfg-masing-vorlaeufige-einschaetzung-der-googleentscheidung-des-eugh/ (kritisch); zusammenfassend Singer/Beck Jura 2019, 125 mit ausführlichen Nachweisen. 29 EuGH NJW 2014, 2257, 2262 Rn. 72.
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Eingriffs könne dieser nicht mit dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers gerechtfertigt werden.30 Vielmehr sei das Interesse des Betroffenen mit den Interessen der Internetnutzer in Ausgleich zu bringen. Im Allgemeinen würde das Interesse des Betroffenen überwiegen, doch gebe es auch Konstellationen, in denen das Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zur Information überwiege, je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spiele.31 Da im vorliegenden Fall kein besonderes Interesse der Öffentlichkeit ersichtlich sei, habe der Betroffene wegen der Sensibilität der Daten, die 16 Jahre zurückliegende Vorgänge beträfen, ein Recht darauf, dass der Link aus der Ergebnisliste entfernt werde. Auch wenn man daran zweifeln kann, ob die Öffentlichkeit kein berechtigtes Interesse daran haben soll, über frühere Liquiditätsprobleme eines Geschäftsmannes informiert zu werden, verdient der konstruktive Ansatz des EuGH Zustimmung: Der EuGH bejaht also ganz auf der Linie der hier vertretenen Position in einem ersten Schritt eine aus der Grundrechtecharta abgeleitete Pflicht zum Schutz personenbezogener Daten, die nicht nur den Betreiber der fraglichen Internetseite betrifft, sondern auch den Suchmaschinenbetreiber, der durch die Herstellung der Verknüpfung der Information mit dem Namen des Betroffenen maßgeblichen Anteil an der Verbreitung der Information hat. In einem zweiten Schritt wird dann geprüft, ob dieser Schutz in unverhältnismäßiger Weise in Grundrechte Dritter – hier des Suchmaschinenbetreibers und der Internetnutzer – eingreift. Prüfungsmaßstab ist also auch bei der Schutzgebotsfunktion der europäischen Grundrechte das Übermaßverbot. 5. Grundrechte als Teilhaberechte im Privatrecht Seit kurzem ist vom Bundesverfassungsgericht eine weitere Dimension der Grundrechtswirkungen im Privatrecht entwickelt worden, die dieses in besonderem Maße herausfordert, weil sie Private direkt in Anspruch nimmt. Es handelt sich um die Ausdehnung der Horizontalwirkung der Grundrechte auf ihre Leistungs- und Teilhabedimension.32 Nach Ansicht der Verfassungsrichter erfordert die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit eine Begrenzung der Befugnisse des privaten Eigentümers, wenn dieser einen Ort der allgemeinen Kommunikation geschaffen und damit Funktionen übernommen hat, die früher allein dem Staat vorbehalten waren. Die Rechtfertigung der Drittwirkung besteht hier in einer Analogie von staatlicher und privater Aufgabeerfüllung. Im Fraport-Urteil33 hat das BVerfG daher 30
EuGH NJW 2014, 2257, 2263 Rn. 81. EuGH NJW 2014, 2257, 2264 Rn. 97. 32 Wegen der Staatsgerichtetheit der Teilhaberechte ablehnend noch Ruffert (Fn. 6), 261 f.; skeptisch auch Smets NVwZ 2019, 35, 37; Michl JZ 2018, 910, 916 f. 33 BVerfGE 128, 226. 31
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die zu über 70% in öffentlicher Hand befindliche Fraport AG im Grundsatz für verpflichtet gehalten, die Durchführung von Versammlungen zu dulden, wenn der betreffende Versammlungsort dem öffentlichen Verkehr gewidmet ist. Einschränkungen der Versammlungsfreiheit müssten dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechen wie dies zB bei Beschränkungen der Teilnehmerzahl mit Rücksicht auf die örtlichen Verhältnisse der Fall sei. Dagegen sei ein umfassendes Flughafenverbot unverhältnismäßig34. Während im Fraport-Urteil die Grundrechte unmittelbar zur Anwendung kamen, weil die Fraport-AG sich überwiegend im Besitz der öffentlichen Hand befindet, ging es bei dem geplanten Bierdosenflashmob für die Freiheit um eine Versammlung auf einem in Privateigentum befindlichen Platz, dem Nibelungenplatz in Passau.35 Das BVerfG erkannte im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes an, dass auch Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung wie der Staat durch die Grundrechte in Anspruch genommen werden könnten, wenn diese Funktionen übernähmen, die früher allein dem Staat vorbehalten waren. Auch hier war es also die funktionelle Gleichwertigkeit von privatem und staatlichem Handeln, das die Anwendung der Grundrechte rechtfertigen soll. Betroffen ist in diesen Fällen die Leistungsdimension der Grundrechte, da die Versammlungsfreiheit nicht durch Dritte beeinträchtigt wird wie dies bei der Schutzgebotsfunktion der Fall ist, sondern weil die Ausübung der Versammlungsfreiheit die Inanspruchnahme Dritter erfordert. Das Bundesverfassungsgericht schließt hier eine Lücke, die dadurch entstanden ist, weil Private Einrichtungen schaffen und unterhalten, die „früher allein dem Staat vorbehalten waren“. Im Schrifttum wird insbesondere kritisiert, dass es an einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung für die Inpflichtnahme Privater fehle.36 Das ist indessen nur bei einem formalen Verständnis des Art. 1 Abs. 3 GG der Fall. Indem das BVerfG als maßgebliches Kriterium auf die Funktionsgleichheit privater und öffentlicher Betätigung abstellt, bietet es sehr wohl eine verfassungsrechtliche Legitimation, die in ihrer tatbestandlichen Begrenztheit auf funktionsgleiches Auftreten privater Akteure auch nicht zu einer ubiquitären Gleichsetzung von staatlicher und privater Grundrechtsbindung führt. Es ist daher nachvollziehbar, dass die Versammlungsfreiheit das Recht einschließt, sich auch an Orten zu versammeln, die dem privaten Herrschaftsbereich von Privatrechtssubjekten zuzuordnen sind. Ein entsprechendes Leistungsrecht setzt voraus, dass auch im Privateigentum stehende Plätze für den öffentlichen Verkehr gewidmet sind und 34 BVerfGE 128, 226, 261 ff.; kritisch das Sondervotum des Richters Schluckebier, aaO. 276; die „Ausweitung des öffentlichen Kommunikationsraums auf privatrechtsförmig betriebene kommunikative Fora“ hingegen unterstützend J. P. Schaefer Der Staat 51 (2015) 251, 277. 35 BVerfG NJW 2015, 2485. 36 Michl JZ 2018, 910, 916.
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dadurch zum „öffentlichen Raum“ gehören, erlaubt aber nur Einschränkungen des Hausrechts, die verhältnismäßig sind. Das gleiche Schema kommt zum Zuge bei dem aktuellsten Beispiel aus der Rechtsprechung des BVerfG, das sich mit dem Stadionverbot für einen Fußballfan, der zur Unterstützerszene der Ultras gehörte, befasst.37 Zurecht hat das BVerfG aus Art. 3 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben abgeleitet. Wer über ein faktisches Monopol verfügt, darf Privatpersonen nicht ohne sachlichen Grund aufgrund seines Hausrechts von Veranstaltungen ausschließen, wenn diese ohne Ansehen der Person einem großen Publikum geöffnet werden. Die Gründe, die zivilrechtliche die Einschränkung der Vertragsfreiheit rechtfertigen und dem Inhaber einer Monopolstellung einen Kontrahierungszwang auferlegen, sind die gleichen, die verfassungsrechtlich die Durchsetzung des Gleichbehandlungsgebotes gem. Art. 3 Abs. 1 GG gebieten. Hier wie dort geht es um das Versagen der Funktionsvoraussetzungen der Vertragsfreiheit aufgrund der Monopol- und Machtstellung38 eines Beteiligten. Die Teilhabefunktion der Vertragsfreiheit verbietet es Monopolisten, Einzelne von der Teilhabe öffentlich angebotener Güter und Leistungen auszuschließen. Dass ein Stadionverbot gerechtfertigt ist, wenn der Ausschluss auf einem sachlichen Grund beruht, entspricht wiederum allgemein anerkannten zivilrechtlichen Grundsätzen. Insofern genügte mit Recht die Besorgnis, dass der Adressat eines Stadionverbotes künftig Störungen verursachen werde. Mit dem Erfordernis eines sachlichen Grundes verbinden sich verfahrensrechtliche Anforderungen wie die – ggf. nachträgliche – Anhörung des Betroffenen und ein auf Tatsachen beruhender Anfangsverdacht. Die dogmatische Fortentwicklung der Drittwirkungslehre bei der teilhaberechtlichen Dimension der Grundrechte weist unverkennbar Parallelen zur Instrumentalisierung der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte auf. So wie der Staat verpflichtet ist, Grundrechte vor Eingriffen Privater zu schützen, insbesondere wenn diesen Selbstschutz nicht möglich ist, so ist er verpflichtet, die Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben zu ermöglichen, auch wenn sich der Anspruch gegen Private richtet.39 Bleibt der Gesetzgeber untätig und vernachlässigt die Ausgestaltung der Grundrechte in der ihr zukommenden Funktion, obliegt es – wie das BVerfG in der Handelsvertreter- und Bürgschaftsentscheidung in Bezug auf die Schutzgebotsfunktion formuliert hat – dem Richter, dem Grundrecht unmittelbar zur Durchsetzung verhelfen. Bei dieser Aktivierung der Grundrechte als Schutzgebote handelt es sich der Sache nach um eine unmittelbare Drittwir37
BVerfG NJW 2018, 1667. Dieser Umstand wird übereinstimmend als tragfähiger Faktor für die Inpflichtnahme Privater gesehen, vgl. Michl JZ 2018, 910, 916 f.; Smets NVwZ 2019, 35, 37; 39 Für entsprechende Bestimmungen über „Öffentliche Verkehrsflächen in Privateigentum“ in den Versammlungsgesetzen folgerichtig Enders JZ 2011, 577, 580. 38
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kung. Diese ist auch im Hinblick auf die Privatautonomie unbedenklich, weil sie von der wichtigen Voraussetzung abhängig ist, dass die Funktionsvoraussetzungen der Privatautonomie gestört sind. Auch bei der Aktivierung der Teilhabefunktion der Grundrechte geht es um deren unmittelbare Drittwirkung. Teilhabe bedeutet nur gleichberechtigte Teilhabe, setzt also voraus, dass der in Anspruch genommene Private – wie der Staat – einen öffentlichen Raum schafft (in dem man sich versammeln kann) oder ein Monopol besitzt, das ein Ausweichen auf andere Anbieter unmöglich oder unzumutbar erscheinen lässt. Insofern besteht wie bei der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte kein Anlass zur Sorge, dass die Vertragsfreiheit durch diese teilhaberechtliche Dimension der Grundrechte unverhältnismäßig beeinträchtigt würde.40 Die Teilhabefunktion der Grundrechte kommt gegen Private nur zur Geltung, wenn diese eine Rechtsstellung oder Funktion einnehmen, die staatlicher Leistungsgewährung vergleichbar ist oder wo die Funktionsvoraussetzungen der Privatautonomie aufgrund der Monopolstellung des Anspruchsgegners beeinträchtigt sind. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte besteht im Hinblick auf Art. 1 Abs. 3 GG darin, dass die soziale Macht der privaten Monopole der des Staates vergleichbar ist und zwischen dem Auftreten privater und öffentlicher Akteure Funktionsgleichheit besteht.
IV. Zusammenfassung 1. Gem. Art. 1 GG ist nur die öffentliche Gewalt, also insbesondere Gesetzgebung und Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden, nicht aber Privatrechtssubjekte. Die Theorie der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte ist daher abzulehnen, soweit sie Privatrechtssubjekte in die Pflicht nimmt. 2. Die h.M. folgt der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte, verfügt aber nicht über einen justiziablen Prüfungsmaßstab und verkennt, dass der Gesetzgeber und – bei der Interpretation von Gesetzen – auch der Richter an die Grundrechte unmittelbar gebunden sind. Diese kommen daher als Eingriffsverbote gegenüber Gesetzen und Gerichtsentscheidungen zur Anwendung. Prüfungsmaßstab ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip. 3. Die Grundrechte begründen auch Schutzgebote für den Gesetzgeber und – wenn dieser untätig ist – für den Richter. Schutzpflichten bestehen gegenüber Eingriffen Dritter, soweit privatautonomer Selbstschutz nicht möglich ist. 40
Zustimmend auch Muckel JA 2018, 556; Heldt NVwZ 2018, 818, 819.
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4. Die Teilhabefunktion von Grundrechten beinhaltet ebenfalls das Gebot, die betreffenden Grundrechte wie zB die Versammlungsfreiheit und das Grundrecht auf Gleichbehandlung zur Entfaltung zu bringen, soweit dies auch gegenüber Privaten gerechtfertigt ist; diese Funktion kommt nur in besonderen Fällen zum Tragen, wenn nämlich Private eine Rechtsstellung oder Funktion einnehmen, die staatlicher Leistungsgewährung vergleichbar ist. 5. Die Grenzen von Schutzpflichten und Teilhaberechten bilden insbesondere die Rechte Dritter. Eingriffe in deren Rechte sind daher nur zulässig, wenn die Interessen des Geschützten die Interessen des Schutzpflichtigen überwiegen. Prüfungsmaßstab ist dabei das Verhältnismäßigkeitsprinzip und nicht das kaum justiziable „Untermaßverbot“.
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Haftung für Robo Advice GERHARD WAGNER UND LINA LUYKEN
I. Einführung Die Jubilarin äußerte in einem Beitrag aus dem Jahre 2010 ihren Unmut über die Bezeichnung des im Jahr 2008 verabschiedeten Gesetzes „zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken (Risikobegrenzungsgesetz).“ Ein solcher Titel sei „grober Unfug“, denn er verführe zu dem unrichtigen Schluss, Finanzmarktrisiken ließen sich durch Gesetze begrenzen.1 Es steht zu vermuten, dass ihr Urteil über manche Blüten der Digitalisierungsdebatte ähnlich ausfällt, denn auch hier erweckt die Rede vom Risiko mitunter falsche Erwartungen. Während einige vor allem die Risiken digitaler Techniken betonen, und die erheblichen Gefahren herkömmlicher Techniken und Verfahren gerne unter den Tisch fallen lassen, versprechen die Fortschrittsbegeisterten eine mehr oder weniger risikofreie und in diesem Sinne „cleane“ Welt. Die Jubilarin wird weder das eine noch das andere glauben, sondern auf einer nüchternen Analyse bestehen. In diesem Sinne sind die folgenden Überlegungen gemeint. Ein Pfad, auf dem die Digitalisierung die Kapitalmärkte und ihr Recht erreichen, sind die sog. Robo Advisors, die im Bereich der Vermögensberatung und -verwaltung bewirken sollen, dass „Anleger vor emotional getriebenen und daher suboptimalen Anlageentscheidungen [geschützt werden]“.2 Robo Advisor(y) oder Robo Advice3 ist die digitalisierte und automatisierte oder sogar autonome Vermögensberatung und -verwaltung durch ein Computerprogramm.4 Robo Advisor sollen den fehleranfälligen und kosten1
Windbichler Kapitalmärkte als Vorsorgeinstrument: „Risikobegrenzung“ durch Rechtsnormen? in Münkler/Bohlender/Meurer, Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge, 2010, 200 f. 2 So der deutsche Marktführer Scalable Capital auf seiner Internetseite (“Was ist ein Robo-Advisor?“), zuletzt aufgerufen am 8.4.20 unter https://de.scalable.capital/roboadvisor. 3 Zu den sprachlichen Unterschieden zwischen „Robo Advisor“, „Robo Advisory“ und „Robo Advice“ vgl. Möslein/Lordt ZIP 2017, 793 ff. Im hiesigen Beitrag wird das System als solches „Robo Advisor“ oder „Robo Advisory“ genannt, die Anlageempfehlung (das Ergebnis) „Robo Advice“. 4 BaFin Robo-Advice und Auto-Trading, Plattformen zur automatisierten Anlageberatung und automatischem Trading, zuletzt aufgerufen am 8.4.20 unter https://www.
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intensiven menschlichen Kapitalanlageberatern der örtlichen Bankfiliale Konkurrenz machen und diese auf Sicht ablösen. Neben der Einsparung von Personalkosten und der Verbesserung der Beratungsqualität versprechen Robo Advisor einer Klientel Zugang zu professionellen Kapitalanlagedienstleistungen, der dies bisher verschlossen blieb: Anders als viele herkömmliche Banken, die beratende und verwaltende Finanzdienstleistungen erst für kapitalschwere Anleger anbieten, können Robo Advisor von Personen genutzt werden, die lediglich über kleines Geld verfügen.5 Entsprechend groß ist das Echo in den Medien6 und in der juristischen Fachpresse7 und der Erfolg von Roboterberatern an den Märkten: In den USA verwalteten Robo Advisor Anfang 2020 bereits über US-$ 1 Billion,8 und in Deutschland wurden etwa US-$ 13 Milliarden mittels Robo Advisory angelegt.9 Im juristischen Kontext standen bislang die aufsichtsrechtlichen Aspekte der Robo Advisors im Vordergrund, etwa die Frage, ob diese trotz andersbafin.de/DE/Aufsicht/FinTech/Anlageberatung/anlageberatung_node.html; ESMA Final Report: Guidelines on certain aspects of the MiFID II suitability requirements vom 28.5.2018, 33, zuletzt aufgerufen am 8.4.20 unter https://www.esma.europa.eu/pressnews/esma-news/esma-publishes-final-guidelines-mifid-ii-suitability-requirements; Kumpan in Möslein/Omlor, FinTech-Handbuch, 2019, 352; Levine/Mackey The CPA Journal, Bd. 87 (2017), Ausg. 5, 6 ff.; Madel Robo Advice – Aufsichtsrechtliche Qualifikation und Analyse der Verhaltens- und Organisationspflichten bei der digitalen Anlageberatung und Vermögensverwaltung, 2019, 32. 5 Je nach Anbieter bereits ab einer Anlagesumme von EUR 1.000 (z.B. Ginmon Vermögensverwaltung GmbH). Siehe zu den Chancen und Risiken von Robo Advisory ausführlich Madel (Fn. 4), 53 ff. 6 Aus letzterer Zeit z.B. Grzanna Robo was?, Süddeutsche Zeitung online vom 28.09.18, zuletzt aufgerufen am 8.4.20 unter https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ robo-advisor-robo-was-1.4144670; Klemm Wie gut können Roboter mit Geld umgehen?, Frankfurter Allgemeine online vom 5.3.18, zuletzt aufgerufen am 8.4.20 unter http:// www.faz.net/aktuell/finanzen/meine-finanzen/sparen-und-geld-anlegen/wie-gut-koennen -roboter-mit-geld-umgehen-15476771.html; Kremer Soll ich meinem Roboter mein Geld anvertrauen?, Frankfurter Allgemeine vom 11.07.18; Schäfer Robo-Advisors sind nicht die besseren Vermögensverwalter, Neue Zürcher Zeitung online vom 27.09.18, zuletzt aufgerufen am 8.4.20 unter https://www.nzz.ch/finanzen/robo-advisors-sind-nicht die-besseren-vermoegensverwalter-ld.1423476; Schlenk Der Januar war ein Rekordmonat für Robo-Advisor, Capital online vom 3.2.20, zuletzt aufgerufen am 8.4.20 unter https://www.capital.de/geld-versicherungen/der-januar-war-ein-rekordmonat-fuer-roboadvisor. 7 Monographie: Madel (Fn. 4). Beiträge: Baumanns BRK 2016, 336 ff.; Kumpan EuZW 2018, 745; ders. in Möslein/Omlor (Fn. 4), 352 ff.; Krimphove BB 2018, 2691 ff.; Möslein/ Lordt ZIP 2017, 793 ff.; Oppenheim/Lange-Hausstein, WM 2016, 1966 ff.; Reiter/Methner Rechtsprobleme der Beratung durch Robo Advisors, in Taeger (Hrsg.), Recht 4.0, 2017, 587 ff. 8 Statista Statistik zu Robo Advisors in den USA, aufgerufen am 8.4.20 unter https:// www.statista.com/outlook/337/109/robo-advisors/united-states?currency=usd. 9 Statista Statistik zu Robo Advisors in Deutschland, aufgerufen am 8.4.20 unter https://www.statista.com/outlook/337/137/robo-advisors/germany.
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lautender Disclaimer als Anlageberater einzuordnen sind.10 Dieser Beitrag konzentriert sich demgegenüber auf die für Anbieter und Kunden von Robo Advice gleichermaßen wichtige zivilrechtliche Haftung. Bislang sind zwar keine Fälle bekannt geworden, in denen Anleger Schadensersatz von RoboAdvice-Anbietern forderten. Dies dürfte aber weniger an der Unfehlbarkeit der eingesetzten Softwaresysteme,11 als vielmehr an der noch überschaubaren Einsatzdauer und der seit 2012 anhaltenden Aufwärtsentwicklung der Finanzmärkte liegen.12 Selbst wenn Algorithmen „bessere“ Empfehlungen liefern als menschliche Anlageberater, wird das jeder Kapitalanlage immanente Verlustrisiko durch Robo Advisor selbstverständlich nicht ausgeschlossen. Schließlich vermag auch ein Algorithmus nicht vorherzusagen, wie sich die Märkte zukünftig entwickeln werden.13 Die Corona-Krise, die die Kapitalmärkte in 2020 auf Talfahrt schickte, war zwar keineswegs unvorhersehbar, wurde in der Software der Roboterberater aber bestimmt nicht abgebildet.14 Im Folgenden wird zunächst der aufsichtsrechtliche Rahmen skizziert, innerhalb dessen sich Robo Advisor bzw. ihre Betreiber bewegen (II.). Für das Privatrecht ist die Vertragshaftung für fehlerhafte Roboterberatung von zentraler Bedeutung (III.). Demgegenüber spielt die Deliktshaftung nur eine Nebenrolle, die lediglich einer kurzen Würdigung bedarf (IV.). Abschließend wird der Roboter selbst als sog. ePerson vorgestellt und als neuartiges Haftungssubjekt gewürdigt (V.).
10 Madel (Fn. 4), 103 ff.; Möslein/Lordt ZIP 2017, 793, 795; Oppenheim/LangeHausstein WM 2016, 1966, 1969. 11 Es findet sich eine Vielzahl von Begrifflichkeiten, die im Großen und Ganzen alle dasselbe meinen: digitale Entscheidungen, die nicht auf einem menschlichen Befehl, sondern einer Abfolge von (vor-)programmierten und/oder selbsterlernten Prüfungspunkten basieren, Borges NJW 2018, 977, 978; Denga CR 2018, 69; Kirn/Müller-Hengstenberg MMR 2014, 225, 226; Lohmann ZRP 2017, 168, 169; Schirmer JZ 2016, 660; Schulz Verantwortlichkeit bei autonom agierenden Systemen, 2015, 70 f.; vgl. Teubner AcP 2018, 155, 156, Fn. 1. 12 Vgl. die Entwicklung des DAX von 2012 bis 2019, Statista, Entwicklung des DAX in den Jahren von 1987 bis 2019, am 8.4.20 aufgerufen unter https://de.statista.com/ statistik/daten/studie/199158/umfrage/jaehrliche-entwicklung-des-dax-seit-1987/. 13 Freiberger Roboter sind auch nur Menschen, Süddeutsche Zeitung online vom 30.5.2018, zuletzt aufgerufen am 8.4.20 unter https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ geldanlage-roboter-sind-auch-nur-menschen-1.3993845. 14 Vgl. hierzu BT-Drucks. 17/12051, S. 5 f.; Wagner ZEuP 2020, 531, 634; Boerse.ard.de, Robo Advisors in der Corona-Krise, 3.4.20, am 8.4.20 aufgerufen unter https://boerse. ard.de/anlagestrategie/geldanlage/robo-advisor-in-der-krise100.html.
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II. Aufsichtsrecht Das Aufsichtsrecht unterscheidet danach, ob Robo Advice in Form von Anlageberatung oder Finanzportfolioverwaltung erbracht wird.15 Robo Advice ist Anlageberatung i.S.v. § 1 Abs. 1a S. 2 Nr. 1a KWG bzw. § 2 Abs. 8 Nr. 10 WpHG, sofern der Kunde davon ausgeht bzw. ausgehen darf, dass die Anlageempfehlung auf einer Prüfung seiner persönlichen Umstände basiert und die empfohlenen Kapitalanlagen speziell auf seine Bedürfnisse abgestimmt sind.16 Der Anleger erhält eine konkrete Handlungsempfehlung hinsichtlich bestimmter Finanzinstrumente.17 Erfolgt die Anlageberatung im Rahmen einer fortlaufenden Depotverwaltung mit eigenem Ermessensspielraum, handelt es sich um Finanzportfolioverwaltung i.S.v. § 1 Abs. 1a S. 2 Nr. 3 KWG bzw. § 2 Abs. 8 Nr. 7 WpHG.18 Sowohl Anlageberater als auch Finanzportfolioverwalter müssen die Verhaltens- und Organisationspflichten der §§ 63 ff. WpHG (§§ 31 ff. WpHG a.F.) beachten.19 Die besonderen Verhaltensregeln des § 64 WpHG gelten ausschließlich für Anlageberatung und Finanzportfolioverwaltung und ergänzen insofern die allgemeinen Wohlverhaltenspflichten des § 63 WpHG.20 An diese sind Wertpapierdienstleistungsunternehmen selbstverständlich auch dann gebunden, wenn sie Anlageberatung oder Finanzportfolioverwaltung mit Hilfe von Robo Advisors erbringen.21 Als Finanzdienstleistung i.S.v. § 1 Abs. 1a KWG unterliegt das Anbieten von Robo Advice dem Aufsichtsregime der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) und ist nach § 32 Abs. 1 KWG erlaubnispflichtig.22 Den Anbietern drohen empfindliche öffentlich-rechtliche Sanktionen, wenn die 15 Robo Advice könnte theoretisch auch als Anlage- oder Abschlussvermittlung ausgestaltet sein. Madel (Fn. 4), 102 ff. hat herausgearbeitet, dass alle am Markt befindlichen Anbieter aufsichtsrechtlich als Anlageberater oder Finanzportfolioverwalter einzuordnen sind. Der Beitrag beschränkt sich deswegen auf diese beiden Formen. Ausführlich zur aufsichtsrechtlichen Qualifikation Madel (Fn. 4), 37 u. 81 ff. Siehe auch Baumanns BRK 2016, 369 ff.; Möslein/Lordt ZIP 2017, 793, 795 f.; Oppenheim/Lange-Hausstein WM 2016, 1966, 1967. 16 Madel (Fn. 4), 82 ff. 17 Rothenhöfer in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bank- und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2019, Verhaltens-, Organisations- und Aufzeichnungspflichten nach dem WpHG, Rn. 13.84 ff. 18 Die Finanzportfolioverwaltung i.S.d. WpHG lässt im Gegensatz zu der Finanzportfolioverwaltung des KWG auch die Verwaltung mehrerer Vermögen zu. 19 Ausgenommen hiervon sind Anbieter, die Anlageberatung im Rahmen der Bereichsausnahme des § 3 Abs. 1 Nr. 7 WpHG erbringen. 20 BT-Drs. 18/10936, 234 f. 21 Madel (Fn. 4), 143. 22 Ausgenommen hiervon sind wiederum Anbieter, die Anlageberatung im Rahmen der Bereichsausnahme des § 2 Abs. 6 S. 1 Nr. 8 KWG erbringen.
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Dienstleistung ohne entsprechende Genehmigung erbracht wird.23 Darüber hinaus machen sich Finanzdienstleister, die Anlageberatung ohne aufsichtsrechtliche Genehmigung anbieten, gemäß § 823 Abs. 2 BGB schadensersatzpflichtig, denn § 32 Abs. 1 S. 1 KWG ist als Schutzgesetz zugunsten der Anleger zu qualifizieren.24 Einige Anbieter deklarieren ihre Tätigkeit in ihren AGB oder mittels Disclaimer als Anlagevermittlung i.S.v. § 1 Abs. 1a S. 2 Nr. 1 KWG, um so unterhalb der Schwelle der Anlageberatung zu bleiben und den damit verknüpften besonderen Pflichten zu entgehen.25 Sowohl im Aufsichts- als auch im Zivilrecht26 kommt es jedoch nicht auf die Selbstqualifikation der entsprechenden Tätigkeit, sondern auf die tatsächlich am Markt erbrachte Leistung an, die aus der Sicht eines verständigen Anlegers zu beurteilen ist.27 Ergibt sich aus dessen Perspektive, dass er über die von dem Finanzdienstleister angebotenen Anlageprodukte lediglich Auskunft, nicht hingegen eine auf persönlichen Umständen beruhende Handlungsempfehlung erhält, handelt es sich nicht um Anlageberatung oder Finanzportfolioverwaltung, sondern um bloße Anlagevermittlung.28 Demnach liegt Anlageberatung oder Finanzportfolioverwaltung vor, wenn der Robo Advisor persönliche Umstände des Anlegers abfragt und daraufhin eine tatsächlich oder nur scheinbar auf diesen Umständen beruhende Empfehlung abgibt.
III. Vertragshaftung 1. Haftungsrechtliche Grundlagen Anders als bei der herkömmlichen Vermögensberatung und -verwaltung erstellt bei einem Robo Advisor kein Mensch, sondern ein automatisiertes 23 Nach § 54 KWG kann das Handeln ohne Erlaubnis nach § 32 Abs. 1 KWG mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden; gem. § 144 Abs. 1 Nr. 1 lit. m.) GewO stellt die Erbringung von Finanzanlagenvermittlung i.S.v. § 34f GewO ohne Erlaubnis eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit einer Geldbuße von bis zu 50.000 Euro geahndet werden kann, § 144 Abs. 4 GewO. 24 BGH, Urt. v. 19.1.2006, III ZR 105/05, Rn. 17 = BGHZ 166, 29 = NJW-RR 2006, 630; BGH, Urt. v. 19.3.2013, VI ZR 56/12, Rn. 11 = BGHZ 197, 1 = NJW-RR 2013, 675; BGH, Urt. v. 7.6.2015, VI ZR 372/14, Rn. 25 = NJW-RR 2015, 1144; BGH, Urt. v. 10.10.2017, VI ZR 556/14, Rn. 7 = BGHZ 216, 103 = NJW 2018, 230. 25 AGB, wonach nur Anlagevermittlung, nicht Anlageberatung vorliegt, werden von einigen Robo Advice Anbietern verwendet, vgl. § 3 AGB Ginmon GmbH, Nr. 2 AGB Growney GmbH, Nr. 10 AGB Whitebox GmbH, jeweils online aufrufbar. 26 S. hierzu III. 1. 27 Baumanns BRK 2016, 370; Madel (Fn. 4), 100; Möslein/Lordt ZIP 2017, 793, 795; Oppenheim/Lange-Hausstein WM 2016, 1966, 1968 f.; Reiter/Methner in Taeger (Fn. 7), 593. 28 Siol in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2017, Bd. I, § 45 Rn. 2 ff.
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oder autonomes Softwaresystem die Anlageempfehlung. Erleidet der Anleger infolge dieser Anlageentscheidung Vermögenseinbußen, stellt sich die Frage, ob dafür „jemand“ haftet. Bei der Beantwortung dieser Frage darf der Zweck des Haftungsrechts nicht aus dem Blick geraten.29 Ziel des Haftungsrechts ist entgegen weitverbreiteter Annahmen nicht vornehmlich der Ausgleich von Schäden. Vielmehr dient das Haftungsrecht dazu, anhand einer Kosten/Nutzen-Abwägung diejenigen Fälle herauszufiltern, in denen Schadensausgleich geboten ist und diese von Fällen abzugrenzen, in denen der Schadensausgleich gerade nicht geboten ist. Eine Haftung ist nur dann angebracht, wenn die Schadenserwartung (Wahrscheinlichkeit x Schadenshöhe) größer ist als die Summe der Schadensvermeidungskosten. Ausgehend von diesen Prämissen stellen sich eine Reihe von Fragen: Welche Sorgfaltsvorkehrungen hat ein Finanzdienstleistungsunternehmen einzuhalten, wenn es zum Zwecke der Anlageberatung Roboter einsetzt? Soll die Haftung an Handlungen des Anbieters oder an das „Verhalten“ des Robo Advisors geknüpft werden? Hier ist zu klären, ob autonome Softwaresysteme pflicht- und sorgfaltswidrig „handeln“ können und, falls dies der Fall sein sollte, auf welcher Grundlage dieses „(Fehl-)Verhalten“ dem Betreiber zugerechnet werden kann. 2. Anlageberatung und Vermögensverwaltung a) Anlageberatungsvertrag Ein zivilrechtlicher Anlageberatungsvertrag kommt nach ständiger Rechtsprechung zustande, wenn ein Finanzdienstleistungsunternehmen sich dazu verpflichtet, einen Anleger bei der Anlage eines Geldbetrages zu beraten.30 Unerheblich ist, ob die Beratung in eine bereits existierende Geschäftsbeziehung der Parteien eingebettet ist oder der Finanzdienstleister ad hoc für den Anleger tätig wird.31 Die Parteien müssen die Anlageberatung nicht ausdrücklich vereinbaren oder sich gar auf ein Honorar verständigen; in der Regel kommt es zu einem konkludenten Vertragsschluss durch Aufnahme der Beratungstätigkeit.32 Maßgeblich ist der objektive Empfängerhorizont nach §§ 133, 157 BGB. 29
Zum Folgenden Kötz/Wagner Deliktsrecht, 13. Aufl. 2016, 29 ff. Statt aller BGH, Urt. v. 12.12.2017, XI ZR 552/16, Rn. 11 m.w.N. 31 BGH, Urt. v. 6.7.1993, XI ZR 12/93, juris Rn. 12; Urt. v. 27.10.2009, XI ZR 338/08, juris, Rn. 15 = ZIP 2009, 2380. 32 BGH, Urt. v. 2.2.1983, IVa ZR 118/81, juris Rn. 9 = NJW 1983, 1730; Urteil vom 4.3.87, IVa ZR 122/85, juris Rn. 12; Urt. v. 6.7.1993, XI ZR 12/93, juris Rn. 11 = BGHZ 123, 126 = NJW 1993, 2433; Urt. v. 21.11.2019, III ZR 244/18, Rn. 17 f. = WM 2020, 119. Die diesbezügliche Kritik der Literatur wird beispielsweise dargestellt von Zahrte in MüKo HGB, Bd. VI, 4. Aufl. 2019, M. Anlageberatung, Rn. 131 ff. 30
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Danach ist das Zustandekommen eines Anlageberatungsvertrages zu bejahen, wenn nach den Gesamtumständen des Marktauftritts der Anleger davon ausgehen darf, eine auf seine persönlichen finanziellen Verhältnisse zugeschnittene Anlageempfehlung zu erhalten.33 Die mit einer Bank oder einem sonstigen Finanzdienstleistungsunternehmen geschlossene Vereinbarung ist hingegen nicht als Anlageberatungsvertrag zu qualifizieren, wenn für den Anleger aufgrund des Auftretens des Vertragspartners erkennbar ist, dass es sich um ein bloßes Verkaufsgeschäft handelt (sog. „Execution-onlyDienstleistung“).34 Allgemeine Geschäftsbedingungen des Inhalts, es finde keine Anlageberatung, sondern nur eine Anlagevermittlung statt, sind – ebenso wie im Aufsichtsrecht35 – für die rechtliche Würdigung irrelevant, denn vertragsrechtlich kommt es nicht auf die Selbstqualifikation des Finanzdienstleisters, sondern ausschließlich auf die nach Maßgabe der §§ 133, 157 BGB tatsächlich vereinbarte Leistung an. Wird die (bloße) Anlagevermittlung auf dem Papier vereinbart, in der Realität dann aber doch beraten, liegt nach dem Grundsatz des protestatio facto contraria ein Beratungsvertrag vor.36 Entgegenstehende Geschäftsbedingungen verstoßen gegen § 307 BGB, wenn der Marktauftritt eine Anlageberatung nahelegt.37 Wendet sich der Anbieter hingegen ausschließlich an gut informierte und erfahrene Anleger, lehnt eine individuelle Beratung ausdrücklich ab und hält sich auch an diese Vorgaben, liegt eine bloße Anlagevermittlung vor, die keine Haftung für die Verletzung von Beratungspflichten auslöst.38 Für die zivilrechtliche Qualifikation der Vertragsbeziehung ist die aufsichtsrechtliche Einordnung als echte Anlageberatung (§ 1 Abs. 1a S. 2 Nr. 1a KWG) oder „bloße“ Anlage- oder Abschlussvermittlung (§ 1 Abs. 1a S. 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 KWG) nicht maßgeblich. Allerdings laufen die Qualifikationskriterien des Aufsichts- und des Zivilrechts parallel, und Beurteilungsmaßstab ist in beiden Fällen das tatsächliche Marktverhalten des Anbieters, wie es sich für einen verständigen Beobachter in der Lage des Kunden darstellt. Die aufsichtsrechtliche Beurteilung ist daher ein wertvoller Orientierungspunkt für die Zivilgerichte, wenn auch nicht mehr.39 33
Vgl. BGH, Urt. v. 19.3.2013, XI ZR 431/11, Rn. 18 = WM 2013, 789. S. Fn. 33. 35 S. II. 36 BGH, Urt. v. 16.12.1964, VIII ZR 51/63, juris Rn. 25 = NJW 1965, 387; BGH, Urt. v. 9.5.2000, VI ZR173/99, juris Rn. 29 = NJW 2000, 3429. 37 Möslein/Lordt ZIP 2017, 793, 795; Oppenheim/Lange-Hausstein WM 2016, 1966, 1969. 38 Möslein/Lordt ZIP 2017, 793, 798; Oppenheim/Lange-Hausstein WM 2016, 1966, 1969. 39 Insbesondere kann bei einer aufsichtsrechtlichen Anlagevermittlung zivilrechtlich ein Vertrag mit Beratungspflichten geschlossen werden, BGH, Urt. v. 4.3.1987, IVa ZR 122/85, juris Rn. 12 m.w.N. = BGHZ 100, 117. 34
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Nach diesen Grundsätzen schließt der Anbieter eines Robo Advisors mit dem Anleger immer dann einen Beratungsvertrag, wenn ein verständiger Beobachter aufgrund des Marktauftritts des Anbieters, wie er insbesondere auf dessen Internetseite oder App zum Ausdruck kommt, davon ausgehen muss, dass er eine auf seine persönlichen Verhältnisse zugeschnittene Beratung, und nicht lediglich Auskunft über bestimmte Anlageprodukte, erhält. b) Vermögensverwaltungsvertrag Robo Advice kann auch im Rahmen der Vermögensverwaltung (Finanzportfolioverwaltung) gegeben werden. Anders als ein Anlageberater verwaltet ein Vermögensverwalter mit eigenem Ermessensspielraum Vermögen, das ihm wirtschaftlich nicht gehört. Er hat das Vermögen gemäß der Anlagestrategie nicht nur einmalig anzulegen, sondern fortlaufend zu verwalten, indem er ohne Rücksprache mit dem Anleger über konkrete Transaktionen entscheidet.40 Ebenso wie der Anlageberatungs- kann auch der Vermögensverwaltungsvertrag formfrei und durch konkludentes Verhalten abgeschlossen werden.41 Da es sich bei der Vermögensverwaltung um ein Dauerschuldverhältnis handelt, endet der Vertrag in der Regel durch Kündigung.42 Ein Anbieter von Robo Advice schließt demnach mit einem Nutzer seiner Internetseite oder App einen Vermögensverwaltungsvertrag, wenn aus Sicht eines verständigen Nutzers nicht nur eine persönliche Anlageempfehlung abgegeben wird, sondern der Anbieter darüber hinaus ermächtigt wird, das Portfolio fortlaufend eigenhändig zu verwalten. 3. Pflichtenprogramm Wie bei jedem vertraglichen Schuldverhältnis haften auch Anbieter von Roboterberatung für die schuldhafte Verletzung vertraglicher Pflichten gemäß § 280 Abs. 1 BGB. Ein Schadensersatzanspruch des Anlegers gegen ein Finanzdienstleistungsunternehmen kommt nur in Betracht, wenn die Anlageempfehlung aus der Sicht ex ante pflichtwidrig ist.43 Berater sind selbstverständlich nicht dazu verpflichtet, Verluste mit Vermögensanlagen sicher auszuschließen, denn dies zu gewährleisten ist gar nicht möglich. Das ver-
40 Kern in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bank- und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2019, Der zivilrechtliche Vermögensverwaltungsvertrag, Rn. 17.156. 41 Kern in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried (Fn. 40), Rn. 17.132; U. Schäfer in Assmann/ Schütze/Buck-Heeb, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 5. Aufl. 2020, § 23 Rn. 50. 42 Kern in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried (Fn. 40), Rn. 17.182 f. 43 BGH, Urt. v. 21.3.2006, XI ZR 63/05, LS 1 = NJW 2006, 2041.
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mögensmäßige Risiko, dass sich eine ex ante pflichtgemäße Beratung im Nachhinein in dem Sinne als falsch erweist, dass die empfohlenen Anlagen keine Gewinne abwerfen oder sogar Verluste verursachen, trägt der Anleger.44 Anders als im Aufsichtsrecht ergeben sich die zivilrechtlichen Pflichten der Anlageberater und Vermögensverwalter nicht aus dem Gesetz, sondern einer inzwischen umfangreichen Judikatur des BGH45 und der Oberlandesgerichte.46 Die Wohlverhaltenspflichten der §§ 63 ff. WpHG sind nach der Rechtsprechung des BGH47 und herrschender Lehre48 auf die öffentlichrechtliche Sphäre beschränkt. Sie sind nach ständiger Rechtsprechung des BGH keine Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB,49 doch immerhin strahlen sie auf das Privatrecht aus und beeinflussen das vertragliche Pflichtenprogramm.50 Sofern die Parteien nichts anderes vereinbart haben, darf der Anleger davon ausgehen, dass die Bank bzw. der Wertpapierdienstleister bei der Anlageberatung oder Finanzportfolioverwaltung ihren bzw. seinen aufsichtsrechtlichen Pflichten nachkommt.51 Seit der Bond-Entscheidung des BGH zeichnet sich eine pflichtgemäße Anlageberatung durch zwei Kriterien aus: Die Beratung muss zum einen den Interessen des konkreten Anlegers gerecht werden und muss anderer-
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BGH, Urt. v. 21.3.2006, XI ZR 63/05, LS 1 = NJW 2006, 2041. Vgl. Fn. 30 ff. 46 Vgl. nur OLG Celle, Urt. v. 25.11.1992, 3 U 303/91 = NJW-RR 1993, 500; OLG Düsseldorf, Urt. v. 8.7.1994, 17 U 14/94 = ZIP 1994, 1256; OLG Frankfurt, Urt. v. 22.9.1994, 16 U 138/93 = WM 1995, 245; OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.11.2007, I-16 U 170/06, juris; OLG Stuttgart, Urt. v. 29.10.2010, 6 U 208/09 = WM 2011, 356; OLG Hamm, Urt. v. 14.3.2011, I-31 U 162/10 = WM 2011, 1412; OLG München, Urt. v. 5.7.2011, 5 U 1843/11 = NJW-RR 2011, 1275; OLG Köln, Urt. v. 12.10.2017, 24 U 20/17; OLG Karlsruhe, Urt. v. 24.10.2017, 17 U 7/17 = WM 2018, 468; OLG Brandenburg, Urt. v. 8.11.2017, 4 U 206/16. 47 BGH, Urt. v. 19.12.2006, XI ZR 56/05, Rn. 18 = BGHZ 170, 226 = NJW 2007, 1876; Urt. v. 19.2.2008, XI ZR 170/07, Rn. 15 f. = BGHZ 175, 276 = NJW 2008, 1734; Urt. v. 3.6.2014, XI ZR 147/12, Rn. 35 = BGHZ 201, 310 = NJW 2014, 2947. 48 Koller in Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, § 63 WpHG Rn. 9 ff.; Fuchs in Fuchs WpHG, 2. Aufl. 2016, Vor § 31 WpHG Rn. 77 ff.; Rothenhöfer in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechtskommentar, 5. Aufl. 2020, Vor §§ 63 ff. WpHG Rn. 9 ff.; Zahrte in MüKo HGB, M. Anlageberatung, Rn. 102 ff.; differenzierend Kern in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried (Fn. 40), Rn. 17.106 f. 49 Vgl. Nachweise in Fn. 45. Ausführlich Wagner in MüKo BGB, Bd. VII, 8. Aufl. 2020, § 823 Rn. 581 ff. Einsele JZ 2008, 477, 481 f.; Köndgen NJW 1996, 558, 569; Möllers in KölnKomm WpHG, 2. Aufl. 2014, § 31 Rn. 6, 8 f. gehen bzw. gingen hingegen davon aus, dass die Verhaltenspflichten des WpHG auch privatrechtlicher Natur sind. 50 Grüneberg Die Bankenhaftung bei Kapitalanlagen nach der Rechtsprechung des BGH, 2017, 5. 51 BGH, Urt. v. 3.6.2014, XI ZR 147/12, Rn. 35 ff. = BGHZ 201, 310; Edelmann in Assmann/Schütze/Buck-Heeb, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 5. Aufl. 2020, § 3 Rn. 86; Zahrte in MüKo HGB, M. Anlageberatung, Rn. 105, 109 ff. 45
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seits wahrheitsgemäß über das Anlageprodukt informieren.52 Eine anlegergerechte Beratung setzt voraus, dass der Anlageberater den Wissensstand, die Erfahrungen, Anlageziele, Risikobereitschaft und die finanziellen Verhältnisse des Anlegers ermittelt und diese Informationen bei der Anlageempfehlung berücksichtigt (know your customer).53 Eine objektgerechte Beratung muss den Anleger über diejenigen Eigenschaften und Risiken des Anlageprodukts in Kenntnis setzen, die für seine Anlageentscheidung wesentliche Bedeutung haben oder haben können.54 Dazu zählen nicht nur Kurs-, Zins- und Währungsrisiken, sondern ggf. auch solche Umstände, die sich auf die Fondsverantwortlichen beziehen.55 Der Anlageberater darf seine Beratung nicht ausschließlich auf die subjektiven Aussagen der emittierenden Unternehmen stützen, sondern hat objektive Quellen heranzuziehen.56 Der Anleger muss ferner über mögliche Interessenkonflikte seines Vertragspartners aufgeklärt werden, insbesondere darüber, ob versteckte Innenprovisionen von Seiten Dritter57, Rückvergütungen58 oder Vertriebsprovisionen im Umfang von mehr als 15 % der Anlagesumme59 anfallen. Die Beratung muss insgesamt rechtzeitig, richtig und sorgfältig sowie verständlich und vollständig sein.60 Für eine ordnungsgemäße Aufklärung ist nicht zwingend erforderlich, dass diese mündlich erteilt wird: je nach den Umständen des Einzelfalls kann auch die Übergabe von schriftlichem Prospektmaterial ausreichen.61 Ein anlageberatender Robo Adivsor muss demnach durch eine Software gesteuert werden, die die maßgeblichen Rechtspflichten technisch umsetzt. Auch beim Vermögensverwaltungsvertrag muss der Robo Advisor den Anforderungen an eine anleger- und anlagegerechte Beratung genügen. Die zur Anlageberatung ergangene Rechtsprechung ist auf die Vermögensver52 BGH, Urt. v. 6.7.1993, XI ZR 12/93 = BGHZ 123, 126; Edelmann in Assmann/Schütze/Buck-Heeb (Fn. 51), § 3 Rn. 15 ff. 53 BGH, Urt. v. 6.7.1993, XI ZR 12/93, juris Rn. 15 ff. = BGHZ 123, 126. Eingehend zu den zivilrechtlichen Pflichten des Anlageberaters Edelmann in Assmann/Schütze (Fn. 51), § 3 Rn. 15 ff.; Kern in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried (Fn. 40), Rn. 17.55 ff.; Zahrte in MüKo HGB, M. Anlageberatung, Rn. 137 ff. 54 BGH, Urt. v. 6.7.1993, XI ZR 12/93, juris Rn. 18 = BGHZ 123, 126. 55 BGH, Urt. v. 7.10.2008, XI ZR 89/07, Rn. 27 = BGHZ 178, 149; Urt. v. 22.5.2012, II ZR 14/10, Rn. 27 = NJW 2013, 155; Edelmann in Assmann/Schütze/Buck-Heeb (Fn. 51), § 3 Rn. 21. 56 BGH, Urt. v. 13.5.1993, III ZR 25/92, juris Rn. 21 = NJW-RR 1993, 1114. 57 BGH, Urt. v. 3.6.2014, XI ZR 147/12 = BGHZ 201, 310. 58 BGH, Urt. v. 8.6.2012, XI ZR 262/10, Rn. 17 = BGHZ 193 159. 59 BGH, Urt. v. 19.10.2017, III ZR 565/16 LS 1 = BGHZ 216, 245; Urt. v. 7.2.2019, III ZR 498/16, Rn. 10 m.w.N. = NJW 2019, 1137. 60 St. Rspr. des BGH, zuletzt mit Urt. v. 7.2.2019, III ZR 498/16, Rn. 9 = NJW 2019, 1137. 61 St. Rspr. des BGH, zuletzt mit Urteil vom 15.8.2019, III ZR 205/17, Rn. 29 m.w.N. = NJW-RR 2019, 1332.
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waltung grundsätzlich übertragbar.62 Allerdings bedarf der von der Anlageberatung herrührende Pflichtenkanon der Anpassung, weil der Vermögensverwalter mit eigenem Ermessenspielraum über konkrete Transaktionen entscheidet.63 Dementsprechend muss ein Vermögensverwalter den Anleger nicht vor jeder Transaktion erneut beraten und aufklären. Er hat jedoch ebenso wie ein Anlageberater die Pflicht, eine Kundenexploration vorzunehmen (anlegergerechte Beratung) und die dabei erzielten Informationen über die gesamte Dauer der Vertragslaufzeit zu berücksichtigen.64 Ferner hat ein Vermögensberater den Anleger zwar nicht über jedes in Betracht kommende Anlageprodukt im Einzelnen, wohl aber über allgemeine Merkmale der nach der ausgearbeiteten Anlagestrategie in Betracht kommenden Anlageprodukte aufzuklären.65 4. Anforderungen an die Roboterberatung Welche Besonderheiten sind für die Haftung zu beachten, wenn die Beratung nicht von einem Menschen, sondern von einem Roboter erbracht wird? Ausgehend von der Prämisse, dass der Einsatz technischer Hilfsmittel die Haftung weder ausschließen oder erschweren darf, ist zu fragen, welches konkrete Verhalten die Haftung auslöst und ggf. auf welche Weise die Zurechnung dieses Verhaltens zu dem eigentlichen Haftungssubjekt erfolgt.66 a) Grundlagen Das Verhalten des Betreibers eines Robo Advisors löst gemäß § 280 Abs. 1 BGB die vertragliche Haftung für Anlegerschäden aus, wenn eine Beratungspflicht schuldhaft verletzt worden ist, wobei die Beweislast für das (mangelnde) Verschulden dem Betreiber obliegt. Der Betreiber des Algorithmus‘ ist im Falle eines Programmierungsfehlers gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB exkulpiert, wenn er nachweist, dass er nicht schuldhaft handelte. Die Entlastung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Fehler im Zeitpunkt der Programmierung nicht erkennbar oder nicht vermeidbar war. Maßstab der Erkenn- und Vermeidbarkeit ist gemäß § 276 Abs. 2 BGB die im Verkehr erforderliche Sorgfalt. Es kommt auf diejenigen Kenntnisse und Fähigkeiten an, die ein sorgfältiger Finanzdienstleister be62 U. Schäfer in Assmann/Schütze/Buck-Heeb (Fn. 41), § 23 Rn. 29, 31 f.; Zoller Die Haftung bei Kapitalanlagen, 4. Auflage, München 2019, § 5 Rn. 4 ff. 63 U. Schäfer in Assmann/Schütze/Buck-Heeb (Fn. 41), § 23 Rn. 31. 64 Zoller Die Haftung bei Kapitalanlagen (Fn. 62), § 5 Rn. 6 ff. 65 U. Schäfer in Assmann/Schütze/Buck-Heeb (Fn. 41), § 23 Rn. 32 f. 66 Vgl. Europäische Kommission Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Bericht über die Auswirkungen künstlicher Intelligenz, des Internets der Dinge und der Robotik in Hinblick auf Sicherheit und Haftung, 19.2.2020, COM(2020) 64, 16, 18.
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rücksichtigt bzw. zur Verfügung gehabt hätte. Schuldner der Beratungspflichten ist ein Kreditinstitut oder Finanzdienstleistungsunternehmen, das regelmäßig als juristische Person verfasst ist. Organhandeln ist der Korporation (gem. § 31 BGB) ebenso zuzurechnen wie das Verhalten nachgeordneter Mitarbeiter nach Maßgabe des § 278 BGB. b) Pflichten in Bezug auf die Beratungssoftware Den Anforderungen an eine anleger- und anlagegerechte Beratung muss auch die von einem Roboter generierte Anlageempfehlung gerecht werden. Der Algorithmus, auf dem der Robo Advisor basiert, muss so programmiert und fortentwickelt werden, dass eine pflichtgemäße Beratung sichergestellt ist. Im Unterschied zu Fehlern von menschlichen Beratern, infizieren Beratungsfehler von Robo Advisors nicht nur den Einzelfall, sondern sämtliche Beratungsfälle.67 In dieser Hinsicht ähneln sie Konstruktionsfehlern herkömmlicher Produkte, die nicht nur einen einzelnen Gegenstand, sondern die gesamte Produktserie betreffen.68 Pflichtgemäße Roboterberatung setzt zunächst voraus, dass mittels Eingabemaske im Internet oder auf einer App ausreichend Informationen über die Person des Anlegers eingeholt und von dem Algorithmus verarbeitet werden. Die zu diesem Zweck an die Anleger gerichteten Fragen müssen für diese verständlich sein und differenzierte Antworten zulassen. Unsicherheiten oder Missverständnisse, die in einem persönlichen Beratungsgespräch erkannt werden könnten, müssen mit zumutbaren Maßnahmen vermieden werden,69 etwa durch unterschiedliche sprachliche Einkleidungen derselben Frage. Sind die Angaben eines Kunden widersprüchlich, muss die Software dies erkennen und die Befragung fortsetzen, um den Widerspruch aufzuklären. Weiter müssen die Informationen über die Sicherheit der Kapitalanlagen, die Eingang in die Entscheidungssoftware finden, aus objektiven Quellen stammen. Schließlich muss der Anleger in verständlicher Form über die ihm vorgeschlagenen Anlageprodukte informiert werden. Eine Pflichtverletzung des Betreibers eines Roboterberaters liegt vor, wenn der Algorithmus die von dem Anleger gemachten Angaben über seine persönlichen Vermögensverhältnisse und Risikopräferenzen in einer Weise gewichtet, die einer anlegergerechten Beratung nicht entspricht. Klare Fälle von Pflichtverletzungen des Finanzdienstleistungsunternehmens sind die aus der analogen Welt bekannten Interessenkonflikte, wenn also der Algorithmus des Roboterberaters in die Tasche des Finanzdienstleisters wirtschaftet und so den Anleger schädigt. So verhält es sich, wenn der Robo Advisor eine Vielzahl von Transaktionen empfiehlt oder selber vornimmt, um 67
Kumpan EuZW 2018, 745, 746; ders. in Möslein/Omlor (Fn. 4), 357 f. Wagner in MüKo BGB, § 823 Rn. 970. 69 Vgl. Reiter/Methner in Taeger (Fn. 7), 590 f. 68
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so Gebühren für den Anbieter zu generieren (sog. Churning).70 Wird der Algorithmus mit Daten zu Innenprovisionen und Rückvergütungen „gefüttert“ und entsprechend konditioniert, muss der Anleger selbstverständlich entsprechend aufgeklärt werden. Eine Aufklärung über Innenprovisionen und Rückvergütungen muss bei einem Robo Advisor hingegen nicht stattfinden, wenn der Algorithmus diese Parameter bei seinen Anlageempfehlungen nicht berücksichtigt, denn dann besteht kein Interessenkonflikt, über den der Anleger aufgeklärt werden müsste. Nach dem bisherigen Stand der Technik kennt ein Algorithmus – anders als ein Mensch – kein unbewusstes Streben nach einem wirtschaftlichen Vorteil.71 Verwendet die Software Entscheidungsparameter, die je für sich „harmlos“ sind, jedoch mit Regelmäßigkeit zu Empfehlungen von Finanzprodukten führen, die Innenprovisionen oder Rückvergütungen auslösen, ist eine entsprechende Aufklärungspflicht zu bejahen. Wird der Anbieter eines automatisierten Systems dem eben skizzierten Standard gerecht, ist eine Pflichtverletzung dennoch gegeben, wenn er ein Softwaresystem einsetzt, das bei seiner Entwicklung und Inbetriebnahme rechtskonform war, seither aber veraltet ist und inzwischen nicht mehr dem Branchenstandard entspricht. Ein Anbieter digitaler Dienstleistungen ist auch dazu verpflichtet, sich über die informationstechnologischen Entwicklungen auf dem neuesten Stand zu halten und die eigenen Systeme diesem Standard fortlaufend anzupassen. 5. Pflichten des Betreibers autonomer Systeme Die Anwendung des eben skizzierten Standards der §§ 280 Abs. 1 S. 2, 276 Abs. 2 BGB ist relativ unproblematisch, wenn der Roboterberater durch ein Computerprogramm gesteuert wird, das vollständig determiniert ist, sodass die von dem automatisierten Berater gegebenen Anlageempfehlungen bestimmten Risikoprofilen fest zugeordnet sind. In diesem Szenario dürfte eine Entlastung bei objektiv fehlerhafter Beratung kaum einmal in Betracht kommen. Von einem Finanzdienstleister ist i.S.d. § 276 Abs. 2 BGB zu erwarten, dass er keine Computerprogramme einsetzt, die objektiv pflichtwidrige Empfehlungen abgeben. Das Finanzdienstleistungsunternehmen könnte sich allenfalls dann gem. § 280 Abs. 1 S. 2 BGB exkulpieren, wenn es sich hinsichtlich seines Pflichtenkanons in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befand. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum wurde in der Welt der analogen Anlageberatung nur in den äußerst seltenen Fällen angenommen, in dem sich die Rechtsprechung bezüglich der Pflichten des An-
70 71
Kumpan in Möslein/Omlor (Fn. 4), 357 f. Vgl. Kumpan in Möslein/Omlor (Fn. 4), 359.
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lageberaters geändert hat und dies für den Anlageberater nicht abzusehen war.72 Die Grundsätze der Vertragshaftung geraten hingegen ins Wanken, wenn das von dem Finanzdienstleister eingesetzte Computersystem nicht deterministisch programmiert ist, sondern über eigene „Entscheidungsspielräume“ und in diesem Sinne über Autonomie verfügt. In diese Richtung läuft die technologische Entwicklung. Auch autonome Systeme agieren selbstverständlich auf der Basis ihrer Software, und insoweit gilt ungeschmälert der oben herausgearbeitete Pflichtenkanon. Besondere Bedeutung kommt bei autonomen Systemen der Pflicht zur Überprüfung des Verhaltens im Feld und zur Kontrolle des Outputs zu.73 Der Betreiber ist gehalten, in regelmäßigen Abständen Stichproben durchzuführen und so die Leistung des Systems fortlaufend zu überwachen. Jenseits dieser Pflichten des Betreibers liegt die Entscheidungsautonomie des Roboterberaters selbst. Ist dem Betreiber keine der oben erwähnten Pflichtverletzungen vorzuwerfen, kann ein Beratungsergebnis, das objektiv fehlerhaft ist, nicht mit einem Programmierfehler gleichgesetzt werden. Da die Programmierung das „Verhalten“ des Systems nicht vollständig determiniert, bricht der Schluss von dem fehlerhaften Output auf ein Fehlverhalten des Betreibers bzw. seiner Mitarbeiter zusammen. Bleibt es dabei, kommt es zu einer Externalisierung der Schadensrisiken, die ein autonomes digitales System verursacht, im Vergleich zur Haftungsverfassung beim Einsatz menschlicher Gehilfen also zu einer Haftungslücke.74 Das Problem der Begründung von Verantwortung für autonome digitale Systeme wird negiert bzw. – positiv gewendet – vermieden, wenn der Einsatz eines solchen Systems stets und ohne Weiteres als sorgfaltspflichtwidrig qualifiziert wird, einfach deshalb, weil das System nicht vollständig determinierte und damit auch nicht vollständig vorhersehbare Entscheidungen treffe.75 Die These einer per-se-Fahrlässigkeit des Betriebs autonomer Systeme entspricht einer objektiven Haftung oder „Veranlasserhaftung“ für das Fehlgehen bzw. Versagen digitaler Maschinen und Softwareagenten, die mit 72 BGH, Urt. v. 15.7.2014, XI ZR 418/13, Rn. 14 ff. = NJW 2014, 2951; Zahrte in MüKo HGB, M. Anlageberatung Rn. 434. 73 John Haftung für künstliche Intelligenz, 2007, 253 f., geht davon aus, dass beim Betrieb von autonomen Systemen „Vorkehrungen für die Gewährleistung eines störungsfreien Ablaufs“ und „Fehlerkontrolle“ geschaffen werden müssen. Kommt der Betreiber dem nicht nach, könnte sich daraus eine Pflichtverletzung ergeben. Kumpan in Möslein/Omlor (Fn. 4), 359, spricht sich ebenfalls für eine „kontinuierliche Kontrolle und fortwährende Weiterentwicklung“ aus. Ebenso Madel (Fn. 4), 226 ff. 74 Teubner AcP 218 (2018), 155, 185 f. 75 So, allerdings mit Blick auf die außervertragliche Haftung, Zech in Gless/Seelmann (Hrsg.) Intelligente Agenten und das Recht, 2016, 191; nunmehr etwas zurückhaltender, aber ähnlich ders. Gutachten zum 73. Deutschen Juristentag, 2020, 55; bei der Vertragshaftung wohl für die Anwendung des § 278 BGB ders. ZfPW 2019, 198, 210 f.
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§ 280 Abs. 1 BGB und den Haftungsgrundsätzen beim Versagen analoger Maschinen nicht in Einklang steht.76 Im Übrigen verbietet die verkehrserforderliche Sorgfalt i.S.v. § 276 Abs. 2 BGB keineswegs die Eingehung von Risiken, die im Einzelnen unvorhersehbare Konsequenzen haben können. Erforderlich ist nicht, bestimmte Typen von Risiken zu vermeiden, sondern schwere Gefahren für die Rechtsgüter und Interessen des Vertragspartners abzuwenden. Die Schwere einer Gefahr bestimmt sich nicht nach dem Grad der Vorhersehbarkeit des Schadens, sondern nach dessen Höhe und Eintrittswahrscheinlichkeit.77 Schließlich reicht es für die Annahme von Fahrlässigkeit nicht aus, wenn der Schädiger die Gefahr als solche erkennt, vielmehr muss er die Realisierung der Gefahr auch vermeiden können.78 Speziell im Bereich der Anlageberatung durch autonome Softwareagenten würde eine konsequent durchgeführte Veranlasserhaftung bewirken, dass der Betreiber des Robo Advisors für sämtliche Vermögenseinbußen aufzukommen hätte, die der Anleger infolge der Anlageempfehlung erlitte. Anknüpfungspunkt für die haftungsbegründende Pflichtverletzung wäre nämlich der Einsatz des autonomen Systems und nicht die (fehlerhafte) Beratungsleistung selbst. Die These von der per-se-Pflichtwidrigkeit schließt die Haftungslücke also mit Hilfe einer Übermaßhaftung. Die Fokussierung der Sorgfaltsanforderungen allein auf den Betreiber des autonomen Systems führt demnach entweder zu einer Haftungslücke – das autonome Verhalten ist dem Betreiber nicht zur Fahrlässigkeit anzurechnen – oder zu einer Übermaßhaftung, da bereits der Einsatz des digitalen Systems als solcher für die Haftungsbegründung genügt. Beide Ecklösungen sind unbefriedigend, denn sie sind nicht dazu in der Lage, das Autonomierisiko als solches zu erfassen und so die gebotene Feinsteuerung der Haftung zu bewirken.79 Die dafür zur Verfügung stehenden Mechanismen sind im Folgenden zu erarbeiten. 6. Zurechnung des Verhaltens autonomer Roboterberater a) Die Werkzeugtheorie: Identifikation des Roboters mit seinem Betreiber Der Standardmodus zur Bewältigung der Zurechnungsprobleme beim Einsatz digitaler Systeme ist die stillschweigende Identifikation des Systems 76 Teubner AcP 218 (2018), 155, 186; zur Vertragshaftung für Maschinenversagen Caspers in Staudinger, 2019, § 278 BGB, Rn. 5; Grundmann in MüKo BGB, Bd. II, 8. Aufl. 2019, § 278 BGB, Rn. 46; differenzierend Pfeiffer in Soergel, Bd. II, 13. Aufl. 2014, § 278 Rn. 25. 77 Wagner VersR 2020, 717, 727 ff. 78 Grundmann in MüKoBGB § 276 Rn. 68 ff., 77 ff. 79 Zum Begriff Autonomierisiko Teubner AcP 218 (2018), 155, 163 ff.; Zech DJTGutachten (Fn. 75), 25 ff.; Wagner VersR 2020, 717, 724 f.
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mit dem Betreiber. Es wird kurzerhand angenommen, dass die Entscheidungen und Handlungen des Systems diejenigen des dahinterstehenden Unternehmens „sind“. In dieser Perspektive bedarf es überhaupt keiner Zurechnung und folglich auch keiner Zurechnungsregel, einfach weil der Roboterberater gewissermaßen „Teil“ der Bank oder des Finanzdienstleistungsunternehmens ist. Diesem Ansatz folgt der europäische Verordnungsgeber, wenn Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 VO (EU) 2017/565 die Verantwortung für die Durchführung der Eignungsbeurteilung bei der Anlageberatung und Finanzportfolioverwaltung durch ein (halb-)autonomes System bei der die Dienstleistung erbringenden Wertpapierfirma loziert (vgl. auch § 64 Abs. 3 WpHG). Auch die BaFin scheint die Ansicht zu vertreten, dass jede Entscheidung oder Empfehlung des Robo Advisors dem jeweiligen Wertpapierdienstleistungsunternehmen zugeordnet werden kann und muss.80 Die stillschweigende Identifikation des Roboterberaters mit seinem Betreiber findet sich in abgewandelter Form auch im Zivilrecht, wenn das digitale System als dessen „Werkzeug“ qualifiziert wird.81 Der Begriff des Werkzeugs ist allerdings keine juristische Kategorie und – soweit ersichtlich – bisher nicht Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Forschung gewesen. Gleichwohl leuchtet die Zurechnung von Handlungen, die mit Hilfe eines Werkzeugs ausgeführt werden, zu derjenigen Person, die das Werkzeug führt, intuitiv ein. Wenn jemand mit einer Pistole auf einen anderen schießt, wird von niemandem die Frage gestellt, ob das „Verhalten“ der Pistole dem Schützen „zuzurechnen“ ist. Vielmehr wird stillschweigend und selbstverständlich davon ausgegangen, dass der Schütze selbst gehandelt hat, wenn auch mit Hilfe eines Werkzeugs, nämlich der Pistole. Genauso ließe sich auch die Zurechnung des Verhaltens von Roboterberatern organisieren: Der Robo Advisor wäre quasi die beratungsvertragliche „Pistole“ der Bank, „la bouche de la prestataire des services financiers“, durch die die Bank gegenüber dem Anleger handelte. Die Zurechnungsfrage tauchte gar nicht auf bzw. sie wäre immer schon im affirmativen Sinn beantwortet. Tatsächlich funktioniert die Werkzeugtheorie bei deterministischen Roboterberatern problemlos. Da das „Verhalten“ des digitalen Ratgebers durch seinen Betreiber vollständig determiniert wird, lässt sich sagen, der Betreiber handele durch den Robo Advisor bzw. bediene sich dessen als Werkzeug. Autonomen Roboterberatern, deren Verhalten nicht vollständig 80 BaFin Robo-Advice und Auto-Trading, Plattformen zur automatisierten Anlageberatung und automatischen Trading, am 8.4.20 abgerufen unter https://www.bafin.de/ DE/Aufsicht/FinTech/Anlageberatung/anlageberatung_node.html, „Für Robo-Advice bedeutet das, dass die Person ermittelt werden muss, der die automatisierte Anlageberatung zugerechnet werden kann.“ (zu der Frage, wie ein Beratungsprotokoll zu unterschreiben ist). 81 Zur Werkzeugtheorie digitaler Systeme Zech DJT-Gutachten (Fn. 75), 54 f.
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determiniert ist, wird die Werkzeugtheorie hingegen nicht gerecht. Da die „Entscheidung“ über das Verhalten des Roboterberaters nicht schon bei dessen Programmierung fällt, sondern erst im Zeitpunkt der konkreten Anlageberatung, darf nicht auf den Zeitpunkt der Programmierung abgestellt werden. Und da der Roboter selbst in der konkreten Handlungssituation die „ihm“ zur Verfügung stehenden Informationen verarbeiten und berücksichtigen muss, kommt es für die Bestimmung der verkehrserforderlichen Sorgfalt nicht auf den Kenntnisstand bei Programmierung an. Zusammenfassend erzwingt die Werkzeugtheorie die Feststellung der Pflichtverletzung beim Geschäftsherrn, obwohl es bei autonomen Robotern darauf ankommen müsste, die maßgebenden Pflichten und deren Verletzung beim Werkzeug selbst festzustellen. b) Gehilfenhaftung aa) Begründung
Die Fokussierung der Pflichtverletzung auf den Roboter selbst lässt sich mithilfe der analogen Anwendung von § 278 BGB auf „digitale Erfüllungsgehilfen“ gewährleisten.82 § 278 BGB rechnet das Verschulden und über den Wortlaut hinaus auch die Pflichtverletzung des Erfüllungsgehilfen dem Geschäftsherrn zu. Maßgebend für die Feststellung der Pflichtverletzung sind der Zeitpunkt und die Umstände des Gehilfenhandelns, während der Sorgfaltsmaßstab auf den Geschäftsherrn zu beziehen ist. Eine schuldhafte Pflichtverletzung des Gehilfen liegt vor, wenn sein Verhalten, als Verhalten des Geschäftsherrn gedacht, pflicht- und sorgfaltswidrig wäre.83 Verfügt der Gehilfe über besondere Kenntnisse oder Fähigkeiten, die über diejenigen des Geschäftsherrn hinausgehen, verstärkt dies die für die Haftung maßgebenden Sorgfaltspflichten.84 Bei analoger Anwendung des § 278 BGB auf digitale Erfüllungsgehilfen wäre die Pflichtverletzung für den Zeitpunkt und die Handlungssituation festzustellen, die für den Roboter maßgeblich war. Das Bedenken, ein Sorgfaltsmaßstab für digitale Systeme lasse sich gar nicht bestimmen,85 verfängt 82 Teubner AcP 218 (2018), 186 f. Eingehend zu den Voraussetzungen einer analogen Anwendung auf Roboter Wolf JuS 1989, 899, 901 f.; Günther Roboter und rechtliche Verantwortung, 2014, 75 ff. 83 BGH, Urt. v. 15.12.1959, VI ZR 222/58 = BGHZ 31, 358, 367; Grüneberg in Palandt, 79. Aufl. 2020, § 278 Rn. 27; Grundmann in MüKo BGB, § 278 Rn. 50; Caspers in Staudinger, § 278 Rn. 61 f. 84 BGH, Urt. v. 26.4.1991, V ZR 165/89, juris Rn. 23 = BGHZ 114, 263, 272; BGH, Urt. v. 7.10.2008, XI ZR 89/07, Rn. 17 = BGHZ 178, 149; Caspers in Staudinger, § 278 Rn. 66 f; Grüneberg in Palandt, § 278 Rn. 27; differenzierend Grundmann in MüKo BGB, § 278 Rn. 50. 85 So Zech DJT-Gutachten (Fn. 75), 53 f.
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dagegen nicht. Im Rahmen des § 278 BGB wäre weiterhin ein anthropozentrischer Sorgfaltsmaßstab anzulegen.86 Das Verhalten eines digitalen Erfüllungsgehilfen ist nicht an einem eigens dafür entwickelten, gleichsam „digitalen“ Sorgfaltsmaßstab zu messen, sondern an den Verhaltensanforderungen, die für den – humanen oder korporativ verfassten – Geschäftsherrn gelten. Ergibt sich im Zuge der technologischen Entwicklung, dass Robo Advisor für den Anleger bessere Leistungen erbringen als menschliche Berater, ist ein systembezogener Sorgfaltsmaßstab zugrunde zu legen, der einen guten Standard-Algorithmus zum Maßstab nimmt. bb) Einwände Der zentrale Einwand gegen eine analoge Anwendung des § 278 BGB lautet, die Vorschrift sei eine Zurechnungsnorm für fremdes Verhalten und Verschulden, und nur Menschen seien dazu in der Lage.87 Autonome Softwaresysteme und damit auch autonome Robo Advisor seien ungeachtet ihrer technischen Fertigkeiten weder rechts- noch handlungsfähig und deshalb auch nicht schuldfähig. Eine Analogie scheitere bereits auf der Ebene der Pflichtverletzung, „weil § 278 BGB keine Zurechnungsnorm für quasipersonale Maschinenoperationen darstellt, sondern ausschließlich für echtes personales Verhalten“.88 Dieser Einwand ist richtig, trifft die Analogielösung aber nicht. Wäre der Roboterberater ein Mensch, bedürfte es keiner Analogie. Für diese geht es gerade um die rechtliche Gebotenheit einer „als-ob“ Betrachtung, d.h. um die Übertragung der für menschliche Gehilfen konzipierten Rechtsfolge auf Maschinen. Die Zurechnung des pflichtwidrigen und schuldhaften Verhaltens von Artefakten in Analogie zu § 278 BGB lässt sich nicht mit dem Argument bekämpfen, die Maschine sei kein Mensch. Was speziell die Zurechnung des „Verschuldens“ des Gehilfen anlangt, so ist daran zu erinnern, dass zivilrechtliche Fahrlässigkeit keinen moralischen Vorwurf impliziert, sondern an objektiven Maßstäben auszurichten ist.89 Aus demselben Grund erfordert die analoge Anwendung des § 278 BGB auf autonome digitale Systeme nicht deren vorherige Promotion zu Rechtssubjekten.90 Eine personalistische Komponente ist § 278 BGB fremd. Der Vorschrift geht es keineswegs darum, den Erfüllungsgehilfen als Person an86 Dazu und zum systembezogenen Sorgfaltsbegriff als Alternative Wagner AcP 217 (2017), 707, 733 ff.; ders. VersR 2020, 717, 727 ff. 87 Hacker, RW 2018, 243, 256; Klingbeil JZ 2019, 718, 720; im Ergebnis auch Grüneberg in Palandt, § 278 Rn. 11; Grundmann in MüKo BGB, § 278 Rn. 46; Keßler MMR 2017, 589, 592; Lieser JZ 1971, 759, 761; Schirmer JZ 2016, 660, 665. 88 Klingbeil JZ 2019, 718, 721. 89 Statt aller Grundmann in MüKo BGB, § 276 Rn. 53 ff.; unüberwindliche Schwierigkeiten sieht hingegen Klingbeil JZ 2019, 718, 720. 90 Anders offenbar Klingbeil JZ 2019, 718, 721.
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zuerkennen und zu würdigen. Sie ist auch nicht darauf beschränkt, dem Geschäftsherrn das sog. Personalrisiko zuzuweisen, also die Gefahr, dass sich der Gehilfe als weniger umsichtig und solvent erweist als der Geschäftsherr.91 Gäbe es § 278 BGB nicht, würde für Vertragsverletzungen durch ordnungsgemäß ausgewählte Gehilfen niemand haften – der Schuldner nicht, weil er nicht pflichtwidrig und schuldhaft gehandelt hat, der Gehilfe nicht, weil er dem Gläubiger vertraglich nicht verpflichtet ist.92 Die Funktion des § 278 BGB besteht also darin, die Externalisierung von Risiken bei arbeitsteiliger Produktion zu verhindern.93 In einer arbeitsteiligen Wirtschaft soll derjenige, der die Vorteile der Arbeitsteilung für sich in Anspruch nimmt (höhere Produktivität, Effizienz) auch die damit verbundenen Risiken tragen.94 Genau darum geht es auch dann, wenn die Arbeitsteilung unter Einschaltung autonomer digitaler Systeme erfolgt. Im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 278 BGB bedient sich der Schuldner eines Mitarbeiters oder Subunternehmers, um seine vertraglichen Pflichten zu erfüllen. Im Falle des Robo Advice setzt ein Finanzdienstleistungsunternehmen digitale Systeme ein, um seine vertragliche Pflicht, eine anleger- und objektgerechte Beratung zu erbringen, zu erfüllen. Es ist nur folgerichtig, wenn die Betreiber von Robo Advisors dann auch das Autonomierisiko tragen.95 Dementsprechend ist der Schuldner im Vergleich zu seinem Vertragspartner diejenige Partei, die die Autonomierisiken am besten, also zu den geringsten Kosten zu steuern und zu bewältigen vermag (cheapest cost avoider).96 Anders als der Vertragspartner kann der Geschäftsherr das selbstlernende System fortlaufend überwachen, kontrollieren und ggf. anpassen.97 Durch die Gehilfenhaftung werden für die Betreiber ökonomische Anreize geschaffen, den Robo Advisor fortlaufend weiterzuentwickeln, um Einbußen für die Anleger zu vermeiden.98 91
So aber Grundmann in MüKo BGB, § 278 Rn. 3. Der Gehilfe mag persönlich aus Delikt haften, doch da reine Vermögensschäden vom Schutzbereich der Fahrlässigkeitshaftung ausgenommen sind, hilft das dem geschädigten Gläubiger wenig. Die persönliche Haftung des Gehilfen aus culpa in contrahendo gemäß § 311 Abs. 3 BGB ist auf wenige Ausnahmefälle beschränkt. 93 Vgl. BGH, Urt. v. 24.11.1995, V ZR 40/94, juris Rn. 12 = NJW 1996, 452; BGH, Urt. v. 27.6.1985, VII ZR 28/84, juris Rn. 16 = BGHZ 95, 128; ähnlich Caspers in Staudinger, § 278 Rn. 1; Grüneberg in Palandt, 79. Aufl. 2020, § 278 Rn. 1. 94 Grüneberg in Palandt, § 278 Rn. 1. 95 Für Roboter in diese Richtung ebenfalls Hanisch in Hilgendorf, Robotik im Kontext von Recht und Moral, 2014, 32. 96 Eingehend zum cheapest cost avoider, Posner Economic Analysis of Law, 9. Aufl. 2014, 218. 97 Hacker RW 2018, 243, 255. 98 Vgl. Europäische Kommission Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Bericht über die Auswirkungen künstlicher Intelligenz, des Internets der Dinge und der Robotik in Hinblick auf Sicherheit und Haftung, 19.2.2020, COM(2020) 64, 14. 92
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IV. Deliktische Haftung Im Bereich des Robo Advice spielt die deliktische Haftung des Anbieters kaum eine Rolle. Falsch beratene Kapitalanleger erleiden reine Vermögensschäden, doch das Vermögen als solches fällt nicht in den Schutzbereich der Fahrlässigkeitshaftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB.99 Eine Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb liegt nicht vor, weil es an dem dafür erforderlichen betriebsbezogenen Eingriff fehlt.100 Eine Haftung wegen Schutzgesetzverletzung gemäß § 823 Abs. 2 BGB bietet ebenfalls keine Grundlage für Schadensersatzansprüche des geschädigten Anlegers. Nach der Rechtsprechung des BGH sind die wertpapierrechtlichen Wohlverhaltenspflichten des früheren § 32 Abs. 2 Nr. 1 WpHG aF (§§ 63, 64 WpHG nF) nicht als Schutzgesetze zu qualifizieren.101 Die Erbringung von Beratungsleistungen ohne die gemäß § 32 Abs. 1 S. 1 KWG erforderliche Erlaubnis löst allerdings die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB aus.102 Darüber hinaus haftet unter den Voraussetzungen des § 826 BGB der Anlageberater persönlich dem Anleger auf Schadensersatz,103 und unter den Voraussetzungen der §§ 31, 831 BGB auch das hinter ihm stehende Finanzdienstleistungsunternehmen.104 Dafür muss die Anlageempfehlung aufgrund grob fahrlässigen Verhaltens leichtfertig in unrichtiger Weise und in dem Bewusstsein einer möglichen Schädigung des Anlegers abgegeben werden.105 Dies setzt bei automatisiertem Robo Advisory voraus, dass der Anbieter leichtfertig ein fehlerhaftes Softwaresystem in Betrieb und dabei die Schädigung seiner potentiellen Anleger billigend in Kauf nimmt. Bei autonomen Roboterberatern scheint die Haftung nach § 826 BGB von vornherein ausgeschlossen, denn ein autonomes Softwaresystem kann jedenfalls nach bisheriger Dogmatik nicht mit Schädigungsvorsatz handeln.106 Die Frage, ob sich mit Blick auf autonome Systeme die Figur eines „di99
Wagner in MüKo BGB, § 823 Rn. 423 ff. Wagner in MüKo BGB, § 823 Rn. 369. 101 BGH, Urt. v. 19.12.2006, XI ZR 56/05, Rn. 17 ff. = BGHZ 170, 226; Urt. v. 19.2.2008, XI ZR 170/07, Rn. 14 ff. = BGHZ 175, 276; Urt. v. 22.6.2010, VI ZR 212/09, Rn. 25 ff. = BGHZ 186, 58; Urt. v. 27.9.2011, XI ZR 182/10, Rn. 47 = BGHZ 191, 119; Urt. v. 17.9.2013, XI ZR 332/12, Rn. 21 ff. = BKR 2014, 32 = WM 2013, 1983 = JZ 2014, 252 m. Bespr. Poelzig; Urt. v. 3.6.2014, XI ZR 147/12, Rn. 35 = NJW 2014, 2947; Wagner in MüKo BGB, § 823 Rn. 581 ff. 102 Vgl. oben, II. 103 BGH, Urt. v. 19.2.2008, XI ZR 170/07, Rn. 29 m.w.N. = BGHZ 175, 276. 104 Wagner in MüKo BGB, § 826 Rn. 37 ff. 105 BGH, Urt. v. 19.2.2008, XI ZR 170/07, Rn. 29 m.w.N. = BGHZ 175, 276; Wagner in MüKo BGB, § 826 Rn. 30 ff. 106 Vgl. zur Haftung einer juristischen Person wegen Vorsatzes BGH, Urteil vom 28.6.2016, VI ZR 536/15 = NJW 2017, 250. 100
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gitalen Vorsatzes“ konstruieren ließe, kann hier nicht weiterverfolgt werden. Bei physisch verkörperten Softwareagenten, die herkömmlich als Roboter bezeichnet werden, steht die Haftung der Hersteller für durch ihre Produkte verursachte Schäden im Vordergrund.107 Im Bereich der Finanzdienstleistungen ist die zum Hersteller führende Spur haftungsrechtlicher Verantwortung hingegen versperrt. Die deliktische Produkthaftung scheidet aus, weil reine Vermögensinteressen nicht in den Schutzbereich des § 823 Abs. 1 BGB fallen. Auch die harmonisierte Produkthaftung setzt gemäß § 1 ProdHaftG die Verursachung einer Rechtsgutsverletzung durch ein fehlerhaftes Produkt voraus, wobei der Kreis der geschützten Rechtsgüter noch enger gezogen wird.108 Die Beschränkung der Produkthaftung auf Rechtsgutsverletzungen hat allerdings keine wesentlichen Haftungslücken zur Folge, weil die automatischen Berater in der Regel von denjenigen Unternehmen entwickelt und „vertrieben“ werden, die auch ihren Einsatz verantworten, sodass die Rollen als Hersteller und Betreiber zusammenfallen.109
V. Haftung des Robo Advisor als ePerson? In der Literatur wird bereits darüber diskutiert, ob autonome Softwareagenten als Rechtssubjekte anzuerkennen sind, und das Europäische Parlament hat in einer Entschließung zu Künstlicher Intelligenz und Robotik die Idee einer ePerson ins Spiel gebracht.110 Neuartige Rechtssubjekte können jedoch nicht von der Rechtsprechung und der Rechtsdogmatik geschaffen werden, sondern bedürften gesetzlicher Anerkennung. Diese findet sich für Handelsgesellschaften beispielsweise im HGB, im AktG und im GmbHG. Dieser Ausweis erfolgt im Übrigen nie voraussetzungslos, sondern stets unter eingehender Regelung der zahlreichen Probleme interner Willensbildung und des Minderheitenschutzes sowie externer Repräsentanz und des Gläubigerschutzes. Aus haftungsrechtlicher Sicht wäre die gesetzliche Anerkennung eines Softwareagenten als ePerson allenfalls dann geboten, wenn sich Haftungslücken zeigten, die nur durch Anerkennung neuer Rechtssubjekte geschlossen werden könnten.
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Dazu eingehend Wagner AcP 217 (2017), 707. Vgl. Art. 9 RL 85/374/EWG. Im Einzelnen Wagner in MüKo BGB, § 1 ProdHaftG Rn. 2 ff. 109 Zur Haftung der Nutzer autonomer Systeme vgl. Wagner in Faust/Schäfer, Zivilrechtliche und rechtsökonomische Probleme des Internet und der künstlichen Intelligenz, 2019, 1, 22 ff. Zu den unterschiedlichen Verantwortungsbereichen von Roboterhersteller und Roboternutzer Hanisch in Hilgendorf (Fn. 95), 32 f. 110 Europäisches Parlament Bericht mit Empfehlungen an die Kommission zu zivilrechtlichen Regelungen im Bereich Robotik (2015/2103(INL)), 27.01.07, 21 f. 108
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Die hier vorgestellten Überlegungen dienen dem Nachweis, dass ein Bedürfnis für die Promotion eines Robo Advisors zum Haftungssubjekt nicht besteht.111 Die Haftung des Finanzdienstleistungsunternehmens, das den Beratungsroboter eingesetzt hat, lässt sich de lege lata mit Hilfe der analogen Anwendung des § 278 BGB begründen. Der Betreiber des Robo Advisors ist das richtige Haftungssubjekt, weil er die den Roboter antreibende Software entwickelt hat und auch während seines Einsatzes die Kontrolle über das Verhalten des Roboters ausübt. Deshalb ist es geboten, die Steuerungsanreize der Vertragshaftung auf dieses Finanzdienstleistungsunternehmen zu fokussieren. Dies wird mit Hilfe des § 278 BGB gewährleistet. Hingegen ist es sinnlos, die Haftung auf den Roboter selbst zu richten, denn dieser ist für finanzielle Anreize nicht empfänglich. Für das Verhalten des Roboters ist ausschließlich seine Software maßgeblich. Es bringt dem selbstlernenden Algorithmus schlichtweg nichts, wenn er sorgfältiger arbeitet, denn er „verliert“ kein eigenes Kapital. Mit den Worten der Jubilarin lässt sich resümieren: Das Konzept einer ePerson ist einstweilen „grober Unfug“.112
neue rechte Seite! 111
Allgemein zu Sinn und Unsinn von ePersonen Wagner Robot, Inc., 88 Forham Law Review 591 (2019); ders. in Faust/Schäfer (Fn. 109), S. 29 ff.; Zech DJT-Gutachten (Fn. 75), 65 f. 112 Oben, Fn. 1.
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II. Arbeits- und Mitbestimmungsrecht
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Die Air Berlin Insolvenz, das Konsultationsverfahren und die Anzeige
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Die Air Berlin Insolvenz, das Konsultationsverfahren und die Anzeige Frank Bayreuther
Die Air Berlin Insolvenz, das Konsultationsverfahren und die Anzeige nach § 17 KSchG – ein (Kurz-)Lehrstück des deutschen Massenentlassungsrechts FRANK BAYREUTHER
Es wird wohl kaum eine*n Leser*in dieser Festschrift (sicher einschließlich der Jubilarin) geben, die*der ihre Dienste nicht einmal in Anspruch genommen hätte: Die der guten alten Air Berlin. Um das Jahr 2010 herum war sie noch auf dem Weg von einer einst bescheidenen Regionalfluggesellschaft zu einem Global Player und zu einer ernsthaften Konkurrentin der Lufthansa. Nur wenige Jahre später manifestierten sich dann aber immer tiefgreifendere wirtschaftliche Probleme, die die Gesellschaft schließlich dazu zwangen, im August 2017 Insolvenz anzumelden. Fast zwangsläufig waren damit auch größere Kündigungswellen verbunden.1 Die Abwicklung der Insolvenz bedurfte daher der Durchführung von Interessenausgleichs- und Massenentlassungsverfahren, teilweise war diese sogar dadurch geprägt.2 Nun gilt das Massenentlassungsrecht bei denen, die es in der Praxis umsetzen sollen, wohl als der unbeliebteste Baustein des deutschen Arbeitsrechts. Und gerade bei der Abwicklung von Air Berlin haben sich die mit den §§ 17 ff. KSchG verbundenen Unwägbarkeiten so vehement realisiert, dass sich die Ecken und Kanten des Massenentlassungsrechts fast lehrbuchhaft am Beispiel dieses Insolvenzverfahrens aufzeigen lassen. Davon sei hier kurz berichtet.
1 Medienberichten zufolge sollen allerdings die meisten der vormals 8.000 Beschäftigten zwischenzeitlich wieder einen Arbeitsplatz gefunden haben. S. etwa: Deutschlandfunk vom 3.12.2018, zuletzt abgerufen am 8.4.2020, abrufbar unter: https://www.deutschland funk.de/eingestellte-fluglinie-air-berlin-fast-alle-mitarbeiter.769.de.html?dram:article_id= 434918. 2 Zum Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses waren in Beck-Online bzw. Juris immerhin zwei Entscheidungen des BAG, sowie 46 Urteile verschiedener Landesarbeitsgerichte zum Verfahren dokumentiert – verbundene Verfahren und Kostensachen nicht mitgerechnet.
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I. Strukturelle Defizite des Massenentlassungsrechts Wahrscheinlich ist die Massenentlassungsanzeige bei Anwältinnen und Anwälten, die auf Arbeitgeberseite beraten, noch verrufener als das Unterrichtungsschreiben nach § 613a Abs. 5 BGB. Landauf, landab ist die Klage zu hören, dass die Komplexität des Massenentlassungsschutzes es Arbeitgebern nahezu unmöglich macht, eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige einzureichen.3 Dabei steckt hinter dieser Klage keineswegs nur, dass einzelnen Arbeitgebern das Kündigungsrecht einfach zu streng erscheint. Vielmehr ist es wirklich so, dass die Anforderungen, die an eine wirksame Massenentlassungsanzeige zu richten sind, sich kaum mehr verlässlich bestimmen lassen. So räumt auch die Vorsitzende Richterin des (u.a.) für das Massenentlassungsrecht zuständigen 6. Senats des BAG ein, dass die Divergenz zwischen dem Wortlaut der §§ 17 ff. KSchG und der tatsächlichen Rechtslage es dem Normanwender im Grunde unmöglich macht, zu durchschauen, wie ein Massenentlassungsverfahren durchzuführen ist.4 Anzeigen scheitern daher keineswegs immer am fehlenden Willen des Arbeitgebers zu einer korrekten Verfahrensdurchführung. Vielmehr muss sich dieser häufig zwischen der einen oder anderen Vorgehensweise entscheiden, ohne sicher erkennen zu können, welchen Weg die Gerichte später als den richtigen anerkennen werden. Das zeigt gerade der konkrete Fall, wo sich auf Ebene der Landesarbeitsgerichte durchaus widersprüchliche Entscheidungen etwa zu der Frage finden, ob der Insolvenzverwalter das Konsultationsverfahren (§ 17 Abs. 2 f. KSchG) korrekt durchgeführt hat oder ob die Arbeitsagentur Berlin für die Entgegennahme der Anzeige zuständig war. Die Gründe hierfür sind bekannt und sollen nur kurz angerissen werden: Der Wortlaut der §§ 17 ff. KSchG ist allenfalls noch von rechtshistorischem Wert. Im Kern basieren die Regelungen auf den Demobilmachungs- bzw. Stilllegungsverordnungen der Jahre 1920 und 1923 bzw. auf dem Kündigungsschutzgesetz des Jahres 1951. Der seinerzeit erreichte Rechtsbestand wird seit nunmehr 45 Jahren vielfältig durch die Massenentlassungsrichtlinie der Europäischen Union (MERL) überlagert. Beide Regelungskomplexe leben im Grunde nebeneinander her und in der Gesamtheit macht das das nationale Recht faktisch unanwendbar. Das KSchG gibt dem Arbeitgeber lediglich eine formal wirkende Pflicht zur Anzeige bei der Bundesagentur auf. Sie sollte einst nur sicherstellen, dass die Agentur nicht von unvorhergesehenen Massenentlassungen über3 Bauer ArbR Aktuell 2020, 112 (112); Mückl/Vielmeier NJW 2017, 2956 (2961); v. Steinau-Steinrück/Bertz NZA 2017, 145 (150). 4 Spelge RdA 2018, 297 (297 f.).
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rascht werden kann, was auch zur Konsequenz hatte, dass die Ämter Arbeitgebern bei der Erhebung der Anzeige bis zu einem gewissen Grad entgegen kommen konnten. Das Unionsrecht erkennt der Anzeige dagegen (auch) einen individualschützenden Charakter zu, der in der Praxis die arbeitsmarktpolitische Zwecksetzung der §§ 17 ff. KSchG längst überholt hat. Nach dem deutschen Recht würde es eigentlich ausreichen, wenn die Anzeige bis zum Zeitpunkt des Auslaufens der Kündigungsfrist („Entlassung“) erfolgt. Fehlt es an einer solchen, bleibt die Kündigung wirksam und Rechtsfolge ist nur, dass das Arbeitsverhältnis erst endet, wenn die Anzeige nachgeholt worden ist (Einzelheiten: § 18 KSchG). Das europäische Recht – an dem sich das BAG schon seit langer Zeit orientiert – stellt dagegen auf die Kündigungserklärung ab (genauer: auf den Zugang5 der Kündigung). Das hat zur Folge, dass der Arbeitgeber tunlichst darauf achten muss, dass er die Anzeige noch vor Ausspruch erstattet hat und zudem, dass dies ordnungsgemäß geschehen ist. Andernfalls ist die Kündigung unwirksam: §§ 134 BGB iVm. 17 KSchG. Die Erstattung der Anzeige ist wiederum erst möglich, wenn zuvor das Konsultationsverfahren abgeschlossen wurde. Das deutsche Recht hatte das so nie gesehen (s. nur § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG), weshalb es keine brauchbaren Hinweise etwa für den Fall enthält, dass sich die Beratungen mit dem Betriebsrat festfahren. Ein weiteres hierzu tut, dass der EuGH die Tatbestandsmerkmale der Richtlinie autonom auslegt, das überdies abschließend, wodurch die Richtlinie faktisch vollharmonisierend wirkt. Dabei weicht die Auslegung auf europäischer Ebene an entscheidenden Stellen von den Begrifflichkeiten des nationalen Rechts ab, wie etwa beim Arbeitnehmer- oder aber beim Betriebsbegriff. Damit verbinden sich für den nationalen Rechtsanwender nicht nur erhebliche Unsicherheiten, vielmehr ist das Verfahren dadurch punktuell undurchführbar geworden. Sieht man etwa mit dem EuGH6 leitende Angestellte oder in ausgewählten Fällen sogar Gesellschaftsorgane als Arbeitnehmer iSd. Massenentlassungsrechts an, ist es mit einer (mit Blick auf Absatz 5 ohnehin schon gewagten) unionsrechtskonformen Auslegung des § 17 KSchG nicht getan, weil diese schlechterdings nicht durch den Betriebsrat vertreten werden und daher nicht in das erforderliche Konsultationsverfahren (vgl. § 17 Abs. 3 KSchG) einbezogen werden können. Alles in allem ist dadurch die Hälfte des deutschen Gesetzestextes (namentlich: §§ 17 Abs. 3 S. 3, Abs. 5, 18 bis 21 KSchG) unverständlich geworden, aber auch darüber hinaus passen sich die (nach wie vor zu beachtenden) nationalen Vorgaben nicht gut in die aus unionsrechtlicher Sicht erforderli5
Nunmehr klargestellt durch: BAG 13.6.2019 – 6 AZR 459/18, NZA 2019, 1638 Rn. 34. 6 EuGH 10.9.2015 – C-47/14 (Holterman), NZG 2015, 1199; 9.7.2015 – C-229/14 (Balkaya), NZA 2015, 861 Rn. 39; 11.11.2010 – C-232/09 (Danosa), NZA 2011, 143 Rn. 56.
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chen Verfahrensschritte ein. Dabei tut sich das deutsche Recht, wie so häufig, bei seinen Begegnungen mit dem Unionsrecht mit dessen Umsetzung vor allem deshalb so schwer, weil das Unionsrecht zwar nicht selten nur grundständige Leitlinien vorgibt, während das deutsche Recht bereits über ein verhältnismäßig umfassendes Regelungsregime verfügt, sich dieses dann aber nicht harmonisch in das Unionsrecht einfügt. So bereitete die Umsetzung der MERL in Rechtssystemen weitaus weniger Probleme, die zuvor keinen Massenentlassungsschutz kannten, die über keinen dichten Kündigungsschutz verfügen bzw. in denen dieser nur als Abfindungsschutz ausgeformt ist und in denen es keine anderweitigen kollektiven Beteiligungsrechte bei größeren Betriebsänderungen gibt.
II. Ein Drama in drei Akten 1. Der Streit um den Interessenausgleich Den langen Reigen gerichtlicher Entscheidungen haben der Insolvenzverwalter von Air Berlin und die Kabinenvertretung geradezu mit einem Klassiker eröffnet, nämlich mit der Frage, ob dem Betriebsrat ein Unterlassungsanspruch gegen den Arbeitgeber (Insolvenzverwalter) zusteht, wenn dieser mit der Durchführung einer Betriebsänderung beginnt, ohne zuvor einen Interessenausgleich iSd. §§ 111, 112 Abs. 2 BetrVG versucht oder eine gerichtliche Entscheidung nach § 122 Abs. 2 InsO herbeigeführt zu haben. Dieser – bis zum LAG Berlin-Brandenburg7 gebrachte – Rechtsstreit wurde durch den Umstand überlagert, dass nach dem damals geltenden Recht8 das BetrVG auf das fliegende Personal von Fluggesellschaften nur dann zur Anwendung kam, wenn dies durch Tarifvertrag vereinbart worden war. Das war auch der Fall. Die Kombattanten hatten (grob gesprochen) in einem Haustarifvertrag die Regelungen der §§ 111 ff. BetrVG für anwendbar erklärt. Daraus folgerte das LAG, dass wenn die §§ 111 ff. BetrVG zum Zuge kommen, das auch für die zu diesen Normen ergangene Rechtsprechung gilt. Ob dem Betriebsrat ein Unterlassungsanspruch zusteht, wenn der Arbeitgeber ohne zuvorigen Versuch des Interessenausgleichs zu Maßnahmen schreitet, die die Betriebsänderung ausmachen, gehört bekanntlich zu den umstrittensten Problemen des Betriebsverfassungsrechts.9 Das LAG BerlinBrandenburg steht einem dahingehenden Unterlassungsanspruch allgemein 7
LAG Berlin-Brandenburg 8.12.2017 – 6 TaBVGa 1484/17, NZA-RR 2018, 442. § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG idF. des BetrVG 2001. Dieser Regelung wurde mit Wirkung zum 1.5.2019 durch Gesetz v. 18.12.2018 (BGBl. I S. 2651) geändert. 9 Darstellung bei Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 111 Rn. 130 ff. 8
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offen gegenüber10, hatte für diesmal diese Frage aber ausdrücklich unentschieden gelassen. Vielmehr greift es direkt auf das materielle Recht zu und verweist darauf, dass die Kabinenvertretung die begehrte Auskunft ohnehin nicht verlangen könne. Ausgangspunkt hierfür war, dass der Insolvenzverwalter die Vertretung durchaus mit Informationen versorgt hatte und zur Aufnahme von Interessenausgleichsverhandlungen bereit war. Die Personalvertretung indes wollte noch Genaueres über die bereits erfolgte Veräußerung von Flugzeugen und die Übertragung bestimmter Inlandslots wissen. Diesem Ansinnen hielt das LAG entgegen, dass der Arbeitgeber nur Information und Beratung über die konkret geplante Betriebsschließung schulde. Er müsse dem Betriebsrat aber nicht Auskunft über jede wirtschaftliche Entscheidung geben, die mit der Betriebsänderung nur zusammenhängt, was sich durchaus kritisch hinterfragen ließe. Ungewöhnlich war dann auch der weitere Verlauf des Verfahrens. Kurze Zeit nach dem erwähnten LAG-Beschluss leitete der Insolvenzverwalter ein Verfahren zur Einsetzung einer Einigungsstelle ein, die über einen Interessenausgleich verhandeln sollte. Unternehmen und Kabinenvertretung verständigten sich dann doch noch einvernehmlich auf deren Einsetzung. Nur erklärte sich die Einigungsstelle für unzuständig und so kam es auch nicht zum Abschluss eines Interessenausgleichs. Dem wiederum lag zu Grunde, dass der erwähnte Tarifvertrag sich nur auf die Vertretung des Kabinenpersonals bezog. Sinnvoll erfassen hätte sich die Betriebsänderung aber nur lassen, wenn im Interessenausgleich Regelungen getroffen worden wären, die zumindest reflexweise auch das Cockpit bzw. Bodenpersonal angesprochen hätten. Das ließe sich auch gut anders beurteilen.11 Indes hatte das BAG in späteren, um einen Nachteilsausgleich12 geführten Rechtsstreitigkeiten keine Bedenken gegen diese Vorgehensweise.13 2. Konsultationsverfahren Dass der Arbeitgeber mit einer Unterrichtung des Betriebsrats den Anforderungen nach § 111 S. 1 BetrVG Genüge getan hat, heißt noch lange nicht, dass er damit auch der ihm nach § 17 Abs. 2 KSchG auferlegten Pflicht zur Auskunftserteilung nachgekommen wäre. Noch weniger lässt sich aus dem Umstand, dass Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahren der §§ 111 ff. BetrVG nur irgendwie und ggf. sogar ergebnislos durchlaufen 10 S. LAG Berlin-Brandenburg 19.6.2014 – 7 TaBVGa 1219/14, juris Rn. 12; 7.9.1995 – 10 TaBV 5/95, NZA 1996, 1284. 11 Andere Ansicht etwa: LAG Düsseldorf 12.9.2019, 11 Sa 986/18, juris Rn. 368. 12 Erneut rekurrierten die Kläger auf einen tariflichen Anspruch, der freilich § 113 BetrVG nachgebildet war. 13 BAG 21.1.2020 – 1 AZR 295/19, 1 AZR 129/19.
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wurden, schließen, dass das Konsultationsverfahren der § 17 Abs. 2 und 3 KSchG ordnungsgemäß durchgeführt worden wäre. Auch an dieser Stelle tut sich der bereits in der Einleitung skizzierte Bruch zwischen europäischem und nationalem Recht auf: Einerseits legen die §§ 111 ff. BetrVG dem Arbeitgeber Verpflichtungen auf, die deutlich über die Vorgaben der MERL hinausgehen und die es aus unionsrechtlicher Sicht nicht bräuchte, andererseits decken diese den europäischen Standard aber auch nicht vollständig ab. Besonders irreführend erweisen sich hier die längst überholten Regelungen der §§ 1 Abs. 5 S. 4 KSchG, 125 Abs. 2 InsO. Für das Kündigungsrecht sind die nach § 17 KSchG erforderlichen Beratungen mit dem Betriebsrat aber von herausragender Bedeutung. Denn anders als es bei den betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsverfahren der Fall ist, schlagen Versäumnisse in diesem Bereich unmittelbar auf die individualrechtliche Ebene durch. Der Ausspruch einer Kündigung ist nur zulässig, wenn die Anzeige erstattet wurde und diese wiederum kann erst erstattet werden, wenn das Konsultationsverfahren ordnungsgemäß abgeschlossen wurde. In der Folge kann sich der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess stets darauf berufen, dass das Konsultationsverfahren mit Fehlern behaftet war und zwar selbst dann, wenn der Betriebsrat diese gar nicht reklamiert haben sollte. Für den Arbeitgeber ist das doppelt unglücklich: Zum einen sind die ausgesprochenen Kündigungen unwirksam und meist ist auch viel Zeit verstrichen. Zum anderen ist unklar, ob er das Konsultationsverfahren überhaupt noch jemals wird durchführen können, weil sich die längst vollzogenen unternehmerischen Maßnahmen meist auch vor einer neuerlichen Verhandlungsrunde nicht mehr rückgängig machen lassen. Umgekehrt steht es den Betriebspartnern aber frei, Interessenausgleich und Konsultation zu verbinden, was sich in der Lebenswirklichkeit natürlich geradezu aufdrängt. Das setzt aber voraus, dass der Arbeitgeber innerhalb des Interessenausgleichsverfahrens seine Unterrichtungs- und Beratungspflichten nach § 17 KSchG vollständig erfüllt. Zudem darf er noch keine unumkehrbaren Maßnahmen getroffen und damit noch keine vollendeten Tatsachen geschaffen haben. Und schließlich muss der Betriebsrat – so das BAG – „klar erkennen können“, dass die Handlungen des Arbeitgebers (auch) der Erfüllung der Konsultationspflicht aus § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG dienen sollen.14 Dies kann sich zwar auch aus den äußeren Umständen ergeben. Dennoch empfiehlt es sich nicht, wenn im Interessenausgleich gar nichts von der Durchführung des Konsultationsverfahrens zu lesen ist. Als noch kritischer erweist sich der umgekehrte Fall, nämlich der, dass die Beratungen mit dem Betriebsrat nicht vorankommen und der Betriebsrat 14 BAG 13.6.2019 – 6 AZR 459/18, NZA 2019, 1638 Rn. 41 f.; 9.6.2016 – 6 AZR 405/15, NZA 2016, 1198 Rn. 21; 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, NZA 2015, 881 Rn. 17; 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, NZA 2013, 32 Rn. 47; 18.1.2012 – 6 AZR 407/10, NZA 2012, 817 Rn. 34.
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nicht bereit ist, eine finale Stellungnahme abzugeben. Zwar weist das BAG darauf hin, dass der Arbeitgeber spätestens dann eine Anzeige erstatten kann, wenn er annehmen darf, dass kein Ansatz mehr für weitere, zielführende Verhandlungen besteht.15 Das ist freilich mit großen Risiken verbunden, weshalb der Abbruch von Verhandlungen (und zwar ggf. bevor der Interessenausgleich endgültig gescheitert ist) für ihn stets nur das letzte Mittel sein kann. Die damit verbundenen Unwägbarkeiten lassen sich kaum besser aufzeigen als an Hand des Umstands, wie unterschiedlich die mit der Air Berlin Insolvenz befassten Kammern der Landesarbeitsgerichte Berlin-Brandenburg und Düsseldorf die eingangs kurz skizzierten Beratungen des Insolvenzverwalters mit der Kabinenvertretung bewertet haben. Einige Kammern des LAG Berlin-Brandenburg zeigten sich zunächst durchaus großzügig.16 Sie meinten, dass der Insolvenzverwalter seiner Pflicht zu Unterrichtung und Beratung ausreichend nachgekommen sei. Dieser habe der Vertretung die Gründe für die geplanten Entlassungen mitgeteilt (nämlich: Stilllegung des Flugbetriebs als Ganzes), er habe darauf hingewiesen, dass die finanzielle Lage eine Betriebsfortführung nicht mehr erlaube und schließlich auch die sonstigen in § 17 Abs. 2 KSchG vorgesehenen Informationen erteilt. Folglich sei die Personalvertretung ausreichend informiert gewesen und habe alle Umstände gekannt, die für die Durchführung der Konsultationen erforderlich waren. Dass es dann zu keinen Verhandlungen gekommen ist, habe die Personalvertretung mit ihrer Verweigerungshaltung selbst zu verantworten, weil diese in ihre Sphäre falle. Die Vertretung habe – so das LAG wörtlich – „nur immer weitere Informationen“ haben wollen, auf die sie aber eben keinen Anspruch gehabt habe. Andere Kammern desselben Gerichts, aber auch das LAG Düsseldorf17, legten den Finger indes in die Wunde, die sich mit dem zuvorigen Verkauf der Flugzeuge und der bereits begonnenen Entlassung von Piloten aufgetan hatte: Der Arbeitgeber darf, wie dargelegt, vor dem Abschluss des Konsultationsverfahrens keinerlei Maßnahmen treffen, die ihn unmittelbar zur Vornahme der Massenentlassung zwingen. Eine derartige Entscheidung kann auch – so die betreffenden Gerichte – in der unwiderruflichen Freistellung oder Kündigung von ganz „anderen“ Arbeitnehmern liegen, die für die Fortführung des Betriebs notwendig sind. Sie erklärten die angegriffenen Kündigungen für unwirksam. 15 BAG 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, NZA 2017, 175 Rn. 50; 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, NZA 2015, 881 Rn. 29. 16 Ua. LAG Berlin-Brandenburg 10.9.2019, 11 Sa 237/19, juris; 6.9.2019 – 6 Sa 11/19, juris. Die gegen die Entscheidungen erhobenen Nichtzulassungsbeschwerden wurden durch das BAG verworfen. 17 LAG Berlin-Brandenburg 11.7.19 – 21 Sa 1908/18, juris (führend). Im Ergebnis ebenso: LAG Düsseldorf 12.9.2019 – 11 Sa 986/18, juris; 5.7.2019 – 10 Sa 1022/18, juris.
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3. Fehlerhafte Massenentlassungsanzeige Unverhofft kommt oft, heißt es im Volksmund und hatte man bis hierher den Eindruck, dass die Erstattung der Massenentlassungsanzeigen dem Unternehmen zwar einige Probleme bereitete, es damit umgekehrt aber auch nicht regelrecht Schiffbruch erlitten hat, kam es am Ende ganz anders. Mehrere Landesarbeitsgerichte und schließlich das BAG hielten Anzeigen überraschenderweise aus formalen Gründen für unzureichend. Immerhin wurde nicht beanstandet, dass die Kündigungen teilweise zu einem späteren Zeitpunkt ausgesprochen wurden als es in der Massenentlassungsanzeige angegeben war. Soweit nicht vorsätzlich falsche Angaben gemacht werden, genügt es, wenn lediglich eine Prognose mitgeteilt wird. Eine erneute Anzeige ist entbehrlich, wenn die Kündigung jedenfalls vor Ablauf der Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG, also innerhalb von 90 Tagen nach Erstattung der Anzeige, ausgesprochen wird.18 Die Kündigung einiger Piloten scheiterte indes daran, dass der Insolvenzverwalter die Anzeigen nach den betriebsverfassungsrechtlichen Vertretungsstrukturen aufgetrennt hatte. Damit enthielt diejenige, die die Piloten betraf, keine Aussagen zu gegenüber dem Boden- und Kabinenpersonal ausgesprochenen Kündigungen. Das konnte nicht richtig sein, weil bei der Anwendung der §§ 17 ff. KSchG alleine der Betriebsbegriff der MERL maßgeblich ist. Keine Rolle spielt dagegen der Betriebsbegriff des nationalen Rechts und noch weniger kollektivrechtlich geschaffene „andere“ Vertretungsstrukturen. Zu Recht meint das BAG daher, dass es der Anzeige an den nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG vorgeschriebenen Informationen gefehlt habe.19 Vice versa müsste daraus übrigens folgen, dass auch die für das Kabinen- bzw. das Bodenpersonal gemachten Anzeigen unwirksam waren, sollte es diesen ihrerseits an Angaben zur Kündigung von Piloten oder Bodenbeschäftigten gefehlt haben. Eher einen Nebenschauplatz betritt das LAG Berlin, wenn es meint, dass die Massenentlassungsanzeige des Kabinenpersonals deshalb unwirksam gewesen sei, weil der Arbeitgeber gegenüber der Agentur den Stand der Beratungen mit dem Betriebsrat irreführend dargestellt habe. Er habe angegeben, die beabsichtigte Massenentlassung mit dem Betriebsrat beraten zu haben, obwohl tatsächlich nur ein Austausch über die erforderlichen Informationen stattgefunden hatte.20 Das mag man so sehen. Indes – das verkennt natürlich auch das LAG nicht – müsste man die Anzeige unter die18
LAG Düsseldorf 19.9.2019 – 11 Sa 1043/18, juris. BAG 13.2.2020 – 6 AZR 146/19, Pressemitteilung Nr. 7/20. 20 LAG Berlin-Brandenburg 11.7.2019 – 21 Sa 2100/18, NZA-RR 2019, 640 (nicht rechtskräftig, Az. beim BAG: 6 AZR 562/19). 19
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ser Prämisse bereits deshalb verwerfen, weil das Konsultationsverfahren schon gar nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Grundlegende Bedeutung erlangt dagegen ein anderer Gesichtspunkt: Anzeigen nach § 17 KSchG müssen bei der Agentur eingereicht werden, in deren Bezirk der betroffene Betrieb liegt. Werden sie gegenüber einer örtlich unzuständigen Agentur erhoben, bleiben sie wirkungslos, bis die angesprochene Agentur diese an die örtlich zuständige Behörde weitergeleitet hat,21 das BAG scheint sogar zur Annahme ihrer völligen Unwirksamkeit zu tendieren.22 So oder so ist die Kündigung jedenfalls unwirksam, sollte sie dem Arbeitnehmer zugehen, bevor die Anzeige die zuständige Behörde erreicht hat: §§ 134 BGB iVm. 17 KSchG. Der Insolvenzverwalter hatte die Anzeigen gegenüber der Berliner Agentur für Arbeit erstattet und zwar auch, was die Kündigung von „fliegenden Beschäftigten“ anging, die den Stationen in Düsseldorf, München, Frankfurt, Stuttgart, Hamburg, Köln, Paderborn, Nürnberg oder Leipzig zugeordnet waren. Dem lag erneut die Überlegung zu Grunde, dass die Vertretungen aller drei Beschäftigtengruppen tarifvertraglich in Berlin eingerichtet waren. Von dort aus wurde der Flugbetrieb zentral gesteuert und alleine dort erfolgten die Planungen des Flugverkehrs, einschließlich der Erstellung der Umlauf- und Dienstpläne. Davon ausgehend nahm der Insolvenzverwalter an, dass der für die Piloten und das Kabinenpersonal maßgebliche Beschäftigungsbetrieb der Berliner Firmensitz ist. Ob dieses Vorgehen richtig war, war unter den involvierten Landesarbeitsgerichten umstritten23 und so findet sich an dieser Stelle eine kaum überschaubare Vielzahl divergierender Entscheidungen. Schlussendlich entschied das BAG, dass die Anzeigen bei den für die jeweiligen Stationen zuständigen Arbeitsagenturen hätten eingereicht werden müssen.24 Erneut gilt zu beachten, dass alleine der unionsrechtliche Betriebsbegriff maßgeblich sein kann. Nach dem EuGH25 gilt als Betrieb eine unterscheid21 Bayreuther in L/K/B KSchG, 16. Aufl. 2019, § 17 Rn. 111; Deinert/Callsen in D/D/Z Kündigungsschutzrecht, 10. Aufl. 2017, § 17 Rn. 52; Moll in APS Kündigungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 17 Rn. 96; Weigand in KR KSchG, 12. Aufl. 2019, § 17 Rn. 122; Hergenröder in MüKo-BGB, 8. Aufl. 2020, § 17 Rn. 47; Krieger/Ludwig NZA 2010, 919 (924). 22 BAG 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 199 Rn. 43. 23 Dafür LAG Berlin-Brandenburg 14.5.2019 – 11 Sa 2211/18, juris; 12.4.2019 – 6 Sa 1712/18, juris; 2.7.2019 – 11 Sa 2148/18; LAG Düsseldorf 8.1.2019 – 3 Sa 338/18, juris (Piloten; Vorinstanz zu BAG 13.2.2020 – 6 AZR 146/19, Pressemitteilung Nr. 7/20); 4.12.2018 – 8 Sa 379/18, juris; 17.10.2018 – 1 Sa 337/18, juris; dagegen u.a.: LAG Hessen 23.9.2019 – 17 Sa 1528/18, juris (Kabinenpersonal). 24 BAG 13.2.2020 – 6 AZR 146/19, Pressemitteilung Nr. 7/20 (Piloten, Revisionsentscheidung zu LAG Düsseldorf 8.1.2019 – 3 Sa 338/18). 25 EuGH 13.5.2015 – C-392/13 (Rabal Cañas), NZA 2015, 669 Rn. 42 ff.; 30.4.2015 – C80/14 (USDAW und Wilson), NZA 2015, 601 Rn. 46 ff.; 15.2.2007 – C-270/05 (Athinaiki
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bare Einheit, die von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität ist, die zur Erledigung einer oder mehrerer konkreter Aufgaben unterhalten wird und die über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern, technischen Mitteln und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt. Im Gegensatz zum deutschen Recht – also zum Betriebsbegriff der §§ 1, 4, 111 ff. BetrVG und 23 KSchG – kommt es nicht darauf an, dass vor Ort auch eine Leitung vorhanden ist, der Personalkompetenz zukommt und die mithin Abmahnungen oder Kündigungen bis hin zu Massenentlassungen aussprechen könnte. Zudem ist es im europäischen Recht unerheblich, ob und inwieweit die Einheit rechtlich bzw. verwaltungsmäßig autonom wirtschaftet. Der Betriebsbegriff des Unionsrechts knüpft nicht an formale Entscheidungsbefugnisse an, sondern macht sich am Vorliegen einer arbeitstechnisch abgrenzbaren Einheit fest.26 Es reicht, wenn eine Leitung vorhanden ist, die die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Kontrolle des Gesamtbetriebs der Einrichtungen, sowie die Lösung einschlägiger („technischer“) Probleme sicherstellt. Diese Voraussetzungen waren bei den jeweiligen Stationen erfüllt (insoweit gehen die Meinungen in den Instanzen aber eben auseinander). Diese waren auf Dauer eingerichtet, dienten als Start- und Landebasis für den Flugbetrieb, verfügten über hinreichende technische Mittel und Organisationsstrukturen (Standplätze für Flugzeuge, Aufenthaltsraum usw.) und waren daher gut von anderen, vergleichbaren Einheiten der Fluggesellschaft unterscheidbar. Geleitet wurden diese von sogenannten „Area Managern“, so dass auch die arbeitstechnische Leitung vor Ort erfolgte. Diesen standen zwar keine Personalkompetenzen ieS. zu, insbesondere verfügten diese nicht über Befugnisse im Hinblick auf Einstellungen, Kündigungen oder Vertragsänderungen und offenbar durften diese auch keine Abmahnungen aussprechen. Das aber ist für das Europarecht eben nicht von Belang. Dabei kommt hinzu, dass die Heimatbasis ein zentraler Anknüpfungspunkt im internationalen Privatrecht der Union27 ist. Das BAG kommt zu diesem Ergebnis allerdings mit einer anderen Überlegung. Es argumentiert, dass bei typisierender Betrachtung die Auswirkungen der Massenentlassung vorwiegend im Bezirk der „Basis-Agenturen“
Chartopoiia), NZA 2007, 319 Rn. 23 ff.; 7.12.1995 – C-449/93 (Rockfon), NZA 1996, 471 Rn. 25 ff. 26 Kocher ZESAR 2016, 86 (88); Spelge in MüHdB-ArbR, 4. Aufl. 2018, Bd. 2, § 121 Rn. 8; Kiel in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 17 Rn. 9; Linck in Schaub ArbR-HdB, 18. Aufl. 2019, § 142 Rn. 3; Bayreuther in L/K/B KSchG, 16. Aufl. 2019, § 17 Rn. 14 ff.; Spelge RdA 2018, 297 (299); Maschmann EuZA 2015, 488 (493 f.); Kleinebrink/Commandeur NZA 2015, 853 (856). 27 S. EuGH 14.9.2017 – C-168/16 u. C-169/16 (Noguera u.a.), NZA 2017, 1477; LAG Berlin-Brandenburg – 27.2.2018 – 6 Sha 140/18, NZA-RR 2018, 442; LAG Bremen v. 30.10.2018 – 1 Sa 157/17, BeckRS 2018, 43211.
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auftreten werden, denen durch eine frühzeitige Einschaltung der zuständigen Agentur für Arbeit entgegengetreten werden solle. Das alleine kann indes nicht ausschlaggebend sein; entscheidend kann nur sein, wie man die rechtlich relevante Einheit bemisst, auf die es bei der Erstattung der Anzeige abzustellen gilt. Die Erkenntnis, dass die Anzeigen bei der falschen Agentur eingereicht worden sind, dürfte auf die Gesellschaft wie ein Donnerschlag gewirkt haben. Dies umso mehr, als daran die Frage anknüpft, ob dann nicht auch die Anzeigen für die zahlreichen in Berlin stationierten Arbeitnehmer unwirksam sind, weil diese auf Grund der „Überfrachtung“ mit den „auswärtigen“ Beschäftigten ja ihrerseits inhaltlich unrichtig waren. Von Seiten der Praxis28 wurde dem BAG rasch entgegengehalten, dass der Insolvenzverwalter vor Einreichung der Anzeige bei der Agentur für Arbeit (gemeint ist wohl: bei der Agentur in Berlin) nachgefragt habe, an welche Behörde die beabsichtigte Massenentlassungsanzeige zu richten wäre. Diese soll geantwortet haben, dass die betriebsverfassungsrechtliche Untergliederung der Mitarbeiter in Boden-, Cockpit- und Kabinenpersonal sich auch im Massenentlassungsrecht abbilden lasse und entsprechend die Zuständigkeit der angefragten Berliner Agentur gegeben sei. Das indes ist kein schlagendes Argument gegen das BAG. Die örtliche Arbeitsagentur kann eben nicht mehr über den unionsrechtlich determinierten Betriebsbegriff disponieren. Äußert sie sich materiellrechtlich falsch, kann beim anfragenden Arbeitgeber kein Vertrauen darauf entstehen, dass die betreffende Auskunft richtig ist. Eher Bedeutung könnte dagegen erlangen, dass die Bundesagentur fachliche Weisungen erlassen hat, in denen ausdrücklich bestimmt ist, dass Großunternehmen mit deutschlandweitem Filialnetz im Falle von Massenentlassungen in mehreren Betrieben (Filialen) an regional unterschiedlichen Standorten eine Sammelanzeige bei der Agentur erstatten können, die für den Hauptsitz des Unternehmens örtlich zuständig ist.29 Das ist ihr nach § 327 Abs. 4 bis 6 SGB III möglich und eine dahingehende Disposition über die örtliche Zuständigkeit konkurrierender Agenturen scheint aus unionsrechtlicher Sicht zulässig.30
28
Bauer ArbRAktuell 2020, 112. S. Ziffer 2.2.3 Abs. 4 der fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit „Fachliche Weisungen Dritter und Vierter Abschnitt Kündigungsschutzgesetz - KSchG“, Stand: 10.10.2017. 30 LAG Düsseldorf 19.9.2019 – 11 Sa 1043/18, juris. 29
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III. Eine abschließende Bemerkung Der kurze Spaziergang durch die „Air-Berlin-Story“ hinterlässt bei dem*der einen oder anderen Leser*in sicher eine gewisse Ratlosigkeit. Trotz aller verdienstvollen Bemühungen des BAG, strukturbildende Pflöcke in das Recht der Massenentlassung einzuschlagen, sind die nach wie vor verbleibenden Unwägbarkeiten immens. Das gilt selbst dann, wenn man den Gesetzeswortlaut völlig außerhalb jeder Betrachtung lassen würde, was natürlich an sich schon ein Unding ist. Dass bei einer derart unübersichtlichen Rechtslage ein Großverfahren wie das der Air Berlin Insolvenz sich nicht ohne Unschärfen durchführen lässt, liegt auf der Hand. Umgekehrt zeigt aber auch dieses Verfahren ein Phänomen, das sich bei der Umsetzung (zu) komplexer arbeitsrechtlicher Vorgaben immer einmal wieder beobachten lässt, nämlich eine gewisse Tendenz der Praxis zur Flucht nach vorne. Gerade aber wenn man in Unsicherheitslagen die durch Rechtsprechung und Literatur bereits herausgearbeiteten Leitlinien nicht konsequent verfolgt, setzt man sich der Gefahr aus, am Ende kontraproduktive Ergebnisse herbeizuführen. Alles in allem kann aber nur erneut der dringende Appell an den Gesetzgeber gerichtet werden, das Recht der Massenentlassung so rasch als nur irgend möglich völlig neu zu fassen.31 Die sich zum Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses im März 2020 am Horizont auftuende, in ihrer Dimension bislang kaum erfassbare Wirtschaftskrise, wird diesen Ruf noch viel lauter werden lassen.
neue rechte Seite! 31
Spelge RdA 2018, 297 (303 f.).
(Organ-)Kontinuität im Betriebsverfassungsrecht
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(Organ-)Kontinuität im Betriebsverfassungsrecht Burkhard Boemke
(Organ-)Kontinuität im Betriebsverfassungsrecht – oder: der ewige Betriebsrat BURKHARD BOEMKE*
I. Einleitung Die Jubilarin hat sich bereits in ihrer viel beachteten Habilitationsschrift „Arbeitsrecht im Konzern“ mit den Schnittstellen zwischen Unternehmensund Arbeitsrecht beschäftigt. Dabei ging es ihr auch immer wieder um die Legitimität der Einbeziehung von Arbeitnehmern in Unternehmensentscheidungen.1 Maßgebliche Bedeutung kommt hierbei dem Betriebsrat als Repräsentationsorgan der Belegschaft2 zu. In ihrer Habilitationsschrift hat Windbichler daher zu Recht ein ganzes Kapitel den Betriebsverfassungsrecht gewidmet und dabei insbesondere ausführlich den Konzernbetriebsrat betrachtet. Nach Rechtsprechung und herrschende Lehre besteht ein einmal errichteter Konzernbetriebsrat weiter, auch wenn zurzeit keine Mitglieder in ihn entsandt worden sind. Die Neuentsendung von Mitgliedern führt somit nur zu einer personellen Neubesetzung, während der Konzernbetriebsrat als Repräsentationsorgan derselbe bleibt. Es handelt sich im um eine Dauereinrichtung.3 Eine abweichende Auffassung wird für den Betriebsrat vertreten. Ein neu gewählter Betriebsrat soll Funktionsnachfolger bzw. Rechtsnachfolger des alten Betriebsrats, nicht aber mit diesem identisch sein.4 Diese fast allgemein
* Professor Dr. Burkhard Boemke ist Ordinarius für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig und geschäftsführender Direktor des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Juristenfakultät. Sein herzlicher Dank gilt Frau RRef. Saskia Döring und Herrn cand. jur. Thilo Haase für die maßgebliche Unterstützung bei der Anfertigung dieses Beitrags. 1 Z.B. Windbichler Arbeitnehmerinteressen im Unternehmen und gegenüber dem Unternehmen - Eine Zwischenbilanz, AG 2004, 190 ff. 2 Boemke in MünchHB-ArbR, 4. Aufl. 2019, § 286 Rn. 14; v. Hoyningen-Huene in FS Stahlhacke, 1995, 176. 3 BAG 23.8.2006 – 7 ABR 51/05, AP Nr. 12 zu § 54 BetrVG 1972 (unter II 2 b bb); 9.2.2011 − 7 ABR 11/10, NZA 2011, 866, 870; Richardi/Annuß BetrVG, § 54 Rn. 45; Trittin in DKKW BetrVG, § 54 Rn. 124. 4 BAG 24.10.2001 – 7 ABR 20/00, NZA 2003, 53, 55; 18.5.2016 – 7 ABR 81/13, NZARR 2016, 582, 583; 19.12.2018 – 7 ABR 79/16, NZA 2019, 940, 941 f.; Worzalla in
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vertretene Auffassung5 führt allerdings in der Praxis zu dogmatischen Begründungsschwierigkeiten. Daher soll nachstehend dargelegt werden, dass der Betriebsrat, wenn er einmal errichtet worden ist, wie vergleichbar der Aufsichtsrat kontinuierlich fortbesteht. Kontinuität in der Betriebsverfassung (unter II.) bedeutet zugleich Organkontinuität des Betriebsrats (unter III.). Hierdurch lassen sich von der Rechtsprechung und h.L. vertretene Ergebnisse dogmatisch konsistenter erklären (IV.).
II. Kontinuitätsprinzip in der Betriebsverfassung 1. Kontinuität als Strukturprinzip Ein anerkanntes Strukturprinzip der Betriebsverfassung ist das Prinzip der Kontinuität des Betriebsrats,6 das in der älteren Rechtsprechung des BAG auch als „Stetigkeitsprinzip“ bezeichnet wird.7 Ableiten lässt sich dieses aus einer Gesamtschau verschiedener betriebsverfassungsrechtlicher Normen gleicher Zweckrichtung.8 Kontinuität des Betriebsrats meint dabei nach dem herrschenden Begriffsgebrauch in Rechtsprechung und Literatur eine Beständigkeit des Betriebsrats allein dergestalt, dass seine personelle Zusammensetzung während der Amtszeit nach Möglichkeit unverändert bleiben soll.9 Mit dem Ende seiner Amtszeit soll der Betriebsrat nach bisher allgemeiner Meinung indes als Organ nicht mehr fortbestehen, sondern – unter Verweis auf § 21 BetrVG – rechtlich erlöschen.10 Damit wird die Kontinuität des Betriebsrats als eine rein personelle Kontinuität begriffen. HWGNRH BetrVG, § 21 Rn. 11; Buschmann in DKKW BetrVG, § 21 Rn. 1; Ricken in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, 629, 632. 5 Abweichend jetzt aber Boemke/Deyda ZfA 2020 Heft 2. 6 Siehe nur Vogelsang DB 1990, 1329; Ricken in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, 629 ff. 7 BAG 20.10.1954 – 1 ABR 11/54, AP Nr. 1 zu § 25 BetrVG; 24.4.1969 – 2 AZR 319/68, AP Nr. 18 zu § 13 KSchG; 23.4.1971 – 1 ABR 27/70, AP Nr. 3 zu § 25 BetrVG. 8 Insbes. aus § 13 Abs. 2 Nr. 1, § 21a, § 21b, § 22, § 64 Abs. 3, § 78, § 78a und § 103 BetrVG sowie § 15 KSchG. 9 BAG 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, AP Nr. 18 zu § 613a BGB (unter II 2); 23.11.1988 – 7 AZR 121/88, NZA 1989, 433, 434; 28.10.1999 – 2 AZR 437/98, NZA 2000, 825 f.; 18.10.2000 – 2 AZR 494/99, AP Nr. 49 zu § 15 KSchG 1969; 13.6.2002 – 2 AZR 391/01, NZA 2003, 44, 48; 27.6.2019 – 2 AZR 38/19, AP Nr. 78 zu § 15 KSchG 1969 (unter A V 3 e bb); Vogelsang DB 1990, 1329; Kittner NZA 2012, 541, 545; Schiebe Die betriebsverfassungsrechtliche Funktionsnachfolge, 2010, 40 f.; Ricken in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 629. 10 BAG 24.10.2001 – 7 ABR 20/00, NZA 2003, 53, 55; 18.5.2016 – 7 ABR 81/13, NZARR 2016, 582, 583; 19.12.2018 – 7 ABR 79/16, NZA 2019, 940, 941 f.; Worzalla in HWGNRH BetrVG § 21 Rn. 11; Buschmann in DKKW BetrVG, § 21 Rn. 1; Ricken in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, 629, 632.
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Für den Gesamt- und Konzernbetriebsrats gehen Rechtsprechung und Schrifttum hingegen von einer rechtlichen Dauerexistenz dieser Gremien unabhängig von ihrer personellen Besetzung aus.11 Die Kontinuität des Gesamtund Konzernbetriebsrats wird also im organschaftlichen Sinne verstanden. 2. Personelle Kontinuität des Betriebsrats Das BetrVG zielt in einer Reihe von Normen darauf ab, den Betriebsrat vor einer äußerlich veranlassten Veränderung seiner personellen Zusammensetzung zu bewahren.12 Dadurch soll eine möglichst beständige Amtsführung des Betriebsrats sowie dessen Funktionsfähigkeit als Gremium gesichert13 und die originalgetreue Abbildung des Wählerwillens in der betrieblichen Interessenvertretung gewährleistet werden.14 Hierbei kommen sowohl organisatorische Regelungen als auch Schutzmechanismen zugunsten einzelner Mandatsträger zum Einsatz. a) Außerplanmäßige Neuwahl und zeitliche Mandatsausdehnung Gemäß § 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG ist der Betriebsrat außerhalb seiner regelmäßigen vierjährigen Amtszeit zu wählen, wenn mit Ablauf von 24 Monaten nach der Wahl die Beschäftigtenzahl um die Hälfte, mindestens aber um 50, gestiegen oder gesunken ist. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass eine einmal gültig gewählte Interessenvertretung während der gesamten Dauer ihres Mandats grundsätzlich erhalten bleiben soll, selbst wenn sich während der laufenden Wahlperiode die Zahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer im Betrieb verändert. Dadurch sichert das Gesetz den personellen Bestand des Betriebsrats, bis die nachträgliche Vergrößerung bzw. Verkleinerung der Beschäftigtenzahl eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreitet.15 § 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG ist damit eine Ausprägung der Kontinuität des Betriebsrats im personellen Sinn. 11 Zum Gesamtbetriebsrat: BAG 5.6.2002 – 7 ABR 17/01, NZA 2003, 336; 16.3.2005 – 7 ABR 37/04, NZA 2005, 1069, 1071; 15.10.2014 – 7 ABR 53/12, NZA 2015, 1014; Fitting BetrVG, § 47 Rn. 26; Annuß in Richardi BetrVG, § 47 Rn. 26; Koch in ErfK BetrVG, § 47 Rn. 11. – Zum Konzernbetriebsrat: BAG 23.8.2006 – 7 ABR 51/05, AP Nr. 12 zu § 54 BetrVG 1972 (unter II 2 b bb); 9.2.2011 − 7 ABR 11/10, NZA 2011, 866, 870; Annuß in Richardi BetrVG, § 54 Rn. 45; Trittin in DKKW BetrVG, § 54 Rn. 124. 12 Für Veränderungen des personellen Bestands des Betriebsrats, die von dessen Mitgliedern selbst, d.h. aus dem Inneren des Betriebsrats, herrühren (§ 24 Nrn. 2 bis 4 BetrVG), trifft das Gesetz keine Vorkehrungen. Insbes. folgt aus dem Kontinuitätsprinzip kein Schutz gegen den Willen der einzelnen Betriebsratsmitglieder, den Betriebsrat zu verlassen (BAG 2.10.1974 – 5 AZR 504/73, NJW 1975, 1378). 13 Vgl. BAG 21.9.1989 – 1 ABR 32/89, NZA 1990, 314, 316; 25.6.2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1212. 14 BAG 18.10.2000 – 2 AZR 494/99, AP Nr. 49 zu § 15 KSchG 1969 (unter I 1 b). 15 Ricken in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, 629, 635.
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Sollte in einem Fall des § 13 BetrVG Nrn. 1 bis 3 BetrVG eine außerplanmäßige Neuwahl nötig werden, so erhält § 22 BetrVG das Mandat des bisherigen Betriebsrats über dessen regelmäßige Amtszeit hinaus aufrecht, bis der neue Betriebsrat gewählt und das Wahlergebnis bekanntgegeben ist. In dieser ausnahmsweisen Ausdehnung des Betriebsratsamts in zeitlicher – nicht aber gegenständlicher Hinsicht – äußert sich unverkennbar der Grundgedanke: Kontinuität des Betriebsrats, aber nicht nur in personeller,16 sondern auch in zeitlicher Hinsicht. Für Konstellationen, in denen das Mandat des Betriebsrats infolge betrieblicher Umstrukturierungen endet, sehen die §§ 21a und 21b BetrVG eine ebensolche zeitliche Mandatserstreckung vor. Auch diese Vorschriften spiegeln damit besonders augenfällig das Kontinuitätsprinzips wider.17 Eine einmal begründete Repräsentation der Belegschaft durch den Betriebsrat soll trotz Identitätsänderung fortgeführt werden können. b) Kontinuität beim Betriebsübergang nach § 613a BGB Obgleich § 613a BGB keine betriebsverfassungsrechtliche, sondern eine rein individualarbeitsrechtliche Norm ist,18 bezweckt diese Regelung u.a. die Kontinuität des amtierenden Betriebsrats.19 Der Eintritt des Betriebserwerbers in alle bestehenden Arbeitsverhältnisse gewährleistet zum einen, dass auch künftig Arbeitnehmer vorhanden sind, die einen betriebsratsfähigen Betrieb gemäß § 1 BetrVG bilden, und zum anderen, dass sich der Betriebsrat nach dem Betriebsübergang aus denselben Mitgliedern zusammensetzt – sofern nicht einzelne Betriebsratsmitglieder dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses nach § 613a Abs. 5 S. 1 BGB widersprochen haben.20
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BAG 23.11.1988 – 7 AZR 121/88, NZA 1989, 433, 434 f. Ricken in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, 629, 636; Schiebe BetrVerfRliche Funktionsnachfolge, 41, der jedoch lediglich § 21a BetrVG behandelt. 18 BAG 7.11.1975 – 1 ABR 78/74, AP Nr. 3 zu § 99 BetrVG 1972 (unter III 1 b); 22.5.1979 – 1 ABR 17/77, NJW 1980, 83, 84; 29.10.1992 – 2 AZR267/92, NZA 1993, 743, 748. 19 BT-Drs. VI/1786, 59; BAG 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, AP Nr. 18 zu § 613a BGB (unter II 2); Richardi RdA 1976, 56, 57; Wiedemann/Willemsen RdA 1979, 419 ff.; Maschmann NZA-Beil. 2009, 32, 33; Preis in ErfK BGB, § 613a Rn. 2, 128; Müller-Glöge in MüKo BGB, § 613a Rn. 71. – A.A. Annuß in Staudinger BGB, § 613a Rn. 8; Stöckel Das Amt des Betriebsrats nach Umstrukturierungen, 2011, 178 f.; Ricken in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, 629, 639; Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/ Schweibert/Seibt Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 5. Aufl. 2016, G Rn. 19, der von einem bloßen Reflex des primären Regelungsziels (Schutz des Arbeitsverhältnisses) spricht. 20 Vgl. Stöckel Amt des Betriebsrats nach Umstrukturierungen, 173 f. 17
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c) Sonderkündigungsschutz der Mandatsträger und §§ 78, 78a BetrVG Ergänzend können in diesem Zusammenhang § 15 KSchG, § 103 BetrVG und §§ 78, 78a BetrVG genannt werden. § 15 KSchG soll als betriebsverfassungsrechtliche Norm außerhalb des BetrVG nach der ständigen Rechtsprechung des BAG die personelle Kontinuität des Betriebsrats gewährleisten.21 Der materielle Kündigungsschutz wird durch § 103 BetrVG in formeller Hinsicht ergänzt. Das Erfordernis der Zustimmung durch den Betriebsrat sichert die Kontinuität desselben vor unberechtigten Eingriffen des Arbeitgebers in den personellen Bestand der betrieblichen Interessenvertretung.22 Nach einer jüngeren Entscheidung des BAG schützt das Behinderungs-, Benachteiligungs- und Begünstigungsverbot des § 78 S. 1 und 2 BetrVG jedenfalls auch den Betriebsrat als Gremium, gewährt also nicht nur Individualschutz, sondern birgt gleichzeitig eine kollektive Komponente.23 Die Vorschrift dient damit der Absicherung der personellen Kontinuität des Betriebsrats.24 Ausprägungen des personellen Kontinuitätsprinzips sind schließlich auch der in § 78a BetrVG normierte Übernahmeschutz für Auszubildende in der Jugend- und Auszubildendenvertretung sowie die Amtsfortdauer von JAVMitgliedern über 25 Jahren gemäß § 64 Abs. 3 BetrVG.25 d) Eintritt von Ersatzmitgliedern gemäß § 25 BetrVG Nicht auf eine personelle, sondern auf eine funktionelle Kontinuität des Betriebsrats ist § 25 BetrVG ausgerichtet.26 Der Eintritt von Ersatzmitgliedern in den Betriebsrat bewirkt, dass das Schicksal des Betriebsrats als Gremium von dem des einzelnen Betriebsratsmitglieds unabhängig ist.27 Im Fall der Erschöpfung der Vorschlagsliste nach § 25 Abs. 2 S. 2 BetrVG und bei der Mehrheitswahl gemäß § 25 Abs. 2 S. 3 BetrVG kann das zu einer Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Betriebsrat führen. Solche Verschiebungen missachten den Wählerwillen, schaden damit der demokratischen Legi21 BAG 28.10.1999 – 2 AZR 437/98, NZA 2000, 825 f.; 18.10.2000 – 2 AZR 494/99, AP Nr. 49 zu § 15 KSchG 1969 (unter I 1 a); 13.6.2002 – 2 AZR 391/01, NZA 2003, 44, 48; 23.2.2010 – 2 AZR 656/08, NZA 2010, 1288, 1291; 27.6.2019 – 2 AZR 38/19, AP Nr. 78 zu § 15 KSchG 1969 (unter A V 3 e bb). 22 BAG 17.9.1981 – 2 AZR 402/79, AP Nr. 14 zu § 103 BetrVG 1972 (unter I 2 b); 23.8.1984 – 2 AZR 391/83, AP Nr. 17 zu § 103 BetrVG 1972 (unter II 2 b cc); 21.9.1989 – 1 ABR 32/89, NZA 1990, 314, 316; Raab in GK-BetrVG, § 103 Rn. 1. 23 BAG 25.6.2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1212. 24 Ricken in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, 629, 636. 25 Schiebe BetrVerfRliche Funktionsnachfolge, 41 26 Schleusner DB 1998, 2368, 2370 f.; Ricken in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, 629, 634. 27 Reichold in HWK BetrVG, § 21 Rn. 5.
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timation des Betriebsrats und sollen durch die oben beschriebenen Regelungen zur personellen Kontinuität gerade vermieden werden.28 3. Organschaftliche Kontinuität des Gesamt- und Konzernbetriebsrats Anders als für den Betriebsrat in § 21 BetrVG wird weder für den Gesamt(§§ 47 ff. BetrVG) noch für den Konzernbetriebsrat (§§ 54 ff. BetrVG) eine Amtszeit normiert. Daraus folgern Rechtsprechung und Schrifttum zum einen, dass der Betriebsrat mit dem Ende seiner Amtszeit als Organ untergehe, und zum anderen, dass es sich bei Gesamt- und Konzernbetriebsrat um rechtliche Dauereinrichtungen handele, die nach ihrer einmaligen Errichtung unabhängig von ihrer personellen Besetzung als Organe fortexistierten.29 Für den Gesamtbetriebsrat regelt § 49 BetrVG lediglich das Erlöschen der einzelnen Mitgliedschaft im Gesamtbetriebsrat, die in den meisten Fällen mit der regelmäßigen Amtszeit des entsendenden örtlichen Betriebsrats gleichläuft. Die dadurch vermittelte personelle Diskontinuität des Gesamtbetriebsrats soll die rechtliche Existenz des Gesamtbetriebsrats als Gremium nicht beeinflussen.30 Diese Erwägungen setzen sich für den Konzernbetriebsrat fort, der nach § 57 BetrVG eine in doppelter Mittelbarkeit auf die Amtszeit der Betriebsräte zurückgehende Unbeständigkeit seiner personellen Zusammensetzung aufweist.31 Folglich gilt für den Gesamt- und Konzernbetriebsrat ein organschaftliches Kontinuitätsprinzip.
III. Organkontinuität statt Funktionsnachfolge des Betriebsrats 1. Definition der Organkontinuität Der Begriff der Organkontinuität kann als das Gegenteil von Funktionsbzw. Rechtsnachfolge verstanden werden. Während letztere von der Übertragung von Rechtspositionen zwischen zwei Rechtssubjekten ausgeht,32 ba28
BAG 18.10.2000 – 2 AZR 494/99, AP Nr. 49 zu § 15 KSchG 1969 (unter I 1 b). Zum Gesamtbetriebsrat: BAG 5.6.2002 – 7 ABR 17/01, NZA 2003, 336; 16.3.2005 – 7 ABR 37/04, NZA 2005, 1069, 1071; 15.10.2014 – 7 ABR 53/12, NZA 2015, 1014; Fitting BetrVG, § 47 Rn. 26; Annuß in Richardi BetrVG, § 47 Rn. 26; Koch in ErfK BetrVG, § 47 Rn. 11. – Zum Konzernbetriebsrat: BAG 23.8.2006 – 7 ABR 51/05, AP Nr. 12 zu § 54 BetrVG 1972 (unter II 2 b bb); 9.2.2011 − 7 ABR 11/10, NZA 2011, 866, 870; Annuß in Richardi BetrVG, § 54 Rn. 45; Trittin in DKKW BetrVG, § 54 Rn. 124. – Siehe auch Boemke/Deyda ZfA 2020, Heft 2 unter II 3. 30 BAG 16.3.2005 – 7 ABR 37/04, NZA 2005, 1069, 1071. 31 BAG 9.2.2011 − 7 ABR 11/10, NZA 2011, 866, 870. 32 Tilch/Arloth Deutsches Rechtslexikon, 3. Aufl. 2001, Rechtsnachfolge (Privatrecht); Dietlein Nachfolge im öffentlichen Recht, 1999, 43; Plitz DStR 1992, 707. 29
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siert das Prinzip der Organkontinuität auf der Existenz eines einzigen Rechtssubjekts. Lediglich dessen personelle Besetzung verändert sich33. Dabei ist im Sinne der Organkontinuität strikt zwischen dem Bestand des Organs als solchem und seiner personellen Besetzung zu differenzieren. Ersterer ist gerade zwingend vorausgesetzt und stets fester Bestandteil, während seine (kontinuierliche) Besetzung nicht notwendig für dessen Existenz ist. Weder geht das Organ bei Veränderungen in personeller Hinsicht unter noch erfährt es eine Änderung. Das Organ existiert gänzlich unabhängig von seiner personellen Besetzung.34 Es kann auch ohne Mitglieder bestehen.35 Der Begriff der Organkontinuität wird zuweilen im öffentlichen Recht verwandt36 und ist vor allem im Zivilrecht an die Organtheorie zu privatrechtlichen Körperschaften gekoppelt, deren Organe notwendiger und fester Bestandteil derselben sind.37 2. Organkontinuität im Zivilrecht a) Organtheorie im Zivilrecht Seit langem herrschend38 ist im Zivilrecht im Bereich der privatrechtlichen Körperschaften die Organtheorie, wonach diese durch Zurechnung organschaftlichen Handelns selbst ihre Handlungsfähigkeit erlangen.39 Damit einhergehend ist auch die Organkontinuität für privatrechtliche Körperschaften anerkannt. Die Organe entstehen mit ihrer Gründung und bleiben fortan als Zurechnungssubjekt ihr zwingender und fester Bestandteil.40 Selbst der Verlust sämtlicher Mitglieder des Organs führt nicht zu dessen Erlöschen. Es verfällt in dieser Konstellation vielmehr in den Zustand der Handlungsunfähigkeit. Somit ist lediglich die personelle Besetzung, nicht aber der Bestand des Organs als solcher fluktuierend.
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Boemke/Deyda ZfA 2020, Heft 2 unter IV 1. Beuthien in FS Zöllner, 1998, 87, 98. 35 Maurer/Waldhoff Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rn. 23. 36 Insbes. im Verfassungsrecht: für Parlamente BVerfG 16.3.1955 – 2 BvK 1/54, BVerfGE 4, 144, 152; Bethge in MSKB BVerfGG § 63 Rn. 81; Kommentierung zu den Verfassungsorganen: Brocker in BeckOK-GG, Art. 39 Rn. 8 f. – Für einen Überblick zur Organkontinuität bei Verfassungsorganen und Organen öffentlich-rechtlicher Gebietskörperschaften siehe Boemke/Deyda ZfA 2/2020. 37 Beuthien in FS Zöllner, 1998, 87. 38 Beuthien in FS Zöllner, 1998, 87, 91 ff.; K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 10 I 2; Wieacker in FS Huber, 1973, 339, 370 Fn. 94; Leuschner in MüKo-BGB, § 26 Rn. 4 f.; Stephan/Tieves in MüKo-GmbHG, § 35 Rn. 15. – Siehe auch Boemke/Deyda ZfA 2020, Heft 2 unter IV 2. 39 Beuthien in FS Zöllner, 1998, 92 ff. 40 Beuthien in FS Zöllner, 1998, 87, 98. 34
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b) Kontinuierliche Organe im Zivilrecht Der Vereinsvorstand ist gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 BGB ein zwingendes Organ des Vereins, das bereits bei seiner Gründung besetzt sein muss.41 Fehlen dem Vorstand erforderliche Mitglieder, so sieht § 29 BGB die gerichtliche Notbestellung durch das Amtsgericht vor. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, die Handlungsfähigkeit des Vereins im Rechtsverkehr aufrechtzuerhalten.42 Tatbestandlicher Anknüpfungspunkt ist dabei allein das Fehlen von Vorstandsmitgliedern, nicht das Fehlen des Vorstands als Organ.43 Auch bei dem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft handelt es sich um ein notwendiges Organ.44 § 104 Abs. 1 S. 1 AktG ermöglicht eine gerichtliche Notbestellung der für den Aufsichtsrat erforderlichen Mitgliederzahl. Das Telos ist hier ebenso die Wahrung der Beschlussfähigkeit des Organs und damit dessen Handlungsfähigkeit im Rechtsverkehr.45 Die Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder ist von Gesetzes wegen gemäß § 102 Abs. 1 AktG begrenzt. Wenn ein funktionsfähiger Aufsichtsrat fehlt, weil sämtliche Mitglieder wegfallen, berührt dies nicht den Bestand des Aufsichtsrats als Organ.46 Neben dem Vereinsvorstand und dem Aufsichtsrat hat der Gesetzgeber auch den GmbH-Geschäftsführer (§§ 35 ff. GmbHG) durch vergleichbare Regelungen als dauerhaftes Organ im Sinne des Prinzips der Organkontinuität ausgestaltet. 3. Kontinuierlicher Betriebsrat a) Funktionsnachfolge Mit dem Ende seiner Amtszeit soll der Betriebsrat nach bisher allgemeiner Meinung als Organ nicht mehr fortbestehen, sondern als Rechtssubjekt erlöschen.47 Ist ein neuer Betriebsrat mit sich nahtlos anschließender Amtszeit gewählt, bestehe gleichwohl keine Identität. Das BAG geht in ständiger
41 Nur der Vorstand kann den Verein zur Eintragung ins Vereinsregister nach § 59 Abs. 1 BGB anmelden (Leuschner in MüKo-BGB, § 26 Rn. 6). 42 Schöpflin in BeckOK-BGB, § 29 Rn. 1. 43 Grundwald Offene Fragen der Notorganschaft gem. § 29 BGB, 1993, 59 f. 44 Habersack in MüKo-AktG, § 95 Rn. 5. 45 BGH 24.6.2002 − II ZR 296/01 (KG), NZG 2002, 916. 46 Beuthien in FS Zöllner, 1998, 87, 98. 47 BAG 24.10.2001 – 7 ABR 20/00, NZA 2003, 53, 55; 18.5.2016 – 7 ABR 81/13, NZARR 2016, 582, 583; 19.12.2018 – 7 ABR 79/16, NZA 2019, 940, 941 f.; Worzalla in HWGNRH BetrVG, § 21 Rn. 11; Buschmann in DKKW BetrVG, § 21 Rn. 1; Ricken in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, 629, 632.
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Rechtsprechung vielmehr von einer Funktionsnachfolge aus.48 Hierbei handelt es sich jedoch um einen juristisch nicht klar umgrenzten Begriff. Das BAG führt hierzu aus, dass entsprechend dem Grundgedanken der Kontinuität betrieblicher Interessenvertretung der neu gewählte Betriebsrat nach dem Prinzip der Funktionsnachfolge in die vermögensrechtlichen Rechtspositionen des alten Betriebsrats sowie in dessen prozessuale Stellung als neuer Rechtsinhaber auch ohne entsprechende Prozesserklärungen der Verfahrensbeteiligten automatisch eintrete.49 Ist kein neuer Betriebsrat gewählt, habe dies zur Konsequenz, dass seine betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte ersatzlos endeten.50 Den normativen Anknüpfungspunkt für die Ablehnung rechtlicher Dauerexistenz des Betriebsrates und den Rückgriff auf die juristisch unscharfe Rechtsfigur der Funktionsnachfolge sieht das BAG in § 21 S. 2, 3 BetrVG, wonach das Ende der Amtszeit nicht mitgliederbezogen sei, sondern den Betriebsrat als Organ erfasse und maßgeblich gegen dessen Fortbestand spreche.51 Ein solches Verständnis scheint angesichts des Wortlauts jedoch nicht zwingend.52 Es handelt sich hierbei zunächst um eine Norm über die Angleichung von Amtsperioden und die damit einhergehende personelle Diskontinuität des Betriebsrats. Dass darüber hinaus dessen rechtliche Diskontinuität erfasst sei, scheint zumindest zweifelhaft. In § 24 Nr. 1 BetrVG ist geregelt, dass die Mitgliedschaft im Betriebsrat mit Ablauf der Amtsperiode endet. Wäre mit § 21 S. 3 BetrVG das Erlöschen des Betriebsrats als Gremium gemeint, bedürfte es einer solchen Regelung schon nicht mehr. Wäre das Organ bereits nicht mehr existent, ergäbe sich das Ende der Amtszeit der Betriebsratsmitglieder bereits ipso iure aus § 21 S. 3 BetrVG. Ohne bestehendes Organ kann es denklogisch keine Mitglieder mehr in diesem geben, sodass in diesem Fall § 24 Nr. 1 BetrVG kein sinnvoller Regelungsgehalt zukäme. Hieraus kann im Umkehrschluss gefolgert werden, dass die Vorschrift denknotwendig von der Unabhängigkeit zwischen Fortbestand des Organs und dessen personeller Besetzung ausgeht, was an den Grundgedanken der Organkontinuität anknüpft. 53
48 Z.B. BAG 25.4.1978 − 6 ABR 9/75, AP Nr. 11 zu § 80 BetrVG 1972 (unter II 3); 27.1.1981 − 6 ABR 68/79, AP Nr. 2 zu § 80 ArbGG 1979 (unter II 2 b). 49 BAG 25.4.1978 − 6 ABR 9/75, AP Nr. 11 zu § 80 BetrVG 1972 (unter II 3); 27.1.1981 − 6 ABR 68/79, AP Nr. 2 zu § 80 ArbGG 1979 (unter II 2 b); 23.11.1988 − 7 AZR 121/88, NZA 1989, 433, 434; 13.2.2013 − 7 ABR 36/11, NZA-RR 2013, 521, 523. 50 BAG 24.10.2001 − 7 ABR 20/00, NZA 2003, 53, 55. 51 BAG 18.5.2016 – 7 ABR 81/13, NZA-RR 2016, 582, 583 Rn. 15. 52 Boemke/Deyda ZfA 2020, Heft 2 unter V 1. 53 Boemke/Deyda ZfA 2020, Heft 2 unter V 1.
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b) Historische Entwicklung Dass in § 21 BetrVG lediglich eine Vorschrift über die personelle Diskontinuität zu erblicken ist, die den rechtlichen Fortbestand des Betriebsrats gänzlich unberührt lässt, zeigt auch der Gesetzgebungsprozess zum BetrVG von 1952 sowie eine rechtshistorische Betrachtung. aa) Betriebsrätegesetz von 1920 § 39 BRG 1920 schrieb das Erlöschen der Betriebsratsmitgliedschaft durch Niederlegung, Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder Verlust der Wählbarkeit vor. Das Ende der Mitgliedschaft war stark durch das Kontinuitätsprinzip geprägt. Dies kam in § 43 Abs. 1 BRG 1920 zum Ausdruck, in dem die Fortsetzung des Amtes des Betriebsratsmitglieds bei Notwendigkeit einer Neuwahl bis zur Bildung des neuen Betriebsrats angeordnet wurde. Hierdurch sollte die nahtlose Vertretung betriebsverfassungsrechtlicher Interessen gewährleistet werden.54 Auch wenn die Regelung keine unendliche Amtsfortdauer vorsah,55 war dem BRG 1920 ein Erlöschenstatbestand für den Betriebsrat als Gremium neben dem Ende der Mitgliedschaft fremd. bb) Betriebsrätegesetzte der Länder nach 1945 Das BRG 1920 wurde während der Zeit des Nationalsozialismus durch das AOG von 1934 außer Kraft gesetzt.56 In der Besatzungszeit wurde durch das Kontrollratsgesetz Nr. 22 von 1946 eine nur unzureichende, auf wesentliche Grundsätze beschränkte,57 Ausgestaltung der Betriebsverfassung geschaffen. Die lückenhafte Normierung führte dazu, dass die Länder eigene Regelungen schufen. Die Ländergesetze lösten das KRG 22 alsbald ab,58 auch wenn dieses formal noch bis 1950 oder darüber hinaus neben den Ländergesetzen in Kraft blieb.59 Sämtliche Betriebsrätegesetze der Länder 54
Flatow/Kahn-Freund Betriebsrätegesetz, 13. Aufl. 1931, § 43 I. Flatow/Kahn-Freund BRG, § 42 II a. 56 Arnold Die Entstehung des Betriebsverfassungsgesetzes 1952, 1978, 16. 57 Arnold BetrVG 1952, 18 ff. 58 Rheinland-Pfalz 15.5.1947; Hessen 31.5.1948; Württemberg-Baden 18.8.1948; Baden 24.9.1948; Bremen 16.1.1949; Württemberg-Hohenzollern 21.5.1949; Schleswig-Holstein 3.5.1950; Bayern 25.10.1950. 59 Arnold BetrVG 1952, 24. − Für das Land Rheinland-Pfalz außer Wirkung gesetzt durch Artikel 1 des Gesetzes Nr. A-1 der Alliierten Hohen Kommission vom 9.2. 1950 (ABl. AHK S. 103); für das Land Hessen außer Wirkung gesetzt durch Artikel 1 des Gesetzes Nr. A-4 der Alliierten Hohen Kommission vom 6.4.1950 (ABl. AHK S. 178); für das Land Württemberg-Hohenzollern außer Wirkung gesetzt durch Gesetz Nr. A-6 der Alliierten Hohen Kommission vom 16.5.1950 (ABl. AHK S. 298); für das Land SchleswigHolstein außer Wirkung gesetzt durch Gesetz Nr. A-7 der Alliierten Hohen Kommission 55
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knüpften an die Regelungen des BRG 1920 an. Es findet sich auch der Rückgriff auf das im BRG 1920 verankerte Kontinuitätsprinzip wieder, indem einerseits die Betriebsräte bis zu einer Neuwahl im Amt blieben und anderseits für den Fall der Auflösung die vorläufige Besetzung mit Mitgliedern durch das ArbG oder die Betriebsversammlung vorgesehen war.60 Auffällig ist, dass durchweg nur das Erlöschen der Mitgliedschaft ausdrücklich geregelt war, das Erlöschen des Betriebsrates als Gremium hingegen nicht. Damit wurde die vom Gedanken des Kontinuitätsprinzips geleitete betriebsverfassungsrechtliche Tradition des BRG 1920 durch ihre Fortführung in den Betriebsrätegesetzen der Länder nach 1945 weiter manifestiert. cc) Entwicklung des BetrVG 1952 Ein Erlöschenstatbestand, der die rechtliche Existenz des Betriebsrat als Organ betraf, fand sich erstmals in § 23 Abs. 3 im Regierungsentwurf von 1950 zum BetrVG.61 Dieser sah die Beendigung der organschaftlichen Stellung des Betriebsrats allerdings nur in zwei Fällen vor, nämlich dann, wenn nicht nur vorrübergehend die Voraussetzungen für die Bildung eines Betriebsrats entfallen oder der Betrieb stillgelegt wird. Der Fraktionsentwurf der CDU/CSU erwähnte ausdrücklich nur die Beendigung der Mitgliedschaft im Betriebsrat, nicht hingegen das Ende seines Bestands als Organ.62 Der vorgesehene Beendigungstatbestand in § 23 Abs. 3 des Regierungsentwurfs wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens durch den federführenden gemeinsamen Arbeitskreis der Ausschüsse für Arbeit und Wirtschaft, dessen Entwurf mit nur geringen Änderungen später vom Bundestag beschlossen wurde,63 gestrichen.64 Hieraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass die rechtliche Stellung des Betriebsrats mit Ablauf der vom 31.5.1950 (ABl. AHK 298); für das Land Bayern außer Wirkung gesetzt durch Gesetz Nr. A-12 der Alliierten Hohen Kommission vom 30.11.1950 (ABl. AHK 701). 60 Zur vorrübergehenden Amtsfortsetzung bis zur Neuwahl: § 20 Abs. 1 BRG Baden, § 41 Abs. 1 BRG Bayern, § 32 Abs. 1 BRG Rheinland-Pfalz, § 16 Abs. 3 BRG SchleswigHolstein, § 43 Abs. 1 Württemberg-Hohenzollern; in den § 27 BRG Bremen und § 28 BRG Hessen ist die vorübergehende Amtsfortdauer bis zur Neuwahl nur für den Fall des Rücktritts des Betriebsrats normiert. − Zur vorläufigen Besetzung: § 18 Abs. 3 BRG Baden, § 27 Abs. 2 BRG Bremen, § 28 Abs. 2 BRG Hessen, § 32 Abs. 2 BRG Rheinland-Pfalz; § 16 Abs. 3 BRG Schleswig-Holstein, § 43 Abs. 2 BRG Württemberg-Hohenzollern. 61 Gesetzesentwurf der BReg BetrVG 1950 RdA 1950, 343, 344. 62 Gesetzesentwurf CDU/CSU BetrVG 1950 RdA 1950, 224, 225. – Der Entwurf von SPD und DGB gibt zu diesem Punkt, wie auch insgesamt zum formellen Betriebsverfassungsrecht, wenig Aufschluss, liefert daher keinen Mehrwert (Gesetzesentwurf SPD/DGB BetrVG 1950 RdA 1950, 227). 63 PA-DBT 4000 Gesetzesdokumentation, I/347 Bd. A2 lfd. Nr. 100; PA-DBT 4000 Gesetzesdokumentation, I/347 Bd. A1 lfd. Nr. 108. 64 PA-DBT 4000 Gesetzesdokumentation, I/347 Bd. A1 lfd. Nr. 32, 6.
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Amtsperiode enden sollte. Wie dem Protokoll des Ausschusses über die Streichung von § 23 Abs. 3 zu entnehmen ist, hielt dieser das Zusammenfallen von Erlöschen des Betriebsrats mit Beendigung des Betriebs zwar für vorausgesetzt, aber nicht für weiter regelungsbedürftig.65 Anhaltspunkte dafür, dass darüber hinaus die Organstellung des Betriebsrats mit Ende der Amtsperiode wegfiele, lassen sich weder den Ausschussprotokollen noch anderen Gesetzgebungsmaterialien entnehmen. Der Regelungsgehalt von § 21 S. 3 BetrVG erschöpft sich sowohl aufgrund historischer als auch gesetzgeberischer Erwägungen in der personellen Diskontinuität des Betriebsrats. c) Grundsatz der Organkontinuität aa) Intendierte Dauerexistenz und lückenlose personelle Besetzung Der größte Unterschied zwischen Organen privatrechtlicher Körperschaften und dem Betriebsrat ist dessen nach § 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG bloß fakultativ vorgesehene Einrichtung. Allerdings ist die Vorschrift zugleich auf die Durchführung einer Wahl angelegt, sofern die Bestellung eines Wahlvorstandes nach § 17 Abs. 1 oder Abs. 3 BetrVG angeregt wird. Dies kann selbst durch die Belegschaftsmehrheit nicht verhindert werden.66 Einmal gewählt, sieht § 16 Abs. 1 S. 1 BetrVG den fortwährenden Bestand des Betriebsrats durch stete Neuwahlen vor. Damit ist seine Einrichtung zwar nicht zwingend. Seine Dauerexistenz ist durch die Vorschriften des BetrVG aber gleichwohl intendiert.67 Dass die Rechtsprechung bei dem nur fakultativ einrichtbaren Konzernbetriebsrat von dessen rechtlicher Dauerexistenz ausgeht,68 zeigt, dass die Unterscheidung zwischen freiwilligem und zwingendem Organ kein maßgebliches Abgrenzungskriterium für die Geltung des Prinzips der Organkontinuität ist. Zwar sind für den Betriebsrat Konstellationen denkbar, in denen eine lückenlose Amtsfortführung nicht gewährleistet ist.69 Allerdings besteht der Regelfall in einer kontinuierlichen Amtsführung. Eine solche kann als star
PA-DBT 4000 Gesetzesdokumentation, I/347 Bd. A1 lfd. Nr. 32 S. 6. − Wörtlich heißt es hierzu: „Auf Antrag des Vertreters des BAM, Min. Dir. Prof. Herschel wird im Protokoll die Auffassung des Arbeitskreises festgehalten, daß ein Betriebsrat aufgehört hat zu bestehen, wenn der Betrieb stillgelegt wird, d.h. wenn eine endgültige Auflösung der Produktionsgemeinschaft erfolgt ist.“. 66 Löwisch in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, 441. 67 Boemke/Deyda ZfA 2020, Heft 2 unter V 6. - In früheren Gesetzen ist dieser Grundsatz noch stärker verdeutlicht: dort hieß es, Betriebsräte „sind“ zu errichten. 68 Siehe oben II 3. 69 Namentlich wenn keine Neuwahl stattgefunden hat oder die Amtszeit durch Wahlanfechtung (§ 19 BetrVG), eine gerichtliche Auflösung (§ 23 BetrVG) oder eine kollektive Amtsniederlegung (§ 24 BetrVG) endet. 65
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kes Indiz für die Organkontinuität herangezogen werden. Sämtliche rechtlich dauerexistente Organe des Zivilrechts, wie der Vereinsvorstand oder der Aufsichtsrat, zeichnen sich durch eine möglichst lückenlose personelle Besetzung aus. bb) Inkonsistente Terminologie des BAG Das BAG grenzt beim Betriebsübergang nach § 613a BGB die Funktionsvon der Einzelrechtsnachfolge ab. Letztere meint, dass der Betriebserwerber aufgrund der Wahrung der Betriebsidentität auch in die Rechtsposition des alten Arbeitgebers eintritt. Funktionsnachfolge im Rahmen des § 613a BGB bezeichnet demgegenüber die bloße Fortführung der Tätigkeit durch einen anderen. Es kommt zur Übernahme von Aufgaben, die zuvor ein anderer ausgeführt hat, nicht hingegen zu einer Nachfolge in Rechte und Pflichten.70 Abweichend von diesem Verständnis soll im betriebsverfassungsrechtlichen Kontext bei der ebenso bezeichneten Funktionsnachfolge der neue Betriebsrat in die vermögensrechtlichen Rechtspositionen des alten eintreten – als neuer Rechtsinhaber.71 Dies entspricht allerdings nicht dem Wesen der Funktionsnachfolge, sondern vielmehr dem einer Rechtsnachfolge. cc) Konstituierende Betriebsratssitzung und Handlungsunfähigkeit Nach der Rechtsprechung des BAG ist der Betriebsrat bereits mit seiner Wahl rechtlich existent, aber weder automatisch handlungs- noch anhörungsfähig; diese erlangt er erst durch die konstituierende Sitzung und die Wahl des Betriebsratsvorsitzenden nach § 26 Abs. 1 BetrVG.72 Das BAG geht zwar davon aus, dass der Betriebsrat sowohl rechtlich als auch personell existiert. Allerdings drängt sich auf, dass auch dem BAG im Rahmen betriebsverfassungsrechtlicher Dogmatik jedenfalls der Schwebezustand eines existierenden, aber handlungsunfähigen Betriebsrats nicht fremd ist. Dies sind jedoch Charakteristika der Organkontinuität.
70 BAG 19.3.2015 − 8 AZR 150/14, AP Nr. 461 zu § 613a BGB; vgl. BAG 20.3.1997 − 8 AZR 856/95, NZA 1997, 1225 (unter III). 71 BAG 27.1.1981 − 6 ABR 68/79, AP Nr. 2 zu § 80 ArbGG 1979 (unter II 2 b); BAG 13.2.2013 − 7 ABR 36/11, NZA-RR 2013, 521, 523. 72 Konkret zur Frage der Beteiligungsrechte des Betriebsrats nach § 99 BetrVG BAG 23.8.1984 − 6 AZR 520/82, NZA 1985, 566 (unter I 3 b).
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IV. Praktische Konsequenzen 1. Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen a) Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen nach der Rechtsprechung und herrschenden Lehre § 77 BetrVG kennt als Tatbestände für den Untergang einer Betriebsvereinbarung nur die Kündigung (Abs. 5) und den Ablauf (Abs. 6). Weil darüber hinaus keine Beendigungsgründe normiert sind, gehen Rechtsprechung und herrschende Lehre davon aus, dass Betriebsvereinbarungen unabhängig vom Bestand des Betriebsrats, der diese einst geschlossen hat, fortgelten.73 Für den Fall, dass nach – regulärem oder auch vorzeitigem – Amtsende des alten ein neuer Betriebsrat gewählt wird, lässt sich diese Fortgeltung ohne größere Probleme zwar nicht mit der Funktionsnachfolge, wohl aber der Rechtsnachfolge des Betriebsrats erklären.74 Schwieriger wird es, wenn eine Neuwahl ausbleibt. Die Betriebsratslosigkeit kann dann bloß vorübergehend – bei fehlender Initiative trotz Betriebsratsfähigkeit – oder endgültig sein – bei Wegfall der Betriebsratsfähigkeit gemäß § 1 BetrVG. In beiden Konstellationen der Betriebsratslosigkeit nimmt die herrschende Meinung die Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen an.75 Dies begründet sie damit, dass Betriebsvereinbarungen Normenverträge seien.76 Die darin festgesetzten Normen lösten sich, sobald sie erstmalig Geltung erlangt hätten, von ihrem Rechtssetzungsakt und führten fortan ein „Eigenleben“. Damit bestehe auch keine Bindung mehr an den Bestand ihres Rechtssetzungsorgans Betriebsrat. Dieser sei, ebenso wie der Arbeitgeber, bloßes Regelungssubjekt der normativ wirkenden Betriebsvereinbarung.77 73 BAG 28.7.1981 – 1 ABR 79/79AP Nr. 2 zu § 87 BetrVG Urlaub (unter IV 2); 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, AP Nr. 7 zu § 77 BetrVG 1972 Betriebsvereinbarung (unter III 2 b cc (2)); Salamon NZA 2007, 367 f.; Richardi in Richardi BetrVG, § 77 Rn. 224; Kreutz in GK-BetrVG, § 77 Rn. 429 f.; Worzalla in HWGNRH BetrVG, § 77 Rn. 243; Berg in DKKW BetrVG, § 77 Rn. 107. 74 BAG 24.8.2011 − 7 ABR 8/10 NZA 2012, 223, 224; 15.4.2014 – 1 ABR 2/13 AP Nr. 9 zu § 29 BetrVG 1972 (unter II 3 d); Kreutz in GK-BetrVG, § 77 Rn. 429. 75 BAG 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, AP Nr. 7 zu § 77 BetrVG 1972 Betriebsvereinbarung (unter III 2 b cc (2)); Fitting BetrVG, § 77 Rn. 175; Kreutz in GK-BetrVG, § 77 Rn. 430; Berg in DKKW BetrVG, § 77 Rn. 107; Richardi in Richardi BetrVG, § 77 Rn. 224. 76 BAG 27.1.2004 – 1 ABR 5/03, NZA 2004, 941, 942; Kania in ErfK BetrVG, § 77 Rn. 4; Kreutz in GK-BetrVG, § 77 Rn. 40; Richardi in Richardi BetrVG, § 77 Rn. 26; Fitting BetrVG, § 77 Rn. 13. 77 Ausführlich Salamon NZA 2007, 367 f.
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Diese Ansicht verträgt sich indes nicht mit der fast einhellig vertretenen zivilrechtlichen Deutung des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, wonach die Betriebsvereinbarung einen privatrechtlichen kollektiven Normenvertrag im zweipoligen Betriebsverhältnis darstellt.78 Hinter der Annahme, dass die Betriebsvereinbarung unabhängig von einem rechtsgeschäftlichen Geltungsgrund allein aus hoheitlicher Anordnung heraus wirksam bleibe, steht unausgesprochen die partielle Aufgabe der privatrechtlichen Deutung des Betriebsverhältnisses, aus dem die Betriebsvereinbarung in ihre Wirkung erwächst. Für eine solch weitreichende öffentlich-rechtliche Lesart bietet § 77 BetrVG allerdings keine Anhaltspunkte.79 Zudem steht der Ansatz der herrschenden Meinung im Widerspruch zum Umgang mit einem anderen Normenvertrag des Arbeitsrechts: dem Tarifvertrag. Die normative Wirkung des Tarifvertrags gemäß § 4 Abs. 1 TVG soll nämlich enden, wenn eine Tarifvertragspartei unter Verlust ihrer Tariffähigkeit entfällt.80 Soll nun im Gegensatz dazu die Betriebsvereinbarung kraft ihres normenvertraglichen Charakters bei Wegfall des Betriebsrats fortgelten, findet sich im Konzept der herrschenden Meinung für diese unterschiedliche Behandlung zweier Normenverträge kein nachvollziehbarer Grund. b) Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen unter dem Prinzip der Organkontinuität Um die Deutung der Betriebsvereinbarung als privaten Normenvertrag auch bei nachträglichem Wegfall des Betriebsrats konsequent fortsetzen zu können, bedarf es eines Rechtssubjekts, das als zweite Partei der Betriebsvereinbarung dem Arbeitgeber gegenübersteht. Verträge mit nur einer Partei gibt es nicht. 78 BAG 18.2.2003 – 1 ABR 17/02, NZA 2004, 336, 339; 27.1.2004 – 1 ABR 5/03, NZA 2004, 941, 942; 25.2.2015 – 5 AZR 481/13, NZA 2015, 943, 946; von Hoyningen-Huene Betriebsverfassungsrecht, 6. Aufl. 2007, § 11 III 2; Boemke in MünchHB-ArbR, 4. Aufl. 2019, § 283 Rn. 16 ff.; Fitting BetrVG § 77 Rn. 13; Kania in ErfK BetrVG, § 77 Rn. 4; Kreutz in GK-BetrVG, § 77 Rn. 40 mN zur Gegenauffassung. 79 Vgl. Hanau RdA 1989, 207, der insbes. die Unterschiede zur Regelung in § 4 TVG aufzeigt. 80 So zutreffend Franzen in ErfK TVG, § 2 Rn. 18; Löwisch/Rieble TVG, § 2 Rn. 35; Henssler in HWK TVG, § 2 Rn. 3; Koberski/Clasen/Menzel Stand Juni 1998; TVG § 2 Rn. 100; Klumpp in MünchHB-ArbR, § 260 Rn. 59; Nikisch Arbeitsrecht Band II, 2. Aufl. 1963, § 76 II 3; Richardi Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, 1968, 219 f. – A.A. Buchner RdA 1997, 259, 263 f.; Wank in Wiedemann TVG, § 4 Rn. 78; Peter in Däubler TVG, § 2 Rn. 178 f. – Für eine Fortgeltung des normativen Teils des Tarifvertrags bei Insolvenz eines Arbeitgeberverbandes BAG 27.6.2000 – 1 ABR 31/99, AP Nr. 56 zu § 2 TVG (unter III 4); ebenso im Fall der Liquidation eines Arbeitgeberverbandes BAG 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, AP Nr. 36 zu § 3 TVG (unter I 2 a cc); anders noch BAG 15.10.1986 – 4 AZR 289/85, AP Nr. 4 zu § 3 TVG; 28.5.1997 – 4 AZR 545/95, AP Nr. 27 zu § 4 TVG Nachwirkung; 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Nachwirkung.
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Das BAG und die herrschende Lehre nehmen zwar an, dass der Arbeitgeber die Betriebsvereinbarung im Fall der Betriebsratslosigkeit durch einheitliche Erklärung gegenüber allen Arbeitnehmern kündigen könne.81 Als neue Vertragspartner der Betriebsvereinbarung kommen die Arbeitnehmer in ihrer Gesamtheit hingegen nicht in Betracht.82 Weder haben die Arbeitnehmer beim Abschluss der Betriebsvereinbarung mitgewirkt noch besteht für sie die Möglichkeit, der Betriebsvereinbarung durch einen individuellen Legitimationsakt zuzustimmen bzw. diese ihrerseits zum Erlöschen zu bringen. Der Rechtsnatur der Betriebsvereinbarung entsprechend sind die Arbeitnehmer rein normativ gebunden. Geht man aber davon aus, dass der Betriebsrat unabhängig von seiner personellen Besetzung über seine Amtszeit hinaus als Organ weiterexistiert, so bleibt der Betriebsrat der kontinuierliche Vertragspartner des Arbeitgebers für die Betriebsvereinbarung. Als fortbestehendes Rechtssubjekt kann er Partei eines (privaten Normen-)Vertrags sein, obwohl er nicht mit Mandatsträgern ausgestattet ist. Nach allgemeinem rechtsgeschäftlichem Grundsatz kommt es allein auf die Handlungsfähigkeit des Betriebsrats zum Zeitpunkt der Abgabe der Willenserklärung, also zum Zeitpunkt des Abschlusses der Betriebsvereinbarung, an (vgl. § 130 Abs. 2 BGB). Ein nachträglicher Verlust der Handlungsfähigkeit beeinflusst die weitere Geltung der Betriebsvereinbarung nicht. Will der Arbeitgeber in diesem Fall des handlungsunfähigen Betriebsrats die Betriebsvereinbarung kündigen, so bleibt die Belegschaft richtiger Erklärungsadressat, weil sie unmittelbar von den Folgen betroffen ist. Konsequentermaßen scheidet damit die Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen entgegen der herrschenden Meinung bei endgültiger Betriebsratslosigkeit aus.83 Verliert der Betrieb seine Betriebsratsfähigkeit gemäß § 1 BetrVG, geht der Betriebsrat als Organ unter. Er erlischt als Rechtssubjekt und kann demnach nicht mehr Partei des privaten Normenvertrags, der Betriebsvereinbarung, sein. Dies ist als dogmatisch zwingende Folge angesichts der privatrechtlich zu erklärenden Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen unter dem Ansatz der Organkontinuität in Kauf zu nehmen. 81
BAG 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, AP Nr. 7 zu § 77 BetrVG 1972 Betriebsvereinbarung (unter III 2 b cc (2)); Fitting BetrVG, § 77 Rn. 175; Kreutz in GK-BetrVG, § 77 Rn. 430; Berg in DKKW BetrVG, § 77 Rn. 107; Worzalla in HWGNRH BetrVG, § 77 Rn. 246. 82 In diese Richtung aber wohl Hanau RdA 1989, 207, 211, der für eine individualarbeitsrechtliche Fortgeltung der Betriebsvereinbarung in Analogie zu § 613a Abs. 1 S. 2 BGB eintritt. 83 Im Ergebnis so auch: D. Gaul NZA 1986, 628, 631; Löwisch/Rieble in Dornbusch/Fischermeier BetrVG, § 77 Rn. 20; Kolbe Mitbestimmung und Demokratieprinzip, 2013, 309 f.; Thiele in GK-BetrVG, 3. Bearbeitung 1982, BetrVG § 77 Rn. 221; ferner Kaiser in LK BetrVG, § 77 Rn. 100, die eine Nachwirkung der Betriebsvereinbarung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG annimmt.
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2. Ansprüche des Betriebsrats a) Problemstellung Materiell-rechtlich relevante Ansprüche des Betriebsrats ergeben sich vorwiegend aus § 40 Abs. 1 BetrVG und umfassen insbesondere die Erstattung angefallener Rechtsverfolgungskosten.84 Der Betriebsrat gilt insoweit als partiell vermögensfähig.85 Setzt der Betriebsrat diese Ansprüche gegen den Arbeitgeber gerichtlich durch, behalte er nach der Rechtsprechung des BAG seine Beteiligtenfähigkeit, auch wenn ein Übergangs- oder Restmandat nicht bestehe, ein neuer Betriebsrat nicht gewählt sei und eine Funktionsnachfolge daher ausscheide. Der Kostenfreistellungsanspruch gehe nicht ersatzlos unter. Dem Betriebsrat verbleibe in analoger Anwendung von § 22 BetrVG iVm. § 49 Abs. 2 BGB ein Restmandat zur Abtretung oder gerichtlichen Durchsetzung seiner Ansprüche.86 Da das BAG die Figur der Funktionsnachfolge bevorzugt, muss es sich einiger juristischer Kunstgriffe bedienen, um die Geltendmachung vermögensrechtlicher Ansprüche des Betriebsrats nach Amtszeitende zu ermöglichen. In analoger Anwendung von § 49 Abs. 2 BGB möchte das BAG dabei zunächst die Rechtssubjektsstellung des Betriebsrats fingieren, um schließlich über § 22 BetrVG analog dessen personelle Besetzung zu bestimmen. Beide Analogien sind jedoch nicht haltbar. Den richtigen Lösungsansatz bietet auch hier das Prinzip der Organkontinuität. b) Keine Analogie Das Vorliegen einer Regelungslücke unterstellt, scheitert eine Analogie zu § 49 Abs. 2 BGB gleichwohl an der fehlenden vergleichbaren Interessenlage. Das BAG stützt sich in diesem Punkt auf die Vergleichbarkeit zwischen dem Betriebsrat und einem Verein (§ 21 BGB).87 Der Betriebsrat ist jedoch ein bloßes (Repräsentations-)Organ, der an das sachliche Substrat des Betriebes anknüpft. Insofern gleicht er nicht dem Verein als juristische Person, sondern eher dem Vereinsvorstand (§ 26 BGB), dessen rechtliche Existenz als bloßes Vertretungsorgan vom Bestand des Vereins abhängt. Ein Betriebsrat ohne sein sachliches Substrat, den Betrieb, kann rechtlich ebenso wenig existieren. 84 Zu den konkreten Voraussetzungen näher Benecke NZA 2018, 1361 ff. − Weitere Anspruchsgrundlagen sind § 20 Abs. 3 S. 1 BetrVG und § 76a Abs. 1 BetrVG. 85 BAG 24.10.2001 − 7 ABR 20/00, NZA 2003, 53 (unter II 1 mwN.). – So bereits zu Vereinbarungen nach § 80 Abs. 3 BetrVG BAG 13.5.1989 − 7 ABR 65/96, NZA 1998, 900. 86 BAG 24.10.2001 − 7 ABR 20/00, NZA 2003, 53 54 ff. (unter II 2). 87 BAG 24.10.2001 – 7 ABR 20/00, NZA 2003, 53 54 ff. (unter II 2 b bb (2)).
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Auch die Analogie zu § 22 BetrVG vermag eine etwaig bestehende Regelungslücke nicht zu schließen. Nach allgemeiner und zutreffender Auffassung erfasst § 22 BetrVG nur die Fälle nach § 13 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 BetrVG für die Fortdauer der Betriebsratsmitgliedschaft bis zur Neuwahl. Eine entsprechende Anwendung auf die Nichtigkeit einer Betriebsratswahl (Nr. 4) und die gerichtliche Auflösung des Betriebsrats (Nr. 5) verbietet sich.88 Im Rahmen der Geltendmachung vermögensrechtlicher Rechtspositionen sind jedoch vor allem die letztgenannten Konstellationen maßgeblich, weil hier die zeitliche Zäsur bis zu einer möglichen Neuwahl nicht absehbar ist. Das BAG betont aber ausdrücklich, dass in sämtlichen Situationen des Amtsverlustes aller Betriebsratsmitglieder die Geschäftsführungsbefugnis dieser fortbestehen soll. Namentlich hiervon erfasst sei daher neben den Fällen nach § 13 Abs. 2 Nrn. 4, 5 BetrVG auch der Wegfall sämtlicher Betriebsräte gemäß § 24 Abs. 1 Nrn. 2 bis 5 BetrVG.89 Will das BAG die Geschäftsführungsbefugnis der zuletzt amtierenden Betriebsratsmitglieder in sämtlichen vorgenannten Konstellationen nun aus § 22 BetrVG ableiten, widerspricht es seinem – schon wegen des eindeutigen Gesetzeswortlauts gebotenen – engen Verständnis der Norm.90 c) Handlungsfähigkeit bei Organkontinuität Weil der Bestand der vermögensrechtlichen Ansprüche schlicht von der Existenz des Betriebsrats als Rechtssubjekt abhängig ist, bedarf es bei Zugrundelegung des Prinzips der Organkontinuität keiner Analogie zu § 49 Abs. 2 BGB. Wegen des dauerhaften rechtlichen Fortbestands des Betriebsrats als Organ gehen auch Vermögenspositionen nicht unter, wenn er personell unbesetzt ist. An der gerichtlichen Geltendmachung derselben ist er dennoch gehindert, weil er in den Fällen von §§ 13 Abs. 2 Nrn. 4 und 5, 24 Abs. 1 Nrn. 2 bis 5 BetrVG mangels amtierender Mitglieder handlungsunfähig ist. Um die Handlungsfähigkeit des Betriebsrats zu begründen, bietet sich eine Analogie zu § 21b BetrVG an. Zwar besteht ein Restmandat dem Wortlaut nach nur bzgl. Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten. Allerdings handelt es sich bei vermögensrechtlichen Ansprüchen um originäre, eigene Ansprüche des Betriebsrats, deren Durchsetzung dem Betriebsrat ebenso möglich sein muss.91 88 BAG 29.5.1991 − 7 ABR 54/90, NZA 1992, 74, 75 (unter I); Besgen in BeckOK-ArbR BetrVG, § 22 Rn. 2; Koch in ErfK BetrVG, § 22 Rn. 1. 89 BAG 24.10.2001 − 7 ABR 20/00, NZA 2003, 53, 55 (unter II 2 a ff). 90 BAG 29.5.1991 – 7 ABR 54/90, NZA 1992, 74, 75 (unter I). 91 Die Reichweite von § 21b BetrVG hinsichtlich vermögensrechtlicher Rechtspositionen ist offengelassen in BAG 24.10.2001 − 7 ABR 20/00, NZA 2003, 53, 55 (unter II 2 a ee).
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§ 21b BetrVG sieht u.a. im Falle der Betriebsstilllegung ein Restmandat vor. Wenn aber das BetrVG in § 21b sogar bei Wegfall seines sachlichen Substrats den Fortbestand des Betriebsrats fingiert, ist erst recht in den Fällen, in denen der Betriebsrat als Organ noch besteht und nur vorrübergehend oder dauerhaft handlungsunfähig ist, eine (entsprechende) Anwendung der Vorschrift angezeigt. Der Gesetzgeber hat nicht bedacht, dass andernfalls eine ordnungsgemäße Abwicklung vermögensrechtlicher Rechtspositionen außerhalb der Betriebsstillegung nicht möglich wäre, obwohl die Konzeption des BetrVG eine solche verlangt. Dies ergibt sich aus der Ausgestaltung des Betriebsratsamts als unentgeltliches Ehrenamt.92 Das Restmandat wird durch diejenigen Betriebsratsmitglieder ausgeübt, die bei Beendigung des Vollmandats im Amt waren.93 3. Prozessuale Folgen a) Wegfall der Prozess- statt der Beteiligtenfähigkeit bei längerer Betriebsratslosigkeit Nach bisher ständiger Rechtsprechung soll im Prozess aufgrund der Funktionsnachfolge der neue Betriebsrat in die Beteiligtenstellung des alten eintreten.94 Damit seien auch nachfolgende Betriebsräte an rechtskräftige arbeitsgerichtliche Entscheidungen gebunden.95 Eine Funktionsnachfolge soll jedoch dann nicht mehr gegeben sein, wenn zwischen zwei Amtszeiten eine längere zeitliche Zäsur trete, deren genaue Dauer wurde bislang jedoch vom BAG noch offen gelassen.96 Lehnt das BAG eine Funktionsnachfolge aufgrund einer zu langen betriebsratslosen Zeit ab, hätte dies nicht nur zur Folge, dass ein neuer Betriebsrat nicht mehr in die prozessuale Beteiligtenstel92 In diesem Punkt zutreffend BAG 24.10.2001 − 7 ABR 20/00, NZA 2003, 53, 55 f. (unter II 2 b bb (1)) unter Hinweis auf die Kostentragungspflicht des Arbeitgebers bzgl. §§ 20 Abs. 3 S. 1, 40 Abs. 1, 76a Abs. 1 BetrVG. 93 Koch in ErfK BetrVG, § 21b Rn. 4; Besgen in BeckOK-ArbR BetrVG, § 21 Rn. 12. − § 24 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG findet für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach Entstehung des Restmandats keine Anwendung (BAG 5.5.2010 − 7 AZR 728/08, NZA 2010, 1025). – Im Übrigen ist auf die weiterführende Rspr. des BAG zu § 21b BetrVG zu verweisen, insbes. BAG 12.1.2000 – 7 ABR 61/98, NZA 2000, 669, 670 (unter II 2 d bb); 5.5.2010 – 7 AZR 728/08, NZA 2010, 1025 Rn. 17. 94 BAG 8.12.2010 – 7 ABR 69/09, NZA 2011, 362, 363 (unter II 1 a); 25.4.1978 − 6 ABR 9/75, AP Nr. 11 zu § 80 BetrVG 1972 (unter II 3); 27.1.1981 – 6 ABR 68/79, AP Nr. 2 zu § 80 ArbGG 1979 (unter II 2 b). 95 BAG 27.1.1981 − 6 ABR 68/79, AP Nr. 2 zu § 80 ArbGG 1979. – Dies entspricht gemäß dem Wortlaut des § 325 Abs. 1 ZPO gerade dem Wesen der Rechtsnachfolge. 96 BAG 19.12.2018 – 7 ABR 79/16, NZA 2019, 940 Rn. 49. – BAG 18.3.2015 – 7 ABR 42/12, NZA 2015, 1144 Rn. 11 f. hält bereits zwei Monate für problematisch, lässt eine Entscheidung jedoch offen.
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lung des alten Betriebsrats eintreten könnte. Vielmehr würde sich, entgegen dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit, auch die Rechtskraft von Entscheidungen für oder gegen den alten Betriebsrat mangels Funktionsnachfolge nicht auf den neuen erstrecken. Geht man hingegen von der Organkontinuität des Betriebsrats aus, ist der Betriebsrat trotz personaler Wechsel als ein und dasselbe Rechtssubjekt stets an gerichtliche Entscheidungen gebunden. Weil der Betriebsrat als Organ rechtlich fortexistiert, erübrigt sich auch das Problem des Wegfalls der Beteiligtenfähigkeit. Ist er mangels personeller Besetzung handlungsunfähig, verliert er jedoch seine Prozessfähigkeit nach §§ 80 Abs. 2, 46 Abs. 2 ArbGG iVm. § 51 Abs. 1 ZPO. b) Folgen des Verlusts der Prozessfähigkeit aa) Fortsetzung des Rechtsstreits Der Verlust der Prozessfähigkeit führt entweder zur Unterbrechung des Rechtsstreits nach § 241 Abs. 1 ZPO oder, sofern der Betriebsrat durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten war, zur Fortsetzung des Prozesses durch diesen oder auf dessen Antrag zur Aussetzung nach § 246 Abs. 1 Hs. 1 oder 2 ZPO. Maßgeblich ist dabei, dass – im Unterschied zum Wegfall der Beteiligtenfähigkeit – kein Prozessurteil ergeht, sondern der Rechtsstreit fortgesetzt werden kann. Hieran besteht regelmäßig ein erhebliches Interesse der vom Betriebsrat vertretenen Belegschaft, gerade mit Blick auf solche Verfahren, welche die Nichtigkeit einer Betriebsratswahl oder die Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung zum Gegenstand haben. bb) Verfahren mit Prozessbevollmächtigtem Aufgrund des vor dem LAG und BAG herrschenden Anwaltszwangs ist bei Verlust der Prozessfähigkeit in diesen Instanzen stets § 246 ZPO maßgeblich. Der nachträgliche Wegfall der Prozessfähigkeit führt wegen § 86 ZPO nicht zur Unwirksamkeit von Prozesshandlungen des bestellten Prozessbevollmächtigten.97 Das Verfahren kann durch diesen bis zum Abschluss der letzten Rechtsmittelinstanz fortgeführt werden.98 Die Befugnis zur Prozessvertretung bleibt selbst nach Mandatsniederlegung bestehen.99 Stellt der Prozessbevollmächtigte einen Aussetzungsantrag, gilt gemäß 97 Siehe zur Einlegung eines Rechtsmittels für eine führungslose Gesellschaft BGH 6.2.2019 – VII ZB 78/17, NZG 2019, 511. 98 Der Umfang der allgemeinen Prozessvollmacht erfasst auch die Rechtsmittelinstanzen (Piekenbrock in BeckOK-ZPO, § 81 Rn. 6). − § 78 Abs. 1 S. 3 ZPO gilt nicht für Verfahren vor dem BAG. 99 Piekenbrock in BeckOK-ZPO, § 87 Rn. 13. − Eine Unterbrechung des Verfahrens tritt jedoch ausnahmsweise dann ein, wenn das Mandat bereits vor Wegfall der Prozessfähigkeit niedergelegt wurde (vgl. Piekenbrock in BeckOK-ZPO, § 87 Rn. 14).
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§ 246 Abs. 2 ZPO die Vorschrift des § 241 ZPO entsprechend. Eine Fortsetzung des Prozesses ist dann auch auf Anzeige des Prozessgegners gegenüber dem Gericht möglich. Die Zustellung hat gemäß § 172 Abs. 1 S. 2 ZPO aufgrund der Fiktion nach § 87 Abs. 1 ZPO an den Prozessbevollmächtigten zu erfolgen, auch wenn dieser das Mandat schon niedergelegt hat.100 Mit einer zeitlich unbestimmten Unterbrechung ist somit nicht zu rechnen, sofern das Verfahren bereits in die Rechtsmittelinstanz gelangt ist.101 Problematisch sind nur die Fälle, in denen die Prozessfähigkeit noch in der ersten Instanz vor dem ArbG weggefallen ist und ein Prozessbevollmächtigter nicht bestellt war oder ein ursprünglich bestellter Prozessbevollmächtigter nach Wegfall der Prozessfähigkeit die Aussetzung des Verfahrens beantragt und anschließend das Mandat niedergelegt hat. cc) Bestellung eines Prozesspflegers Selbst in diesen Konstellationen ist jedoch eine Unterbrechung des Rechtsstreits auf unabsehbare Zeit nicht zwingend. Sofern der Betriebsrat als Antragsgegner auftritt, könnte ihm auch während des Verfahrens entsprechend § 57 Abs. 1 ZPO ein Prozesspfleger bestellt werden.102 Dies setzt einen Antrag durch den Antragsteller im Beschlussverfahren sowie Gefahr im Verzug voraus. Letztere liegt vor, wenn die Verwirklichung des gerichtlich geltend gemachten Anspruchs erheblich gefährdet ist bzw. ein Abwarten mit erheblichen Nachteilen verbunden oder unzumutbar ist.103 In Fällen, in denen die personelle Neubesetzung des Betriebsrats zeitlich nicht absehbar ist, lässt sich daher, insbesondere mit Blick auf das Beschleunigungsgebot im arbeitsgerichtlichen Verfahren (§ 9 Abs. 1 ArbGG), Gefahr im Verzug wegen unzumutbaren Abwartens aufgrund der Ungewissheit der Lage annehmen. Es spricht schließlich unter dem Aspekt des Beschleunigungsgebotes einiges dafür, dies ebenso für den Betriebsrat als Antragsteller zu handhaben, wenn eine nicht absehbare Unterbrechung des Verfahrens droht.104 Denn 100 BGH 25.4.2007 − XII ZR 58/06, NJW 2007, 2142 Rn. 12; Piekenbrock in BeckOKZPO § 87 Rn. 13. 101 BAG 19.12.2018 – 7 ABR 79/16, NZA 2019, 940 Rn. 47 begegnet diesen Bedenken in der Rechtsmittelinstanz jedoch zu Recht, wenn es ausgehend vom Verlust der Beteiligtenfähigkeit die analoge Anwendung von § 239 ZPO ablehnt. 102 Zur Anwendbarkeit auf andere „parteifähige Gebilde“ auch bei Wegfall der Prozessfähigkeit erst nach Rechtshängigkeit Hübsch in BeckOK-ZPO, § 57 Rn. 1. 103 Weth in Musielak/Voit ZPO, § 57 Rn. 2; Hüßtege in Thomas/Putzo ZPO, § 57 Rn. 5. − § 57 ZPO ist nicht einmal bei bestehender Möglichkeit der gerichtlichen Notbestellung organschaftlicher Vertreter subsidiär (OLG Frankfurt a.M. 9.11.2011 − 19 W 60/11, NJW-RR 2012, 510). 104 So bereits bejaht für den Fall, dass die Frage der Prozessfähigkeit durch mehrere Gerichte unterschiedlich beurteilt wurde, weil ein Betreuer durch das Vormundschaftsgericht
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auch dem Antragsgegner ist es in dieser Konstellation nicht möglich, das Verfahren auf Antrag nach § 241 Abs. 1 ZPO fortzusetzen, weil es insoweit auf eine wirksame Zustellung ankommt. Mangels Prozessbevollmächtigten kann diese an einen handlungsunfähigen Betriebsrat niemals bewirkt werden. Um eine zeitlich unbestimmte Verfahrensunterbrechung zu verhindern, muss auch aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes in jeder Verfahrenssituation ein Prozesspfleger analog § 57 ZPO bestellt werden können.
V. Ergebnisse 1. Das Prinzip der Kontinuität des Betriebsrats ist ein betriebsverfassungsrechtliches Strukturprinzip, das seine Ausprägung in zahlreichen Normen findet. Nach dem vorherrschenden Verständnis ist die Kontinuität des Betriebsrats allein eine personelle, welche die gleichbleibende personale Zusammensetzung des Betriebsrats sichern soll. 2. Rechtsprechung und Literatur gehen davon aus, dass der Betriebsrat als Organ automatisch erlischt, wenn seine Amtszeit endet. Nach der hier vertretenenAuffassung gilt indes das Prinzip der Organkontinuität des Betriebsrats. Das Amtszeitende bedeutet lediglich das Ende des Mandats der Betriebsratsmitglieder. 3. Der Begriff der Organkontinuität beschreibt die kontinuierliche rechtliche Existenz eines Organs als ein und dasselbe Rechtssubjekt unabhängig von dessen personeller Besetzung. Die meisten obligatorischen Organe des Zivilrechts sind derart ausgestaltet. Der Betriebsrat ist trotz seines fakultativen Charakters gleichwohl als kontinuierliches Organ der Betriebsverfassung zu begreifen. 4. Die Organkontinuität bildet den Gegensatz zur Funktionsnachfolge des Betriebsrats. Das rechtliche Konstrukt der Funktionsnachfolge basiert auf der Annahme, der Betriebsrat sei als Organ diskontinuierlich. Rechtsprechung und herrschende Lehre stützen dieses Postulat v. a. auf die Regelung der Amtszeit in § 21 BetrVG. § 21 BetrVG normiert jedoch keine organschaftliche, sondern lediglich eine personelle Diskontinuität. Eine Vorschrift, die das Erlöschen des Betriebsrats als Organ anordnet, existiert im BetrVG nicht. 6. Mit dem Gesamtbetriebsrat und dem fakultativen Konzernbetriebsrat hat das BAG selbst rechtlich dauerexistente Organe der Betriebsverfassung anerkannt, die bei fehlender personeller Besetzung in einen Zustand der nicht bestellt wurde, das LAG aber weiterhin Zweifel an der Prozessunfähigkeit des Klägers hatte (BAG 19.9.2007 – 3 AZB 11/07, NZA 2008, 1030 Rn. 12).
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Handlungsunfähigkeit verfallen. Der Betriebsrat ist einheitlich hierzu ebenfalls als kontinuierliches Organ zu behandeln. Er besteht, sobald er einmal gewählt wurde, unabhängig von seiner personellen Besetzung als Rechtssubjekt fort. Ein betriebsratsloser Betrieb im engeren Sinne kann dann erst mit Auflösung des Betriebs oder Verlust der Betriebsratsfähigkeit entstehen. 7. Nur unter dem Prinzip der Organkontinuität gelingt die dogmatisch überzeugende Erklärung der Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen. Verliert der Betrieb seine Betriebsratsfähigkeit scheidet ein Fortwirken von Betriebsvereinbarungen aus. 8. Materiell-rechtliche Ansprüche gegen den Arbeitgeber kann der personell unbesetzte Betriebsrat analog § 21b BetrVG iVm. dem Prinzip der Organkontinuität weiterverfolgen. 9. Entfällt die personelle Besetzung des Betriebsrats, wird er handlungs- und damit im gerichtlichen Verfahren prozessunfähig. Der Verlust der Prozessfähigkeit lässt sich – anders als ein Wegfall der Beteiligtenfähigkeit – mittels der einschlägigen zivilverfahrensrechtlichen Regelungen interessengerecht handhaben.
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Betriebsrentenanpassung: Berechnungsdurchgriff im faktischen Konzern
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Betriebsrentenanpassung: Berechnungsdurchgriff im faktischen Konzern Martin Franzen und Joachim Wutte
Betriebsrentenanpassung: Berechnungsdurchgriff im faktischen Konzern nach geltendem Konzernhaftungsrecht MARTIN FRANZEN UND JOACHIM WUTTE
I. Betriebsrentenanpassung im Konzern und Berechnungsdurchgriff Betriebsrentenanpassung ist die gesetzlich vorgeschriebene regelmäßige Erhöhung der Betriebsrenten gemäß der Kaufkraftentwicklung. Nach § 16 Abs. 1 BetrAVG hat der (ehemalige) Arbeitgeber alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Leistungen zu prüfen und hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden; dabei sind insbesondere die Belange der Versorgungsempfänger und die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers zu berücksichtigen. Daraus folgt grundsätzlich, dass der Arbeitgeber die Betriebsrentenanpassung verweigern darf, wenn seine eigene wirtschaftliche Lage schlecht ist. Wie aber, wenn der Vertragsarbeitgeber – die Gesellschaft, mit der der Arbeitsvertrag bestand – in einen Unternehmenskonzern eingebunden ist, insbesondere als abhängiges Unternehmen (§ 17 Abs. 1 AktG)?1 Sollte es im Unternehmensverbund nicht eher auf die Lage des herrschenden Unternehmens ankommen, weil dieses über seine gesellschaftsrechtliche Einflussmacht die Erträge und Ertragsfähigkeit des beherrschten Arbeitgebers steuern kann? Der 3. Senat des BAG (Betriebsrentensenat) etablierte in diesem Sinn in den 1980er Jahren den sog. Berechnungsdurchgriff,2 wonach unter bestimmten Voraussetzungen nicht auf den Vertragsarbeitgeber, sondern auf dessen Muttergesellschaft abgestellt werden müsse.3 Der Betriebsrentensenat lehnte seine Konstruktion dabei stets eng an die Rechtsprechung des II. Zivilsenats des BGH zur Konzernhaftung an und erlaubte einen Berechnungsdurchgriff (nur) dann, wenn die daraus folgende Belas1 Zur Betriebsrentenanpassung im Konzern siehe Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989, 242 ff.; dies. AR-Blattei ES 460 Nr. 287 a und b; dies. Anm. zu BAG 4.10.1994 – 3 AZR 910/93, DZWIR 1995, 332; dies. in Hirte/Mülbert/Roth Aktiengesetz, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 15 ff. Rn. 28, 40. 2 Der Begriff „Berechnungsdurchgriff“ wurde wohl zuerst verwendet von Konzen ZHR 1987, 566 (576). 3 BAG 19.5.1981 – 3 AZR 308/80 nach einer Andeutung in BAG 17.1.1980 – 3 AZR 1107/78, Rn. 21 (alle Randnummern bei Rechtsprechung zitiert nach juris).
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tung über einen Konzernhaftungstatbestand an die Muttergesellschaft weitergereicht werden konnte.4 Weil sich wiederum die Konzernhaftungsrechtsprechung des BGH in den letzten Jahrzehnten enorm wandelte (von „Autokran“ bis „TRIHOTEL“),5 musste das BAG seinen Berechnungsdurchgriff immer wieder an neue Durchgriffshaftungen anpassen.6
II. Aktueller Stand und Kritik der Rechtsprechung zum Berechnungsdurchgriff 1. Divergenz zwischen Beherrschungsvertragskonzern und faktischem Konzern Die höchstrichterliche Rechtsprechung divergiert derzeit stark danach, ob es sich um einen Vertragskonzern mit Beherrschungsvertrag (§ 291 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 AktG) handelt oder nicht. Ein Berechnungsdurchgriff wird anerkannt, wenn die Arbeitgebergesellschaft mittels Beherrschungsvertrags von einem anderen Unternehmen beherrscht wird. Es besteht dann eine Verlustausgleichspflicht nach § 302 AktG, so dass ein mit zusätzlichen Anpassungsschulden belastetes Tochterunternehmen sich nötigenfalls bei seiner Mutter refinanzieren könnte. Nachdem der 3. Senat zeitweise allein das Bestehen des Beherrschungsvertrags für einen Berechnungsdurchgriff genügen ließ,7 verlangt er mittlerweile wieder als zusätzliche Voraussetzung, dass „sich die durch den Beherrschungsvertrag für die Versorgungsempfänger begründete Gefahrenlage verwirklicht hat“.8 Die Muttergesellschaft muss also ihre Leitungsmacht mit nachteiliger Wirkung für die Ertragslage der Tochtergesellschaft ausgeübt und so deren Anpassungsfähigkeit zulasten der Versorgungsempfänger geschmälert haben.9 Allerdings gestaltet der 3. Senat die prozessuale Vortragslast dazu denkbar günstig für die Betriebsrentner: Darlegen und beweisen müssen diese nur den Beherrschungsvertrag; im Übrigen können sie sich auf die bloße Behauptung beschränken, dass sich die dem Beherrschungsvertrag eigene Gefahrenlage verwirklicht habe. Dem Anpassungsschuldner obliegt dann, substantiiert darzulegen, seine wirtschaftliche Lage habe sich durch die Konzernierung nicht maßgeblich ver4 Noch undeutlich in BAG 14.2.1989 – 3 AZR 191/87, Rn. 21; deutlich dann BAG 14.12.1993 – 3 AZR 519/93, Rn. 22 und seither in st. Rspr., vgl. zuletzt BAG 7.6.2016 – 3 AZR 193/15, Rn. 47. 5 BGH 16.9.1985 – II ZR 275/84 – Autokran; 16.7.2007 – II ZR 3/04 – TRIHOTEL. 6 Ausführliche Darstellungen bei Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto, Betriebsrentengesetz, 7. Aufl. 2018, § 16 Rn. 213 ff.; Wutte Betriebsrentenanpassung im Konzern, 2016, 11 ff. 7 BAG 26.5.2009 – 3 AZR 369/07. 8 BAG 10.3.2015 – 3 AZR 739/13, Leitsatz 1. 9 BAG 10.3.2015 – 3 AZR 739/13, Rn. 32 f.
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schlechtert oder er wäre auch ohne die Konzernierung nicht anpassungsfähig.10 Diese richterliche Abstufung der Darlegungs- und Beweislast wird als für den Versorgungsschuldner kaum überwindbar kritisiert.11 Vertieft wird die strenge Behandlung des Vertragskonzerns von der Rechtsprechung noch dadurch, dass bei Beendigung des Beherrschungsvertrags eine Pflicht der Muttergesellschaft bestehen soll, die Tochtergesellschaft so auszustatten, dass diese nachher die für die Anpassung der Betriebsrenten erforderliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit besitze.12 Ganz anders ist hingegen der aktuelle Stand im rein faktischen Konzern, d.h. in einem Unternehmensverbund, in der die Leitungsmacht des herrschenden Unternehmens nur über dessen Mehrheitsbesitz der Anteile des abhängigen Unternehmens vermittelt wird (vgl. § 17 AktG). Früher hatte das BAG hier einen Berechnungsdurchgriff unter den Voraussetzungen und Folgen qualifizierter faktischer Konzernierung zugestanden.13 Das war dann der Fall, wenn das herrschende Unternehmen seine Leitungsmacht in einer Weise ausübte, die keine angemessene Rücksicht auf die eigenen Belange der abhängigen Gesellschaft nahm, ohne dass sich der ihr insgesamt zugefügte Nachteil durch Einzelausgleichsmaßnahmen kompensieren ließ. Nach damaliger Konzernhaftungsrechtsprechung führte das zu einer ständigen Verlustausgleichspflicht der Muttergesellschaft analog § 302 AktG.14 Nachdem der BGH dieses Institut aber aufgab,15 zog auch das BAG seinen parallellaufenden Berechnungsdurchgriff zurück.16 Heute zieht der II. Zivilsenat des BGH für solche Konstellationen – momentan wohl ausschließlich – die sog. Existenzvernichtungshaftung nach § 826 BGB heran, die erst greift, wenn die missbräuchliche Ausübung der Leitungsmacht zur Insolvenz der abhängigen Gesellschaft geführt hat.17 Die Existenzvernichtungshaftung wird als kategorisch untauglich angesehen, einen Berechnungsdurchgriff zu stützen, weil sie mit ihrem Insolvenzerfordernis gleichsam „zu spät“ kommt und so die fortwährende Liquidität des Anpassungsschuldners nicht gewährleisten kann.18 Der 3. Senat sieht das nach anfänglichem Zö10 BAG 10.3.2015 – 3 AZR 739/13, Rn. 36 ff.; unkritisch übernommen von BGH 27.9. 2016 – II ZR 57/15. 11 Schäfer NZG 2016, 1321 (1323); ders. ZIP 2016, 2245 (2247); Wutte (Fn. 6), 133 f. 12 BAG 26.5.2009 – 3 AZR 369/07, Rn. 33; das Urteil wird sehr kritisiert, vgl. nur Böhm DB 2009, 2376 (2377); Cisch/Kruip NZA 2010, 540 (544); Forst/Granetzny DK 2011, 1 (6) und aktuell Döring DB 2017, 230 (232). 13 Seit BAG 28.4.1992 – 3 AZR 244/91 bis BAG 18.2.2003 – 3 AZR 172/02. 14 BGH 29.3.1993 – II ZR 265/91 – TBB. 15 BGH 17.9.2001 – II ZR 178/99 – Bremer Vulkan. 16 BAG 15.1.2019 – 3 AZR 638/10, Rn. 35 ff. 17 BGH 16.7.2007 – II ZR 3/04 – TRIHOTEL. 18 Diller/Beck DB 2011, 1052 (1053 f.); Forst/Granetzny DK 2011, 1 (10); Rolfs (Fn. 6), Rn. 223; Schäfer ZIP 2010, 2025; ders. ZIP 2016, 2245 (2248); Schlewing RdA 2010, 364 (367).
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gern19 nunmehr genauso.20 Dieser Weg zum Berechnungsdurchgriff ist also mittlerweile versperrt. 2. Kritik: Ungerechte Ungleichbehandlung Als Zwischenergebnis ergibt sich, dass der Vertragskonzern mit Beherrschungsvertrag, der vom Gesellschaftsrecht für diese transparente Gestaltung sogar privilegiert wird (§ 311 Abs. 1 AktG), vom Betriebsrentenrecht fast unausweichlich mit einem Berechnungsdurchgriff belegt wird. Während der faktische Konzern, in dem über die Mehrheitsbeteiligung ebenso rigide regiert werden kann,21 einen Berechnungsdurchgriff so gut wie nicht fürchten muss. Aus Sicht der Betriebsrentner erscheint dieses Auseinanderklaffen willkürlich.22 Der 3. Senat ist damit sicher auch nicht glücklich: „Das die Belange des einzelnen Unternehmens im Konzerninteresse beeinträchtigende Verhalten des herrschenden Unternehmens ist zwar im Vertragskonzern ebenso wie im faktischen GmbH-Konzern gesellschaftsrechtlich erlaubt, führt aber zu keiner Einschränkung der betriebsrentenrechtlichen Pflichten gegenüber den an das Wohl und Wehe des einzelnen Unternehmens gebundenen früheren Mitarbeitern.“23„Es wäre unbillig und würde Möglichkeiten des Mißbrauchs eröffnen, wollte man bei § 16 BetrAVG nur beim Vertragskonzern auf die Leistungsfähigkeit des herrschenden Unternehmens abstellen.“24
3. Ausweg Schadensersatz für Anspruchsvereitelung? Momentan sucht der 3. Senat eine Lösung für faktische Unternehmensverbindungen über einen Schadensersatzanspruch für Anspruchsvereitelung. Nach einer Andeutung wenige Monate zuvor25 entwickelte der Senat die neue Haftung in seinem Urteil vom 15.9.2015 im Rahmen von Segelhinweisen an das LAG.26 In Betracht komme ein Schadensersatzanspruch aus § 826 19 In einigen Urteilen prüfte er noch die Voraussetzungen der Existenzvernichtungshaftung im Zusammenhang mit dem Berechnungsdurchgriff, konnte sie aber jedes Mal ohne Weiteres verneinen, BAG 15.1.2013 – 3 AZR 638/10, Rn. 37; 18.3.2014 – 3 AZR 899/11, Rn. 50; 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, Rn. 72; 21.4.2015 – 3 AZR 102/14, Rn. 66; kritisch dazu Schäfer ZIP 2016, 2245 (2248). 20 BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 46; 7.6.2016 – 3 AZR 193/15, Rn. 49. 21 Jedenfalls mit einer GmbH als Untergesellschaft, vgl. § 37 Abs. 1 a.E. GmbHG vs. §§ 311 ff. AktG. 22 Rolfs (Fn. 6) Rn. 224; kritisch auch Rolfs/List RdA 2015, 423 (425); Matthießen jurisPR-ArbR 43/2015 Anm. 3; ders. DB 2016, 2783 (2786). 23 BAG 4.10.1994 – 3 AZR 910/93, Rn. 51. 24 BAG 28.4.1992 – 3 AZR 244/91, Rn. 35 zum qualifizierten faktischen Konzern – solche Konzerne gibt es weiterhin, nur die an diesen Sachverhalt anknüpfende gesellschaftsrechtliche Haftung hat sich geändert. 25 BAG 21.4.2015 – 3 AZR 102/14, Rn. 77. 26 BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 64 ff.
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BGB gegen den Versorgungsschuldner.27 Im Bereich der Anpassungsprüfungspflicht nach § 16 BetrAVG entstünden Schutzlücken daraus, dass die Norm auf die wirtschaftliche Lage des unmittelbaren Versorgungsschuldners abstelle. Das setze voraus, dass dieser seine wirtschaftlichen Entscheidungen im Eigeninteresse treffe, mithin eine möglichst günstige wirtschaftliche Entwicklung für sich anstrebe. Richte er seine Entscheidungen an anderen Kriterien aus (insbesondere dem Konzerninteresse), seien die Betriebsrentner den Folgen ausgesetzt, ohne Einfluss auf die Unternehmenspolitik nehmen zu können. Wenn deswegen die wirtschaftliche Lage einer Anpassung der Betriebsrente entgegenstehe, würden die Betriebsrenten, für die die Betriebsrentner ihre Gegenleistung bereits erbracht hätten, ausgezehrt und verlören an Wert.28 Für § 826 BGB genüge dabei nicht, dass eine Handlung gegen vertragliche Pflichten oder das Gesetz verstoße oder bei einem anderen einen Vermögensschaden hervorrufe. Hinzukommen müsse eine besondere Verwerflichkeit, die sich aus Ziel, Mittel, Gesinnung oder Folgen ergeben könne.29 Als Rechtsfolge des Schadensersatzanspruchs könnten die Betriebsrentner die Anpassung ihrer Betriebsrenten verlangen, sofern die Anpassung ohne die sittenwidrige vorsätzliche Schädigung wahrscheinlich geschuldet worden wäre (§ 249 Abs. 1, § 252 BGB).30 Der 3. Senat hat seinen neuen Ansatz in einer Entscheidung aus 2016 bestätigt.31 4. Kritik: Wenn schon Anspruchsvereitelungshaftung, dann mittels § 280 BGB a) Bruch mit Gleichlauf von Zurechnung und Innenhaftung Die dargestellte „Anspruchsvereitelungshaftung“ des BAG lässt sich nicht als Angleichung oder auch nur Anlehnung an die Konzernhaftungsrechtsprechung des BGH verstehen. Mit der Existenzvernichtungshaftung des II. Zivilsenats hat das neue Haftungskonzept des 3. Senats nichts zu tun. Die einzige Gemeinsamkeit ist die Einordnung in § 826 BGB. Während es bei der Existenzvernichtungshaftung um eine Konzerninnenhaftung für die Missachtung der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit der abhängigen Gesellschaft geht, wird die Anspruchsvereitelungshaftung durch einen direkten Eingriff in die Vermögensinteressen einer bestimmten Gläubigergruppe der konzernierten Gesellschaft ausgelöst und führt zu eine Außenhaftung dieser Gesellschaft selbst. Ausdrücklich betont der 3. Senat, dass sich der An27
BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 64, 69. BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 67, 73. 29 BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 66 f. 30 BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 69. 31 BAG 7.6.2016 – 3 AZR 193/15, Rn. 67. 28
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spruch gegen den Versorgungsschuldner richte und nicht etwa gegen ein anderes Konzernunternehmen.32 Das ist eine knappe Absage an diejenigen, die einen Missbrauchsschutz über eine Außenhaftung der Muttergesellschaft nach § 826 BGB fordern.33 Gleichzeitig bricht das Konzept mit dem Gleichlauf von Zurechnung und Innenhaftung im Sinne einer Einstandspflicht/ Haftung des anderen Konzernunternehmens gegenüber dem Versorgungsschuldner, was das BAG aber ungerührt weiter als grundsätzliche Voraussetzung für einen Berechnungsdurchgriff ansieht.34 Dem Anspruch aus § 826 BGB soll indessen nicht entgegen stehen, dass die Schadensersatzpflicht ggf. die Vermögenssubstanz des Versorgungsschuldners beeinträchtigt.35 Man könnte das natürlich so erklären, dass Schadensersatz und Berechnungsdurchgriff unterschiedliche Haftungsarten seien.36 Das wäre aber reichlich formal argumentiert, in Wahrheit ist der Inhalt des Schadensersatzanspruchs identisch mit der Rechtsfolge eines Berechnungsdurchgriffs: Erzwungene Betriebsrentenanpassung entgegen der mangelnden Leistungsfähigkeit des Versorgungsschuldners. b) Vertraglicher Schadensersatzanspruch vorzugswürdig gegenüber deliktischem Die bisher für das neue Haftungskonzept herangezogene Anspruchsgrundlage – vorsätzliche sittenwidrige Schädigung nach § 826 BGB – erscheint nicht richtig gewählt. Warum sucht der Betriebsrentensenat explizit nach einer deliktischen Anspruchsgrundlage zur Schließung der von ihm erkannten Schutzlücke?37 Man könnte nämlich auch auf vertragliche Schadensersatzhaftung nach § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB zurückgreifen. Die in Rede stehende Anspruchsvereitelung durch Herbeiführen der eigenen Anpassungsunfähigkeit lässt sich ohne Weiteres als Verletzung der anerkannten Leistungstreuepflicht38 verstehen. Auch wenn man für das konkrete Pflichtenprogramm eine Abwägung mit dem berechtigten Interesse des Versorgungsschuldners auf freie eigenwirtschaftliche Entwicklung vorzuneh32 BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 64, 69; deutlich auch BAG 7.6.2016 – 3 AZR 193/15, Rn. 79. 33 Cisch/Kruip NZA 2010, 540 ff.; Schäfer ZIP 2010, 2025 ff. (vgl. aber ders. ZIP 2016, 2245 (2250)); Heikel Betriebsrentenanpassung und Berechnungsdurchgriff, 2013, 360 ff. 34 Vgl. nur BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 43; 7.6.2016 – 3 AZR 193/15, Rn. 47. 35 BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 69. 36 So wohl der 3. Senat, wenn er meint, der betreffende Schadensersatzanspruch und die Anpassung nach § 16 BetrAVG seien unterschiedliche Streitgegenstände, BAG 21.4.2015 – 3 AZR 102/14, Rn. 77. 37 BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 65. 38 Vgl. Grüneberg in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Aufl. 2020, § 280 Rn. 25; Ernst MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2019, § 280 Rn. 95 ff.
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men hat,39 umfasst es doch mindestens die vom Senat angedachte Pflicht, die Betriebsrentenanpassung nicht durch verwerfliche Konzerngestaltung zu vereiteln. Zwischen Versorgungsschuldner und Betriebsrentner besteht auch immer das nötige vertragliche Schuldverhältnis in Form des Versorgungsvertrags, begründet durch die Betriebsrentenzusage im aktiven Arbeitsverhältnis. Selbst wenn der Versorgungsschuldner die Versorgungsverbindlichkeiten im Rahmen einer Umwandlung übernommen hat, tritt er über die Gesamtrechtsnachfolge nach § 131 UmwG in sämtliche Rechte und Pflichten daraus ein (eine andere einseitige Übertragung der Versorgungsverbindlichkeiten ist nicht möglich, § 4 BetrAVG). Übrigens: Wird durch Umwandlung eine reine Rentnergesellschaft geschaffen, indem alle Versorgungsverbindlichkeiten auf einen Rechtsträger ohne werbenden Betrieb übertragen werden, muss dieser nach der Rechtsprechung des BAG mit hinreichenden Mitteln ausgestattet werden, zukünftige Betriebsrentenanpassungen zu leisten.40 Bei unzureichender Ausstattung nimmt das BAG eine Schadensersatzpflicht des übertragenden Rechtsträgers als originärem Versorgungsschuldner aus § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB an, wegen Verletzung einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht.41 Es gibt, was die Haftungsgrundlage anbelangt, keinen Unterschied zur hier behandelten Konstellation. c) Zu hohe Hürde des § 826 BGB Wenn der 3. Senat dennoch zur Lösung anderer Gefahren faktischer Konzernierung § 826 BGB heranzieht, könnte dahinter die unausgesprochene Absicht stecken, die Schadensersatzhaftung an hohe Voraussetzungen zu knüpfen und auf evidente Missbrauchsfälle zu begrenzen.42 Das Vorsatzerfordernis und die Verwerflichkeitsbedingung bei voller Beweislast des Anspruchstellers machen es den Betriebsrentnern jedoch allzu schwer. Das zeigt sich schon in den zwei bisher vom BAG erwogenen Fallgruppen: In Betracht komme die Haftung bei einer Konzernpolitik, die über konzerninterne Verrechnungspreisabreden den Gewinn des Versorgungsschuldners künstlich steuere, sofern damit dessen wirtschaftliche Lage „in rechtlich zu beanstandender Weise“ so gestaltet werde, dass eine Anpassung der Betriebsrente nach § 16 BetrAVG ausgeschlossen und dem Betriebsrentner dadurch Erfüllungsansprüche genommen würden.43 Es lässt sich vermuten, dass es ein 39 So kann dem Arbeitgeber z.B. nicht untersagt werden, seinen Betrieb stillzulegen, vgl. BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 71 mit Verweis auf BAG 26.9.2002 – 2 AZR 636/01. 40 BAG 11.3.2008 – 3 AZR 358/06. 41 BAG 11.3.2008 – 3 AZR 358/06, Rn. 56; diese Rechtsprechung kam nun einmal mittelbar zum Tragen in LAG Rheinland-Pfalz 19.11.2019 – 8 Sa 346/18, passim (rechtskräftig). 42 In diesem Sinne Schäfer ZIP 2016, 2245 (2250 f.). 43 BAG 21.4.2015 – 3 AZR 102/14, Rn. 77 mit zahlreichen Parallelentscheidungen, u.a. 3 AZR 726/13, Rn. 72.
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Leichtes für den Versorgungsschuldner wird, jedenfalls Vorsatz und Verwerflichkeit zu erschüttern – etwa so: die Liquidität des Gesamtkonzerns war anders nicht zu gewährleisten, man hat von den Verrechnungspreisen umgekehrt auch profitiert, und die Betriebsrentner hatte man dabei überhaupt nicht im Blick, geschweige denn dass man ihnen schaden wollte. Als zweite Fallgruppe hat das BAG die Haftung angedacht, wenn der Versorgungsschuldner sein operatives Geschäft innerhalb des Konzerns übertrage, die vorher von ihm ausgeübten wirtschaftlichen Aktivitäten im Konzern weitergeführt würden und dadurch ein Auseinanderfallen der wirtschaftlichen Aktivitäten einerseits und der Versorgungsverbindlichkeiten andererseits herbeigeführt werde. Zu berücksichtigen sei dabei auch der Anlass der Übertragung sowie, ob dem Versorgungsschuldner eine (marktgerechte) Gegenleistung44 zugeflossen sei.45 Das BAG hatte bereits Gelegenheit, einen Sachverhalt anhand dieser Kriterien zu subsumieren. Es verneinte die Haftung im konkreten Fall, weil nicht alle wirtschaftlichen Aktivitäten im Konzern weitergeführt wurden und die Umstrukturierung sich in mehreren Schritten über drei Jahre vollzog.46 In aktuellen Entscheidungen des LAG Köln wurde die Fallgruppe geprüft und verneint, weil der Anlass der Konzernrestrukturierung dessen notwendige Konsolidierung war, mithin keine Verwerflichkeit gegenüber den Betriebsrentnern erkannt werden konnte.47 So wird es immer sein, ein vernünftiger Grund wird sich immer finden. Das muss man nicht zynisch nehmen, tatsächlich wird ein Konzernumbau nur vorgenommen, wenn er sich betriebswirtschaftlich umfassend rechtfertigen lässt. Dass dabei wesentliche Motivation ist, den Betriebsrentnern zu schaden, unterstellt den verantwortlichen Konzernleitern allzu viel bösen Willen. Weil die Unterstellung für § 826 BGB indes nicht ausreicht, sondern der Beweis nötig wäre, ist die Anspruchsgrundlage für die Betriebsrentner insgesamt nicht recht zu gebrauchen. Wollte man hier mit Beweiserleichterungen o.ä. helfen, würde man den Ausnahmecharakter des § 826 BGB ignorieren. d) Zwischenfazit Sinnvoller wäre, für die Anspruchsvereitelungshaftung auf § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB zu rekurrieren, mit allen Konsequenzen: Fahrlässigkeit 44 Erlaubt sei der Hinweis, dass die Gegenleistung nach der aktuellen Behandlung von Rentnergesellschaften einfach verpuffen würde. Selbst wenn sie an die Rentnergesellschaft ausgezahlt würde, könnten die Anteilseigner sie als Gewinn abschöpfen, und sie stünde für künftige Anpassungen nicht mehr zur Verfügung. Daran ändert auch ein Einstellen in die Rückstellungen für Pensionsverpflichtungen nichts, weil diese den Betriebsrentnern nicht materiell zugewiesen sind, vgl. zuletzt BAG 21.4.2015 – 3 AZR 726/13, Rn. 40 ff.; eingehend zu den Problemen Wutte (Fn. 6), 68 ff., 193 ff. 45 BAG 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 73. 46 BAG 7.6.2016 – 3 AZR 193/15, Rn. 69. 47 LAG Köln 22.1.2019 – 4 Sa 624/13, Rn. 95 ff. mit zahlreichen Parallelentscheidungen.
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genügt (§ 276 BGB), die Beweislast liegt beim Anspruchsgegner (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB), und auf Sittenwidrigkeit kann man verzichten. Stattdessen entwickelt man das Pflichtenprogramm des Versorgungsschuldners aus einer Abwägung zwischen der berechtigten Anpassungserwartung der Betriebsrentner (§ 16 BetrAVG) und der unternehmerischen Freiheit des ehemaligen Arbeitgebers (Art. 2, 12, 14 GG).
III. Für eine Wiederbelebung des Berechnungsdurchgriffs im faktischen Konzern 1. Allgemeines Schutzkonzept vonnöten Besser als eine Missbrauchskontrolle für Extremfälle in Form von Schadensersatz wäre ein konsistentes Schutzsystem für die Betriebsrentenanpassung im faktischen Konzern. Es bedarf eines allgemeinen Schutzkonzepts,48 weil die Konzerngefahr für die Betriebsrentner allgemeiner Natur ist. Der Interessenumbruch im Konzern hebelt den Wirkmechanismus des § 16 Abs. 1 BetrAVG aus – ein Ausgleich zwischen dem Interesse des Versorgungsschuldners auf eigennützige wirtschaftliche Entwicklung und dem Interesse der Betriebsrentner auf Kaufkraftausgleich ist nur sinnvoll, wenn das Interesse des Versorgungsschuldners sich nicht im Konzerninteresse auflöst. Der Weg zu einem konsistenten Schutzkonzept führt zu einem Berechnungsdurchgriff auf den wahren Interessenträger, namentlich den Konzern, genauer die Konzernmuttergesellschaft, die das Konzerninteresse steuert.49 Einen Berechnungsdurchgriff im faktischen Konzern anzuerkennen heißt dabei nicht, die Uhr in die Zeiten des qualifizierten faktischen Konzerns zurückzudrehen oder gar ein Sondergesellschaftsrecht des Arbeitsrechts zu behaupten, sondern schlicht, § 16 BetrAVG interessengerecht auszulegen.50 a) Auslegung „insbesondere“ nach Normzweck Der Wortlaut des § 16 Abs. 1 BetrAVG ist offen. Es heißt dort: „… dabei sind insbesondere die Belange des Versorgungsempfängers und die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers zu berücksichtigen“ (Hervorhebung von uns). Das erlaubt, die Konzernierung als Faktor in die Anpassungsabwä48
A.A. Schäfer ZIP 2016, 2245 (2250). Wutte (Fn. 6), 124 f. 50 Für einen Berechnungsdurchgriff auch in faktischen Konzernen im aktuellen Schrifttum Höfer in Höfer/de Groot/Küpper/Reich Betriebsrentenrecht, 24. Aufl. Stand März 2019, § 16 BetrAVG Rn. 258.1; Matthießen DB 2016, 2783 (2786); ders. DB 2017, 2417 (2421 f.). 49
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gung einzustellen, wenn der Normzweck es erfordert.51 Windbichler hat diesbezüglich schon 1989 erkannt: Man kann die Betriebsrentenzusage als Versicherungsgeschäft verstehen. Die Anpassungspflicht ist dann die Teilhabe des Arbeitnehmers am Verrentungseffekt des durch seine Arbeitskraft angesammelten Kapitals52 (Die Jubilarin hat das damals nicht weiter verfolgt, sondern stattdessen stärker auf eine Homogenisierung mit dem Konzernhaftungsrecht gedrängt, dazu sogleich unter 2.)53 Nach heute beizulegendem Telos ist die Anpassungsprüfungspflicht nach § 16 Abs. 1 BetrAVG längst nicht mehr die bloße Chance auf Erfolgsteilhabe, wie sie bei Einführung des Betriebsrentengesetzes 197454 gesehen worden sein mag. Die Norm wurde durch Rechtsprechung und Reformgesetze von einem Ausgleich von Äquivalenzstörungen bis zu einem Versicherungsgeschäft weiterentwickelt,55 in dem grundsätzlich mit den Beiträgen der Arbeitnehmer nach den Regeln einer ordnungsgemäßen Wirtschaft Erträge zu generieren und die Überschussanteile als Kaufkraftausgleich weiterzureichen sind, während die Verweigerungsmöglichkeit aus mangelhafter Leistungsfähigkeit (nur) noch ein Zugeständnis der Zumutbarkeit darstellt.56 Bringt man das zusammen mit dem Wirkmechanismus des § 16 Abs. 1 BetrAVG und erkennt, dass bei einer Ausrichtung der Unternehmensstrategie auf das Konzerninteresse tatsächlich nicht mehr der Versorgungsschuldner, sondern die Konzernobergesellschaft das Beitragskapital der Betriebsrentner bewirtschaftet, folgt daraus die wirtschaftliche Verantwortung des herrschenden Unternehmens auch für die Betriebsrentenanpassung. Auf einen Satz gebracht: Wird das (fiktive) Deckungskapital der Betriebsrenten tatsächlich fremdbewirtschaftet von einer Konzernobergesellschaft, muss hinsichtlich der für die Anpassung heranzuziehenden Erträge ebenfalls auf dieses herrschende Unternehmen abgestellt werden. Weil dennoch der Versorgungsschuldner der unmittelbar rechtlich Verpflichtete bleibt, muss diese Interessenverschiebung Einzug in die von ihm zu treffende Abwägungsentscheidung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG halten.57 Eine abschlägige Anpassungsentscheidung des Versorgungsschuldners, die den entscheidenden Faktor des Interessenumbruchs im Konzern nicht berücksichtigt, ist nicht nach billigem Ermessen i.S.d. § 16 51
Wutte (Fn. 6), 75 ff. Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989, 242; ähnlich schon Blomeyer in Blomeyer/Otto, Betriebsrentengesetz, 1. Aufl. 1984, Rn. 206 ff. (gestrichen von Rolfs ab der 6. Aufl.). 53 Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989, 243 ff. 54 BGBl. I 1974, 3610. 55 Ausführlich Wutte (Fn. 6), 79 ff. 56 Die Jubilarin hat mehrfach auf die verschiedenen Verständnisse und ihre Konsequenzen hingewiesen, s. Windbichler AR-Blattei ES 460 Nr. 287 a und b; dies. DZWIR 1995, 332 (333). 57 Matthießen DB 2017, 2417 (2422) spricht daher von einem „Abwägungsdurchgriff“. 52
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Abs. 1 Hs. 1 BetrAVG i.V.m. § 315 BGB getroffen.58 Das bedeutet, der Versorgungsschuldner muss in einem solchen Fall unabhängig von der eigenen Ertragslage die Betriebsrenten erhöhen, sofern die Muttergesellschaft, an seiner Stelle gedacht, anpassungsfähig wäre. b) Nur bei Realisierung des Konzernrisikos Der Berechnungsdurchgriff ist nur angebracht, wenn die Fremdbewirtschaftung tatsächlich passiert, das heißt wenn die Konzernobergesellschaft tatsächlich den Einfluss nimmt, der das Eigeninteresse der Tochtergesellschaft verdrängt. Nur dann verwirklicht sich die Konzerngefahr. Es ist genauso auszulegen wie beim Berechnungsdurchgriff im Vertragskonzern: Die Muttergesellschaft muss ihre Leitungsmacht mit nachteiliger Wirkung für die Ertragslage der Tochtergesellschaft ausgeübt und so deren Anpassungsfähigkeit zulasten der Versorgungsempfänger geschmälert haben. Hinsichlich der Darlegungs- und Beweislast darf nicht übersehen werden, dass es sich um einen Ausnahmefall von der allgemeinen Auslegung des § 16 Abs. 1 BetrAVG handelt, für den folglich derjenige beweisbelastet ist, der die Ausnahme geltend macht, also der Betriebsrentner. Sinnvoll ist eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast, wie sie das BAG schon einmal vertreten hat: Der Betriebsrentner hat zunächst beispielhaft Eingriffe im Konzerninteresse darzulegen sowie plausibel zu erklären, warum diese Eingriffe nicht nur unwesentlich zur schlechten wirtschaftlichen Lage des Tochterunternehmens beigetragen haben. Dann ist es Sache des Versorgungsschuldners, den Vortrag substantiiert zu bestreiten, andernfalls er als zugestanden gilt (§ 138 Abs. 3 ZPO).59 Zu diesen Grundsätzen sollte im Übrigen auch für den Berechnungsdurchgriff beim Beherrschungsvertrag zurückgekehrt werden.60 2. Dogma des Gleichlaufs von Zurechnung und Innenhaftung Als Standardargument gegen den Berechnungsdurchgriff im faktischen Konzern wird vorgebracht: Das aktuelle Konzernhaftungsrecht gewährleiste nicht, dass der Versorgungsschuldner nach einer erzwungenen Anpassung die zusätzliche Betriebsrentenlast an seine Muttergesellschaft weiterreichen könne.61 Der Berechnungsdurchgriff setze einen Gleichlauf von Zurechnung und Innenhaftung im Sinne einer Einstandspflicht/Haftung des anderen Konzernunternehmens gegenüber dem Versorgungsschuldner vor58
Vgl. Matthießen DB 2017, 2417 (2421). BAG 4.10.1994 – 3 AZR 910/93, Rn. 56 in Anlehnung an BGH 29.3.1993 – II ZR 265/91 – TBB. 60 S.o. II.1. und Schäfer NZG 2016, 1321 (1323); ders. ZIP 2016, 2245 (2247); Wutte (Fn. 6), 133 f. 61 Statt aller Schäfer ZIP 2010, 2025 (2027); ders. 2016, 2245 (2248). 59
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aus. Das BAG verfolgt dieses Dogma so apodiktisch tatsächlich erst seit 2010.62 Mittlerweile rückt es richtigerweise wieder vorsichtig davon ab und versieht die Aussage am Anfang mit einem „grundsätzlich“.63 Die neue Anspruchsvereitelungshaftung ist, wie oben II.4.a) dargestellt, ein Ausbruch aus dem postulierten Gleichlauf. Und man darf das Argument einmal ganz grundsätzlich in Frage stellen: Warum sollen die Versorgungsempfänger in ihrem Anpassungsanspruch gegenüber dem Versorgungsschuldner deshalb zurückstehen, weil dieser das Geld dafür nicht von dritter Seite bekommt? Im allgemeinen Schuldrecht wäre es eher abwegig, einen begründeten Anspruch nur deshalb zu kürzen, weil der Schuldner die erforderlichen Mittel nicht refinanzieren kann. Der zuzugestehende Ansatzpunkt des Gleichlaufdogmas liegt freilich schon weiter vorne: Weil beim Berechnungsdurchgriff i.R.d. § 16 BetrAVG bereits die Anspruchsbegründung mit der Konzernierung verquickt ist (Interessenumbruch im Konzern), muss sie sich auch an die Rechtsprinzipien des Konzernrechts halten, namentlich das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip. Dieses wird durch die Zurechnung fremder Ertragslage durchbrochen, was der Rechtfertigung bedarf.64 Die Erfüllung eines der anerkannten Konzernhaftungstatbestände, welche ihrer Natur nach das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip perforieren, böte eine solche Rechtfertigung. Es sollte aber möglich sein, allgemeiner das hinter den Konzernhaftungstatbeständen liegende Rechtsprinzip heranzuziehen, um den Eingriff in das Trennungsprinzip zu rechtfertigen. Das der Konzernhaftung zugrunde liegende Prinzip kann man verstehen als Gleichlauf von Herrschaft und Haftung,65 oder auch Korrespondenz von Herrschaft und Verantwortung. Die anerkannten Konzerninnenhaftungstatbestände, insb. § 317 AktG, § 280 BGB i.V.m. der Gesellschafter-Treuepflicht und nicht zuletzt die Existenzvernichtungshaftung nach § 826 BGB, sind Ausfluss dieses Prinzips. Sie alle knüpfen an eine nachteilhafte Einflussnahme der Obergesellschaft unter Missachtung des Eigeninteresses der abhängigen Gesellschaft. Indem man entsprechend einen Berechnungsdurchgriff aus einem Verhalten herleitet, in dessen Konsequenz sich eine Konzerninnenhaftung ergibt, bewegt man sich im Einklang mit der Korrespondenz von Herrschaft und Verantwortung, wodurch die Friktion mit dem gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip geheilt wird.66 62 BAG 29.9.2010 – 3 AZR 427/08, Rn. 32; 26.10.2010 – 3 AZR 502/08, Rn. 60; zur Entwicklung davor vgl. Wutte (Fn. 6) S. 11 ff. 63 BAG 21.4.2015 – 3 AZR 102/14, Rn. 52; 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, Rn. 43; 7.6.2016 – 3 AZR 193/15, Rn. 47. 64 Wutte (Fn. 6), 92 ff. 65 Eingehend zu diesem Prinzip Grigoleit Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, 18 ff. 66 Wutte (Fn. 6), 96.
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Für den AG-Konzern (§ 317 AktG) und die abhängige mehrgliedrige GmbH (§ 280 BGB i.V.m. der Gesellschafter-Treuepflicht)67 kann man das ohne Weiteres so stehen lassen. Jedoch beim typischen Konzernbaustein des deutschen Konzernrechts, der abhängigen eingliedrigen GmbH, könnte man sich daran stören, dass dort scheinbar nur die Existenzvernichtungshaftung nach § 826 BGB zur Verfügung steht. Im hier vertretenen Berechnungsdurchgriff wird zwar deren Verhaltenskomponente aufgegriffen, nicht aber die Erfolgskomponente, nämlich die Insolvenzverursachung. Von daher wird keine volle Übereinstimmung mit dieser Art der Konzernhaftung hergestellt. Auf diesen Einwand gibt es zwei Antworten. a) Regressansprüche im faktischen Konzern Erstens existieren im deutschen Konzernrecht durchaus Anspruchsgrundlagen, die eine Innenhaftung der Obergesellschaft für schädigende Eingriffe in eine abhängige eingliedrige GmbH oberhalb der Insolvenzschwelle ergeben. Von den meisten wird diese Haftung auf § 280 BGB i.V.m. der Gesellschafter-Treuepflicht gestützt.68 Das Eigeninteresse der GmbH wird dabei als Mittel zum Zweck des Gläubigerschutzes geschützt. Pflichtwidrig ist deshalb nicht wie in der mehrgliedrigen GmbH schon jeder schädigende Eingriff, sondern erst eine ruinöse Einflussnahme, die die Gesellschaft in die Insolvenz treiben könnte. Es handelt sich um eine Existenzgefährdungshaftung.69 Als besondere Gläubigergruppe sind die Betriebsrentner vom Schutzzweck dieser Haftung umfasst, die Verbindung mit der Konzernverantwortung ist also vorhanden.70 Andere begründen eine insolvenzabwendende Haftung mit dem Institut der Führung fremder Geschäfte (negotiorum gestio) und sehen sie als Organhaftung analog § 43 GmbHG oder § 93 AktG.71 Im Vordringen befindet sich auch wieder eine Ansicht, die für die modifizierte analoge Anwendung der §§ 311, 317 AktG auf den GmbHKonzern plädiert.72 Allgemeiner gewendet, und ohne das Haftungskonzept des II. Zivilsenats nach § 826 BGB in Frage zu stellen, kann man folgenden Gedanken fassen: Zum deliktischen Tatbestand der Existenzvernichtung, 67 In der mehrgliedrigen GmbH, i.e. mit mehreren interessendivergierenden Gesellschaftern, ist die Schadensersatzhaftung des herrschenden Unternehmens für schädigende Einflussnahme anerkannt, vgl. nur Liebscher in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 13 Anh. Rn. 401 ff. 68 Vgl. etwa Grigoleit (Fn. 65), 289 ff.; Ihrig DStR 2007, 1170 ff.; K. Schmidt NJW 2001, 3577 (3579 f.); Ulmer ZIP 2001, 2021 (2026 f.); M. Winter ZGR 1994, 570 (580 ff.); Zöllner in FS Konzen, 2006, 999 (1014 ff., 1021). 69 Vgl. Ihrig DStR 2007, 1170 (1172). 70 Näher dazu Wutte (Fn. 6), 118 f. 71 Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 13 Rn. 121 ff. mwN. 72 Aus dem neueren Schrifttum Hommelhoff ZGR 2012, 535 (548); Tröger/Dangelmayer ZGR 2011, 556 (575 ff.); S.H. Schneider in FS U.H. Schneider, 2011, 1177 (1192 ff.); ders. GmbHR 2011, 685.
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der in der Insolvenz einen Schadensersatzanspruch auslöst, muss es schon vor Insolvenz einen rechtlich bewehrten Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch geben, der die Insolvenz verhindert.73 Wie i.R.d. § 1004 BGB ist dem Gläubiger eines deliktischen Anspruchs nicht zuzumuten, die Verletzung seines rechtlich geschützten Interesses abzuwarten, wenn sich diese schon vorher konkret abzeichnet.74 Dass diese Existenzgefährdungshaftung eher von der Wissenschaft als von der Praxis aktualisiert wird, dürfte an den entgegenstehenden Interessenverflechtungen in der Konzernwirklichkeit liegen. Ein von den Anteilseignern abhängiger Geschäftsleiter (§§ 37 f. GmbHG) wird nach Erhalt von für seine Gesellschaft nachteiligen Weisungen im Konzerninteresse nicht anfangen, gegen dieselben Anteilseigner aus unsicheren Anspruchsgrundlagen auf Schadensersatz zu klagen. Erst in der Insolvenz springt der unabhängige Insolvenzverwalter ein, wo entsprechend die Existenzvernichtungshaftung entwickelt wurde und durchgesetzt wird. Nebenbei bemerkt wird der Geschäftsleiter im laufenden Betrieb auch nicht seine Buchhaltung anweisen, unsichere Innenansprüche gegen die Muttergesellschaft im Jahresabschluss zu aktivieren, um auf diese Weise seine Ertragslage zugunsten einer Betriebsrentenanpassung zu verschönern.75 Das ändert aber nichts an der Existenz der Ansprüche, während der Berechnungsdurchgriff ein Beispiel für ihre Existenzberechtigung liefert. Die erzwungene Betriebsrentenanpassung könnte die Tochtergesellschaft motivieren, einmal einen Innenanspruch gegen die Muttergesellschaft geltend zu machen – zumindest, soweit ihr ohne den Regress die Insolvenz droht. b) Existenzvernichtung als letzte Instanz Auf den Einwand, die einzig anerkannte Existenzvernichtungshaftung setze die Insolvenz der Gesellschaft voraus und könne die Liquidität des Versorgungsschuldners nicht sicherstellen, gibt es noch eine zweite Antwort, nämlich: Na und –? Anders als in der allgemeinen Auslegung des § 16 BetrAVG für nicht konzernierte Arbeitgeber mag der Versorgungsschuldner infolge des Berechnungsdurchgriffs gezwungen sein, die zusätzliche Anpassungslast aus seiner Vermögenssubstanz zu leisten. Den Schaden haben die Anteilseigner, i.e. die Muttergesellschaft, also genau diejenige, die 73
Gedanke nach Leuschner Konzernrecht des Vereins, 2011, 302 ff., 396. In diese Richtung auch diejenigen, die die Haftung nach § 826 BGB schon bei Existenzgefährdung ausgelöst sehen, Schipp DB 2010, 112 (112 f.); Löwisch ZIP 2015, 209 (211). 75 Das ist das praktische Problem der Idee, die Anpassungsfähigkeit einfach durch Aktivierung von Ergänzungsansprüchen gegen die Muttergesellschaft herzustellen, wie angedacht von Diller/Beck DB 2011, 1052 (1054); Preu/Novara NZA 2011, 1263 (1267); Schipp DB 2010, 112 (113) und früher schon Junker in FS Kissel 1994, 469 f.; Wiedemann Die Unternehmensgruppe im Privatrecht, 1988, 111 ff.; aktuell iRd § 317 AktG in diese Richtung Schäfer ZIP 2016, 2245 (2248 f.). 74
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für den Berechnungsdurchgriff verantwortlich ist. Sollte es nach wiederholten Betriebsrentenanpassungen tatsächlich dazu kommen, dass das Eigenkapital der Versorgungsschuldnerin aufgezehrt wird und dass Überschuldung droht, kann mit der oben beschriebenen Existenzgefährdungshaftung reagiert werden. Sollte das angesichts der erwähnten Interessenblockade nicht passieren, könnte die Muttergesellschaft freiwillig einspringen – eine nicht zu verachtende Möglichkeit, es soll hier nicht unterstellt werden, Konzerne nähmen keine soziale Verantwortung für ihre Konzernunternehmen und Gläubiger wahr. Kommt jedoch von Seiten der Konzernmutter keine Hilfe, bleibt die Insolvenz. Dann zahlt der PSVaG die Betriebsrenten weiter, § 7 Abs. 1 BetrAVG. Dieser ist zwar nach allgemeiner Ansicht nicht zu weiteren Kaufkraftausgleichen verpflichtet, aber doch zur Leistung in der bis dato erreichten Höhe,76 so dass man sagen könnte: Besser ein paar erzwungene Anpassungen, als gar keine. Dass durch die Einstandspflicht des PSVaG die Allgemeinheit (die Beitragszahler, § 10 BetrAVG) belastet wird, ist aufzufangen durch das Insolvenzverfahren, in dem der Insolvenzverwalter Anhaltspunkte für eine Existenzvernichtung prüft und ggf. entsprechende Ansprüche geltend zu machen hat, wovon auch der PSVaG profitieren kann (§ 9 Abs. 2 BetrAVG).77 Starke Anhaltspunkte für eine Existenzvernichtungshaftung wird der Insolvenzverwalter dabei in den – ggf. durch Klagen dokumentierten – Berechnungsdurchgriffen finden, die ja durch schädigende Einflussnahme erst ausgelöst wurden. Bei einer Muttergesellschaft, die wiederholt Berechnungsdurchgriffe zur Betriebsrentenanpassung bei ihrer Tochtergesellschaft verursacht, liegt ein zumindest bedingter Vorsatz hinsichtlich deren Insolvenz sehr nahe. Das ist aber alles ein recht düsteres und auch eher theoretisches Szenario. Wie gesagt, dürften Konzernobergesellschaften ihre abhängigen Versorgungsschuldnergesellschaften schon freiwillig unterstützen, wenn diese sich als nicht ausreichend dotiert erweisen. Dass man das Spiel schlimmstenfalls bis zur Insolvenz durchspielen könnte, soll lediglich die dogmatische Herleitung des Berechnungsdurchgriffs untermauern.78 Schließlich werden andere Gläubiger des Versorgungsschuldners, insb. aktive Arbeitnehmer, sofern noch vorhanden, durch einen Berechnungsdurchgriff nicht ungerecht behandelt. Der Vorwurf könnte hier lauten, dass die überhöhte Betriebsrentenlast nicht auf den werbenden Betrieb und damit die Arbeitsplätze durchschlagen soll.79 Aus den möglichen mittelbaren 76
Vgl. Rolfs (Fn. 6), § 7 Rn. 194, 200. Höfer (Fn. 50), Rn. 257 weist darauf hin, dass der Insolvenzverwalter auch Anpassungsansprüche der Betriebsrentner geltend machen müsste, was aber praktischen Hindernissen begegnet, s. Wutte (Fn. 6), 112 f. 78 Vgl. Matthießen DB 2017, 2417 (2422). 79 Vgl. zur Solidargemeinschaft von Arbeitnehmern und Betriebsrentnern BAG 10.3. 2015 – 3 AZR 739/13, Rn. 15. 77
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Folgen für andere Gläubiger mit anderen Ansprüchen die Anspruchsbegründung für die spezielle Gläubigergruppe der Betriebsrentner anzugreifen, ist indes keine juristische Argumentation, sondern Spekulation.80 Eine verständige Konzernobergesellschaft wird einen funktionierenden werbenden Betrieb schon aus ökonomischen Gründen nicht fallen lassen, aber auch das ist zugegebenermaßen spekuliert. Juristisch kann man es belassen bei: Den indirekten Folgen für andere Gläubiger kann mit den Mitteln des Konzernhaftungsrechts begegnet werden.
IV. Zusammenfassung und Fazit Die Betriebsrentenanpassung im Konzern bedarf weiterhin eines allgemeinen und konsistenten Schutzkonzepts für die Betriebsrentner. Das Konzept muss auf den möglichen Interessenumbruch im Konzern reagieren, der sonst den Wirkmechanismus des § 16 Abs. 1 BetrAVG aushebelt und ungerechtfertigt die Anpassungsfähigkeit zulasten der Betriebsrentner beeinträchtigt. Der dazu entwickelte Berechnungsdurchgriff auf die Muttergesellschaft wird von der Rechtsprechung im Vertragskonzern mit Beherrschungsvertrag zu streng gehandhabt, während das BAG derzeit im faktischen Konzern nicht die Möglichkeit sieht, einen Berechnungsdurchgriff zuzusprechen. Zur Lösung von Missbrauchsfällen im faktischen Konzern hat das BAG eine Anspruchsvereitelungshaftung nach § 826 BGB angedacht. Sinnvoller und effektiver wäre es, eine solche Haftung auf § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB (Leistungstreuepflicht) zu stützen. Noch besser wäre, wieder einen Berechnungsdurchgriff im faktischen Konzern bei Verwirklichung des Konzernrisikos anzuerkennen. Das Konzernhaftungsrecht bietet hinreichende Regressmöglichkeiten für die Tochtergesellschaft, die lediglich in der Praxis nicht durchgesetzt werden. Das darf nicht zulasten der Betriebsrentner gehen, weswegen auch eine Substanzaufzehrung in Kauf zu nehmen ist. Diese könnte schlimmstenfalls und nach wiederholten Berechnungsdurchgriffen in eine Existenzvernichtung und entsprechend in eine Existenzvernichtungshaftung nach § 826 BGB münden. Die richtig beratene Konzernobergesellschaft dürfte vor einer solchen Ausfallhaftung aber zurückschrecken und deshalb der Versorgungsschuldnerin freiwillig aushelfen, so dass auf diese Weise im faktischen Konzern ein gleichsam faktischer Schutz der Betriebsrentner entstünde.
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Matthießen DB 2017, 2417 (2422).
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Contract Governance im Arbeitsverhältnis Felix Hartmann
Contract Governance im Arbeitsverhältnis FELIX HARTMANN
I. Einführung: Neue Deutungsmuster für das Arbeitsrecht? Das Arbeitsrecht leidet wie viele andere juristische Teildisziplinen darunter, dass einzelnen Diskursen nur noch wenige Eingeweihte folgen können. In überspezialisierten Debatten bilden sich nicht selten Sonderdogmatiken heraus, deren Berechtigung zweifelhaft erscheint.1 Ist es vor diesem Hintergrund schon schwierig genug, das Arbeitsrecht als Ganzes im Blick zu behalten, liegt eine umso größere Herausforderung darin, seinen intra- und interdisziplinären Bezügen gerecht zu werden. In Christine Windbichlers Forschung nehmen derartige Perspektiven jedoch breiten Raum ein. Zum einen betrachtet die Jubilarin das Arbeitsrecht nie isoliert, sondern stets in einem übergreifenden wirtschaftsrechtlichen Kontext. Zum anderen zeichnet sie sich durch große Offenheit insbesondere gegenüber institutionenund verhaltensökonomischen Erkenntnissen aus. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Einbettung des Arbeitsrechts in den Kontext der Contract Governance. Mit diesem Stichwort ist ein neuerer Ansatz bezeichnet, der Erkenntnisse der Governance-Forschung und der Vertragstheorie miteinander verbindet.2 Die Jubilarin hat hierzu wesentliche Beiträge geleistet und neue „Deutungsmuster“3 für altbekannte arbeitsrechtliche Figuren entwickelt. Sie kann auf diesem Feld verschiedene Stränge ihres Schaffens zusammenführen: Als Gesellschafts- und Arbeitsrechtlerin erfasst sie mitbestimmungsrechtliche Fragen nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Corporate Governance.4 Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Contract Governance, wenn man wie Windbichler ein ausgeprägtes Interesse an vertragstheoretischen Fragen hat. Den Arbeitsver1
Dazu in größerem Zusammenhang Hartmann Hamburger Rechtsnotizen 2015, 4, 6. Vgl. vorerst nur Grundmann/Möslein/Riesenhuber in dies. Contract Governance, 2015, 3. 3 Windbichler in Sadowski/Walwei Die ökonomische Analyse des Arbeitsrechts, 2002, 237, 249 ff. 4 Zur Kritik daran, dass „in der Wissenschaft und gelegentlich sogar in der Praxis Corporate Governance und Arbeitsrecht verschiedene Welten sind“, obwohl „doch die betroffenen Unternehmen als Akteure identisch“ sind, Windbichler in Rüthers Der Konflikt zwischen Kollektivautonomie und Privatautonomie im Arbeitsleben, 2002, 101, 104. 2
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trag versteht sie als einen unvollständigen und relationalen Vertrag,5 seine Ausfüllungs- und Ergänzungsbedürftigkeit als Frage der Contract Governance6. Dieser Beitrag beleuchtet die möglichen Folgerungen für zentrale arbeitsrechtliche Figuren aus dogmatischer Perspektive. Im Mittelpunkt soll dabei Windbichlers Sichtweise stehen, wonach neben die herkömmlichen Fragen der Legitimation und Wirkungsweise von Kollektivverträgen die Erwägung tritt, „dass heteronome Vertragsabsicherung normal ist“.7 Die folgenden Überlegungen sind der Jubilarin in herzlicher Verbundenheit zugeeignet.
II. „Institutionalisierte Vertragshilfe“ im Arbeitsrecht Vor allem mit Blick auf arbeitsrechtliche Kollektivverträge hat Windbichler den Begriff der „institutionalisierten Vertragshilfe“ geprägt.8 Damit stellt sie den etablierten Deutungsmustern insbesondere für Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen eine abweichende Konzeption gegenüber. Deren Ausgangspunkt ist die Anpassungs- und Ergänzungsbedürftigkeit des Einzelarbeitsvertrags. Aus diesem Blickwinkel werden Kollektivverträge, aber auch manche herkömmlicherweise individualrechtlich verstandene Figuren zu einem Thema der Contract Governance.9 1. Contract Governance als Forschungsprogramm für das Arbeitsrecht Wenn in der Diskussion über Contract Governance immer wieder arbeitsrechtliche Beispiele herangezogen werden, ist dies nicht erstaunlich. Anhand dieses Rechtsgebiets lässt sich nicht nur besonders anschaulich darstellen, auf wie vielen verschiedenen Ebenen sich einschlägige Fragen stellen.10 Hinzu kommt vor allem, dass das Arbeitsverhältnis nicht auf einen punktuellen Leistungsaustausch, sondern regelmäßig auf die längerfristige Erbringung von Arbeit gegen Entgelt angelegt ist. Seit jeher sind long-term relationships ein Kernthema der Governance-Forschung. Deren Gegenstand 5 Windbichler in Rüthers (Fn. 4), 101; vgl. auch bereits dies. JITE 152 (1996), 250, 251 f.; dies. in FS Zöllner, Bd. II, 1998, 999, 1002; dies. in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 249 f.; dies. 6 European Business Organization Law Review 507, 529 (2005). 6 Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 254; vgl. auch Dorndorf KritV 1992, 416, 421 ff.; Krause Annales Universitatis Scientiarium Budapestinensis de Rolando Eötvös Nominatae, Sectio Iuridica, Bd. LII, 2011, 101, 107 ff. 7 Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 254. 8 Windbichler in FS Zöllner, Bd. II, 1998, 999; dies. in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 249 ff.; zustimmend für die Betriebsverfassung Krause (Fn. 6), 108. 9 Vgl. Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 254. 10 Grundmann/Möslein/Riesenhuber in dies. (Fn. 2), 26.
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war ursprünglich „the institutional matrix within which transactions are negotiated and executed“.11 Nachdem lange Zeit die Corporate Governance im Vordergrund stand, kehrt der genannte Forschungszweig mit dem zusätzlichen Fokus auf Recht und Praxis vertraglicher Beziehungen gewissermaßen zu seinen Anfängen zurück. In der Diskussion über organizational contracts, typischerweise mehrpoligen Verträgen zur Verfolgung gemeinsamer Aktivitäten,12 zeigt sich noch eine gewisse Nähe zu Fragen des Gesellschaftsrechts und der Unternehmensverfassung.13 Aber auch zweiseitige Dauerschuldverhältnisse, wie sie durch einen Arbeitsvertrag begründet werden,14 geraten immer mehr ins Blickfeld der Governance-Forschung. 2. Arbeitsverträge als unvollständige, relationale Verträge Zu den „Funktionsdefizite[n] des Einzelarbeitsvertrags“15 zählt Windbichler dessen Unvollständigkeit. Darin liege aber „keine Störung, sondern der Normalfall“. Nur „unverbesserliche Modellschreiner“ gingen noch „von der Hypothese der vollständigen Verträge aus“.16 Hier zeigt sich der Einfluss der rechtsökonomischen Erkenntnis, wonach die Parteien nicht selten sogar bewusst lückenhafte Vereinbarungen treffen und deren Unvollständigkeit geradezu ein Wesensmerkmal von Langzeitverträgen ist.17 Ebenfalls rechtsökonomisch geprägt ist die Einordnung des Arbeitsvertrags als eines relationalen Vertrags.18 Diese Perspektive beleuchtet weniger die Vereinbarung als Grundlage für gegenseitige Forderungen und Ansprüche, sondern in umfassender Weise die gesamte Beziehung der Vertragsparteien untereinander.19 Der Transfer der entsprechenden Ansätze in das deutsche Recht hat zunächst vor allem im Kontext komplexer Werk- und Vertriebsverträge stattgefunden.20 Mit der Annahme eines eigenständigen Vertragstyps geht die deutsche Rezeption allerdings über die rechtssoziologische Verhaltensanalyse der US-amerikanischen Vorbilder erheblich hin11
Williamson 22 Journal of Law and Economics 233, 239 (1979). Grundmann/Cafaggi/Vettorio in dies. The Organizational Contract, 2016, 3 ff. 13 Zur Abgrenzung Grundmann/Cafaggi/Vettorio in dies. (Fn. 12), 3, 5 f. 14 Zum Dauerschuldcharakter von Arbeitsverträgen statt aller Spinner in MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2020, § 611a Rn. 11, 77 sowie Oetker Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, 1994, 152 ff. 15 Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 254. 16 Windbichler in Rüthers (Fn. 4), 101. 17 Zu verschiedenen Kategorien der Unvollständigkeit eingehend und mwN Walter Doralt Langzeitverträge, 2018, 165 f. 18 Siehe die Nachweise oben Fn. 5. 19 Vgl. Macaulay 28 American Sociological Review 55–67 (1963); Macneil 72 Northwestern University Law Review 854, 865–901 (1978); zum Ganzen im Überblick Doralt (Fn. 17), 154 ff. 20 Vgl. Nicklisch in ders. Der komplexe Langzeitvertrag, 1987, 17 ff.; Schanze in Joerges Franchising and the law, 1991, 67, 89 ff. 12
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aus.21 Auch ist nicht immer beachtet worden, dass die Theorie des relational contract nicht zuletzt auf spezifische Probleme des Common Law bei der Behandlung von Langzeitverträgen reagiert.22 3. Vorstellung einer heteronomen Vertragsabsicherung Die angenommenen Funktionsdefizite des Einzelarbeitsvertrags bilden den Hintergrund für die Auffassung, arbeitsrechtliche Kollektivverträge erfüllten nicht nur Schutz- und Ordnungszwecke, sondern dienten zugleich der Ergänzung und Anpassung des Arbeitsvertrags.23 Als „part of a sophisticated contract governance system“24 erfahren Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen eine Einordnung, die von gängigen Deutungen abweicht: „Die Vertragshilfe durch Kollektivvertrag ist heteronom, d. h. nicht die Parteien des konkreten Arbeitsvertrages selbst vereinbaren ein Abstimmungsverfahren für die zukünftige Vertragshandhabung […], sondern Dritte werden eingeschaltet. […]. Soweit Funktionsdefizite des Einzelarbeitsvertrages ausgeglichen werden, kann von einem Ersatz der Vertragsfreiheit durch eine korporative Ordnung nicht gesprochen werden […].“25 Dabei ist der Begriff der Vertragshilfe mit Bedacht gewählt26 und entspricht auch nach seinem Bedeutungsgehalt der Vorstellung, es gehe um „heteronome Vertragsabsicherung“27. Zwar ist der genannte Terminus nicht unbelastet, weil auch im Kontext des richterlichen Zugriffs auf die Privatautonomie in der Zeit des Nationalsozialismus immer wieder von Vertragshilfe die Rede war.28 Der Ausdruck ist aber bis heute etabliert,29 nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Einordnung der Betriebsverfassung als Ausprägung eines Sozialprivatrechts.30 Die Jubilarin geht freilich noch entscheiden21 Oechsler RabelsZ 60 (1996), 91, 101 spricht treffend von einer „charakteristischen Bedeutungsverschiebung“. 22 Eingehend Oechsler RabelsZ 60 (1996), 91, 109 ff. 23 Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 252. 24 Windbichler 6 European Business Organization Law Review 507, 529 (2005). 25 Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 253; vgl. für die betriebliche Mitbestimmung auch bereits dies. in FS Zöllner, Bd. II, 1998, 999, 1007. Von „potentieller Heteronomität“ spricht F. Kirchhof Private Rechtsetzung, 1987, 87, 94, 184 ff. 26 Vgl. Windbichler in FS Zöllner, Bd. II, 1998, 999, 1004. 27 Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 254. 28 Nach Wieacker AöR N.F. 29 (1938), 1, 33 war die „richterliche Vertragshilfe“, wie sie sich in zahlreichen Gesetzen und Verordnungen etwa für Zinssenkungen und Kündigungen im Zusammenhang mit Hypotheken entwickelt hatte, „für die künftige Gestaltungsaufgabe des Richters vorbildlich“. Zur Entwicklung im Überblick S. Martens in BeckOGK, Stand: 1.12.2019, § 313 BGB Rn. 167 ff. 29 Recht weitgehende Begriffsverwendung mit Blick auf die richterliche Gestaltung etwa bei Finkenauer in MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2019, § 313 Rn. 141. 30 Reichold Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, 1995, 499, 549; zustimmend Rieble Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, Rn. 1419.
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de Schritte darüber hinaus: Als „institutionalisierte Vertragshilfe“ bezeichnet sie sämtliche Kollektivverträge, also auch den Tarifvertrag. Zudem ruft sie dazu auf, die „kollektive Komponente“ arbeitsrechtlicher Figuren zu beachten, die wie der Gleichbehandlungsgrundsatz, die Gesamtzusage und die betriebliche Übung individualrechtlich konstruiert werden.31 III. „Institutionalisierte Vertragshilfe“ aus zivilund arbeitsrechtsdogmatischer Sicht Die Deutung zentraler arbeitsrechtlicher Figuren als Ausprägungen einer „institutionalisierten Vertragshilfe“ setzt sich jedenfalls auf den ersten Blick in bewussten Widerspruch zur herkömmlichen Arbeitsrechtsdogmatik. Bei näherem Hinsehen weicht die Auffassung Windbichlers aber weniger von tradierten Vorstellungen ab, als dies zunächst den Anschein haben mag. Wenn die Jubilarin etwa den heteronomen Charakter von Kollektivverträgen und anderen arbeitsrechtlichen Gestaltungsinstrumenten betont, bringt sie lediglich in analytischer Klarheit zum Ausdruck, was unausgesprochene Grundlage auch zahlreicher anderer Lehren ist. 1. Bedeutung der legitimationstheoretischen Perspektive Kennzeichnend für die herkömmliche Arbeitsrechtsdogmatik ist ein Denken in verschiedenen Autonomien: Zur Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien treten die Tarifautonomie und die Betriebsautonomie hinzu. Ein weiterer Akteur ist der Staat, der ebenfalls über Regelungskompetenzen auf dem Gebiet des Arbeitsmarkts verfügt. Das Nebeneinander verschiedener Instanzen, die allesamt originäre Regelungsmacht für sich in Anspruch nehmen, ist als „befremdliche Viel- und Kleinstaaterei konkurrierender ‚Autonomien‘“ kritisiert worden.32 In der Tat birgt ein solches Denken die Gefahr, dass eine zentrale Frage aus dem Blickfeld gerät: Sollen die verschiedenen Gestaltungsinstrumente Wirkungen gegenüber den Arbeitsvertragsparteien entfalten, ist zu klären, worauf jeweils die Legitimation beruht. Zwar bestehen erhebliche Unterschiede zwischen demokratisch fundierter Rechtsetzung und privater Regelbildung.33 Von diesen Gegensätzen unberührt bleibt aber das übergeordnete Rechtsprinzip, dass ein Handeln mit Wirkung für Dritte legitimationsbedürftig ist.34 Entsprechendes gilt für einseitige Bestimmungsrechte innerhalb von Vertragsbeziehungen.35 31
Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 253. E. Picker NZA 2002, 761. 33 Eingehend Bachmann Private Ordnung, 2006, 163 ff., 172 ff. 34 Dazu bereits Hartmann Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, 103 ff. 35 Dazu näher unten 2.a). 32
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2. Vermeintliche Funktionsdefizite des Arbeitsvertrags Ausgangspunkt der Lehre von der „institutionalisierten Vertragshilfe“ ist die ökonomische Analyse der arbeitsvertraglichen Funktionsgrenzen. Allerdings erweisen sich die vermeintlichen Defizite des Arbeitsvertrags als Ausprägungen des Vertragsprinzips, das nicht ohne Weiteres überspielt werden kann. Im Übrigen darf auch das Potential des Arbeitsvertrags als Flexibilisierungsinstrument nicht unterschätzt werden. a) Arbeitsvertraglicher Konsens als Grund und Grenze des Direktionsrechts Im Weisungs- oder Direktionsrecht des Arbeitgebers erkennt Windbichler ein „ziemlich schlichtes Werkzeug“, das nur „begrenzt tauglich“ sei, weil es keine Anpassung der Arbeitszeit und der Entgelthöhe ermögliche.36 Mit einer solchen Aufgabe wäre das Weisungsrecht allerdings ohnehin strukturell überfordert. Keineswegs gesichert erscheint schon, ob das Direktionsrecht überhaupt der Behebung arbeitsvertraglicher Funktionsdefizite dient. Zumeist wird die entsprechende Befugnis zwar als Konsequenz der praktischen Schwierigkeit dargestellt, die Leistungspflicht des Arbeitnehmers angesichts der ständig wechselnden Anforderungen mehr als nur rahmenmäßig im Arbeitsvertrag festzuschreiben.37 Nach anderer Ansicht drückt sich im Weisungsrecht hingegen die Befugnis des Arbeitgebers aus, den arbeitsteiligen Leistungsprozess zu steuern. Es hat danach also gerade umgekehrt die Leitungsmacht des Arbeitgebers zur Folge, dass eine genaue vertragliche Festlegung nicht möglich ist und ein Konkretisierungsbedarf entsteht.38 In diesen Kontroversen spiegeln sich letztlich anhaltende Unsicherheiten über Grund und Grenzen des Weisungsrechts wider. Für zusätzliche Verwirrung sorgt das Bemühen der neueren Rechtsprechung, das Direktionsrecht in den Kontext eines „partnerschaftlichen Miteinanders“ zu rücken.39 Dieser Euphemismus mag zwar zeitgemäß klingen, ändert aber nichts daran, dass das Weisungsrecht dem Arbeitgeber die Möglichkeit zur einseitigen Steuerung des Arbeitnehmers gibt. Ohnehin entfällt die Notwendigkeit zu derartigen Relativierungen, wenn man erkennt, dass eine Fremdbestimmung unter Privaten, wie sie das Direktionsrecht bedeutet, stets der Legitimation 36
Windbichler in Rüthers (Fn. 4), 101. In diese Richtung BAG AP Nr. 52 zu § 611 BGB Direktionsrecht, sub IV. 1.; BAG 18.10.2017 – 10 AZR 330/16, BAGE 160, 296 Rn. 78; Linck in Schaub ArbeitsrechtsHandbuch, 18. Aufl. 2019, § 45 Rn. 13. 38 Maschmann in BeckOGK, Stand: 1.9.2018, § 106 GewO Rn. 5, 7. 39 Vgl. BAG 18.10.2017 – 10 AZR 330/16, BAGE 160, 296 Rn. 78 unter irreführendem Hinweis auf BT-Drucks. 14/8796, S. 24; berechtigte Kritik bei Maschmann in BeckOGK, Stand: 1.9.2018, § 106 GewO Rn. 5.1. 37
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bedarf. Mit Blick auf das Weisungsrecht kommt insoweit nur der vertragliche Konsens in Frage.40 Auch § 106 GewO setzt das vertragliche Recht zur Leistungsbestimmung voraus.41 Kein Raum bleibt jedenfalls für die Vorstellung, es sei für die entsprechende Befugnis nicht der Arbeitsvertrag, sondern die „Einordnung des Arbeitnehmers in die vom Arbeitgeber organisierte arbeitsteilige Kooperation“ maßgeblich.42 Insgesamt hält sich das Weisungsrecht des Arbeitgebers also funktionsgemäß in den Grenzen des Arbeitsvertrags. Rückschlüsse auf einen Freiraum für heteronome Gestaltungsinstrumente ergeben sich daraus nicht. b) Möglichkeit der Beendigungs- und Änderungskündigung als Ausdruck des begrenzten Bindungswillens In der Annahme eines arbeitsvertraglichen Funktionsdefizits sieht sich Windbichler beim Blick auf Beendigungs- und Änderungskündigung bestärkt. Vom Beitrag dieser Figuren zur Bewältigung der spezifischen Probleme des relationalen Vertrags zeigt sie sich ebenfalls ernüchtert. Dafür macht die Jubilarin nicht zuletzt arbeitsrechtliche Besonderheiten verantwortlich: So verliere zum einen die Steuerung des Vertragsverhältnisses durch eine Kündigungsdrohung an Bedeutung, wenn die Beendigung durch einen fast flächendeckenden Kündigungsschutz erschwert sei.43 Tragfähig ist dieses Argument freilich nur auf Arbeitgeberseite. Die Abwanderungsdrohung ist durchaus ein probates Mittel für besonders nachgefragte Spezialkräfte, verbesserte Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Für nur eingeschränkt übertragbar hält Windbichler zum anderen die ökonomische Erkenntnis, dass es im Vergleich zu einer Vertragsbeendigung günstiger sein kann, durch vertrauensbildende Maßnahmen und Fairness in die Aufrechterhaltung der Beziehung zu investieren.44 Bei geringem Interesse des Arbeit40 Vgl. BAG 27.3.1980 – 2 AZR 506/78, AP Nr. 26 zu § 611 BGB Direktionsrecht, sub III. 1.; sehr deutlich auch Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 251; vgl. außerdem etwa Fischinger in Kiel/Lunk/Oetker Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2018, § 11 Rn. 4. 41 Lobinger RdA 2011, 76, 85; Rieble in Staudinger BGB, 2015, § 315 Rn. 186; vgl. auch Maschmann in BeckOGK, Stand: 1.9.2018, § 106 GewO Rn. 40; anders Tillmanns in BeckOGK ArbR, 54. Edition, Stand: 1.9.2019, § 106 GewO Rn. 3; unklar Kocher in Möslein Private Macht, 2016, 241, 252. 42 In diesem Sinn noch Söllner Einseitige Leistungsbestimmung im Arbeitsverhältnis, 1966, insb. 22 (Zitat), 39 f.; kritisch Fischinger in Kiel/Lunk/Oetker (Fn. 40), § 11 Rn. 3; Richardi RdA 1970, 208 ff. 43 Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 252. 44 Dieser Gedanke entstammt der intensiven Auseinandersetzung mit Akerlofs Einordnung des Arbeitsvertrags als eines „partial gift exchange“; vgl. dens. 97 The Quarterly Journal of Economics 543 (1982) und dazu Windbichler in FS Wiedemann, 2002, 673, 674 ff.; vgl. zu den Investitionen beider Seiten in das Arbeitsverhältnis auch Kocher in Möslein (Fn. 41), 245 f. und noch unten IV.
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gebers an der Bindung bestimmter Arbeitnehmer sei der Erklärungswert dieses Gedankens gemindert.45 Eine zivil- und arbeitsrechtsdogmatische Betrachtung der Kündigungsinstrumente kann deren Defizite aus ökonomischer Sicht freilich nicht beheben. Eine entsprechende Analyse mag aber zur Beantwortung der Frage beitragen, ob jenseits der arbeitsvertraglichen Grenzen Raum für die heteronome Gestaltung des Arbeitsverhältnisses besteht. Gerade im Bereich der Gestaltungsrechte hat die Zivilrechtsdogmatik nun allerdings wohl mehr Probleme geschaffen als gelöst. So werden gelegentlich „einbrechende Gestaltungsrechte“ wie Anfechtung, Rücktritt und Kündigung in terminologischen Gegensatz zu „ausfüllenden Gestaltungsrechten“ wie dem bereits erwähnten Direktionsrecht gestellt.46 Solche Kategorisierungen, die phänomenologisch bei der Wirkungsweise ansetzen, sind – wie überhaupt die Figur des Gestaltungsrechts47 – nur von eingeschränktem Wert. Sie dürfen nicht von der auch insoweit entscheidenden Frage ablenken, worauf die Befugnis zur einseitigen Einwirkung auf das Rechtsverhältnis jeweils beruht. Die Grundlage der Kündigungsrechte bei Dauerschuldverhältnissen ist trotz intensiver Diskussion erstaunlich wenig geklärt. Vielfach wird bis heute „[d]ie Beendigungsmöglichkeit von Dauerschuldverhältnissen durch Kündigung […] als eine systemnotwendige Korrektur der Vertragsbindung“ und damit als „Ausnahme“ vom Grundsatz pacta sunt servanda gesehen.48 Die Parteien des Dauerschuldverhältnisses verpflichteten sich „zu zeitlich unbegrenzten Leistungen“, weshalb „eine Begrenzung von außen gesetzt“ werden müsse, um „der ständigen Pflichtanspannung und -entstehung Einhalt“ zu gebieten.49 Zwar ist anerkannt, dass die Kündigungsmöglichkeit die Freiheit zur Selbstbestimmung wahren soll.50 Kaum nachvollziehbar ist mit diesem Ausgangspunkt aber, weshalb den Parteien des Dauerschuldverhältnisses überhaupt in einem ersten Schritt ein unbegrenzter Bindungswille unterstellt wird. Wesentlich plausibler erscheint die Annahme, dass der Bin45
Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 251 f. Bötticher in FS Dölle, Bd. I, 1963, 41, 51 f.; zum Direktionsrecht präzisierend ders. Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, 1964, 2, 6 f. mit der Vorstellung, es handele sich um ein „Muttergestaltungsrecht“, das ein Recht zu fortlaufender Regelung beinhalte; eingehend zum Ganzen Schellhase Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, 2013, 74 ff. 47 J. F. Hoffmann Zession und Rechtszuweisung, 2012, 187 ff.; vgl. außerdem auch Lobinger Rechtsgeschäftliche Verpflichtung und autonome Bindung, 1999, 133. 48 M.-Ph. Weller Die Vertragstreue, 2009, 289, 290; ähnlich A. Schneider Vertragsanpassung im bipolaren Dauerschuldverhältnis, 2016, 86. 49 Schneider (Fn. 48), 86. 50 So insb. Oetker (Fn. 14), 248 ff., der damit allerdings nur die ordentliche Kündigung erfasst, die „dem Selbstbestimmungsschutz vor einer Ewigkeitsbindung ausreichend Rechnung“ trage (267). 46
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dungswille von vornherein jedenfalls in zeitlicher Hinsicht beschränkt ist.51 Kündigungsrechte brechen daher nicht „von außen“ in den Vertrag ein, sondern sind vielmehr vertragsimmanenter Ausdruck des beschränkten Bindungswillens. Auch insoweit verlaufen die Grenzen der einseitigen Einwirkung auf das Vertragsverhältnis also keineswegs zufällig, weshalb nicht ohne Weiteres Raum für Ergänzungen durch eine heteronome Vertragsabsicherung besteht. An diesem Befund ändert nichts, dass in Arbeitsverhältnissen die Kontinuitätsinteressen eines Vertragsteils infolge des sozialen Kündigungsschutzes erheblich aufgewertet sind: Der Bestandsschutz „erweist sich […] nicht als Bestandteil eines allgemeinen Strukturprinzips bei Dauerschuldverhältnissen, sondern als eine Durchbrechung des Prinzips der Kündigungsfreiheit“.52 Wie die Jubilarin zutreffend hervorhebt,53 ist in Deutschland besonders der Schutz vor Änderungskündigungen vergleichsweise stark ausgeprägt. In der Praxis fällt dieses Anpassungsinstrument weitgehend aus. Denn nach bisheriger Rechtsprechung ist „der Eingriff in das arbeitsvertraglich vereinbarte Verhältnis von Leistung und Gegenleistung […] allenfalls gerechtfertigt, wenn bei dessen Beibehaltung betrieblich nicht mehr auffangbare Verluste entstünden, die absehbar zu einer Reduzierung der Belegschaft oder sogar zu einer Schließung des Betriebs führen müssten“54. Schon aus europarechtlichen Gründen hat das BAG ohnehin Anlass, seine restriktive Haltung zu überdenken.55 Auch im Übrigen mag man mit guten Gründen für eine Absenkung des Schutzniveaus argumentieren.56 Diese Diskussion sollte allerdings im Kündigungsschutzrecht geführt werden. Eine Kompensation durch heteronome Anpassungsinstrumente an anderer Stelle ist kein geeigneter Ausweg.
51 Hoffmann (Fn. 47), 214 f. erklärt in entsprechender Weise auch die außerordentliche Kündigung mit der Begrenztheit des Verpflichtungswillens in sachlicher Hinsicht; anders hingegen E. Picker ZFA 1981, 1, 33, wonach die materiale Legitimierung dieses Gestaltungsrechts „mit der Privatautonomie nichts zu tun“ habe. Letztlich geht es dabei um die hier nicht zu verfolgende Frage, ob sich leistungsstörungsrechtliche Rechtsbehelfe auf den Parteiwillen stützen lassen. 52 So Oetker (Fn. 14), 281 im Anschluss an Reuter in FS 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979, 405, 406 ff., 410. 53 Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 252. 54 BAG 20.6. 2013 – 2 AZR 396/12, NZA 2013, 1409 Rn. 31. 55 Vgl. EuGH 27.4.2017 – C-680/15 u.a. – Asklepios, NZA 2017, 571 Rn. 22, wonach bei einem Betriebsübergang „der Erwerber in der Lage sein muss, nach dem Übergang die für die Fortsetzung seiner Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen“; zu diesen Zusammenhängen Hartmann EuZA 2017, 521, 531 f. 56 Vgl. nur Rieble NZA-Sonderbeilage zu Heft 3/2000, 34, 36 f. unter Hinweis auf die Möglichkeit zur Mieterhöhung bei der Wohnraummiete (heute §§ 558 ff. BGB); insg. zurückhaltender Bayreuther NZA 2019, 735, 739.
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c) Arbeitsvertrag als Flexibilisierungsinstrument Die Flexibilisierung etwa von Arbeitszeit und Entgelt findet nach dem bisher Gesagten ihre zentrale Grenze im Vertragsprinzip. Wenn sich daraus Restriktionen für die Anpassung der Arbeitsbedingungen ergeben, ist dies in einer auf Vertrag und Wettbewerb gegründeten Privatrechtsordnung hinzunehmen. Allerdings zeichnet ein schiefes Bild, wer den Arbeitsvertrag nur als Flexibilisierungsbremse schildert und dieses vermeintliche Defizit gewissermaßen zum Freibrief für die Schaffung heteronomer Gestaltungsinstrumente nimmt. Der Arbeitsvertrag hat zugleich nämlich das Potential zu einem wichtigen Flexibilisierungsinstrument. Auf den ersten Blick dominieren freilich eher die Hindernisse für entsprechende Gestaltungen: So erscheint die Befristung einzelner Arbeitsbedingungen schon wegen ihrer Starrheit wenig geeignet. Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung bei der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB teilweise auf die Wertungen des TzBfG zurückgreift.57 Auch Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalte unterliegen recht engen und nicht durchgehend konsistenten Vorgaben.58 Bedeutsam ist vor allem die Möglichkeit, dem Vertragspartner oder einem Dritten das Recht zur Leistungsbestimmung einzuräumen (§§ 315 ff. BGB). Weil die Unterwerfung unter die fremde Bestimmungsmacht eine entsprechende Vereinbarung voraussetzt, liegt darin auch keineswegs eine Abkehr vom Vertragsprinzip.59 So ist es nach der Rechtsprechung eine zulässige Gestaltung, wenn flexible Entgeltbestandteile, wie in § 315 BGB vorgesehen, von vornherein unter das Leistungsbestimmungsrecht des Arbeitgebers fallen sollen.60 Es kommt dann auf einer zweiten Stufe darauf an, dass die Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts wirksam ist und insbesondere der Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB genügt. Den Maßstab hierfür bilden nicht etwa vertragsexterne Wertungsgesichtspunkte,61 sondern der Wille der Ver57 So etwa zur befristeten Arbeitszeiterhöhung BAG 25.4.2018 – 7 AZR 520/ 16, AP Nr. 74 zu § 307 BGB, Rn. 34 ff. m. Anm. Fuhlrott; zur befristeten Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit BAG 7.10.2015 – 7AZR 945/13, AP Nr. 44 zu § 611 BGB Musiker. 58 Im Überblick dazu Preis in Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.) Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 20. Aufl. 2020, §§ 305–310 BGB Rn. 57 ff., 68 ff., 76. 59 Rieble in Staudinger BGB, 2015, § 315 Rn. 31 f., 239 ff. 60 BAG 16.1.2013 – 10 AZR 26/12, AP Nr. 108 zu § 305 BGB, Rn. 15 ff.; BAG 20.3.2013 – 10 AZR 8/12, NZA 2013, 970 Rn. 28 ff.; zustimmend Lingemann/Pfister/Otte NZA 2015, 65 sowie Rieble in Staudinger BGB, 2015, § 315 Rn. 364, der in solchen Gestaltungen einen „Königsweg“ erkennt; kritisch mit Blick auf das Transparenzgebot Stoffels RdA 2015, 276, 277 ff. 61 Vgl. aber v. Hoyningen-Huene Billigkeit im Arbeitsrecht, 1978, 120, 123, der auch Allgemeininteressen und sogar „Kulturanschauungen der Rechtsgemeinschaft“ für beachtlich hält.
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tragsparteien, soweit er in der Unterwerfungsvereinbarung zum Ausdruck kommt.62 Bereits diese skizzenhafte Darstellung lässt erkennen, dass sich der Einzelarbeitsvertrag mit einem hinreichenden Maß an Kreativität nach wie vor als Flexibilisierungsinstrument nutzen lässt. Man mag mit guten Gründen der Auffassung sein, dass diese unternehmerische Gestaltungsaufgabe mit zu großer Rechtsunsicherheit verbunden ist. Auch insoweit gilt aber, dass die Probleme an Ort und Stelle zu lösen sind. Es wäre eigenartig, wenn Restriktionen der Arbeitsvertragsgestaltung aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes als Argument für heteronome Eingriffe durch kollektivrechtliche Instrumente dienen könnten. 3. Entbehrlichkeit einer heteronomen Vertragsabsicherung Selbst wenn man die Funktionstauglichkeit des Einzelarbeitsvertrags ähnlich pessimistisch beurteilt wie die Jubilarin, ist damit noch nicht die Notwendigkeit nachgewiesen, Kollektivverträge und andere Figuren mit „kollektivem Element“ als Ausprägung einer heteronomen Vertragsabsicherung zu erfassen. Mit der Annahme, Kollektivverträge seien „[e]ine Erfindung des Arbeitsrechts, die sich nicht einfach aus dem allgemeinen Zivilrecht extrapolieren läßt“,63 nimmt Windbichler sehr deutlich Stellung zu einem Problem, das die Arbeitsrechtswissenschaft schon lange beschäftigt: zur Frage nämlich, ob die Wirkungen von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen zivilrechtlich erklärbar sind. Im Folgenden kann nur skizziert werden, dass zivilrechtliche Deutungsmuster zur Verfügung stehen, welche die Vorstellung einer heteronomen Vertragsabsicherung durch kollektivrechtliche Instrumente entbehrlich erscheinen lassen. a) Tarifverträge als Form der kollektiv ausgeübten Selbstbestimmung Seit mehr als zwei Jahrzehnten erfasst die Rechtsprechung die Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie.64 Auch in der Literatur ist diese Formel heute weit verbreitet, wenn es um die Legitimation der Tarifnormsetzung geht.65 Darin liegt eine Abkehr von der früher herrschenden 62
Rieble in Staudinger BGB, 2015, § 315 Rn. 327 ff. Windbichler in Rüthers (Fn. 4), 101. 64 BAG 14.10.1997 – 7 AZR 811/96, BAGE 87, 1, 4; BAG 25.2.1998 – 7 AZR 641/96, BAGE 88, 118, 123; BAG 7.6.2006 – 4 AZR 316/05, BAGE 118, 232 Rn. 30; BAG 27.6.2018 – 10 AZR 290/17, BAGE 163, 144 Rn. 33; vgl. auch BVerfG 11.7.2017 – 1 BvR 1571/15 u.a., AP Nr. 151 zu Art. 9 GG, Rn. 147 („im Wege der kollektivierten Privatautonomie“). 65 Bayreuther Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, 59 und passim; Giesen Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002, 159 ff.; Jacobs in Wiedemann TVG, 8. Aufl. 2019, Einl. Rn. 6 ff.; Richardi JZ 2011, 282, 283. 63
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Delegationstheorie, wonach die Befugnis der Tarifvertragsparteien zur Rechtsetzung auf der Ermächtigung durch den Verfassungs- oder Gesetzgeber beruhen sollte.66 Den ursprünglichen Versuchen, die Normwirkung von Tarifverträgen mit zivilrechtlichen Mitteln zu erfassen,67 bereitete der Gesetzgeber vor gut 100 Jahren mit der gesetzlichen Regelung in § 1 Abs. 1 TVVO ein vorläufiges Ende.68 In der Folge erkannte man den Tarifvertrag zunächst nur noch vereinzelt als Ausprägung einer „kollektiven rechtsgeschäftlichen Privatautonomie“.69 Umso bemerkenswerter ist die jüngere tarifrechtsdogmatische Entwicklung. Sie wird gestützt von der Erkenntnis, dass sich die tarifvertragliche Normwirkung unter Wahrung zivilrechtlicher Grundsätze mit einem unwiderruflichen und verdrängenden Legitimationsakt rekonstruieren lässt.70 Die Einschaltung der Tarifvertragsparteien als Dritter bedeutet deshalb gerade nicht, dass es zu einer heteronomen Regelung kommt.71 Es gilt grundsätzlich das Gleiche wie für die Stellvertretung, die nicht im Gegensatz zur Privatautonomie steht, sondern diese vielmehr durchführt.72 Bleiben die materialen Anforderungen an einen zivilrechtlichen Legitimationsakt gewahrt, kommt es nicht darauf an, ob sich der Verbandsbeitritt als Bevollmächtigung oder Ermächtigung konstruieren lässt.73 Nicht zu leugnen ist allerdings, dass die These von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie in Theorie und Praxis nicht immer konsequent umgesetzt wird.74 Wenn sich Windbichler für ihre Konzeption auf die „Ordnungsfunktion“ des Tarifvertrags und außerdem auf Figuren 66 Im ersteren Sinne Biedenkopf Grenzen der Tarifautonomie, 1964, 104; Gamillscheg Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, 1997, 557 f.; im letzteren Sinne BAG 15.1.1955 – 1 AZR 305/54, BAGE 1, 258, 264; BAG 23.3.1957 – 1 AZR 326/56, BAGE 4, 240, 251; BAG 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, BAGE 78, 309, 327; Adomeit Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, 1969, 136 ff.; Säcker Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, 1969, 28 f., 74 f. 67 Vgl. insb. Lotmar Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 15 (1900), 1, 88 ff.; dens. Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des deutschen Reiches, Bd. I, 1902, S. 773 ff. und dazu E. Picker in FS Richardi, 2007, 141, 148 ff.; Rückert in ders. Philipp Lotmar, 1992, LX ff.; vgl. ferner Hartmann in Fargnoli Philipp Lotmar, 2014, 127, 133 ff.; mit eingehender kritischer Analyse Höpfner Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, 116 ff., 160 ff. 68 Dazu jüngst Höpfner ZFA 2019, 108, 128 ff. 69 Jacobi Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, 283. 70 Eingehend E. Picker in ders./Rüthers Recht und Freiheit, 2003, 25, 56 ff. sowie Chr. Arnold Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, 2007, 245 ff.; Hartmann (Fn. 34), 146 ff.; kritisch Höpfner (Fn. 67), insb. 325 ff. 71 Vgl. aber Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 253 allgemein für Kollektivverträge. 72 Vgl. Flume Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2, 4. Aufl. 1992, § 43 3, 754. 73 Näher Hartmann (Fn. 34), 150 f. 74 Eingehend Hartmann (Fn. 34), 126 ff.
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wie Betriebsnormen (§ 3 Abs. 2 TVG) und die Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) beruft,75 spricht sie Themen an, die keineswegs zufällig zu den umstrittensten in der aktuellen tarifrechtsdogmatischen Diskussion zählen. Im vorliegenden Zusammenhang muss die Andeutung genügen, dass für die genannten Figuren durchweg privatrechtskonforme Erklärungen angeboten werden und die Annahme einer „Ordnungsfunktion“ des Tarifvertrags daher fragwürdig erscheint.76 b) Betriebsvereinbarungen zwischen Heteronomie und Vertragsrechtsakzessorietät Für die Betriebsautonomie liegt die Annahme heteronomer Regelungsmacht wesentlich näher. Zwar hat es Versuche gegeben, auch die Wirkungen von Betriebsvereinbarungen mit privatautonomen Ermächtigungsakten zu rekonstruieren.77 Den Abschluss eines Arbeitsvertrags und den Eintritt in die Belegschaft in dieser Weise rechtsgeschäftlich zu deuten, scheidet mangels Wahlmöglichkeit des Arbeitnehmers aber aus.78 Allenfalls käme eine solche privatrechtliche Rekonstruktion in Betracht, wenn die Arbeitnehmerinteressen in der Betriebsverfassung von vorherein nur noch in „aggregierter Form“ Berücksichtigung fänden und das Arbeitsverhältnis zugleich eine Umwertung vom Austauschverhältnis zur Verbandsbeziehung erführe.79 Solche weitreichenden Konsequenzen sucht die Jubilarin zu vermeiden, wenn sie gewissermaßen umgekehrt den „Vertragsbezug der Betriebsverfassung“ betont.80 Wiederum kommt es ihr dabei auf die vertragsergänzende Funktion an.81 Nicht gemeint ist also Vertragsrechtsakzessorietät in dem Sinne, dass die Regelungsbefugnis der Betriebsparteien als Beschränkung einer schon anderweitig begründeten Bestimmungsmacht des Arbeitgebers zu denken sein soll.82 Zwar wendet sich auch Windbichler gegen die verbreitete Vorstellung einer grundsätzlichen „Allzuständigkeit“ der Betriebsparteien.83 75
Windbichler in Rüthers (Fn. 4), 101 mit Fn. 2. Zu § 3 Abs. 2 TVG Arnold (Fn. 70), S. 280 ff.; Hartmann (Fn. 34), 170 ff., 278 ff.; zu § 4 Abs. 5 TVG Hartmann (Fn. 34), 153 f.; zur „Ordnungsfunktion“ des Tarifvertrags Arnold (Fn. 70), 374 ff.; Hartmann (Fn. 34), 130 ff.; vgl. ferner Höpfner (Fn. 67), 237 ff. 77 Reuter RdA 1991, 193, 197 ff.; vgl. auch Meyer-Cording Die Rechtsnormen, 1971, 101 ff. 78 Vgl. den Vorwurf der Fiktion bei Lobinger RdA 2011, 76, 84; im Ergebnis ebenso Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 240. 79 So in der Tat Reuter RdA 1991, 193, 197. 80 Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 252; ähnlich Krause (Fn. 6), 108 f. 81 Vgl. Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 252. 82 Vgl. für den genannten Begriff Reichold (Fn. 30), 486 ff.; vgl. auch Rieble (Fn. 30), Rn. 1418; Veit Die funktionelle Zuständigkeit des Betriebsrats, 1998, S. 309 sowie Lobinger RdA 2011, 76, 85, der präziser von „Bestimmungsrechtsakzessorietät“ spricht. 83 Windbichler in Rüthers (Fn. 4), 102 f.; im Ergebnis auch Lobinger RdA 2011, 76, 86; Chr. Picker in Bieder/Hartmann (Hrsg.) Individuelle Freiheit und kollektive Interessen76
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Im ausdrücklichen Gegensatz zur Lehre von der Vertragsrechtsakzessorietät vertritt sie aber die Auffassung, es könnten „Betriebsrat und Arbeitgeber […] gemeinsam mehr gestalten, als das der Arbeitgeber allein durch Weisung könnte“.84 Der zwangskorporatistische Charakter der Betriebsverfassung85 lässt die Frage nach der Legitimation zur Regelung eines solchen „Mehr“ besonders dringlich erscheinen. Ob die vertragsergänzende Funktion der Betriebsvereinbarung die Eingriffswirkungen einer entsprechenden Ermächtigung durch den Gesetzgeber86 tragen kann, ist zweifelhaft. Die Legitimationsprobleme lassen sich weitgehend vermeiden, wenn im Rahmen der Betriebsverfassung nur die „demokratische Brechung unabhängig hiervon bestehender einseitiger Regelungs- und Bestimmungsbefugnisse des Arbeitgebers“ erfolgt.87 Dem gesetzgeberischen Legitimationsakt kommt freilich auch mit einem solchen Ausgangspunkt noch eine Bedeutung zu: Er legt gegenüber dem Arbeitnehmer fest, dass im verfassten Betrieb an die Stelle der alleinigen Bestimmungsmacht des Arbeitgebers die gemeinsame Fremdbestimmung gerade durch die Betriebsparteien tritt.88 Wenngleich die Betriebsverfassung also der Vorstellung einer „heteronomen Vertragsabsicherung“ am nächsten kommt, ist auch insoweit das generelle Legitimationserfordernis nicht aufgegeben. c) „Kollektive Komponente“ und individualrechtliches Fundament weiterer Gestaltungsinstrumente Die Vorstellung einer heteronomen Absicherung des Arbeitsvertrags macht nicht bei den Kollektivverträgen Halt, sondern betrifft auch herkömmlicherweise individualrechtlich konstruierte Gestaltungsinstrumente wie den Gleichbehandlungsgrundsatz, die Gesamtzusage und die betriebliche Übung. Deren „kollektive[s] Element“ ist für Windbichler Anlass zur Forderung nach „einer stärkeren Verzahnung mit den genuin kollektivrechtlichen Gestaltungsfaktoren“. Nach ihrer Auffassung zeigen nicht wahrnehmung im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2012, 103, 115 ff.; E. Picker NZA 2002, 761, 769; anders aber die überwiegende Auffassung; s. nur BAG (GS) 16.3. 1956, BAGE 1, 3, 4 (st. Rspr.); Kreutz Grenzen der Betriebsautonomie, 1979, 208 ff.; Zöllner ZFA 1988, 265, 275 f. 84 Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 251. 85 Klar erkannt auch von Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), S. 240; vgl. außerdem etwa Kreutz (Fn. 83), 64 ff., 79 ff.; Veit (Fn. 82), 140 ff., 169 ff., 196 ff.; Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, 1995, 131 ff. 86 Vgl. für den Rekurs auf § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 240. 87 Lobinger RdA 2011, 76, 86. 88 Dazu Lobinger RdA 2011, 76, 86 mit Fn. 79, der zu Recht auf die Legitimationsbedürftigkeit auch dem Arbeitgeber gegenüber hinweist.
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zuletzt die „verschlungenen Wege der Rechtsprechung zur ablösenden Betriebsvereinbarung und zum sog. kollektiven Günstigkeitsprinzip, dass die konventionell-vertragsrechtlichen Deutungen unzureichend sind“.89 Inzwischen ist die Rechtsprechung ihre Wege weitergegangen, möglicherweise durchaus im Sinne der Jubilarin. Die Flexibilisierungsbedürfnisse der Praxis sollen nach neuerer Judikatur vor allem mittels großzügiger Annahme einer konkludenten Betriebsvereinbarungsoffenheit von Einheitsarbeitsbedingungen gestillt werden. Eine entsprechende Vereinbarung sei regelmäßig anzunehmen, wenn der Vertragsgegenstand in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten sei und einen „kollektiven Bezug“ aufweise.90 Darüber hinaus wird teilweise eine generelle Ablösungsoffenheit propagiert, die auch verschlechternde Gesamtzusagen ermöglichen soll.91 Die neuere Rechtsprechung hat nachvollziehbare Kritik und nicht zuletzt auch Konflikte zwischen einzelnen BAG-Senaten hervorgerufen. Die Bedenken reichen von einer möglichen Verletzung des Transparenzgebots (§ 307 Abs. 1 S. 2 BGB)92 über den Vorwurf eines fingierten Parteiwillens93 bis hin zu Zweifeln an der Regelungskompetenz der Betriebsparteien94. Wenn zur Verteidigung geltend gemacht wird, der generalisierende Charakter Allgemeiner Geschäftsbedingungen bringe diese „hinsichtlich ihres Gegenstands in die Nähe von Betriebsvereinbarungen“,95 drückt sich darin eine erstaunliche Gleichgültigkeit gegenüber den unterschiedlichen legitimatorischen Fundamenten dieser Rechtsquellen aus.96 Es droht eine weitgehende Entwertung des Arbeitsvertrags, dessen Bedeutung sich letztlich „auf eine Art ‚Beitrittserklärung‘ zur Belegschaft“ reduzieren würde.97 Es ist bemerkenswert, dass auch die Kautelarpraxis mit den neuen Gestaltungsmöglichkeiten keineswegs glücklich zu sein scheint. Zwar mangelt es nicht an Vorschlägen, wie sich die entstandenen Spielräume bestmöglich 89
Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 253. BAG 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916 Rn. 60; BAG 30.1.2019 – 5 AZR 450/17, NZA 2019, 1065 Rn. 60 ff. 91 BAG 11.12.2018 – 3 AZR 380/17, BAGE 164, 261 Rn. 65; dazu Hromadka NZA 2019, 1336, 1337 f. 92 Creutzfeldt NZA 2018, 1111, 1119; Preis in Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Fn. 58), §§ 305–310 BGB Rn. 19b; Bedenken auch bei BAG 11.4.2018 – 4 AZR 119/17, BAGE 162, 293 Rn. 55. 93 Creutzfeldt NZA 2018, 1111, 1113; Preis/Ulber NZA 2014, 6, 8 f.; Waltermann RdA 2016, 296, 301; vgl. auch BAG 11.4.2018 – 4 AZR 119/17, BAGE 162, 293 Rn. 47 ff. und dazu Wenning RdA 2019, 244, 249. 94 Vgl. im vorliegenden Zusammenhang nur Krieger/Arnold/Zeh NZA 2020, 81, 82; allgemein dazu bereits oben b). 95 BAG 30.1.2019 – 5 AZR 450/17, NZA 2019, 1065 Rn. 61. 96 Kritisch auch Preis in Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Fn. 58), §§ 305–310 BGB Rn. 19b. 97 Treffend Creutzfeldt NZA 2018, 1111, 1117. 90
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nutzen lassen.98 Dabei wird jedoch zugleich klar erkannt, dass die verbliebenen Rechtsunsicherheiten auf einem ungelösten Grundproblem beruhen: Letztlich soll die Annahme der Betriebsvereinbarungsoffenheit den Mangel an rechtssicher handhabbaren Flexibilisierungsmöglichkeiten auf individualvertraglicher Ebene kompensieren.99 Gerade dort ist aber richtigerweise auf der Suche nach einer privatautonomiewahrenden Lösung anzusetzen. Bislang nicht durchgesetzt hat sich allerdings etwa die Auffassung, dass die betriebliche Übung nur eine bedingte Zusage enthalte, die unter dem Vorbehalt unveränderter wirtschaftlicher Bedingungen stehe und deshalb aus sachlichen Gründen widerruflich sei.100 Ein solches „versprechensimmanentes Änderungsrecht“101 soll sich daraus ergeben, dass bei dem konkludenten Angebot des Arbeitgebers die Zusage und der Vorbehalt untrennbar miteinander verbunden seien.102 Damit wird die Widerrufsmöglichkeit im Ergebnis nicht nur der AGB-Kontrolle, sondern auch den Grenzen der Änderungskündigung entzogen.103 Letztere beruht allerdings ebenfalls auf der Begrenztheit des Verpflichtungswillens.104 Ob die besonderen Charakteristika der betrieblichen Übung105 eine abweichende Behandlung erlauben, ist nicht abschließend geklärt. Jedenfalls scheint aber der richtige Diskussionsrahmen gefunden.
IV. Contract Governance und Arbeitsrechtsdogmatik Die Friktionen zwischen Ergebnissen der Lehre von der „institutionalisierten Vertragshilfe“ und einer legitimationstheoretisch orientierten Betrachtungsweise werfen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Contract Governance und Rechtsdogmatik auf. Nach gängiger Auffassung soll die Contract Governance nicht „die tradierten Deutungen“ ersetzen, sondern „wertvolle zusätzliche Einsichten liefern“.106 Wie mit den so gewonnenen Erkenntnissen umzugehen ist, bleibt allerdings meist dunkel. Auch Windbichler sieht in der „Erwägung, dass heteronome Vertragsabsicherung normal [ist]“, zwar nur eine Ergänzung der „Fragen des Wirkungsumfangs und 98
Vgl. nur M. Hoffmann/Köllmann NJW 2019, 3545 ff.; Krieger/Arnold/Zeh NZA 2020, 81, 83 ff. 99 Krieger/Arnold/Zeh NZA 2020, 81, 87. 100 So Chr. Picker Die betriebliche Übung, 2011, insb. 238 ff., 414 ff. 101 Chr. Picker (Fn. 100), 417. 102 So Chr. Picker (Fn. 100), S. 437 im Kontext der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB. 103 Kritisch Wenning Betriebliche Übung und Betriebsvereinbarung, 2019, 334 ff. 104 Dazu bereits oben 2.b); anders Chr. Picker (Fn. 100), 412 für das ausgehandelte „Kernentgelt“ (vgl. aber auch 235). 105 Näher dazu Chr. Picker (Fn. 100), 234 ff. 106 So repräsentativ Krause (Fn. 6), 109.
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der Legitimationsmuster für die Geltung von Kollektivverträgen“.107 Die Jubilarin betreibt aber nicht l’art pour l‘art: „Die Funktion von Kollektivverträgen als institutionalisierte Vertragshilfe ist nur interessant, wenn sie Folgen hat.“108 Das Forschungsprogramm der Contract Governance bleibt freilich unabhängig davon relevant, ob man die konkreten Schlussfolgerungen Windbichlers teilt. Insbesondere lässt sich aus einer ökonomisch informierten Perspektive besser erkennen, dass in Arbeitsbeziehungen nicht zuletzt allgemeine Probleme von Dauerschuldverhältnissen virulent werden. So tätigen die Parteien des Arbeitsvertrags jeweils in Erwartung einer längeren Zusammenarbeit Investitionen. Den Arbeitnehmer, der seine Fähigkeiten betriebsbezogen weiterentwickelt, belastet dies typischerweise stärker, was man zum Anknüpfungspunkt für ein Machtungleichgewicht nehmen mag.109 Aus der Perspektive einer Employment Contract Governance steht aber weniger die Imparität im Vordergrund, sondern der Anpassungsbedarf im Dauerschuldverhältnis. Dieser Blickwinkel könnte nicht zuletzt zu einer stärkeren Akzeptanz individualarbeitsrechtlicher Flexibilisierungsinstrumente führen. Der Beitrag der Contract Governance zur weiteren Entwicklung des Arbeitsrechts hängt allerdings davon ab, ob es gelingen wird, den genannten Forschungsansatz mit der Rechtsdogmatik zu verbinden. Insbesondere sollte ein ökonomisch begründeter Flexibilisierungsbedarf nicht dazu führen, dass Regelungsbefugnisse unter Ausblendung der legitimationstheoretischen Perspektive anerkannt werden. Deshalb geht es in die richtige Richtung, wenn mit Blick auf arbeitsrechtliche Kollektivverträge zwischen public und private governance unterschieden wird.110
V. Schlussbemerkung Christine Windbichler hat einmal Ausführungen zur Frage des Verhältnisses zwischen Individual- und Kollektivautonomie im Arbeitsleben mit der Bemerkung abgeschlossen, die „vorgetragene Außenperspektive“ solle „ein wenig belebende Luftbewegung schaffen“.111 Damit stellt die Jubilarin ihr Licht freilich unter den Scheffel. Wie nur wenige sonst ist sie in der Lage, in arbeitsrechtlichen Diskussionen eine Außen- und Innenperspektive zugleich einzunehmen. Zwar sind in diesem Beitrag gegen das Konzept einer Absicherung des Arbeitsvertrags durch heteronome Gestaltungsinstrumente 107
Siehe nochmals Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 254. Vgl. Windbichler in Sadowski/Walwei (Fn. 3), 253. 109 Vgl. Kocher in Möslein (Fn. 41), 245 f. 110 Vgl. Grundmann/Möslein/Riesenhuber in dies. (Fn. 2), 27. 111 Windbichler in Rüthers (Fn. 4), 105. 108
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einige legitimationstheoretische Einwände formuliert worden. Die Auseinandersetzung mit Windbichlers Thesen hat aber gezeigt, wie wertvoll solche Durchlüftungen für die Arbeitsrechtswissenschaft sind.
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Kein Schutz der Sitzgarantie der Gewerkschaften
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Kein Schutz der Sitzgarantie der Gewerkschaften Matthias Jacobs und Hannah Modi
Kein Schutz der Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG bei einer SE-Gründung durch Umwandlung MATTHIAS JACOBS UND HANNAH MODI
I. Einleitung Die unternehmerische Mitbestimmung in der Europäischen Gesellschaft (SE) ist anders als die Mitbestimmung in der deutschen Aktiengesellschaft (AG) durch die Autonomie des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer geprägt. Insbesondere können sie die Mitbestimmung durch eine Vereinbarung an ihre Bedürfnisse anpassen und näher ausgestalten. Die Gestaltungsfreiheit ist allerdings in vielerlei Hinsicht begrenzt, damit die Mitbestimmung nicht ausgehebelt werden kann und bestimmte Mitbestimmungsstandards erhalten bleiben. Eine Regelung zur Mitbestimmungssicherung ist in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG für die SE-Gründung durch Umwandlung enthalten. Sie lautet: „Unbeschadet des Verhältnisses dieses Gesetzes zu anderen Regelungen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen muss in der Vereinbarung im Fall einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll.“ Vor diesem Hintergrund wird gegenwärtig die Frage diskutiert, ob aus dieser Regelung ein Bestandsschutz für die Sitzgarantie der Gewerkschaften im Aufsichtsrat gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 2 MitbestG abgeleitet werden kann. Darf etwa eine AG mit einem sechzehnköpfigen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat, unter dessen acht Arbeitnehmervertretern sich gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 2 MitbestG zwei Gewerkschaftsvertreter befinden, nach der Umwandlung in eine SE eine in der Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG vorgesehene Verkleinerungsoption nutzen, welche die Bildung und Zusammensetzung eines Aufsichtsrats mit zwölf Mitgliedern (davon sechs Arbeitnehmervertreter) erlaubt und eine Sitzgarantie für Gewerkschaftsvertreter im verkleinerten Aufsichtsrat nicht mehr vorsieht? Die folgenden Überlegungen zu dieser Frage, die auf einer Anfrage aus der Praxis beruhen, sind Christine Windbichler in großem Respekt vor ihrem beeindruckenden wissenschaftlichen Lebenswerk gewidmet. Die Jubila-
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rin ist spätestens seit ihrer aufsehenerregenden Habilitationsschrift „Arbeitsrecht im Konzern“ aus dem Jahr 19891 wie nur wenige andere eine ausgewiesene Kennerin des Arbeitsrechts sowie des Gesellschaftsrechts und hat zugleich stets auch den unionsrechtlichen Hintergrund nationaler Normen in ihrem Blick. Es ist deshalb zu hoffen, dass die Frage nach der Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG bei einer SE-Gründung durch Umwandlung im Recht der unternehmerischen Mitbestimmung in der SE – dem Schnittstellenbereich aller drei Rechtsgebiete – auf ihr geschätztes Interesse stößt.
II. Überblick: Bestandsschutz nach Umwandlung in eine SE Bevor auf diese Frage zurückzukommen ist, ist zunächst ein kurzer Überblick über den Bestandsschutz bei der SE-Gründung durch Umwandlung angezeigt. Die RL 2001/86/EG und das SEBG gehen von der Prämisse aus, dass die Arbeitnehmerbeteiligung in der SE vorrangig im Wege einer Vereinbarungslösung erreicht werden soll (vgl. Art. 1 Abs. 2, Erwägungsgründe Nr. 7, 8 RL 2001/86/EG, § 1 Abs. 2 Satz 1 SEBG).2 Die „Autonomie der Parteien“ betont auch der Gesetzgeber (Art. 4 Abs. 2 RL 2001/86/EG, § 21 Abs. 1 SEBG) und fordert Verhandlungen „mit dem Willen zur Verständigung, um zu einer Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer innerhalb der SE zu gelangen“ (Art. 4 Abs. 1 RL 2001/86/EG, siehe auch § 13 Abs. 1 SEBG). Nur wenn eine solche Beteiligungsvereinbarung nicht zustande kommt, greift ausnahmsweise die Auffanglösung der gesetzlichen Mitbestimmung gemäß §§ 35 ff. SEBG (vgl. §§ 22 Abs. 1 Nr. 2, 34 Abs. 1 SEBG). Grundsätzlich obliegt es somit den Verhandlungsparteien, im Rahmen ihrer Autonomie eine sachgerechte Vereinbarung zu treffen.3 Art. 4 RL 2001/86/EG und § 21 SEBG enthalten allerdings Mindeststandards, die von den Parteien einzuhalten sind und ihre Autonomie einschränken. Für die Umwandlung in eine SE sehen Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG und § 21 Abs. 6 SEBG eine spezielle Schranke für den Inhalt der Beteiligungsvereinbarung für den Fall der formwechselnden Umwandlung i.S.d. Art. 2 Abs. 4, 37 SE-VO vor.4 Beide Regelungen gewährleisten somit – basierend auf der Ausgestaltung in der Ursprungsgesellschaft – einen gewissen Bestandsschutz hinsichtlich der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE.5 Hinter 1
Hanau ZfA 1990, 130; von Hoyningen-Huene NJW 1991, 28: „Standardwerk“. Siehe nur Jacobs in MüKo AktG SEBG, 4. Aufl. 2017, § 21 Rn. 1. 3 Siehe Sagan in NK-ArbR SEBG, 1. Aufl. 2016, § 21 Rn. 1. 4 Vgl. Henssler in Habersack/Henssler SEBG, 4. Aufl. 2018, § 21 Rn. 1; Jacobs in MüKo AktG SEBG, 4. Aufl. 2017, § 21 Rn. 52. 5 Vgl. Jacobs in MüKo AktG SEBG, 4. Aufl. 2017, § 21 Rn. 52. 2
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ihnen steht der im SEBG auch an anderen Stellen (§§ 16 Abs. 3, 15 Abs. 5, 35 Abs. 1 SEBG) anklingende Gedanke, dass bei der Gründung einer SE durch Umwandlung, bei der sich die Identität der Belegschaft nicht verändert, ein strenger Schutz erforderlich ist, um eine „Flucht aus der Mitbestimmung“ zu verhindern. Umstritten ist freilich, wie weit dieser Bestandsschutz reicht. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 MitbestG müssen sich unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer „in einem Aufsichtsrat, dem acht Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften“ befinden. Diese Sitzgarantie der Gewerkschaften ist nur dann vom Schutz des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG umfasst und muss bei der Umwandlung in eine SE in die Beteiligungsvereinbarung aufgenommen werden, wenn sie eine „Komponente der Arbeitnehmerbeteiligung“ ist, in Bezug auf die „zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden“ muss, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll. Wie § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG insoweit auszulegen ist, ist – wie schon erwähnt – umstritten. Die ganz herrschende Meinung6 verneint einen Be6 Cannistra Das Verhandlungsverfahren zur Regelung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei Gründung einer Societas Europaea und bei Durchführung einer grenzüberschreitenden Verschmelzung, 2014, 157; Deilmann/Häferer NZA 2017, 607, 612 f.; Forst Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG, 2010, 203 f., 274 f.; Forst in 10 Jahre SE. Erreichter Stand – verbleibende Anwendungsfragen – Perspektiven (Hrsg.: Bergmann/ Kiem/Mülbert/Verse/Wittig), 2015, 50, 76 f.; Habersack ZHR 171 (2007), 613, 634 f.; Habersack in 10 Jahre SE. Erreichter Stand – verbleibende Anwendungsfragen – Perspektiven (Hrsg.: Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Wittig), 2015, 9, 21 f.; Henssler in Habersack/ Henssler SEBG, 4. Aufl. 2018, § 21 Rn. 58; Hoops Die Mitbestimmungsvereinbarung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2009, 179; Linden Die Mitbestimmungsvereinbarung der dualistisch verfassten Societas Europaea (SE), 2012, 98 ff.; Jacobs in MüKo AktG SEBG, 4. Aufl. 2017, § 21 Rn. 53; Jacobs in FS K. Schmidt, 2009, 800; Kuhnke/ Hoops in Gaul/Ludwig/Forst Europäisches Mitbestimmungsrecht, 2015, Abschnitt F Rn. 287; Löw/Stolzenberg NZA 2016, 1489, 1496; Oetker in Lutter/Hommelhoff/ Teichmann SEBG, 2. Auflage 2015, § 21 Rn. 60; Oetker in Franzen/Gallner/Oetker Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2018, RL 2001/86/EG Art. 4 Rn. 22; Oetker in FS Konzen, 657; Oetker in FS Birk, 2008, 570; Paefgen in KölnerKomm AktG, 3. Auflage 2012, SE-VO Art. 40 Rn. 110; Ramcke Die Konkretisierung des Missbrauchsverbots der SE zum Schutz von Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer, 2015, 418 ff. (auch unter dem Aspekt eines immerhin denkbaren Rechtsmissbrauchs); Rudolph in Annuß/ Kühn/Rudolph/Rupp Europäisches Betriebsräte-Gesetz, 2014, § 21 Rn. 40; Sagan in NKArbR SEBG, 1. Auflage 2016, § 21 Rn. 27; Scheibe Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE unter besonderer Berücksichtigung des monistischen Systems, 2007, 149; Schmid Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2010, 185; Seibt in Habersack/Drinhausen SE-Recht, 2. Aufl. 2016, Art. 40 SE-VO Rn. 71; Seibt ZIP 2010, 1057, 1063; Thüsing ZIP 2010, 1469, 1473; Ubber DB 2019, 375; zustimmend auch OtteGräbener GWR 2018, 448, 448; Schubert EWiR 2019, 107, 108; Wettich GWR 2018, 349, 349; wohl auch Eberspächer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019 Art. 40 SE-VO Rn. 11 („Auch § 7 MitbestG hat keine Parallele im SEBG.“); Gutkès in Sagasser/Bula/Bünger Umwandlungen, 5. Aufl. 2017, § 13 Rn. 335.
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standsschutz für die Sitzgarantie, ebenso zwei instanzgerichtliche Beschlüsse7. Allerdings gibt es auch Gegenstimmen,8 die von Teichmann angeführt werden, der sonst für die RL 2001/86/EG und für das SEBG zu einem der engagiertesten Verfechter des Autonomiegedankens gehört und die Autonomie der Parteien bei § 21 SEBG grundsätzlich sogar über die Satzungsautonomie der Gesellschaft stellt,9 bei § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG aber für eine starke Beschränkung der Autonomie der Parteien plädiert.10 Dieser Auffassung hat sich jedenfalls im Ergebnis nunmehr das BAG angeschlossen, das das Rechtsbeschwerdeverfahren allerdings ausgesetzt und dem EuGH die Frage vorgelegt hat, ob sein Verständnis des § 21 Abs. 6 S. 1 SEBG mit Art. 4 RL 2001/86/EG vereinbar ist.11
III. Schutz der Sitzgarantie der Gewerkschaften in der Beteiligungsvereinbarung bei der Umwandlung in eine SE? Ob § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG bei einer SE-Gründung durch Umwandlung auch die Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 MitbestG schützt, ist durch Auslegung der Norm zu ermitteln. Neben den Auslegungskanones Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Telos ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass § 21 Abs. 6 SEBG Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG umsetzt.
7 ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607; LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724; die Rechtsbeschwerde ist beim BAG unter dem Aktenzeichen 1 ABR 43/18 anhängig. 8 Feuerborn in KölnerKomm AktG SEBG, 3. Auflage 2010, § 21 Rn. 76; Freis in Nagel/Freis/Kleinsorge SEBG, 3. Auflage 2018, § 21 Rn. 44; Kleinsorge in Wißmann/Kleinsorge/Schubert EU-Recht, 5. Auflage 2017, Rn. 123; Köklü in Drinhausen/Van Hulle/ Maul Handbuch zur Europäischen Gesellschaft (SE), 2007, 6. Abschnitt Rn. 149; Köstler in Theisen/Wenz, 2. Auflage 2005, S. 349; Köstler DStR 2005, 745, 747; Nagel AuR 2007, 329, 332; Sick in Düwell Europäische Aktiengesellschaft (SE) und grenzüberschreitende Verschmelzung – SE-Betriebsrat und Arbeitnehmerbeteiligung, 5. Auflage 2018, Rn. 12; Velten Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat, 2010, 38. 9 Teichmann AG 2008, 797, 800 ff.; dagegen die h.M., siehe statt aller Casper in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019 Art. 12 SE-VO Rn. 17 ff. mwN. 10 Teichmann, ZIP 2014, 1049, 1051 ff. Diesen Widerspruch sieht Teichmann selbst, ZIP 2014, 1049, 1054 mit Fn. 50, kann ihn aber nicht überzeugend ausräumen. 11 BAG Beschl. v. 18.8.2020 – 1 ABR 43/18 (A), Pressemitteilung 27/20. Der Festschrift Beitrag beruht auf einem in diesem Rechtsbeschwerdeverfahren vorgelegten Rechtsgutachten.
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1. Vorab: Regeln zur Auslegung des SEBG a) Grundsatz der autonomiefreundlichen Auslegung von RL 2001/86/EG und SEBG Die Autonomie der Parteien, möglichst eine Vereinbarung über die Arbeitnehmerbeteiligung zur schließen, als überragender und prägender Grundsatz ergibt sich vor allem aus Erwägungsgrund Nr. 8 RL 2001/86/EG und aus Art. 4 Abs. 1 RL 2001/86/EG sowie aus § 1 Abs. 2 SEBG und § 21 Abs. 1 SEBG (siehe ferner beispielsweise die Erwägungsgründe Nr. 5, 7, 8 RL 2001/86/EG sowie die systematische Stellung der Vorschriften des Verhandlungsverfahrens vor der gesetzlichen Auffangregelung). Einschränkungen dieser Autonomie, die an verschiedenen Stellen in Art. 4 RL 2001/86/EG und in § 21 SEBG – etwa in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG, um den es hier geht – genannt werden und nur unter bestimmten Voraussetzungen eingreifen, sind deshalb die Ausnahme. Der Richtliniengeber hat grundsätzlich davon abgesehen, eine bestimmte Ausgestaltung der Arbeitnehmerbeteiligung rechtlich zwingend vorzuschreiben.12 Das bedeutet in systematischer Hinsicht grundsätzlich, dass autonomiebegrenzende Normen diese Einschränkung ausdrücklich anordnen müssen. Nicht per se ausgeschlossen werden kann zwar auch eine autonomieeinschränkende Auslegung von Normen, welche die Einschränkung nicht ausdrücklich anordnen. Eine solche Auslegung hat dann aber restriktiv zu erfolgen, um den Grundsatz der Autonomie der Parteien nicht zu gefährden. Das SEBG ist also autonomiefreundlich auszulegen. b) Grundsatz der arbeitnehmerrechtefreundlichen Auslegung von RL 2001/86/EG und SEBG Ein weiterer Punkt ist für die Auslegung des SEBG relevant und in diesem Punkt ergänzend hervorzuheben. Besonders Erwägungsgrund Nr. 18 Satz 1 RL 2001/86/EG formuliert eindeutig, dass beim Schutz von in den an der Gründung der SE beteiligten Gesellschaften bestehenden Rechten nicht die Rechte von Gewerkschaften gemeint sind, sondern die Rechte der Arbeitnehmer: „Die Sicherung erworbener Rechte der Arbeitnehmer über ihre Beteiligung an Unternehmensentscheidungen ist fundamentaler Grundsatz und erklärtes Ziel dieser Richtlinie.“ Nicht zufällig lautet die präzise Bezeichnung des SEBG „Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft“; auch insoweit werden die Gewerkschaften nicht erwähnt. 12 Vgl. Sick in Düwell Europäische Aktiengesellschaft (SE) und grenzüberschreitende Verschmelzung – SE-Betriebsrat und Arbeitnehmerbeteiligung, 5. Auflage 2018, Rn. 10.
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Damit ist zwar nicht ausgeschlossen, dass die RL 2001/86/EG und das SEBG partiell, wie noch zu zeigen ist, auch die Rechte der in den an der Gründung der SE beteiligten Unternehmen vertretenen Gewerkschaften schützen. Ein entsprechender Schutz von Gewerkschaften muss aber ausdrücklich angeordnet sein. Bei einer unklaren Formulierung des Gesetzes kann er sich nur ausnahmsweise ergeben. Das SEBG schützt im Zweifel also Arbeitnehmerrechte, nicht Gewerkschaftsrechte (Grundsatz der arbeitnehmerrechtefreundlichen Auslegung). 2. Wortlaut: „alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ Ausgangspunkt jeder Auslegung einer Norm ist deren Wortlaut. Bei der Betrachtung des Wortlauts von § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG kommt es für die Frage, ob er die Sitzgarantien der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG umfasst, insbesondere darauf an, wie der Begriff „alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ zu verstehen ist. Hierbei ist umstritten, ob der Begriff „alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ als Oberbegriff auf die drei Elemente der Arbeitnehmerbeteiligung (Anhörung und Unterrichtung einerseits, Mitbestimmung andererseits) zu beziehen ist13 oder ob die Formulierung einen „eigenständigen Aussagegehalt“14 hat und daher die Mitbestimmung als solche betrifft. Nur in diesem Fall ist überhaupt zu erwägen, die Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG als eine Komponente der Mitbestimmung zu verstehen. Andernfalls ist nämlich die Mitbestimmung nur eine Komponente der Arbeitnehmerbeteiligung. Ausgangspunkt der Wortlautanalyse ist § 2 SEBG, der Legaldefinitionen der im SEBG verwendeten Begriffe enthält. Gemäß § 2 Abs. 8 SEBG bezeichnet die Beteiligung der Arbeitnehmer „jedes Verfahren – einschließlich der Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung –, durch das die Vertreter der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung in der Gesellschaft Einfluss nehmen können“. Die einzelnen Bestandteile werden in § 2 Abs. 10 bis 12 SEBG präzisiert. Daraus folgt, dass der Begriff Arbeitnehmerbeteiligung grundsätzlich die betriebliche Mitbestimmung (Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer) und die Unternehmensmitbestimmung (Mitbestimmung) erfasst.15 a) Einzelne Elemente der Mitbestimmung? Teichmann ist entgegen der skizzierten Begriffsbestimmung in § 2 SEBG der Auffassung, der Gesetzgeber habe mit der Voranstellung des Zusatzes 13 Dafür LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 110 ff.; Oetker in FS Birk, 2008, 568; Sagan in NK-ArbR SEBG, 1. Aufl. 2016, § 21 Rn. 26. 14 So Teichmann ZIP 2014, 1049, 1051 f. 15 Vgl. Nagel AuR 2007, 329, 330.
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„alle Komponenten“ in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG der Norm eine „über den legal definierten Begriffskern hinausgeh[ende]“ Bedeutung16 verleihen wollen. Als Begründung wird angeführt, dass der Begriff der Arbeitnehmerbeteiligung in der RL 2001/86/EG und im SEBG einheitlich genutzt werde und der Zusatz „alle Komponenten“ somit eine spezielle Intention des Gesetzgebers des SEBG ausdrücken müsse. Hieraus sei zu schließen, dass § 21 Abs. 6 SEBG nicht nur einen Bestandsschutz hinsichtlich der Mitbestimmung an sich beabsichtige, sondern auch in Bezug auf deren einzelne Elemente, die diese wie etwa die Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG ausformten.17 b) Arbeitnehmerbeteiligung als Oberbegriff Die Wortlautauslegung von Teichmann überzeugt nicht. Der Zusatz „alle Komponenten“ ist, wie das LAG Baden-Württemberg formuliert, lediglich als bloße „Verdeutlichung eines umfassenden Gegenstandsbereichs“18 zu verstehen, die der Gesetzgeber klarstellend vorgenommen hat. Sowohl die Arbeitnehmerbeteiligung als auch die Mitbestimmung sind im Wege der Legaldefinition im SEBG eindeutig definiert. § 21 Abs. 6 SEBG betrifft mithin nicht alle Komponenten der Mitbestimmung, sondern umfasst die Mitbestimmung nur als eine Komponente der Arbeitnehmerbeteiligung i.S.d. § 2 Abs. 8 SEBG.19 § 2 Abs. 8 SEBG und § 2 Abs. 12 SEBG sprechen zudem weder die Zusammensetzung des Aufsichtsrats i.S.d. § 7 Abs. 2 MitbestG noch die Gewerkschaften ausdrücklich an.20 Daneben ist das Verhältnis von allgemeinen Begriffen und solchen Begriffen, die im Wege der Legaldefinition durch den Gesetzgeber konkretisiert werden, denen er also ein einheitliches Verständnis zugrunde legt, zu beachten. Der Gedankenschluss, aus der Formulierung „Komponenten“ in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG und dem Oberbegriff „Verfahren“ in § 2 Abs. 8 SEBG folge, dass in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG die einzelnen Aspekte der Mitbestimmung gemeint seien, überzeugt deshalb nicht. Er überdehnt die Aussagekraft des allgemeinen Begriffs21 und verkennt dessen nachrangige Bedeutung gegenüber der Legaldefinition. Für diese Sichtweise spricht vor dem Hintergrund einer autonomiefreundlichen Auslegung des § 21 SEBG, der die Sitzgarantie als Autonomiebeschränkung nicht ausdrücklich nennt, ferner die klare Abgrenzung der 16
So wörtlich Teichmann ZIP 2014, 1049, 1052. So das Auslegungsergebnis bei Teichmann ZIP 2014, 1049, 1050. 18 LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 111. 19 Oetker in FS Konzen, 2006, S. 657; Sagan in NK-ArbR SEBG, 1. Aufl. 2016, § 21 Rn. 27. 20 ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607, Rn. 95. 21 Vgl. LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 112. 17
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Begrifflichkeiten „Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ (Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG) und „Komponenten der Mitbestimmung“ (Teil 3 lit. a Anhang RL 2001/86/EG). Hätten der europäische Gesetzgeber in Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG und der deutsche Gesetzgeber in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG „Komponenten der Mitbestimmung“ gemeint, um etwa dieSitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG zu erfassen, hätte er diese Formulierung auch in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG und in Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG hineingeschrieben. c) Begriff der Mitbestimmung Selbst wenn man der Auffassung Teichmanns folgt und den Begriff „alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ auf die Mitbestimmung bezieht, ist im Übrigen auch bei der Wortlautauslegung der Begriff der Mitbestimmung eng zu verstehen. Mitbestimmung ist nach der Legaldefinition in Art. 2 lit. k RL 2001/86/ EG und in § 2 Abs. 12 SEBG „die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Angelegenheiten einer Gesellschaft durch die Wahrnehmung des Rechts, einen Teil der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu wählen oder zu bestellen, oder die Wahrnehmung des Rechts, die Bestellung eines Teils oder aller Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu empfehlen oder abzulehnen“.22 Diese Definition regelt somit lediglich die Besetzung des Aufsichtsrats durch Arbeitnehmervertreter, ordnet aber keine darüber hinausgehenden Anforderungen an deren Auswahl oder Zusammensetzung an. Insbesondere fehlt ein Hinweis auf die Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG als „Komponente der Mitbestimmung“,23 obgleich die RL 2001/86/EG und das SEBG an anderer Stelle die Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern im Wortlaut verschiedener Vorschriften ausdrücklich vorsehen: für das besondere Verhandlungsgremium (bVG) in Art. 3 Abs. 2 lit. b UAbs. 2 RL 2001/86/EG sowie in Erwägungsgrund Nr. 19 RL 2001/86/EG24 und in § 6 Abs. 3 SEBG. Aus deren Wortlaut ergibt sich, dass der Einfluss von Gewerkschaften mit Hilfe von Sitzgarantien ausschließlich über das bVG ermöglicht werden soll.25 Hätten der europäische und der deutsche Gesetzgeber einen darüber hinausgehenden Bestandsschutz in Bezug auf das Vorschlagsrecht für Gewerkschaften auch in der Beteiligungsvereinbarung bezweckt, wäre wie in 22
Jacobs in MüKo AktG SEBG, 4. Aufl. 2017, § 21 Rn. 54 mit Betonung auf „einen Teil“. Paefgen in KölnerKomm AktG, 3. Auflage 2012, SE-VO Art. 40 Rn. 110. 24 Forst in 10 Jahre SE. Erreichter Stand – verbleibende Anwendungsfragen – Perspektiven (Hrsg.: Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Wittig), 2015, 50, 76; ferner Deilmann/Häferer NZA 2017, 607, 613. 25 Klarsichtig Forst in 10 Jahre SE. Erreichter Stand – verbleibende Anwendungsfragen – Perspektiven (Hrsg.: Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Wittig), 2015, 50, 76 f. 23
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den genannten Vorschriften ein ausdrücklicher Hinweis in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG aufgenommen worden. 3. Systematik a) Systematischer Vergleich mit § 6 Abs. 3 SEBG Wiederholend ist festzuhalten, dass das bereits bei der Wortlautauslegung des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG (keine Sitzgarantie) i.V.m. § 6 Abs. 3 SEBG (Sitzgarantie) erzielte Ergebnis auch ein systematisches Argument gegen die Auffassung Teichmanns ist, § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG umfasse auch die Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG. Die systematische Auslegung ergibt darüber hinaus weitere Argumente gegen seinen Standpunkt. b) Systematischer Vergleich mit § 15 Abs. 5 SEBG Für eine Erstreckung des Schutzes des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG auf die Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG wird von Teichmann zunächst der systematische Vergleich mit § 15 Abs. 5 SEBG angeführt.26 Der Bestandsschutz in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG müsse über den bloßen Erhalt des proportionalen Anteils der Arbeitnehmervertreter, den § 15 Abs. 5 SEBG bereits gewähre, hinausgehen.27 Sieht man davon ab, dass beide Normen unterschiedliche Regelungsbereiche betreffen, die nichts miteinander zu tun haben – § 15 SEBG betrifft die Beschlussfassung im bVG, wohingegen § 21 SEBG inhaltliche Vorgaben zur Beteiligungsvereinbarung enthält–, überzeugt dieser systematische Schluss auch sonst nicht. Wiederum ist auf die Legaldefinition der Mitbestimmung in § 2 Abs. 12 SEBG zu verweisen, die lediglich auf den „Teil der Mitglieder“ des Aufsichtsrats abstellt, sowie auf die „Minderung der Mitbestimmungsrechte“ in § 15 Abs. 3 SEBG, in dessen Rahmen die maßgebliche Definition des § 15 Abs. 4 Nr. 1 SEBG ebenfalls nur auf den „Anteil der Arbeitnehmervertreter“ abzielt.28 Mitbestimmungsrechte werden folglich nur gemindert, wenn der Teil oder der Anteil der Arbeitnehmer im Auf26
Teichmann ZIP 2014, 1049, 1052. Teichmann ZIP 2014, 1049, 1052; ferner Sick in Düwell Europäische Aktiengesellschaft (SE) und grenzüberschreitende Verschmelzung – SE-Betriebsrat und Arbeitnehmerbeteiligung, 5. Auflage 2018, Rn. 12. 28 Hoops Die Mitbestimmungsvereinbarung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2009, 179; Jacobs in MüKo AktG SEBG, 4. Aufl. 2017, § 21 Rn. 54; Jacobs in FS K. Schmidt, 2009, S. 800; Oetker in FS Birk, 2008, 570; Oetker in FS Konzen, 2006, 657; Sagan in NK-ArbR SEBG, 1. Aufl. 2016, § 21 Rn. 27 (nur Sicherung der Mitbestimmungsquote); Schmid Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2010, 185. 27
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sichtsorgan der SE geringer ist als der höchste in der beteiligten Gesellschaft bestehende Anteil,29 wenn also beispielsweise aus einer Parität eine Drittelparität wird. Ob die Sitzgarantie der Gewerkschaften im Aufsichtsorgan der umgewandelten Gesellschaft erhalten bleibt, ist keine Frage des Teils oder des Anteils der Arbeitnehmervertreter in ihm. c) Systematischer Vergleich mit der gesetzlichen Auffanglösung (§§ 35 Abs. 1, 36 Abs. 3 Satz 2 SEBG) Die gesetzliche Auffanglösung (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 RL 2001/86/EG i.V.m. Teil 3 des Anhangs, § 16 Abs. 2 Satz 2, §§ 34 ff. SEBG), die beim Scheitern der Verhandlungen eingreift, ist im Grundsatz durch das „VorherNachher-Prinzip“ geprägt: Wenn die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Nr. 1 SEBG (Gründung einer SE durch Umwandlung) vorliegen, bestimmt § 35 Abs. 1 SEBG, dass die Regelung zur Mitbestimmung erhalten bleibt, die in der Gesellschaft vor der Umwandlung bestanden hat. aa) Systematik des Teil 3 Anhang RL 2001/86/EG Zunächst ist die systematische Unterteilung der Regelung in Teil 3 lit. a Anhang RL 2001/86/EG (Auffangregelung für die Mitbestimmung) systematisch in den Blick zu nehmen. Der Verweis in Teil 3 lit. a Satz 2 Anhang RL 2001/86/EG auf Teil 3 lit. b Anhang RL 2001/86/EG, so die Argumentation Teichmanns,30 verdeutliche, dass der Bestandsschutz, der allen anderen Gründungsformen der SE gemäß Teil 3 lit. b Anhang RL 2001/86/EG zukomme, auch im Fall der Umwandlung gelte. Die zusätzliche Verwendung des Begriffs „alle Komponenten der Mitbestimmung“ in Teil 3 lit. a Satz 1 Anhang RL 2001/86/ EG begründe daher ein höheres Schutzniveau für die Gründung durch Umwandlung. Erfasse der Bestandsschutz nur den proportionalen Anteil der Arbeitnehmer (Teil 3 lit. b Anhang RL 2001/86/EG), wäre Teil 3 lit. a Anhang RL 2001/86/EG überflüssig, da er keinen über Teil 3 lit. b Anhang RL 2001/86/EG hinausgehenden Regelungsgehalt habe. Mithin belege der Verweis, dass der Begriff „Komponenten“ nicht die Mitbestimmung als solche, sondern die einzelnen Komponenten der Mitbestimmung und damit auch das Vorschlagsrecht der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG erfasse.31 Dem ist entgegenzuhalten, dass Teil 3 lit. a Anhang RL 2001/86/EG zwar von „allen Komponenten der Mitbestimmung“ spricht, jedoch im Zusam29
LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 118. 30 Teichmann ZIP 2014, 1049, 1052. 31 Freis in Nagel/Freis/Kleinsorge SEBG, 3. Auflage 2018, § 21 Rn. 44.
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menhang mit der von der Norm vorgeschriebenen sinngemäßen Anwendung von Teil 3 lit. b Anhang RL 2001/86/EG gelesen werden muss, demzufolge der maßgebliche Anknüpfungspunkt der Mitbestimmung eben nur ein „Teil der Mitglieder des Verwaltungs- oder des Aufsichtsorgans der SE“ ist.32 Dazu gehört nicht eine Sitzgarantie der Gewerkschaften, die den Anteil der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsorgan (etwa Parität oder Drittelparität) nicht berührt. Zudem sind sowohl in Teil 3 lit. a als auch in lit. b Anhang RL 2001/86/EG an keiner Stelle Gewerkschaften und gegebenenfalls deren Sitzgarantie gemäß § 7 Abs. 2 MitbestG erwähnt.33 Vielmehr ist die Rede von der „Mitbestimmung der Arbeitnehmer“ und dem Recht der „Arbeitnehmer“, nicht der Gewerkschaften. bb) Fehlender Verweis in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG auf § 6 Abs. 3 SEBG Daneben wird das systematische Argument angeführt, die zwingend vorgesehene Repräsentation von Gewerkschaftsvertretern gemäß der gesetzlichen Auffangregelung (vgl. § 36 Abs. 3 Satz 2 SEBG i.V.m. § 6 Abs. 3 SEBG) spreche dafür, diese als wesentliche Komponente des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG anzusehen.34 Auch dieses Argument überzeugt systematisch nicht. § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG verweist für die Verhandlungslösung gerade nicht auf § 6 Abs. 3 SEBG.35 Verhandlungslösung und gesetzliche Auffangregelung sind deshalb nicht nach den gleichen Regeln zu behandeln. Aus den Vorgaben der RL 2001/86/EG folgt nichts anderes. Der deutsche Gesetzgeber hat entsprechend der aus Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 und Abs. 2 lit. a RL 2001/86/ EG folgenden Anordnung zur Auffanglösung eine eigenständige Regelung getroffen und in diesem Zusammenhang die ihm eröffnete Möglichkeit genutzt, sich an nationale Regelungen – hier: die Sitzgarantie der Gewerkschaften – anzulehnen.36 Ein solche Anordnung an den nationalen Gesetzgeber, gestaltend tätig zu werden, fehlt jedoch für die Verhandlungslösung. Der Gesetzgeber konnte es deshalb und hat es daher auch zu Recht dabei belassen, im Wesentlichen Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG in § 21 Abs. 6 32
Henssler in Habersack/Henssler SEBG, 4. Aufl. 2018, § 21 Rn. 58; Hoops Die Mitbestimmungsvereinbarung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2009, S. 179; Jacobs in MüKo AktG SEBG, 4. Aufl. 2017, § 21 Rn. 54; Jacobs in FS K. Schmidt, 2009, 800. 33 LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 130. 34 Ablehnend LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 128. 35 LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 129; ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607, Rn. 98. 36 LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 128.
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Satz 1 SEBG zu übernehmen und im Übrigen das Verhandlungsergebnis der Autonomie der Parteien zu überantworten.37 Das ArbG Mannheim formuliert noch zurückhaltend: „Hätte der Gesetzgeber eine zwingende Mindestrepräsentation der Gewerkschaft im Aufsichtsrat auch bei der Verhandlungslösung schützen wollen, so wäre es naheliegend gewesen, nicht nur bei der gesetzlichen Auffanglösung, sondern gleichfalls bei der Verhandlungslösung einen entsprechenden Verweis auf § 6 Abs. 3 SEBG aufzunehmen.“38 Dieses systematisch zwingende Ergebnis überzeugt auch aus zwei anderen Gründen. Zum einen ist die zwischen den Parteien geschlossene Vereinbarung aufgrund der vorangegangenen Verhandlungen auf Arbeitnehmerseite über die Wahlen zum bVG demokratisch legitimiert.39 Von der Sitzgarantie nach § 7 Abs. 2 MitbestG kann man diese Legitimation nicht behaupten. Für sie genügt es, dass mindestens ein Mitglied der Gewerkschaft Arbeitnehmer des Unternehmens ist.40 Zu bedenken ist zum anderen eine weitere Überlegung: Wenn es dem Gesetzgeber freisteht, mithilfe der Ausgestaltung der gesetzlichen Auffanglösung – Schutz der Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG – Verhandlungsdruck zu erzeugen, um die Parteien zu dem gegenüber der gesetzlichen Auffanglösung vorrangigen Abschluss einer Vereinbarung zu bewegen,41 müssen die Mitglieder des bVG, wenn sie eine Beteiligungsvereinbarung schließen, aber frei sein, die Sitzgarantie der Gewerkschaften nicht zu vereinbaren. Andernfalls wäre die gesetzliche Auffanglösung als Druckmittel insoweit sinnlos. Gegen einen Bestandsschutz des Vorschlagsrechts der Gewerkschaften gemäß § 7 Abs. 2 MitbestG im Rahmen der Verhandlungslösung ist in diesem Kontext übrigens auch anzuführen, dass § 36 Abs. 3 SEBG i.V.m. § 6 Abs. 3 SEBG voraussetzt, dass eine Mindestanzahl inländischer Mitglieder erreicht wird. Somit gewährt nicht einmal die gesetzliche Auffanglösung einen lückenlosen Schutz der inneren Zusammensetzung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsorgan im Hinblick auf die Repräsentation von Gewerkschaftsvertretern.42
37
LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 129. 38 ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607, Rn. 98; für das Erfordernis einer ausdrücklichen Regelung ebenso Deilmann/Häferer NZA 2017, 607, 613. 39 ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607, Rn. 98. 40 Statt aller Henssler in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, MitbestG § 7 Rn. 70 mwN. auch zur Rechtsprechung. 41 LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 128; so auch anklingend bei ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607, Rn. 98. 42 ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607, Rn. 100.
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cc) Systematischer Kontext zu § 35 Abs. 1 SEBG In diesen Kontext passt eine weitere ergänzende Überlegung. § 35 Abs. 1 SEBG verzichtet auf eine Beschränkung des Erhalts der Mitbestimmung im „gleichen Ausmaß“, so dass im Vergleich zu § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG bereits aus dem Wortlaut des § 35 Abs. 1 SEBG ein grundsätzlich umfassenderer Bestandsschutz als in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG folgt. Andererseits garantiert nicht einmal § 35 Abs. 1 SEBG eine Sitzgarantie der Gewerkschaften.43 Vielmehr enthält § 36 SEBG – davon getrennt und unter bestimmten Voraussetzungen – besondere Bestimmungen hinsichtlich der Sitzverteilung und der Bestellung. Aus der systematischen Zusammenschau von § 35 Abs. 1 SEBG und § 36 SEBG ergibt sich somit, dass die innere Zusammensetzung des Aufsichtsorgans nicht bereits durch § 35 Abs. 1 SEBG erfasst wird, da andernfalls kein Anwendungsbereich mehr für § 36 SEBG verbliebe (für die Sitzgarantie der Gewerkschaften § 36 Abs. 3 Satz 2 SEBG). Wenn jedoch schon § 35 SEBG keine Vorgaben hinsichtlich der Sicherung der Sitzgarantie der Gewerkschaften trifft, kann eine solche erst recht nicht in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG hineingelesen werden, der weniger Bestandsschutz gewährt als § 35 Abs. 1 SEBG. d) Systematischer Bezug zu § 21 Abs. 3 Satz 2 SEBG Damit ist die systematische Auslegung des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG aber noch nicht am Ende. § 21 SEBG enthält Regelungen zum Inhalt der Beteiligungsvereinbarung, wobei § 21 Abs. 3 SEBG die Unternehmensmitbestimmung betrifft. § 21 Abs. 3 Satz 2 SEBG enthält eine Liste „typischer Regelungsgegenstände“44: die Zahl der Arbeitnehmervertreter, das Verfahren, nach dem sie gewählt oder bestellt werden, sowie die Rechte dieser Mitglieder. Teichmann meint, aus § 21 Abs. 3 SEBG folge, dass in der Beteiligungsvereinbarung nicht lediglich der proportionale Anteil der Arbeitnehmer im Aufsichtsorgan geregelt sein müsse, so dass auch die Sitzgarantie nach § 7 Abs. 2 MitbestG umfasst sei. Da § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG einen Bestandsschutz in Bezug auf „alle Komponenten“ der Mitbestimmung gewährleiste, sei diese Gewährleistung auch auf das „konkrete Verfahren der Wahl und der Bestellung der Arbeitnehmervertreter“ zu erstrecken. Das systematische Verhältnis der einzelnen Absätze des § 21 SEBG untereinander ergebe, dass sich der Schutz des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG auf den gesamten Inhalt einer SE-Beteiligungsvereinbarung beziehe und die Parteien das „bisher geltende nationale Recht zum Maßstab“ nehmen müssten.45 43
Siehe nur Jacobs in MüKo AktG SEBG, 4. Aufl. 2017, § 35 Rn. 9 mwN. Henssler in Habersack/Henssler SEBG, 4. Aufl. 2018, § 21 Rn. 36 mwN. auch zur Gegenansicht; siehe dazu noch Rn. 65 (Soll-Vorschrift). 45 So Teichmann ZIP 2014, 1049, 1053. 44
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Dagegen spricht, dass § 7 Abs. 2 MitbestG keine bloße Verfahrensvorschrift ist. Zudem enthält weder die RL 2001/86/EG noch das SEBG einen Hinweis darauf, dass die Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG unter den Begriff des „Wahlverfahrens“ zu fassen ist. Zudem ist § 21 Abs. 3 Satz 2 SEBG, auf den sich Teichmann bezieht, nur eine Soll-Vorschrift, so dass schon deshalb aus dem systematischen Verhältnis beider Vorschriften zueinander kein zwingender Schluss für § 21 Abs. 6 Satz 3 SEBG hergeleitet werden kann. 4. Entstehungsgeschichte Teichmann ist der Auffassung, die Entstehungsgeschichte der SE-VO und der RL 2001/86/EG belege, dass der europäische Gesetzgeber beabsichtigt habe, die Vereinbarungsautonomie in § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG stark einzuschränken und somit einen weitreichenden Bestandsschutz (auch in Bezug auf die Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG) zu gewährleisten.46 Das historische Argument von Teichmann überzeugt jedoch nicht. Der Grund dafür nimmt seiner Argumentation schon im Ausgangspunkt die Grundlage: Die Wendung „Komponenten der Mitbestimmung“ im Richtliniengebungsverfahren 1998 unter der österreichischen Ratspräsidentschaft beruht auf einem Fehler bei der Übersetzung aus der englischen Fassung, in der es „Involvement“ – Beteiligung, nicht Mitbestimmung (participation) – heißt. Auch § 230 Abs. 3 ArbVG spricht in Umsetzung von Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG von den Rechten der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung (Beteiligung).47 Das LAG Baden-Württemberg verweist daneben im Rahmen der historischen Auslegung zu Recht auf das langjährige Verhandlungsverfahren im Vorfeld der Entstehung der RL 2001/86/EG. Aufgrund der in den Mitgliedstaaten bestehenden Vielfalt von Regelungen hinsichtlich der Arbeitnehmerbeteiligung sah man von der Schaffung eines einheitlichen europäischen Modells der Arbeitnehmerbeteiligung in der SE ab. Das wird in Erwägungsgrund Nr. 5 RL 2001/86/EG ganz klar formuliert. Durchgesetzt hat sich das Vorher-Nachher-Prinzip, das durch das System von (vorrangiger) Vereinbarungslösung und (nachrangiger) Auffangregelung umgesetzt wurde (Erwägungsgründe Nr. 7 und Nr. 18 RL 2001/86/EG). Der Richtliniengeber sieht zudem bei einer SE-Gründung durch Umwandlung eine größere Gefahr der „Flucht aus der Mitbestimmung“ als bei anderen Gründungsformen (vgl. Erwägungsgrund Nr. 10 RL 2001/86/EG).
46
Siehe hierzu ausführlich Teichmann ZIP 2014, 1049, 1053 ff. LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724. 47
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Hierauf aufbauend liegt der RL 2001/86/EG ein „eingeschränktes – supranationales – Verständnis der Mitbestimmung“ zugrunde.48 Daraus ist zu schließen, dass mit Blick auf die Entstehungsgeschichte und die genannten Erwägungsgründe auch Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG im Sinne eines „eingeschränkten – supranationalen – Verständnisses der Mitbestimmung“ auszulegen ist. Für § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG kann dann aber nichts anderes gelten. Es ist nicht ersichtlich, dass der nationale Gesetzgeber ein anderes Verständnis von Mitbestimmung als der Richtliniengeber hat. Vielmehr hat er die Formulierung „Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ ohne Abweichung von Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG in das SEBG übernommen.49 Hervorzuheben ist in entstehungsgeschichtlicher Hinsicht ferner, dass das Vorschlagsrecht für Gewerkschaften in keiner der im Richtliniengebungsverfahren vorgeschlagenen Regelungen vorgesehen war.50 Das ist kein Zufall. Eine „Verwässerung“ der durch die RL 2001/86/EG und das SEBG geschaffenen Autonomie der Parteien, die der überragende Grundsatz beider Regelungswerke ist, unter Heranziehung nationaler Mitbestimmungsbesonderheiten würde der Idee der SE als supranationale Gesellschaftsform nicht gerecht.51 Schließlich ist im Rahmen der historischen Auslegung des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG zu beachten, dass der Richtliniengeber eine Reihe von Schutzmechanismen für die SE-Gründung durch Umwandlung vorgesehen hat, z.B. die Unmöglichkeit der Nichtaufnahme oder des Abbruchs der Verhandlungen (Art. 3 Abs. 6 UAbs. 3 RL 2001/86/EG, § 15 Abs. 5 SEBG) und das Eingreifen der gesetzlichen Auffanglösung (Art. 7 Abs. 2 lit. a RL 2001/86/EG, § 34 Abs. 1 Nr. 1 SEBG). Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG lässt sich mithin entstehungsgeschichtlich als Teil dieses Schutzkonzepts verstehen, nicht jedoch als Regelung, die eine umfassende Fortgeltung der bisherigen Mitbestimmung inklusive einer Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG anordnet. 5. Telos Obgleich bereits ein näherer Blick auf den Wortlaut, die Systematik und die Entstehungsgeschichte des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG zu einem eindeutigen Ergebnis führt, ist im Folgenden ergänzend der Zweck des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG zu ermitteln und zu analysieren. Insbesondere ist darauf zu 48 LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 134. 49 LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 134. 50 ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607, Rn. 101. 51 Schubert EWiR 2019, 107, 108.
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achten, ob und gegebenenfalls inwieweit die innere Zusammensetzung des Aufsichtsorgans – insbesondere mit Blick auf die Repräsentation von Gewerkschaftsvertretern durch Sitzgarantien – vom Schutzzweck der Norm umfasst ist. a) Zweck des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG: Schutz von Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer, nicht von Gewerkschaftsrechten In Instanzrechtsprechung und Literatur ist man sich einig, dass die Regelung einen besonderen Bestandsschutz für den Gründungsfall der Umwandlung bezweckt, um – so die pauschale Beschreibung des Normzwecks – eine „Flucht aus der Mitbestimmung“ zu verhindern.52 Die Umwandlung ist in dieser Hinsicht, wie Erwägungsgrund Nr. 10 RL 2001/86/EG für die Abstimmungsregeln im bVG ausdrückt, besonders gefährlich. Unbestritten ist ebenso, dass damit nicht die Beibehaltung des Status quo in der umzuwandelnden Gesellschaft bezweckt wird.53 b) Erfassung der inneren Zusammensetzung des Aufsichtsorgans? Teichmann meint, die Frage, worauf sich der Schutzzweck des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG beziehe, könne nur durch eine Untersuchung der auf die umzuwandelnde Gesellschaft anzuwendenden nationalen Vorschriften erfolgen, so dass sich der Schutzzweck auch auf die innere Zusammensetzung des Aufsichtsrats nach dem deutschen MitbestG und damit auch auf eine bestehende Sitzgarantie der Gewerkschaften erstrecken könne.54 aa) Stellenwert der inneren Zusammensetzung nach nationalem Recht Die „Stellung externer Gewerkschaftsvertreter […] nach der Konzeption des deutschen MitbestG“ sei – so Teichmann – „eine qualitative Komponente, die das Mitbestimmungsregime entscheidend prägt“.55 Sie sei deshalb 52 ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607, Rn. 103; Evers/Hartmann in Manz/Mayer/Schröder SEBG, 2. Auflage 2010, § 21 Rn. 42; Forst Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG, 2010, 204; Henssler in Habersack/Henssler SEBG, 4. Aufl. 2018, § 21 Rn. 57; Hoops Die Mitbestimmungsvereinbarung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2009, S. 179; Jacobs in MüKo AktG SEBG, 4. Aufl. 2017, § 21 Rn. 52; Oetker in FS Konzen, 2006, 657; Schmid Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2010, 182; Teichmann ZIP 2014, 1049, 1055. 53 LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 138; ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607, Rn. 103; Henssler in Habersack/Henssler SEBG, 4. Aufl. 2018, § 21 Rn. 57; Hoops Die Mitbestimmungsvereinbarung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2009, 177 (keine deckungsgleiche Weitergeltung); selbst Teichmann ZIP 2014, 1049, 1055 statuiert, dass es nicht lediglich darum gehen könne, das nationale Gesetz unverändert auf die SE zu übertragen. 54 Siehe Teichmann ZIP 2014, 1049, 1055. 55 Teichmann ZIP 2014, 1049, 1055.
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vom Schutz des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG umfasst. Diese Prägung ergebe sich zum einen aus dem Gesetzgebungsverfahren zum MitbestG, zum anderen habe auch das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung externer Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat in seiner Entscheidung56 über das Mitbestimmungsgesetz besonders hervorgehoben. Ihre Einbeziehung verhindere insbesondere einen „Betriebsegoismus“ seitens der internen Arbeitnehmervertreter und gewährleiste die Entsendung von qualifizierten Aufsichtsratsmitgliedern.57 Die gesetzliche Konzeption des deutschen MitbestG unterstreiche darüber hinaus die „ordnungspolitische Bedeutung der Gewerkschaften“.58 Die innere Zusammensetzung der Arbeitnehmervertreterbank im Aufsichtsrat sei somit mit Blick auf die Gewerkschaftsvertreter als qualitative Komponente vom Schutzzweck des § 21 Abs. 6 SEBG erfasst.59 Diese Argumentation überzeugt nicht. Das folgt schon daraus, dass die Sitzgarantie für Gewerkschaften keine „entscheidende Prägung“ des deutschen Mitbestimmungsrechts ist, jedenfalls ist sie es heute – anders vielleicht noch Anfang der 1970er Jahre – nicht mehr. Die Rechtfertigung einer Sitzgarantie für Gewerkschaften durch ihre „ordnungspolitische Bedeutung“ ist mit Blick auf deren niedrigen durchschnittlichen Organisationsgrad von heute nur noch etwa 15% und die daraus folgende vergleichsweise geringe Legitimation schon generell nicht besonders überzeugend. Hinzu kommt, dass die Sitzgarantie der Gewerkschaften im konkreten Fall sogar durch nur eine einzige Gewerkschaftsmitgliedschaft im Unternehmen ausgelöst werden kann.60 Ungeachtet dessen darf man heute anders als möglicherweise noch in den 1970er Jahren an der„ordnungspolitischen Bedeutung“ der Gewerkschaften zweifeln. Gewerkschaften sind durch ihre Mitglieder legitimiert und handeln vornehmlich für diese. Sie handeln nicht staatsvertretend für alle Arbeitnehmer. Das belegt schon das gewandelte Verständnis der Tarifautonomie, die man heute als kollektiv ausgeübte Privatautonomie versteht.61 Es mag überdies zwar zutreffen, dass Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat typischerweise für ihre Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglieder gut qualifiziert sind. Die These, Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmerseite, die keine Gewerkschaftssitze einnehmen, seien typischerweise weniger oder nicht ausreichend qualifiziert, ist aber zweifelhaft. Umgekehrt können ge56
BVerfG Urteil v. 1.3.1979 – 1 BvR 532, 533/77, 419/78, 1 BvL 21/78, NJW 1979, 699. Vgl. Teichmann ZIP 2014, 1049, 1055 und 1057. 58 Teichmann ZIP 2014, 1049, 1055 und 1057. 59 So Teichmann ZIP 2014, 1049, 1055 und 1057. 60 Jacobs in Raiser/Veil/Jacobs Mitbestimmungsgesetz und Drittelbeteiligungsgesetz, 7. Aufl. 2020, § 7 Rn. 22. 61 Jacobs in Wiedemann Tarifvertragsgesetz, 8. Aufl. 2019, TVG Einleitung Rn. 6 ff., 322 und passim; zur insoweit nicht bestehenden Ordnungsfunktion des Tarifvertrags Einleitung Rn. 70 ff., § 4a Rn. 104 ff. 57
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werkschaftstaktische Überlegungen, die mit dem originären Unternehmensinteresse nicht stets deckungsgleich sein müssen, die Verhandlungen innerhalb des Aufsichtsrats belasten.62 Der auf einem patriarchalischen Ansatz der Mitbestimmungskommission von 1970 beruhende „Zwang“, externe Gewerkschaftsvertreter in den Aufsichtsrat zu wählen, wird deshalb im modernen Schrifttum abgelehnt: Reformvorschläge – unter anderem durch den Gutachter Raiser auf dem 66. Deutschen Juristentag – gehen dahin, im Mitbestimmungsgesetz de lege ferenda nur noch eine Möglichkeit vorzusehen, externe Gewerkschaftsvertreter in den Aufsichtsrat zu wählen.63 Überzeugend ist danach nur eine Lösung, bei der die Belegschaft selbst bestimmen kann, ob und gegebenenfalls welche Gewerkschaftsvertreter sie in den Aufsichtsrat wählen möchte.64 Der patriarchalische Ansatz des § 7 Abs. 2 MitbestG überzeugt deshalb schon für sich besehen nicht. Zu § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG in einem von der Autonomie der Parteien durchzogenen Gesetz passt er überhaupt nicht. bb) Schutz von Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer, nicht von Gewerkschaftsrechten Im Übrigen gilt: Selbst, wenn man den besonderen Stellenwert von Sitzgarantien der Gewerkschaften im Aufsichtsrat im nationalen Mitbestimmungsrecht nicht in Frage stellt,65 berührt er jedenfalls nicht die Auslegung von § 21 Abs. 6 Abs. 1 SEBG. Der Zweck des Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG und des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG, eine Flucht aus der Mitbestimmung bei der Gründung einer SE durch Umwandlung zu verhindern, bezieht sich nämlich – hält man den Wortlaut insoweit für unklar – schon nach der eingangs herausgearbeiteten Regel der arbeitnehmerrechte- und nicht gewerkschaftsrechtefreundlichen Auslegung alleine auf den Schutz von Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer und nicht auf mögliche nationale Gewerkschaftsrechte wie eine Sitzgarantie, mithin also nicht auf eine gewerkschaftliche Machtposition im Unternehmen.66 62 Vgl. etwa zu den Verhandlungen um die Einführung des Sieben-Tage-Schichtmodells bei IBM Schneevoigt ZfA 2005, 236 ff.; zustimmend Henssler in Habersack/Henssler MitbestG, 4. Aufl. 2018, § 7 Rn. 56. 63 Ausführlich Raiser Gutachten B für den 66. DJT, Bd. I, 2006, S. 95 ff. mwN.; ihm folgend z.B. Henssler in Habersack/Henssler MitbestG, 4. Aufl. 2018, § 7 Rn. 13, 56. 64 Henssler in Habersack/Henssler MitbestG, 4. Aufl. 2018, § 7 Rn. 56. 65 ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607, Rn. 104: Gewerkschaftsvertreter können „im Aufsichtsrat bei der Ausübung ihrer Kontrollfunktion als Dritte möglicherweise anderes agieren […] als abhängig Beschäftigte“. 66 Im Ergebnis ebenso Forst Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG, 2010, 204; Habersack in 10 Jahre SE. Erreichter Stand – verbleibende Anwendungsfragen – Perspektiven (Hrsg.: Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Wittig), 2015, 9, 21 f.; Henssler in Habersack/ Henssler SEBG, 4. Aufl. 2018, § 21 Rn. 58; Löw/Stolzenberg NZA 2016, 1489, 1496; Oetker in
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Eine Sitzgarantie für Gewerkschaften in der SE bei einer SE-Gründung durch Umwandlung muss deshalb durch die Arbeitnehmer über den Abschluss einer Beteiligungsvereinbarung legitimiert sein. Sie kann, muss aber nicht vereinbart werden. Die Gegenauffassung schwächt die Rechte der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsorgan, wenn die Parteien in der Beteiligungsvereinbarung von einer Sitzgarantie der Gewerkschaften bewusst absehen, diese ihnen aber von § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG aufgezwungen wird und damit weniger Sitze im Aufsichtsorgan für die Arbeitnehmer der an der SE-Gründung beteiligten Unternehmen zur Verfügung stehen. Die Sitzgarantie für Gewerkschaften ist eine Einrichtung des nicht von der Autonomie der Parteien geprägten deutschen Mitbestimmungsrechts, die das ganz anders konzipierte SEBG für die Vereinbarungslösung nicht vorsieht.67 cc) Ausreichender Schutz durch gesetzliche Auffangregelung Außerdem ist bei der Ermittlung des Zwecks des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG zu beachten, dass es sich bei der Beteiligungsvereinbarung – auch insoweit ist erneut auf die Autonomie der Parteien hinzuweisen – um eine freiwillige Übereinkunft zwischen dem Arbeitgeber und dem bVG handelt.68 Ein über das Eingreifen der gesetzlichen Auffanglösung nach §§ 34 ff. SEBG im Falle des Scheiterns der Verhandlungen hinausgehender Schutz auch bei der Vereinbarungslösung ist nach dem gesetzgeberischen Willen gerade nicht erforderlich.69 dd) Prozeduraler Schutz der Gewerkschaften über die Zusammensetzung des bVG Gegen einen Bestandsschutz spricht schließlich der schon angesprochene prozedurale Schutz, der den Gewerkschaften bereits durch §§ 5 ff. SEBG zur Zusammensetzung des bVG gewährt wird.70 Die Stellung der Gewerkschaften wird somit bereits in diesem Verfahrensschritt ausreichend berücksich-
FS Konzen, 2006, 657; Ramcke Die Konkretisierung des Missbrauchsverbots der SE zum Schutz von Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer, 2015, 419 f.; Scheibe Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE unter besonderer Berücksichtigung des monistischen Systems, 2007, S. 149; Schmid Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2010, 185; Seibt in Habersack/Drinhausen SE-Recht, 2. Aufl. 2016, Art. 40 SE-VO Rn. 71 (Arbeitnehmervertretungsschutz); Seibt ZIP 2010, 1057, 1063; Schubert EWiR 2019, 107, 108. 67 Deilmann/Häferer NZA 2017, 607, 613; Otte-Gräbener GWR 2018, 448, 448. 68 ArbG Mannheim Beschl. v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BeckRS 2017, 149607, Rn. 105. 69 LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 138. 70 Forst Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG, 2010, 204; Schubert EWiR 2019, 107, 108.
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tigt.71 Ihr Einfluss auf die Machtverhältnisse im bVG beeinflusst auch die Zielsetzung des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG. Aus § 6 Abs. 3 SEBG folgt, dass der unmittelbare Gewerkschaftseinfluss nach dem Willen des Gesetzgebers nur im bVG erfolgen soll72 und nicht über § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG vermittelt auch im Aufsichtsorgan der SE, wenn eine entsprechende Abrede nicht freiwillig erfolgt oder die gesetzliche Auffangregelung mit § 36 Abs. 3 Satz 2 SEBG eingreift. Nichts anderes folgt aus Art. 3 Abs. 2 lit. b RL 2001/86/EG und Erwägungsgrund Nr. 19 RL 2001/86/EG. Der Richtliniengeber anerkennt zwar eine besondere Rolle der Gewerkschaften für das bVG, nicht aber darüber hinaus.73
IV. Zusammenfassung Nach einer Auslegung von § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG anhand des Wortlauts, der Systematik, der Entstehungsgeschichte und des Telos der Norm unter Berücksichtigung der RL 2001/86/EG steht fest, dass der dort normierte Bestandsschutz bei einer SE-Gründung durch Umwandlung nicht die Sitzgarantie der Gewerkschaften nach § 7 Abs. 2 MitbestG erfasst.
neue rechte Seite! 71 Forst, Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG, 2010, 204; Schubert EWiR 2019, 107, 108; dagegen jedoch wiederum Teichmann ZIP 2014, 1049, 1056. 72 Forst Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG, 2010, 204; Thüsing, ZIP 2010, 1469, 1473; zustimmend Löw/Stolzenberg NZA 2016, 1489, 1496. 73 Vgl. LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 9.10.2018 – 19 TaBV 1/18, BeckRS 2018, 28724, Rn. 130.
CSR-Berichterstattung über Arbeitnehmerbelange
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CSR-Berichterstattung über Arbeitnehmerbelange Rüdiger Krause
CSR-Berichterstattung über Arbeitnehmerbelange zwischen heteronomen Marktimpulsen und autonomen Lernprozessen RÜDIGER KRAUSE
I. Einführung Die zunehmende Ausdifferenzierung der verschiedenen Teildisziplinen des Rechtssystems macht vor dem Gesellschaftsrecht und dem Arbeitsrecht nicht halt, obwohl beide Rechtsgebiete trotz unterschiedlicher Herangehensweisen dasselbe Problem bewältigen müssen, nämlich für den unternehmerischen Einsatz der beiden aufeinander angewiesenen zentralen Produktionsfaktoren „Kapital“ und „Arbeit“ einen angemessenen Rechtsrahmen bereitzustellen. Dieser Trend zur Verselbstständigung der einzelnen Rechtsmaterien birgt die Gefahr, dass es in der Rechtsordnung zu Inkohärenzen oder gar zu Wertungswidersprüchen kommt. Christine Windbichler hat einer solchen Abschottung der Fachdiskurse stets entgegengewirkt1 und bewegt sich seit jeher, beginnend mit der die seinerzeitige „terra incognita“ des Konzernarbeitsrechts2 erstmals umfassend erschließenden Habilitationsschrift,3 mühelos in beiden Welten. Vor diesem Hintergrund darf ein Beitrag auf das Interesse der geschätzten Jubilarin hoffen, der sich mit der von ihr zwar schon wiederholt4 thematisierten, im Arbeitsrecht dagegen bislang kaum zur Kenntnis genommenen sog. nichtfinanziellen Berichterstattung beschäftigt und dabei die Aufmerksamkeit vor allem auf die Information über Arbeitnehmerbelange lenkt.
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Für eine „Selbstbeschreibung“ der Jubilarin siehe ZfA 1996, 1. So Wiedemann/Strohn Anm. zu BAG, AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 3. 3 Vgl. Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989 (dort allerdings gegen die Vorstellung eines speziellen Konzernarbeitsrechts); ebenso nochmals dies. NZG 2018, 1241 ff. 4 Windbichler in FS Seibert, 2019, 1131, 1136 ff.; dies. RW 2019, 34, 43 ff., 47 f. 2
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II. Kontext der arbeitnehmerbezogenen CSR-Berichterstattung Die durch die CSR-Richtlinie 2014/95/EU vorgegebene und durch das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz von 2017 in das deutsche Recht implementierte nichtfinanzielle Berichterstattung ist eine Frucht der Corporate Social Responsibility-Bewegung, die um den nicht leicht fassbaren Gedanken einer Verantwortung von Unternehmen für ihre Geschäftstätigkeit gegenüber ihrer Umwelt kreist. Manche wollen die Wurzeln dieser Idee bis auf die europäische Antike zurückverfolgen,5 während andere ihren Ursprung in den 1930er Jahren in den USA sehen6. Größere Fahrt hat das Thema CSR aber zweifellos erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen.7 Dabei handelt es sich keineswegs um eine rein oder auch nur vorwiegend rechtsbezogene Materie. Vielmehr bezeichnet der Schlüsselbegriff CSR ein zerklüftetes Feld heterogener Initiativen und Ansätze, das schon seit langem aus ökonomischer, politologischer, soziologischer und ethischer Perspektive beleuchtet wird,8 während sich das deutsche Gesellschaftsrecht diesem Thema erst in jüngerer Zeit geöffnet hat.9 Verbindungslinien des CSR-Konzepts und damit auch der nichtfinanziellen Berichterstattung lassen sich insbesondere zum politischen Leitbild der Nachhaltigkeit („Sustainability“) ziehen,10 das durch einen Dreiklang ökonomischer, ökologischer und sozialer Ziele („People, Planet, Profit“) weltweit zu stabileren Verhältnissen führen soll.11 Nicht vernachlässigt werden sollte schließlich auch die Überlappung der CSR-Bewegung mit der ausgesprochen dynamischen Menschenrechtsbewegung, die nicht nur die Verantwortung staatlicher Akteure für die Achtung und den Schutz von Menschenrechten einfordert,
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Eberstadt 7 Business & Society Review/Innovation 76 ff. (1973). Wells 51 Kansas Law Review 77 ff. (2002). 7 Als wesentlicher Auslöser gilt Bowen Social Responsibilities of the Businessman, 1953; zur Entwicklung seit den 1950er Jahren eingehend Carroll 38 Business & Society 268 ff. (1999). 8 Aus der unüberschaubaren Literatur statt aller Spießhofer Unternehmerische Verantwortung: Zur Entstehung einer globalen Wirtschaftsordnung, 2017, mit treffendem Verweis auf die „konzeptionelle Anarchie“ (28). 9 Siehe Fleischer AG 2017, 509 ff.; Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.) Corporate Social Responsibility, 2018; Mülbert AG 2009, 766 ff.; distanziert Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 76 Rn. 35: „zeitgeistiges Schlagwort“. 10 Walden NZG 2020, 50, 51 f.; ferner Huck/Kurkin ZaöRV 2018, 375, 407, im Zusammenhang mit den UN-Sustainable Development Goals der im Jahr 2015 verabschiedete Agenda 2030 der Vereinten Nationen. 11 Vgl. Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt, BT-Drs. 13/11200; aus dem reichhaltigen Schrifttum etwa Ekardt Theorie der Nachhaltigkeit, 2. Aufl. 2016; Gehne Nachhaltige Entwicklung als Rechtsprinzip, 2011; Kahl (Hrsg.) Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008. 6
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sondern insoweit auch transnationale Unternehmen zunehmend ins Visier nimmt.12 In einem engeren Sinne ausgelöst worden ist die obligatorische nichtfinanzielle Berichterstattung durch die CSR-Strategie der Europäischen Union, die ihren Ausgang im Grünbuch der Kommission über die soziale Verantwortung von Unternehmen von 200113 sowie der dazugehörigen Mitteilung von 200214 genommen hat und die über den Zwischenschritt der einschlägigen Mitteilung von 200615 in die Mitteilung von 2011 über eine „neue EU-Strategie für die soziale Verantwortung der Unternehmen“ eingemündet ist. Darin wurde – beflügelt wohl auch durch die wenige Monate zuvor vom UN-Menschenrechtsrat verabschiedeten Leitprinzipen für Wirtschaft und Menschenrechte16 – erstmals die Einführung einer Rechtsvorschrift über die Offenlegung von sozialen und ökologischen Informationen durch Großunternehmen in Aussicht gestellt.17 Vor diesem Hintergrund lässt sich die verpflichtende Einführung der nichtfinanziellen Berichterstattung mit Fug und Recht als „Brückenkopf des CSR-Konzepts“18 begreifen, durch den eine Materie, die ursprünglich allein durch freiwilliges Handeln jenseits des Rechts geprägt war19 und die sich deshalb weitgehend außerhalb der Wahrnehmung durch die Rechtswissenschaft bewegte, entsprechend einer allgemeinen Bewegungsrichtung20 in einem nicht unerheblichen Maße verrechtlicht worden ist.
III. Wesentliche Regelungsgehalte der arbeitnehmerbezogenen CSR-Berichterstattung Die Pflicht zur nichtfinanziellen Berichterstattung betrifft im Wesentlichen kapitalmarktorientierte Großunternehmen mit mehr als 500 Arbeitnehmern und gilt nach Schätzungen europaweit für ca. 6.000 und in 12 Überblick bei Kaleck/Saage-Maaß Unternehmen vor Gericht: Globale Kämpfe für Menschenrechte, 2016; vertiefend Krajewski/Oehm/Saage-Maaß Zivil- und strafrechtliche Unternehmensverantwortung für Menschenrechtsverletzungen, 2018; zu den ideengeschichtlichen Wurzeln Menke/Raimondi (Hrsg.) Die Revolution der Menschenrechte, 2011. 13 KOM(2001) 366 endg. 14 KOM(2002) 347 endg. 15 KOM(2006) 136 endg. 16 Vgl. Nr. 3 Buchst. d: Einführung einer obligatorischen Menschenrechtsberichterstattung für Unternehmen als Teil der staatlichen Schutzpflicht. 17 KOM(2011) 681 endg., 14 f. 18 Fleischer ZGR 2018, 203, 204. 19 Überspitzt Mülbert AG 2009, 766, 774: „Nische der sozio-romantischen Philanthropie“. 20 Vgl. Kübler Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1984; Zürn/Zangl Verrechtlichung – Baustein für Global Governance?, 2004.
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Deutschland für ca. 550 Unternehmen.21 Als Gegenstand der Berichtspflicht nennt § 289c Abs. 2 Nr. 2 HGB im Einklang mit Art. 19a Abs. 1 UAbs. 1 RL 2013/34/EU i.d.F. der Änderungs-RL 2014/95/EU u.a. „Arbeitnehmerbelange“, wobei das Gesetz in Anlehnung an Erwägungsgrund 7 RL 2014/ 95/EU mehrere Aspekte als Beispiele auflistet, so die Arbeitsbedingungen, die Achtung verschiedener Rechte der Arbeitnehmerseite sowie die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. Zu diesen Aspekten sollen gemäß § 289c Abs. 3 Eingangssatz HGB in der nichtfinanziellen Erklärung diejenigen Angaben gemacht werden, die für das Verständnis der Geschäftstätigkeit und der Geschäftslage der Gesellschaft, aber auch für das Verständnis der Auswirkungen der Tätigkeit auf diese Belange erforderlich sind. Hierzu rechnet das Gesetz nach § 289c Abs. 3 Nr. 1 bis 4 HGB ausdrücklich die von der Gesellschaft im Hinblick auf die Aspekte verfolgten Konzepte einschließlich der Due-Diligence-Prozesse, das Ergebnis dieser Konzepte und schließlich die wesentlichen Risiken der eigenen Geschäftstätigkeit inklusive der Geschäftsbeziehungen der Gesellschaft sowie ihrer Produkte und Dienstleistungen, sofern daraus sehr wahrscheinlich schwerwiegende negative Auswirkungen auf die erwähnten Umstände erwachsen. Wie sich aus § 289c Abs. 4 HGB unmissverständlich ergibt, schafft das Gesetz allerdings keine unmittelbare Rechtspflicht zur Aufstellung und Implementierung von CSR-Politiken.22 Vielmehr steht es den erfassten Unternehmen rechtlich frei, von der Ausarbeitung entsprechender Konzepte abzusehen. Für diesen Fall muss die Gesellschaft ihr Vorgehen in der nichtfinanziellen Erklärung nach § 289c Abs. 4 HGB indes klar und begründet erläutern. Insoweit verfolgt das Gesetz im Anschluss an Art. 19a Abs. 1 UAbs. 2 RL 2013/34/EU i.d.F. der Änderungs-RL 2014/95/EU mithin einen „report or explain“Ansatz,23 etabliert also einen Zwang, das Unterlassen einer eigenen CSRPolitik öffentlich zu rechtfertigen.
IV. Zielsetzungen der arbeitnehmerbezogenen CSR-Berichterstattung Wie jede andere Berichterstattung verfolgt die verpflichtende nichtfinanzielle Erklärung keinen Selbstzweck, sondern dient weiteren Zielen, wobei eine nähere Betrachtung freilich gewisse Unterschiede zur herkömmlichen finanziellen Rechnungslegung offenbart. 21
Hennrichs ZGR 2018, 206, 209 f. Zur Gleichsetzung von „Konzepten“ mit „Politiken“ siehe Kolter RW 2019, 50, 79, unter Hinweis auf den Kommissionsentwurf COM(2013) 207 final, 13, sowie vor allem die englische bzw. französische Sprachfassung der CSR-Richtlinie, in denen von „policy“ bzw. „politique“ die Rede ist. 23 Zum vergleichbaren Regelungsansatz des „comply or explain“ umfassend Leyens ZEuP 2016, 388 ff. 22
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1. Kompensation von Markt- und Regulierungsversagen Als erstes erklärtes Ziel lässt sich die Verbesserung der Transparenz über die sozialen und ökologischen Aspekte der Geschäftstätigkeit der betroffenen Unternehmen sowie der Vergleichbarkeit der CSR-Berichte ausmachen.24 Diese Zwecksetzung gründet sich auf die Überlegung, dass es vor allem bei Investoren und Verbrauchern zwar eine Nachfrage nach Informationen über die CSR-Performance von Unternehmen geben würde, die Gesellschaften aufgrund des nicht genau abschätzbaren Nutzens aber keine hinreichenden Anreize hätten, die einschlägigen Informationen mit einem nicht ganz unerheblichen administrativen und finanziellen Aufwand zu sammeln und strukturiert darzustellen. Unter diesem Blickwinkel zielt die Einführung einer verpflichtenden CSR-Berichterstattung somit darauf ab, einem Marktversagen beim Abbau von Informationsasymmetrien zwischen den Unternehmen einerseits und den Stakeholdern andererseits entgegenzuwirken.25 Auf der europäischen Ebene tritt der Aspekt hinzu, dass es in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union schon seit längerem voneinander abweichende Regelungen über das CSR-Reporting gibt, sodass eine europäische Regulierung zu einer Vereinheitlichung dieser Verpflichtungen beiträgt, was nicht nur im Interesse der Adressaten der nichtfinanziellen Erklärung, sondern bis zu einem gewissen Grade auch im Interesse der betroffenen Unternehmen bzw. Konzerne liegt, die häufig in unterschiedlichen Mitgliedstaaten tätig sind.26 Aus dieser Perspektive bezweckt die obligatorische CSR-Berichterstattung demnach auch die Heilung eines Regulierungsversagens.27 2. Einflussnahme auf die Unternehmenspolitik Für die Gesamteinschätzung bedeutsamer ist aber, ob und in welchem Umfang mit der Berichtspflicht auch die tatsächlich verfolgte Unternehmenspolitik selbst beeinflusst werden soll. Insoweit lassen sich drei Fragen abschichten: Erstens die prinzipielle Frage nach einer Anreicherung der bei unternehmerischen Entscheidungen zu berücksichtigenden Umstände, zweitens die nähere Bestimmung des Verhältnisses von ökonomischen As24 Erwägungsgründe 4, 6, 15 und 21 RL 2014/95/EU; siehe auch Hennrichs ZGR 2018, 206, 209. 25 Vgl. Begleitunterlage der Kommissionsdienststellen zum CSR-Richtlinienentwurf, SWD(2013) 128 final, 3. Den marktbezogenen Abbau von Informationsasymmetrien betonend auch Roth-Mingram Corporate Social Responsibility in der Sozialen Marktwirtschaft, 2016, 177 ff., 217. 26 Erwägungsgrund 4 RL 2014/95/EU. 27 Vgl. Begleitunterlage der Kommissionsdienststellen zum CSR-Richtlinienentwurf, SWD(2013) 128 final, 3.
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pekten einerseits und sozialen sowie ökologischen Belangen andererseits sowie drittens der Grad der Verbindlichkeit der Verfolgung einer CSRPolitik auf Unternehmensebene. Dass es dem Richtliniengeber mit der Einführung der CSR-Berichterstattung nicht nur darum ging, die Informationslage über den Ist-Zustand im Interesse der Stakeholder der Gesellschaft zu verbessern, sondern auch darum, auf einen politisch erwünschten Soll-Zustand hinzuwirken, indem soziale und ökologische Belange stärker in der jeweiligen Geschäftstätigkeit verankert werden, wird man nicht in Abrede stellen können.28 Dies ist nicht zuletzt deshalb hervorzuheben, weil in der Binnenmarktakte von 2011, in der die Kommission soweit ersichtlich erstmals die Idee einer verpflichtenden Offenlegung von Sozial- und Umweltaspekten aufgegriffen hat, der Eindruck erweckt wird, als bestünde das Regulierungsziel im Wesentlichen nur darin, denjenigen Unternehmen unter die Arme zu greifen, die sich bereits dafür entschieden hätten, das „reine Profitdenken“ hinter sich zu lassen, indem ihnen durch eine erhöhte Transparenz der Weg zu den Finanzierungsmöglichkeiten der europäischen Vermögensverwaltungsbranche geebnet werden solle.29 Schon die CSR-Mitteilung von 201130 und der Kommissionsvorschlag für eine CSR-Richtlinie von 2013,31 noch stärker dann aber die CSR-Richtlinie von 2014 selbst verdeutlichen indes, dass der politische Wille nicht lediglich dahin geht, eine Veränderung von Unternehmenspolitiken im Sinne einer stärkeren Rücksichtnahme auf soziale und ökologische Aspekte, die sich außerhalb jeder staatlichen Regulierung schon auf breiter Front vollzogen hat, gleichsam „nachlaufend“ zu flankieren, sondern auf eine solche Veränderung auch bei denjenigen Unternehmen hinzuwirken, die dieser Entwicklung noch hinterherhinken. In diesem Sinne begreift Erwägungsgrund 3 RL 2014/95/EU im Anschluss an die politisch weit ausgreifenden Entschließungen des Europäischen Parlaments von 201332 die Angabe nichtfinanzieller Informationen als wesentliches Element der Bewältigung des Übergangs zu einer nachhaltigen globalen Wirtschaft. Anders wäre es auch kaum zu erklären, warum die CSR-Berichterstattung die von den Unternehmen in Bezug auf die verschiedenen Belange verfolgten „Konzepte“ einschließlich ihrer Resultate in den Mittelpunkt rückt und
28 Siehe BT-Drs. 18/9982, 26, 47; ferner etwa Bachmann ZGR 2018, 231, 244; Blöink/ Halbleib Konzern, 2017, 182, 187; Fleischer AG 2017, 509, 522; Mock ZIP 2017, 1195, 1196; Rehbinder in FS Baums, Bd. II, 2017, 959, 963; Simons ZGR 2018, 316, 330; Vetter in FS Marsch-Barner, 2018, 559, 563; Windbichler in FS Seibert, 2019, 1131, 1136; pointiert Ekkenga in FS Vetter, 2019, 115, 116: „staatliche Wohlfahrtsförderung auf Kosten privater Anlegermittel“. 29 Vgl. KOM(2011) 206 endg., 17. 30 KOM(2011) 681 endg. 31 COM(2013) 207 final. 32 Abgedruckt u.a. in ABlEU 2016, Nr. C 24/28 und C 24/33.
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zugleich anordnet, dass ein Unterlassen in dieser Hinsicht klar und begründet erläutert werden muss. Indem den Unternehmen für diesen Fall gewissermaßen ein öffentliches „mea culpa“ abverlangt wird, soll ein Handlungsdruck aufgebaut werden, ein solches Eingeständnis tunlichst zu vermeiden, also eine CSR-Politik zu betreiben. Diese Stoßrichtung der nichtfinanziellen Berichterstattung wäre freilich nur von nachgeordneter Bedeutung, wenn das Ziel der stärkeren Integration sozialer und ökologischer Belange in die Unternehmenspolitik letztlich doch wieder nur die Verbesserung der ökonomischen Performance der Gesellschaft wäre, die Verfolgung sozialer und ökologischer Aspekte also nur Mittel zum Zweck wäre (CSR als bloßer „Business Case“). Tatsächlich stellt die soeben erwähnte Binnenmarktakte die Einbeziehung gesellschaftlichsozialer Erwägungen in die Geschäftstätigkeit ausdrücklich in einen Zusammenhang mit der Entstehung neuer Geschäftsmodelle.33 Darüber hinaus ist in der Begleitunterlage der Kommissionsdienststellen zum CSR-Richtlinienentwurf davon die Rede, dass das übergeordnete politische Ziel des Vorschlags darin besteht, das Potenzial des Binnenmarkt zur Schaffung von nachhaltigem Wachstum und Beschäftigung zu erhöhen sowie eine effizientere Kapitalallokation zu ermöglichen.34 Von dieser Warte aus erscheint es fast so, als sollten die betroffenen Unternehmen „zu ihrem Glück gezwungen“, zu einer stärkeren Berücksichtigung sozialer und ökologischer Belange also aus paternalistischen Gründen gedrängt werden. Zumindest aber erweckt das neu eingeführte CSR-Reporting danach den Eindruck, als würde es lediglich um eine inkrementelle Weiterentwicklung bisheriger Regulierungsansätze und nicht um einen Spurwechsel gehen.35 Immerhin müssen nichtfinanzielle Leistungsindikatoren und dabei namentlich Umwelt- und Arbeitnehmerbelange bereits seit dem Bilanzrechtsreformgesetz von 2004 entsprechend der Vorgabe der Modernisierungs-RL 2003/51/EG in den Lagebericht großer Kapitalgesellschaften aufgenommen werden, soweit sie für das Verständnis des Geschäftsverlaufs oder der Lage der Gesellschaft von Bedeutung sind. Dabei ging es seinerzeit um eine Analyse ökologischer und sozialer Aspekte mit dem Ziel, die langfristige Geschäftslage der Gesellschaft besser beurteilen zu können, nicht aber um den Versuch einer Umsteuerung unternehmerischer Entscheidungen.36 Dementsprechend ist in den Erwägungsgründen der RL 2003/ 51/EG von einer sozialen Verantwortung von Unternehmen nicht die Rede. Obgleich die aktuelle CSR-Berichterstattung quantitativ über die früheren Regelungen deutlich hinausgeht und insbesondere auch die Zuliefererbeziehungen umfasst, würde sie qualitativ deshalb wenig Neues bringen, wenn als 33
KOM(2011) 206 endg., 17. SWD(2013) 128 final, 4. 35 In diesem Sinne Hennrichs ZGR 2018, 206, 216 ff. 36 Vgl. Erwägungsgrund 9 RL 2003/51/EG. 34
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Orientierungspunkt der nichtfinanziellen Erklärung und damit auch der Konzepte zur Verfolgung sozialer und ökologischer Aspekte letztlich nach wie vor lediglich die Geschäftsdienlichkeit anzusehen wäre. Indes wird man jedenfalls die endgültige CSR-Richtlinie dahin zu interpretieren haben, dass sie soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz als eigenständige Ziele unternehmerischen Handeln qualifiziert, diese Aspekte also nicht nur instrumental zur Erzielung einer langfristigen Rentabilität begreift.37 Mit der CSR-Berichterstattung soll somit auf europäischer Ebene eine nicht unerhebliche Verschiebung der Ausrichtung wirtschaftlicher Aktivitäten vorangetrieben werden, die es durchaus rechtfertigt, von einem Paradigmenwechsel38 zu sprechen. Zwar trifft es zu, dass eine zunehmende Anzahl von Unternehmen in den letzten Jahren von sich aus Nachhaltigkeitsberichte erstellt und veröffentlicht hat, sodass sich durch die Neuregelungen in der Praxis auf den ersten Blick jedenfalls für die DAX-Unternehmen wenig geändert hat.39 Der qualitative Sprung hin zu einer rechtlichen Pflicht, sich über die eigenen Konzepte zur Verfolgung sozialer und ökologischer Belange öffentlich erklären oder aber das Unterlassen solcher Konzepte öffentlich rechtfertigen zu müssen, sollte aber nicht unterschätzt werden. Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob sich durch das CSR-Reporting die Ziele der erfassten Gesellschaften auch rechtsverbindlich geändert haben, was folgerichtig mit einer modifizierten Pflichtenbindung der Gesellschaftsorgane gemäß §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1, 116 AktG einherginge. Mit einer Mehrheit im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum wird man diese prominent vorgetragene Sichtweise40 zu verneinen haben.41 In der Tat lassen es die CSR-Richtlinie sowie nachfolgend § 289c HGB bei einer bloßen Berichtspflicht bewenden und schreiben – anders als die in ihren wesentlichen Teilen ab 2021 geltende sog. Konfliktmineralien-Verordnung42 – kein bestimmtes Management vor. Auch wenn man nach den obigen Ausführungen eine mittelbare Steuerung des Unternehmensverhaltens in Richtung auf eine stärkere Berücksichtigung sozialer und ökologischer Aspekte nicht bezwei37
Siehe insbesondere Erwägungsgrund 3 RL 2014/95/EU. So Spießhöfer NZG 2014, 1241, 1242; ähnlich Ekkenga in FS Vetter, 2019, 115, 116; Rehbinder in FS Baums, Bd. II, 2017, 959, 970. 39 Zur Empirie der nichtfinanziellen Berichterstattung nach dem Inkrafttreten des CSRRichtlinie-Umsetzungsgesetzes Kajüter/Wirth DB 2018, 1605, 1606 ff.; Wiedmann/Greubel BB 2018, 1027, 1028 f. 40 Hommelhoff in FS Kübler, 2015, 291, 296 ff.; ebenso ders. in FS von HoyningenHuene, 2014, 137 ff.; ders. NZG 2015, 1329, 1330; ders. NZG 2017, 1361 ff. 41 Bachmann ZGR 2018, 231, 236 f.; Fleischer AG 2017, 509, 522; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 76 Rn. 35d; Paefgen in FS Seibert, 2019, 629, 650 f.; Rehbinder in FS Baums, Bd. II, 2017, 959, 960; Schön ZHR 180 (2016), 279, 287 f. 42 Vgl. Art. 4 und 5 VO (EU) 2017/821; dazu etwa Heße/Klimke EuZW 2017, 446 ff.; Teicke/Rust CCZ 2018, 39 ff. 38
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feln kann und manche sogar von einer erzieherischen Funktion der Regelung sprechen wollen,43 bleibt es doch dabei, dass die betroffenen Gesellschaften bzw. ihre Organe, wenn auch um den Preis einer institutionell wie persönlich reputationsschädigenden Erklärung gegenüber der Öffentlichkeit, dem Renditedenken nach wie vor einen vergleichsweise großen Raum zubilligen dürfen. Insoweit macht sich bemerkbar, dass die CSR-Richtlinie keine rechtsverbindliche Neudefinition des zulässigen Unternehmensziels vorgenommen hat, sondern das politische Ziel einer Umsteuerung unternehmerischen Handelns im Sinne einer Verbindung von Rentabilität, sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz lediglich über den Weg eines „Nudging“44 anstrebt. Die „Revolution übers Bilanzrecht“45 hat somit nicht stattgefunden.46 Die CSR-Bewegung hat sich zwar bis in das Rechnungslegungsrecht vorgearbeitet, lagert aber weiter vor den Toren des eigentlichen Gesellschaftsrechts. 3. Arbeitnehmerbelange als Gegenstand der intendierten CSR-Politik Die obligatorische CSR-Berichterstattung und damit auch das eigentliche Ziel einer dahingehenden Unternehmenspolitik umfasst wie erwähnt u.a. „Arbeitnehmerbelange“. Betrachtet man diese Belange näher, zeigt sich, dass hiervon heterogene Aspekte umfasst werden. Dies betrifft zunächst das Verhältnis zur Compliance, bei der es vereinfacht gesagt um die Einhaltung des geltenden Rechts geht.47 Nach der gesetzlichen Struktur ist nur die Berichtspflicht selbst verbindlich, während die Formulierung und Implementierung der jeweiligen CSR-Konzepte gerade nicht verbindlich vorgeschrieben wird. Das korrespondiert mit der herkömmlichen Sichtweise, nach der CSR ein freiwilliges Engagement von Unternehmen jenseits ohnehin einzuhaltender rechtlicher Verpflichtungen („beyond compliance“) bezeichnet.48 Bei genauerem Hinsehen verschwim43 Hennrichs ZGR 2018, 206, 209; Müller-Graff ZHR 177 (2013), 563, 574; noch drastischer Ekkenga in FS Vetter, 2019, 115, 116: „Umerziehung“. 44 So Schneider NZG 2019, 1369, 1374; Seibt DB 2016, 2707, zum Nudging grdl. Thaler/Sunstein Nudge, 2008; aus dem deutschsprachigen Schrifttum etwa Purnhagen/Reisch ZEuP 2016, 629 ff.; Weber/Schäfer Der Staat 56, 2017, 561 ff.; Wolff RW 2015, 194 ff.; monographisch Gerg Nudging, 2019. 45 So Hommelhoff in FS Kübler, 2015, 291. 46 Ob die autonom entwickelten und verlautbarten Schutzkonzepte der Gesellschaft ihrerseits eine Art Bindungswirkung entfalten, soll hier nicht thematisiert; dagegen etwa Fleischer/Korch ZIP 2019, 2181, 2190; Weller/Kaller/Schulz AcP 216 (2016), 387, 411. 47 Dazu (unter Betonung der unterschiedlichen Verbindlichkeitsgrade) auch Spießhofer NZG 2018, 441 ff. 48 Vgl. exemplarisch das Grünbuch der Kommission über die soziale Verantwortung der Unternehmen, KOM(2001) 366 endg., 3. Kritisch unter dem Blickwinkel einer (neoliberalen) Funktionalisierung moralischer Kategorien unter die Marktlogik insbesondere Shamir 37 Economy and Society 1 ff. (2008); ders. 9 Theoretical Inq. L. 371 ff. (2008):
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men diese Grenzen freilich. So ist etwa das Thema Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz als berichtspflichtiger Arbeitnehmerbelang weitgehend normativ durchgeformt. Darüber hinaus ist in § 289c Abs. 2 Nr. 2 HGB in Anlehnung an Erwägungsgrund 7 RL 2014/95/EU ausdrücklich von der „Achtung der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, informiert und konsultiert zu werden“ sowie von der „Achtung der Rechte der Gewerkschaften“ die Rede. Obgleich diese Rechte nicht näher spezifiziert werden,49 kann man diese Formulierungen kaum anders verstehen, als dass auch die Beachtung existierender Rechte der Arbeitnehmerseite als Bestandteil etwaiger CSR-Politiken begriffen wird. Dies entspricht der „neuen“ Definition von CSR, die von der Kommission in ihrer Mitteilung von 2011 vorgelegt worden ist und die auch die Einhaltung geltender Rechtsvorschriften sowie der zwischen den Sozialpartnern bestehenden Tarifverträge einbezieht.50 Folgerichtig wird im Schrifttum angenommen, dass Gesetzesverstöße in den relevanten Bereichen in die CSR-Erklärung aufzunehmen sind.51 Die nichtfinanzielle Berichterstattung verfolgt somit ein Ziel, das sich partiell mit der allgemeinen Compliance deckt. Das CSR-Reporting lässt sich daher auch als ein Hilfsinstrument für ein effektiveres Enforcement des die betroffenen Unternehmen bindenden Arbeitsrechts begreifen.52 Allerdings ist in Rechnung zu stellen, dass es nicht nur um die Arbeitnehmerbelange in den unmittelbar betroffenen Unternehmen bzw. Konzernen geht, sondern auch und gerade um die Risiken für diese Belange im Zusammenhang mit den Geschäftsbeziehungen, Produkten und Dienstleistungen der Gesellschaft, also kurz um die Risiken für die Beschäftigten in der Lieferkette, ohne dass insoweit eine regionale Eingrenzung auf die EU vorgenommen wird.53 Damit geraten die Zustände in Unternehmen insbesondere im globalen Süden ins Blickfeld, die mit den berichtspflichtigen Unternehmen nur vertraglich verbunden sind oder sich sogar auf einer noch entfernteren Stufe der Wertschöpfungskette befinden. Werden jenseits der Unternehmensbzw. Konzerngrenzen („beyond corporation“) kollektive Arbeitnehmerrechte missachtet, wie sie etwa in den ILO-Übereinkommen Nr. 87 und 98 niedergelegt und als Teil der ILO-Kernarbeitsnormen von rund 140 Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind, handelt es sich zumindest im Ausgangspunkt lediglich „market-embedded morality“; generell positivere Sichtweise dagegen bei Stehr Die Moralisierung der Märkte, 2007. 49 Insoweit wenig weiterführend auch die Leitlinien der Kommission für die Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen, ABlEU 2017, Nr. C 215, 1, 15 f. 50 KOM(2011) 681 endg., 7. 51 Kolter RW 2019, 50, 54 f.; Rehbinder in FS Baums, Bd. II, 2017, 959, 967 f.; anders aber Merkt in Baumbach/Hopt HGB, 39. Aufl. 2020, § 289c Rn. 5: „CSR-Berichterstattung über gesetzliche Pflichten (kommt) nicht in Betracht.“. 52 Ebenso Simons ZGR 2018, 316, 317: „Steigerung der Rechtstreue“. 53 Vgl. Erwägungsgrund 8 RL 2014/95/EU; ferner etwa Hennrichs ZGR 2018, 206, 210.
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um eine – durch defizitäre staatliche Strukturen am Arbeitsort begünstigte – Rechtsverletzung seitens des Zulieferers, nicht aber um eine eigene Rechtsverletzung seitens des berichtspflichtigen Unternehmens bzw. Konzerns.54 Der Blick auf Lieferketten macht somit zunächst deutlich, dass mit dem einheitlichen Begriff der Arbeitnehmerbelange zwei sehr unterschiedliche Gruppen von Beschäftigten erfasst werden: So kann es zum einen um die Belange derjenigen Arbeitnehmer gehen, die im berichtspflichtigen Unternehmen bzw. Konzern selbst angestellt sind und die deshalb vergleichsweise intensiv dessen Zugriff unterliegen, zum anderen aber auch um die Belange derjenigen Beschäftigten, die lediglich bei Zulieferern tätig sind. Zugleich nimmt das CSRReporting hierdurch gezielt eine grenzüberschreitende Perspektive ein und will zu einer Effektivierung von grundlegenden Arbeitnehmerrechten beitragen, die in den Ländern des globalen Südens nicht selten missachtet werden. Die nichtfinanzielle Berichterstattung reiht sich damit in die Reihe derjenigen Instrumente ein, mit denen die zunehmend ins Bewusstsein rückenden Governance-Lücken bei transnationalen Lieferketten und Wertschöpfungsnetzwerken („Governance Gap“)55 geschlossen werden sollen56 und zu denen insbesondere auch die in jüngster Zeit lebhaft diskutierte deliktische Haftung von Konzernmüttern für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Tochterunternehmen und Zulieferer gehört,57 mag das im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD von 2018 in Aussicht gestellte eigenständige (deutsche) Lieferkettengesetz auch erst einmal auf Eis gelegt sein.58 Bei alledem bedarf es im Grundansatz allerdings einer Unterscheidung zwischen solchen Maßnahmen, die nur darauf abzielen, dass sich die existierenden Zustände nicht verschlechtern („doing no harm“), wozu auch die 54
Dies gilt streng genommen freilich nur, soweit das jeweilige nationale Recht „an sich“ kollektive Arbeitnehmerrechte vorsieht und keine (wenn auch völkerrechtswidrigen) Ausnahmen (für Freie Exportzonen) vorsieht, weil die ILO-Übereinkommen private Akteure nicht unmittelbar verpflichten; zu alledem eingehend Zeh Der Arbeitnehmer im liberalisierten Welthandel, 2018, 112 ff. 55 Rühmkorf ZGR 2018, 410, 414 ff.; ferner – unter dem spezifischen Blickwinkel von Arbeitnehmerrechten – ILO (Hrsg.), Decent work in global supply chains, 2016, 39 ff., 62 ff.; zur Lieferketten-Governance als neues Megathema von CSR siehe auch Bair/ Palpacuer Global Networks 15 (2015), 1 ff.; siehe aber auch Eller KritV 2014, 191, 203: kein „transnationaler Urzustand“. 56 Kritisch zum „Governance Gap“ als beliebig einsatzbares Begründungsnarrativ Spießhofer (o. Fn. 8), 291. 57 Dazu statt vieler Fleischer/Korch ZIP 2019, 2181 ff.; Habersack/Ehrl AcP 219 (2019), 155 ff.; Heinlein NZA 2018, 276 ff.; Payandeh in FS K. Schmidt, Bd. II, 2019, 131 ff.; Schneider NZG 2019, 1369 ff.; Thomale/Hübner JZ 2017, 385 ff.; Wagner RabelsZ 80 (2016) 717 ff.; Weller/Kaller/Schulz AcP 216 (2016), 387 ff.; Weller/Thomale ZGR 2017, 509 ff.; siehe aktuell auch European Commission (Hrsg.), Study on due diligence requirements through the supply chain, 2020. 58 Vgl. FAZ Nr. 60 v. 11.3.2020, 17. Zum weiteren Verlauf des Vorhabens siehe jetzt aber FAZ Nr. 160 v. 13.7.2020, 15.
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Achtung geltender Rechte gehört, und solchen Maßnahmen, die eine Verbesserung der rechtlichen oder faktischen Situation von Beschäftigten intendieren („doing good“). Diese Differenzierung lässt sich wiederum anhand der Arbeitsbedingungen von Beschäftigten bei Zulieferern demonstrieren. So spricht die Formulierung „negative Auswirkungen“ in Art. 19a Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. d RL 2013/34/EU i.d.F. der Änderungs-RL 2014/95/EU sowie in § 289c Abs. 3 Nr. 3 und 4 HGB eindeutig dafür, dass zumindest insoweit nur die negativen Folgen der Geschäftstätigkeit für die relevanten Arbeitnehmerbelange berichtspflichtig sind, während das Unterlassen des Einsatzes von Unternehmensressourcen zur Verbesserung der Lage der Beschäftigten bei Zulieferern nicht mehr unter die Berichtspflicht fällt. Die Regulierung folgt demnach einem „negative impact“-Ansatz. Es geht also plastisch gesprochen um den „gesellschaftlichen Fußabdruck“,59 der ins Bewusstsein gerückt werden soll, damit er möglichst flach ausfällt. In der sozialen Realität lassen sich negative Auswirkungen der Geschäftstätigkeit, also Verschlechterungen des Ist-Zustandes, als zweifelsfreier Gegenstand der Berichtspflicht freilich zuweilen nur schwer vom Unterlassen positiver Maßnahmen, also dem Unterlassen von Verbesserungen des Ist-Zustandes, abgrenzen. So wäre das Unterbinden gewerkschaftlicher Aktivitäten durch das lokale Management einer Auslandsgesellschaft berichtspflichtig, trotz eines gleichen Effekts aber nicht das Vorgehen lokaler Behörden gegen Gewerkschaftsführer. Was aber, wenn die lokalen Behörden nur deshalb so rabiat gegen Arbeitnehmervertreter vorgehen, um ein „günstiges Umfeld“ für ausländische Investoren zu schaffen? Was, wenn sich ein Zulieferer so verhält, weil er meint, nur durch ein solches Verhalten die Löhne seiner Arbeitnehmer niedrig halten und dadurch den Preisvorstellungen des ausländischen Nachfragers genügen zu können? Liegen die Dinge so, fällt es schon deutlich schwerer, die Missachtung grundlegender Kollektivrechte der Arbeitnehmer selbst unterhalb der Schwelle einer regelrechten Komplizenschaft60 nicht als wesentliches Risiko zu qualifizieren, das mit der Geschäftstätigkeit des Unternehmens verknüpft ist. An diesem Beispiel zeigt sich, dass es bei der Ausfüllung des schillernden61 und zunehmend inflationär verwendeten Begriffs der Verantwortung62 im CSR-Kontext nicht nur darum geht, bereits gefestigte Vorstellungen über eine moralische Verantwortung in eine rechtliche Form 59
Kolter RW 2019, 50. Zu dieser Kategorie Clapham/Jerbi 24 Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 339 ff. (2000). 61 Vgl. Shadmy The Rise of Human Rights Responsibilities: R2P and CSR – Different Forms of the Same New Dialect, GlobalTrust Working Paper Series 06/2016, p. 8: „one of the most confusing concepts“. 62 Hierzu etwa Eller RW 2019, 5 ff.; Windbichler RW 2019, 34 ff.; siehe ferner Henkel/Andersen Soziale Systeme 19 (2013/2014), 221 ff.; eingehend Heidbrink/Langbehn/ Loh (Hrsg.) Handbuch Verantwortung, 2017; zur Begriffsgeschichte Bayertz in Bayertz (Hrsg.) Verantwortung: Prinzip oder Problem?, 1995, 3 ff. 60
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zu gießen oder gar vorhandene Grundsätze über eine rechtliche Verantwortung schlicht anzuwenden. Vielmehr bedarf es überhaupt erst einmal der Bildung von Maßstäben, nach denen transnational agierenden Unternehmen die Verantwortung für Geschehnisse und Entwicklungen in anderen Unternehmen auf anderen Kontinenten zuzuschreiben ist.63 Die arbeitnehmerbezogene CSR-Berichterstattung lässt sich somit auch als ein Baustein für die Herausbildung von Sollenserwartungen lesen, die sich aus moralischen Grundvorstellungen über globale Gerechtigkeit speisen64 und die darauf gerichtet sind, dass transnationale Konzerne – auch unterhalb der Schwelle deliktischer Pflichten – bei der Durchsetzung sozialer Standards im globalen Süden mitzuwirken haben, um sich über die „legal license to operate“ hinaus auch eine „social license to operate“ zu verdienen. V. Effektivität der arbeitnehmerbezogenen CSR-Berichterstattung Vor diesem Hintergrund soll nunmehr der „raffinierte Wirkungsmechanismus“65 zur Erreichung der CSR-Ziele näher betrachtet werden, wobei es allerdings bei Plausibilitätserwägungen bleiben muss, während die in diesem Kontext mit Recht angemahnte empirische Erforschung der realen Wirkungszusammenhänge66 hier nicht leistbar ist. Dabei erscheint es hilfreich, gerade im Hinblick auf Arbeitnehmerbelange zwischen den verschiedenen Stakeholdergruppen zu differenzieren. 1. Investorenverhalten In den maßgeblichen Dokumenten wird immer wieder betont, dass den Investoren eine transparente Informationsgrundlage über die CSR-Politik der Unternehmen verschafft werden soll.67 Dahinter steht offenkundig die Vorstellung, dass eine zunehmende Anzahl von Kapitalmarktakteuren ihre Investitionsentscheidungen an Nachhaltigkeitskriterien orientieren würden. Eine Pflicht zur nichtfinanziellen Berichterstattung würde daher zu einem Anreiz für alle Gesellschaften führen, CSR-Konzepte zu entwickeln und in die Unternehmenspraxis umzusetzen, wodurch man dem eigentlichen politischen Ziel der Einbeziehung sozialer und ökologischer Aspekte in geschäftliche Entscheidungen näherkommen würde. 63
Vgl. Spießhofer (o. Fn. 8), 34, 513. Siehe etwa Dahan/Lerner/Milhan-Sivan 12 Theoretical Inq. L. 439 ff. (2011); Young 23 Social Philosophy & Policy 102 ff. (2006) (mit ausdrücklicher Unterscheidung zwischen „liability“ und sonstiger „responsibility“); zum generellen Hintergrund Broszies/Hahn (Hrsg.) Globale Gerechtigkeit, 2010. 65 So Schön ZHR 180 (2016), 279, 283. 66 Vgl. Hönke KJ 2016, 468, 470. 67 Vgl. COM(2013) 207 final, 2; SWD(2013) 128 final, 2, 8. 64
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Dieses Kalkül, die Nachfragemacht der Kapitalinvestoren für eine Umsteuerung der Geschäftstätigkeit von Unternehmen zu nutzen, scheint auf den ersten Blick aufzugehen. „Sustainable Finance“ steht in der Tat hoch im Kurs. Dies gilt nicht nur für die Politik, die sich das Thema sowohl auf der europäischen Ebene68 als auch auf der deutschen Ebene69 auf die Fahnen geschrieben hat, sondern betrifft auch die Investoren selbst.70 So wird das von den Unterzeichnern der UN Principles for Responsible Investment weltweit verwaltete Vermögen von der Deutschen Bundesbank auf 80 Billionen USDollar geschätzt.71 In diesem Sinne berücksichtigen fast 3/4 der institutionellen Anleger in Deutschland Nachhaltigkeitskriterien.72 Dazu passt es auch, dass die Deutsche Börse im März 2020 einen Nachhaltigkeitsindex (DAX 50 ESG) aufgesetzt hat.73 Bei näherem Hinsehen ergeben sich allerdings gewisse Zweifel an der „Nachhaltigkeit“ eines solchen Wirkungsmechanismus. Sofern die institutionellen Investoren bei ihren Anlageentscheidungen zwar formal auf den Nachweis einer CSR-Politik abstellen, die Effektivität der Unternehmenskonzepte aber nicht nachprüfen, läuft die nichtfinanzielle Berichterstattung Gefahr, sich in einer „Inszenierung“74 zu erschöpfen, die zwar von Nachhaltigkeit spricht, ohne sie indes in der sozialen Wirklichkeit einzulösen. Zwar soll nicht bestritten werden, dass es einzelne Investoren gibt, die es „ernst meinen“, im Zweifel also Renditeerwartungen bewusst zurückschrauben, wenn es zu Zielkonflikten zwischen Rentabilität einerseits und sozialen sowie ökologischen Aspekten andererseits kommt. Für die breite Masse der Investoren wird man freilich nach wie vor davon auszugehen haben, dass die finanzielle Performance einer Anlage letztlich den größeren Stellenwert genießt und die Einbeziehung von Nachhaltigkeitskriterien eher der besseren Risikoabschätzung und keiner fundamental veränderten Wertorientierung geschuldet ist.75 68 Vgl. den Aktionsplan der Kommission „Finanzierung nachhaltigen Wachstums“, COM(2018) 97 final, sowie das anschließende Gesetzgebungspaket COM(2018) 353 final bis 355 final; dazu Lanfermann BB 2018, 1643 ff. 69 Siehe die vom BMF und BMU in Abstimmung mit dem BMWi seit 2019 entwickelte „Sustainable Finance Strategie“ für Deutschland; dazu nunmehr der Zwischenbericht des Sustainable Finance-Beirats der Bundesregierung „Die Bedeutung einer nachhaltigen Finanzwirtschaft für die große Transformation“, 2020. 70 Vgl. Schmidt/Strenger NZG 2019, 481 ff.; ferner Hommelhoff in FS Seibert, 2019, 371, 373; dazu auch Roth-Milgram Corporate Social Responsibility in der Sozialen Marktwirtschaft, 2017, 174 ff. 71 Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Oktober 2019, 16. 72 Vgl. Union Investment (Hrsg.) Nachhaltigkeitsstudie 2019. 73 FAZ Nr. 55 v. 5.3.2020, 25. 74 In Anlehnung an Kocher KJ 2010, 29 ff. Zu Defiziten beim Monitoring von Arbeitnehmerrechten in der Lieferkette siehe Anner 8 Global Policy, Suppl. 3, 56 ff. (2017). 75 Siehe dazu auch die Ausführungen der Deutschen Bundesbank, Monatsbericht Oktober 2019, 14.
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Soweit es um den Klima- und Umweltschutz geht („Green Finance“), mag man vor dem Hintergrund zunehmend schärferer gesetzlicher Regelungen zwar noch von einem Gleichklang in dem Sinne ausgehen, dass eine insoweit vorausschauende Unternehmenspolitik sich zumindest langfristig auch wirtschaftlich auszahlt. Arbeitnehmerbezogene Belange weisen indes die Besonderheit auf, dass die Interessen der Beschäftigten mit den Interessen der Arbeitgeber- bzw. Kapitalseite zwar teilweise parallel laufen, ihnen teilweise aber auch diametral zuwiderlaufen.76 Am deutlichsten kommt dieses Phänomen bei den Gewerkschaftsrechten zum Ausdruck. So führen Kollektivverträge als zentrales Instrument gewerkschaftlichen Handelns typischerweise zu höheren Entgelten für die Beschäftigten („Union Wage Effect“) als eine Entgeltpolitik, die mehr oder weniger einseitig vom Arbeitgeber festgelegt wird, was auf dem Recht bzw. der Fähigkeit der Gewerkschaft beruht, den Faktor Arbeit zu monopolisieren.77 So betrachtet hat eine den kollektiven Arbeitnehmerrechten auch und gerade in der Wertschöpfungskette nicht hinderliche oder sogar förderliche Unternehmens- bzw. Konzernpolitik eine Schmälerung des Überschusses zur Folge, der für die Bedienung von Kapitalinteressen zur Verfügung steht. Nun mag es Anleger geben, die ein solches Verhalten von Unternehmen aus „moralischen“ Gründen befürworten und gerade deshalb eine positive Investitionsentscheidung treffen. Auch gibt es durchaus erhebliche Anzeichen dafür, dass eine ausgebaute betriebliche Arbeitnehmerbeteiligung die ökonomische Performance der betroffenen Gesellschaften keineswegs hemmt, sondern sie gerade in Zeiten eines schnellen Wandels der Verhältnisse begünstigt.78 Gleichwohl erscheint es doch eher vage und zumindest bislang stärker auf Hoffnungen als auf verifizierbaren Wirkungszusammenhängen zu beruhen, für eine stärkere Berücksichtigung gerade von Arbeitnehmerbelangen auf die Kräfte des Kapitalmarkts zu setzen. 2. Verhalten von Verbrauchern und sonstigen Kunden Als zweite Adressatengruppe der Berichtspflicht werden in den einschlägigen Dokumenten die Verbraucher genannt, deren Vertrauen in die Unternehmen durch eine Nachhaltigkeitsberichterstattung gestärkt werden soll.79 Hinter dieser Aussage steckt ersichtlich die Annahme, dass die Konsumenten durch ihre Kaufentscheidungen eine verantwortungsbewusste CSRPolitik von Unternehmen honorieren, während solche Unternehmen, die
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Vgl. Windbichler AG 2004, 190, 191 ff., 194 ff. Klassisch Freeman/Medoff What do Unions do?, 1984, 43 ff.; aus neuerer Zeit Bryson IZA World of Labor, 2014, 35. 78 Vgl. Jirjahn/Smith 89 Annals of Public & Cooperative Economics, 2018, 201 ff. 79 Vgl. Erwägungsgrund 3 RL 2014/95/EU; SWD(2013) 128 final, 4. 77
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diese Aspekte vernachlässigen, abgestraft werden (“ethischer Konsum”),80 wodurch wiederum ein erheblicher ökonomischer Anreiz für Unternehmen geschaffen würde, sich um entsprechende Konzepte zu bemühen.81 Dass sich ein Verbraucher die nichtfinanzielle Erklärung eines Unternehmens detailliert vor Augen führt, bevor er ein Produkt dieser Gesellschaft erwirbt, erscheint allerdings als ausgesprochen unwahrscheinlich.82 Dies gilt für geringerwertige Waren (Kleidung) ebenso wie für wertvollere und langlebigere Konsumgüter (Smartphones oder Kraftfahrzeuge). Wird die Information in der konkret dargebrachten Form nicht in die Kaufentscheidung integriert, kommt der „transparency action cycle“ indes nicht ins Laufen.83 Ein wirksames „Signaling“ einer unter CSR-Aspekten unbedenklichen Herstellung dürfte jedenfalls bei Massenwaren deshalb eher über ein am Produkt selbst angebrachtes Kennzeichen („Grüner Knopf“84) als über eine im Internet abrufbare nichtfinanzielle Berichterstattung gelingen.85 Die Effektivitätslücke des CSR-Reporting könnte möglicherweise durch NGOs gefüllt werden, indem diese als Informationsintermediäre fungieren. So kommt in Betracht, dass NGOs die relevanten Informationen sammeln und zielgerichtet aufbereiten, um über etablierte Medien sowie soziale Netzwerke bestimmte Zustände und Verhaltensweisen zu skandalisieren („Naming and Shaming“) und hierdurch jedenfalls auf Verbrauchermärkten einen „Käuferstreik“ hervorzurufen, der das betroffene transnationale Unternehmen zwecks Aufrechterhaltung der eigenen Reputation86 zu einer Einflussnahme auf die lokale Ebene zwingt („Bumerang-Strategie“). Nun kann dieser Mechanismus im Einzelfall durchaus wirkmächtig sein. Ein Zusammenhang gerade mit der nichtfinanziellen Erklärung wird sich freilich kaum herstellen lassen. So dürften die Informationen über die negativen Auswirkungen der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens als „Treibstoff“ für die Kampagne einer NGO wohl in den seltensten Fällen dem CSRBericht entstammen, sondern aus anderen Quellen herrühren. Immerhin ist 80
Fleischer/Hahn RIW 2018, 397, 404. Zur Koppelung von Eigenverantwortung und Systemverantwortung siehe auch Eller RW 2019, 5, 17. 82 Skeptisch auch Fleischer/Hahn RIW 2018, 397, 404; Prokopets 37 Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 351, 365 ff. (2014); optimistischer offenbar Hommelhoff in FS Seibert, 2019, 371, 374. 83 Näher Fung/Graham/Weil Full Disclosure: The Perils and Promise of Transparency, 2008, 54 ff. 84 Der Grüne Knopf ist ein staatliches Siegel für nachhaltige Textilien, dessen Vergabe an die Einhaltung von 20 Unternehmenskriterien und 26 Produktkriterien gebunden ist und das im sozialen Bereich u.a. die Aspekte Arbeitssicherheit, Mindestlohn und Recht auf Kollektivverhandlungen umfasst; Einzelheiten unter https://www.gruener-knopf.de. 85 Ähnlich Fleischer/Hahn RIW 2018, 397, 404. 86 Zur Corporate Reputation näher Klöhn/Schmolke NZG 2015, 689 ff.; Seibt DB 2015, 171 ff. 81
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es denkbar, dass ein Unternehmen an seinen eigenen Worten gemessen wird und eine besonders positiv gestaltete nichtfinanzielle Erklärung von einer NGO hinterfragt und auf ihren Realitätsgehalt abgeklopft wird, um bei einer eklatanten Diskrepanz eine entsprechende Kampagne zu starten. Im Übrigen fokussieren NGOs vorwiegend Verstöße gegen individuelle Menschenrechte wie das Verbot von Kinderarbeit oder Zwangsarbeit,87 während kollektive Arbeitnehmerrechte im Allgemeinen geringere Aufmerksamkeit genießen,88 was zu einem gewissen Grade auf der entsprechend unterschiedlich ausgeprägten Mobilisierbarkeit von Verbrauchern beruht und dazu führt, dass aus dieser Richtung kein allzu großer Druck im Sinne einer Durchsetzung von Arbeitnehmerbelangen zu erwarten ist. Zudem zeigen sich (regionale oder internationale) Gewerkschaften aufgrund ihres Interesses an einer langfristigen Verbesserung der sozioökonomischen Situation abhängig Beschäftigter ohnehin zuweilen skeptisch gegenüber den primär auf kurzfristige Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit setzenden Strategien von NGOs.89 Von vornherein weniger empfänglich für Informationen über die Nachhaltigkeitspolitik von Unternehmen dürften professionelle Kunden auf Nichtverbrauchermärkten sein, die ihrerseits betriebswirtschaftlichen Nutzenkalkülen unterliegen, sofern eine mangelhafte CSR-Strategie nicht auf die Qualität der Produkte oder die Zuverlässigkeit der Dienstleistungen durchschlägt oder ganz ausnahmsweise die Ausweitung eines Reputationsschadens droht, der die eigenen Beziehungen zu Konsumenten gefährdet. Die Vorstellung, durch die Pflicht zur CSR-Berichterstattung über den Weg von Marktentscheidungen von Verbrauchern und sonstigen Kunden die Politik von Unternehmen in Richtung auf eine stärkere Berücksichtigung gerade auch von Arbeitnehmerbelangen zu steuern, dürfte deshalb weithin trügerisch sein. 3. Verhalten der Arbeitnehmerseite In der Begleitunterlage der Kommissionsdienststellen zum CSR-Richtlinienentwurf werden schließlich die Arbeitnehmer als solche erwähnt. So heißt es, dass mehr Transparenz die Beziehungen zwischen Arbeitneh87
Vgl. Frankenberg KJ 2004, 21, 34. Zum umstrittenen Verhältnis von Labour Rights und Human Rights siehe Alston (Ed.) Labor Rights as Human Rights, 2008; Kolben 50 Va. J. Int’l L. 449 ff. (2010); Mantouvalou 3 European Labour Law Journal 151 ff. (2012). 89 Kritisch zum Vorgehen von NGOs aus dem globalen Norden im Hinblick auf die Arbeitsbeziehungen im globalen Süden aus „linker“ Perspektive Bormann PROKLA 2016, 121 ff. („doppelte Viktimisierung der Lohnabhängigen“); vertiefend Eade/Leather (Eds.) Development NGOs and Labor Unions, 2005. Zu einem gelungenen Beispiel aus der globalen Bekleidungsindustrie für den Aufbau eigener Macht der Beschäftigten siehe Lohmeyer WSI Mitteilungen 2019, 48 ff. 88
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mer- und Arbeitgeberseite verbessern und so dazu beitragen könne, die mit Arbeitskonflikten verbundenen Risiken und Kosten zu senken.90 In der Tat existieren Studien, die durchaus einen Zusammenhang zwischen einer aktiven CSR-Unternehmenspolitik und der Zufriedenheit der Beschäftigten belegen.91 Zudem gibt es Anzeichen, dass gerade bei jüngeren Arbeitnehmern die Arbeitgeberattraktivität auch auf dessen Nachhaltigkeitsimage beruht. Soweit es speziell um Arbeitnehmerbelange geht, ist es freilich eher unwahrscheinlich, dass die Beschäftigten von sie selbst betreffenden CSR-Konzepten erst durch die nichtfinanzielle Erklärung erfahren Vielmehr dürfte der eigene Arbeitsalltag in dieser Hinsicht sehr viel mehr an unmittelbarer Anschauung vermitteln. Dasselbe gilt für innerbetriebliche Missstände als „negative impact“, zumal Betriebsräte und Gewerkschaften als Informationskanäle nicht unterschätzt werden sollten. Auch kann man nicht ernstlich der Ansicht sein, dass das schlichte Eingeständnis solcher Missstände in einem Monate später veröffentlichten CSR-Bericht künftigen Arbeitskonflikten vorbeugt, ganz davon abgesehen, dass negative Nachrichten empirisch kaum vorkommen.92 Gemeint sein dürfte deshalb eher, dass eine unternehmensinterne Politik, die insgesamt auf Transparenz von Entscheidungen sowie auf die Einbindung von Arbeitnehmervertretern in notwendige Veränderungsprozesse setzt, ihrerseits zu einer Verringerung von innerbetrieblichen Konflikten beiträgt, was in der Tat plausibel ist. Damit geht es insoweit um die gleichen Mechanismen, die mit den unmittelbar auf eine Verstärkung des sozialen Dialogs gerichteten politischen Maßnahmen in Gang gesetzt werden sollen, wenn etwa in der allgemeinen Rahmenrichtlinie 2002/14/EG über die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer davon die Rede ist, dass durch die Schaffung eines Klimas des Vertrauens die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sowie ihre Anpassung an die im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft geschaffenen neuen Bedingungen gesteigert werden soll.93 4. Anregung unternehmensinterner Lernprozesse Der Rekurs auf die Belegschaften der betroffenen Unternehmen leitet zugleich zu dem Gedanken über, in Bezug auf den CSR-Bericht nicht ausschließlich oder zumindest vorrangig nach potenziellen Adressaten und deren möglichen Marktreaktionen zu fahnden, sondern stärker die Prozesse in den Blick zu nehmen, die durch den Zwang zur Abgabe einer nichtfi90
SWD(2013) 128 final, 8. Vgl. Batthachary/Sen/Korschun 49 (2) MIT Sloan Management Review 37 ff. (2008); Turban/Greening 40 Academy of Management Journal 658 ff. (1997). 92 Vgl. Großmann Die Verifizierung von Nachhaltigkeitsberichten zur Reduzierung von Informationsasymmetrien, 2010, 251 ff. 93 Vgl. Erwägungsgründe 7, 8 und 9 RL 2002/14/EG. 91
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nanziellen Erklärung organisationsintern ausgelöst werden (sollen). Insoweit hat die Jubilarin (anhand der Finanzberichterstattung) bereits frühzeitig klar auf die internen Effekte von Offenlegungspflichten auf die Organisation des Unternehmens hingewiesen.94 Im Schrifttum ist dieser Gedanke im CSR-Kontext auf der Grundlage der Qualifikation insbesondere von transnationalen Unternehmen als lernfähige soziale Systeme zu der allgemeinen Theorie ausgebaut worden, dass allein schon die Notwendigkeit, über die negativen Konsequenzen der eigenen Geschäftstätigkeit auf soziale und ökologische Belange öffentlich Rechenschaft abzulegen, dazu führt, diese von vornherein stärker in die eigenen Entscheidungs- und Handlungsstrukturen zu integrieren.95 Die Pflicht zum CSR-Reporting lässt sich damit als reflexives Recht96 charakterisieren, dessen Funktion darin besteht, im Unternehmen durch eine obligatorische Selbstevaluation bestimmte Lernprozesse anzuregen, die eine Veränderung der Unternehmenskultur in Richtung auf eine stärkere Berücksichtigung sozialer und ökologischer Aspekte bewirken sollen. Diese mit Fokus auf die Menschenrechtsberichterstattung entwickelte Konzeption kann im Grundansatz auch auf die Rücksichtnahme auf Arbeitnehmerbelange übertragen werden, wobei dies vor allem im Hinblick auf diejenigen negativen Auswirkungen geschäftlicher Aktivitäten relevant ist, bei denen nur geringe Chancen bestehen, Arbeitsstandards auf traditionelle Weise durchzusetzen, also vor allem in Bezug auf den globalen Süden.
VI. Schlussbetrachtung Die Pflicht zum CSR-Reporting steht nach alledem an der Schnittstelle mehrerer Entwicklungen. Zum einen zielt sie darauf ab, dass in die Formulierung der Unternehmens- bzw. Konzernpolitik von vornherein soziale und ökologische Aspekte einfließen. Insoweit erscheint es zwar als zu optimistisch, eine stärkere Rücksichtnahme gerade auf Arbeitnehmerbelange von Marktmechanismen zu erwarten, also zugespitzt formuliert durch die Kräfte des Marktes eine Korrektur des Marktes herbeiführen zu wollen, während es durchaus plausibel ist, dass Unternehmen diesem Ziel durch ein obligatorisches Screening der eigenen Geschäftstätigkeit näherkommen. Zum anderen geht es durch die Einbeziehung von negativen Auswirkungen auf Zulieferer um eine den Raum des Unternehmens bzw. Konzerns übergreifende Regulierung, mit der Governance-Lücken auch und gerade bei transnationalen Lieferketten und Wertschöpfungsnetzwerken geschlossen 94
Windbichler in FS Hopt, Bd. 1, 2010, 1505, 1511. Eickenjäger Menschenrechtsberichterstattung durch Unternehmen, 2017, 169 ff.; in diese Richtung schon Teubner in FS Hopt, Bd. 1, 2010, 1449, 1466 ff.: „Lern-Pressionen“. 96 Dazu grdl. Teubner ARSP 68 (1982), 13 ff. 95
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werden sollen, indem die wirtschaftliche Macht global agierender Unternehmen als Mittel zur Einhaltung bestimmter Standards genutzt wird. Die nichtfinanzielle Berichterstattung wird daher nicht ohne Grund als Bestandteil eines sich herausbildenden „Lieferkettenrechts“ angesehen, zu dem eine Vielzahl von Teildisziplinen beitragen,97 wodurch nicht zuletzt Rechtsgebiete wie das Gesellschaftsrecht und das Arbeitsrecht, die sich auf der nationalen Ebene zunehmend ausdifferenzieren, auf einer höheren Ebene wieder integriert werden.
neue rechte Seite! 97 Eller 8 Transnat’l Legal Theory 296, 313 ff. (2017); Fleischer/Hahn RIW 2018, 397; Rühmkorf ZGR 2018, 410, 414 ff.; Sobel-Read 5 Transnat’l Legal Theory 364 ff. (2014).
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Freiheitlich verfasste Tarifpluralität Thomas Lobinger
Freiheitlich verfasste Tarifpluralität als bleibende Aufgabe der Rechtswissenschaft THOMAS LOBINGER
„Aber er hat ja gar nichts an!“ sagte endlich ein kleines Kind. (Hans Christian Andersen, Des Kaisers neue Kleider)
I. Einleitung In einem Beitrag zum Spannungsverhältnis von Kollektivautonomie und Privatautonomie im Arbeitsleben hielt die Jubilarin vor gut 18 Jahren ebenso knapp wie prägnant fest: „Der Gesetzgeber des TVG ging von ziemlich homogenen Verhältnissen (Industrieverbandsprinzip, Flächentarif) aus. Das ist aber rechtlich nicht verbindlich. Änderungen in der Verbändelandschaft sind Kritik an den bestehenden Zuständen. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, Veränderungen zu steuern oder zu verhindern. Deshalb ist es auch falsch, nach dem Gesetzgeber zu rufen, wenn Organisationsgrad und Tariflandschaft unbefriedigend sind.“1 Aus heutiger Sicht mutet das fast wie ein Kassandra-Ruf an. Nachdem das BAG das Plädoyer der Jubilarin noch befolgt und im Jahr 2010 den bis dahin mehr oder weniger konsequent praktizierten Grundsatz der Tarifeinheit bei betrieblicher Tarifpluralität aufgegeben hatte,2 wurde der Gesetzgeber in einer für das kollektive Arbeitsrecht bislang beispiellosen Weise bedrängt und schließlich 2015 zur Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes veranlasst.3 Kern dieser Neuregelung war die Schaffung des heutigen § 4a TVG, der die Vermeidung von Tarifkollisionen im Betrieb zum Ziel hat und hierfür bei einer Überschneidung der Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften anordnet, dass von diesen Tarifverträgen in einem Betrieb nur die Normen desjenigen Vertrags zur Anwendung gelangen, der von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern in diesem Betrieb abgeschlossen wurde. 1
Windbichler in Rüthers (Hrsg.) Der Konflikt zwischen Kollektivautonomie und Privatautonomie im Arbeitsleben, Baden-Baden 2002, S. 101, 102. 2 BAGE 135, 80–115. 3 BGBl. 2015, S. 1130.
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Der hierdurch bewirkte Eingriff in die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) liegt auf der Hand. Entgegen verbreiteter Überzeugungen und Prognosen nahm das BVerfG dies gleichwohl nicht zum Anlass, die Neuregelung für nichtig zu erklären.4 In senatsintern offen kritisierter „Fürsorgepflicht gegenüber dem Gesetzgeber“5 entschied sich das Gericht vielmehr für eine Reparatur des Gesetzes. Hierfür diktierte es den Fachgerichten zunächst einige bindende Auslegungsvorgaben ins Aufgabenheft: Die Verdrängungswirkung von § 4a TVG müsse für die positiv oder negativ betroffenen Tarifvertragsparteien dispositiv sein.6 Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln könne sie nicht erfassen.7 Die Mehrheitsgewerkschaft müsse es ferner in der Hand haben, Ergänzungen ihrer eigenen tariflichen Regelungen durch Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften von der Verdrängungswirkung auszunehmen.8 Langfristig angelegte, die Lebensplanung der Beschäftigten berührende Ansprüche dürften ohne vergleichbare Kompensationen nicht durch die Verdrängung gefährdet werden;9 dies hätten die Gerichte trotz fehlender gesetzlicher Vorkehrungen in § 4a TVG von Verfassungs wegen sicherzustellen.10 Weiterhin müsse der verdrängte Tarifvertrag wieder aufleben, sobald die Laufzeit verdrängender Tarifverträge ende,11 diese also nurmehr nachwirkten.12 Generell eingeschränkt hat das BVerfG die Verdrängungswirkung von § 4a TVG zusätzlich dadurch, dass diese Wirkung nur eintreten soll, wenn die Pflichten zur Bekanntgabe von Tarifverhandlungen und zur Anhörung gemäß § 4a Abs. 5 TVG nicht verletzt worden sind.13 Eine Feststellung des Arbeitsgerichts gemäß § 99 ArbGG hat es demgegenüber nicht als ungeschriebene, möglicherweise aber von Verfassungs wegen geforderte Voraussetzung für den Eintritt der Verdrängungswirkung ansehen wollen.14 Eine weitere generelle Einschränkung hielt das BVerfG dagegen wiederum für unverzichtbar, wollte sie aber nicht mehr selbst durch Anwendungsvorgaben realisieren, sondern erteilte in diesem Punkt den Reparaturauftrag an den Gesetzgeber: Der Neuregelung fehlten hinreichende Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Be4
BVerfGE 146, 71–163. S. abweichende Meinung, BVerfGE 146, 71, Rn. 22. 6 BVerfGE 146, 71, Rn. 173, 177 ff. 7 BVerfGE 146, 71, Rn. 184. 8 BVerfGE 146, 71, Rn. 186. 9 BVerfGE 146, 71, Rn. 187. 10 BVerfGE 146, 71, Rn. 188. 11 BVerfGE 146, 71, Rn. 189. 12 Ob zur Vermeidung eines kurzfristigen Hin- und Herspringens Ausnahmen von dieser Einschränkung zu machen seien, will das BVerfG den Fachgerichten überlassen, s. BVerfGE 146, 71, Rn. 189. 13 BVerfGE 146, 71, Rn. 196. 14 BVerfGE 146, 71, Rn. 175; a. A. abweichende Meinung, Rn. 17. 5
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rufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft.15 Die Verdrängungswirkung dürfe nur eintreten, wenn das Gesetz strukturell sicherstelle, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt habe.16 Mit dem durch das Qualifizierungschancengesetz vom 18.12.2018 eingefügten § 4a Abs. 2 S. 2 Hs. 2 TVG hat der Gesetzgeber versucht, diesem Nachbesserungsauftrag mit geringstmöglichem Aufwand gerecht zu werden.17
II. Das Tarifeinheitsgesetz (§ 4a TVG) als missglückte Regelung 1. Die Zwecksetzung der Neuregelung als maßgebliches Prüfkriterium Schon diese kurze einleitende Skizze belegt, dass die von Anfang an geäußerten Zweifel an der Tragfähigkeit einer gesetzlich angeordneten Tarifeinheit im Sinne von § 4a TVG auch nach der Entscheidung des BVerfG keinesfalls beseitigt sind. Zwar besteht nach dem – seinerseits nicht unzweifelhaften18 – Urteil rein praktisch kein zwingender Grund mehr für den Gesetzgeber, über die Regelung an sich noch einmal nachzudenken.19 Für die Rechtswissenschaft ist das allerdings ohne Bedeutung. Sie darf und muss über offene Wunden auch dann noch sprechen, wenn sich diese unter Verbänden verbergen. Offen ist im rechtswissenschaftlichen Sinn eine Wunde aber so lange, wie sich eine freiheitsbeschränkende Regelung bei näherem Hinsehen bereits aus Rechtsgründen als weitgehend untauglich erweist, ihre eigenen legitimen Ziele zu erreichen und damit die Freiheitsbeschränkung mehr oder weniger zum Selbstzweck wird. Im Folgenden soll deshalb geprüft werden, ob und inwieweit namentlich § 4a TVG rechtlich überhaupt in der Lage ist, die mit dem Tarifeinheitsgesetz vom Gesetzgeber 15
BVerfGE 146, 71, Rn. 200. BVerfGE 146, 71, Rn. 201. 17 BGBl. 2018, S. 2651. Die hiergegen erneut eingelegten Verfassungsbeschwerden blieben erfolglos, was aber maßgeblich an Zulässigkeitsfragen lag, s. BVerfG Beschl. v. 19.5.2020 – 1 BvR 672/19, 1 BvR 779/19, 1 BvR 2832/19. Kritisch zu dem Nachbesserungsversuch auch Klein DB 2019, 545; Löwisch RdA 2019, 169. 18 Kritik an der Entscheidung etwa bei Franzen ZTR 2017, 571; Höpfner RdA 2018, 321, 333 ff.; Löwisch BB 2017, Nr. 32 I; Schmidt AP GG Art. 9 Nr. 151, Anm. 2, II. 4; Steinau-Steinrück/Gooren NZA 2017, 1149; Wiedemann NZA 2018, 1587, 1588 f. 19 Ob die genannten Nachbesserungen ausreichen, hat das BVerfG in dem o. Fn. 17 genannten Kammerbeschluss in der Sache nicht entschieden. Hiernach soll die Konkretisierung der Neuregelung im Lichte des Art. 9 Abs. 3 GG zunächst den Fachgerichten überlassen werden (s. BVerfG Beschl. v. 19.5.2020 – 1 BvR 672/19, 1 BvR 779/19, 1 BvR 2832/19, Rn. 10 ff.). Damit aber erscheint es höchst unwahrscheinlich, dass die Gesamtregelung des Tarifeinheitsgesetzes vom BVerfG etwa im Rahmen einer späteren Urteilsverfassungsbeschwerde noch einmal grundsätzlich in Frage gestellt werden könnte. 16
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verfolgten legitimen Ziele zu realisieren. Dabei wird bewusst ein strictly legal point of view eingenommen. Spekulationen darüber, ob die Regelung politisch möglicherweise gewünschte soziale Effekte, wie etwa eine „Beruhigung des Konfliktgeschehens bei den sogenannten Funktionseliten“20, gezeitigt hat, erscheinen für Juristen schon deshalb nicht angezeigt, weil sich die sozialen Effekte schnell ändern können, sobald nur die trotz der Neuregelung verbliebenen rechtlichen Möglichkeiten für Minderheitsgewerkschaften, die Interessen ihrer Mitglieder wirksam rechtsgeschäftlich zu regeln, klar erkannt wurden. 2. Die Zwecke des Tarifeinheitsgesetzes a) Ausweislich des Wortlauts von § 4a Abs. 1 TVG sollen Tarifkollisionen verhindert werden, um die Schutzfunktion, die Verteilungsfunktion, die Befriedungsfunktion sowie die Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrags zu sichern. Man kann bereits trefflich darüber streiten, ob dem Tarifvertrag alle diese Funktionen überhaupt zukommen und auf welche Verhältnisse sie sich gegebenenfalls beziehen. Sobald man die Tarifautonomie in ihrem Kern als freiheitsrechtlichen Auswuchs der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsfreiheit und damit kurz also als „kollektiv ausgeübte Privatautonomie“ begreift,21 müssen insbesondere die „Ordnungsfunktion“ und die „Verteilungsfunktion“ sehr restriktiv verstanden werden. Es kann sich dann von vornherein nicht um eine allgemeine, gesetzesgleiche Ordnung handeln, die sich bereits grundsätzlich auch über solche Arbeitsverhältnisse hinaus erstreckt, die freiwillig, namentlich kraft Koalitionsmitgliedschaft, an den Tarifvertrag gebunden sind.22 Und ebenso wenig kann es um eine Verteilung gehen, die gleichermaßen in der horizontalen wie in der vertikalen Dimension des Arbeitsverhältnisses als „gerecht“ erscheint. Denn für die Arbeitnehmer ist die Koalitionsfreiheit immer nur ein Angebot, sie bietet die Möglichkeit zu umfassender Solidarisierung, um „dem Kapital“ zugunsten „der Arbeit“ ein möglichst großes Stück vom Kuchen abzutrotzen. Wird diese Möglichkeit allerdings gar nicht, nur zum Teil oder auch in 20
So etwa Giesen in Blanke/Conrad (Hrsg.) Streik als Mittel des Arbeitskampfes, Tübingen 2019, S. 29 (57); andere Einschätzung etwa bei Blanke in Blanke/Conrad (Hrsg.) a.a.O., S. 11 (27); Bepler in Blanke/Conrad (Hrsg.) a.a.O., 61 (84 f., 92 f.). 21 S. hierfür nur etwa die inzwischen st. Rspr. des BAG, BAGE 87, 1, 4; 85, 80, 87 f.; 163, 144, 151 f.; Giesen Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb. Gegenstand und Reichweite betrieblicher und betriebsverfassungsrechtlicher Tarifnormen, Tübingen 2002, S. 159 ff.; Bayreuther Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie. Tarifrecht im Spannungsfeld von Arbeits-, Privat- und Wirtschaftsrecht, München 2005, passim. 22 S. nur auch abweichende Meinung, BVerfGE 146, 71, Rn. 5, 19; BAG NZA-RR 2010, 664 Rn. 22; Bauer/Arnold NZA 2009, 1169, 1172; Lobinger/Hartmann RdA 2010, 235; Bialluch Das Tarifeinheitsgesetz, Tübingen 2019, 322; Löwisch/Rieble TVG, 4. Aufl. 2017, § 4a Rn. 31 ff., Grundl. Rn. 48 ff.
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verschiedenen Gruppen (insbesondere Berufen) wahrgenommen, können die Stücke, die jeweils vom Kuchen zu erlangen sind, naturgemäß auch unterschiedlich groß ausfallen. „Verteilungsfunktion“ kann deshalb auf der Basis eines freiheitlichen Verständnisses keinesfalls meinen, dass Tarifverträge eine objektiv gerechte, das Verhältnis der verschiedenen Arbeitnehmergruppen ebenso wie das Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern umfassende Verteilung des Erwirtschafteten zu gewährleisten hätten; auf dieser Basis ist das System noch nicht einmal dem Ruf nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit verpflichtet. b) Konsultiert man die Gesetzesmaterialien, muss man allerdings feststellen, dass die Verfasser der Neuregelung nicht ansatzweise von einem freiheitsrechtlichen Verständnis der Tarifautonomie geleitet waren, im Gegenteil: Der Begriff „Freiheit“ findet sich im Entwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz kein einziges Mal. Ebenso fehlen tragende oder auch nur rhetorische Bezüge zur Privatautonomie. Der Tarifautonomie wird lediglich attestiert, „darauf angelegt“ zu sein, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen.23 Als eigentliche, im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe der Koalitionen wird vielmehr sogleich die sinnvolle Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens in den Vordergrund gerückt.24 Dementsprechend wird auch die dem Tarifvertrag zugesprochene Verteilungsfunktion reflexionslos an objektiven Gerechtigkeitskriterien ausgerichtet. Zu sichern sei ein kohärentes betriebliches Entgeltsystem, in dem sich der Wert der verschiedenen Arbeitsleistungen innerhalb einer betrieblichen Gemeinschaft widerspiegele. Was diesen Wert jeweils ausmacht und wie die Wertverhältnisse leistungsgerecht zu bestimmen sein könnten, lassen die Entwurfsverfasser dabei dann allerdings – kaum verwunderlich – offen. Immerhin wollen sie aber doch wissen, dass von konkurrierenden Gewerkschaften nicht aufeinander abgestimmte Bewertungen von Arbeitsleistungen den Anforderungen „innerbetrieblicher Lohngerechtigkeit“ widersprächen und dass „Schlüsselpositionen im Betriebsablauf“ kein gerechtes Kriterium zur Bestimmung des Wertes einer Arbeitsleistung darstellen könnten.25 Generell sieht man den Anforderungen an eine gerechte und deshalb auch befriedende Verteilung nicht hinreichend Rechnung getragen, sofern die für verschiedene Arbeitnehmer- und Berufsgruppen erzielten Ergebnisse nicht zuvor auf Gewerkschaftsseite intern in ein ausgeglichenes Verhältnis gebracht wurden, sondern als ein Resultat mittelbar geführter Verteilungskämpfe erscheinen müssten.26 Zu verhindern sei deshalb, dass eine Gewerk23
Begründung Regierungsentwurf Tarifeinheitsgesetz, BT-Drs. 18/4062, S. 8. Ebenda. 25 Ebenda. 26 Ebenda. 24
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schaft durch ihren Verhandlungserfolg die Verteilungsspielräume für die anders- oder nichtorganisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verringere,27 sowie darüber hinaus auch eine drohende Schwächung der wirksamen kollektiven Interessenvertretung von Berufs- und Belegschaftsgruppen ohne Schlüsselpositionen im Betriebsablauf durch die Entsolidarisierung von Berufs- und Belegschaftsgruppen mit solchen Positionen.28 Das Gerechtigkeitsideal, an dem die Verfasser des Tarifeinheitsgesetzes die dem Tarifvertrag zugeschriebene Verteilungsfunktion ausrichten wollen, hat damit aber erkennbar zwitterhafte Züge. In der vertikalen Dimension orientiert man sich zwar noch an der in freiheitsbasierten Austauschsystemen ganz im Vordergrund stehenden iustitia commutativa. Hier soll „die Arbeit“ durch möglichste Bündelung aller Kräfte „dem Kapital“ mit höchster Wirkkraft gegenübertreten und ihm so den maximalen Preis für die zu erbringende Gesamtleistung abtrotzen. Bei der Verteilung des Erlöses innerhalb „der Arbeit“, namentlich unter den einzelnen Berufs- und Beschäftigtengruppen, lässt man sich dann aber eher von distributiven Gerechtigkeitsvorstellungen leiten. Man glaubt an die Existenz „richtiger“ Kriterien zur Bestimmung des Wertes und der Wertverhältnisse der verschiedenen Leistungsbeiträge innerhalb einer betrieblichen Gemeinschaft und sieht zu deren Erkenntnis und Umsetzung eine möglichst zentrale Instanz (eine Gewerkschaft oder auch eine Tarifgemeinschaft) berufen. Dass sich auf dieser gedanklichen Basis auch die dem Tarifvertrag zugeschriebene Ordnungsfunktion nicht in den oben aufgezeigten engen Grenzen halten kann, muss nicht näher ausgeführt werden. Mit dieser Ordnungsbzw. Befriedungsfunktion verbindet der Entwurf deshalb auch explizit ein besonderes Schutzziel zugunsten der Arbeitgeberseite. Ihr soll es ermöglicht werden, mittels eines Tarifvertrags oder mittels mehrerer aufeinander abgestimmter Tarifverträge die Arbeitsbedingungen für die Belegschaften abschließend zu regeln. Sie soll nicht mehr der Gefahr ausgesetzt sein, sich jederzeit einer Vielzahl weiterer Forderungen konkurrierender Gewerkschaften gegenüberzusehen.29 Das bezieht nach Ansicht der Entwurfsverfasser auch das Arbeitskampfrecht mit ein. Denn der Arbeitskampf diene nicht mehr der Sicherung der Tarifautonomie und verfehle seinen Zweck, soweit dem erstrebten Tarifvertrag eine ordnende Funktion offensichtlich nicht mehr zukommen würde, weil der abschließenden Gewerkschaft im Betrieb die Mitgliedermehrheit abgehe.30 c) aa) Das BVerfG schlägt bei seiner Suche nach den vom Tarifeinheitsgesetz verfolgten Zwecken einen ganz anderen Grundton an als die Gesetzes27
Ebenda. Begr. RegE TarifeinheitsG, a.a.O., S. 9. 29 Begr. RegE TarifeinheitsG, a.a.O., S. 8, 12. 30 Begr. RegE TarifeinheitsG, a.a.O., S. 12. 28
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verfasser. Es stellt den freiheitsrechtlichen Charakter der Koalitionsfreiheit an die Spitze seiner Ausführungen.31 Die Tarifautonomie wird klar in ihrem inneren Bezug zur individuellen Vertragsfreiheit gesehen, als ein Mittel zum „Schutz der abhängig Beschäftigten im Wege der kollektivierten Privatautonomie“32. Explizite Verweise auf eine etwaige Ordnungs- oder auch Verteilungsfunktion finden sich an keiner Stelle. Die Verpflichtung der Tarifvertragsparteien auf objektive Richtigkeitsmaßstäbe wird dezidiert verworfen.33 Bei Vorliegen eines ungefähren Kräftegleichgewichts (Parität) zwischen den Tarifvertragsparteien komme dem Tarifvertrag per se eine Richtigkeitsvermutung zu.34 bb) Folgerichtig sieht das BVerfG deshalb ein Betätigungsfeld für den Gesetzgeber primär dort, wo es um die Sicherung paritätischer Verhältnisse zwischen den Tarifvertragsparteien geht, also zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.35 Allerdings soll Art. 9 Abs. 3 GG daneben auch Regelungen erlauben, die das Verhältnis der Tarifvertragsparteien auf einer der beiden Seiten betreffen.36 Letzteres wäre insofern noch kein Bruch mit dem eigenen Grundansatz, als auch dieses horizontale Verhältnis verschiedener Koalitionen, insbesondere Gewerkschaften, Einfluss auf die Parität im vertikalen Verhältnis der eigentlichen Tarifvertragsparteien entfalten kann. So vermag namentlich die Situation eines Dauerarbeitskampfes infolge mehrerer hintereinander durchgeführter Streiks verschiedener Gewerkschaften erhebliche Paritätseinbußen auf Arbeitgeberseite entstehen zu lassen. Bemerkenswerterweise stellt das BVerfG diesen Aspekt aber gerade nicht ins Zentrum seiner weiteren Überlegungen. Es hält im Gegenteil sogar explizit fest, dass Schwierigkeiten, die sich auf Arbeitgeberseite aus dem Auftreten mehrerer Gewerkschaften ergeben, eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit grundsätzlich nicht rechtfertigen könnten.37 Löst man die Zulässigkeit eines gesetzlichen Eingriffs in das Verhältnis der Tarifvertragsparteien auf einer Seite von Paritätserwägungen, löst man sich allerdings auch vom eigenen freiheitsrechtlichen Ausgangspunkt. Denn solange zwischen den Tarifvertragsparteien auf der einen Seite und der Tarifvertragspartei auf der anderen Seite jeweils ein ungefähres Kräftegleichgewicht (Parität) besteht, kommt nach diesem Ausgangspunkt auch den jeweils abgeschlossenen Tarifverträgen die vom BVerfG hervorgehobene Richtigkeitsvermutung zu und es gibt keinen Grund für beschränkende In31
BVerfGE 146, 71, Rn. 130. BVerfGE 146, 71, Rn. 146 f. 33 BVerfGE 146, 71, Rn. 146. 34 BVerfGE 146, 71, Rn. 146. 35 BVerfGE 146, 71, Rn. 148. 36 BVerfGE 146, 71, Rn. 148. 37 BVerfGE 146, 71, Rn. 150, womit das Gericht die entsprechende Motivation der Gesetzesverfasser (s. Begr. RegE TarifeinheitsG, a.a.O., S. 8, 12) explizit verwirft. 32
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terventionen. Ein solcher besteht erst, wenn eine Mehrzahl konkurrierender Tarifvertragsparteien auf der einen Seite entweder zu übermäßigen Paritätsverlusten auf der anderen Seite führt oder aber wegen der Dominanz einer der konkurrierenden Koalitionen andere auf dieser Seite keine Chance mehr haben, ein ungefähres Kräftegleichgewicht gegenüber dem Tarifgegner zu erlangen und deren Mitglieder zudem keine Möglichkeit haben, über einen Koalitionswechsel von der Verhandlungsmacht hinreichend kampfstarker Koalitionen zu profitieren. Ein solcher Grund kann ferner bestehen, wenn die Parzellierung auf einer Seite der Tarifvertragsparteien dazu führt, dass keiner der Verbände und damit die gesamte Seite nicht mehr über ein ungefähres Kräftegleichgewicht mit der Gegenseite verfügt. Dass eine solche Lage gleichsam automatisch immer schon dann gegeben ist oder auch nur droht, sobald nur überhaupt auf einer Seite mehrere Koalitionen konkurrieren, wird vom BVerfG allerdings nicht behauptet und ist auch nicht zu sehen. Trotz interpretationsfähiger Andeutungen in diese Richtung38 fordert das Gericht nicht einmal streng, dass wenigstens der Gesetzgeber in Ausübung seiner Einschätzungsprärogative von solchen für die grundlegende Richtigkeitsgewähr der einzelnen Tarifverträge relevanten Paritätsgefährdungen oder -verschiebungen in jedem Fall von Koalitionskonkurrenzen auf einer Seite der Tarifvertragsparteien überzeugt sein müsse. Vielmehr hält es offenbar einen „fairen Ausgleich“ auf nur einer Seite der sich gegenüberstehenden Koalitionen selbst dann für einen legitimen Eingriffsgrund, wenn alle Tarifverträge dieser Koalitionen unter zweifelsfrei paritätischen Verhältnissen mit der anderen Seite zustande gekommen sind und folgerichtig auch alle diese Tarifverträge die immanente Richtigkeitsvermutung aufweisen.39 Damit eröffnet das BVerfG dem Gesetzgeber aber in erkennbarem Widerspruch zu seinen eigenen Vorgaben40 eben doch die Möglichkeit zu Interventionen in das Tarifgeschehen zur Verwirklichung objektiver Richtigkeitsmaßstäbe und materieller Gerechtigkeitsvorstellungen. Denn ob ein unter allseits paritätischen Verhältnissen erzieltes Tarifergebnis in der Gesamtschau einen „fairen Ausgleich“ darstellt, bedarf zwangsläufig einer eigenständigen Wertung anhand speziell hierfür entwickelter Kriterien. Ob diese dann im engsten Sinne objektiver bzw. materieller Natur sind oder eher formal angesetzt und nur das für richtig und deshalb auch anwendungswürdig gehalten wird, was die Vertreter einer Mehrheit der Betroffenen für richtig halten, spielt dabei schon keine Rolle mehr. Auch der Abgleich einer frei vereinbarten Regelung mit vorab noch unbenannten Mehrheitsvorstellungen bleibt der Sache nach Inhaltskontrolle anhand heteronom vorgegebener Maßstäbe. 38
Vgl. BVerfGE 146, 71, Rn. 156, 157. Vgl. dezidiert BVerfGE 146, 71, Rn. 149. 40 S. hierzu v. a. BVerfGE 146, 71, Rn. 146 und 155. 39
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cc) Die Senatsmehrheit mag diesen grundlegenden Bruch in der Argumentation vor allem deshalb übersehen haben,41 weil sie dem Gesetzgeber mit professionell gefordertem Wohlwollen zugutegehalten hat, dass er in erster Linie auf eine Vorwirkung, namentlich auf eine Verhinderung von Tarifkollisionen durch die Kooperation konkurrierender Koalitionen, ziele.42 Der eigentliche Zweck des Gesetzes wird damit in einer Art Abschreckungspolitik erblickt: Durch den drohenden Anwendungsverlust sollen die Konkurrenten zur Vernunft und an einen Tisch gebracht werden. Zwar übergeht das BVerfG die freiheitsverkürzende Wirkung auch eines solchen „Anreizsystems“ nicht völlig.43 Ob hierbei hinreichend trennscharf von Willensbeeinträchtigungen unterschieden wird, die nach allgemeinen zivilrechtlichen Kategorien missbilligt würden, erscheint aber durchaus zweifelhaft. Zu leicht macht es sich die Senatsmehrheit vor allem aber mit der Frage, ob der dem Gesetz als Primärziel unterstellte Koordinationsanreiz mit der in § 4a TVG getroffenen Regelung überhaupt erreicht werden kann. Sie zieht sich hierfür auf einen weiten Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers zurück und lässt es genügen, dass eine „völlige Fehleinschätzung seitens des Gesetzgebers“ nicht erkennbar sei.44 Für die rein tatsächliche Prognose, ob die Regelung des § 4a TVG bei unklaren oder knappen Mehrheitsverhältnissen anstelle der gewünschten Kooperationen nicht eher sogar Häuserkämpfe provoziere,45 mag man das noch hinnehmen. Unhaltbar erscheint es dagegen bereits bei klaren und eindeutigen Mehrheitsverhältnissen. Denn hier besteht für die Mehrheitsgewerkschaft von vornherein kein Anlass, mit einer Minderheitsgewerkschaft zu kooperieren.46 Gerade für solche Fälle hatte deshalb auch die Senatsmehrheit die inzwischen erfolgte Nachbesserung des Gesetzes gefordert, wonach die Verdrängungswirkung nur eintreten darf, wenn die Mehrheitsgewerkschaft beim Abschluss des anwendbaren Tarifvertrags ebenfalls die Interessen der Arbeitnehmergruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam berücksichtigt hat (§ 4a Abs. 2 S. 2 Hs. 2 TVG).47 All dies sind allerdings nur erste Indizien. Bei näherem Hinsehen erweist sich, dass § 4a TVG bereits aus Rechtsgründen nahezu vollständig ungeeignet ist, die eigenen Zwecke zu erreichen. Dies ist im Folgenden aufzuzeigen. 41
Durchaus erkannt wird er demgegenüber von den abweichenden Senatsmitgliedern, wenn auch erst im Zusammenhang der Nachzeichnungsmöglichkeit, s. abweichende Meinung, BVerfGE 146, 71, Rn. 19. 42 S. insbesondere BVerfGE 146, 71, Rn. 4, 153, 155, 160, 169, 178. 43 S. BVerfGE 146, 71, Rn. 136, 169. 44 BVerfGE 146, 71, Rn. 160. 45 Vgl. hierzu nur etwa Deinert NZA 2009, 1176, 1181; Preis FA 2014, 354, 356; Greiner RdA 2015, 36, 43; Bepler RdA 2015, 194, 195; abweichende Meinung, BVerfGE 146, 71, Rn. 12, 14. 46 S. nur auch Greiner RdA 2015, 36 f.; abweichende Meinung, BVerfGE 146, 71, Rn. 14. 47 S. BVerfGE 146, 71, Rn. 200 ff.
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3. Die Untauglichkeit von § 4a TVG zur Erreichung der eigenen Zwecke a) Die verbleibenden Regelungsmöglichkeiten für kooperationsunwillige Koalitionen als entscheidende Frage Im Zusammenhang der Frage nach der Eignung von § 4a TVG, seine eigenen Zwecke zu erreichen, hat das BVerfG einen wesentlichen Umstand völlig vernachlässigt. Es hat nicht untersucht, ob der bezweckte Kooperationsanreiz im Ernstfall schon deshalb verpuffen muss, weil kooperationsunwilligen Minderheitsgewerkschaften trotz der drohenden Verdrängungswirkung nach § 4a TVG noch hinreichende rechtliche Möglichkeiten verbleiben, den Inhalt der Arbeitsverhältnisse ihrer Mitglieder wirkungsvoll verbindlich zu regeln. Sollte dies aber der Fall sein, wäre § 4a TVG bereits von Rechts wegen weitgehend ungeeignet, seine wesentlichen sachlichen Ziele zu verwirklichen. Die Vorschrift würde wegen der bestehenden alternativen Möglichkeiten zur eigenständigen Interessendurchsetzung mittels Tarifnormbildung keine belastbare Anreiz- bzw. Drohwirkung entfalten können, um Kooperationen und Koordinationen konkurrierender Gewerkschaften zu befördern. Und sie wäre damit ebenfalls nicht in der Lage, ein auf Arbeitnehmerseite unabgestimmtes, möglicherweise sogar auf Verteilungskämpfen beruhendes Nebeneinander von Arbeitsbedingungen in den Betrieben zu verhindern.48 b) Die Beeinträchtigung der Zwecktauglichkeit durch die Vorgaben des BVerfG aa) Das Grunddilemma einer einschränkenden Auslegung von § 4a TVG Trotz offenen Widerspruchs im eigenen Kreis hat sich das BVerfG dafür entschieden, das Tarifeinheitsgesetz nicht gänzlich zu verwerfen, sondern mit erheblichen Interpretations- und einzelnen Änderungsauflagen zu halten. In ihrem wesentlichen Kern dienen diese Auflagen dazu, die Verdrängungswirkung von § 4a TVG so weit wie möglich einzuschränken. Damit begibt sich das Gesetz allerdings in ein grundlegendes Dilemma. Denn je weniger von der (Droh-)Wirkung des Gesetzes verbleibt, umso geringer wird die Aussicht 48 Von vornherein verfehlt wäre es, für den Fall des Bestehens solcher alternativen Möglichkeiten, die Eingriffsintensität und damit auch die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit als gering anzusehen (so aber offenbar der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilität- und Verkehrsdienstleister in seiner Stellungnahme zu den Verfassungsbeschwerden gegen das Tarifeinheitsgesetz, s. BVerfGE 146, 71, Rn. 101). Denn wenn die Beschneidung der Anwendbarkeit von Tarifnormen gegenüber den Mitgliedern ausgewählter Gewerkschaften die damit verfolgten Zwecke schon aus Rechtsgründen nicht ansatzweise verlässlich erreichen kann, wird diese Beschneidung weitgehend zum Selbstzweck und stellt sich folglich gegenüber den ausgewählten Koalitionen und ihren Mitgliedern als willkürliche Ungleichbehandlung dar.
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auf eine Kooperation konkurrierender Gewerkschaften und umso geringer muss folglich die Eignung der Regelung erscheinen, ihre Ziele in einem nennenswerten Umfang zu erreichen und deshalb auch noch als verhältnismäßig zu erscheinen. Bereits nach den Vorgaben des BVerfG aber stellt sich § 4a TVG als eine Ouroboros dar, die sich nicht nur in die eigene Schwanzspitze gebissen, sondern fast schon vollständig selbst verschlungen hat. bb) Die Beeinträchtigung der Zwecktauglichkeit durch den neu eingefügten § 4a Abs. 2 S. 2 Hs. 2 TVG Besonders deutlich wird dies an dem in Reaktion auf die Nachbesserungsauflage des BVerfG nachträglich noch in das Gesetz aufgenommenen § 4a Abs. 2 S. 2 Hs. 2 TVG. Hiernach bleibt auch ein Minderheitstarifvertrag anwendbar, wenn die Interessen der von diesem umsorgten Arbeitnehmergruppen beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt wurden. Die Frage nach der Justiziabilität dieser prozedural ansetzenden Regelung hat bereits einiges Kopfzerbrechen ausgelöst.49 In der Praxis wird sich allerdings eine im Ausgangspunkt recht simple – und auch dogmatisch nicht zu tadelnde – Methode durchsetzen. Man wird schlicht die Regelungen des Mehrheits- und des potenziell verdrängten Minderheitstarifvertrags mit speziellem Blick auf die betreffenden Arbeitnehmergruppen vergleichen und das Ergebnis als maßgebliches Indiz dafür heranziehen, ob die Interessen dieser Arbeitnehmergruppen beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags ernsthaft und wirksam berücksichtigt wurden. Mit Tarifzensur hätte das nichts zu tun.50 Denn dass von einem bestimmten inhaltlichen Verhandlungsergebnis her auf den Ablauf dieser Verhandlungen selbst geschlossen wird, ist nicht unüblich. Wer wollte auch behaupten, dass die Interessen einer bestimmten Arbeitnehmergruppe beim Abschluss des Mehrheitstarifvertrags ernsthaft und wirksam berücksichtigt wurden, wenn diese Gruppe im Minderheitstarifvertrag deutlich bessere Konditionen vorfindet? Weil es sich auf Arbeitgeberseite in den von § 4a Abs. 2 S. 2 Hs. 2 TVG erfassten Fällen immer um denselben Verhandlungspartner handelt, gibt es hier kaum einen besseren Beleg dafür, dass für diese Arbeitnehmergruppe deutlich mehr herauszuholen gewesen wäre und dass folglich deren Interessen von der Mehrheitsgewerkschaft kaum ernsthaft und wirksam berücksichtigt worden sein konnten.51 Hierfür 49 S. nur etwa Bepler jurisPR-ArbR 51/2018 Anm. 1; Giesen/Rixen NZA 2019, 577; Hromadka NZA 2019, 215; Klein DB 2019, 545; Löwisch RdA 2019, 169. 50 Vgl. zu diesem Argument für den prozeduralen Ansatz nur BT-Drs. 19/6146, S. 31; ebenso Löwisch NZA 2017, 1423, 1424; ähnlich wie hier demgegenüber Franzen ZTR 2017, 571; Giesen/Rixen NZA 2019, 577, 581; Rieble NZA 2017, 1157, 1159 f. 51 Würde man das in einem solchen Fall anders sehen wollen, läge gerade hierin eine versteckte Inhaltskontrolle des Minderheitstarifvertrags. Seinen Bestimmungen würde eine unangemessene Bevorzugung der betreffenden Arbeitnehmergruppen unterstellt.
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spricht dann mindestens ein Beweis des ersten Anscheins. Umgekehrt gilt dies aber ebenso, wenn sich die für die betreffenden Arbeitnehmergruppen im Mehrheits- und im Minderheitstarifvertrag getroffenen Regelungen nicht wesentlich unterscheiden. Auch hier wird man dann mindestens prima facie davon ausgehen müssen, dass für diese Gruppe nicht mehr „herauszuholen“ war, sodass an einer ernsthaften und wirksamen Berücksichtigung ihrer Interessen beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags kaum ein vernünftiger Zweifel bestehen kann.52 Mit dieser Grundeinsicht wird aber auch klar, warum die vom BVerfG geforderte Ergänzung von § 4a TVG die Eignung dieser Regelung, Anreize zu einem kooperativen und koordinierten Vorgehen konkurrierender Gewerkschaften zu setzen, empfindlich beeinträchtigen muss. Denn für die Minderheitsgewerkschaft erhöht sich mit ihr nur die Attraktivität einer möglichst machtvollen eigenständigen Tarifpolitik. Sie nimmt ihre Interessen am effektivsten wahr, indem sie versucht, sich mit dem eigenen Tarifvertrag möglichst deutlich von dem potenziell verdrängenden Mehrheitstarifvertrag abzusetzen. Gelingt ihr dies, belegt das mindestens prima facie, dass die Interessen der betreffenden Arbeitnehmergruppen beim Zustandekommen eines zeitnah abgeschlossenen konkurrierenden Mehrheitstarifvertrags nicht hinreichend ernsthaft und wirksam berücksichtigt wurden. Mit einer möglichst machtvollen eigenen Tarifpolitik kämpft sie folglich immer auch für eine Verhinderung der Verdrängungswirkung. Misslingt die erstrebte Absetzung vom Mehrheitstarifvertrag, ist gleichwohl nicht viel verloren. Das gilt zunächst inhaltlich für die betreffenden Arbeitnehmergruppen. Es gilt aber ebenso für die Minderheitsgewerkschaft selbst. Denn dass der Mehrheitstarifvertrag mit Blick auf die von ihr vertretenen Beschäftigten nicht weit hinter dem eigenen Tarifvertrag zurückbleibt, wird vielfach gerade den machtvollen eigenständigen Forderungen der Minderheitsgewerkschaft geschuldet sein. Das Interesse der Mehrheitsgewerkschaft, die Verdrängungswirkung von § 4a Abs. 2 TVG auszulösen, lässt sich nach der vom BVerfG geforderten Ergänzung nur noch dadurch sicher gewährleisten, dass man sich mit Blick auf die betreffenden Arbeitnehmergruppen an den Tarifforderungen der Minderheitsgewerkschaft orientiert und diese möglichst weitgehend übernimmt. Um gegenüber den betreffenden Arbeitnehmergruppen ihre Unverzichtbarkeit und Attraktivität neben der Mehrheitsgewerkschaft zu belegen, verbleibt der Minderheitsgewerkschaft so jedenfalls der Verweis darauf, dass sie die Mehrheitsgewerkschaft „vor sich hertreiben“ kann, um die Interessen dieser Gruppe schließlich mindestens mittelbar über den dann gegebenenfalls nachzuzeichnenden Mehrheitstarifvertrag durchzusetzen. Gerade mit einer machtvollen eigenständigen Tarifpolitik 52 Vgl. auch Bepler jurisPR-ArbR 51/2018, Anm. 1, B. I., der im Ergebnis einen inhaltlichen Vergleich aber dennoch ablehnt.
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hat die Minderheitsgewerkschaft folglich nichts zu verlieren, sie kann im Gegenteil nur gewinnen. cc) Die Beeinträchtigung der Zwecktauglichkeit durch die verbleibende Anwendbarkeit arbeitsvertraglicher Bezugnahmen Die von § 4a Abs. 2 S. 2 TVG angeordnete Verdrängungswirkung bezieht sich explizit nur auf die Rechtsnormen von Tarifverträgen. Damit wird bereits nach dem Text des Gesetzes die Anwendbarkeit von arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln nicht berührt. Das BVerfG sieht diese Engführung im Rahmen seines verfassungsrechtlichen Erhaltungskonzepts als bindend an.53 Schon hierdurch eröffnen sich für (potenzielle) Minderheitsgewerkschaften durchaus wirksame Möglichkeiten, die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder eigenständig und ohne Kooperation mit der Mehrheitsgewerkschaft rechtlich verbindlich zu regeln. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Auslegung der im Betrieb üblicherweise verwendeten Bezugnahmeklauseln den Verweis auf den jeweils nicht nur für den Arbeitgeber, sondern auch für den Arbeitnehmer geltenden Tarifvertrag sicherstellt. Ist das nicht der Fall,54 entsteht für eine (potenzielle) Minderheitsgewerkschaft verhandlungstechnischer Mehraufwand. Sie muss in der Tarifauseinandersetzung zusätzlich durchsetzen, dass die Bezugnahmeklauseln von Beschäftigten, die einen arbeitsvertraglichen Verweis auf ihren Tarifvertrag sichergestellt sehen wollen, entsprechend geändert (oder überhaupt erst implementiert) werden. Das kann sie jedenfalls (s. zu weitergehenden Möglichkeiten sogl. u. c)) über den schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrags erreichen, indem sie dort eine Verpflichtung der tarifgebundenen Arbeitgeber zur Abgabe entsprechender Angebotserklärungen gegenüber ihren Arbeitnehmern oder – effizienter – im Sinne von § 328 BGB einen Anspruch der Arbeitnehmer auf Zustimmung zu einer entsprechenden Vertragsänderung aufnehmen lässt. Unmittelbar zum Ziel führen kann das allerdings nur bei einem Haustarifvertrag. Bei einem Verbandstarifvertrag ließe sich ohne zusätzlichen dogmatischen Aufwand55 auf Anhieb nur eine entsprechende Einwirkungspflicht realisieren. 53 BVerfGE 146, 71, Rn. 184; s. ferner nur auch noch Giesen in BeckOK-ArbR, 56. Edition, Juni 2020, § 4a TVG Rn. 21; Löwisch/Rieble TVG, 4. Aufl. 2017, § 4a Rn. 67 ff.; Klumpp in Kiel/Lunk/Oetker, MHbArbR, 4. Aufl. 2019, Bd. III, § 256 Rn. 56; Henssler in HWK, 8. Aufl. 2018, § 4a TVG Rn. 37; Greiner NZA 2015, 769, 775 f.; Löwisch DB 2015, 1102, 1103; Franzen in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 4a TVG Rn. 23; Schliemann NZA 2015, 1298. 54 Vgl. zu den verschiedenen denkbaren Konstellationen nur etwa Löwisch/Rieble TVG, 4. Aufl. 2017, § 4a Rn. 69 ff. 55 Dieser Aufwand kann durchaus erfolgreich betrieben werden (s. sogleich u. c)), müsste aber an dieser Stelle als übertrieben erscheinen, weil mit ihm auch weitergehende Effekte erzielt werden können.
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Unter Effektivitätsgesichtspunkten erscheint dieser Weg allerdings in zweifacher Hinsicht problematisch. Nicht ohne weiteres zu erreichen wäre hierdurch eine zwingende Wirkung der tariflichen Regelungen für die betreffenden Arbeitnehmer. Auch stellt sich die Frage der Arbeitskampfbefugnis. Sie wird zum Teil verneint, weil man schuldrechtliche Regelungen im Tarifvertrag generell für nicht erstreikbar hält.56 Allerdings greifen solche Pauschalierungen zu kurz und finden heute kaum mehr Gefolgschaft.57 Richtigerweise muss man für die Kampfbefugnis nach dem Gegenstand der schuldrechtlichen Absprachen differenzieren. Geht es lediglich darum, Tarifnormen zu ersetzen, also Regelungen zu vereinbaren, die ebenso im normativen Teil eines Tarifvertrags zulässig wären, spricht grundsätzlich nichts gegen ihre Erkämpfbarkeit.58 Damit könnte neben den eigentlichen Tarifnormen von (potenziellen) Minderheitsgewerkschaften aber grundsätzlich auch für entsprechende Begleitregelungen im schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrags gestreikt werden.59 Denn ein Anspruch der Arbeitnehmer auf Zustimmung des Arbeitgebers zur Änderung des Arbeitsvertrags im Sinne einer die inhaltliche Geltung der Tarifnormen sichernden Bezugnahmeklausel wäre ebenso wie eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Abgabe entsprechender Angebote selbst als Inhaltsnorm i.S.v. § 1 Abs. 1 TVG anzusehen. c) Die Beeinträchtigung der Zwecktauglichkeit durch weitergehende zivilrechtliche Möglichkeiten der Koalitionen aa) Weitet man den Blick nur ein wenig, gehen die Möglichkeiten, die das allgemeine Zivilrecht kooperationsunwilligen Koalitionen bietet, um die Interessen ihrer Mitglieder auch unabhängig von einer Normvereinbarung i.S.d. §§ 1–4 TVG rechtlich verbindlich zu regeln, sogar noch deutlich über die Implementierung von Bezugnahmeklauseln hinaus. Über das allgemeine 56 S. etwa Franzen in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 4a TVG Rn. 23 (anders allerdings noch ders. in Rieble/Junker/Giesen (Hrsg.) Ausweitung der Tarifmacht – Zugriff auf Unternehmensautonomie und Marktverhalten, München 2012, S. 121 (129–132)), nur im Ausgangspunkt auch Greiner NZA 2015, 769, 776; speziell für die hier verfolgte Konstellation auch Giesen in BeckOK-ArbR, 55. Edition, § 4a TVG Rn. 35. 57 Vgl. nur etwa Otto Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, München 2006, § 5 Rn. 19; Hergenröder in HWK, 8. Aufl. 2018, Art. 9 GG Rn. 280; Treber in Schaub, 18. Aufl. 2019, § 192 Rn. 4; Hertenstein Die schuldrechtliche Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien, Frankfurt a. M. 2017, S. 14 ff. 58 So etwa auch Beuthien ZFA 1983, 141, 161 f.; Höpfner RdA 2020, 129, 140; Löwisch/Rieble in TVG, 4. Aufl. 2017, § 1 Rn. 1163; Hergenröder in HWK, 8. Aufl. 2018, Art. 9 GG Rn. 280; Linsenmaier in ErfK, 20. Aufl. 2020, Art. 9 GG Rn. 114. 59 So i.E. auch Löwisch DB 2015, 1102, 1103; über Umwege ebenfalls Greiner NZA 2015, 769, 776; a.A. Giesen in BeckOK-ArbR, 55. Edition, § 4a TVG Rn. 35, der allerdings verkennt, dass die Verpflichtung zur Zustimmung einer Arbeitsvertragsänderung tariflich regelbar wäre, weil er dogmatisch unrichtig die Wirksamkeitsfrage zulässiger Inhalte und die Frage der Anwendbarkeit wirksam vereinbarter Inhalte kurzerhand in eins setzt.
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Stellvertretungsrecht (§§ 164 ff. BGB) können sie den Inhalt der das Einzelarbeitsverhältnis betreffenden Tarifnormen unmittelbar in die Arbeitsverträge ihrer Mitglieder überführen. Hierfür müssen sie lediglich nicht nur als Tarifvertragspartei im eigenen Namen, sondern zugleich als Stellvertreter im Namen ihrer gegenwärtigen und ggf. auch künftigen Mitglieder handeln und klarstellen, dass die maßgeblichen Norminhalte auch den Inhalt der Arbeitsverträge der Vertretenen entsprechend abändern sollen.60 Die für den Erfolg eines solchen Vorgehens notwendige Vertretungsmacht lässt sich für die aktuellen Mitglieder der Koalitionen unschwer als Minus aus der mit dem Verbandsbeitritt erteilten Legitimation zur Vereinbarung von Tarifnormen mit unmittelbarer Wirkung für das eigene Arbeitsverhältnis ableiten.61 Denn die rechtliche Bindungswirkung eines durch unmittelbare Stellvertretung im Zuge einer Kollektivvereinbarung inhaltlich abgeänderten Arbeitsvertrags geht über die Bindungswirkung von Tarifnormen gem. § 4 TVG keinesfalls hinaus. Selbst wenn man – wenig lebensnah – überhaupt unterstellen wollte, dass sich die Koalitionsmitglieder bei ihrem Beitritt Gedanken machen, wie die Verbindlichkeit von Tarifinhalten in ihrem Arbeitsverhältnis schließlich rechtstechnisch hergestellt wird, wäre deshalb dem normlegitimierenden Beitrittswillen mindestens immer auch noch der hypothetische Wille zu einer Bevollmächtigung i.S.v. § 167 BGB immanent.62 Dies würde die Handlungsmöglichkeiten des eigenen Verbands ohne zusätzliche Freiheitsverluste erweitern, was nicht nur dem Interesse der Mitglieder selbst entspricht, sondern auch dem weitgehend anerkannten Satz, dass es für Koalitionen i.S.v. Art. 9 Abs. 3 GG bei der Regelung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen keinen (Akts-)Typenzwang gibt, sondern (Mittel-)Wahlfreiheit herrscht.63 Für die Anwendbarkeit von Arbeitsverträ60 Eine namentliche Benennung der Vertretenen ist nicht erforderlich, nach g.h.M. würde sogar eine nachträgliche Bestimmung durch den Vertreter ausreichen, es müsste also noch nicht einmal Bestimmbarkeit im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorliegen (s. nur etwa BGH NJW 1998, 62, 63; Huber in BeckOGK, Stand 1.12.2018, § 164 BGB Rn. 47). 61 Arbeitgeber mit bloßer OT-Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband sind deshalb selbstverständlich ausgenommen. Gleiches gilt für künftige Verbandsmitglieder auf beiden Seiten. Es könnte aber jeweils nachträglich genehmigt werden. 62 Konsequenterweise beschränkt auf Abänderungen und Ergänzungen im Wege von Kollektivvereinbarungen für alle Mitglieder; vgl. eingehend zum rechtsgeschäftlichen Gehalt des Koalitionsbeitritts Picker Die Tarifautonomie in der deutschen Arbeitsverfassung, Köln 2000, S. 42 ff.; Arnold Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter. Zur Legitimation der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis, Berlin 2007, S. 255 ff.; Hartmann Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, Tübingen 2014, S. 143 ff. sowie aus jüngster Zeit Brauneisen Die tarifvertragsbedingte Friedenspflicht, Tübingen 2019, S. 126 f., jew. m. zahlr. w. Nachw. auch für Gegenansichten. 63 S. nur BAG NZA 2005, 178, 180 f.; Zachert NZA 2006, 10, 12; krit. Hertenstein Schuldrechtliche Regelungsbefugnis (Fn. 57), S. 92 ff., allerdings nur zur Vermeidung von Schutzverkürzungen für Arbeitnehmer, die hier gerade vermieden werden sollen. Anderes
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gen, die auf diese Weise inhaltlich in Übereinstimmung mit den Normen eines Minderheitstarifvertrags gebracht wurden, gilt § 4a TVG ausweislich seines vom BVerfG insoweit für unverrückbar erachteten Wortlauts sodann aber ebenso wenig wie für die auf einen Minderheitstarifvertrag verweisenden Bezugnahmeklauseln. bb) Zweifel an der Gleichwertigkeit dieser stellvertretungsrechtlichen Option (potenzieller) Minderheitsgewerkschaften ergeben sich mit Blick auf die Tarifnormen zukommende zwingende Wirkung (§ 4 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 TVG). Ob sich eine solche auch mit dem allgemeinen zivilrechtlichen Instrumentarium herstellen lässt, berührt bekanntlich Fragen, die vor allem der noch jungen Arbeitsrechtswissenschaft vor Inkrafttreten der Tarifvertragsverordnung 1919 auf den Nägeln brannten,64 die aber auch später zur dogmatischen Rekonstruktion der sog. normativen Wirkung i.S.v. § 4 TVG wieder aufgenommen wurden.65 Diese Fragen können und müssen hier nicht im Detail vertieft werden. Es genügt die Feststellung, dass es gegen die rechtliche Anerkennung einer von den Koalitionen im Rahmen ihrer Kollektivvereinbarung als Stellvertreter in die Arbeitsverträge aufgenommenen Klausel, welche von den eigentlichen Arbeitsvertragsparteien vorgenommene Abänderungen der überführten Tarifnorminhalte für einen bestimmten begrenzten Zeitraum und vorbehaltlich einer für den Arbeitnehmer günstigeren Regelung unter Einschluss auch der Unabänderlichkeitsklausel selbst für unwirksam erklärt, keine durchschlagenden dogmatischen Einwände gibt.66 Das Verfügungsverbot, das hierin liegt, erscheint deutlich unproblematischer als ein rechtsgeschäftlich vereinbartes Abtretungsverbot, wie es § 399 BGB als Ausnahme von § 137 BGB ausdrücklich zulässt. Denn eine Drittbetroffenheit ist hier nicht die Regel, sondern Ausnahme. Und im wichtigsten Fall, dem Betriebsübergang, lässt sich angemessener Drittschutz ohne weiteres durch analoge Anwendung von § 613a ergibt sich auch nicht etwa aus BAG NZA 2003, 734, 740, wonach die Tarifforderung nach einer einzelvertraglichen Übernahme eines günstigeren Kündigungsschutzes die Schranken des Tarifvertragsrechts überschreite, weil sich die Tarifvertragsparteien hierdurch ihrer vom Günstigkeitsprinzip ungehinderten Ablösemöglichkeit begäben. Da die anzunehmende Vertretungsmacht in Umfang und Reichweite der durch den Beitritt legitimierten Normsetzungsmacht entspricht, können die Einzelarbeitsverträge parallel zu ablösenden Tarifnormen später auch wieder entsprechend abgeändert werden. 64 Vgl. hierzu nur etwa Lotmar Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, Leipzig 1902, S. 776 ff., 780 ff.; Sinzheimer Ein Arbeitstarifgesetz. Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht, Berlin 1916, S. 107 ff. sowie auch die Darstellung bei Höpfner Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, Baden-Baden 2015, S. 109 ff. 65 S. hierfür nur die Nachw. o. Fn. 62 sowie auch bei Lobinger in Lobinger/Stoffels/ Piekenbrock (Hrsg.) Zur Integrationskraft zivilrechtlicher Dogmatik, Tübingen 2014, S. 21 f. 66 Vgl. hierzu nur auch schon Lobinger in FS v. Hoyningen-Huene, München 2014, S. 271, 290 und – noch deutlicher im Ansatz – jüngst auch Brauneisen Friedenspflicht (Fn. 62), S. 132 f.
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Abs. 1 Sätze 2–4 BGB realisieren. Die Grundwertung von § 137 BGB steht deshalb der Anerkennung einer entsprechenden Unabänderlichkeitsklausel nicht entgegen.67 Als problematischer erweist sich demgegenüber der partielle „Selbstentmündigungseffekt“, wie er mit der Anerkennung der beschriebenen Unabänderlichkeitsklausel insbesondere für die vertretenen Arbeitnehmer verbunden wäre. Strukturell geht es dabei um Fragen, wie sie ebenso etwa bei der Diskussion um die formlose Aufhebung vertraglicher Schriftformklauseln, die rechtsgeschäftliche Begründbarkeit von Zustimmungserfordernissen i.S.v. § 182 BGB und die Anerkennung verdrängender Vollmachten einschlägig sind.68 In den hier verfolgten Fällen wäre der genannte „Selbstentmündigungseffekt“ allerdings von vornherein nicht sehr groß: Eintreten würde er nur für einen limitierten Zeitraum, inhaltlich wäre er auf für Arbeitnehmer ungünstige Abweichungen von den importierten tariflichen Regelungen beschränkt und vereinbart werden könnte er von den Koalitionen allein im Rahmen einer neben oder auch an die Stelle eines Tarifvertrags tretenden Kollektivvereinbarung.69 Damit aber kann die rechtliche Anerkennung einer Unabänderlichkeitsklausel der hier beschriebenen Art einen „Selbstentmündigungseffekt“ nur in den Fällen und auch nur in dem Umfang nach sich ziehen, wie er für die vertretenen Verbandsmitglieder aufgrund der prinzipiell zwingenden Wirkung der für sie vereinbarten Tarifnormen vom geltenden Recht, namentlich von § 4 TVG, ohnehin schon akzeptiert wird.70 Die rein technische Frage, dass dieser Effekt dort von einer außerhalb des Arbeitsvertrags stehenden Norm ausgeht, wohingegen er hier im Arbeitsvertrag selbst festgeschrieben wird, kann für das materiale Problem keine Rolle spielen.71 Einer Unabänderlichkeitsklausel der be67 Gegen die Einschlägigkeit von § 137 BGB mit z.T. unterschiedlichen Gründen auch Lotmar Arbeitsvertrag I (Fn. 64), S. 781 f.; Picker in Rüthers/Picker (Hrsg.), Recht und Freiheit, Symposion zu Ehren von Reinhard Richardi, München 2003, S. 25, 59 ff.; Bachmann Private Ordnung. Grundlagen ziviler Regelsetzung, Tübingen 2006, S. 275 f.; Arnold Betriebliche Tarifnormen (Fn. 62), S. 261 f.; Hartmann Negative Tarifvertragsfreiheit (Fn. 62), S. 148 f.; Brauneisen Friedenspflicht (Fn. 62), S. 134 f. 68 S. dazu im hier behandelten Zusammenhang nur auch schon Picker in Symposion Richardi (Fn. 67), S. 61; Hartmann Negative Tarifvertragsfreiheit (Fn. 62), S. 149. 69 Die zugrundeliegende Vollmacht würde zudem ebenso wie die Legitimation zur Bindung durch Tarifnormen mit einem Verbandsaustritt oder auch einem Wechsel in die OTMitgliedschaft aufgrund (konkludenten) Widerrufs enden. 70 Zutreffend gegen das Selbstentmündigungsargument mit Blick auf eine Unabänderlichkeitsvereinbarung deshalb auch Brauneisen Friedenspflicht (Fn. 62), S. 133; vgl. ferner auch schon Picker Tarifautonomie (Fn. 62), S. 77 mit Fn. 40; Bachmann Private Ordnung (Fn. 67), S. 277; Hartmann Negative Tarifvertragsfreiheit (Fn. 62), S. 149. 71 Es kann deshalb ebenfalls kein Zweifel daran bestehen, dass die dem normlegitimierenden Beitrittswillen immanente Vertretungsmacht, (s.o. bei u. in Fn. 62) auch die Vereinbarung entsprechender Unabänderlichkeitsklauseln umfasst (unnötig kompliziert deshalb Brauneisen Friedenspflicht (Fn. 62), S. 132 Fn. 389).
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schriebenen Art könnte deshalb die rechtliche Anerkennung nicht versagt werden.72 cc) Keine größeren Schwierigkeiten bereitet nach den bereits oben erzielten Erkenntnissen die Frage der Arbeitskampfbefugnis. Ist für diese nicht entscheidend, auf welche regelungstechnische Weise zulässige Tarifnorminhalte in den Arbeitsverhältnissen bindend gemacht werden sollen, sondern dass es sich um Inhalte handelt, die auch als Tarifnormen zulässig wären, kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Koalitionen und ihre Mitglieder unter diesen Voraussetzungen grundsätzlich auch für Gesamtvereinbarungen kämpfen dürfen, die auf eine kollektive Abänderung der unter diese Gesamtvereinbarungen fallenden Arbeitsverhältnisse zielen. Nur das entspricht auch der allgemein anerkannten (Akts-)Typenfreiheit der Koalitionen.73 Da in den hier interessierenden Fällen aber ohnehin kaum je eine isolierte Gesamtvereinbarung zur kollektiven Abänderung der Einzelarbeitsverträge gefordert werden wird, sondern eine solche nur neben den primär geforderten Tarifvertrag träte, wäre diese Vereinbarung immer schon erkämpfbar, sofern es nur auch der primär geforderte Tarifvertrag ist. d) Gesamtschau In der Gesamtschau verliert § 4a TVG damit aber seine Droh- bzw. Anreizwirkung nahezu vollständig. Die vorgesehene Verdrängungswirkung erscheint rechtlich betrachtet weniger als „fleet in beeing“74 denn als barrel burst oder – ganz ohne militärische Assoziationen – als ein Kleid aus Luft. Für kooperationsunwillige (potenzielle) Minderheitsgewerkschaften besteht aus Rechtsgründen kein nennenswerter Anlass, auf eine eigenständige Tarifpolitik zu verzichten und diese ohne größere Rücksicht auf andere Arbeitnehmerkoalitionen gegenüber den Arbeitgebern zu verfolgen. Im gewerkschaftlichen Kerngeschäft, der Regelung materieller Arbeitsbedingungen, werden sie lediglich auf unorthodoxe und in der Praxis noch nicht ausgetestete Wege verwiesen. Tatsächlich vorenthalten wird ihnen im Ernstfall nur die mitgliederübergreifende Geltung von betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen (§§ 3 Abs. 2; 4 Abs. 1 S. 2 TVG).75 Eignet sich so aber die von § 4a Abs. 2 TVG angeordnete Verdrängungswirkung bereits ju72 Weil es hier nicht um die Frage einer analogen Anwendung von § 4 Abs. 1, Abs. 3, Abs. 4 TVG geht und die Koalitionen völlig frei über die Vereinbarung entsprechender Unabänderlichkeitsklauseln entscheiden können, stehen dem von vornherein auch nicht etwa die in BAG NZA 2005, 178, 180 geäußerten Bedenken gegen eine solche Analogie entgegen. 73 S. dazu o. bei u. in Fn. 63. 74 So Wolf in Blanke/Conrad (Fn. 20), S. 161, 168 unter Bezugnahme auf eine Äußerung des früheren Vizepräsidenten des BVerfG. 75 Wobei sich aus § 4a Abs. 3 TVG bereits wieder bestimmte beschränkte Ausnahmen ergeben können.
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ristisch nicht, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen, fehlt dem verbleibenden Eingriff auch die Verhältnismäßigkeit. Die Vorenthaltung der normativen Wirkung für die eigenen Abschluss-, Inhalts- und Beendigungsnormen entpuppt sich als l’art pour l’art, als ein fast schon schikanöser Verweis auf rechtlich zwar nicht weniger wirksame, aber eben doch ungewohnte und unerprobte Regelungsmittel für (potenzielle) Minderheitsgewerkschaften.76
III. Konsequenzen Die rein wissenschaftlichen Konsequenzen der vorstehenden Einsichten liegen auf der Hand: An sich hätte das BVerfG das Tarifeinheitsgesetz für gänzlich verfassungswidrig und deshalb nichtig erklären müssen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dies für das nachgebesserte und vom Gericht selbst in eine bewusst grundrechtsschonende Lesart gebrachte Gesetz noch mehr gilt als zuvor. Klargestellt ist mit den Karlsruher Vorgaben immerhin, dass eine Verschärfung des Gesetzes zur Herstellung seiner Zwecktauglichkeit nicht in Betracht kommt. Der Gesetzgeber könnte die Verdrängungswirkung also nicht etwa kurzerhand auf Bezugnahmeklauseln oder tarifnormersetzende Kollektivvereinbarungen auf stellvertretungsrechtlicher Basis erstrecken. Ein souveräner Gesetzgeber würde deshalb – unabhängig davon, ob später doch noch einmal eine überraschende Selbstkorrektur des BVerfG erfolgen wird – § 4a TVG samt Begleitvorschriften wieder abschaffen. D. h. allerdings nicht, dass er eine gesetzliche Einhegung verbands- und tarifpluraler Zustände gänzlich zu unterlassen hätte, im Gegenteil. Er sollte sich dabei nur auf die in einem freiheitlichen Koalitions- und Tarifvertragswesen eigentlich relevanten Probleme konzentrieren. Diese aber bestehen nie schon in tarifpluralen Zuständen als solchen, sondern allein in der Gefahr, dass hierbei nicht mehr alle abgeschlossenen Tarifverträge die ihnen grundsätzlich zuzuschreibende Richtigkeitsvermutung aufweisen, weil eine Mehrzahl konkurrierender Gewerkschaften zu paritätsgefährdenden Arbeitskampfszenarien führen kann. Regeln zu entwickeln, die solche Szenarien verhindern, ohne dabei aber Tarifpluralität als Auswuchs eines freiheitlichen Koalitionswesens anzutasten, ist die eigentliche Aufgabe. Dass sich der Gesetzgeber an eine solche Aufgabe in Deutschland nicht herantraut, ist eine Binsenweisheit. Für die Arbeitsrechtswissenschaft kann und darf das aber kein Grund sein, in ihren Bemühungen um die Entwicklung 76 Allein für betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen vermag die Verdrängungswirkung nach dem betrieblichen Mehrheitsprinzip angesichts des ungeteilten Geltungsanspruchs dieses Normtypus noch einen gewissen eigenen Sinn zu entfalten. Dann hätte man diese Wirkung allerdings auch auf diesen Normtypus beschränken müssen.
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entsprechender Regelungsvorschläge nachzulassen und nach freiheitswahrenden Alternativen zu dem missglückten § 4a TVG zu suchen.77
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Ansätze für solche weiteren Bemühungen finden sich etwa bei Löwisch RdA 2010, 263, 266; Henssler RdA 2011, 65, 71 ff.; Franzen/Thüsing/Waldhoff Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, Berlin/Bonn/München 2012, S. 71 ff.; Lobinger JZ 2014, 810, 818 mit Fn. 115.
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Digitale Betriebssteuerung und die betriebsverfassungsrechtlichen Begriffe Anja Mengel
Digitale Betriebssteuerung und die betriebsverfassungsrechtlichen Begriffe für Betriebe und Betriebsteile ANJA MENGEL
Christine Windbichler hat in ihrem herausragenden Standardwerk zum „Arbeitsrecht im Konzern“ in einem anderen Zeitalter, Ende des vorletzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts, und lange vor der Novelle des BetrVG von 2000 bereits „moderne“ Gestaltungsformen zur betrieblichen Interessenvertretung untersucht,1 die erst später gesetzlich zugelassen wurden. Sie hat sich in ihrer Wissenschaftskarriere auch im Arbeitsrecht stets vor allem dem kollektiven Arbeitsrecht und dem Betriebsverfassungsrecht verschrieben. Dies soll in einem neuen Zeitalter, zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhundert, die nachfolgende Untersuchung aktueller Probleme der betriebsverfassungsrechtlichen Zuordnung von Arbeitnehmern würdigen, in dem zumindest einige Unternehmen ihre Organisation weitgehend digital steuern. Das Betriebsverfassungsrecht und auch das BetrVG 1972 ist ohne Zweifel eine der großen Errungenschaften des deutschen Arbeitsrechts, das sich gerade auch in großen wirtschaftlichen Krisen letztlich als Mittel zur erzwungenen Kooperation, maßgeschneidert „im Unternehmen“, bewährt hat. Es ist aber strukturell auch den operativen und betriebstechnischen Strukturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhaftet und damit dem Phänotyp des Betriebs im volkswirtschaftlichen Sekundärsektor, dem klassischen (analogen) Produktions- und Gewerbebetrieb. Bereits der PC-gestützte Dienstleistungsbetrieb im Tertiärsektor der letzten Jahrzehnte ließ sich teils nur mit Mühe in das BetrVG einfassen, wie insbesondere die Schwierigkeiten mit der extensiven Auslegung des Begriffs der technischen Überwachungseinrichtung iSv § 87 Nr. 6 BetrVG durch die Rechtsprechung2 sowie mit der Einordnung und Zuordnung von Arbeitnehmern im (dauerhaften) Home Office bzw. bei dauerhafter Mobilarbeit3 zeigen. 1
Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, Habilitation 1989, 325 ff. Vgl. nur Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 1 Rn. 214; Wiese/Gutzeit in GK-BetrVG, 11. Aufl. 2018, § 87 Rn. 506 und auch Clemenz in FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, 101 ff.; Wisskirchen/Schiller/Schwindling BB 2017, 2105 ff. jeweils m.w.N. 3 Vgl. nur Trümner in DKK, 16. Aufl. 2018, § 5 BetrVG Rn. 41 ff.; Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 5 Rn. 191a ff., 206 ff. jeweils m.w.N. Auch die Schwierigkeiten der be2
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Im PC-gestützten Dienstleistungsbetrieb war bereits und ist unverändert eine „Enträumlichung“ des operativen Betriebs möglich, die bei Inkrafttreten des BetrVG 1972 nicht vorstellbar war. Noch weniger vorstellbar, dies auch noch vor einem Jahrzehnt oder auch im Jahr der BetrVG-Novelle 2000, war die weitere Entwicklung zur operativen Steuerung von Arbeitnehmern auf Basis des Internet und immer hochleistungsfähigerer ITTechnologie in „real time“ durch Mobilgeräte wie zunächst komplexere Geräte mit GPS und Funk, inzwischen durch einfaches Smartphone. Die sich aus den technischen Möglichkeiten der (fast) ubiquitär und zeitlich „live“ möglichen Kommunikation über Smartphone und Apps ergebenden unternehmerischen Chancen haben u.a. zur Entwicklung von Dienstleistungen mit Sofortbereitstellung („economy on demand“) geführt, wie insbesondere bei Personenbeförderungs- und Taxidiensten, Lieferdiensten, insbesondere Essenlieferdiensten, und weiteren „Plattformdiensten“ und Plattformvermittlern.4 Die Arbeitnehmer, die diese Dienste für diese Unternehmen ausführen, sind einerseits in aller Regel „Außendienstarbeitnehmer“ in dem klassischen Sinne, dass sie ihre vertragsgemäße Arbeitsleistung (nahezu) ausschließlich außerhalb von Betriebsgebäuden oder auch ihrer Wohnung (Home Office) bzw. außerhalb alternativer Räume (Shared Office, Co-working Space, Mobilarbeit) erbringen. Andererseits sind sie aufgrund der modernen Digitaltechnik auch durchgehend während ihrer Arbeitszeit mit ihren Vorgesetzten und den betriebssteuernden Einheiten digital verbunden. Dabei ermöglicht die moderne Digital- und Smartphone-Technik auch eine weitgehend zentrale Steuerung von Arbeitnehmern über weite Entfernungen, so dass weit weniger als früher dezentrale Steuerungsfunktionen etabliert sind. Vor diesem Hintergrund stellen sich bei der Zuordnung dieser Arbeitnehmer zu Betrieben bzw. selbstständigen oder unselbständigen Betriebsteilen alte und neue Fragen. Traditionell werden Außendienstarbeitnehmer dem Betrieb zugeordnet, in der die Leitungsebene über ihren Einsatz und konkret die Dienstpläne entscheidet, gerade auch bei Auslieferfahrern,5 denn nach ständiger Rechttriebsverfassungsrechtlichen Zuordnung von Führungskräften in den modernen Matrixorganisationen, vgl. dazu nur BAG vom 12. Juni 2019, 1 ABR 5/18, juris und BAG vom 22. Oktober 2019, 1 ABR 13/18, juris, beruhen letztlich darauf, dass die Führungskräfte aufgrund der Digitalisierung immer weniger auf physische Präsenz in der Betriebsorganisation angewiesen sind, um zu führen. 4 Vgl. dazu einführend zur Plattformökonomie aus arbeitsrechtlicher Sicht, aber weitgehend auf (die auch sehr praxisrelevanten) Statusfragen fokussiert, nur: Krause NZABeilage 2017, 53, 58 f.; Lingemann/Otte NZA 2015, 1042 ff., Wisskirchen/Schwindling ZESAR 2017, 318 ff. jeweils m.w.N. sowie rechtsvergleichend: Schubert ZVglRWiss 2019, 341 ff. m.w.N. und aus strafrechtlicher Sicht: Rieks wistra 2019, 49 ff. m.w.N. 5 Vgl. nur BAG vom 29. Januar 1992, 7 ABR 27/91, juris. Rn. 41 zu Zeitungszustellern und BAG vom 10. März 2004, 7 ABR 36/03, juris Rn. 12 zu Außenprüfern; BAG vom
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sprechung setzt die Eingliederung in bzw. zu einem Betrieb keine (allein) räumliche Bewertung, sondern eine funktionale und arbeitstechnische Beziehung voraus.6 Somit ist auch in den modernen digital gesteuerten und teils ortsunabhängigen bzw. mobilen Unternehmensmodellen der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff maßgebend für die funktionale Binnenstruktur und deren Gestaltung. In aller Regel erfüllt der Standort des Unternehmens, an dem das Hauptquartier und die Arbeitnehmer ansässig sind, die die zentralen Steuerungseinheiten bilden (Innendienst), die Voraussetzungen für einen Betrieb gemäß § 1 BetrVG. Für die Einordnung anderer dezentraler (digitaler oder physischer) Standorte kommt es in der Praxis regelmäßig nur auf die Kriterien für Betriebsteile gemäß § 4 BetrVG an.
I. Begriff des Betriebes gemäß § 1 Abs. 1 BetrVG Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts liegt ein Betrieb gemäß § 1 Abs. 1 BetrVG vor bei einer organisatorischen Einheit, innerhalb derer der Unternehmer allein oder zusammen mit seinen Mitarbeitern mit Hilfe sächlicher und immaterieller Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt.7 Die Betriebsmittel müssen für den oder die verfolgten arbeitstechnischen Zwecke zusammengefasst, geordnet und gezielt eingesetzt und die menschliche Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert werden.8 Bei der Bestimmung, ob eine organisatorische Einheit einen Betrieb darstellt, wird auf verschiedene Kriterien zur Abgrenzung abgestellt. Es sollen Organisationseinheiten als Betrieb bestimmt werden, die eine sinnvolle Ordnung der Betriebsverfassung und eine sachgerechte Wahrnehmung der 30. Juni 1993, 7 ABR 64/92, juris Rn. 30 ff. zu Wachschutzleuten sowie auch BAG vom 6. Mai 1998, 5 AZR 247/97, juris 33, allerdings zur betrieblichen Eingliederung im Hinblick auf den Arbeitsnehmerstatus; BAG vom 22. März 2000, 7 ABR 34/98, juris zu LKWFahren, allerdings in einem speziellen Fall mit Auslandsbezug; vgl. auch ArbG Mannheim vom 7. Dezember 2006, 14 BV 8/06, juris 35 f.; ArbG Hamburg vom 19. August 1997, 4 BV 4/97, juris; Trümner in DKK, 16. Aufl. 2018, § 5 BetrVG Rn. 48 ff., 50 ff., 54; Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 5 Rn. 189 ff., 191; Maschmann in Richardi, 16. Aufl. 2018, § 1 BetrVG Rn. 37 jeweils m.w.N. 6 Vgl. nur BAG vom 10. März 2004, 7 ABR 36/03, juris Rn. 12 m.w.N. und auch BAG vom 28. Juni 1995, 7 ABR 59/94, juris Rn. 17 ff. 7 Vgl. nur BAG vom 21. Juli 2004, 7 ABR 57/03, NZA-RR 2005, 671; BAG vom 29. Mai 1991, 7 ABR 54/90, NZA 1992, 74; BAG vom 14. September 1988, 7 ABR 10/87, juris Rn. 17; vgl. auch Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 1 Rn. 58 ff.; Franzen in GKBetrVG, 11. Aufl. 2018, § 1 Rn. 28 f. 8 Vgl. nur BAG vom 31. Mai 2007, 2 AZR 254/06, NZA 2007, 1307, 1308; Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 1 Rn. 64, 71 ff.
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Beteiligungsrechte des Betriebsrats gewährleisten.9 Die Kriterien sind die arbeitstechnische Zweckbestimmung, die Einheit der Organisation, die einheitliche Belegschaft, die räumliche Einheit und eine auf Dauer angelegte Organisation.10 Ob mehrere räumlich getrennte Organisationseinheiten jeweils für sich oder in ihrer Gesamtheit als Betrieb oder teils als Betriebsteil zu qualifizieren sind, ist eine Frage der personellen Leitungsstruktur. und damit der Gestaltung dieser Strukturen durch den Arbeitgeber.11 Verfügen verschiedene Einheiten (eines Unternehmens) über eine institutionell verankerte einheitliche Leitungsmacht, liegt ein Betrieb im Sinne von § 1 Abs. 1 BetrVG vor, für den auch ein (einheitlicher) Betriebsrat zu wählen ist.12 Insofern kommt es maßgeblich auf die durch den Arbeitgeber etablierte Organisation des Unternehmens an. Es ist Teil der unternehmerischen Freiheit, zentrale oder dezentrale Organisationsstrukturen zu schaffen.13 Es ist dann aber eine Frage des zwingenden betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsrechts, ob die gewählte Organisationsstruktur zum Vorliegen eines Betriebs und damit zur Betriebsratsfähigkeit führt.14 1. Einheitliche Leitung in personellen und sozialen Angelegenheiten Wesentlich und konstitutiv für den Betriebsbegriff ist eine sog. einheitliche personelle Leitung, die den Kern der Arbeitgeberfunktionen im Bereich der sozialen und personellen Angelegenheiten wahrnimmt.15 Denn es ist maßgeblich für das Bestehen einer organisatorischen Einheit, wenn die wesentlichen mitbestimmungspflichtigen Fragen für die Einheit und die ihr zugeordneten Arbeitnehmer einheitlich entschieden werden.16 Die Kompetenzen, auf die abzustellen ist, sind vor allem Mitbestimmungsrechte gemäß 9 Vgl. nur Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 1 Rn. 67 ff.; Franzen in GK-BetrVG, 11. Aufl. 2018, § 1 BetrVG Rn. 43. 10 Vgl. nur Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 1 Rn. 68 ff., 72; Maschmann in Richardi, 16. Aufl. 2018, § 1 BetrVG Rn. 22 ff.; Franzen in GK-BetrVG, 11. Aufl. 2018, § 1 BetrVG Rn. 37 ff. 11 Vgl. nur BAG vom 14. Mai 1997, 7 ABR 52/96, juris Rn. 16; BAG vom 9. Dezember 1992, 7 ABR 15/92, juris Rn. 15. 12 Vgl. nur BAG vom 14. Mai 1997, 7 ABR 52/96, juris Rn. 16. Dasselbe Prinzip gilt für den Gemeinsamen Betrieb zweier oder mehrerer Unternehmen im Sinne von § 1 Abs. 2 BetrVG. 13 Vgl. Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 1 Rn. 72; Franzen in GK-BetrVG, 11. Aufl. 2018, § 1 BetrVG Rn. 43; kritisch Trümner in DKK, 16. Aufl. 2018, § 1 BetrVG Rn. 78 ff. 14 Vgl. Franzen in GK-BetrVG, 11. Aufl. 2018, § 1 BetrVG Rn. 45. 15 Vgl. BAG vom 29. Mai 1991, 7 ABR 54/90, juris Rn. 24; BAG vom 7. Mai 2008, 7 ABR 15/07, NZA 2009, 328, 330; Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 1 Rn. 64, 71 ff.; Preis RdA 2000, 257, 278. 16 Vgl. nur BAG vom 25. September 1986, 6 ABR 68/84, juris Rn. 24; Franzen in GKBetrVG, 11. Aufl. 2018, § 1 BetrVG Rn. 43.
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§ 87, §§ 92 ff. BetrVG, insbesondere zur Ordnung des Betriebs, der Lage der Arbeitszeit, des Arbeitsentgelts, Urlaubsregelungen, und die Verwendung technischer Einrichtungen, zur Personalplanung sowie zu personellen Einzelmaßnahmen. Zu beachten ist, dass diese personelle Leitung des Betriebs nicht mit einer umfassenden Kompetenz für alle betriebsverfassungsrechtlichen Funktionen beauftragt sein muss. Es ist vielmehr hinreichend, dass die Entscheidung in sozialen und personellen Angelegenheiten im Wesentlichen der jeweiligen Leitungsfunktion überlassen ist.17 Die Interessenvertretung der Arbeitnehmer soll dort gebildet werden, wo die wesentlichen mitbestimmungspflichtigen Entscheidungen getroffen werden.18 Dies ist zwar traditionell eine (auch) räumliche Kategorie, rechtlich aber vor allem eine funktionale Bewertung. Dies zeigt sich auch in den modernen zentral digital gesteuerten Unternehmen, in denen es typischerweise außerhalb des Hauptquartiers für die Außendiensteinheiten oft kein Büro mit Innendienstmitarbeitern gibt, jedenfalls keine besonderen dezentralen (örtlichen) Personalleitungskompetenzen. Stattdessen gibt es typischerweise zentral im Hauptquartier ansässige (große) Funktionseinheiten, die sich mit den verschiedenen Bereichen der Personalleitung und Arbeitssteuerung des Außendienstes befassen wie Recruiting und Einstellung, Arbeitsvertragsmanagement, Einsatz-/Schichtplanung oder operative Steuerung (Dispatching/interne Hotline für den Außendienst). In der Praxis finden sich daher regelmäßig keine oder zu wenig Personalleitungskompetenzen, um dezentrale Betriebe im Sinne von § 1 Abs. 1 BetrVG festzustellen. 2. Sonderfall Filialunternehmen? Es ist aber eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Betriebsratsfähigkeit einzelner Filialen innerhalb einer deutschlandweiten sog. Filialstruktur zu berücksichtigen.19 Im Ergebnis ist in dem Fall offen gelassen, ob jede einzelne Filiale als ein Betrieb gemäß § 1 Abs. 1 BetrVG oder ein betriebsratsfähiger Betriebsteil nach § 4 BetrVG einzustufen ist.20 Aber die Entscheidung tendiert wohl zur Annahme selbständiger Betriebe im Sinne von § 1 Abs. 1 BetrVG für alle Filialen,21 obwohl in dem Unternehmen nur an einem zentralen Ort eine Personalleitung existierte und ein Geschäftsfüh17 Vgl. nur BAG vom 7. Mai 2008, 7 ABR 15/07, juris Rn. 19; BAG vom 31. Mai 2000, 7 ABR 78/98, juris Rn. 25; BAG vom 14. Mai 1997, 7 ABR 52/96, juris Rn. 15; Franzen in GK-BetrVG, 11. Aufl. 2018, § 1 BetrVG Rn. 43. 18 Vgl. nur Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 1 Rn. 72 m.w.N. 19 BAG vom 7. Mai 2008, 7 ABR 15/07, juris. 20 BAG vom 7. Mai 2008, 7 ABR 15/07, juris Rn. 13, 18. 21 BAG vom 7. Mai 2008, 7 ABR 15/07, juris Rn. 20.
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rer alle personalbezogenen Entscheidungen für alle Filialen traf, nicht die jeweiligen örtlich postierten Marktleiter. Nach der Entscheidung erfordert eine „einheitliche“ zentrale Personalleitung somit mehr, als die Personalentscheidungen in einer Funktion zu bündeln. Da sich die Entscheidungen des Geschäftsführers jeweils nur auf eine Filiale bezogen und nicht filialübergreifend bzw. verknüpft erfolgten, gab es nach der Entscheidung keine „einheitliche“ Leitung für alle Filialen, weil es an weiteren organisatorischen Zusammenfassung gefehlt haben soll.22 Der eine (zentrale) Entscheidungsträger war offenbar nur jeder einzelnen Filiale als (einzelne) Leitungsperson zuzurechnen. Dies ist nicht in jeder Hinsicht überzeugend,23 da zentral gesteuerte Filialen typischerweise nur (einfache) Betriebsteile sind.24 Der Fall sollte als Einzelfallentscheidung gewertet werden. Unter Berücksichtigung dieser Entscheidung aber kann eine zentrale einheitliche Personalleitung nur angenommen werden, wenn diese themen-/ funktionsbezogen einheitlich über alle Filialen oder Standorte hinweg agiert und entscheidet und gerade nicht „filialbezogen“ aufgebaut ist. Dies ist in den einzelnen Unternehmen unterschiedlich, teils finden sich standort-oder regionalbezogene Zuständigkeiten im Hauptquartier, teils allein funktionsbezogen aufgestellte Leitungsteams.
II. Teile eines Betriebes gemäß § 4 BetrVG Fehlt eine eigene einheitliche Leitung in den wesentlichen personellen Angelegenheiten, kann ein dezentraler Standort oder eine Arbeitsstätte allenfalls Teil eines Betriebes, nicht aber ein eigener Betrieb im Sinne von § 1 Abs. 1 BetrVG sein.25 Ein Betriebsteil ist eine Einheit, die in die Organisation eines Betriebs (Hauptbetrieb) integriert ist und sich an dessen Zweck orientiert, von diesem jedoch in organisatorischer Hinsicht abgrenzbar und relativ verselbständigt ist.26 Betriebsteile sind insbesondere im Hinblick auf Entscheidungen in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten nicht selbstständig, sondern sind einer anderen Einheit in wesentlichen Fragen untergeordnet.27 Nach § 4 BetrVG werden betriebsratsfähige Betriebsteile 22
BAG vom 7. Mai 2008, 7 ABR 15/07, juris Rn. 24. Vgl. auch Haas/Salamon NZA 2009, 299, 299 ff. 24 Vgl. dazu Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 4 Rn. 8 mit Verweis auch auf BAG vom 24. Februar 1976, 1 ABR 62/75. 25 Vgl. nur Maschmann in Richardi, 16. Aufl. 2018, § 1 BetrVG, Rn. 27 m.w.N. 26 Vgl. BAG vom 19. Februar 2002, 1 ABR 26/01, NZA 2002, 1300, 1301; BAG vom 21. Juli 2004, 7 ABR 57/03, juris Rn. 22. 27 Vgl. nur BAG vom 25. September 1986, 6 ABR 68/84, juris Rn. 24; BAG vom 29. Mai 1991, 7 ABR 54/90, juris Rn. 25; Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 4 Rn. 7; GK-BetrVGFranzen, 11. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 16; Richardi/Maschmann, 16. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 9 ff. jeweils m.w.N. 23
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und Einheiten von nicht betriebsratsfähigen Betriebsteilen unterschieden, aber die Norm definiert die dafür elementaren Begriffe Betriebsteil und Hauptbetrieb nicht.28 Die Abgrenzung zwischen unselbständigen, selbständigen Betriebsteilen und Betrieben ist somit nach den Kriterien und Einzelfallentscheidungen der Rechtsprechung in der Praxis schwierig, denn die Betriebsteile müssen in gewisser Weise abgrenzbar sein, ohne aber zu große Selbständigkeit zu haben und als eigener Betrieb zu erscheinen.29 Überdies sind noch die im Gesetzestext nicht so ohne Weiteres erkennbaren Unterschiede zwischen den einfachen und qualifizierten Betriebsteilen zu beachten. Ein selbständiger (als betriebsratsfähig qualifizierter) Betriebsteil liegt bereits nach den gesetzlichen Vorgaben erst vor, wenn eine räumliche Entfernung (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG) oder eine Eigenständigkeit nach Aufgaben und Organisation (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG) hinzutritt. Dann ist wiederum die Abgrenzung zu einem eigenständigen Betrieb gemäß § 1 Abs. 1 BetrVG diffizil. 30 Es ist auch zu berücksichtigen, dass verschiedene vom Hauptbetrieb weit entfernte Betriebsteile bei räumlicher Nähe untereinander unter bestimmten Voraussetzungen einen zusammengefassten (fingierten) Betrieb im Verhältnis zum Hauptbetrieb bilden können oder alternativ zwei separate qualifizierte Betriebsteile im Verhältnis zum Hauptbetrieb.31 Nach § 4 Abs. 1 BetrVG wird die Einordnung eines Betriebsteils als „selbständiger Betrieb“ – vergleichbar § 1 Abs. 1 BetrVG – fingiert, wenn bestimmte Voraussetzungen für diesen Betriebsteil vorliegen. Diese gesetzliche Fiktion hat zur Folge, dass auch in Betriebsteilen ein Betriebsrat errichtet werden darf.32 Liegen die Voraussetzungen für die Organisationseinheit nicht vor („einfacher bzw. unselbständiger Betriebsteil“), wird diese betriebsverfassungsrechtlich dem Hauptbetrieb zugeordnet.33 Die Errichtung eines Betriebsrats am Standort des einfachen Betriebsteils ist unzulässig. Ein unselbständiger Betriebsteil wird betriebsverfassungsrechtlich grundsätzlich auch nicht dem nächstgelegenen selbständigen Betriebsteil zugeordnet. Eine solche Zuordnung eines nicht betriebsratsfähigen Betriebsteils zu einem selbständigen (qualifizierten) und betriebsratsfähigen Betriebsteil kann nur dann erfolgen, 28
Vgl. nur Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 1 und 5. Vgl. nur BAG vom 9. Dezember 2009, 7 ABR 38/08, juris Rn. 24 ff.; BAG vom 17. Januar 2007, 7 ABR 63/05, juris Rn. 15, 20 ff.; Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 7 ff. jeweils m.w.N. 30 Vgl. nur Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 9 m.w.N. 31 Vgl. nur BAG vom 19. Februar 2002, 1 ABR 26/01, juris Rn. 17, 24; BAG vom 29. Mai 1991, 7 ABR 54/90, juris Rn. 25 f.; und BAG vom 7. Mai 2008, 7 ABR 15/07, juris Rn. 19 zu einem Filialunternehmen sowie Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 4 Rn. 11 m.w.N. 32 Vgl. nur Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 4 Rn. 15. 33 Vgl. nur Maschmann in Richardi, 16. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 30. 29
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wenn der unselbständige Betriebsteil dem selbständigen Betriebsteil organisatorisch untergeordnet ist und von dessen Leitung mitgeführt wird.34 Es muss insofern eine organisatorische Zusammenfassung zu einer betrieblichen Einheit vorliegen.35 1. Voraussetzungen für einen qualifizierten Betriebsteil Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG sind Betriebsteile „qualifiziert“ selbständige (betriebsratsfähige) Betriebsteile36 und gelten als fingierte selbständige Betriebe – wie ein regulärer Betrieb nach § 1 Abs. 1 BetrVG, wenn sie erstens die Voraussetzungen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG erfüllen, mithin die Anforderungen zu einer Mindestzahl von regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmern, und zweitens entweder (Nr. 1) räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt oder (Nr. 2) durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig sind. Nach der Rechtsprechung sind zusätzlich zu diesen gesetzlich erwähnten Voraussetzungen auch ungeschriebene Anforderungen zu beachten; dies wird in der Praxis oft übersehen, ist aber strukturell das vorrangige Kriterium, auch für die unternehmerische Gestaltung. a) Ungeschriebene Voraussetzung: Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit Das ungeschriebene und vielfach missachtete Tatbestandsmerkmal ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ein Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit des Betriebsteils im Verhältnis zum Hauptbetrieb.37 Dieses Mindestmaß ist erfüllt, wenn an dem Standort jedenfalls eine Person mit Leitungsmacht vorhanden ist, die funktionsgemäß arbeitgebermäßige Weisungsrechte ausübt.38 34 Vgl. nur BAG vom 29. Mai 1991, 7 ABR 54/90, juris Rn. 26; Richardi in Richardi, 15. Aufl. 2016, § 4 BetrVG Rn. 30, 43. 35 Vgl. nur BAG vom 7. Mai 2008, 7 ABR 15/07, juris Rn. 20; Fitting 29. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 11. 36 Vgl. Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 9. 37 Vgl. nur BAG vom 17. Mai 2017, 7 ABR 21/15, juris Rn. 17; BAG vom 21. Juli 2004, 7 ABR 57/03, juris Rn. 22; BAG vom 19. Februar 2002, 1 ABR 26/01, juris Rn. 17; BAG vom 28. Juni 1995, 7 ABR 59/94, juris Rn. 17; BAG vom 29. Mai 1991, 7 ABR 54/90, juris Rn. 25 f.; Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 7; Franzen in GK-BetrVG, 11. Aufl. 2018, § 4 Rn. 4. 38 Vgl. nur BAG vom 9. Dezember 2009, 7 ABR 38/08, juris Rn. 23; BAG vom 7. Mai 2008, 7 ABR 15/07, juris Rn. 19; BAG vom 17. Januar 2007, 7 ABR 63/05, juris Rn. 15, 22; BAG vom 19. Februar 2002, 1 ABR 26/01, juris Rn. 17, 24; BAG vom 28. Juni 1995, 7 ABR 59/94, juris Rn. 17; BAG vom 30. Juni 1993, 7 ABR 64/92, juris Rn. 30 ff.; BAG vom 9. Dezember 1992, 7 ABR 15/92, juris Rn. 14 ff., 18; BAG vom 29. Mai 1991, 7 ABR 54/90, juris Rn. 25 f.; sowie auch LAG Schleswig-Holstein vom 19. Oktober 2000, 5 TaBV 31/00, juris Rn. 35 ff.; Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 8.
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Dieses Kriterium ist von dem Merkmal der „Eigenständigkeit durch Aufgabenbereich und Organisation“ aus § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BetrVG zu unterscheiden. Auch insofern verlangt das Mindestmaß an organisatorischer Selbstständigkeit einen geringeren Umfang als das Merkmal der Eigenständigkeit durch Arbeitsbereich und Organisation gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BetrVG. Es handelt sich dabei um eine niedrige Anforderung. Aber es ist wiederum bei der Zuordnung von Außendienstmitarbeitern zu einem Betrieb bzw. Betriebsteil zu beachten, dass es nicht darauf ankommt, wo die Arbeitnehmer z. B. Unterlagen oder Betriebsmittel abholen und Berichte abgeben (können), sondern von welcher Stelle sie auf das Arbeitsverhältnis bezogene Anweisungen erhalten und das Direktionsrecht ausgeübt wird.39 Nicht ausreichend ist es für das Vorliegen eines Betriebsteils, einfach die Arbeitnehmer, die räumlich außerhalb einer Zentrale oder räumlichen Betriebsstätte arbeiten, zusammenzufassen. Dies bedeutet noch keine organisatorische Unterscheidbarkeit. Denn der Umstand, dass Außendienstmitarbeiter ihrer Bezeichnung entsprechend außerhalb des Betriebes tätig werden, genügt nicht, um eine hinreichend eigenständige Außendienstorganisation anzunehmen. Dafür ist wenigstens eine einheitliche Anlaufstelle für alle Außendienstbeschäftigten außerhalb des Innendienstbetriebes erforderlich und somit mindestens einen Vorgesetzten (außerhalb der Hauptbetriebsorganisation), der für alle Mitarbeiter zuständig ist.40 In den digital zentral gesteuerten Unternehmen ist in der Praxis oft bereits keine hinreichende relative Verselbständigung zu der Leitungsmacht und damit zum Mindestmaß an organisatorischer Selbstständigkeit festzustellen, denn oftmals fehlen für die dezentralen Außendiensteinheiten bereits einfache Innendienstmitarbeiter (außerhalb der regulären Organisation des zentralen Hauptbetriebs) und es findet eine direkte digitale, softwaregestützte Kommunikation mit den zentralen Steuerungseinheiten in dem Hauptquartier statt. Typisch ist es auch, dass sogar die Einsatzpläne für die dezentralen Außendiensteinheiten durch spezialisierte zentrale Einheiten softwaregestützt erstellt werden, oftmals auf Basis von Wunscharbeitszeiten oder Verfügbarkeiten (bei Teilzeit- und Abrufarbeit), die die Arbeitnehmer selbst über die Software mitteilen. Finden sich dezentral ausnahmsweise Büroräume haben diese oft vor allem eine Service- und Postkastenfunktion (zur Abgabe von Originaldokumenten wie befristete Arbeitsverträge) und/ 39 Vgl. BAG vom 10. März 2004, 7 ABR 36/03, juris; BAG vom 28. Juni 1995, 7 ABR 59/94, juris Rn. 17 ff. BAG vom 30. Juni 1993, 7 ABR 64/92, juris Rn. 30 ff.; ArbG Mannheim vom 7. Dezember 2006, 14 BV 8/06, juris Rn. 35; ArbG Hamburg vom 19. August 1997, 4 BV 4/97, juris Rn. 23 ff. 40 So zutreffend zu Außendienstkonstellationen: ArbG Mannheim vom 7. Dezember 2006, 14 BV 8/06, juris Rn. 36; ArbG Berlin vom 19. November 1999, 6 BV 22475/99, juris Rn. 64 ff.; ArbG Hamburg vom 19. August 1997, 4 BV 4/97, juris Rn. 23 ff.
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oder Lagerfunktion (für die Ausgabe und Rückgabe von Ausrüstung und sonstiges Außendienstmaterial), aber sind keine Arbeitsstelle für Vorgesetzte oder auch nur Arbeitnehmer mit arbeitsrechtlicher Entscheidungsfunktion. Dies ist jedoch jeweils im Einzelfall zu prüfen. Aus der Rechtsprechung ergeben sich folgende Beispiele für selbständige Betriebsteile mit einem Mindestmaß an organisatorischer Selbstständigkeit bzw. mit einem Fehlen solcher relativer organisatorischer Eigenständigkeit: aa) Höchstrichterliche Rechtsprechung Das Bundearbeitsgericht, vor allem der Siebte Senat, hat über die Jahrzehnte nur wenige vereinzelte Entscheidungen zum Thema treffen müssen. Nach einer älteren Entscheidung des Siebten Senats aus 1989 waren ein Dialysezentrum und eine dazu gehörende Zentrale für Techniker in demselben Gebäude zwei selbständige Betriebsteile, weil Dialysezentrum und Technikzentrale institutionell jeweils verschiedenen Leitern unterstellt waren, die jeweils ausschließlich innerhalb ihres Bereichs die Weisungsrechte ausübten.41 Der Siebte Senat hat auch im Jahr 1991 jeweils selbständige Betriebsteile angenommen für zwei Büros in Hamburg, die für die telefonische Bestellannahme eines Versandhandelsunternehmens zuständig waren.42 Für beide Büros bestand eine gesonderte Leitung in Gestalt einer sog. Teamleiterin. Die Teamleiterinnen durften jeweils den Arbeitnehmern des anderen Büros keine Weisungen erteilen oder sie zur Aushilfe anweisen. Die unter diesen Büros übliche Personalaushilfe bedurfte stets des Einverständnisses der anderen Teamleiterin. Der Erste Senat hat im Jahr 1995 wiederum einen selbständigen Betriebsteil angenommen für einen Standort, an dem eine Büroleiterin die Vorgesetztenfunktion für die am Standort tätigen Arbeitnehmer ausgeübt hat.43 Zwar hat das am räumlich entfernte Hauptquartier die grundsätzlichen Arbeitsanweisungen und alle Personalentscheidungen getroffen. Doch sah der Senat vor Ort ein hinreichendes Mindestmaß an Koordination und Ausübung von Weisungsrechten durch die Büroleitung. Eine jüngere Entscheidung des Siebten Senats aus dem Jahr 2017 betraf ein Unternehmen mit zwei Standorten.44 Während an einem Standort der Werksleiter, der Personalleiter und die zentrale Personalleitung für beide Standort ansässig waren, oblag die Leitung des anderen Standortes einem „Manager Operations“, der wiederum dem Werksleiter unterstellt war. Der 41
Vgl. BAG vom 26. Juli 1989, 7 ABR 22/88, juris Rn. 25. Vgl. BAG vom 29. Mai 1991, 7 ABR 54/90, juris Rn. 27. 43 Vgl. BAG vom 19. Februar 2002, 1 ABR 26/01, juris Rn. 19. 44 Vgl. BAG vom 17. Mai 2017, 7 ABR 21/15, juris Rn. 17. 42
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Manager Operations hatte ein Mitspracherecht in Personalangelegenheiten, nicht aber die letzte Entscheidungskompetenz.45 Der Senat hat auf der Basis das für einen Betriebsteil erforderliche Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit festgestellt. Insoweit genügte es, dass der Manager Operations den Einsatz der Arbeitnehmer am Standort bestimmte.46 In einem älteren Fall aus dem Jahr 1993 dagegen hat der Siebte Senat keine für einen selbständigen Betriebsteil hinreichende lokale Leitungsmacht und Weisungsbefugnis gesehen bei einem Wachmann, der für andere Wachschutzleute lokal bezogen für ein Schutzobjekt als Ansprechpartner fungierte, dazu einen separaten Raum im Schutzobjekt nutze und sogar die Einsatzpläne der Zentrale ergänzen sowie bei Personalausfällen für Vertretung sorgen sollte.47 Ebenso hat der Siebte Senat im Jahr 1995 einen selbständigen Betriebsteil abgelehnt für ein Unternehmen, das nur ein Einraumbüro mit Telefon und Anrufbeantworter unterhielt, das arbeitstäglich in der Zeit von 7 bis 10 Uhr mit einem Mitarbeiter besetzt war.48 Es handelte sich um eine bloße Arbeitsstätte. Die Tätigkeit des Büromitarbeiters beschränkte sich darauf, Krankmeldungen anderer Arbeitnehmer an die zentrale Personalabteilung zu melden und Anrufe an andere Standorte weiterzuleiten. Der Senat bewertete es so, dass an dem Standort keine Entscheidungen getroffen wurden, und stellte auch auf die lediglich dreistündige Anwesenheit des Büromitarbeiters ab. bb) Anwendung auf digital zentral gesteuerte Unternehmen Werden diese höchstrichterlichen Grundsätze angewandt auf typische Strukturen von zentral digital gesteuerten Unternehmen mit dezentralen Außendienstmitarbeitern, fehlt es regelmäßig an einer hinreichend eigenständigen Organisation und damit an einem qualifizierten Betriebsteil. Denn die Außendienstmitarbeiter dieser Unternehmen mit zentraler digitaler Steuerung werden gerade nicht vor Ort durch Vorgesetzte gesteuert oder auch nur durch andere Arbeitnehmer arbeitsrechtlichen Weisungen unterworfen. Dies ist vergleichbar mit der Situation von Außendienstmitarbeitern, die dezentral verstreut im Home Office arbeiten und allein aus dem Hauptbetrieb geführt werden.49 Ist aber nach diesen höchstrichterlichen Maßstäben in den dezentralen Einheiten doch hinreichend lokale Entscheidungsbefugnis und Weisungs45
Vgl. LAG Köln vom 6. Februar 2015, 4 TaBV 60/14, juris Rn. 40 (Vorinstanz). Vgl. BAG vom 17. Mai 2017, 7 ABR 21/15, juris Rn. 18. 47 Vgl. BAG vom 30. Juni 1993, 7 ABR 64/92, juris Rn. 30 ff. 48 Vgl. BAG vom 28. Juni 1995, 7 ABR 59/94, juris Rn. 18. 49 Vgl. zu solchen Fällen ArbG Mannheim vom 7. Dezember 2006, 14 BV 8/06, juris Rn. 35 ff. und ArbG Hamburg vom 19. August 1997, 4 BV 4/97, juris Rn. 23 ff. zur Ablehnung eines qualifizierten Betriebsteils gemäß § 4 BetrVG wegen fehlender relativer Eigenständigkeit. 46
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kompetenz gegenüber den Arbeitnehmern vorhanden, soll nach einer Instanzentscheidung nicht erforderlich sein, dass sich die vorhandene Leitungsmacht lokal auf alle Arbeitnehmer der organisatorischen Einheit oder ausschließlich auf diese bezieht.50 b) Geschriebene Voraussetzungen gemäß § 4 Abs. 1 BetrVG Liegt ein Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit und Entscheidungsbefugnis dezentral vor, sind die gesetzlichen Kriterien für einen qualifizierten Betriebsteil zu untersuchen. In der ersten Alternative ist ein Betriebsteil qualifiziert nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG, wenn er räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt ist. Der Begriff der räumlich weiten Entfernung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Regelungszweck ist es, eine effektive Vertretung solcher Arbeitnehmer durch einen eigenen Betriebsrat zu gewähren, wenn die Entfernung zum Hauptbetrieb die persönliche Kontaktaufnahme und damit eine effektive Vertretung erschwert.51 Weniger entscheidend als die absolute Entfernung in Kilometern ist die konkrete Verkehrsanbindung (in zeitlicher Hinsicht) und die konkrete Betreuungsmöglichkeit;52 relevant ist insbesondere die Verbindung durch Verkehrsmittel des öffentlichen Personenverkehrs, wenn für einen nicht unerheblichen Teil der Arbeitnehmer der Hauptbetrieb nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht mit privaten Autos oder arbeitgeberseitigem Fahrdienst erreichbar ist.53 Andererseits kann bei Nutzung von privaten PKW durch fast alle Arbeitnehmer auch auf den Autofahrweg abgestellt werden.54 Bei guter Verkehrsanbindung ist etwa eine Entfernung von etwa 30 km bzw. eineinhalb Stunden Fahrzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder 40 bis 45 km nicht als „räumlich weit entfernt“ betrachtet worden.55 Auch eine Distanz von 70 km ist wegen optimaler Betreuung durch freigestellte Betriebsratsmitglieder nicht „weit“ gewesen,56 während bei schlechter Anbindung selbst 28 km als zu weit entfernt eingestuft wurden.57 Jedenfalls sind 300 km eine zu weite Entfernung.58 Diese Spannweite der Einzelfälle in 50
So ArbG Frankfurt a.M. vom 21. Juli 2009, 12 BV 184/09, juris Rn. 57. Vgl. BAG vom 19. Februar 2002, 1 ABR 26/01, NZA 2002, 1300, 1301. 52 Vgl. nur BAG vom 17. Mai 2017, 7 ABR 21/15, juris Rn. 20; BAG vom 7. Mai 2008, 7 ABR 15/07, juris Rn. 26. 53 Vgl. nur BAG vom 17. Mai 2017, 7 ABR 21/15, juris Rn. 23; BAG vom 7. Mai 2008, 7 ABR 15/07, juris Rn. 29; BAG vom 3. Juni 2004, 2 AZR 577/03, juris Rn. 15. 54 Vgl. nur BAG vom 30. Juni 1993, 7 ABR 64/92, juris Rn. 22, 34 ff. 55 Vgl. BAG vom 30. Juni 1993, 7 ABR 64/92, juris Rn. 337 f.; BAG vom 24. Februar 1976, 1 ABR 62/75, juris Rn. 18. 56 Vgl. BAG vom 24. September 1968, 1 ABR 4/68, juris Rn. 23. 57 Vgl. BAG vom 23. September 1960, 1 ABR 9/59, juris Rn. 15. 58 Vgl. BAG vom 15. Dezember 2011, 8 AZR 692/10, NZA-RR 2012, 570, 574 und auch Franzen in GK-BetrVG, 11. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 13 f. m N. zu weiteren Beispielen. 51
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der Rechtsprechung erschwert eine rechtssichere Beurteilung im konkreten Einzelfall. Für digital und zentral gesteuerte Unternehmen, die deutschlandweit Außendienstarbeitnehmer einsetzen bedeutet dies jedoch, dass es nur dann keine qualifizierten Betriebsteile mit Option zur Betriebsratsbildung gibt, wenn die Mindestanforderungen der Rechtsprechung an die organisatorische Selbständigkeit nicht erfüllt sind, da jedenfalls für die Vielzahl der dezentralen Einheiten die weite räumliche Entfernung im Sinne der Norm vorliegt. Für nahe gelegene Außendiensteinheiten ist alternativ ein Betriebsteil qualifiziert gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BetrVG, wenn er durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig ist. Ein eigenständiger Aufgabenbereich setzt voraus, dass die dem Betriebsteil zugewiesenen Aufgaben von sonstigen im Betrieb verfolgte Aufgaben deutlich zu unterscheiden sind und aus diesem Grunde die Organisation im Verhältnis zum Hauptbetrieb relativ verselbständigt ist.59 Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Betriebsteil im Verhältnis zum Hauptbetrieb einen anderen arbeitstechnischen Zweck verfolgt.60 Dies ist aber bei den zentral digital gesteuerten Unternehmen regelmäßig nicht der Fall, weil Teil des arbeitstechnischen Zwecks des Hauptbetriebs aufgrund der Zentralisierung gerade auch immer identisch ist mit dem Teilzweck des Außendienstes, wie z. B. Lieferung oder Beförderung etc. Insoweit schadet es nicht, dass der Hauptbetrieb auch noch andere Zwecke verfolgt wie Unterhalt der Plattform und Marketing dafür bzw. bei Vermittlungsmodellen das Anwerben von Lieferantenvertragspartnern. Für das Merkmal der eigenständigen Organisation ist eine eigene Leitung erforderlich, die für den Betriebsteil im Wesentlichen selbständig entscheiden kann, insbesondere auch im Bereich mitbestimmungspflichtiger Angelegenheiten.61 Zugleich darf diese personelle Leitung aber nicht die Qualität einer Leitung im Sinne von § 1 Abs. 1 BetrVG erreichen, weil dann bereits ein eigenständiger (vollständiger) Betrieb gegeben wäre. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Voraussetzung verneint bei einer Niederlassung, weil der Niederlassungsleiter lediglich die tägliche Arbeitszeit festlegen durfte und eine zentrale Geschäftsleitung alle relevanten sonstigen personellen Entscheidungen getroffen hat.62
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Maschmann in Richardi, 16. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 26. Vgl. Franzen in GK-BetrVG, 11. Aufl. 2018, § 4 Rn. 16; Fitting 29. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 24. 61 Vgl. BAG vom 21. Juli 2004, 7 ABR 57/03, juris Rn. 22; BAG vom 29. Mai 1991, 7 ABR 54/90, juris Rn. 25. 62 Vgl. BAG vom 14. Januar 2004, 7 ABR 26/03, juris Rn. 29. 60
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Anja Mengel
2. Rechtsfolge: Optionale Zuordnung zum Hauptbetrieb gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrVG Die Arbeitnehmer in einem qualifizierten Betriebsteil haben nach § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ein Optionsrecht und können entweder selbst einen Betriebsrat errichten oder an der Betriebsratswahl im Hauptbetrieb teilnehmen und damit von diesem Betriebsrat betreut werden. Entscheidet sich die Belegschaft in einem qualifizierten Betriebsteil für die Zuordnung zum Hauptbetrieb, bilden Betriebsteil und Hauptbetrieb fortan einen einheitlichen Betrieb im Sinne des Betriebsverfassungsrechts.63 Erforderlich ist aber, dass im Hauptbetrieb bereits ein Betriebsrat errichtet ist.64 Wird das Optionsrecht nicht ausgeübt, sind die betroffenen Arbeitnehmer in den qualifizierten Betriebsteilen vertretungslos.65 Ein im Hauptbetrieb gewählter Betriebsrat kann sie dann nicht repräsentieren.66
III. Fazit In den modernen, zentral digital gesteuerten Dienstleistungs- und Plattformunternehmen, die einen hohen Anteil von Arbeitnehmern im Außendienst beschäftigen, bestehen weite Gestaltungsräume zur betriebsverfassungsrechtlichen Struktur, bereits allein auf Basis der normativen Vorgaben in § 1 und § 4 BetrVG, unabhängig von den kollektivrechtlichen Modellen nach § 3 BetrVG.
neue rechte Seite! 63 Vgl. BAG vom 17. September 2013, 1 ABR 21/12, NZA 2014, 96, 97; anders noch: LAG München vom 26. Januar 2011, 11 TaBV 77/10, NZA-RR 2011, 299; vgl. auch Bayreuther NZA 2011, 727; Salamon/Gebel NZA 2014, 1319. 64 Vgl. Trümner in DKK, 16. Aufl. 2018, § 4 BetrVG, Rn. 107. 65 Vgl. Franzen in GK-BetrVG, 11. Aufl. 2018, § 4 BetrVG Rn. 19. 66 Vgl. BAG vom 19. Februar 2002, 1 ABR 26/01, juris Rn. 23.
Mindestanteil von Frauen und Männern im Aufsichtsorgan
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Mindestanteil von Frauen und Männern im Aufsichtsorgan Hartmut Oetker
Mindestanteil von Frauen und Männern im Aufsichtsorgan paritätisch mitbestimmter börsennotierter SE – zugleich ein Beitrag zu den Schranken der Beteiligungsvereinbarung HARTMUT OETKER
I. Einleitung Das Bestreben, den Anteil von Frauen unter den Führungskräften in Unternehmen zu erhöhen, führte nach einer mehrjährigen rechtspolitischen Diskussion zu einem formal auf jedes Geschlecht1 bezogenen zwingenden Mindestanteilsgebot für den Aufsichtsrat, das in § 96 Abs. 2 AktG jedoch auf paritätisch mitbestimmte börsennotierte Aktiengesellschaften beschränkt bleibt. Dies warf bereits während der Entstehung des Gesetzes für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen2 die Frage nach der Umsetzung des geschlechtsbezogenen Mindestanteilsgebots auf, wenn die Aktiengesellschaft im Wege einer grenzüberschreitenden Verschmelzung errichtet wurde oder in der Rechtsform einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) verfasst ist, da in beiden Konstellationen sowohl eine paritätische Mitbestimmung als auch eine Börsennotierung der Gesellschaft in Betracht kommt. Während § 96 Abs. 3 AktG expressis verbis eine Sonderregelung für aufgrund grenzüberschreitender Verschmelzung errichtete und dem Aktiengesetz unterliegende Aktiengesellschaften trifft, hat der Gesetzgeber das Mindestanteilsgebot für die SE in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG bezüglich des Aufsichtsorgans und in § 24 Abs. 3 Satz 1 SEAG hinsichtlich des Verwaltungsrats so ausgestaltet, dass – so jedenfalls die Vorstellung des historischen Gesetzgebers3 – bei der SE die in § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG eröffnete Option zu einer Getrennterfüllung versperrt ist und für die 1 Die Regelung in § 96 Abs. 2 AktG geht – wie sich unschwer aus den benannten Geschlechtern in § 96 Abs. 2 Satz 1 AktG (Frauen, Männern) ergibt – noch von einer bipolaren Geschlechterzuordnung aus, ohne das sog. dritte Geschlecht zu berücksichtigen. Zur Wahrung des Mindestanteilsgebots sind Personen, die einem dritten Geschlecht angehören, bei dem jeweils anderen Geschlecht zu berücksichtigen (s. Oetker ErfKomm ArbR, 20. Aufl. 2020, § 96 AktG Rn. 4. 2 Instruktiv zum Gesetzgebungsverfahren Seibert NZG 2016, 16 ff. 3 S. BT-Ausschuss, BT-Drucks. 18/4227, 22.
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Wahrung des Mindestanteilsgebots stets der Modus einer Gesamterfüllung gilt. Angesichts der normativen Ausgangslage in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG überraschte die Einladung zur Hauptversammlung der BASF SE am 3.5.2019 unter TPO 6 mit der Information, dass die Seite der Anteilseignervertreter der Gesamterfüllung widersprochen habe und der Mindestanteil daher von der Seite der Anteilseigner und der Seite der Arbeitnehmer getrennt zu erfüllen sei.4 Die Diskrepanz zu § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG liegt auf der Hand, löst sich jedoch anscheinend bei einem Blick in die bei der BASF SE geltende SE-Beteiligungsvereinbarung auf. Diese wiederholt unter II. 1.a zwar den aus § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG verbreitet abgeleiteten Modus der Gesamterfüllung für das Mindestanteilsgebot, eröffnet aber zugleich in Übernahme von § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG sowohl den Anteilseignervertretern als auch den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat die Option, gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden für die bevorstehende Wahl der Gesamterfüllung zu widersprechen.5 Für diesen Fall ordnet die Beteiligungsvereinbarung zugleich an, „dass der Mindestanteil für die bevorstehende Wahl von der Anteilseignerseite und der Arbeitnehmerseite getrennt zu erfüllen ist“. Ergänzend sieht die Beteiligungsvereinbarung die entsprechende Anwendung für eine gerichtliche Bestellung vor und trifft zudem unter II 5.a eine § 18a MitbestG nachgebildete Rechtsfolgenbestimmung für die Arbeitnehmervertreter, wenn für den Fall eines Widerspruchs gegen die Gesamterfüllung der erforderliche Mindestanteil von 30% unter den Arbeitnehmervertretern nicht erreicht wird. Der vorstehende und nicht auf die BASF SE beschränkte Befund6 wirft verschieden gelagerte Rechtsfragen auf. Bei ihnen steht zunächst die in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG vermeintlich angeordnete Beschränkung zur Wahrung des Mindestanteilsgebots auf den Modus einer Gesamterfüllung im Fokus (dazu II.), deren Unionsrechtskonformität im Schrifttum teilweise in Frage gestellt und ergänzend für eine auch bei der SE bestehende Option zur Getrennterfüllung plädiert wird.7 Ungeachtet der hierzu befürworteten Po4 Ebenso TOP 6 der Einladung zur Hauptversammlung der SGL Carbon SE am 29.5.2018 sowie TOP 4 der Einladung zur Hauptversammlung der MAN SE am 22.5.2019. 5 Übereinstimmend § 15 der Beteiligungsvereinbarung bei der MAN SE. Abweichend jedoch Nr. 16.3 der Beteiligungsvereinbarung bei der SGL Carbon SE, wonach die Geschlechterquote jeweils getrennt zu erfüllen ist, sofern nicht ausnahmsweise die Anteilseigner- und die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat einer Gesamterfüllung zustimmen. 6 S. vorstehend Fn. 5. 7 Hierfür Henssler in Habersack/Henssler Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, Einleitung SEBG Rn. 140g, § 21 SEBG Rn. 54d; Hohenstatt/Wendler in Hohenstatt/Seibt Geschlechter- und Frauenquoten in der Privatwirtschaft, 2015, Rn. 343 ff.; Manz in Manz/Mayer/Schröder Europäische Aktiengesellschaft-SE, 3. Aufl. 2019, Art. 40 SE-VO Rn. 31d; Seibt in Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, Art. 40 SE-VO Rn. 44b (a.A. wohl noch Seibt ZIP 2015, 1193 [1202]); Teichmann/Rüb BB 2015, 898 (905); im An-
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sition steht die inhaltliche Reichweite der Beteiligungsvereinbarung auf dem Prüfstand (dazu III.), da sich diese insbesondere bei einer hierin eröffneten Option zugunsten einer Getrennterfüllung nicht mehr darauf beschränkt, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsorgan der SE auszugestalten. Angesichts der in der Einladung zur Hauptversammlung der BASF SE angekündigten und nachfolgend vollzogenen Wahl der Anteilseignervertreter nach Maßgabe einer Getrennterfüllung ist abschließend ein Blick auf die Rechtsfolgen zu werfen (dazu III. 3.), wenn eine Beteiligungsvereinbarung mit der konkreten Regelung zum Mindestanteilsgebot die ihr gezogenen rechtlichen Schranken überschritten haben sollte und auf dieser Grundlage eine Wahl der Aufsichtsratsmitglieder durchgeführt wurde.
II. Normative Ausgangslage nach § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG 1. Der Weg zur starren Quote für die SE Die Umsetzung des legislativen Anliegens, für den Aufsichtsrat paritätisch mitbestimmter börsennotierter Aktiengesellschaften für beide Geschlechter einen Mindestanteil von 30% festzulegen, warf von Beginn an die Frage nach der Umsetzung bei der SE auf. Ein vollständiger Verzicht auf die für die Aktiengesellschaft angestrebten Regelungen kam rechtspolitisch schon deshalb nicht in Betracht, weil die SE hierdurch als Vehikel für eine „Flucht vor der Quote“ ungewollte Anziehungskraft entfaltet hätte. Der Referentenentwurf vom 9.9.2014 favorisierte bezüglich der Geschlechterquote gleichwohl noch eine abgeschwächte weiche Lösung,8 die sich auf eine Sollregelung beschränkte. Vor dem Hintergrund des für nach dem Aktiengesetz errichtete Aktiengesellschaften ausschließlich eröffneten Modus einer Getrennterfüllung (s. § 96 Abs. 2 Satz 2 AktG–RefE) differenzierte diese zwischen den Anteilseignervertretern und den Arbeitnehmervertretern und blieb damit hinter der strikten Vorgabe für die Aktiengesellschaft zurück. Umgesetzt werden sollte dieses Konzept einer „weichen“ Getrennterfüllung einerseits für die Anteilseignervertreter in § 17 Abs. 2 SEAG-RefE und andererseits für die Arbeitnehmervertreter im SEBG, wosatz auch Sagan RdA 2015, 255 (258), da er das Mindestanteilsgebot auf die Anteilseignervertreter beschränkt; ebenso bei fehlender Beteiligungsvereinbarung Evers Geschlechtsbezogenes Mindestanteilsgebot im paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft, 2019, 291 f. sowie für die monistische SE Teichmann in Lutter/Hommelhoff/ Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 24 SEAG Rn. 7; Verse in Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, § 24 SEAG Rn. 7. 8 Dazu auch Kleinsorge in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, EU-Recht Rn. 63 ff.; Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SEKommentar, 2. Aufl. 2015, vor § 1 SEBG Rn. 31; s. ferner Seibert NZG 2016, 16 (18) sowie Sagan RdA 2015, 255 (257).
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bei sich die Sollbestimmung für die Beteiligungsvereinbarung (§ 21 Abs. 5 SEBG-RefE) auf alle Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsorgan erstreckte, während die Sollregelung für die gesetzliche Auffangregelung (§ 36 Abs. 2 Satz 3 SEBG-RefE) auf die auf das Inland entfallenden Arbeitnehmervertreter beschränkt war. In der Konsequenz dieses Regelungsansatzes lag es, dass § 17 Abs. 2 Satz 2 SEAG-RefE die Anwendung der in § 96 Abs. 2 AktGRefE vorgesehene zwingende Mindestquote ausdrücklich ausschloss. Angesichts der mit dieser weichen Vorgabe für die Geschlechterquote unverändert nicht abgewendeten Gefahr, dass die SE als Vehikel für eine „Flucht vor der starren Quote“ instrumentalisiert wird, überrascht es nicht, dass der nachfolgende Regierungsentwurf umschwenkte und auch für die SE eine starre Quote für das Mindestanteilsgebot vorschlug,9 sich hierfür aber auf eine Änderung des § 17 Abs. 2 SEAG beschränkte und das SEBG – im Unterschied zum Referentenentwurf – im Übrigen unberührt ließ. Bezogen auf die hier thematisierte Fragestellung ist bemerkenswert, dass der im weiteren Gesetzgebungsverfahren unverändert gebliebene § 17 Abs. 2 SEAG-RegE in Satz 1 lediglich die Grundnorm zum Mindestanteilsgebot in § 96 Abs. 2 Satz 1 AktG adaptiert10 und von einer Übernahme der in dem Regierungsentwurf für Aktiengesellschaften erstmals eingeführten Gesamterfüllung (§ 96 Abs. 2 Satz 2 AktG) verbunden mit dem zur Getrennterfüllung führenden Widerspruchsrecht (§ 96 Abs. 2 Satz 3 AktG) absieht. Dabei offenbart die Begründung des federführenden Bundestagsausschusses, dass es sich nicht um ein gesetzgeberisches Versehen handelte, sondern bewusst geschah, da bei der SE nach Auffassung des Bundestagsausschusses nur eine Gesamterfüllung in Betracht kommen sollte.11 Grundlage hierfür war vor allem die rechtstatsächlich zutreffende Annahme, dass eine paritätische Mitbestimmung in der SE regelmäßig auf einer Beteiligungsvereinbarung beruht12 und hiermit ein einseitiges Widerspruchsrecht unvereinbar sei.13 Wegen dieser deutlichen Positionierung des Gesetzgebers hat sich das Schrifttum bislang überwiegend dieser Würdigung angeschlossen, beschränkt den durch § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG vorgegebenen Modus für die Erfüllung des Mindestanteilsgebots auf die Gesamterfüllung und negiert ein 9
Grundlage hierfür war die im Koalitionsausschuss am 25.11.2014 erzielte Einigung; s. Seibert NZG 2016, 16 (19); ferner Sagan RdA 2015, 255 (257). 10 Treffend Kleinsorge in Nagel/Freis/Kleinsorge, SEBG, SCEBG, MgVG, 3. Aufl. 2018, GesR SE Rn. 155; ders. in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, EU-Recht Rn. 70. 11 BT-Ausschuss, BT-Drucks. 18/4227, S. 22. 12 Eine nach deutschem Recht errichtete SE, deren paritätische Mitbestimmung auf der gesetzlichen Auffangregelung beruht, ist – abgesehen von dem Sonderfall in BGH 23.7.2019 – II ZB 20/18 (NZG 2019, 1157 ff.) – bislang nicht anzutreffen. 13 BT-Ausschuss, BT-Drucks. 18/4227, S. 22; s. insoweit auch Kleinsorge in Nagel/ Freis/Kleinsorge, SEBG, SCEBG, MgVG, 3. Aufl. 2018, GesR SE Rn. 155 f.; ders. in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, EU-Recht Rn. 70.
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den Vertretern der Anteilseigner bzw. den Vertretern der Arbeitnehmer im Aufsichts- bzw. Verwaltungsorgan kraft Gesetzes zustehendes und zur Getrennterfüllung führendes Widerspruchsrecht.14 2. Normexegese des § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG Nach Maßgabe der tradierten Auslegungskriterien ist indes trotz der deutlichen Positionierung des Gesetzgebers gegen ein zur Getrennterfüllung führendes Widerspruchsrecht15 nicht zweifelsfrei, ob § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG für das Aufsichtsorgan den Modus einer Gesamterfüllung zur Wahrung des Mindestanteilsgebots als alleinige Erfüllungsvariante vorgibt. Bedenken weckt vor allem ein Vergleich von § 17 Abs. 2 SEAG mit § 96 Abs. 2 AktG, da die Vorgabe in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG mit der allgemeinen und auf das 30%-Quorum bezogenen Regelung in § 96 Abs. 2 Satz 1 AktG korrespondiert.16 Bezüglich des Modus zur Wahrung des Mindestanteilsgebots trifft § 96 Abs. 2 Satz 1 AktG jedoch keine Aussagen; diese enthalten ausschließlich der nachfolgende Satz 2 und 3, die in § 17 Abs. 2 SEAG jedoch keine Entsprechung finden. Aus diesem systematischen Vergleich kann jedoch nicht geschlossen werden, § 17 Abs. 2 SEAG habe den Modus für die Wahrung des Mindestanteilsgebots offengelassen. Hiergegen spricht vor allem, dass die ausdrückliche Festlegung der Gesamterfüllung in § 96 Abs. 2 Satz 2 AktG untrennbar mit dem zur Getrennterfüllung führenden Widerspruchsrecht in § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG verknüpft ist. Hätte der Gesetzgeber dieses für die Aktiengesellschaft nicht eröffnet, dann bliebe der Regelung in § 96 Abs. 2 Satz 2 AktG lediglich klarstellende Bedeutung, da auch ohne sie aus § 96 Abs. 2 Satz 1 AktG folgen würde, dass für die Wahrung des Mindestanteilsgebots auf das Gesamtorgan („der Aufsichtsrat“) abzustellen ist, was dem Modus einer Gesamterfüllung entspricht. Aus dem Verzicht auf eine § 96 Abs. 2 Satz 2 AktG entsprechende Regelung in § 17 Abs. 2 SEAG, die für die Wahrung des Mindestanteilsgebots eine Gesamterfüllung festlegt, lässt sich des14 So Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 15; Grobe AG 2015, 289 (298); Jacobs in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2017, Vor § 1 SEBG Rn. 51; Kleinsorge in Nagel/Freis/Kleinsorge SEBG MgVG, 3. Aufl. 2018, GesR SE Rn. 155; ders. in Wißmann/Kleinsorge/Schubert Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, EU-Recht Rn. 70; Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Vor § 1 SEBG Rn. 32; ders. ZHR Bd. 179 (2015), 707 (739 ff.); Reichert/Brandes MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2017, Art. 40 SE-VO Rn. 79; Schulz/Ruf BB 2015, 1155 (1156); Stüber CCZ 2015, 38 (39 f.); dies. DStR 2015, 947 (951); Wißmann FS Höland, 2015, S. 600 (607); in diesem Sinne auch noch Seibt ZIP 2015, 1193 (1202). 15 S. BT-Ausschuss, BT-Drucks. 18/4227, 22. 16 Treffend Kleinsorge in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, EU-Recht Rn. 70; ders. in Nagel/Freis/Kleinsorg SEBG SCEBG MgVG, 3. Aufl. 2018, GesR SE Rn. 155.
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halb nicht zwingend ableiten, der Gesetzgeber habe hierdurch den Erfüllungsmodus für die Wahrung des Mindestanteilsgebots offengelassen, so dass die hierdurch interpretativ kreierte Regelungslücke rechtsfortbildend durch eine Analogie zu § 96 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG oder über die Generalverweisung in Art. 9 Abs. 1 lit. c Nr. ii SE-VO geschlossen werden könnte. Für einen Verzicht auf den Modus der Getrennterfüllung und das Bekenntnis zur Gesamterfüllung als alleinigem Modus zur Erfüllung des Mindestanteilsgebots lässt sich zudem § 96 Abs. 3 AktG zum Mindestanteilsgebot bei einer aufgrund grenzüberschreitender Verschmelzung errichteten Aktiengesellschaft anführen. Aus der ausdrücklichen Benennung der aus § 96 Abs. 2 AktG entsprechend anzuwendenden Vorschriften in § 96 Abs. 3 Satz 2 AktG sowie dem dortigen Verzicht auf § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG folgt im Umkehrschluss, dass der Modus der Getrennterfüllung nicht zur Verfügung steht.17 Da der Gesetzgeber dies unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Begründung zu § 17 Abs. 2 SEAG-RegE mit dem Vorliegen einer europäischen Vereinbarung zur Einführung einer paritätischen Mitbestimmung gerechtfertigt hat,18 liegt es nahe, dass bezüglich des Erfüllungsmodus ein Gleichlauf von aufgrund grenzüberschreitender Verschmelzung errichteten Aktiengesellschaften und Europäischen Aktiengesellschaften gewollt ist. Würde bei der SE kraft Gesetzes die Option zur Getrennterfüllung ungeachtet einer Beteiligungsvereinbarung zur Mitbestimmung bestehen, dann wäre es sinnwidrig, diese einer Aktiengesellschaft zu verwehren, die aufgrund einer grenzüberschreitenden Verschmelzung errichtet wurde. Gegen einen Rückschluss von § 96 Abs. 3 AktG auf den Regelungsinhalt von § 17 Abs. 2 SEAG lässt sich jedoch anführen, dass § 96 Abs. 3 Satz 2 AktG ausdrücklich die entsprechende Anwendung von § 96 Abs. 2 Satz 2 AktG anordnet und hierdurch unmissverständlich den Modus einer Gesamterfüllung festlegt. Allerdings wurde bereits dargelegt, dass die explizite Anordnung der Gesamterfüllung bei einem Verzicht auf die Option zur Getrennterfüllung vor dem Hintergrund der Vorgabe eines Mindestanteils17 Ebenso für die allg. Ansicht BT-Ausschuss, BT-Drucks. 18/4227, 25; Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 96 Rn. 64; Habersack in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 96 Rn. 58; ders. in Habersack/Henssler Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 25 MgVG Rn. 2; Henssler in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019, § 96 AktG Rn. 17; Hohenstatt//Wendler in Hohenstatt/Seibt, Geschlechter- und Frauenquoten in der Privatwirtschaft, 2015, Rn. 374; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 96 Rn. 27; Oetker ZHR Bd. 179 (2015), 707 (744); Röder/Arnold NZA 2015, 279 (280); Seibt ZIP 2015, 1193 (1202); Seibt/Cziupka in Hohenstatt/Seibt, Geschlechter- und Frauenquoten in der Privatwirtschaft, 2015, Rn. 433; Simons in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 96 Rn. 78 (Missgriff de lege lata); Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 96 Rn. 31a; Stüber DStR 2015, 947 (950). 18 Begr. RegE, BT-Drucks. 18/3784, 122, 134 (zu § 17 Abs. 2 SEAG-RegE); ebenso BTAusschuss, BT-Drucks. 18/4227, 25; kritisch insoweit Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 96 Rn. 27; Simons in Hölters AktG, 3. Aufl. 2017, § 96 Rn. 78.
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gebots von 30% lediglich klarstellende Bedeutung hat,19 so dass aus dem Unterlassen einer vergleichbaren Klarstellung in § 17 Abs. 2 SEAG nicht gefolgert werden kann, die Norm verzichte auf die Vorgabe für einen Modus zur Erfüllung des Mindestanteilsgebots und hinterlasse diesbezüglich eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke. Deshalb ist auch die Verweisung in Art. 9 Abs. 1 lit. c Nr. ii SE-VO kein tauglicher Ansatz, um über diese den Regelungsinhalt von § 96 Abs. 2 Satz 2–7 AktG bei der SE generell zur Anwendung zu bringen.20 Der Rückgriff auf die Verweisungsnorm ist zwar im Hinblick auf § 96 Abs. 2 Satz 5 AktG sowie § 96 Abs. 2 Satz 6 und 7 AktG in Übereinstimmung mit den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers21 allseits konsentiert,22 methodisch setzt die zur Anwendung des nationalen Aktienrechts führende Generalverweisung aber voraus, dass das nach der Verweisungspyramide in Art. 9 Abs. 1 lit. c SE-VO vorrangige SE-Ausführungsgesetz keine Regelung trifft.23 Insoweit sind ausdrückliche Anordnungen – wie z.B. in § 96 Abs. 3 Satz 2 AktG sowie noch in § 17 Abs. 2 Satz 2 SEAG-RefE – zwar wünschenswert, methodologisch aber keineswegs zwingend erforderlich. Ein Ausschluss der Generalverweisung auf das nationale Aktienrecht kann sich vielmehr auch aus einer Auslegung der nach Art. 9 Abs. 1 lit. c Nr. i SE-VO vorrangigen Rechtsvorschriften ergeben.24 Wird § 17 Abs. 2 Satz 1 AktG deshalb im Wege der Auslegung als eine ausreichende und zugleich abschließende Regelung zur Fixierung des Modus einer Gesamterfüllung bewertet, dann fehlt die für den Rückgriff auf die Generalverweisung in Art. 9 Abs. 1 lit. c Nr. ii SE-VO notwendige Regelungslücke. 3. Gleichbehandlungsgebot (Art. 10 SE-VO) als Korrekturmechanismus Um entgegen dem aus § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG zu entnehmenden ausschließlichen Modus der Gesamterfüllung und abweichend von § 96 Abs. 3 AktG aber in Übereinstimmung mit dem nationalen Aktienrecht auch bei der SE die Option zu einer kraft Gesetzes anwendbaren Getrennterfüllung zu eröffnen, wird vor allem das in Art. 10 SE-VO niedergelegte Gleichbe19
So ausdrücklich im Sinne einer Klarstellung auch BT-Ausschuss, BT-Drucks. 18/ 4227, 25. 20 So im Hinblick auf § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG aber Hohenstatt//Wendler in Hohenstatt/Seibt Geschlechter- und Frauenquoten in der Privatwirtschaft, 2015, Rn. 346. 21 BT-Ausschuss, BT-Drucks. 18/4227, 22. 22 So z.B. Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 13; Seibt in Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, Art. 40 SE-VO Rn. 44c; Wißmann in FS Höland, 2015, 600 (607). 23 Zum Vorrang des SEAG statt aller Veil in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2012, Art. 9 SE-VO Rn. 58. 24 Treffend im methodischen Ansatz deshalb Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 12 a.E.
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handlungsgebot aktiviert.25 Dieses erfordere, dass auch bei der SE das der nationalen Aktiengesellschaft zur Verfügung stehende Widerspruchsrecht mit der Rechtsfolge einer Getrennterfüllung existiert. Mittels „verordnungskonformer Rechtsfortbildung“26 sei deshalb eine analoge Anwendung des § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG bei der SE geboten.27 Das dort eröffnete Recht zum Widerspruch gegen die Gesamterfüllung und der damit verbundene Wechsel zum Modus der Getrennterfüllung kommt nach dieser Ansicht jedoch ausschließlich zum Tragen, wenn die paritätische Mitbestimmung auf der gesetzlichen Auffangregelung beruht, da die Notwendigkeit zu einer „verordnungskonformen Rechtsfortbildung“ ausdrücklich unter den Vorbehalt gestellt wird, dass die Beteiligungsvereinbarung keine abschließende Regelung zum Mindestanteilsgebot trifft.28 Konsequenterweise setzt dies allerdings voraus, dass die dortige Regelung mit den Außen- und Innenschranken der Vereinbarungsbefugnis kompatibel ist.29 Ist dies hingegen nicht der Fall, dann fehlt eine abschließende Regelung, so dass die hierdurch infolge der Nichtigkeit der Vereinbarung aufgerissene Lücke wiederum durch eine „verordnungskonforme Rechtsfortbildung“ mittels analoger Anwendung von § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG zu schließen wäre. Die Überzeugungskraft dieses rechtsfortbildenden Ansatzes wird durch die Prämisse des historischen Gesetzgebers verstärkt. Sein Plädoyer gegen eine Getrennterfüllung beruhte auf der Annahme „regelmäßig“ vorliegender Beteiligungsvereinbarungen zur Mitbestimmung.30 Mit deren Regelungen und der hierin zum Ausdruck gelangten Autonomie ist es in der Tat unvereinbar, den Anteilseigner- oder Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat kraft Gesetzes ein zum Wechsel des Erfüllungsmodus führendes Widerspruchsrecht einzuräumen, da ihnen hierdurch das Recht verliehen würde, in die Vereinbarung einzugreifen. Liegt hingegen die vom historischen Gesetzgeber zugrunde gelegte Prämisse wegen des Fehlens einer Beteiligungsvereinbarung die tatsächliche Grundlage nicht vor, dann versperrt jedenfalls 25 So zunächst Teichmann/Rüb BB 2015, 898 (904); ebenso im Anschluss Henssler in Habersack/Henssler Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, Einleitung SEBG Rn. 140g; Manz in Manz/Mayer/Schröder Europäische Aktiengesellschaft-SE, 3. Aufl. 2019, Art. 40 SE-VO Rn. 31d; Seibt in Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, Art. 40 SE-VO Rn. 44b; Verse in Habersack/Drinhausen SE-Recht, 2. Aufl. 2016, § 24 SEAG Rn. 7; im Ansatz auch Hohenstatt//Wendler in Hohenstatt/Seibt Geschlechter- und Frauenquoten in der Privatwirtschaft, 2015, Rn. 347 a.E.; Sagan RdA 2015, 255 (258). 26 So ausdrücklich Verse in Habersack/Drinhausen SE-Recht, 2. Aufl. 2016, § 24 SEAG Rn. 7. 27 Verse in Habersack/Drinhausen SE-Recht, 2. Aufl. 2016, § 24 SEAG Rn. 7. 28 Treffend Verse in Habersack/Drinhausen SE-Recht, 2. Aufl. 2016, § 24 SEAG Rn. 7 sowie zuvor auch Teichmann/Rüb BB 2015, 898 (904 f.). 29 Dazu unten III. 30 S. BT-Ausschuss, BT-Drucks. 18/4227, 22.
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nicht der historische Wille des Gesetzgebers den Schritt zu einer Rechtsfortbildung. Selbst wenn der vorstehend skizzierten Ansicht im Ausgangspunkt gefolgt würde, bleibt zu beachten, dass sich die propagierte Rechtsfortbildung nicht auf eine Adaption der aktienrechtlichen Vorschriften beschränken kann. Ebenso wie bei der nach nationalem Aktienrecht errichteten Aktiengesellschaft setzt die Anwendung der Getrennterfüllung denknotwendig Vollzugsbestimmungen in den jeweiligen Mitbestimmungsgesetzen voraus (s. z.B. § 7 Abs. 2, § 18a MitbestG). An diesem Punkt scheitert eine Übertragung der Getrennterfüllung auf die SE, da die Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten bezüglich der gesetzlichen Auffangregelung auf die auf das Inland entfallenden Arbeitnehmervertreter beschränkt ist. Dementsprechend gibt Teil 3 des Anhangs zu Art. 7 RL 2001/86/EG für die Auffangregelung ausdrücklich vor, dass jeder Mitgliedstaat das Recht hat, die Verteilung der ihm im Verwaltungs- oder im Aufsichtsorgan zugewiesenen Sitze festzulegen. Eine konsequente und – wie in § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG – auf das Gesamtorgan bezogene Umsetzung der Getrennterfüllung muss die Quote jedoch auf die Gesamtheit der dem Aufsichtsorgan angehören den Arbeitnehmervertreter ausdehnen. Die alleinige Anknüpfung an die auf das Inland entfallenden Arbeitnehmervertreter (s. § 36 SEBG) erweist sich hingegen als untauglich für einen konsequenten Vollzug der Getrennterfüllung. Dieser wäre nur dann eröffnet, wenn die auf jedes Geschlecht entfallenden Mindestsitze vollständig von den auf das Inland entfallenden Arbeitnehmervertretern besetzt werden müssten. Selbst dieser Weg scheitert jedoch, wenn die Zahl der auf das Inland entfallenden Arbeitnehmervertreter nicht ausreicht, um das nach § 17 Abs. 2 Satz 1 AktG unverzichtbare 30%-Quorum für jedes Geschlecht unter den Arbeitnehmervertretern zu erreichen. Ungeachtet dieses auf der Vollzugsebene liegenden Einwands ist zudem bereits im grundsätzlichen Ausgangspunkt der durch den Verzicht auf das zur Getrennterfüllung führende Widerspruchsrecht postulierte Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot in Art. 10 SE-VO nicht überzeugend.31 Dieses verlangt keine schematische und formalistische Gleichstellung der SE mit der nationalen Aktiengesellschaft, sondern auch das SE-spezifische Gleichbehandlungsgebot steht einer ungleichen Behandlung nicht entgegen, wenn diese sachlich gerechtfertigt ist.32 Insbesondere der supranationale
31 Ablehnend ebenfalls Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 14. 32 Treffend für die allgemeine Ansicht Casper in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, Art. 10 SE-VO Rn. 3; Hommelhoff/Teichmann in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SEKommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 10 SE-VO Rn. 7; Schäfer in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2017, Art. 10 SE-VO Rn. 5; Schürnbrand in Habersack/Drinhausen SE-Recht, 2. Aufl.
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Charakter der SE kann es rechtfertigen, für diese partiell von dem Regelungsregime für die nationale Aktiengesellschaft abzuweichen.33 Insoweit wird verbreitet mit Recht auf die Beteiligungsvereinbarung hingewiesen,34 was allerdings ungeachtet der konkreten Vereinbarungsbefugnis35 für sich genommen nicht restlos überzeugt, da die sachliche Rechtfertigung untrennbar mit der Existenz einer Beteiligungsvereinbarung verknüpft wird und den Rückgriff auf Art. 10 SE-VO gerade in dem eher theoretischen Fall nicht versperrt, dass die Anwendung der gesetzlichen Auffangregelung zur paritätischen Mitbestimmung bei der SE führt.36 Überzeugender ist es deshalb, die sachliche Rechtfertigung für den Ausschluss der Option zur Getrennterfüllung vor allem auf die fehlende Gesetzgebungskompetenz für eine Umsetzung der Getrennterfüllung auf die Gesamtheit der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsorgan der SE zu stützen.37
III. Mindestanteilsgebot und Beteiligungsvereinbarung Im Lichte der Begründung des federführenden Bundestagsausschusses zu § 17 Abs. 2 SEAG sowie der dortigen Bezugnahme auf die Beteiligungsvereinbarung38 drängt die Frage nach der Reichweite der entsprechenden Regelungsbefugnis in den Vordergrund. Für deren Beantwortung ist zu differenzieren zwischen dem Katalogtatbestand in § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SEBG (dazu 1.) sowie dem allgemeinen Tatbestand in § 21 Abs. 3 Satz 1 SEBG 2016, Art. 10 SE-VO Rn. 9; Schwarz SE-VO, 2006, Art. 10 Rn. 22; Veil in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2012, Art. 10 SE-VO Rn. 7. 33 Hommelhoff/Teichmann in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 10 SE-VO Rn. 7; Schäfer in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2017, Art. 10 SE-VO Rn. 5; Schröder in Manz/Mayer/Schröder Europäische Aktiengesellschaft-SE, 3. Aufl. 2019, Art. 10 SE-VO Rn. 5; wohl auch Schwarz SE-VO, 2006, Art. 10 Rn. 22; Veil in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2012, Art. 10 SE-VO Rn. 7. 34 So Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 14. 35 Dazu unten III. 36 Treffend Teichmann/Rüb BB 2015, 898 (904). 37 Abgesehen davon ist auch der Schritt zu einer „verordnungskonformen Rechtsfortbildung“ methodisch bedenklich, weil er sich über den entgegenstehenden und ausdrücklich bekundeten Willen des historischen Gesetzgebers hinwegsetzen muss. Wird die Verweigerung des zur Getrennterfüllung führenden Widerspruchsrechts als diskriminierend iSd Art. 10 SE-VO bewertet und scheitert methodisch der Weg einer „verordnungskonformen Rechtsfortbildung“ (s. allg. Schürnbrand in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, Art. 10 SE-VO Rn. 10), dann ist umgekehrt auch in Betracht zu ziehen, den diskriminierungsfreien Zustand dadurch herzustellen, dass die für die nationale Aktiengesellschaft geltende und zur Privilegierung führende Bestimmung, in concreto also § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG, unangewendet zu lassen. S. insoweit auch Schürnbrand in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, Art. 10 SE-VO Rn. 10. 38 BT-Ausschuss, BT-Drucks. 18/4227, 22.
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(dazu 2.), da die in § 21 Abs. 3 Satz 2 SEBG aufgezählten Materien die Regelungsbefugnis in Angelegenheiten der Mitbestimmung nicht abschließend („insbesondere“) umschreiben. 1. Mindestanteilsgebot und § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SEBG Ausgehend von den Vorgaben in § 21 Abs. 3 SEBG für den mitbestimmungsrechtlichen Teil einer Beteiligungsvereinbarung ist zunächst unstreitig, dass die Befugnis zur Ausgestaltung der Wahl bzw. Bestellung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan (§ 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SEBG) der SE nicht nur die Verteilung der Arbeitnehmervertreter auf die Mitgliedstaaten,39 sondern auch andere Bestimmungen zur Zusammensetzung der Arbeitnehmervertreter umfasst.40 Hierzu zählen abgesehen von der Aufteilung nach Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsvertretern ebenfalls die Zusammensetzung der Arbeitnehmervertreter nach Maßgabe ihres Geschlechts.41 Mit einer derartigen Regelung greifen die Parteien der Beteiligungsvereinbarung einen Impuls aus der gesetzlichen Auffangregelung auf, der sich allerdings nicht zuletzt wegen der Vorgaben in Teil 3 des Anhangs zu Art. 7 RL 2001/86/EG ausschließlich auf die auf das Inland entfallenden Arbeitnehmervertreter beschränkt. Für diese folgt aus § 36 Abs. 3 Satz 2 SEBG i.V. mit § 6 Abs. 2 Satz 2 SEBG, dass Frauen und Männer „entsprechend ihrem zahlenmäßigen Verhältnis“ gewählt werden sollen. Angesichts dessen wäre es verfehlt, den Parteien der Beteiligungsvereinbarung bezüglich dieser Materie die Regelungsbefugnis generell vorzuenthalten. 39 Feuerborn in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2010, § 21 SEBG Rn. 54, 55; Henssler in Habersack/Henssler Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 21 SEBG Rn. 42; Hohenstatt/Müller-Bonanni in Habersack/Drinhausen SE-Kommentar, 2. Aufl. 2016, § 21 SEBG Rn. 24; Hoops Die Mitbestimmungsvereinbarung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2009, 144; Jacobs in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2017, § 21 SEBG Rn. 37; Kienast in Gaul/Ludwig/Forst, Europäisches Mitbestimmungsrecht, 2015, § 2 Rn. 360; Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 21 SEBG Rn. 67; Rudolph in Annuß/Kühn/Rudolph/Rupp EBRG, 2014, § 21 SEBG Rn. 27; Sagan in NK-Gesamtes Arbeitsrecht, 2016, § 21 SEBG Rn. 24. 40 Evers/Hartmann/Bodenstedt in Manz/Mayer/Schröder Europäische Aktiengesellschaft-SE, 3. Aufl. 2019, § 21 SEBG Rn. 39; Hohenstatt/Müller-Bonanni in Habersack/ Drinhausen SE-Kommentar, 2. Aufl. 2016, § 21 SEBG Rn. 24; Jacobs in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2017, § 21 SEBG Rn. 38; Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SEKommentar, 2. Aufl. 2015, § 21 SEBG Rn. 74; mit Einschränkungen auch Forst Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG, 2010, 275, sofern hierdurch nicht die proportionale Verteilung der Sitze auf die Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten durchbrochen wird. 41 Henssler in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 21 SEBG Rn. 42; Jacobs in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2017, § 21 SEBG Rn. 37 a.E.; Oetker in Lutter/Hommelhoff/TeichmannSE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 21 SEBG Rn. 74; a.A. Forst Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG, 2010, 275, im Hinblick auf geschlechtsbezogene Differenzierungen bei der Auswahl der Arbeitnehmervertreter.
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Insoweit kann die Beteiligungsvereinbarung insbesondere bestimmen, dass unter den Arbeitnehmervertretern jedem Geschlecht eine bestimmte Mindestanzahl angehören muss, um z.B. auf diese Weise sicherzustellen, dass durch eine korrespondierende Anzahl von Vertretern der Anteilseigner die auf eine Gesamterfüllung bezogene Vorgabe zum Mindestanteilsgebot in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG erfüllt wird. Bei diesem Ansatz versteht es sich von selbst, dass die Beteiligungsvereinbarung auch das 30%-Quorum in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG überschreiten und z.B. festlegen kann, dass die der Arbeitnehmerseite zustehenden Sitze paritätisch auf beide Geschlechter aufzuteilen sind.42 Regelungen, die das auf die Arbeitnehmervertreter bezogene Mindestanteilsgebot auf unter 30% absenken, überschreiten zwar nicht den durch § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SEBG eröffneten Gestaltungsspielraum und werden wegen der auf das Gesamtorgan bezogenen Vorgabe auch nicht durch § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG untersagt, sie führen unter der Herrschaft einer Gesamterfüllung aber dazu, dass die von den Anteilseignern zu bestimmenden Aufsichtsratsmitglieder ein hierdurch ausgelöstes Defizit in der Zusammensetzung des Aufsichtsrats kompensieren müssen. Ferner kann die Beteiligungsvereinbarung vorsehen, dass z.B. der Mindestanteil bezüglich eines Geschlechts ausschließlich von den Arbeitnehmervertretern eines Mitgliedstaates zu erfüllen ist. In Betracht kommt dies insbesondere, wenn die Mehrzahl der Arbeitnehmervertreter entsprechend dem mitgliedstaatlichen Proporz auf das Inland, während auf die Arbeitnehmer in anderen Mitgliedstaaten nur wenige Arbeitnehmervertreter entfallen. Umgekehrt steht der auf alle Arbeitnehmervertreter bezogene § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SEBG einer Regelung nicht entgegen, die den zu erfüllenden Mindestanteil – wie ursprünglich von § 21 Abs. 5 SEBG-RefE vorgesehen – stets auf die Gesamtheit der Arbeitnehmervertreter bezieht. In vergleichbarer Weise kann die Beteiligungsvereinbarung die Erfüllung des Mindestanteilsgebots auf eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmervertretern begrenzen oder hiervon andere Gruppen ausnehmen, wie z.B. Vertreter der leitenden Angestellten oder von den im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften vorgeschlagene Arbeitnehmervertreter. Solange für die Regelungsbefugnis auf § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SEBG zurückgegriffen wird, bleibt allerdings stets die personelle Begrenzung auf die dem Aufsichts- und Verwaltungsorgan angehörenden Arbeitnehmervertreter zu beachten. Deshalb bietet § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SEBG keine tragfähige Grundlage dafür, um auch die Zusammensetzung der Anteilseignervertreter in der Beteiligungsvereinbarung auszugestalten. Vereinzelt wird zwar unter Hinweis auf Art. 4 Abs. 2 lit. b RL 2001/86/EG die These verfochten, die Regelungskompetenz der Parteien umfasse generell die „Zusammenset42 Ebenso im Ergebnis Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 16.
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zung des Vertretungsorgans“,43 diese Auffassung widerspricht aber sowohl § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SEBG als auch Art. 4 Abs. 2 lit. g RL 2001/86/EG, die sich jeweils auf die Mitglieder des Verwaltungs- oder Aufsichtsorgans der SE beziehen, die von den Arbeitnehmern gewählt oder bestellt werden. Auf Art. 4 Abs. 2 lit. b RL 2001/86/EG lässt sich eine personelle Erweiterung um die Vertreter der Anteilseigner nicht stützen, da es sich bei dem dort angesprochenen „Vertretungsorgan“ um das ausschließlich von den Arbeitnehmern gebildete Organ handelt, das im Rahmen der Unterrichtung und Anhörung als Verhandlungspartner den zuständigen Organen der SE gegenübertritt.44 Da diesem ausschließlich Arbeitnehmervertreter angehören, kann die Beteiligungsvereinbarung selbstverständlich auch die personelle Zusammensetzung des gesamten Vertretungsorgans (SE-Betriebsrat) ausgestalten. Für die personelle Zusammensetzung des Aufsichts- und Verwaltungsorgans ist Art. 4 Abs. 2 lit. b RL 2001/86/EG und der hiermit korrespondierende § 21 Abs. 1 Nr. 2 SEBG deshalb ohne Aussagekraft. 2. Erfüllungsmodus und Beteiligungsvereinbarung Während die vorstehenden Varianten zur Erfüllung eines Mindestanteilsgebots unter den Arbeitnehmervertretern im Schrifttum nahezu unbestritten sind, bleibt im Hinblick auf die Praxis bei der paritätisch mitbestimmten SE45 klärungsbedürftig, ob sich die Regelungsbefugnis auch auf den Erfüllungsmodus zur Wahrung des Mindestanteilsgebots erstreckt. Dabei sind zwei Varianten zu trennen: Erstens könnte die Beteiligungsvereinbarung den von § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG vorgegebenen Modus der Gesamterfüllung ablösen und unter Verzicht auf ein Optionsrecht verbindlich und damit über die bevorstehende Wahl hinausreichend eine Getrennterfüllung für das Mindestanteilsgebot festgelegen,46 was dann auch die Kompetenz umfasst, Rechtsfolgen zu fixieren, wenn die eine oder andere Seite ihre jeweilige Vorgabe verfehlt. Zweitens bleibt angesichts der eingangs referierten Beteiligungsvereinbarung bei der BASF SE klärungsbedürftig, ob sich die Beteiligungsvereinbarung darauf beschränken kann, den Vertretern der Anteilseigner bzw. der Arbeitnehmer im Aufsichtsorgan ein an § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG angelehntes Wi43 So Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 16. 44 Dies verkennt Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 16. 45 S. neben dem einleitend genannten Beispiel die Nachweise oben in Fn. 5. 46 Für die Rechtswirksamkeit einer derartigen Regelung Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 15; Kleinsorge in Nagel/Freis/Kleinsorge SEBG, SCEBG, MgVG, 3. Aufl. 2018, § 21 SEBG Rn. 25; Teichmann/Rüb BB 2015, 898 (904 f.); a.A. Jacobs in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2017, § 21 SEBG Rn. 3.
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derspruchsrecht einzuräumen, welches der jeweiligen Seite die Option eröffnet, von dem aus § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG abgeleiteten Modus der Gesamterfüllung für die jeweils bevorstehende Wahlperiode mit Verbindlichkeit auch für die andere Seite in den Modus der Getrennterfüllung zu wechseln. Das Schrifttum erachtet die Begründung einer derartigen Option in der Beteiligungsvereinbarung bislang überwiegend als von der Kompetenznorm in § 21 SEBG abgedeckt und damit rechtswirksam.47 In der Konsequenz muss dies auch für das bei der SGL Carbon SE vereinbarte Modell einer Getrennterfüllung verbunden mit einem gemeinsam von den Anteilseigner- und den Arbeitnehmervertretern auszuübenden Optionsrecht zugunsten einer Gesamterfüllung48 gelten. Von dem hierdurch zum Ausdruck gelangenden weiten Verständnis zur Vereinbarungsbefugnis ging scheinbar auch der Gesetzgeber aus,49 da er sich ausweislich der Beschlussempfehlungen des federführenden Bundestagsausschusses gerade deshalb mit der allgemein formulierten Vorgabe in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG begnügt hat, weil die Beteiligungsvereinbarung „regelmäßig“ die Zusammensetzung des Aufsichtsrats ausgestalte und hiermit ein zur Getrennterfüllung führendes Widerspruchsrecht der Anteilseigner- oder Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat unvereinbar sei.50 Unabhängig von den bezüglich dieser Annahme geäußerten, im Ergebnis aber rechtstatsächlich nicht fundierten Bedenken,51 kann sich indes auch die Begründung des fe47 So Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 14 f.; Evers Geschlechtsbezogenes Mindestanteilsgebot im paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft, 2019, 292; Hohenstatt/Müller-Bonanni in Habersack/Drinhausen SE-Recht, 2. Aufl. 2016, § 21 SEBG Rn. 28a; Hohenstatt/Wendler in Hohenstatt/Seibt Geschlechter- und Frauenquoten in der Privatwirtschaft, 2015, Rn. 347 ff.; Rahlmeyer/Klose NZG 2019, 854 (857); Reichert/Brandes in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2017, Art. 40 SE-VO Rn. 80; Seibt in Habersack/Drinhausen SE-Recht, 2. Aufl. 2016, Art. 40 SE-VO Rn. 44d; ebenso für die nach § 22 MgVG abgeschlossene Mitbestimmungsvereinbarung Habersack in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 96 Rn. 58; Hohenstatt/Wendler in Hohenstatt/Seibt Geschlechter- und Frauenquoten in der Privatwirtschaft, 2015, Rn. 374; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 96 Rn. 27; a.A. Henssler in Habersack/Henssler Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 21 SEBG Rn. 54d; Oetker ZHR Bd. 179 (2015), 707 (742); ders. in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SEKommentar, 2. Aufl. 2015, § 21 SEBG Rn. 7. 48 S. oben Fn. 5. 49 Ebenso die Würdigung von Kleinsorge in Nagel/Freis/Kleinsorge SEBG, SCEBG, MgVG, 3. Aufl. 2018, § 21 SEBG Rn. 25; ders. in Wißmann/Kleinsorge/Schuber Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, EU-Recht Rn. 68. 50 BT-Ausschuss, BT-Drucks. 18/4227, 22. 51 Der Einwand, dass eine Beteiligungsvereinbarung nicht zwingend vorliegen müsse (so z.B. Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 14; Teichmann/Rüb BB 2015, 898 [904]; Verse in Habersack/Drinhausen SERecht, 2. Aufl. 2010, § 24 SEAG Rn. 7), trifft formal zwar zu, rechtstatsächlich geht dieser aber – abgesehen von dem in BGH 23.7.2019 – II ZB 20/18 (NZG 2019, 1157 ff.) thematisierten Sonderfall – ins Leere, da eine aufgrund der gesetzlichen Auffangregelung errichtete paritätisch mitbestimmte SE bislang nicht bekannt ist.
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derführenden Bundestagsausschusses nicht über den vom Gesetzgeber für die Vereinbarungsbefugnis etablierten normativen Datenkranz hinwegsetzen. Dieser erfordert es, für die Umsetzung des Mindestanteilsgebots in der Beteiligungsvereinbarung abermals die exakten Schranken der Vereinbarungsbefugnis auszuloten, nachdem bereits die Aufsichtsratsgröße (= Zahl der Aufsichtsratsmitglieder) als Regelungsgegenstand der Beteiligungsvereinbarung ein disparates Meinungsspektrum ausgelöst hat.52 Vor allem diejenigen Stimmen im Schrifttum, die bezüglich der Vereinbarungsbefugnis für ein großzügiges („liberales“) Verständnis plädieren, verweisen auf die den Parteien in § 21 Abs. 1 SEBG eröffnete Autonomie und erstrecken die Vereinbarungsbefugnis in der Konsequenz auch auf Regelungen zur Aufsichtsratsverfassung. Das gilt nicht nur für die Binnenorganisation des Aufsichtsrats (z.B. Ausschussbildung und –zusammensetzung),53 sondern auch für dessen Rechtsstellung, wie z.B. die Begründung von Zustimmungsvorbehalten.54 Von diesem Ausgangspunkt aus ist es konsequent, auch die Zusammensetzung aller Aufsichtsratsmitglieder im Hinblick auf ihr Geschlecht in die Vereinbarungsbefugnis einzubeziehen55 und sich insoweit nicht auf die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat zu beschränken. Entsprechendes muss für die Rechte der Aufsichtsratsmitglieder gelten. Für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan hält dies § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 SEBG ausdrücklich fest, ein extensives Verständnis dehnt dies konsequenterweise auch auf die Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat aus. Ein in der Beteiligungsvereinbarung zugunsten der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat eingeräumtes Widerspruchsrecht gegen den Modus der Gesamterfüllung und ein hiermit eintretender Wechsel zum Modus der Getrennterfüllung illustriert die extensive Auslegung exemplarisch, kann jedoch letztlich nicht auf einen Widerspruch gegen die Gesamterfüllung beschränkt bleiben. Angesichts der für die Vereinbarungsbefugnis gesetzten normativen Eckdaten kann die vorstehend skizzierte („liberale“) Auslegung nicht überzeugen. Unabhängig von den durch zwingendes Gesetzesrecht gezogenen 52
Zu diesem statt aller Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 21 SEBG Rn. 63 ff., mwN. 53 Hierfür Gruber/Weller NZG 2003, 297 ff.; Heinze/Seifert/Teichmann BB 2005, 2524 (2526); Koch Die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern an Aufsichtsrats- und Verwaltungsratsausschüssen einer Europäischen Aktiengesellschaft, 2011, 101 ff., 107 ff., 110 ff.; beschränkt auf die Zusammensetzung Kienast in Gaul/Ludwig/Forst Europäisches Mitbestimmungsrecht, 2015, § 2 Rn. 365. 54 Für eine entsprechende Regelungsbefugnis Heinze/Seifert/Teichmann BB 2005, 2524 (2526); Kienast in Gaul/Ludwig/Forst Europäisches Mitbestimmungsrecht, 2015, § 2 Rn. 365; Köstler in Theisen/Wenz Europäische Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 2005, 331 (351); Seibt ZIP 2010, 1057 (1061). 55 So insbesondere Teichmann/Rüb BB 2015, 898 (905).
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Schranken begründet § 21 SEBG keine umfassende Vereinbarungsautonomie, sondern beschränkt sich auch unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben auf die Beteiligung der Arbeitnehmer. Hierzu zählt die Legaldefinition in § 2 Abs. 8 SEBG unter Übernahme von Art. 2 lit. h RL 2001/86/EG die Einflussnahme von Vertretern der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, die § 21 Abs. 3 Satz 1 SEBG als fakultativen Vereinbarungsinhalt benennt, geht hierüber nicht hinaus. Sie umfasst ausweislich der mit Art. 2 lit. k RL 2001/86/EG übereinstimmenden Legaldefinition in § 2 Abs. 12 SEBG nur die Wahl oder Bestellung eines Teils der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans. Bezogen auf das Aufsichts- oder Verwaltungsorgan erstreckt sich die Vereinbarungsbefugnis deshalb nicht auf die Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat. Auch die in § 21 Abs. 3 Satz 2 SEBG mit dem einleitenden Wort „insbesondere“ zum Ausdruck gebrachte thematische Offenheit rechtfertigt es nicht, den durch die „Mitbestimmung“ vorgegebenen Vereinbarungsinhalt auf weitere Regelungsmaterien auszudehnen, mögen diese auch im weitesten Sinne für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer i.S. des § 2 Abs. 12 SEBG von Bedeutung sein bzw. einen Mitbestimmungsbezug aufweisen.56 Wegen des hier befürworteten und im Schrifttum überwiegend konsentierten Verständnisses zur Reichweite der Vereinbarungsbefugnis ist insbesondere die Binnenorganisation des Aufsichtsorgans kein zulässiger Regelungsgegenstand der Beteiligungsvereinbarung. Dementsprechend überschreiten u.a. Bestimmungen zur Bildung und Zusammensetzung von Aufsichtsratsausschüssen die durch die „Mitbestimmung“ gezogenen Innenschranken der Vereinbarungsautonomie.57 Ausgehend von dieser Linie ist 56 Ebenso zur durch § 2 Abs. 12 SEBG definierten „Mitbestimmung“ als Schranke der Vereinbarungsbefugnis Cannistra Die Verhandlungsverfahren zur Regelung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei Gründung einer Societas Europaea und bei Durchführung einer grenzüberschreitenden Verschmelzung, 2014, 147 f.; Feuerborn in KölnKomm AktG. 3. Aufl. 2010, § 21 SEBG Rn. 45; Habersack AG 2006, 345 (351); ders. ZHR Bd. 171 (2007), 613 (630 f.); Hoops Die Mitbestimmungsvereinbarung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2009, 115 f.; Jacobs in FS K. Schmidt, 2009, 795 (799); Kepper Die mitbestimmte monistische SE deutschen Rechts, 2010, 199; Linden Die Mitbestimmungsvereinbarung der dualistisch verfassten Societas Europaea (SE), 2012, 76 ff.; Paefgen in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2012, Art. 40 SE-VO Rn. 211; weitergehend demgegenüber Heinze/Seifert/Teichmann BB 2005, 2524 (2525); Koch Die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern an Aufsichtsrats- und Verwaltungsratsausschüssen einer Europäischen Aktiengesellschaft, 2011, 97 ff.; Teichmann AG 2008, 797 (804); ders. BB 2010, 1114 (1115); wohl auch Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 16, da er es bereits als ausreichend ansieht, wenn die Regelung einen „Mitbestimmungsbezug“ aufweist. 57 Wie hier Austmann MünchHdB AG, 4. Aufl. 2015, § 85 Rn. 37; Cannistra Die Verhandlungsverfahren zur Regelung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei Gründung einer Societas Europaea und bei Durchführung einer grenzüberschreitenden Verschmel-
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das durch § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG vorgegebene und im Sinne einer Gesamterfüllung normierte Mindestanteilsgebot nur eingeschränkt in einer Beteiligungsvereinbarung ausgestaltbar. Dieses betrifft die personelle Zusammensetzung des Gesamtorgans und geht hierdurch über die auf die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat bezogene Mitbestimmung i.S. der Legaldefinition in § 2 Abs. 12 SEBG hinaus. Schon aus diesem Grunde fehlt den Parteien der Beteiligungsvereinbarung die Befugnis, das in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG genannte und auf das Gesamtorgan bezogene Quorum von mindestens 30% für das jeweilige Geschlecht zu variieren.58 Das gilt sowohl für eine auf die Parität abzielende Erhöhung als auch für eine Absenkung des Quorums, ohne dass insoweit § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG als Außenschranke für die Beteiligungsvereinbarung aktiviert werden muss. Auch eine § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG-RefE reaktivierende Abschwächung des 30%Quorums zu einer Sollvorschrift ist mit der auf die „Mitbestimmung“ i.S. der Legaldefinition in § 2 Abs. 12 SEBG beschränkten Regelungsbefugnis nicht vereinbar.59 Dementsprechend kann in der Beteiligungsvereinbarung nicht die Zusammensetzung der Anteilseignervertreter ausgestaltet werden oder zu ihren Gunsten eine hierauf bezogene Rechtsposition begründet werden. Eine von § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG abweichende und auf das Gesamtorgan bezogene Vorgabe einer Getrennterfüllung würde dem widersprechen, da hierdurch die Beteiligungsvereinbarung unmittelbar die Zusammensetzung der Anteilseignervertreter geregelt wird. Entsprechendes gilt, wenn den Anteilseignervertretern in der Beteiligungsvereinbarung die Option eines Widerspruchsrechts eingeräumt wird, bei dessen Ausübung ein Wechsel zum Modus der Getrennterfüllung eintritt. Das gilt in gleicher Weise für eine Beschränkung des Widerspruchsrechts auf die Arbeitnehmervertreter im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan der SE, da ihnen hierdurch die Kompetenz eröffnet würde, auch für die Vertreter der Anteilseigner verbindlich den Modus einer Getrennterfüllung vorzugeben und damit die Zusammensetzung der Anteilseignervertreter bezogen auf deren Geschlecht vorzugeben. zung, 2014, 178 f.; Feuerborn in KölnKomm AktG. 3. Aufl. 2010, § 21 SEBG Rn. 65; Forst Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG, 2010, 298 f., 300 f.; Habersack ZHR Bd. 171 (2007), 613 (631); Henssler in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 21 SEBG Rn. 50; Jacobs in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2017, § 21 SEBG Rn. 19e; Kiem ZHR Bd. 173 (2009) 156 (168 ff.); Paefgen KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2012, Art. 40 SE-VO Rn. 122; Reichert/Brandes ZGR 2003, 767 (796); Schäfer in Rieble/Juncker, Vereinbarte Mitbestimmung in der SE, 2008, § 1 Rn. 41; Seibt in Habersack/Drinhausen SERecht, 2. Aufl. 2016, Art. 40 SE-VO Rn. 27; im Grundsatz auch Hohenstatt/MüllerBonanni in Habersack/Drinhausen SE-Recht, 2. Aufl. 2016, § 21 SEBG Rn. 27. 58 A.A. Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 16. 59 A.A. Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 40 SE-VO Rn. 16.
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Unter Wahrung der in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG normierten und nicht im Wege einer Beteiligungsvereinbarung disponiblen Gesamterfüllung sowie der auf die „Mitbestimmung“ bezogenen Inhaltsschranke ist eine von den Abschlussparteien gewollte Getrennterfüllung nur indirekt durch eine Regelung zur Zusammensetzung der Arbeitnehmervertreter erreichbar. Hierfür kann die Beteiligungsvereinbarung entweder die konkrete Zahl der Arbeitnehmervertreter und die auf jedes Geschlecht entfallende Mindestanzahl festlegen oder die Parteien der Beteiligungsvereinbarung beschränken sich in Anlehnung an § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG auf die allgemeine Festlegung, dass unter den Arbeitnehmervertretern jedes Geschlecht mindestens mit einem Anteil von 30% vertreten sein muss. Mittels einer derartigen Regelung erfolgt lediglich faktisch ein Wechsel zur Getrennterfüllung, da sich die Anteilseignerseite zwecks Wahrung der Vorgabe in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG bei einer vorherigen vereinbarungskonformen Wahl der Arbeitnehmervertreter regelmäßig darauf beschränken kann,60 bei der Wahl ihrer Vertreter das auf das Gesamtorgan bezogene Quorum von mindestens 30% für jedes Geschlecht zu wahren. 3. Aufsichtsratswahl auf Grundlage fehlerhaft festgelegten Erfüllungsmodus Die vorstehend aufgezeigten Schranken für Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung zur Erfüllung des Mindestanteilsgebots werfen abschließend die Frage nach den Rechtsfolgen auf, wenn die Aufsichtsratswahl abweichend von § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG auf der Grundlage einer in der Beteiligungsvereinbarung festgelegten oder aufgrund Widerspruchs praktizierten Getrennterfüllung durchgeführt wurde. Selbst wenn die Regelung in der Beteiligungsvereinbarung zum Erfüllungsmodus mangels Regelungsbefugnis unwirksam ist, berührt dies nicht zwingend zugleich die Rechtswirksamkeit des jeweiligen Wahlakts, solange dieser seinerseits in Übereinstimmung mit den aktienrechtlichen Vorgaben sowie den Modalitäten in der Beteiligungsvereinbarung durchgeführt wurde. Der in der Beteiligungsvereinbarung abweichend von § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG festgelegte Erfüllungsmodus betrifft nicht den Wahlakt als solchen, sondern die Zusammensetzung des Aufsichtsrats. Ist die Bestimmung in der Beteiligungsvereinbarung zum Erfüllungsmodus unwirksam, dann richtet sich dieser ausschließlich nach § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG und der dort festgelegten Gesamterfüllung. Dementsprechend kommt ein zur Nichtigkeit der Wahl durch die Hauptversammlung führender Verstoß nur dann in Betracht, wenn durch die Wahl das in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG vorgegebene 30%-Quorum bezogen auf den Gesamtaufsichtsrat nicht erreicht wird. Für diesen Fall ordnet der über die Generalverweisung in Art. 9 Abs. 1 lit. c 60
Zu Sonderfällen s. nachfolgend III. 3.
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Nr. ii SE-VO auch bei der SE anwendbare § 96 Abs. 2 Satz 6 AktG61 zwingend die Nichtigkeit der Wahl an, die bei einer Wahl durch die Hauptversammlung mittels der Nichtigkeitsklage (§ 250 Abs. 1 Nr. 5 AktG) geltend zu machen ist. Bei einem paritätisch zusammengesetzten Aufsichtsrat wirkt sich ein fehlerhaft angewendeter Erfüllungsmodus zumeist nicht auf das auf den Gesamtaufsichtsrat bezogene 30%-Quorum aus, da die Wahrung dieses Quorums für die Getrennterfüllung in der Regel zugleich das 30%-Quorum bei einer Gesamterfüllung wahrt. Das gilt jedenfalls, wenn der Aufsichtsrat aus 12, 14, 18 oder 20 Mitgliedern besteht. Anders ist dies wegen der Rundungsregel in § 96 Abs. 2 Satz 4 AktG jedoch bei einem 16-köpfigen Aufsichtsrat, da es für diesen bei einer Getrennterfüllung ausreicht, wenn ihm von jedem Geschlecht mindestens vier Mitglieder angehören, während das 30%Quorum bei einer Gesamterfüllung erst dann gewahrt ist, wenn dem Aufsichtsrat von jedem Geschlecht mindestens fünf Mitglieder angehören.62 Einen Grenzfall stellt der 10-köpfige Aufsichtsrat dar, da für die Wahrung des 30%-Quorums bei einer Getrennterfüllung die bislang nicht abschließend geklärte Rechtsfrage relevant ist, ob die Rundung – wie vom Gesetzeswortlaut gefordert – mathematisch63 oder – wie im Anschluss an die Regierungsbegründung64 verbreitet vertreten65 – kaufmännisch zu erfolgen hat. Gewahrt wird das 30%-Quorum bei einer Gesamterfüllung nur dann, wenn die Rundung mathematisch erfolgt, da dem Aufsichtsrat dann bei einer Getrennterfüllung von jedem Geschlecht mindestens vier Mitglieder angehören müssen, so dass zugleich die bei einer Gesamterfüllung maßgebliche Zahl von mindestens jeweils drei Mitgliedern jeden Geschlechts erfüllt ist.
IV. Zusammenfassung 1. Für die SE beschränkt § 17 Abs. 2 Satz 1 SEBG den Modus für die Erfüllung des Mindestanteilsgebots auf eine Gesamterfüllung. Ein Rückgriff auf § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG über Art. 9 Abs. 1 lit. c Nr. ii SE-VO ist hierdurch ausgeschlossen. Auch das Diskriminierungsverbot in Art. 10 SE-VO erzwingt keine gegenläufige und die Getrennterfüllung ermöglichende „ver61
S. die Nachweise oben in Fn. 22. So auch z.B. Habersack in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 96 Rn. 46. 63 Hierfür Schulz/Ruf BB 2015, 1155 (1156); s. dazu auch Oetker ZHR Bd. 179 (2015), 707 (714 ff.). 64 Begr. RegE, BT-Drucks. 18/3784, 127. 65 So z.B. Evers Geschlechtsbezogenes Mindestanteilsgebot im paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft, 2019, 170 ff.; Henssler in Habersack/Henssler Mitbestimmungsrecht, 2018, § 7 MitbestG Rn. 94; Simons in Hölters AktG, 3. Aufl. 2017, § 96 Rn. 59; Wißmann in Wißmann/Kleinsorge/Schubert Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 6 MitbestG Rn. 66. 62
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ordnungskonforme Rechtsfortbildung“, da die Ungleichbehandlung der SE im Vergleich zur nationalen Aktiengesellschaft sachlich gerechtfertigt ist. 2. Der Modus für die Erfüllung des Mindestanteilsgebots ist kein zulässiger Bestandteil einer Beteiligungsvereinbarung, da mit einer derartigen Regelung die durch die Legaldefinition der Mitbestimmung in § 2 Abs. 12 SEBG gezogene Inhaltsschranke überschritten wird. Das gilt nicht nur für den generellen Wechsel von der Gesamt- zur Getrennterfüllung, sondern auch für die Begründung eines Optionsrechts zugunsten der Anteilseignerund der Arbeitnehmervertreter, von der Gesamterfüllung zur Getrennterfüllung bzw. umgekehrt zu wechseln. Eine aufgrund fehlerhafter Beteiligungsvereinbarung durchgeführte Wahl der Mitglieder des Aufsichtsorgans bleibt gleichwohl rechtswirksam, solange die konkrete Zusammensetzung des Aufsichtsorgans der Vorgabe in § 17 Abs. 2 Satz 1 SEAG genügt.
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Betriebsvereinbarung als Vertragsersatz?
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Betriebsvereinbarung als Vertragsersatz? Hermann Reichold
Betriebsvereinbarung als Vertragsersatz? Eine (auch ökonomische) Analyse der BAG-Rechtsprechung zur ablösenden Betriebsvereinbarung HERMANN REICHOLD
I. Einleitung Christine Windbichler hat schon vor längerer Zeit in einer luziden Skizze den Gedanken der betrieblichen Mitbestimmung als eine Art „institutionalisierter Vertragshilfe“ aufgegriffen, welche kraft der Regelungsmacht der Betriebspartner eine Flexibilisierung kollektiver Arbeitsbedingungen ermögliche: insbesondere die Betriebsvereinbarung könne als „Ergänzungsinstrument für den seiner Natur nach ausfüllungs- und anpassungsbedürftigen Arbeitsvertrag“ verstanden werden.1 Heute, gut zwanzig Jahre später, dürfte sich nicht nur der Jubilarin angesichts der aktuellen Rechtsprechung des BAG zu der „ablösenden“ Betriebsvereinbarung bei allgemeinen Geschäftsbedingungen die Frage stellen, ob die hier entwickelte – notwendig „heteronome“ – Vertragshilfe2 den Arbeitnehmer nicht doch eher entmachtet als ihn zu stärken vermag. Dafür könnte es freilich auch gute Gründe geben. Daher soll im Folgenden die Frage vertieft werden, ob bzw. inwieweit die Betriebsvereinbarung geeignet ist, einzelvertragliche Vereinbarungen ohne Berücksichtigung des Arbeitnehmerwillens abzulösen.
II. Entwicklung und Begründung der „AGB-ablösenden“ Betriebsvereinbarung in der BAG-Rechtsprechung seit 2013 Mit der Entscheidung des 1. BAG-Senats vom 5.3.2013 zur Wirksamkeit einer betrieblich vereinbarten Altersgrenze wurden in überraschender Weise und mit einer neuen Qualität kollektive Einheitsregelungen vom 1. Senat mit Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) gleich gesetzt und mit die1 2
Windbichler in FS Zöllner, 1998, 999 (1007). So Windbichler a.a.O. Fn. 1.
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sen für austauschbar erklärt.3 Die damit deutlich erweiterte „Betriebsverfassungsakzessorietät des Arbeitsvertrags“4 sollte also nicht bei der Ablösung von betrieblichen Einheitsregelungen oder Gesamtzusagen stehen bleiben5 – dies müsse vielmehr auch in Bezug auf einzelvertragliche Abreden gelten. Im zweiten Leitsatz wurde dann vom 1. BAG-Senat festgehalten, dass die Arbeitsvertragsparteien ihre Absprachen betriebsvereinbarungsoffen gestalten könnten: „Dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn der Vertragsgegenstand in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten ist und einen kollektiven Bezug hat“6 – also auch ohne eine ausdrückliche Öffnungsklausel für Betriebsvereinbarungen. In den Gründen wurde hierzu wie folgt argumentiert: „Da Allgemeine Geschäftsbedingungen ebenso wie Bestimmungen in einer Betriebsvereinbarung auf eine Vereinheitlichung der Regelungsgegenstände gerichtet sind, kann aus Sicht eines verständigen und redlichen Arbeitnehmers nicht zweifelhaft sein, dass es sich bei den vom Arbeitgeber gestellten Arbeitsbedingungen um solche handelt, die einer Änderung durch Betriebsvereinbarung zugänglich sind. Etwas anderes gilt nur dann, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausdrücklich Vertragsbedingungen vereinbaren, die unabhängig von einer für den Betrieb geltenden normativen Regelung Anwendung finden sollen.“7 Inzwischen sind einige, aber nicht alle Senate des BAG dem 1. Senat gefolgt. Vorweg sei bei der Würdigung dieser Rechtsprechung eine wesentliche Unterscheidung empfohlen. Denn es macht vertragsrechtsdogmatisch einen Unterschied, ob Fälle typischerweise „kollektiver“ Arbeitsbedingungen im mitbestimmungsrelevanten Bereich in Rede stehen, oder ob es sich wie bei der Entscheidung des 1. Senats um eine essentielle Bedingung im Kernbereich der Vertragsgestaltung, d.h. mit Auswirkung auf die Hauptleistungspflichten der Vertragsparteien (hier: Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum Zeitpunkt der Rentenberechtigung als Annex einer Gesamtbetriebsvereinbarung zum Ruhegeldbezug) handelt. So war es keine Überraschung, dass der 3. Senat („Ruhegeld“-Senat) am 21.2.2017 für die Abänderung von Versorgungszusagen seine – der Sache selber geschuldete und insoweit kaum angreifbare – Auffassung bestätigte, dass bei der Zusage einer betrieblichen Altersversorgung „nach den jeweils beim 3 BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916; ablehnend Preis/ Ulber NZA 2014, 6; Waltermann SAE 2013, 94; Löwisch/ Rieble TVG, 4. Aufl. 2017, § 4 Rz. 550; Creutzfeldt NZA 2018, 1111; Wenning RdA 2019, 244; zustimmend Hromadka NZA 2013, 1061; Linsenmaier RdA 2014, 336; Meinel/Kiehn NZA 2014, 509; (nur im Ergebnis) Säcker BB 2013, 2677. 4 Der Begriff geht auf Annuß NZA 2001, 756 (761) zurück. 5 So zunächst der Große Senat des BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168; ablehnend aber für den Fall der Ablösung einer betrieblichen Übung BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 483/08, NZA 2009, 1105. 6 BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916. 7 BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916 (Rz. 60).
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Arbeitgeber geltenden Versorgungsregeln“ auch die Möglichkeit für eine (verschlechternde) Ablösung auf kollektivvertraglicher Grundlage eröffnet sei – dies lasse sich zudem schon aus den Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG ableiten.8 Eine solche Zusage erfasse alle Regelungen, mit denen die betriebliche Altersversorgung gestaltet werden kann, daher auch verschlechternde Betriebsvereinbarungen. Auch die noch aktuellere Entscheidung des 5. BAG-Senats vom 30.1.2019, wonach längere Zeit gewährte Freifahrt-Berechtigungen von Angehörigen im öffentlichen Personennahverkehr nach Privatisierung vom neuen Betriebsinhaber modifiziert bzw. abgeschafft werden könnten,9 bezieht sich der Sache nach auf ohnehin nur „kollektiv“ gewährte „Nebenleistungspflichten“ des Arbeitgebers, welche ähnlich wie die betriebliche Altersversorgung für das arbeitsvertragliche Synallagma keine Auswirkungen entfalten. Auch eine Änderungskündigung wäre in diesem Fall deutlich einfacher durchzusetzen gewesen als bei Entgeltkürzungen im engeren Gehaltsbereich.10 Von eben diesem 5. Senat wurde aber erstmals deutlich der inzwischen laut gewordenen wissenschaftlichen Kritik an der neu entwickelten „Betriebsverfassungsakzessorietät“ allgemeiner Geschäftsbedingungen mit einigem Argumentationsaufwand begegnet und dabei auch „internen“ Kritikern im BAG (dazu unten III.) widersprochen: Verkannt werde der „klar generalisierende Charakter der Allgemeinen Geschäftsbedingungen“; dieser bringe sie hinsichtlich ihres Gegenstands in die Nähe von Betriebsvereinbarungen, die ebenfalls nicht individuell für das einzelne Arbeitsverhältnis ausgehandelt würden, sondern betriebsbezogen oder zumindest gruppenbezogen wirkten und auf eine Vereinheitlichung der Regelungsgegenstände zielten. Eine betriebsvereinbarungsfeste Gestaltung der Arbeitsbedingungen liefe diesem berechtigten Anliegen zuwider. Die Änderung und Umgestaltung von betriebseinheitlich gewährten Leistungen wäre nur durch den Ausspruch von Änderungskündigungen möglich. Die Kritik blende zudem die geltende kollektiv-rechtliche Rechtslage nahezu vollständig aus. Sie lasse außer Acht, dass der Arbeitgeber in Betrieben mit Betriebsrat die Verteilung freiwilliger Sozialleistungen nicht alleine regeln kann, sondern insoweit ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG bestünde, das durch ein Initiativrecht des Betriebsrats verstärkt werde.11 Schließlich hatte der 1. Senat am 24.10.2017 über die Ablösung eines Jubiläumsgeldes durch eine Gesamtbetriebsvereinbarung zu entscheiden, dessen Zahlung ausschließlich vom Bestand des betreffenden Arbeitsverhältnisses 8 BAG v. 21.2.2017 – 3 AZR 542/15, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 75 (Rz. 36); ferner BAG v. 11.12.2018 – 3 AZR 380/17, NZA 2019, 1082 (Rz. 64). 9 BAG v. 30.1.2019 – 5 AZR 450/17, NZA 2019, 1065. 10 Vgl. BAG v. 27.3.2003 – 2 AZR 74/02, NZA 2003, 1029 (Änderungskündigung auf Wegfall des Werkbus-Verkehrs). 11 BAG v. 30.1.2019 – 5 AZR 450/17, NZA 2019, 1065 (Rz. 63).
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am Jubiläumstag abhängig sein sollte.12 Auch hierzu konnte – wesentlich knapper als zuvor – festgestellt werden, dass bei einer betriebsvereinbarungsoffen ausgestalteten Gesamtzusage ein Arbeitnehmer ohne Hinzutreten von besonderen Umständen mit deren Verschlechterung oder völligen Fortfall durch eine Gesamtbetriebsvereinbarung rechnen müsse (Leitsatz 2). Die Ablösung eines Jubiläumsgelds durch eine Gesamtbetriebsvereinbarung, wonach dessen Zahlung ausschließlich vom Bestand des betreffenden Arbeitsverhältnisses am Jubiläumstag abhängt, greife auch nicht in den Schutzbereich der nach Art. 14 GG geschützten Eigentumsgarantie ein (Leitsatz 3). Jüngst hat sich zudem – wenn auch nur in Gestalt eines „obiter dictums“ – der 6. Senat des BAG zu der Rechtsprechung des 1. Senats bekannt.13 Spannender dürfte es bei dem am 18.3.2020 vom 5. Senat zu entscheidenden Fall werden, weil es hier um die Zahlung von Reisevergütungen eines Außendienstmitarbeiters geht, welche kraft Betriebsvereinbarung nicht vom Beginn seines Arbeitstags an anerkannt wurden – hier ist mit dem engeren Vergütungsbereich das Synallagma betroffen.14
III. Widerspruch des 4. BAG-Senats mit Verweis auf die Entwertung der Vertragsautonomie im Arbeitsrecht Der 4. BAG-Senat hat demgegenüber in seinem Urteil vom 11.4.2018 seine Kritik an der Sichtweise des 1. Senats schon im Leitsatz sehr deutlich formuliert: „In einem vom Arbeitgeber vorformulierten Arbeitsvertrag geregelte Arbeitsbedingungen sind schon dann nicht – konkludent – ‚betriebsvereinbarungsoffen‘ ausgestaltet, wenn und soweit die Arbeitsvertragsparteien ausdrücklich Vertragsbedingungen vereinbart haben, die unabhängig von einer für den Betrieb geltenden normativen Regelung Anwendung finden sollen. Das ist bei einer einzelvertraglich vereinbarten – dynamischen – Verweisung auf einen Tarifvertrag stets der Fall.“15 Der Vorbehalt einer ablösenden „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ könne demgegenüber nur dann in Betracht kommen, wenn der Arbeitgeber als Verwender der AGB einen solchen hinreichend klar und verständlich zum Ausdruck gebracht habe: „Die Annahme, ein verständiger Arbeitnehmer müsse auch ohne einen entsprechenden ausdrücklichen Vorbehalt des Arbeitgebers von einer ‚Betriebsvereinbarungsoffenheit‘ ausgehen, dürfte dem nicht genügen.“16 12
BAG v. 24.10.2017 – 1 AZR 846/15, AP BetrVG 1972 § 77 Nr. 110. BAG v. 11.7.2019 – 6 AZR 40/17, AP BGB § 611 Kirchendienst Nr. 95 (Rz. 21). 14 In der Vorinstanz hat das LAG Düsseldorf am 14.12.2018 (10 Sa 96/18) den Anspruch im Sinne der neuen Rspr. des 1. Senats verneint. 15 BAG v. 11.4.2018 – 4 AZR 119/17, NZA 2018, 1273. 16 BAG v. 11.4.2018 – 4 AZR 119/17, NZA 2018, 1273 (Rz. 55); ferner Creutzfeldt NZA 2018, 1111 (1119). 13
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Der 4. Senat hatte hier als Tarifsenat zu entscheiden über die „Gemengelage“ einer einzelvertraglich vereinbarten dynamischen Verweisung auf einen Tarifvertrag einerseits und einer Generalverweisung auf alle betrieblichen Regelungen andererseits. Seine Betonung des Vorrangs der Verweisung auf den Tarifvertrag war demnach nicht sonderlich überraschend. Doch hielt es der 4. Senat für geboten, in umfangreichen Erwägungen zu Sinn und Zweck der AGB-Kontrolle den Thesen des 1. Senats deutlich zu widersprechen. Hervorgehoben wurde auch, dass immer dann, wenn aus dem Wortlaut des Arbeitsvertrags folge, dass die betrieblichen Regelungen, sofern sie nicht günstiger sind, nur nachrangig (beispielsweise „im Übrigen“ oder nur „soweit keine anderen Vereinbarungen getroffen worden sind“) Anwendung fänden, bereits die konkludente Vereinbarung einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ ausgeschlossen sei. In seinem erläuternden Aufsatz betonte der dem 4. Senat angehörige Richter Malte Creutzfeldt deutlich drastischer die Folgen der neuen Rechtsprechung des 1. Senats: Fast alle Arbeitsverträge und alle nicht-tariflichen Arbeitsbedingungen könnten demnach durch eine ablösende Betriebsvereinbarung verändert werden. Normen einer Betriebsvereinbarung würden so auf die vertragliche Ebene „heruntergezoomt“ und lösten eine anderweitige vertragliche Regelung ab.17 Damit sei eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem Günstigkeitsprinzip nicht mehr erforderlich, weil ja die bisherige günstigere Arbeitsvertragsvereinbarung als solche nicht mehr existiere – sie gelte als verdrängt kraft der fiktiven Betriebsvereinbarungsoffenheit. Demgegenüber wäre es vor der Entscheidung vom 5.3.2013 weitgehend unumstritten gewesen, dass Betriebsvereinbarungen normative Wirkung entfalteten, aber gegenüber dem Arbeitsvertrag sich nur bei einer günstigeren Vereinbarung durchsetzten. Dass diese Rechtslage einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen entgegenstünde, sei zutreffend, aber auch so gewollt.18 Andernfalls würde die Bedeutung der Unterzeichnung des Vertrags durch den Arbeitnehmer reduziert auf eine Art „Beitrittserklärung“ zur Belegschaft unter den ohnehin bestehenden oder künftig durch die Betriebsparteien zu schaffenden Regelungen. Worum es im Kern geht, hatte Eduard Picker schon früher anhand einer grundlegenden Klärung der unterschiedlichen Legitimationskriterien beschrieben: Während die Tarifautonomie allein im Mandat der Mitglieder autonomer Verbände ihren Rechtsgrund fände und deshalb uneingeschränkt der Privatautonomie als der primären der beiden ursprünglichen Gestaltungsbefugnisse zuzuordnen sei, könne die Betriebsautonomie nicht in der Selbstbestimmung der Mitglieder ihre legitimatorische Deckung finden – diese sei als von staatlicher Rechtsetzung abhängige „unentrinnbare 17 18
Creutzfeldt NZA 2018, 1111 (1113). Creutzfeldt NZA 2018, 1111 (1115).
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zwangskorporatistische Ordnung“ zu verstehen.19 Das habe zur Folge, dass nur das Gesetz dem Betriebsrat ausdrücklich konkrete Gestaltungsbefugnisse zuweisen könne. Es gebe aber keine generalklauselartigen Zuständigkeiten des Betriebsrats, sondern Kompetenzen nur nach Maßgabe des Enumerationsprinzips.20
IV. Zwischenfazit Die recht grundsätzliche Kontroverse zwischen dem 4. Senat einerseits und den zu II. zitierten anderen Senaten des BAG andererseits kann vorläufig dahingehend abgeschichtet werden, als sich auch nach hier vertretener Meinung bei der Inanspruchnahme ausdrücklicher Kompetenzen der Betriebspartner wie z.B. bei Versorgungszusagen kraft § 87 Abs. 1 Nr. 8, 10 BetrVG kein Legitimationsproblem stellt – schon deshalb nicht, weil hier auch vertragliche Verweisungen in aller Regel zum gleichen Ergebnis führen. Soweit also kompetenziell ausdrücklich vorgesehene Betriebsvereinbarungen mit AGB-Regelungen kollidieren, lässt sich dem wegen der (zwingenden) Kollektivität dieser Regelungen die Vertragsautonomie im AGBBereich nicht erfolgreich entgegenhalten. Dies lässt sich zudem auch institutionenökonomisch begründen (unten V.). Anders und kritischer muss dagegen die Rechtslage betrachtet werden, soweit es um Inhalte geht, die das Synallagma von Leistung und Gegenleistung betreffen, d.h. Fragen der individuellen Arbeitszeit bzw. Vergütung im Kernbereich, welche nicht tarif- oder individualvertraglich, sondern nach hiesiger Meinung kompetenzwidrig durch kollektive Betriebsvereinbarungen geregelt worden sind. Damit ist zurück zu kommen auf die eingangs (zu II.) vorgenommene Abschichtung, wonach es für unser Thema entscheidend darauf ankommt, ob und inwieweit der Kernbereich des vertraglichen Synallagmas von der Mitbestimmung kraft Betriebsvereinbarung betroffen ist.
19
Picker NZA 2002, 761 (769). Picker a.a.O. Fn. 19; ähnlich Lobinger RdA 2011, 76 (85); Richardi in FS Kreutz, 2010, 379 (384 ff.); ausf. Preis/Ulber RdA 2013, 211 ff.; Waltermann RdA 2007, 257 (260 ff.); Kamanabrou Arbeitsrecht, 2017, Rz. 2568 ff. (2571); dem entgegen behauptet die ständige BAG-Rspr. eine grundsätzlich umfassende Kompetenz der Betriebsparteien zur Regelung von materiellen und formellen Arbeitsbedingungen, vgl. nur BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916 (Rz. 23). 20
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V. Institutionenökonomische Deutung der betrieblichen Mitbestimmung Eine aufgeschlossene ökonomische Theorie hat zunächst in einer vertragsbezogenen Perspektive auch den Arbeitnehmer im 21. Jahrhundert als mündigen Marktbürger sehr viel ernster zu nehmen als die überkommene arbeitsrechtliche „Abhängigkeits“-These das tat.21 Zwar muss zur Kenntnis genommen werden, dass der Arbeitsvertrag als Dauerschuldverhältnis sich als „offener“ bzw. „unvollständiger“ Vertrag darstellt, der zu seiner Durchführung des Weisungsrechts bedarf.22 Beide Parteien sind zu Beginn der Vertragsbeziehung ja nicht in der Lage, alle denkbaren Situationen vorab einzuschätzen und zu regeln. Dennoch ist es heutzutage jedem Arbeitnehmer zuzutrauen, dass er als mündiger Marktbürger beim Einstieg in das Arbeitsverhältnis jedenfalls über den Preis seiner Arbeit und über die von ihm gewünschte Wochenarbeitszeit als „Einstiegs“-Bedingungen verhandeln kann. Auch wenn diese „essentialia“ bereits als tarifliche Einstufung oder außertarifliche Kondition vom Arbeitgeber schematisch vorgesehen sind, kann darüber jedenfalls verhandelt werden – was den Vertragsschluss aus Arbeitnehmersicht häufig auch kausal bedingt. Demgegenüber sind die weiteren „Transaktionskosten“ materieller und immaterieller Art, die bei der Vertragsdurchführung anfallen, für den Arbeitnehmer zu Beginn weitgehend undurchschaubar. Diese Risiken werden indes zu einem guten Teil gemindert durch gesetzliche Sicherungen wie den Kündigungsschutz, den Tarifvertrag und – bei Bestehen eines Betriebsrats – die betriebliche Mitbestimmung. Arbeitnehmer profitieren besonders von der Einrichtung des Betriebsrats, der als Gegengewicht zum Arbeitgeber dessen Machtentfaltung tendenziell begrenzt. Diese Mitbestimmung lässt sich ökonomisch als vertragsakzessorische Ergänzung deuten, weil erst dadurch der tendenziell „unvollständige Vertrag“23 im Arbeitsverhältnis zu einer annähernd „paritätischen“ Beziehung erstarken kann. Gerade die einzelvertraglich nicht sinnvoll regelbaren, sondern notwendig kollektiven betrieblichen Arbeitsbedingungen und -umstände können nur vom Betriebsrat auf Augenhöhe mit dem Arbeitgeber verhandelt werden. Damit kann die dauerhafte vertragliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Weisungsrecht des Arbeitgebers einerseits und seine dauerhafte institutionelle Abhängigkeit vom arbeitsteilig organisierten Betrieb andererseits insoweit durch Angemessenheitskontrolle und Gestaltungsteilhabe seitens des Be21
Dazu näher Reichold in FS 50 Jahre BAG, 2004, 153(167 ff.). Vgl. nur Fleischer Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001, 182; Richter/ Furubotn Neue Institutionenökonomik, 4. Aufl. 2010, 157 ff. 23 Dazu näher Behrens ZfA 1989, 209, 222 f.; Homann ZfBF 49 (1997), 187, 189; Kern JuS 1992, 15. 22
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triebsrats in der Tat sozialverträglich entschärft werden.24 Er hat insoweit die Funktion eines der sozialen Ausgewogenheit verpflichteten „Vertragshelfers“ – doch betrifft das nicht den Kernbereich des Synallagmas. Seine Rolle beschränkt sich auf die Aushandlung typisch „kollektiv“ geprägter Regelungen der Verteilungs- und Behandlungsgerechtigkeit, wie insbesondere die Tatbestände des § 87 BetrVG zeigen. Das BAG lässt freilich Grenzüberschreitungen immer wieder zu, nicht nur bei der ablösenden Betriebsvereinbarung, sondern auch bei der seit etwa 20 Jahren umstrittenen Rechtsprechung, wonach dem Betriebsrat beim tarifungebundenen Arbeitgeber kraft § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG eine weitgehende Mitbestimmung beim Entgelt zugestanden und ihm damit der Rang einer „Ersatzgewerkschaft“ zuerkannt wird.25
VI. Wert und Wirkung des Arbeitsvertrags – trotz seines AGBCharakters Offen geblieben ist bislang, ob nicht Wert und Wirkung des Arbeitsvertrags maßgeblich „geschwächt“ würden durch die vom Arbeitgeber einseitig veranlasste Aufnahme von AGB-Regeln. Denn es besteht Einverständnis darüber, dass dem Arbeitnehmer genau so wenig wie einem anderen Marktbürger die genaue Durchsicht der AGB vor Abschluss des Vertrags abverlangt werden kann. Sie sind mithin ohne Bedeutung für seinen Vertragsabschluss. Wer die AGB ohne weitere Diskussion hinnimmt, der handelt genauso rational wie der Geschäftsmann, der sein Auto in einem Parkhaus abstellt ohne Gedanken an die Einstellbedingungen zu verschwenden. Die prohibitiv hohen Transaktionskosten lassen jeden Kunden marktüblicher Leistungen davor zurückschrecken, die gesamten AGB im Einzelnen zu beachten, geschweige denn verhandeln zu wollen.26 Freilich ändert dies nichts daran, dass diese AGB für den Kunden im Krisenfall seine Rechte präzise umreißen, soweit sie – was ggf. gerichtlich zu klären ist – überhaupt nach Maßgabe der §§ 307–309 BGB als rechtswirksam erlassen gelten können. Das BAG hat nun weit überschießend aus dem „Schwäche“-Argument einer verdünnten Privatautonomie die Austauschbarkeit von AGB-Regelungen und Betriebsvereinbarungen gefolgert. Aus der „schwachen“ Privatautonomie, die aus nicht verhandelten, sondern einseitig gestellten AGB 24 Näher dazu Reichold NZA 1999, 561 (564): Betriebsverfassung ist ein effizientes Arrangement, wenn einerseits der „offene“ Arbeitsvertrag nicht zu Lasten des Arbeitnehmers und zur Abschöpfung einer Quasi-Rente ausgenutzt wird, andererseits die Investitionen des Arbeitgebers nicht durch „shirking“ (opportunistisches Verhalten) entwertet werden. 25 Zur Kritik vgl. nur Jacobs in FS Säcker, 2011, 201; Reichold in FS Wank, 2014, 455. 26 Vgl. nur Kötz JuS 2003, 209 (213): Informationsasymmetrie bei AGB.
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herrührt, soll die Vorzugswürdigkeit „kollektiv“ verhandelter Arrangements zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat folgen – ungeachtet dessen, ob eine „echte“ Kompetenz kraft BetrVG besteht oder nicht. Damit wird aber die Informationsasymmetrie im Arbeitsverhältnis zulasten des Arbeitnehmers weiter verstärkt. Die ohnehin „schwache“ Privatautonomie im Arbeitsverhältnis kommt gänzlich abhanden. In Kauf genommen wird vom BAG, dass es bei diesem Wechsel der Akteure nicht mehr um ein „minus“, sondern um ein „aliud“ geht: die Entmachtung der – ohnehin schwachen – Vertragsautonomie durch das kollektive Arrangement mit dem Betriebsrat. Und damit handelt es sich um einen folgenreichen Kategorienwechsel, weil das Günstigkeitsprinzip hinweg reduziert wird.27 Was möglicherweise zu den frühen Zeiten Nipperdeys und seines „Ordnungsprinzips“ anno 1937 gerechtfertigt schien,28 passt nicht in das 21. Jahrhundert des emanzipierten Arbeitsbürgers. Wie Preis/Ulber zutreffend bemerkt haben, kann der 1. Senat Beifall nur von jenen erhoffen, die mit dem Vertragsrecht im Arbeitsrecht nichts anzufangen wissen und die Flexibilität im Umgang mit anpassungsfähigen Betriebsräten bevorzugen.29 Das Umschlagen der „AGBQuantität“ in die Qualität einer kollektiv jederzeit änderbaren Vertragsgestaltung durch die Betriebspartner überdehnt nicht nur die Regelungskompetenzen des Betriebsrats (oben III am Ende), sondern verkennt auch, dass der vorformulierte Vertrag ebenfalls ein Vertrag ist, der die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit in sich trägt. Der transparente, nicht überraschende und angemessen vorformulierte Vertrag hat den gleichen Anspruch auf Beständigkeit und Vertragstreue wie der ausgehandelte Vertrag.30
VII. Fazit Für die Fälle, in denen der Betriebsrat keine dem BetrVG zu entnehmenden Kompetenzen für eine „kollektive“ Regelung im Bereich der Arbeitsbedingungen geltend machen kann, scheidet eine Regelungskonkurrenz zwischen der Betriebsvereinbarung und dem AGB-Vertrag aus. Das gilt insbesondere dann, wenn es um AGB-Regelungen im Kernbereich des Synallagmas geht – hier gelten ausschließlich die vertraglichen Regelungen (soweit nicht ohnehin ein Tarifvertrag einschlägig ist). Die Privatautonomie der Vertragsparteien wird insoweit nicht durch die Betriebsautonomie ver27
Zutr. Creutzfeldt NZA 2018, 1111 (1113). Vgl. Nipperdey Mindestbedingungen und günstigere Arbeitsbedingungen nach dem Arbeitsordnungsgesetz (Ordnungsprinzip und Leistungsprinzip), in Festschrift Lehmann, 1937, S. 257; zu Nipperdey näher Preis AuR 2016, G 9; zur Sache Reichold Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, 1995, 392 f. 29 Preis/Ulber NZA 2014, 6 (7). 30 Zutreffend Preis/Ulber NZA 2014, 6 (8). 28
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drängt, was sich auch verfassungsrechtlich begründen lässt: die Gewährleistung der Vertragsautonomie aus Art. 2 Abs. 1 GG hat hier Vorrang gegenüber den auf der Basis von Art. 12 Abs. 1 GG geschaffenen Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats.31 Selbst die von der Anwaltspraxis jetzt empfohlene „Öffnungsklausel“,32 welche dem Arbeitnehmer die Zuständigkeit des Betriebsrats auch für Regelungen im Bereich des Synallagmas signalisieren soll, kann diese gesetzliche Kompetenzabgrenzung nicht überwinden.
neue rechte Seite! 31 32
Dazu näher Reichold Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, 1995, 488 ff. Vgl. nur Krieger/Arnold/Zeh NZA 2020, 81.
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Die sogenannte „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ Karl Riesenhuber
Die sogenannte „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ von Vereinbarungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen KARL RIESENHUBER*
Christine Windbichler hat die betriebliche Mitbestimmung als „institutionalisierte Vertragshilfe“ bezeichnet. Ihre These ist, dass „die betriebliche Mitbestimmung, insbesondere in der Form der Betriebsvereinbarung, ein Ergänzungsinstrument für den seiner Natur nach ausfüllungs- und anpassungsbedürftigen Arbeitsvertrag ist“.1 Freilich hat sie die „Konsequenzen, die sich daraus für die Legitimation betrieblicher Rechtsetzung, die Voraussetzungen und den Umfang der Kompetenz, die Deutung des Günstigkeitsprinzips, das Verhältnis von Rechts- und Regelungsfragen sowie eine Vielzahl weiterer grundsätzlicher Probleme ergeben“, weiterer Untersuchung vorbehalten. Daher hoffe ich auf ihr Interesse an den folgenden Überlegungen. Soweit die Vertragsparteien eine Regelung versäumt oder darauf verzichtet haben, ist eine Vertragshilfe durch die Betriebspartner im Rahmen des BetrVG unproblematisch. Haben sie aber – auf die eine oder andere Weise – eine vertragliche Vereinbarung erzielt, stellt sich die Frage, inwieweit diese von einer nachfolgenden Betriebsvereinbarung geändert, ersetzt oder aufgehoben werden kann. Die damit angesprochene „Frage, inwieweit Betriebsvereinbarungen vertraglich begründete Ansprüche der Arbeitnehmer einschränken oder aufheben können, betrifft das Verhältnis von Privatautonomie und kollektiver Regelungsmacht.“2 Sie ist „so alt wie die betriebliche Mitbestimmung selbst“3. Eine jüngere Entscheidung des Bun* Dr. iur., M.C.J., Professor an der Ruhr-Universität Bochum, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels- und Wirtschaftsrecht, Richter am Oberlandesgericht Hamm. 1 Windbichler in FS Zöllner, 1998, 1003. Vgl. auch dies. JITE 152 (1996), 250 ff.; dies. in Rüthers Der Konflikt zwischen Kollektivautonomie und Privatautonomie im Arbeitsleben, 2002, 101 ff. S. ferner Reihold Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, 1995, 486 ff. (Betriebsrat als „Vertragshelfer“); Rieble Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, Rn. 1418 f. 2 BAG (GS) NZA 1987, 168, 169. 3 Annuß NZA 2001, 756, der auch die Entwicklung nachzeichnet; vgl. auch Bepler in FS Moll, 2019, 49 ff. S.a. G. Hueck in FS Molitor, 1962, 203 ff.
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desarbeitsgerichts zum Verhältnis von Vereinbarungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Betriebsvereinbarung hat die Diskussion neu belebt.
I. Die AGB-Form als Öffnungsvereinbarung 1. Die Entscheidung vom 5.3.2013 In welchem Verhältnis stehen die in Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Arbeitsvertrags enthaltenen Bedingungen zu jenen einer Betriebsvereinbarung? Was gilt also z.B., wenn in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen vorgesehen ist, dass das Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit vereinbart ist und nicht mit Erreichen einer Altersgrenze, sondern nur durch Kündigung endet, eine Betriebsvereinbarung hingegen eine Altersgrenze von 65 vorsieht? – So lagen die Dinge in dem Fall, der der Entscheidung des BAG vom 5.3.20134 zugrunde lag, zwar nicht. Seine Erwägungen zu dieser Frage erfolgten daher nur obiter. Randnummer 60 des Urteils hat jedoch eine gewisse Bekanntheit erlangt und eine heftige Kontroverse über das Verhältnis von Vertrag und Betriebsvereinbarung ausgelöst: „Die Arbeitsvertragsparteien können ihre vertraglichen Absprachen dahingehend gestalten, dass sie einer Abänderung durch betriebliche Normen unterliegen. Das kann ausdrücklich oder bei entsprechenden Begleitumständen konkludent erfolgen und ist nicht nur bei betrieblichen Einheitsregelungen und Gesamtzusagen möglich, sondern auch bei einzelvertraglichen Abreden. Eine solche konkludente Vereinbarung ist regelmäßig anzunehmen, wenn der Vertragsgegenstand in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten ist und einen kollektiven Bezug hat. Mit der Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen macht der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer erkennbar deutlich, dass im Betrieb einheitliche Vertragsbedingungen gelten sollen. Eine betriebsvereinbarungsfeste Gestaltung der Arbeitsbedingungen stünde dem entgegen. Die Änderung und Umgestaltung von betriebseinheitlich gewährten Leistungen wäre nur durch den Ausspruch von Änderungskündigungen möglich. Der Abschluss von betriebsvereinbarungsfesten Abreden würde zudem den Gestaltungsraum der Betriebsparteien für zukünftige Anpassungen von Arbeitsbedingungen mit kollektivem Bezug einschränken. Da Allgemeine Geschäftsbedingungen ebenso wie Bestimmungen in einer Betriebsvereinbarung auf eine Vereinheitlichung der Regelungsgegenstände gerichtet sind, kann aus Sicht eines verständigen und redlichen Arbeitnehmers nicht zweifelhaft sein, dass es sich bei den vom Arbeitgeber gestellten Arbeitsbedingungen um solche handelt, die einer Änderung durch Betriebsvereinbarung zugänglich sind. Etwas Anderes gilt nur dann, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausdrück4 BAG NZA 2013, 916. Gleichsinnig seither etwa BAG AP BetrVG 1972 § 77 Nr. 110; BAG NZA 2019, 1065 Rn. 60 ff.; BAG NZA 2019, 1082 Rn. 58 ff. Einschränkend BAG NZA 2018, 1273.
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lich Vertragsbedingungen vereinbaren, die unabhängig von einer für den Betrieb geltenden normativen Regelung Anwendung finden sollen.“
2. Der rechtliche Rahmen auf der Grundlage der Entscheidung des Großen Senats Wenn ein Vertragsgegenstand in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten ist und einen kollektiven Bezug hat, liegt darin regelmäßig die konkludente Vereinbarung, die vertragliche Abrede unterliege der Abänderung durch betriebliche Normen. Damit stellt der 1. Senat eine Auslegungsregel auf, die sich auf dem Boden der Rechtslage bewegt, wie sie der Große Senat des BAG in seiner Entscheidung zum Günstigkeitsprinzip vom 16.9.19865 etabliert hat.6 Im praktischen Ergebnis revidiert die Auslegungsregel die Entscheidung des Großen Senats indessen. Hatten Rechtsprechung und Lehre früher aus einer „kollektivrechtlichen“ Warte angenommen, nachfolgende Betriebsvereinbarungen könnten vertragliche Regelungen ablösen, so brach sich mit einer Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahr 1986 eine individualrechtliche Sichtweise Bahn. Die maßgebliche Kollisionsnorm entnahm das Gericht § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG. Dieser ordnet zwar lediglich die unmittelbare und zwingende Wirkung der Betriebsvereinbarung an. Doch wird diese Anordnung durch das ungeschriebene Günstigkeitsprinzip ergänzt. So wie gem. § 4 Abs. 3 TVG bei dem ebenfalls normativ wirkenden Tarifvertrag müsse auch die Normwirkung der Betriebsvereinbarung nach Maßgabe des Günstigkeitsprinzips beschränkt werden. Es handele sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der unabhängig von der Art der Rechtsquelle und auch außerhalb des Tarifrechts gelte, namentlich auch für das Verhältnis von Inhaltsnormen einer Betriebsvereinbarung zu günstigeren vertraglichen Abreden. „Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung sind danach nur einseitig zwingend und haben zugunsten der Arbeitnehmer stets dispositiven Charakter“. Anders gewendet können die Betriebspartner dem einzelnen Arbeitnehmer seine vertraglichen Rechte nicht durch eine Betriebsvereinbarung entziehen. Während diese Lösung den Interessen des (einzelnen) Arbeitnehmers Rechnung trägt, erschwert sie dem Arbeitgeber nachträgliche Anpassungen, die folgerichtig nur durch das individualrechtliche Instrumentarium umgesetzt werden können.7 Hat sich der Arbeitgeber keinen Widerruf einzelner 5 BAG NZA 1987, 168. Die Entscheidung ist freilich ihrerseits keineswegs unumstritten, wird hier aber als Ausgangspunkt zugrundegelegt. 6 Auch andere Auslegungen und Auslegungsregeln führen zu erheblichen Einschnitten in das Günstigkeitsprinzip und werden mit guten Gründen kritisiert; s. nur Waltermann RdA 2016, 296, 301. 7 BAG (GS) NZA 1987, 168, 177.
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Zusagen vorbehalten, kommt dafür vor allem die Änderungskündigung oder eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage in Betracht. Das sind freilich nur äußerste Notbehelfe, deren Anwendung zudem dadurch erschwert wird, dass sie auf die Umstände des Einzelfalls bezogen sind. Das passt dann nicht, wenn es um Vertragsbedingungen geht, die einheitlich für den ganzen Betrieb gelten sollen. Die Problematik wird weiter dadurch verschärft, dass auch Vereinbarungen, die einen „kollektiven“ Hintergrund haben, individualrechtlich umgesetzt und so der kollektivrechtlichen Anpassung entzogen werden. Das gilt namentlich für Leistungen, die auf vertraglichen Einheitsregeln, Gesamtzusagen8 und, wenn man einer rechtsgeschäftlichen Einordnung folgt,9 betrieblicher Übung beruhen. Gehen diese auch auf ein kollektiv-bezogenes Verhalten des Arbeitgebers zurück, so werden sie doch individualrechtlich als Vertragsabreden mit den einzelnen Arbeitnehmern begründet. Der Große Senat weist allerdings auf eine Einschränkung des Günstigkeitsprinzips und eine Gestaltungsmöglichkeit hin. Die Einschränkung betrifft soziale Leistungen, die auf vertraglichen Einheitsregeln oder einer Gesamtzusage beruhen und einen kollektiven Bezug haben. Auch diesen Leistungen liegt, wie gesagt, ein vertraglicher Anspruch zugrunde. Bei Kollision mit einer Betriebsvereinbarung gilt das Günstigkeitsprinzip. Doch soll es hier nicht durch einen individuellen Günstigkeitsvergleich konkretisiert werden, sondern durch einen kollektiven Günstigkeitsvergleich. Eine umstrukturierende Betriebsvereinbarung, die zwar die Einzelleistungen anders ordnet, den Dotierungsrahmen aber nicht herabsetzt, ist danach nicht zu beanstanden. Die Gestaltungsmöglichkeit liegt darin, dass die Arbeitsvertragsparteien einen Vorbehalt verabreden können, eine nachfolgende betriebliche Regelung soll Vorrang haben. Sie können die Vertragsbedingungen m.a.W. „betriebsvereinbarungsoffen“ ausgestalten. Eine solche Vorrangabrede können sie ausdrücklich oder konkludent treffen. 3. Die Voraussetzung eines „kollektiven Bezugs“ An dieser Stelle setzt die Auslegungsregel des BAG an. Sie erleichtert die Feststellung, dass eine Vereinbarung offen für Änderung durch Betriebsvereinbarung ist. Der 1. Senat nennt zwei Voraussetzungen, der Vertragsgegenstand muss in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten sein und einen kollektiven Bezug haben. Während die AGB-Form in § 305 Abs. 1 BGB gesetzlich definiert und daher verhältnismäßig leicht festzustellen ist, ist das Merkmal des 8
BAG (GS) NZA 1987, 168, 171. BAG NZA 2008, 1233 Rn. 12. Zur Vertrauenstheorie grundlegend Canaris Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, 254 ff., 387 ff. 9
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kollektiven Bezugs weniger klar.10 In der Begründung der Auslegungsregel taucht es erneut auf, und zwar mit der Erwägung, die betriebsvereinbarungsfeste Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen „mit kollektivem Bezug“ würde den Gestaltungsspielraum der Betriebspartner beschränken. Dieser Erwägung lässt sich allerdings keine Konkretisierung entnehmen, da die Rechtsprechung von einer umfassenden Regelungskompetenz der Betriebspartner ausgeht (s. nachfolgend, 4.). Der Topos des kollektiven Bezugs begegnet aber auch schon in der Entscheidung des Großen Senats von 1986. Dort kennzeichnet er damit die „inhaltlichen Besonderheiten“ von Vertragsvereinbarungen (aufgrund vertraglicher Einheitsregelungen oder einer Gesamtzusage), die darin liegen, dass Ansprüche für alle Arbeitnehmer (oder abgrenzbare Gruppen) begründet werden, bei denen die individuelle Lage des Einzelnen, seine persönlichen Umstände oder individuellen Verdienste, keine Rolle spielen, und eine generelle Regelung geschaffen werden soll.11 Darin kann man in der Tat inhaltliche Besonderheiten von Vertragsabreden sehen. Für Vertragsabreden in AGB liegt darin indessen im Regelfall kein zusätzliches qualifizierendes Merkmal,12 da diese definitionsgemäß für eine Vielzahl von Fällen vorformuliert sind13. Anders mag das nur beim Sonderfall der Einmalklausel sein, § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB14. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass das Merkmal des „kollektiven Bezugs“ keine tatbestandliche Einschränkung bedeutet. Entscheidend ist allein die AGB-Form. Nur bei (echten) Einmalklauseln kommt Anderes in Betracht. 4. Praktische Reichweite der Auslegungsregel Die Auslegungsregel hat eine geradezu umfassende Wirkung.15 Einerseits werden praktisch sämtliche Arbeitsbedingungen vom Arbeitgeber für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert und dem Arbeitnehmer gestellt. Andererseits besteht nach der – zwar umstrittenen –16 Auffassung der Recht10 Preis/Ulber NZA 2014, 6, 8 („schillernd“). Aus prinzipiellen Gründen kritisch Waltermann SAE 2013, 94, 100 („Gemeinwohlbelang“). 11 BAG (GS) NZA 1987, 168, 173 f. 12 Ebenso Creutzfeld NZA 2018, 1111, 1116; Neufeld/Flockenhaus BB 2016, 2357, 2358 f.; Wenning Betriebliche Übung und Betriebsvereinbarung, 2019, S. 383 f.; ders. RdA 2019, 244, 247 („letztlich leerlaufend“). Im Hinblick auf die Grenzen der Betriebsvereinbarung im Verhältnis zum Tarifvertrag (§§ 87 Abs. 1, 77 Abs. 3 BetrVG) relativierend Hoffmann/Köllmann NJW 2019, 3545 ff. Widersprüchlich Linsenmaier RdA 2014, 336, 343 und 344. 13 Darauf weist auch BAG NZA 2018, 1273 Rn. 52 hin. 14 Dazu BAG NZA 2005, 1111, 1115 f. 15 BAG NZA 2018, 1273 Rn. 52; Creutzfeld NZA 2018, 1111, 1115 f. 16 BAG NZA 2007, 453 Rn. 13; BAG NZA 1990, 816; BAG NZA 1987, 779. Dagegen etwa Canaris AuR 1966, 129 ff.; Lobinger Anm. zu BAG, AP BetrVG 1972 § 77 Nr. 19; Picker NZA 2002, 769 f. („von fundamentaler Verfehltheit“); Preis/Ulber RdA 2013, 211,
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sprechung eine umfassende Regelungskompetenz der Betriebspartner17 nicht nur für formelle Arbeitsbedingungen (über die Art und Weise der Leistungserbringung), sondern auch für materielle (über das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung). Es kann also auf der vollen Breite der Vereinbarung zu Kollisionen des (Formular-) Arbeitsvertrags mit Regeln von Betriebsvereinbarungen kommen. Die Problematik wird zusätzlich dadurch verschärft, dass der Arbeitnehmer sich gegen das formularmäßige Angebot des Arbeitgebers faktisch nicht „wehren“ kann. Eine konkludente Öffnungsklausel ist von vornherein schwer zu erkennen, für den Arbeitnehmer aber auch wenn er sie erkennt praktisch nicht wegzuverhandeln. Die ausdrückliche Vereinbarung der Betriebsvereinbarungsfestigkeit, die der 1. Senat erwähnt, ist reine Theorie. Hatte der Große Senat 1986 das individualrechtliche Günstigkeitsprinzip als Grundsatz installiert und die ablösende Betriebsvereinbarung insoweit ausgeschlossen, so hebt die Auslegungsregel des 1. Senats dies jetzt im Ergebnis auf (dazu noch unten, IV.).18
II. Würdigung der Begründung 1. Auslegung oder Vertragsergänzung Das BAG erörtert die Frage der Öffnungsklausel allein unter dem Gesichtspunkt der Auslegung einer konkludenten Erklärung. Da der Vertrag zu dem Thema keine Aussage enthält, ist das jedoch keineswegs der selbstverständliche Ausgangspunkt. Richtig ist freilich, dass die Vertragsauslegung – anders als die Gesetzesauslegung – nicht durch eine Wortsinngrenze beschränkt ist. Eine Auslegung kommt auch über den Wortlaut hinaus in Betracht und kann insbesondere eine Vereinbarung folgerichtig ergänzen.19 Das setzt aber voraus, dass die fragliche Regelung von den Parteien sinnge213 ff.; Waltermann Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, 1996, 147 ff.; ders. NZA 1996, 357, 360 ff.; ders. SAE 2013, 94, 95 f.; Wank NJW 1996, 2273, 2280 f.; Veit Die funktionelle Zuständigkeit des Betriebsrats, 1989, 265 ff., 290. 17 In der Tat „überrascht“ demgegenüber die umgekehrte Frage, „Was dürfen die Arbeitsvertragsparteien regeln?“, die Linsenmaier RdA 2014, 336 f. aufwirft. In ihrer Gleichstellung mit der Frage nach der Kompetenz der Betriebspartner ist sie denn auch keineswegs „aus Gründen der Systematik berechtigt“. 18 Diller/Beck BetrAV 2014, 345 f. („Es spricht viel dafür, dass die Entscheidung des Großen Senats von 1986 nur noch Rechtsgeschichte ist.“ „Es bleibt deshalb nur zu fragen, was nach den drei zitierten Entscheidungen des BAG von der Rechtsprechung des Großen Senats aus 1 986 eigentlich überbleibt. Die Antwort ist einfach: Nichts.“); Neufeld/ Flockenhaus BB 2016, 2357, 2358 f. 19 Neuner in FS Canaris, 2007, 904 f., 912.
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mäß mit vereinbart war. Da es jedoch Arbeitsverträge und AGB mit und ohne Öffnungsklausel gibt, lässt sich nicht sagen, dass die Vereinbarung von Arbeitsbedingungen in AGB eine solche Ergänzung zwingend oder auch nur (nach den Parteizwecken) folgerichtig erfordere. Daher erscheint es treffender, den Fall als Vertragsergänzung (sog. „ergänzende Vertragsauslegung“)20 einzuordnen. Eine solche kommt in der Tat nicht nur bei Individualvereinbarungen in Betracht, sondern auch bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Doch ist insoweit Zurückhaltung geboten: Mit Rücksicht auf die Formulierungsverantwortung des Klauselverwenders (vgl. § 305c Abs. 2 BGB) gibt es im Grundsatz keine Veranlassung für eine richterliche Vertragshilfe. Es ist Sache des Verwenders (Arbeitgebers), einem absehbaren Regelungsbedarf auch Rechnung zu tragen. Nur bei unvorhersehbarem Regelungsbedarf kommt überhaupt eine gerichtliche Ergänzung in Betracht.21 Von diesem Ausgangspunkt her ist die Ergänzung einer Öffnungsklausel von vornherein abzulehnen. Das Problem ist altbekannt und anfänglich absehbar. Versäumt der Arbeitgeber, eine Regelung zu treffen, sind die AGB nicht als lückenhaft anzusehen. Eine gleichwohl angenommene Unvollständigkeit müsste aber auch gemessen an den Regelungszielen der Parteien planwidrig sein.22 Dagegen spricht indes, dass vertragliche Pflichten grundsätzlich als abschließend anzusehen sind,23 dem Schuldner grundsätzlich das uneingeschränkte Leistungsrisiko zugewiesen ist.24 Besteht zudem mit dem Günstigkeitsprinzip eine (dispositive) Kollisionsregelung, und zwar gerade auch für vertragliche Einheitsregelungen, bedürfte es besonderer Gründe, um die unterlassene Abbedingung als zweckwidrig anzusehen. Jedenfalls besteht nicht generell, unabhängig vom Inhalt der einzelnen Klauseln, ein Regelungsbedarf, ohne den die Ziele des Arbeitsvertrags nicht erreicht werden könnten. Ginge man gleichwohl von einer Lücke aus, so erfolgte die Lückenfüllung nach h.M. nach dem hypothetischen Parteiwillen, der im Falle von AGB naturgemäß nicht individualisiert ermittelt werden kann, sondern, wie der BGH sagt, nach einem objektiv-generalisierenden Maßstab.25 Hätten sich die Parteien, gedacht als redliche Vertragspartner, auf eine Öffnungsklausel eingelassen, wenn sie den Regelungsmangel erkannt hätten? Angesichts der glatt gegenläufigen – und jeweils berechtigten – Interessen lässt sich das nicht sagen. Unzulässig wäre insbesondere die Erwägung, der Verwen20
Zur Kritik Neuner in FS Canaris, 2007, 918 ff. Bieder RdA 2011, 142, 153 f. BAG AP BetrVG 1972 § 2 Nr. 60. 22 Neuner in FS Canaris, 2007, 912. 23 Neuner in FS Canaris, 2007, 914; Waltermann SAE 2013, 94, 99; zu Unrecht zweifelnd Linsenmaier RdA 2014, 336, 339. 24 Neuner in FS Canaris, 2007, 915. 25 BGH NJW-RR 2007, 1697 Rn. 34.; Thüsing in v. Westphalen/Thüsing Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke (44. EL November 2019), Teil Vertragsrecht, Auslegung, Rn. 23. 21
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dungsgegner (Arbeitnehmer) hätte sich ohnehin nicht durchsetzen können und alles Gestellte akzeptiert. Ist die Möglichkeit des Arbeitgebers, die AGB zu stellen, auch als empirische Tatsache und Grundlage für den Vertragsschluss hinzunehmen, so kann sie doch jedenfalls nicht den Maßstab für ein redliches Verhalten darstellen. 2. Allgemeine Auslegungsregeln Aber auch wenn man die Frage mit dem 1. Senat als Problem der Vertragsauslegung versteht, ergibt sich im Ergebnis nichts Anderes.26 Für die Auslegung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen gelten im Ausgangspunkt die §§ 133, 157 BGB. Diese werden aber mit Rücksicht auf Form und Zwecke von Vereinbarungen in AGB teilweise modifiziert. So ist insbesondere deren (regelmäßige) Vorformulierung für eine Vielzahl von Fällen und die daraus resultierende „Typizität“ zu berücksichtigen.27 Nach einer gängigen Formel der Rechtsprechung werden AGB daher „objektiv“ ausgelegt, nämlich „losgelöst von der zufälligen Gestaltung des Einzelfalles und den individuellen Vorstellungen der Vertragsparteien, unter Beachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise“28.29 AGB sind so auszulegen, „wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen sind“.30 Das bedeutet indessen nicht, dass die Grundsätze der Gesetzesauslegung Anwendung fänden. Auch Allgemeine Geschäftsbedingungen sind Vertragsbedingungen und nicht Recht.31 Der 1. Senat stützt sich bei seiner Auslegung der AGB maßgeblich auf die Erwägung, dass durch die AGB-Form das Interesse des Arbeitgebers an einheitlichen und auch (einheitlich) abänderbaren Bedingungen zum Ausdruck 26 Waltermann SAE 2013, 94, 99 („Die aufgestellte und in ihrer Allgemeinheit gewissermaßen radikale Auslegungsmaxime lässt sich durch eine Vertragsauslegung, die dem Üblichen folgt, nicht gewinnen. In der Allgemeinheit des Wortsinns ist sie Fiktion“). Vgl. auch Chr. Picker in Bieder/Hartmann Individuelle Freiheit und kollektive Interessenwahrnehmung im Deutschen und Europäischen Arbeitsrecht, 2012, 126 ff. („Auslegung oder Fiktion?”). 27 Bieder RdA 2011, 142, 143 ff.; Busche in MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2018, § 133 BGB Rn. 33. 28 BGH NJW 1956, 1915. 29 Zum Grundsatz Thüsing (Fn. 25), Rn. 3 ff. 30 Thüsing (Fn. 25), Rn. 3 a.E. In der Sache ebenso Basedow in MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2019, § 305c BGB Rn. 33. 31 Bieder RdA 2011, 142, 143 f.; Hellwege Allgemeine Geschäftsbedingungen, einseitig gestellte Vertragsbedingungen und die allgemeine Rechtsgeschäftslehre, 2010, 520 ff.; H. Schmidt in BeckOK BGB, 54. Edition, Stand 1.5.2020, § 305c BGB Rn. 49.
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komme (und dies für den Arbeitnehmer erkennbar sei).32 Das überzeugt schon deswegen nicht, weil die Auslegung nicht nach dem – auch noch: erst nachträglich aktualisierten – Interesse der Parteien erfolgt, sondern nach deren „wirklichen Willen“, § 133 BGB. Aber auch wenn man vom Interesse auf den Willen schließt, sind Allgemeine Geschäftsbedingungen als Vertragsbedingungen nicht einseitig nach dem – auch erkennbaren – Interesse des Verwenders auszulegen. Vielmehr gilt auch hier der Grundsatz einer nach beiden Seiten interessengerechten Auslegung33. Dagegen lässt sich insbesondere nicht einwenden, der Verwender wolle (empirisch oder typischerweise) mit AGB einseitig die eigenen Interessen durchsetzen. Damit würde dem Verwender – geradezu in Umkehrung der Zweifelsregel von § 305c Abs. 2 BGB und des Schutzzwecks der AGB-Kontrolle allgemein -34 für die Verwendung der AGB-Form ein zusätzlicher Auslegungsbonus gegeben, der mit dem Schutzzweck des AGB-Rechts zuwiderläuft. Der Schutzzweck des AGB-Rechts „verbietet eine Auslegungsmethode, die (…) die Beeinträchtigung der Privatautonomie noch weiter intensiviert, statt sie zu begrenzen“.35 Gerade wegen ihrer Tendenz, den Verwender zu begünstigen, sind AGB nach § 157 BGB als ein redlicher Ausgleich der widerstreitenden Interessen auszulegen. Unbegründet ist daher auch die vom BAG angelegte einseitige Perspektive, wonach allein maßgeblich sei, wie der Arbeitnehmer die Interessen des Arbeitgebers verstehen musste. Das ist auch nach der Formel vom „objektiven Empfängerhorizont“ nicht gerechtfertigt. Denn auch danach gibt es nicht allein eine Verständnissorgfalt des Adressaten, sondern ebenso eine Formulierungssorgfalt des Erklärenden, der sich seinerseits in die Position des Adressaten hineinversetzen muss. Zudem fokussiert der Senat bei seiner Auslegung in verfehlter Weise allein auf die Frage der Betriebsvereinbarungsoffenheit. Diese steht aber nie für sich, sondern stellt sich stets im Hinblick auf konkrete Rechte und Pflichten, die in den AGB formuliert werden. Daher ist auch bei der Auslegung nicht allein zu erwägen, ob der Arbeitgeber eine Änderungsbefugnis wünschen könnte, sondern nicht weniger, ob sie der Arbeitnehmer im Hinblick auf die AGB-Regelungen nicht wünschen könnte. Dafür sprechen jedenfalls gewichtige Gründe.36 Muss sich der Arbeitnehmer schon damit ab-
32 Auch die tatsächlichen Voraussetzungen – Vereinheitlichungswille, Gleichsetzung mit Flexibilitätsinteresse, Erkennbarkeit für den Arbeitnehmer – werden mit guten Gründen bestritten (BAG NZA 2018, 1273 Rn. 50 f.; Wenning RdA 2019, 244, 249); hier steht demgegenüber die Verletzung von Auslegungsregeln im Vordergrund. 33 Zum Auslegungsgrundsatz etwa BGH NJW 2003, 819 mwN.; Busche in MünchKomm BGB, § 133 BGB Rn. 64. 34 Die Sinnverkehrung durch den 1. Senat hervorhebend auch Wenning RdA 2019, 244, 249 f. („systematischer Widerspruch zum AGB-Recht“). 35 Bieder RdA 2011, 142, 144. 36 Chr. Picker (Fn. 26), S. 127.
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finden, dass ihm die AGB gestellt werden, so ist sein Interesse, sich auf das Vor-Geschriebene zu verlassen, soweit es ihm günstig ist, umso größer. Schließlich bedeutet die Öffnungsklausel, die der Senat in die AGB hineinlesen möchte, für den Arbeitnehmer, dass er auf die ihn schützende Vertragsbindung verzichten würde. Insoweit gilt aber auch bei der Auslegung von AGB der Grundsatz, dass ein Vertragspartner sich nicht ohne weiteres einer Rechtsposition begibt.37 Aus guten Gründen stellt das BAG an einen Verzichtswillen hohe Anforderungen.38 Liegt in der Vereinbarung einer Öffnungsklausel auch kein Verzicht, so ist doch die wirtschaftliche Situation als ganz ähnlich zu bewerten, wenn der Arbeitnehmer einen Vertrag unter Ausschluss der ihn schützenden Bindungswirkung schließen und sich der Fremdbestimmung durch die Betriebspartner unterwerfen soll.39 Schon nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen erscheint daher die Auslegung des Gerichts verfehlt, die AGB-Form sei als Betriebsvereinbarungsoffenheit zu verstehen. Der Senat konnte dazu nur deswegen kommen, weil er den Grundsatz der beiderseits interessengerechten Auslegung sowie den Grundsatz missachtet hat, dass kein Vertragspartner ohne weiteres eine Rechtsposition aufgibt. 3. AGB-Auslegung, § 305c Abs. 2 BGB a) Vereinbarung einer Öffnungsklausel Hält man nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen die Annahme einer konkludenten Öffnungsklausel nicht schon für ausgeschlossen, so ist deren Vereinbarung doch jedenfalls Zweifeln ausgesetzt. Hätte der Arbeitgeber eine betriebsvereinbarungsoffene Gestaltung gewollt, hätte er sie unschwer formulieren können. Schon das Schweigen der AGB begründet daher Zweifel, ob eine Öffnungsklausel vereinbart werden sollte.40 Nach dem Grundsatz der Zusammengehörigkeit von Vorteil und korrespondierenden Nachteilen, der § 305c BGB zugrunde liegt, gehen die Zweifel bei der Auslegung zu Lasten des Verwenders. b) Auslegung der vom 1. Senat extrahierten Öffnungsklausel Aber auch die vom 1. Senat (wohl) angenommenen Klauseln unterliegen Auslegungszweifeln. Dem Urteil vom 5.3.2013 lassen sich folgende Klauseln entnehmen:41 37
BGH NJW 2010, 64 Rz 18; BGH NJW 2007, 368 Rn. 9 mwN. BAG NZA 2008, 255 Rn. 20. 39 Wenning RdA 2019, 244, 246 f. 40 Ebenso Neufeld/Flockenhaus BB 2016, 2357, 2361. 41 Creutzfeld NZA 2018, 1111, 1118. 38
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„Die vertraglichen Absprachen unterliegen einer Abänderung durch betriebliche Normen.“ oder „Die vom Arbeitgeber gestellten Arbeitsbedingungen sind einer Änderung durch Betriebsvereinbarungen zugänglich.“
In beiden Formulierungen wird zwar die Offenheit für Änderungen deutlich. Nicht eindeutig ist aber, ob damit auch eine Offenheit für verschlechternde Betriebsvereinbarungen gemeint ist.42 Das ist keineswegs selbstverständlich. Ein Hinweis auf die Änderungsmöglichkeit könnte auch als deklaratorischer Hinweis auf Normwirkung und Günstigkeitsprinzip einen guten Sinn haben, und das ist, wie die Rechtsprechung zeigt,43 keine nur fernliegende Auslegungsvariante.44 Die Kautelarpraxis ist denn auch umsichtiger und hebt die Verschlechterungsmöglichkeit eigens hervor.45 4. Inhaltskontrolle Nimmt man ungeachtet dessen an, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthielten eine Öffnungsklausel, stellt sich die Frage, ob diese der Inhaltskontrolle standhält. a) Kontrollfähigkeit, § 307 Abs. 3 BGB Fraglich ist zunächst, ob es sich dabei um Geschäftsbedingungen handelt, „durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden“, § 307 Abs. 3 S. 1 BGB. Das kommt unter zwei Gesichtspunkten in Betracht: nämlich der Abweichung vom Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) und der Abweichung vom Grundsatz der Vertragsbindung (§ 311 Abs. 1 BGB). Mit der Öffnungsklausel vereinbaren die Parteien zum einen eine vom Günstigkeitsprinzip abweichende Regelung. Es ist zwar richtig, dass in der Öffnungsklausel die Ausübung der Privatautonomie liegt und dass das Günstigkeitsprinzip diese Ausübung definitionsgemäß nicht bewerten 42 Wir betrachten hier nur die Tatbestandsseite, aber auch die Rechtsfolgenseite wirft Auslegungszweifel auf, nämlich ob ein Anwendungs- oder Geltungsvorrang gemeint ist. Nach § 305c Abs. 2 BGB ist mit der Öffnungsklausel des 1. Senats nur ein Anwendungsvorrang vereinbart. Wenning RdA 2019, 244, 251. 43 BAG NZA 2012, 990 Rn. 15 (mit der Annahme, „dass eine im Arbeitsvertrag enthaltene Verweisung auf die anwendbaren betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften im Zweifel deklaratorisch gemeint ist“). 44 Creutzfeld NZA 2018, 1111, 1118 f. 45 Meinel/Kiehn NZA 2014, 509, 512 („Dies gilt auch, wenn die vertraglichen Regelungen günstiger sind.“); Rieble/Schul RdA 2006, 339, 340 („Arbeitsvertragliche Regeln können durch Betriebsvereinbarung auch verschlechternd abgeändert werden”).
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kann.46 Hier geht es jedoch um die davon zu trennende Frage, ob in der Öffnungsklausel zugleich eine Disposition über eine „gesetzliche“ Regel liegt. Das lässt sich nicht leugnen:47 Ohne die Öffnungsklausel findet das Günstigkeitsprinzip Anwendung. Infolge der Öffnungsklausel findet es keine Anwendung. Auch wenn die Öffnungsklausel das Günstigkeitsprinzip nur „mittelbar ausschaltet“,48 ist sie doch gleichbedeutend mit der Vereinbarung: „Das Günstigkeitsprinzip findet keine Anwendung.“ Zudem lässt sich auch nicht sagen, es werde nicht das Günstigkeitsprinzip abbedungen, sondern dessen Tatbestandsvoraussetzung sei nicht erfüllt.49 Das wäre in der Tat der Fall, wenn die Vertragsparteien keine günstigere Regelung treffen. Diese Vereinbarung unterliegt zu Recht nicht der Inhaltskontrolle. Wenn sie aber eine günstigere Regelung treffen und zur Disposition einer Kollektivvereinbarung stellen, weichen sie vom gesetzlichen Grundsatz ab. Zum anderen weicht die Öffnungsklausel von der Vertragsbindung ab, die sich als (dispositiver) Grundsatz aus § 311 Abs. 1 BGB ergibt.50 Auch Allgemeine Geschäftsbedingungen sind Vertrag, für den der Grundsatz pacta sunt servanda gilt.51 Öffnet man die vertragliche Vereinbarung für nachträgliche Änderungen durch Dritte, hier die Betriebspartner, ist das eine Abweichung von der gesetzlichen Regelung.52 b) Abweichung von Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB Nach zivilrechtlichen Grundsätzen könnte man die Abweichung von der Vertragsbindung einerseits und die Abweichung von dem – auf Erwägungen der Privatautonomie fußenden – Günstigkeitsprinzip wegen der darin liegenden Abweichung von Grundgedanken der gesetzlichen Regelung53 als unangemessene Benachteiligung ansehen, § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Zu erwägen ist, ob Besonderheiten des Arbeitsrechts, wie sie nach § 307 Abs. 4 S. 2 und 3 BGB zu berücksichtigen sind, Anderes begründen. 46 Darauf abstellend Meinl/Kiehn NZA 2014, 509, 510 f.; Krieger/Arnold/Zeh NZA 2020, 81, 86; Ubber/Massig BB 2017, 2230, 2236. 47 Ebenso Wenning (Fn. 12), 410; ders. RdA 2019, 244, 250. 48 Rieble/Schul RdA 2006, 339, 340. 49 Meinl/Kiehn NZA 2014, 509, 511. 50 BAG NZA 2009, 428 Rn. 23. 51 BAG NZA 2017, 777 Rn. 17; BAG NZA 2005, 465, 467. 52 Löwisch/Rieble TVG, 4. Aufl. 2017, § 4 TVG Rn. 550 („die Öffnungsklausel […] nimmt den Geltungsanspruch des Arbeitsvertrags zurück und schwächt diesen“). Das konzedieren auch Meinl/Kiehn NZA 2014, 509, 511 f. 53 BAG (GS) NZA 1987, 168, 172 („Günstigkeitsprinzip ist Ausdruck eines umfassenden Grundsatzes, der unabhängig von der Art der Rechtsquelle und auch außerhalb des Tarifvertragsgesetzes Geltung beansprucht“); Wenning (Fn. 12), 410 ff.
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Im Hinblick auf die Vertragsbindung ist insoweit zu beachten, dass der Arbeitsvertrag, wie Windbichler hervorhebt,54 als in besonderem Maße anpassungsbedürftig angesehen wird. Insofern trägt die Öffnungsklausel als Anpassungsmechanismus einem berechtigten Sachinteresse beider Vertragsparteien Rechnung. Bei der Bewertung ist weiterhin zu berücksichtigen, dass die Anpassung durch Betriebsvereinbarung zwar die Autonomie der Vertragspartner verletzt, aber ein hohes Maß an Angemessenheit sichert. Zwar haben Betriebsvereinbarungen nicht in derselben Weise wie Individualverträge oder Tarifverträge eine „Richtigkeitschance“55.56 Doch unterliegen Betriebsvereinbarungen einer Inhaltskontrolle nach § 75 BetrVG.57 Diese ist zwar gesetzlich nicht als die Angemessenheitskontrolle konzipiert, doch steht die Kontrolldichte der Rechtsprechung jener des § 307 BGB nicht nach.58 Während diese Sacherwägungen dafür sprechen, dass Öffnungsklauseln durchaus als nicht unangemessen i.S.v. § 307 BGB beurteilt werden können, ist zu beachten, dass die vom 1. Senat gefundene Öffnungsklausel umfassend („global“)59 formuliert ist. Sie ist nicht auf einzelne Klauseln der AGB oder einzelne Sachbereiche des Arbeitsvertrags beschränkt, sondern erfasst alle Gegenstände, die in den Bedingungen enthalten sind. Damit wird aber die Verbindlichkeit des Vertrags entsprechend umfassend in Frage gestellt.60 Trägt dies auch den Flexibilitätsinteressen des Arbeitgebers Rechnung, so werden damit doch die gegenläufigen Interessen des Arbeitnehmers ebenso umfassend missachtet. Ein angemessener Interessenausgleich ist darin nicht mehr zu sehen. c) Transparenzgebot, § 307 Abs. 1 S. 2 BGB Auch wer die Kontrollfähigkeit nach § 307 Abs. 3 S. 1 BGB anders beurteilt als hier (oben, a)),61 muss eine Öffnungsklausel am Maßstab des Transparenzgebots messen. „Betriebsvereinbarungsoffenheit muss seit der Schuldrechtsreform transparent und konkret vereinbart werden“.62 „Das 54
Windbichler in FS Zöllner, 1998, 1002 f. Zur Richtigkeitschance Canaris Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, 48 ff.; ders. in FS Lerche, 1993, 882 ff.; Singer Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995, 9–12. Zur Richtigkeitschance von Tarifverträgen Löwisch/Rieble (Fn. 12), Einl. Rn. 231. Grundlegend zur Lehre von der „Richtigkeitsgewähr“ Schmidt-Rimpler AcP 147 (1941), 130 ff. 56 Canaris ArbuR 1966, 129, 140. S.a. BAG AP BGB § 242 Ruhegehalt Nr. 142: Betriebsvereinbarung ist „nicht in demselben Maße wie der Tarifvertrag autonom und der gerichtlichen Inhaltskontrolle entzogen“. 57 Richardi in Richardi BetrVG, 16. Aufl. 2018, § 77 BetrVG Rn. 131 ff. 58 Wie Preis/Ulber RdA 2013, 211 ff. nachweisen. 59 Darauf abstellend Wenning (Fn. 12), 414 ff.; ders. RdA 2019, 244, 251 f. 60 Preis/Ulber NZA 2014, 6, 7 („Was gilt der Vertrag im Arbeitsrecht?“). 61 So teilweise Meinel/Kiehn NZA 2014, 509, 510 f. 62 Rieble/Schul RdA 2006, 339, 340. 55
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Transparenzgebot schließt das Bestimmtheitsgebot ein. Die Klausel muss die tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen so genau beschreiben, dass für den Verwender keine ungerechtfertigten Beurteilungsspielräume entstehen. Sein Vertragspartner soll ohne fremde Hilfe Gewissheit über den Inhalt der vertraglichen Rechte und Pflichten erlangen können und nicht von der Durchsetzung bestehender Rechte abgehalten werden. Danach verletzt eine Klausel das Bestimmtheitsgebot, wenn sie vermeidbare Unklarheiten und Spielräume enthält (…).“63 Findet man in einer AGB-Vereinbarung überhaupt eine unausgesprochene Öffnungsklausel und hält man diese – in der vom 1. Senat gefundenen Formulierung – nicht schon für zweifelhaft i.S.v. § 305c Abs. 2 BGB, so müsste sie jedenfalls am Transparenzgebot scheitern.64 Schon die mangelnde Ausdrücklichkeit erschwert dem Arbeitnehmer ohne Not, „ohne fremde Hilfe Gewissheit über den Inhalt der vertraglichen Rechte und Pflichten (zu) erlangen“.65 Dasselbe gilt für den unterlassenen Hinweis auf die Verschlechterungsmöglichkeit. Entgegen der Ansicht des BAG lässt sich Anderes auch nicht mit „im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten“ (§ 310 Abs. 4 S. 2 BGB) rechtfertigen.66 Allerdings sind diese in der Tat auf allen Stufen der AGB-Kontrolle zu beachten und daher grundsätzlich auch bei der Anwendung des Transparenzgebots.67 Indessen ist schwer zu erkennen, welche Besonderheiten sich im Hinblick auf die Transparenz im Arbeitsrecht in rechtlicher Hinsicht ergeben sollen. Nicht von ungefähr knüpft die Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs insoweit an die Rechtsprechung der Zivilgerichte an.68 Allerdings kann man bei der Bewertung der Transparenz durchaus den Maßstab eines verständigen Arbeitnehmers heranziehen. Auch dieser muss aber von der Einsicht in allfällige Änderungsbedürfnisse nicht auf eine Öffnungsklausel schließen. Im Übrigen ist es keine „im Arbeitsrecht bestehende Besonderheit“, dass vertragliche Vereinbarungen „durch Betriebsvereinbarung geändert werden können“.69 Vielmehr gilt nach der Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahr 1986 gerade umgekehrt der Vorrang der Individualvereinbarung nach Maßgabe des (ggf. kollektiv zu verstehenden) Günstigkeitsprinzips. Die Abweichung vom dispositiven Standard versteht sich nie ohne weiteres. Aber auch wenn man – wie das BAG im Ergebnis – den dispositiven Standard umdrehen möchte, ist das jedenfalls nicht für sich selbstver63
BAG NZA 2013, 338 Rn. 23 mwN. Auch Neufeld/Flockenhaus BB 2016, 2357, 2361 f. 65 BAG NZA 2018, 1273 Rn. 55 (obiter). 66 BAG NZA 2019, 1065 Rn. 66 ff. 67 Krause in Staudinger, 2013, Anh § 310 BGB Rn. 145. 68 S. etwa BAG NZA 2008, 45 Rn. 27; BAG NZA 2006, 324 Rn. 45; BAG NZA 2005, 1111, 1113. 69 So aber BAG NZA 2019, 1065 Rn. 69. 64
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ständlich. Im Gegenteil hat gerade die neue Rechtsprechung des BAG für Unklarheit gesorgt. 5. Zwischenergebnis Eine Öffnungsklausel lässt sich AGB methodengerecht regelmäßig nicht entnehmen. Die vom 1. Senat „gefundene“ Öffnungsklausel wirft Auslegungszweifel auf und wäre daher als deklaratorischer Hinweis auf Normwirkung und Günstigkeitsprinzip zu verstehen. Sie würde im Übrigen wegen Intransparenz der Inhaltskontrolle nicht standhalten.
III. Prinzipielle Bedenken 1. Begründung mit dem „Ordnungsprinzip“? Die prinzipielle Bedeutung der Entscheidung wird hervorgehoben, wenn man darin eine Rückkehr vom Günstigkeitsprinzip zum Ordnungsprinzip sieht.70 Greift der 1. Senat die rechtlichen Rahmenbedingungen der Entscheidung des Großen Senats von 1986 mit seiner Auslegungsregel auch nicht offen an, so hat diese doch eine entsprechende Wirkung, da praktisch sämtliche Arbeitsbedingungen in AGB vereinbart werden und der Arbeitnehmer sich diesen faktisch nicht entziehen kann (oben, III.2.).71 Das auf Nipperdey zurückgehende, ansatzweise bereits 1930 angedachte,72 jedoch erst unter dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG) von 1934 als solches ausgeprägte „Ordnungsprinzip“73 geht von dem Grundgedanken aus, dass die Betriebsordnung (Betriebsvereinbarung) das Arbeitsverhältnis als Lebensbereich objektiv und überindividuell ordne.74 Diese Ordnung müsse daher grundsätzlich umfassend gelten, „ohne Rücksicht darauf, ob die bisherige Ordnung für die Beschäftigten günstiger war“. Eine neue Ordnung löse die bisherige Ordnung ab.75 Das gelte auch im Verhältnis der Betriebsordnung (Betriebsvereinbarung) zu allgemeinen Arbeitsbedingungen, die Nipperdey ebenfalls als eine „Ordnung“ versteht. Nur in einem eng begrenzten Bereich könne das „Leistungsprinzip“ 76 günstigere Bedingungen 70
Meinel/Kiehn NZA 2014, 509, 513; Preis/Ulber NZA 2014, 6 ff. Das verkennt Bepler in FS Moll, 2019, 59 f. 72 Hueck/Nipperdey Lehrbuch des Arbeitsrechts, Zweiter Band, 1. und 2. Aufl. 1930, § 34 IV.1.d) mit Fn. 38 (337). 73 Nipperdey in FS Lehmann, 1937, 262. Fortführend dann Siebert in FS Nipperdey, 1955, 119 ff. 74 Dazu Rieble (Fn. 1), Rn. 182 ff. 75 Man spricht mit Rücksicht auf diese Wirkung auch vom „Ablöseprinzip“, das sich aber nur im Namen vom Ordnungsprinzip unterscheidet; Hromadka in FS Wank, 2014, 181. 76 Nipperdey in FS Lehmann, 1937, 263. 71
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durchsetzen, die auf dem Individualarbeitsvertrag beruhen.77 Freilich fällt die Auseinandersetzung mit dem gegenläufigen Leistungsprinzip – und der dahinterstehenden Vertragsfreiheit – außerordentlich knapp und behauptend aus. Zum Verhältnis von kraft einzelvertraglicher Bezugnahme geltenden Bestimmungen einer Betriebsordnung und jenen einer nachfolgenden Betriebsordnung sagt Nipperdey: „Eine stillschweigende arbeitsvertragliche Vereinbarung dieser Bedingungen ist daher keinesfalls anzunehmen. Eine andere Auffassung ist ein Rückfall in das für Tarifordnung (Betriebsordnung) überwundene individualistische Willensdogma, unvereinbar mit dem Wesen des in der Tarifordnung (Betriebsordnung) enthaltenen objektiven Rechts und geeignet, das entwickelte Ordnungs- und Leistungsprinzip praktisch außer Kraft zu setzen.“78
Fand das Ordnungsprinzip im Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit seine Grundlage, so ist seine Geltung seit Aufhebung des Gesetzes79 problematisch.80 Ist auch anzuerkennen, dass bestimmte kollektive Regeln nur einheitlich für alle Arbeitnehmer gelten können,81 so ist damit doch nicht dargetan, wie deren Vorrang vor einzelvertraglichen Vereinbarungen zu begründen ist. Als heteronome Ordnung greift die Betriebsvereinbarung in die verfassungsrechtlich geschützte Vertragsfreiheit der Arbeitnehmer ein. Dieser Eingriff bedarf der Rechtfertigung durch einen legitimen Zweck und ist nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu begrenzen. Diesem Anliegen trägt das Günstigkeitsprinzip Rechnung, da eine zwingende, die Individualvereinbarung begrenzende Wirkung zum Schutz der Arbeitnehmer jedenfalls dort nicht erforderlich ist, wo der Einzelarbeitsvertrag günstiger ist.82 2. Individual- oder kollektivrechtliche Arbeitsverfassung Vor allem Creutzfeld hat auf die prinzipielle Bedeutung der Entscheidung des 1. Senats hingewiesen – und sie unter diesem Gesichtspunkt scharf kritisiert.83 77
Nipperdey in FS Lehmann, 1937, 268. Nipperdey in FS Lehmann, 1937, 264. 79 Durch Kontrollratsgesetze Nr. 40 v. 30.11.1946 und Nr. 56 vom 30.6.1947. 80 Kürzlich etwa Wenning (Fn. 12), 218 ff. Krit. bereits Isele JZ 1964, 113 ff.; Zöllner RdA 1969, 250, 252 ff.; Richardi Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, 1968, 397 ff. 81 Darauf abstellend etwa auch Canaris ArbuR 1966, 129, 130 ff.; Fastrich RdA 1994, 129, 134 ff. 82 Belling Das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht, 1984, S. 52 ff.; Blomeyer NZA 1996, 337, 338 f.; Hueck/Nipperdey Lehrbuch des Arbeitsrecht Band II/1, 7. Aufl. 1967, § 13 VII 2 c (S. 232 f.); BAG NZA 1987, 168, 172; AP Nrn. 2 und 3 zu § 4 TVG Angleichungsrecht. 83 Creutzfeld NZA 2018, 1111, 1114 sieht im Hintergrund der Entscheidung des 1. Senats ein überkommen geglaubtes „Sozialmodell“; (auch) insoweit krit. Bepler in FS Moll, 78
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„[I]n der Sache (geht es) um eine Arbeitsverfassung (…), die dem Individualvertrag praktisch nahezu jede Bedeutung nimmt. Die Reichweite der Formel von der ‘Betriebsvereinbarungsoffenheit‘ erstreckt sich auf (fast) alle Arbeitsverträge und (mit der Einschränkung aus § 77 III BetrVG) auf alle Arbeitsbedingungen, und das bei gleichzeitiger praktischer Unabdingbarkeit.“84 „Ein ansonsten bestehender individualvertraglicher Anspruch wird von der Rechtskontrolle einer Betriebsvereinbarung durch die Gerichte abhängig gemacht. Statt sozialer Rechtfertigung einer einseitigen Vertragsänderung geht es um die objektive Verhältnismäßigkeit einer betrieblichen Ordnung. Vertragliche Ansprüche sind nur dann geschützt, wenn sie nicht durch eine den Kriterien des § 75 BetrVG entsprechende Betriebsvereinbarung anderweitig geregelt sind. Aus Mindestarbeitsbedingungen werden im Ergebnis Höchstarbeitsbedingungen.“
Dem ist beizupflichten. Die hier im Einzelnen dargelegten materiellrechtlichen und methodischen Fehler der Begründung (oben, IV.) haben ihren gemeinsamen Kern darin, dass sie die individualschützenden und freiheitserhaltenden Aspekte der Auslegung, Inhaltskontrolle und Rechtsfortbildung aushebeln zugunsten eines kollektiven Ansatzes. Die Pervertierung zeigt sich besonders in dem Gedanken, der AGB-Verwender müsste durch das AGB-(Auslegungs-)Recht geschützt werden. Eine solche Entwicklung ist auch nicht mit der Erwägung zu rechtfertigen, sie begegne anderen Defiziten.85 Two wrongs don’t make a right. Ist die Betriebsverfassung „unentrinnbare zwangskorporatistische Ordnung“,86 so bedarf der Eingriff in vertragliche Rechtspositionen durch Betriebsvereinbarung, soll sie nicht Bevormundung sein, der zusätzlichen privatautonomen Legitimation.87 Mit einer freiheitlichen Arbeitsmarktordnung88 ist die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts unvereinbar.
2019, 49 ff. Richtig ist, dass der – von Wieacker Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1952 eingeführte – Begriff des „Sozialmodells“ als schillernd kritisiert wird; s. nur Canaris AcP 200 (2000), 273 289 mit Fn. 47; Bydlinski System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, 743 f.; Zöllner Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, 1996, 30 mit Fn. 51. Freilich konkretisiert Creutzfeld seine Kritik wie im Text dargelegt. 84 Creutzfeld NZA 2018, 1111, 1115. 85 So aber Bepler in FS Moll, 2019, 49 ff. 86 Picker NZA 2002, 761, 769. 87 Chr. Picker (Fn. 26), 104 ff. 88 Rieble (Fn. 1), Rn. 137 ff., 1411 ff.
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IV. Methodischer und prozessualer Rückblick 1. Methode Bislang haben wir das Vorgehen des 1. Senats auf der Grundlage seines eigenen Ansatzes lediglich unter dem Gesichtspunkt der Auslegung und Ergänzung des Vertrags gewürdigt, nicht aber im Hinblick auf die Methode der Rechtsfindung. Indessen ist auch dieser Ausgangspunkt des Gerichts zu hinterfragen. Bereits die praktische Reichweite der Entscheidung (oben, I.4.) gibt zu denken, wenn sich die Klauselergänzung über den Einzelfall hinaus auf nahezu jeden Arbeitsvertrag auswirkt. Diese Zweifel werden durch die Begründungserwägungen ergänzt, die wiederum vollständig vom Parteiwillen absehen und recht eigentlich den Vertragstypus betreffen. Tatsächlich handelt es sich um ein bekanntes Abgrenzungsproblem, die Unterscheidung von „ergänzender Vertragsauslegung“ und richterlicher Rechtsfortbildung. Bei der „ergänzenden Vertragsauslegung“ geht es darum, den Willen der Parteien des konkreten Vertrags zu Ende zu denken, nicht um den Willen typischer Parteien von Verträgen dieses Typs.89 Canaris hat die Abgrenzung bereits vor 45 Jahren in einer ganz parallelen Fragestellung hervorgehoben: „Der Arbeitnehmer wird nämlich bei Vertragsschluss jedenfalls nicht generell einen entsprechenden wirklichen Willen haben, weil er in diesem Augenblick oft gar nicht an die Frage einseitiger Verbesserungen der Allgemeinen Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber denken dürfte, und so bleibt für eine allgemeine Lösung des Problems nur der Rückgriff auf den hypothetischen Parteiwillen. Dieser aber darf nach richtiger Ansicht (…) dort nicht herangezogen werden, wo es um ein für einen gesamten Vertragstypus charakteristisches, sich bei diesem allgemein und nicht nur im Einzelfall stellendes Problem geht und wo daher unter dem Deckmantel des ‚hypothetischen Parteiwillens‘ in Wahrheit im Wege der Rechtsfortbildung (dispositive) Normen des objektiven Rechts geschaffen werden. So verschleiert auch hier die rechtsgeschäftliche Konstruktion nur notdürftig, dass Säcker eigentlich Rechtsfortbildung betreibt dem Arbeitgeber generell, d.h. vom konkreten Parteiwillen unabhängig ein einseitiges Gestaltungsrecht geben will. Dass damit das Vertragsdogma des § 305 BGB durchbrochen wird, sollte man zumindest offen zugeben.“90
Was der 1. Senat als Vertragsauslegung kaschiert, ist in Wahrheit richterliche Rechtsfortbildung. Nicht von ungefähr ist die Entscheidung des 1. Senats denn auch gerade so verstanden worden, nämlich als Rückkehr zum 89 Larenz Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl. 1989, § 29 I (S. 540). Ferner Neuner Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 12. Aufl. 2020, § 35 Rn. 61 (freilich eine „ergänzende Vertragsauslegung“ grundsätzlich ablehnend); Neuner in FS Canaris, 2007, 912 ff. 90 Canaris RdA 1974, 18, 19.
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Ordnungsprinzip.91 Da der Senat sich aber die Rechtsfortbildung nicht bewusst macht, sie jedenfalls nicht als solche offenlegt, versäumt er, sie methodengerecht zu rechtfertigen und zu begründen. 2. Vorlage an den Großen Senat Erweist sich die Entscheidung vom 5.3.2013 als richterliche Rechtsfortbildung, so erscheint auch die Frage einer Vorlage an den Großen Senat in anderem Lichte. Auch der Große Senat ist „gesetzlicher Richter“ und „Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann auch dadurch verletzt sein, dass der Senat eines oberen Bundesgerichts die Verpflichtung zur Vorlage an den Großen Senat außer Acht lässt“.92 Mag man dem 1. Senat bei seiner Entscheidung vom 5.3.2013 noch einen – unter Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nicht zu beanstandenden – „error in procedendo“93 zugute halten, so kann sich das Gericht doch angesichts der seither geführten Diskussion der Einsicht nicht mehr verschließen, dass es um eine Abweichung von der Entscheidung des Großen Senats vom 16.9.1986 geht. Eine Vorlage ist daher nach § 45 Abs. 2 ArbGG geboten,94 die Unterlassung im Wege der Verfassungsbeschwerde angreifbar.
91 S. nur Hromadka NZA 2013, 1061 ff.; Säcker BB 2014, 2677, 2678 f. („Schaffung neuen Rechts“); tendenziell auch Neufeld/Flockenhaus BB 2016, 2357, 2358 f. Beschwichtigend Linsenmaier RdA 2014, 334, 341 f. („typisierende Auslegungsregel“). 92 BVerfG NJW 1965, 1323. Vgl. auch BVerfGE 38, 386, 397 f. 93 Dazu Morgenthaler in BeckOK GG, 43. Edition, Stand 15.5.2020, Art. 101 GG Rn. 25. 94 Vgl. auch Wenning RdA 2019, 244, 251 f. (zu dem anschließenden Konflikt zwischen 1. und 5. Senat einerseits und 4. Senat andererseits).
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Tarifliche Boykottpflicht für Verleiher
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Tarifliche Boykottpflicht für Verleiher Peter Schüren
Tarifliche Boykottpflicht für Verleiher – ein grobes Beispiel für „virtual representation“ im tariflich geregelten Arbeitskampfrecht PETER SCHÜREN1
I. Vor-Wort Eine Festschrift zum Siebzigsten. Das ist nicht so einfach, wenn man die Geehrte vor – gefühlt – nicht allzu langer Zeit als junge Privatdozentin in Köln beim gemeinsamen Lehrstuhlvertreten zum ersten Mal getroffen hat. Da waren wir auf der richtigen Seite der Vierzig. Dann ist man in unserem Beruf „jung“. Keine schlechte Sache. Genug der Sentimentalität.
II. Einführung „Gelegenheit macht Diebe“ Die aktuellen beiden Manteltarifverträge der Zeitarbeitsbranche mit der DGB-Tarifgemeinschaft verpflichten die tarifnutzenden Arbeitgeber2 alle DGB-Einzelgewerkschaften3 bei allen Streiks zu unterstützen – ausnahmslos und unbeschränkt. 1 Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht Abt. I an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster – Meinen herzlichen Dank an meine Wissenschaftliche Mitarbeiterin Isabelle Neise für ihre Hilfe. 2 MTV BAP – DGB Tarifgemeinschaft vom 17.9.2013: § 17.1 Schlussbestimmungen und MTV IGZ – DGB Tarifgemeinschaft vom 17.9.2013: § 12 Streikklausel: „Mitarbeiter werden im Umfang eines Streikaufrufs einer Mitgliedsgewerkschaft der DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit nicht in Betrieben oder Betriebsteilen eingesetzt, die ordnungsgemäß bestreikt werden. Dies gilt auch für Mitarbeiter, die bereits vor Beginn der Arbeitskampfmaßnahme in dem Betrieb eingesetzt wurden. Hiervon können die Parteien des Arbeitskampfes im Einzelfall abweichende Vereinbarungen treffen (z. B. Notdienstvereinbarungen). Die Regelung des § 11 Abs. 5 AÜG bleibt unberührt.“. 3 Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Gewerkschaft NahrungGenuss–Gaststätten (NGG), Industriegewerkschaft Metall (IG Metall), Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), Industriegewerkschaft Bauen–Agrar–Umwelt (IG BAU), Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), Gewerkschaft der Polizei (GdP).
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Die Verleiher dürfen bestreikten Arbeitgebern kein Personal überlassen. Das macht jeden tarifnutzenden Verleiher zum stets verfügbaren Verbündeten. Diese ausgefallene, rechtlich nicht haltbare Tarifregelung ist das Produkt einer auf Gewerkschaftsseite missbrauchten Interessenvertretung. Ich behaupte, dass eine tarifliche Interessenvertretung ohne fundiertes tarifpolitisches Mandat der tarifunterworfenen Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit zu ihrer missbräuchlichen Nutzung führt. Damit ist gemeint, dass von Gewerkschaftsseite4 andere Interessen als die der Tarifunterworfenen in die Tarifregelung eingebracht werden – und zwar auf Kosten der Tarifunterworfenen. So etwas ist vorhersehbar; es ist die Folge eines „Konstruktionsfehlers“ der tariflichen Interessenvertretung auf Arbeitnehmerseite. Damit fällt es auch in den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers, der die Gelegenheit dazu schuf. Die Entdeckung des Konstruktionsfehlers stammt nicht von mir. Sie ist über 250 Jahre alt.
III. Boykottpflicht – oder der tariflich vereinbarte „Bündnisfall“ Wenn Verleiher ihre Arbeitnehmer einem Entleiher zur Arbeitsleistung zuweisen, üben sie ihr wesentliches Direktionsrecht als Arbeitgeber gegenüber dem einzelnen Leiharbeitnehmer aus.5 Dieses Direktionsrecht ist durch die Tarifregelung eingeschränkt. 1. Tariflichen Boykottpflicht im Arbeitskampfsystem In der tatsächlichen Wirkung auf den Betrieb des Entleihers in der Arbeitskampfsituation gleicht der automatische Boykott einer vollständigen (ansonsten illegalen6) Streikteilnahme der Leiharbeitnehmer – oder der theoretisch möglichen, aber in der Praxis nie beobachteten ausnahmslosen Ausübung des Leistungsverweigerungsrechts der Leiharbeitnehmer nach § 11 Abs. 5 S. 3 AÜG. Die tarifliche Boykottpflicht eines Verleihers geht viel weiter als die umstrittene7 aktuelle gesetzliche Regelung von 2017 in § 11 AÜG. Die besteht 4 Auf Arbeitgeberseite gibt es das Problem nicht. Alle Arbeitgeber, die von einem (nicht allgemeinverbindlichen) Verbandstarif erfasst werden, erteilen dem Arbeitgeberverband vorher ein tarifpolitisches Mandat. 5 Das übersieht Rieble in FS Wank, 475, 477, wenn er meint, dass das Direktionsrecht auch insoweit beim Entleiher liegt. 6 Wank in ErfK AÜG, 20. Aufl. 2020, § 11 Rn. 21; mit – seltenen – Ausnahmen Ulber AÜG, 5. Aufl. 2017, § 11 Rn. 134. 7 Bauer/Haußmann NZA 2016, 803, 805; Boemke ZfA 2017, 1, 4 f.; Schüren in Hamann/Schüren AÜG, 5. Aufl., 2018, § 11 Rn. 170 ff.
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nur aus dem an den Entleiher gerichteten Verbot der „Streikbrecherarbeit“ durch Leiharbeitnehmer (Abs. 5 S. 1), und dem alten (1972) individuellen Leistungsverweigerungsrecht der Leiharbeitnehmer (Abs. 5 S. 3). Die anderen Leiharbeitnehmer dürfen weiterarbeiten. Anfänglich hatte das BMAS ein der Tarifregelung funktionsgleiches volles Einsatzverbot im Arbeitskampf für das AÜG vorgesehen. Es fand sich im Referentenentwurf des BMAS vom 14.04.2016.8 Das war im Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzbar und musste erheblich „zurückgenommen“ werden. In der Gesetzesbegründung zum AÜG 2017 wird die tarifliche Boykottpflicht erwähnt: „Das gesetzliche Verbot flankiert die entsprechenden Regelungen in den Tarifverträgen der Leiharbeitsbranche und sichert diese ab.“9 § 11 Abs. 5 AÜG 2017 soll als „zwingendes Recht“10 und nur an den Entleiher gerichtet die Tarifregelung „flankieren“. Gemeint ist wohl „unterstützen“ oder „schützend begleiten“. Offenbar ging man im Arbeitsministerium davon aus, dass die Tarifregelung wirksam sei und der Unterstützung bedürfe. Denn „flankieren“ und „absichern“ kann man nur etwas, das vorhanden ist und dem man beistehen will. Auch andere nahmen die Wirksamkeit an: Willemsen/Mehrens11 gingen 2015 (ohne jede Begründung und vielleicht auch ohne gründliche Analyse) davon aus, „dass es den Tarifvertragsparteien unbenommen ist, ein weitergehendes Verbot des Einsatzes von Leiharbeitnehmern in bestreikten Betrieben zu regeln, wie z.B. in den von der DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit geschlossenen Tarifverträgen geschehen.“
2. Einordnung als atypischer Boykott Die wirtschaftliche Selbstschädigung, die mit einem Streik für die Arbeitnehmer,12 einer Aussperrung für die Arbeitgeber13 und auch mit einem Boy8 https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/Referentenentwuer fe/ref-aug-werk.pdf?__blob=publicationFile&v=2.: § 11 Abs. 5 AÜG E2016: „(5) Der Entleiher darf Leiharbeitnehmer nicht tätig werden lassen, soweit sein Betrieb unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist.“. 9 BT-DS 18/9232 v. 20.7.2016, 27 f. 10 Schüren in Schüren/Hamann AÜG, § 11 Rn. 1 mwN.; z.B. Motz in BeckOK ArbR AÜG, 54. Ed. [1.12.2019], § 11 Rn. 1. „Bei den Regelungen des § 11 handelt es sich um zwingendes Recht“. 11 Willemsen/Mehrens NZA 2015, 897, 901 f. 12 BAG v. 22. 9. 2009 – 1 AZR 972/08 Rn. 52: „Der Streik als klassisches Arbeitskampfmittel der Arbeitnehmer führt in seinen verschiedenen Erscheinungsformen stets unmittelbar zu einem eigenen finanziellen Opfer der Streikenden. Da sie durch den Streik ihren Vergütungsanspruch verlieren, ist mit dieser Arbeitskampfmaßnahme immer eine Selbstschädigung verknüpft. Dies trägt – jedenfalls typischerweise – dazu bei, dass Gewerkschaf-
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kott für den Boykotteur verbunden ist, funktioniert hier nicht als Korrektiv im Entscheidungsprozess desjenigen, der in den „Kampf“ zieht. Das ist für die Zulässigkeit des Kampfmittels von Bedeutung.14 Bei einem freiwilligen Boykott wirkt die Selbstschädigung des Boykotteurs der Bereitschaft zum Boykott entgegen. Wer sich entscheiden kann, ob er seine Vertragspflichten erfüllt und seine Leiharbeiter dem Entleiher schickt oder nicht, muss und darf abwägen, ob sich das lohnt. Der tariflich angeordnete Boykott des Verleihers ist reine Selbstschädigung des Boykotteurs in fremdem Interesse. Der Verleiher unterbricht die Versorgung des Entleihers, der im Arbeitskampf mit einer Gewerkschaft steht, um seinem Vertragspartner als unfreiwilliger Verbündeter der Gewerkschaft und mit großen eigenen Kosten wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. Die Leiharbeitnehmer sind bloßes Boykottinstrument – an der Entscheidung sind sie nicht beteiligt. Für die Gewerkschaft, die dieses Kampfmittel mit ihrem Streikaufruf zwingend für die Verleiher abruft, ist der Boykott kostenlos. Der Verleiher kann der Tarifregelung praktisch auch kaum ausweichen. Es gibt keine anderen Flächentarifverträge, die er nutzen könnte. Und ohne Tarifbindung greift das erheblich höhere gesetzliche Lohnniveau – wer es zahlen muss, der ist vom normalen Markt der Zeitarbeit ausgeschlossen.
ten und Arbeitnehmer mit diesem Arbeitskampfmittel (eigen-)verantwortlich umgehen (vgl. zur Steuerungsfunktion der mit einem Streik für die streikenden Arbeitnehmer und die Gewerkschaft verbundenen Belastungen und Opfer (BAGE 105, 5 = NZA 2003, 866 [zu B II 1]; BAGE 123, 134 = NZA 2007, 1055 Rdnr. 35; vgl. auch schon BAGE 33, 140 = NJW 1980, 1642 [zu A V 2]).“. 13 Die Aussperrung belastet den Arbeitgeber, der einen Aussperrungsbeschluss des eigenen Verbands umsetzt, nicht nur wirtschaftlich sehr. Jeder, der wie der Verfasser auf Arbeitgeberseite eine Aussperrung miterlebt hat, weiß, wie ungern von diesem Instrument Gebrauch gemacht wird. 14 BAG v. 22.9.2009 – 1 AZR 972/08 Rn. 46: „(bb) Insbesondere bei anderen als den „klassischen” Arbeitskampfmitteln des Streiks und der Aussperrung kann für die Beurteilung der Angemessenheit von Bedeutung sein, ob das Kampfmittel mit eigenen Opfern des Angreifers verbunden ist und ob dem Gegner effektive Verteidigungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Ein Arbeitskampfmittel, das frei von eigenen Risiken eingesetzt werden kann und zugleich dem Gegner keine Verteidigungsmöglichkeiten lässt, gefährdet typischerweise die Verhandlungsparität. Zwar ist ein Arbeitskampf darauf angelegt, für die Gegenseite hohe Kosten zu verursachen, um möglichst schnell zu einem Tarifabschluss zu gelangen (vgl. BAGE 73, BAGE Band 73 Seite 141 = NJW 1993, NJW Jahr 1993 Seite 2829 = NZA 1993, NZA Jahr 1993 Seite 809 [zu II 2]; Otto, Arbeitskampf und SchlichtungsR, § 8 Rdnr. 8; ErfK/Dieterich, 9. Aufl., Art. 9 GG Rdnr. 131). Doch darf die Rechtsordnung keiner Seite so starke Kampfmittel zur Verfügung stellen, dass dem Gegenspieler keine wirksame Reaktionsmöglichkeit bleibt, sondern die Chancen auf die Herbeiführung eines angemessenen Verhandlungsergebnisses zerstört werden (vgl. BAGE 84, 302 = NJW 1997, NJW 1997, 1801 = NZA 1997, NZA 1997, 393 [zu II 2a]).“.
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3. Rechtliche Einordnung der Tarifregelung Teilweise wird in der Literatur versucht, der ruppigen Tarifregelung durch ihre Einordnung als bloße schuldrechtliche Verpflichtung „die Zähne zu ziehen“ und sie damit als Kampfmittel praktisch wertlos zu machen.15 Das ist mit dem Ziel einer effizienten Tarifregelung unvereinbar, denn es wäre dann Sache der beiden Arbeitgeberverbände, ihre Mitglieder zum Boykott zu veranlassen.16 Die vielen nichtorganisierten Arbeitgeber, die gleichwohl den Tarif nutzen, wären nicht erfasst. Nur die Einordnung der „Boykottautomatik“ als Betriebsnorm entspricht dem Regelungsziel17 (und dem Wortlaut18). Sie soll unabhängig davon greifen, ob die einzelnen Leiharbeitnehmer tarifgebunden sind oder nicht. Sie verpflichtet alle Arbeitgeber, die als Verleiher diese Tarifverträge anwenden. Der Gesetzgeber samt der Bundesagentur für Arbeit19 und auch die Gewerkschaften20 gehen von einer solchen umfassenden Wirksamkeit der Boykottpflicht aus, wie sie nur über eine Betriebsnorm erreichbar ist.
15
So Boemke/Sachadae DB 2015, 1467, 1467 ff.; Klein/Leist AuR 2017, 100, 101. Vgl. dazu Klumpp in MHb ArbR, 4. Aufl., 2018, § 258 Rn. 4: „Es ist regelmäßig und damit im Zweifel davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien deshalb auch normativ regeln wollen und nicht die durchaus schwierige schuldrechtliche und rechtsgeschäftliche Umsetzung der gewollten Arbeitsbedingungen in das einzelne Arbeitsverhältnis bevorzugen.“. 17 Ebenso beurteilt Ulber die Regelung als normativ wirkend, AÜG § 11 Rn. 127: „…ist der Einsatz von LAN in rechtmäßig bestreikten Entleihbetrieben unabhängig von deren Willen vollständig untersagt.“. 18 BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 61/80, AP TVG § 1 Auslegung Nr. 128: „Zutreffend geht das LAG in Übereinstimmung mit der Senatsrechtspr. davon aus, daß TVe in erster Linie nach dem Tarifwortlaut auszulegen sind. Dabei ist der wirkl. Wille der TVParteien zu berücksichtigen, sofern und soweit er in den tarifl. Normen seinen Niederschlag gefunden hat (vgl. die Urteile des Senats vom 20. 10. 1982 – 4 AZR 1211/79 – AP Nr. AP TVG § 1 45 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau = und 9. 7. 1980 – 4 AZR 560/78 – AP Nr. AP TVG § 1 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Seeschiffahrt; m. w. Nachw.).“. 19 So sagt die Bundesagentur für Arbeit in ihrer aktuellen Fachlichen Weisung Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, S. 96, Stand 1.8.2019: „Findet eine tarifvertragliche Streikklausel für den betroffenen Betrieb Anwendung, ist dieser Umstand bei der erlaubnisrechtlichen Prüfung zu beachten.“ Damit ist seitens der Bundesagentur für Arbeit vermutlich keine schuldrechtliche Verpflichtung gemeint, die nur verbandsangehörige Tarifnutzer (indirekt!) bindet. Die Bundesagentur für Arbeit geht, wobei ich unterstelle, dass man das Problem gesehen hat, von einer normativen, jeden Tarifnutzer bindenden Wirkung aus. Denn ohne Bindung wäre eine Nichterfüllung der Boykottpflicht irrelevant. 20 Z.B.: https://www.verdi-tu.de/wordpress/wp-content/uploads/2019-06-Mit-Rechtin-den-Streik-Webversion.pdf. 16
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IV. Vereinbarkeit mit dem geltenden Arbeitskampfrecht und dessen tariflichen Gestaltungsgrenzen Zur Prüfung der Wirksamkeit gibt es drei Ansatzpunkte. Zuerst ist zu fragen, ob eine solche Indienstnahme der tariflichen Regelungsbefugnis für ausschließlich fremde, außerhalb der Tarifbeziehung liegende Interessen eines Tarifpartners zulässig ist. Dann ist zu prüfen, ob die Tarifpartner für eine solche arbeitskampfrechtliche Regelung zuständig sind. Und schließlich ist zu fragen, ob sie mit dem geltenden Arbeitskampfrecht vereinbar ist – und zwar sowohl dem gesetzlichen als auch dem richterrechtlichen. Denn mit ihr bekommt, die Gewerkschaftsseite ein „kostenloses“ aber wirksames Arbeitskampfmittel.
1. Regelungszuständigkeit für eine Boykottautomatik als Betriebsnorm Löwisch/Rieble21 weisen darauf hin, dass die Grenze der normativen Tarifmacht überschritten wird, wenn die Tarifregelung auf eine Indienstnahme des Gegenspielers hinausläuft. Damit ist gemeint, dass sich ein Tarifpartner keine Unterstützung des anderen Tarifpartners tariflich zusagen lassen kann. Hierfür ist die zu prüfende Tarifregelung ein extremes Beispiel. Sie soll die Verleiher verpflichten, allen DGB-Gewerkschaften in Arbeitskämpfen mit Dritten stets und wirkkräftig beizustehen. Diese Pflicht wird in den Manteltarifverträgen nicht im Interesse der tarifunterworfenen Leiharbeitnehmer begründet, da diese davon keinen greifbaren wirtschaftlichen oder immateriellen Vorteil haben. Die Leiharbeitnehmer haben bereits ein gesetzliches, wirtschaftlich abgesichertes Leistungsverweigerungsrecht, wenn sie in einen vom Arbeitskampf betroffenen Betrieb überlassen werden sollen und das für sich nicht wollen. Dieses Recht wird durch die Tarifregelung weder abgesichert noch verstärkt. Es wird ihnen schlicht weggenommen. Es gibt keine Möglichkeit mehr es auszuüben, wenn die Tarifregelung angewandt wird. Es muss sogar davon ausgegangen werden, dass die Verpflichtung der Arbeitgeberseite zur „Boykottautomatik“, die in der Umsetzung den einzelnen Verleiher wirtschaftlich erheblich belastet, „auf Kosten“ der Leiharbeitnehmer ausgehandelt wurde. Denn es liegt in der Natur der Sache, dass die wirtschaftliche Belastung einer Seite im Tarifvertrag Teil des Tarifkompromisses ist. Es gibt hier keine Leistung ohne Gegenleistung. Ein Nachweis dafür oder gar eine exakte wirtschaftliche Bewertung ist mir aber nicht möglich. 21 Löwisch/Rieble in Tarifvertragsgesetz, 4. Aufl., 2017, § 1 Rn. 709: „Schließlich folgt aus Art. 9 Abs. 3 GG als Rechtsprinzip, dass der Tarifvertrag nicht eine Tarifpartei in den organisationspolitischen Dienst der Gegenseite nehmen darf.“
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2. Arbeitskampfrechtliche Regelungszuständigkeit Es gibt keine Rechtsprechung, die sich mit einer solchen tariflichen Verpflichtung zur Unterstützung des tariflichen Gegenspielers in Arbeitskämpfen mit Dritten auseinandersetzt. Das liegt einfach daran, dass keine weitere Regelung dieser Art gibt. So etwas ist normalerweise nicht durchsetzbar. Das BAG hat aber schon 198022 in einer Entscheidung zur Aussperrung klargestellt, dass arbeitskampfregelnde Tarifnormen nur von den unmittelbar betroffenen Tarifpartnern vereinbart werden können.23 Die Gegner können Regeln für ihren Arbeitskampf festlegen. Die Arbeitgeberseite in ihrer Rolle als Entleiher(!) hätte sich also (vor der abschließenden gesetzlichen Regelung in § 11 Abs. 5 S. 1u. 2 AÜG 2017) mit einer Gewerkschaft über den Einsatz von Leiharbeitnehmern im Arbeitskampf mit dieser Gewerkschaft tariflich verständigen können. Vermutlich hätte man dort eine in der Wirkung vergleichbare Regelung abschließen dürfen – volenti non fit iniuria. In der vorliegenden Form liegt die Regelung außerhalb der tariflichen Zuständigkeit der Tarifpartner, die sie vereinbart haben. Das führt zur Unwirksamkeit. 3. Vereinbarkeit mit dem neuen gesetzlichen Arbeitskampfrecht Die Tarifregelung ist an den Verleiher gerichtet. Sie gestaltet aber den Einsatz von Leiharbeitnehmern in einem Arbeitskampf beim vorgesehenen Entleiher. Hier entfaltet sie ihre Wirkung. Damit decken sich der Regelungsgegenstand und die Wirkung auf den laufenden Arbeitskampf teilweise mit der neuen gesetzlichen Regelung in § 11 Abs. 5 Satz 1 u. 2 AÜG 2017 und mit Satz 3, der schon lange geltendes Recht ist. Die gesetzliche Regelung in den Sätzen 1 und 2 von § 11 Abs. 5 AÜG ist an den kampfbeteiligten Entleiher gerichtet. Der Streikbrechereinsatz ist ein defensives Arbeitskampfmittel der Arbeitgeberseite. Dieses Arbeitskampfmittel wird dem streikbetroffenen Entleiher durch das Gesetz nunmehr genommen. 22
BAG v. 10.6.1980 – 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642. So auch bereits der GS des BAG im Jahr 1971 (BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668, 1669): „Darüber hinaus sind Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien über die Austragung der Interessengegensätze erforderlich. Solche Regelungen und Vereinbarungen sind grundsätzlich ähnlich dem Vorrangprinzip des Tarifvertrags gegenüber gesetzlichen Vorschriften anzuerkennen. Sie zu setzen ist in erster Linie Recht und Pflicht der Tarifvertragsparteien als Ausfluß der Tarifautonomie. Die Koalitionen müssen den von der staatlichen Gesetzgebung freigehaltenen Raum gerade im Interesse der Aufrechterhaltung der Tarifautonomie und als ein Gebot derselben durch Aufstellung von verbindlichen Regeln ausfüllen.“ 23
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Die alte Regelung über das Leistungsverweigerungsrecht in Satz 3 richtet sich hingegen an den Verleiher, der den Arbeitnehmer nicht gegen seinen Willen in einen umkämpften Betrieb überlassen darf. Die Verletzung des Verbots der Streikbrecherarbeit durch den Entleiher ist bußgeldbewehrt gem. § 16 Abs. 1 Nr. 8a AÜG. Die Verpflichtung des Verleihers, das Leistungsverweigerungsrecht gem. § 11 Abs. 5 S. 3 zu achten, ist nicht bußgeldbewehrt. Damit bietet § 11 Abs. 5 AÜG eine mehrteilige, in sich geschlossene Regelung über den Einsatz von Leiharbeitnehmern bei unmittelbar vom Arbeitskampf betroffenen Entleihern. Das ist eine große Seltenheit, denn es gibt sonst kein gesetzliches Arbeitskampfrecht, dass den zulässigen Einsatz eines Arbeitskampfmittels umfassend begrenzt. Die tarifliche Boykottautomatik geht erheblich darüber hinaus. Danach sollen alle Leiharbeitnehmer abgezogen werden. Das schließt natürlich auch die Leiharbeitnehmer ein, die nicht als Streikbrecher eingesetzt werden sollen. Damit wird der vom Gesetzgeber vorgenommene beschränkende Eingriff in die Arbeitskampffreiheit des Entleihers faktisch ausgeweitet: Der Entleiher kann Leiharbeitnehmer überhaupt nicht mehr einsetzen, wenn er bestreikt wird. Denn er bekommt keine mehr. Die gesetzliche Regelung über den Arbeitskampfeinsatz von Leiharbeitnehmern ist nicht tarifdispositiv.24 Das bedeutet, dass für den Entleiher in einem einschlägigen Tarifvertrag mit der gegnerischen Gewerkschaft keine solche tarifliche, über das Gesetz hinausreichende Einsatzbeschränkung für den Arbeitskampf geregelt werden könnte. Wenn das so ist, dann kann auch keine anders adressierte aber funktionsgleiche Tarifregelung in Tarifverträgen der Verleiher zulässig sein.25 Das gilt wegen der fehlenden Tarifdispositivität der gesetzlichen Regelung und der Regelungsunzuständigkeit für den fremden Arbeitskampf. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Tarifregelung wegen Verstoß gegen geltendes Recht26 unwirksam.
4. Vereinbarkeit mit den Paritäts- und Verhältnismäßigkeitsanforderungen des Arbeitskampfrechts nach der Flash-Mob-Rechtsprechung Das BAG27 hat mit der Flash-Mob-Rechtsprechung deutlich gemacht, dass das gewerkschaftliche Arsenal für den Arbeitskampf innovativ erweitert werden kann. Es hat aber zugleich Grenzen sichtbar gemacht. 24
Vgl. Fn. 10. Ebenso Boemke ZfA 2017, 1, 21. 26 Sollte das BVerfG die Verfassungswidrigkeit von § 11 Abs. 5 Satz 1 u. 2 AÜG feststellen, lässt sich die Unwirksamkeit der Tarifregelung nicht über einen Verstoß gegen geltendes gesetzliches Arbeitskampfrecht begründen: BVerfG Beschl. v. 25.2.2019 – 1 BvR 842/17. 27 BAG v. 22. 9. 2009 – 1 AZR 972/08. 25
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Wichtig für die Bewertung der Boykottautomatik ist ihre extreme Wirkung. Anders als etwa bei „Flashmob“ Aktionen oder anderen Boykottmaßnahmen fehlt es am Element der Freiwilligkeit. Die Verleiher müssen boykottieren, wenn sie den Tarifvertrag, der sie bindet, insoweit einhalten wollen. Und die instrumentalisierten Leiharbeitnehmer haben keine Möglichkeit, sich der Mitwirkung zu entziehen. Der Gewerkschaft steht das Arbeitskampfmittel nach der Tarifregelung immer zur Verfügung, wenn sie die Arbeitsplätze der Leiharbeitnehmer in ihren Streikaufruf einbezieht. Entscheidend ist, dass der Druck, den der Boykott auf den Entleiher ausübt, ohne eigene Kosten für die kampfführende Gewerkschaft entsteht – selbst die Lohnkosten der Leiharbeitnehmer bleiben ganz beim Verleiher. Hier greift die zentrale Aussage aus der Flashmob-Entscheidung von 2009: „Insbesondere bei anderen als den „klassischen” Arbeitskampfmitteln des Streiks und der Aussperrung kann für die Beurteilung der Angemessenheit von Bedeutung sein, ob das Kampfmittel mit eigenen Opfern des Angreifers verbunden ist und ob dem Gegner effektive Verteidigungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Ein Arbeitskampfmittel, das frei von eigenen Risiken eingesetzt werden kann und zugleich dem Gegner keine Verteidigungsmöglichkeiten lässt, gefährdet typischerweise die Verhandlungsparität.“28 Beides trifft auf die Boykottautomatik zu. Der Entleiher hat praktisch keine Möglichkeit, kurzfristig die Leiharbeitnehmer durch eigenes Personal oder durch werkvertragliches Outsourcing zu ersetzen. Gegen dieses Arbeitskampfmittel gibt es auch keine anderen Abwehrmöglichkeiten – vielleicht abgesehen von der selbstschädigenden Betriebsschließung. Es gibt neben der Boykottautomatik kein Arbeitskampfmittel, bei dem der Angreifer mit so geringen Kosten eine vergleichbare Wirkung erzielt und gegen das es kaum eine zumutbare Verteidigungsmöglichkeit gibt. Anders als bei den Flashmob-Aktionen haben hier die Teilnehmer keine Möglichkeit, sich der Teilnahme zu entziehen. Denn auch die Leiharbeitnehmer, die bisher beim Entleiher arbeiteten, werden einfach abgezogen. Sie haben keine Möglichkeit, wie in § 11 Abs. 5 S. 3 AÜG vorgesehen, sich für die Weiterarbeit beim Entleiher zu entscheiden. Damit ist das Arbeitskampfmittel der tariflichen Boykottautomatik unverhältnismäßig und unzulässig.
28
BAG v. 22. 9. 2009 – 1 AZR 972/08 Rn. 46.
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V. Unzulässige Tarifregelung als Folge „virtueller Repräsentation“ Wie kann es dazu kommen, dass eine so rechtswidrige Tarifregelung auf Kosten der Leiharbeitnehmer und zum Nutzen der Gewerkschaften in fremden Arbeitskämpfen vereinbart wird? Es bedarf keiner Vertiefung, dass die Verleiher und ihre Arbeitgeberverbände diese Gestaltung nicht initiiert haben. Sie ging von der tarifschließenden DGB-Tarifgemeinschaft aus. Es ist auch nicht erkennbar, dass die Tarifregelung im Interesse der instrumentalisierten Leiharbeitnehmer abgeschlossen wurde. Sie haben ein gesetzliches Leistungsverweigerungsrecht. Vor 16 Jahren habe ich zur damals neuen tariflichen Regelbarkeit der Arbeitsbedingungen der Leiharbeitnehmer Überlegungen angestellt, die auch für die Boykottpflicht relevant sind.29 Ich will sie hier wiedergeben, weil am Ende ein Ergebnis stand, das möglicherweise heute der Korrektur bedarf. „Ein Ansatz für die Annahme einer solchen Interessenvertretung könnte das Konzept der virtuellen Repräsentation sein. Die tarifpolitische Willensbildung wird – so könnte man argumentieren – durch die anderen Gewerkschaftsmitglieder, also durch Stammarbeitnehmer in Nicht-Verleihbetrieben auf übliche Weise gelenkt. Diese Arbeitnehmer haben die gleichen Interessen wie die Leiharbeitnehmer. Folglich liegt eine virtuelle Repräsentation vor. So ungefähr Soame ]enyns,30 der den amerikanischen Kolonialbürgern 1765 erläuterte, warum sie auch ohne Wahlrecht durch das britische Parlament gut und hinreichend vertreten würden. Das Problem dieser virtuellen Interessenvertretung liegt in den doch unterschiedlichen Interessen der tatsächlich und der nur virtuell Vertretenen. Es ist nämlich denkbar, dass die wohlverstandenen Interessen der Stammarbeitnehmer andere sind als die der Leiharbeitnehmer…. Anders als beim Minderheitenschutz31 sind die Leiharbeitnehmer dieser virtuellen Repräsentation aber nicht schutzlos ausgeliefert. Sie können durch Beitritt zur Gewerkschaft ihre eigene Interessenvertretung verwirklichen. Das unterscheidet sie grundsätzlich von Randgruppen, die stets auch innerverbandliche Minderheiten bleiben müssen. Die nicht Organisierten haben die reale Chance, den Prozess der tariflichen Willensbildung zu gestalten.“32 29
Schüren in FS 50 Jahre BAG, 2004, 877, 884 f. The Objections to the Taxation of Our American Colonies, Briefly Considered, London 1765; vgl. dazu ausf. Schüren RdA 1988, 138, 144 f. 31 Schüren RdA 1988, 138, 148 f. 32 Vgl. dazu Hromadka in FS Kissel, 1994, 417, 428. 30
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Leider war meine Annahme falsch, weil sie die Struktur der gewerkschaftlichen Interessenvertretung für die Leiharbeitnehmer nicht hinreichend berücksichtigte. Die ist so, dass sie eine ernsthafte Interessenvertretung praktisch ausschließt und die Tarifpolitik für Leiharbeitnehmer dauerhaft an die Interessen des Stammpersonals bindet. An den beiden Tarifverträgen der Branche ist auf Arbeitnehmerseite nicht eine einzelne Gewerkschaft beteiligt, in der die Leiharbeitnehmer wenigstens als gewichtige Fachgruppe organisiert sind. Tätig wird eine Tarifgemeinschaft, zu der alle acht DGB-Einzelgewerkschaften gehören. Wenn ein Leiharbeitnehmer einer dieser Gewerkschaften beitritt, hat seine Mitgliedschaft ein weitaus geringeres „tarifpolitisches Gewicht“ als die Mitgliedschaft eines „normalen“ Gewerkschaftsmitglieds. Ein „normales“ Gewerkschaftsmitglied wird nur durch seine eigene Gewerkschaft vertreten und nimmt an der tarifpolitischen Willensbildung gleichberechtigt mit allen anderen Mitgliedern dieser Gewerkschaft teil. „Seine“ Gewerkschaft schließt für ihn den Tarifvertrag ab, dem er später unterworfen ist. Das Gewicht einer Mitgliedschaft in nur einer von acht Gewerkschaften, die allesamt Teile einer Tarifgemeinschaft sind, muss naturgemäß viel geringer sein. Unterstellt man beispielsweise einen Organisationsgrad von 5% bei allen Leiharbeitnehmern, was vermutlich noch zu hoch gegriffen ist, dann würden diese 50.000 Gewerkschaftsmitglieder in einer einzelnen tarifschließenden Gewerkschaft weit mehr Gewicht haben, als verteilt auf eine Tarifgemeinschaft, die sechs Millionen Arbeitnehmer als Mitglieder hat. So verstreut sind sie für die Willensbildung in der jeweiligen Gewerkschaft praktisch zu vernachlässigen. Mit anderen Worten: ein ernsthaftes tarifpolitisches Mandat der Leiharbeitnehmer ist erst dann möglich, wenn sie von einer einzigen Gewerkschaft vertreten werden, in der sie über den Beitritt (und Austritt) und die Mitgliedschaftsrechte die Chance haben, auf die tarifpolitische Willensbildung bestimmenden Einfluss zu nehmen. Die seit 2002 bestehende, ganz einmalige Organisation der tarifpolitischen Interessenvertretung der Leiharbeitnehmer auf Arbeitnehmerseite war deshalb sicher ursächlich für die Einführung einer ausschließlich fremdnützigen, illegalen Boykottpflicht. Was bleibt als Ergebnis? Die Boykottpflicht der Leiharbeitnehmer ist genauso gut legitimiert, wie es die Teesteuer für die Kolonisten in den englischen Kolonien in Nordamerika war. Hier ist Korrekturbedarf, wenn man auch für Leiharbeitnehmer mehr will als eine virtuelle Repräsentation. Die Leiharbeit ist eine eigene Branche mit eigenen Arbeitnehmerinteressen, die sich nicht mit denen der Stammbelegschaften decken. Entsprechend braucht es eine reale Interessenvertretung, bei der die Vertreter das tun, was die Vertretenen wollen. Muss der Gesetzgeber eingreifen? Wenn man so lange wie der Verfasser im Arbeitsrecht tätig ist, wird man mit diesem Ruf sehr zurückhaltend. Viel-
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leicht genügt es, der Tarifregelung im Ernstfall die Bindungswirkung abzusprechen … und darauf zu hoffen, dass die Gewerkschaften lernfähiger sind als die britische Regierung vor fast 250 Jahren.
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Specifics of Collective Labour Relations in the Digital Economy Gaabriel Tavits
Specifics of Collective Labour Relations in the Digital Economy: Case of Estonian Law GAABRIEL TAVITS
I. Introduction The changing situation in the labour market poses challenges to the legal regulation of labour relations. The European Union has adopted a directive on the fundamental conditions of employment and gives Member States the opportunity to incorporate the various forms of employment into employment regulations.1 The Directive allows the concept of employee to be shaped by two legal frameworks: one must take into account the practices and customs of the Member State and the other features the concept of employee as developed by the Court of Justice of the European Union.2 There has been intensive emphasis in the literature on the protection of individual employees and the legal regulation of their labour relationship.3 However, the impact of collective employment relationships and their potential for new forms of employment have not been sufficiently studied. Although the new forms of work are not conducive to development of collective labour relations, nevertheless, it may be observed, that the common collective actions allow the workers to stand for their common interests.4 1 Directive (EU) 2019/1152 of the European Parliament and of the Council of 20 June 2019 on transparent and predictable working conditions in the European Union, available: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX:32019L1152, accessed: 28.2.2020. 2 Art. 1 (2) Directive (EU) 2019/1152 of the European Parliament and of the Council of 20 June 2019 on transparent and predictable working conditions in the European Union, available: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX:32019L1152, accessed: 28.2.2020. 3 See e.g. M. Risak, T. Dullinger The concept of ‘worker’ in EU law: status quo and potential for change, 2018, available: https://www.etui.org/Publications2/Reports/Theconcept-of-worker-in-EU-law-status-quo-and-potential-for-change, accessed: 28.2.2020; J. Prassl. M.Risak Uber, Taskrabbit, & Co: Platforms as Employers? Rethinking the Legal Analysis of Crowdwork, 2016, available: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm? abstract_id=2733003, accessed: 28.2.2020. 4 G.Tavits The Right to Collective Action in Labour Relations in Estonia: Is the Right to Organise a Strike Guaranteed?, Juridica International 2018, available: https://www. juridicainternational.eu/index.php?id=15417, accessed: 28.2.2020.
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Regarding the new forms of employment, issues relating to competition law play an important role in the representation of collective interests. When it comes to employees and employers, there is a possibility that a collective agreement will be concluded, where working conditions may be agreed. Still, when it comes to workers, who are not employees, the question arises as to whether and to what extent these subjects to law will be able to agree on the price of the services and, consequently, on whether and under what conditions, the matter concerns anti-competitive agreements. This article analyzes the current legal system in Estonia and its implementation practices in terms of opportunities to develop collective employment relationships related to new forms of employment. The article seeks to answer the question of whether and to what extent new workers can use tools provided by collective labour law to better defend their interests and to negotiate terms and conditions of employment collectively.
II. Understanding of collective labour relations at international and regional level 1. General considerations Collective labour relations and their regulation are not something that needs to be explained to the broader audience. There are legal systems where collective employment relationships play an important role in the regulation of working conditions (e.g. Nordic countries). On the other hand, there are legal systems where collective labour relations feature a supportive character in addition to the situations regulated by legislation (e.g. Estonia). One of the key issues in shaping collective employment relationships is defining the scope of their application. Who are those subjects who can exercise the rights deriving from their collective employment relationships and to what extent they are eligible to do so? The International Labour Organization (hereinafter ILO), in its fundamental conventions on collective labour relations, has not specified the scope of these conventions. Both the Freedom of Association Convention and the Convention on Collective Bargaining5 refer only to the concept of employee and employer, but do not define who is to be understood as both 5 ILO C087 – Freedom of Association and Protection of the Right to Organise Convention, 1948 (No. 87), https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB: 12100:0::NO::P12100_ILO_CODE:C087, accessed: 28.2.2020; ILO C098 – Right to Organise and Collective Bargaining Convention, 1949 (No. 98), https://www.ilo.org/dyn/ normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12100:::NO:12100:P12100_ILO_CODE:C098:NO, accessed: 28.2.2020.
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employee and employer. Consequently, these concepts must be shaped by national law. Although in 2006 the ILO adopted a Recommendation on the Employment Relations,6 it leaves to a large extent to lay down national law, which may contain characteristics of an employment relationship and indicating who can exercise the rights and obligations arising from collective employment relationships. The right to bargain collectively and to defend the interests of employees collectively is also enshrined in the (revised) provisions of the European Social Charter. Thus Articles 5 and 6 of the European Social Charter stipulate the possibility of collective regulation and inclusion of labour relations.7 In its various interpretations, the European Committee of Social Rights has addressed the issue of the possibility of collective bargaining (for instance, what types of strikes are allowed, what kind of collective action is available, whether and to what extent the employer’s collective measures are guaranteed by European Social Charter provisions).8 Nevertheless, the European Committee of Social Rights, by its various methods of interpretation, has not provided any clarification as to who should enjoy the rights deriving from collective labour relations. It is limited to the conception of employee and employer without giving them a more specific explanation and meaning. 2. Collective labour law in Estonia Collective labour relations are generally related to the existence of an employment contract between the parties of an employment relationship. Collective labour law in Estonia has not been codified. It consists of a few individual laws. The most important of them – the Collective Agreements Act9 and the Collective Labour Dispute Resolution Act10 – were adopted in 1993. Under the Collective Agreements Act, a collective agreement is an agreement between employees and employers or their organizations to fur6 ILO R198 – Employment Relationship Recommendation, 2006 (No. 198), https:// www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12100:0::NO:12100:P12100_INSTR UMENT_ID:312535:NO, accessed: 28.2.2020. 7 Art. 5 and 6, European Social Charter (Revised), European Treaty Series – No. 163, available: https://rm.coe.int/168007cf93, accessed: 28.2.2020. 8 G.Tavits The Right to Collective Action in Labour Relations in Estonia: Is the Right to Organise a Strike Guaranteed?, Juridica International 2018, available: https://www. juridicainternational.eu/index.php?id=15417, accessed: 28.2.2020. 9 Collective Agreements Act (kollektiivlepingu seadus), RT I 1993, 20, 353, English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/eli/518062018002/consolide, accessed: 28.2.2020. 10 Collective Labour Dispute Resolution Act (kollektiivse töötüli lahendamise seadus), RT I 1993, 26, 442, English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/eli/526062 018001/consolide, accessed: 28.2.2020.
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ther regulate working conditions.11 Although the Collective Agreements Act does not expressly stipulate that there must be an employment contract, given the time at which that law was adopted, the conclusion of a collective agreement was dependent on the existence of an individual employment relationship between the employee and the employer. Without an individual employment relationship, there is no opportunity to conclude a collective agreement. One of the legal consequences of the collective agreement was the fact that there must be a peace between the parties – there is no possibility of collective action (both on the employer and employee side) in order to better protect the rights and interests of both parties.12 The case law of the Supreme Court of Estonia –Riigikohus– has also recognized that if an employer has concluded a collective agreement, he must extend that collective agreement to all employees in the company.13 Consequently, the Supreme Court, in its case law dealing with a collective agreement, has found that it must be an employment relationship and the parties to an employment relationship. An important part of collective labour relations is the ability to organize collective actions, whereby employees can draw the attention of both the general public and the employer to potential conflicts and differing perceptions when establishing working conditions. According to the Estonian Collective Labour Dispute Resolution Act, a collective labour dispute between an employer and a collective of employees is a situation where there is a dispute arising out either of a collective agreement or of the implementation of a collective agreement.14 The Collective Labour Dispute Resolution Act does not specifically state that an employment contract between the parties must be a prerequisite for the occurrence of a collective labour dispute. One way or another, an employment contract is a prerequisite for defining a collective of employees. In the Estonian collective labour law, there is a so-called two-channel system of employee representation, according to which the trade union does not have a monopoly right to conclude collective agreements and organize collective actions. They can also be organized by non-union workers who
11 S. 2, Collective Agreements Act (kollektiivlepingu seadus), RT I 1993, 20, 353, English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/eli/518062018002/consolide, accessed: 28.2.2020. 12 S 11 (3), Collective Agreements Act (kollektiivlepingu seadus), RT I 1993, 20, 353, English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/eli/518062018002/consolide, accessed: 28.2.2020. 13 Riigikohus, case 3-2-1-133-07, 9. January 2008. a case available: https://www. riigikohus.ee/et/lahendid/marksonastik?asjaNr=3-2-1-133-07, accessed: 28.2.2020. 14 S 2 (1), Collective Labour Dispute Resolution Act (kollektiivse töötüli lahendamise seadus), RT I 1993, 26, 442, English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/ eli/526062018001/consolide, accessed: 28.2.2020.
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have the right and ability to choose an employee representative (employees’ trustee).15 The basis for the formation of a working collective is the existence of an employment contract. One of the characteristics of the employee and the employment relationship is that the employee is considered a staff member, i.e., a member of the collective of the employees working for the employer. Membership of the collective is only possible in the case of an employment contract. The Estonian Employment Contracts Act contains the conception of an employment contract under which an employee undertakes to work for the employer under the terms of the employment contract, subject to the instructions and guidance of the employer; it is the employer’s responsibility to pay employees for the work they do.16 The existence of an employment contract is a prerequisite for talking about a collective employment relationship, and the existence of an employment contract is also a prerequisite for talking about health and safety at the workplace. If it is not possible to classify the relationship between the parties as a labour relationship, it is impossible to speak of collective labour relations. However, one of the peculiarities of collective labour relations in Estonia must be taken into consideration here. As mentioned above, employees can participate in collective labour relations through a representative of their choice. On the other hand, trade unions can also represent interests of workers under the Trade Unions’ Act (hereinafter TUA).17 Trade unions follow the provisions of the TUA. Through the TUA, the unions represent the interests of their members. Who can be a member of a trade union is not regulated by the TUA.18 According to the TUA, at least five workers can form a trade union, but only those working with an employment contract. Who can become a member of a trade union is decided on the basis of the trade union statute. According to the TUA, all those who recognize the union’s statute may be members of the union. Thus, it can be concluded that, if collective interests of the employees are represented by the employees’ trustee, only the employees working under an employment contract can constitute the employees’ collective. As regards the trade unions’ right of representation, trade unions can represent interests of their members. However, 15 S 9, Employees’ Trustee Act (Töötajate usaldusisiku seadus), RT I 2007, 2, 6, English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/eli/505052017006/consolide, accessed: 28.2.2020. 16 S 1, Employment Contracts Act (töölepingu seadus), RT I 2009, 5, 35, English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/eli/509052019005/consolide, accessed: 28.2. 2020. 17 Trade Unions Act (ametiühingute seadus), RT I 2000, 57, 372, English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/eli/526062018003/consolide, accessed: 28.2. 2020. 18 S 8, Trade Unions Act (ametiühingute seadus), RT I 2000, 57, 372, English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/eli/526062018003/consolide, accessed: 28.2.2020.
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trade union membership does not necessarily imply an employment relationship. The competence of a trade union to represent its members is thus broader than that of a trustee. As the existing Estonian collective labour law largely presupposes the existence of persons employed with an employment contract, all other forms of employment, not based on an employment contract, are outside the scope of regulations of collective labour law. Thus, collective actions cannot be organized, for example, by persons under other civil law contracts, neither by self-employed workers. In conclusion, the existing collective labour law relates to the concepts of employee and employer, based on an employment contract. Other forms of employment not based on an employment contract are neither regulated nor covered by collective labour law.
III. Obstacles and Changes Regarding New Forms of Work – The Challenges of Collective Labour Law Collective labour relations undergo various developments. On the one hand, the importance of collective labour relations is emphasized by both the International Labour Organization and the European Union. On the other hand, it can be seen that trade unions are trying to find new ways to involve more workers and gain more influence with other groups of workers.19 The decline in trade union membership is linked to a number of different causes, but it is obvious that collective labour relations will not disappear. Their content, however, may change. One of the most important changes is related to the concept of a “collective”. Given the emergence of new forms of employment where the worker does not have a secure job or it is not clear whether work is done by an employment contract or other contract under the civil law, it is inevitable that the legal framework for collective labour relations should be revised. When regulating and applying collective employment relationships, it must be borne in mind that not only does an employees’ collective emerge from an employment contract, but a collective is also generated when workers, for 19 K. Vandaele Will trade unions survive in the platform economy? Emerging patterns of platform workers’ collective voice and representation in Europe, 2018, https://www. etui.org/Publications2/Working-Papers/Will-trade-unions-survive-in-the-platform-econo my-Emerging-patterns-of-platform-workers-collective-voice-and-representation-in-Euro pe, accessed: 28.2.2020; Also K.Vandaele, A. Piasna, J. Drahokoupil Algorithm breakers’ are not a different ‘species’: attitudes towards trade unions of Deliveroo riders in Belgium, ETUI 2019, available: https://www.etui.org/Publications2/Working-Papers/Algorithmbreakers-are-not-a-different-species-attitudes-towards-trade-unions-of-Deliveroo-ridersin-Belgium, accessed: 28.2.2020.
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example, are integrated into one application (platform) and use the application’s assistance to do their job. Whether and which workers use the help of the application can be monitored by the application. While working through an application has become an important way of employment, one also needs to think about how to extend the legal framework for collective employment to those ways of working that do not necessarily require an employment contract. In addition to the legal regulation of collective employment relationships and the precondition of an employment contract, the fundamental principles of the competition law need to be substantially revised. The competition law excludes any agreement which is detrimental to free market economy and which creates monopolies on the market.20 Under the competition law, collective agreements are generally excluded from the list of such agreements. Collective agreements between employees and employers are considered not to be anticompetitive. All other agreements which seek to regulate prices (prices of services) lead to damaging of competition and business, and are therefore considered to be unacceptable or, at most, such agreements can take place only with the approval of a competent authority. Platform workers are not unequivocally qualified as employees in terms of labour law. Although there have already been attempts to regulate it, and cases in which those engaged in platform work have been recognized as equal to employees21, it is still unclear how collective labour relations should be handled. In the context of the collective labour law, the opportunity for platform workers to join a trade union and thereby have their interests protected in providing services is more important. The provision of services is no longer an industry where services can only be provided based on market economy conditions and freedom of competition. The abundance of service providers brings along a necessity to review the conditions under which service providers operate, and while doing so, change provisions in the competition law. According to Section 4 of the Estonian Competition Act22 the following agreements are prohibited:
20 See e.g. Estonian Competition Act (Konkurentsiseadus), RT I 2001, 56, 332 English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/eli/510042019001/consolide, accessed: 28.2.2020. 21 See e.g. R. White How the Ontario Labour Board Ruled Foodora Workers are “Employees” and Not Independent Contractors, 5.3.2020, http://lawofwork.ca/amp/how-theontario-labour-board-ruled-foodora-workers-are-employees/?fbclid=IwAR3HN4ZhCx 2oJKD4tSOuIWhTSAf6PgYeo0uRATQ9j-GFmOkFEmnJLtgmaVE, accessed: 6.3.2020. 22 See e.g. Estonian Competition Act (Konkurentsiseadus), RT I 2001, 56, 332 English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/eli/510042019001/consolide, accessed: 28.2.2020.
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1) to directly or indirectly fix prices or any other trading conditions, including prices of goods, tariffs, fees, mark-ups, discounts, rebates, basic fees, premiums, additional fees, interest rates, rent or lease payments applicable to third parties; 2) to limit production, service, goods markets, technical development or investment; 3) to share goods markets or sources of supply, including restriction of access by a third party to a goods market or any attempt to exclude them from the market; 4) to exchange information which restricts competition 5) to agree on the application of dissimilar conditions to equivalent agreements, thereby placing other trading parties at a competitive disadvantage 6) to make the entry into agreements subject to acceptance by third parties of supplementary obligations which have no connection with the subject of such agreements. The Competition Act does not provide for an exemption for a collective agreement, but the Estonian legal literature does not treat a collective agreement as an anti-competitive agreement.23 On the other hand, the Competition Act lays down a restriction according to which contracts that lead to restrictions on services or goods market, may not be concluded. Being engaged in platform work usually means providing a service. An agreement on the terms and conditions for the provision of a service to a large number of consumers would lead to market distortion and is therefore obviously incompatible with the principles of free competition. Such behaviour, for example in the case of ride sharing service or some other service, can be considered as market restriction. As a result, platform workers, for example, cannot initiate collective bargaining, or use other measures in the context of collective labour law. On the other hand, the collective initiatives/protests of platform workers show that the need to influence the conditions of service provision (employment) collectively is greater and more effective than could be achieved by an individual service provider.24 As the structure of work has changed and so has the structure of service delivery, it is also necessary to change the regulation of the competition law, which would allow those working through online platforms to collectively regulate the terms of service provision. This change would also mean that 23 See e.g. K. Pärnits Needs and Possibilities for Changing the Legal Regulation of Collective Agreements in the Context of Labour Law Reform. The Case of Estonia. – 2013, No 3, 196–221. European Labour Law Journal, 3, 2013. 24 A. Webber Bolt drivers urge better pay and recognition of workers’ rights, 30.9. 2019, https://www.personneltoday.com/hr/bolt-drivers-workers-rights-and-pay-protest/, accessed: 28.2.2020.
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the collective labour law is no longer linked only to the concepts of employee and employer or the existence of an employment contract. Extending the scope of regulating collective labour relations would also be in line with the Directive on Transparent and Predictable Working Conditions in the EU. According to the Directive, there is a possibility for Member States not to apply the provisions of the Directive to an employment relationship with working hours that amount to an average of three hours per week or less in a period of four consecutive weeks.25 Both the scope of individual labour relations and that of the collective labour law show a tendency for more and more workers to be included in the scope of the labour law. It also creates the premise that new forms of work, such as platform work (be it a ride sharing or a food delivering service), are also regulated by the collective labour law. The collective labour law must clearly be given a broader meaning in the context of new ways of working. The European Committee of Social Rights has referred to the possibility and necessity of such an extension, but at the same time has left the solution incomplete. While the Committee refers to the so-called “weaker position” in the negotiations, it does not give its own assessment about how and by which legal possibilities the restrictions arising from the competition law could be removed.26 Although the Committee considers that it is necessary to ensure service providers with collective bargaining rights, it does not extend other collective rights, nor does it refer to the possibility of applying them. Collective bargaining is accompanied by the right to implement collective actions. Only the extension of the right to collective bargaining does not provide platform workers with the means to secure conditions for their work. In Estonian law, an analogy can be drawn with a public servant. Pursuant to the Public Service Act27, there are officials in the Estonian public service who are appointed on the basis of an administrative act, and who are competent to exercise public authority. Civil servants work with an employment contract. Officials are not legally guaranteed the right to strike, but collective bargaining is possible. Although officials’ collective rights are partially
25 Art. 1 (3) Directive (EU) 2019/1152 of the European Parliament and of the Council of 20 June 2019 on transparent and predictable working conditions in the European Union, available: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX:32019L1152, accessed: 28.2.2020. 26 European Committee of Social Rights, Irish Congress of Trade Unions (ICTU) v. Ireland, Complaint No.123/2016, available: https://hudoc.esc.coe.int/eng/#{%22ESCDcIdentifier%22:[%22cc-123-2016-dmeritsen%22]}, accessed: 28.2.2020. 27 Civil Service Act (avaliku teenistuse seadus), RT I, 6.7.2012, 1, English translation available: https://www.riigiteataja.ee/en/eli/525032019003/consolide, accessed: 28.2. 2020.
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guaranteed, collective bargaining in the public service is not very common. So far officials have not taken the initiative to change this situation. However, a different attitude can be observed in platform work. Platform staff are keen to have their terms and conditions of employment jointly regulated and are ready to organize collective initiatives to that effect. Several examples of how platform workers are gathered in collectives can be found in Estonia but also in other countries. It is therefore the right time to review the scope of both individual and collective labour law and remove all restrictions that may arise from the competition law.
IV. Summary New forms of work have developed, in particular, with development of the new IT tools. These are predominantly service-related jobs, not producing anything by the industrial sector. The existing competition law does not allow the conclusion of agreements which result in monopolized (fixed) prices and impede the development of free entrepreneurship and the market economy. If new workers were to enter into agreements to harmonize terms and conditions as well as prices of services, this would mean that a free market economy would not work and could lead to the creation of certain monopolies. However, as platform work is spreading, the collective labour law needs to be modified and shaped in this context. The collective labour law as a whole is based on the precondition that there is an employment contract between the parties. In today’s labour world, the mere existence of an employment contract is no longer sufficient to provide the necessary protection in employment relations. There are many different legal bases for work to be done, and the collective regulation of labour relations must take changes into account.
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Der „Zankapfel“ unternehmerische Mitbestimmung Christoph Teichmann
Der „Zankapfel“ unternehmerische Mitbestimmung im Entstehungsprozess der Mobilitätsrichtlinie 2019 CHRISTOPH TEICHMANN1
I. Einführung Am 12. Dezember 2019 wurde im Amtsblatt der Europäischen Union eine Richtlinie veröffentlicht, die das Recht der grenzüberschreitenden Umwandlungen auf ein neues Fundament stellt (nachfolgend „Mobilitätsrichtlinie“).2 Sie modifiziert die Gesellschaftsrechtsrichtlinie von 2017 (nachfolgend „GesRRL“),3 die bereits ein Kapitel zur grenzüberschreitenden Verschmelzung enthielt (Art. 118 ff.). Nun kommen der grenzüberschreitende Formwechsel (Art. 86a ff.) und die grenzüberschreitende Spaltung (Art. 160a ff.) hinzu.4 Insgesamt ergeben sich daraus deutlich erkennbar die Umrisse eines systematisch geordneten EU-Umwandlungsrechts.5 Wer sich wie die Jubilarin Zeit ihres Lebens mit den Wechselwirkungen zwischen Gesellschaftsrecht und unternehmerischer Mitbestimmung befasst hat, konnte nicht überrascht darüber sein, dass ein bestimmter „Zankapfel“ das gesamte Gesetzgebungsverfahren begleitet hat. Es war – „natürlich“ möchte man sagen – die unternehmerische Mitbestimmung. Sie stand schon in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts einer Einigung über die SE (Societas Europaea) und die Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verschmelzung entgegen.6 Erst 2001 gelang in der SERichtlinie ein Kompromiss, der 2005 weitgehend unverändert in die Richtli1
Der Verf. dankt Frau wiss. Mit. Leoni Stegmann für umfangreiche Recherchen und vielfältige Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrags. 2 Richtlinie (EU) 2019/2121 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.11.2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen (ABl EU vom 12.12.2019, Nr. L 321/1 ff.). 3 Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts, Abl. L 169/46 (ABl EU vom 30.6.2017, Nr. L 169/46). 4 Vgl. den Überblick bei Schurr EuWZ 2019, 539 ff. 5 Näher Teichmann NZG 2019, 241 ff. 6 Instruktiv Blanquet ZGR 2002, 20 ff. sowie Heinze ZGR 2002, 66 ff.
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nie zur grenzüberschreitenden Verschmelzung Eingang fand.7 Seitdem traute sich die Europäische Union an das Thema Mitbestimmung nicht mehr heran. Den vielfach vorgetragenen Wunsch nach einer Reform der SERichtlinie hat die Europäische Kommission nicht erhört. Die zu erwartenden Vorteile würden die Herausforderungen einer erneuten Diskussion nicht aufwiegen, hieß es diplomatisch verbrämt im EU-Aktionsplan von 2012.8 Die Gewichte dieser Abwägungsentscheidung verschoben sich allerdings durch die jüngere EuGH-Rechtsprechung. In der Entscheidungsreihe Cartesio, Vale und Polbud stellte der Gerichtshof klar, dass der grenzüberschreitende Formwechsel selbst dann in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit fällt, wenn durch den Formwechsel im Aufnahmestaat nur eine Briefkastengesellschaft entsteht.9 Diese liberale Rechtsprechungslinie führte zu erheblicher Verunsicherung in der Praxis. Formwechselwillige Unternehmen stießen bei den lokalen Handelsregistern nicht immer auf Gegenliebe mit ihrem Wunsch, eine gesetzlich nicht geregelte grenzüberschreitende Strukturmaßnahme administrativ zu unterstützen.10 Umgekehrt sahen Arbeitnehmervertreter die neue Umwandlungsfreiheit mit großer Sorge, weil der Formwechsel in eine Briefkastengesellschaft der Umgehung von Mitbestimmungsrechten dienen kann. Nach alledem durfte die Europäische Kommission bei Wirtschafts- und Arbeitnehmervertretern gleichermaßen auf Sympathie hoffen in ihrem Bestreben, sekundärrechtlich für ein geordnetes Verfahren des grenzüberschreitenden Formwechsels zu sorgen. Das 2018 vorgelegte „Company Law Package“ enthielt daher neben einer Reform der grenzüberschreitenden Verschmelzung auch eine Regelung zum grenzüberschreitenden Formwechsel und zur grenzüberschreitenden Spaltung. Den Unternehmen sollte dadurch Rechtssicherheit geboten werden, den betroffenen Drittinteressen (Minderheitsgesellschafter, Gläubiger, Arbeitnehmer) angemessener Schutz widerfahren.11 Im Bereich der Mitbestimmung hatte die europäische Verhandlungslösung (SE und grenzüberschreitende Verschmelzung) gewisse Schwachstellen und Umgehungsmöglichkeiten aufgewiesen (unter II.). worauf die Kommission mit einer Absenkung des Schwellenwertes reagierte, der die Verhandlungen auslösen soll (unter III.).
7 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von SE-Richtlinie und grenzüberschreitender Verschmelzung Habersack ZHR 171 (2007), 613 ff. und Teichmann Der Konzern 2007, 89 ff. 8 Aktionsplan zum Gesellschaftsrecht von 2012 (COM(2012)740/2), 16. 9 Eingehend Teichmann/Knaier in Lipp/Münch (Hrsg.), Aktuelle notarielle Herausforderungen in der Praxis des Gesellschaftsrechts, 2019, 55, 62 ff. (Leitentscheidungen des EuGH) und 72 ff. (Erfahrungen aus der deutschen Rechtspraxis). 10 Vgl. dazu den in der vorhergehenden Fußnote genannten Beitrag. 11 Eine umfassende Erörterung aller Facetten des Company Law Packages findet sich in Heft 1–2 der ECFR 2019 mit einem Beitrag von Roest zur Mitbestimmung.
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Das Europäische Parlament hingegen sah in der Mobilitätsrichtlinie die Gelegenheit, ein genuin europäisches Mitbestimmungsmodell zu etablieren (unter IV.), während der Rat der Mitgliedstaaten das existierende Modell unverändert beibehalten wollte (unter V.). Im Trilog mündeten diese konträren Positionen in eine Richtlinienfassung (unter VI.), auf deren praktische Bewährungsprobe man gespannt sein darf (unter VII.). Soweit im Folgenden von „Mitbestimmung“ gesprochen wird, gilt die Legaldefinition der SERichtlinie, auf die auch in der Mobilitätsrichtlinie Bezug genommen wird.12
II. Umgehungspotenzial der grenzüberschreitenden Umwandlung Die rechtspolitische Diskussion der Mobilitätsrichtlinie stand im Schatten einer Entwicklung, die von Arbeitnehmervertretern als zunehmende Erosion der Mitbestimmung wahrgenommen wird.13 Die Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten im grenzüberschreitenden Umwandlungsrecht könnte dies verschärfen, da mit einem Wechsel des anwendbaren Gesellschaftsrechts regelmäßig ein Wechsel des Mitbestimmungsstatuts einhergeht (unter 1.). Die für die grenzüberschreitende Verschmelzung bereits geltende Verhandlungslösung (unter 2.) schützt zwar den Status Quo, erlaubt aber zugleich die Zementierung der Mitbestimmung auf niedrigem Niveau (unter 3.). 1. Wechsel des anwendbaren Gesellschaftsrechts Mit dem „Company Law Package“ erweitert die Europäische Kommission die grenzüberschreitenden Gestaltungsmöglichkeiten um den Formwechsel und die Spaltung. Der grenzüberschreitende Charakter aller Umwandlungsformen liegt darin, dass sich im Zuge der Umwandlung zumindest für einen Teil der beteiligten Gesellschaften das anwendbare Gesellschaftsrecht ändert.14 Dies hat Einfluss auf die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer. Denn die unternehmerische Mitbestimmung im Aufsichtsrat wird nach traditioneller Auffassung am Gesellschaftsstatut angeknüpft.15 Folglich ändert sich mit dem anwendbaren Gesellschaftsrecht auch das Mitbestimmungsstatut. 12 Demnach fällt unter den Begriff der „Mitbestimmung“ jedenfalls auch das deutsche Modell, wonach die Arbeitnehmer auf die Angelegenheiten einer Gesellschaft Einfluss nehmen, indem sie einen Teil der Mitglieder des Aufsichtsrats wählen (vgl. Art. 2 Buchst. k der Richtlinie 2001/86/EG). 13 Diese Erosion beschreiben beispielsweise Bayer NJW 2016, 1930 ff. und Bayer/Hoffmann AG 2017, R 119 ff. sowie Teichmann in Birkmose/Neville/Sørensen (Hrsg.), Abuse of Companies, 2019, 79, 107 ff. 14 Zum Folgenden bereits Teichmann in FS Hopt, 2020, 1229, 1231 ff. 15 Siehe nur Kindler ZHR 179 (2015), 330, 373 und Weller in FS Hommelhoff, 2012, 1275, 1285.
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Beispielsweise unterliegt eine deutsche Aktiengesellschaft, die sich grenzüberschreitend in eine polnische Aktiengesellschaft umwandelt, anschließend nicht mehr dem deutschen Mitbestimmungsgesetz. Da Polen in Privatunternehmen keine Mitbestimmung kennt, wäre den Arbeitnehmern durch den grenzüberschreitenden Formwechsel die Möglichkeit genommen, im Aufsichtsrat durch eigene Repräsentanten vertreten zu sein. Dieser Effekt wird aus Sicht des Wegzugsstaats jedenfalls dann als Umgehung inländischer Schutznormen empfunden, wenn die meisten oder gar alle Arbeitnehmer der Gesellschaft weiterhin dort tätig sind. Anders wäre möglicherweise ein Fall zu bewerten, in dem eine Gesellschaft ihre wirtschaftliche Tätigkeit in den Zuzugsstaat verlegt und die Belegschaft überwiegend dort angesiedelt ist. 2. Mitbestimmungsschutz durch die europäische Verhandlungslösung Die Sorge vor einer Mitbestimmungsumgehung behinderte lange Jahre die Einführung der SE und den Erlass der Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verschmelzung. Erst 2001 konnten sich die Mitgliedstaaten in der SERichtlinie auf eine Lösung einigen, die im Jahre 2005 auch den Erlass der Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verschmelzung ermöglichte. Diese Regelung wurde 2017 wortgleich in die konsolidierte Richtlinie zum Gesellschaftsrecht übernommen (Art. 133 GesRRL). Im Mittelpunkt des Mitbestimmungsschutzes steht die sog. Verhandlungslösung: Wenn bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung unterschiedliche nationale Mitbestimmungssysteme aufeinandertreffen, kann die Gesellschaft mit ihren Arbeitnehmern verhandeln und eine maßgeschneiderte Vereinbarung über das eigene Mitbestimmungsmodell abschließen. Sollten die Verhandlungen scheitern, greift eine Auffanglösung. Diese sorgt dafür, dass die Arbeitnehmer ihre bestehenden Mitbestimmungsrechte nicht verlieren (sog. Vorher-Nachher-Prinzip). Die entsprechende gesetzliche Regelung findet sich in Deutschland im SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) und im Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung (MgVG). 3. Zementierungseffekt der europäischen Auffanglösung Das Verhandlungsmodell mit Auffanglösung hat allerdings eine entscheidende Schwäche16: Es schützt nur den Status Quo im Zeitpunkt der SEGründung bzw. Verschmelzung. Die für das deutsche Recht typische quan16 Vgl. etwa Oetker in Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 3. Auflage 2020, RL 2017/1132 Art. 133 Rn. 7 sowie Seifert in Schlachter/Heinig (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 7, 2016, § 20 Rn. 59.
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titative und qualitative Ausweitung der Mitbestimmung bei einem Überschreiten des nächsten Schwellenwertes findet im EU-Recht keine Entsprechung. Somit bewahrt eine Gesellschaft, in der die Drittelparität gilt, zwar den Zustand der Drittelparität. Bei einem späteren Wachstum der Belegschaft kommt es aber nicht mehr zur vollen Parität. Denn das deutsche Mitbestimmungsgesetz gilt weder für die SE, wie § 47 Abs. 1 Nr. 1 SEBG bestätigt, noch für eine ausländische Gesellschaft, da das Mitbestimmungsrecht dem Gesellschaftsstatut folgt. Eine Gesellschaft, die noch vor Erreichen der Drittelparität in eine SE umgewandelt oder grenzüberschreitend verschmolzen wird, entgeht der Mitbestimmung sogar endgültig. Sie ist für alle Zukunft der Anwendung des deutschen Mitbestimmungsrechts entzogen und muss bei späterem Wachstum der Belegschaft keine Mitbestimmung mehr einführen.
III. Europäische Kommission: Verhandlungslösung mit abgesenktem Schwellenwert In diesem Spannungsfeld stand die Europäische Kommission vor der schwierigen Aufgabe, für die Unternehmen ein praktisch brauchbares Umwandlungsverfahren und für die Arbeitnehmer einen zufriedenstellenden Mitbestimmungsschutz zu regeln. Sie stützte sich dabei auf Vorarbeiten der „Informal Company Law Expert Group (ICLEG)“, über die bereits an anderer Stelle berichtet wurde.17 Die neuen Regelungen zu den grenzüberschreitenden Umwandlungen sollten in die bereits existierende GesRRL eingefügt werden; der Vorschlag der Kommission wird daher nachfolgend als „GesRRL-KOM“ zitiert.18 Der Mitbestimmungsschutz für den Formwechsel ist in Art. 86l, für die Verschmelzung in Art. 133 und für die Spaltung in Art. 160n geregelt. Da die Regelungen weitgehend identisch sind, werden sie nachfolgend gemeinsam erörtert. Sie folgen im Grundsatz dem 17
Teichmann in FS Hopt, 2020, 1229 ff. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen, 2018/0114 (COD). Der Kommissionsentwurf fand in der Literatur ein breites Echo. Siehe etwa: Bormann/Stelmaszcyk ZIP 2019, 353 ff.; Butterstein EuZW 2018, 838 ff.; Habersack ZHR 182 (2018), 495 ff.; Teichmann NZG 2019, 241 ff.; ders. ECFR 2019, 3 ff.; Bremer NZG 2018, 776 f.; Bungert/Wansleben DB 2018, 2094 ff.; Handelsrechtsausschuss des DAV NZG 2018, 857 ff.; Hoffmann EuZW 2018, 785 f.; Knaier GmbHR 2018, 607 ff.; Mückl/Götte BB 2018, 2036 ff.; Noack/Kraft DB 2018, 1577 ff.; Paefgen WM 2018, 1029, 1036 ff.; J. Schmidt DK 2018, 229 ff.; dies. ECFR 2019, 222 ff.; dies. DK 2018, 273 ff.; Schollmeyer NZG 2018, 977 f.; Selent NZG 2018, 1171 ff.; Wachter GmbH-StB 2018, 283 ff.; 317 ff.; Mörsdorf EuZW 2019, 141 ff. Den Einzelfragen der Mitbestimmung widmen sich namentlich Roest ECFR 2019, 74 ff., J. Schmidt Der Konzern 2018, 273, 284, Selent NZG 2018, 1171, 1174, und Teichmann NZG 2019, 241, 246 ff. 18
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Mitbestimmungsstatut des Zuzugsstaates (unter 1.) und regeln ein gegenüber der bisherigen Rechtslage punktuell modifiziertes Verhandlungsverfahren (unter 2.). 1. Grundsatz: Mitbestimmungsstatut des Zuzugsstaates Für die Mitbestimmung gilt nach Durchführung einer grenzüberschreitenden Umwandlung das Recht des Zuzugsstaats (Art. 86l Abs. 1, Art. 133 Abs. 1, Art. 160n Abs. 1 GesRRL-KOM). Maßgeblich ist der satzungsmäßige Sitz und damit der Registrierungsort der umgewandelten Gesellschaft.19 Damit folgt die Richtlinie der auch in Deutschland anerkannten Regel, dass die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer dem Gesellschaftsstatut zuzuweisen sind. Angesichts der geschilderten Umgehungsgefahren greift zusätzlich ein Verhandlungsverfahren mit gesetzlicher Auffanglösung, das jedenfalls einen Bestandsschutz der existierenden Mitbestimmung sicherstellt. 2. Bestandsschutz durch europäisches Verhandlungsverfahren a) Regelungstechnik: Verweisungen auf SE-Recht Der Ablauf des Verhandlungsverfahrens wird nicht in der GesRRL selbst geregelt. Stattdessen werden verschiedene Vorschriften von SE-Verordnung und SE-Richtlinie für entsprechend anwendbar erklärt (vgl. Art. 86l Abs. 3, Art. 133 Abs. 3, Art. 160n Abs. 3 GesRRL-KOM). Dies entspricht der bisherigen Regelungstechnik für die grenzüberschreitende Verschmelzung. Die Parallelität des Verhandlungsverfahrens zu dem in der SE bietet den Vorteil, dass sich dessen Praktikabilität bereits erwiesen hat und das Verfahren daher eine gewisse Rechtsicherheit bietet.20 Allerdings ist die Verweisungstechnik äußerst unübersichtlich und wenig anwenderfreundlich.21 b) Verhandlungen zwischen BVG und Gesellschaft Die Arbeitnehmer werden in den Verhandlungen durch ein Besonderes Verhandlungsgremium (BVG) vertreten, das die Arbeitnehmer in allen beteiligten Gesellschaften und Mitgliedstaaten repräsentieren soll.22 Für die Gesellschaften verhandelt ihr jeweiliges Vertretungsorgan. Auch für den Ablauf des Verhandlungsverfahrens sind die Vorschriften der SE-Richtlinie 19 Oetker in Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 3. Auflage 2020, RL 2017/1132 Art. 133 Rn. 6; So auch schon zur Verschmelzungsrichtlinie: Habersack ZHR 171 (2007), 613, 619. 20 Mückl/Götte BB 2018, 2036, 2038. 21 Mückl/Götte BB 2018, 2036, 2038; Teichmann in FS Hopt, 2020, 1229, 1237. 22 Hierzu im Einzelnen Art. 3 SE-Richtlinie.
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anwendbar. Der Verhandlungszeitraum beträgt maximal sechs Monate und kann einmalig um weitere sechs Monate verlängert werden.23 Der Inhalt der Vereinbarung ergibt sich über einen partiellen Verweis auf Art. 4 SERichtlinie. c) Auslöser für Verhandlungen aa) Bisherige Regelung für die grenzüberschreitende Verschmelzung Anders als bei einer SE-Gründung, wo stets Verhandlungen geführt werden müssen, sieht das bisherige Recht der grenzüberschreitenden Verschmelzung drei konkrete Tatbestände vor, die eine Verhandlungspflicht auslösen (zu den Einzelheiten Art. 133 Abs. 2 GesRRL):24 Verhandlungen müssen aufgenommen werden, (1) wenn eine der beteiligten Gesellschaften mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt und in dieser Gesellschaft ein System der Arbeitnehmermitbestimmung besteht (diese Schwelle entspricht dem deutschen Drittelbeteiligungsgesetz); (2) wenn das Recht des Zuzugsstaats nicht den gleichen Umfang an Mitbestimmung vorsieht wie er in den jeweiligen an der Verschmelzung beteiligten Gesellschaften bestand (materielle Mitbestimmungsreduzierung);25 (3) wenn das Recht des Zuzugsstaats für Arbeitnehmer, die in ausländischen Betrieben tätig sind, nicht in derselben Weise an der Ausübung von Mitbestimmung beteiligt wie Arbeitnehmer, die in inländischen Betrieben tätig sind (Ungleichbehandlung von In- und Ausländern).26 bb) Absenken des Schwellenwertes (GesRRL-KOM) In ihrem Vorschlag für eine Mobilitätsrichtlinie hat die Kommission den ersten Fall, der als Auslöser für Mitbestimmungsverhandlungen gilt, folgendermaßen abgewandelt27: Verhandlungen müssen aufgenommen werden, wenn die sich umwandelnde Gesellschaft in den sechs Monaten vor Veröf23
Verweisung auf Art. 5 SE-Richtlinie. Das nationale Recht muss alle drei Varianten regeln und kann sich nicht auf eine oder zwei von ihnen beschränken (vgl. EuGH Rs. C-635/11 (Kommission/Niederlande), AG 2013, 592 ff.). 25 Das Niveau der Mitbestimmung bemisst sich nach dem Anteil der Arbeitnehmervertreter im Verwaltungs- oder Aufsichtsorgan der Gesellschaft (Art. 133 Abs. 2 Buchst. a GesRRL). Anders als bei Variante 1 ist für einen solchen Vergleich jedoch das Bestehen einer Mitbestimmungsregelung im Zuzugsstaat notwendig (Oetker in Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 3. Auflage 2020, RL 2017/1132 Art. 133 Rn. 20). 26 Gemeint ist vor allem die aktive und passive Wahlberechtigung (vgl. Brandes ZIP 2008, 2193, 2196; Bungert/Becker DB 2019, 1606, 1615; Kisker RdA 2006, 206, 211). 27 Die anderen beiden Auslöser für Mitbestimmungsverhandlungen wurden unverändert beibehalten. 24
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fentlichung des Umwandlungsplans „eine durchschnittliche Zahl von Arbeitnehmern beschäftigt, die vier Fünfteln des im Recht des Wegzugsmitgliedstaats festgelegten Schwellenwertes entspricht“, der die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auslöst. Bemerkenswert ist der Wegfall der fixen Schwelle von bislang 500 Arbeitnehmern, die allein auf die deutsche Rechtslage gemünzt war. Statt dessen gilt nun eine flexible Regelung, bei der sich der Einstieg in die Verhandlungen an den nationalen Schwellenwert des Wegzugslandes anpasst.28 Diese Vorverlagerung soll verhindern, dass Unternehmen kurz vor Erreichen der Mitbestimmungspflicht den mitbestimmungsfreien Zustand einfrieren29 oder vor der Umwandlung die Arbeitnehmerzahl vorübergehend verringern, um einer Mitbestimmung zu umgehen.30 Anders als nach dem bisherigen Wortlaut ist es nicht mehr erforderlich, dass in der sich umwandelnden Gesellschaft bereits ein Mitbestimmungssystem besteht.31 Dies versteht sich von selbst, wenn man die Verhandlungen bereits vor Erreichen der relevanten Schwellenwerte beginnen lassen möchte. Obwohl die ICLEG im Vorfeld für ein kohärentes Schutzmodell plädiert hatte,32 schlug die Kommission eine Absenkung der Schwellenwerte nur für den Formwechsel (Art. 86l Abs. 2 GesRRL-KOM) und die Spaltung (Art. 160n Abs. 2 GesRRL-KOM) vor, nicht aber für die Verschmelzung.33 Diese Unstimmigkeit ist auf Kritik gestoßen, weil sie zu sachwidrigen Verschiebungen zwischen den Umwandlungsformen führen kann.34 Wer kurz vor Erreichen der Schwelle die Rechtsordnung wechseln möchte, würde dafür nicht den Formwechsel wählen, sondern das Verfahren der Verschmelzung. Der mit der Absenkung des Schwellenwertes intendierte Schutz würde ins Leere laufen.
28
Selent NZG 2018, 1171, 1173; J. Schmidt Der Konzern 2018, 273, 281. Bormann/Stelmaszczyk ZIP 2019, 353, 364; Bungert/Becker DB 2019, 1906, 1616; ECLE ECFR 2019, 196, 218; Habersack ZHR 18 (2018), 495, 502; Hoffmann EuZW 2018, 785, 786; Luy NJW 2019, 1905, 1906, J.Schmidt Der Konzern 2018, 273, 281; Bayer/ J.Schmidt BB 2019, 1922, 1934; Teichmann ECFR 2019, 3, 11. 30 Bungert/Becker DB 2019, 1606, 1615; Hoffmann EuZW 2018, 785, 786; J. Schmidt Der Konzern 2018, 273, 281; dies. ECFR 2019, 222, 266; Wicke DStR 2018, 2703, 2709. 31 Brandi BB 2018, 2626, 2632. Dafür, dass schon nach der alten Rechtslage eine Pflicht zur Einführung von Mitbestimmung ausreichen sollte, plädiert Cannistra Das Verhandlungsverfahren zur Regelung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei Gründung einer Societas Europaea und bei Durchführung einer grenzüberschreitenden Verschmelzung, 2014, S. 95. 32 Vgl. Teichmann in FS Hopt, 2020, 1229, 1236. 33 Vgl. Ziff. 18 des Kommissionsvorschlags (dort S. 29), der für Art. 133 Abs. 2 keine Änderung vorsieht. 34 J. Schmidt Der Konzern 2018, 273, 281; dies. ECFR 2019, 222, 265; Teichmann NZG 2018, 241, 247. 29
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d) Auffanglösung aa) Regelungsvorbild grenzüberschreitende Verschmelzung Soweit die Verhandlungspartner eine Mitbestimmungsvereinbarung abschließen, gilt das dort festgelegte Mitbestimmungsmodell. Sollten die Verhandlungen scheitern, greift eine gesetzliche Auffangregelung zum Schutz bestehender Mitbestimmungsrechte. Dies ergab sich bislang aus dem Verweis von Art. 133 Abs. 3 Buchst. h) GesRRL auf die entsprechenden Vorschriften der SE-Richtlinie. Die Auffanglösung folgt dem sog. „VorherNachher-Prinzip“. Soweit in einer der beteiligten Gesellschaften Mitbestimmungsrechte bestanden, genießen die Arbeitnehmer auch nach der Verschmelzung dasselbe Mitbestimmungsniveau, berechnet nach dem Anteil an Repräsentanten im Verwaltungs- oder Aufsichtsorgan. Allerdings kann der Zuzugsstaat den Anteil der Arbeitnehmervertreter begrenzen, wenn er dem monistischen Leitungsmodell folgt, in dem es keinen Aufsichtsrat gibt.35 Der Anteil der Arbeitnehmer darf jedoch ein Drittel nicht unterschreiten, wenn vorher ein Mitbestimmungsniveau von mindestens einem Drittel bestand (Art. 133 Abs. 4 Buchst. c) GesRRL). bb) Kommissionsvorschlag zur Mobilitätsrichtlinie Die Auffanglösung behält der Kommissionsvorschlag zur Mobilitätsrichtlinie bei. Sie wird auf alle Varianten der grenzüberschreitenden Umwandlung erstreckt (Art. 86l Abs. 3, Art. 133 Abs. 3, Art. 160n Abs. 3 GesRRLKOM). Dabei unterlief der Kommission allerdings – bewusst oder unbewusst – ein entscheidendes Versäumnis: Sie passte die Regelung nicht an den abgesenkten Schwellenwert an, der die Verhandlungspflicht in ein Stadium vorverlagert, in dem noch keine Mitbestimmung existiert.36 Sollten diese Verhandlungen scheitern, so hilft die bisherige Auffanglösung nicht weiter, weil sie ein bereits existierendes Mitbestimmungssystem voraussetzt. Die Verhandlungen, die vor Erreichen des mitbestimmungsrelevanten Schwellenwertes geführt werden, stehen also im Schatten einer Auffanglösung, die keine Mitbestimmungsrechte gewährt. Wozu das führt, kann man sich leicht ausmalen: Es wird kaum jemals zu einer Einigung kommen, weil die Auffanglösung für das Unternehmen wesentlich attraktiver ist. Dies gilt jedenfalls gerade in denjenigen Fällen, die man mit dem Absenken der Schwelle erfassen wollte, also bei Unternehmen, die das Umwandlungsverfahren zum Zwecke der Mitbestimmungsvermeidung kurz vor Erreichen der relevanten Schwellenwerte durchführen. 35
Hierzu Habersack ZHR 171 (2007), 613, 626. Zur Kritik an dieser Unstimmigkeit: Habersack ZHR 281 (2019), 495, 502; Selent NZG 2018, 1171, 1174 f.; J. Schmidt ECFR 2019, 222, 266; Teichmann NZG 2019, 241, 247. 36
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cc) Auffanglösung ohne Verhandlungen Im Verfahren der grenzüberschreitenden Verschmelzung gibt es nach bisheriger Regelung zwei Möglichkeiten, Verhandlungen selbst dann zu vermeiden, wenn grundsätzlich eine Verhandlungspflicht besteht: Die zuständigen Organe der beteiligten Gesellschaften können sich ohne vorherige Verhandlungen für die Geltung der Auffanglösung entscheiden (Art. 133 Abs. 4 Buchst. a) GesRRL). Oder das BVG beschließt mit einer doppelt qualifizierten Mehrheit den Verzicht auf Verhandlungen zu Gunsten der Mitbestimmungsregelung des Zuzugsstaates (Art. 133 Abs. 4 Buchst. b) GesRRL). Die erste Option, die dem Leitungsorgan der Gesellschaft die Entscheidung überlässt, hat der Kommissionsentwurf für die Verschmelzung zwar beibehalten, für den Formwechsel und die Spaltung aber nicht eingeführt. Diese Inkonsistenz ist wiederum kritikwürdig.37 Denn sie verzerrt ebenso wie die unterschiedlichen Schwellenwerte (s. oben III. 2. c) bb) die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Umwandlungsvariante. Ein Unternehmen, das ohne Verhandlungen für die Auffanglösung optieren möchte, könnte sich möglicherweise allein deshalb für eine Verschmelzung und gegen den Formwechsel entscheiden. Ein weiteres Manko der Regelung besteht darin, dass die Arbeitnehmer an der Entscheidung, ohne Verhandlungen die Auffanglösung zur Anwendung zu bringen, nicht beteiligt werden.38 Das BVG kann zwar seinerseits auf Verhandlungen verzichten, hat dabei aber nicht die Möglichkeit, sich für die Auffangregelung zu entscheiden; ihm bleibt nur die direkte Wahl des Mitbestimmungsrechts im Zuzugsstaat. Diese Option übernimmt der Kommissionvorschlag für alle Umwandlungsarten,39 allerdings fällt hier eine Veränderung auf: Beim Formwechsel kann sich das BVG für die Mitbestimmungsregeln des Wegzugsstaates entscheiden, während bei Spaltung und Verschmelzung das Recht des Zuzugsstaats gelten soll.40 Für diese Inkonsistenz lässt sich kein einleuchtender Grund finden. Möglicherweise handelt es sich hier lediglich um einen redaktionellen Fehler, dem keinen tieferen Erwägungen zugrunde liegen.
37 Bayer/J.Schmidt BB 2019, 1922, 1934; ebenso der Standpunkt der ICLEG (vgl. Teichmann in FS Hopt, 2020, 1229, 1237). 38 Vgl. dazu die Vorüberlegungen in der ICLEG (Teichmann in FS Hopt, 2020, 1229, 1240). 39 Art. 86l Abs. 4 lit a und Art. 160n Abs. 4 lit a Kommissionsentwurf (Art. 133 insoweit unverändert). 40 Vgl. Art. 86l Abs. 4 Buchst. a) mit Art. 160n Abs. 4 Buchst. a) GesRRL-KOM sowie mit Art. 133 Abs. 4 Buchst. b GesRRL (insoweit im Kommissionsvorschlag unverändert).
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IV. Europäisches Parlament: Genuin europäische Auffanglösung Das Europäische Parlament beschränkt sich in seiner Stellungnahme zur Mobilitätsrichtlinie (nachfolgend „GesRRL-EP“) nicht auf kosmetische Korrekturen.41 Stattdessen entwickelt es einen grundlegend neuen Ansatz: Er stärkt die Position der Arbeitnehmer durch Rechte zur Unterrichtung und Anhörung (unter 1.), entwickelt für die Mitbestimmung eine genuin europäische Auffanglösung (unter 2.) und etabliert für Fälle des späteren Wachstums der Belegschaft eine Nachverhandlungspflicht (unter 3.). 1. Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung Nach den Vorstellungen des Parlaments sollen sich die Verhandlungen, die bei einer grenzüberschreitenden Umwandlung regelmäßig zu führen sind, nicht nur auf die Mitbestimmung beziehen, sondern auch auf die Arbeitnehmerrechte zur Unterrichtung und Anhörung.42 Dabei orientiert sich das Parlament offenbar an der SE-Richtlinie. Denn diese schützt gleichfalls alle drei Formen der Arbeitnehmerbeteiligung (vgl. § 1 Abs. 2 SEBG). Dieses weite Verständnis wurde allerdings für die grenzüberschreitende Verschmelzung seinerzeit nicht übernommen (vgl. Art. 133 GesRRL). Denn aus der Verschmelzung geht eine Gesellschaft nationalen Rechts hervor, die mit ihren Betrieben dem nationalen Betriebsverfassungsrecht unterliegt. Kollisionsrechtlich greift hier das Recht am Arbeitsort der Belegschaft.43 Der Wechsel des Gesellschaftsrechts bildet insoweit keine Bedrohung und schafft auch keine Umgehungsmöglichkeiten. Der Vorschlag des Parlaments ist daher nicht vollständig durchdacht und folgt eher dem Bestreben, sukzessive ein genuin europäisches Recht der Arbeitnehmerbeteiligung zu schaffen. Der Wechsel des anwendbaren Gesellschaftsrechts liefert jedenfalls keine Begründung dafür, die betriebsverfassungsrechtlichen Mitwirkungsrechte auf eine neue Grundlage zu stellen. Insoweit ist die grenzüberschreitende Umwandlung einer Gesellschaft nationalen Rechts mit der SE nicht vergleichbar. Denn diese erhält nach Maßgabe der gesetzlichen Auffanglösung einen SE-Betriebsrat, der den ansonsten einzurichtenden Europäischen Betriebsrat ersetzt (vgl. § 47 Abs. 1 Nr. 2 SEBG). Eine derartige Abgrenzung der Regelungsmaterien (nationale vs. 41 Bericht vom 9.1.2019 über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen, A8-0002/2019 (PE625.524v03-00). Die nachfolgende Analyse stützt sich auf die englische Fassung des Berichts, da die deutsche Übersetzung in manchen Punkten fehlerhaft ist. 42 Vgl. Art. 86l Abs. 3, Art. 133 Abs. 3, Art. 160n Abs. 3 GesRRL-EP. 43 Siehe nur Preis Kollektivarbeitsrecht, 5. Aufl., 2020, Rn. 1662.
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europäische Betriebsverfassung) fehlt im Vorschlag des Europäischen Parlaments. Er würde ohne Not zu einem doppelten Regime der Unterrichtungs- und Anhörungsrechte führen, ohne für die zu erwartenden Überschneidungen mit nationalen betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen eine Lösung anzubieten. 2. Schaffung einer europäischen Auffanglösung Von Gewerkschaftsseite wird schon länger gefordert, dem mitgliedstaatlichen Flickenteppich ein Ende zu setzen und europäische Mindeststandards in der Mitbestimmung einzuführen.44 Das Europäische Parlament hat sich dies offenbar zu Herzen genommen. Denn es schlägt für grenzüberschreiende Umwandlungen eine Auffanglösung vor, die nicht mehr darin besteht, ein bestimmtes nationales Modell fortzuschreiben. Stattdessen soll die Richtlinie selbst ein genuin europäisches Mitbestimmungsniveau regeln:45 Die Arbeitnehmer erhalten demnach prinzipiell das Recht, eine gewisse Anzahl von Mitgliedern des Verwaltungs- oder Aufsichtsorgans zu wählen oder zu bestellen. In einer Gesellschaft mit mehr als 50 Arbeitnehmern wählen oder bestellen sie zwei Vertreter, bei mehr als 250 Arbeitnehmern ein Drittel und bei mehr als 1.000 Arbeitnehmern die Hälfte der Sitze. Dieser Vorschlag ist in mehrfacher Hinsicht wenig durchdacht. Wollte man tatsächlich ein europäisch einheitliches Modell schaffen, so leuchtet es nicht ein, warum dieses nur für solche Gesellschaften gilt, die zufällig einmal eine grenzüberschreitende Umwandlung durchlaufen haben. Weiterhin fehlt jede flankierende Regelung, etwa zum Wahlverfahren und zur Rechtsstellung der Arbeitnehmervertreter. Auch das Doppelstimmrecht des § 29 Abs. 2 MitbestG sucht man vergeblich, obwohl es für Deutschland schon aus verfassungsrechtlichen Gründen unerlässlich ist.46 Bei einem Vorschlag, der selbst das deutsche Modell noch übertrifft, das rechtsvergleichend bereits eine Spitzenreiterposition einnimmt, konnte das Parlament kaum auf eine Zustimmung der Mitgliedstaaten hoffen. Möglicherweise ging es nur darum, für künftige Gesetzgebungsverfahren vorsorglich einen symbolischen Pflock einzuschlagen. In dieser Hinsicht sollte man den Vorschlag nicht unterschätzen, fand er doch im Parlamentsplenum eine deutliche parteiübergreifende Mehrheit.47
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Vgl. Kluge Mitbestimmung, Nr. 3, 2018, 55. Art. 86l Abs. 3 Buchst. g (Formwechsel), Art. 160n Abs. 3 Buchst. g (Spaltung) GesRRL-EP. Für Art. 133 findet sich keine entsprechende Änderung. 46 Siehe nur Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl., 2018, § 29 MitbestG Rn. 4, sowie Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl., 2017, § 29 MitbestG Rn. 3. 47 502 Ja-Stimmen, 112 Nein-Stimmen, 9 Enthaltungen (vgl. PE633.591 vom 17.1.2019, 4). 45
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3. Nachgelagerte Verhandlungspflicht Als weitere Innovation des Mitbestimmungsschutzes schlägt das Parlament eine nachträglich wiederauflebende Verhandlungspflicht vor. Diese soll ausgelöst werden, wenn die umgewandelte Gesellschaft innerhalb von sechs Jahren nach der Umwandlung eine mitbestimmungsrelevante Schwelle des Wegzugsstaates überschreitet.48 Als Maßstab für die auszuhandelnde Arbeitnehmerbeteiligung würde in einem solchen Fall das Mitbestimmungsniveau im Wegzugsstaat dienen. Warum eine solche Nachverhandlung überhaupt noch erforderlich sein soll, wenn doch zuvor bereits bei abgesenkten Schwellenwerten eine Verhandlungspflicht bestand, die durch eine ambitionierte Auffanglösung abgesichert wurde, erschließt sich allerdings nicht. In vielen Fällen würden die nachträglichen Verhandlungen, die sich am Niveau des Wegzugsstaats orientieren, sogar zu einem geringeren Mitbestimmungsniveau im Vergleich zur europäischen Auffanglösung führen. Es ist bedauerlich, dass das Parlament durch eine derart kumulative Anordnung von Schutzinstrumenten über das Ziel hinausgeschossen ist. Denn die Nachverhandlungspflicht als solche hätte durchaus eine konsensfähige Lösung sein können.49 Den Gesellschaften, die noch unterhalb der mitbestimmungrelevanten Schwellenwerte liegen, hätte man dann ein deutlich schlankeres Umwandlungsverfahren anbieten können. Eine Verhandlung im Moment der Umwandlung wäre entbehrlich geworden. Den Arbeitnehmern würde dadurch kein Nachteil entstehen, da sie den ihnen zustehenden Schutz in dem Moment erhalten, in dem die Gesellschaft nachträglich den im Wegzugsstaat geltenden Schwellenwert überschreitet. Damit wäre die Schwachstelle des Kommissionsvorschlags behoben, der Verhandlungen ohne Auffanglösung regeln wollte. Bei einer Nachverhandlung, die erst bei einem späteren Erreichen der nationalen Schwellenwerte beginnt, kann das Mitbestimmungsstatut des Wegzugsstaates die Auffanglösung prägen. Insgesamt hätte das Instrument der nachträglichen Verhandlungen die grenzüberschreitende Umwandlung einerseits deutlich erleichtert und sie andererseits für Umgehungskonstruktionen unattraktiv gemacht.
V. Ministerrat: Zurück auf Los Der Ministerrat, in dem sich die Mitgliedstaaten vertreten finden, verfolgt in seiner Antwort auf den Kommissionsvorschlag einen diametral entgegen48
Art. 86l Abs. 8a, Art. 133 Abs. 8a, Art. 160n Abs. 8a GesRRL-EP. Zu entsprechenden Vorüberlegungen der ICLEG Teichmann in FS Hopt, 2020, 1229, 1241. 49
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gesetzten Ansatz. Selbst die vergleichsweise bescheidenen Ansätze der Kommission zur Verbesserung des Mitbestimmungsschutzes werden zurückgenommen. Die flexible 4/5-Schwelle des Kommissionsvorschlags entfällt im Ratsdokument (nachfolgend „GesRRL-RAT“).50 Stattdessen soll für alle Formen der grenzüberschreitenden Umwandlung einheitlich der Schwellenwert von 500 Arbeitnehmern gelten.51 Weiterhin korrigiert der Rat die redaktionelle Unstimmigkeit hinsichtlich der Option, ohne Verhandlungen das nationale Mitbestimmungsrecht zu wählen. Nunmehr greift bei allen Umwandlungsarten das Recht des Zuzugsstaats und nicht dasjenige des Wegzugsstaats, wenn das BVG beschließt, keine Verhandlungen durchzuführen.52 Die Inkonsistenz des Kommissionsvorschlags, wonach das Leitungsorgan nur bei der Verschmelzung für eine direkte Anwendung der Auffanglösung optieren kann, bliebt allerdings erhalten.
VI. Endfassung der Richtlinie Die Ende 2019 bekanntgemachte Richtlinienfassung (nachfolgend „GesRRL n.F.“) kehrt weitgehend zum System des Kommissionsvorschlags zurück (unter 1.). Weder die ambitionierten Vorschläge des Parlaments noch der Kahlschlag des Rates konnten sich letztlich durchsetzen. Einen Teilerfolg kann das Parlament in den Erwägungsgründen verbuchen, die möglicherweise die praktische Handhabung der Missbrauchsklausel bei Ausstellung der Vorabbescheinigung entscheidend prägen werden (unter 2.). 1. Grundkonzept des Mitbestimmungsschutzes Der Mitbestimmungsschutz der Richtlinie folgt den Grundlinien des Kommissionsentwurfes: Es gilt prinzipiell das Recht des Zuzugsstaates.53 Verhandlungen müssen aufgenommen werden, wenn die sich umwandelnde Gesellschaft eine Zahl von Arbeitnehmern beschäftigt, die 4/5 des nationalen Schwellenwertes für Mitbestimmung überschreitet.54 Diese Schwelle gilt nunmehr für alle Umwandlungsarten; insoweit konnte die Inkonsistenz des Kommissionsentwurfs behoben werden. Eine andere Inkonsistenz bleibt hingegen: Weiterhin ist es dem Leitungsorgan der Gesellschaft nur bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung möglich, sich ohne Verhandlungen für die Auffanglösung zu entscheiden. 50
Dokument ST 5401 2019 INIT vom 25.1.2019. Art. 86l Abs. 2, Art. 133 Abs. 2 (unverändert), Art. 160n Abs. 2 GesRRL-RAT. 52 Art. 86l Abs. 4 Buchst. a), Art. 133 Abs. 4 (unverändert), Art. 160n Abs. 4 Buchst. a) GesRRL-RAT. 53 Art. 86l Abs. 1, Art. 133 Abs. 1, Art. 160l Abs. 1 GesRRL n.F. 54 Art. 86l Abs. 2, Art. 133 Abs. 2, Art. 160l Abs. 2 GesRRL n.F. 51
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Art. 133 Abs. 4 Buchst. a) GesRRL n.F. weist allerdings eine bedeutsame Änderung auf: Eine direkte Anwendung der Auffanglösung ist nur noch möglich, wenn in einer der verschmelzenden Gesellschaften bereits ein Mitbestimmungssystem besteht. Es ist also nicht mehr möglich, durch einen Sprung in die Auffanglösung unmittelbar einen mitbestimmungsfreien Zustand herbeizuführen. Damit bleibt insbesondere die Verhandlungspflicht erhalten, die durch den abgesenkten Schwellenwert von 4/5 ausgelöst wird. Einen kleinen Teilerfolg konnte das Parlament verbuchen: Der zeitliche Schutz gegen nationale Umwandlungsmaßnahmen, die sich an die grenzüberschreitende Umwandlung anschließen, wurde von der Kommission auf drei Jahre angesetzt (Art. 86l Abs. 7 GesRRL-KOM). Das Parlament hatte einen Zeitraum von sechs Jahren gefordert (Art. 86l Abs. 7 GesRRL-EP). In der Endfassung wurde die Zeitdauer immerhin auf vier Jahre verlängert (Art. 86l Abs. 7 GesRRL n.F.).55 2. Missbrauchsprüfung bei Erstellung der Vorabbescheinigung Als weiteres Instrument des Mitbestimmungsschutzes tritt nach Abschluss des Trilogs die Vorabbescheinigung in den Blick. Diese ist ein wichtiges Element des gesamten Umwandlungsverfahrens. Die Vorabbescheinigung ist von der zuständigen Behörde des Wegzugsstaates auszustellen und bestätigt, dass alle Verfahren und Formalitäten im Wegzugsmitgliedstaat ordnungsgemäß erledigt worden sind (vgl. exemplarisch für den Formwechsel Art. 86m Abs. 1 GesRRL n.F.). Ohne die Vorabbescheinigung kann die Umwandlung im Zuzugsstaat nicht eingetragen werden. Auf diese Weise wachen die Behörden des Wegzugsstaates darüber, dass bei der grenzüberschreitenden Umwandlung die inländischen Schutzinteressen angemessen berücksichtigt werden. Diesen Mechanismus macht sich die Richtlinie folgendermaßen zunutze: Die Mitgliedstaaten müssen bei Umsetzung der Richtlinie sicherstellen, „dass die zuständige Behörde keine Vorabbescheinigung ausstellt, wenn im Einklang mit dem nationalen Recht festgestellt wird, dass eine grenzüberschreitende Umwandlung zu missbräuchlichen oder betrügerischen Zwecken, die dazu führen oder führen sollen, sich Unionsrecht oder nationalem Recht zu entziehen oder es zu umgehen, oder zu kriminellen Zwecken vorgenommen werden soll.“56 Diese Passage ersetzt den Formulierungsvorschlag der Europäischen Kommission, der von „künstlichen Gestaltungen“ 55 Gleichlautende Vorschriften finden sich für die Verschmelzung (Art. 133 Abs. 7 GesRRL n.F.) und die Spaltung (Art. 160l Abs. 7 GesRRL n.F.). 56 Art. 86m Abs. 8 (Formwechsel), Art. 134 Abs. 8 (Verschmelzung), Art. 160m Abs. 8 (Spaltung) GesRRL n.F. (gleichlautende Vorschriften finden sich zur Verschmelzung und zur Spaltung).
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(„artificial arrangements“) gesprochen hatte und wegen seiner Unbestimmtheit scharf kritisiert worden war.57 Die Vorschrift enthält verschiedene Varianten, die nicht alle mitbestimmungsrelevant sein dürften. So wird man bei einer gezielten Mitbestimmungsvermeidung kaum von „betrügerischen“ Zwecken sprechen können. Einschlägig sein könnte aber die Fallgruppe der Durchführung zu „missbräuchlichen Zwecken“, wenn es der Gesellschaft konkret darum geht, sich nationalen Mitbestimmungsregeln zu entziehen oder diese zu umgehen. Bei der Interpretation einer derartigen Generalklausel sind nach allgemeinen methodischen Kriterien auch die Erwägungsgründe der Richtlinie heranzuziehen. Diese bringen mehrfach zum Ausdruck, dass die grenzüberschreitende Umwandlung nicht dazu dienen soll, das nationale Mitbestimmungsniveau zu unterlaufen. Gemäß Erwägungsgrund 32 „spielen der Schutz und die Förderung der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer … eine wichtige Rolle, insbesondere wenn eine Gesellschaft grenzüberschreitend verlegt oder umstrukturiert wird. Deshalb ist der erfolgreiche Abschluss von Verhandlungen über Mitbestimmungsrechte im Kontext grenzüberschreitender Vorhaben entscheidend und sollte gefördert werden.58 Erwägungsgrund 35 konkretisiert die Vorstellungen des EU-Gesetzgebers von einer missbräuchlichen oder mit Umgehungsabsicht durchgeführten Umwandlung:59 „Unter bestimmten Bedingungen könnte das Recht von Gesellschaften, ein grenzüberschreitendes Vorhaben vorzunehmen, zu missbräuchlichen oder betrügerischen Zwecken, wie etwa zur Umgehung der Rechte der Arbeitnehmer, … benutzt werden. Insbesondere ist es wichtig, gegen ‘Scheingesellschaften’ oder ‘Strohfirmen’ vorzugehen, die gegründet werden, um sich Unionsrecht oder nationalem Recht zu entziehen, es zu umgehen oder dagegen zu verstoßen.“ Erwägungsgrund 36 erwähnt die Prüfung, welche die zuständige Behörde vor der Ausstellung der Vorabbescheinigung vorzunehmen hat:60 „Bei der Prüfung sollten auch die relevanten Tatsachen und Umstände in Bezug auf die Mitbestimmungsrechte berücksichtigt werden, insbesondere hinsichtlich Verhandlungen über solche Rechte, wenn diese Verhandlungen durch das Erreichen von vier Fünfteln des anwendbaren nationalen Schwellenwertes ausgelöst wurden.“ Der Umstand, dass die tatsächliche Verwaltung oder die wirtschaftliche Tätigkeit der Gesellschaft im Zuzugsstaat liegen, kann dabei als Anzeichen dafür gesehen werden, dass kein Missbrauch oder Betrug vorliegen.
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Siehe nur Schollmeyer NZG 2018, 977 ff. Hervorhebung durch Verf. 59 Hervorhebung durch Verf. 60 Hervorhebung durch Verf. 58
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Die Erwägungsgründe machen sehr deutlich, welche Vorstellungen den EU-Gesetzgeber bei Einführung der Missbrauchsklausel geleitet haben. Ein Missbrauch ist zumindest indiziert, wenn die Gesellschaft im Zuzugsstaat keine wesentliche Tätigkeit ausübt und dort auch nicht den Ort ihrer Hauptverwaltung ansiedelt. Besonderes Augenmerk verdient insoweit die grenzüberschreitende Umwandlung von Gesellschaften, deren Belegschaft vier Fünftel des nationalen mitbestimmungsrelevanten Schwellenwertes überschritten hat. Die Richtlinie legt hier einen gewissen Akzent darauf, dass die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen und nicht nur zum Schein geführt werden. Das bedeutet umgekehrt: Wer den Missbrauchsvorwurf vermeiden will, sollte tunlichst dafür sorgen, dass die Verhandlungen ernsthaft geführt werden und zu einem angemessenen Interessenausgleich führen. Enthält die Vereinbarung beispielsweise eine Klausel, die den Arbeitnehmern für den Fall einer späteren Überschreitung der mitbestimmungsrelevanten Schwellenwerte angemessene Mitbestimmungsrechte zusichert, dürfte der Ausstellung der Vorabbescheinigung nichts entgegenstehen.
VI. Fazit Betrachtet man die diametral gegensätzlichen Vorstellungen der EUGesetzgebungsorgane grenzt es an ein Wunder, dass die Mobilitätsrichtlinie nach nur einjähriger Verhandlungsphase erfolgreich verabschiedet werden konnte. Vermutlich ist dies einer historisch einmaligen Konstellation zu verdanken. Die Polbud-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (Rs. C-106/16) hatte Ende 2017 all jene aufgeschreckt, die sich bislang mit dem Fehlen einer sekundärrechtlichen Regelung gut arrangieren konnten. Eine ungezügelte Umwandlungsfreiheit ohne Schutzmechanismen für Minderheitsgesellschafter, Gläubiger und Arbeitnehmer erschien kaum wünschenswert. Andererseits sah sich das Europäische Parlament im Frühjahr 2019 in der Notwendigkeit, möglichst noch vor den anstehenden Neuwahlen eine Richtlinie zum Erfolg zu führen, die aus Sicht der betroffenen Schutzinteressen durchaus einiges zu bieten hat. Im Trilog konnte eine Reihe von Unstimmigkeiten des Kommissionsvorschlags beseitigt werden. Und möglicherweise hat der EU-Gesetzgeber dabei unversehens doch noch den Stein der Weisen für den Mitbestimmungsschutz gefunden. Indem die Missbrauchskontrolle an die Ausstellung der Vorabbescheinigung gekoppelt wurde, wird die Aufsicht über eventuelle Umgehungsfälle dort angesiedelt wo sie hingehört: Der jeweilige Wegzugsstaat muss sich mit der Frage befassen, ob sich ein konkreter Umwandlungsfall im Lichte der nationalen Schutzstandards, die dadurch möglicherweise umgangen werden, als missbräuchliche Ausnutzung der Umwandlungsfreiheit darstellt.
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Das Arbeitnehmerurheberrecht
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Das Arbeitnehmerurheberrecht Artur Wandtke
Das Arbeitnehmerurheberrecht – eine Baugrube in der Urheberrechtswissenschaft ARTUR WANDTKE
I. Einleitung 1993 hielt die Jubilarin einen Vortrag über „Arbeitsrechtler und andere Laien in der Baugrube des Gesellschaftsrechts“ in ihrer Antrittsrede der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Der theoretische Diskurs dieses Vortrages hat nicht an Bedeutung verloren, weil die Jubilarin Defizite in der Rechtswissenschaft aufzeigen konnte, die auch in der Urheberrechtswissenschaft festzustellen sind. Zu diesen Defiziten in der Urheberrechtswissenschaft gehört die fehlende vertiefende Untersuchung der wechselseitigen Beeinflussung unterschiedlicher Rechtsdisziplinen auf das Arbeitnehmerurheberrecht. Abgesehen davon, dass eine Ignoranz historischer Fakten in der Urheberrechtswissenschaft existiert, wonach das Urheberrecht der DDR gleichsam in der deutschen Urheberrechtsgeschichte ausgeblendet wird,1 kann man eine Einbahnstraße in der Betrachtung des Arbeitnehmerurheberrechts feststellen. Das Arbeitnehmerurheberrecht ist eine Baugrube in der Urheberrechtswissenschaft. Selbst in der Europäischen Union ist ein Stillstand hinsichtlich eines Arbeitnehmerurheberrechts feststellbar.2 Es gibt keine Regelung im AEUV und im EUV für ein einheitliches Arbeitnehmerurheberrecht.3 Die Jubilarin weist eindringlich auf das wechselseitige Zusammenspiel zwischen Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung unterschiedlicher Rechtsdisziplinen hin. Das Zusammenspiel zwischen Urheber- und Arbeitsrecht hat eine lange Geschichte. Beide Rechtsgebiete werden durch technische Erfindungen, die selbst das Ergebnis geistiger Produktion sind, beeinflusst. Ein sichtbares Zeichen der technologischen Entwicklung ist die Software, die Digitalisierung und die „Künstliche Intelligenz“, die unterschiedliche Auswirkungen auf die geistigen Arbeits- und Konsumtionsprozessen haben werden.4 Während das Urheberrecht den Urheber von Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst 1
Hoeren GRUR 2015, 825. Schwab Arbeitnehmererfindungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 1 Rn. 10. 3 Klass GRUR 2019, 1103 (1104). 4 Jakl MMR 2019, 711 ff.; Bergwitz NZA 2019, 1339 ff. 2
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schützt,5 erfasst das Arbeitsrecht im Kern die abhängige Arbeit6 und damit Arbeitsverhältnisse zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Obwohl in den Legislaturperioden seit 1965 verschieden Reformen auf dem Gebiet des Urheberrechts umgesetzt wurden, um die Urheber und ausübenden Künstler in ihrer Rechtsstellung zu stärken, vermochte es der Gesetzgeber nicht, das Arbeitnehmerurheberrecht im Rahmen des Urhebervertragsrechts, das in nur einem § 43 UrhG vage ausgestaltet ist,7 zu ändern.8 Denn das geltende Urhebervertragsrecht entspricht in seinem Inhalt und seiner rechtssystematischen Struktur noch der analogen Welt.9 Selbst die bedeutende Richtlinie 2019/790/EU über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt (Urheberrechts-Richtlinie) enthält keine Regelung zum Arbeitnehmerurheberrecht.10 Der Wunsch ist bisher nicht in Erfüllung gegangen, eine europäische Lösung des Arbeitnehmerurheberrechts voranzutreiben. Völlig ausgeblendet hat der europäische Gesetzgeber die Tatsache, dass gut drei Viertel der abhängig Beschäftigten künstlerische und andere schöpferische Leistungen erbringen.11 Hervorzuheben ist die Tatsache, dass im Arbeits- und Dienstverhältnis Arbeitsleistungen erbracht werden, die einen kumulativen immaterialgüterrechtlichen Schutzkanon eines gleichen Arbeitsergebnisses aufweisen. Der Arbeitnehmer kann Urheber und Designer in einer Person sein. Das betrifft z.B. ein Design12 oder eine Marke,13 die zugleich urheberrechtlichen Schutz genießen können. Langfristig geht es um Rechtsgrundsätze, die den Wert der geistigen Arbeit anerkennen.
II. Rechtseinräumung 1. Schöpferprinzip Für das Arbeitnehmerurheberrecht ist von Bedeutung, dass es von den Voraussetzungen des Werkschutzes nach § 2 Abs. 2 UrhG ausgeht und mit der Harmonisierung des Werkbegriffs durch den EuGH eine Lücke in der 5
Bullinger in Wandtke/Bullinger, Urheberrecht, 5. Aufl. 2019, § 1 Rn. 1. Schack Urheber- und Urhebervertragsrecht, 9. Aufl. 2019, Rn. 113; Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2018, § 1 Rn. 7. 7 Klass GRUR 2019, 1113. 8 Becker in Deinert/Heuschmid/Zwanziger Arbeitsrecht, 10. Aufl. 2019, § 57 Rn. 62. 9 Wandtke GRUR 2015, 831 (832). 10 Im Erwägungsgrund 72 der Urheberrechts-Richtlinie 2019/790/EU wird einschränkend darauf hingewiesen, dass das Schutzbedürfnis für bestimmte Arbeitsverträge ausgeschlossen ist. 11 Schack (o. Fn. 6), Rn. 1113; Klass GRUR 2019, 1103. 12 EuGH GRUR 2019, 1185 (1186) – Cofemel/G-Star. 13 BGH ZUM-RD 2019, 518 (521) – Das Omen. 6
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Rechtsanwendung geschlossen wurde. Der Werkbegriff ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts, der einheitlich auszulegen und anzuwenden ist und zwei Tatbestandsmerkmale aufweist.14 Er gilt in der Auslegung und Anwendung auch für die Arbeits- und Dienstverhältnisse. Historisch betrachtet, ist es interessant, dass die dogmatische Rechtskonstruktion des Arbeitnehmerurheberrechts mit der Kommentierung des § 3 LUG und § 5 KUG verbunden war.15 Jedenfalls wurde nicht bestritten, dass die natürliche Person durch das geschaffene Werk der Literatur, Wissenschaft und Kunst Urheber sein kann. Das RG16 und der BGH17 haben die Schöpfung durch eine natürliche Person als Schutzvoraussetzung anerkannt. Das BAG hat sich dem angeschlossen.18 Die Vorbereitungen eines neuen Urheberrechtsgesetzes waren langwierig, bis es 1965 in Kraft trat, weil unklar war, wie die Regelung für Arbeitnehmer als Urheber aussehen sollte. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand die Frage, ob der Arbeitgeber originärer Inhaber des Urheberrechts sein kann. Davon hatte sich der Gesetzgeber schließlich getrennt und das Schöpferprinzip einheitlich auf die natürliche Person als Urheber angewandt, unabhängig davon, welches Rechtsverhältnis vorliegt. 2. Monistische Theorie Europäisch und international betrachtet, ist das Arbeitnehmerurheberrecht ein Minenfeld, da sich zwei Systeme mit unterschiedlichen Prinzipien gegenüberstehen. Während beim Copyright-System utilitaristische Begründungsansätze und ökonomische Erwägungen im Vordergrund stehen, ist das System Kontinentaleuropas persönlichkeitsrechtlich und naturrechtlich geprägt.19 Letztere gilt für Deutschland. Die Konsequenz dieser Rechtsposition bedeutete, dass der Urheber als Arbeitnehmer originärer Inhaber der Urheberpersönlichkeits- und der Vermögensrechte ist. Das Urheberrechtsgesetz von 1965 hat geklärt, dass der Arbeitnehmer oder der Beamte mit der Schaffung eines Werkes originärer Inhaber des Urheberrechts und nicht der Arbeitgeber kraft Gesetz ist.20 Die monistische Theorie stand Pate. Sowohl 14 EuGH GRUR 2019, 1185 (1186) – Cofemel/G-Star; EuGH GRUR 2019, 73 – Levola Hengelo/Smilde Foods BV; EuGH GRUR 2019, 934 (936) – Afghanistan-Papiere. Die deutsche Rechtsprechung muss künftig die beiden Tatbestände prüfen. Es muss ein Original im Sinne einer eigenen geistigen Schöpfung und ein mit hinreichender Genauigkeit und Objektivität identifizierbarer Gegenstand sein, der die Persönlichkeit zum Ausdruck bringt. Rechtlich nicht relevant ist die subjektive Schönheitsempfindung des Betrachters. 15 Wandtke GRUR 2015, 831 (832). 16 RGZ 108, 44 (45) – Lichtbilder von Bildhauerarbeiten. 17 BGH GRUR 1952, 257 (258) – Krankenhauskartei. 18 BAG NJW 2019, 3016 (3018) – MTV-Zeitschriften; BGH ZUM 2000, 686 (688); BAG GRUR 1961, 491 (492) – Nahverkehrskronik. 19 Klass GRUR 2019, 1103 (1104). 20 BT-Drs. IV/270, S. 10.
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das Urheberrecht der DDR21 als auch der BRD sind von der monistischen Theorie ausgegangen mit der Folge, dass der Arbeitgeber die Nutzungsrechte durch den Arbeitsvertrag oder stillschweigend eingeräumt erhält.22 Dennoch sind Unterschiede hinsichtlich der Ausgestaltung des Arbeitnehmerurheberrechts feststellbar. Das Arbeitnehmerurheberrecht wurde mit Einschränkungen durch das Arbeitsrecht begründet und im § 43 UrhG zementiert, obwohl kein sachlicher Grund existiert, der eine derartige Einschränkung rechtfertigt. a) Erwerb der Nutzungsrechte Die Gretchenfrage ist zu beantworten, warum innerhalb der Arbeitnehmerurheber Unterschiede gemacht werden. Das europäische Recht nennt nur hinsichtlich der Computerproduktion eine Ausnahme, wonach in Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie über Computerprogramme dem Arbeitgeber alle wirtschaftlichen Rechte zugewiesen werden. In Umsetzung dieses Artikels der Richtlinie hat der deutsche Gesetzgeber in § 69b UrhG die Entscheidung getroffen, dass ausschließlich der Arbeitgeber zur Ausübung aller vermögensrechtlichen Befugnisse an dem Computerprogramm berechtigt ist, es sei denn, es ist vertraglich etwas anderes vereinbart worden.§ 69b UrhG ist lex specialis gegenüber § 43 UrhG.23 Das gilt auch für Datenbanken.24 Während nach § 43 UrhG eine individualvertragliche Einräumung der Nutzungsrechte den Vorrang hat, verbleiben beim Urheber des Computerprogramms nur die Urheberpersönlichkeitsrechte. Sie spielen aufgrund des kurzlebigen Charakters des Computerprogramms kaum eine Rolle. Unabhängig davon, wie § 69b UrhG dogmatisch betrachtet wird, als cessio legis oder als gesetzliche Lizenz, wie der BGH25 annimmt, bleibt der Grundsatz des Schöpferprinzips.26 Insofern liegt dem deutschen Urheberrecht nicht die Konzeption „works made for hire“ zugrunde, wonach das US-amerikanische Urheberrecht dem Arbeitgeber originär das Recht zuweist.27 Auch der EuGH hat sich für das kontinentaleuropäische Droit d`auteur-System entschieden.28 Deutlich wird dies im Zusammenhang mit der Filmproduktion als arbeitsteilige Produktion. Selbst der Filmhersteller, der ein besonderes System der Vorteile bei der Einräumung der Nutzungsrechte und der Urheberpersön21
Wandtke in Wandtke/Bullinger (o. Fn. 5) EVr, Rn. 63. Klass GRUR 2019, 1103 (1106). 23 Grützmacher in Wandtke/Bullinger (o. Fn. 5), § 69b UrhG, Rn. 1. 24 Klass GRUR 2019, 1103 (1104). 25 BGH GRUR 2002, 149 (152) – Wetterführungspläne II; BGH GRUR 2001, 155 (157) – Wetterführungspläne I. 26 EuGH GRUR 2019, 73 (74) – Levola Hengelo/Smilde Foods BV; EuGH GRUR 2009, 1041 (1042) – Infopaq/DDF. 27 Nordemann, A. in Fromm/Nordemann Urheberrecht, 12. Aufl. 2018, § 10 Rn. 62b. 28 EuGH ZUM 2012, 313 – Luksan/van de Let. 22
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lichkeitsrechte hat, ist der Filmhersteller -anders als der Filmhersteller in den USA- nicht originärer Inhaber der Urheberrechte.29 Die Forderung im Schrifttum, das angloamerikanische „copyright law“ nicht in ein europäisches Urheberrecht einfließen zu lassen, kann nur unterstützt werden.30 Die Arbeitsrechts- und Urheberrechtswissenschaft könnten ein abgestimmtes Konzept entwickeln, um den Interessen der Urheber und Arbeitgeber gerecht zu werden. Bedauerlich ist, dass der Versuch, ein Arbeitsvertragsgesetzbuch zu verabschieden, gescheitert ist.31 In § 104 des Arbeitsvertragsgesetzes heißt es: „Stellt der Arbeitnehmer in Erfüllung seiner Arbeitsaufgabe oder während der Arbeitszeit oder mit Mitteln des Betriebs ein urheberrechtlich geschütztes Werk her, so hat der Arbeitgeber das Recht, das Werk ausschließlich zu nutzen. Dasselbe gilt, wenn das Werk maßgeblich auf Erfahrungen oder Arbeiten des Betriebs beruht; in diesem Fall schuldet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine angemessene Vergütung. Bei der Veröffentlichung eines Werkes ist der Arbeitnehmer als Urheber zu nennen, es denn, es ist etwas anderes vereinbart oder die Nennung ist unüblich.“ Der Vorschlag spielte in der Urheberrechtswissenschaft keine Rolle. Interessant ist, dass der Vorschlag an die Rechtskonstruktion des § 69b UrhG anknüpft, soweit es den Erwerb der Nutzungsrechte betrifft. Es wäre also durchaus möglich, dem Arbeitgeber diejenigen Nutzungsrechte derivativ ex lege zuzuweisen, soweit es dem Betriebszweck entspricht.32 Darüber hinaus ist eine Einschränkung der Urheberpersönlichkeitsrechte durch den Arbeitgeber nach der Vorsehbarkeitslehre denkbar, wonach bestimmte Einschränkungen vorher festgelegt werden, z.B. eine Änderungsbefugnis des Arbeitgebers.33 b) Arbeits- und Tarifvertrag In der Praxis spielt das Individualarbeitsrecht eine bedeutende Rolle. Die Arbeitsverträge gehören zu den unvollständigen Verträgen.34 Denn es reicht nicht aus, nur die Arbeitsaufgabe mit den urheberrechtlich relevanten Werken, sondern auch den Inhalt und Umfang der Nutzungsrechte zu vereinbaren, die dem Arbeitgeber übertragen werden, unabhängig davon, ob ein befristeter oder unbefristeter Arbeitsvertrag vorliegt. Gerade im Kulturbereich ist der Missbrauch von Kettenverträgen feststellbar, wenn kein sachlicher Grund für die Befristung vorliegt.35 29
EuGH ZUM 2012, 313 (315) – Luksan/van de Let. Schack (o. Fn. 6), Rn. 143. 31 Wandtke in Wandtke/Bullinger (o. Fn. 4), § 43 Rn. 2. 32 Schack (o. Fn. 6), Rn. 1115; Klass GRUR 2019, 1103 (1106). 33 Klass GRUR 2019, 1103 (1109). 34 Windbichler in FS Zöllner, Bd. II, 1998, S. 999, 1002. 35 EuGH NJW 2019, 748 (750) – Sciotto/Teatro dell`Opera di Roma. 30
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Neben dem Individualarbeitsrecht spielen in der Urheberrechtsverwirklichung vor allem die Tarifverträge in der Kulturwirtschaft eine Rolle.36 Das sind vor allem die Bereiche, die durch einen komplexen arbeitsteiligen Werkschaffens- und Verbreitungsprozess bestimmt werden. So sind Tarifverträge im Film- und Fernsehbereich oder in der Theaterproduktion vorhanden. Die vorhandenen Tarifverträge bilden das Gegenstück zu den gemeinsamen Vergütungsregelungen für die selbständigen Urheber nach §§ 36 ff. UrhG.37 Beide bilden mit ihren urheberrechtlich relevanten Regelungen das kollektive Urheberrecht. Soweit Tarifverträge zu beurteilen sind, enthalten sie Regelungen über die Ausgestaltung des Inhalts und Umfangs der Einräumung von Nutzungsrechten und des Urheberpersönlichkeitsrechts. Die im Tarifvertrag enthaltenen Urheberrechtsklauseln stellen zunächst Mindestnormen dar, die unmittelbare und zwingende Wirkungen auf die privatrechtlich organisierten Arbeitsverhältnisse haben. Diese Klauseln weisen auf die Rechteinräumung hin, sind aber nicht selbst Inhalt des Arbeitsvertrages. Der Grund liegt im Wesen der urheberrechtlichen Einräumung der Nutzungsrechte als Verfügungsgeschäft, was der Tarifvertrag gerade nicht ist. Wie das sachenrechtliche Übereignungsgeschäft ist auch die urheberrechtliche Verfügung an das Bestimmtheitsgebot gebunden.38 Die Parteien des Tarifvertrages sind nicht die Parteien des urheberrechtlichen Verfügungsgeschäftes im Arbeitsvertrag. Der Tarifvertrag als Gesetz ändert daran nichts.39 Die tarifrechtliche Urheberrechtsklausel wirkt dann konstitutiv, wenn im Arbeitsvertrag ein Hinweis auf die tarifrechtliche Regelung erfolgt. Denn die Konkretisierung der Rechtseinräumung erfolgt im Arbeitsvertrag. Der Tarifvertrag kann zur Auslegung herangezogen werden, wenn der Arbeitnehmerurheber nicht der Tarifbindung unterliegt. Bei Unklarheiten über den Inhalt und Umfang der Rechtseinräumung kann der Übertragungszweckgrundsatz des § 31 Abs. 5 UrhG herangezogen werden.40 Jedenfalls hat das BAG entschieden, dass der Arbeitsvertrag nicht eine zusätzliche Vergütung ausschließen kann, wenn der Tarifvertrag die zusätzliche urheberrechtliche Vergütung verbindlich vorsieht. Es liegt dann ein Verstoß gegen das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG vor, und die arbeitsrechtliche Klausel ist dann unwirksam.41 Umgekehrt gilt es natürlich auch, wenn der Arbeitsvertrag eine günstigere urheberrechtliche Vergütung im Verhältnis zum Tarifvertrag enthält.
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Leidl Gemeinsame Vergütungsregeln und Tarifverträge, 2019, S. 11. Wandtke/Grunert/Hollenders in Wandtke/Bullinger (o. Fn. 5), § 36 Rn. 6. 38 A.A. Rehbinder/Peukert Urheberrecht, 17. Aufl. 2015, Rn. 1017. 39 Ebenda, Rn. 1017. 40 Wandtke GRUR 2015, 831 (837). 41 BAG NJW 2019, 3016 (3018) – MTV-Zeitschriften. 37
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III. Angemessene Vergütung 1. Abgeltungstheorie Handlungsbedarf besteht für den nationalen und europäischen Gesetzgeber vor allem hinsichtlich der urheberrechtlichen Vergütung. Die Rechtslage ist nach § 43 UrhG unübersichtlich. Im Schrifttum wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass die Abgeltung der eingeräumten Nutzungsrechte durch die arbeitsrechtliche Entlohnung erfolgt.42 Eine Theorie, die auf dem ersten Blick einleuchtend erscheint. Dennoch gibt es erhebliche dogmatische und rechtspolitische Gründe, die die Abgeltungstheorie in einem anderen Licht erscheinen lassen. Ein Argument ist, dass die Urheber in Arbeits- und Dienstverhältnissen in gesicherten Eigentumsverhältnissen leben. Deshalb seien sie nicht so schutzbedürftig wie die freien Urheber.43 Welche Folgen eine derartige Rechtsauffassung haben kann, wird durch den europäischen Gesetzgeber noch unterstrichen. Der europäische Gesetzgeber ist der Auffassung, dass Art. 18 (Anspruch auf eine angemessene Vergütung)44 und Art. 20 (Anspruch auf eine weitere Beteiligung) keine Anwendung finden.45 Eine Begründung liefert der europäische Gesetzgeber nicht. Abgesehen davon, dass dieser Ausschluss von urheberrechtlichen Vergütungsansprüchen in Bezug auf den Schutzgedanken des Art. 17 Abs. 2 der GrundrechteCharta verfassungsrechtlich bedenklich ist,46 ist nicht klar, warum Urheber unterschiedlich behandelt werden. Den Anspruch auf eine angemessene Vergütung nach § 32 UrhG für Urheber von Computerprogrammen auszuschließen, ist nicht überzeugend. 47Auch der BGH sieht neben dem Arbeitsentgelt keinen gesonderten Vergütungsanspruch, es sei denn, es würde ein außerordentlicher Erfolg einen Beteiligungsanspruch nach § 32a UrhG rechtfertigen.48 Es ist nicht einsichtig, warum Arbeitnehmer von Computerprogrammen schlechter gestellt werden sollen als andere Urheber im Arbeits- und Dienstverhältnis. 42 Schack (o. Fn. 6), Rn. 1122; Rojahn in Schricker/Loewenhein Urheberrecht, 6. Aufl. 2019, § 43 Rn. 64; Dreier in Dreier/Schulze Urheberrecht, 6. Aufl. 2018, § 43 Rn. 30; Lindhorst in Möhring/Nicolini Urheberrecht, 4. Aufl. 2018, § 43 Rn. 22; Nordemann, A. in Fromm/Nordemann Urheberrecht (o. Fn. 26), § 43 Rn. 58; Klass GRUR 2019, 1103 (1111); Rehbinder/Peukert Urheberrecht (o. Fn. 38), Rn. 1037. 43 Nordemann, A. in Fromm/Nordemann Urheberrecht (o. Fn. 27), § 43 Rn. 58. 44 Diese Norm entspricht im Wesentlichen § 32 UrhG; Dreier GRUR 2019, 771 (777); Wandtke NJW 2019, 841 (842); Peifer ZUM 2019, 648 (650); Schulze GRUR 2019, 682 (684). 45 Art. 20 der Urheberrechts-Richtlinie entspricht im Wesentlichen § 32a UrhG; Wandtke NJW 2019, 1841 (1842). 46 Würtenberger/Freischem GRUR 2019, 1140 (1165). 47 Schack (o. Fn. 6), Rn. 1121. 48 BGH GRUR 2002, 149 (152) – Wetterführungspläne II.
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2. Trennungstheorie In Erwägungsgrund 72 der Urheberrechts-Richtlinie von 2019 wird dagegen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Urheber und ausübende Künstler in der Regel eine schwächere Verhandlungsposition haben. Das trifft auch häufig auf die Urheber und ausübenden Künstler in Arbeits- und Dienstverhältnissen zu. Denn der europäische Gesetzgeber sieht nur bei „bestimmten Arbeitsverträgen“ kein Schutzbedürfnis, ohne zu begründen, welche Arbeitsverträge darunter zu verstehen sind. Bedauerlich ist, dass in Vorbereitung der Umsetzung der Urheberrechts-Richtlinie die Auffassung vertreten wird, dass der angestellte Urheber (Journalist) im Zusammenhang mit dem Leistungsschutzrecht der Presseverleger keinen Anspruch auf Beteiligung hat, sondern derselbe mit dem Arbeitsentgelt abgegolten ist.49 Abgesehen davon, dass die schwierige wirtschaftliche Situation der Journalisten durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ausgeblendet wird, wird der dogmatische Charakter der urheberrechtlichen Vergütung verkannt. Der nationale und europäische Gesetzgeber sollte aber im Gegensatz zur Abgeltungstheorie einen direkten Zusammenhang zwischen der angemessenen Vergütung und dem tatsächlichen und potentiellen Wert der Rechte herstellen.50 Im Kern geht es nicht um die Arbeitsleistung als solche,51 sondern um die Verwertung der urheberrechtlichen Werke. Hierin ist auch der tiefere Sinn der Trennungstheorie zu sehen.52 Während die Abgeltungstheorie davon ausgeht, dass mit dem Arbeitsentgelt die Nutzungsrechte an dem urheberrechtlich relevanten Arbeitsergebnis abgegolten sind,53 wird mit der Trennungstheorie ein Unterschied zwischen dem Arbeitsentgelt (Lohn und Gehalt) und der urheberrechtlichen Vergütung gemacht. Dafür gibt es mehrere dogmatische und rechtspolitische Gründe, unabhängig davon, ob der Tarifvertrag nach § 32 Abs. 4, § 36 Abs. 1 S. 3 UrhG die Angemessenheit der Vergütung der Urheber bestimmt.54 Erstens: Zunächst sei darauf hingewiesen, dass das RG und später der BGH den Grundsatz aufgestellt haben, dass der Urheber tunlichst an der Verwertung seiner Werke zu beteiligen ist.55 Dies ist auch in Auslegung des Art. 14 GG verfassungsrechtlich anerkannt,56 und wird vom EuGH bestä49
Würtenberger/Freischem GRUR 2019, 1140 (1152); Jani ZUM 2019, 674 (681). Erwägungsgrund 73 der Urheberrechts-Richtlinie 2019/790/EU. 51 Vogelsang in Schaub Arbeitsrechtshandbuch, 18. Aufl. 2019, § 9 Rn. 5. 52 Leidl (o. Fn. 36), S. 87. 53 Schack (o. Fn. 5), Rn. 1121; Rehbinder/Peukert Urheberrecht (o. Fn. 38), Rn. 37. 54 BAG NJW 2019, 3016 (3017) – MTV-Zeitschriften. 55 RGZ 113, 413 (415) – Der Thor und der Tod; RGZ 140, 231 (234) – Tonfilm; BGH GRUR 1955, 492 – Grundig-Reporter; BGH GRUR 2016, 67 – GVR Tageszeitungen II. 56 BVerfG GRUR 2018, 829 (830) – Verlegeranteil; BVerfG GRUR 2014, 169 (172) – Übersetzerhonorare. 50
Das Arbeitnehmerurheberrecht
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tigt.57 Die grundsätzliche Zuordnung der vermögensrechtlich relevanten Ergebnisse der schöpferischen Leistung an den Urheber sowie die Freiheit, in eigener Verantwortung darüber zu verfügen und seine Leistung wirtschaftlich zu angemessenen Bedingungen verwerten zu können, genießen den Schutz des Eigentumsrechts; sie machen den grundsätzlichen Kern des Urheberrechts aus.58 Dieser verfassungsrechtliche Grundsatz ist neben den freien und abhängigen Urhebern und Künstlern zwingende Grundlage von Nutzungsverträgen und Arbeitsverträgen. Ein Ausschluss oder eine Einschränkung dieses Verfassungsgrundsatzes kann nicht aus dem „Inhalt oder dem Wesen eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses“ nach § 43 UrhG abgeleitet werden. Das BAG sieht das offensichtlich auch so, wenn es feststellt, dass § 12 Nr. 7 Abs. 2 MTV Zeitschriften nur die tätigkeitsbezogene Arbeitsleistung mit dem Arbeitsentgelt erfasst. Eine weitergehende Nutzung stellt sich nicht als Gegenleistung zu der erbringenden Arbeitsleistung dar.59 Das BAG weist damit auf den wesentlichen Unterschied zwischen dem Arbeitsentgelt und der urheberrechtlichen Vergütung nach § 32 UrhG hin. Zweitens: § 43 UrhG orientiert sich nicht am Arbeitsaufwand oder an der erbrachten Leistung oder am sozialrechtlichen Prinzip der Alimentierung nach Bedürftigkeit.60 Die Anwendung des § 43 UrhG setzt die Existenz eines produzierten Werkes oder dessen Teile der Wissenschaft, Literatur und Kunst voraus, um es im Sinne der §§ 31 ff. UrhG nutzen zu können. Ohne Vorhandensein eines Werkes sind die urheberrechtlichen Verwertungsmöglichkeiten des Arbeitgebers ausgeschlossen. Vergleichbar ist dieser Prozess im Zusammenhang mit der Herstellung eines Werkes auf der Grundlage eines Werkvertrages. Mit der Abnahme des Werkes durch den Besteller ist dieser verpflichtet, den Werklohn für den eingetretenen „Erfolg“ zu entrichten.61 Durch Arbeit oder Dienstleistung kann der Erfolg nach § 631 Abs. 2 BGB herbeigeführt werden. Der Werklohn ist nicht mit der Vergütung des § 32 UrhG gleichzusetzen.62 Drittens: Vertreter der Abgeltungstheorie verkennen die Unterschiede zwischen dem Wesen des Lohnanspruchs des Arbeitnehmers und dem Nutzungsentgelt des Urhebers. Die Vergütungspflicht des Arbeitgebers nach § 611 Abs. 1 BGB knüpft allein an die Leistung der versprochenen Dienste, also an jede im Synallagma vom Arbeitgeber verlangten Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt. Arbeit ist dabei nicht nur jede Tätigkeit, sondern auch vom
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EuGH GRUR 2013, 812 (816) – VG Wort/Kyocera. BVerfG GRUR 2014, 169 (172) – Übersetzerhonorare. 59 BAG NJW 2019, 3016 (3018) – MTV-Zeitschriften. 60 Wandtke GRUR 2015, 831 (837). 61 BGH NJW 2002, 1572 f. 62 Leidl (o. Fn. 36), 85; BGH GRUR 2019, 609 (615) – HHole for Mannheim. 58
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Arbeitgeber veranlasste Untätigkeit.63 Demgegenüber knüpft die urheberrechtliche Vergütung nach § 32 UrhG an die Einräumung der Nutzungsrechte und der tatsächlichen Werknutzung. Der Arbeitslohn oder das Gehalt haben einen anderen Sachverhalt zum Gegenstand. Bei der Lohnfindung ist die menschliche Arbeitsleistung Maß der Entlohnung. Die Quantifizierung der Arbeitsleistung ergibt sich wiederum aus dem Schwierigkeitsgrad und dem Zeitwert. Das Gehalt ist wiederum eine Erscheinungsform des Zeitlohns. Hierbei spielen die Eingruppierungsunterlagen eine bedeutende Rolle.64 Das Arbeitsverhältnis als Dauerschuldverhältnis ist auf den Austausch von Arbeitsleistung gegen Lohn gerichtet.65 Wird das urheberrechtlich geschützte Werk nicht vom Arbeitgeber abgenommen oder wird dasselbe nicht vom Arbeitnehmer geschaffen, entfällt zwar ein urheberrechtlicher Vergütungsanspruch, nicht aber ein Anspruch auf den Arbeitslohn.66 Viertens: Der Vergütungskonzeption der §§ 32, 32a UrhG liegt nicht der branchenübliche Zeit- und Arbeitsaufwand zugrunde, wie dies bei der Werkvergütung nach §§ 631, 632 BGB der Fall ist.67 Die Werkvergütung knüpft an die Herstellung oder Veränderung einer Sache oder an durch Arbeit oder Dienstleistung herbeigeführten Erfolg. Wird also die Realisierung eines individuellen künstlerischen Einbaus eines Kunstwerkes in das Bauwerk vereinbart, sind die Vorschriften des Werkvertragsrechts anzuwenden.68 Die Werkvergütung ist insofern von der urheberrechtlichen Vergütung zu unterscheiden, als sie nicht an die Nutzung von Rechten anknüpft. Wer im Auftrag eine Komposition oder einen Entwurf fertigstellt, ein Bild malt oder andere Werke der Literatur, Wissenschaft oder Kunst schafft, ohne dem Besteller hieran Nutzungsrechte einzuräumen, hat in der Regel einen Anspruch auf Vergütung nach § 632 BGB, nicht hingegen nach § 32 UrhG.69 Fünftens: Die unterschiedliche Vergütungsebene wird besonders anhand der Beendigung des Arbeits- und Dienstverhältnisses deutlich sichtbar. Nach Auffassung des BGH wirkt das unbeschränkte Nutzungsrecht auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses fort.70 Als Gegenleistung für die Nutzung entsteht ein urheberrechtlicher Vergütungsanspruch im nachwirkenden Schuldverhältnis.71 Nach der hier vertretenen Auffassung bedeutet das, dass bei einer Nutzung des Werkes als Verfügungsgeschäft nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Gegenleistung ein urheberrechtlicher 63
BAG NJW 2016, 2359 (2361). BAG AfP 2006, 288 (290). 65 Schwab Arbeitnehmererfindungsrecht (o. Fn. 2), § 1 Rn. 116. 66 Bayreuter GRUR 2003, 570 (571). 67 BVerfG GRUR 2014, 169 (174) – Drop City. 68 BGH GRUR 2019, 609 (616) – HHole for Mannheim. 69 Schulze in Dreier/Schulze, Urheberrecht (o. Fn. 42), § 32 Rn. 7. 70 BGH GRUR 1985, 129 – Elektrodenfabrik. 71 Schwab Arbeitnehmererfindungsrecht (o. Fn. 2), § 1 Rn. 116. 64
Das Arbeitnehmerurheberrecht
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Vergütungsanspruch nach §§ 32, 32a UrhG entsteht.72 Der Arbeitgeber würde sich ohne Rechtsgrund bereichern, wenn eine Nutzung des Werkes durch einen Dritten erfolgt und der Arbeitgeber dafür eine Lizenzvergütung erhalten würde, ohne mit dem ausgeschiedenen Urheber eine Vereinbarung abgeschlossen zu haben. „Selbst ein hohes Gehalt rechtfertigt grundsätzlich nicht die unentgeltliche Verwertung früherer Werke des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber.“73 Die Auffassung, wonach mit dem Ende des Arbeitsvertrages die Nutzung des Werkes oder die Leistung des ausübenden Künstlers ohne einen Vergütungsanspruchs fortgesetzt werden kann,74 widerspricht dem urheberrechtlichen Leitgedanken des § 11 S. 2 UrhG.75 In einigen Tarifverträgen sind vergütungsrechtliche Urheberrechtsklauseln aufgenommen worden, die sowohl während des Bestehens oder nach Beendigung des Arbeitsvertrages gelten.76 Sie belegen die Trennung zwischen dem Arbeitsentgelt und der urheberrechtlichen Vergütung.77 Das BAG hat den urheberrechtlichen Vergütungsanspruch MTV-Zeitschriften nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausdrücklich bestätigt.78 Das Arbeitsentgelt kann nicht derart umgedeutet werden, dass es auch für die gesamte Schutzfrist gelten soll, wenn der Arbeitgeber nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Werk weiterhin nutzt.79
IV. Schluss Da eine Reform des Arbeitnehmerurheberrechts nach über fünfzig Jahren notwendig erscheint, wäre es gerechtfertigt, § 43 UrhG zu ändern und damit eine wichtige Baugrube zu beseitigen. Der urheberrechtlichen Praxis sollte der Gesetzgeber Rechnung tragen. Es würde dem europäischen und deut72 Klass GRUR 2019, 1103 (1108). Sie ist der Auffassung, dass nur § 32a UrhG als Bestsellerparagraf im Arbeits- und Dienstverhältnis anwendbar ist. 73 BGH GRUR 1985, 129 (130) – Elektrodenfabrik. 74 Schack (o. Fn. 6) Rn. 1122. 75 Nach § 11 S. 2 UrhG soll die angemessene Vergütung gesichert werden. Das Prinzip der angemessenen Vergütung hat Leitbildfunktion. Siehe Schulze in Dreier/Schulze Urheberrecht (o. Fn. 42), § 11 Rn. 8. 76 So ist im Manteltarifvertrag Redakteure in § 12 Abs. 7 eine Vergütung nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses geregelt. Im Tarifvertrag für auf Produktionsdauer Beschäftigte des WDR ist die Wiederholungsvergütung im Abschnitt II, Ziff. 23 f. aufgenommen worden. 77 Leidl (o. Fn. 36), 83. 78 BAG NJW 2019, 3016 (3018) – MTV-Zeitschriften. Auch MTV-Tageszeitungen enthält in § 17 Abs. 6 eine Regelung, wonach ein Redakteur bei einer weitergehenden Nutzung seiner Werke auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch auf eine zusätzliche Vergütung hat, z.B. Übertragung von Nutzungsrechten auf Dritte und die Nutzung in Buchform. 79 So aber Schack (o. Fn. 6), Rn. 1122.
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schen Gesetzgeber gut zu Gesichte stehen, wenn endlich der Bedeutung der Wissenschafts-, Literatur- und Kunstproduktion im Rahmen der kulturellen Vielfalt und Innovation Rechnung getragen wird. So wie das Urheberrecht keine Behinderung des Arbeitsrechts ist, sollte auch das Arbeitsrecht innerhalb einer einheitlichen Rechtsordnung zur Durchsetzung der Interessen der Arbeitnehmerurheber und Künstler sowie der Arbeitgeber dienen. Der europäische Gesetzgeber ist aufgefordert, den Arbeitnehmerurheber und Künstler in künftigen Reformen des Urheber- und Arbeitsrechts auf dem Gebiet des urheberrechtlichen Vergütungssystems zu berücksichtigen. Denn das urheberrechtliche Vergütungssystem hat eine Anreiz- und Belohnungsfunktion, die die Urheber im Streben nach neuen Werken unterstützen.
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Arbeitnehmermitwirkung in der EU – quo vadis?
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Arbeitnehmermitwirkung in der EU – quo vadis? Manfred Weiss
Arbeitnehmermitwirkung in der EU – quo vadis? MANFRED WEISS
I. Einleitung Ein international ausgreifender Kurzbeitrag im Schnittfeld von Arbeitsund Gesellschaftsrecht ist der Versuch, thematisch der beeindruckenden Bandbreite des wissenschaftlichen Werks von Christine Windbichler wenigstens einigermaßen gerecht zu werden. Arbeitnehmermitwirkung in der Europäischen Union ist darüber hinaus eine Thematik, mit der sich der Autor dieser Skizze nicht nur mehrere Jahrzehnte akademisch auseinandergesetzt hat, sondern bei der er mit höchst unterschiedlichem Erfolg auch in die Bemühungen um deren Gestaltung eingebunden war. Diese Erfahrungen haben immerhin dazu verholfen, Möglichkeiten und Grenzen des Machbaren in diesem umstrittenen Bereich deutlicher zu erkennen. Arbeitnehmermitwirkung hat Konjunktur. In der immer weiter anschwellenden Debatte um die Regulierung digitaler Arbeit ist zunehmend die Rede vom „cooperative turn“, womit gemeint ist, dass Akzeptanz für die Einführung und den Gebrauch digitaler Technologie nur erreicht werden kann, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmervertreter gemeinsam damit befasst sind. Die von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) eingesetzte hochrangige Global Commission on the Future of Work hat in ihrem Anfang 2019 zum 100jährigen Jubiläum der IAO erschienenen und inzwischen viel beachteten und diskutierten Bericht „Work for a Brighter Future“ sich dafür eingesetzt, „to extend stakeholder representation“1. Nun ist Arbeitnehmermitwirkung – sei es in der Betriebsverfassung oder im Rahmen der Unternehmensverfassung – in der Europäischen Union (EU) ja beileibe nichts Neues. In einer Reihe von Mitgliedstaaten ist Arbeitnehmermitwirkung institutionalisiert, wenn auch in ganz unterschiedlicher Ausprägung2. Was die Betriebsverfassung angeht, variieren die Systeme vor 1 Work for a brighter future – Global Commission on the Future of Work, International Labour Office, Geneva ILO 2019, 49. 2 Für die Vielfalt der Unternehmensmitbestimmung vgl. etwa die Beiträge in T. Baums/ P. Ulmer Unternehmens-Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Recht der EU-Mitgliedstaaten. Employees´Co-determination in the Member States of the European Union. Beihefte der Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Nr. 72, 2004 und
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allem hinsichtlich der Intensität der Mitwirkung, des Verhältnisses von betrieblicher Arbeitnehmervertretung und gewerkschaftlicher Repräsentation, der Zusammensetzung der Gremien der Arbeitnehmervertretung, der Ebenen und der Gegenstandsbereiche der Mitwirkung sowie der rechtlichen Absicherung der Arbeitnehmervertreter. Bei der Unternehmensmitbestimmung variieren die Strukturen vor allem in der Ausgestaltung der Rechtsformabhängigkeit, den ganz verschiedenen Schwellenwerten, den durch dualistische und monistische Gesellschaftsformen implizierten Unterschieden, der Einbeziehung externer Gewerkschaftsvertreter, den unterschiedlichen Wahlverfahren, der Rechtsstellung der Arbeitnehmervertreter und insbesondere dem Zahlenverhältnis der Arbeitnehmervertreter zu Aktionärsvertretern. In der nachfolgenden Skizze soll gezeigt werden, wie der europäische Gesetzgeber bislang mit dieser Materie verfahren ist und welche Lehren aus den bislang gemachten Erfahrungen gezogen werden können, um dann zu überlegen, ob und wie über den status quo hinaus die Arbeitnehmermitwirkung in der EU ausgebaut werden kann. Dabei soll nicht auf Details eingegangen, sondern nur die den Regelungsspielraum allgemein eröffnenden und begrenzenden Kriterien herausgearbeitet werden.
II. Grundlinien und Motivation europäischer Gesetzgebung Die Europäische Union hat das Nebeneinander von antagonistisch auf Konflikt programmierten und eher kooperativ angelegten Systemen der Arbeitsbeziehungen zu Gunsten des letzteren Modells aufgelöst und dafür mit einer Reihe von Richtlinien die Weichen gestellt. Arbeitnehmermitwirkung3 ist so zu einem zentralen Strukturelement des europäischen Sozialmodells geworden. Neben den Einzelfragen betreffenden Regelungen zur Information und Konsultation aus den Siebziger- und Achtzigerjahren geht es dabei vor allem um Richtlinien aus jüngster Zeit, die alle weitgreifende Auswirkungen für die Struktur der Arbeitsbeziehungen in Europa haben: die Richtlinie über Europäische Betriebsräte4 von 1994, die Richtlinie zur Ergänzung des neuerdings in J. Weddington (ed.) European Board-Level Employee Representation. National Variations in Influence and Power, 2018. 3 Zur Einschätzung dieser Richtlinien im einzelnen vgl. M. Weiss Arbeitnehmermitwirkung. Kernelement des Europäischen Sozialmodells, Industrielle Beziehungen, 2006, 5 ff. 4 Richtlinie 94/45/EG des Rates über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen vom 22.9.1994, ABl. 1994 L 254/64, geändert durch Richtlinie 2009/38/EG vom 6.5.2009, ABl. 2009, L 122/28.
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Statuts der Europäischen Gesellschaft5 hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer von 2001, die Richtlinie zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Genossenschaft6 hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer von 2003, die Richtlinie über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten7 von 2005 und die Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der EG8 von 2002. Dass die EU sich zur europaweiten Stärkung der Arbeitnehmermitwirkung aufgeschwungen hat, lag nicht nur daran, dass es dafür eine ausdrückliche Gesetzgebungskompetenz im Vertrag gab, sondern war vor allem darin begründet, dass kooperative Strukturen im Vergleich mit rein antagonistisch ausgerichteten Systemen unbestreitbare Vorteile haben. Herausragend sind dabei die Konfliktabsorption und die Bildung gegenseitigen Vertrauens durch permanenten Dialog. Gerade bei Einführung technologischer Innovationen, die mit der Gefahr von Arbeitsplatzverlust oder zumindest De-qualifikation verbunden sind, hat sich gezeigt, wie sehr die Akzeptanz solcher Entscheidungen gesteigert wird, wenn Arbeitnehmervertreter daran beteiligt sind. Das ist der Hauptgrund, weshalb der erwähnte „cooperative turn“ bei der Digitalisierung der Arbeitswelt in der Debatte um die Regulierung eine so große Rolle spielt. Ein weiterer wichtiger Effekt ist die Ablösung kurzfristigen Schielens auf Börsenreaktionen zu Gunsten einer langfristigen Perspektive. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Wie segensreich das durch die Kooperation aufgebaute gegenseitige Vertrauen für Wirtschaft und Arbeitnehmer seine Wirkung entfaltet, hat sich besonders augenfällig in Deutschland gezeigt, als es während der globalen Finanzkrise schnell und vielfältig zu Vereinbarungen kam, mit denen Entlassungen vermieden und statt dessen Kurzarbeitsmodelle entwickelt wurden, die die Belegschaften zusammenhielten und nach Beendigung der Krise der deutschen Wirtschaft einen Startvorteil verschafft haben, der noch viele Jahre nachgewirkt hat. Für das deutsche System der Arbeitnehmermitwirkung hat besonders eindrücklich vor allem der von der Bertelsmann Stiftung und der Hans Böckler Stiftung gemeinsam herausgegebene Bericht der von beiden Stiftun5 Richtlinie 2001/86/EG des Rates zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer vom 8.10.2001, ABl 2001 L 294/22. 6 Richtlinie 2003/72/EG des Rates zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Genossenschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer vom 22.7.2003, ABl 2003 L 207/25. 7 Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten vom 26.10.2005, ABl 2005 L 310/1. 8 Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft vom 11.3.2002, ABl. 2002 L 80/29.
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gen eingerichteten Kommission Mitbestimmung9 die positiven Auswirkungen dokumentiert. Demzufolge ließen sich negative wirtschaftliche Auswirkungen der Mitbestimmung nicht feststellen. Vielmehr favorisiert das aus Betriebsverfassung und Aufsichtsratsmitbestimmung bestehende System der Arbeitnehmermitwirkung langfristige Investitionsperspektiven, was die im internationalen Vergleich hohe Investitionsrate der mitbestimmten deutschen Wirtschaft erklärt. Sie befördert eine Organisationskultur, die zwar langwierige Konsultationsprozesse impliziert, aber dadurch eben auch „dramatische Fehlentscheidungen“ vermeidet. Der Bericht unterstreicht die Anpassungsfähigkeit der Mitbestimmung an neue Gegebenheiten, die Vielfalt der zu beobachtenden Mitbestimmungskulturen und verweist auf den pragmatischen Umgang mit den gesetzlich vorgegeben Strukturen.10 Und er betont die aktive Unterstützung des Strukturwandels durch dieses System, die „kooperative Modernisierung“, ebenso wie darauf, dass die Mitbestimmung die soziale Integration der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter befördert. Lapidar wird festgestellt, dass sich „die ideologischen Debatten noch der siebziger Jahre über die Vereinbarkeit von Mitbestimmung mit Marktwirtschaft und Privateigentum“11 erschöpft haben. Kurzum: Es waren die empirisch gut erforschten, unbestreitbaren Vorzüge kooperativer Modelle, die die EU zum Einschreiten bewogen haben.
III. Lehren aus bisherigen Erfahrungen Es sind vor allem zwei Konstellationen gewesen, aus denen für die europäische Gesetzgebung im Bereich der Arbeitnehmermitwirkung für künftige Regelungen wichtige Schlussfolgerungen gezogen werden können und müssen: die Information und Konsultation der Arbeitnehmer im transnationalen Kontext und die Arbeitnehmermitwirkung in den Gremien der Europäischen Aktiengesellschaft (SE). In beiden Fällen hat die über das ausschließliche Gesetzesinitiativrecht verfügende Kommission Irrwege eingeschlagen, die fundamentaler Korrektur bedurften, um letztendlich zum Erfolg zu führen. Dem Anliegen, Arbeitnehmermitwirkung bei transnational agierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen auch dann zum Zuge kommen zu lassen, wenn Entscheidungen nicht dezentral, sondern an der Spitze getroffen werden, hat die Kommission im Jahre 1980 versucht, durch den nach dem damals für Arbeit und Soziales zuständigen Kommissar benannten Vredeling Vorschlag12 gerecht zu werden. Dieser Entwurf verzichtete auf 9 Bertelsmann Stiftung/Hans-Böckler-Stiftung Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen – Bilanz und Perspektiven, 1998. 10 Ebenda, 55 ff. und 98 ff. 11 Ebenda, 31. 12 ABl. 1980, C/297.
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eine im transnationalen Entscheidungszentrum angesiedelte Arbeitnehmervertretung. Träger der Informations- und Konsultationsrechte sollten ausschließlich bereits existierenden Arbeitnehmervertreter im jeweiligen nationalen Kontext sein. Als Gesprächspartner der Arbeitnehmervertreter im Konzernverbund waren demzufolge nicht das Mutter-, sondern die Tochterunternehmen vorgesehen. Das Mutterunternehmen hatte lediglich dafür zu sorgen, dass den Tochterunternehmen, die für die Erfüllung er in dem Vorschlag enthaltenen Informations- und Konsultationspflichten erforderlichen Auskünfte gegeben wurden. Wichtig ist dabei, dass der Gegenstandsbereich der Unterrichtung und Anhörung in dem Vorschlag ebenso detailliert festgelegt war wie das dabei einzuhaltende Verfahren. Neben einer einmal jährlich zu erfüllenden Informationspflicht über Materien, die im deutschen Sprachgebrauch als wirtschaftliche Angelegenheiten bezeichnet würden, war ein besonderes Informations- und Konsultationsverfahren in Fällen vorgesehen, die nach deutschem Sprachgebrauch wohl als Betriebsänderungen zu bezeichnen wären. Dieses besondere Informations- und Konsultationsverfahren war so ausgestaltet, dass die Arbeitnehmervertreter die jeweils geplante Entscheidung bis zu dreißig Tagen blockieren konnten. Die Konzernspitze wurde verpflichtet, die Informationen, die die Töchter zur Erfüllung ihrer Pflichten benötigten, diesen vorab zur Verfügung zu stellen. Sie wiederum traf die Pflicht, über das Ergebnis der Konsultationen an das Mutterunternehmen zu berichten. Dieser Vorschlag stieß auf erbitterten Widerstand. Hauptangriffspunkt waren die konkreten Vorgaben zum Gegenstandsbereich und Verfahren der Informations- und Konsultationspflicht und das dreißigtägige Moratorium. Daran änderte auch eine Überarbeitung des Vorschlags13 nichts. Es stellte sich schnell heraus, dass der Vorschlag nicht die geringste Realisierungschance hatte. Mitte der Achtzigerjahre wurde er aus dem Verkehr gezogen. Damit schien für viele an dieser Debatte Beteiligte jede weitere Bemühung um transnationale Verankerung von Information und Konsultation im Transnationalen Kontext aussichtlos. Neuen Auftrieb bekam die Diskussion um einen ungeachtet des Scheiterns des Vredeling Vorschlags neuen Regelungsversuch durch die 1989 von elf der damals 12 Mitgliedstaaten angenommene, zwar rechtlich unverbindliche, aber politisch durchaus gewichtige Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer14. Dort wurde in Art. 17 die Weiterentwicklung der „Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer… insbesondere für Unternehmen und Unternehmenszusammenschlüsse mit Betriebsstätten bzw. Unternehmen in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft“ angemahnt. Der dadurch entstandenen Regelungs13 14
ABl. 1983, L/217. Abgedruckt in R. Birk Europäisches Arbeitsrecht, 1990, 43 ff.
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druck zwang die Kommission, einen neuen Anlauf zu nehmen, der schließlich in die 1994 verabschiedete Richtlinie über Europäische Betriebsräte (EBR) mündete. Sie bediente sich dabei für die Vorarbeiten einer Expertengruppe, der auch der Autor dieser Skizze angehörte. Im hier diskutierten Kontext geht es nicht um die in dieser Richtlinie enthaltenen Details, sondern lediglich darum, was sie vom Vredeling Vorschlag so unterscheidet, dass der Widerstand gebrochen und sie durchgesetzt werden konnte. Das Geheimnis ist der Paradigmenwechsel von substanzieller Regelung hin zu Prozeduralisierung. Statt im Einzelnen vorzugeben, worüber, wie oft und in welcher Weise informiert und konsultiert werden muss, überlässt die Richtlinie praktisch alles den Verhandlungen und beschränkt sich im Wesentlichen auf die Festlegung, wer die Akteure dieser Verhandlungen sein sollen (das Besondere Verhandlungsgremium und die Zentrale des transnational agierenden Konzerns bzw. Unternehmens). Nur für den Fall, dass die Arbeitgeberseite Verhandlungen verweigert bzw. trotz Verhandlungen nach bestimmter Zeit immer noch kein Ergebnis zustande kommt, wird eine Auffanglösung vorgegeben, in der detailliert geregelt ist, wie der Europäische Betriebsrat auszusehen hat, mit welchen Rechten er ausgestattet ist und welche Pflichten die Arbeitgeberseite treffen. Funktional ist diese Auffanglösung als Drohpotential zu verstehen, das nur zum Einsatz kommt, wenn die Verhandlungspartner nicht im Wege von Verhandlungen zu einem aus ihrer Sicht für sie besseren Ergebnis gelangen. Dieser prozedurale Mechanismus hat sich bestens bewährt. Bei der inzwischen großen Zahl Europäischer Betriebsräte musste nur in verschwindend wenigen Fällen auf die Auffanglösung zurückgegriffen werden. Ganz ohne substanzielle Vorgaben kommt die Richtlinie allerdings nicht aus, man denke etwa nur an die nicht zur Disposition der Verhandlungspartner stehende Vorschrift zur Geheimhaltung. Als Lehre, die aus diesem Beispiel zu ziehen ist, kann festgehalten werden, dass europäische Regelungen zur Arbeitnehmermitwirkung angesichts der Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten mit substanziellen Eingriffen äußerst zurückhaltend umgehen müssen. Prozeduralisierung sorgt für die nötige Flexibilität und die Möglichkeit der Anpassung der europarechtlichen Vorgaben an das jeweils ganz unterschiedliche Umfeld der Arbeitsbeziehungen im jeweiligen Land. Hat die Kommission mit dem Vredeling Vorschlag verkannt, was im europäischen Kontext in Sachen Arbeitnehmermitwirkung machbar ist, erweist sich dieser Irrweg noch harmlos im Vergleich zu der Fehlleistung, die sie sich im Bereich der Unternehmensmitbestimmung geleistet hat. Gemeint ist der erste Vorschlag eines Statuts der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) von 197015 und der erste Vorschlag einer Fünften Richtlinie über die 15
ABl. 1970, C/124.
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Struktur der Aktiengesellschaft von 197216. Beide Entwürfe waren mit demselben Fehler behaftet: Sie versuchten ein und dasselbe Modell einer Arbeitnehmervertretung (nämlich eine Mischung aus deutschem und niederländischem System) den übrigen Mitgliedstaaten aufzuzwingen. Dabei hätten die Unternehmen bei der ja nur als Option vorgesehenen SE immerhin dieser ausweichen und beim jeweiligen nationalen Gesellschaftsrecht verbleiben können, nicht aber bei der auf Harmonisierung angelegten Strukturrichtlinie. Dass beide Entwürfe schroffe Ablehnung erfuhren, ist ebenso wenig verwunderlich wie die Tatsache, dass aus dem in der Strukturrichtlinie angedachten System einer Verankerung der Arbeitnehmermitwirkung im nationalen Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten bis heute nichts geworden ist und auch künftig wohl nichts werden wird. Positiv an diesen realitätsfremden Entwürfen war, dass sie eine überaus kontrovers geführte Diskussion innerhalb der Gemeinschaft provozierten, in der das Bewusstsein nicht nur für die gravierenden Unterschiede des Gesellschaftsrechts der einzelnen Mitgliedstaaten, sondern vor allem auch die Verschiedenheit der Systeme der Arbeitsbeziehungen (von den Gewerkschaftsstrukturen über die Tarifautonomie und der Ausgestaltung des Streikrechts), in die die Arbeitnehmermitwirkung eingebunden war oder worden wäre, ins Bewusstsein der Akteure hob. Das dieser Thematik gewidmete Grünbuch der Kommission vom Jahre 197517 ließ einen ersten Lernerfolg erkennen. Allerdings führte das dann nur dazu, dass 1983 ein neuer Entwurf für die Fünfte Richtlinie18 vorgelegt wurde, der den Mitgliedsstaaten nicht mehr nur ein einziges Modell der Arbeitnehmermitwirkung vorschrieb, sondern in einer Art Cafeteria-System Optionen anbot, die jedoch – wie sich bald herausstellte – sich immer noch als viel zu starr erwiesen. Je mehr sich die Einsicht durchsetzte, dass die europarechtliche Etablierung von gleichförmiger Arbeitnehmermitwirkung im nationalen Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten illusorisch ist, desto intensiver wurden die Bemühungen um eine Wiederbelebung der Mitbestimmung in der SE. Dementsprechend enthielt das Weißbuch der Kommission zur Vollendung des Binnenmarkts von 198519 eine darauf ausgerichtete Zielvorstellung. Dann überschlugen sich die Ereignisse: 1987 drängte der Rat die Kommission, das Projekt beschleunigt in Angriff zu nehmen, worauf diese 1988 ein die Regelungsprobleme skizzierendes Memorandum präsentierte und schließlich 1989 einen neuen Entwurf20 vorlegte, der die Arbeitnehmermitwirkung nicht mehr im Statut der SE platzierte, sondern in eine Richtlinie auslagerte, 16
Dok. Kom. (1972) 887. EWG Bulletin Beilage 8/75. 18 Auszugsweise abgedruckt in R. Birk (op.cit.), 400 ff. 19 Kom. Dok. 310/85. 20 ABl. 1989, C/263. 17
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die sich inhaltlich weitgehend an das Cafeteria-System des Entwurfs zur Fünften Richtlinie aus dem Jahre 1983 anlehnte. Doch auch dieses Regelungsangebot sollte sich schnell als immer noch viel zu starr und deshalb nicht durchsetzbar erweisen. Erst die in der Richtlinie über Europäische Betriebsräte angewandte Strategie der Prozeduralisierung brachte die Wende. Mit einem Male erschien das Projekt machbar. Die 1996 zur Erarbeitung eines Entwurfs von der Kommission eingesetzte und vom früheren Vizepräsidenten der Kommission Etienne Davignon geleitete Expertengruppe präsentierte schon nach einem Jahr einen Bericht für die Etablierung der Mitbestimmung in der SE, der sich am Modell der Richtlinie über Europäische Betriebsräte orientierte, einer Verhandlungslösung mit Auffangnetz. Gestritten wurde danach nur noch über die Ausgestaltung dieses Auffangnetzes, doch der Weg für die schließlich 2001 verabschiedete Richtlinie war geebnet. Die mit den Entwürfen zur Arbeitnehmermitwirkung in der SE und in dem gescheiterten Projekt einer das nationale Gesellschaftsrecht umgestaltenden Richtlinie sind besonders lehrreich. Es kann keine Einheitslösung geben, weil Arbeitnehmermitwirkung von Land zu Land in ein jeweils anderes Umfeld der Arbeitsbeziehungen eingebunden ist. Die Interaktion mit dem Tarifvertragswesen und den Konfliktlösungsstrukturen einschließlich des Streikrechts fällt jeweils anders aus. Die jeweilige institutionelle Ausprägung der Arbeitsbeziehungen ist so sehr historisch und kulturell bedingt, dass sie nicht einfach zur Disposition gestellt werden kann. Deshalb ist es schon gar nicht möglich, die institutionelle Ausgestaltung der Arbeitnehmermitwirkung eines Staates oder der Mischform der Systeme zweier Staaten anderen Mitgliedstaaten aufoktroyieren zu wollen. Dies ursprünglich versucht zu haben, war in hohem Grad naiv und weltfremd. Versucht man ein Fazit aus den gerade gewonnen Einsichten zu ziehen, ist augenfällig, dass nur Regelungskonzepte, die den Mitgliedstaaten ausreichend Anpassungsflexibilität bieten, eine Chance auf Realisierung haben. Eine Hauptaufgabe des europäischen Gesetzgebers besteht darüber hinaus darin, dafür zu sorgen, dass bei transnationalen Aktivitäten der Unternehmen und Konzerne das bereits existierende Mitbestimmungsniveau in den Mitgliedsstaaten möglichst erhalten wird. Wie essentiell diese Notwendigkeit gerade von Staaten mit hohem Mitbestimmungsniveau gesehen wird, haben nicht zuletzt die erbitterten Auseinandersetzungen um die Auffanglösung bei der SE gezeigt.
IV. Grundfreiheiten und Unternehmensmitbestimmung Obigen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass dem Regelungsspielraum des europäischen Gesetzgebers im Bereich der Unternehmensmitbe-
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stimmung ungeachtet der Gesetzgebungskompetenz deutliche Grenzen gesetzt sind. Eine darüber hinaus nicht zu vernachlässigende Schranke bilden die Grundfreiheiten, die nicht nur bei europarechtlicher Regelung eine Rolle spielen, sondern sogar gegen den status quo in den einzelnen Mitgliedstaaten in Stellung gebracht werden. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit überzeugender Begründung die Behauptung zurückgewiesen, dass das deutsche System der Mitbestimmung gegen die Freizügigkeit verstoße, weil die bei Töchtern in anderen Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer eines deutschen Konzerns bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter des Aufsichtsrats im Mutterunternehmen nicht zugelassen sind21. Für die Regelung der Unternehmensmitbestimmung im transnationalen Kontext hat sich die Niederlassungsfreiheit als wichtige Schranke erwiesen. So hat der EuGH im Hinblick darauf die Flucht aus der Unternehmensmitbestimmung dadurch begünstigt, dass er von der langen Zeit als zutreffend angenommenen Sitztheorie abrückte und wegen der Niederlassungsfreiheit der Gründungstheorie den Vorzug gab. Danach soll das Gesellschaftsrecht des Landes einschließlich der Mitbestimmung Anwendung finden, in dem das Unternehmen gegründet wird22. Seinen Sitz kann es dann in jedem anderen Land der EU wählen, ohne dass sich für das Gesellschaftsrecht eine Änderung ergibt. Durch eine neuere Entscheidung hat der EuGH einem polnischen Unternehmen sogar gestattet, eine grenzüberschreitende Verlegung mit Formwechsel nach luxemburgischen Recht vorzunehmen und den Sitz nach wie vor in Polen zu belassen23. Dass damit die Furcht vor dem Delaware Effekt innerhalb der EU geschürt wird, verwundert nicht. Dieses Spannungsfeld zwischen Niederlassungsfreiheit und den Erhalt des in einem bestimmten Land erreichten Mitbestimmungsniveaus spielt nun bei der Novellierung der Richtlinie zur grenzüberschreitenden Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen eine entscheidende Rolle.24 Um einen tragfähigen Kompromiss wird erbittert gerungen. Ob dann die Richtlinie bei Überprüfung durch den EuGH Bestand haben wird, ist schwer vorauszusagen.
21
EuGH Urteil vom 18.7.2018, (C-566/15 (Konrad Erzberger/TUI AG). Grundlegend die Entscheidungen EuGH vom 9.3.1999 – Rs. C-212/97, Slg. 1999, I1459 ff. (Centros); EuGH vom 5.11.2002 – Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 ff. (Überrseering); EuGH vom 30.9.2003 – Rs. C-167/01 (Inspire Art). 23 Urteil des EuGH vom 25.10.2017, RS C 106/16 (Polbut), EuZW 2017, 906 ff. 24 Vgl. den Vorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen (COM (2018) 0241 – C8-0167/2018 – 2018/0114(COD)). 22
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V. Reformforderungen Sichtet man die Vielzahl der vor allem vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) erhobenen Reformforderungen, geht es zum einen um punktuelle Verbesserungen insbesondere der EBR Richtlinie und der Richtlinie zur Arbeitnehmermitwirkung in der SE und zum anderen um eine über die bisherigen Einzelrichtlinien hinausweisenden, sehr viel allgemeineren Reformansatz. Die Novellierung der EBR Richtlinie im Jahre 2009 hat im Wesentlichen nur die bis dahin ergangene Rechtsprechung des EuGH aufgenommen, viele Forderungen der Gewerkschaftsseite blieben indessen unbeachtet. Gefordert wird u.a. die verbindliche Festlegung von Sanktionen bei Verstößen gegen die Informations- und Konsultationspflichten und eine präzisere Definition der Konsultationspflicht sowie das Verbot, Entscheidungen vor abgeschlossener Konsultation zu treffen. Im Katalog der Forderungen findet sich auch die Absenkung der Schwellenwerte und die Reduzierung des Zeitrahmens für die Verhandlungen. Gefordert wird schließlich eine Ombudsstelle für Konflikte zwischen EBR und zentraler Leitung, eine Art freiwilliger Mediation, die auch helfen soll, Streitigkeiten um die Interpretation der in der Richtlinie und den geschlossenen Vereinbarungen verwandten Begriffe beizulegen24. Bei der Richtlinie zur Arbeitnehmermitwirkung in der SE geht es vor allem um die Forderung nach Schließung von Schlupflöchern, die die jetzige Fassung bietet. So soll die Möglichkeit sog. Vorratsgesellschaften, die im Gründungsstadium keine Arbeitnehmer haben und deren Unternehmenszweck auf „Halten und Verwalten eigenen Vermögens“ gerichtet ist, ausgeschaltet werden. Diese Vorratsgesellschaftenn stellen Mäntel zur Verfügung, die zum Zwecke wirtschaftlicher Aktivierung von Unternehmen erworben werden können, die sich so die bürokratischen Voraussetzungen der Gründung der SE ersparen. Damit kann die Arbeitnehmermitwirkung unterlaufen werden, was allerdings umstritten ist. Die Forderung zielt auf eine Klarstellung in der Verordnung über das Statut der SE, wodurch die Eintragung arbeitnehmerloser Vorratsgesellschaften als SE gänzlich untersagt wird. Ein zweites Problemfeld liegt darin, dass (vor allem deutsche) Unternehmen sich an einer SE beteiligen, so lange ihre Arbeitnehmerzahl unter dem für die Unternehmensmitbestimmung relevanten Schwellenwert liegt. Das dann auf dieser Grundlage für die SE verhandelte oder über die Auffangregelung oktroyierte Mitbestimmungsmodell bleibt auch dann unverändert, wenn die Arbeitnehmerzahl so steigt, dass die Schwellwerte erreicht wer24 Vgl. das Gesamtpaket in EGB, Positionspapier: Für einen modernen Europäischen Betriebsrat (EBR) im digitalen Zeitalter, Malta 16.3.2017.
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den. Hier zielt die Forderung darauf ab, durch Novellierung dieses Mal der Richtlinie solchem Einfrieren der Nicht- oder Minimalmitbestimmung zu begegnen und zumindest bei gravierenden Veränderungen eine Verhandlungspflicht zu statuieren. Was nun die über das Punktuelle hinausgehende allgemeine Forderung angeht, forder der EGB „einen neuen Rahmen für mehr Demokratie bei der Arbeit“. 25 Gemeint ist damit ein höchst ambitioniertes Projekt, nämlich eine „Richtlinie zur Einführung einer neuen und integrierten Architektur für die Beteiligung der Arbeitnehmer in den europäischen Gesellschaftsformen“. Die solchermaßen anvisierte Überwindung der Bindung an bestimmte Rechtsformen soll mitwirkungsfreie Zonen unmöglich machen. Und mit „integriert“ ist gemeint, gleichzeitig „hohe Standards zu Unterrichtung und Anhörung (zu) setzen und ehrgeizige Mindeststandards zur Unternehmensmitbestimmung“ einzuführen. Die geforderte Richtlinie soll auf dem bestehenden Besitzstand aufbauen und zum einzigen und „übergreifenden Bezugsrahmen“ in grenzüberschreitenden Situationen werden. Der EGB sieht darin „eine wirklich europäische Vision“, um „die Lücken, Schlupflöcher und Unstimmigkeiten im EU Besitzstand zu beseitigen und dadurch Anreize für Missbrauch und Umgehung zu reduzieren“. Über Einzelheiten der geforderten Richtlinie erfährt man in der Entschließung wenig, Grenzüberschreitende Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren sollen sinnvoll mit den Mitwirkungsrechten auf lokaler Ebene verknüpft sowie wirksame und abschreckende Sanktionen bei Verstößen eingeführt werden. Und im Hinblick auf die Unternehmensmitbestimmung finden sich konkrete Forderungen zum Status der Arbeitnehmervertreter ebenso wie zu deren Ausstattung den notwendigen Ressourcen zur Bewältigung ihrer Aufgaben. Ob dieser Forderungskatalog Realisierungschancen hat, sei dahingestellt. Zu konstatieren ist erst einmal, dass diese Forderungen schon seit geraumer Zeit erhoben werden, sich aber bislang nichts bewegt hat. Immerhin kann ein Passus der im März 2017 von der Kommission vorgelegten und im November 2017 auf dem Göteborger Gipfel als gemeinsame Erklärung der Kommission, des Europäischen Parlaments und des Ministerrats verabschiedete Europäische Säule sozialer Rechte (ESsR) als Weckruf für den weiteren Ausbau der Arbeitnehmermitwirkung gelesen werden. Dort heißt es „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ihre Vertretungen haben das Recht auf rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung in für sie relevanten Fragen, insbesondere beim Übergang, der Umstrukturierung und der Fusion von Unternehmen und bei Massenentlassungen“26. Die Formulie25
Entschließung des EGB-Exekutivausschusses vom 21./22.10.2014. Europäische Säule Sozialer Rechte, Luxemburg 2017, Kapitel 2: Faire Arbeitsbedingungen Nr. 8. 26
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rung legt allerdings nahe, dass dabei an Unternehmensmitbestimmung nicht gedacht ist. Am ehesten dürften sich die skizzierten Einzelforderungen verwirklichen lassen. Es geht ja jeweils nur um Effizienzsteigerung der ohnehin schon bestehenden Regelungen. Kompetenzprobleme sind nicht ersichtlich. Allerdings dürfte mit Widerstand zu rechnen sein. Man erinnere sich nur an die mit der Einführung von Sanktionen bei Verstößen im Kontext der Richtlinie über einen Rahmen der Information und Konsultation gemachten Erfahrungen. Dort waren sie im Entwurf enthalten, mussten aber aus der Endfassung wieder gestrichen werden. Ob die Überlebenschancen heute größer sind, ist zu bezweifeln. Gleiches dürfte auch für andere Einzelforderungen gelten. Ob der vom EGB geforderte übergreifende Bezugsrahmen Chancen auf Realisierung hat, ist im Hinblick auf die rechtsformunabhängige Unternehmensmitbestimmung und den ehrgeizigen Mindeststandard noch erheblich schwieriger zu beantworten. Kompetenzfragen sind zwar auch hier nicht ersichtlich. Zweifellos wäre es zu begrüßen, wenn Missbrauchs- und Umgehungsmöglichkeiten versperrt würden. Und selbstverständlich wäre der Idee der Arbeitnehmermitwirkung gedient, wenn für alle grenzüberschreitenden Unternehmen und Konzerne ein ehrgeiziger Mindeststandard festgeschrieben würde. Angesichts den bei der erbittert geführten Auseinandersetzung um die Auffanglösung im Kontext der SE gemachten Erfahrungen, die schließlich in die „Alles oder Nichts“-Formel einmündeten, wird ersichtlich, wie sehr dadurch nationale Traditionen berührt sind, die sich nur schwer beiseiteschieben lassen. Deshalb überwiegt deutlich die Skepsis, was die Realisierungschancen dieses ambitionierten Vorhabens angeht.
VI. Perspektiven Erinnert sei noch einmal an die große Diversität der Arbeitnehmermitwirkung in den Mitgliedstaaten und daran, dass institutionalisierte Strukturen im Unternehmen von der Betriebsverfassung bis hin zur Unternehmensmitbestimmung nur eine Möglichkeit sind, den Arbeitnehmern Einfluss auf Unternehmensentscheidungen zu verschaffen. Funktionale Äquivalente wie ein weitgreifendes Tarifvertragsrecht und ein stark ausgebautes Streikrecht können dieselbe Funktion erfüllen27. Und oft ist es eine Kombination all dieser Faktoren. Diese Gemengelage ist von Land zu Land verschieden, was selbstverständlich Auswirkungen auf die Ausgestaltung der jeweiligen Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung hat. 27 Vgl. dazu A. Hassel/S. von Verschuer/N. Helmerich Workers‘ Voice And Good Corporate Governance, 2018, 40 ff.
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Für den europäischen Gesetzgeber bedeutet das, dass EU-weite Harmonisierung der Arbeitnehmermitwirkungssysteme nicht in Betracht kommen kann. Der mit der Richtlinie über einen Rahmen der Information und Konsultation eingeschlagene Weg, für den nationalen Bereich nur eine minimalinvasive Angleichung vorzunehmen und soweit als irgend möglich die national vorgegebenen Strukturen unberührt zu lassen, sollte weiter verfolgt werden. Das Regelungsobjekt für den europäischen Gesetzgeber sind transnational agierende Unternehmen und Konzerne. Hier ist die Aufgabe zum einen, bei transnational sich auswirkenden Entscheidungen effiziente Mitwirkung der Arbeitnehmer sicherzustellen, und zum anderen, die Flucht aus der Mitwirkung der Arbeitnehmer in Gremien des Unternehmens durch grenzüberschreitende Aktivitäten zu verhindern. Was die erstere Aufgabe angeht, hat die EU bereits große Fortschritte gemacht und ein Regelungsinstrumentarium geschaffen, das – wie der Autor dieser Skizze immer wieder feststellen kann – weltweit als Kernelement des sogenannten „Europäischen Sozialmodells“ betrachtet wird. Dass dieses noch immer zu fragmentarische Regelungsgefüge verbesserungsfähig ist, zeigen die oben skizzierten, vor allem vom EGB angemahnten Reformen. Bei der anderen Aufgabe, die Flucht aus der Unternehmensmitbestimmung zu verhindern, kann nicht von Erfolg gesprochen werden. Hier ist allerdings fraglich, welcher Regelungsspielraum dem europäischen Gesetzgeber zur Verfügung steht. Der Ball liegt hier eher im Spielfeld des EuGH. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob Grundfreiheiten noch dasselbe Gewicht zukommen soll, wie im ursprünglichen Vertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in dem die soziale Dimension ausgeblendet war und es auch noch keine Charta mit sozialen Grundrechten gegeben hat. Hier ist eine Neujustierung überfällig. Ob diese Aufgabe vom EuGH im Verbund mit dem europäischen Gesetzgeber geleistet werden kann oder ob es dafür einer Neufassung des Vertragswerks bedarf, bleibt offen. Doch davon hängt die künftige Tragweite der der Unternehmensmitbestimmung in der EU ganz wesentlich ab.
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Employer’s Claims to Social Media Accounts Used for Business Purposes
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Employer’s Claims to Social Media Accounts Used for Business Purposes Isabelle Wildhaber und Silvio Hänsenberger
Employer’s Claims to Social Media Accounts Used for Business Purposes ISABELLE WILDHABER UND SILVIO HÄNSENBERGER1 I. Introduction Social media networks play an important role in marketing communication by enterprises, public authorities, and non-profit organisations. There is a huge variety of different social media such as LinkedIn, Xing, Twitter, Instagram or Facebook, but also blogs, Wikis, online video and photo portals (e.g. Snapchat), rating and recommendation pages (e.g. Tripadvisor), as well as video and text chats (e.g. Skype, Whatsapp, Zoom).2 Such platforms, where users can publish contributions for other users, enable to create, nurture and expand the customer base and to contact important target groups. In addition, the acceptance of social media contacts makes it possible to gain access to nonpublic information about the relevant connections. Depending on the privacy settings, messages, telephone conversations, pictures, and videos can be exchanged.3 More than 90% of Swiss enterprises use social media networks for business purposes.4 When linked to an actual, or even potential, business relationship, this data can be valuable to an employer. If, for example, the employee responsible for the social media account changes jobs, the employer often has a great interest in retaining control of the account. This can be contrary to the interests of the employee since the continuation of the social media account may be important for them, and as they may have made and maintained the contacts through the disclosure of personal information. In addition, business and private contacts can merge together: If the employee loses control of the social media account, contacts which serve their private relations are also lost. Therefore, if an employee who is responsible for a social media account de1 Prof. Dr. iur., LL.M., Full Professor for Private Law and Business Law with particular focus on Employment Law at the University of St. Gallen; Dr. iur. HSG, lawyer and notary, M.A. HSG in Law and Economics. All Internet addresses were checked at the end of January 2020. 2 For a definition and an overview of social media: Christian Fuchs Social Media – A Critical Introduction, 2013, p. 32 et seq. See also: Claudia Wyrwoll Social Media – Fundamentals, Models and Ranking of User-Generated Content, 2014, p. 1. 3 On social media trends: Helen Lam Employee Relations 3/2016, p. 421 et seq. 4 Bernet PR AG/ZHAW Studie Social Media Schweiz 2018, http://bernet.ch/ socialmediastudie/.
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parts, the question is: Who has the rights to this social media account? Is it the employer or the employee? What recourse does an employer have when an employee takes with them the social media contacts, connections and followers they have obtained during the course of their employment? This question was first discussed in 2011, when Laura Kuenssberg, chief political correspondent of BBC News, left BBC to join ITV.5 She tweeted: “I will become @ITVLauraK in September”. She had gained more than 58’000 followers during her time at BBC due to her eloquent reporting, especially regarding the general elections in the UK in the year before. After the announcement of her move to ITV, there were, in her own words, “frantic discussions” about what would happen to her Twitter account. Have the followers signed up for the content of the BBC chief political correspondent, or for the personality of the journalist Laura Kuenssberg? In the end, the agreement with the BBC was consensual. Laura Kuenssberg changed her account handle to @ITVLauraK and took her account and her followers to her new employer. However, two years later she returned, and is now tweeting again as @BBCLauraK and has more than 1,2 million followers. In order to find answers to the question about the rights to social media accounts, this book chapter, dedicated to Prof. Dr. CHRISTINE WINDBICHLER, LL.M., discusses fundamental issues which arise. In order to make possible answers easier to understand, reference is made to Swiss law. We will discuss the following issues in the area of potential conflict between the interests of the employer and the employee: How far does the employer’s power of direction extend? (see II. below) What are the employer’s claims to surrender, return, and deletion, and what claims does the employer have to forbearance (see III. below)? In addition, there are also data protection law hurdles with regard to the onward transfer of social media contacts (see IV. below). From the considerations listed above, a test for the permissibility of the onward transfer of social media contacts can be derived, and specific proposals made for the wording of an agreement on use with the employee, which can be used not only in Switzerland, but also more generally as possible guidelines in order to regulate social media in an employment relationship (see V. below). Finally, we will provide a short conclusion on social media accounts and contacts in the area of conflict between employees’ and employers’ interests (see VI. below).
II. Employer’s Power of Direction Regarding Social Media Accounts Due to its power of direction (Art. 321d Swiss Code of Obligations), the employer can instruct the employee to open and/or operate an account, such 5 Jemina Kiss Who controls Laura Kuenssberg's Twitter account?, The Guardian 22.6.2011, https://www.theguardian.com/media/pda/2011/jun/22/laura-kuenssberg-twitter-account.
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as for advertising and marketing purposes, in order to establish business relationships and to maintain customer contacts on social media platforms.6 However, the power of direction7 does not extend to the employee being instructed to use his/her existing private profile for business purposes. This would involve a breach of the employer’s duty of care (Art. 328 Abs. 1 Swiss Code of Obligations) as well as raise issues of the instruction having an impermissible effect on the employee’s privacy,8 unless the use of the employee’s existing private profile was explicitly agreed at the time the employee was employed.9 For instance, this could be the case if a travel blogger (a so-called “influencer”) is employed by a travel agency to advertise for the agency through his/her account. However, the discussion below does not concentrate on this exceptional case, as the contractual relationship with influencers is commonly structured as a commission or innominate contract, and not as a contract of employment.10 An employee can nevertheless voluntarily decide in favour of using his/her private account for business use (see III.A.3 below).11 III. Employer’s Claims in Relation to Social Media Accounts To assess employer claims, we must distinguish between private and business accounts. A private social media profile is a profile which generally 6 Michèle Stutz/Noemi Valloni in Social Media und Recht für Unternehmen, 2015, p. 166; European Court of Human Rights Bărbulescu v. Romania, 61496/08 (2016); further literature: Isabelle Wildhaber/Silvio Hänsenberger in Festschrift Thomas Geiser, 2017, p. 531 (citing social media accounts); Isabelle Wildhaber/Silvio Hänsenberger in Festschrift Schweizerischer Juristentag, 2015, p. 426 (citing termination social media use). 7 On the limits of the right to issue instructions: BSK Swiss Code of Obligations I-Wolfgang Portmann/Roger Rudolph, Art. 321d N 7; Ullin Streiff/Adrian von Kaenel/ Roger Rudolph, Arbeitsvertrag Praxiskommentar zu Art. 319-362 Swiss Code of Obligations, 7th ed. 2012, Art. 321b N 3 and Art. 328 N 3; Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, termination social media use), p. 426; Isabelle Wildhaber/Silvio Hänsenberger ZBJV 2016, p. 336 (citing Internet in the workplace) 8 The employer, for example, must protect the personality (Art. 328 Swiss Code of Obligations) or the private life (Art. 8 ECHR) of the employee. In detail: Streiff/von Kaenel/Rudolph (footnote 7), Art. 328 N 1 et seq.; Kurt Pärli AJP 2015, p. 1678. 9 Christoph Holenstein Die Benutzung von elektronischen Kommunikationsmitteln (Internet und Intranet) im Arbeitsverhältnis, 2002, p. 83; Frank Bayreuther in Rechtshandbuch Social Media, 2015, p. 324, which makes the permissibility of the obligation to participate in the employee’s own name dependent on the type of enterprise and the work owed; similarly also Astrid Krüger/Wojtek Ropel Arbeit und Arbeitsrecht 8/2012, p. 468. 10 On the type of contract with influencers: Catalina Goanta/Isabelle Wildhaber in The Regulation of Social Media Influencers, 2020, p. 210. 11 By contrast, in the USA the allocation of the right of disposition over social media accounts – including within the framework of employment relationships – is assessed under legislation on intangible property, as shown by Kathleen McGarvey Hidy Columbia Business Law Review 2018, p. 474. However, the US-American case law currently does not contain any unified rules for the allocation of social media contacts, Christopher A. Moore Campell Law Review 39/2017, p. 512.
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was not opened in order to fulfil duties specified in the relevant employment contract. It will usually remain with the employee. A business social media account, on the other hand, is created on the instruction of the employer and will usually remain with the employer. Therefore, when assessing whether an account is of a private or business nature, the primary consideration is whether there is an instruction from the employer to open it. If it remains unclear or controversial whether an instruction was present when the account was opened, the following criteria, among others, can help:12 – Who opened the account? – Is the name of the employer used in the account? (for example, @BBCLauraK) – Is the e-mail or postal address of the employer stored? (Impressum) – Does the account contain predominantly business content? – Do the contacts serve business purposes? – Are corporate design or logo of the employer used? – Who pays the costs, e.g. for a premium subscription? – Who looks after and maintains the account? – Who has access to the account (password)? – Is the time to create the content and develop and build the contacts done on the employer’s time and money investment? A distinction must be made between four different types of accounts in order to assess employer claims.13 The distinction between a private account and a business account determines with whom the account remains. But private accounts can also be used for business purposes, and business accounts can also be used for private purposes. It is these two mixed cases that are difficult to handle in practice. After all, how can the employer get back his/ her business contacts and data in the case of private accounts, and vice versa, how can the employee get back his/her private contacts and data in the case of business accounts?
12 Till Hoffmann-Remy/Ulrich Tödtmann NZA 2016, p. 794; Christian Solmecke in Hoeren/Sieber/Holznagel Handbuch Multimedia-Recht, 2019, Part 21.1, margin no. 80, who states that a business account depends on the account being linked to the employer’s business E-Mail address and being used during working hours. See also AG Brandenburg, decision dated 31.1.2018, 31 C 212/17 (available at: https://www.iww.de/quellenmaterial/ id/199722), which bases the assessment of ownership of a Facebook account primarily on the issue of who opened the account in question. 13 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 539.
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Fig. 1: Private and business use of social media accounts
1. Employer’s Claims to Surrender, Return, and Deletion The distinction between four types of accounts in Figure 1 above is decisive from an employment law point of view. Let’s take a closer look at this for Swiss employment law. An employer is entitled to the work result that an employee has produced in the performance of his/her contractual tasks.14 If the employee makes business contacts within the framework of his/her working activities, then he/she must provide the employer with the relevant contact information at any time during the employment relationship (upon request) within the framework of the duty of surrender (Art. 321b Swiss Code of Obligations).15 At the end of the employment relationship, business contact data must be provided to the employer within the framework of the duty to return (Art. 339a Swiss Code of Obligations). These work results may include accounts and contact details in social networks.16 In a decision from 2011, the Swiss Federal Court decided that the duties to surrender and return also extend to documents of the employer in electronic form and the employee is not entitled to retain a copy of these documents.17 This result in the decision was based on the duty of secrecy (Art. 321a para. 4 Swiss Code of Obligations) which extends beyond the end of the employment relationship. But as we will see further down, social media contacts are often not secret in character.18 In spite of this, the employer may still have a claim to deletion of business social media contacts.19 The purpose of the claim to surrender and return amongst other things ensures that the employee 14
Regarding copyright aspects, see Vincent Salvadé/Nathalie Tissot in Internet au travail, 2014, p. 243. 15 With regard to social media, see Stutz/Valloni (footnote 6), p. 186. 16 For more detail, see Roman Frik/Ralf Klühe DB 2013, p. 1176; Christian Oberwetter NJW 2011, p. 420; Hoffmann-Remy/Tödtmann (footnote 12), p. 793; Philipp Byers/Stefan Mössner BB 2012, p. 1670. See also Krüger/Ropel (footnote 9), p. 468, who assess the duty of surrender according to whether the account is a tool for work. 17 Decision of the Swiss Federal Court 4A.611/2011 dated 3.1.2012, consid. 4.3. 18 See also Arbeitsgericht Hamburg, decision dated 24.1.2013, 29 Ga 2/13. 19 For German law Hoffmann-Remy/Tödtmann (footnote 12), p. 793. Different opinion in German law Frik/Klühe (footnote 16), p. 1175, who consider a claim of deletion too strong of an encroachment on the legal position of the employee.
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no longer maintains work materials he/she or a third party could exploit economically (see Art. 321b para. 2 Swiss Code of Obligations).20 Therefore, the employer might also have a claim to deletion. However, the employer’s scope for action is limited. In practice, there is no “sharp sword” for a successfully forced data surrender, data return or data deletion of easily duplicable data sets. It is difficult for the employer to enforce these rights in practice. The claims to surrender, return, and deletion are different depending on the type of social media account: a) Private Account (with private use) Example: Employee H has sent a Facebook request to a customer of his employer, because the two of them share the hobby of gliding. They exchange ideas about gliding. On one occasion, the customer communicates businessrelevant information to H via Facebook.
The private account remains with the employee, but the question is: what are the employer's rights to this business-relevant information? A purely private social media profile in principle has no connection to the employee’s business activities. On the basis of the employee’s duty of good faith (Art. 321a para. 1 Swiss Code of Obligations), he/she is obliged to provide the employer with information relevant to the business which, if properly organised, is necessary for further work. But if the employee does not do this on his/her own initiative, the possibilities of the employer are limited. It is up to the employer to prove that, in an individual case, there is a business contact and/or a business message on the private social media account. This will present the employer with considerable problems of proof. The employer will usually only have restricted access to the non-public communication between the employee and the third party.21 The employer’s power of direction is also insufficient to obtain access to the employee’s private communication.22 Consequently, the employer will hardly be in a position to achieve the surrender or return of contacts or messages that are not clearly business-related in the case of private profiles.23 20 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 538; as regards the employer’s ownership of the work result, see Streiff/von Kaenel/Rudolph (footnote 7), Art. 321b N 5. On the employee as the agent in possession, see BSK Swiss Code of Obligations I-Portmann/Rudolph, Art. 321b N 4. 21 Hoffmann-Remy/Tödtmann (footnote 12), p. 794. On the problem of electronic monitoring by the employer, see: Wildhaber/Hänsenberger (footnote 7, Internet in the workplace), p. 336, and Bayreuther (footnote 9), p. 349; see also the decisions of the Higher Court of Zurich, LA180019-O/U dated 15.3.2019, LA180031-O/U (screenshot of private messages on WhatsApp as a basis for dismissal was not accepted proof). 22 Hoffmann-Remy/Tödtmann (footnote 12), p. 793. 23 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 536.
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b) Business Account (with business use) Example: Noah Kravitz worked as a reviewer and videoblogger for PhoneDog, an online company which reviewed cell phones. He tweeted under the name @PhoneDog_Noah and amassed 17’000 followers on Twitter. When Noah Kravitz left PhoneDog, he ignored PhoneDog’s request that he relinquish use of the Twitter account, changed his handle to @noahkravitz, took his followers with him, and used the account to promote his new employer, a competitor of PhoneDog.24
Social media accounts whose account name includes the employer name (such as @BBCLauraK or @PhoneDog_Noah) are usually business accounts. Such accounts must be returned to the employer. Obviously, Noah Kravitz was not quite clear about this or he didn’t care, which is why he was then sued by PhoneDog. The case eventually settled in 2012, the result remained confidential.25 Under Swiss law, a social media profile is a work result belonging to the employer (Art. 321b Swiss Code of Obligations), which must be surrendered at the end of the employment relationship (Art. 339 Swiss Code of Obligations).26 The entire account – the access data to the account and any possible sets of data stored locally – must be surrendered, or deleted if surrender is not possible.27 In principle, it is presumed that contacts in business social media profiles have a business nature. In the present example, Noah Kravitz would have to surrender the Twitter account, including the access password, to his former employer.28 If the employer continues to operate the profile after the end of the employment relationship, he/she must change the name of the employee in the account name or delete it. Otherwise, the employer would infringe the employee’s personality rights (Art. 28 et seq. Swiss Civil Code). In addition, there could be the accusation of unfair competition (see III.2. below). c) Mixed Private Account (with private and business use) Example: Dr. Linda Eagle was a co-founder of EdComm, which offered further education in the financial sector. She opened a personal LinkedIn account, which she used for business purposes in addition to maintaining private contacts. When she was terminated in 2011, EdComm changed Linda Eagle’s password, replaced her photo with that of her successor and partially changed the content of the account.29 24 Phonedog v. Kravitz, C 11–03474 MEJ, United States District Court, N. D., California 2011. 25 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 539. 26 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 7, Internet in the workplace), p. 323. 27 Nathalie Oberthür in Kramer IT-Arbeitsrecht, 2nd Ed. 2019, N 840. 28 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 536. 29 Eagle v. Morgan, Edcomm et al., 2:11-cv-04 303-RB, Dist. Court, ED Pennsylvania 2013.
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In this US case, the parties did not agree on whether the opening of the personal LinkedIn account was done on the instructions of the employer. The court found that there was no instruction, that EdComm never had a policy of requiring its employees to use LinkedIn, but that there was only “encouragement” from the employer. In practice, the boundaries between an instruction, an encouragement, or an expectation are undoubtedly fluid. In such a case, in Swiss law, one would have to decide on the private or business nature of the account based on the list of criteria presented above. In the case of Linda Eagle, the US court concluded that the account is private and remains with the employee. Under Swiss law, this would mean that EdComm would not have a claim to surrender, return or delete the account against Linda Eagle.30 In case of a partial business use of a private social media account, we must assume that the employee only places the social media account at the employer’s disposal for the duration of the employment relationship.31 The protection of privacy (Art. 328 Swiss Code of Obligations) and the employee’s rights concerning the processing of his/her personal data (Art. 328b Swiss Code of Obligations) take precedence over the employer’s right to the work result (Art. 321b Swiss Code of Obligations) in this case. However, the employee has a duty to to surrender or delete business contacts.32 For this, the employer must be able to prove that the employee has established business contacts in the course of his/her work duties. It is not enough that they were only made on the occasion of the contractual activity (e.g. if the employer is the sponsor of a sporting event and its employees participate in the event as spectators). If the employer cannot prove a sufficient connection to the employment relationship, casual contacts are not encompassed by the duty of surrender or deletion.33 A duty of surrender nevertheless only exists if there are no data protection law regulations to the contrary (see IV. below).34 If an account that was originally used privately, but now predominantly serves business purposes, is to be transferred to the employer, a one-page instruction by the employer is not sufficient. Instead, an agreement must be concluded between the employer and the employee whereby the employee undertakes to surrender the account to the employer in response to a justified request or to delete it.35 Under Swiss law, it must be taken into consid30
Oberthür (footnote 27), N 841. German law: AG Brandenburg, decision dated 31.1.2018, 31 C 212/17 (accessible under: https://www.iww.de/quellenmaterial/id/199722). 32 Oberthür (footnote 27), N 840. 33 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 539; likewise for German law Hoffmann-Remy/Tödtmann (footnote 12), p. 793. 34 As in Hoffmann-Remy/Tödtmann (footnote 12), p. 793. 35 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media contacts), p. 539; Salvadé/Tissot (footnote 14), p. 248. 31
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eration in this context that the employee cannot unilaterally waive claims arising from mandatory provisions of law during the employment relationship and for one month afterwards (Art. 341 para. 1 Swiss Code of Obligations).36 If the originally private profile has an economic value, the employee must be compensated for this in return for a valid transfer agreement. d) Mixed Business Account (with business and private use) Example: Human resources officer C maintains a LinkedIn account in her own name on the instruction of employer D for the purpose of recruiting new staff members. In addition to business contacts, she also accepts contact requests from friends from her volleyball club and occasionally conducts private conversations with them through the LinkedIn messaging function.
For mixed accounts with private and business use, it can be very difficult to distinguish between private and business accounts. If the mixed account in question is a business account, the employer can claim surrender of the account. For this reason, if there are difficulties in distinguishing between a private and a business mixed account, we suggest a private mixed account should be assumed rather than a business mixed account.37 The mixed business account belongs to the employer when the employee leaves. If the employee wants private contacts surrendered or deleted, then he/she must prove that they are private.38 This also applies to the human resources officer C with regard to her private messages in the example set forth above. The employer may only block and/or delete private contacts if it informs the employee about this in advance and grants him/her the opportunity to store, block or delete the contacts.39 If the employer fails to do so, it breaches its duty of care (Art. 328 Swiss Code of Obligations) and infringes the rights of the employee with regard to the processing of his/her personal data (Art. 328b Swiss Code of Obligations). This also applies if the employee made the private contacts on the business social media account contrary to an agreement on use (fig. below in V.). In this case, the usual employment law sanctions are available, such as, for example, a warning. This means that deletion of the private contacts by the employer as a sanction for the breach of the agreement on use is excluded. The employee’s claim to surrender also includes private contacts he/she made exclusively on the occasion of his/her work under his/her employ36 On the permissibility of a genuine settlement based on mutual compromise: most recently Swiss Federal Court BGE 118 II 60 and BSK Swiss Code of Obligations I-Portmann/Rudolph, Art. 341 N 6. 37 Similarly Hugh McLaughlin Nw. J. Tech. & Intell. Prop. 2015, p. 87. 38 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 7, Internet in the workplace), p. 324. 39 Hoffmann-Remy/Tödtmann (footnote 12), p. 794; Kiss (footnote 5); Oberthür (footnote 27), N 840.
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ment contract. In case of doubt, it is conceivable that both the employer and the employee can continue to use the contact.40 2. Employer’s Claims to Forbearance In addition to the claims to surrender, return and deletion, the employer could have claims to forbearance. As we have seen in the PhoneDog vs. Kravitz case, disputes over accounts and followers often involve competition, they involve poaching customers and trade secrets.41 Let's translate these topics into Swiss employment law. During a current employment relationship, the employee is subject to a general duty of good faith (Art. 321a para. 1 Swiss Code of Obligations). This also includes a prohibition of actions to lure away customers.42 An employee can breach his/her duty of good faith if he/she, for example, transfers customers’ or suppliers’ contacts from the business social media profile to his/her private account without the employer’s consent.43 However, there is no breach of the duty of good faith if the contacts concerned are contacts the employee maintains a friendly relationship with in private life.44 The employee’s duty of good faith (Art. 321a para. 1 Swiss Code of Obligations) does not extend beyond the end of the employment relationship.45 Thereafter, there is only a duty of secrecy amongst other instances for manufacturing and business secrets (Art. 321a para. 4 Swiss Code of Obligations).46 It is a duty of the employee to maintain secrecy and not to disclose business secrets of the employer. This includes knowledge about the customers of an enterprise,47 for example, in the context of social media, knowledge on non-public information, such as detailed personal profiles of former business partners.48 The employee is prohibited from further use of such 40
However, there are possible data protection law hurdles to this: see IV. below. UK cases: Hays Specialist Recruitment v. Ions, [2008] EWHC 745 (Ch); Whitmar Publications Ltd. v. Gamage, [2013] EWHC 1881 (Ch). US cases: Bankers Life & Cas. Co. v. Am. Senior Benefits LLC, 83 N.E.3d 1085 (Ill. App. Ct. 2017); Mobile Mini, Inc. v. Vevea, 2017 WL 3172712 (D. Minn. July 25, 2017). 42 On types of unfair conduct after the end of a contract, see Roger Rudolph ARV 2009, p. 102. 43 See also Streiff/von Kaenel/Rudolph (footnote 7), Art. 321a N 7, in accordance with which the production of copies of business files and taking them home is a breach of trust even without proof of an intention to compete. 44 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 42, social media accounts), p. 540; compare Rudolph (footnote 42), p. 97, in particular footnote 16. 45 Streiff/von Kaenel/Rudolph (footnote 7), Art. 321a N 2. 46 BSK Swiss Code of Obligations I-Portmann/Rudolph, Art. 321a N 25 et seq. 47 Rudolph (footnote 42), p. 99, with further references. 48 Regarding the secrecy criteria, see Streiff/von Kaenel/Rudolph (footnote 7), Art. 321a N 12. 41
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data which adversely affects the justified interests of his/her former employer. This could, potentially be categorized as business use of the social media contacts of the former employer.49 However, business secrets do not include pure contacts, because insight into the clientele is not a special secret to which a duty of secrecy applies.50 Furthermore, a post-contractual non-competition clause (Art. 340 Swiss Code of Obligations) may have been agreed between the employer and the employee. Here it is important to note that according to the Swiss Federal Court, such a non-competition clause is not considered justified if the employee provides services which are predominantly characterised by his/her personal abilities; in other words, if the customer gives greater weight to personal abilities than to the identity of the employer.51 This is similar to the discussions in the UK, mentioned above, whether people followed @BBCLauraK because of Laura Kuenssberg’s qualities as an exceptional journalist or because of BBC News as such. In a decision of the Zurich Higher Court in 2017, these personal abilities of the employee were affirmed and thus a violation of the prohibition of competition was denied.52 The Zurich Higher Court listed several points which indicate that the personal component of the employee's work was in the foreground. Interestingly, this included the fact that the employee had already brought 1600 Xing contacts into the employment relationship, and that he had collected 500 new Xing contacts in his private account during the period of employment. This spoke against a violation of the noncompetition clause. If the employee is well connected in social networks, this could therefore increase the risk of competition and poaching for the employer. In addition, there may also be competition law barriers based on the Swiss Act Against Unfair Competition. There may be unfair poaching of customers if the employee reduces the former employer’s reputation with the customer, or if the employee uses customer lists or directories belonging to the former employer.53 There may also be unfair communication or exploitation of an unlawfully obtained trade secret (Art. 4 d and Art. 6 Act Against Unfair Competition) and unfair exploitation of work results be49 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 541; Compare the duty of secrecy after the end of a contract: BSK Swiss Code of Obligations I-Portmann/ Rudolph, Art. 321a N 26 et seq. 50 Swiss Federal Court BGE 138 III 67 consid. 2.3.2; BGer 4A.116/2018 consid. 3.1.1; with relation to social media contacts see Arbeitsgericht Hamburg, 24.1.2013, 29 GA 2/13. 51 Swiss Federal Court BGer 4A_210/2017; BGer 4A_116/2018; BGE 138 III 67. 52 See Decision of the Higher Court of the Canton of Zürich LA160029-O/U, 10.4.2017, consid. 4. The appeal against this decision was dismissed in the decision of the Swiss Federal Court BGer 4A.286/2017, dated 1.11.2017. 53 Regarding competition law restrictions, see Rudolph (footnote 42), p. 102 et seq.
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longing to the former employer (Art. 5 Act Against Unfair Competition). It can be considered unfair if an employee continues to use the corporate design of his/her former employer in a social media profile and offer products or services through it (see Art. 3 para. 1 d Act Against Unfair Competition). Last but not least, there may be claims to forbearance under the law on distinctive marks in case of continued use of the former employer’s corporate design.54
IV. Data Protection Law Hurdles In addition to employment law regulations, data protection law provisions can also be relevant for the transfer of social media data. On 25 May 2018, the General Data Protection Regulation entered into force in the EU.55 In response, a complete revision of the Swiss Data Protection Act is underway in Switzerland with the aim of strengthening data protection and in particular improving the control that data subjects have over their data.56 For this reason, the following comments refer to both the European and the Swiss provisions. Social media accounts and the flows of communication they contain can constitute personal data particularly worthy of protection pursuant to Art. 9 para. 1 General Data Protection Regulation and/or Art. 3 c Swiss Data Protection Act.57 Data subjects must grant their express consent to the onward transfer of such data both in Switzerland (Art. 4 para. 5 Swiss Data Protection Act) and in the EU (Art. 9 para. 2 General Data Protection Regulation). In the same way, the data available via social media also permits the assessment of significant aspects of a person’s personality, which can constitute a personality profile pursuant to Art. 3 d Swiss Data Protection Act.58 In this context, the Swiss Data Protection Act imposes increased requirements in the use of such data.59 The data subject must consent to the onward transfer 54 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 541; on distinctive images law in the use of social media, see Barbara K. Müller in Social Media und Recht für Unternehmen, 2015, p. 103; Hoffmann-Remy/Tödtmann (footnote 12), p. 796. 55 Regulation (EU) 2016/679 of the European Parliament and the Council dated 27.4.2016 on the protection of individuals with regard to the processing of personal data, on the free movement of such data and for the repeal of Directive 95/46 EU. 56 Swiss Federal Gazette BBl 2017, p. 6941, 6943. On the stage reached with parliamentary deliberations: Swiss Federal Council matter no. 17.059, available at https://www. parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20170059. 57 Beat Rudin Stämpflis Handkommentar zum Datenschutzgesetz, 2018, Art. 3 N 19 et seq. 58 From the perspective of the operators of social media networks Yvonne Prieur AJP 2015, p. 1652. 59 For an overview of the legal consequences attaching to personal data worthy of special protection and personality profiles, see David Rosenthal/Yvonne Jöhri in Handkommentar zum Datenschutzgesetz sowie weiteren ausgewählten Bestimmungen, 2008, Art. 3 N 44.
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of the data to a third party (Art. 14 para. 2 c Swiss Data Protection Act), unless there is another justification for such onward transmission (Art. 12 para. 2c in conjunction with Art. 13 para. 1 Swiss Data Protection Act).60 In case of failure to do so, the data controller infringes the rights of personality (Art. 12 para. 2c Swiss Data Protection Act) or commits a criminal offence pursuant to Art. 34 Swiss Data Protection Act.61 In the EU, data from social media accounts of private persons usually falls within the category of personal data (Art. 4 fig. 1 General Data Protection Regulation). Onward transfer of such data is also subject to the proviso of consent by the data subject (Art. 6 para. 1a General Data Protection Regulation). For this reason, the data protection law assessment does not depend on the employer’s or the employee’s perspective, but rather on the view taken by the data subject and the party with whom he/she believed the data was being made available to through the link to the social media account in question. This means that regarding data protection law issues, the distinction between private and business contacts depends on the outward appearance of the profile. A private profile must be assumed if it is not clear to a third person that he/she is communicating with the employer or its representative.62 In the case of business contacts in a social media profile which have the outward appearance of a business profile, a handover of the account within the employer’s organisation should be uncomplicated. The business contact assumes that he/she in each case is in contact with a representative of the enterprise. Private contacts or those made through the work resulting from the employment contract must be informed about a change of employees in the maintenance of the business account. If these contacts do not consent to their data being transferred, their data and the connection to the company profile must be deleted. By contrast, with respect to contacts of a private social media profile not recognisable as having a direct connection to an employer, the data subject is not expected to anticipate that his/her personal data will be processed by anyone other than the employee. Onward transfer without the consent of the data subject would therefore infringe data protection rights. Consequently, from a data protection law point of view the employee is not permitted to pass on data of business or private contacts in his/her private account to his/her employer if the data constitutes personal data as defined in the General Data Protection Regulation and/or the Swiss Data Protection Act. Without the consent of the respective data subjects, the transfer of this 60
See Amédéo Wermelinger in Stämpflis Handkommentar zum Datenschutzgesetz, Art. 14 N 6. 61 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 542. 62 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 543.
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contact data would constitute impermissible data processing and would therefore infringe the personality rights of the data subject in an impermissible way – unless there are other grounds for justification.63 Regardless of any onward transfer, the other provisions of the General Data Protection Regulation also apply to any further processing of social media data, such as the storage of such data outside the social network. On the basis of the so-called market principle (Art. 3 Abs. 2 General Data Protection Regulation), the General Data Protection Regulation also directly applies to the Swiss operators of social media accounts if the employer also offers products or services to EU citizens.64 These stipulations include that enterprises must:65 – take technical and organisational measures to protect personal data (“privacy by design” and “privacy by default”, Art. 25 General Data Protection Regulation); – appoint a representative in the EU (Art. 27 General Data Protection Regulation), unless the processing of personal social media data only takes place occasionally; – keep a register about the methods of data processing (Art. 30 General Data Protection Regulation); – ensure that breaches of data protection must be notified to the supervisory authority (Art. 33 General Data Protection Regulation) and data subjects (Art. 34 General Data Protection Regulation), and – carry out a data protection impact assessment if there is a high risk that rights and freedoms may be infringed (Art. 35 General Data Protection Regulation). Breaches of the General Data Protection Regulation can result in fines amounting up to 4 % of the violator’s entire worldwide annual turnover (Art. 83 General Data Protection Regulation).66
V. Assessment Test and Agreement on Use The question whether accounts, contacts or access data must be transferred to the employer or deleted can be answered according to the following assessment test:67 63
Wildhaber/Hänsenberger (footnote 7, Internet in the workplace), p. 324. See also: Bruno Baeriswyl SJZ 114/2008, p. 450. 65 Further reading: Paul Voigt/Axel von dem Bussche EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), Praktikerhandbuch, 2018, p. 4. 66 For further information on the duties of Swiss enterprises within the framework of the General Data Protection Regulation: https://www.kmu.admin.ch/kmu/de/home/aktuell/ monatsthema/2018/datenschutz-in-europa-die-neuen-pflichten-der-unternehmen.html. 67 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 544. 64
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Fig. 2: Assessment test for the permissibility of transferring social media contacts
We recommend that employers proactively encourage their employees to establish a business social media profile and to use this to communicate with business contacts. In this way, the employee’s conduct can be influenced by an individual agreement on use.68 The following points could be regulated in this context:69 A. Attribution of the Account: 1. Find out whether the account is a company profile, an employee profile in the name of the employer, or a private profile (not recommended). 2. Regulation for taking over an account that existed before the employment relationship (including any compensation for the employee). If the employer takes over the existing account, the consent of existing contacts is necessary. 3. Establish that the account will be linked to the business E-Mail address. Password regeneration attempts of the social media operator will then be sent to this address. Regulation of the maintenance of contacts. 4. Obligation on the employee to store social media contacts outside the social network on the employer’s server and update them regularly (e.g. with the employer’s contact management software). 5. Exclusion of private use (sending private messages/making private contacts). Possibly include a duty of marking social media contacts which are not purely business contacts
68 69
Wildhaber/Hänsenberger (footnote 7, Internet in the workplace), p. 325. According to Hoffmann-Remy/Tödtmann (footnote 12), p. 797.
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6. Obligation on the employee to regularly categorise the contacts (e.g. customers/suppliers). 7. Obligation of the employee to appear to act as the employer’s representative. B. Regulations on Maintaining Contacts: 1. Obligation of the employee only to store safety copies/synchronisations of the contacts on devices of the employer. An exception to this rule leads to the use of private storage locations as a BYOD (Bring Your Own Device) device. Further-reaching guidelines for this are urgently recommended.70 2. Obligation of the employee to deposit access data (e.g. current password) at an agreed location. 3. Regulations about representation in case of absence (e.g. holiday/illness/ accident), termination of employment, and death of the employee. 4. Working hours regulations for any maintenance outside office hours. 5. Regulations about the powers of control of the employer. 6. Definition of procedure if the account is hacked. 7. Duties of notification for events such as excessive criticism of the employer (“grievances”). C. Regulations in case of Termination of the Employment Relationship: 1. Establish duty of surrender of all business contacts. 2. Reserve rights of inspection for all contacts linked to the account (in case of a company profile or a profile of the employee in the name of the employer). 3. Agree duty of surrender, return or deletion of business contacts after the end of the employment relationship. 4. Possibly prohibit competition subject to reasonable restrictions regarding place, time, and subject-matter (Art. 340a OR)71 and the establishment of criteria for employee compensation.
Even an extensive agreement on use will be incapable of protecting the employer from adverse effects on its interests with regard to social media contacts in every case. This is on account of the prohibition of infringing the employee’s privacy within the framework of such an agreement and the requirement to respect the data protection rights of third parties. In addition, the lack of access to the place where the social media data is stored can also prevent the effective enforcement of legal interests. It should also be borne in mind that social media strategies frequently presuppose a certain freedom of spontaneity and creativity. Overregulation can counteract this aim.72 70
See Isabelle Wildhaber/Silvio Hänsenberger ARV 2016, p. 151. For further reference, see Roger Rudolph TREX 2010, p. 88. 72 Hoffmann-Remy/Tödtmann (footnote 12), p. 797. 71
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In addition to contractual agreements, the employer should also take organisational steps. It could, for instance, assign several employees to the maintenance of its social media presence. This lowers the risk that knowhow and business contacts are lost when an employee leaves the company. Within the literature, it is suggested that in larger organisations the parties could entrust an independent person or commission with the resolution of disputes about the attribution of contacts to the private or the business sphere.73 Such instances can resolve disputes between the parties through negotiation. However, arbitration agreements are only binding on the parties if they relate to points in dispute not falling under mandatory employment law claims.74 In connection with private social media contacts, this restricts the automatic sphere of responsibility and competence of arbitration tribunals. The employee’s claim to the continued use of private contacts results from Art. 328 and Art. 328b Swiss Code of Obligations and is therefore unilaterally mandatory pursuant to Art. 362 para. 1 Swiss Code of Obligations. Therefore, as an arbitration clause about the attribution of social media contacts would have no binding force on the employee in Switzerland, neither would a decision by such an arbitration tribunal.
VI. Conclusion The existing statutory position regarding social media is still in its infancy and there are no clear guidelines. An employer wishing to retain sole control over the business social media contacts after the end of the employment contract faces legal and de facto obstacles. The enforcement of existing claims becomes a “lottery”. We therefore recommend that the employer concludes an individual contract of use with the employee which specifies that business contacts may only be maintained in a profile of the employer used for business purposes alone. Forward-thinking contractual agreements can first, enable the use of social media by the employees in an employment relationship and create mutual agreement about these activities, and second, reduce the risk of a legal dispute about who is the owner of accounts, contacts, and access data.
73 Wildhaber/Hänsenberger (footnote 6, social media accounts), p. 547; In German law, see Hoffmann-Remy/Tödtmann (footnote 12), p. 798. 74 Swiss Federal Court BGE 136 III 467 and most recently also under the new Code of Civil Procedure: Swiss Federal Court BGer 4A_7/2018, dated 3.1.2012, consid. 2.3.1. to 2.3.3.
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Geschäftsgeheimnisgesetz: Eine neue Herausforderung für das Arbeitsrecht
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Geschäftsgeheimnisgesetz: Eine neue Herausforderung für das Arbeitsrecht Roland Wolf und Kristina Harrer-Kouliev
Geschäftsgeheimnisgesetz: Eine neue Herausforderung für das Arbeitsrecht ROLAND WOLF UND KRISTINA HARRER-KOULIEV I. Nachhaltige Wahrung von Geschäftsgeheimnissen unverzichtbar Schon immer waren Informationen z.B. über Produktionstechniken, technische Zusammensetzungen oder auch Kundenkontakte und Verkaufsstrategien für die Wirtschaft von existentieller Bedeutung – weit über Deutschland hinaus. Das gilt nicht nur z.B. für Patente, das gilt ebenso für vermeintlich weniger gravierende Fragen wie etwa die Gewinnung von Kunden oder die Bewerbung eigener Produkte. In Deutschland gab es dafür eine große Zahl von neben dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) bestehenden Spezialgesetzen. Entscheidend war in vielen Fällen die vertragliche Determinierung, durch die Pflichten zur Geheimhaltung vereinbart wurden. Daneben galten vor allem die §§ 17 ff. des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), de facto als Generalnormen für die Verhinderung eines Verrats von Geschäftsgeheimnissen. Diese Rechtslage wurde teilweise als mangelhaft oder vielleicht auch als nicht ausreichend empfunden und erschien manchen als Belastung. Das galt umso mehr, wie in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung auf der einen Seite der Druck auf Geschäftsgeheimnisse durch weltweite Konkurrenz zunimmt, und auf der anderen Seite deren Schutz aufgrund möglicherweise leichterer Zugriffsmöglichkeiten, jedenfalls (sofern man sich im Besitz des Geheimnisses befunden hat) leichterer Übertragungsmöglichkeiten stark zugenommen hat. Ob es nun geboten war, eine einheitliche Regelung für die Wahrung von Geschäftsgeheimnissen auf europäischer Ebene zu finden, mag dahingestellt sein. Jedenfalls hat der europäische Gesetzgeber mit der „Geschäftsgeheimnisrichtlinie“ einen solchen Schutz im Jahr 2016 normiert, den die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2019 im Geschäftsgeheimnisgesetz umgesetzt hat. Damit entfielen auch die „Sonder“- oder besser Generalvorschriften in den §§ 17 bis 19 des UWG. Mit dem Geschäftsgeheimnisgesetz sind erste zentrale Pflöcke eingerammt, die eine weitergehende Betrachtung verdienen, deren wir uns im Folgenden annehmen wollen. Mit dem GeschGehG soll ein in sich stimmiger Schutz vor rechtswidriger Erlangung, Nutzung oder Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen erreicht
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werden. Das Gesetz sieht dabei u. a. die Definition des Geschäftsgeheimnisses sowie Handlungsverbote zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor. Zudem enthält § 5 eine Tatbestandsausnahme, die ein in § 4 geregeltes Handlungsverbot ausschließt. Bei Verstoß gegen ein Handlungsverbot enthält das Gesetz Ansprüche des Geschäftsgeheimnisinhabers. Hierzu zählen Ansprüche auf Beseitigung und Unterlassung, Vernichtung, Herausgabe und Rückruf, Auskunft und Schadensersatz bei fahrlässiger und vorsätzlicher Verletzung. Ob das tatsächlich hält, was es verspricht und mehr Licht ins Dunkel bringt, bleibt abzuwarten. Klar ist jedenfalls, dass das neue Gesetz Arbeitgeber vor Herausforderungen stellt.
II. Definition des Geschäftsgeheimnisses Zunächst einmal hängt die Anwendbarkeit des Geschäftsgeheimnisgesetzes und damit der durch das Gesetz gewährte Schutz vom Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Geschäftsgeheimnisses ab. Zuallererst muss geklärt werden, ob eine Information überhaupt ein Geschäftsgeheimnis ist oder sein kann. Dazu enthält das Gesetz in § 2 eine Legaldefinition. Ein Geschäftsgeheimnis ist eine Information, die den Personenkreisen, die üblicherweise mit dieser Art von Information umgehen, nicht allgemein bekannt oder ohne weiteres zugänglich, daher von wirtschaftlichem Wert ist und von ihrem rechtmäßigen Inhaber durch angemessene Geheimhaltungsmaßnahmen geschützt wird und bei der ein berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung besteht.1 1. Angemessene Geheimhaltungsmaßnahmen Zur Definition gehört vor allem das Erfordernis der angemessenen Geheimhaltungsmaßnahmen. Das Vorliegen eines Geschäftsgeheimnisses „steht und fällt“ mit dem Vorliegen oder Nichtvorliegen dieser Geheimhaltungsmaßnahmen. Damit knüpft das Geschäftsgeheimnisgesetz an das Vorliegen objektiver Voraussetzungen an. Und das bedeutet eine wesentliche Neuerung im Vergleich zur alten Rechtslage. Nach dem bisherigen Verständnis reichte ein subjektiver Geheimhaltungswille aus, wobei sich dieser in objektiven Umständen nach außen manifestiert haben musste.2 Bereits mit dem bloßen Bekunden des Willens, dass eine bestimmte (nicht offenkundige) Information vertraulich zu behandeln sein soll, konnten Geheimnisinhaber ein Geschäftsgeheimnis „generieren“.3 In der Rechtsprechung 1
§ 2 Abs. 1 GeschGehG. Köhler KBF UWG, 39. Auflage 2019, § 17 Rn. 4. 3 Ahrens GWR 2019, 375, 376. 2
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waren die Voraussetzungen teilweise sogar noch geringer. Ein ausdrücklich bekundeter Geheimhaltungswille war nach der Rechtsprechung des BGH nicht einmal erforderlich, wenn er sich schon „aus der Natur der geheim zuhaltenden Tatsache“ ergibt.4 Nach Auffassung des BGH kann es z.B. in der Natur einer Kundenliste liegen, dass sie nicht in die Hände eines Wettbewerbers geraten dürfen und daher ein besonderes Geheimhaltungsinteresse besteht.5 Im Ergebnis war daher ein solcher Wille für alle Betriebsinterna, die nicht offenkundig sind, zu vermuten. 6 Die Legaldefinition des Geschäftsgeheimnisbegriffs im Geschäftsgeheimnisgesetz führt zu deutlich veränderten Anforderungen. Der Arbeitgeber muss – um eine Information nach dem Geschäftsgeheimnisgesetz zu schützen – aktiv werden und angemessene Geheimhaltungsmaßnahmen treffen. Und wäre das noch nicht genug, muss er diese objektive Voraussetzung im Streitfall auch beweisen. Trotz dieser Beweislast bleibt unklar, welche Maßnahmen taugliche und angemessene Geheimhaltungsmaßnahmen im Sinne des Gesetzes sind. Das Gesetz schweigt sich hierzu aus. Auch die Gesetzesbegründung weist lediglich darauf hin, dass die Frage, welche Geheimhaltungsmaßnahmen ergriffen werden müssen, vom Einzelfall und den konkreten Umständen der Nutzung abhängt.7 Es findet sich der Hinweis auf physische Zugangsbeschränkungen und Vorkehrungen sowie vertragliche Sicherungsmechanismen. Für die Bewertung, ob diese Maßnahmen angemessen sind, sollen der Wert der Information, die Bedeutung für das Unternehmen, die üblichen Geheimhaltungsmaßnahmen sowie die üblicherweise vereinbarten vertraglichen Regelungen zu berücksichtigen sein.8 Durch die Formulierung in der Gesetzesbegründung dürfte aber klar sein, dass es kein pauschales Schutzkonzept geben kann. Ob die ergriffene Schutzmaßnahme angemessen ist, ist immer am Einzelfall festzustellen. Angemessene Geheimhaltungsmaßnahmen können technikbezogener sowie vertraglicher Natur sein. Für den Schutz durch bestimmte technikbezogene Maßnahmen ist es erforderlich, dass der Zugang zu der bestimmten vertraulichen Information nicht jedem offensteht, sondern auf eine bestimmte Person bzw. einen bestimmten Personenkreis begrenzt wird. Der Schutz durch bestimmte technikbezogene Maßnahmen erscheint dabei recht geläufig. Der Kreis derjenigen mit Zugang zu der Information muss eng definiert werden. Mittels Zugangskennung, wie z.B. Passwörtern oder Chipkarten zum Betreten des Werksgeländes oder bestimmter Räume muss ein unbefugter Zugang unterbunden werden. 4
wie vor und BGH NJW 1995, 2301; BGH GRUR 2006, 1044 Rn. 19. BGH NJW a.a.O. 6 Köhler in KBF UWG, 39. Auflage 2019, § 17 Rn. 10. 7 BT-Drs. 19/4734, 24. 8 BT-Drs. 19/4734, 25. 5
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Angemessen zum Schutz vertraulicher Informationen sind auch arbeitsrechtliche Handlungsinstrumente wie arbeitgeberseitige Weisungen, Klauseln in Arbeitsverträgen sowie kollektivrechtliche Vereinbarungen. Eine entsprechende Weisung zur Vertraulichkeit ist jederzeit als Ausfluss aus dem Direktionsrecht des Arbeitgebers im arbeitsrechtlichen Rahmen möglich. Das schafft eine schnelle und vielfach unkomplizierte Möglichkeit, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Auch dabei ist erforderlich, dass sich die Weisung an eine bestimmte Person bzw. einen eng begrenzten Personenkreis richtet. Ist der Zugang zu einer vertraulichen Information auf einen bestimmten Personenkreis – etwa durch Passwörter – beschränkt, dann kann eine Weisung den Umgang mit der vertraulichen Information regeln. Ebenso bieten sich arbeitsvertragliche Gestaltungen an. Hierzu können mit bestimmten Arbeitnehmern entsprechende Vereinbarungen abgeschlossen werden, es können aber auch in Arbeitsverträgen entsprechende Klauseln enthalten sein. Gerade bei größeren Projekten kommen aber auch einzelfallbezogene vertragliche Vereinbarungen in Betracht. Wird z.B. der Prototyp eines neuen Automobils entwickelt, werden zahlreiche Informationen entwickelt oder der Entwickler erlangt in anderer Weise Kenntnis von Informationen, die das Projekt betreffen. Entscheidend ist, dass das Geheimnis in irgendeiner Weise kommerzialisierbar ist. In diesen Fällen macht es Sinn, zu Beginn eines Projekts eine umfassende einzelfallbezogene Geheimhaltungsvereinbarung mit den Mitarbeitern, die an der Entwicklung des Prototyps beteiligt sind und Zugang zu den jeweiligen Informationen haben, abzuschließen. Auch können Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen weiterhin Regelungen zu Geschäftsgeheimnissen enthalten. Dabei können sie eine Information als Geschäftsgeheimnis definieren und schützen, sie können aber auch Regelungen zum Umgang mit Geschäftsgeheimnissen enthalten. Nach § 1 Abs. 3 Nr. 3 GeschGehG bleiben die Autonomie der Sozialpartner und ihr Recht, Kollektivvereinbarungen abzuschließen, unberührt. Mit Blick auf Erwägungsgrund 12 der europäischen Geheimnisschutz-Richtlinie9 können die Tarifvertragsparteien also weiterhin Tarifverträge hinsichtlich der Verpflichtung zur Geheimhaltung oder zur Beschränkung der Nutzung einer Information und hinsichtlich der Konsequenzen eines Verstoßes gegen diese Verpflichtung abschließen. Das gilt nach richtiger Auffassung auch für Betriebsvereinbarungen. Der Wortlaut des § 3 Abs. 3 Nr. 3 GeschGehG ist dahingehend auszulegen, dass der Begriff Sozialpartner auch die Betriebsvertragsparteien umfasst. Dies entspricht auch der nationalen Rechtsetzungspraxis und entspricht dem Sinn und Zweck von § 1 Abs. 3 Nr. 3 GeschGehG, wonach arbeitsrechtliche Regelungen unberührt bleiben 9 Richtlinie (EU) 2016/943 v. 8. Juni 2016 über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung
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sollen. In der Praxis werden Regelungen zum Geheimnisschutz in Haustarifverträgen in Betracht kommen, wesentlich praxisrelevanter wird aber eine entsprechende Regelung in einer Betriebsvereinbarung sein. 2. Arbeitsrechtlicher Schutz von Geheimnissen Eine Geheimhaltungspflicht ist im Arbeitsrecht nicht neues. Im Arbeitsverhältnis stellt die Pflicht zur Verschwiegenheit eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht dar. Diese ergibt sich unmittelbar aus dem Arbeitsvertrag i. V. m. §§ 241 Abs. 2 BGB. Eine solche vertrauliche Information liegt vor, sofern dem Arbeitnehmer im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis Informationen bekannt werden, deren Geheimhaltung dem erkennbaren Willen und dem berechtigten Interesse des Arbeitgebers entspricht.10 Erlangt zum Beispiel ein Mitarbeiter der Personalabteilung Kenntnisse von personenbezogenen Daten der Mitarbeiter oder sonstigen Geschäftsinterna, die nicht der Legaldefinition des § 2 GeschGehG entsprechen, darf der Mitarbeiter diese Informationen nicht weitergeben. Auch ohne Vorliegen eines Geschäftsgeheimnisses im Sinne des Geschäftsgeheimnisgesetzes kann der Arbeitgeber auch weiterhin arbeitsrechtliche Maßnahmen ergreifen und die unberechtigte Weitergabe der Information z.B. mit Abmahnung bis hin zur Kündigung sanktionieren. Das Geschäftsgeheimnisgesetz ändert daran nichts. Das ergibt sich wiederum aus der Wertung des § 1 Abs. 3 Nr. 4 GeschGehG, wonach die Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis unberührt bleiben sollen. Die allgemeine arbeitsvertragliche Pflicht zur Verschwiegenheit wird durch das Geschäftsgeheimnisgesetz, aber auch durch weitere spezialgesetzliche Regelungen, ergänzt. Im Arbeitsrecht löst das Geschäftsgeheimnisgesetz die bestehenden Pflichten zur Verschwiegenheit nicht ab, sondern tritt vielmehr neben diesen bestehenden Schutz.
III. Reverse Engineering bleibt Spezialfall Das Geschäftsgeheimnisgesetz enthält in § 3 Fallgruppen, in denen die Erlangung, Nutzung oder Offenlegung eines Geschäftsgeheimnisses erlaubt ist. Dabei steht Absatz 2 im Zentrum der erlaubten Handlungen und legt den Grundsatz fest, dass ein Geschäftsgeheimnis durch ein Gesetz, auf Grund eines Gesetzes oder durch Rechtsgeschäft erlangt, genutzt oder offengelegt werden darf. Dieser Grundsatz stellt klar, dass Regelungen zu Geschäftsgeheimnissen in anderen Gesetzen den Regelungen des Geschäftsgeheimnisgesetzes vorgehen. Beteiligungsrechte des Betriebsrats sollen durch das Geschäftsgeheimnisgesetz nicht betroffen werden, wobei auch die Ge10
Eckhoff/Hoene ArbRB 2019, 256, 258.
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heimhaltungsverpflichtung des Betriebsrats nach § 79 BetrVG unberührt bestehn bleibt. Daneben enthält das Geschäftsgeheimnisgesetz in § 3 eine wesentliche Neuerung und verändert die bestehende Rechtslage. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 darf ein Geschäftsgeheimnis erlangt werden durch Beobachten, Untersuchen, Rückbauen oder Testen eines Produkts oder Gegenstands in zwei Fällen: Entweder, wenn das Produkt bzw. der Gegenstand öffentlich verfügbar gemacht wurde oder wenn dieses sich im rechtmäßigen Besitz desjenigen befindet, der es beobachtet, testet, untersucht oder zurückbaut und dieser keiner Pflicht zur Beschränkung der Erlangung des Geschäftsgeheimnisses unterliegt (sog. „Reverse Engineering).11 Der Wortlaut des § 3 Abs. 1 GeschGehG nennt dabei nur das Erlangen eines Geschäftsgeheimnisses, nicht jedoch dessen Nutzung und Offenlegung. Bisher bestand ein grundsätzlicher Schutz vor sog. „Reverse Engineering“. Dritten, also z.B. Wettbewerbern war es demnach untersagt, das in einem Produkt enthaltene Know-how durch Rückbau und Analyse des Produkts für die eigene Nutzung offenzulegen.12 Diesen Grundsatz lockerte zwar bereits die jüngere Judikatur für den Fall, dass das Produkt öffentlich verfügbar gemacht wurde und ohne größere Schwierigkeiten in seine Bestandteile zerlegt, vermessen und auf seine Materialbeschaffenheit untersucht werden konnte.13 Durch das neue Gesetz kommt es zu einer weitergehenden Liberalisierung dieses Grundsatzes. Der Gesetzgeber definiert „Reverse Engineering“ in der Gesetzesbegründung als die Entschlüsselung von Geschäftsgeheimnissen aus dem Produkt selbst.14 Damit bedeutet „Reverse Engineering“ Rückbau und Analyse eines Produkts, um das in diesem nicht offen einsehbare Know-how in Erfahrung zu bringen. Beispielsweise kann eine Rezeptur eines Produkts ein solches Know-how darstellen, welches ohne Analyse der Bestandteile und deren Zusammensetzung für Dritte nicht erkennbar ist. Nach der Gesetzesbegründung liegt der Vorschrift die Wertung zu Grunde, dass keine Exklusivrechte an als Geschäftsgeheimnissen geschützten Informationen begründet werden sollen.15 Die neue gesetzliche Regelung enthält sogleich zwei Schranken für die Zulässigkeit von „Reverse Engineering“. Unzulässig bleibt „Reverse Engineering“ jedenfalls, wenn ein Produkt oder ein Gegenstand nicht öffentlich verfügbar gemacht wurde oder es sich nicht im rechtmäßigen Besitz des Rückbauenden befindet.16 Verschafft sich ein Arbeitnehmer unrechtmäßig ein geheimes Produkt, so wird dies auch in Zukunft weiterhin unzulässig sein. 11
Gesetzesbegründung, BT-Drs. 19/4724, 25. Leister GRUR-Prax 2019, 175. 13 Wie vor und Hauck GRUR-Prax 2019, 223, 225. 14 BT-Drs. 19/4724, 25. 15 Wie vor. 16 Vgl. Leister GRUR-Prax 2019, 175, 176. 12
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Wann gilt jedoch ein Produkt oder ein Gegenstand als öffentlich verfügbar gemacht? Reicht es hierzu aus, dass das Produkt bzw. deren Zusammensetzung nicht mehr nur einem begrenzten Personenkreis bekannt ist? Unzweifelhaft dürfte es ausreichen, wenn ein Unternehmen seine Produkte öffentlich, d. h. der Allgemeinheit zum Erwerb anbietet. In diesem Fall dürfte die Analyse des Produkts in Bezug auf die Bestandteile und deren Zusammensetzung als „Reverse Engineering“ unbeschränkt zulässig sein. Ob eine öffentliche Verfügbarkeit auch gegeben ist, wenn ein Produkt, dass naturgemäß nur durch eine sehr begrenzte, aber bestimmbare Anzahl von Personen genutzt wird, dieser speziellen Personengruppe zum Erwerb angeboten oder in sonstiger Weise verfügbar gemacht wird, ist zweifelhaft. Die Gesetzesbegründung gibt hierzu keine Anhaltspunkte. Öffentlich verfügbar sind nach der Gesetzesbegründung Produkte, die frei auf dem Markt erhältlich sind. Umfasst sind damit Masseprodukte. Diese müssen auch tatsächlich der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden. Ist ein solches Masseprodukt, wie z.B. eine handelsübliche Bohrmaschine nicht frei auf dem Markt erhältlich, darf die geheime Konstruktionsanleitung der Bohrmaschine nicht durch „Reverse Engineering“ erlangt werden. Ist ein Gegenstand nur für eine sehr spezielle Personengruppe bestimmt, kann nicht von einem sog. Masseprodukt ausgegangen werden. In der Regel wird dieses spezielle Produkt nur einer speziellen Personengruppe zugänglich gemacht. Dass es sich nicht um ein Masseprodukt handelt, wird aber für sich allein genommen nicht ausschließen können, dass das Produkt als öffentlich verfügbar im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) GeschGehG qualifiziert werden kann. Entscheidend wird sein, ob das Produkt für jedermann ohne Hindernisse zugänglich ist. Sinn und Zweck des Merkmals „öffentliche Verfügbarkeit“ kann nur sein, dass das Produkt weiteren Personen als dem, das Produkt „erschaffenden“ Personenkreis zugänglich gemacht wird oder werden kann. Die Verfügbarkeit des Produkts muss daher nach der abgeschlossenen Entwicklung in einem zweiten Schritt anderen Personen verfügbar gemacht werden. Öffentlich verfügbar ist damit ein sog. Masseprodukt, dass der Allgemeinheit frei verfügbar gemacht wird. Vereinzelt wird thematisiert, ob die Frage der öffentlichen Verfügbarkeit auch von den Marktgegebenheiten abhängig gemacht werden kann.17 Wird z.B. ein ganz spezielles Produkt für einen ganz bestimmten Anwendungsbereich, für das es weltweit nur eine begrenzte Zahl von Anwendern gibt, ausschließlich diesen begrenzten Abnehmern verfügbar gemacht, könnte vertreten werden, dass damit das Produkt öffentlich verfügbar gemacht wurde. Als Argument kann angeführt werden, dass das Spezialpro17
Leister GRUR-Prax 2019, 175, 176.
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dukt auch nur für die spezielle Personengruppe von Interesse ist, also für jeden des interessierten Kreises frei verfügbar ist, was einer öffentlichen Verfügbarkeit gleichgestellt werden könnte. Diese Ansicht erscheint zweifelhaft. Das ergibt sich insbesondere aus dem Sinn und Zweck der Erlaubnisregelung sowie der Systematik des § 3 Abs. 1 GeschGehG. Maßgeblich ist, dass eine Verfügbarkeit in diesem Fall auch nur für diese spezielle Abnehmergruppe besteht, also auch nur diese das Geschäftsgeheimnis in zulässiger Weise durch Analyse oder Rückbau erlangen dürften. Ein Dritter, dem das Produkt nicht bestimmungsgemäß zugänglich gemacht wird, kann nicht in zulässiger Weise durch Rückbau oder sonstige Analyse das Geschäftsgeheimnis erlangen. Zudem regelt § 3 Abs. 1 Nr. 2 lit. b) gerade den Fall, dass das Produkt sich im rechtmäßigen Besitz einer Person und damit auch einem begrenzten Personenkreis befindet. Gerade hierfür sieht das neue Gesetz für das „Reverse Engineering“ eine Beschränkungsmöglichkeit vor. Im Gegensatz zu dieser Konstellation – „rechtmäßiger Besitz – keine Pflicht zur Beschränkung“ – ist das Fehlen einer Pflicht zur Beschränkung bei öffentlich verfügbaren Produkten keine Voraussetzung. Der Gesetzgeber wollte damit bewusst diese beiden Fälle voneinander abgrenzen. Maßgeblich ist das bestimmungsgemäße Zugänglichmachen. Im Fall der öffentlichen Verfügbarkeit wird das Produkt jedermann bestimmungsgemäß zugänglich gemacht. In dem Fall, dass sich ein Produkt im rechtmäßigen Besitz einer Person bzw. einer Personengruppe befindet, wird es eben nur diesen bestimmten Personen bestimmungsgemäß zugänglich gemacht. In diesem Fall spielt auch der Wettbewerbsgedanke eine Rolle, dem der Arbeitgeber durch eine vertragliche Beschränkung des „Reverse Engineering“ begegnen kann. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) GeschGehG ist damit die Erlangung eines Geschäftsgeheimnisses zulässig für die Allgemeinheit bei sog. Masseprodukten, wenn diese der Allgemeinheit, damit jedermann, zugänglich gemacht werden. Ist ein Produkt nicht öffentlich verfügbar, ist „Reverse Engineering“ nach § 3 Abs. 1 Nr. lit. b) GeschGehG zulässig, wenn sich das Produkt im rechtmäßigen Besitz der beobachtenden, untersuchenden, rückbauenden oder testenden Person befindet und diese keiner Beschränkung hinsichtlich des „Reverse Engineering“ unterliegt. Voraussetzung ist zunächst, dass sich das Produkt im rechtmäßigen Besitz des Rückbauenden befindet. Das betrifft z.B. die Fälle, in denen das Produkt dem Arbeitnehmer zur Nutzung zu Verfügung gestellt wurde.18 Dem Inhaber des Geschäftsgeheimnisses wird in solchen Fällen anheimgestellt, die Möglichkeit zum „Reverse Engineering“ vertraglich auszuschließen, um so eine rechtmäßige Erlangung des Geschäftsgeheimnisses zu 18
BT-Drs. 19/4724, 26.
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verhindern.19 Der wirksame Ausschluss von „Reverse Engineering“ hat daher für Arbeitgeber große Relevanz. Besteht kein wirksamer Ausschluss des „Reverse Engineering“ ist das Erlangen von Geschäftsgeheimnissen durch Rückbau oder sonstige Analyse eines Produkts zulässig. Zudem ist zu unterscheiden zwischen dem „Reverse Engineering“ im eigentlichen Sinne, somit der Erlangung eines Geschäftsgeheimnisses, und der Verwertung des mittels „Reverse Engineering“ erlangten Know-hows. Der Wortlaut des § 3 Abs. 1 GeschGehG spricht nur vom Erlangen eines Geschäftsgeheimnisses. Dagegen erlaubt § 3 Abs. 2 GeschGehG neben der Erlangung ausdrücklich auch die Nutzung und Offenlegung eines Geschäftsgeheimnisses unter den dort geregelten Voraussetzungen. Insoweit bilden die Absätze 2 und 3 zwei unterschiedliche Erlaubnistatbestände, die unterschiedliche Handlungen und unterschiedliche Voraussetzung betreffen. Überzeugend ist daher die Auffassung, dass „Reverse Engineering“ die Erlangung, nicht jedoch eine weitere Verwertung des Geschäftsgeheimnisses betrifft. Zu unterscheiden ist damit das Erlangen, also das „Reverse Engineering“ im eigentlichen Sinn und die Verwendung des dadurch erlangten Geschäftsgeheimnisses. Dies gilt es insbesondere bei Geheimhaltungsvereinbarungen zu beachten. Üblicherweise verpflichtet eine arbeitsvertragliche Verschwiegenheitsvereinbarung den Arbeitnehmer zu Stillschweigen über das im beruflichen Kontext Erlangten. Wird das „Reverse Engineering“ nicht ausgeschlossen, bestehen hinsichtlich der Erlangung eines Geschäftsgeheimnisses keine Beschränkungen. Der Arbeitnehmer könnte ein, ihm zur Nutzung übergebenes Produkt in zulässiger Weise zurückbauen und analysieren und so das Geschäftsgeheimnis erlangen. Die Nutzung und Offenlegung wären ihm aber untersagt. Unabhängig davon, ob sich dieses Verbot aus einer Geheimhaltungsvereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ergibt, unterliegt der Arbeitnehmer bereits gemäß der aus seinem Arbeitsvertrag in Verbindung mit § 241 Abs. 2 BGB resultierenden Loyalitätspflicht dem Arbeitgeber gegenüber einer Verschwiegenheitsverpflichtung. Eine Nutzung und Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen ist im Arbeitsrecht demnach bereits aus den arbeitsvertraglichen Pflichten untersagt. Um auch das Erlangen von Geschäftsgeheimnissen zukünftig zu untersagen, muss aber eine entsprechende Vereinbarung abgeschlossen werden. Unabhängig davon gilt für beide Varianten des zulässigen „Reverse Engineerings“, dass aufgrund des Vorrangs anderer Vorschriften, die Regelungen zu Geschäftsgeheimnissen enthalten und die vom Geschäftsgeheimnisgesetz unberührt bleiben, weiterhin immaterialgüterrechtliche oder lauterkeitsrechtliche Schranken entgegenstehen können.20
19 20
Wie vor und Reinfeld Geschäftsgeheimnisse, § 2 Rn. 29. Vgl. Leister GRUR-Prax 2019, 175, 176.
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IV. Strukturen des Hinweisgeberschutzes nicht in Frage gestellt In § 5 GeschGehG werden zudem Ausnahmen normiert, bei deren Vorliegen die Erlangung, Nutzung und Offenlegung eines Geschäftsgeheimnisses nicht unter die Handlungsverbote des § 4 fällt. Schon vor Inkrafttreten des Gesetzes war höchst streitig, inwieweit die entsprechende Vorschrift sich im Kontext des bisherigen sogenannten Whistleblowings in Deutschland bewegt und ob durch die Norm die bisherigen Strukturen der Möglichkeit geändert werden, Fehlverhalten und nicht gewollte Entwicklungen in Unternehmen anzuzeigen oder öffentlich zu machen. Im Ergebnis muss man (unter Ausblendung des Umstands, dass bisher die sogenannte Whistleblower Richtlinie der Europäischen Union noch nicht umgesetzt ist) festhalten, dass sich an den grundsätzlichen Strukturen des Whistleblowings nichts geändert hat. Es bleibt dem Grunde nach bei dem, was in Deutschland schon zuvor galt. Insbesondere stellt die Neuregelung nicht in Frage, dass vor der behördlichen Einschaltung oder der Öffentlichmachung durch einen Beschäftigten immer ein interner Klärungsversuch erfolgen muss, sofern dies dem üblichen Ablauf im Betrieb entspricht. 1. Tatbestandsausnahme Der Gesetzgeber hatte diese Regelung zunächst als Rechtfertigungsgrund ausgestaltet. Mit der Umgestaltung der Regelung in einen Ausnahmetatbestand wollte der Gesetzgeber den, in den Sachverständigenanhörungen geäußerten, Bedenken Rechnung tragen. Wer sich auf die Ausnahme nach § 5 GeschGehG berufen kann, ist von vornherein kein Rechtsverletzer. Mehrere Sachverständige hatten ausgeführt, dass bereits die Erfüllung eines Verbotstatbestandes einen abschreckenden Effekt für die Arbeit von Journalisten haben könne, unabhängig davon wie weit ein dann greifender Rechtfertigungsgrund gefasst sei.21 Nachdem der Verbotstatbestand bereits mit der Tathandlung des Erlangens erfüllt sein kann, wäre der Tatbestand bereits durch das Inbesitzbringen der Information, demnach schon vor Veröffentlichung erfüllt. Dies könne dazu führen, dass Journalisten von einer Verbreitung absehen. Durch die Umgestaltung des ursprünglich vorgesehenen Rechtfertigungsgrunds in eine Tatbestandsausnahme kann zwar der Gefahr begegnet werden, dass bereits die Erfüllung des Verbotstatbestandes eine abschreckende Wirkung auf Journalisten haben kann. Die Umgestaltung birgt aber weitere Risiken, die insbesondere für das Arbeitsrecht gravierende Folgen haben können. Die Umgestaltung bedeutet eine erhebliche Veränderung im Hin21
BT-Drs. 19/8300, 14.
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blick auf die Beweislast. Dies kann neue Dokumentations- und umfassende Nachweispflichten auslösen. Diese Umkehr hin zur Beweislast negativer Tatsachen führt zu einer unbilligen Belastung der beweisbelasteten Person. Der vom Gesetzgeber bezweckte Schutz – insbesondere von Journalisten – erfolgt insoweit zu Lasten der Arbeitgeber. Der Gesetzgeber hätte aber ohne weiteres sowohl dem Schutz der Arbeitgeber im Allgemeinen als auch dem Schutz Dritter, z.B. von Journalisten, Rechnung tragen können. Er hätte den Rechtfertigungstatbestand als rechtsvernichtende Einwendung ausgestalten können. Auch dann wäre die Tatbestandsebene entfallen, es wäre aber nicht zu einer Beweislastumkehr gekommen. Übt der Journalist dieses Gestaltungsrecht aus, entfällt der Tatbestand des Handlungsverbots rückwirkend, d.h. es besteht von Anfang an kein Handlungsverbot. Bei Abwägung beiderseitiger Interessen ist es dem Journalisten bzw. Whistleblower auch zumutbar, dieses Gestaltungsrecht zunächst auszuüben. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die Tatbestandsausnahme des Whistleblowings in § 5 Abs. 2 GeschGehG voraussetzt, dass die Aufdeckung des Missstands zum Schutz des öffentlichen Interesses erfolgt und zudem geeignet ist, das öffentliche Interesse zu schützen. Während der Regierungsentwurf noch die Absicht verlangte, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen, muss nach § 5 Abs. 2 GeschGehG die Handlung geeignet sein, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen. Mit der Änderung wird klargestellt, dass es nicht allein auf die Absicht des Whistleblowers ankommt, sondern auch Mischmotivationen erfasst werden. Der Whistleblower muss aber zumindest auch das Motiv haben, zum Schutz des öffentlichen Interesses zu handeln. Diese Motivlage ist tatsächlich nur für den Whistleblower nachweisbar. Die, den Whistleblower antreibende Motivation ist der Sphäre des Arbeitgebers entzogen, es wird demnach für ihn faktisch kaum möglich sein, diese Motivlage nachzuweisen bzw. zu widerlegen. Die Ausgestaltung der Whistleblowing Regelung als rechtsvernichtende Einwendung würde diesem Problem begegnen und beiden Interessen angemessen Rechnung tragen. 2. Whistleblowing als Tatbestandsausnahme Arbeitsrechtlich relevant ist vor allem die in § 5 Ziffer 2 GeschGehG enthaltene Regelung zum Whistleblowing. Wird eine rechtswidrige Handlung oder ein berufliches oder sonstiges Fehlverhalten aufgedeckt, erfüllt die Aufdeckung des Geschäftsgeheimnisses nicht den Verbotstatbestand des § 4 GeschGehG, wenn die Aufdeckung geeignet ist, das öffentliche Interesse zu schützen. § 5 Ziffer 2 GeschGehG entspricht Art. 5 lit. b) der europäischen Geheimnisschutz-Richtlinie. Zum einen erlaubt sie einem Whistleblower neben der Aufdeckung einer rechtswidrigen Handlung auch die Aufdeckung eines „sonstigen Fehlverhaltens“. Nach der Gesetzesbegründung können hiervon Aktivitäten erfasst
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sein, die ein unethisches Verhalten darstellen, aber nicht notwendigerweise gegen Rechtsvorschriften verstoßen.22 Damit liefert das Kriterium einen denkbar unpräzisen Anknüpfungspunkt. Ein Whistleblower kann nur schwerlich rechtssicher beurteilen, ob ein unethisches und damit „sonstiges Fehlverhalten“ vorliegt. Das Merkmal „unethisches Fehlverhalten“ trägt damit weder den Interessen des Whistleblowers Rechnung noch den Interessen des Arbeitgebers. Eine Pflicht für Unternehmen zu ständigem – für jedermann – moralisch einwandfreiem Handeln mag wohl kaum konstruierbar sein. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die Moral nicht in allen Punkten für jedermann identisch definieren lässt und die Moral – nicht immer, aber oftmals – im Auge des Betrachters liegt. Ganz klar dürfte aber sein, dass das Aufdecken an sich rechtmäßig sein muss. Nur ein rechtmäßiges Aufdecken einer entsprechenden Handlung kann den Ausnahmetatbestand erfüllen. Es stellt sich insbesondere die Frage, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen Arbeitnehmer, die Kenntnis von solchen Informationen über rechtswidrige Handlungen oder sonstige Fehlverhaltensweisen haben, sich unmittelbar an Dritte, z.B. die Aufsichtsbehörden, wenden dürfen. Der Ausnahmetatbestand des § 5 GeschGehG kann aber nicht das, durch die ständige nationale und europäische Rechtsprechung entwickelte Erfordernis des vorrangigen innerbetrieblicher Klärungsversuchs sowie die Interessenabwägung zwischen den Interessen des Geheimnisinhabers und den Interessen desjenigen, der das Geheimnis offenbart, völlig obsolet machen. Der EGMR hat den Schutz der Reputation und des Ansehens im wirtschaftlichen Verkehr als legitimes Interesse anerkannt. § 1 Abs. 3 Nr. 4 GeschGehG stellt überdies klar, dass das Arbeitsrecht von den Regelungen des Geschäftsgeheimnisgesetzes unberührt bleibt. Für eine Abwägung aller berührter Interessen im Einzelfall und die Annahme des Vorrangs eines innerbetrieblichen Klärungsversuchs spricht auch Erwägungsgrund 21 der Geheimnisschutz-Richtlinie, der den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betont. Das Geschäftsgeheimnisgesetzes hebt somit nicht die arbeitsgerichtlichen Grundsätze zum rechtmäßigen Whistleblowing auf. Während der Regierungsentwurf noch die Absicht verlangte, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen, muss nach § 5 Ziffer 2 GeschGehG die Handlung „geeignet sein“, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen. Mit der Änderung wird klargestellt, dass es nicht allein auf die Absicht des Hinweisgebers ankommt, sondern auch Mischmotivationen erfasst werden. Mit Blick auf die Gesetzesbegründung muss es sich um ein regelwidriges Verhalten, ein Fehlverhalten oder eine illegale Tätigkeit von einigem Ausmaß oder Gewicht handeln, deren Offenlegung dem allgemeinen öffentlichen Interesse dient. Das Geschäftsgeheimnis darf also nur zur Abwehr von tatsäch22
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lichen oder gutgläubig angenommenen Verletzungen oder Gefährdungen öffentlicher Interessen offengelegt werden. Die Handlung muss erfolgen, um das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen. Der Whistleblower muss daher zumindest hinreichend Anlass gehabt haben, ein Fehlverhalten anzunehmen, dessen Offenlegung dem allgemeinen öffentlichen Interesse dient. § 5 Ziffer 2 GeschGehG gilt nach seinem ausdrücklichen Wortlaut nur für die in § 4 GeschGehG geregelten Handlungsverbote. Eine Anwendung auf andere Normen, die den Geheimnisverrat unter Strafe stellen, wie z.B. § 120 BetrVG, ist nicht gewollt. Dadurch, dass das Geschäftsgeheimnisgesetzes die Aufdeckung von betrieblichen Missständen unter gewissen Voraussetzungen privilegiert, kann nicht geschlossen werden, dass Whistleblowing in jeder Hinsicht sanktionsfrei bleibt. Der ausdrückliche Verweis auf § 4 GeschGehG wurde im Gesetzgebungsprozess durch die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages in den Wortlaut von § 5 Ziffer 2 GeschGehG eingefügt. Damit sollte ausdrücklich klargestellt werden, dass sich die Ausnahmetatbestände nur auf die Handlungsverbote im Geschäftsgeheimnisgesetzes beziehen. Im Ergebnis ist daher der Anwendungsbereich von § 5 GeschGehG auf das Geschäftsgeheimnisgesetz beschränkt. § 5 ist in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten nur zu prüfen, wenn Ansprüche aus dem Geschäftsgeheimnisgesetz wie z.B. der Anspruch auf Unterlassung oder Schadensersatz, oder z.B. in einem Kündigungsschutzverfahren inzident Verstöße gegen ein Handlungsverbot aus dem Geschäftsgeheimnisgesetz geprüft werden. Zusammengefasst gilt, dass die bewährten Leitlinien sowohl nationaler als auch europäischer Rechtsprechung für die Behandlung von WhistleblowerFällen auch außerhalb von § 5 Nr. 2 GeschGehG hinreichend vorhanden sind und weiterhin – zumindest bis zu einer gesetzlichen Regelung im Nachgang zur Whistleblowing-Richtlinie – angewendet werden können.
V. Fazit Der Schutz von Geheimnissen als Geschäftsgeheimnisse im Sinne des Geschäftsgeheimnisgesetzes wird eine weitere dauerhaften Aufgabe für Arbeitgeber darstellen. In Betrieben werden immer wieder neue Informationen entstehen, die vertraulich behandelt werden müssen und die den Schutz des Geschäftsgeheimnisgesetzes verlangen. Insoweit wird der Umgang mit dem neuen Gesetz Unternehmen zwar helfen können, aber auch neue Fragen aufwerfen. Insbesondere beim Thema „Hinweisgeberschutz“ halten sich die Anpassungen der Rechtsordnung richtigerweise in überschaubaren Grenzen. In der Bundesrepublik besteht ein gut funktionierendes System, Verfehlungen innerhalb und außerhalb eines Betriebs bekannt zu machen. Daran ändert das Gesetz nichts.
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Roland Wolf und Kristina Harrer-Kouliev
Wissenszurechnung in Kapitalgesellschaften
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III. Gesellschaftsrecht und Corporate Governance
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Wissenszurechnung in Kapitalgesellschaften
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Wissenszurechnung in Kapitalgesellschaften Christian Armbrüster
Wissenszurechnung in Kapitalgesellschaften, insbesondere bei der D&O-Versicherung CHRISTIAN ARMBRÜSTER
I. Einführung Die Zurechnung von Wissen in Kapitalgesellschaften spielt in verschiedenem Kontext eine Rolle. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit bietet die Frage, ob den Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern verschiedener Kfz-Hersteller die durch Mitarbeiter vorgenommenen Abgas-Manipulationen bekannt gewesen sind oder ob ihnen zumindest deren Wissen zurechenbar ist.1 Im Folgenden soll das Augenmerk auf die Bedeutung gerichtet werden, die der Wissenszurechnung in Kapitalgesellschaften für die D&O-Versicherung zukommt, also für solche Versicherungsverträge, die das Haftpflichtrisiko der Mitglieder von Leitungsorganen sowie ggf. weiterer Manager decken. Geht es um die Haftung von Organwaltern, etwa um ihre Verantwortlichkeit für Schäden gegenüber der Aktiengesellschaft nach den §§ 93, 116 AktG, so kann die Frage nach der Kenntnis dieser Personen von bestimmten Tatsachen bisweilen dahingestellt bleiben. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man bei fehlender oder nicht nachweisbarer Kenntnis zumindest ein haftungsbegründendes Organisationsverschulden der Organwalter annimmt. Dieses besteht dann darin, dass sie keine hinreichenden organisatorischen Vorkehrungen getroffen haben, um den Informationsfluss zu ihnen zu gewährleisten.2 Steht hingegen keine gesellschaftsrechtliche Haftung von Organwaltern in Rede, sondern die vertraglich begründete Leistungspflicht eines Versicherers, so ist dann, wenn ein bestimmter versicherungsrechtlicher Tatbestand positive Kenntnis voraussetzt, der Weg über ein Organisationsverschulden regelmäßig verschlossen. Vielmehr muss in solchen Fällen im Prozess zur Überzeugung des Gerichts feststehen, dass die betreffende Person im maßgeblichen Zeitpunkt die erforderliche Kenntnis gehabt hat.
1
S. dazu BGH NJW 2020, 1962 Rn. 29 ff. Zur sekundären Darlegungslast in solchen Fällen s. auch Pfeiffer ZIP 2017, 2077 ff. 2 Vgl. etwa Wagner in MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2017, § 826 Rn. 39; krit. Leuschner in MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2018, § 31 Rn. 33 f.
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Christian Armbrüster
Im Versicherungsrecht kommt es in verschiedenem Kontext darauf an, ob eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt Kenntnis von einer konkreten Tatsache gehabt hat. Dabei kann es um Kenntnis des Versicherungsnehmers oder des Versicherers gehen. Zudem kommt es bisweilen auf die Kenntnis von versicherten Personen (in der Terminologie des VVG: Versicherten) an, also solchen Personen, deren Interesse durch einen Versicherungsvertrag gedeckt ist, ohne dass sie selbst an diesem Vertrag als Partei beteiligt sind. Generell ist das Wissen einer Person immer dann bedeutsam, wenn es für das zu versichernde oder bereits versicherte Risiko eine Rolle spielt und zwischen den Beteiligten ein Informationsgefälle besteht. Typischerweise sind der Versicherungsnehmer und die versicherten Personen über die für die Beurteilung des Risikos maßgeblichen Tatsachen besser informiert als der Versicherer. Daher sieht § 19 Abs. 1 VVG vor, dass der Versicherungsnehmer vor Vertragsschluss die ihm vom Versicherer in Textform gestellten risikobezogenen Fragen beantworten muss. Zudem wird in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) typischerweise geregelt, dass bestimmte Sachverhalte, von denen der Versicherungsnehmer bereits bei Vertragsschluss Kenntnis hatte, vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind. Die Wissenszurechnung in der Kapitalgesellschaft ist bei der D&OVersicherung praktisch besonders bedeutsam. Die Besonderheit, dass die Gesellschaft hier als Versicherungsnehmer den Organmitgliedern als versicherten Personen deren Haftpflichtschutz beschafft und finanziert,3 macht die D&O-Versicherung geradezu zu einem Testfall für die Dogmatik der Wissenszurechnung in der Kapitalgesellschaft: Schließt der Vorstand namens der Gesellschaft den Versicherungsvertrag, so stellt sich die Frage, ob die Kenntnis eines Vorstandsmitglieds oder einer anderen Person, etwa eines Rechtsberaters, von einem bestimmten gefahrerheblichen Umstand der Gesellschaft mit der Folge zuzurechnen ist, dass der Versicherungsschutz u.U. auch für die übrigen versicherten Personen entfällt. Im Folgenden soll die Thematik daher anhand der D&O-Versicherung erörtert werden. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob eine Aktiengesellschaft als D&O-Versicherungsnehmerin Kenntnis von einem vor dem Beginn des Versicherungsschutzes begangenen Pflichtverstoß eines Organmitglieds hatte (s. dazu unten sub III). Ein weiterer Bereich, in dem die Wissenszurechnung eine Rolle spielen könnte, ist der üblicherweise in D&O-Versicherungsbedingungen vereinbarte Risikoausschluss für „wissentliche Pflichtverletzungen“, die zu einem Versicherungsfall führen (s. dazu unten sub IV). Die Thematik betrifft, wie erwähnt, nicht allein den Fall, dass es um das Wissen der Gesellschaft als der Versicherungsnehmerin geht. Zwar steht diese Konstellation in der Praxis im Vordergrund. Es kann sich aber auch auf Seiten des Versicherers die Frage einer Wissenszurechnung stellen. Sie spielt 3
Näher Armbrüster in FS K. Schmidt, 2019, Bd. I, 23, 24 f.
Wissenszurechnung in Kapitalgesellschaften
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etwa dann eine Rolle, wenn es darum geht, ob der Versicherer bei Abgabe einer Deckungszusage (als eines deklaratorischen Schuldanerkenntnisses)4 wusste, dass eine versicherte Person einen Pflichtverstoß begangen hatte. Ist dem Versicherer die entsprechende Kenntnis einer natürlichen Person – etwa eines eigenen Mitarbeiters oder eines Versicherungsvertreters i.S.v. § 59 Abs. 2 VVG – zurechenbar, so kann dies dazu führen, dass er ungeachtet des Verstoßes an seine Deckungszusage gebunden ist.
II. Kenntnis der Kapitalgesellschaft 1. Kenntnis und Kennenmüssen Für die Kenntnis einer Tatsache ist es regelmäßig erforderlich, dass der Betreffende positives (definitives) Wissen von ihr hat.5 Dafür genügt es bereits, wenn er die Augen bewusst vor der offensichtlichen Tatsache verschlossen hat.6 Kenntnis ist eine innere Tatsache, die nicht mit einer rechtlichen Wertung im Sinne eines Verschuldensvorwurfs verbunden ist. Kenntnis lässt sich nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden feststellen. Vielmehr kommt es, sofern Kenntnis bestritten wird, auf die gesamten Umstände des Einzelfalls an. Der Begriff des Kennenmüssens umschreibt hingegen den Fall, dass der Betreffende zwar kein positives Wissen hat (oder dies zumindest nicht beweisbar ist), seine Unkenntnis jedoch fahrlässig ist (s. die Legaldefinition in § 122 Abs. 2 BGB). Beim Kennenmüssen geht es also um einen Verschuldensvorwurf; Maßstab ist die Erkennbarkeit für eine durchschnittliche Person. 2. Voraussetzungen einer Wissenszurechnung a) Zurechnung der Kenntnis eines Organmitglieds Eine juristische Person kann als solche keine „natürliche“ Kenntnis von Tatsachen haben. Daher vermitteln ihr die Organmitglieder diese Kenntnis. Einer juristischen Person ist mithin die Kenntnis ihrer Organmitglieder zurechenbar. Diese Zurechnung wird verbreitet teils auf § 31 BGB gestützt, teils auf § 166 Abs. 1 BGB, jeweils in unmittelbarer bzw. analoger Anwendung. Vorzugswürdig erscheint es, die Zurechnung jeweils nach wertenden Maßstäben vorzunehmen. Dabei ist die Leitlinie heranzuziehen, dass der 4
S. nur BGH VersR, 2014, 1118 Rn. 21 (betr. Rechtsschutzversicherung). Armbrüster in Prölss/Martin VVG, 30. Aufl. 2018, § 2 VVG Rn. 25 (im Kontext von § 2 Abs. 2 S. 2 VVG). 6 KG VersR 2011, 993, 994; s. auch Habersack/Foerster in Großkomm AktG, Bd. 4/1, 5. Aufl. 2015, § 78 Rn. 40. 5
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Vertragspartner einer juristischen Person dadurch, dass er es nicht mit einer natürlichen Person zu tun hat, sub specie der Kenntnis von bestimmten Umständen weder besser noch schlechter gestellt werden soll (Gleichstellungsgedanke).7 Dies spricht dafür, jedenfalls bei solchem Wissen, das für die Erreichung des jeweiligen Vertragszwecks bedeutsam ist, die Zurechnung zur Gesellschaft auch dann vorzunehmen, wenn nicht jedes Organmitglied selbst Kenntnis von dem betreffenden Umstand hat. b) Zurechnung der Kenntnis weiterer Personen aa) Mitarbeiter der juristischen Person In D&O-Versicherungsverträgen findet sich verbreitet eine Klausel, wonach der versicherten Gesellschaft das Wissen ihrer sog. Repräsentanten zugerechnet wird. Der Begriff des Repräsentanten hat im Privatversicherungsrecht eine spezifische und von der Verwendung desselben Ausdrucks im Kontext der organschaftlichen Wissenszurechnung8 zu unterscheidende Bedeutung. Dieses Begriffsverständnis betrifft freilich nicht die Wissens-, sondern die Verhaltenszurechnung. Es ist wesentlich durch die Rechtsprechung des BGH zur versicherungsrechtlichen Repräsentantenhaftung geprägt, welche mittlerweile zu Gewohnheitsrecht erstarkt ist. Demnach ist Repräsentant des Versicherungsnehmers jede Person, der in einer umfassenden Weise entweder die Risikoverwaltung oder die Vertragsverwaltung überantwortet worden ist. Für das Tun und Unterlassen dieser Personen in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen hat der Versicherungsnehmer ebenso einzustehen wie wenn es sich um sein eigenes Verhalten handeln würde. Die versicherungsrechtliche Repräsentantenhaftung tritt funktional an die Stelle der allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Haftung für Erfüllungsgehilfen nach § 278 BGB. Sie dient wesentlich dazu, im Privatversicherungsrecht einer Aushöhlung des Versicherungsschutzes entgegenzuwirken, wie sie bei einer Heranziehung der Erfüllungsgehilfenhaftung drohen könnte.9 Dogmatisch lässt sich die Nichtanwendbarkeit von § 278 BGB damit begründen, dass es sich bei den versicherungsrechtlichen Verhaltensregeln typischerweise um (nicht einklagbare) Obliegenheiten und nicht um Rechtspflichten handelt. Für die hier interessierende Wissenszurechnung lassen sich aus der soeben beschriebenen versicherungsrechtlichen Repräsentantenhaftung keine Folgerungen ableiten. Insbesondere ist nicht das Wissen einer Person, bei der es sich um einen Repräsentanten in dem soeben dargelegten Sinn handelt, infolge einer auf Repräsentanten abstellenden Wissenszurechnungsklausel als 7
S. zum Ganzen Armbrüster/Kosich ZIP 2020 (im Druck). S. dazu Leuschner in MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2018, § 31 Rn. 14 ff. 9 Armbrüster Privatversicherungsrecht, 2. Aufl. 2019, Rn. 1666 ff. 8
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ein solches des Versicherungsnehmers (in der D&O-Versicherung also: der Gesellschaft) zu behandeln. Wer Repräsentant im Sinne einer Wissenszurechnungsklausel ist, muss vielmehr anhand einer von der versicherungsrechtlichen Repräsentantenhaftung losgelösten Beurteilung ermittelt werden. Bisweilen enthalten die Versicherungsbedingungen hierzu eine Aufzählung von Funktionsträgern, die als Repräsentanten in diesem Sinne anzusehen sein sollen. Diese Regeln entfalten allerdings insofern keine Bindungswirkung, als die Eigenschaft als Repräsentant im Zusammenhang mit der Wissenszurechnung (ebenso wie im Übrigen auch der versicherungsrechtliche Repräsentantenbegriff)10 nicht der Parteidisposition unterliegt.11 Dasselbe gilt für die Frage, inwiefern das Wissen bestimmter Personen einem Versicherungsnehmer oder einer versicherten Person zugerechnet wird. Vielmehr sind jeweils objektive Kriterien maßgeblich. Nach den allgemeinen, in entsprechender Anwendung von § 31 BGB aufgestellten Regeln zur Wissenszurechnung bei juristischen Personen ist eine verbandsrechtliche Repräsentantenhaftung entwickelt worden, die nicht mit der wesentlich engeren versicherungsrechtlichen Repräsentantenhaftung verwechselt werden darf. Repräsentanten i.S. der verbandsrechtlichen Regeln sind außer den Organwalter auch andere „verfassungsmäßig berufene Vertreter“. Dabei genügt es, dass jemandem bedeutsame Funktionen der juristischen Person zur eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen sind und er die juristische Person insoweit repräsentiert.12 Im Versicherungsrecht hat die Rechtsprechung für die Wissenszurechnung den Begriff des Wissensvertreters entwickelt. Dieser Maßstab ist einerseits spezieller als der soeben dargestellte der verbandsrechtlichen Repräsentantenhaftung. Andererseits ist er auch allgemeiner, da er nicht allein die Wissenszurechnung zu juristischen Personen betrifft. Inhaltlich lassen sich freilich trotz der Bezugnahme der verbandsrechtlichen Repräsentantenhaftung auf „verfassungsmäßig berufene Vertreter“ angesichts des weiten Verständnisses dieses Begriffs für die hier interessierende Wissenszurechnung keine signifikanten Unterschiede ausmachen. Wissensvertreter ist nach der Definition des BGH „jeder, den der Geschäftsherr dazu berufen hat, im Rechtsverkehr für ihn bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls weiterzugeben“13. Dabei ist Geschäftsherr der Versicherungsnehmer, hier also die Gesellschaft. Der BGH hat es ausdrücklich genügen lassen, dass der Wissensvertreter die Informationen „speichert“, also 10
Zur Definition des Repräsentanten s. Armbrüster in Prölss/Martin VVG, § 28 Rn. 99 ff. Wandt in MünchKomm VVG, 2. Aufl. 2016, § 28 Rn. 162. 12 St. Rspr.; s. nur BGH NJW 1998, 1854, 1857; OLG Frankfurt ZIP 2020, 123, 124. 13 BGH VersR 2000, 1133, 1134 (sub. II 4 b); s. bereits BGHZ 117, 104, 106 f. 11
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abrufbar hält.14 Die Zurechnung des Wissens setzt demnach nicht voraus, dass der Wissensvertreter es an die Gesellschaft weitergereicht hat.15 Es kommt nicht darauf an, in welcher Weise der Wissensvertreter handelt und welchen Platz er in der Hierarchie der Gesellschaft einnimmt, sofern seine Aufgaben nicht rein technischer Natur sind.16 Daher können außer den Organwaltern auch sonstige Mitarbeiter einer Gesellschaft deren Wissensvertreter sein. Darüber hinaus können als Wissensvertreter einer Kapitalgesellschaft auch externe Berater anzusehen sein (s. noch sub cc).17 bb) Mitarbeiter von Konzerngesellschaften Für die Zurechnung von Wissen innerhalb eines Konzerns kommt es darauf an, in welcher Weise die Informationsflüsse ausgestaltet sind. Sind bestimmte Manager einer Konzerngesellschaft verpflichtet an den Vorstand der Konzernspitze zu berichten, so bietet dies die Grundlage für eine entsprechende Wissenszurechnung.18 Dies gilt auch für Personen, die lediglich mittelbar einer Berichtspflicht gegenüber dem Vorstand der Versicherungsnehmerin unterlagen. cc) Externe Berater der Gesellschaft Das Wissen von externen Beratern wie etwa Rechtsanwälten oder Wirtschaftsprüfern ist einer Gesellschaft unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls zurechenbar. Dazu zählt der Fall, dass die Beratung sich gerade auf diejenigen Umstände bezieht, um deren Kenntnis es geht. Hat also die juristische Person von einem externen Berater zu einer bestimmten Frage Rat eingeholt, so ist ihr das diesbezügliche Wissen des Beraters zurechenbar. Soweit der Berater sein Wissen an die juristische Person weitergegeben hat, handelt es sich nicht einmal um die Zurechnung fremden Wissens, sondern um die Erlangung eigenen Wissens durch Einholung externen Rats. Wenn der Berater sein Wissen nicht weitergereicht hat oder wenn es auf den Zeitpunkt der Weiterleitung ankommt und dieser nicht feststellbar ist, kommen die Regeln zur Wissensvertretung (s. oben sub aa) zum Zuge: Das 14
BGH VersR 1996, 628, 631 (sub. C 2 b). BGH VersR 2000, 1133, 1134; Armbrüster in Prölss/Martin VVG, 30. Aufl. 2018, § 28 Rn. 134; Heiss in Bruck/Möller VVG, 9. Aufl. 2008, § 28 Rn. 118; s. auch (nicht versicherungsrechtlich) BGH NJW 1996, 1339, 1340 f. 16 Armbrüster in Prölss/Martin VVG, 30. Aufl. 2018, § 28 Rn. 141; Looschelders in Beckmann/Matusche-Beckmann Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 17 Rn. 123 f. 17 Looschelders in Beckmann/Matusche-Beckmann Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 17 Rn. 123 f. 18 Zu den Einzelheiten s. Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 78 Rn. 56d; Spindler in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 78 Rn. 103; vgl. auch BGH NJW 1993, 2807 f. (betr. Zugriffsmöglichkeit einer Konzerngesellschaft auf gemeinsamen Datenpool). 15
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Wissen des Beraters wird der juristischen Person zugerechnet, ohne dass es – wie dargelegt – auf eine Weiterleitung an sie ankommt.19 c) Zurechnung bei der Versicherung für fremde Rechnung Praktisch wichtig ist die Frage, welche Regeln für die Wissenszurechnung dann maßgeblich sind, wenn der Versicherungsnehmer (als der Vertragspartner des Versicherers) die Versicherung nicht in Bezug auf ein eigenes Risiko abgeschlossen hat, sondern auf das Risiko der versicherten Person als eines Dritten. In solchen Fällen handelt es sich um eine Versicherung für fremde Rechnung (§§ 43 ff. VVG); sie stellt einen besonders geregelten Anwendungsfall des echten Vertrages zugunsten Dritter i.S.v. § 328 BGB dar. Die D&O-Versicherung ist eine Versicherung für fremde Rechnung: Die Gesellschaft schließt sie im eigenen Namen ab und ist Prämienschuldner, versichert ist aber das Haftungsrisiko der Organwalter und weiterer Manager.20 Die Frage der Wissenszurechnung ist bei dieser Konstellation nicht zuletzt deshalb besonders brisant, weil typischerweise diejenigen geschäftsführenden Organwalter, die den D&O-Versicherungsvertrag namens der Gesellschaft abschließen, zugleich selbst von dem dadurch vereinbarten Haftpflichtversicherungsschutz profitieren. Zur Wissenszurechnung bei der Versicherung für fremde Rechnung regelt § 47 Abs. 1 VVG Folgendes: Hier ist auch die Kenntnis des Versicherten zu berücksichtigen, soweit die Kenntnis des Versicherungsnehmers von Bedeutung ist. Wichtig ist bei dieser Vorschrift das Wort „auch“. § 47 Abs. 1 VVG soll sicherstellen, dass der Versicherer bei der Versicherung für fremde Rechnung nicht schlechter gestellt wird als bei einer Eigenversicherung des Versicherungsnehmers. Damit soll insbesondere verhindert werden, dass der Träger eines versicherten Interesses, der von bestimmten den Versicherungsschutz beeinträchtigenden Umständen Kenntnis hat, eine diese Umstände nicht kennende Person gleichsam „vorschiebt“, die dann als Vertragspartner des Versicherers den Vertrag abschließt. Soweit es um das versicherte Interesse einer versicherten Person geht, ist daher auch deren Kenntnis für ihren Versicherungsschutz bedeutsam. Bei der D&O-Versicherung ist die Frage besonders praxisrelevant, inwiefern das Wissen einer versicherten Person einer anderen versicherten Person schadet. Grundsätzlich findet insoweit keine Zurechnung statt, sodass es allein auf das eigene Wissen der jeweiligen versicherten Person ankommt. Eine entsprechende Aussage findet sich bisweilen auch ausdrücklich im Versicherungsvertrag. Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern dieser Grundsatz auch auf solche Situationen angewandt werden kann, in denen die 19 20
Armbrüster in Prölss/Martin VVG, 30. Aufl. 2018, § 28 Rn. 143. Armbrüster in FS K. Schmidt, 2019, Bd. I, 23, 24 f.
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Kenntnis bestimmter Umstände für die Vereinbarungen über Existenz und Reichweite des Versicherungsschutzes bedeutsam ist. Dies spielt insbesondere eine Rolle im Hinblick auf Klauseln, nach denen für solche (behauptete oder tatsächliche) Pflichtverletzungen kein Versicherungsschutz besteht, die der Versicherungsnehmerin bei Vertragsschluss bekannt waren. Darauf soll im Folgenden näher eingegangen werden.
III. Anwendungsfall: Rückwärtsdeckung 1. Grundlagen In den AVB einer D&O-Versicherung findet sich verbreitet die Klausel, dass der Versicherungsschutz sich auch auf Versicherungsfälle aufgrund von Pflichtverletzungen erstreckt, die bereits vor Abschluss des Versicherungsvertrags begangen worden sind. Eine solche Regelung sieht z.B. Ziff. A-5.2 der „Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die VermögenschadenHaftpflichtversicherung von Aufsichtsräten, Vorständen und Geschäftsführern (AVB D&O)” vor, die der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) veröffentlicht hat. Diese Klausel hat folgenden Wortlaut:21 „Rückwärtsdeckung für vorvertragliche Pflichtverletzungen Der Versicherungsschutz erstreckt sich auch auf Versicherungsfälle aufgrund von vor Vertragsbeginn begangenen Pflichtverletzungen. Dies gilt jedoch nicht für solche Pflichtverletzungen, die die in Anspruch genommene(n) versicherte(n) Person(en) oder der Versicherungsnehmer bei Abschluss dieses Versicherungsvertrages kannte(n). Als bekannt gilt eine Pflichtverletzung, wenn sie von dem Versicherungsnehmer oder der (den) versicherten Person(en) als – wenn auch nur möglicherweise – objektiv fehlsam erkannt oder ihnen gegenüber, wenn auch nur bedingt, als fehlsam bezeichnet worden ist, auch wenn Schadenersatzansprüche weder erhoben noch angedroht noch befürchtet worden sind.“
Zwar wird in der Praxis vielfach von den unverbindlichen Musterbedingungen abgewichen. Indessen sind inhaltlich mit der zitierten Klausel vergleichbare Regelungen auch in zahlreichen anderen Klauselwerken anzutreffen. Solche Regelungen sind nämlich für das ordnungsgemäße Funktionieren der D&O-Versicherung aus Sicht beider Vertragsparteien von grundlegender Bedeutung. Einerseits stellen derartige Klauseln zugunsten der versicherten Personen sicher, dass der Versicherer auch für solche Inanspruchnahmen einer versi21 Stand: Mai 2019, abrufbar unter: www.gdv.de. Nahezu wortgleich etwa Ziff. 3.1 AVB-AVG (Stand: August 2017).
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cherten Person leistungspflichtig ist, die sich auf bereits vor Vertragsschluss begangene Pflichtverletzungen beziehen. Diese zeitliche Erstreckung ist wichtig, da der Versicherungsfall in der D&O-Versicherung – anders als in der allgemeinen Haftpflichtversicherung – nicht im Eintritt eines Schadens oder in der ihn verursachenden Handlung besteht, sondern in der Erhebung von Schadensersatzansprüchen gegen den Versicherten, sei es durch die Gesellschaft (also die Versicherungsnehmerin) selbst oder durch Dritte. Nach diesem sog. Claims-made-Prinzip ist die erstmalige schriftliche Geltendmachung eines Haftpflichtanspruchs maßgeblich (s. etwa Ziff. A-2 AVB D&O). Zugleich wird der Umfang des Versicherungsschutzes zeitlich dahingehend begrenzt, dass die Inanspruchnahme wegen einer Pflichtverletzung erfolgt sein muss, die während der Dauer des Versicherungsvertrags, also jedenfalls nach Vertragsschluss, begangen worden ist (Ziff. A-5.1 AVB D&O). Die oben im Wortlaut zitierte Klausel (Ziff. A-5.2 AVB D&O) erweitert diesen zeitlichen Anwendungsbereich hinsichtlich der Pflichtverletzung auf die Zeit vor Vertragsbeginn. Andererseits bewahren Klauseln der genannten Art den Versicherer vor sog. Zweckabschlüssen, die anderenfalls im Hinblick auf eine sich bei Vertragsschluss schon abzeichnende Eintrittspflicht drohen könnten: Käme es auf die Unkenntnis einer bevorstehenden Inanspruchnahme nicht an, so könnte darin ein Anreiz liegen, alsbald einen D&O-Versicherungsschutz zu vereinbaren, so dass die anschließend erfolgende und bereits zuvor absehbar gewesene Anspruchserhebung in jedem Fall versichert wäre. Mit der Begrenzung der Rückwärtsdeckung auf solche vorvertragliche Pflichtverletzungen, die weder dem Versicherer noch der betreffenden versicherten Person bekannt waren, wird zugleich dem Grundsatz Rechnung getragen, dass Gegenstand eines Versicherungsvertrags die Absicherung gegen Risiken ist, deren Verwirklichung sich aus Sicht beider Vertragsparteien als ungewiss darstellt. Dieser Grundsatz findet in den Vorgaben zur Rückwärtsversicherung gem. § 2 Abs. 2 VVG seinen legislativen Niederschlag. Der Gesetzgeber hat diesbezüglich sogar durch eine eigene Regelung in Abs. 3 dieser Vorschrift sichergestellt, dass beim Vertragsschluss durch einen Vertreter sowohl dessen Kenntnis als auch diejenige des Vertretenen zu berücksichtigen ist. Weiß daher eine versicherte Person bei Vertragsschluss, dass bereits eine Pflichtverletzung eingetreten ist, so kann sie dafür nach Ziff. A-5.2 S. 2 AVB D&O nach Eintritt des Versicherungsfalls keinen Versicherungsschutz verlangen. Wenn dies in den Bedingungen hinsichtlich der versicherten Personen nicht ausdrücklich so geregelt ist, folgt das Gleiche über eine Anwendung des bereits erörterten § 47 Abs. 1 VVG. Unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt einer Wissenszurechnung zur Gesellschaft ist der zweite Teil der Regelung zum Wegfall der Rückwärtsdeckung bei Kenntnis bedeutsam: Wenn die Gesellschaft von der bereits vor Vertragsbeginn einge-
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tretenen Pflichtverletzung weiß, führt dies zum Anspruchsverlust aller versicherten Personen hinsichtlich dieser Pflichtverletzung. 2. Wissenszurechnung zulasten unwissender versicherter Personen In der Praxis entsteht bisweilen Streit darüber, ob Rückwärtsdeckungsklauseln der geschilderten Art dazu führen, dass die Kenntnis einer versicherten Person von der einer anderen versicherten Person zur Last geworfenen Pflichtverletzung dieser anderen Person auch dann schadet, wenn letztere von dieser Pflichtverletzung nichts wusste. Man könnte dies mit der Begründung ablehnen, anderenfalls werde der Grundsatz verletzt, dass einer versicherten Person lediglich eigenes Wissen schaden soll. Indessen liegt es in der Konsequenz des Umstands, dass die Rückwärtsdeckungsklausel typischerweise nicht allein auf das Wissen einer versicherten Person, sondern alternativ auch auf dasjenige der Gesellschaft als der Versicherungsnehmerin abstellt, dass einer versicherten Person auch das Wissen einer anderen versicherten Person schadet, sofern nur die Gesellschaft sich dieses Wissen zurechnen lassen muss. Letzteres ist nach dem oben Ausgeführten insbesondere dann anzunehmen, wenn es sich bei dem Wissensträger um einen Organwalter handelt. Die Klausel läuft bei diesem Verständnis auch keineswegs leer. Vielmehr nutzt sie einer versicherten Person immer dann, wenn bei Vertragsschluss weder sie selbst noch – qua Zurechnung – die Versicherungsnehmerin von der jeweiligen bereits eingetretenen und ihr später zur Last gelegten Pflichtverletzung weiß. Die Lage ist hier anders als dann, wenn eine Obliegenheitsverletzung in Rede steht. Insoweit schadet ein Verstoß durch eine versicherte Person ausschließlich dieser; der Versicherungsschutz anderer versicherter Personen bleibt unberührt, sofern ihnen nicht ihrerseits ein Verstoß zur Last fällt. Diese Regel kommt im Wortlaut des § 47 Abs. 1 VGG nicht klar zum Ausdruck; sie kann jedoch als allgemein anerkannt gelten.22 Sie beruht auf der Überlegung, dass eine persönliche Sanktion aufgrund einer Obliegenheitsverletzung stets mit einem persönlichen Verschuldensvorwurf verknüpft ist (vgl. § 28 VVG). An diesem Unterschied wird erkennbar, dass die Zurechnung von Wissen beim Vertragsschluss eine andersartige Thematik und Interessenlage betrifft als diejenige von Obliegenheitsverletzungen: Im ersten Fall geht es darum, dass derjenige, dessen Interesse durch den Versicherungsvertrag gedeckt werden soll – bei einer Versicherung für fremde Rechnung wie der D&OVersicherung also: die versicherte Person – daraus, dass er den Vertrag nicht selbst abschließt, keinen Vorteil erzielen soll. Auf derselben Überlegung beruht etwa auch der Grundsatz, dass es eine versicherte Person hinzunehmen 22
Klimke in Prölss/Martin VVG, 30. Aufl. 2018, § 47 Rn. 7a f.
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hat, wenn der Versicherer aufgrund einer vom Versicherungsnehmer begangenen arglistigen Täuschung den Vertrag nach § 123 BGB anficht, auch wenn die versicherte Person an dieser Täuschung unbeteiligt war und nicht einmal von ihr wusste.23 Bei Obliegenheiten geht es hingegen um ein vertragswidriges Verhalten, das nur demjenigen schaden soll, der es selbst begangen hat oder der sich die Begehung durch eine dem engen versicherungsrechtlichen Repräsentantenbegriff (s. sub II. 2. b. aa.) unterfallende Person zurechnen lassen muss. 3. Anforderungen an die Kenntnis a) Inhaltliche Reichweite Rückwärtsdeckungsklauseln stellen regelmäßig darauf ab, ob eine Pflichtverletzung als „bekannt“ anzusehen ist. Mit dem Wort „bekannt“ wird positive Kenntnis umschrieben; ein „Kennenmüssen“ genügt nicht.24 Die maßgeblichen Personen müssen zunächst die Tatsachen kennen, aus denen zumindest objektiv folgt, dass die betreffende versicherte Person sich gegenüber der Versicherungsnehmerin (Innenhaftung) oder einem Dritten (Außenhaftung) pflichtwidrig verhalten haben könnte. Darüber hinaus ist für eine Kenntnis erforderlich, dass die betreffenden Personen auch die mögliche Pflichtwidrigkeit des Verhaltens kannten. Dafür genügt es, wenn ein Verhalten für „nicht in Ordnung“ gehalten wird (vgl. Ziffer A-5.2 Satz 3 AVB D&O: „fehlsam“), sofern damit nicht lediglich ein außerrechtlicher (z.B. moralischer) Maßstab angelegt wird. Ein Indiz für das Wissen um die im Raum stehende Pflichtwidrigkeit kann darin liegen, dass diese Einschätzung noch anwaltlich bestätigt und abgesichert werden soll, bevor ein womöglich aufwendiger und über einen längeren Zeitraum unerwünschte Publizität schaffender Schadensersatzprozess angestrengt wird. Es genügt, dass das in Frage stehende Verhalten jedenfalls für potentiell pflichtwidrig gehalten wird. Ob tatsächlich eine Pflicht verletzt worden ist, bleibt letztlich der Klärung im Haftungsprozess als gerichtlicher Fortsetzung der Inanspruchnahme der versicherten Person vorbehalten. Dass die Pflichtwidrigkeit eines Verhaltens nicht von Beginn an feststehen muss, spiegelt sich auch im zweigliedrigen Versicherungsschutz der D&O-Versicherung wider: Nach dem auch der allgemeinen Haftpflichtversicherung gem. § 100 VVG zu Grunde liegenden Leistungsversprechen hat der Versicherer den Versicherungsnehmer (hier: die versicherte Person) von begründeten, auf einem tatsächlich pflichtwidrigen Verhalten beruhenden Scha23
BGH VersR 2011, 1563 Rn. 30 ff. (Heros II). Vgl. BGH VersR 1994, 711 (im Kontext von § 16 Abs. 1 VVG a.F. [§ 19 Abs. 1 VVG n.F.]; Brand in Bruck/Möller VVG, 9. Aufl. 2010, § 47 Rn. 7. 24
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densersatzansprüchen freizustellen und unbegründete, also lediglich prima facie infolge einer Pflichtwidrigkeit bestehende, Schadensersatzansprüche abzuwehren. b) Maßgeblicher Zeitpunkt Die erforderliche Kenntnis bezieht sich auf Pflichtverletzungen einer versicherten Person im Zeitraum bis zum Beginn der Laufzeit des Versicherungsvertrags. Dieser Vertragsbeginn fällt nicht notwendig mit dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses zusammen. Vielmehr ist damit der sog. materielle Versicherungsbeginn gemeint, also derjenige Zeitpunkt, zu dem – vorbehaltlich einer zeitlichen Vorerstreckung durch die Rückwirkungsklausel – die Leistungspflicht des Versicherers einsetzen soll. Dieser Zeitpunkt ist üblicherweise im Versicherungsschein bzw. bei Vertragsverlängerungen in späteren Nachträgen angegeben. Er ist für die jeweilige Pflichtverletzung ausschlaggebend: Liegt sie zeitlich vor dem materiellen Versicherungsbeginn, so besteht Versicherungsschutz nur vorbehaltlich einer Kenntnis seitens der versicherten Person oder der Versicherungsnehmerin. Maßgeblich für die Kenntnis von der Pflichtverletzung ist hingegen der Zeitpunkt, zu dem der Versicherungsvertrag oder ein Nachtrag zustande kommt. Daher ist es unerheblich, ob zu einem früheren Zeitpunkt die Kenntnis möglicherweise fehlte oder ob sie zwischenzeitlich – etwa wegen einer professionellen Beratung, derzufolge keine Pflichtverletzung vorliegt – entfallen war, sofern sie nur bei Vertragsschluss (wieder oder noch) vorlag. Für die erforderliche Kenntnis genügt es nicht, wenn sich für eine verständige Person aus den ihr bekannten Tatsachen die Schlussfolgerung aufgedrängt hätte, dass Pflichtverstöße eingetreten sind. Dies würde vielmehr der Definition von Kennenmüssen (s. oben sub II 1) entsprechen. Erforderlich ist vielmehr, dass die betreffende Person selbst tatsächlich aus den ihr bekannten Tatsachen die Folgerung gezogen hat, dass Pflichten verletzt worden sind. Da es sich um eine innere Tatsache handelt, muss diese Frage anhand der gesamten Umstände beurteilt werden. Wenn eine Person professionellen Rat zu der Frage eingeholt hat, ob eine Pflichtverletzung vorliegt, und der Ratgeber dies gegenüber der ratsuchenden Person bejaht hat, liegt eigene Kenntnis der Person vor. Sofern eine entsprechende Informationsweiterleitung nicht stattgefunden hat oder es auf den genauen Zeitpunkt der Weiterleitung ankommt und dieser nicht festgestellt werden kann, ist die Kenntnis nach den Regeln vom Wissensvertreter (s. sub II 2 b aa) der Person zurechenbar. Bisweilen enthalten die AVB nähere Regelungen zur Kenntnis. So wird in Ziff. A-5.2 S. 3 AVB D&O definiert, wann eine Pflichtverletzung als bekannt gilt. Demnach ist es erforderlich, dass die versicherte Person oder die Versicherungsnehmerin die Pflichtverletzung als möglicherweise „objektiv
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fehlsam“ erkannt hat oder wenn sie ihnen gegenüber zumindest bedingt als fehlsam bezeichnet worden ist. Diese Anforderungen sind vergleichsweise gering. Es genügt demnach etwa, wenn einzelne Aktionäre gegenüber Organwaltern Anschuldigungen erhoben haben, ohne dass damit zugleich Schadensersatzansprüche in den Raum gestellt worden sein müssen. Die Musterklausel knüpft damit an Umstände an, die vergleichsweise einfach zu beweisen sind. So kann es genügen, auf in öffentlichen Medien geäußerte Kritik abzustellen. Demgegenüber erfordert der – nach der allgemeinen Beweislastregel dem Versicherer obliegende – Nachweis von Kenntnis dann, wenn die konkret vereinbarte Rückwärtsdeckungsklausel keine derartige Definition enthält, im Prozess bisweilen einen erheblichen Aufwand. 4. Maßgebliche Personen Probleme können sich ergeben, wenn eine Regelung zur Rückwärtsdeckung anders als die zitierte Musterklausel keine Angaben darüber enthält, auf wessen Kenntnis es ankommt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Versicherer auch für die Vergangenheit Deckungsschutz verspricht und dies mit der knappen Einschränkung „frei von bis zum … [Datum] bekannten Pflichtverletzungen“ verbindet. Aus einer solchen Formulierung lässt sich nicht ohne Weiteres entnehmen, auf wessen Kenntnis es insoweit ankommen soll. Es bedarf daher einer Auslegung. Aus der maßgeblichen Sicht eines durchschnittlichen D&O-Versicherungsnehmers, der die AVB aufmerksam und verständig liest, dient die Klausel dazu Zweckabschlüsse zu verhindern: Der Versicherer möchte nicht leistungspflichtig sein für Inanspruchnahmen, die auf bereits bei Vertragsschluss bekannten Pflichtverletzungen beruhen. Mithin ist jedenfalls die Kenntnis der Gesellschaft und Versicherungsnehmerin (als der Vertragspartnerin des Versicherers) maßgeblich. Für die Wissenszurechnung gelten insoweit sodann die oben dargelegten Grundregeln. Angesichts des Zwecks der Klausel ist darüber hinaus und davon unabhängig auch hier die Kenntnis der jeweiligen versicherten Person, um deren Anspruch auf Versicherungsleistungen es nach Eintritt eines Versicherungsfalls geht, schädlich. Hat eine versicherte Person die Tatsachen selbst herbeigeführt, die als Pflichtverletzung zu bewerten sind, so ist insoweit ohne Weiteres von einer Kenntnis dieser Tatsachen auszugehen. Zudem ist für eine Kenntnis, wie oben (sub III 3 a) ausgeführt, erforderlich, dass der Person bewusst war, dass diese Tatsachen als potentielle Pflichtverletzung anzusehen sind. Dies wird, sofern es um eigene Pflichtverletzungen geht, keineswegs notwendig der Fall sein; zumindest dürfte dem Versicherer der Beweis dieser inneren Tatsache oft schwer fallen. Der Kenntnis steht es freilich gleich, wenn eine Person sich ihr bewusst verschließt.
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IV. Abgrenzungsfall: Ausschluss wissentlicher Pflichtverletzungen 1. Grundlagen Einen gesetzlichen Ausschluss der Leistungspflicht des Versicherers für den Fall der vorsätzlichen und widerrechtlichen Schadensherbeiführung enthalten die Vorschriften über die Haftpflichtversicherung in § 103 VVG. Anknüpfungspunkt für die erforderlichen inneren Umstände bei Versicherungsnehmer bzw. versicherter Person ist hierbei der allgemeine zivilrechtliche Vorsatzbegriff. Mithin ist ein Handeln mit dolus eventualis ausreichend.25 Zahlreiche D&O-Bedingungswerke modifizieren diesen Risikoausschluss dahingehend, dass auch ein wissentliches Abweichen von Rechtsvorschriften sowie eine wissentliche Pflichtverletzung von der Leistungspflicht des Versicherers ausgeschlossen sein sollen. Zudem fehlt es hingegen häufig an dem den Ausschluss des § 103 VVG einschränkenden Erfordernis der Widerrechtlichkeit. Beispiel: Ziff. A-7.1 AVB D&O hat folgenden Inhalt: „Vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind Haftpflichtansprüche wegen vorsätzlicher Schadensverursachung oder durch wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschrift, Beschluss, Vollmacht oder Weisung oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung. Den versicherten Personen werden die Handlungen und Unterlassungen nicht zugerechnet, die von anderen Organmitgliedern begangen werden;“
Diese Klausel ist hinsichtlich der vorsätzlichen Schadensverursachung als inhaltlich mit der vorsätzlichen Schadensherbeiführung in § 103 VVG korrespondierend zu verstehen. Weiter geht Ziff. A-7.1 AVB D&O mit Blick auf wissentliche Pflichtverletzungen, von welchen das zuvor in der Klausel aufgezählte wissentliche Abweichen von (Rechts-)Vorschriften eine Spielart ist. Erforderlich für das Vorliegen einer wissentlichen Pflichtverletzung ist zwar – im Gegensatz zur vorsätzlichen Schadensverursachung – nicht, dass auch der Schadenserfolg vom inneren Willen der versicherten Person getragen ist. Jedoch reicht bedingter Vorsatz nicht aus. Vielmehr muss die versicherte Person die verletzte Pflicht kennen sowie dolus directus hinsichtlich des Pflichtverstoßes haben.26 Die wissentliche Pflichtverletzung knüpft an die jeweilige versicherte Person an. Hier kommt also eine Zurechnung von Wissen qua Kenntniszurechnung an die Gesellschaft und von dieser wiederum an eine für sich ge25
Lücke in Prölss/Martin VVG, 30. Aufl. 2018, § 103 Rn. 5. BGH VersR 2001, 1103 (1105) zu § 4 Nr. 5 S. 1 AVB-RA; BGH VersR 1991, 176 (177 f.) zu § 4 Nr. 6 S. 1 AVB-WB (jeweils gleichlautend mit Ziff. A-7.1 AVB D&O). 26
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nommen unwissende Person nicht zum Zuge. Insoweit unterscheidet sich die Lage im Ergebnis von dem oben (sub III) behandelten Anwendungsfall der Rückwärtsdeckung. Im Folgenden soll noch auf eine Anschlussfrage eingegangen werden, die sich beim Zusammentreffen von wissentlicher und fahrlässiger Pflichtverletzung stellt. 2. Fallgruppe der Mitursächlichkeit Problematisch kann die Anwendung des Risikoausschlusses wegen wissentlicher Pflichtverletzung in der D&O-Versicherung bei solchen Schadensszenarien sein, in denen mehrere versicherte Personen mehrere den Schaden verursachende Pflichtverletzungen begehen oder mehrere versicherte Personen an einer den Schaden verursachenden Pflichtverletzung mitwirken (z.B. an einer Gremienentscheidung) und dabei teils wissentlich, teils „nur“ fahrlässig handeln. Der für das Versicherungsrecht zuständige IV. Zivilsenat des BGH hat sich in einer Entscheidung von 2015 zur Auslegung des Risikoausschlusses wegen wissentlicher Pflichtverletzung in der Vermögensschadenhaftpflichtversicherung geäußert. Dies geschah im Rahmen eines die klägerische Nichtzulassungsbeschwerde abweisenden Beschlusses.27 a) Ansicht des BGH zur Vermögensschadenhaftpflichtversicherung Der BGH meint mit Blick auf § 4 Nr. 5 AVB Vermögen, der Versicherungsschutz einer Vermögensschadenhaftpflichtversicherung entfalle bereits dann, wenn eine von mehreren schadensursächlichen Pflichtverletzungen wissentlich begangen wurde. Aus einer vorangegangenen Entscheidung des OLG Düsseldorf, nach welcher der Versicherungsschutz bestehen bleibt, wenn – neben ausgeschlossenen Pflichtverletzungen – eine Pflichtverletzung übrig bleibt, die nicht von einem Ausschlusstatbestand erfasst ist,28 soll sich demnach für die Frage der Reichweite des Leistungsausschlusses des § 4 Nr. 5 AVB Vermögen nichts herleiten lassen.29 Dies gelte auch für eine Entscheidung des OLG Koblenz, nach welcher Versicherungsschutz besteht, wenn der Versicherungsnehmer im Haftpflichtprozess des Geschädigten gegen ihn aus einem vom Versicherungsschutz ausgeschlossenen Rechtsgrund verurteilt wurde. Dieses Urteil lasse erkennen, dass eine Verurteilung auch auf Rechtsgründe innerhalb des versicherten Risikos hätte gestützt werden können.30 Der Senat verweist auch 27
BGH VersR 2015, 1156. OLG Düsseldorf VersR 2002, 748, 749. 29 BGH VersR 2015, 1156, 1157. 30 OLG Koblenz VersR 1979, 830, 831. 28
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auf seine geänderte Rechtsprechung31 zur Bindungswirkung des Haftpflichtprozesses für den Deckungsprozess gegen den Versicherer. Maßgeblich für die Reichweite eines Risikoausschlusses wie § 4 Nr. 5 AVB Vermögen sei vielmehr die Auslegung der Klausel aus Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers. Diesem erschließe sich aus ihrem Wortlaut und Zweck, dass der Versicherer nicht bereit sei für Versicherungsfälle einzustehen, bei denen die Schäden durch wissentliche Pflichtverletzungen verursacht werden. Insbesondere erkenne der durchschnittliche Versicherungsnehmer, dass die Klausel nicht darauf abzielt, Versicherungsnehmer zu privilegieren, die einen Schaden mittels mehrerer, teils wissentlicher, teils unbewusster Pflichtverstöße herbeiführen. Die Privilegierung einer derartigen gesteigerten Sorglosigkeit sei erkennbar sinnwidrig. 32 Damit ist zugleich der dem Beschluss des Senats zugrunde liegende Sachverhalt umrissen: Dabei geht es um einen Versicherungsnehmer, der mehrere, teils wissentliche, teils fahrlässige Pflichtverletzungen begangen hat, die allesamt mitursächlich für einen entstandenen Schaden waren. Ausdrücklich nicht Gegenstand des Beschlusses war die Konstellation, in welcher mehrere Versicherungsnehmer bzw. versicherte Personen Pflichtverletzungen begehen, die für sich genommen entweder wissentlich oder fahrlässig sowie allesamt mitursächlich für einen entstandenen Schaden sind. b) Übertragbarkeit auf die D&O-Versicherung Der der Entscheidung des BGH zugrunde liegende Sachverhalt kann auch bei der D&O-Versicherung auftreten. Dabei kann die Auffassung des Senats, dass eine Privilegierung des gesteigert sorglos Handelnden erkennbar dem Sinn und Zweck des Risikoausschlusses für wissentliche Pflichtverletzungen widerspreche, ohne Weiteres auf die D&O-Versicherung, etwa auf Ziff. A-7.1 AVB D&O, übertragen werden.33 Umstritten ist allerdings, ob die Entscheidung des Senats auch auf die eingangs beschriebene, D&O-spezifische Konstellation (s. sub IV 2) uneingeschränkt Anwendung finden kann. Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass der Anspruch auf Versicherungsleistung in der D&O-Versicherung jeder einzelnen versicherten Person individuell zusteht.34 Im Grundsatz wirkt sich daher ein subjektiver Ausschlusstatbestand, den eine versicherte Person verwirklicht, nicht auf die jeweiligen Ansprüche auf Versicherungsleistung 31
BGH VersR 2006, 106, 107. BGH VersR 2015, 1156, 1157. 33 Mitterlechner/Wax/Witsch D&O-Versicherung mit internationalen Bezügen, 2. Aufl. 2019, § 7 Rn. 70. 34 Ihlas in MünchKomm VVG, Bd. 3, 2. Aufl. 2017, D&O Rn. 894; Langheid VersR 2017, 1365, 1368; Looschelders VersR 2018, 1413, 1417 f.; Mitterlechner/Wax/Witsch D&O-Versicherung mit internationalen Bezügen, 2. Aufl. 2019, § 7 Rn. 71. 32
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der anderen versicherten Personen aus, die das entsprechende subjektive Merkmal nicht aufweisen. Mit Blick hierauf sind sog. Severability-Klauseln, die Eingang in zahlreichen D&O-Bedingungswerken gefunden haben und die darauf abzielen, die Zurechnung der Kenntnis einzelner versicherter Personen zu Lasten anderer, kenntnisloser versicherter Personen zu unterbinden, überwiegend deklaratorischer Natur.35 Allerdings können solche Klauseln konstitutiv wirken, wenn sie die abdingbare Zurechnungsvorschrift des § 47 VVG dahingehend zu modifizieren versuchen, dass die Kenntnis einer versicherten Person dem Versicherungsnehmer nicht zugerechnet wird und sie sich infolgedessen nicht zu Lasten des Versicherungsschutzes anderer, kenntnisloser versicherter Personen auswirkt.36 Die überwiegende Literatur erachtet den Befund, dass sich das Vorliegen eines subjektiven Ausschlusstatbestandes nur bei einer versicherten Person nicht negativ auf andere versicherten Personen auswirkt, als maßgeblich für beide Komponenten des zweigliedrig ausgestalteten Leistungsversprechens der D&O-Versicherung als Haftpflichtversicherung, also sowohl für den Abwehrrechtsschutz gegen unbegründete Ansprüche als auch für Freistellungsanspruch gegen begründete Ansprüche (vgl. § 100 VVG).37 Nach der Gegenansicht38 ist hingegen eine differenzierte Betrachtung geboten. Demnach bleibt lediglich der Anspruch auf Abwehrrechtsschutz einer versicherten Person bei Vorliegen eines subjektiven Leistungsausschlusses bei einer anderen versicherten Person unberührt. Hinsichtlich der Freistellungskomponente dürfe dies nicht gelten. Denn andernfalls komme in den (praktisch ganz im Vordergrund stehenden) D&O-Innenhaftungsfällen die Versicherungsnehmerin als Geschädigte in den Genuss der Versicherungsleistung. Gerade dies solle nach Auffassung des BGH für den Fall ausgeschlossen sein, dass ein fahrlässig begangener Pflichtverstoß mit einem wissentlich begangenen Pflichtverstoß, der von einem der Versicherungsnehmerin zuzurechnenden Organ begangen wurde, zusammentrifft. Die Versicherungsnehmerin müsse daher einen Abzug von der Leistung des D&O-Versicherers hinnehmen.39 35
Lange D&O-Versicherung und Managerhaftung, 2014, § 13 Rn. 107. Etwa für den Fall arglistiger Täuschung einer versicherten Person, die dem Versicherungsnehmer gem. § 47 VVG zugerechnet wird, und anschließender Anfechtung durch den Versicherer mit Wirkung der ex-tunc-Nichtigkeit auch zu Lasten anderer versicherter Personen. Beispiele und Lösungsvorschläge bei Lange D&O-Versicherung und Managerhaftung, 2014, § 13 Rn. 88 ff.; Mitterlechner/Wax/Witsch D&O-Versicherung mit internationalen Bezügen, 2. Aufl. 2019, § 9 Rn. 147 ff. 37 Ihlas in MünchKomm VVG, Bd. 3, 2. Aufl. 2017, D&O Rn. 894; Looschelders VersR 2018, 1413, 1417 f.; Mitterlechner/Wax/Witsch D&O-Versicherung mit internationalen Bezügen, 2. Aufl. 2019, § 7 Rn. 71 ff. 38 Langheid VersR 2017, 1365, 1368. 39 Langheid VersR 2017, 1365, 1368. 36
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Daher soll im Rahmen der Freistellungsverpflichtung des Versicherers der Anspruch jedenfalls um den Teil zu kürzen sein, der auf die wissentliche Pflichtverletzung entfällt. Als Lösungsmodell wird eine Kürzung ähnlich den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld empfohlen. Diesem Modell liegt die Prämisse zugrunde, dass hier der wissentlich Handelnde derjenige ist, der von der Gläubigerin – der Versicherungsnehmerin als Geschädigter – von seiner Haftung befreit ist, während der fahrlässig Handelnde weiterhin in vollem Umfang haftet, so dass insoweit eine „Störung“ der Gesamtschuld anzunehmen sei.40 Die Haftungsbefreiung resultiere daraus, dass sich die Versicherungsnehmerin als Geschädigte an denjenigen Schädiger halten werde, der Versicherungsschutz genießt, und sie insofern den wissentlich Handelnden nicht in Anspruch nehmen werde.41 Der fahrlässig Handelnde sei daher einer höheren Haftungsquote ausgesetzt, als er materiell zu verantworten habe. c) Stellungnahme Zunächst gilt es zu klären, was genau unter der „Kürzung“ des Anspruchs im Rahmen der Freistellungsverpflichtung des Versicherers zu verstehen sein soll. Sofern damit ein Anspruch der Versicherungsnehmerin gegen den D&O-Versicherer auf Versicherungsleistung gemeint ist, kann dies allenfalls die Situation betreffen, in welcher eine fahrlässig handelnde versicherte Person in einem Innenhaftungsfall ihren Anspruch auf Freistellung gegenüber dem D&O-Versicherer an die Versicherungsnehmerin abgetreten und sich dieser in ihrer Hand in einen Zahlungsanspruch gegen den D&O-Versicherer umgewandelt hat.42 Für den Fall, dass diese Abtretung (noch) nicht stattgefunden hat, ist eine „Kürzung“ des Freistellungsanspruchs schwer vorstellbar. Denn dann hat einzig die versicherte Person einen Anspruch auf Freistellung gegen den D&O-Versicherer. Dass dieser um den (möglicherweise noch nicht feststehenden) Haftungsanteil wissentlich pflichtwidrig handelnder versicherter Personen gekürzt werden soll, die fahrlässig handelnde versicherte Person aber weiterhin in voller Höhe dem Haftungsanspruch der Versicherungsnehmerin ausgesetzt sein soll, leuchtet nicht ein. Vielmehr folgt gerade daraus, dass bei der fahrlässig handelnden versicherten Person kein Risikoausschluss vorliegt, dass ihr auch der Versicherungsschutz umfassend zugute kommen muss. Letztlich ist es jedoch auch der Haftungsanspruch der Versicherungsnehmerin als Geschädigter gegen den fahrlässig Handelnden, der nach der 40
Langheid VersR 2017, 1365, 1368 f. Langheid VersR 2017, 1365, 1368. 42 Mitterlechner/Wax/Witsch D&O-Versicherung mit internationalen Bezügen, 2. Aufl. 2019, § 10 Rn. 11 ff. 41
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geschilderten Ansicht um den Haftungsanteil des wissentlich Handelnden gekürzt werden müsse.43 Dann aber stünde die Versicherungsnehmerin als Geschädigte schlechter da, als wenn sie gar keinen D&O-Versicherungsschutz hätte, da sie in letzterem Fall auch den fahrlässig Handelnden in voller Höhe in Anspruch nehmen könnte.44 Von einer Kürzung ähnlich den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld könnte in diesem Fall keine Rede sein. Zudem würde der Grundsatz, dass die Deckung der Haftung folgt (und nicht umgekehrt),45 durchbrochen, wenn der Haftungsanspruch insoweit zu kürzen wäre, als der D&O-Versicherer den fahrlässig Handelnden nicht freizustellen hat.46 Die Prämisse, dass die Versicherungsnehmerin als Geschädigte auch mit Blick auf eine verfügbare D&O-Versicherungssumme gegen den fahrlässig Handelnden vorgehen wird, begegnet zudem Bedenken: Welche Personen die in einer Kapitalgesellschaft Verantwortlichen (je nach Konstellation Vorstand oder Aufsichtsrat) aufgrund eines durch Organwalter verursachten Schadens in Anspruch nehmen, unterliegt nach Maßgabe der ARAG/ Garmenbeck-Rechtsprechung47 nicht ihrem freien Ermessen. Gegen den wissentlich Handelnden Ansprüche nicht durchzusetzen ist daher in einer Vielzahl von Fällen für sie keine Option. Das Petitum, der Wissentlichkeitsausschluss müsse auf den Freistellungsanspruch fahrlässig Handelnder durchschlagen, übergeht zudem, dass der BGH seine Rechtsauffassung in dem zitierten Beschluss keineswegs von dem Ergebnis abhängig macht, der Geschädigte dürfe in einer solchen Wissentlichkeits-Fahrlässigkeits-Kombination nicht in den Genuss der Versicherungsleistung gelangen. Die Erwägungen des Senats betreffen einzig die Auslegung des Risikoausschlusses sowie die sonst drohende, sinnwidrige Privilegierung des gesteigert sorglos Handelnden (s. oben sub IV 2 a). Zudem steht in der hier thematisierten Konstellation nicht die Zurechnung der Kenntnis einer versicherten Person zu Lasten der Versicherungsnehmerin in Rede. Vielmehr geht es um eine mögliche Belastung einer kenntnislosen versicherten Person mit der Kenntnis einer anderen versicherten Person ohne den „Umweg“ der Zurechnung über die Versicherungsnehmerin. Die Individualität des Anspruchs auf die Versicherungsleistung – und eben auch der Freistellungskomponente – spiegelt sich auch in der Definition des Versicherungsfalls der D&O-Versicherung. Nach dem Claimsmade-Prinzip liegt ein Versicherungsfall vor, wenn eine versicherte Person auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird (s. Ziff. A-2 AVB D&O und oben sub III 1). Sofern der BGH also solche Schadensszenarien vom 43
Langheid VersR 2017, 1365, 1369. Looschelders VersR 2018, 1413, 1418. 45 Zu Ausnahmen s. Armbrüster NJW 2009, 187 ff. 46 Looschelders VersR 2018, 1413, 1418. 47 BGHZ 135, 244 = NJW 1997, 1926. 44
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Versicherungsschutz ausnehmen möchte, bei welchen Versicherungsfälle auf wissentlichen und fahrlässigen Pflichtverletzungen beruhen, bedeutet dies – auf die D&O-Versicherung gemünzt –, dass die Inanspruchnahme einer versicherten Person, die sowohl wissentlich als auch fahrlässig handelt, nicht vom Versicherungsschutz umfasst sein soll (s. bereits oben sub IV 2 a a.E.). Ist das teils wissentliche und teils fahrlässige Verhalten mehrerer versicherter Personen mitursächlich für einen eingetretenen Schaden und werden diese Personen sodann in Anspruch genommen, handelt es sich nach dem Claimsmade-Prinzip zunächst um mehrere Versicherungsfälle, deren jeweilige Deckung separat zu beurteilen ist. Zwar kennt auch die D&O-Versicherung sog. Serienschadenklauseln (vgl. Ziff. A-6.6 AVB D&O), bei welchen eine Pflichtverletzung, die durch mehrere versicherte Personen begangen wurde, oder aber mehrere Pflichtverletzungen, die durch eine oder mehrere Personen begangen wurden, als ein Versicherungsfall gelten. Indes handelt es sich hierbei gerade um eine Fiktion, die in der Systematik der D&O-Versicherung und des Claims-made-Prinzips eine Ausnahme darstellt.
V. Ergebnisse 1. Bei der D&O-Versicherung schadet im Rahmen der üblichen Klauseln zur Rückwärtsdeckung das Wissen der Gesellschaft als der Versicherungsnehmerin von einer vor Vertragsbeginn begangenen Pflichtverletzung jeder versicherten Person, der diese Pflichtverletzung vorgeworfen wird. 2. Das Wissen von sog. Wissensvertretern wird der Versicherungsnehmerin zugerechnet. Zum Kreis der Wissensvertreter können neben Organwaltern der Gesellschaft selbst und von Konzerngesellschaften auch sonstige Mitarbeiter zählen, ferner insbesondere Berater. Es genügt die Bestimmung zur eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung für die Gesellschaft und zur „Speicherung“ des dabei erlangten Wissens. 3. Subjektive Risikoausschlüsse wie derjenige wegen wissentlicher Pflichtverletzung bewirken den Verlust des Versicherungsschutzes nur zulasten derjenigen versicherten Personen, bei welchen ihre Voraussetzungen tatsächlich vorliegen. Eine Zurechnung zulasten anderer versicherter Personen (sei es unmittelbar oder über die Gesellschaft) findet auch nicht über § 47 VVG statt, wonach es auf die Kenntnis sowohl des Versicherungsnehmers als auch der versicherten Person ankommen kann. Sog. Severability-Klauseln in D&O-Bedingungswerken sind insoweit deklaratorischer Natur.
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4. Freistellungs- und Schadensersatzansprüche sind bei D&O-Innenhaftungsfällen, die auf teils fahrlässigen, teils wissentlichen Pflichtverletzungen mehrerer versicherter Personen beruhen, nicht ähnlich den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld zu kürzen. Vielmehr genießen in derartigen Konstellationen fahrlässig Handelnde umfassenden D&O-Versicherungsschutz.
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Why Is There No U.S. Code of Corporate Governance? – Some comparative observations on corporate governance regulation GREGOR BACHMANN
I. Introduction There is a rich body of literature comparing U.S. and foreign corporate and securities law. One aspect, however, has so far not been discussed. It is the question of why the United States, unlike most other jurisdictions, does not follow the British model of regulating public companies through a code of corporate governance. Although several such codes exist in the United States, not one of them has been singled out, either by legislators or stock exchanges, as “the” U.S. corporate governance code, and not one is subject to a formal “comply-or-explain” requirement, which is a key feature of U.K. and European Union (“EU”) corporate governance that has also been adopted in Asia and elsewhere. The following essay intends to shed some light on this topic. It is dedicated to my academic mentor and teacher, Christine Windbichler, who shares not only my interest in comparative corporate governance, soft law, and (other) types of private ordering,1 but also pioneered research on the convergence of governance structures in Europe with a seminal article comparing U.S. and German board models.2 I hope that she will find the following thoughts inspiring.
1 See, e.g., Windbichler, Lex Mercatoria, in: James D. Wright (ed.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 2nd ed., vol. 13 (2015), pp. 915–918; Windbichler, in: Möllers (ed.), Geltung und Faktizität von Standards (2009), pp. 19–35. 2 See Windbichler, ZGR 1985, 50–73; see also Windbichler, JITE 152 (1996), pp. 250– 262; Windbichler, Festschrift für Klaus J. Hopt, vol. 1 (2010), pp. 1505–1519.
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II. The Global Success of Corporate Governance Codes In recent years we have seen a global proliferation of corporate governance codes. Almost every jurisdiction now employs some form or another of this regulatory tool, which is characterized by three main features: (1) it is not issued by the legislature or by the government, but rather some other regulatory body; (2) its recommendations are not binding and may or may not be followed; and (3) issuers that chose not to follow the recommendations of a code have to explain their decision to the public (“comply-or-explain”).3 The role model for this kind of regulation is the British Cadbury Code, which was drafted by a committee chaired by Sir Cadbury and promulgated in 1992.4 The Cadbury Committee was set up in May 1991 by the Financial Reporting Council (“FRC”), the London Stock Exchange (“LSE”), and the accountancy profession as a reaction to corporate scandals in the 1980s, tasked with making proposals that would improve corporate regulation. Part of the committee’s final report was a “Code of Best Practice”, later known as the Cadbury Code, which – after several reforms – transformed into today’s U.K. Code of Corporate Governance, now drafted and overseen by the FRC.5 The LSE soon required companies listed on its exchange to comply with the Code’s recommendations or explain their refusal to do so.6 Today, the U.K. Code is the single benchmark code for public companies in the United Kingdom.7 Although the Cadbury Code was not the first of its kind—prior codes had been issued in the United States, Hong Kong, and Ireland8—it became the 3
See Bachmann, in: Tountopoulos & Veil (eds.), Transparency of Stock Corporations in Europe (2019), pp. 57, 60 et seq. 4 For a more detailed description see Lowry/Reisberg, Pettet’s Company Law, 4th ed. (2012), pp. 207–225; Kershaw, Company Law in Context, 2nd ed. (2012), pp. 252 seq.; Hannigan, Company Law, 4th ed. (2016), pp. 123 seq. 5 The British Institute of Directors (“Iod”), a private lobbying group representing industry interests, has recently proposed to move this task to an independent Corporate Governance Commission. See IoD, Corporate Governance Manifesto (2019), p. 4. 6 See LR 9.8.6R (5) and (6) UK Listing Rules. The code and the LR distinguish between “principles” and “provisions.” The comply-or-explain principle only applies to the code’s “provisions.” The “principles” are considered to be binding, but owing to their general nature issuers enjoy some leeway in how to follow them. Accordingly, they are required to explain “how” they have applied them. 7 Private proposals have been made to supplement it with a “Code of Conduct for Directors” and a “Code of Code of Practice for Board Evaluation.” See IoD, Corporate Governance Manifesto (2019), pp. 4–5. 8 See Aguilera/Cuervo-Cazurra, 25 Organization Studies 417 (2004), p. 420. In 1989, the Hong Kong Stock Exchange issued its first “Code of Best Practice”, and in 1991 the Irish Association of Investment Managers drafted the ”Statement of Best Practice on the Role and Responsibility of Directors of Publicly Listed Companies.”
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paragon for most other codes worldwide. Today, most jurisdictions bolster their company laws by a corporate governance code which contains rules concerning the functioning and composition of the board of directors, director’s remuneration, the role of auditors and shareholders etc., and that—like the U.K. Code—is coupled with the implementation of the comply-or-explainprinciple. The European Corporate Governance Institute (“ECGI”) provides an impressive, albeit slightly misleading,9 list of such codes on its homepage.10 There are, of course, differences from country to country,11 but the essential regulatory technique is the same. To no surprise the United Kingdom is quite proud of the success of this regulatory tool and praises the comply-or-explainmechanism as the “trademark of corporate governance in the UK,” which “has been widely imitated and internationally admired.”12 The code-model is also anchored in the laws of the EU. Although the EU does not formally require its member states to set up a code of corporate governance, since 2006 it requires issuers to include a corporate governance statement in their management report, which must contain “a reference to the corporate governance code to which the undertaking is subject” or “which the undertaking has voluntarily decided to apply.”13 Where an issuer departs from a corporate governance code or where it decides not to refer to any provisions of a corporate governance code, it must explain its reasons for (not) doing so.14 EU regulation has extended the comply-or-explainmechanism to CSR-concepts15 and proxy advisors.16 Consequently, the comply-or-explain-principle today is considered not only a “trademark of cor9 The site evenhandedly lists draft codes, actual and outdated versions, private and public codes, and codes for large as well as for smaller public companies. 10 See https://ecgi.global/content/codes; see also the comprehensive (although now outdated) study undertaken by Weil, Gotshal & Manges on behalf of the EU Commission: “Comparative Study of Corporate Governance Codes Relevant to the European Union and its Member States” (January 2002). 11 See Hopt, 59 Am. J. Comp. L. 1 (2011), pp. 11–16. 12 U.K. Corporate Governance Code 2016, p. 4. This sentence has been deleted in the 2018 version of the Code, but apparently just to make it shorter. 13 Art. 20(1)(a), Directive 2013/34/EU. If an issuer does not refer to a code it must disclose “all relevant information about the corporate governance practices applied over and above the requirements of national law.” 14 Art. 20(1)(b), Directive 2013/34/EU. 15 See Art. 19a, Directive 2013/34/EU (as amended by Directive 2014/95/EU regarding the disclosure of non-financial and diversity information). 16 See Art. 3g(1), Directive 2007/36/EC (as amended by Dir. (EU) 2017/ 828 – Shareholder Rights Directive II): “Proxy advisors [must] publicly disclose reference to a code of conduct which they apply and report on the application of that code of conduct. Where proxy advisors do not apply a code of conduct, they shall provide a clear and reasoned explanation why this is the case. Where proxy advisors apply a code of conduct but depart from any of its recommendations, they shall declare from which parts they depart, provide explanations for doing so and indicate, where appropriate, any alternative measures adopted.”
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porate governance in the UK,” but also “a key feature of European corporate governance.”17 The EU has refrained from issuing its own code of corporate governance,18 but it has promulgated non-binding “Recommendations” for certain aspects of corporate governance, which, from a functional perspective, may be viewed as a torso EU corporate governance code.19
III. The (Scarce) Debate on the Success of Corporate Governance Codes In contrast to its factual success, legal literature has devoted remarkably little attention to this kind of corporate regulation. Naturally, you can find a description of the U.K. Code, its development, and the functioning of the comply-or-explain-method in textbooks on English company law,20 aditionally some European company law treatises also make reference to this regulatory tool.21 However, most casebooks, handbooks, and textbooks on comparative corporate law do not touch upon this issue (with few exceptions),22 and U.S. casebooks or hornbooks usually do not even mention corporate governance codes at all.23 Even the important and highly praised Anatomy of Corporate Law, which tackles company law from a transnational, functional angle, is devoid of a profound analysis of this kind of corporate regulation: its chapter on “sources of corporate law” only mentions 17 See Recital 6, Commission Recommendation of 9 April 2014 on the quality of corporate governance reporting (“comply or explain”) (2014/208/EU). 18 The EU-Commission had considered this approach but dropped it as early as 2003. 19 See Commission Recommendation of 15 February 2005 on the role of non-executive or supervisory directors of listed companies and on the committees of the (supervisory) board (2005/162/EC); Commission Recommendation of 14 December 2004 fostering an appropriate regime for the remuneration of directors of listed companies (2004/913/EC). 20 See the books quote supra note 4. 21 For Germany see e.g., Windbichler, Gesellschaftsrecht, 24th ed. (2017), § 25 n. 40; Langenbucher, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 4th ed. (2017), § 4 n. 110 ff.; Grunewald, Gesellschaftsrecht, 10th ed. (2017), § 10 n. 7. 22 See Ventoruzzo et al., Comparative Corporate Law (2015), pp. 259–260 (briefly explaining the comply-or-explain mechanism and mentioning the Italian Corporate Governance Code). For a more detailed account, see Gerner-Beuerle/Schillig, Comparative Company Law (2019), pp. 273–284; Magnier, Comparative Corporate Governanc (2017), pp. 61–112; Kershaw, in: Gordon/Ringe (eds.), The Oxford Handbook of Corporate Law and Governance (2018) (here quoted to as LSE Law, Society and Economy Working Paper 5/2015); see also (from a business school perspective) Mallin, Corporate Governance, 6th ed. (2019), pp. 30–75. 23 Cf., e.g., Allen/Kraakman, Commentaries and Cases on the Law of Business Organizations, 5th ed. (2016). A brief reference to codes is made by Gilson, in: Gordon/Ringe (eds.), The Oxford Handbook of Corporate Law and Governance (2018) (here quoted to as ECGI Law Research Paper No. 324/2016), p. 5 and 11 (BRT-Principles). Gilson, however, is not interested in the analysis of regulatory tools but in analyzing “the shift from […] legal rules standing alone to legal rules interacting with non-legal corporate processes and institutions.”
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stock exchange rules and the United Kingdom’s City Code on Takeovers and Mergers as alternatives to law. Apart from that, it touches upon the topic of self-regulation in a footnote,24 explaining why self-regulation is— for the (functional) purpose of the book—considered “law”.25 By the same token, code recommendations are implicitly regarded as “law”. A short description of codes and the comply-or-explain-mechanism is hidden in chapter three.26 The international literature on corporate governance pays some attention to regulation through codes, but is mostly descriptive: it depicts how codes operate, describes and compares their contents, analyzes the structure of code-issuers, and lists the pros and cons of self-regulation/soft law in general and codes in particular. A few authors go further: Legal scholars analyze how codes are integrated into their respective legal frameworks and what strategies are employed in order to ensure the truthfulness of the compliance statement.27 Economists undertake empirical research on whether the comply-or-explain-mechanism is working in the real world.28 Recent studies, mostly done by economists or economic-oriented scholars, focus on the substance of codes, trying to identify the factors that determine the specific content and coverage of governance codes,29 or try answering the question of why national codes emulate benchmark standards (particularly those set by the United Kingdom) regardless of whether they fit into their respective legal environments.30 Studies that come closest to my own, have asked why there are corporate governance codes at all. These examinations employ an empirical approach and try to find out whether codes are more likely to emerge in civil or common law countries.31 In general, these studies propose two reasons why we see a global diffusion of this regulatory tool: endogenous pressure to in24
Kraakman et al., The Anatomy of Corporate Law, 3rd ed. (2017), p. 16 n.59. Id. (“We term self regulation a source of ‘law’ in part because it is commonly supported, directly or indirectly, by law in the narrow sense.”). 26 See id., p. 63 (discussing independent directors). 27 Cf. Pietrancosta, Festschrift für Klaus J. Hopt, vol. 1 (2010), p. 1109; Magnier, supra note 22, p. 79 et seq.; see also Bachmann, supra note 3. 28 See, e.g., Andres/Theissen, Journal of Corporate Finance 14 (2008), p. 289; Arcot/Bruno/Faure-Grimaud, International Review of Law and Economics 30 (2010), p. 193; see also the early analyses of the Cadbury-approach by Belcher, Journal of Business Law (1995), p. 321; Belcher, Northern Ireland Legal Quarterly 47 (1996), p. 322. 29 See Gerner-Beuerle, LSE Law, Society and Economy Working Papers 5/2014; Cicon et al., European Financial Mgt. 18 (2012), p. 620; Zattoni/Cuomo, Corporate Governance: An International Review 16 (2008), pp. 1–15; see also Aguilera/Cuervo-Cazurra, Corporate Governance: An International Review 17 (2009), p. 376 (taking stock of the existing literature and setting an agenda for future research in this field). 30 See Gerner-Beuerle, Journal of Institutional Economics 13 (2017), p. 271. 31 See Aguilera/Cuervo-Cazurra, supra note 8, pp. 417, 427; Zattoni/Cuomo, Corporate Governance: An International Review 16 (2008), pp. 1, 4. 25
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crease the effectiveness of corporate governance and exogenous pressure to introduce practices that are socially legitimate, i.e. widely perceived as appropriate and effective.32 Starting with the hypothesis that civil law countries are more prone to introducing codes of corporate governance than common law countries (because their laws presumably provide weaker shareholder protection which they have to make up for with a code),33 the results point in the opposite direction: Historically, civil law countries have been significantly less likely to issue a code, and they have been later and slower in doing so.34 These authors’ explanation for this trend is twofold: For one common law countries are driven by the intent to improve their already shareholderfriendly governance, civil law countries follow suit only to show that they embrace internationally accepted practices,35 and for another common law systems are more open to enforcing non-statutory norms and thus facilitate the enforcement of codes.36 Whether this explanation is convincing can be called into question, but I will refrain from discussing this here.37 Also, I do not intend to remark upon on whether the data collected and the methodology applied fully vindicate the results reached in these and other studies. What matters here is that both studies, commendable as they are, are flawed insofar as they lump the United States together with other common law countries, disregarding the fact that the United States does not have a single benchmark code that most other countries in this group – most prominently the United Kingdom – exhibit. Why this is the case remains unexplored. My paper tries to close this gap by answering the question that has – apparentely – to date been ignored. Why does the world’s largest economy, with an advanced regime of securities regulation and corporate law, looked upon by many as a role model, not employ the United Kingdom-style comply-or-explain-mechanism that couples a uniform, semi-official corporate governance code with a disclosure requirement? Or, in short: why is there no U.S. Code of Corporate Governance, neither on the state nor on the federal level? I do not aim at providing a conclusive answer to this question if one exists at all. More research, both theoretical and empirical, may be needed in order to get a fully satisfying result. Here I shall only discuss some possible explanations that may at least help to clarify the picture. In
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Aguilera/Cuervo-Cazurra, supra note 8, pp. 417, 420, 427, 428. See id.; Zattoni/Cuomo, supra note 31 (both building on the (highly disputed) “lawmatters” thesis by La Porta/Lopez de Silanes/Shleifer/Vishny). 34 See Aguilera/Cuervo-Cazurra, supra note 8, pp. 417, 436; Zattoni/Cuomo, supra note 31, pp. 1, 10. 35 See Aguilera/Cuervo-Cazurra, supra note 8, pp. 417, 420, 436; Zattoni/Cuomo, supra note 31, pp. 1,12 (“symbolic actions”). 36 Aguilera/Cuervo-Cazurra, supra note 8, pp. 417, 420, 436; Cuervo-Cazurra, 10 Corporate Governance: An International Review, 84 (2002). 37 But see infra, note 40 and VI(4)(a). 33
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asking the question at all and by structuring possible lines of answers, I am hoping to lay the groundwork for further discussions.
IV. Reasons for the Success of the Code Movement A preliminary question to ask is this: why has the U.K. model of regulating corporate governance not just through the law but additionally through a code been copied worldwide? Answering this question may already provide some insights into why the United States has not followed this approach. Scanning the literature on the subject, one answer repeatedly offered is a nation’s desire – sometimes as a response to corporate scandals – to make national corporate law more effective.38 This alone, however, cannot be a sufficient explanation because the natural way to reach this goal would be to simply tighten the law, for instance by enacting new statutory rules on the composition of the board. Many jurisdictions – single-code nations as well as the United States – have done so, more than once. There must be additional rationales as to why countries chose the particular path of corporate regulation through a code. A more convincing reason can be found if one looks at the general advantages of self-regulation as compared to state-made law.39 Codes promulgated by non-state actors are usually more flexible than law, i.e. they can react quicker to new regulatory demands and insights because they do not have to pass through the cumbersome parliamentary process. Judges may react quicker than the legislature, but their lawmaking capacities and competencies are limited;40 plus they have to wait for a case to come before them in order to create a (new) precedent.41 Moreover, code issuers are closer to (or even identical to) those who are deemed to be major beneficiaries of corporate regulation, i.e. (large) investors and, depending on the composition of the respective code-commissions, other stakeholders.42 Code-commissions 38
See Aguilera/Cuervo-Cazurra, supra note 8. These advantages (as well as their drawbacks) have often been highlighted in literature on (self-)regulation. See Bachmann, Private Ordnung (2006), p. 54; Magnier, supra note 22, p. 71 et seq. (specifically referring to codes); Kershaw, supra note 22, p. 29 et seq.; Cheffins, Company Law, 1997, p. 378 et seq. 40 At least in the field of corporate and securities law, this holds true even in common law countries because the job of interpreting statutory standards here is basically not different from that in civil law countries. 41 German High Court judges told me that they sometimes would like to change precedents or set new ones, but that they cannot do so because they have not the “right” cases coming before them. A self-regulatory body does not face this problem. 42 A question I cannot take up here is whether divergent compositions of codecommissions make up for diverging code contents. See Gerner-Beuerle, supra note 29, p. 32 (finding no evidence that the investor/issuer-orientation of drafting committees is significantly associated with the level of investor-friendliness of codes). 39
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may also (partly) consist of representatives of directors and managers and, thus, of those who shall play by its rules. This may guarantee greater acceptance of the code’s regulations, thereby ensuring better compliance, saving public or private enforcement resources. Finally, the option not to comply with certain provisions of a code and instead explain the reasons for doing so to investors and the public avoids a uniform mold while at the same time forcing issuers to critically evaluate their governance structure.43 The virtues of self-regulation as just summarized – as well as their shortcomings – are not novel and are well understood by scholars. Why then was it not until the end of the twentieth century that corporate lawmakers around the globe decided to adopt corporate codes and copy the United Kingdom’s self-regulatory model of corporate governance? The answer to this, which finds support in the cited empirical research, is that the incentive to follow the U.K.’s approach – apart from acknowledging its virtues – is concern about falling behind internationally accepted standards.44 Under this rationale, codes serve the intertwined functions of marketing the own national governance standards and, at the same time, signaling that those standards conform to international benchmarks. Code drafters may be driven to this approach either by the belief that copying the foreign, or international, model truly warrants better corporate governance or, irrespective of such effects, that international investors expect and reward such an approach. Although no particular data is available as to the real motives of individual code commission members, legislative material and forewords to codes support this assumption. The German Corporate Governance Code, for instance, describes its objective as “to make the […] German corporate governance system transparent and understandable” and to set up “principles, recommendations and suggestions that are accepted nationally and internationally as standards of good and responsible governance”. This shall help “to promote confidence in the management and supervision of German listed companies by investors, customers, employees and the general public”.45 Very similar assertions are contained in almost every code of corporate governance globally.46 The German legislature supports this position 43 The German legislature reasoned as follows: “As the Code contains non-binding recommendations, it is essentially more flexible than a mandatory – and thus potentially in many cases too rigid a – statutory solution.” BT-Drucks. 14/8769, p. 21. 44 With regard to the code’s contents Gerner-Beuerle, Journal of Institutional Economics 13 (2017), 271, 299: Benchmark standards are emulated “for the simple reason that they have become widely accepted.” This is in line with the legitimacy considerations of Aguilera/Cuervo-Cazurra, see supra note 8. 45 German Code of Corporate Governance, Foreword. 46 See, pars pro toto, Japan’s Corporate Governance Code, p. 1; AEX (Australian) Corporate Governance Principles and Recommendations, p. 1; Finnish Corporate Governance Code, p. 9 (“The objective of the Corporate Governance Code is to maintain and promote
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when it highlights the desire to adapt to “modern international standards,”47 reasoning that “such a code offers the opportunity to present the corporate governance of German stock corporations […] in a comprising and clear manner that is apt in particular for foreign investors.”48 In the same text, we incidentally learn why Germany decided not to tolerate competing codes of corporate governance but, like the United Kingdom and many other countries, decided to ratify one of them as “the” German Code of Corporate Governance. The reason for this, we read, is that “in particular with regard to informing foreign investors it seems unavoidable to initiate one authoritative Corporate-Governance-Code for Germany. Putting emphasis one just one code – formulated by a commission installed by the German Federal Government – by establishing a duty to declare compliance with such code, is thereby justified.”
V. Diversity of Corporate Governance Codes in the United States With those insights, let us now turn to the United States. Here, corporate law is a state-matter: every state has its own company law statute, and founders are free to choose the state where they want to incorporate. As is generally known, the most attractive state for incorporators is Delaware, where over half of all US publicly traded corporations have their domicile. State corporate law is supplemented by – mostly mandatory – federal securities law, which focuses on disclosure obligations but also contains some provisions detailing elements of corporate governance.49 Corporate and securities law, again, are complemented by the listing rules of the stock exchanges, the most prominent ones being the New York Stock Exchange (NYSE) and NASDAQ. The listing rules, in part, also prescribe some elements of corporate governance that companies must feature if they want to have their stock listed at the respective exchange. Like in most other countries, there is a fourth factor determining corporate structures in the United States: codes of corporate governance. Although the exact number is unclear, the variety of such standards is impressive.50 Prominent codes, for instance, have been issued by the Business the high quality and international comparability of corporate governance practices applied by Finnish listed companies.”). 47 BT-Drucks. 14/8769, p. 1 (my translation). 48 Id. p. 21. 49 The Sarbanes-Oxley Act, for instance, prescribes audit committees (listing requirement according to § 303A.06 NYSE Listed Company Manual), and the Dodd-Frank-Act mandates that the majority of the members of the compensation committee is independent (listing requirement according to § 303A.05 NYSE Listed Company Manual). 50 Aguilera/Cuervo-Cazurra, supra note 8, p. 417, count 17 Codes (as of 1999); ECGI lists twenty-one U.S. codes (https://ecgi.global/content/corporate-governance-united-
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Roundtable (“BRT”), an association of CEOs of large, listed U.S. stock corporations, and by the National Association of Corporate Director’s (“NACD”). Of similar prominence are the codes from institutional investors such as CalPERS, TIAA-CREF, or the Council of Institutional Investors (CII). Another set of standards mentioned in cases or casebooks is the American Law Institute’s (“ALI”) Principles and Recommendations of Corporate Governance and the American Bar Association’s (“ABA”) Corporate Director’s Guidebook.51 The NYSE, too, has promulgated “Principles of Corporate Governance”, which—in part—are reflected in its guidebook for listed companies.52 More such codes could be listed here, but what matters is not their number but the fact that none of them has been elevated to “the” U.S. code of corporate governance. Of course, attempts have been made to merge the standards of different interest groups and thereby to define some general consensus on good corporate governance in the United States.53 But neither those “common ground” codes nor any other codes have been made the point of reference for state or federal legislators. Both Delaware corporate law and federal securities law abstain from requiring boards of directors to declare compliance with any of the aforementioned codes (or, alternatively, to explain if they do not follow them). The NYSE’s listing rules, too, do not ask for such a statement. Hence, the somewhat puzzling conclusion that an expert on comparative corporate governance made after describing the global development of codes is that “the USA is somewhat unusual in not having a definitive corporate governance code in the same way that many other countries have.”54 Just exactly why that is, is left open.
VI. Possible Reasons for the Lack of a U.S. Code The United States is not the only jurisdiction offering more than one code of corporate governance. Yet no other country boasts so many codes, and if
states); the Report of the NYSE Commission on Corporate Governance (Sept. 23, 2010) lists twenty “reports and initiatives” on corporate governance in the United States. 51 American Law Institute, Principles of Corporate Governance: Analysis and Recommendations (1994); ABA Corporate Laws Committee (eds.), Corporate Directors’ Handbook (7th ed. 2020). 52 See Report of the New York Stock Exchange Commission on Corporate Governance (2010), pp. 24 et seq. 53 Cf. “Commonsense Corporate Governance Principles”; cf. also NACD’s Key Agreed Principles to Strengthen Corporate Governance for U.S. Publicly Traded Companies (2008). 54 Mallin, Corporate Governance 2nd ed. (2007) p. 36. In the recent edition this sentence is omitted, see Mallin, supra note 22, p. 61.
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there is more than one of them, they are usually not competing.55 Despite the efforts by some actors to find common ground, as mentioned above,56 no approach of creating an overarching U.S. Code of Corporate Governance is in sight nor does anyone seem to miss it.57 But why is that? The following part will not (and cannot) deliver “the” answer, and it also does not analyze empirical data that may, at best, indirectly point to potential answers. But it will search for a rationale that goes beyond simply shrugging shoulders or referring to unspecified cultural differences. 1. Functional Equivalents to “Comply-or-Explain” Setting up a (voluntary) code of corporate governance and combining it with a (mandatory) comply-or-explain-principle is, as we have seen, a key element of U.K. corporate regulation that has been copied worldwide.58 Although the United States does not follow this model formally, it sometimes shows elements that can be viewed as a functional equivalent. Many private codes that exist in the United States, as well as some provisions in the NYSE’s Listing Rules, appeal to issuers to follow certain standards and practices and/or ask them to disclose and explain their specific corporate governance to investors and the public.59 Some SEC regulations, too, mandate disclosure of specific governance features (e.g. the independence of board members) and require explanations if those features are not present.60 This is in line with the general philosophy of U.S. securities regulation, which relies on disclosure as the major regulatory tool, the purpose of which is not only to protect investors, but also (and, 55
The United Kingdom has additional codes, but they address different actors (e.g. the Stewardship Code) or special topics (e.g. the Women on Boards: Voluntary Code for Executive Search Firms) and as such do not compete with the U.K. Code of Corporate Governance. In France, the situation is similar, with the AFEP-MEDEF code—although not designated as the “official” one—being considered “the” French corporate governance code. See Magnier, supra note 22, pp. 65, 98; Gerner-Beuerle/Schillig, supra note 22, p. 280. In these and other countries there are also sometimes codes for smaller companies. 56 See supra note 53. 57 For a lack of any debate on this matter, see supra note 23. 58 See supra Part II. 59 See, e.g., BRT Principles of Corporate Governance (2016), p. 4 (Companies shall “disclose not only the types of practice they employ but also their bases for selecting those practices”); CII Corporate Governance Policies 1.3 (“disclose”), 2.4 (“discuss”), 2.6b (“establish communications policies”); ISG Corporate Governance Principles 1.5 (“explain”), 1.6 (“disclose”), 3.1 (“provide an explanation”). 60 Cf. Reg. S-K item 406(a): “Disclose whether the registrant has adopted a code of ethics [or] explain why it has not done so”; Reg. S-K item 407(c)(1): “If the registrant does not have a standing nominating committee […], state the basis for the view of the board of directors that it is appropriate for the registrant not to have such a committee.”
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according to some scholars, primarily) to foster good corporate governance.61 Not surprisingly, the disclosure model—together with some calls for explaining divergence from federally recommended standards—has been pointed to as a sort of U.S. counterpart to the U.K./EU model of combining a code with a comply-or-explain-obligation.62 In a broader sense, the listing at a (certain) U.S. stock exchange may be seen as a general compliance statement, signaling conformity with a set of high standards of good corporate governance (including the obligation to explain the individual divergence from such standards).63 The parallel becomes more convincing if we look at jurisdictions where the corporate governance code is sponsored by the national stock exchange (e.g. France, Switzerland, Japan, Australia). It is less convincing, however, with regard to jurisdictions such as Germany or the United Kingdom, where the Codes are designed by more or less pluralistic committees. In any case, the fact that U.S. securities regulation contains some elements of a comply-or-explain-model does not explain why there have been no attempts to render the many codes co-existing next to each other superfluous by creating a single body of recommendations and by requiring issuers to declare compliance with it. 2. Extensive Securities Regulation American colleagues with whom I discussed this topic spontaneously pointed to U.S. securities law, indicating that the tightly woven net of its hundreds of rules and prescriptions neither leaves room nor the necessity for an additional, quasi-official code of corporate governance. This argument is similar to the one I just discussed, yet it turns it around; the proposition is not that U.S. securities law is a functional equivalent to U.K.-style codes of corporate governance, but rather that those codes compensate for the lack of detailed securities regulation as we see it in the United States. The 61 See M.B. Fox, in: Hopt/Prigge (eds.), Comparative Corporate Governance (1998), pp. 701, 702: “[I]t is corporate governance, not investor protection, that provides the most persuasive justification for imposing on issuers the obligation to provide ongoing disclosure”. In a similar vein Seligman, Corporations, 1995, p. 230: mandatory disclosure regime as a “strategy to address corporate governance.”; see also Thompson/Sale, 56 Vand. L.R. 859 (2003), p. 860 (“Federal securities law and enforcement via securities fraud class actions today have become the most visible means of regulating corporate governance.”). 62 See Gregory/Grapsas/Holland, in: Gregory (ed.), Corporate Governance (Getting the Deal Through) (2017), p. 209 (“Disclosure is most often used as the vehicle to achieve a desired objective and to add transparency to matters deemed worthy of public attention”). 63 Calling for Stock Exchanges as (better) regulators of corporate affairs: Mahoney, Va. L.R. 1453 (1997).
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claim is true insofar as U.S. securities regulation seems to deal much more with matters of corporate governance than, e.g., European capital markets law does. Especially some of the amendments brought about by the Sarbanes-Oxley Act (2002) and by the Dodd-Frank-Act (2010),64 but also other standards set up by Congress, the SEC, and the NYSE clearly reach into the corporate structure and cover matters that are elsewhere considered the realm of company law.65 This remarkable development (which has not gone uncriticized66) has prompted one scholar as early as 1995 (i.e. long before Sarbanes-Oxley and Dodd-Frank) to announce a “new corporate law,” which finds its base in federal securities law.67 Subsequent developments affirm this view. As a matter of fact, numerous recommendations that we typically find in the corporate governance codes of non-U.S. countries, such as the requirements to have a sufficient number of independent directors and to split the functions of chairman and CEO, are mandatory listing requirements in the United States. But this is not true for all of them. There are several provisions that we do find in codes of corporate governance both in the United States and elsewhere that are not part of (mandatory) U.S. securities regulation, e.g., the recommendations for board members to entertain a regular dialogue with investors and to regularly attend meetings. Conversely, outside the United States, there are obligatory standards for public companies that go beyond what is mandated in the United States, e.g., the right of shareholders to ask questions or to put items on the annual general meeting’s agenda.68 Given this reality, a national code of corporate governance could still serve some meaningful function, even in the USA. Thus, the referral to securities regulation, although it may explain a lesser need for a U.S. code, does not entirely, in itself, explain why no such code exists.
64 For a detailed description of Dodd-Frank’s corporate governance provisions see Bainbridge, UCLA Law-Econ Research Paper No. 10–14 (available at SSRN). 65 Cf. Roe, 34 Del. J. Corp. L. 1 (2009), p. 17; Thompson/Sale, 56 Vand. L.R. 859 (2003), p. 861 (“The move to federal corporate governance […] has a longer history than the current scandals”). A notorious example is the regulation of the proxy machinery, see only Allen/Kraakman, supra note 23, p. 203: Federal rules “regulate virtually every aspect of proxy voting in public companies”. 66 Cf. Romano, 114 Yale Law Journal 1521 (2005); Bainbridge, 95 Minnesota Law Review 1779 (2011). 67 Seligman, supra note 61, p. xxi (“My thesis is a simple one: In the 20th century state corporate law norms for the large publicly held corporation have been progressively supplanted by federal standards, particularly those originating in federal securities law.”); see also Seligman, 59 Brook. L. Rev. 1 (1993). 68 Explicit standards for companies domiciled and listed in the EU, according to the Shareholder Rights Directive I (SRD I). See Directive 2007/36/EC, Arts. 6, 9 (on the exercise of certain rights of shareholders in listed Companies).
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3. History and Institutional Framework It has been correctly observed that corporate governance structures are not only the result of an efficiency-driven economic evolution but are also (and maybe even more so) shaped by national politics and culture.69 This claim, which sounds less spectacular from a European point of view than it probably does from a U.S. one,70 holds true not only for the substance of corporate law (for which it was made) but also with regard to regulatory techniques. I propose that the political and cultural setting in the United States suggests U.K.style regulation of corporate matters through a national code less than it does in other countries. Three lines of argument may support this position. a) Path Dependency: The Tradition of American Corporate Regulation Path dependency is an important factor in explaining why national corporate governance systems do not fully converge. Since this concept from institutional economics was introduced to corporate legal scholarship,71 “path dependency” has become a common and convenient topos for authors to account for differences that otherwise—i.e. from a purely economic or rational point of view—would remain inexplicable. Path dependency, then, may also be used in order to explain why there is no U.S. code of corporate governance. But what exactly is the particular path that U.S. regulators are following with regard to corporate law? The most striking feature seems to be the dual regulation of corporations by (mostly) liberal state corporate law on the one hand and (mostly) mandatory federal securities law on the other. The tacit underpinning of that seems to be that if things run well, no regulation of any kind (including “soft law”) is needed, whereas if things go wrong (corporate scandals and/or market failures), the federal government has to step in, this time using—almost naturally, as it seems—mandatory (substantive or disclosure) laws.72 Against this background, optional federal standards (such as a code) appear as a theoretical option only.73 Seen this 69 Roe, Strong Managers, Weak Owners – The Political Roots of American Finance (1994) [hereinafter Roe 1]; see also Roe, Political Determinants of Corporate Governance (2003). For a more recent study, see Gilson, supra note 23. 70 The “dominant paradigm” that it intends to change, Roe 1, supra note 69, p. xiii—the Berle/Means-theorem forming the starting point for every American casebook on public corporations—is not the paradigm in European corporate law scholarship. Here, the traditional view has been that politics, not markets, are the determinant that mostly shapes the laws. The correct answer probably lies somewhere in between. 71 Cf. Roe 1, supra note 69 (passim); Bebchuk/Roe, 52 Stanford L.R. 127 (1999). 72 See Bainbridge, 95 Minnesota Law Review 1779 (2011), pp. 1782, 1786 (calling this “the boom-bust-regulate pattern that characterizes U.S. federal regulation of corporate governance”). 73 Proponents of federal corporate rules usually assume that such rules need to be mandatory, because the reason for their very existence is remedying market failures. See, e.g.,
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way, there is indeed no room for “intermediate” solutions like the one the United Kingdom—and many others—have chosen with its code-based comply-or-explain-approach. But, however convincing one may find this reasoning, it is certainly not the end of the story. Other countries like Germany, France, and many Asian states also show a historic path that did not include forms of soft law regulation such as codes, essentially relying on mandatory substantive rules. Nevertheless, they departed from that path, at least partly, at the turn of the twenty-first century and, overcoming their distrust for liberal corporate regulation, have chosen to adopt the U.K. self-regulatory model. The reason that the United States has not done so, therefore, calls for further explanation. b) Distrust for (Feudal) Self-Regulation One feature that has gained significant attention in modern writing on corporate governance is the ownership structure of corporations. The simplified bottom line of that debate is that ownership structures have an impact on the way corporations are regulated: jurisdictions with concentrated ownerships (traditionally European and Asian countries) face different agency problems than those with dispersed ownership (traditionally the United States and, to a lesser extent, the United Kingdom) and thus employ different regulatory strategies. Whereas the former rely on “governance strategies”, the later instead utilize “regulatory mechanisms” more.74 Convincing as this may be, ownership structures, in my mind, do not sufficiently explain why uniform codes of corporate governance are a standard tool of corporate regulation in most parts of the world but not in the United States. Ownership structures in large listed companies, as is well known, have converged over the years, leading to an in-between pattern characterized by the dominance of institutional investors. Those investors have traditionally played an important role in the United Kingdom and have framed the British way of regulating corporate governance, including setting up a U.K. code. Yet they have long become important voices elsewhere globally, including Asia, Europe, and the United States. Their presence has spurred private codes (such as CalPERS), but it has not led to a U.S. code of corporate governance. More important with regard to our question, I believe, is the fact that in the United Kingdom— though a liberal, capitalist system not dissimilar to Bebchuk, 105 Harv. L.R. 1437 (1992). But see Bebchuk/Ferrell, 87 Va. L. Rev. 111 (2001), pp. 131 et seq. (pleading for optional federal rules regarding takeover regulation); Romano, The Advantage of Competitive Federalism for Securities Regulation (2002), p. 63 (advocating for an optional federal securities law). 74 See Kraakman et al., supra note 24, pp. 46, 49; see also Ventoruzzo et al., supra note 22, pp. 30 et seq.
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that of the United States—the belief in effective self-regulation by the financial industry (the “City”) has traditionally been much stronger than it was (and is) in the United States.75 True, the stock exchanges in the United States are formally still labeled “self regulatory organizations” (“SROs”), but they act more in the shadow of mandatory governmental standards than does— or, at least, did in the past—the British SROs.76 A classic example is the regulation of takeover bids, which is governed by the law in the United States (and elsewhere), whereas the United Kingdom relies on a regime created by the financial industry—the famous and influential “City Code on Takeovers and Mergers.”77 Self-regulation being deeply rooted in British history and tradition, it is not surprising that the answer to deficiencies in British corporate governance in the 1980s came in the form of a code that was agreed upon as the common British standard by major players in the capitals financial arena. As we have seen, similar (and earlier) codes emerged in the United States, but they were not the result of a concerted action by intermediaries trying to self-legislate, but rather were promulgated by individual actors aiming to prevent stricter federal legislation and/or to appeal to managers and directors directly. The circumstance that none of these actors felt the need to ask for or initiate a U.S. Code on Corporate Governance may, in my mind, at least partly be explained by the fact that Wall Street’s players are not as tightly knit a community as they are (or at least were) in London’s City. According to its genesis, U.K.-style self-regulation bears the traits of feudal selfgovernment,78 and as such, it is not part of the U.S. DNA. Albeit simplified, the U.S. philosophy is fairly described as leaving matters to the individual 75
See Kershaw, supra note 22, at pp. 9–10 (“[The] conception of the British State helps understand why, until the latter part of the twentieth century, in the UK there was no form of what today we would recognise as capital market or banking regulation, responsibility for which was left to the City of London […]. An approach which led Louis Loss in his treatise on US Securities Regulation to observe that it was paradoxical that the US, ‘the arch apostles of private enterprise, should have resorted to public control while socialist Britain…should have left so wide a field free from state control’”.). “Many of the classic examples of corporate and non-corporate self-regulation in the UK are in large part a product of this conception and […] its mark is still impressed on contemporary self- and market controlled UK approaches to the regulation of the corporation.” Id. at 10. 76 See Cheffins, supra note 39, p. 376: “Overall, the UK system is characterized by a lighter touch and my more emphasis on supervision ‘from below’ than ‘from above’”. 77 See Kershaw, supra note 75, pp. 12 et seq. (describing this as “endogenous” selfregulation in contrast to the “market controlled” self-regulation by the U.K. Code of Corporate Governance). Following the implementation of the EU-Takeover-Directive the British Takeover Code now formally has statutory effect, see Part 2 of the UK Companies Act 2006, but it still bears the traits of a self-regulatory instrument. 78 Cf. Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925), pp. 181 et seq.; Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1948), pp. 360 et seq.; see also Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 290.
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and to markets (hence the predilection for “enabling law” and “regulatory competition”) but, when individual power becomes too strong and/or markets fail, to call for an intervention79 —not by power-wielding individuals regulating themselves, but rather by (central) government. Against this background, it is hardly surprising that American corporate governance standards beyond those enshrined in state law are either to be found in competing private codes or in federal securities regulation—tertium non data. c) No Incentive to Emulate Foreign Regulation or to Explain the Domestic Approach to Foreign Investors Why, then, do European and Asian jurisdictions emulate the U.K.-like code regulation, although they also do not share the British tradition of selfgovernment and, like the United States, prefer to react to corporate scandals with mandatory national law? The answer appears to be that in those countries the United Kingdom is in many ways looked up to as a role model. The incentive to imitate its regulatory tools is, therefore, stronger than it is in the United States. This proposition finds intuitive support if one looks at countries of the former Commonwealth (India, Australia, South Africa, etc.), whose legal systems still very much resemble the British one. It is less obvious for countries such as Germany, France, or Japan. Regarding EUmember states, however, it must be noted that the United Kingdom has been very successful in convincing other member states to accept its standards in banking and capital market law as a basis for European legal harmonization in the corporate and finance sectors.80 The British capital market model has thus become at last in part something like a benchmark for EU member states. The fact that the EU finally copied the comply-or-explainmodel with regard to corporate governance codes can thus be seen as a mirror image.81 Once having become the standard in (former) Commonwealth jurisdictions as well as in the EU, the regulation by codes almost naturally became the benchmark for jurisdictions outside this circle. Countries that open their stock markets to foreign (institutional) investors and that reduce state ownership and blockholdings feel pressed to establish efficient corporate governance structures and to signal to the global financial community that they have done so.82 Adopting an internationally accepted code model, combined with a comply-or-explain-approach, seems an appropriate (and compara79 For the American people’s dislike of private power see Roe 1, supra note 69, pp. 28 et seq.; see also the impressive account by Damler, Konzern und Moderne (2016). 80 This is partly due to the fact that other member states did not have any specific rules themselves (takeover regulation), partly because British law was deemed to be more sophisticated (banking law), and partly due to efficient lobbying by U.K. advocates in Brussels. 81 See supra note 13. 82 See supra notes 45–48 (for Germany).
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tively cheap and easy) way to do it. Empirical studies on the diffusion of codes and their contents lend some evidence to this explanation.83 In the United States, in contrast, the need to follow international models of corporate regulation is much weaker, if it exists at all. Three reasons account for that. First, due to the sheer size of its capital markets, the United States feels no economic pressure to signal to the global community that it follows what is internationally en vogue—(foreign) investors will invest in U.S. corporations anyway. Secondly, the U.S. approach to heighten the standards of corporate governance by mandatory federal law that operates in a way that is at least in part not dissimilar to a national corporate governance code84 has apparently worked well.85 Thirdly, the proverbial American self-confidence plays its part. More than a few U.S. scholars – who dominate the international corporate governance debates86 – deem their corporate law superior to foreign laws,87 and celebrate the (putative) “end of corporate law history” and the “genius of American corporate law.”88 U.S. business organizations declare that the United States has “the best corporate governance systems in the world”89—a statement that the current administration would surely subscribe to—and stock exchanges such as the NYSE praise themselves as “leading proponents for the highest standards of corporate governance.”90 A similar self-confidence with regard to corporate governance is only shown by British regulators and industry representatives.91 Given this characteristic, it becomes automatically plausible that “the best” corporate governance system in the world can hardly feel any need to copy another “best” system. Nor does it feel pressured to explain (and translate) 83 See Aguilera/Cuervo-Cazurra, supra note 8, p. 417 (analyzing reasons for the global diffusion of corporate governance codes); Zattoni/Cuomo, Corporate Governance: An International Review 16 (2008), pp. 1, 12 (“Our results suggest that the issuance of codes in civil law countries be prompted more by legitimation reasons than by the determination to improve the governance practices of national companies“); see also Gerner-Beuerle, Journal of Institutional Economics 13 (2017), pp. 271, 299 (analyzing the content of codes). 84 See supra, Part V (1), (2). 85 See Romano, 26 Yale J. Reg. 231 (2009); Bainbridge, 95 Minnesota Law Review 1779 (2011). 86 This is at least partly due to a linguistic advantage: those who dominate the language dominate the discourse. 87 This is an inherent claim also made by proponents of the so-called Legal-Origins school. See Gerner-Beuerle, supra note 29, p 7 et seq. (for citations and a summary of critique). 88 See Hansmann/Kraakman, 89 Geo. L.J. 439 (2001), p. 459 (predicting the prevalence of the shareholder-oriented Angloamerican model); Romano, The Genius of American Corporate Law (1992); Romano, supra note 73, pp. 110 seq. (noting that the United States excels over virtually all other regimes in salient features of corporate governance (ownership structure, shareholder protection, openness to takeover bids)). 89 BRT, Principles of Corporate Governance (2016), p. 1. 90 Report of the NYSE Commission on Corporate Governance (2010), p. 1. 91 See IoD, supra note 5.
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its governance structure to foreign investors, as is the case, e.g., in Germany or other countries.92 4. The Structure and Spirit of U.S. Law a) Common Law System The assumption has been made that codes of corporate governance are more likely to be developed in countries with a civil law legal tradition.93 This assumption, however, does not help answer our question. First, the premise on which it is based—the assertion that civil law jurisdictions provide weaker shareholder protection and have to make up for this by issuing codes—is highly debatable.94 Secondly, as we have seen, corporate governance codes do not only exist in civil law countries but also in the common law world, including the United States. It may be true that installing national governance codes has been met with more concerns regarding their legitimacy in civil law countries.95 Nevertheless, the majority of them have adopted such a model, whereas the United States, although clearly part of the common law world, has not. Finally, and more generally, it is questionable whether the common law/civil law distinction is meaningful at all in the context of corporate and securities regulation.96 Positive law in those areas plays a crucial part in both legal traditions,97 and judge-made law is no less important in, say, corporate law in Germany or Switzerland than it is in Delaware.98 Quite apart from that, the differences within different common law and civil law systems may simply be too significant to lump them all together. One thing, however, that may be said about common law countries which might explain, at least a little bit, the lack of desire to create a uniform U.S. corporate governance code could be the fact that common law lawyers in general, and U.S. lawyers in particular, tend to be more used to a mosaic of rules, regulations, and precedents, which is characteristic for jurisdictions lacking the French ideal of codification.99 What is a nightmare for civil law 92
See supra note 48 and accompanying text. Aguilera/Cuervo-Cazurra, supra note 8, p. 427. 94 For a (summary) critique, see Ventoruzzo et al., supra note 22, pp. 28 et seq. 95 See Magnier, supra note 22, pp. 61, 79; see also Bachmann in: Kremer et al., Deutscher Corporate Governance Kodex, 2018, p. 46 et seq. (summarizing the (intense) German debate on the constitutionality of the German code). 96 Cf. Ventoruzzo et al., supra note 22, p. 17. 97 Cf. Hansmann/Kraakman, 89 Geo. L.J. 439 (2001), p. 459 (2001) (“United States securities law is civilian in spirit.”). 98 The fact that we see more precedents in the US, especially with regard to director’s duties, is mainly due to differences in procedural law. 99 On this ideal, from a comparative perspective, see Masferrer, 34 Tul. Eur. & Civ. L.F. 1 (2019). 93
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jurists—having to struggle with a bundle of unrelated, not systematically organized sources of law—is an everyday phenomenon for many lawyers trained in the common law tradition. But be this as it may, all this has not kept the mother of the common law jurisdiction – the United Kingdom – from unifying its corporate governance standards in a single code, whereas the United States has not done so. b) Federal Legal System The U.S. corporate law regime is characterized by the split of regulatory powers between states and the federal government. In countries with a uniform corporate governance code—including those with a federalist constitution (e.g. Germany, Switzerland, Australia)—this is not the case; corporate law and securities law are both set on the same (upper) level.100 The absence of federal (uniform) corporate law, it could therefore be argued, may explain why (quasi-)federal institutions like Congress or the NYSE do not feel invited to establish a federal uniform corporate governance code. However, in the EU, the situation is quite similar to that in the United States: corporate law is set by individual member states, and capital markets law and certain aspects of corporate law are mainly set or harmonized on the Union-level. Still, EU member states have invariably set up a code of corporate governance, and the EU itself has issued recommendations that, from a functional perspective, may be also viewed as a form of corporate governance code.101 Given all this, if one wants to suggest the structure of U.S. corporate law as a possible explanation for the lack of a uniform corporate governance code, then the reason cannot be the federal structure of the United States as such. The reason would rather be that, unlike in Europe and Asia, there exists a real regulatory choice with regard to corporate forms. In contrast to other countries, U.S. states compete with one another for incorporators, and Delaware traditionally leads this race.102 Can this explain the non-existence of an American corporate governance code? In part, it does. Delaware simply has no incentive to set up a commission charged with the task of creating a “Delaware Corporate Governance Code,” for several reasons: First, Delaware’s legislature can act much more flexible and in a more clientoriented manner than, say, the German or British parliament, and, thus, already owns one of the features that make self-regulation in European coun100 In Canada the situation is somewhat different, see Bachmann/Eidenmüller/Engert/ Fleischer/Schön, Regulating the Closed Corporation, (2014), p. 226. 101 See supra note 19. 102 The literature on this subject is immense and impossible to list here. See, e.g., Ventoruzzo, supra note 22, pp. 100 et seq. (with further references). For a discussion of vertical regulatory competition, see Bachmann et al., supra note 100, pp. 225 et seq.; Bainbridge, 95 Minnesota Law Review 1779, 1794 (2011).
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tries an attractive alternative to state legislatures.103 Secondly, a Delaware code of corporate governance might send the adverse signal to “clients” that Delaware’s General Corporate Law is not state-of-the-art and thus needs to be supported by an additional layer of norms. And finally, and most importantly, Delaware’s selling point is, among other things (specialized judges and attorneys, responsive legislature, etc.), not a specific corporate governance model, but rather the enabling structure of its corporate law, which leaves room for quite different governance models.104 This is one of the decisive factors that make Delaware attractive for incorporators all over the United States. Setting up specific standards for the composition of boards, the qualification of directors, etc., then becomes a job to be undertaken by private organizations (BRT, CII etc.) or, alternatively (crisis-driven), by federal law. Historically, Congress felt pressured to step in mostly after scandals proved (or seemed to prove) that private action or self-regulation was insufficient, and therefore, it almost logically prefers the path of mandatory law.105 A liberal comply-or-explain-approach seems in those circumstances out of the question. What remains to be answered, then, is the puzzling question of why private actors in the United States do not join forces to create or push for a single code of corporate governance as they have done in other countries. c) Competitive and Libertarian Spirit The answer to this final query may be found in a feature of U.S. culture that can hardly be overstated: its deeply rooted belief in the virtues of competition. Americans are libertarian,106 and as such, the idea of competing for the best (i.e. most convincing) answer instead of prescribing it by norms can well be understood as part of the all-American identity.107 We see this reflected in several features of U.S. law—be it the adversary system, the specific American process of nominating and electing political candidates, the excessive protection of free speech, the strict antitrust laws, etc. — and it is also mirrored in the way corporations are regulated, starting with freedom of incorporation and mostly default rules, continuing with the facilitation of 103 See supra, at IV. For a characterization of Delaware’s corporate law making as functional self regulation see Roe, 117 Harv. L.R. 588, 636 seq. (2003); see also Romano, supra note 88. 104 Cf. Romano, supra note 88. 105 Cf. Seligman, supra note 67, pp. 10 et seq. 106 D. Perkins, The American Way (1957), pp. 116 et seq.; Branson, 37 J. Corp. L. 793 (2012) (reprinted in Ventoruzzo et al., supra note 22, pp. 270, 274) (“Although some Americans are liberal Democrats, and others are conservative Republicans, and still others are in-between those extremes, […] they all are libertarians, of sorts.”). 107 Cf. D. Perkins, supra note 106; see also J. Lepore, These Truths – A History of the United States (2018), chs. 5, 10, 14.
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proxy contests and the opening of “markets for corporate control,” and ending with a predilection for disclosure rules instead of substantive norms. The attempt undertaken by the ALI in the 1980s to set up more or less uniform standards of American corporate governance,108 thus, was met with strong criticism from various sides.109 This all stands in contrast to continental European and Asian corporate regulation, where traditionally there is (or at least used to be) a strong tendency towards uniform standards. Consequently, the competence to enact corporate law in those countries is vested not in regions, cantons, or states, but in national parliaments, assuring a uniform corporate standard nationwide. It does not come as a surprise, then, that those jurisdictions, when confronted with the question of whether to enact or to sponsor a national code of corporate governance in accordance with the U.K. model, overwhelmingly opted for a uniform model. A striking example is Germany, where— prior to the promulgation of the national corporate governance code—two private corporate governance codes had emerged, the Frankfurter Grundsätze and the Berliner Initativkreis German Corporate Governance Code.110 A federal commission charged with the task of making proposals for improving German corporate governance (around the same time when the United States discussed regulatory reactions to the Enron scandal, resulting in Sarbanes-Oxley) considered this to be an unfortunate situation and suggested that the competing codes should be replaced by a single German code. This view was shared by the German legislature, which reasoned that a uniform code would offer “the opportunity to present the corporate governance of German stock corporations […] in a comprising and clear manner that is apt in particular for foreign investors.”111 The result was the Deutscher Corporate Governance Kodex, which did not abolish or prohibit competing private codes, but basically rendered them meaningless. Although some practitioners in the United States seem to similarly desire more uniform standards of corporate governance,112 the momentum is not so strong that it would actually push for the creation of a uniform U.S. code of corporate governance.
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See supra at note 51. See, e.g., Dooley, 47 Bus. Law. 461 (1992); Elson/Shakman, 49 Bus. Law., 1761–1792 (1994). 110 See von Werder, in: Kremer et al, supra note 95, p. 19. 111 See supra note 48. 112 See Hansell et al., 41 Del. J. Corp. L. 509, 532 (2017) (reporting on the American College of Governance Counsel’s Colloquium 2015) (“Some Fellows feel that the increasing number of statutory and regulatory corporate governance requirements and practices designated as ‘best practices’ by various governance organizations become a distraction. Layering best practice upon best practice blunts the effect of those practices on a corporation’s governance”). 109
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One thing though, is remarkable. Although the uniform German code was initially celebrated and welcomed by issuers, it soon became controversial. As German issuers are — in accordance with EU law113 — required by law to declare annually that the recommendations of the German Code “have been and will be complied with or which recommendations have not been or will not be applied and why,”114 most companies felt a psychological pressure to declare compliance with the Code’s recommendations, even if they believed that some of them were inappropriate or did not fit their specific circumstances.115 This caused mischief in German boardrooms, which led to fierce criticism of the whole idea of regulating corporations, like the British, through a code, and culminated in claims that the regime was unconstitutional.116 The federal government’s commission, in an attempt to calm sentiments, soon highlighted that the Code’s recommendations were non-binding and that issuers may of course choose to depart from them due to “sector- or company-specific special characteristics.” The commission went even further and openly pleaded for a so-called “culture of departure” (Abweichungskultur), emphasizing that “well justified departures from recommendations of the Code may be in the best interests of good corporate governance.”117 Ironically, by acting in this manner, the German Code commission subscribed to a regulatory approach that is marked out in almost every U.S. code of corporate governance. NACD’s Key Agreed Principles, to mention just one of them, emphasizes that “different practices may make sense for different boards” and, therefore, calls upon boards “to avoid rote ‘box ticking’ in favor of a more thoughtful and studied approach.”118 It concludes that not only the NACD but also “other thoughtful proponents of effective corporate practices” will continue to advocate “their own views about the details of corporate governance best practice,” and that boards and shareholders should consider those viewpoints as well: “[w]hile similar in many respects, they reflect and will likely continue to reflect some important differences.”119 This is as clear a commitment to a competitive approach as can be. It may be fairly understood as representative for all the other proponents of standards of good corporate governance in the United States.
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See supra note 13. § 161 AktG. 115 Cf. Hoffmann-Becking, Festschrift Hüffer (2010), pp. 337 et seq. 116 See Bachmann, supra note 95. 117 German Code of Corporate Governance, Foreword. 118 NACD, Key Agreed Principles to Strengthen Corporate Governance for U.S. Publicly Traded Companies (2008), p. 4. 119 Id. 114
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VII. Conclusion A lot has been pondered and written about the convergence (or nonconvergence) of substantive standards of corporate law. This paper extends this debate to the tools of corporate regulation. It asks the question of why the U.K. model of establishing a uniform code of corporate governance (the U.K. Code of Corporate Governance), combined with a comply-or-explainobligation addressed to issuers, has been copied worldwide, but not in the United States. Existing (empirical) studies on the diffusion of governance codes sidestep this question; they either focus on the content of such codes (mostly restricted to European codes) or they try to find out why there are codes at all (mostly juxtaposing “common law” and “civil law” countries). The answer found here is that there is no single answer. Rather, several factors may explain the lack of a U.S. code on corporate governance. First, although there is no formal comply-or-explain-requirement corresponding to the one established in the EU, there are some functional equivalents to be found in U.S. securities regulation. Second, mandatory federal law partly prescribes elements of good corporate governance, which elsewhere are contained in a code. Thirdly, the structure and tradition of U.S. corporate regulation is polarized in a way that leaves less room for “intermediate” solutions between enabling and mandatory rules. Historical distrust for “feudal” self-regulation adds to this. Fourthly, the United States has been the leader in many fields of business law, including, most notably, securities regulation. This, in combination with Americans innate confidence in one’s owns abilities, reduces the psychological incentive to look elsewhere for innovative answers. Fifthly, due to the size and attractiveness of U.S. capital markets, which are unmatched globally, there is no need to lure in foreign investors by copying a global model. And finally, the belief in the virtues of competition, which is strongly rooted in U.S. culture and reflected in many U.S. laws, stifles the desire to merge the existing, private American codes into a single uniform U.S. code of corporate governance. A final remark: I do not draw any normative conclusions. Whether the United Kingdom’s single-code-model is a superior approach to regulating corporate governance than the U.S. approach, which builds on a combination of mandatory federal standards plus a variety of private codes, remains an open question. In order to answer it, one would have to define what “superior” means and how to evaluate or measure it. This is a philosophical task that I shall leave to others. I also leave open the question of whether the U.K. model—if the US would decide to copy it—would neatly fit into the U.S. legal system or rather form a problematic legal transplant. At least some actors, it seems, would not be unwilling to welcome more uniform standards of good corporate governance practice in the United
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States.120 Whether this will change things in the long run remains to be seen. Whatever the answers to these and other questions may be, I hope that the thoughts offered in this paper will help to better structure any future research on the topic. It might also help European and Asian scholars to better understand why many jurisdictions look to the United States for enhancing their corporate governance and why the United States does not look to us.121
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See supra note 112. This is not meant to ignore or to downplay the many enlightening comparative studies undertaken by U.S. scholars. See, pars pro toto, Roe 1, supra note 69 (referring to judges, legislators, and other political actors). 121
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Bestellung eines Unternehmensmonitors Theodor Baums
Bestellung eines Unternehmensmonitors im Ordnungswidrigkeitenverfahren THEODOR BAUMS
I. Einführung Ein Unternehmensmonitor wird vorwiegend im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens, Straf- oder Bußgeldverfahrens auf Betreiben der verfahrensleitenden Behörde bzw. Gerichts bestellt. Er soll während eines bestimmten Zeitraums prüfen und darüber berichten, ob das betreffende Unternehmen sein Compliance-System so eingerichtet hat, dass die beanstandeten Rechtsverstöße künftig tunlichst ausgeschlossen erscheinen. Ihren Ausgang hat die Bestellung solcher „Aufpasser“ in den USA genommen.1 Inzwischen haben auch zahlreiche europäische Unternehmen, darunter mehrere deutsche Großunternehmen wie Siemens, Daimler, die Deutsche Bank, VW und die Bilfinger SE, der Einsetzung und Tätigkeit von US-amerikanischen Verfolgungsbehörden bestellter Kontrolleure zustimmen müssen. Europäischen Jurisdiktionen, insbesondere Großbritannien,2 ist die Einrichtung des Unternehmensmonitors ebenfalls nicht unbekannt. Im deutschen Recht erinnert dagegen allenfalls die Bestellung eines Sonderbeauftragten für Kreditinstitute nach § 45c KWG an dieses Instrument der Wirtschaftsaufsicht. Nunmehr sieht aber der im vergangenen Jahr vom Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz vorgelegte Referentenentwurf eines Verbandssanktionengesetzes3 die Bestellung eines Monitors bei der Sanktionierung verbandsbezogener Straftaten vor.4 Es ist zu er1
Eingehende Schilderung bei Lissack/Leslie/Morvillo/McGrath/Ferguson Monitorships in Global Investigations Review, 2017, sub 28; s.a. Freeh/Hernandez in Hauschka/Moosmayer/Lösler Corporate Compliance, 3. Auflage 2016, § 47; Baums/von Buttlar ZHR 184 (2020), 259, 261 ff. 2 Schedule 17 des brit. Crime and Courts Act 2013; näher dazu Baums/von Buttlar ZHR 184 (2020), 259, 269 f. 3 Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, Art. 1: Gesetz zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten (Verbandssanktionengesetz – VerSanG, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/ RefE_Staerkung_Integritaet_Wirtschaft.pdf?_blob=publicationFile&v=1). 4 Dazu Ott/Lüneborg NZG 2019, 1361, 1362 f.
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warten, dass über kurz oder lang entweder auf nationaler Ebene oder durch Rechtsetzung der EU die Bestellung von Unternehmenskontrolleuren in das wirtschaftsrechtliche Aufsichtsinstrumentarium aufgenommen werden wird, nicht zuletzt, um US-amerikanischen Maßnahmen gegen europäische Unternehmen ein gleichwertiges Instrument entgegenzusetzen. Das geplante Verbandssanktionengesetz, das sich auf die Sanktionierung verbandsbezogener Straftaten beschränkt, sieht die Einsetzung eines Unternehmensmonitors im Ordnungswidrigkeitenverfahren nicht vor; das OWiG wird insoweit nicht geändert. Die folgenden Ausführungen gehen der Frage nach, ob im Ordnungswidrigkeitenverfahren nicht auch ohne eine solche Änderung, also bereits de lege lata, die Bestellung eines Monitors in Betracht kommt. Diese Frage ist aus zwei Gründen von Interesse. Im Ordnungswidrigkeitenverfahren kann bereits de lege lata neben den handelnden natürlichen Personen auch der Verband selbst, also eine juristische Person oder eine Personengesellschaft, mit einer Geldbuße belegt werden, wenn das Leitungspersonal eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen hat und dadurch verbandsbezogene Pflichten verletzt worden sind (§ 30 OWiG). Die Bestellung eines Monitors für das betroffene Unternehmen könnte dazu führen oder beitragen, dass die Präventivwirkung einer Geldbuße erreicht werden kann, so dass eine Verbandsgeldbuße entweder gar nicht verhängt werden muss oder herabgesetzt werden kann. Hieran könnte das betroffene Unternehmen ebenso ein Interesse haben wie die durch die Verfolgungsbehörde repräsentierte Öffentlichkeit, deren Interessen auf diesem Wege vielleicht ebenfalls wirksam geschützt werden können. Zum anderen könnte sich die Erörterung dieser Frage auch für die weitere rechtspolitische Diskussion als fruchtbar erweisen, nämlich, ob die Bestellung eines Monitors nicht doch jedenfalls de lege ferenda auch in den Instrumentenkasten des Ordnungswidrigkeitengesetzes aufgenommen werden sollte. Jedenfalls dann, wenn der jetzt vorliegende Referentenentwurf eines Verbandssanktionengesetzes scheitert und sich die Vorschläge durchsetzen sollten, stattdessen oder auch daneben das OWiG nachzurüsten und zu ergänzen,5 wird sich diese Frage stellen. Die Frage lautet also, ob auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren, und zwar bereits de lege lata, die Bestellung eines Monitors in Betracht kommt.
5 S. dazu den Gesetzgebungsvorschlag des Bundesverbands der Unternehmensjuristen für eine Änderung der §§ 30, 130 OWiG (April 2014); abrufbar unter: https://docpla yer.org/5061278-Gesetzgebungsvorschlag.html sowie den Vorschlag des Deutschen Instituts für Compliance – DICO e.V. für den Entwurf eines Gesetzes zur Schaffung von Anreizen für Compliance-Maßnahmen in Betrieben und Unternehmen (Compliance-AnreizGesetz, CompAG) von 2016, abrufbar unter https://www.dico-ev.de/wp-content/up loads/2016/10/CompAG_21_07_2014.pdf.
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II. Denkbare Verfahrensgestaltungen Vorab sei der Vollständigkeit halber bemerkt, dass die Verfolgungsbehörde im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenverfahrens nicht selbst einen Monitor bestellen könnte. Mit „Verfolgungsbehörde“ ist im Folgenden die Staatsanwaltschaft oder eine Verwaltungsbehörde gemeint, die Geldbußen verhängen kann, also etwa das Bundeskartellamt oder die BaFin. Das OWiG sieht nur die Bestellung von Sachverständigen durch die Verfolgungsbehörde vor.6 Gutachten eines Sachverständigen sollen zur Aufklärung eines Sachverhalts dienen, der sich möglicherweise als Straftat oder Ordnungswidrigkeit darstellt. Ein Monitor soll dagegen über das Verhalten des Unternehmens und Entwicklungen berichten, die sich nach der mutmaßlichen Straftat oder Ordnungswidrigkeit zugetragen haben. Ein Monitor ist demnach kein Sachverständiger im Sinne des Ordnungswidrigkeitengesetzes und der Strafprozessordnung. Im Folgenden sind daher andere, insgesamt 3 verschiedene Ansätze zu diskutieren. Erstens, das Unternehmen bestellt von sich aus, ohne Verständigung mit der Verfolgungsbehörde, einen Monitor; die Verfolgungsbehörde ist an der Auswahl des Monitors nicht beteiligt und macht keine eigenen Vorgaben für dessen Aufgaben. Das Unternehmen erhofft sich von der Bestellung des Monitors, dass die Verfolgungsbehörde die ins Auge gefasste Geldbuße reduziert oder das Verfahren sogar einstellt. Kann und darf die Verfolgungsbehörde dies bei ihren Entscheidungen über eine Einstellung bzw. über die Zumessung der Geldbuße berücksichtigen? Zweitens: Könnte die Verfolgungsbehörde aufgrund einer Einigung in einem Settlement-Verfahren die Verhängung einer Geldbuße vorerst aufschieben oder aber eine Geldbuße bestimmen und deren Verhängung vorbehalten gegen die Zusage, dass das Unternehmen einen Monitor bestellt, und weitere Zusagen bezüglich des Inhalts und der Frequenz der Berichte macht? Drittens ist zu prüfen, ob die Verfolgungsbehörde auch ohne eine Verständigung im Settlementverfahren von sich aus von der weiteren Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit absehen und das bei ihr anhängige Verfahren mit der Weisung einstellen kann, einen Monitor zu bestellen. Scheidet im Einzelfall eine Einstellung des Verfahrens aus, stellt sich die Frage, ob die Verfolgungsbehörde die zu erwartende Geldbuße im Hinblick darauf reduzieren kann, dass auf ihre Weisung hin ein Monitor bestellt werden muss. Außerdem ist zu erörtern, ob die Verfolgungsbehörde eine Verwarnung mit Bußgeldvorbehalt für den Fall aussprechen kann, dass nicht wie zugesagt 6
Seitz/Bauer in Göhler Ordnungswidrigkeitengesetz, 17. Auflage 2017, § 59 Rn. 83 ff.
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ein Monitor bestellt wird oder dessen Berichte nicht zufriedenstellend ausfallen. Im Folgenden ist diesen verschiedenen Alternativen im Einzelnen nachzugehen.
III. Bestellung eines Monitors ohne Mitwirkung der Verfolgungsbehörde Das erste zu erörternde Szenario ist das folgende: Das Unternehmen bestellt von sich aus, ohne Mitwirkung der Verfolgungsbehörde, einen Monitor; die Verfolgungsbehörde ist an der Auswahl des Monitors nicht beteiligt und macht keine eigenen Vorgaben für dessen Aufgaben. Das Unternehmen erhofft sich von der Bestellung des Monitors, dass die Verfolgungsbehörde das Verfahren einstellt oder die ins Auge gefasste Geldbuße reduziert. Kann und darf die Verfolgungsbehörde dies bei ihren Entscheidungen berücksichtigen? 1. Einstellung des Verfahrens Was die Einstellung des Verfahrens angeht, ist das Opportunitätsprinzip zu beachten. Nach § 47 Abs. 1 Satz 1 OWiG liegt die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde. Solange das Verfahren bei ihr anhängig ist, kann sie es einstellen. Die Frage ist nun, ob zu den im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens zulässigen Erwägungen auch gehören kann, dass das betreffende Unternehmen bereits einen Monitor bestellt hat, der überprüfen soll, ob das Unternehmen zwecks Vermeidung künftiger Rechtsverstöße Maßnahmen ergriffen, also zum Beispiel ein funktionierendes Compliance-System eingerichtet hat, und der hierüber in regelmäßigen Zeitabständen, etwa über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg, berichten soll. Die Entscheidung der Verfolgungsbehörde, das Verfahren einzustellen, erfolgt nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 47 Abs. 1 Satz 1 OWiG). Allein sachliche Umstände dürfen dafür maßgeblich sein, ob, in welchem Umfang und wie eine Ordnungswidrigkeit verfolgt wird oder nicht.7 Der Verweis auf fehlende Personalkräfte der Verfolgungsbehörde, auf fehlende Sachkenntnis für die Auswertung der Berichte eines Monitors oder der Hinweis auf praktische Probleme, die sich aus der Trennung zwischen Fachaufsicht und Bußgeldstelle in der Aufsichtsbehörde ergeben (etwa: die Monitorberichte können nicht von der Bußgeldstelle, sondern nur in der Fachabteilung ausgewertet werden), stellen grundsätzlich keine sachlichen Umstände dar, die für oder gegen eine Einstellung angeführt werden dürfen. 7
S. dazu etwa Seitz/Bauer in Göhler OWiG (Fn. 6), § 47 Rn. 11.
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Die Verfolgungsbehörde handelt dagegen nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie bei der Entscheidung, eine Ordnungswidrigkeit nicht weiter zu verfolgen, berücksichtigt, dass das Unternehmen in der Folge dieses Verfahrens von sich aus seine betriebsinternen Abläufe so gestaltet hat, dass vergleichbare Normverletzungen zukünftig jedenfalls deutlich erschwert werden. Das Ordnungswidrigkeitenverfahren ist in besonderer Weise darauf angelegt, auch generalpräventive und spezialpräventive Gesichtspunkte zu berücksichtigen.8 Ist infolge der inzwischen, nach der Tat, getroffenen Vorkehrungen eine Wiederholung ausgeschlossen oder unwahrscheinlich geworden, so ist dies ein Gesichtspunkt, den die Verfolgungsbehörde im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens berücksichtigen darf. Könnte die Verfolgungsbehörde diese Überzeugung, es werde nicht mehr zu Rechtsverletzungen kommen, oder die Wahrscheinlichkeit entsprechender Rechtsverstöße sei deutlich vermindert, auch bereits aufgrund einer bloßen Zusage des Unternehmens bilden, dass ein Monitor mit bestimmten Aufgaben bestellt werden wird? Eine fundierte Überzeugung hiervon wird typischerweise voraussetzen, dass der Verfolgungsbehörde Berichte des Monitors vorgelegt werden, dass das Unternehmen überzeugende Vorkehrungen bereits getroffen hat, damit künftige Rechtsverstöße vermieden werden. Eine bloße Zusage des Unternehmens wird diese Voraussetzung nicht erfüllen.
2. Höhe der Geldbuße Wenn die Verfolgungsbehörde eine Ahndung der Ordnungswidrigkeit für geboten hält und daher eine Einstellung des Verfahrens ausscheidet, könnte sie im Hinblick darauf, dass das Unternehmen einen Monitor bereits bestellt hat, eine Reduktion der Geldbuße erwägen. Was die Zumessung der Geldbuße angeht, ist § 17 OWiG zu beachten. Neben ihrer repressiven Funktion ist die Geldbuße maßgeblich durch präventive Erwägungen geprägt, hier zunächst als Spezialprävention bezogen auf den Täter, der von künftigen Verstößen abgehalten werden soll. Dem Täter soll eine geeignete Pflichtenmahnung erteilt werden.9 Die Frage ist nun, ob diese Pflichtenmahnung im Hinblick auf die einseitige Erklärung des Unternehmens, einen Monitor bereits bestellt zu haben, milder ausfallen kann. Nach einer Entscheidung des BGH aus dem Jahre 2017 ist für die Bemessung der Höhe einer Geldbuße von Bedeutung, inwieweit das betreffende Unternehmen seiner Pflicht, Rechtsverletzungen aus der Sphäre des Un8
Krenberger/Krumm in OWIG Kommentar, 5. Auflage 2018, § 17 Rn. 12. S. nur Mitsch in Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz, 5. Auflage 2018, § § 17 Rn. 9. 9
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ternehmens zu unterbinden, genügt und ein effizientes ComplianceManagement installiert hat, das auf die Vermeidung von Rechtsverstößen ausgelegt sein muss. Dabei kann nach dem BGH auch eine Rolle spielen, ob das Unternehmen in der Folge des laufenden Ordnungswidrigkeitenverfahrens entsprechende Regelungen optimiert und seine betriebsinternen Abläufe so gestaltet hat, dass vergleichbare Normverletzungen zukünftig jedenfalls deutlich erschwert werden.10 Auch die Leitlinien der BaFin für die Zumessung von Bußgeldern im Bereich der Wertpapieraufsicht sehen eine Minderung von Geldbußen bei Besserungsversprechen und Besserungsmaßnahmen des Betroffenen vor.11 Zu beachten ist allerdings Folgendes. Der BGH hebt in seiner Entscheidung auf ein von dem betroffenen Unternehmen nach seinem Verstoß bereits tatsächlich an den Tag gelegtes Verhalten, eine bereits durchgeführte Verbesserung seines Compliance-Systems ab. Die bloße Zusage einer solchen Verbesserung in Verbindung mit dem Anerbieten, dies durch einen Monitor überprüfen zu lassen, reicht regelmäßig nicht aus. Auch die BaFin betont in ihren Bußgeldleitlinien, dass ein bloßes Besserungsversprechen des Betroffenen nicht genügt, sondern dass dieses glaubhaft sein muss.12 Da durch eine angemessene Höhe der Geldbuße dem normwidrig handelnden Unternehmen auch eine geeignete Pflichtenmahnung erteilt werden soll, kann diese Pflichtenmahnung nicht einfach durch die einseitige Erklärung des Unternehmens, einen Monitor bestellen zu wollen, ersetzt werden. Denn diese Erklärung des Unternehmens ist nicht durchsetzbar: Weisungen der Verfolgungsbehörde an das Unternehmen oder gar an den Monitor im nachhinein sind, wenn die Geldbuße einmal verhängt ist, nicht möglich.
IV. Bestellung eines Monitors im Settlementverfahren Nun zu der eingangs angedeuteten zweiten Alternative: Könnte die Verfolgungsbehörde aufgrund einer Einigung in einem Settlementverfahren das Verhängen einer Geldbuße vorerst aufschieben oder aber eine Geldbuße bestimmen und deren Verhängung vorbehalten gegen die Zusage, dass das Unternehmen einen Monitor bestellt, und weitere Zusagen bezüglich des Inhalts und der Frequenz der Berichte macht? 10 BGH 1 StR 265/16 vom 9. Mai 2017, HRRS 2017 Nr. 685 Rn. 124. Anders als § 46 Abs. 2 StGB sieht § 17 OWiG nicht explizit eine Berücksichtigung des Nachtatverhaltens vor. 11 BaFin, Leitlinien zur Festsetzung von Geldbußen im Bereich des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG) vom 22. 2. 2017 (Stand: 15. 1. 2018; „WpHG Bußgeldleitlinien II“), 11; abrufbar unter: https://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Leitfaden/WA/ dl_bussgeldleitlinien_2016.html. 12 BaFin, WpHG Bußgeldleitlinien II (Fn. 11), 11.
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1. Grundzüge des Settlementverfahrens Das Strafverfahren kennt bekanntlich das Institut der „Verständigung“ zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten (§ 257c StPO). Die formalisierten Vorgaben hierfür13 gelten im Ordnungswidrigkeitenverfahren vor der Verfolgungsbehörde nicht.14 Das hindert allerdings die Verfahrensbeteiligten in den von einer Behörde geführten Ordnungswidrigkeitenverfahren nicht, namentlich bei rechtlich und tatsächlich komplexen Ordnungswidrigkeiten im Bereich des Wirtschaftsrechts, eine „informelle“ Verständigung zu erreichen.15 Sie sind denn auch, internationaler Praxis entsprechend,16 durchaus üblich, etwa in Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen Verstößen nach dem WpHG. Im Zeitraum zwischen 2017 und 2019 wurden 2/3 der Ordnungswidrigkeitenverfahren der Wertpapieraufsicht der BaFin durch ein Settlement beendet, im ersten Halbjahr des Jahres 2019 waren es 80 %.17 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf diesen Bereich der Wertpapieraufsicht. Die BaFin hat zum Settlementverfahren der Wertpapieraufsicht in Ordnungswidrigkeitenverfahren ein Informationsblatt herausgegeben, das das Settlement in seinen Grundzügen beschreibt.18 Die Verständigung zwischen der BaFin und dem betroffenen Unternehmen bildet die Grundlage für einen Bußgeldbescheid, der den Inhalt der Verständigung aufnimmt. In der Regel wird sich diese Verständigung auf die Höhe der festzusetzenden Geldbuße beziehen. Die Befugnis zu einer Verständigung über eine Reduktion der Geldbuße ergibt sich bereits aus § 17 OWiG, denn die BaFin könnte auch ohne die Verständigung das Geständnis und die Mitwirkung bei der Beschleunigung des Verfahrens bußgeldmindernd berücksichtigen.19 Da eine unmittelbar eine Verständigung regelnde Norm nach dem Vorbild des § 257c StPO im Ordnungswidrigkeitenrecht fehlt, müssen sich die Verständigung und der ihr folgende Bußgeldbescheid im Rahmen dessen bewegen, was das OWiG an unverzichtbaren Rechten des betroffenen Unternehmens und an Befugnissen der Verfolgungsbehörde einschließlich der denkbaren Rechtsfolgen vorsieht. Gegenstand der Verständigung dürfen nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt eines Bußgeldbescheids sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrun13
S. nur §§ 257c Abs. 5, 273 Abs. 1a, 243 Abs. 4 StPO. BT-Drucksache 16/12310 S. 16; anders im Einspruchsverfahren in Bußgeldsachen vor Gericht und in den Fällen der §§ 82 Abs. 2, 83 OWiG; vgl. § 78 Abs. 2 OWiG. 15 BT-Drucksache 16/12310, 16. 16 S. nur den Rechtsvergleich zu Settlement-Verfahren im Kapitalmarktrecht bei von Buttlar/Canzler BB 2019, 2115 ff. 17 Von Buttlar/Canzler BB 2019, 2115, 2118. 18 BaFin, Informationsblatt zum Settlement-Verfahren der Wertpapieraufsicht der BaFin in Bußgeldsachen, Stand vom 20.8.2019, abrufbar unter https://www.bafin.de/SharedDo cs/Downloads/DE/Merkblatt/WA/dl_wa_infoblatt_settlement_in_bussgeldsachen.html. 19 S. Gürtler in Göhler OWiG (Fn. 6), § 17 Rn. 26a. 14
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deliegenden Verfahren, wie z.B. die vorläufige Aussetzung des Verfahrens oder dessen endgültige Einstellung, sowie das verfahrensbezogene Verhalten der Beteiligten. Wird eine Aussetzung des Verfahrens, die endgültige Einstellung oder eine Minderung der Geldbuße vereinbart, so müssen sich die Bedingungen hierfür im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens der Verfolgungsbehörde (§ 47 Abs. 1 OWiG) bzw. des Zwecks der Zumessung einer Geldbuße (§ 17 OWiG) bewegen. Regelmäßig ist Voraussetzung für das Verhängen einer Geldbuße und damit auch für das Settlement, dass die Tatbegehung von dem betroffenen Unternehmen eingestanden wird.20 Abgeschlossen wird das Settlementverfahren durch den Erlass eines verkürzten Bußgeldbescheids; auf eine ausführliche Begründung der Bußgeldzumessung wird verzichtet. Legt das betroffene Unternehmen gleichwohl Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein, nimmt die BaFin den Bescheid zurück; ein gewährter Abschlag entfällt somit.21 2. Aussetzung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens Die Frage ist, ob die BaFin berechtigt wäre, im Rahmen einer Verständigung die Aussetzung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens für eine bestimmte Frist in Aussicht zu stellen, wenn das betroffene Unternehmen im Gegenzug anbietet, einen Monitor zu bestellen, der binnen der bestimmten Frist Berichte über die Fortschritte beim Aufbau oder der Verbesserung des Compliance-Systems vorlegen soll. Die Gesamtdauer der Frist für die Verbesserung des Compliance-Systems müsste kürzer als die noch ausstehende Verjährungsfrist sein, damit gegebenenfalls noch eine Geldbuße verhängt werden kann. Kommt das betroffene Unternehmen den in Aussicht gestellten Maßnahmen fristgerecht nach (der Monitor wird bestellt; seine Berichte werden der BaFin vorgelegt; das Compliance-System ist zufriedenstellend verbessert), so könnte die BaFin im Hinblick auf dieses Nachtatverhalten das Bußgeld gemäß § 17 Abs. 2 OWiG auf ein dem angemessenes Maß reduzieren oder das Ordnungswidrigkeitenverfahren gemäß § 47 OWiG ganz einstellen. Die Aussetzung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens ist anerkannt und wird praktiziert, wenn die Beurteilung, ob ein Bußgeldtatbestand verwirklicht worden ist, von einer zivil- oder verwaltungsrechtlichen Vorfrage ab20 BaFin, Informationsblatt (Fn. 18), 2; von Buttlar/Canzler BB 2019, 2115, 2118 re. Sp. Gerade dieses Erfordernis eines Geständnisses mag dem betroffenen Unternehmen unerwünscht sein, insbesondere, wenn eine Bekanntmachung nach den §§ 123 ff. WpHG zu erwarten steht, ist aber de lege lata unverzichtbar (vgl. auch § 257c Abs. 2 Satz 2 StPO). Nach dem Informationsblatt der BaFin (Fn. 18), 2 ist eine Verständigung über das Ob einer gesetzlich vorgesehenen öffentlichen Bekanntmachung ausgeschlossen. Das dürfte aber nicht für die im Ermessen der BaFin stehenden – allerdings seltenen – Bekanntmachungen iSv § 123 Abs. 1 WpHG gelten. 21 BaFin, Informationsblatt (Fn. 18), 3; von Buttlar/Canzler BB 2019, 2115, 2119 li. Sp.
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hängt, die zweifelhaft und die zu klären nicht Aufgabe der Verfolgungsbehörde ist.22 Die Befugnis zur Aussetzung in solchen Fällen wird auf § 47 OWiG gestützt, wonach die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde liegt. Das betrifft nicht nur die Frage, ob das Verfahren eingestellt, sondern auch, ob es bis auf Weiteres ausgesetzt werden soll. In der vorliegenden Fallgestaltung geht es zwar nicht um die Klärung einer Vorfrage zur Verwirklichung des Bußgeldtatbestands, sondern darum ob ein für das Ob oder die Höhe der Ahndung bedeutsamer Umstand nach der Tat noch berücksichtigt werden kann. Auch in diesen Fällen wird man aber eine Aussetzung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens für zulässig erachten dürfen, da das Nachtatverhalten sowohl bei der Einstellung wie bei der Geldbussenzumessung berücksichtigt werden kann (oben III.). Sollte sich diese Vorgehensweise bei den Verfolgungsbehörden in den dafür geeigneten Fällen durchsetzen, könnten die Beteiligten sich, was den Inhalt der Verständigung in solchen Fällen angeht, an der etablierten angelsächsischen Praxis orientieren. Das betrifft neben der Verständigung über die Höhe der Geldbuße u. a. auch die Gewinnabschöpfung, Einzelheiten der Verbesserung der Compliance-Organisation (etwa der Einsatz von Schulungen); die Person des Monitors und dessen Unabhängigkeit von dem betroffenen Unternehmen; die Frequenz und den Inhalt der von ihm vorzulegenden Berichte.23
V. Weisungen der Verfolgungsbehörde; Verwarnung mit Bußgeldvorbehalt Zum Schluss unserer Überlegungen bleibt noch zu prüfen, ob die Verfolgungsbehörde auch ohne eine zugrunde liegende Verständigung von der weiteren Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit absehen und das bei ihr anhängige Verfahren mit der Weisung einstellen kann, einen Monitor zu bestellen. Scheidet im Einzelfall eine Einstellung des Verfahrens aus, stellt sich die Frage, ob die zu erwartende Geldbuße im Hinblick darauf reduziert werden kann, dass auf Weisung der Verfolgungsbehörde ein Monitor bestellt werden muss. Außerdem ist zu erörtern, ob die Verfolgungsbehörde eine Verwarnung mit Bußgeldvorbehalt für den Fall aussprechen kann, dass nicht, wie zugesagt, ein Monitor bestellt wird, oder dass dessen Berichte nicht zufriedenstellend ausfallen.
22 S. auch § 262 Abs. 2 StPO, § 396 AO; aus der Lit. etwa Seitz/Bauer in Göhler OWiG (Fn. 6), § 47 Rn. 1a. 23 S. dazu die Nachweise oben in Fn. 1 und 2.
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1. Einstellung des Verfahrens mit Weisungen? Zunächst zur Einstellung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens verbunden mit einer Weisung der Verfolgungsbehörde. Die Frage ist, ob dies auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren in Betracht kommt. Kann die Verfolgungsbehörde von der weiteren Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit absehen und das bei ihr anhängige Verfahren mit der Weisung einstellen, einen Monitor zu bestellen? Das geplante Verbandssanktionengesetz verweist auf § 153a StPO.24 Danach soll künftig die Verfolgungsbehörde im Verbandsstrafverfahren vorläufig von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen und dem Verband zugleich Auflagen und Weisungen erteilen können, zum Beispiel auch die Weisung, einen Monitor zu bestellen. Nach § 153a StPO kann die Staatsanwaltschaft bei einem Vergehen vorläufig von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen und zugleich dem Beschuldigten Auflagen und Weisungen erteilen, wenn diese geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht. Anders als § 153a StPO für Strafverfahren sieht die einschlägige Vorschrift des § 47 OWiG die Einstellung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens unter Weisungen nicht explizit vor. § 47 OWiG legt nur lapidar fest, dass die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde liegt und fügt hinzu: „Solange das Verfahren anhängig ist, kann sie es einstellen.“ Im Hinblick darauf entspricht es der herrschenden Lehre, dass § 153a StPO im Ordnungswidrigkeitenrecht nicht entsprechend angewandt werden kann.25 Zum Teil wird für eine (analoge) Anwendung dieser Normen wegen des im OWiG geltenden Opportunitätsprinzips keine Notwendigkeit gesehen;26 zum Teil wird eine analoge Anwendung von § 153a StPO mit der Begründung verneint, eine Einstellung unter Auflagen habe Sanktionscharakter, die in § 47 OWiG eben nicht vorgesehen sei.27 In der Tat erscheint § 153a StPO als Durchbrechung des Legalitätsprinzips bei der Verfolgung von Straftaten. Ohne diese Durchbrechung aufgrund tatbestandlich eng formulierter Auflagen und Weisungen, die dem öffentlichen Strafverfolgungsinteresse auf andere Weise Rechnung tragen sollen, käme ein Absehen von der Strafverfolgung nicht in Betracht. 24
§ 36 VerSanGE (oben Fn. 3). Krenberger/Krumm OWIG (Fn. 8), § 47 Rn. 32; Mitsch in ders. (Hrsg.) Karlsruher Kommentar (Fn. 9), § 47 Rz. 120; ebenso Seitz/Bauer in Göhler OWiG (Fn. 6), § 47 Rn. 1; einschränkend aber dies. a.a.O. Rn. 34, wo ausgeführt wird, dass „innerhalb enger [von den Verf. aber nicht näher definierten] Grenzen“ die Einstellung des Verfahrens von anderen Umständen abhängig gemacht werden dürfe. 26 Seitz/Bauer in Göhler OWiG (Fn. 6), § 47 Rn. 1. 27 Krenberger/Krumm OWIG (Fn. 8), § 47 Rn. 32. 25
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Das hat der Gesetzgeber im OWiG anders entschieden und den Verfolgungsbehörden ein breites Ermessen hinsichtlich der Einstellung von Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeräumt, es allerdings unterlassen, den Verfolgungsbehörden zugleich das Instrument eines vorläufigen Absehens von der Verfolgung verbunden mit der Erteilung von Auflagen und Weisungen an die Hand zu geben. Dass das Erteilen von Auflagen und Weisungen im Zusammenhang mit der Einstellung von Verfahren nicht dem Willen des Gesetzgebers des OWiG entsprach, kann man auch mehreren positivrechtlichen Anhaltspunkten entnehmen, wie hier nicht näher ausgeführt werden kann.28 2. Reduktion der Geldbuße Auch eine Reduktion der Höhe des Bußgelds mit Weisungen oder eine Verwarnung mit Bußgeldvorbehalt mit Weisungen nach dem Vorbild des künftigen Verbandssanktionengesetzes29 sieht das OWiG nicht vor. Das Ordnungswidrigkeitengesetz bietet daher auch keine Handhabe, das Bußgeld zu erhöhen oder eine vorbehaltene Geldbuße zu verhängen, wenn die Weisungen nicht befolgt werden. 3. Verwarnung mit Bußgeldvorbehalt? Das Strafverfahren kennt ferner die Verwarnung mit Strafvorbehalt:30 Hat jemand eine Geldstrafe verwirkt, so kann das Gericht ihn neben dem Schuldspruch verwarnen, die Strafe bestimmen und die Verurteilung zu dieser Strafe vorbehalten, wenn erstens zu erwarten ist, dass der Täter künftig auch ohne Verurteilung zu Strafe keine Straftaten mehr begehen wird; zweitens Umstände vorliegen, die eine Verhängung von Strafe entbehrlich machen, und drittens die Verteidigung der Rechtsordnung die Verurteilung zu Strafe nicht gebietet. Auch das geplante Verbandssanktionengesetz sieht eine Verwarnung mit Verbandsgeldsanktionsvorbehalt vor.31 Könnte auch die Verfolgungsbehörde im Ordnungswidrigkeitenverfahren auf der Basis einer entsprechenden Verständigung eine Verwarnung mit Bußgeldvorbehalt aussprechen? Dann hätte es bei der Verwarnung sein Bewenden, wenn das betroffene Unternehmen sich binnen der ihm eingeräumten Frist erfolgreich bemühen würde, die versprochenen Leistungen (Bestel28 So fehlt zB in § 47 OWiG eine dem § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO entsprechende Vorschrift (erfüllt der Beschuldigte die Auflagen und Weisungen, so kann die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden) ebenso wie eine dem § 153a Abs. 3 StPO entsprechende Norm (während des Laufes der für die Erfüllung der Auflagen und Weisungen gesetzten Frist ruht die Verjährung). Der Gesetzgeber hat die Parallele zu § 153a StPO auch nicht übersehen, wie § 47 Abs. 3 OWiG belegt. 29 §§ 10, 13 VerSanGE (Fn. 3). 30 §§ 59 – 59c StGB. 31 § 10 VerSanGE (Fn. 3).
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len eines Monitors; Abliefern von Berichten; Verbessern des ComplianceSystems) zu erbringen. Das vorbehaltene Bußgeld könnte aber doch verhängt werden, wenn das Unternehmen die von ihm versprochenen Leistungen nicht wie vorgesehen erbringt. Auch dem Ordnungswidrigkeitenrecht ist die Verwarnung bekannt. Sie ist nur wirksam, wenn der Betroffene mit ihr einverstanden ist; es erfolgt also durchaus eine „Verständigung“ zwischen der zur Verwarnung berechtigten Person oder Stelle und dem Betroffenen.32 Die Verwarnung des OWiG ist grundsätzlich mit der Verhängung eines (geringfügigen) Verwarnungsgelds verbunden, kann allerdings auch ohne Verwarnungsgeld erteilt werden.33 Eine Verwarnung mit Bußgeldvorbehalt, um dem Betroffenen während der dafür bestimmten Frist ein normgemäßes Verhalten und von ihm zugesagte Leistungen zu ermöglichen, sieht das OWiG aber nicht vor. Wenn ein Verwarnungsgeld verhängt wird, wird es nicht vorbehalten, um ein normgemäßes Verhalten des Beschuldigten zu erzwingen, sondern es ist sofort zu zahlen. Die Regelung des OWiG zur Verwarnung ist, wie auch die Höhe des Verwarnungsgelds zeigt,34 für die Sanktionierung geringfügiger Ordnungswidrigkeiten vorgesehen.35 Im vorliegenden Zusammenhang scheidet sie dagegen aus. Ebenso wenig kommt in Betracht, auf der Grundlage einer entsprechenden Verständigung einen Bußgeldbescheid mit der mindestens zu verhängenden Geldbuße zu erlassen und eine höhere Geldbuße einstweilen vorzubehalten für den Fall, dass die im Settlement Agreement zugesagten Leistungen nicht erbracht werden.
VI. Zusammenfassung 1. Die für die Durchführung von Ordnungswidrigkeitenverfahren zuständige Verfolgungsbehörde darf bei einer Einstellungsentscheidung berücksichtigen, dass das betroffene Unternehmen einen Monitor bestellt und dieser Berichte darüber vorgelegt hat, dass das Unternehmen nach dem Normverstoß von sich aus seine betriebsinternen Abläufe so gestaltet hat, dass vergleichbare Normverletzungen zukünftig jedenfalls deutlich erschwert werden. Hingegen reicht die bloße Zusage, einen Monitor über einen bestimmten Zeitraum bestellen zu wollen, regelmäßig nicht für eine Einstellung aus. 32
§ 56 Abs. 2 Satz 1 OWiG. § 56 Abs. 1 Satz 2 OWiG. 34 Max. bis zu 55 EUR; § 56 Abs. 1 Satz 1 OWiG. 35 Gürtler in Göhler OWiG (Fn. 6), § 56 Rn. 6. 33
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2. Wenn nach dem pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde keine Einstellung des Verfahrens in Betracht kommt, kann die Höhe der Geldbuße auf eine angemessene Höhe reduziert werden; die Bestellung eines Monitors durch das Unternehmen, der entsprechende Berichte erstellt hat, kann bußgeldmindernd berücksichtigt werden. Für die Höhe der Geldbuße ist maßgeblich, dass sie dem normwidrig handelnden Unternehmen trotz ihrer Reduktion noch eine erforderliche und geeignete Pflichtenmahnung erteilt. 3. Die Verfolgungsbehörde ist berechtigt, im Rahmen einer Verständigung („Settlement“) für eine bestimmte Frist die Aussetzung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens in Aussicht zu stellen, wenn das betroffene Unternehmen im Gegenzug anbietet, einen Monitor zu bestellen, der binnen der bestimmten Frist Berichte über die Fortschritte beim Aufbau oder der Verbesserung des Compliance-Systems vorlegen soll. Die Gesamtdauer der Frist für die Verbesserung des Compliance-Systems muss kürzer sein als die noch ausstehende Verjährungsfrist, damit gegebenenfalls noch eine Geldbuße verhängt werden kann. Kommt das betroffene Unternehmen den in Aussicht gestellten Maßnahmen fristgerecht nach (der Monitor wird bestellt; seine Berichte werden der Verfolgungsbehörde vorgelegt; das Compliance-System ist zufriedenstellend verbessert), so reduziert die Verfolgungsbehörde im Hinblick auf dieses Nachtatverhalten das Bußgeld gemäß § 17 Abs. 2 OWiG auf ein dem angemessenes Maß oder stellt das Ordnungswidrigkeitenverfahren gemäß § 47 OWiG ganz ein. 4. Eine Einstellung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens, verbunden mit der Weisung der Verfolgungsbehörde an das betroffene Unternehmen, einen Monitor zu bestellen, und darüber hinaus mit Vorgaben dazu, worauf der Monitor sein Augenmerk zu richten hat, wie oft und worüber er zu berichten hat, scheidet de lege lata aus. 5. Auch eine Reduktion der Geldbuße unter Weisungen sieht das Ordnungswidrigkeitengesetz nicht vor, und es bietet daher auch keine Handhabe, das Bußgeld zu erhöhen bzw. die vorbehaltene Geldbuße zu verhängen, wenn die Weisungen nicht befolgt werden. 6. Eine Verwarnung mit Bußgeldvorbehalt, um dem Betroffenen während der dafür bestimmten Frist ein normgemäßes Verhalten und von ihm zugesagte Leistungen zu ermöglichen, sieht das OWiG nicht vor. 7. Ebenso wenig kommt in Betracht, auf der Grundlage einer entsprechenden Verständigung einen Bußgeldbescheid mit der mindestens zu verhängenden Geldbuße zu erlassen und eine höhere Geldbuße einstweilen vorzubehalten für den Fall, dass die im Settlement Agreement zugesagten Leistungen nicht erbracht werden.
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Stellvertretung bei der verbandsrechtlichen Beschlussfassung
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Stellvertretung bei der verbandsrechtlichen Beschlussfassung Walter Bayer und Sven Möller
Stellvertretung bei der verbandsrechtlichen Beschlussfassung WALTER BAYER UND SVEN MÖLLER
I. Einleitung Die Stellvertretung durch gesetzliche, organschaftliche oder bevollmächtigte Stimmrechtsvertreter wirft sowohl praktische als auch dogmatische Fragen auf. Auch in dem von unserer Jubilarin seit der 20. Auflage bearbeiteten Kurz-Lehrbuch zum Gesellschaftsrecht1 werden etwa die Stimmrechtsvollmacht in der AG2 oder die Stellvertretung bei der Beschlussfassung in der OHG3 angesprochen. Aus den vielfältigen Facetten der Thematik sollen hier (quasi als „wissenschaftliches Geburtstagsgeschenk“) einige ausgewählte und reizvolle Problembereiche näher behandelt werden.
II. Allgemeines zur Stimmrechtsvertretung und deren Zulässigkeit Da die Stimmabgabe eine Willenserklärung ist,4 gelten für die Stellvertretung die §§ 164 ff. BGB. Im Rahmen des Abschlusses von Rechtsgeschäften ist eine Vertretung grundsätzlich zulässig, sofern sich keine Einschränkungen aus dem Gesetz oder aus den Besonderheiten des jeweiligen Geschäfts ergeben.5 Dies bedeutet:6 1. Recht der Kapitalgesellschaften Im Aktienrecht wird die Stimmrechtsvertretung ausdrücklich gem. § 134 Abs. 3 S. 1 AktG zugelassen. Die Satzung kann die Möglichkeit der Stimm1
Christine Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017. Windbichler Gesellschaftsrecht, § 29 Rn. 33 ff. 3 Windbichler Gesellschaftsrecht, § 13 Rn. 10. 4 BGH v. 14.7.1954 – II ZR 342/53, BGHZ 14, 264, 267 = GmbHR 1954, 125 m. Anm. H. Schneider; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG § 47 Rn. 2; Hüffer/Koch AktG § 133 Rn. 18; Schäfer in MüKo BGB, § 709 Rn. 74; Busche in FS Säcker, 2011, 45, 48 f. 5 Maier-Reimer in Erman BGB, Vor § 164 Rn. 31; Schilken in Staudinger BGB Vor § 164 Rn. 40 f.; Schubert in MüKo BGB, § 164 Rn. 100 ff. 6 Siehe auch Grunewald in FS E. Vetter, 2019, S. 173, 174 ff. 2
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rechtsvertretung nicht wirksam ausschließen; eine solche Satzungsregelung stünde im Widerspruch zu § 23 Abs. 5 AktG.7 Eine entsprechende Norm fehlt hingegen für das Recht der GmbH. Allerdings setzt § 47 Abs. 3 GmbHG, wonach eine Stimmrechtsvollmacht der Textform (§ 126b BGB) bedarf, die Zulässigkeit der gewillkürten Stimmrechtsvertretung voraus.8 Dabei stellt die Wahrung der Form nach h.M.9 eine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Vollmacht dar, wobei Ausnahmen nach § 242 BGB zugelassen werden.10 Im Grundsatz zulässig ist eine Beschränkung der gewillkürten Stimmrechtsvertretung durch den Gesellschaftsvertrag.11 Auch für das Aktienrecht wird die Einhaltung der Textform für die Stimmrechtsvollmacht durch § 134 Abs. 3 S. 3 AktG angeordnet, wobei diese Regelung – innerhalb bestimmter Grenzen – satzungsdispositiv ist.12 Neben der gewillkürten Stimmrechtsvertretung ist jeweils die gesetzliche13 sowie organschaftliche14 Vertretung zulässig, für welche die gesetzlichen Formvorschriften nicht gelten.15 2. Recht der Personengesellschaften Eine Einschränkung erfährt die Stimmrechtsvertretung nach ganz h.M. im Recht der Personengesellschaften. Dort gilt der Grundsatz der höchst7 Arnold in MüKo AktG, § 134 Rn. 45; Rieckers in BeckOGK-AktG, § 134 Rn. 51; Tröger in KK-AktG, § 134 Rn. 153; Herrler in Grigoleit AktG, § 134 Rn. 31; Hüffer/Koch AktG, § 134 Rn. 21. 8 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 25; K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 76; Casper in Bork/Schäfer GmbHG, § 47 Rn. 35; Ganzer in R/S-L GmbHG, § 47 Rn. 48. 9 BGH v. 14.12.1967 – II ZR 30/67, BGHZ 49, 183, 194; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 47 Rn. 51; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 29; Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 105; Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 104; dagegen (bloß Legitimationsmittel) Bärwaldt/Günzel GmbHR 2002, 1112, 1114; K. Schmidt GmbHR 2013, 1177, 1182 f.; Römermann in M/H/L/S GmbHG, § 47 Rn. 413. 10 Dazu näher Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 29 mwN. 11 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 25; Zöllner/Noack in Baumbach/ Hueck GmbHG, § 47 Rn. 44; K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 96 f. mwN. 12 Näher Grundmann in GroßKomm AktG, § 134 Rn. 111; Tröger in KK-AktG, § 134 Rn. 181 ff. 13 Zur GmbH: Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 117; Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 89 ff.; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 47 Rn. 43; K. Schmidt GmbHR 2013, 1177, 1181; zur AG: Tröger in KK-AktG, § 134 Rn. 226 f.; Holzborn in Bürgers/Körber AktG § 134 Rn. 24. 14 Zur GmbH: Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 118; Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 83 ff.; zur AG: Spindler in Schmidt/Lutter AktG, § 134 Rn. 67. 15 Zur GmbH: Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 31 mwN; zur AG: Arnold in MüKo AktG, § 134 Rn. 79 f.; Hoffmann-Becking in MünchHdB GesR IV, § 37 Rn. 20.
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persönlichen Stimmrechtsausübung;16 eine gewillkürte Vertretung bei der Stimmabgabe ist hier aufgrund der typischerweise bestehenden personalistischen Struktur nur zulässig, wenn die Mitgesellschafter dem zustimmen, sei es allgemein vorab im Gesellschaftsvertrag oder durch eine Zustimmung ad hoc.17 Aus der Bindung an die Treupflicht kann indes eine Pflicht zur Zulassung einer Stimmrechtsvertretung resultieren, insbesondere wenn der Gesellschafter an einer persönlichen Stimmrechtsausübung gehindert ist.18 Die Zustimmung kann auch konkludent erteilt werden, etwa aufgrund der Übernahme kapitalgesellschaftsrechtlicher Elemente durch den Gesellschaftsvertrag.19 Zu weit geht jedoch die Ansicht, wonach u.a. Angehörige der rechtswahrenden Berufe keiner entsprechenden Zulassung durch die Mitgesellschafter bedürfen.20 Im Gegensatz dazu ist die gesetzliche sowie organschaftliche Vertretung eines Gesellschafters zulässig, auch ohne, dass diese durch die Mitgesellschafter zugelassen wurde.21 3. Abspaltungsverbot Als mitgliedschaftliches (Mit-)Verwaltungsrecht ist das Stimmrecht nicht von der Mitgliedschaft abtrennbar.22 Für das Recht der Personengesellschaften hat dieser Grundsatz in § 717 BGB eine gesetzliche Regelung gefunden. Indes handelt es sich bei dem sog. Abspaltungsverbot um ein rechtsformübergreifendes Prinzip, welches auch für das Recht der Kapitalgesellschaften Geltung beansprucht.23
16 BGH v. 1.12.1969 – II ZR 14/68, NJW 1970, 706; Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 58; Enzinger in MüKo HGB, § 119 Rn. 18; A. Hueck OHG, § 11 II 3 [S. 165]; so auch Windbichler Gesellschaftsrecht, § 13 Rn. 10. 17 RG v. 12.2.1929 – II 295/28, RGZ 123, 289, 300; Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 59; Lieder in Oetker HGB, § 119 Rn. 17; Hadding/Kießling in Soergel BGB, § 709 Rn. 28; Grunewald in FS E. Vetter, 2019, 173, 176; für generelle Zulässigkeit der Vertretung durch Mitgesellschafter: Weipert in MünchHdB GesR I, § 57 Rn. 62 ff. 18 BGH v. 1.12.1969 – II ZR 14/68, NJW 1970, 706; Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 59; Hadding/Kießling in Soergel BGB, § 709 Rn. 28; Habermeier in Staudinger BGB, § 709 Rn. 21; Wiedemann GesR II, § 4 I 4 c) [311]. 19 Zutreffend Grunewald in FS E. Vetter, 2019, 173, 176. 20 So aber Enzinger in MüKo HGB, § 119 Rn. 19; einschränkend auch Wiedemann GesR II, § 4 I 4 c) [311]. 21 BGHZ 44, 98, 100 f. = NJW 1965, 1961 (betr. Gebrechlichkeitspfleger); Roth in Baumbach/Hopt HGB, § 119 Rn. 21; Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 21 mwN. 22 BGH v. 10.11.1951 – II ZR 111/50, BGHZ 3, 354, 357 (OHG); BGH v. 14.5.1956 – II ZR 229/54, BGHZ 20, 363, 364 (KG); Flume BGB AT I/1, § 14 IV [S. 220 f.]; allgemein zum Abspaltungsverbot: K. Schmidt Gesellschaftsrecht, § 19 III 4 [560 ff.]; Windbichler Gesellschaftsrecht, § 7 Rn. 9. 23 Zur AG: Heider in MüKoAktG, § 8 Rn. 89; Mock in GroßKomm AktG, § 8 Rn. 192; zur GmbH: BGH v. 25.2.1965 – II ZR 287/63, BGHZ 43, 261, 267 = GmbHR 1965, 111, 112 (zum Anfechtungsrecht); Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 14 Rn. 22;
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Im Hinblick auf die Vertretung eines Gesellschafters bei der Abstimmung liegt ein Verstoß gegen das Abspaltungsverbot jedenfalls dann vor, wenn der Vertreter unwiderruflich bevollmächtigt und der Gesellschafter im Wege des Verzichts zugleich von einer eigenen Stimmabgabe ausgeschlossen wird24 (sog. verdrängende Vollmacht).25 Doch ist auch eine unwiderrufliche Vollmacht mit einer (nur) schuldrechtlichen Abrede der Nichtausübung des Stimmrechts nicht bereits deshalb zulässig, weil diese an den Fortbestand des Grundverhältnisses geknüpft ist (siehe § 168 S. 1 BGB) und nach allgemeiner Ansicht26 aus wichtigem Grund widerrufen werden kann,27 sondern nur, wenn dies aufgrund der Besonderheiten im Innenverhältnis geboten ist, was insbesondere im Treuhandverhältnis zugunsten des Treugebers gilt.28 Das Abspaltungsverstoß steht indes einer Aufteilung der mitgliedschaftlichen Rechte nicht entgegen, wenn dies der Ausübung eines dinglichen oder obligatorischen Rechts dient. Allerdings soll – trotz Zulässigkeit des Nießbrauchs an Gesellschaftsanteilen (vgl. §§ 1068 ff., 1081 BGB)29 – nach (noch) h.M.30 das Abspaltungsverbot der originären Stimmrechtsübertragung an den Nießbraucher entgegenstehen,31 was allerdings nicht zweifelsReichert/Weller in MüKo GmbHG, § 14 Rn. 119; Altmeppen in Roth/Altmeppen GmbHG, § 14 Rn. 13. S. auch Windbichler Gesellschaftsrecht, § 7 Rn. 9. 24 Allein die unwiderrufliche Stimmrechtsvollmacht als Verstoß gegen das Abspaltungsverbot ansehend Altmeppen in Roth/Altmeppen GmbHG, § 15 Rn. 58. 25 Zur Unzulässigkeit der verdrängenden Stimmrechtsvollmacht: BGH v. 10.11.1951 – II ZR 111/50, BGHZ 3, 354, 358 f.; BGH v. 14.5.1956 – II ZR 229/54, BGHZ 20, 363, 365 (jeweils zur KG); obiter auch BGH v. 11.10.1976 – II ZR 119/75, GmbHR 1977, 244, 245 (zur GmbH); aus dem Schrifttum: Schäfer in Staub HGB § 119 Rn. 68; Roth in Baumbach/Hopt HGB, § 119 Rn. 19 (zur OHG); Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 14 Rn. 22, § 47 Rn. 28 (zur GmbH); Seibt in Scholz GmbHG, § 15 Rn. 7, 179; Rieckers in BeckOGK-AktG, § 134 Rn. 51; Hüffer/Koch AktG, § 134 Rn. 21; Grundmann in GroßKomm AktG, § 134 Rn. 99; Reichert/Harbarth AG 2001, 447, 449 ff. 26 Zur unwiderruflichen Vollmacht generell und speziell auch zum Recht des jederzeitigen Widerrufs aus wichtigem Grund jüngst Bayer DNotZ 2020, 373, 380 mwN. 27 So aber zur GmbH: Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 99; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 47 Rn. 50; zur AG auch Tröger in KK-AktG, § 134 Rn. 155 ff. 28 Zur GmbH: Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 28; Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 101; Hillmann in Henssler/Strohn GesR, § 47 GmbHG Rn. 41; ähnlich K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 83; zur AG: Grundmann in GroßKomm AktG, § 134 Rn. 99; Tröger in KK-AktG, § 134 Rn. 158; dagegen (weil kein Bedarf) Spindler in K. Schmidt/Lutter AktG, § 134 Rn. 40; Hüffer/Koch AktG, § 134 Rn. 21; Rieckers in BeckOGK-AktG, § 134 Rn. 51. 29 Für alle: Bayer in Erman BGB, § 1069 Rn. 7 ff., § 1081 Rn. 4 ff. mwN. 30 Ausf. Nachw. bei Wedemann ZGR 2016, 798, 801. 31 Siehe etwa (zur GmbH) OLG Koblenz v. 16.1.1992 – 6 U 963/91, GmbHR 1992, 464, 465; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 47 Rn. 35; Fastrich in Baumbach/Hueck GmbHG, § 15 Rn. 53; Seibt in Scholz GmbHG, § 15 Rn. 217; Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 77; Reichert/Weller in MüKo GmbHG, § 15 Rn. 337; K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 18; Altmeppen in Roth/Altmeppen GmbHG, § 15 Rn. 57; (zur AG) Spindler in K. Schmidt/Lutter AktG, § 134 Rn. 8; Rieckers in BeckOGK-AktG, § 134 Rn. 43; Grundmann in GroßKomm AktG, § 134 Rn. 81; Hüffer/
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frei ist.32 Die (oftmals auch steuerlich getriebene33) Praxis weicht in der Regel auf eine zulässige (auch unwiderrufliche, aber nicht verdrängende) Stimmrechtsvollmacht aus,34 wobei eine nach h.M. unzulässige vertragliche Stimmrechtseinräumung für den Nießbraucher in eine solche Stimmrechtsvollmacht umgedeutet werden kann.35 Nach der (frühen) Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Personengesellschaftsrecht sollte ein Verstoß gegen das Abspaltungsverbot zur relativen Unwirksamkeit im Verhältnis zu den Gesellschaftern nach § 135 BGB führen.36 Jedoch hat bereits das Reichsgericht in einer späteren Entscheidung die Nichtigkeit nach § 134 BGB angenommen, wenn ein Aktionär einen Dritten derart bevollmächtigt, dass das mitgliedschaftliche Stimmrecht faktisch auf diesen übertragen wird.37 Durch den II. Zivilsenat des BGH wurde diese Rechtsprechung, wonach ein Verstoß gegen das Abspaltungsverbot die Unwirksamkeit des betreffenden Rechtsgeschäfts zur Folge hat, fortgeführt.38 Koch AktG, § 118 Rn. 27; (zur Personengesellschaft) OLG München v. 8.8.2016 – 31 Wx 204/16, NZG 2016, 1064, 1065; Haas in Röhricht/v. Westphalen/Haas HGB, § 109 Rn. 8; jedenfalls für (Grundlagen-)Beschlüsse, die seine Rechtsstellung in der Gesellschaft betreffen (nach bisheriger Begriffsbildung: Kernbereich der Mitgliedschaft), bleibt der Gesellschafter/Nießbrauchbesteller zuständig: BGH v. 9.11.1998 – II ZR 213/97, NJW 1999, 571, 572 m. zust. Bespr. K. Schmidt ZGR 1999, 601 ff.; Enzinger in MüKo HGB, § 119 Rn. 19; insoweit auch Schäfer in Staub HGB, § 105 Rn. 124. 32 Für Zulässigkeit der vertraglichen Stimmrechtseinräumung etwa (zur Personengesellschaft) OLG Stuttgart v. 28.1.2013 – 8 W 25/13, NZG 2013, 432, 433; Gummert in MünchHdB GesR I § 16 Rn. 29; Schäfer in Staub HGB, § 105 Rn. 124 mwN; (zur GmbH) Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 53; ausf. Reichert/Schlitt/Düll GmbHR 1998, 565, 573; Sympathie bei Bayer in Erman BGB, § 1081 Rn. 8; siehe auch (zur AG) Tröger in KK-AktG, § 134 Rn. 54; noch weitergehend Wedemann ZGR 2016, 798, 804, 823 ff. mwN; vgl. auch das obiter dictum in BGH v. 3.7.1989 – II ZB 1/89, BGHZ 108, 187, 199. 33 Zur wirtschaftlichen Zuordnung des Geschäftsanteils an den Nießbraucher nur BFH v. 24.1.2012 – IX R 51/10, BFHE 236, 356, 360; siehe auch (zum Eigenkapitalersatzrecht) BGH v. 5.4.2011 – II ZR 173/10, NZG 2011, 864. 34 Die Zulässigkeit der Stimmrechtsvollmacht ist unbestritten: Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 15 Rn. 119; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 47 Rn. 35; Seibt in Scholz GmbHG, § 15 Rn. 217; Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 77; Hüffer/Koch AktG, § 134 Rn. 21; Rieckers in BeckOGK-AktG, § 134 Rn. 43; ausf. Reichert/Schlitt/Düll GmbHR 1998, 565, 573 mwN. 35 Näher Reichert/Schlitt/Düll GmbHR 1998, 565, 573; vgl. auch OLG Koblenz v. 16.1.1992 – 6 U 963/91, GmbHR 1992, 464, 465 f. Ebenso zur Umdeutung einer Legitimationszession in eine Stimmrechtsvollmacht: BGH v. 11.2.2008 – II ZR 291/06, GmbHR 2008, 702; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 4; Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 78. 36 RG v. 24.4.1918 – V 5/18, RGZ 92, 398, 401 (Gebr. H. OHG); bekräftigend RG v. 11.7.1919 – VII 93/19, RG JW 1919, 933 = WarnRspr. 1920 Nr. 10 (zur BGB-Gesellschaft). 37 RG v. 31.3.1931 – II 222/30, RGZ 132, 149, 158 f. 38 BGH v. 10.11.1951 – II ZR 111/50, BGHZ 3, 354, 356 f.; BGH v. 14.5.1956 – II ZR 229/54, BGHZ 20, 363, 365.
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III. Vertreterklausel und deren Zulässigkeitsschranken In bestimmten Konstellationen kann ein Bedürfnis dafür bestehen, dass die Gesellschafter nicht selbst, sondern nur durch einen gemeinsamen Vertreter an der Abstimmung mitwirken können. Diese sog. Vertreterklausel kommt vornehmlich zur Anwendung, wenn die Gesellschafterstruktur zersplittert ist, was oftmals einer Anteilsvererbung geschuldet ist.39 1. Personengesellschaftsrecht Im Recht der Personengesellschaften sind entsprechende Konstellationen vor allem bei der Kommanditgesellschaft anzutreffen.40 Nicht zuletzt aufgrund der nach § 177 HGB zulässigen Vererbung von Kommanditanteilen, welche sich nach herrschender, wenngleich nicht zweifelsfreier Auffassung im Wege der Sondernachfolge vollzieht,41 findet sich in Kommanditgesellschaften oftmals eine breit gefächerte Anlegerstruktur. Bereits im Jahre 1966 hat der II. Zivilsenat des BGH entschieden, dass Vertreterklauseln, die im Gesellschaftsvertrag einer Kommanditgesellschaft vorgesehen waren, im Grundsatz zulässig sind.42 Dementsprechend durften die Rechte von (Erben-)Kommanditisten nur noch durch einen gemeinsamen Vertreter ausgeübt werden. Dabei betonte der II. Zivilsenat, dass den Gesellschaftern die Entscheidung über die Zweckmäßigkeit einer entsprechenden Vertreterklausel überlassen bleibt.43 Die mitgliedschaftlichen Rechte sollen danach bei den Kommanditisten verbleiben, sodass kein Verstoß gegen §§ 717, 719 BGB vorliege.44 Auch für die Rechtsform der OHG45 sowie für die BGB-Gesellschaft46 sind entsprechende Klauseln grundsätzlich 39
K. Schmidt ZHR 146 (1982), 525, 526 f. Grunewald in MüKo HGB, § 161 Rn. 179; K. Schmidt ZHR 146 (1982), 525, 527; siehe zu den Motiven einer entsprechenden Klausel auch BGH v. 12.12.1966 – II ZR 41/65, BGHZ 46, 291, 293 f.; Westermann in Westermann/Wertenbruch HdB PersGes, Rn. I-536. 41 BGH v. 4.5.1983 – IV a ZR 229/81, NJW 1983, 2376, 2377; BGH v. 14.2.2012 – II ZB 15/11, NZG 2012, 385, 386; Klein/Lindemeier in MünchHdB GesR II, § 40 Rn. 46 mwN; vgl. weiter Kunz in Staudinger BGB, § 1922 Rn. 230; Leipold in MüKo BGB, § 1922 Rn. 133; ähnlich K. Schmidt in MüKo HGB, § 177 Rn. 16; kritisch Weipert in FS Bezzenberger, 2000, 439 ff.; abw. jüngst Niovy Sarakinis Die Erbengemeinschaft als Unternehmenserbe, 2020. 42 BGH v. 12.12.1966 – II ZR 41/65, BGHZ 46, 291, 294 ff. = NJW 1967, 826. 43 BGH v. 12.12.1966 – II ZR 41/65, BGHZ 46, 291, 294 f. 44 BGH v. 12.12.1966 – II ZR 41/65, BGHZ 46, 291, 296. 45 Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 62; Enzinger in MüKo HGB, § 119 Rn. 52; offengelassen bei BGH v. 6.7.1967 – II ZR 218/65, WM 1967, 1099 (Vertretung von Gesellschaftererben bei Abstimmung über Tätigkeitsvergütung für geschäftsführende Gesellschafter). 46 Hadding/Kießling in Soergel BGB, § 709 Rn. 28; Schäfer in MüKo BGB, § 709 Rn. 80; Westermann in Erman BGB, § 709 Rn. 24. 40
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zulässig. Insbesondere stehen insoweit weder das Prinzip der Selbstorganschaft noch die unbeschränkte persönliche Gesellschafterhaftung (§ 128 HGB) entgegen.47 Beschränkt wird die zulässige Stimmrechtsvertretung aufgrund einer Vertreterklausel durch die früher sog. Kernbereichslehre, die nunmehr durch eine treupflichtbasierte Einzelfallkontrolle ersetzt wurde,48 und durch die Grenze der Sittenwidrigkeit gem. § 138 Abs. 1 BGB.49 Unzulässig dürfte danach eine Klausel sein, nach welcher die freie Abberufbarkeit des Vertreters ausgeschlossen wird.50 Umstritten ist, wonach sich das Innenverhältnis zwischen den vertretenen Gesellschaftern richtet: Während nach der tradierten h.M.51 das Recht der BGB-Gesellschaft (§§ 705 ff. BGB) anzuwenden ist, erachtet eine jüngere Ansicht52 die Vorschriften der Bruchteilsgemeinschaft (§§ 742 ff. BGB) für einschlägig. Auch nach einer Entscheidung des BGH-Kartellsenates aus dem Jahre 1992 seien Weisungsbeschlüsse an den gemeinsamen Vertreter innerhalb einer Kommanditisten-Gruppe grundsätzlich analog § 745 BGB mit der Mehrheit der Stimmen zu fassen.53 Die Ausgestaltung des Innenverhältnisses wirkt sich wiederum auf die Anforderungen an die Abberufung des gemeinsamen Vertreters aus.54 2. GmbH-Recht Für das GmbH-Recht wird durch § 18 Abs. 1 GmbHG festgelegt, dass die Ausübung von Rechten aus einem Geschäftsanteil, an dem mehrere Per47
Näher Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 62. BGH v. 21.10.2014 – II ZR 84/13, BGHZ 203, 77, 89 f.; vorher bereits BGH v. 15.1.2007 – II ZR 245/05, BGHZ 170, 283, 287 f. 49 BGH v. 6.10.1992 – KVR 24/91, BGHZ 119, 346, 354 f.; Grunewald in MüKo HGB, § 161 Rn. 182 ff.; K. Schmidt ZHR 146 (1982), 525, 533 f.; Casper in Staub HGB, § 161 Rn. 53; Flume BGB AT I/1, § 14 V [222]. 50 Grunewald ZEV 2011, 283, 287; K. Schmidt ZHR 146 (1982), 525, 550; Roth in Baumbach/Hopt HGB, § 163 Rn. 11; abweichend Hübner/Hammes BB 2013, 2307, 2313 mwN (weitgehende Gestaltungsfreiheit bzgl. Abberufungsmodalitäten). 51 BGH v. 12.12.1966 – II ZR 41/65, BGHZ 46, 291, 295; Casper in Staub HGB, § 161 Rn. 54; Grunewald in MüKo HGB, § 161 Rn. 194 f.; Flume BGB AT I/1, § 14 V [S. 225]; A. Hueck ZHR 125 (1963), 1, 13; siehe auch BGH v. 4.10.2004 – II ZR 356/03, NZG 2005, 33, 34 (unter Einbeziehung spezieller gesellschaftsvertraglicher Regelungen einer FamilienGmbH & Co. KG). 52 K. Schmidt ZHR 146 (1982), 525, 540 ff.; K. Schmidt ZIP 2009, 737, 741 f.; Oetker in Oetker HGB, § 164 Rn. 30; Roth in Baumbach/Hopt HGB, § 163 Rn. 10; Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 63 (für Gruppenvertretung, die auf Anteilsvererbung an Mehrheit von Erben beruht). 53 BGH v. 6.10.1992 – KVR 24/91, BGHZ 119, 346, 354 f. = NJW 1993, 1265 (Pinneberger Tageblatt). 54 Dazu (auch zur Abberufung aus wichtigem Grund) Hübner/Hammes BB 2013, 2307, 2312 f. 48
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sonen berechtigt sind, nur gemeinschaftlich erfolgen kann. Dies erfasst insbesondere den Erbfall, bei welchem die Erben in Gesamtrechtsnachfolge55 und damit entsprechend dem Grundsatz aus § 1922 Abs. 1 BGB in die Gesellschafterstellung nachfolgen.56 Den gemeinschaftlich berechtigen Gesellschaftern steht grundsätzlich die Möglichkeit offen, einen gemeinsamen Vertreter zu bestellen (siehe § 18 Abs. 3 S. 1 GmbHG).57 Indes kann die Satzung eine Verpflichtung zur Bestellung eines besonderen Vertreters vorsehen.58 Über den Anwendungsfall der mehrfachen Berechtigung an einem Anteil gem. § 18 Abs. 1 GmbHG hinaus ist aber auch eine gesellschaftsvertragliche Klausel zulässig, nach welcher eine Gruppe von Gesellschaftern mit jeweils eigenen Geschäftsanteilen nur durch einen gemeinsamen Vertreter an der Abstimmung mitwirken können (sog. obligatorische Gruppenvertretung).59 Solche Gruppen-Vertreterklauseln dienen in der Praxis häufig zur Koordinierung von Familienstämmen und sind oftmals mit Stimmbindungen gekoppelt. Bedenklich sind entsprechende Klauseln, wenn sie darauf gerichtet sind, dem Gesellschafter die aus der Mitgliedschaft folgenden Möglichkeiten der Einflussnahme auf die gesellschaftsrechtliche Willensbildung zu entziehen.60 3. Aktienrecht Nach § 69 Abs. 1 AktG hat die Ausübung von Aktionärsrechten durch einen gemeinschaftlichen Vertreter zu erfolgen, sofern eine Aktie mehreren Berechtigten zusteht. Auch wenn die Vorschrift gleichermaßen für Inhaber- und Namensaktien gilt, hat sie die größte Relevanz für Namens55 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 15 Rn. 12 ff.; Reichert/Weller in MüKo GmbHG, § 15 Rn. 442; Altmeppen in Roth/Altmeppen GmbHG, § 15 Rn. 28; Seibt in Scholz GmbHG, § 15 Rn. 24; Lange GmbHR 2013, 113. 56 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 18 Rn. 2; Reichert/Weller in MüKo GmbHG, § 18 Rn. 31; Löbbe in U/H/L GmbHG, § 18 Rn. 7; Seibt in Scholz GmbHG, § 18 Rn. 8; J. Schmidt NZG 2015, 1049, 1050; vgl. weiter OLG Jena v. 25.4.2012 – 2 U 520/11, GmbHR 2013, 149, 150 ff. 57 BGH v. 14.12.1967 – II ZR 30/67, BGHZ 49, 183, 191; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 18 Rn. 10; Löbbe in U/H/L GmbHG, § 18 Rn. 18; Seibt in Scholz GmbHG, § 18 Rn. 20. 58 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 18 Rn. 4; Reichert/Weller in MüKo GmbHG, § 18 Rn. 69; vgl. weiter Raue GmbHR 2015, 121, 127 f.; Lange GmbHR 2013, 113, 117; Langner/Heydel GmbHR 2006, 291, 295. 59 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 27; Ganzer in R/S-L GmbHG, § 47 Rn. 61; Liebscher in MüKo GmbHG, § 48 Rn. 32 f.; Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 113; vgl. weiter BGH v. 17.10.1988 – II ZR 18/88, NJW-RR 1989, 347, 348 = GmbHR 1989, 120, 121. 60 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 27; Liebscher in MüKo GmbHG, § 48 Rn. 33.
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aktien.61 Durch die Satzung kann nicht von dem Grundsatz aus § 69 Abs. 1 AktG abgewichen werden.62 Andererseits besteht außerhalb des Anwendungsbereichs von § 69 Abs. 1 AktG auch keine Möglichkeit, durch die Satzung vorzuschreiben, dass das Stimmrecht notwendigerweise durch einen Vertreter auszuüben ist.63 Die Satzungsstrenge gem. § 23 Abs. 5 AktG steht einer Klausel entgegen, wonach das Stimmrecht mehrerer (selbstständiger) Aktionäre durch einen gemeinschaftlichen Vertreter auszuüben ist.64 Teile des Schrifttums plädieren indes für die Zulässigkeit einer durch die Satzung angeordneten obligatorischen Gruppenvertretung, sofern Unklarheiten über die Wirksamkeit der Vertretung eines Aktionärs bestehen, was insbesondere dann gelten soll, wenn sich der Aktionär durch Gesamtvertreter vertreten lässt.65
IV. Verbandsrechtliche Stimmverbote bei der Stimmrechtsvertretung Das aktienrechtliche Stimmverbot aus § 136 Abs. 1 S. 1 AktG ist bereits nach seinem Wortlaut auch auf den vom Stimmverbot betroffenen Vertreter anwendbar und zwar unabhängig davon, ob dieser selbst Aktionär ist.66 Im Gegensatz dazu erfasst das Stimmverbot aus § 47 Abs. 4 GmbHG in seinem unmittelbaren Anwendungsbereich nur die Abstimmung durch einen Gesellschafter, wobei unerheblich ist, ob dieser für sich selbst oder als Vertreter handelt.67 Entsprechend anwendbar ist die Norm indes, wenn ein vom Stimmverbot betroffener Nichtgesellschafter als Stimmrechtsvertreter auftritt.68 Hingegen sind im Recht der Personengesellschaften nur partielle Stimmverbote gesetzlich vorgesehen,69 eine allgemeine Stimmverbotsvorschrift fehlt indes. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass die Stimmverbote aus 61 Bayer in MüKo AktG, § 69 Rn. 4; Hüffer/Koch AktG, § 69 Rn. 1; Cahn in BeckOGK-AktG, § 69 Rn. 3; Lutter/Drygala in KK-AktG, § 69 Rn. 4. 62 Bayer/Sarakinis NZG 2018, 561, 562; Bayer in MüKo AktG, § 69 Rn. 3 mwN. 63 Arnold in MüKo AktG, § 134 Rn. 45; Rieckers in BeckOGK-AktG, § 134 Rn. 51; Holzborn in Bürgers/Körber AktG, § 134 Rn. 16; Grundmann in GroßKomm AktG, § 134 Rn. 98; im Grundsatz auch Tröger in KK-AktG, § 134 Rn. 168. 64 Hüffer/Koch AktG, § 134 Rn. 28; Spindler in K. Schmidt/Lutter AktG, § 134 Rn. 61; Schörnig ZEV 2002, 343, 349 f. 65 Tröger KK-AktG, § 134 Rn. 169 im Anschluss an Zöllner in KK-AktG, 1. Aufl., § 134 Rn. 80; Rieckers in BeckOGK-AktG, § 134 Rn. 69. 66 Arnold in MüKo AktG, § 136 Rn. 34; Grundmann in GroßKomm AktG, § 136 Rn. 20 mwN. 67 Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 134; K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 155. 68 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 38; Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 139; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 47 Rn. 95; Ganzer in R/S-L GmbHG, § 47 Rn. 79. 69 Siehe etwa für die OHG: §§ 113 Abs. 2, 117, 127, 140 HGB.
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dem Kapitalgesellschaftsrecht zumindest in ihrem Kern auch auf die personengesellschaftsrechtliche Beschlussfassung anwendbar sind, wobei die dogmatischen Begründungen divergieren:70 Auch für das Personengesellschaftsrecht anerkannt wird ein Verbot des Richtens in eigener Sache.71 Richtigerweise besteht daneben ein Stimmverbot bei der Abstimmung über die Vornahme von Rechtsgeschäften mit einem Gesellschafter.72 Das von der Gegenansicht ins Feld geführte Fehlen einer entsprechenden Regelung im Aktienrecht (siehe § 136 Abs. 1 AktG) lässt nicht den Schluss zu, dass diese auch im Personengesellschaftsrecht entbehrlich ist. Anders als nach der grundsätzlichen Kompetenzordnung im Aktienrecht haben die Personengesellschafter die Möglichkeit, über Maßnahmen der Geschäftsführung und damit auch über Rechtsgeschäfte mit einzelnen Gesellschaftern zu beschließen. Damit ähnelt die Rechtslage jener in der GmbH, bei der die Geschäftsführer an die Weisungen der Gesellschafter gebunden sind.73 Das Stimmverbot ist – wie im GmbH-Recht – auch auf den Stimmrechtsvertreter anzuwenden, der einen Stimmverbotstatbestand erfüllt.74
V. Verbot des Insichgeschäfts bei der Stimmrechtsvertretung 1. Entwicklung in der Rechtsprechung Die Anwendbarkeit von § 181 BGB auf die gesellschaftsrechtliche Beschlussfassung ist seit jeher umstritten. Nach der reichsgerichtlichen Rechtsprechung sei die Norm nicht auf die verbandsrechtliche Abstimmung anzuwenden: Fraglich sei bereits, ob die abgegebene Stimme rechtsgeschäftlichen Charakter aufweise;75 jedenfalls wäre eine entsprechende Willenserklä70 Dazu demnächst Sven Möller Die Beschlussfassung im Recht der Personen- und Kapitalgesellschaften, 2021. 71 BGH v. 7.2.2012 – II ZR 230/09, NZG 2012, 625, 626; K. Schmidt Gesellschaftsrecht, § 21 II 2 b) [610]; Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 64; Lieder in Oetker HGB, § 119 Rn. 22; Roth in Baumbach/Hopt HGB, § 119 Rn. 8. 72 OLG München v. 18.7.2018 – 7 U 4225/17, GmbHR 2018, 1011, 1013 (zur Publikums-KG); Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 64; Roth in Baumbach/Hopt HGB, § 119 Rn. 8; Flume BGB AT I/1, § 14 IX [247 ff.]; vgl. auch RG v. 3.5.1932 – II 438/31, RGZ 136, 236, 245; offengelassen bei BGH v. 13.7.1967 – II ZR 72/67, BGHZ 48, 250, 256 (zur OHG); BGH v. 7.2.2012 – II ZR 230/09, NZG 2012, 625, 628 (zur GbR); dagegen: Enzinger in MüKo HGB, § 119 Rn. 33; Lieder in Oetker HGB, § 119 Rn. 25; vgl. auch schon A. Hueck OHG, § 11 III 2 [170 ff.]. 73 OLG München v. 18.7.2018 – 7 U 4225/17, GmbHR 2018, 1011, 1012 f.; Freitag in E/B/J/S HGB, § 119 Rn. 21. 74 OLG Hamm v. 30.1.2008 – 8 U 94/07, OLG-Report Hamm 2008, 453, 455; Freitag in E/B/J/S HGB, § 119 Rn. 18. 75 Umfassend dazu demnächst Möller Die Beschlussfassung im Recht der Personenund Kapitalgesellschaften.
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rung einseitig und nicht empfangsbedürftig.76 Zum gleichen Ergebnis gelangte der II. Zivilsenat des BGH in seiner frühen Rechtsprechung, die von der Prämisse ausging, dass (gewöhnliche) Beschlüsse in Kapitalgesellschaften Sozialakte darstellen, auf die § 181 BGB unanwendbar sei.77 Dieser Begriff des Sozialakts wurde im Schrifttum zu Recht heftig kritisiert.78 Es fehlt dem Begriff an einer gesetzlichen Grundlage sowie an einer hinreichenden Bestimmtheit. Auch der II. Zivilsenat des BGH hat sich später von dem Begriff des Sozialaktes gelöst und materielle Erwägungen in den Vordergrund gestellt.79 Die Anwendbarkeit des Verbots von Insichgeschäften aus § 181 BGB auf gesellschaftsvertragsändernde Beschlüsse hat der II. Zivilsenat des BGH dagegen bereits im Jahre 1961 angenommen.80 Insoweit stelle sich die Interessenlage gleichermaßen wie beim Abschluss des Gesellschaftsvertrages dar, weswegen ein Verstoß gegen § 181 BGB vorliegen könne.81 2. Interessenkonflikt zwischen Gesellschafter und Vertreter Vorausgesetzt wird für die Anwendung von § 181 BGB das Vorliegen eines Vertretungsverhältnisses, wobei unerheblich ist, auf welcher rechtlichen Grundlage dieses beruht. § 181 BGB gilt gleichermaßen für bevollmächtigte wie für gesetzliche und organschaftliche Vertreter.82 Relevanz hat bei der gesetzlichen Vertretung insbesondere die Vertretung eines minderjährigen Gesellschafters durch seine Eltern nach §§ 1626 Abs. 1, 1629 Abs. 1 BGB;83 in diesem Fall ist ein Ergänzungspfleger zu bestellen (§ 1909 BGB).84 Keine Anwendung findet die Norm indes, wenn der selbst abstimmende Gesellschafter einem Interessenkonflikt unterliegt, da die speziellen Stimm76
RG v. 11.10.1932 – II 482/31, RGZ 137, 305, 316; den rechtsgeschäftlichen Charakter von Beschlüssen ablehnend bereits RG v. 4.12.1928 – II 360/28, RGZ 122, 367, 369. 77 BGH v. 6.10.1960 – II ZR 215/58, BGHZ 33, 189, 191 (für Befreiung von § 181 BGB in Ein-Personen-GmbH mittels Satzungsänderung); BGH v. 9.12.1968 – II ZR 57/67, BGHZ 51, 209, 216 f. (Organbestellung in GmbH grundsätzlich Sozialakt, sofern Gesellschafter abstimmt); BGH v. 22.9.1969 – II ZR 144/68, BGHZ 52, 316, 318 (Auflösungsbeschluss einer GmbH als Sozialakt). 78 Winkler ZGR 1973, 177, 212 f.; Wiedemann JZ 1970, 291, 292; Fleck LM, § 181 BGB Nr. 15; zur Kritik an der Lehre vom Sozialakt siehe auch K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 180. 79 BGH v. 6.6.1988 – II ZR 318/87, WM 1988, 1335, 1336 f.; siehe vorher auch schon BGH v. 18.9.1975 – II ZB 6/74, BGHZ 65, 93, 96 f. 80 BGH v. 26.1.1961 – II ZR 240/59, NJW 1961, 724; bestätigt durch BGH v. 18.9.1975 – II ZB 6/74, BGHZ 65, 93, 95 f. 81 BGH v. 26.1.1961 – II ZR 240/59, NJW 1961, 724. 82 Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 225 mwN. 83 Siehe etwa den Sachverhalt von BGH v. 18.9.1975 – II ZB 6/74, BGHZ 65, 93. 84 BGH v. 18.9.1975 – II ZB 6/74, BGHZ 65, 93, 101; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 32; Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 129.
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verbotsvorschriften diesen Fall abschließend regeln.85 Das Verbot von Insichgeschäften (§ 181 BGB) stellt kein Stimmverbot dar, sondern begrenzt lediglich den Umfang der Vertretungsmacht.86 Im Gegensatz zu den Stimmverbotsvorschriften, die sich auf das Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem abstimmenden Gesellschafter (bzw. Stimmrechtsvertreter) beziehen, beschränkt sich die Regelungswirkung von § 181 BGB auf das Verhältnis zwischen dem vertretenen Gesellschafter und dem Stimmrechtsvertreter. 3. Das Insichgeschäft bei der Beschlussfassung Ein Insichgeschäft nach § 181 Alt. 1 BGB kommt in Betracht, sofern sich ein Gesellschafter bei der Abstimmung durch einen Mitgesellschafter vertreten lässt, sodass dieser bei der Stimmabgabe einerseits für sich selbst und andererseits als Vertreter auftritt. Eine Mehrvertretung gem. § 181 Alt. 2 BGB liegt hingegen vor, wenn der Stimmrechtsvertreter bei einem Beschlussgegenstand gleichzeitig das Stimmrecht für mehrere Gesellschafter ausübt. Beide Konstellationen, die einen Interessenkonflikt zwischen dem vertretenen Gesellschafter und seinem Vertreter betreffen, werden nicht durch die speziellen verbandsrechtlichen Stimmverbote erfasst, weswegen insoweit keine Kollision vorliegt.87 Daneben steht der Fall, dass der Stimmrechtsvertreter durch den Beschlussgegenstand materiell selbst betroffen ist. Zulässig ist ein Insichgeschäft nach § 181 BGB, wenn dem Vertreter dieses durch den Vertretenen, d.h. bei der Beschlussfassung durch den Gesellschafter, gestattet wurde.88 Dabei kann eine konkludente Gestattung insbesondere in der Bevollmächtigung eines Mitgesellschafters liegen.89 Weiterhin ist ein Insichgeschäft nach § 181 letzter HS BGB zulässig, sofern das Geschäft ausschließlich zur Erfüllung einer Verbindlichkeit vorgenommen wurde. Eine entsprechende Verbindlichkeit kann im Rahmen der Beschlussfassung insbesondere aus der Bindung an die Treuepflicht resultieren.90
85 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 32; Maier-Reimer in Erman BGB, § 181 Rn. 19; Schubert in MüKo BGB, § 181 Rn. 35; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 47 Rn. 60; abw. Altmeppen in Roth/Altmeppen GmbHG, § 47 Rn. 92 mwN (Stimmverbot als abgewandeltes Verbot von Insichgeschäften). 86 Zutreffend K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 178. 87 Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 122; K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 178. 88 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 32; ausf. K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 182; Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 128. 89 BGH v. 24.11.1975 – II ZR 89/74, BGHZ 66, 82, 86 (zur KG); BGH v. 24.9.1990 – II ZR 167/89, BGHZ 112, 339, 343 (zur GbR); Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 226 mwN (zur GmbH); zur AG auch Tröger in KK-AktG, § 133 Rn. 68. 90 BGH v. 26.1.1961 – II ZR 240/59, NJW 1961, 724 f.
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a) Differenzierung nach Beschlussgegenstand Für die Anwendbarkeit von § 181 BGB wird von der heute überwiegenden Ansicht im Recht der Personengesellschaften sowie der GmbH nach dem jeweiligen Beschlussgegenstand differenziert: Nach der Rechtsprechung ist § 181 BGB einschlägig, sofern über Grundlagengeschäfte abgestimmt wird, wozu insbesondere die Änderung des Gesellschaftsvertrages zählt.91 Dagegen sei die Norm nicht einschlägig, wenn die Abstimmung gewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahmen (sog. „Maßnahmebeschlüsse“92) betrifft.93 Das überwiegende Schrifttum schließt sich dieser differenzierten Betrachtung an.94 Allerdings findet sich dazu auch Kritik im Schrifttum.95 Dabei resultiert die Kritik überwiegend aus dem Aspekt der Rechtssicherheit. Um diese zu wahren, sprechen sich manche Stimmen im Schrifttum gegen eine materielle Unterscheidung von Grundlagenbeschlüssen und sonstigen Maßnahmen aus und plädieren für eine (formale) Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 181 BGB nach den jeweils erforderlichen Beschlussmehrheiten.96 Noch weiter geht die Forderung nach einer generellen Anwendbarkeit von § 181 BGB auf die verbandsrechtliche Beschlussfassung.97 Im Grundsatz überzeugt die Differenzierung der h.M. nach dem jeweiligen Beschlussgegenstand.98 Auch bei der Stimmrechtsvertretung im Rahmen der 91 BGH v. 26.1.1961 – II ZR 240/59, NJW 1961, 724; bestätigt in BGH v. 18.9.1975 – II ZB 6/74, BGHZ 65, 93, 95 f. (zur KG); BGH v. 24.5.1976 – II ZR 164/74, NJW 1976, 1538, 1539 (zur KG); siehe auch BGH v. 24.11.1975 – II ZR 89/74, BGHZ 66, 82, 86 (zur KG, hier aber konkludente Befreiung von § 181); jüngst OLG Oldenburg v. 18.3.2019 – 12 W 9/19, NZG 2019, 503, 504; in dieser Hinsicht zust. Fuchs/Grimm EWiR 2019, 521 f. 92 So etwa K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 180a. 93 BGH v. 22.9.1969 – II ZR 144/68, BGHZ 52, 316, 318 („Sozialakt“); BGH v. 18.9.1975 – II ZB 6/74, BGHZ 65, 93, 97 f. (keine Anwendung bei „gewöhnlichen Gesellschafterbeschluss“); OLG Nürnberg v. 12.4.2018 – 12 W 669/18, GmbHR 2018, 1066, 1067. 94 Aus dem Schrifttum: Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 60; Lieder in Oetker HGB, § 119 Rn. 18; Habermeier in Staudinger BGB, § 709 Rn. 21; Schilken in Staudinger BGB, § 181 Rn. 25; Hadding/Kießling in Soergel BGB, § 709 Rn. 28; Leptien in Soergel BGB, § 181 Rn. 20; Wiedemann GesR I, § 3 III 2 a) [181 ff.]; Flume BGB AT I/1, § 14 IX [252 ff.]; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 32; K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 180 f.; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 47 Rn. 60; S. Tiedtke Teleologische Reduktion und analoge Anwendung des § 181 BGB, 44 ff.; für Hauptversammlungsbeschlüsse auch Tröger in KK-AktG, § 133 Rn. 68. 95 Maier-Reimer in Erman BGB, § 181 Rn. 19; Jäger Teleologische Reduktion des § 181 BGB, 160 ff. 96 So Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 127; gegen eine Differenzierung nach Mehrheitsverhältnissen: R. Fischer in FS Hauß, 1978, 61, 79 f. 97 Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 224; Römermann in M/H/L/S GmbHG, § 47 Rn. 125. 98 Ausf. demnächst Möller Die Beschlussfassung im Recht der Personen- und Kapitalgesellschaften.
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verbandsrechtlichen Beschlussfassung können die Interessen von Vertreter und vertretenem Gesellschafter bzw. – im Falle der Mehrvertretung – die Interessen der verschiedenen Vertretenen miteinander konkurrieren, was grundsätzlich die Anwendbarkeit von § 181 BGB rechtfertigt. Dagegen fehlt ein entsprechender Interessenkonflikt nach einer typisierenden Betrachtungsweise, sofern der Beschluss nicht das Verhältnis der Gesellschafter untereinander, sondern nur gewöhnliche Maßnahmen der Geschäftsführung betrifft.99 b) Eigene Betroffenheit des Stimmrechtsvertreters Darüber hinaus wird ein Insichgeschäft nach § 181 BGB auch angenommen, wenn der Stimmrechtsvertreter durch den Beschlussgegenstand selbst betroffen ist. In diesem Fall ist es unerheblich, ob der Beschlussgegenstand eine bloße Maßnahme der Geschäftsführung und ob der Vertreter auch selbst Gesellschafter ist: Eine einschlägige Entscheidung des II. Zivilsenates des BGH aus dem Jahre 1968 betrifft die Beschlussfassung über die Bestellung eines Geschäftsführers, bei welcher die Erben eines Gesellschafters durch einen Testamentsvollstrecker, der selbst kein Gesellschafter war, vertreten wurden. Dieser sei nach dem Rechtsgedanken von § 181 BGB nicht in der Lage, sich mit den Stimmen der Erben selbst zum Geschäftsführer zu wählen.100 Im Einklang damit steht auch ein Urteil – ebenfalls des II. Zivilsenates – aus dem Jahre 1990. Danach liegt ein Insichgeschäft iSd § 181 BGB vor, wenn sich ein bevollmächtigter Mitgesellschafter selbst zum geschäftsführenden Organ einer BGB-Gesellschaft wählt.101 Eine jüngere Entscheidung des OLG Nürnberg, nach welcher § 181 BGB auf die Beschlussfassung über die Geschäftsführerbestellung nicht anzuwenden sei,102 steht zu diesen Grundsätzen nur scheinbar im Gegensatz. Denn hier wurden bei der Abstimmung über die Bestellung eines Dritten zum Geschäftsführer zwei minderjährige Vertreter durch ihre Mutter gesetzlich vertreten, weswegen kein Fall der Selbstbetroffenheit vorgelegen hat. Die Anwendung von § 181 BGB auf die Selbstbetroffenheit des Stimmrechtsvertreters aufgrund des Beschlussgegenstandes überzeugt und entspricht nicht nur im GmbH-Recht,103 sondern auch im Recht der Personen99 Dahingehend auch K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 180 f.; Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 125. 100 BGH v. 9.12.1968 – II ZR 57/67, BGHZ 51, 209, 214 ff. m. zust. Anm. Fleck LM § 47 GmbHG Nr. 13; gegen die Anwendbarkeit des § 181 im konkreten Fall: Schilling in FS Ballerstedt, 1975, 257, 272. 101 BGH v. 24.9.1990 – II ZR 167/89, BGHZ 112, 339, 342 f. = GmbHR 1991, 60. 102 OLG Nürnberg GmbHR 2018, 1066 m. zust. Anm. Otte-Gräbener BB 2018, 2579 f. und Wachter EWiR 2019, 13. 103 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 32; K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 181; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 47 Rn. 60; vgl. weiter Götze
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gesellschaften104 der überwiegenden Ansicht: Die Norm des § 181 BGB steht der Wirksamkeit einer Stimmabgabe entgegen, wenn der Vertreter von der Beschlussfassung selbst betroffen ist und somit ein Interessenkonflikt im Verhältnis des Vertreters zum vertretenen Gesellschafter vorliegt. Dies gilt nicht nur in Fällen der Bevollmächtigung, sondern auch bei einer organschaftlichen oder gesetzlichen Vertretung.105 Relevant wird das Verbot von Insichgeschäften aus § 181 BGB danach auch bei der Selbstbestellung von Doppelmandatsträgern in Konzernverhältnissen. Der organschaftliche Vertreter der Muttergesellschaft ist durch § 181 BGB daran gehindert, an der eigenen Bestellung in der Tochtergesellschaft mitzuwirken.106 c) Keine Anwendung von § 181 BGB auf Hauptversammlungsbeschlüsse? Die grundsätzliche Anwendbarkeit von § 181 BGB auf die Beschlussfassung in der Personengesellschaft sowie der GmbH entspricht auch der heute überwiegenden Ansicht im Schrifttum.107 Dagegen soll die Norm nach der ganz h.L.108 generell nicht anwendbar sein, soweit die Abstimmung in der Hauptversammlung der Aktiengesellschaft betroffen ist. Dabei wird überwiegend auf die (vermeintlich) abschließende und vorrangige Sondervorschrift in § 135 AktG verwiesen.109 GmbHR 2001, 217, 219; für Anwendbarkeit von § 181 und § 47 Abs. 4 GmbHG: Hüffer/ Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 123; Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 223; für die AG auch – entgegen der h.M., dazu unter c) – Tröger in KK-AktG, § 133 Rn. 69. 104 BGH v. 24.9.1990 – II ZR 167/89, BGHZ 112, 339, 340 ff. (Bestellung zum „Geschäftsführer“ einer BGB-Gesellschaft); Lieder in Oetker HGB, § 119 Rn. 18; Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 60. 105 Für die gesetzliche Vertretung: OLG Düsseldorf v. 11.10.2005 – I-3 Wx 137/05, RNotZ 2006, 68, 69 (zu § 1795 Abs. 1 Nr. 1); für organschaftliche Vertretung: BayObLG v. 17.11.2000 – 3Z BR 271/00, NZG 2001, 128; LG Berlin v. 18.12.1996 – 98 T 79/96, NJW-RR 1997, 1534 f. 106 So zutreffend bereits LG Berlin v. 18.12.1996 – 98 T 79/96, NJW-RR 1997, 1534 f.; Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 123; Ganzer in R/S-L GmbHG, § 47 Rn. 107; Tröger in KK-AktG, § 133 Rn. 69; für dogmatische Anknüpfung an Bestellungserklärung Blath GmbHR 2018, 345, 349 f.; offengelassen durch OLG München v. 8.5.2012 – 31 Wx 69/12, NZG 2012, 710 f. (Befreiung von § 181 BGB); LG Nürnberg-Fürth v. 26.11.1999 – 4 HK T 9627/99, AG 2001, 152 (§ 181 BGB nach dem Sachverhalt nicht einschlägig). 107 Für Personengesellschaften: Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 60; Lieder in Oetker HGB, § 119 Rn. 18; Habermeier in Staudinger BGB, § 709 Rn. 21; für GmbH: Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, § 47 Rn. 32; K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 47 Rn. 178; Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 121; Drescher in MüKo GmbHG, § 47 Rn. 222. 108 Spindler in K. Schmidt/Lutter AktG, § 134 Rn. 59; Holzborn in Bürgers/Körber AktG, § 134 Rn. 21; Schäfer in BeckOK-BGB, § 181 Rn. 13; Maier-Reimer in Erman BGB, § 181 Rn. 19; Schilken in Staudinger BGB, § 181 Rn. 25; Fröhler in BeckOGK-BGB, § 181 Rn. 54; Baetzgen RNotZ 2005, 193, 222. 109 So Maier-Reimer in Erman BGB, § 181 Rn. 19; Schilken in Staudinger BGB, § 181 Rn. 25; Schäfer in BeckOK-BGB, § 181 Rn. 13; Baetzgen RNotZ 2005, 193, 222; dagegen indes Leptien in Soergel BGB, § 181 Rn. 21; Tröger in KK-AktG, § 133 Rn. 67.
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Dem kann indes nicht zugestimmt werden. Bei § 135 AktG handelt es sich um eine spezielle Regelung, die (nur) die Stimmrechtsausübung durch Kreditinstitute regelt. Auf sonstige Vertretungsverhältnisse ist die Norm dagegen nicht zugeschnitten. Daher lässt sich aus § 135 AktG kein allgemeiner Ausschluss der Anwendung von § 181 BGB entnehmen.110 Stattdessen sind die Grundsätze, die zum Recht der Personengesellschaften sowie zum GmbH-Recht entwickelt wurden, auch auf die Abstimmung in der Hauptversammlung zu übertragen. 4. Rechtsfolgen eines unzulässigen Insichgeschäfts bei der Beschlussfassung Sofern die Stimmabgabe gegen § 181 BGB verstößt, ist sie schwebend unwirksam und kann analog § 177 Abs. 1 BGB vom vertretenen Gesellschafter genehmigt werden.111 Bei der Mehrvertretung muss die Genehmigung von sämtlichen vertretenen Gesellschaftern erteilt werden. Unterbleibt die Genehmigung, so wird die Stimmabgabe endgültig unwirksam. Dies hat jedoch nur Auswirkungen auf die Wirksamkeit des Beschlusses, wenn die jeweilige Stimmabgabe für die Beschlussergebnis kausal war.112 Im Aktienrecht ist der Beschluss in der Folge nicht nichtig, sondern nur mittels einer fristgemäß erhobenen Anfechtungsklage (§ 246 AktG) angreifbar.113 Nach h.M. ist das aktienrechtliche Anfechtungsmodell entsprechend auf die GmbH übertragbar, sofern der Beschluss förmlich festgestellt wurde.114 Hingegen ist der Beschluss nach (noch) h.M. im Recht der Personengesellschaften bei Kausalität der betroffenen Stimmabgabe nichtig, da auf diese das aktienrechtliche Beschlussmängelsystem nicht übertragen wird.115 In prozessualer Hinsicht ist richtigerweise eine Einschränkung in der Weise vorzunehmen, dass die Nichtigkeit des Beschlusses – mittels einer allgemei110 So zutreffend bereits Tröger in KK-AktG, § 133 Rn. 67; Leptien in Soergel BGB, § 181 Rn. 21; vgl. weiter demnächst Möller Die Beschlussfassung im Recht der Personenund Kapitalgesellschaften. 111 BGH v. 9.12.1968 – II ZR 57/67, BGHZ 51, 209, 217; BayObLG v. 17.11.2000 – 3Z BR 271/00, NZG 2001, 128; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 47 Rn. 65; Hüffer/Schürnbrand in U/H/L GmbHG, § 47 Rn. 128; Ganzer in R/S-L GmbHG, § 47 Rn. 107; Roth in Baumbach/Hopt HGB, § 119 Rn. 22; siehe auch BGH v. 24.9.1990 – II ZR 167/89, BGHZ 112, 339, 344; für relative schwebende Unwirksamkeit: Hübner Interessenkonflikt und Vertretungsmacht, 289. 112 Schilling in FS Ballerstedt, 1975, 257, 276 f.; Winkler ZGR 1973, 177, 214; siehe auch BGH v. 24.9.1990 – II ZR 167/89, BGHZ 112, 339, 344 f. 113 Hübner Interessenkonflikt und Vertretungsmacht, 289 f. 114 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, Anh. § 47 Rn. 38 mwN. aus der Rspr.; Bayer/Möller NZG 2018, 801, 806 f. mwN. 115 BGH v. 30.6.1966 – II ZR 149/64, WM 1966, 1036; BGH v. 1.3.2011 – II ZR 83/09, NJW 2011, 2578, 2579 (jeweils zur KG); Schäfer in Staub HGB, § 119 Rn. 75 ff.; Lieder in Oetker HGB, § 119 Rn. 67; zu Reformvorschlägen: Koch Gutachten zum 72. DJT (2018), F 74 f.; Bayer/Möller NZG 2018, 801, 807 f.
Stellvertretung bei der verbandsrechtlichen Beschlussfassung
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nen Feststellungsklage gem. § 256 Abs. 1 ZPO – nur durch den vertretenen Gesellschafter geltend gemacht werden kann.116
VI. Fazit Die Vertretung eines Gesellschafters im Rahmen der verbandsrechtlichen Beschlussfassung ist weitgehend zulässig. Beschränkungen bestehen vor allem im Recht der Personengesellschaften, in denen ein gewillkürter Vertreter regelmäßig nur dann wirksam handeln kann, wenn er durch die Mitgesellschafter zugelassen wurde. Insbesondere für Treugeber und Nießbraucher kann eine Stimmrechtsübertragung vereinbart werden, wobei allerdings im Hinblick auf das Abspaltungsverbot noch nicht geklärt ist, ob dieser Vereinbarung lediglich die Qualität einer (ggf. unwiderruflichen) Stimmrechtsvollmacht zukommt. Durch eine sog. Vertreterklausel besteht die Möglichkeit, einen gemeinsamen Vertreter für die Abstimmung vorzusehen. Die rechtliche Zulässigkeit einer entsprechenden Klausel im Gesellschaftsvertrag wird sowohl im Personengesellschaftsrecht als auch in der GmbH grundsätzlich anerkannt. Im Rahmen der Abstimmung ist ein Stimmrechtsvertreter wie ein Gesellschafter an die verbandsrechtlichen Stimmverbote gebunden. Ferner kann die Stimmabgabe eines Vertreters ein nach § 181 BGB unzulässiges Insichgeschäft darstellen. Dies gilt nicht nur bei der Abstimmung in den Personengesellschaften sowie in der GmbH, sondern auch für die Beschlussfassung der Hauptversammlung. Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist in sachlicher Hinsicht jedoch zu beschränken. Ein Insichgeschäft kann nur vorliegen, wenn der Beschlussgegenstand grundlegende Maßnahmen der Gesellschaft betrifft.
116
Überzeugend Hübner Interessenkonflikt und Vertretungsmacht, 290.
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Begründungspflicht für Wahlvorschläge des Aufsichtsrats
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Begründungspflicht für Wahlvorschläge des Aufsichtsrats Meinrad Dreher
Die Begründungspflicht für den Vorschlag zur Wahl von Mitgliedern des Aufsichtsrats nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG – ein Plädoyer de lege ferenda MEINRAD DREHER
I. Einleitung Nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG muss der Aufsichtsrat zu dem Gegenstand Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern, über den eine Hauptversammlung beschließen soll, in der Bekanntmachung einen Vorschlag zur Beschlussfassung machen.1 Der Vorschlag bedarf in dem Fall, dass der Aufsichtsrat „auch aus Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer“ bestehen muss, nach § 124 Abs. 3 S. 5 AktG „nur der Mehrheit der Stimmen der Aufsichtsratsmitglieder der Aktionäre“. Der Vorschlag zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern hat nach § 124 Abs. 3 S. 4 AktG „deren Namen, ausgeübten Beruf und Wohnort anzugeben.“ Da die Hauptversammlungen in der Praxis sogar der börsennotierten Aktiengesellschaften regelmäßig bei ihren Wahlbeschlüssen den Wahlvorschlägen folgen, haben diese eine große tatsächliche Bedeutung. Dem entspricht das Ausmaß der rechtswissenschaftlichen Befassung mit den aktienrechtlichen Vorgaben nicht. Jenseits der vielfältigen Kommentar- und Handbuchliteratur zum Aktiengesetz und außer einigen älteren Beiträgen2 liegt – soweit ersichtlich – aus neuerer Zeit nur eine einzige Aufsatzveröffentlichung zu Wahlvorschlägen des Aufsichtsrats nach § 124 Abs. 3 AktG vor.3 Die Literatur zu § 124 Abs. 3 AktG geht zudem nicht auf die Rechtsfrage ein, die im Zentrum der vorliegenden Betrachtung steht, nämlich die Notwendigkeit, de lege ferenda § 124 Abs. 3 S. 1 AktG um ein Begründungserfordernis zu ergänzen. Vor dem Hintergrund geht es nachfolgend bei der Frage, ob de lege ferenda für den Wahlvorschlag des Aufsichtsrats nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG ein Begründungszwang eingeführt werden sollte, zunächst darum, welches Regelungsziel der Gesetzgeber in § 124 Abs. 3 S. 1 AktG bei Vorschlägen 1
Zu Ausnahmen vgl. § 124 Abs. 3 S. 3 AktG. Vgl. Laabs DB 1968, 1014; Einmahl DB 1968, 1936; Erle, AG 1970, 31; Lutter, ZIP 2003, 417; Sünner ZIP 2003, 834. 3 Happ/Bednarz in FS Marsch-Barner, 2018, 215 ff. 2
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des Aufsichtsrats zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern verfolgt (unten II.1.). Sodann ist den rechtlichen Vorgaben nachzugehen, die für die Entscheidung des Aufsichtsrats über Vorschläge zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern bestehen (unten II.2.). Schließlich ist auf der Grundlage das Begründungserfordernis de lege ferenda für Vorschläge des Aufsichtsrats zur Wahl von Mitgliedern des Aufsichtsrats nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG abzuleiten (unten II.3.). Mit diesem Programm hofft der Autor zugleich auf das Interesse der Jubilarin. Denn sie hat dem Aktienrecht einen erheblichen Teil ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit gewidmet, seit sie als Nachfolgerin von Fritz Rittner, dem akademischen Lehrer des Autors des vorliegenden Beitrags, im Jahr 1989 zunächst den Lehrstuhl für Handels- und Wirtschaftsrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg und in dieser Funktion sogleich das Zweitgutachten zur Habilitationsschrift des Autors übernommen hatte.
II. Die Notwendigkeit einer Begründungspflicht de lege ferenda für Vorschläge des Aufsichtsrats zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG 1. Das Regelungsziel von § 124 Abs. 3 S. 1 AktG bei den Vorschlägen des Aufsichtsrats zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern a) Aktiengesetz 1965 § 124 Abs. 3 S. 1 AktG kam im Zuge der Erneuerung des Aktienrechts im Jahr 1965 als neue Vorschrift in das Gesetz. Die Gesetzesbegründung beschreibt das Telos der Regelung wie folgt: „Die Vorschläge sollen die Unterlage für die Meinungsbildung der Aktionäre abgeben und sie instand setzen, ihren Vertretern sachgemäße Weisungen für die Ausübung des Stimmrechts zu geben.“4 Dass für derartige Wahlvorschläge anders als für die sonstigen Beschlussvorschläge nicht auch der Vorstand einer Aktiengesellschaft Vorschläge macht, erklärt sich nach der Gesetzesbegründung „daraus, dass die zu wählenden Aufsichtsratsmitglieder (…) in erster Linie die Tätigkeit des Vorstands zu überwachen (…) haben. Der Vorstand soll deshalb ihre Auswahl nicht beeinflussen können.“5 b) Folgerung: Tatsachenbenennung statt Begründung Soweit es dem Gesetzgeber zunächst darum geht, den Aktionären „die Unterlage für die Meinungsbildung“ zu schaffen, beschränkt sich diese nach 4 5
Zitat nach Kropff Aktiengesetz 1965, 174. Zitat nach Kropff Aktiengesetz 1965, 174.
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§ 124 Abs. 3 S. 4 AktG auf die Angabe des Namens, des ausgeübten Berufs und des Wohnorts einer als Aufsichtsratsmitglied vorgeschlagenen Person. Diese Angaben sind aber keine Informationen, die eine ausreichende und angemessene Entscheidungsgrundlage schaffen. Es handelt sich lediglich um die Benennung von Tatsachen, die die Bestimmtheit eines Wahlvorschlags gewährleisten. Ohne Name, gegenwärtige Berufsausübung und Wohnort – die Angabe der konkreten Meldeadresse ist ohnehin nicht erforderlich – wären vorgeschlagene Personen nämlich nicht ausreichend individualisiert. Der Gesetzgeber wollte mit § 124 Abs. 3 S. 4 AktG ersichtlich keine Begründungspflicht schaffen. Dies zeigt schon das Wort „anzugeben“, das sich auf die genannten Tatsachen bezieht. Jede Begründung wäre zudem notwendig personenbezogen, müsste also über reine Tatsachenangaben hinaus auch individuelle Erwägungen und damit Wertungen enthalten. Die schon im Aktiengesetz 1965 – bis auf den Zusatz „ausgeübt“ bei der Berufsangabe – enthaltene Regelung zu personenbezogenen Angaben stellt damit in Bezug auf den Regelungszweck eine Zweckverfehlung dar. Die so „informierten“ Aktionäre wissen bei einem solchen Beschlussvorschlag lediglich, welche Person sie wählen sollen, aber nicht warum. c) KonTraG -Ergänzung Die nach § 124 Abs. 3 S. 4 AktG seit dem Jahr 1998 infolge des KonTraG geforderte Angabe des „ausgeübten“ Berufs sollte den Aktionären vor der Hauptversammlung Transparenz über die berufsbezogene Belastung und eventuelle, beruflich bedingte Interessenkonflikte schaffen.6 Ebenfalls zu dem Zweck, eventuelle Interessenkonflikte offenzulegen, wurde bei dieser Gelegenheit in § 125 Abs. 1 S. 5 AktG zusätzlich, aber nur für börsennotierte Gesellschaften, geregelt, dass Wahlvorschlägen Angaben zu einer Mitgliedschaft in bestimmten anderen Kontrollgremien beizufügen sind. Die Ergänzungen des § 124 Abs. 3 S. 4 AktG und des § 125 Abs. 1 S. 5 AktG im Zuge des KonTraG ändern an dem Befund der Zweckverfehlung der gesetzlichen Regelung zu Angaben im Zusammenhang mit einem Vorschlag des Aufsichtsrats zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern nichts. Die zusätzlich geforderten Angaben erschöpfen sich wiederum in der Nennung von Tatsachen, beziehen sich mit der berufsbedingten Belastung und eventuellen Interessenkonflikten nur auf zwei von vielen Kriterien, die für die Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds maßgebend sind, und gelten im Übrigen – so § 125 Abs. 1 S. 5 AktG – ohnehin nur für die wenigen börsennotierten Gesellschaften.
6
Vgl. RegE BT-Drs. 13/9712, 17.
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2. Rechtliche Vorgaben für die Entscheidung des Aufsichtsrats über Vorschläge zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern a) Unternehmensinteresse, Eignungskriterien und informierte Entscheidung des Aufsichtsrats bei dem Beschluss über den Vorschlag zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern Für Wahlvorschläge des Aufsichtsrats nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG gilt nach §§ 93, 116 AktG die Business Judgement Rule. Denn es handelt sich nicht um eine rechtlich gebundene Entscheidung. Der Aufsichtsrat muss also annehmen dürfen, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Dies bedeutet, dass er sich über mehr vergewissern muss als bloß den Namen, den ausgeübten Beruf und den Wohnort sowie im Fall börsennotierter Gesellschaften zusätzlich weitere Mandate der in Aussicht genommenen Personen in Kontrollgremien. So muss der Aufsichtsrat nach dem Aktienrecht vor allem die persönlichen Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder in § 100 AktG und gegebenenfalls in der Satzung der Aktiengesellschaft genannte zusätzliche Voraussetzungen beachten. Ferner ist bei Wahlvorschlägen z. B. die gesetzliche Frauenquote nach § 96 Abs. 2 und 3 AktG zu berücksichtigen. Bei Aufsichtsräten von Gesellschaften, für die i.S.v. § 161 AktG grundsätzlich der Deutsche Corporate Governance Kodex gilt oder die sich freiwillig daran gebunden haben, bestehen in Bezug auf Wahlvorschläge für Aufsichtsratsmitglieder weitere Anforderungen.7 Der derzeit in der Verabschiedungsphase befindliche DCGK 2020 vom 16.12.2019 enthält dazu außer z. B. dem Abschnitt C.II. in Bezug auf die Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern vor allem Empfehlungen C.13 und C.14. Danach soll der Aufsichtsrat „bei seinen Wahlvorschlägen an die Hauptversammlung die persönlichen und die geschäftlichen Beziehungen eines jeden Kandidaten zum Unternehmen, den Organen der Gesellschaft und einem wesentlich an der Gesellschaft beteiligten Aktionär offenlegen.“ Weiter soll „dem Kandidatenvorschlag ein Lebenslauf beigefügt werden, der über relevante Kenntnisse, Fähigkeiten und fachliche Erfahrungen Auskunft gibt; dieser soll durch eine Übersicht über die wesentlichen Tätigkeiten neben dem Aufsichtsratsmandat ergänzt (…) werden.“ Aus den Vorgaben des DCGK folgt, dass das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel allein mit den gesetzlich zwingenden Angaben nach § 124 Abs. 3 S. 4 AktG nicht erreicht wird. Pars pro toto steht dafür die Forderung des DCGK nach Angaben zur fachlichen Eignung einer vorgeschlagenen Per7 Vgl. zur Wirksamkeit der Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds trotz Abweichung des Wahlvorschlags von einer Empfehlung des DCGK BGH vom 9.10.2018 – II ZR 78/17 Rn. 24.
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son. Bei Aktiengesellschaften, bei denen der DCGK anzuwenden ist, sind die Angaben mit dem Wahlvorschlag zu veröffentlichen. Unabhängig davon muss sich der Aufsichtsrat in allen Gesellschaften für seinen Wahlvorschlag mit diesen Themen befassen. Andernfalls würde er die Voraussetzungen der Business Judgement Rule bei seinem Beschluss über den Vorschlag nicht erfüllen und damit seiner Vorschlagsverantwortung8 nicht gerecht. Schlägt der Aufsichtsrat eine nicht geeignete Person zur Wahl vor, liegt darin ein Auswahlverschulden.9 b) Besondere Eignungsanforderungen in beaufsichtigten Wirtschaftszweigen Für die Mitglieder von Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften in beaufsichtigten Wirtschaftsbereichen gelten nochmals gesteigerte Anforderungen in Bezug auf die Auswahl und den Vorschlag für künftige Aufsichtsratsbesetzungen. Hier geht es einerseits um besondere gesetzliche und oft noch aufsichtlich ergänzte sogenannte Fit & Proper-Kriterien sowie andererseits um eine gesetzliche Pflicht der Aufsichtsräte, einen eigenen Nominierungsausschuss – unter Umständen in Verbindung mit einem Personalausschuss – zu etablieren. Für Ersteres stehen beispielsweise die Fit & ProperAnforderungen des Versicherungsaufsichtsrechts, nämlich § 24 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 VAG sowie das BaFin-Merkblatt vom 6.12.2018 zur fachlichen Eignung und Zuverlässigkeit von Mitgliedern von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß VAG.10 Letzteres zeigt sich beispielhaft an der bankaufsichtsrechtlichen Vorgabe in § 25d Abs. 11 KWG, wonach die Aufsichtsräte bestimmter Kreditinstitute einen Nominierungsausschuss zu bestellen haben.11 Dieser Ausschuss – so § 25d Abs. 11 S. 2 Nr. 1 KWG „unterstützt das (…) Aufsichtsorgan bei der (…) Vorbereitung von Wahlvorschlägen für die Wahl der Mitglieder des (…) Aufsichtsorgans; hierbei berücksichtigt der Nominierungsausschuss die Ausgewogenheit und Unterschiedlichkeit der Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen aller Mitglieder des betreffenden Organs, entwirft eine Stellenbeschreibung mit Bewerberprofil und gibt den mit der Aufgabe verbundenen Zeitaufwand an“.
8
So Habersack in MüKo AktG, Bd. 2, 4. Aufl. 2014, § 101 Rn. 17. Vgl. zB Hopt/Roth in GK AktG, 5. Aufl., § 116 Rn. 111. 10 Vgl. zum Ganzen Dreher in Prölss/Dreher VAG, 13. Aufl. 2018, § 24 VAG Rn. 48 ff. und 148 ff. 11 Vgl. dazu Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler KWG – CRR-VO, 5. Aufl. 2016, § 25d KWG Rn. 111 ff. 9
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3. Folgerung: Begründungserfordernis de lege ferenda für Vorschläge des Aufsichtsrats über die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG Alle diese zuvor genannten Anforderungen zeigen, dass sich ein Aufsichtsrat bei seinen Wahlvorschlägen nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG ohnehin mit zahlreichen Fragen befassen muss, die die Eignung einer Person für den Aufsichtsrat betreffen. Obwohl also aufsichtsratsintern die Pflicht besteht, einen Wahlvorschlag zu begründen, um eine im Unternehmensinteresse liegende Entscheidung zu treffen bzw. gegebenenfalls dem Vorwurf eines Auswahlverschuldens zu begegnen, besteht de lege lata keine externe Begründungspflicht.12 Die Wahlvorschläge erfolgen daher in der Praxis regelmäßig auch ohne eine solche Begründung. Nur wenn eine Begründung gegeben würde, wäre allerdings das gesetzliche Ziel erreicht, den Aktionären in der Hauptversammlung für ihren Wahlbeschluss eine „Unterlage für die Meinungsbildung“ zu schaffen. Mit den bisher gesetzlich geforderten Angaben ist es ihnen dagegen unmöglich zu beurteilen, ob eine vorgeschlagene Person – in den Worten der Begründung zur Ergänzung von § 124 Abs. 3 S. 4 AktG durch das KonTraG –13 „für das Amt geeignet ist.“ Ohnehin muss sich jeder Aufsichtsrat im Vorfeld des Beschlusses über einen Wahlvorschlag mit dem Profil des künftigen Aufsichtsrats und der Individualqualifikation14 sowie der Gesamtqualifikation des Aufsichtsrats15 befassen. Daher würde ein gesetzliches Begründungserfordernis de lege ferenda, das damit im Ergebnis zu fordern ist, keinen überschießenden oder ungerechtfertigten Aufwand bedeuten. Es würde alle Aufsichtsräte im Gegenteil durch die damit verbundene Verschriftlichung und Dokumentation des Vorschlagsprozesses insgesamt zu einer der Bedeutung der Sache angemessenen Vorgehensweise zwingen. Welch große Bedeutung die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern durch die Aktionäre für eine Aktiengesellschaft hat, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass das Auskunftsrecht der Aktionäre nach § 131 AktG bei dem Tagesordnungspunkt Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern ohne weiteres alle Fragen umfasst, die die Eignung einer Person für das Aufsichtsratsmandat betreffen.16 Dies ist im Hinblick sowohl auf die Überwachungs- und Beratungsaufgabe des Aufsichtsrats gegenüber dem 12 Vgl. zB Butzke in GK AktG, Bd. 7/1, 5. Aufl. 2017, § 124 Rn. 76; Rieckers in Spindler/Stilz Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 124 Rn. 36; Hopt/Roth in GK AktG, Bd. 5, 5. Aufl. 2019, § 101 Rn. 80; Spindler in Spindler/Stilz Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 101 Rn. 40. 13 Siehe oben Fn. 6. 14 Vgl. dazu zB schon Dreher in FS Boujong, 1996, 71 ff. 15 Vgl. dazu zB Dreher in FS Hoffmann-Becking, 2013, 313 ff. 16 Vgl. dazu zB Kubis in MüKo Aktiengesetz, Bd. 3, 4. Aufl. 2018, § 131 Rn. 56 und 59; Butzke in FS Hoffmann-Becking, 2013, 229, 244 f.
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Vorstand als auch auf die grundsätzlich fünfjährige Dauer der Amtsperiode jeder gewählten Person gerechtfertigt. Nach § 23 Abs. 5 S. 2 AktG sind ergänzende Bestimmungen in der Satzung einer Aktiengesellschaft zulässig, wenn das Aktiengesetz nicht abschließend ist. Bei dem Wahlvorschlag des Aufsichtsrats nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG ist dies nicht der Fall. Die Regelung äußert sich nicht zu der Begründung eines Wahlvorschlags, sondern in § 124 Abs. 2 S. 4 AktG nur zu den damit verbundenen Tatsachenangaben. Daher lässt sie den Freiraum, in der Satzung einer Aktiengesellschaft die Pflicht zu der Begründung eines Wahlvorschlags des Aufsichtsrats vorzusehen.17 Dass in der Praxis aber die Satzungen von Aktiengesellschaften eine solche Pflicht nicht enthalten, überrascht nicht. Zwar besteht aktienrechtlich auch die Möglichkeit,18 dass der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft seinen Wahlvorschlag von sich aus, d. h. in freier Entscheidung, begründet. Dafür spricht, dass „die Begründung zumindest als gute Corporate Governance angesehen“ wird.19 Die Praxis nutzt allerdings auch dieses Verfahren ersichtlich regelmäßig nicht. Im Ergebnis gilt trotz einer fehlenden gesetzlichen Verpflichtung die Begründung eines Wahlvorschlags des Aufsichtsrats i.S.v. § 124 Abs. 3 S. 1 AktG also als Good Practice der Governance, ohne dass die Praxis die rechtlichen Möglichkeiten nutzt, den Weg zu beschreiten. Maßgeblich dafür dürfte sein, dass sie eine Begründung als unnötige Erschwernis der Tätigkeit des Aufsichtsrats empfindet, weil jeder Wahlvorschlag ohnehin auf wohlbegründeten Erwägungen beruhe. Wenn dies aber so ist – oder so sein sollte –, dann spricht nichts dagegen, diese Erwägungen offenzulegen. Das Aktiengesetz selbst und – bei jeweiliger Anwendbarkeit – der DCGK sowie das Aufsichtsrecht für bestimmte Wirtschaftsbereiche fordern eine intensive Vorbefassung des Aufsichtsrats mit dem Anforderungsprofil und den Eignungskriterien für Aufsichtsratsmitglieder und demgemäß auch mit der Frage, ob bestimmte Personen die Anforderungen erfüllen. Die ordnungsgemäße Wahrnehmung dieser Aufgabe durch den Aufsichtsrat liegt im Interesse des Unternehmens. Sie verhindert auch ein Auswahlverschulden des Aufsichtsrats und aufgrund der Vermeidung, dass ungeeignete Personen als Aufsichtsratsmitglieder vorgeschlagen und nachfolgend gewählt werden, ein Übernahmeverschulden der betreffenden Personen sowie vor allem einen entsprechenden Reputationsverlust der Aktiengesellschaft selbst. Die Verankerung einer Begründungspflicht de lege ferenda für den Wahlvorschlag 17 Vgl. zB Spindler in Spindler/Stilz Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 101 Rn. 40; Hopt/ Roth in GK AktG, Bd. 5, 5. Aufl. 2019, § 101 Rn. 80; Hoffmann-Becking in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4: Aktiengesetz, 4. Aufl. 2015, § 30 Rn. 36. 18 So zB Rieckers in Spindler/Stilz Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 124 Rn. 36. 19 Hopt/Roth in GK AktG, Bd. 5, 5. Aufl. 2019, § 101 Rn. 80; dem folgend Spindler in Spindler/Stilz Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 101 Rn. 40.
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ist daher nur die konsequente verfahrensrechtliche Fortführung des im Aktienrecht und Aufsichtsrecht sowie in den Governance-Regeln materiell ohnehin bereits enthaltenen Ansatzes. Eine Begründungspflicht für Wahlvorschläge des Aufsichtsrats nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG könnte weiter auf den – zur Verhinderung auch von berechtigten Regelungsanliegen regelmäßig naheliegenden – Einwand stoßen, dass dann alle Vorschläge von Vorstand und Aufsichtsrat zu Tagesordnungspunkten i.S.v. § 124 Abs. 3 S. 1 AktG begründungsbedürftig sein müssten. Dem ist jedoch schon entgegenzuhalten, dass viele Tagesordnungspunkte von den zuständigen Organen in der Hauptversammlung selbst begründet werden und diese Informationen auch ausreichend sind. Wo die Verwaltung ein besonderes Informationsbedürfnis der Aktionäre schon vor der Hauptversammlung sieht, handelt sie jenseits von Wahlvorschlägen oft entsprechend. Dies gilt z. B. für begründete Vorschläge zu einem Haftungs- und Deckungsvergleich bei der Organhaftung mit Einbindung von D&O-Versicherungsunternehmen oder – zum Teil infolge einer gesetzlich bestehenden Begründungspflicht, wie nach § 186 Abs. 4 S. 2 AktG – bei ebenfalls begründeten Vorschlägen zu Kapitalmaßnahmen. Anders verhält es sich nur bei den Wahlvorschlägen zum Aufsichtsrat, die aber in ihrer Bedeutung – wie zuvor bereits ausgeführt –20 sicher nicht hinter den genannten Tagesordnungspunkten zurückstehen. In diesem Zusammenhang ist schließlich von Interesse, dass der Gesetzgeber in § 127 AktG auch Vorschläge von Aktionären zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern vorsieht. Für derartige Vorschläge hat er in § 127 S. 2 ausdrücklich hinzugefügt: „Der Wahlvorschlag braucht nicht begründet zu werden.“ Die schon mit dem Aktiengesetz 1965 eingeführte Regelung hatte der Regierungsentwurf nicht begründet.21 In ihr liegt nicht nur eine Ausnahmeregelung im Verhältnis zu der Begründungspflicht für Gegenanträge nach § 126 Abs. 1 S. 1 AktG. Vielmehr zeigt sich in dem Zweck, der der Vorschrift in der Literatur beigemessen wird, dass eine parallele Wertung mit entsprechendem Ergebnis der Begründungslosigkeit eines Wahlvorschlags des Aufsichtsrats bei § 124 Abs. 3 S. 1 AktG nicht angebracht ist. Zweck des § 127 S. 2 AktG soll es nämlich sein, einen „Zwang zu vergleichender Bewertung von Kandidaten“ zu vermeiden.22 Gleichzeitig geht die Literatur aber ohne weiteres davon aus, dass ein Aktionär seinen Wahlvorschlag auf freiwilliger Basis begründen kann.23 In diesem Fall kommt es daher doch zu einer vergleichenden Bewertung. Und nur wenn der Wahlvorschlag des Aufsichtsrats aufgrund einer satzungsmäßigen Verpflichtung 20
Vgl. oben II.3. am Anfang. Vgl. Kropff Aktiengesetz 1965, 179. 22 So Butzke in GK AktG, Bd. 7/1, 5. Aufl. 2017, § 127 Rn. 10, der in der Literatur – soweit ersichtlich – als einziger Autor einen Zweck von § 127 S. 2 AktG benennt. 23 Vgl. z. B. Kubis in MüKo Aktiengesetz, Bd. 3, 4. Aufl. 2018, § 127 Rn. 7. 21
Begründungspflicht für Wahlvorschläge des Aufsichtsrats
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oder eines freiwilligen Entschlusses des Aufsichtsrats ebenfalls begründet ist,24 kann es im Fall zusätzlicher Wahlvorschläge von Aktionären überhaupt zu einer wirklichen vergleichenden Bewertung kommen. Andernfalls handelt es sich bei der freiwilligen Begründung eines Aktionärsvorschlags um eine bloß einseitige Bewertung. Der fehlende Begründungszwang für Wahlvorschläge von Aktionären zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern könnte im Übrigen auch aufrechterhalten werden, wenn de lege ferenda eine Begründungspflicht für entsprechende Wahlvorschläge des Aufsichtsrats eingeführt würde. Die Erwägungen, die für eine solche Begründungspflicht sprechen, beeinflusst § 127 S. 2 AktG nicht. Umgekehrt würde es aber sicher zu aussagekräftigeren Wahlvorschlägen von Aktionären führen, wenn der Hauptversammlung bereits begründete Wahlvorschläge des Aufsichtsrats vorliegen würden.
III. Zusammenfassung 1. Nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG muss der Aufsichtsrat der Hauptversammlung Vorschläge zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern unterbreiten. Dafür besteht de lege lata keine Begründungspflicht. Eine solche Pflicht sollte de lege ferenda geschaffen werden. 2. Der Gesetzgeber verfolgt mit den Wahlvorschlägen des Aufsichtsrats nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG den Zweck, der Hauptversammlung eine „Unterlage für die Meinungsbildung“ zu geben. Die „Unterlage“ erschöpft sich mit der Angabe von Namen, ausgeübtem Beruf und Wohnort der betreffenden Personen nach § 124 Abs. 3 S. 4 AktG allerdings in der Nennung von Tatsachen. Eine Begründung der Wahlvorschläge ist darin nicht zu sehen. Gemessen am Regelungszweck des § 124 Abs. 3 S. 1 AktG liegt in den von § 124 Abs. 3 S. 4 AktG geforderten Angaben eine Zweckverfehlung. 3. Zur Beschlussfassung über seine Wahlvorschläge muss sich der Aufsichtsrat im Unternehmensinteresse mit dem Anforderungsprofil für den Aufsichtsrat und den Eignungskriterien für künftige Aufsichtsratsmitglieder befassen. Vor allem das Aktienrecht und – soweit anwendbar – der DCGK sowie das Aufsichtsrecht für bestimmte Wirtschaftsbereiche enthalten rechtliche Vorgaben für das Auswahlverfahren des Aufsichtsrats im Vorfeld seiner Beschlussfassung über Wahlvorschläge. 4. Die Bedeutung der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern durch die Hauptversammlung rechtfertigt eine Begründungspflicht speziell für die Wahl24
Vgl. dazu oben II.3.
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vorschläge nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG. Die Begründung ist aus der ohnehin im Vorfeld von Wahlvorschlägen erfolgenden Befassung des Aufsichtsrats mit dem Anforderungsprofil und den Eignungskriterien ableitbar. 5. Die Möglichkeiten, eine Begründungspflicht für Vorschläge des Aufsichtsrats zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern in der Satzung einer AG zu verankern oder eine solche Begründung im Einzelfall auf freiwilliger Basis zu geben, nutzt die Praxis regelmäßig nicht. Dies steht in deutlichem Widerspruch dazu, dass die Begründung solcher Wahlvorschläge allgemein als Ausdruck guter Corporate Governance verstanden wird. 6. Die Schaffung einer Begründungspflicht de lege ferenda speziell für Vorschläge des Aufsichtsrats zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG wäre nicht mit einem Begründungszwang für Vorschläge nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG zu anderen Tagesordnungspunkten oder für Wahlvorschläge von Aktionären nach § 127 AktG verbunden.
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Überschießende Regelungstendenzen bei Zwangsbesicherungen
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Überschießende Regelungstendenzen bei Zwangsbesicherungen Jens Ekkenga
Überschießende Regelungstendenzen bei Zwangsbesicherungen nach dem Realkautionsprinzip im Gesellschaftsrecht JENS EKKENGA
I. Die Zwangsbesicherung nach dem Realkautionsprinzip als sinnvolle Ergänzung zum Kapitalschutz? 1. Die überkommene Auffassung Ändern sich wesentliche Koordinaten in der Vermögens- oder Kapitalstruktur einer Kapitalgesellschaft, bedarf es nach Meinung des Gesetzgebers zusätzlicher Vorkehrungen zum Schutz der Gläubiger. Letztere erhalten entweder klagbare Ansprüche auf Bewilligung von Personal- oder Realsicherheiten (AG) oder ein Blockaderecht, das durch Stellung solcher Sicherheiten abgelöst werden kann (GmbH). Die einschlägigen, breit gestreuten Einzelvorschriften lassen sich nach ihren Anlässen grob in drei Gruppen einteilen: Zwangsbesicherungen von „Forderungen“ gegen Tochtergesellschaften aufgrund Beendigung eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages (§ 303 AktG) sowie gegen eine AG oder GmbH, die ihr garantiertes Kapital herabsetzt (§ 225 AktG, § 58 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG, vgl. auch § 22 Abs. 2 GenG), schließlich die Stellung von Sicherheiten bei Verschmelzungen, Spaltungen und formwechselnden Umwandlungen, sofern der Gläubiger die Existenz eines konkreten Ausfallrisikos glaubhaft macht (§§ 22, 125, 204 UmwG). In der Kautelarpraxis bereitet der Umgang mit diesen Vorschriften bekanntlich erhebliche Probleme, die umso mehr zunehmen, je geringer die Eigenkapitalquote ausfällt. Hohe Verschuldungsgrade, wie sie in Deutschland weit verbreitet sind, stellen die Unternehmen vor unlösbare Aufgaben. Denn sie dürfen – vom Sonderfall des § 303 Abs. 2 AktG abgesehen – grundsätzlich nicht auf Personalsicherheiten ausweichen, sondern müssen Realsicherheiten anbieten, für die das nötige Material fehlt. Nicht immer stehen – wie bei der Kapitalherabsetzung zu Sanierungszwecken mit den §§ 229 ff. AktG, §§ 58a ff. GmbHG – Ersatzinstrumente zur Verfügung. In sonstigen Fällen entfalten die Regeln der Zwangsbesicherung vor allem Abschreckungswirkung; durchgeführt werden sie selten.
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Man muss also schon geneigt sein, in der Beschränkung wirtschaftlicher Freiheiten zur Bedienung abstrakter Gläubigerinteressen einen Wert an sich zu sehen, um der überkommenen Einschätzung jener Regeln in der Lehre zuzustimmen. Dort pflegt man die Zwangsbesicherung seit jeher als „nicht anders als recht und billig“ zu würdigen,1 ja geradezu als „in der Natur der Sache begründet“ zu adeln.2 So heißt es in einer vorbehaltlos wohlwollenden Stellungnahme von Rittner aus dem Jahre 1985: „Die Gläubiger…dürfen keineswegs schlechter stehen als jene anderen…(deren Forderungen bereits fällig sind und die daher sogleich Erfüllung verlangen können, d. Verf.)… Es muss deswegen für sie eine Sicherheit in Gestalt von Vermögenswerten der Gesellschaft erbracht werden, die die spätere Erfüllung für alle Fälle gewährleistet. Jede andere Art von Sicherheit würde der Sachlage nicht entsprechen. Das Aktienrecht hätte also, wenn es nicht auf die §§ 232 ff. BGB hätte verweisen können, dieselben oder ähnliche Regelungen treffen müssen, wie sie das BGB enthält.“3 2 Kritik Indes: Alter schützt vor Irrtümern nicht, das gilt auch für jahrhundertealte Rechtstraditionen. Als „recht und billig“ mag man zwar das mit der Zwangsbesicherung verfolgte Regelungsziel empfinden, das Schutzniveau der Gläubiger so zu konservieren, dass sich deren Position durch die jeweilige Strukturänderung nicht verschlechtert. Der Verweis auf das bürgerliche Recht bewirkt aber weit mehr als das. Nach dem dort geltenden Realkautionsprinzip können die Gläubiger die Einräumung einer insolvenzfesten Position beanspruchen, die sie vor der Kapitalherabsetzung nicht hatten;4 durch die Belastung ihrer Aktiva mit Realsicherheiten wird zudem die Investitions- und Finanzierungsfreiheit der Gesellschaft massiv beschränkt, was auf eine Fortentwicklung von der Kapital- zur Vermögensbindung5 und im weiteren Ergebnis auf eine Besserstellung der Gläubiger hinausläuft. Ausnahmen vom Realkautionsprinzip gibt es zwar, sie fordern aber einen hohen Preis. So gibt sich der Gesetzgeber in § 303 Abs. 2 AktG mit der ersatzweisen Stellung einer Pflichtbürgschaft zufrieden, sofern die Konzernmutter in das akkumulierte Risiko sämtlicher Gläubiger eintritt. Weitere Lockerungen stehen nur vereinzelt zur Diskussion, und auch dies nur im GmbH-Recht, für das § 58 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG eine nicht verallgemeine1
Rittner in FS Oppenhoff, 1985, 317, 321. Renaud Das Recht der Aktiengesellschaften, 1863, 61, zit. nach Rittner aaO. 3 Rittner in FS Oppenhoff, 1985, 317, 321 zu den Folgen einer Kapitalherabsetzung nach § 225 AktG. 4 Ebenso die – allerdings vereinzelt gebliebene – Kritik von Beuthien GmbHR 2016, 729, 730. 5 Dazu grundlegend Ekkenga in MünchKomm GmbHG, § 30 Rn. 12 für die GmbH. 2
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rungsfähige Regelung vorsieht.6 Im Übrigen dominiert die Auffassung, dass Bürgschaften kein gleichwertiges Sicherungsmittel darstellen und folglich allenfalls in Ausnahmefällen eingesetzt werden dürfen.7 Die praktischen Konsequenzen sind gravierend; sie äußern sich vor allem darin, dass beanstandungsfreie oder gar nützliche Operationen unterbleiben: Die Tochtergesellschaft wird nicht verkauft, weil die dafür notwendige Beendigung des Unternehmensvertrages zu riskant wäre; das Grundkapital wird nicht herabgesetzt, so dass kein freiwerdendes Vermögen in offene Kapitalrücklagen umgeschichtet werden kann und eine Verbesserung der Dividendenaussichten nicht in Sicht ist; die gesetzlich eingeräumte Option einer Rückführung von Aktionärskapital nach Kapitalherabsetzung erweist sich als mehr oder weniger illusionär. Auf dieses Problem hat die Jubilarin mit Recht schon vor 20 Jahren hingewiesen.8 Etwas weniger bedrückend ist die Situation nur im Umwandlungsrecht, denn § 22 Abs. 1 S. 2 UmwG beschränkt den Kreis der schutzbedürftigen Parteien auf diejenigen Gläubiger, die ihr maßnahmebedingtes Ausfallrisiko glaubhaft machen.9 Ist die Existenz einer überschießenden Gläubigerschutzregelung nach alledem kaum grundsätzlich zu leugnen, darf wenigstens der Versuch nicht fehlen, Spielräume für eine angemessene Begrenzung der Zwangsbesicherung aufzufinden. Gelegenheiten dazu gibt es; sie haben einerseits damit zu tun, dass der Besicherungsaufwand immer mehr zunimmt, je unsicherer die Bedarfslage ist, je weniger Klarheit also darüber herrscht, welche Forderungen in welcher Zahl und mit welcher benötigten Wertdeckung gesichert werden sollen. Das ist sogleich am Beispiel gewinn- und verlustbeteiligter Mezzanine-Gläubiger näher auszuführen (unter II.). Mögliche Restriktionen sind bislang vor allem im Zusammenhang mit dem Sicherungszweck diskutiert worden. Es geht um die Frage, welche Forderungen sicherungstauglich sind und welche wegen ihrer Unbestimmtheit nach Grund und Höhe vernachlässigt werden können und dürfen (dazu unter III.). Weitaus weniger Gedanken hat man sich zu den Grenzen des Sicherungsumfanges gemacht, der, wie unter IV. zu zeigen sein wird, im Geltungsbereich des Realkautionsprinzips den Rahmen dessen, was die Schuldnerin zu leisten vermag, nicht sprengen darf.
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Vgl. dazu J. Vetter in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 58 Rn. 110 ff., 115. Fahse in Soergel BGB, 13. Aufl. 1999, § 232 Rn. 13. 8 Windbichler RdA 2000, 236, 241. 9 Hierzu und zu den europarechtlichen Hintergründen Ekkenga Der Konzern, 2007, 413 ff. 7
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II. Die Verunklarung des Sicherungszwecks durch Einbeziehung substantiell und quantitativ unbestimmter Forderungen 1. Die Wiedergeburt der Höchstbetragshypothek Die Sicherbarkeit unbestimmter Forderungen stößt nicht nur angesichts der abschließenden Aufzählung zulässiger Sicherungsmittel in § 232 BGB, sondern auch innerhalb dieses Katalogs an Grenzen. Das zeigt sich besonders deutlich am naheliegenden Beispiel der Hypothek. Sie lautet auf Zahlung einer bestimmten Geldsumme (§ 1113 Abs. 1 BGB), verträgt mithin keine Unklarheit über den Sicherungszweck. Lassen bestehende Unsicherheiten über den Sicherungsbedarf, also über das Bestehen oder den Umfang der zu sichernden Forderungen in gegenständlicher und zeitlicher Hinsicht, einen direkten Schluss auf den Sicherungszweck nicht zu, muss auf die Bestellung einer in praxi schon tot geglaubten Realsicherheit, nämlich einer Höchstbetragshypothek (§ 1190 BGB) ausgewichen werden; die Sicherung per Verkehrshypothek scheidet ebenso aus10 wie die Bestellung einer Grundschuld.11 Der sachenrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz12 lässt die dingliche Sicherung unbestimmter Forderungen demnach zu, führt aber zu einer u.U. signifikanten Erhöhung der Belastungsfolgen im Vermögen der sicherungspflichtigen Gesellschaft. Denn die Festsetzung eines Höchstbetrages bedeutet ja nichts anderes als eine zusätzliche Erweiterung des bei Beachtung der verkehrsüblichen Beleihungsgrenzen ohnehin schon großzügig bemessenen Sicherungsrahmens. Die damit verbundene Gefahr einer zeitweiligen oder sogar dauerhaften Übersicherung mutet das bürgerliche Recht dem Sicherungsschuldner bis zu einem gewissen Grade zu; dies gilt es zu respektieren.13 Ob aber die seit Erschaffung des BGB nahezu unverändert fortgeltende Vorschrift des § 232 BGB mit ihrer formalen Stringenz den Anforderungen an ein modernes System zum Schutz der Gesellschaftsgläubiger gerecht werden kann, ist eine ganz andere Frage. Dagegen spricht allein schon die eingeschränkte Auswahl an Sicherungsmitteln. Von denjenigen Vermögensobjekten, die sich für Sicherungszwecke aufgrund ihrer hohen Deckungsvo10 Hornung NJW 1991, 1649, 1650 f.; a.A. wohl Wolfsteiner in Staudinger BGB, 2002, § 1190 Rn. 1 iVm. Vorbem. zu §§ 1113 ff. Rn. 15. 11 Zu diesen Zusammenhängen etwa BGH NJW 1986, 53, 54; Lieder in MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2020, § 1190 Rn. 4 ff. Ob die Verkehrshypothek durch nicht eintragungsfähige Begleitabreden wie eine „verdeckte Höchstbetragshypothek“ ausgestaltet werden kann, steht hier nicht zur Debatte, vgl. dazu Lieder aaO § 1113 Rn. 45 ff. 12 Hier in der Ausprägung einer inhaltlichen Konkretisierung, bezogen auf das (Grund-) Pfandrecht. Dazu vertiefend Lieder Die rechtsgeschäftliche Sukzession, 2015, 295 f. 13 Rittner in FS Oppenhoff, 1985, 317, 325 ff.
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lumina am besten eignen, sind nur Grundstücke und Schiffe bzw. Schiffsbauwerke zugelassen. Sind diese Kontingente erschöpft, wird die Gesellschaft kaum auf andere Gegenstände des Anlagevermögens von ausreichendem Gewicht ausweichen können; insbesondere kommt eine Verpfändung von Beteiligungen nicht in Betracht.14 Die übrigen genannten Wertobjekte werden sich in der Unternehmenspraxis allenfalls punktuell und typischerweise weit unterhalb der bei hoher Verschuldung benötigten Deckungsergebnisse verwenden lassen. Die in § 232 Abs. 1 BGB zugelassene Verpfändung beweglicher Sachen ist im Wirtschaftsleben nicht nur deshalb graue Theorie, weil dafür zumeist das Umlaufvermögen eingesetzt werden müsste. Besitzpfandrechte werden die Gläubiger vielmehr nur in seltenen Ausnahmefällen akzeptieren, im Regelfall wird die Besicherung spätestens am Zurückweisungsrecht nach § 237 S. 2 BGB scheitern. Die Einbeziehung von Sicherungsübereignungen und -abtretungen in den Auswahlkatalog wird, soweit ersichtlich, nicht diskutiert bzw. ernsthaft in Erwägung gezogen. 2. Bestimmtheitsgrundsatz vs. variabler Sicherungszweck Indem der Gesetzgeber trotz dieser Eignungsmängel die Erfüllbarkeit von Sicherungsansprüchen durch die Verpfändung von Rechten ausschließt, drängt er im Anwendungsbereich der gesetzlichen Sicherungspflichten alle Pfandrechte im Sinne der §§ 1204 ff. BGB an den Rand der Bedeutungslosigkeit. Rechtlich, mindestens aber faktisch weitgehend eliminiert ist damit auch das in § 1210 BGB verankerte Gegenmodell zum Bestimmtheitsgrundsatz. Danach ist der Sicherungszweck nicht von Anbeginn fix eingestellt, vielmehr kommt es während der Laufzeit zur fortwährenden Anpassung an den ständig schwankenden Sicherungsbedarf.15 Einen solchen „atmenden“ Sicherungszweck kennt zwar auch das Bürgschaftsrecht (§ 767 Abs. 1 S. 1 BGB). Bürgschaften sind aber nach § 232 Abs. 2 BGB nur dann zugelassen, wenn (Real-)Sicherheiten im Sinne des Abs. 1 „nicht … geleistet werden“ können. Zur Vermeidung übermäßiger Belastungsnachteile ist die Vorschrift nicht geeignet, denn sie erfasst nur diejenigen Fälle, in denen sicherungstaugliche Vermögensobjekte nicht mehr vorhanden sind16 oder andere als Geldforderungen gesichert werden sollen. Die weitgehende Verengung der verbleibenden Entscheidungsspielräume auf die Höchstbetragshypothek wird im Zweifel dazu führen, dass das Si14 Ob bei Aktien als verbrieften Mitgliedschaften noch auf die Regel über die Verpfändung beweglicher Sachen (§ 232 Abs. 1 BGB) ausgewichen werden kann, erscheint im modernen Zeitalter dauerglobalverwahrter Aktien zunehmend zweifelhaft, vgl. Lutter/Drygala in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2011, § 68 Rn. 45. 15 Vgl. Ganter WM 2001, 1, 2. 16 Repgen in Staudinger BGB, 2004, § 232 Rn. 10; nicht eindeutig Fahse in Soergel BGB, 13. Aufl. 1999, § 232 Rn. 13.
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cherungspotential schneller erschöpft ist als im Einsatzbereich frei aushandelbarer Sicherheiten. Von denjenigen Ansprüchen, die nach Entstehung und Umfang unbestimmt sind, werfen vor allem Kapitalrückforderungen, deren Höhe je nach ihrer fortwährenden Beteiligung am Gewinn und Verlust variiert, gänzlich ungeklärte Bewertungsprobleme auf. Diese finden bislang wenig Beachtung, weil Sicherungsansprüche aus den genannten Gründen ohnehin kaum jemals eingelöst werden und weil die Höchstbetragshypothek außerhalb des Anwendungsbereichs des § 232 Abs. 1 BGB praktisch komplett durch die Grundschuld verdrängt worden ist.17 Die Problematik kann hier nicht weiter vertieft werden. Stattdessen ist die Frage aufzuwerfen, ob die (nichtmitgliedschaftlichen) Rückgewähransprüche von Eigenkapitalgebern unter den Begriff der sicherungstauglichen „Forderungen“ fallen (dazu unter III., 3, 4).
III. Eingrenzungsversuche auf der Forderungsebene 1. Sicherungsanlässe und Regelungszwecke Im Schrifttum ist die Tendenz vorherrschend, die Sicherungstauglichkeit von „Forderungen“ (§§ 225 Abs. 1 S. 1, 303 Abs. 1 S. 1 AktG) bzw. „Ansprüche(n)“ (§ 58 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG, vgl. auch § 22 Abs. 1 UmwG) einheitlich, d.h. unabhängig vom jeweiligen Sicherungsanlass zu bestimmen bzw. zu diskutieren. Unter dem Eindruck der weitenteils inhaltsgleichen, passagenweise sogar wörtlich übereinstimmenden Textfassungen wird nicht danach differenziert, ob Sicherungsanlass die Beendigung eines Vertragskonzerns, eine Kapitalherabsetzung oder eine Fusion ist.18 In der Tat ist allen Vorschriften das Ziel gemeinsam, zu verhindern, dass strukturändernde Maßnahmen mit hohem Gefährdungspotential zu einer Schwächung der Gläubigerpositionen gegenüber dem zuvor erreichten Schutzniveau führen.19 Was sicherungstaugliche „Forderungen“ bzw. „Ansprüche“ sind und wer zum Kreis der schutzbedürftigen „Gläubiger“ gehört, ist demzufolge aus der Perspektive der Schuldnergesellschaft, genauer: nach dem Inhalt ihrer Leistungsverpflichtung zu bestimmen. Die bilanzielle Betrachtungsweise, im Gesetz u.a. zum Ausdruck gebracht durch die Beschränkung zulässiger Ausschüttungen auf den „Bilanzgewinn“ (§§ 57 Abs. 3, 58 Abs. 4 AktG),20 setzt sich auch hier auf breiter Fläche durch: „Gläubiger“ ist, wer eine in der Bilanz der Gesellschaft zu passivierende (Fremd-)Kapitalposition 17
Lieder in MünchKomm BGB, 8. Aufl., § 1190 Rn. 2. Exemplarisch die Kommentierung von Hüffer/Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 225 Rn. 2 ff. einerseits und § 303 Rn. 3 andererseits. 19 Oechsler in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2016, § 225 Rn. 31. 20 Dazu Ekkenga AG 2006, 389 ff. 18
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einnimmt.21 „Gläubiger“ ist nicht, wer zwar eine Forderung hat, der aber keine kapitalschöpfende Wirkung zukommt, weil sie nicht Ausdruck eines der Mittelzuführung dienenden Finanzierungsvorganges ist, sondern der Mittelverwendung im Rahmen laufender geschäftlicher Austauschbeziehungen zuzuordnen ist. Darauf wird im Zusammenhang mit Teilforderungen aus Dauerschuldverhältnissen wie z.B. künftigen Zins- oder Mietzinsraten, deren Sicherungstauglichkeit die h.M. dem Grunde nach befürwortet, zurückzukommen sein (s. unter 2.). Der Grundsatz „ohne Kapitalposition kein Kapitalschutz“ erstreckt sich auch auf die Sicherungsansprüche anlässlich der Beendigung eines Vertragskonzerns, denn auch hier kommt es entscheidend auf den Erhalt des „bilanzmäßigen Vermögens“ der Tochtergesellschaft an.22 Gewisse Unterschiede zeigen sich allerdings im Zusammenhang mit der Frage, ob und inwieweit die Gläubigerpositionen eine schutzrelevante Schwächung befürchten lassen. In den Fällen der Kapitalherabsetzung reduziert sich mit dem Verbotsumfang der Kapitalerhaltungsregeln der §§ 57 AktG, 30 GmbHG auch das Schutzniveau: Da eine Absenkung des Grundbzw. Stammkapitals neue Rahmenbedingungen schafft, die die Rückführung von Gesellschaftsvermögen an die Gesellschafter ermöglichen bzw. erleichtern, entsteht den Gläubigern neuer Schutzbedarf, der durch zwangsweise Sicherung ihrer Forderungen bedient wird. Vorherrschend ist dabei der Gedanke der abstrakten Gläubigergefährdung, d.h. die Sicherungsansprüche müssen nicht mit einer drohenden Verschärfung des Ausfallrisikos begründet werden, und auf die Frage, ob die Kapitalherabsetzung in casu zu einer Vermögensfreisetzung führt, kommt es nicht an (vgl. § 225 Abs. 3 AktG). Einen direkten Bezug zum Gesellschaftsvermögen gibt es nicht, da weder Grund- noch Stammkapital die Gläubiger vor Bonitätsverschlechterungen schützen, die durch Vermögensminderungen als Folge der Mittelverwendung im laufenden Geschäft entstehen. Das an der Statik der Eigen- und Fremdkapitalpositionen und ihres Größenverhältnisses orientierte Schutzziel lässt sich also nicht optimal verwirklichen. Es weicht notgedrungen der Dynamik der Vermögensentwicklung in Verlustphasen. Im Geltungsbereich des § 303 AktG ist das anders, denn Sicherungsansprüche aufgrund Beendigung eines Unternehmensvertrages finden ihre Rechtfertigung gerade darin, dass die Schuldnerin ihren Anspruch auf periodischen Verlustausgleich nach § 302 Abs. 1 AktG gegen die scheidende Muttergesellschaft einbüßt. Solange der Unternehmensvertrag besteht, ist die vollständige Bewahrung des zur Schuldendeckung benötigten Vermögens garantiert, sind die Gläubiger der Tochter vor den Nachteilen geschäftlicher 21 Für die GmbH ausführlich Ekkenga in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 30 Rn. 49 ff. 22 S. statt anderer Altmeppen in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2020, § 303 Rn. 1.
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Abläufe geschützt. Dieses Schutzniveau geht – was in der Kommentarliteratur nicht immer klar gesehen wird23 – über dasjenige der allgemeinen Kapitalerhaltungsgebote deutlich hinaus. Der Konzernausgangsschutz nach § 303 AktG weist mithin – anders als der Schutz des Garantiekapitals – einen dynamischen Vermögensbezug auf. Wie unter 2. darzulegen sein wird, ist das aber noch kein ausreichender Grund, den Kreis der Schutzadressaten um Teilnehmer an schwebenden Austauschgeschäften zu erweitern und auch Vergütungsansprüche ohne Kapitalbezug bei der Tochter einzubeziehen. Wieder andere Sicherungsinteressen bedient § 22 UmwG in Verschmelzungsfällen.24 Die Gefahr von Vermögensminderungen durch Ausschüttungen oder Verlustrisiken steht hier nicht zur Debatte. Vielmehr sehen sich die Gläubiger des aufnehmenden Rechtsträgers mit einer unvorhergesehenen Verschärfung der Gläubigerkonkurrenz und die Gläubiger des übertragenden Rechtsträgers mit einem unvorhergesehenen Schuldnerwechsel konfrontiert.25 Möglichen Auswüchsen der Zwangsbesicherung lässt sich mit Hilfe von § 22 Abs. 1 S. 2 UmwG begegnen, der – anders als die vorgenannten Schutzvorschriften – dem Gläubiger die Glaubhaftmachung eines konkreten Ausfallrisikos abverlangt. Ob der abweichende Sicherungszweck diesen erheblichen Unterschied zu den Kapitalschutzregeln rechtfertigt, lässt sich vor allem in der Variante des Schuldnerwechsels bezweifeln und bedarf auch unter dem Regime von Art. 75 Abs. 2 der EU-Richtlinie 2017/1132 einiger Begründung.26 Dem ist hier nicht weiter nachzugehen. 2. Besicherung von Teilforderungen aus Dauerschuldverhältnissen? Umstritten, weil für die Schuldnergesellschaft besonders belastend, ist vor allem die Sicherungstauglichkeit von Teilansprüchen aus Dauerschuldverhältnissen – ein Problem, das seinen Ursprung in der bürgerlich-rechtlichen Interpretation des Forderungsbegriffs hat, der neben gegenwärtigen, aber noch nicht fälligen Forderungen auch künftige, am jeweils maßgeblichen Stichtag (Bekanntmachung der Kapitalherabsetzung oder der Beendigung des Unternehmensvertrages) bereits „begründete“ Forderungen umfasst.27 Da die Sicherungsvorschriften ein zeitliches Limit zur Eingrenzung des Sicherungs bedarfs nicht vorsehen, macht das Wort von einer möglicherweise ausufernden „Endloshaftung“ die Runde, die die Gesellschaft gerade dort trifft, wo die 23 Unzutr. etwa Hirte in GroßKomm AktG, 4. Aufl. 2005, § 303 Rn. 2: „Dieser Verlustausgleich hat für die Gläubiger eine ähnliche Garantiefunktion wie das Grundkapital…“. Bedenklich auch OLG Jena NZG 2005, 716, 717; klarstellend Sassenrath in FS Huber, 2006, S. 931, 935. Zum Meinungsstand s. Koppensteiner in GroßKomm AktG, 3. Aufl. 2004, § 302 Rn. 9 mwN. 24 Die Erweiterungen in §§ 125, 204 UmwG bleiben im Folgenden außer Betracht. 25 Simon in KölnKomm UmwG, 1. Aufl. 2009, § 22 Rn. 1. 26 Ekkenga Der Konzern, 2007, 413 ff., 415. 27 S. statt anderer Sethe in GroßKomm AktG, 4. Aufl. 2012, § 225 Rn. 13, 15 ff.
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Fixkosten erfahrungsgemäß am höchsten sind: Mietzinsansprüche, Zinsvergütungen auf Darlehen oder Gehaltsforderungen sind bei Zugrundelegung des bürgerlich-rechtlichen Forderungsbegriffs bis zum Ende der jeweiligen Vertragslaufzeiten kumulativ zu sichern, sofern sich nicht aus sonstigen Vorschriften eine gegenständliche oder zeitliche Begrenzung des Sicherungsbedarfs ableiten lässt.28 Dass die u.a. vom BGH hierzu entwickelten Korrekturansätze weder rechtssystematisch noch in den Ergebnissen zu überzeugen vermögen, hat der Verf. bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegt.29 Die Kritik ist hier nicht in aller Ausführlichkeit zu wiederholen. Mit den eigentlichen Ursachen einer drohenden Überregulierung hat sich der Verf. ebenfalls bereits eingehend befasst.30 Sie haben vor allem damit zu tun, dass das am Grund- oder Stammkapital orientierte Ziel der Kapitalerhaltung unzulässig mit Zielen einer Vermögenserhaltung durchmischt wird. Kapitalerhaltungsschutz ist Schutz vor Definanzierung, setzt also einen Akt der Mittelbeschaffung voraus.31 Da die Regeln über die Zwangsbesicherung auf Veränderungen reagieren, die diese Schutzfunktion nachträglich beeinträchtigen könnten, sind konsequenterweise diejenigen, aber auch nur diejenigen Forderungen schutzbetroffen, denen eine gläubigerseitig veranlasste Mittelzuführung an die Gesellschaft mit kapitalbildender Wirkung zugrunde liegt (bilanzieller Forderungsbegriff). In die Entscheidungen über Vorgänge der Mittelverwendung im laufenden Geschäftsbetrieb mischt sich das Gesellschaftsrecht hingegen grundsätzlich nicht ein.32 Die weitere Folgerung muss lauten, dass (Vergütungs-)Ansprüche, die als Folge von Maßnahmen der Mittelverwendung im laufenden Geschäftsbetrieb entstehen, von vornherein aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift herausfallen. Die Gläubiger „schwebender“ Kreditzins-, Mietzins- oder Lohnverpflichtungen erwerben bei der Gesellschaft keine Kapitalposition, an die ein kapitalorientierter Gläubigerschutz anknüpfen könnte. Stattdessen verbucht die Gesellschaft ihre jeweiligen Teilleistungen, nachdem sie erbracht sind, als Aufwand, also als Vermögensminderung. Ihre Vermögens-, Finanz- und Ertragslage verändert sich m.a.W. nicht durch den Abschluss der Langzeitverträge, sondern erst durch die daraufhin vollzogenen Erfüllungsgeschäfte und -vorgänge.33 Ein anzuerkennendes Sicherungsinteresse des Kredit-, Vermie28 Sethe in GroßKomm AktG, 4. Aufl. 2012, § 225 Rn. 20 ff.; Oechsler in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2015, § 225 Rn. 9; J. Vetter in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 58 Rn. 122. 29 Ekkenga in FS Krieger, 2020, 235, 239 ff. 30 Ekkenga in FS Krieger, 2020, 235, 243 ff. 31 So auch für das Verhältnis von Kapitalaufbringung und – erhaltung BGHZ 174, 370 (Tz. 10). 32 Ekkenga in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 30 Rn. 12 f. zur GmbH. 33 Allgemein zum Verbot der Bilanzierung schwebender Geschäfte statt anderer Schubert in BeckBilKomm, 12. Aufl. 2020, § 249 HGB Rn. 57 f. Zu gewissen Abgrenzungsschwierigkeiten in Sonderfällen, namentlich zur buchhalterischen Unterscheidung von
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ter- oder Arbeitnehmer-Gläubigers besteht weder vor noch nach dem Erfassungszeitpunkt, weil Leistungsverpflichtung und -erfüllung – ähnlich wie bei einer Naturalobligation im bürgerlich-rechtlichen Sinne – stets zusammenfallen.
Erschwerend kommt hinzu, dass die h.M. neben dem persönlichen auch noch den sachlichen Schutzbereich des Kapitalschutzes überdehnt, indem sie schwebende Teilforderungen ohne Rücksicht darauf, ob ihnen Gegenansprüche im offenen Leistungsaustausch gegenüberstehen, mit ihrem Bruttobetrag in Anrechnung bringt. Dass solche Leistungen im Regelfall gem. § 320 BGB Zug um Zug abzuwickeln sind, wird kurzerhand für irrelevant erklärt.34 Ausgeblendet wird damit zugleich ein Teil der wirtschaftlichen Realität. Denn die Synchronizität des Leistungsaustausches bei Kredit-, Miet- und Arbeitsverträgen bringt es mit sich, dass jedem Aufwand im vorbeschriebenen Sinne ein Ertrag der Gesellschaft gegenübersteht. Er manifestiert sich bei ihr als Kreditnehmerin, Mieterin oder Arbeitgeberin im laufenden Umsatzgeschäft oder als Wertschöpfung im Unternehmen, abzulesen an den Ergebnissen ihrer internen Rechnungslegung.35 Aus Kredit-, Mietzins- und Lohnverpflichtungen werden „Kosten“, aus den damit erworbenen Ressourcen werden „Leistungen“ im Sinne der innerbetrieblichen Kosten- und Leistungsrechnung. Für beide Komponenten gilt nach GoB eine Äquivalenzvermutung, so dass sich jeder Gedanke an eine Erhöhung des Sicherungsbedarfs – und damit an die Erzeugung von Sicherheitsinteressen – erübrigt.36 Aber selbst wenn das schwebende Austauschgeschäft nach den Umständen voraussichtlich mit einem Verlust enden wird und sich die Kapitalstruktur der Gesellschaft daraufhin aufgrund einer Drohverlustrückstellung gem. § 249 Abs. 1 S. 1 HGB verschlechtert, ist die Garantiefunktion des Grund- oder Stammkapitals nicht tangiert, denn der „Kapitalerhaltungsschutz“ verhindert keine verlustbedingten Vermögenseinbußen im laufenden Geschäft. Der gewinnende Teil erwirbt nach dieser Vorschrift keine Kapitalposition. Drohverlustrückstellungen sind vielmehr nichts anderes als ein antizipativer RechnungsabgrenzungsposTilgungs- und Zinsleistungen bei Annuitätendarlehen und sonstigen Durchmischungen von Rückzahlungspflichten mit Vergütungsbestandteilen s. Ekkenga in KölnKomm RechnungslegungsR, 2011, § 253 Rn. 31 ff. 34 Altmeppen in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2020, § 303 Rn. 16; Emmerich in Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 303 Rn. 13; Veil in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 303 Rn. 12; anders nur Stephan in Schmidt/Lutter AktG, 4. Aufl. 2020, § 303 Rn. 16 für den Gläubiger als Mieter und Pächter. 35 Kostenträgerrechnung als Grundlage der Leistungsrechnung, s. Ekkenga in KölnKomm RechnungslegungsR, § 255 HGB Rn. 99 ff. 36 Zum Ganzen ausführlicher und weiterführend Ekkenga in KölnKomm RechnungslegungsR, 2011, § 255 HGB Rn. 2 ff.
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ten, der als gedankliches Gegenstück zur verbotenen Abbildung künftiger Gewinne künftige Verluste aufnimmt.37 Die Frage ist von erheblicher praktischer Bedeutung; sie betrifft alle schwebenden Finanzgeschäfte mit symmetrischem Leistungsaustausch, namentlich Zins- oder Währungsswapverträge, ferner Termindirektgeschäfte sowie Optionskontrakte, die in einem börslichen Clearingverfahren „gehandelt“ werden.38 Nicht ganz so eindeutig ist die Reichweite der Sicherungspflicht aufgrund Beendigung von Unternehmensverträgen nach § 303 AktG, denn anders als beim Kapitalerhaltungsschutz geht es hier gerade auch um den Schutz der Gläubiger vor Vermögensverlusten aus dem laufenden Geschäft. Dennoch besteht kein Anlass, schwebende Teilverpflichtungen der Gesellschaft als mögliche Quelle künftiger Verluste in das Besicherungsprogramm aufzunehmen. Wenn nämlich das Gesetz die Beendigung des Unternehmensvertrages als solche anerkennt und mithin akzeptiert, dass die Konzernmutter von der Pflicht zur Versorgung der Tochter mit Verlustausgleichszahlungen fortan entbunden ist, darf die Besicherungspflicht nicht zu Ergebnissen führen, die die Entlassung der Mutter aus dieser finanziellen Vollverantwortung mehr oder weniger desavouieren. Sie darf ferner nicht dazu führen, dass der Mutter das Verlustrisiko aus jenem operativen Geschäft weiterhin aufgezwungen wird, dessen fortgesetzte Beherrschung der Mutter infolge der Beendigung eines Beherrschungsvertrages versagt ist.39 Etwas anders mag es sich bei finanzwirtschaftlichen Schwebepositionen der zuvor erwähnten Art verhalten, für die die Tochter eine Drohverlustrückstellung zu bilden hat. Hier mag die Rückbezüglichkeit der bilanziellen Erfassung, die dem Zeitpunkt der Vertragsbeendigung als Stichtag nachfolgt, in der Tat für eine Zwangsbesicherung sprechen. Der Sicherungsbedarf umfasst allerdings nicht den Bruttobetrag der gläubigerseitigen Forderungsposition, sondern beschränkt sich auf den Verlustsaldo.40 3. Zwangsbesicherung von Risikokapital ? Neben die Erkenntnis, dass die Zwangsbesicherung von Kapitalpositionen mit mehr oder weniger stark schwankenden Wertvolumina Übersicherungen zum Nachteil der Schuldnergesellschaft förmlich herausfordert (s.o. unter II., 1), tritt die rechtstatsächliche Beobachtung, dass eine kredittypi37 Imparitätsprinzip, vgl. Ekkenga Anlegerschutz, Rechnungslegung und Kapitalmarkt, 1998, 101. Das bilanzrechtliche Schrifttum äußert sich hierzu nicht mit letzter Deutlichkeit, vgl. Hennrichs in MünchKomm BilR, 1. Aufl. 2013, § 249 HGB Rn. 88 mwN. 38 Umfassende Typologie bei Ekkenga Anlegerschutz, Rechnungslegung und Kapitalmarkt, 1998, 325 ff. 39 Eingehend dazu Ekkenga in FS Krieger, 2020, 235, 237. 40 Ekkenga in FS Krieger, 2020, 235, 244.
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sche Besicherung von Kapitalpositionen, die in Märkten mit spezieller Ausrichtung für Risikokapital begründet und gehandelt werden, in bestimmten Bereichen eher verkehrsunüblich, wenn nicht gar vollkommen realitätsfern ist. Die Gründe sind vielfältig. So gibt es Märkte für ungesicherte VentureCapital-Finanzierungen gerade deshalb, weil die begünstigten Entrepreneurs in der Anschubphase gar keine Sicherungsmittel stellen können.41 Anleihen mit extrem hohem Risikokapitaleinschlag wie etwa Junk Bonds oder – im Private-Equity-Geschäft – High Yield Bonds sind gerade dann mit entsprechend hoher Zinsvergütung ausgestattet, wenn der Anleihegläubiger trotz der geringen Bonität auf die Inanspruchnahme von Sicherheiten verzichtet.42 Dem Genussscheininhaber, dessen Kapital am Verlust beteiligt ist und dem die Verlustausgleichsleistungen der Muttergesellschaft während der Laufzeit des Unternehmensvertrages nach § 302 Abs. 1 AktG nicht rechnerisch gutzubringen sind,43 dürfte in weiterer Konsequenz kaum ein Sicherungsanspruch nach § 303 Abs. 1 AktG zuzubilligen sein, wenn der Unternehmensvertrag endet und die Ausgleichsleistungen eingestellt werden. Erst recht nicht schutzbedürftig im Sinne der Vorschrift ist der (atypische) stille Gesellschafter, der aufgrund weit reichender Herrschaftsbefugnisse über das Geschehen in der Gesellschaft analog § 302 Abs. 1 AktG selbst für die Verlustdeckung verantwortlich ist.44 Unabhängig davon geschieht die Bewilligung von Risiko- oder Sanierungsfinanzierungen durch eine (atypische) stille Beteiligung nicht selten unter der Bedingung, dass der stille Gesellschafter die ertragssteuerlichen Vorteile als “Mitunternehmer” nutzen kann. Dies wiederum setzt die Übernahme eines entsprechenden Mitunternehmerrisikos voraus, mit dem sich die gleichzeitige Inanspruchnahme einer kredittypischen Sicherheit kaum vertragen dürfte.45 Vorstehende Überlegungen wenden sich vorerst nur punktuell gegen eine allumfassende Zwangsbesicherung, die sämtliche Gläubiger gleichermaßen begünstigt und die teilweise “sicherungsfeindlichen” Beweggründe ihres finanziellen Engagements bei der Gesellschaft unzulässig ausblendet. Weiter gehend soll nachstehend die These zur Diskussion gestellt werden, dass sich das System der Zwangsbesicherung mit der Inhaberschaft an eigenkapitaltypischen Positionen schon im Ansatz nicht verträgt, so dass gewinnund verlustbeteiligten Gläubigern ein entsprechender Sicherungsanspruch grundsätzlich nicht zuzubilligen ist. Begründen lässt sich das mit einer teleologischen Reduktion der aus vorgenannten Gründen viel zu weit gefass41
Kuntz Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, 45. Ekkenga Anlegerschutz, Rechnungslegung und Kapitalmarkt, 1998, 231. 43 Ekkenga/Becker Der Konzern, 2011, 593, 600. 44 Dazu Veil in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 292 Rn. 24; Ekkenga in Ekkenga Handbuch der AG-Finanzierung, 2. Aufl. 2019, Kapitel 15 Rn. 152. 45 Ausführlicher dazu zuletzt BFH DStR 2017, 2104, 2108 (Tz. 32); Bode in Blümich EStG, § 15 Rn. 350 m.w.N. 42
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ten Gläubigerschutzvorschriften. Die Belastung des Gesellschaftsvermögens mit Realsicherheiten wirkt aus der Sicht aller erfolgsbeteiligten Akteure kontraproduktiv. Mit der nachträglich erzwungenen Verwendung ihres Anlagevermögens für die Bestellung dinglicher Sicherheiten, insbesondere für Hypotheken, verliert die Gesellschaft ihren Aktionsspielraum für die Bestellung regulärer Kreditsicherheiten, was zwangsläufig eine marktlich nicht veranlasste Verteuerung künftiger Fremdfinanzierungen zur Folge hat. Nach den Erweiterungsvorschriften in §§ 1120 ff. BGB sind neben den Grundstücken weitere Vermögensbestandteile, etwa Miet- oder Pachtforderungen dinglich verstrickt. All diese Regelungen sind mit tatsächlichen oder kalkulatorischen Mehrkosten verbunden, die dem verlustbeteiligten Kapitalgeber proportional zum Nachteil gereichen. Dessen Begünstigung nach dem Realkautionsprinzip erweist sich damit als Danaergeschenk: Sein Anspruch auf Kapitalrückgewähr wird zwar gesichert, aber zugleich durch neu eröffnete Verlustquellen im Werte gemindert. 4. Keine Zwangsbesicherung bei gesellschaftergleicher Teilnahme am Insolvenzrisiko Aber selbst wenn man nicht geneigt ist, der vorstehend unterbreiteten Unverträglichkeitsthese zu folgen, sind eigenkapitaltypische Finanztitel unter bestimmten Voraussetzungen aus dem Kreis der sicherungsberechtigten Gläubiger ausgeschlossen. Darüber scheint, soweit die Frage in der Literatur überhaupt thematisiert wird, Konsens zu bestehen, wenn und soweit den Kapitalgebern in der Insolvenz der Gesellschaft nur eine nachrangige Position verliehen ist.46 Nicht begünstigt sind daher neben Gesellschaftern im Hinblick auf ihre im Rang zurückgestuften Darlehen an die Gesellschaft auch Dritte wegen ihrer „Forderungen aus Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entsprechen“ (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO). Von welchen Kriterien diese Rangrückstufung abhängt und inwieweit ein Näheverhältnis zur Mitgliedschaft bestehen muss, ist in den Details umstritten. Sinnvollerweise wird im Ansatz zwischen Nähebeziehungen zum Gesellschafter und solchen zur (Tochter-)Gesellschaft zu differenzieren sein.47 Der Ausschlussgrund der Rangrückstufung trifft dann, sofern man § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO neben § 136 InsO anwendet, entgegen § 236 Abs. 1 HGB auch den professionellen Investor, der als (atypischer) stiller Gesellschafter die Auszahlung seines Auseinandersetzungsguthabens ver46 Emmerich in Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 303 Rn. 12 im Anschluss an Habersack in FS Koppensteiner, 2001, 31, 40 f.; ebenso Deilmann in Hölters AktG, 3. Aufl. 2017, § 303 Rn. 5. 47 S. zum Ganzen Ekkenga in Ekkenga Handbuch AG-Finanzierung, 2. Aufl. 2019, Kapitel 15 Rn. 310 ff.
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langen kann.48 Aus § 199 S. 2 InsO lässt sich dagegen eine wirkungsgleiche Rangrückstufung, soweit es Drittinvestoren ohne mitgliedschaftliche Beteiligung betrifft, nicht ableiten.49
IV. Eingrenzung auf der Sicherungsebene 1. Einzelbetrachtung (iustitia regulativa sive correctiva) Der dingliche Bezug von Zwangsbesicherungen in Kapitalherabsetzungsfällen gibt Anlass zu der Frage, ob die Schuldnergesellschaft auch dann stets und uneingeschränkt mit dem vollen Leistungsrisiko zu belasten ist, wenn ihr die strikte Einhaltung des Realkautionsprinzips mangels ausreichender Ressourcen, insbesondere mangels ausreichenden Deckungsvermögens nicht möglich ist. Ist die Gesellschaft etwa ein Dienstleister, der sein Geschäft in gemieteten Filialen betreibt und über kein nennenswertes Anlagevermögen verfügt, wird das Angebot an Sicherheiten schnell erschöpft sein. Die Gesamtbelastung der Gesellschaft mit Sicherungspflichten weist insofern gewisse Parallelen zur sog. beschränkten Gattungsschuld auf: Ist der eigene Vorrat an tauglichen Sicherungsmitteln aufgebraucht, müssten sich die noch nicht bedienten Gläubiger den Einwand der Unmöglichkeit der Leistungserfüllung (§ 275 Abs. 1 BGB) entgegenhalten lassen.50 Im GmbH-Recht, das einen Sicherungsanspruch im rechtstechnischen Sinne nicht kennt,51 wäre die Befreiungswirkung aus § 58 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG im Wege der Auslegung abzuleiten. Einer Schuldbefreiung der Gesellschaft steht allerdings entgegen, dass das Gesetz für derartige Engpässe die Stellung einer Bürgschaft als Ersatzlösung vorsieht (§ 232 Abs. 2 BGB) und dass sich die AG auch selbst behelfen kann, indem sie sich durch vorzeitige Erfüllung von der Besicherungspflicht entlastet (vgl. § 271 Abs. 2 BGB).52 Das Problem verschiebt sich damit auf die Frage, ob der dafür zu entrichtende Preis – die Summe der bonitätsbedingt verteuerten Avalprovisionen bzw. die vorleistungsbedingte Belastung der Liquidität – das Maß dessen übersteigt, was das Zivilrecht dem Schuldner gem. § 275 Abs. 2 BGB noch zumutet. Die Vorschrift hat Ausnahmecharakter und ist eng auszulegen;53 ihre Bedeutung im Kontext mit den Besi48 Einzelheiten str.; eingehend Ekkenga in Ekkenga Handbuch AG-Finanzierung, 2. Aufl. 2019, Kapitel 15 Rn. 156 f. 49 Näher dazu Ekkenga in Ekkenga Handbuch AG-Finanzierung, 2. Aufl. 2019, Kapitel 15 Rn. 163 ff., 166. 50 Vgl. Ekkenga/Kuntz in Soergel BGB, 13. Aufl. 2014, § 275 Rn. 90. 51 Näher dazu J. Vetter in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 58 Rn. 83, 103. 52 Oechsler in MünchKomm AktG, § 225 Rn. 30. 53 Ekkenga/Kuntz in Soergel BGB, 13. Aufl. 2014, § 275 Rn. 128 ff.
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cherungspflichten nach § 225 Abs. 1 AktG, § 58 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG ist noch nicht ansatzweise diskutiert und wäre in einer gesonderten Abhandlung zu klären. Gegen ihre Berücksichtigung zugunsten der Gesellschaft spricht aber sicherlich, dass es an ihr liegt, die Kapitalmaßnahme zu unterlassen und damit die Entstehung der Besicherungspflicht abzuwenden. 2. Kollektivbetrachtung (iustitia distributiva) Nach einem vereinzelt gebliebenen Vorschlag von Beuthien soll sich der Gesamtumfang der Zwangsbesicherung anlässlich einer Kapitalherabsetzung auf den Kapitalherabsetzungsbetrag beschränken, so dass sich die Höhe der einzelnen Sicherungsansprüche nach dem quotalen Anteil jedes Gläubigers am so ermittelten Deckungsvermögen bestimme.54 Damit wird aber der Gedanke der konkreten Gläubigergefährdung durch Kapitalfreisetzung, auf den es gem. Abs. 3 gerade nicht ankommen soll, letztlich doch durch die Hintertür wieder eingeführt. Einleuchtend ist aber der von Beuthien unterbreitete Vorschlag, sich von der Ebene der schuldrechtlichen Individualbeziehung zu lösen und die Risikozuordnung unter Einbeziehung sämtlicher Gläubiger kollektiv vorzunehmen. Die Anwendung der Unmöglichkeitsregeln scheitert dann nicht an der Bürgschaftsoption, sondern daran, dass ein Fall der anfänglichen Unmöglichkeit vorläge, die es bei gesetzlichen Schuldverhältnissen nicht geben kann (arg. e. § 311a Abs. 1 BGB). In weiterer Konsequenz sind die Sicherungsansprüche der Gläubiger von vornherein nach der Rechtsidee der Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) anteilig zu kürzen und gem. § 420 BGB nach Befriedigungsquoten unter Wahrung des Gleichheitsgrundsatzes zu bedienen.55 Für ein solches Auslegungsergebnis spricht, dass alle nach Abs. 1 S. 1 aktivlegitimierten Gläubiger eine Risikogemeinschaft bilden, die sich bemerkbar macht, wenn die Gesellschaft zu einer vollständigen Befriedigung der Sicherungsansprüche mangels Masse nicht in der Lage ist.56 Im Vergleich zur ohnehin omnipräsenten Insolvenzgefahr ist dieses Risiko noch zusätzlich intensiviert, denn sein Ursprung geht nicht auf einzelne, in freier Entscheidung geknüpfte Geschäftsverbindungen zur Gesellschaft zurück. Vielmehr werden sämtliche Gläubigerpositionen en bloc durch ein und denselben gesetzlich definierten Anlass erschaffen. Mit diesem genuin 54 Beuthien GmbHR 2016, 729, 730 f.; dagegen die h.M. im GmbH-Recht, vgl. J. Vetter in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 58 Rn. 121 mwN. 55 Eingehend aus vertragsrechtlicher Perspektive S. Arnold Vertrag und Verteilung: Die Bedeutung der iustitia distributiva im Vertragsrecht, 2014, 284. 56 Zur Anwendung dieses Verteilungsprinzips auf gläubigerseitige Risikogemeinschaften, die sich gerade bei Vorratsschulden aus Knappheitsgründen herausbilden, s. schon RGZ 84, 125, 128 f.; 100, 134, 137; dazu s. Arnold Vertrag und Verteilung: Die Bedeutung der iustitia distributiva im Vertragsrecht, 2014, 284, 432 ff.
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angelegten Gemeinschaftselement ist ein „Windhundrennen“ nicht sonderlich gut vereinbar, in dem derjenige, der am schnellsten klagt und obsiegt, den exklusiven Zugriff auf das noch vorhandene Sicherungspotential der Gesellschaft erlangt. Das gilt umso mehr, als der „Gewinner“ dieses Rennens im Regelfall sogar eine Besserstellung im Vergleich zu seiner bisherigen Rechtsposition erlangt57 (s.o. I., 2).
V. Fazit Die Regeln über die Zwangsbesicherung gehören zur Kategorie jener Vorschriften, die nicht allzu oft praktisch umgesetzt werden und deren Wirkung sich vornehmlich in der Erschwerung oder Verhinderung strukturändernder Maßnahmen erschöpft. Das gilt in erster Linie für die Gläubigersicherung im Anschluss an Kapitalherabsetzungen, in weniger ausgeprägtem Maße aber auch für den Konzernauslaufschutz nach § 303 AktG. Entsprechend gering scheint bislang der Anlass in Judikatur und Schrifttum, sich mit der Sinnhaftigkeit dieser Regeln im Spannungsfeld zwischen Gläubigerschutz und unternehmerischer Entscheidungsfreiheit kritisch zu beschäftigen. Nennenswerte Entwicklungen sind nicht zu verzeichnen; die Diskussionen treten seit Jahrzehnten auf der Stelle. Auf diese Weise hat sich eine nicht zu leugnende Tendenz zur Überregulierung dauerhaft festgesetzt. Ihr sollte durch eine restriktive Auslegung begegnet werden, die den Sinn und Zweck der Regelungen mehr als bislang üblich in den Mittelpunkt rückt. Anhaltspunkte hierfür bieten der Begriff der jeweils zu sichernden „Forderung“ und – soweit es die Kapitalherabsetzungsvorschriften betrifft – die am Realkautionsprinzip orientierten Rechtsfolgeaussagen.
neue rechte Seite! 57 Insofern übereinstimmend Beuthien GmbHR 2016, 729, 732 mit rechtsvergleichenden Hinweisen zum schweizerischen Recht.
Treuepflicht der GmbH-Gesellsch. gegenü. Eigenbelangen „ihrer“ GmbH?
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Treuepflicht der GmbH-Gesellsch. gegenü. Eigenbelangen „ihrer“ GmbH? Lorenz Fastrich
Treuepflicht der GmbH-Gesellschafter gegenüber Eigenbelangen „ihrer“ GmbH? LORENZ FASTRICH
I. Thema Seit der Bremer-Vulkan-Entscheidung geht der II. Zivilsenat des BGH von einer Pflicht des herrschenden Gesellschafters zur angemessenen Rücksichtnahme auf die „Eigenbelange der GmbH“ aus.1 Diese Pflicht hat der Senat in der Folge unter Abänderung der Rechtsfolgen ihrer Verletzung in der Trihotel-Entscheidung zu einer Pflicht der Gesellschafter zur Respektierung der Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger während der Lebensdauer der GmbH weiterentwickelt.2 Die dem Gesellschafter solchermaßen „als Verhaltenspflicht auferlegte Rücksichtnahmepflicht“ sei als das systemimmanente normative Korrelat der Instrumentalisierung der GmbH als haftungsbegrenzende Institution zu verstehen.3 Diese Pflicht will der II. Senat bislang rein deliktsrechtlich verstanden wissen.4 Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob darin nicht zugleich und notwendig auch oder gar vorrangig eine Anerkennung einer entsprechenden Verhaltenspflicht im gesellschaftsrechtlichen Innenverhältnis liegt und welche gesellschaftsrechtliche Grundlage eine solche Pflicht gegebenenfalls haben könnte. In diesem Sinne wird zunehmend auch in der Literatur der Rückgriff auf die Sonderverbindung des Gesellschafters zu seiner Gesellschaft propagiert,5 der es erlaube, die Haftung von dem mit der deliktischen Rechtsgrundlage verbundenen Vorsatzerfordernis zu befreien.6 Dem liegt die Vorstellung 1
BGHZ 149, 10 = NJW 2001, 3622. BGHZ 173, 246 = NJW 2007, 2689. 3 BGHZ 173, 246 Rn. 25 = NJW 2007, 2689. 4 BGHZ 173, 246 LS 2 – Trihotel = NJW 2007, 2689 LS 2. 5 Fischinger Haftungsbeschränkung im Bürgerlichen Recht, 2015, 333 ff.; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 13 Rn. 126; Ziemons Die Haftung der Gesellschafter für Einflussnahmen auf die Geschäftsführung der GmbH, 1996, 97 f.; Habersack ZGR 2008, 533 (558); der Sache nach auch K. Schmidt ZIP 1988, 1497 (1505); ders. Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 19 III 1 b und § 35 I 2 d. 6 Dafür etwa Grigoleit Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, 199 f.; auch schon Zöllner in FS Konzen, 2006, 999 (1018). 2
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zugrunde, dass auch gläubigerschützende Regelungen Teil des bestehenden Sonderrechtsverhältnisses sind, auf die infolge dessen auch die Treuepflicht zwischen Gesellschafter und Gesellschaft zu erstrecken ist.7 Der folgende Beitrag geht der Frage nach, ob eine solche Treuepflicht der Gesellschafter gegenüber „ihrer“ GmbH in Bezug auf deren eigene Interessen anzuerkennen ist oder wie anders die deliktsrechtliche Lösung des BGH auf der gesellschaftsrechtlichen Ebene zu qualifizieren ist. Damit setzt der Beitrag Überlegungen fort, die an anderer Stelle nur skizziert werden konnten8 und hier unter besonderer Berücksichtigung der Treuepflicht vertieft und fortgeführt werden sollen.
II. Die sittenwidrige Schädigung der Gesellschaft durch Gesellschafter und deren Folge im gesellschaftsrechtlichen Innenverhältnis 1. Lücken im Gläubigerschutz als Problem Als die Achillesferse der Ausgestaltung des GmbHG wird seit jeher der Gläubigerschutz angesehen. So wird immer wieder hervorgehoben, dass die GmbH die Insolvenzstatistik anführt.9 Die Gründe sind komplex. Zu ihnen gehört die Attraktivität der Haftungskonzentration auf das Gesellschaftsvermögen für risikoreiche Unternehmen; zu ihnen gehört das häufig im Hinblick auf die Durststrecken einer Unternehmensgründung, aber auch auf Geschäftsumfang und Geschäftsrisiken recht geringe Eigenkapital; zu ihnen gehört nicht zuletzt aber auch die vielfach unzureichende Geschäftserfahrung der Gesellschafter und Geschäftsführer. Die damit verbundenen Gläubigerrisiken lassen sich rechtlich nur teilweise beherrschen, und auch insoweit muss die Rechtsordnung eine Abwägung zwischen Regelungsaufwand, Regelungseffizienz, Beeinträchtigung der Attraktivität und praktischer Verwendbarkeit der GmbH als Rechtsform treffen. Insofern ist der Gläubigerschutz des GmbHG von vornherein ein Kompromiss, über dessen Inhalt man streiten kann und über den seit jeher gestritten wurde. Entsprechend ist die Geschichte der GmbH an Reformvorschlägen zur Verbesserung des Gläubigerschutzes ebenso reich wie an Versuchen der Rechtsprechung, die offensichtlichsten, vom Gesetz nicht beherrschten Missbrauchsmöglichkeiten zu unterbinden und Lücken im Gläubigerschutz rechtsfortbildend zu 7 Zur Treuepflicht als Ausdruck des Sonderrechtsverhältnisses siehe nur K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 35 I 2 d. 8 Fastrich in FS K. Schmidt, 2019, 291 ff. 9 Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, § 20 Rn. 25 „notorische Insolvenzanfälligkeit“; Raiser in Habersack/Casper/Löbbe, GroßkommGmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2019, § 13 Rn. 142.
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schließen.10 Die Möglichkeiten haben sich allerdings als begrenzt erwiesen, weil einerseits die ökonomische Funktion des GmbHG einer Ausweitung des Gläubigerschutzes Grenzen setzt und andererseits das GmbHG über den in ihm verwirklichten Gläubigerschutz durch Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung hinaus auch wenig dogmatische Ansätze zu dessen Fortentwicklung bietet. Das schließt Rechtsfortbildungen zu Gunsten des Gläubigerschutzes nicht aus. Aber sie setzen nach traditioneller Methodenlehre nicht nur den Nachweis der Lücke, sondern auch eine systemgerechte Möglichkeit der Lückenschließung voraus. Was den Nachweis der Lücke betrifft, kann man dem BGH nicht vorwerfen, er hätte diese im Bereich des existenzvernichtenden Eingriffs nicht ausführlich und überzeugend dargelegt.11 Es geht um ein systemfunktionales Problem, das seit langem bekannt ist: In Fällen, in welchen der Alleingesellschafter oder die im Einvernehmen handelnden Gesellschafter ein ihr Interesse an der Gesellschaft überwiegendes anderes wirtschaftliches Interesse außerhalb der Gesellschaft haben, besteht die Gefahr, dass sie ihr Interesse an der Prosperität der Gesellschaft diesen überwiegenden Interessen opfern.12 Damit wird der vom Gesetz erwartete Interessengleichlauf der Gesellschafter und der Gläubiger an der Prosperität der Gesellschaft aufgehoben.13 Für diesen Fall sieht das Gesetz Gläubigerschutz nur im Fall der ordnungsgemäßen Liquidation vor. Dagegen fehlt es, soweit nicht auch noch in das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen eingegriffen wird,14 an gläubigerschützenden Regelungen gegen ein Gesellschafterverhalten, das durch Entnahme wertvoller Vermögenswerte der Gesellschaft diese bewusst zum Scheitern bringt. Zwar greift bei Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit die Insolvenzantragspflicht der §§ 17, 19 InsO ein. Dieser Zeitpunkt liegt jedoch zu spät und kann nicht verhindern, dass ein im Vorfeld der Insolvenz seiner Überlebensfähigkeit beraubtes Unternehmen laufend Verbindlichkeiten aufhäuft, die über den Zeitpunkt der Insolvenzantragstellung hinaus das verbliebene Kapital zu Lasten der Insolvenzmasse mindern.15 Das Stammkapitalsystem greift insoweit zu kurz.16 10 Zur Historie Fleischer GmbHR 2009, 1 (2 ff.); Thiessen in Duss/Linder/Kastl/Börner/ Hirt/Züsli (Hrsg.) Rechtstransfer in der Geschichte, 2006, 446 ff.; Fastrich in Baumbach/Hueck GmbHG, 22. Aufl. 2019, Einl. Rn. 35 ff. 11 Vgl. Röhricht in FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. I, 2000, 83 (92 ff.). 12 Röhricht in FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. I, 2000, 83. 13 Ulmer ZIP 2001, 2021 (2026); M. Winter ZGR 1994, 570 (581). 14 Zur begrenzten Effektivität dieser Regelung Röhricht in FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. I, 2000, 83 (94 f.). 15 Vgl. Röhricht in FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, 83 (95). 16 Vgl. in der wortreicheren Definition des BGH in Trihotel BGHZ 173, 246 – Trihotel = NJW 2007, 2689 (2690): missbräuchliche, zur Insolvenz der Gesellschaft führende oder
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Darüber, dass insoweit kein gewollter Freiraum des GmbHG, sondern eine planwidrige Schutzlücke vorliegt, besteht weitestgehend Einigkeit.17 Das gilt ungeachtet der durch das MoMiG eingefügten Regelung des § 64 S. 3 GmbHG, die zunächst bestätigt, dass insoweit eine zu schließende Lücke vorlag und aus deren Begründung entnommen werden kann, dass der Gesetzgeber die Lücke im Bereich der Haftung der Gesellschafter damit noch nicht für geschlossen hält.18 2. Die Unvollständigkeit der deliktsrechtlichen Lösung des BGH und die Frage nach der gesellschaftsrechtlichen Fundierung a) Deliktsrechtlicher Ansatz Die Frage, wie diese Lücke auf der Ebene der Gesellschafter zu schließen ist, hat bekanntlich eine lange Geschichte der Irrungen und Wirrungen hinter sich, und zwar sowohl auf der Tatbestands- wie auf der Rechtsfolgenseite.19 Da sich die Problematik in der Rechtsprechung vor allem in Fällen faktischer Konzerne stellte, versuchten Literatur und Rechtsprechung zunächst mit der Figur des qualifizierten faktischen Konzerns an der zugrundeliegenden Interessenkonstellation und der mit ihr typischerweise verbundenen qualifizierten Beherrschung anzusetzen und hierfür Haftungsgrundsätze zu entwickeln.20 Der Ansatz hat sich über verschiedene Zwischenstadien21 einerseits in den Voraussetzungen als zu eng, andererseits in den Rechtsfolgen als zu weitgehend erwiesen, weshalb der BGH dazu übergegangen ist, nicht mehr an die typische Konstellation des qualifizierten faktischen Konzerns anzuknüpfen, sondern an die Folgen des die GmbH schädigenden Eingriffs als solchen. diese vertiefende „kompensationslose“ Eingriffe in deren der Zweckbindung zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger dienendes Gesellschaftsvermögen. 17 BGHZ 151, 181 - KBV = NJW 2007, 2689 (2690); Röhricht in FS 50 Jahre Bundesgerichtshof 2000, Bd. I, 83 (92 ff., 97). Anders aber z.B. Ehricke AcP 199 (1999), 258 ff.; auch Grigoleit Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, 183 ff. 18 MoMiG BT-Drucksache 16/6140, 46: „Vor diesem Hintergrund beabsichtigt der Entwurf keine abschließende Regelung der Existenzvernichtungshaftung und greift demgemäß der weiteren Rechtsfortbildung nicht vor.“ 19 Ausführliche Darstellung bei Röhricht in FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. I, 2000, 83 ff.; ferner Liebscher in MünchKomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2018, Anh. § 13 Rn. 518 ff. 20 BGHZ 95, 330 – Autokran = NJW 1986, 188; Ulmer NJW 1986, 1579 (1583); zuvor schon grundlegend Arbeitskreis GmbH-Reform Thesen und Vorschläge zur GmbHReform, Bd. 2, 1972, 49 ff.; 66 ff. 21 Zu diesen Röhricht in FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. I, 2000, 83 ff.; Emmerich in Scholz GmbHG, 12. Aufl. 2018, Anh. § 13 Rn. 94.
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Mit dieser vorerst letzten Kehrtwendung hat der BGH die Lösung nun in § 826 BGB gesucht, indem er entsprechendes Verhalten als Fallgruppe der vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung dem § 826 BGB zugeordnet und als Anspruchsinhaber die geschädigte Gesellschaft bestimmt hat.22 Die Maxime heißt jetzt, der Gesellschafter oder die einvernehmlich handelnden Gesellschafter hafteten, wenn durch Entnahmen der Fortbestand der GmbH massiv gefährdet wurde, dies vorhersehbar zum Ausfall von Gläubigern geführt habe und von den Gesellschaftern mindestens bedingt vorsätzlich in Kauf genommen worden sei. Zentrale Haftungsvoraussetzung ist seither die missbräuchliche Schädigung des im Gläubigerinteresse zweckgebundenen Gesellschaftsvermögens.23 Der existenzvernichtende Eingriff in das Gesellschaftsvermögen stellt, so der BGH in Trihotel,24 einen Verstoß gegen eine Pflicht zur Respektierung der Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger während der Lebensdauer der GmbH dar; dabei sei die dem Gesellschafter solchermaßen als Verhaltenspflicht auferlegte Rücksichtnahmepflicht als das systemimmanente normative Korrelat der Instrumentalisierung der GmbH als haftungsbegrenzende Institution zu verstehen.25 Diese Verhaltenspflicht zur Respektierung der Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens besteht zwar nach Ansicht des BGH nur auf deliktischer Grundlage, die „eines selbständigen, im Wege der Rechtsfortbildung zu schaffenden gesellschaftsrechtlich fundierten Haftungsinstituts zur Schließung der durch die §§ 30, 31 GmbHG offen gelassenen Schutzlücke nicht bedarf“.26 Die Frage ist jedoch, ob sich beides trennen lässt.
22 Auch gegen diese Lösung haben sich Stimmen erhoben, die vor allem in Zweifel ziehen, dass die deliktsrechtliche Qualifizierung als Innenanspruch zwischen der Gesellschaft und ihren Gesellschaftern sachgerecht ist (zur Kritik etwa Bitter in Scholz GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 13 Rn. 156; 159 mwN). Dem soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Vielmehr wird die Lösung des BGH, an der der Senat voraussichtlich auch festhalten wird (dazu auch Kurzwelly in FS Goette, 2011, 277, 287), im Folgenden für die Frage nach den Folgen im gesellschaftsrechtlichen Innenverhältnis zugrunde gelegt. 23 BGHZ 173, 246 LS 2 – Trihotel = NJW 2007, 2689: Zur Zweckbindung schon krit. Fastrich in FS K. Schmidt, 2019, 291 (298); Zöllner in FS Konzen, 2006, 999 (1015 f.). 24 BGHZ 173, 246 Rn. 25 – Trihotel = NJW 2007, 2689. 25 BGHZ 173, 246 Rn. 25 – Trihotel = NJW 2007, 2689 im Anschluss an Zöllner in FS Konzen, 2006, 999 (1021). 26 Kurzwelly in FS Goette, 277 (283). Der BGH BGHZ 173, 246 – Trihotel = NJW 2007, 2689 LS 2 „ordnet sie – in Gestalt einer schadensersatzrechtlichen Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft – allein in § 826 BGB als eine besondere Fallgruppe der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung ein.“.
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b) Gesellschaftsrechtlicher Innenanspruch als Konsequenz des deliktsrechtlichen Innenanspruchs Der Versuch, durch das Ausweichen auf die deliktsrechtliche Ebene der Frage nach einem rechtsfortbildend zu begründenden gesellschaftsrechtlichen Innenanspruch zu entkommen, ist problematisch. Es fragt sich, ob man auf der Grundlage der Prämisse des BGH, dass die Gesellschafter eine Verhaltenspflicht zur Rücksichtnahme auf ein genuines, vom Gedanken des Gläubigerschutzes induziertes Interesse haben, der Konsequenz entkommt, dass dann folgerichtig eine solche Pflicht zur Rücksichtnahme im Innenverhältnis nicht nur deliktisch bestehen würde, sondern notwendig auch mitgliedschaftlich.27 Denn wenn der Gesellschafter seine Pflicht gegenüber der Gesellschaft vorsätzlich und sittenwidrig verletzt, dann ist kaum zu erklären, warum eine solche sittenwidrige Schädigung der Gesellschaft nicht zugleich und erst recht eine Verletzung der kraft Mitgliedschaft ohnehin bestehenden Rechtsbeziehung zwischen Gesellschafter und Gesellschaft bedeuten soll. Kann es wirklich sein, dass die Mitgliedschaftsbeziehung zwischen Gesellschafter und Gesellschaft davon unberührt bleibt, dass der Gesellschafter seine Gesellschaft deliktisch schädigt? Oder muss man nicht umgekehrt den Erst-recht-Schluss ziehen, dass die vorsätzlich sittenwidrige Schädigung der Gesellschaft vorrangig eine Verletzung des Mitgliedschaftsverhältnisses darstellt und deshalb zu gesellschaftsrechtlichen Rechtsfolgen führen muss? Allein die Vorstellung des BGH, dass er seine Lösung gewissermaßen durch richterrechtlichen Gestaltungsakt28 als besondere Fallgruppe des § 826 BGB auf das Deliktsrecht begrenzen könne, kann dafür nicht maßgebend sein. Die auf das Innenverhältnis abzielende deliktische Lösung enthält vielmehr, ob man das will oder nicht, die implizite Anerkennung einer entsprechenden Pflicht auch auf gesellschaftsrechtlicher Ebene.29 Hier zeigt sich die 27 Grigoleit AktG, 2013, § 1 Rn. 123: „Die Zuweisung der Problemlösung an das Deliktsrecht enthebt nicht von einer gesellschaftsrechtlichen Legitimation des Haftungsgrundes“; von gesellschaftsrechtlichen Implikationen geht auch Pentz in Rowedder/SchmidtLeithoff GmbHG, 6. Aufl. 2917, § 13 Rn. 126 aus; zumindest überlegend auch Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe Großkomm GmbHG, Bd. III, 2. Aufl. 2016, Anh. § 77 Rn. 115 aE. Anders aber wohl Merkt in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 13 Rn. 106, wenn dort aus der Tatsache, dass der BGH die Haftung auf § 826 BGB stützt, ohne weiteres gefolgert wird, dass darin gerade keine Anerkennung einer entsprechenden Treuepflicht im Innenverhältnis verbunden sei. Das entspricht in Bezug auf die Treuepflicht zwar iE auch der hier (unten III 3c) vertretenen Ansicht, folgt jedoch nicht daraus, dass der BGH die Existenzvernichtungshaftung auf § 826 BGB stützt. 28 BGHZ 173, 246 Rn. 25 – Trihotel = NJW 2007, 2689. 29 Zu Recht krit. insoweit auch Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2019, § 13 Rn. 46.
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Folge des auf das Innenverhältnis bezogenen deliktischen Ansatzes, der genau zu der Konsequenz führt, die der BGH offenbar vermeiden will: Zu einer denknotwendig gleichzeitig bestehenden gesellschaftsrechtlichen Pflicht im Innenverhältnis zwischen GmbH und ihren Gesellschaftern, welche letztere verpflichtet, bei Entnahmen auf das verselbständigte Vermögensinteresse der Gesellschaft Rücksicht zu nehmen. Auch die systemtheoretische Begründung selbst, die der BGH für seine Lösung anführt, ist eine solche, die das System des GmbHG und nicht das des Deliktsrechts betrifft. Hierzu ist nochmals auf die KBV-Entscheidung zu verweisen, in der es heißt: Das System der auf das Gesellschaftsvermögen beschränkten Haftung beruhe auf der unausgesprochenen, für das Recht der Kapitalgesellschaften jedoch grundlegenden Voraussetzung, dass das Gesellschaftsvermögen, das zur Erfüllung der im Namen der Gesellschaft eingegangenen Verbindlichkeiten benötigt werde, in der Gesellschaft zum Zwecke der Befriedigung ihrer Gläubiger verbleiben müsse und damit der - im Recht der GmbH im Übrigen sehr weitgehenden - Dispositionsbefugnis der Gesellschafter entzogen sei.30 Und auch in der Trihotel-Entscheidung wird die dem Gesellschafter „als Verhaltenspflicht auferlegte Rücksichtnahmepflicht“ aus dem System des GmbHG gefolgert, nämlich als das systemimmanente normative Korrelat der Instrumentalisierung der GmbH als haftungsbegrenzende Institution.31 Wenn der BGH also i.E. vom Bestehen einer haftungssanktionierten Pflicht des Gesellschafters zur Rücksichtnahme auf die Belange seiner GmbHG ausgeht, ist damit notwendig die Frage aufgeworfen, wie dies auf gesellschaftsrechtlicher Ebene dogmatisch zu qualifizieren ist. III. Lückenschließung durch Funktionserweiterung der Treuepflicht? 1. Die herkömmliche Funktion der Treuepflicht in der GmbH a) Die Treuepflicht in der Personengesellschaft als Ausgangspunkt Geht man von der ursprünglichen Herkunft des Gedankens der Treuepflicht aus dem Personengesellschaftsrecht aus, dann ist klar, dass die Treuepflicht in ihrem Ursprung eine Verhaltenspflicht der Gesellschafter in Bezug auf die Verfolgung des gemeinsamen Gesellschaftszwecks begründet.32 Der Gesellschafter muss die Wahrung seiner Interessen in der Gesell30
BGHZ 151, 181 (186) – KBV = NJW 2002, 3024 (3025). BGHZ 173, 246 Rn. 25 – Trihotel = NJW 2007, 2689. 32 Wiedemann Gesellschaftsrecht, Bd. II, 2004, § 3 II 3 a; Schäfer in MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2017, § 705 Rn. 226. 31
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schaft in einem zwar begrenzten, aber unvermeidlichen Maße der Einflusssphäre der Mitgesellschafter anvertrauen; daher muss er sich, wie schon Flume und andere hervorgehoben haben, darauf verlassen, dass die Verfolgung des gemeinsamen Zwecks die Richtschnur des Handelns aller Gesellschafter in Gesellschaftsangelegenheiten ist.33 Der Anspruch steht der Gesamtheit der Gesellschafter zu und wird im Fall der Verselbständigung der Gesellschaft von dieser selbst geltend gemacht.34 Letzteres bedeutet allerdings nicht, dass die Übertragung der Befugnis zur Geltendmachung von Ansprüchen aus der Treuepflicht dazu führt, dass Schutzobjekt nunmehr die Gesellschaft als solche in dem Sinne wäre, dass die Gesellschafter einem genuinen Interesse der Gesellschaft als solcher zu dienen hätten. Vielmehr geht es weiterhin um den Schutz der Interessen der Mitgesellschafter, so dass sich die Frage einer Treupflichtverletzung nicht stellt, wenn alle Gesellschafter einer Maßnahme zustimmen.35 Wenn also gesagt wird, dass die Treuepflicht im Bereich der Ausübung der uneigennützigen Gesellschafterrechte im Interesse der Gesellschaft wahrzunehmen sei,36 dann heißt das nichts anderes als dass es um die gemeinsamen Interessen der Gesellschafter in Bezug auf ihre Gesellschaft geht. b) Die Funktion der Treuepflicht der Gesellschafter in der GmbH Es ist seit langem anerkannt, dass die Ansprüche aus der Treuepflicht gegen die Gesellschafter, jedenfalls soweit es um die Pflicht zur Verfolgung des Gesellschaftszwecks und die damit verbundenen Loyalitätspflichten geht (sog. vertikale Treuepflicht), ab dem Zeitpunkt der Eintragung grundsätzlich der GmbH zustehen.37 Dass daneben weiterhin auch Treuepflichten der Gesellschafter untereinander (sog. horizontale Treuepflicht) bestehen können, ist spätestens seit ITT38 anerkannt, soll hier jedoch nicht weiter thematisiert werden. Der praktische Schwerpunkt liegt jedenfalls weiterhin in der Treuepflicht der Gesellschafter gegenüber ihrer GmbH.39 33 Flume Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band I, 1, Die Personengesellschaft, 1977, § 15 I (258 f.); ausführlich Wiedemann Gesellschaftsrecht, Bd. II, 2004, § 3 II 3 c; Raiser in Habersack/Casper/Löbbe Großkomm GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 14 Rn. 76. 34 Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, § 7 Rn. 6. 35 Vgl. A. Hueck OHG, 4. Aufl. 1971, § 13 II 4, wonach Konkurrenzgeschäfte keine Verstöße gegen das Wettbewerbsverbot des § 112 HGB bei der OHG darstellen, wenn die anderen Gesellschafter ihre Einwilligung geben. 36 A. Hueck Das Recht der offenen Handelsgesellschaft, 4. Aufl. § 13 I pr.; Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, § 7 Rn. 3. 37 Merkt in MünchKomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2018, § 13 Rn. 100. 38 BGHZ 65, 15 (18 f.) = NJW 1976, 191. 39 Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn. 140.
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Eine Änderung der Funktion der Treuepflicht ist damit jedoch nach ganz überwiegender Ansicht nicht verbunden.40 Diese Funktion wird, wie bei der Personengesellschaft, auch bei der GmbH dahin beschrieben, dass sie die „zivilrechtliche Reaktion auf das persönliche Zusammenwirken der Gesellschafter in der Gesellschaft“ darstellt, „welche gegenseitig aufeinander angewiesen sind und somit jeweils die Möglichkeit haben, auf die Mitgliedschaft der anderen und die damit verbundenen Interessen einzuwirken.“41 Dies zugrunde gelegt, ergeben sich daraus zwei Folgerungen: Erstens dient die Treuepflicht den auf das Zusammenwirken in der Gesellschaft gerichteten Interessen der Gesellschafter42 und nicht einem davon zu unterscheidenden Eigeninteresse der Gesellschaft als solcher; zweitens stellt die Treuepflicht eine Richtschnur zur Konfliktvermeidung und Konfliktlösung zwischen Gesellschaftern bei der Ausübung ihrer Gesellschafterrechte und -pflichten dar. Sie hat daher keinen Anwendungsbereich, wo ein solcher Konflikt nicht in Betracht kommen kann, wie bei der Einpersonengesellschaft und im Fall der einvernehmlich handelnden Gesellschaftergesamtheit.43 Diesem ganz auf den Schutz der Mitgesellschafter ausgerichteten Ansatz entspricht es ferner, dass die Treuepflicht für die Gesellschafter weitestgehend disponibel und damit, wenn auch wohl nicht insgesamt,44 so doch zumindest in ihren einzelnen Ausprägungen auch verzichtbar ist.45 Die Gesellschafter können im Gesellschaftsvertrag bestimmte Maßnahmen zulassen, welche gegebenenfalls nachteilig für die Gesellschaft sind, und sie können, soweit alle Gesellschafter damit einverstanden sind, auch ohne eine solche gesellschaftsvertragliche Regelung an sich treupflichtwidrige Maßnahmen 40
So schon Zöllner in FS Konzen, 2006, 999 (1010 f.); Pentz in Rowedder/SchmidtLeithoff GmbHG, 6. Aufl. 2917, § 13 Rn. 35: „Die strukturellen Unterschiede … veranlassen insoweit keine grundsätzlichen Abweichungen.“ A.A. aber Flume Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts I, 2, Die juristische Person, 1983, § 8 I (268). 41 So Raiser in Habersack/Casper/Löbbe Großkomm GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 14 Rn. 76; ähnlich Zöllner Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht 335 ff.; Merkt in MünchKomm GmbH, Bd. I, 3. Aufl. 2018, § 13 Rn. 88; Pentz in Rowedder/SchmidtLeithoff GmbHG, 6. Aufl. 2917, § 13 Rn. 37; siehe ferner M. Winter Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, 43 ff., 63 ff. 42 Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 13 Rn. 37. 43 Merkt in MünchKomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2018, § 13 Rn. 107; Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn. 146; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 6. Aufl. 2917, § 13 Rn. 38; i.E. auch Böhm in MünchHdB GmbH, 5. Aufl., § 32 Rn. 20. 44 Fleischer/Harzmeier NZG 2015, 1289 (1295 f.); Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 13 Rn. 38; differenzierend Seibt in Scholz GmbHG, Bd. I, 12. Aufl. 2018, § 14 Rn. 72. 45 Fleischer/Harzmeier NZG 2015, 1289 (1295 f.); Lieder in Michalski/Heidinger/ Leible/Schmidt GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn. 150; Pentz in Rowedder/SchmidtLeithoff GmbHG, 6. Aufl. 2917, § 13 Rn. 38.
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genehmigen.46 Entsprechend bleibt der Wille der Gesellschafter entscheidend für die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen Mitgesellschafter wegen Treuepflichtverletzungen im Rahmen der Geschäftsführung (§ 46 Nr. 8 GmbHG).47 Dem ausschließlichen Bezug auf die gemeinsamen Interessen der Gesellschafter entspricht es ferner, dass die Treuepflicht nach diesem Ansatz in ihrer Intensität von der mehr personalistischen oder kapitalistischen Struktur (Realstruktur) abhängig ist.48 Auch wenn daher die GmbH formal Anspruchsinhaberin der Treuepflichtansprüche gegen die Gesellschafter ist, ändert das nichts daran, dass es dabei nicht um den Schutz von genuinen und von den Interessen der Gesellschafter unabhängigen Interessen der Gesellschaft geht, sondern nach wie vor um die gemeinsamen Gesellschafterinteressen am Bestand und an der Prosperität der Gesellschaft. Ein letzter Widerhall der eigentlich gesellschafterbezogenen Zielrichtung ist die actio pro socio. Insofern lässt sich sagen, dass jedenfalls mit der herkömmlichen Funktion der Treuepflicht die vom BGH im Rahmen der Existenzvernichtungshaftung postulierte Pflicht der Gesellschafter zur Rücksichtnahme auf die Eigenbelange der GmbH49 bzw. auf die Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger50 nichts zu tun hat.51 Es ist vielmehr nach wie vor nicht nur in der Rechtsprechung,52 sondern auch in der ganz überwiegenden Ansicht im Schrifttum53 anerkannt, dass die Treuepflicht keinen vom Interesse der Gesellschafter unabhängigen Gläubigerschutz umfasst. c) Gläubigerschutz als Reflex des Gesellschafterinteresses an der Prosperität der Gesellschaft Zu einem gewissen Grad wird in diesem System Gläubigerschutz durch die in der Regel übereinstimmenden Interessen der Gesellschafter und der 46 Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn. 150. 47 Hüffer/Schürnbrand in Ulmer/Haberack/Löbbe Großkomm GmbHG, Bd. II, 2. Aufl. 2015, § 46 Rn. 104; Liebscher in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 46 Rn. 235. 48 Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, § 22 Rn. 42; Raiser in Habersack/Casper/Löbbe GroßkommGmbHG 3. Aufl. 2019, § 14 Rn. 78; Lieder in Michalski/Leidinger/Leible/J. Schmidt GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn. 155; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 6. Aufl. 2917, § 13 Rn. 40. 49 BGHZ 149, 10 = NJW 2001, 3622. 50 BGHZ 173, 246 Rn. 25 – Trihotel = NJW 2007, 2689. 51 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, 20. Aufl. 2019, § 14 Rn. 42. 52 BGHZ 119, 257 (262) = NJW 1993, 193 (194). 53 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl. 2019, § 14 Rn. 42; Merkt in MünchKomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2018, § 13 Rn. 107; Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn. 146; Böhm in MünchHdb GmbHG, 5. Aufl., § 32 Rn. 20.
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Gläubiger an der Prosperität der Gesellschaft gewährleistet.54 Dort, wo von vornherein eine solche Übereinstimmung von Gesellschafterinteresse und Gläubigerschutz nicht zu erwarten ist oder wo die Interessen der Gläubiger wegen ihrer besonderen Gefährdung nicht dem typischen Gleichlauf mit den Gesellschafterinteressen am Wohlergehen der Gesellschaft überlassen werden können, greift i.d.R. zwingendes Recht ein. Das gilt zum einen für die Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung; es gilt zum anderen aber ebenso für die Abwicklung der Liquidation und die Voraussetzungen und die Durchführung der Insolvenz. 2. Keine unmittelbare Treuepflicht gegenüber Gläubigern Dass die Treuepflicht nicht in der Weise verstanden werden kann, dass sie unmittelbar gegenüber den Gläubigern der GmbH bestünde, liegt auf der Hand. Dafür fehlt es schon an einer unmittelbaren Rechtsbeziehung zwischen Gesellschaftern und Gläubigern. Darüber besteht in Rechtsprechung wohl auch kein Zweifel, auch wenn das nicht immer ausdrücklich betont wird.55 Wollte man eine solche Rechtsbeziehung unterstellen, würde man geradezu die Rechtspersönlichkeit der GmbH leugnen und die Haftungsseparierung des § 13 II GmbH unterlaufen. 3. Erweiterung der Treuepflicht auf die Beachtung der Eigenbelange der GmbH? a) Ansätze in Literatur und Rechtsprechung Wenn die Rechtsprechung zur Existenzvernichtungshaftung von einer Verhaltenspflicht der Gesellschafter gegenüber ihrer GmbH ausgeht, die sich zumindest explizit im GmbHG nicht findet, muss man bei den möglichen Ansatzpunkten zunächst eine Erweiterung der Treuepflicht auf die Mitgliedschaftsbeziehung als solche in Betracht ziehen,56 deren Schutz dann nicht mehr auf das gemeinsame Interesse der Gesellschafter beschränkt ist, sondern ein davon zu unterscheidendes genuines Interesse der GmbH als Körperschaft umfassen müsste. Entsprechende Ansätze sind nicht neu. Sie finden sich in der Literatur ganz allgemein im Hinblick auf die durch die 54 So schon BGHZ 95, 330 (334 f.) = NJW 1986, 188 (189); Pentz in Rowedder/ Schmidt-Leithoff GmbHG, 6. Aufl. 2917, § 13 Rn. 109. 55 Explizit aber z.B. Merkt in MünchKomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2018, § 13 Rn. 107; Bitter in Scholz GmbHG. 12. Aufl. 2018, § 13 Rn. 125. 56 Dazu schon Ulmer ZHR 148 (1984), 417 f.; K. Schmidt ZIP 1988, 1497 (1505); ders. Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 35 I 2 d.; auch Weller/Discher in Bork/Schäfer GmbHG, 4. Aufl. 2019, § 13 Rn. 10 aE.
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Mitgliedschaft begründete Sonderverbindung57 oder im Besondern im Hinblick auf die Unternehmensmitbestimmung58 und den Gläubigerschutz im GmbH-Konzern.59 Dafür könnte auch sprechen, dass heute die Treuepflicht vielfach als allgemeines gesellschaftsrechtliches Prinzip60, als gesellschaftsrechtliche Generalklausel61 oder als „Sammelbezeichnung, die nur einer beispielhaften Fallgruppenbildung zugänglich ist,“62 qualifiziert wird, was, wenn man es nicht sogleich wieder auf den Bereich der unternehmensbezogenen Gesellschafterinteressen reduziert,63 die Berücksichtigung weiterer Interessen umfassen könnte. Auch wer die Treuepflicht als Beschreibung der Summe aller Pflichten der Gesellschafter gegenüber ihrer GmbH einschließlich der Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungspflichten versteht,64 wird die Beachtung der gläubigerschutzbezogenen Einschränkungen der Gesellschafterfreiheit mit der Treuepflicht in Verbindung bringen.65 Die Treuepflicht wird damit zum „Korrelat für gesteigerte Einwirkungsmöglichkeiten auf fremde Interessen“66 und die gesetzlich vorgegebenen Gläubigerschutzvorschriften zum „Minimalschutz“,67 der durch Treuepflichten nach Bedarf erweiterbar erscheint. In diesem Sinne soll die Treuepflicht einen unentbehrlichen Baustein für ein in sich stimmiges Haftungskonzept enthalten.68 57
Fischinger Haftungsbeschränkung im Bürgerlichen Recht, 2015, S. 333 ff.; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 13 Rn. 126; Ziemons Die Haftung der Gesellschafter für Einflussnahmen auf die Geschäftsführung der GmbH, 1996, 97 f.; Habersack ZGR 2008, 533 (558); der Sache nach auch K. Schmidt ZIP 1988, 1497 (1505); ders. Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 19 III 1 b und § 35 I 2 d. 58 M. Winter Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, § 7 I 3a (S. 86 ff.). 59 Ulmer ZHR 148 (1984), 391 (416 f.). 60 Wiedemann Gesellschaftsrecht, Bd. II, 2004, § 3 II 3 a; Raiser in Habersack/Casper/Löbbe Großkomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2019, § 14 Rn. 76. 61 Merkt in MünchKomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2018, § 13 Rn. 88. 62 Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn. 135. 63 So aber deutlich Raiser in Habersack/Casper/Löbbe GroßkommGmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2019, § 14 Rn. 76; Merkt in MünchKomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2018, § 13 Rn. 107, wo ausdrücklich der Gläubigerschutz als Ziel der Treuepflicht verneint wird; der Sache nach ebenso Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn. 146. 64 So der Ansatz bei M. Winter Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, § 8 III (105 ff.). 65 Ulmer ZHR 184 (1984), 418 f.; ders. ZIP 2001, 2021 (2026); Priester ZGR 1993, 512; M. Winter ZGR 1994, 570 ff.; Burgard ZIP 2002, 827 (831 ff.); Ziemons Die Haftung der Gesellschafter für Einflussnahmen auf die Geschäftsführung der GmbH, 1996, 77 f., 94 ff., 97 f.; Stöber ZIP 2013, 2295 (2297 ff.; sympathisierend wohl auch Raiser in Habersack/Casper/Löbbe Großkomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2019, § 14 Rn. 84. 66 M. Winter ZGR 1994, 570 (581). 67 M. Winter Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, § 8 II 2 a (101 f.). 68 M. Winter ZGR 1994, ZGR 1994, 570 (594).
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Selbst dort, wo an sich gesagt wird, dass etwa beim Alleingesellschafter eine Treuepflicht nicht anzuerkennen sei,69 findet sich oft die Einschränkung „jenseits von § 30 GmbHG“. Auch der II. Zivilsenat des BGH hat gelegentlich in Bezug auf den Alleingesellschafter einschränkend formuliert hat, dass „außerhalb der Gefährdung von Gläubigerinteressen“ ein von der Gesamtheit der Gesellschafterinteressen unabhängiges Gesellschaftsinteresse, dem eine Treuepflicht des Gesellschafters gegenüber der Gesellschaft Rechnung zu tragen sei, grundsätzlich nicht anzuerkennen sei.70 Das wird zwar vielfach als Absage an die Treuepflicht als Mittel des Gläubigerschutzes verstanden.71 In beiden Formulierungen scheint aber im Umkehrschluss zum Ausdruck zu kommen, dass § 30 GmbHG Ausdruck einer Treuepflicht der Gesellschafter im Bereich der Kapitalerhaltung sei, die insbesondere im Fall der Gefährdung von Gläubigerinteressen zum Zuge kommen könne. In diesem Sinne könnte man auch Aussagen des BGH im Rahmen der Entwicklung seiner Rechtsprechung zum existenzvernichtenden Eingriff deuten.72 Bereits in der Bremer Vulkan-Entscheidung hatte der BGH eine Pflicht des herrschenden Gesellschafters zur angemessenen Rücksichtnahme auf die „Eigenbelange der GmbH“73 postuliert. Dabei konnte er sich auch auf die Rechtsprechung des 1. Strafsenats des BGH berufen, der im Rahmen des Untertreuetatbestands den Geschäftsführer der GmbH, ungeachtet der Zustimmung der Gesellschafter zu der Vermögensmaßnahme, der Untreue für schuldig hält, wenn er Geschäfte durchführt oder zulässt, die gegen das Kapitalerhaltungsgebot verstoßen oder erkennbar zur Vernichtung der Existenz der Gesellschaft führen müssen. Die Zustimmung der Gesellschafter sei in einem solchen Fall – so der BGH in Strafsachen – gegenüber der GmbH treuwidrig und daher unbeachtlich.74 Daraus wird gefolgert, dass bei existenzgefährdenden Maßnahmen ein Verstoß gegen die Treuepflicht anzunehmen sei.75 In der KBV-Entscheidung lieferte der BGH dann die bereits erwähnte (oben II 2 b) systemtheoretische Begründung nach: Das System der auf das Gesellschaftsvermögen beschränkten Haftung beruhe auf der unausgesprochenen, für das Recht der Kapitalgesellschaften jedoch grundlegenden Voraussetzung, dass das Gesellschaftsvermögen, das zur Erfüllung der im Na69 So Lieder in Michalski/Leidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn. 146. 70 BGHZ 119, 257 (262) = NJW 1993, 193 (194). 71 So etwa Bitter in Scholz GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 13 Rn. 54; Merkt in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 13 Rn. 107. 72 Vgl. dazu und zum Folgenden bereits Zöllner in FS Konzen, 2006, 999 (1015). 73 BGHZ 149, 10 = NJW 2001, 3622. 74 BGHSt NJW 2000, 154 (155). 75 Merkt in MünchKomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2018, § 13 Rn. 92.
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men der Gesellschaft eingegangenen Verbindlichkeiten benötigt werde, in der Gesellschaft zum Zwecke der Befriedigung ihrer Gläubiger verbleiben müsse und damit der - im Recht der GmbH im Übrigen sehr weitgehenden - Dispositionsbefugnis der Gesellschafter entzogen sei.76 Daraus folgerte der BGH sodann in der Trihotel-Entscheidung eine Pflicht der Gesellschafter zur Respektierung der Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger während der Lebensdauer der GmbH. Die dem Gesellschafter solchermaßen „als Verhaltenspflicht auferlegte Rücksichtnahmepflicht“ sei als das systemimmanente normative Korrelat der Instrumentalisierung der GmbH als haftungsbegrenzende Institution zu verstehen.77 In Sanitary ist schließlich von einem Grundsatz eines verselbständigten Vermögensinteresses der werbenden GmbH78 die Rede. b) Das sog. Eigeninteresse der GmbH als verkappte Rechtsfortbildung Die Annahme, dass die GmbH als solche ein eigenes und von den Gesellschaftern zu beachtendes Interesse habe, ist zunächst eine Fiktion,79 die in erster Linie dazu dient, eine deliktische Haftung des Gesellschafters gegenüber „seiner“ GmbH und nicht oder nicht nur gegenüber den Gläubigern der GmbH zu begründen.80 Nach traditioneller Sicht ist die GmbH nicht nur eine Zweckschöpfung des Gesetzgebers,81 sondern im konkreten Fall eine Zweckschöpfung ihrer Gesellschafter. Das ist auch so von Gesetzes wegen gewollt. Die GmbH ist Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck.82 Die Existenzberechtigung der konkreten GmbH resultiert aus dem Willen ihrer Gesellschafter; diese können sie jederzeit auflösen und anschließend liquidieren.83 Sie können einvernehmlich den Unternehmensgegenstand ändern und Tätigkeitsbereiche aufgeben, auch wenn deren Verfolgung bis dahin wirtschaftlich vorteilhaft war. Sie sind und bleiben gewissermaßen die 76
BGHZ 151, 181 (186) – KBV = NJW 2002, 3024 (3025). BGHZ 173, 246 Rn. 25 – Trihotel = NJW 2007, 2689. 78 BGHZ 179, 344 – Sanitary = BGH NJW 2009, 2127. 79 So schon Zöllner in FS Konzen, 2006, S. 999 (1015 f.). 80 Zur hypostasierten Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens krit. bereits Zöllner in FS Konzen 2006, 999 (1015 f.); krit. auch Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, 20. Aufl. 2019, § 13 Rn. 46; Fastrich in FS K. Schmidt, 2019, 291 (298 f.). 81 Zur GmbH als Zweckgebilde der Rechtsordnung Reuter in MünchKomm BGB, 2. Aufl, Vor § 21 Rn. 1 ff.; K. Schmidt Verbandszweck und Rechtsfähigkeit im Vereinsrecht, 1984, 4 ff. Zur Kapitalgesellschaft als „Rechtsprodukt“ Windbichler in FS K. Schmidt, 2019, 673 (676 ff.). 82 Grigoleit Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, 6; vgl. auch Gehrlein NJW 2000, 1089 (1090). 83 BGHZ 151, 181 - KBV = NJW 2002, 3024; auch schon BGHZ 76, 352 (353) = NJW 1980, 1278; BGHZ 103, 184 (192) = NJW 1988, 1579 BGHZ 129, 136 (151) = NJW 1995, 1739. 77
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Herren ihrer Gesellschaft. Die GmbH hat keinen Anspruch gegen ihre Gesellschafter auf Gewährleistung ihres Bestandes.84 Sie hat als solche auch kein eigenes Interesse gegenüber ihren Gesellschaftern.85 Das Interesse der Gesellschaft ist lediglich ein konstruktiver Kunstgriff, um zu einer Innenhaftung des oder der Gesellschafter auf der deliktsrechtlichen Ebene zu kommen. In der Sache geht es um den Umfang des Gläubigerschutzes. Das zeigt folgende Überlegung: Der Gesetzgeber könnte die Kapitalbindung im Sinne der Existenzvernichtungshaftung erweitern und die Verletzung der Kapitalbindung der §§ 30, 31 GmbHG mit Schadenersatzansprüchen sanktionieren. Dann würde diese erweiterte Kapitalbindung gegenüber den Gesellschaftern gelten, ohne dass man ein Interesse der Gesellschaft an der Einhaltung der Kapitalbindung behaupten müsste. Daraus folgt, dass das System des Gläubigerschutzes in der GmbH gerade nicht darauf fußt, dass die Gesellschafter diesbezügliche Interessen der GmbH zu berücksichtigen hätten, sondern es fußt darauf, dass die Gesellschafter die Kapitalbindungsvorschriften als gesetzliche Anordnungen zu befolgen haben, hinter denen schlicht der Gedanke des Gläubigerschutzes steht. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass das System, aus dem der BGH das Eigeninteresse der GmbH ableitet, nicht das System des überkommenen GmbHG ist, sondern ein im Hinblick auf die erkannten Missbrauchsmöglichkeiten fortgebildetes System.86 Das überkommene System des GmbHG ging davon aus, dass jenseits der Schranken der Kapitalerhaltung Entnahmen ohne weitere Rücksicht auf den Gläubigerschutz zulässig waren.87 Wenn nunmehr der Gesellschafter unter den weiteren Voraussetzungen der Existenzvernichtungshaftung für Entnahmen haftet, dann liegt darin eine auch die gesellschaftsrechtliche Ebene berührende Rechtsfortbildung,88 die der BGH durch die Berufung auf das „System der beschränkten Haftung“89 und die isolierte Heranziehung des Deliktsrechts als solche nicht kenntlich macht. Die Behauptung eines entsprechenden Interesses der GmbH und die hierfür gegebene Begründung verschleiern den eigentlichen Rechtsfortbil84
BGHZ 151, 181 - KBV = NJW 2002, 3024. Ebenso Grigoleit Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, 6, 319 ff.; Bitter in Scholz GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 13 Rn. 53; im Grundsatz auch Röhricht in FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. I, 2000, 83 (103); Haas Gutachten E zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, 103: „Klar überschießende Tendenz“. 86 Grigoleit Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, 186 f.; auch Zöllner in FS Konzen, 2006, 999 (1016): „hypostasierte Regel“. 87 Grigoleit Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, 183, 185; insoweit übereinstimmend auch Fischinger Haftungsbeschränkung im Bürgerlichen Recht, 2015, 327. 88 Zutr. Grigoleit Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, 321. 89 BGHZ 151, 181 (186) – KBV = NJW 2002, 3024 (3025). 85
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dungsschritt,90 der darin besteht, das auf die Stammkapitalerhaltung begrenzte System zu erweitern. Zur Begründung dieser Rechtsfortbildung trägt die Fiktion eines Eigeninteresses der GmbH nichts bei; denn Gläubigerschutz gilt in gesetzgeberischer Abwägung mit anderen Regelungszielen nur so weit, wie dies auch der ökonomischen Funktion der GmbH entspricht. Hierbei die maßgebliche Abwägung zu treffen, ist nach wie vor primär Sache des Gesetzgebers. Dieser Vorrang wäre nicht gewahrt, wenn man von einem vorgegebenen Interesse der Gesellschaft in Bezug auf den Umfang des Gläubigerschutzes ausgehen würde. Wenn also rechtsfortbildend gerechtfertigt werden soll, dass das Gesellschaftsvermögen, das zur Erfüllung der von der Gesellschaft eingegangenen Verpflichtungen benötigt wird, wertmäßig in der Gesellschaft verbleiben muss und insoweit die Dispositionsbefugnis der Gesellschafter eingeschränkt und haftungssanktioniert ist, dann geht es um die Frage einer konkreten Erweiterung des Kapitalerhaltungssystems; und für diese Frage ist das Postulat eines Eigeninteresses der GmbH weder notwendig noch hilfreich.91 Das weiß natürlich auch der BGH. Er scheut sich aber offensichtlich, die Rechtsfortbildung im GmbH-Innenrecht offenzulegen und als solche zu begründen. Stattdessen weicht er ins Deliktsrecht aus, weil es einerseits richterlicher Vorsicht bei der Suche nach der rechtsfortbildend zu findenden Regel entspricht, einen Weg zu suchen, der ein Vorantasten in Fallgruppen ermöglicht; andererseits lässt sich auch mit der Qualifizierung eines Verhaltens als sittenwidrig leichter Konsens über die Unerlaubtheit eines Verhaltens und die damit einhergehenden Haftungsfolgen herstellen als über eine gesellschaftsrechtliche Regel, die über das bisherige System der Kapitalerhaltung hinaus geht und letztlich bedeutet, dass sich die Gesellschafter nunmehr unter drohender Haftungssanktion Gedanken darüber machen müssen, ob Entnahmen zur Insolvenz der Gesellschaft führen müssen. So verständlich daher der Versuch einer rein deliktsrechtlichen Lösung erscheint, so wenig führt er dogmatisch zum Ziel. Und er öffnet Tür und Tor für die Implementierung weiterer vermeintlicher Eigeninteressen der GmbH, bei welchen es dann nicht nur um eine gläubigerschützende Corporate Governance92 gehen könnte, sondern etwa auch um Forderungen nach einer Corporate Social Responsibilty, die auf diese Weise ohne ausreichende gesetzliche Grundlage den Gesellschaftern auferlegt werden könnte.
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I.E. übereinstimmend Grigoleit AktG, 2013, § 1 Rn. 124. Insoweit übereistimmend Grigoleit Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, 320 f.; auch schon Zöllner KölnerKomm AktG, 1. Aufl. 1985, vor § 394 Einl. Rn. 109. 92 So der Ansatz von Burgard ZIP 2002, 827 ff. 91
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c) Ablehnung einer Erstreckung der Treuepflicht auf den Gläubigerschutz in der GmbH Die vorstehend abgelehnte, aber vom BGH für die deliktsrechtliche Einschränkung der Dispositionsbefugnis der Gesellschafter über das Gesellschaftsvermögen vertretene Begründung, die Gesellschafter seien verpflichtet, die Eigenbelange der GmbH zu respektieren, scheint auf der gesellschaftsrechtlichen Ebene am einfachsten durch eine Einbeziehung dieser Eigenbelange in die Treuepflicht der Gesellschafter umzusetzen zu sein. Der Alleingesellschafter oder die einvernehmlich handelnden Gesellschafter schulden dann aus der Treuepflicht nicht nur Rücksichtnahme auf die gemeinsamen Gesellschafterinteressen am Bestand und der Prosperität der Gesellschaft, sondern auch Rücksichtnahme auf die Eigeninteressen der Gesellschaft, wie sie vom BGH im Rahmen der deliktsrechtlichen Existenzvernichtungshaftung entwickelt worden sind oder künftig noch entwickelt werden. Diese scheinbar perfekte Lösung, die allerdings der BGH selbst zu scheuen scheint, ginge jedoch weit über das hinaus, was im Rahmen richterlicher Rechtsfortbildung erreicht werden sollte, und es wäre auch mit grundlegenden Strukturelementen des GmbHG nicht vereinbar. Zunächst würde die Umsetzung der Pflicht zur Berücksichtigung der Eigeninteressen der GmbH mittels der Treuepflicht auf der gesellschaftsrechtlichen Ebene zu weit überschießende Rechtsfolgen führen. Während der BGH die Existenzvernichtungshaftung durch die Wahl der deliktischen Haftungsgrundlage des § 826 BGB auf Evidenzfälle zu begrenzen versucht, würde die Erstreckung der Treuepflicht auf die Respektierung entsprechender Eigeninteressen der GmbH zu einer gravierenden und so vom BGH nicht beabsichtigten Verschärfung der Rechtsfolgen führen, indem dann nicht nur die Haftung bereits bei jeder Fahrlässigkeit der Gesellschafter einträte (§ 276 I 1 BGB), sondern die Gesellschafter auch noch die Darlegungsund Beweislast für fehlendes Vertretenmüssen träfe (§ 280 I 2 BGB). Man mag das zwar allgemein aus Gründen einer Verstärkung des Gläubigerschutzes rechtspolitisch befürworten;93 in der Intention der auf evidente Missbrauchsfälle begrenzten Rechtsprechung des BGH liegt das jedoch ersichtlich nicht.94 Schwerer wiegt, dass eine Erstreckung der Treuepflicht auf Gesichtspunkte des Gläubigerschutzes, sei es unmittelbar, sei es mittelbar über die 93 Tendenziell Zöllner FS Konzen, 2006, 999 (1018), der eine Haftung für jede Fahrlässigkeit für angemessen hält; Habersack ZGR 2008, 553 (558); iE. auch Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 13 Rn. 126, weil nach seiner Ansicht das Vorsatzerfordernis ohnehin regelmäßig erfüllt sei. 94 IE. ebenso Haas Gutachten E zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, S. 103: „Klar überschießende Tendenz“.
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Fiktion von Eigeninteressen der GmbH, mit der Struktur des GmbHG unvereinbar wäre und mittelbar die Haftungsseparierung des § 13 II GmbH aushöhlen würde. Der Gläubigerschutz würde auf diesem Wege zu einem Abwägungstopos im Rahmen der Konkretisierung einer engen95 Generalklausel. Privatautonomie, unternehmerische Freiheit und Gläubigerschutz stehen jedoch bei der GmbH nicht in einem nach Bedarf und Einzelfall nachträglich jeweils im Wege der Interessenabwägung zu konkretisierendem beweglichem System. Die Attraktivität der GmbH fußt vielmehr gerade auf der in § 13 II GmbHG getroffenen Haftungsseparierung oder -privilegierung, die ein Essentiale der Verwendbarkeit der Rechtsform im Wirtschaftsverkehr darstellt. Dieses Essentiale würde jedoch entwertet, wenn die Gesellschafter zwar nicht im Wege des Durchgriffs, wohl aber im Wege der Innenhaftung nicht sicher sein können, ob die Haftungsseparierung hält, was sie verspricht. Die notwendige Rechtssicherheit würde fehlen, wenn erst durch nachträgliche Abwägungsentscheidung – und sei es auch im Wege der Bildung von Fallgruppen – geklärt wird, ob der oder die Gesellschafter haften oder nicht. Dies dürfte auch einer der wesentlichen Gesichtspunkte sein, aus denen der BGH die Grundlage seiner Rechtsprechung zur Existenzvernichtungshaftung allein im Deliktsrecht sehen will. Vielmehr entspricht es der Statik des GmbHG, dass die Beschränkung der Gesellschafterfreiheit durch Gläubigerschutz grundsätzlich durch zwingendes Gesetzesrecht zu erfolgen hat.96 Das mit der Ausweitung der Treuepflicht auf genuine Belange der GmbH verbundenen Abwägungsmodell würde diese „Statik“ des GmbHG missachten. Die Abgrenzung von Gesellschafterfreiheit und Gläubigerschutz erfolgt dort nicht in einem Abwägungsmodell, bei dem das Maß des Gläubigerschutzes nach den jeweiligen Vorstellungen von einem „richtigen“ Verhältnis der Gesellschafterrechte und -pflichten von der Rechtsprechung konkretisiert wird. Vielmehr werden die der Dispositionsfreiheit der Gesellschafter durch den Gläubigerschutz gezogene Grenzen durch gesetztes Recht gezogen. Würde man dagegen den Gläubigerschutz in den Anwendungsbereich der Treuepflicht einbeziehen, erschienen etwa die gesetzlichen Regeln der Kapitalerhaltung dann nicht als dessen Grundlage, sondern als dessen Einschränkung.97 Das 95 Damit soll eine Generalklausel bezeichnet werden, welche die Handlungsfreiheit im Hinblick auf ein vorgegebenes Ziel begrenzt und nicht, wie die deliktische Generalklausel des § 826 BGB, erst im Fall der Sittenwidrigkeit oder des Rechtsmissbrauchs. 96 Vgl. Haas Gutachten E zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, 103: „systemimmanent im Zusammenhang mit den konkreten Gläubigerschutzvorschriften“; Grigoleit, Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, 16: System gesetzlicher Normativbestimmungen, Grundsatz der Positivierung des Gläubigerschutzes. 97 In diesem Sinne aber wohl K. Schmidt ZIP 1988, 1497 (1506): positives Recht als negativer Hinweis auf die Grenzen der Haftung.
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passt ersichtlich nicht zum System des GmbHG. Ob es rechtspolitisch wünschenswert sein könnte, ist im vorliegenden Zusammenhang nicht zu entscheiden; denn jedenfalls würde ein solcher stillschweigender Systemumbau alle Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung sprengen. Daher erfordert die vom BGH deliktsrechtlich behauptete Vermögensverletzung auf der gesellschaftsrechtlichen Ebene den Nachweis, dass – in Ergänzung des gesetzlich vorgegebenen Gläubigerschutzes – das GmbHRecht um eine Norm erweitert werden kann und muss, die über die Insolvenzantragspflicht der §§ 17, 19 InsO und das Anfechtungsrechts des § 133 I InsO hinaus verlangt, dass den Gesellschaftern Entnahmen verboten sind, die erkennbar zum Zusammenbruch der Gesellschaft führen müssen. Diese Norm kann auf dem Boden des GmbHG keine Generalklausel sein. Der Gesetzgeber des GmbHG hat bewusst keinen lückenlosen Gläubigerschutz vorgesehen, sondern mit der Ablehnung des strengeren Regimes des AktG Defizite im Gläubigerschutz hingenommen. Das war von Anfang an so, als man die GmbH auch mit Blick auf die als Kolonialgesellschaft konkurrierende englische Limited konzipierte.98 Und die Begrenzung des Gläubigerschutzes entspricht auch heute noch dem Willen des Gesetzgebers, wie sich aus der partiellen Rücknahme von Optimierungsversuchen der Rechtsprechung und der Einführung der Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) in erneuter Konkurrenz zur englischen Limited durch das MoMiG gezeigt hat. Damit wäre die Einbeziehung des Gläubigerschutzes in den Anwendungsbereich einer engen Generalklausel unvereinbar. Die zuvor erwähnte Statik des GmbHG würde im Kern verändert, wenn man die Gesellschafter über die Einbeziehung des Gläubigerschutzes in eine engmaschige Generalklausel zur laufenden Beachtung mittelbarer Gläubigerinteressen verpflichten würde. Es ist auszuschließen, dass der Gesetzgeber des GmbHG bei Kenntnis der hier interessierenden, gewiss schwerwiegenden Lücke einer Regelung zugestimmt hätte, die §§ 30, 31 GmbHG um eine Generalklausel des Inhalts ergänzt, dass sich im Übrigen die Pflichten der Gesellschafter im Hinblick auf den Gläubigerschutz nach den Grundsätzen der Treuepflicht und dem Mitgliedschaftsverhältnis richten. Es ist daher weiterhin mit der h.M. in der Literatur davon auszugehen, dass die Treuepflicht der Gesellschafter gegenüber „ihrer“ GmbH nicht auf dem Umweg über ein angebliches Interesse der GmbH an der Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegenüber ihren Gläubigern einen vom Interesse der Gesellschafter unabhängigen Gläubigerschutz umfasst.99 In diesem Sinne hat 98
Dazu Fleischer in MünchKomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2018, Einl. Rn. 50 ff. mwN. Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, 20. Aufl. 2019, § 14 Rn. 42; Merkt in MünchKomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2018, § 13 Rn. 106, 107; Bitter in Scholz GmbHG, Bd. I, 12. Aufl. 2018, § 13 Rn. 54; Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt GmbHG, 99
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jüngst auch der IX. Zivilsenat des BGH betont, dass die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht der Gesellschafter weder dem Schutz der Insolvenzgläubiger noch der Masse diene.100
IV. Der gesellschaftsrechtliche Innenanspruch als konkrete Ergänzung des Kapitalerhaltungssystems 1. Erweiterung des Systems der Kapitalbindung Wenn man rechtsfortbildend das überkommene System um den Gedanken erweitert, dass das zur Erfüllung der im Namen der Gesellschaft eingegangenen Verbindlichkeiten benötigte Vermögen, in der Gesellschaft zum Zwecke der Befriedigung ihrer Gläubiger verbleiben und dass deshalb die Dispositionsbefugnis der Gesellschafter weiter als bis dahin anerkannt begrenzt werden müsse, stellt sich die Frage, wie dieses Postulat anders als über eine Erweiterung der Treuepflicht rechtsfortbildend umzusetzen ist. Es liegt auf der Hand, dass das überkommene GmbHG dafür keinen unmittelbaren Ansatzpunkt bieten kann, weil es eben von einem anderen, begrenzteren Systemverständnis ausging. Und so war das Kapitalerhaltungssystem auch aus seiner Sicht kein Minimalschutz101 oder Basisschutzkonzept,102 sondern es wurde erst durch die rechtsfortbildende Anerkennung der in der Existenzvernichtungshaftung liegenden begrenzten Solvenzverantwortlichkeit der Gesellschafter partiell zu einem solchen. Wenn man mit der hier vertretenen Ansicht die Treuepflicht als dogmatische Grundlage für die rechtsfortbildende Umsetzung der Existenzvernichtungshaftung im gesellschaftsrechtlichen Innenverhältnis ablehnt, ergeben sich zwei Möglichkeiten: 2. Allgemeine Mitgliedschaftspflicht als Grundlage? Zunächst kann es sich bei dem der Existenzvernichtungshaftung zugrunde liegenden Entnahmeverbot gesellschaftsrechtlich um eine rechtsfortbildend entwickelte allgemeine Mitgliedschaftspflicht handeln, auf deren Wahrung sich zwar die Treuepflicht nicht erstreckt, deren Verletzung aber die allgemeinen Folgen einer Pflichtverletzung im Bereich von SonderrechtsBd. I, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn. 146; Böhm in MünchHdb GmbHG, 5. Aufl. 2018, § 32 Rn. 20. 100 BGH NJW 2019, 1289 Rn. 21. 101 Anders aber M. Winter Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, § 8 II 2 a (101 f.). 102 So aber BGHZ 173, 246 Rn. 28, 35 – Trihotel = NJW 2007, 2689; Kurzwelly in FS Goette 2011, 277 (282, 284).
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verhältnissen nach sich zieht.103 Der Nachteil einer solchen Sicht ist es, dass sie, insoweit wie die Lösung über die Treuepflicht, nahezu unvermeidlich wiederum weit über die auf Vorsatz begrenzte Existenzvernichtungshaftung des BGH hinausginge und über § 276 I 1 BGB zur Haftung im Fall einfacher Fahrlässigkeit sowie zur Anwendung der Verschuldensvermutung des § 280 I 2 BGB führte. Aus dieser Sicht muss dann die bestehende gesetzliche Regelung im Hinblick auf das Fehlen einer gesetzlichen Haftung für fahrlässige Verletzungen in § 30 GmbHG als gesetzgeberische Einschränkung des Gläubigerschutzes erscheinen und nicht, wie hier vertreten, als dessen Grundlage.104 Es ist daher fraglich, ob man den Gläubigerschutz auf diese Weise mit den sonstigen Mitgliedschaftspflichten im Rahmen eines Sonderrechtsverhältnisses gleichstellen kann. Dem liegt wohl einmal mehr die Vorstellung von dem zu wahrenden Eigeninteresse der Gesellschaft zugrunde, das die Gesellschafter zu respektieren haben. Lehnt man diese Lösung ab, weil der Gläubigerschutz eben kein Anliegen der Gesellschaft als solcher darstellt, sondern in Umfang und Grenzen gesetzgeberisch vorgegeben wird (oben III 3 b), dann ergibt sich, dass die Sonderrechtsbeziehung zwischen Gesellschafter und seiner GmbH den Gläubigerschutz nicht umfasst. 3. Ergänzung des gesetzlichen Kapitalerhaltungssystems in Anknüpfung an die §§ 30, 31 GmbHG Sieht man, dass Gläubigerschutz im System der GmbH grundsätzlich durch konkrete gesetzliche Normen vorgegeben wird und daher auch nur so weit reicht, wie die gesetzliche Vorgabe, dann lässt sich die Existenzvernichtungshaftung einschließlich ihrer Begrenzung auf vorsätzliches Handeln nur als rechtsfortbildende Erweiterung des bestehenden Kapitalerhaltungssystems erfassen.105 Das bedeutet, dass in Anknüpfung an das System der Kapitalerhaltung der §§ 30, 31 GmbHG der Rechtssatz zu formulieren ist, der als solcher im Grundgedanken der deliktsrechtlichen Haftung wegen Existenzvernichtung in der Rechtsprechung des BGH steckt.
103 Zu diesen K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 19 III 3; Fischinger Haftungsbeschränkung im Bürgerlichen Recht, 2015, 329 ff. 104 In diesem Sinne aber wohl K. Schmidt ZIP 1988, 1497 (1506): positives Recht als negativer Hinweis auf die Grenzen der Haftung. 105 Für diese systematische Einordnung auch Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 6. Aufl. 2917, § 13 Rn. 109 aE. Auch der BGH sieht in der Existenzvernichtungshaftung eine das Kapitalschutzsystem der GmbH ergänzende Fallgruppe (BGHZ 220, 179 = NJW 2019, 589; BGHZ 175, 12 Rn. 27 – Kolpingwerk = NZG 2008, 670). Eine erweiternde Auslegung der §§ 30, 31 GmbHG, wie in der Lit. vorgeschlagen (Ulmer in FS Pfeiffer, 1988, 853 (868 f.), genügt dafür nicht.
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Dabei ist es nicht zwingend, von einer neuen gesellschaftsrechtlichen Theorie106 auszugehen, in die sich gesellschaftsrechtlich deduktiv die Existenzvernichtungshaftung einordnen lässt. Solche Theorien neigen immer zu Weiterungen, die bislang nicht anerkannt sind und deren rechtsfortbildende Umsetzung durch die Rechtsprechung in die Kompetenz des Gesetzgebers eingreifen würde. Vielmehr erscheint es auch möglich, induktiv vom derzeitigen Erkenntnisstand der Existenzvernichtungshaftung auszugehen, wie ihn der BGH seit Trihotel entwickelt hat,107 und diesen Erkenntnisstand schlicht auf die gesellschaftsrechtliche Ebene zu projizieren. Denn wenn ein Eingriff in das Gesellschaftsvermögen deliktsrechtlich eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Gesellschaft darstellt, dann muss das Gesellschafterverhalten auch auf der gesellschaftsrechtlichen Ebene unzulässig sein. Danach enthält die Existenzvernichtungshaftung implizit auf der gesellschaftsrechtlichen Ebene den gesetzesvertretend entwickelten Rechtssatz, dass der Gesellschafter für den durch vorsätzlichen missbräuchlichen, zur Insolvenz der GmbH führenden oder diese vertiefenden kompensationslosen Eingriff in das Gesellschaftsvermögen verursachten Schaden haftet. Auf dieser Grundlage könnte man versuchen, den Stand der Rechtsfortbildung in Anlehnung an die Systematik der §§ 30, 31 GmbH gesellschaftsrechtlich dahin umzuformulieren, dass in Ergänzung der Ausschüttungssperre des § 30 GmbHG Ausschüttungen und andere betriebsfremde Eingriffe in das Gesellschaftsvermögen durch die Gesellschafter auch verboten sind, wenn sie offensichtlich zur Insolvenz der Gesellschaft führen müssen oder eine bereits eingetretene Insolvenz vertiefen. Die Schadenersatzpflicht bestünde dann in Ergänzung des § 31 GmbHG als Rechtsfolge eines vorsätzlichen Verstoßes gegen das Verbot von Ausschüttungen und von anderen betriebsfremden Eingriffen, die offensichtlich zur Insolvenz der Gesellschaft führen oder diese vertiefen müssen und wäre begrenzt auf die Höhe des durch den unzulässigen Eingriff verursachten Schadens. Eine solche Umformung ginge zwar scheinbar über die bisherigen, von der deliktsrechtlichen Anspruchsgrundlage her entwickelten Erkenntnisse hinaus; man muss aber sehen, dass etwa das zusätzliche Merkmal der Sittenwidrigkeit an Bedeutung verliert, wenn man akzeptiert, dass sich die Ausfüllung des Begriffs der Sittenwidrigkeit ohnehin nicht ohne Blick auf das Gesellschaftsrecht definieren lässt.108 Auch ist nach der Trihotel-Rechtsprechung in aller Regel schon der planmäßige Entzug von Gesellschaftsvermögen im Sinne der Verringerung der Zugriffsmasse zu Lasten der Gläubiger und zum eige106 Ansätze dazu etwa bei Grigoleit Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006; Fischinger Haftungsbeschränkung im Bürgerlichen Recht, 2015. 107 BGHZ 173, 246 – Trihotel = NJW 2007, 2689; BGHZ 176, 204 – Gamma = NJW 2008, 2437; BGHZ 179, 344 – Sanitary = NJW 2009, 2127; BGHZ 220, 179 = NJW 2019, 589. 108 Ebenso Grigoleit AktG, 2013, § 1 Rn. 123.
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nen Vorteil des Gesellschafters sittenwidrig,109 so dass es auf gesellschaftsrechtliche Ebene des Zusatzkriteriums der Sittenwidrigkeit wohl kaum bedarf. Zumindest deutet sich in der gesellschaftsrechtlichen Umformulierung die Richtung an, in die die weitere Entwicklung gehen könnte. Das gilt auch für die Aufteilung der Entnahmesperre in ein Verbot, dessen Verletzung zunächst nur zur Rückzahlung verpflichtet,110 und einen vorsatzabhängigen Schadenersatzanspruch, die es erlaubt, einen Zusammenhang mit der Haftung der Geschäftsführer herzustellen. Daraus folgt nicht notwendig, dass damit die diesbezügliche Rechtsfortbildung bereits abgeschlossen sein muss; denn es gilt zwar, dass etwas, das sich auf deliktsrechtlicher Ebene im Innenverhältnis als vorsätzlich sittenwidrige Schädigung darstellt, auf gesellschaftsrechtlicher Ebene nicht erlaubt sein kann. Es gilt aber nicht umgekehrt: Gesellschaftsrechtlich kann sehr viel mehr unzulässig sein als das, was deliktsrechtlich als vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Gesellschaft zu qualifizieren ist. Zwischen der hier abgelehnten Haftung für jede Fahrlässigkeit und der auf vorsätzliche Herbeiführung oder Vertiefung der Insolvenz begrenzten Haftung als Spiegelbild der deliktischen Haftung sind weitere abgestufte Beschränkungen des Vermögensentzugs zu Lasten der Gesellschaft denkbar. Ihre gesellschaftsrechtliche Implantation in das GmbHG im Wege der Rechtsfortbildung würde allerdings voraussetzen, dass sich aus dem Fallmaterial ein wirklich zwingender Grund zu einer weiteren Abstufung ergäbe; denn grundsätzlich bleibt es im Rahmen des Systems des GmbHG, bei dem der Gläubigerschutz durch konkrete gesetzliche Vorschriften geregelt ist, der Entscheidung des Gesetzgebers vorbehalten, wie er den Gläubigerschutz in Abwägung mit der ökonomischen Funktion des GmbHG ausgestalten will.
V. Ergebnis und Ausblick Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass die Treuepflicht der Gesellschafter gegenüber ihrer Gesellschaft im GmbHG keinen geeigneten Ansatz zur Verbesserung des Gläubigerschutzes enthält, soweit dieser nicht mit den Gesellschafterinteressen an der Prosperität der Gesellschaft zusammenfällt. Insoweit ist auch die deliktsrechtliche Lösung des BGH, soweit sie sich auf ein von den Gesellschaftern zu beachtendes Eigeninteresse der GmbH stützt, auf gesellschaftsrechtlicher Ebene kein geeigneter Ansatz109 BGHZ 173, 246 Rn. 22, 28 – Trihotel = NJW 2007, 2689. Dazu, dass das Merkmal der Sittenwidrigkeit in der Regel schon durch die mindestens bedingt vorsätzliche Insolvenzverursachung gegeben ist Liebscher in MünchKomm GmbHG, Bd. I, 3. Aufl. 2018, Anh. § 13 Rn. 567; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 13 Rn. 39; Kurzwelly in FS Goette, 2011, 277 (283). 110 Wiedemann in FS Lüer, 2009, 338 (342).
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punkt für entsprechende generalklauselartige Gesellschafterpflichten, sei es unter dem Gesichtspunkt der Treuepflicht oder des Mitgliedschaftsverhältnisses. Andererseits hat sich gezeigt, dass die deliktsrechtliche Lösung des BGH, wenn sie auf das Innenverhältnis zwischen Gesellschafter und Gesellschaft bezogen sein soll, eine gesellschaftsrechtliche Haftung im Innenverhältnis denknotwendig voraussetzt. Diese enthält eine rechtsfortbildende Ergänzung des Systems der Kapitalerhaltung um das haftungssanktionierte Verbot der vorsätzlichen Herbeiführung oder Vertiefung der Insolvenz durch Entnahmen und entspricht in ihrer rechtlichen Struktur einem konkreten Rechtssatz, der sich einstweilen noch in Entwicklung befindet und wie ein Schatten den Erkenntnissen folgt, die der BGH im Rahmen seines deliktsrechtlichen Ansatzes gewinnt. Dass der gesellschaftsrechtliche Rechtssatz über den Umweg über das Deliktsrecht entwickelt wird, hat seinen Grund in richterlicher Vorsicht, da § 826 BGB die Möglichkeit bietet, zunächst anhand von Evidenzfällen die notwendige Systemergänzung im Bereich des Gläubigerschutzes zu versuchen. Erst wenn auf diesem Wege ausreichende Sicherheit geschaffen ist, kann dann in weiteren Schritten auf gesellschaftsrechtlicher Ebene geprüft werden, ob hinsichtlich der Rechtsfolgen noch weiter zu differenzieren ist, etwa in dem Sinne, dass für den Fall der nicht vorsätzlichen Herbeiführung der Insolvenz durch Eingriff in das Vermögen der Gesellschaft zumindest eine Erstattungspflicht in Anlehnung an die Regelung der §§ 30, 31 GmbHG das Alles-oder-Nichts-Prinzip der Vorsatzhaftung auflockern könnte. Ob solche weiteren Ausdifferenzierungen allerdings noch von der Rechtsfortbildungskompetenz umfasst sind oder gegebenenfalls dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben müssen, wird sich erst auf der Grundlage des diesbezüglichen Fallmaterials sagen lassen.
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Das Gesellschaftsrecht in den Institutionen des Gaius
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Das Gesellschaftsrecht in den Institutionen des Gaius Andreas Martin Fleckner
Das Gesellschaftsrecht in den Institutionen des Gaius ANDREAS MARTIN FLECKNER
Christine Windbichler hat Generationen von Studierenden im Gesellschaftsrecht unterrichtet und mehrere Auflagen des bis heute langlebigsten Lehrbuches zum deutschen Gesellschaftsrecht übernommen.1 Gleichzeitig steht sie als Wissenschaftlerin wie nur wenige andere ihres Faches für Intraund Interdisziplinarität, also für das Überschreiten der gängigen Fächergrenzen und die Einbeziehung zusätzlicher, insbesondere ökonomischer und rechtsvergleichender Erkenntnisquellen.2 Es wird daher hoffentlich auf das Interesse der Jubilarin und ihrer Festgemeinde stoßen, ein wenig darüber zu lesen, was in dem einflussreichsten Lehrbuch des klassischen römischen Rechts, den „Institutionen“ des Gaius, über das Gesellschaftsrecht zu erfahren ist – ein Thema, das im Niemandsland zwischen römischem Sozietätsrecht einerseits und heutigem Gesellschaftsrecht andererseits liegt und deshalb noch niemals Gegenstand einer eigenständigen Untersuchung gewesen ist.3 Zunächst werden die Institutionen sowie ihr Verfasser, Gaius, kurz einem breiteren Publikum vorgestellt (I.). Hierauf folgt ein Überblick über diejenigen Bemerkungen, die sich aus heutiger Sicht als gesellschaftsrechtlich verstehen lassen, nämlich die Passagen zur societas (II.). Den Abschluss bilden drei ausgewählte Regelungsprobleme, die den Kreis zu den Schwerpunkten der Jubilarin in Forschung und Lehre schließen (III.).
1
G. Hueck/Windbichler Gesellschaftsrecht, 20. Aufl. 2003 und 21. Aufl. 2008 sowie Windbichler Gesellschaftsrecht, 22. Aufl. 2009, 23. Aufl. 2013 und 24. Aufl. 2017, alle zurückgehend auf A. Hueck Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 1948. 2 Zahlreiche Beispiele lassen sich den Vorlesungsverzeichnissen der Humboldt-Universität entnehmen (mit Veranstaltungen u.a. zu „Comparative Corporate Governance“), außerdem den Veröffentlichungen der Jubilarin, darunter auch und gerade das Lehrbuch zum Gesellschaftsrecht (Fn. 1), in dessen Vorworten die Jubilarin die Notwendigkeit einer Verbreiterung der Erkenntnisquellen betont und im weiteren Verlauf exemplarisch aufzeigt, wie sich dies in einem Lehrbuch umsetzen lässt. 3 Sachlich und zeitlich am nächsten kommt Meincke in FS Maier-Reimer, 2010, 443–456 (über das Gesellschaftsrecht in den Institutionen von Kaiser Justinian; zu diesem Werk sogleich unter I. 1.).
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I. Die Institutionen des Gaius Bei idealer Quellenlage würde man einem breiteren Publikum typischerweise zuerst Gaius als Person vorstellen, dann die Institutionen als das hier interessierende Werk, schließlich die Wirkung von Person und Werk auf die Nachwelt. Für Gaius und seine Institutionen empfiehlt sich demgegenüber ein genau umgekehrtes Vorgehen, also von der Wirkung oder allgemeiner Rezeption (1.) über die Gestalt des Werkes (2.) zur Person (3.), da über Gaius selbst fast nichts bekannt ist und die Institutionen vergleichsweise spät wiedergefunden wurden. 1. Rezeption der Institutionen Vor gut 200 Jahren (1816) entdeckte der Historiker Barthold Georg Niebuhr (1776–1831), Professor an derselben Universität wie die Jubilarin, in Verona unter einem anderen Text eine antike Abschrift (entstanden um 500 n. Chr.) der Institutionen des Gaius (von etwa 161 n. Chr.). Dieses Ereignis, das heute als der „Glücksstern Niebuhrs“ bekannt ist, mag für das Gesellschaftsrecht wie eine Randnotiz aus den Tiefen der Romanistik wirken, war aber seinerzeit eine wissenschaftliche Sensation, von der die ganze Welt sprach.4 Auch in der Rückschau ist die Wiederentdeckung der Institutionen ein Meilenstein und in mancher Hinsicht ein Wendepunkt: Es gibt bis heute kein anderes Werk des klassischen römischen Rechts, das auch nur annähernd so umfangreich überliefert ist wie die Institutionen des Gaius in der Veroneser Handschrift.5 Dass es von einem Autor namens „Gaius“ ein Werk mit dem Titel „Institutiones“ gegeben hat, war allerdings schon vor Niebuhrs Jahrtausendfund bekannt, denn das Werk wird in anderen antiken Quellen erwähnt oder verarbeitet.6 Am einflussreichsten waren die beiden Rezeptionsvorgänge unter 4 Unter den zeitgenössischen Beiträgen z.B. Savigny ZfgR 3 (1817), 129–172 (das Heft mit diesem Aufsatz ist bereits 1816 erschienen); in demselben Band finden sich weitere Reaktionen insb. von Hugo (289–297), Heise (297–304) und nochmals Savigny (305–308). 5 Über die Entdeckung der Gaius-Abschrift aus heutiger Sicht insb. Vano Il nostro autentico Gaio, 2000 (dt.: Der Gaius der Historischen Rechtsschule, 2008); Briguglio Il Codice Veronese in trasparenza, 2012; Varvaro Le Istituzioni di Gaio e il Glücksstern di Niebuhr, 2012 (dt.: Der „Glücksstern“ Niebuhrs und die Institutionen des Gaius, 2. Aufl. 2014); Briguglio La prima trascrizione delle Istituzioni di Gaio, 2013. Aus der lebhaften Diskussion der letzten Jahre außerdem z.B. Varvaro ZRG RA 128 (2011), 239–262; Briguglio ZRG RA 128 (2011), 263–297; Varvaro TR 80 (2012), 171–209; Castro Sáenz SDHI 79 (2013), 627–652; Manthe AUPA 57 (2014), 353–382; Bock ZRG RA 134 (2017), 535– 538; Varvaro ZRG RA 135 (2018), 619–628. 6 Überblick zur antiken Rezeption z.B. bei Wieacker Römische Rechtsgeschichte, Band I, 1988, 131 f. und Band II (aus dem Nachlass hrsg. von Wolf), 2006, 113; detailliert Nelson Überlieferung, Aufbau und Stil von Gai Institutiones, 1981, 80–293.
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Kaiser Justinian (ca. 482–565): Justinians eigene Institutionen (533 n. Chr.), die heute den ersten Teil des „Corpus Iuris Civilis“ bilden, basieren auf den Institutionen des Gaius und sind in vielerlei Hinsicht eine aktualisierte Ausgabe (deren genaue Gleichförmigkeit bzw. Unterschiedlichkeit sich erst seit dem Auffinden der Veroneser Handschrift ermessen lässt).7 Außerdem hat Justinian aus den Institutionen des Gaius eine Reihe von Passagen in die Digesten (533 n. Chr.), den zweiten Teil des Corpus Iuris Civilis,8 übernehmen lassen, so dass bereits hierdurch einige Auszüge überliefert waren (wobei sich wiederum erst mit der Veroneser Handschrift verifizieren lässt, wie sehr die Gaius-Passagen vor bzw. bei ihrer Aufnahme in die Digesten verändert wurden).9 In den letzten beiden Jahrhunderten ist nichts mehr entdeckt worden, weder für Gaius noch für andere römische Juristen, das der Veroneser Handschrift gleichkommt. Es sind aber zwei weitere Papyri mit Ausschnitten aus den Institutionen des Gaius aufgetaucht, von denen einer gerade für das Gesellschaftsrecht sehr interessant ist: eine neue Passage zur Geschichte der societas, gefunden mehr als einhundert Jahre (1933) nach Niebuhrs „Glücksstern“.10 2. Gestalt der Institutionen Wer sich heute darüber informieren möchte, welche Themen die Institutionen behandeln, muss nicht mehr nach Verona oder an die Fund- bzw. Aufbewahrungsorte der anderen beiden Gaius-Papyri reisen, sondern kann eine der unzähligen Textausgaben konsultieren, die in der Zwischenzeit erschienen sind. Für das deutsche Publikum, aber auch darüber hinaus, gibt es seit gut anderthalb Jahrzehnten eine zweisprachige Fassung, in der links der rekonstruierte Originaltext abgedruckt ist, rechts eine Übersetzung ins Deutsche.11 7 Explizit zur Entstehung die sog. Constitutio Imperatoriam vom 21.11.533, § 6 („quas ex omnibus antiquorum institutionibus et praecipue ex commentariis Gaii nostri tam institutionum quam rerum cottidianarum aliisque multis commentariis compositas“); verwendete Ausgabe: Krüger/Mommsen Corpus Iuris Civilis, Band I, 17. Aufl. 1963. Eine Übersetzung ins Deutsche findet sich bei Knütel/Kupisch/Lohsse/Rüfner Corpus Iuris Civilis – Die Institutionen, 4. Aufl. 2013. 8 Der dritte Teil des Corpus Iuris Civilis ist der sog. Codex (534 n. Chr.), eine Sammlung kaiserlicher Konstitutionen (ohne direkte Gaius-Rezeption). 9 Die aus den Institutionen des Gaius in die Digesten übernommenen Fragmente sind verzeichnet (aber ausnahmsweise nicht wiedergegeben) bei Lenel Palingenesia iuris civilis, 1889, Band I, Sp. 242 (Nr. 404–417). 10 PSI XI 1182 (vermutlich aus Antinoë/Antinoopolis, ca. 500 n. Chr.); speziell zur societas in diesem Papyrus insb. Levy ZRG RA 54 (1934), 258, 276–296 sowie de Zulueta JRS 24 (1934), 168, 182–186 und JRS 25 (1935), 19–32. Außerdem (ohne Bezug zur societas) P.Oxy. XVII 2103 (Oxyrhynchos, ca. 200 n. Chr.). 11 Gaius Institutiones – Die Institutionen des Gaius, hrsg., übersetzt und kommentiert von Manthe, 1. Aufl. 2004; 2. Aufl. 2010; 2. Aufl. (Sonderausgabe) 2015. Alle nachfolgen-
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Die Institutionen des Gaius sind ein Lehrbuch für Studienanfänger und stammen aus der Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts (um 161 n. Chr.).12 In der soeben erwähnten Ausgabe umfasst der Text 376 Seiten,13 wobei hiervon deutlich weniger als die Hälfte, also weniger als 188 Seiten, für den lateinischen Text anzusetzen ist, da die lateinischen Seiten nie vollständig bedruckt sind (was vor allem an den Schwierigkeiten liegt, den lateinischen Text ins Deutsche zu übersetzen). Entsprechend ihrem Adressatenkreis sind die Institutionen ganz überwiegend in einer leicht verständlichen, angenehm lesbaren und erfrischend unprätentiösen Prosa verfasst. Ein gewisses Rätsel ergibt sich freilich daraus, dass der Text einerseits in weiten Teilen so reif ist, wie Texte nur nach langer Überarbeitung sein können, andererseits aber zahlreiche Fehler enthält, die jedem Verfasser sofort hätten ins Auge springen müssen. Die plausibelste und heute überwiegend akzeptierte Erklärung für diesen Widerspruch ist, dass Gaius den Text – jedenfalls so, wie er uns überliefert ist – anknüpfend an lange gereifte Vorlagen entworfen, vielleicht sogar in weiten Teilen rasch aus dem Gedächtnis „heruntergeschrieben“, aber noch nicht zum Zwecke der Publikation redigiert hat. Da es kein anderes Werk des klassischen römischen Rechts gibt, das annähernd so umfangreich überliefert ist wie die Institutionen des Gaius, hat ihre Wiederentdeckung eine produktive Flut von Monographien, Aufsätzen und sonstigen Beiträgen ausgelöst.14 Vieles hiervon ist nur für die Romanistik von Interesse, aber einiges auch für breitere Juristenkreise. Letzteres gilt insbesondere für das „System“ der Institutionen, nämlich die Gliederung der Darstellung in vier Bücher und – noch wichtiger – die Aufteilung des Rechts in drei Regelungsmaterien: Personen (personae), Sachen (res) und Klagen (actiones).15 Dieses „System“ findet sich auch in den Institutionen von Kaiser Justinian und ist von dort über die Rezeption des römischen den Verweise und Zitate (abgekürzt als „G.“, soweit sie die Institutionen betreffen, und als „Manthe“, soweit es um die Edition geht) beziehen sich auf die Sonderausgabe von 2015. Ein Verzeichnis anderer Gaius-Ausgaben findet sich ebd., 435–437. 12 Überblicke insb. bei Schulz Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, 191– 201; Liebs in Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Band IV, 1997, 187, 191 f.; Wieacker (Fn. 6), Band II, 113–115; Manthe (Fn. 11), 11–13, 20 f. 13 Der zweisprachige Text reicht von 36 bis 417, unterbrochen von drei leeren Doppelseiten als Überleitung zum zweiten, dritten und vierten Buch (112/113, 218/219, 318/319). 14 Neben den soeben erwähnten Überblicken (Fn. 12) eröffnen einen Zugang zum Forschungsstand insb. David/Nelson Gai Institutionum Commentarii IV: Text, 1954/1960/ 1968 und Kommentar, 1954/1960/1968 (jeweils zu Buch I und II) sowie Nelson/Manthe Gai Institutiones, Text und Kommentar, 1992/1999/2007 (Buch III) (alle Verweise in diesem Beitrag beziehen sich auf den Band von 1999, in dem der societas-Abschnitt kommentiert wird); wichtige Ergänzungen insb. in den konstruktiv-kritischen Rezensionen von Liebs ZRG RA 111 (1994), 709–711, Schermaier ZRG RA 121 (2004), 555–559 und Platschek ZRG RA 127 (2010), 474–485. 15 G. 1.8 („omne autem ius, quo utimur, vel ad personas pertinet vel ad res vel ad actiones“), außerdem G. 2.1 und G. 4.1.
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Rechts als Teil des mittelalterlichen ius commune in zahllose juristische Schriften und schließlich in die heutigen privatrechtlichen Kodifikationen gelangt. Insoweit mischt sich die Diskussion um die Gliederung der Institutionen dann typischerweise mit der Diskussion um ihre Rezeption.16 Hierauf wird im Zusammenhang mit dem Kontext, in dem sich Gaius der societas widmet, zurückzukommen sein (nachstehend unter II. 1.). 3. Person des Gaius Wer war Gaius, der Verfasser der so berühmten und einflussreichen Institutionen? Auch nach Jahrhunderten intensiven Quellenstudiums und noch intensiverer Diskussionen gibt es auf diese Frage aller Fragen keine verlässliche Antwort.17 Aus den Informationen, die Gaius in seinen Werken bringt bzw. nicht bringt, lässt sich folgern, dass er Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus schrieb. Wir wissen aber nicht, wann genau Gaius wo geboren wurde, wann er wo lebte, wann er wo starb. Wir wissen nichts über seinen Beruf, seine Familie, seine soziale Stellung. Wir wissen nicht einmal, wie Gaius mit vollem Namen hieß: „Gaius“ ist als Vorname (Praenomen) ein Allerweltsname, wie etwa in „Gaius Iulius Caesar“, aber auch als Familienname (Gentilnomen) oder als Beiname (Cognomen) kaum kennzeichnend. Und wir wissen nicht, warum wir über Gaius so wenig wissen – weniger als über viele seiner Zeitgenossen. Wo es an gesicherten Informationen fehlt, da öffnet sich das Feld für Spekulationen, von denen es für Gaius einen denkbar bunten Strauß gibt: von seiner Herkunft über seine Hautfarbe bis hin zu seinem Geschlecht. Am lebhaftesten wird bis heute die Frage diskutiert, ob Gaius in Rom wirkte oder aber ein „Provinz(ial)jurist“ war.18 Das Gesellschaftsrecht kann viele dieser allgemeinen Gaius-Fragen wiederum der Romanistik überlassen. Wo Gaius lebte und wirkte, ist aber auch für das Verständnis seiner Bemerkungen zur societas bedeutsam. Denn für 16 Ausführlich zur antiken Bedeutung des Institutionen-Schemas und zu seiner unsicheren Herkunft Nelson (Fn. 6), 335–394. Außerdem insb. Schulz (Fn. 12), 112, 191 f., Liebs (Fn. 12), 192 und Wieacker (Fn. 6), Band II, 113 f. In der aktuellen Diskussion z.B. Stagl ZRG RA 131 (2014), 313–348, Varvaro SCDR 29 (2016), 409–439 und nochmals Stagl ZRG RA 135 (2018), 582–591. 17 Zur Person und zum Œuvre des Gaius insb. Schulz (Fn. 12), 191–203, 211, 229–237, 250, 253, 293, 325–328; Honoré Gaius, 1962; Kunkel Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen, 2. Aufl. 1967, 186–213; Wieacker (Fn. 6), Band I, 131 f. und Band II, 112–118, 424–426; Liebs (Fn. 12), 188–195; Manthe (Fn. 11), 11–15; Babusiaux in Babusiaux/Mantovani, Le Istituzioni di Gaio: avventure di un bestseller, 2020, 51–95; Liebs in ebd., 3–28. 18 Am einflussreichsten für die Verortung des Gaius in den Provinzen Mommsen JgdR 3 (1859), 1–15; dagegen insb. Kunkel (Fn. 17), 192–213. In der aktuellen Literatur einerseits Liebs (Fn. 17), 9, 27, 28, andererseits Babusiaux (Fn. 17), 52 Fn. 8.
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die Rechtsregeln, die Gaius diskutiert, ebenso wie für die Beispiele, die er in seine Darstellung einflicht, stellt sich die Frage, ob sie sich auf die Situation in Rom beziehen, also ein städtisches Milieu, oder aber auf die Peripherie, mit ihrer viel geringeren Bevölkerungsdichte und Wirtschaftsaktivität, oder auf beide Kontexte gleichermaßen.19 Die allgemeine Diskussion hierüber, also über etwaige lokale Unterschiede in dem Recht, dem die gemeinsamen wirtschaftlichen Unternehmungen des Altertums unterlagen, steht – anders als für die Person des Gaius – noch ganz am Anfang.20
II. Die societas in den Institutionen Nach den einführenden Informationen zur Rezeption und zur Gestalt der Institutionen sowie zu Gaius als ihrem Verfasser kann sich der Fokus nunmehr auf die gesellschaftsrechtlichen Passagen der Institutionen verengen. Ehe dies geschieht, bedarf es aber noch einer kurzen Vorbemerkung zur Terminologie. Denn so legitim es ist, in einer Festschrift für eine Gesellschaftsrechtlerin zu fragen, was die Institutionen des Gaius über das Gesellschaftsrecht sagen, so wichtig ist es zu betonen, dass es sich hierbei um eine zeitgenössisch motivierte und vom heutigen Vorverständnis geprägte Untersuchungsfrage handelt.21 Wem es dagegen darum geht, sich in die antike Situation zu versetzen und mehr über das Recht gemeinsamer Unternehmungen im Altertum herauszufinden, der sollte Fachausdrücke der Gegenwart wie „Gesellschaft“ oder „Gesellschaftsrecht“ vermeiden und stattdessen entweder die antike Terminologie übernehmen (also vor allem von societas oder κοινωνία sprechen) oder Ausdrücke verwenden, die aktuell kein terminus technicus sind (wie soeben „gemeinsame Unternehmungen“ oder – je nach sozialem Kontext – „gemeinsame wirtschaftliche Unternehmungen“).22 19 Am Beispiel von Gaius’ Kommentar zum Provinzialedikt (zu diesem Werk nachfolgend unter II. 3.) als Problem erwähnt, aber nicht gelöst bei Fleckner ZRG RA 137 (2020), 422, 440 f., 444 f. 20 Sehr knapp Fleckner in FS Hopt, 2010, Band I, 659, 665 f. und Fleckner ZRG RA 135 (2018), 685, 688–691. 21 Das folgt bereits daraus, dass sich das Gesellschaftsrecht erst im Laufe des 19. Jahrhunderts als eigenständiges Rechtsgebiet etabliert hat. Das früheste deutschsprachige Werk, das sich funktional als Hand- oder Lehrbuch zum Gesellschaftsrecht identifizieren lässt, ist Treitschke Die Lehre von der Erwerbsgesellschaft, 1. Aufl. 1825 (2. Aufl. 1844 unter dem Titel: Die Lehre von der unbeschränkt obligatorischen Gewerbegesellschaft und von Commanditen). Aber auch dieses Werk unterscheidet sich inhaltlich wie terminologisch noch deutlich von einem heutigen Gesellschaftsrechtswerk wie dem der Jubilarin (Fn. 1). 22 Allgemein zu den Gefahren der Verwendung moderner Ausdrücke und Begriffe insb. Wieacker Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik, 1963, 11–18; speziell im Kontext gemeinsamer wirtschaftlicher Unternehmungen Fleckner Antike Kapitalvereinigungen, 2010, 24–26, 53 f., 59 f., 110–113, 239 f., 244 f., 295, 339 sowie Fleckner ZRG RA 128 (2011),
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Dies vorausgeschickt, sind aus heutiger Sicht funktional „Gesellschaftsrecht“ allein diejenigen Passagen der Institutionen, in denen sich Gaius mit der societas beschäftigt. Im Folgenden wird daher zunächst der Kontext vorgestellt, in dem Gaius einen Abschnitt speziell zur societas bringt (1.), dann der Inhalt dieses Abschnittes (2.), schließlich weitere Bemerkungen zur societas an anderer Stelle (3.).23 1. Kontext des societas-Abschnittes Im Bürgerlichen Gesetzbuch stehen die beiden Titel mit den Vorschriften über die „Gesellschaft“ (§§ 705–740) und über die „Gemeinschaft“ (§§ 741– 758) etwas verloren zwischen den Titeln zur „Einbringung von Sachen bei Gastwirten“ (§§ 701–704) und zur „Leibrente“ (§§ 759–761). Dieser intuitiv wenig einleuchtende Standort im Achten Abschnitt („Einzelne Schuldverhältnisse“) des Zweiten Buches („Recht der Schuldverhältnisse“) lässt bereits erahnen, dass die Verortung des Gesellschaftsrechts im größeren Kontext des Privatrechts keine triviale Frage ist. Dass selbst der Standort im Schuldrecht nicht alternativlos ist, zeigt die Regelung „Juristischer Personen“ (§§ 21–89) im Ersten Buch des BGB („Allgemeiner Teil“, Erster Abschnitt: „Personen“). In welchem Kontext also diskutiert Gaius die gemeinsamen Unternehmungen? Die Institutionen des Gaius kennen – wie bereits kurz erwähnt – auf ihrer höchsten Gliederungsebene zwei Ordnungskriterien: die Gliederung in vier Bücher und in drei Regelungsmaterien. Für das erste Buch (zu den personae) und für das vierte Buch (zu den actiones) decken sich die beiden Ordnungskriterien (Buch/Regelungsmaterie).24 Für das zweite und dritte Buch stehen sie in einem gewissen Spannungsverhältnis, da beide Bücher zwar der zweiten Regelungsmaterie gelten (den res), der Wechsel vom zweiten zum dritten Buch aber recht willkürlich oder zufällig, mitten in den erbrechtlichen Bemerkungen, geschieht.25 Was fasst Gaius unter die res? Zunächst sagt er einiges dazu, welche Arten von res es gibt und wie diese abzugrenzen sind (G. 2.1–17). Dann erläutert er, wie sich einzelne res übertragen lassen (G. 2.18–96). Hierauf folgt der Erwerb im Wege der Universalsukzession, 677, 679, 682 f., 684, 692, Fleckner ZRG RA 135 (2018), 685, 696 Fn. 54 und Fleckner ZRG RA 137 (2020), 422, 432 Fn. 59. 23 Wie eingangs dieses Beitrages bemerkt (vor I.), fehlt es an eigenständigen Untersuchungen speziell zur societas in den Institutionen des Gaius; unter den Gaius-Kommentaren insb. Nelson/Manthe (Fn. 14), darin vor allem 226–228, 304–338, 531–538. 24 Anders als das vierte Buch, das ausschließlich den actiones gilt, enthält das erste Buch einen Abschnitt, der sich nicht als Teil der personae verstehen lässt, nämlich die Einleitung in das Gesamtwerk (G. 1.1–8). 25 In den Institutionen von Kaiser Justinian reichen die res sogar bis in das vierte Buch hinein, d.h. die actiones beginnen dort erst mit I. 4.6 pr.; verwendete Ausgabe: Krüger/ Mommsen (Fn. 7).
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auch und gerade von Verstorbenen (G. 2.97–3.87). Im Anschluss an diese Passagen bemerkt Gaius lapidar in der für die Institutionen typischen Nüchternheit und Schlichtheit (G. 3.88): „Jetzt wollen wir zu den obligationes übergehen.“26 Die obligationes teilt Gaius in solche, die ex contractu (hierzu G. 3.89–181), und solche, die ex delicto (hierzu G. 3.182–225) entstehen (G. 3.88). Die obligationes, die ex contractu zustandekommen, ordnet Gaius danach, auf welche Weise der Vertragsschluss erfolgt (G. 3.89): durch Übergabe einer Sache (Realobligationen, G. 3.90/91), durch Worte (Verbalobligationen, G. 3.92–127), durch Schriftstücke (Litteralobligationen, G. 3.128–134) oder durch Konsens (Konsensualobligationen, G. 3.135–162). In letzterem Kontext, also unter den durch Konsens geschlossenen Verträgen (abschließende Aufzählung in G. 3.135), bringt Gaius separate Abschnitte zu emptio/venditio („Kauf“/„Verkauf“,27 G. 3.139–141), zu locatio conductio („Geschäftsbesorgung“/„Miete“/„Pacht“/„Verdingung“, G. 3.142–147), zur societas („Gesellschaft“, G. 3.148–154b)28 sowie zum mandatum („Auftrag“, G. 3.155–162). Die Ausführungen zu den ex contractu entstehenden obligationes beschließen Bemerkungen zum Erwerb durch Sklaven und andere Gewaltunterworfene (G. 3.163–167a) sowie zum Erlöschen der obligationes (G. 3.168–181). Aus der vorstehenden Übersicht ergibt sich, dass Gaius die societas im dritten Buch unter den res behandelt, und zwar als eine der obligationes ex contractu, die durch bloßen Konsens (nudo consensu)29 zustandekommen, konkret positioniert zwischen der locatio conductio und dem mandatum.30 Ist dieser Standort geschickt gewählt?31 Das hängt davon ab, was Gaius un26 G. 3.88 („nunc transeamus ad obligationes“). Ebenso lapidar sind die Überleitungen insb. zu den personae in G. 1.8 („et prius videamus de personis.“), zu den res in G. 2.1 („superiore commentario de iure personarum exposuimus; modo videamus de rebus, …“) und zu den actiones in G. 4.1 („superest, ut de actionibus loquamur.“). 27 Hier und später sollen die Anführungszeichen signalisieren, dass die Übersetzung der lateinischen Ausdrücke mit deutschen Fachausdrücken der Gegenwart nicht unproblematisch ist (am Beispiel von societas hierzu vorstehend unmittelbar vor II. 1.). 28 In der Veroneser Handschrift endet der societas-Abschnitt mit G. 3.154 (hierzu nachstehend unter II. 2.). 29 Dieser Ausdruck findet sich für die societas in G. 3.154 (wörtlich im Papyrus aus Antinoë, getrennt als consensu contrahitur nudo in der Veroneser Handschrift); zur Bedeutung insb. G. 3.135–138. Von einer historischen Ausnahme (Nachahmung der societas von Erben erfordert Verfahren vor dem Prätor) berichtet G. 3.154b. 30 Vermutlich hat Gaius den societas-Abschnitt mit einer Überschrift versehen (oder hätte ihn mit einer Überschrift versehen, wenn er die Institutionen zur Publikation vorbereitet hätte; hierzu vorstehend unter I. 2.). In der Veroneser Handschrift ist die Zeile vor G. 3.148 dagegen wie an einigen anderen Stellen leer: Nelson/Manthe (Fn. 14), 2, 45, 221 f., 304 und Manthe (Fn. 11), 278 Fn. 1; allgemein Nelson/Manthe, ebd., insb. 2, 221 f. sowie Manthe, ebd., 17, 25, 28. In den Institutionen von Kaiser Justinian steht als Überschrift de societate (I. 3.25). 31 Aus den allgemeinen Erwägungen zur Herkunft des Institutionen-Schemas (hierzu vorstehend unter I. 2.), die sich um Überlegungen speziell zur Einteilung der obligationes
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ter einer societas als Konsensualobligation versteht, und leitet damit zu dem nächsten Punkt über, dem Inhalt des societas-Abschnittes in den Institutionen. Zuvor sei aber noch darauf hingewiesen, dass Gaius mit seiner Verortung der gemeinsamen Unternehmungen unter den obligationes viel Gefolgschaft gefunden hat – nicht nur in den Institutionen von Kaiser Justinian (I. 3.25) und im Bürgerlichen Gesetzbuch (§§ 705–740), sondern auch in zahlreichen Klassikern des Handels- und Gesellschaftsrechts. So folgen etwa Johann Marquard (1662)32 sowie Georg Friedrich Martens (1798/1805/ 1820),33 Georg Arnold Heise (1814–1817),34 Johann Heinrich Bender (1824)35 und Meno Pöhls (1828)36 alle dem Institutionen-Schema und diskutieren die Handelsgesellschaften nicht im Kontext der Handelspersonen, sondern der Handelsgeschäfte.37 2. Inhalt des societas-Abschnittes Gaius sagt nichts dazu, wie er seinen societas-Abschnitt (G. 3.148–154b) gliedert oder was er darin zu behandeln gedenkt. Vielmehr bedient er sich ohne viel Aufhebens einer Reihenfolge, die vermutlich schon damals eine lange Tradition hatte und bis heute sofort intuitiv nachvollziehbar ist: Beginn der gemeinsamen Unternehmung („Geburt“), Durchführung der gemeinsamen Unternehmung („Leben“), Ende der gemeinsamen Unternehmung („Tod“). Entsprechend dieser Trias von Geburt–Leben–Tod eröffnet Gaius den societas-Abschnitt sehr knapp mit den Gründen, warum man sich überhaupt auf eine societas verständigt (G. 3.148). Dann diskutiert er, wie die Gewinne bzw. die Verluste zwischen den socii verteilt werden (G. 3.149/150; hierzu sogleich ergänzen lassen (Nelson/Manthe [Fn. 14], 59–67), ist nicht davon auszugehen, dass Gaius die Verortung der societas an dieser Stelle „erfunden“ hat (aber vielleicht die Gruppierung der vier Konsensualobligationen: Nelson/Manthe, ebd., 230 f.). 32 Marqvardus Tractatus politico-juridicus de iure mercatorum et commerciorum singulari, 1662, Tom. I, 296–313 (Lib. II, Cap. 11: „De Societate, Mandato, & Fidejussione Mercatorum“). Das Werk ist primär nach den privilegia gegliedert, folgt in vielerlei Hinsicht aber doch dem überkommenen Institutionen-Schema. 33 Martens Grundriß des Handelsrechts, 1. Aufl. 1798, 25–30 („Privat-Handelsgesellschaften“) und 30–32 („Große Handelsgesellschaften“); insoweit beibehalten in der 2. Aufl. 1805, 28–33 und 33–35 sowie in der 3. Aufl. 1820, 31–37 und 37–39. 34 Heise’s Handelsrecht, hrsg. von [Wunderlich], 1858, 51–54 („Handelsgesellschaften“) und 54–71 („Verschiedene Arten der Handelsgesellschaften“). Die Handelsrechtsvorlesungen, denen das hier publizierte Manuskript zugrunde lag und deren Mitschriften offenbar ähnlich verbreitet waren wie die anderen Handelsrechtswerke, hielt Heise vermutlich in den Jahren 1814 bis 1817 (hierzu ebd., IV). 35 Bender Grundsätze des deutschen Handlungs-Rechts, Band I, 1824, 303–347 („Gesellschaftshandel“). 36 Pöhls Darstellung des gemeinen Deutschen und des Hamburgischen Handelsrechts, Band I, 1828, 209–231 („Societät“). 37 Anders aber Thöl Das Handelsrecht, Band I, 1. Aufl. 1841, 107–153 („Die Handelsgesellschaften“) und in den zahlreichen Folgeauflagen.
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unter III. 1.). Schließlich, und am ausführlichsten, beschäftigt sich Gaius mit der Auflösung und der Abwicklung der societas (G. 3.151–154; hierzu sogleich unter III. 2.). Die Veroneser Handschrift endet an dieser Stelle.38 Im Papyrus aus Antinoë folgt auf den „Tod“ der societas noch ein Anhang oder Exkurs mit Informationen zur Geschichte der societas (G. 3.154a/b).39 Ebenso bemerkenswert wie die Themen, die Gaius in seinem societasAbschnitt behandelt, sind die Themen, auf die er nicht zu sprechen kommt. Bei Gaius findet sich nichts über die Dauer und Größe einer societas (hierzu sogleich unter III. 3.). Nichts über die Aufgabenverteilung innerhalb der societas, also nichts darüber, wer die Geschäfte führt und mit Dritten in Kontakt tritt. Nichts über die Rechte und Pflichten der socii. Nichts über die Leistung von Einlagen und die Begleichung von Schulden. Nichts über das individuelle Vermögen der socii oder über das gemeinsame Vermögen, d.h. Gegenstände, die in gemeinsamem Eigentum stehen oder zumindest gemeinsam genutzt werden.40 Nichts über die Lösung von Konflikten oder allgemeiner die Willensbildung unter den socii, etwa ob Entscheidungen nur einstimmig oder aber auch mehrheitlich gefasst werden können. Was eigentlich der Zweck einer societas ist (oder die Zwecke), warum also Personen eine societas eingehen – das bleibt ebenfalls weitgehend im Dunkeln.41 Spätestens an dieser Stelle dürfte es auch niemanden mehr überraschen, dass Gaius nirgendwo zwischen einem etwaigen Innen- und Außenverhältnis der societas differenziert und nirgends auf die wie auch immer geartete Rechtsnatur der societas, gar ihre Rechtsfähigkeit oder Rechtspersönlichkeit, zu sprechen kommt. All das sind Fragen, die sich im heutigen Gesellschaftsrecht ständig, für Gaius dagegen offenbar überhaupt nicht stellen. 38 Ausgangs von G. 3.154 weist Gaius noch darauf hin, dass die societas dem ius gentium angehöre, d.h. allen Menschen offenstehe, nicht nur römischen Bürgern (allgemein zur Unterscheidung G. 1.1); eine historische Ausnahme (societas von Erben) erwähnt Gaius in G. 3.154a („est autem aliud genus societatis proprium civium Romanorum. olim enim …“). 39 Zu G. 3.154a/b neben den bereits genannten Spezialbeiträgen (Fn. 10) insb. Nelson/ Manthe (Fn. 14), darin vor allem 1, 10–12, 18 f., 22, 221–223, 227 f., 304, 321 f., 325, 329–338, 531–538. Im Rahmen einer Untersuchung, wie sie im Haupttext zu Fn. 52 skizziert ist, müsste im Lichte aller societas-Stellen auch noch einmal ergebnisoffen hinterfragt werden, ob der Text in G. 3.154a/b wirklich authentisch ist, d.h. von Gaius stammt (und nicht in den gut drei Jahrhunderten, die zwischen der Entstehung der Institutionen und ihrer Abschrift im Papyrus aus Antinoë liegen, von einer anderen Person hinzugefügt wurde). 40 In die Vergangenheit zurückblickend, aber inhaltlich sehr dunkel und daher bis heute umstritten G. 3.154b. 41 G. 3.148 nennt lediglich zwei Fallgruppen: die Vereinigung des gesamten Vermögens, also vermutlich im persönlichen Nähebereich („societatem coire solemus aut totorum bonorum …“), ebenfalls erwähnt in G. 3.151, sowie die Vereinigung zum Zwecke einer gemeinsamen wirtschaftlichen Unternehmung („… aut unius alicuius negotii“), wofür als Beispiel – das einzige konkrete Beispiel im gesamten societas-Abschnitt – der Sklavenhandel genannt wird („mancipiorum emendorum aut vendendorum“). Für die Vergangenheit G. 3.154a/b (societas von Erben und Nachahmung dieser societas für andere Zwecke).
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Dass Gaius auf all diese und viele weitere Punkte nicht eingeht, ist per se kein irgendwie gearteter „Mangel“ seiner Darstellung, sondern wirft die juristisch ebenso wie historisch interessante Frage auf, warum er manches erwähnt, anderes dagegen nicht. Teils lautet die Antwort auf diese Frage schlicht, dass die Institutionen ein bewusst knapper Grundriss sind, in dem Gaius nur die seines Erachtens wichtigsten Aspekte der societas anspricht. Das ergibt ein Vergleich des societas-Abschnittes in den Institutionen mit der Diskussion der societas in den Werken anderer römischer Juristen (in diesem Beitrag nicht behandelt) sowie in anderen Passagen der Institutionen bzw. in zwei anderen Werken des Gaius (hierzu im nächsten Abschnitt). Teils ist die Antwort auf die Frage, warum Gaius in dem societas-Abschnitt der Institutionen manche Punkte nicht anspricht, aber auch, dass die societas etwas ganz anderes ist als eine „Gesellschaft“ heutigen Verständnisses: Die societas ist nicht mehr als die Summe der Vertragsverhältnisse zwischen den socii bzw. – bei einer societas mit zwei socii – als das eine Vertragsverhältnis zwischen den socii. Sie ist kein von den socii irgendwie gelöstes oder von ihnen gar verselbständigtes „Etwas“.42 Die societas passt für Gaius und seine Institutionen deshalb viel besser unter die obligationes bzw. res als unter die personae.
3. Bemerkungen außerhalb des societas-Abschnittes Wie alle Verfasser einer systematischen Darstellung, insbesondere eines Anfängerlehrbuchs, stand Gaius vor der Frage, ob er Punkte, die in mehreren Zusammenhängen interessieren, immer wieder anspricht oder aber irgendwo allgemein abhandelt. Teils hat er sich für den ersten Weg, die Wiederholung, entschieden, teils für den zweiten, die verselbständigte Behandlung einer Frage in einem allgemeinen Kontext.43 Letzteres, der zweite Weg, führt dazu, dass Gaius außerhalb des societas-Abschnittes an fünf zusätzlichen Stellen der Institutionen auf die societas eingeht.44 42 Allgemein für die societas des römischen Rechts Fleckner (Fn. 22), 120 f.; speziell für die societas in den Institutionen von Kaiser Justinian Meincke (Fn. 3), 444; ebenso die Einschätzungen in den gesellschaftsrechtlichen Rückblicken bei Wiedemann in FS Meincke, 2015, 423, 423 sowie Fleischer JZ 2019, 53, 54, 62 und Fleischer/Cools ZGR 2019, 463, 467 f. 43 Ein Beispiel für einen Punkt, den Gaius bewusst immer wieder anspricht (wie in G. 1.1 angekündigt), ist der persönliche Anwendungsbereich bestimmter Regelungen (hierzu für die societas vorstehend in Fn. 38). 44 In G. 4.42, einer sechsten Stelle außerhalb des societas-Abschnittes, erwähnt Gaius außerdem socios communi dividundo. Ob zwischen diesen socii eine societas im Sinne des societas-Abschnittes besteht, ist aber höchst ungewiss (dem Kontext nach eher nicht), da auch bloße Miteigentümer eines gemeinsamen Gegenstandes als socii firmieren. Allgemein zur Abgrenzung insb. Drosdowski Das Verhältnis von actio pro socio und actio communi
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Drei der fünf zusätzlichen Stellen stehen – wie der societas-Abschnitt – im dritten Buch der Institutionen über die res, wiederum im Kontext der obligationes, die ex contractu zustandekommen, und bestätigen die Eindrücke, die sich aus dem societas-Abschnitt ergeben, ohne zu neuen Einsichten zu führen (G. 3.122/129/135).45 Die anderen beiden Stellen stehen im vierten Buch über die actiones und bringen wichtige zusätzliche Informationen (G. 4.62/182). Aus dem societas-Abschnitt selbst wird nämlich ein zentrales Charakteristikum des römischen Rechts, die Ausrichtung auf bestimmte Klagen (actiones), nicht deutlich. Dass das aktionenrechtliche Denken aber auch und gerade das Recht der gemeinsamen Unternehmungen prägte, lässt sich vielleicht bereits daraus erahnen, dass der einzige Ausdruck aus dem Recht der societas, der heute noch in allgemeinem Gebrauch ist, gerade die actio pro socio ist.46 Gaius verwendet nicht diesen Ausdruck, sondern das insoweit gleichbedeutende iudicium pro socio, und stellt klar, dass es sich bei dem Rechtsbehelf eines jeden socius um eine Klage aus Treu und Glauben handele (G. 4.62).47 Das hat die wichtige Konsequenz, wie Gaius an anderer Stelle ausführt, dass Verurteilungen nach der actio pro socio zum Verlust der bürgerlichen Rechte führen (G. 4.182).48 Von Gaius nicht als Charakteristikum der actio pro socio (bzw. des iudicium pro socio) erwähnt, aber aus anderen Quellen hinreichend sicher auch für sein Zeitalter belegt, ist der Umstand, dass die actio pro socio eine Abrechnungsklage ist. Sie führt – von einer allgemein anerkannten Ausnahme abgesehen – immer zur Auflösung der societas, ist also völlig ungeeignet zur Beilegung von Streitigkeiten in einer societas, die fortgesetzt werden soll.49 Was heute unter dividundo im klassischen römischen Recht, 1998; hierzu konstruktiv-kritisch Bürge ZRG RA 117 (2000), 546–554 und Meissel Societas, 2004, 281–308. 45 In G. 3.129 nennt Gaius die societas als eines von drei nicht abschließend gemeinten Beispielen dafür, woraus sich eine Schuld ergeben kann („id, quod tu ex emptionis causa aut conductionis aut societatis mihi debeas“). In G. 3.135 zählt Gaius die obligationes auf, die durch Konsens zustandekommen („consensu fiunt obligationes in emptionibus et venditionibus, locationibus conductionibus, societatibus, mandatis.“). Atypisch und schwer zu deuten ist, was Gaius in G. 3.122 damit meint, die lex Apuleia habe zwischen bestimmten Sicherungsgebern eine Art von societas eingeführt („praeterea inter sponsores et fidepromissores lex Apuleia quandam societatem introduxit.“). 46 In der aktuellen Auflage des Lehrbuchs der Jubilarin (Fn. 1) behandelt auf 63–65, 118, 119, 183, 245 f., 302, 341 f., 400; bis in das römische Recht zurückblickend Fleischer/Harzmeier ZGR 2017, 239, 241–246, Fleischer JZ 2019, 53, 57–59 und Fleischer/Cools ZGR 2019, 463, 468. 47 G. 4.62 („sunt autem bonae fidei iudicia haec: ex empto vendito, locato conducto, negotiorum gestorum, mandati, depositi, fiduciae, pro socio, …“). 48 G. 4.182 („quibusdam iudiciis damnati ignominiosi fiunt, velut …, item pro socio, fiduciae, tutelae, mandati, depositi.“). 49 Zu den Einzelheiten z.B. Wieacker Societas, 1936, 9–12, 166–169; Arangio-Ruiz La società in diritto romano, 1950, 172–200; Meissel (Fn. 44), 24 f., 38 f., 41–52, 211 f., 284–286; Fleckner (Fn. 22), 323 f., 341 f., 345 f., 354 f., 383 f., 626; Meincke (Fn. 3), 454–456; Fleckner in Dari-Mattiacci/Kehoe, Roman Law and Economics, 2020, Band I, 233, 245, 249 f., 254, 257, 260.
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actio pro socio verstanden wird, hat demnach nichts mit der actio pro socio des römischen Rechts gemein – außer dem irreführenden und deshalb unpassenden Namen. Um das bislang gewonnene Bild zu komplettieren und einige Desiderata für die weitere Forschung aufzuzeigen, sei abschließend darauf hingewiesen, dass Gaius in zwei weiteren Werken auf die societas zu sprechen kommt: in seinem Kommentar zum Provinzialedikt (ad edictum provinciale)50 sowie in seinem Lehrbuch zu juristischen Alltagsfragen (res cottidianae sive aurea),51 das viele für eine Fortentwicklung der Institutionen halten (auf Grundlage allein der societas-Bemerkungen sehr fraglich). Auch für diese beiden Werke mangelt es, wie für die Institutionen des Gaius, an Untersuchungen, die speziell seine Äußerungen zur societas in den Blick nehmen. Ein noch größeres, über die Einzelwerke hinausgehendes Forschungsdesideratum besteht darin, alles, was Gaius in diesen drei Werken über die societas sagt, in einer Studie zusammenzubringen und miteinander zu vergleichen, also eine Abhandlung über „Die societas in den Werken des Gaius“ oder – je nach Adressatenkreis und Erkenntnisinteresse – über „Das Gesellschaftsrecht in den Werken des Gaius“.52
III. Ausgewählte Regelungsprobleme Statt in die Breite, also zu den societas-Stellen in den anderen Werken des Gaius, soll es im dritten und letzten Abschnitt dieses Beitrages ein wenig mehr in die Tiefe gehen: zu drei ausgewählten Regelungsproblemen, die sich aus dem societas-Abschnitt der Institutionen bzw. ihrer heutigen Lektüre ergeben. Behandelt werden die Verteilung von Gewinn und Verlust im Rahmen der societas (1.), die Auflösung und Abwicklung der societas (2.) sowie ihre Dauer und Größe (3.).
50 Gaius’ Kommentar zum Provinzialedikt ist anders als seine Institutionen nicht direkt, sondern nur ausschnittsweise in den Digesten von Kaiser Justinian überliefert; verwendete Ausgabe: Krüger/Mommsen (Fn. 7). Die societas betreffen einerseits zwei Fragmente aus dem dritten Buch des Kommentars, Gai. (3 ad ed. prov.), D. 3.4.1 pr. und D. 3.4.1.1 (Authentizität sehr fraglich), andererseits sechs Fragmente aus dem zehnten Buch, Gai. (10 ad ed. prov.), D. 17.2.2, 17.2.22, 17.2.34, 17.2.66, 17.2.68 pr., 17.2.68.1 (vermutlich nahezu unverändert). 51 Gai. (2 cott.), D. 17.2.72; die res cottidianae sive aurea sind ebenfalls nur ausschnittsweise in den Digesten überliefert (hierzu soeben in Fn. 50). 52 In einer werkübergreifenden, das gesamte Œuvre des Gaius ausleuchtenden Abhandlung wären mit der gebotenen Vorsicht idealerweise auch Werke zu berücksichtigen, deren Rückführbarkeit zu Gaius im Einzelnen zweifelhaft ist, namentlich die Gai institutionum epitome (ca. 400 n. Chr.), darin insb. GE 2.9.16/17; verwendete Ausgabe: Riccobono/ Baviera/Ferrini/Furlani/Arangio-Ruiz Fontes Iuris Romani Antejustiniani, Band II, 2. Aufl. 1940, 229–257.
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1. Gewinn und Verlust Als erstes Regelungsproblem sei diejenige Frage vorgestellt, die Gaius selbst als die „magna … quaestio“ (G. 3.149), die „große Frage“, bezeichnet: die ungleiche Verteilung von Gewinn und Verlust zwischen den Mitgliedern der societas (G. 3.149/150). Zu dieser magna quaestio und allgemein der Gewinn-/Verlustverteilung im Rahmen der societas gibt es bis heute einen steten Strom an Beiträgen, erfreulicherweise nicht nur aus der Romanistik,53 sondern auch aus dem Gesellschaftsrecht,54 so dass es kaum ertragreich wäre, hier mit wenigen Worten zur Sache selbst Stellung zu nehmen. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, den Gedankengang des Gaius möglichst nah am Quellentext nachzuzeichnen und so einen authentischen Eindruck von dem Stil seiner Institutionen zu vermitteln.55 Nachdem Gaius zu Beginn seines societas-Abschnittes in einem kurzen Satz umrissen hat, zu welchen Zwecken eine societas gewöhnlich eingegangen werde (G. 3.148), fällt er anschließend quasi mit der Tür ins Haus und eröffnet den nächsten Satz (G. 3.149) direkt mit der „großen Frage“ („magna autem quaestio fuit“): Kann eine societas so eingegangen werden („ita coiri possit societas“), dass jemand einen größeren Teil des Gewinnes erhält („maiorem partem lucretur“), aber nur einen kleineren Teil des Verlustes trägt („minorem damni praestet“)? Zur Beantwortung dieser Frage referiert Gaius zwei Meinungen. Quintus Mucius sei der Ansicht gewesen, dass eine solche Abrede gegen die natura56 der societas verstoße („contra naturam societatis esse“) und deshalb keinen Bestand haben könne („ob id non esse ratum habendum“).57 Dagegen sei Servius Sulpicius,58 dessen Meinung sich durchgesetzt habe („praevaluit sententia“), derart davon überzeugt gewesen, dass eine societas mit einer solchen Abrede geschlossen werden könne, dass er gesagt habe, die 53 Monographisch insb. Santucci Il socio d’opera in diritto romano, 1997, darin vor allem 35–93. Seitdem z.B. Meincke (Fn. 3), 448–451; Schanbacher in FS Mutschler, 2011, 416–423; Santucci Index 42 (2014), 331–348; Cannata in FS Nishimura, 2018, 23–40. 54 Insb. Fleischer/Pendl WM 2017, 881, 881 f. und Fleischer JZ 2019, 53, 54 f., 59 f.; außerdem z.B. Wiedemann (Fn. 42), 424. 55 Der nachfolgende Absatz beruht auf einer eigenständigen Lektüre und Übersetzung der Institutionen, stimmt aber inhaltlich durchgehend und terminologisch häufig überein mit Nelson/Manthe (Fn. 14), 226, 307, 311, 311 f., 312, 313 und Manthe (Fn. 11), 279, 281. 56 Der Ausdruck natura societatis ist in Ermangelung des konkreten Kontextes, in dem er entstanden ist, schwer zu deuten. Ihn mit „Rechtsnatur der societas“ zu übersetzen, mag vom Blickwinkel des heutigen Gesellschaftsrechts aus naheliegen, wäre für den antiken Kontext aber sehr gefährlich, da die natura möglicherweise auf außerrechtliche Kategorien anspielt. 57 In der Veroneser Handschrift fehlen die in Klammern wiedergegebenen Formulierungen; zum vermutlichen Hintergrund dieser Lücke Nelson/Manthe (Fn. 14), 4, 308. Der Ergänzungsvorschlag von Nelson/Manthe, ebd., 46, 307 und Manthe (Fn. 11), 278, der hier in den beiden Klammern wiedergegeben ist, orientiert sich an I. 3.25.2. 58 Der Name fehlt in der Veroneser Handschrift (hierzu soeben in Fn. 57).
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societas könne sogar auf die Weise eingegangen werden („illo quoque modo coiri posse“), dass jemand überhaupt keinen Verlust trage („quis nihil omnino damni praestet“), aber dennoch am Gewinn partizipiere („sed lucri partem capiat“), wenn nur seine Tätigkeit („opera eius“)59 als so wertvoll erscheine („tam pretiosa videatur“), dass es billig sei („aequum sit“), ihn mit dieser Abrede in die societas aufzunehmen („eum cum hac pactione in societatem admitti“). Hierauf folgt eine Begründung, die sich Gaius offenbar zu eigen macht: Eine societas könne nämlich ohne Zweifel auch so eingegangen werden, dass der eine Geld gebe („unus pecuniam conferat“), der andere aber nicht („alter non conferat“), und der Gewinn dennoch ihnen gemeinsam zustehe („tamen lucrum inter eos commune sit“);60 denn oft sei jemandes Tätigkeit („opera alicuius“)61 ebenso wertvoll wie Geld („pro pecunia valet“). An diese Diskussion der magna quaestio schließen sich noch zwei Präzisierungen an („illud certum est“), die als dispositive Auslegungsregeln verstanden werden können (G. 3.150): Wenn über die Gewinn- und Verlustanteile zwischen den socii nichts vereinbart worden sei („si de partibus lucri et damni nihil inter eos convenerit“), stünden ihnen Vorteil wie Nachteil zu gleichen Teilen zu („aequis ex partibus commodum ut incommodum inter eos commune esse“).62 Seien die Anteile in einer Hinsicht, etwa für den Gewinn, bestimmt („in altero partes expressae fuerint“), in anderer Hinsicht jedoch ausgelassen („in altero vero omissae“), dann bestünden für das Ausgelassene dieselben Anteile („similes partes“). Soweit die Bemerkungen des Gaius zur magna quaestio und allgemein zur Gewinn-/Verlustverteilung zwischen den socii. Weder der antike Adressatenkreis noch das heutige Gesellschaftsrecht dürften an dieser Passage der Institutionen viel auszusetzen haben: Gaius’ Darstellung ist inhaltlich wie sprachlich leicht nachvollziehbar, gleichzeitig aber erstaunlich gehaltvoll, von der Skizzierung des umstrittenen Meinungsstandes über die Diskussion finanzieller vs. persönlicher Beiträge bis hin zu Regeln für die Auslegung bestimmter Abreden. Als eines von vielen „Glanzstücken“ der Institutionen lässt die Behandlung der magna quaestio im Recht der societas erahnen, warum das gesamte Werk so populär wurde.
59 opera ist hier nicht der Nominativ Plural zu opus, sondern der Nominativ Singular des Femininum opera, das sich außer mit der im Text vorgeschlagenen, bewusst neutralen „Tätigkeit“ auch mit „Arbeitskraft“ oder „Arbeitsleistung“ übersetzen ließe. 60 Die Formulierung tamen lucrum inter eos commune sit lässt sich nicht wörtlich ins Deutsche übersetzen. Eine denkbare Variante zum Vorschlag im Haupttext ist: „und der Gewinn dennoch zwischen ihnen geteilt werde“. 61 opera wie vorstehend erläutert (Fn. 59). 62 Es ergibt sich für inter eos commune esse dasselbe Übersetzungsproblem wie zuvor (Fn. 60).
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2. Auflösung und Abwicklung Im dritten und – jedenfalls für die Veroneser Handschrift – letzten Teil seines societas-Abschnittes widmet sich Gaius dem Ende der gemeinsamen Unternehmung (G. 3.151–154).63 Er flaggt dieses Thema nicht als „große Frage“ oder anderweitig aus, zeigt aber durch den Umfang und den Detaillierungsgrad seiner Darstellung, dass ihm der „Tod“ der societas juristisch mindestens ebenso bedeutsam ist wie ihre „Geburt“ und ihr „Leben“. Wiederum soll zunächst der Gedankengang des Gaius möglichst nah an den Quellen (hier bewusst im Plural) nachgezeichnet werden (diesmal allerdings gekürzt und dadurch etwas freier), um dann auf einige kritische bzw. kritikwürdige Punkte hinzuweisen.64 Gaius beginnt das neue Thema mit der Bemerkung (G. 3.151), eine societas bestehe so lange fort („manet autem societas eo usque“), wie die socii im Konsens verblieben („donec in eodem consensu65 perseverant“). Das harmoniert mit der Verortung der societas unter den obligationes, die ex contractu durch consensus zustandekommen (hierzu vorstehend unter II. 1.), ohne dass Gaius seine Systematisierung der obligationes an dieser Stelle noch einmal erwähnt. Vielmehr nennt er unmittelbar nach seinem Eröffnungssatz sofort den ersten Auflösungsgrund, nämlich die Kündigung der societas durch einen der socii („cum aliquis renuntiaverit societati, societas solvitur.“). Die Kündigung ist, das ergibt sich aus dem Kontext, immer wirksam – selbst bei unlauteren Motiven. Wer aber kündige, so erläutert Gaius, um einen noch ausstehenden Gewinn für sich allein zu haben („ut obveniens aliquod lucrum solus habeat“), müsse den Gewinn trotz Kündigung noch teilen („cogetur hoc lucrum communicare“); wer ohne diese Motivation kündige, dem stehe der Gewinn allein zu („ad ipsum solum pertinet“); allerdings gehörten alle anderen Gewinne nach der Kündigung allein dem socius, der nicht gekündigt habe („quidquid omnino post renuntiatam societatem adquiritur, soli conceditur“). Hierauf folgt der zweite Auflösungsgrund (G. 3.152): Die societas werde auch mit dem Tod eines socius
63 Soweit ersichtlich gibt es keine Beiträge, die sich speziell mit der Auflösung und Abwicklung der societas in den Institutionen des Gaius beschäftigen; für die Institutionen von Kaiser Justinian Meincke (Fn. 3), 451–454. Allgemein z.B. Hernando Lera El contrato de sociedad, 1992, insb. 167–228; Fleckner (Fn. 22), insb. 340–346 und 372–386; Fleckner (Fn. 49), insb. 244–252. 64 Wie vorstehend unter III. 1. (hierzu in Fn. 55), so stimmt auch der nachfolgende Absatz inhaltlich durchgehend und terminologisch häufig überein mit Nelson/Manthe (Fn. 14), 226 f., 313, 314, 316, 317, 318, 321 sowie Manthe (Fn. 11), 281, 283. 65 Die Vorsilbe „con“ fehlt in der Veroneser Handschrift. Der Ergänzungsvorschlag von Nelson/Manthe (Fn. 14), 46, 313 und Manthe (Fn. 11), 280 orientiert sich an I. 3.25.4.
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aufgelöst66 („solvitur adhuc societas etiam morte socii“), weil, wer eine societas eingehe, sich eine bestimmte Person aussuche („quia, qui societatem contrahit, certam personam sibi eligit“). Ebenso lapidar präsentiert Gaius den dritten Auflösungsgrund (G. 3.153): Auch der Verlust der Freiheit sowie sonstige Schmälerungen der Rechtsstellung lösten die societas auf („capitis deminutione solvi societatem“), weil eine solche Schmälerung dem Tode gleichgestellt werde („quia civili ratione capitis deminutio67 morti coaequatur“); seien die socii aber immer noch im Konsens über die societas („consentiant in societatem“), scheine eine neue societas zu beginnen („nova videtur incipere societas“). Als vierten und letzten Auflösungsgrund nennt Gaius die Insolvenz eines socius (G. 3.154): Werde das Vermögen68 eines der socii öffentlich oder privat versteigert („si cuius ex sociis bona publice aut privatim venierint“), werde die societas aufgelöst („solvitur societas“). Anders als die Gewinn- und Verlustverteilung in der societas lassen ihre Auflösung und Abwicklung, wie Gaius sie in den Institutionen präsentiert, einige Desiderata erkennen. Sofort ins Auge springt, dass Gaius auf jede Art von Systematisierung oder Übersicht verzichtet. Während er etwa, wie in diesem Beitrag bereits gesehen, die Entstehungsgründe der obligationes (G. 3.88) sowie speziell derjenigen ex contractu (G. 3.89) und durch consensus (G. 3.135) aufzählt, ebenso die Klagen aus Treu und Glauben (G. 4.62) mit ihrer scharfen Rechtsfolge (G. 4.182), werden die Auflösungsgründe einfach unverbunden nacheinander abgehandelt. Dadurch unterscheiden sich die Institutionen des Gaius auch von den Werken anderer römischer Juristen.69 Außerdem wird nicht klar, warum die Gewinn- und Verlustverteilung dispositiv, die Auflösungsgründe dagegen offenbar zwingend sind.70 66 Manthe (Fn. 11), 281 spricht hier und an zwei weiteren Stellen (nochmals auf 281 sowie auf 283) davon, dass die societas „erlischt“. Diese Übersetzung ist nach der antiken Bedeutung von solvitur möglich, aber ungewöhnlich; mit der gesellschaftsrechtlichen Terminologie der Gegenwart ist die Übersetzung von solvitur mit „erlischt“ nicht vereinbar (und deshalb höchst missverständlich). Dieselben terminologischen Bedenken bestehen gegen Nelson/Manthe (Fn. 14), 226 f., 313, 317, 318. 67 Ab der Endsilbe „tio“ setzt der Papyrus aus Antinoë als zweite Überlieferung neben der Veroneser Handschrift ein. Hinsichtlich der im Folgenden wiedergegebenen Formulierungen stimmen beide Quellen überein. Dies gibt zusätzliche Gewissheit, dass es sich insoweit um authentische Formulierungen von Gaius und nicht um spätere Überarbeitungen handelt. 68 bona ist Neutrum Plural zu bonum und könnte wörtlich z.B. mit „Güter“ übersetzt werden. Gemeint sind in diesem Kontext allerdings alle Güter des socius, also sein „Vermögen“. 69 Mod. (3 reg.), D. 17.2.4.1 („dissociamur renuntiatione morte capitis minutione et egestate.“) und Ulp. (31 ad ed.), D. 17.2.63.10 („societas solvitur ex personis, ex rebus, ex voluntate, ex actione.“); verwendete Ausgabe: Krüger/Mommsen (Fn. 7); eine Übersetzung findet sich in Behrends/Knütel/Kupisch/Seiler Corpus Iuris Civilis – Text und Übersetzung, Band III, 1999. 70 Für den zwingenden Charakter spricht G. 3.153 („sed utique si adhuc consentiant in societatem, nova videtur incipere societas.“) sowie der Umkehrschluss von I. 3.25.5 („sed
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Und weshalb eigentlich die societas in all den Situationen ihr Ende finden muss, wird von Gaius weder erklärt noch überhaupt problematisiert.71 3. Dauer und Größe Während Gewinn und Verlust bzw. Auflösung und Abwicklung von Gaius selbst thematisiert werden, gehören Dauer und Größe der societas zu den Fragen, die von Gaius in den Institutionen nicht ausdrücklich angesprochen und daher gewissermaßen von außen an den überlieferten Text herangetragen werden. Dies ist nicht illegitim, sofern es nicht anachronistisch, also mit dem heutigen Vorverständnis geschieht, sondern unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Umfeldes, in dem Gaius schrieb.72 Gaius sagt weder im societas-Abschnitt der Institutionen noch andernorts etwas über die tatsächlich übliche oder rechtlich zulässige Dauer (Laufzeit) der societas. Das ist in zweierlei Hinsicht auffällig: einmal im Vergleich zum Juristen Paulus, der knapp auf die begrenzte Dauer der societas eingeht,73 außerdem im Vergleich zu Überlieferungen in Inschriften und Papyri, also aus dem „wirklichen“ Leben.74 Letztere, die Überlieferungen in Inschriften und Papyri, legen nahe, dass die gemeinsamen wirtschaftlichen Unternehmungen des Altertums typischerweise nur für kurze Zeit, allenfalls wenige Jahre, bestanden.75 Das passt zu den vier Auflösungsgründen, die Gaius schildert, erklärt aber noch nicht, warum er auf die Dauer der societas nicht ausdrücklich et si consensu plurium societas coita sit, morte unius socii solvitur, etsi plures supersint, nisi si in coeunda societate aliter convenerit.“) zu G. 3.152 („solvitur adhuc societas etiam morte socii, quia, qui societatem contrahit, certam personam sibi eligit.“). 71 Hierzu allgemein für die societas des römischen Rechts Fleckner (Fn. 49), 246, 247, 248, 260 f. 72 Dauer und Größe der societas haben traditionell weder für die Institutionen des Gaius noch für andere Quellen des römischen Rechts besondere Aufmerksamkeit erhalten. Erste Ansätze und Überlegungen bei Fleckner (Fn. 22), insb. 135–143 (societas) und 207– 215 (societas publicanorum, eine Sonderform der societas, die Gaius in den Institutionen nicht erwähnt); Fleckner ZRG RA 135 (2018), 685, 693–695, 696–699; Fleckner (Fn. 49), 233–272. 73 Paul. (32 ad ed.), D. 17.2.1 pr. („societas coiri potest vel in perpetuum, id est dum vivunt, vel ad tempus vel ex tempore vel sub condicione.“) und Paul. (33 [32?] ad ed.), D. 17.2.70 („nulla societatis in aeternum coitio est.“). 74 Beispiele aus den fünf Jahrzehnten vor und nach der mutmaßlichen Abfassungszeit der Institutionen (also aus der Zeit zwischen 111 und 211 n. Chr.): P.Flor. III 370 (Hermopolis Magna, 132 n. Chr., ein Jahr); SB XVI 13008 (Arsinoites, 144 n. Chr., ein Jahr); CIL III 950/951 (Dacia, 167 n. Chr., vier Monate); P.Amh. II 94 (Hermopolis Magna, 208 n. Chr., fünf Jahre). Die vorstehenden Beispiele sollen nur verdeutlichen, welche Laufzeiten sich in Inschriften und Papyri finden. Ob und inwiefern die jeweils dokumentierte Unternehmung dem von Gaius geschilderten Recht der societas unterliegt, wäre für jede Quelle einzeln zu prüfen. 75 So das Ergebnis einer vorläufigen Auswertung von 461 Fundstellen in Inschriften und Papyri bei Fleckner ZRG RA 135 (2018), 685, 696–699.
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eingeht. Ein möglicher Grund ist der begrenzte Raum, den ihm die Institutionen als Anfängerlehrbuch ließen, ein anderer der Umstand, dass es sich bei der Laufzeit der societas weniger um eine abstrakte Rechtsfrage als um einen Gegenstand der konkreten vertraglichen Vereinbarung handelte. Weniger vorteilhaft für Gaius ist die Deutung, dass sich auch für die Dauer der societas – wie bereits für ihren Zweck – zeigt, wie wenig Gaius an der tatsächlichen Gestalt der Unternehmungen interessiert war, die dem Recht der societas unterlagen. Mit der Dauer der societas hängt ihre Größe (Mitgliederzahl) zusammen: Da gemeinsame Unternehmungen, gerade wirtschaftlicher Art, selten „groß“ beginnen, sondern typischerweise über einen längeren Zeitraum wachsen, stellt die Instabilität der societas, die aus den von Gaius behandelten Auflösungsgründen und weiteren Umständen folgt, ein Hindernis für die Organisation größerer gemeinsamer Unternehmungen als societas dar.76 Inschriften und Papyri bestätigen dies, denn es gibt in ihnen nur vergleichsweise wenige Belege für gemeinsame wirtschaftliche Unternehmungen von mehr als zwei Mitgliedern.77 Mit dem, was Gaius in den Institutionen über das Recht der societas mitteilt, ist dieser Befund sehr gut vereinbar: Alles, was Gaius über die societas sagt, passt auch und gerade für bloße Zweipersonenverhältnisse.78 An einer Stelle ist aus Gaius’ Wortwahl sogar direkt ableitbar, dass er von einer lediglich zweigliedrigen societas ausgeht.79 Ist die societas für Gaius offenbar häufig oder sogar typischerweise eine vertragliche Beziehung von nur zwei Personen, wird nochmals ein Stück weit verständlicher, warum er die societas zwischen Kauf und Auftrag als obligatio behandelt und nicht unter den personae diskutiert.
*** Spätestens die Überlegungen zu Dauer und Größe der societas werfen die Warum-Frage auf: Warum war die societas, wie Gaius sie in seinen Institutionen präsentiert, so und nicht anders? Teils führt diese Frage in die Antike 76
Fleckner (Fn. 49), insb. 241–253. Fleckner ZRG RA 135 (2018), 685, 696–699. 78 Dieser Eindruck, der auch für viele andere societas-Quellen des römischen Rechts gilt, hat sogar zu der Annahme geführt, die societas sei im klassischen römischen Recht immer zweigliedrig gewesen; so insb. Guarino AAN 83 (1972), 261–359; hiergegen z.B. Wieacker IVRA 24 (1973), 243, 252–254, Kaser SDHI 41 (1975), 278, 321–329 und Fleckner (Fn. 22), insb. 141–143. 79 G. 3.149 („nam et ita posse coiri societatem constat, ut unus pecuniam conferat, alter non conferat et tamen lucrum inter eos commune sit“). Überhaupt passen die Überlegungen, die Gaius zur Gewinn- und Verlustverteilung anstellt (vorstehend unter III. 1.), nur für sehr kleine Vereinigungen, bei denen die socii ihre jeweilige Arbeitsleistung gegenseitig beobachten und bewerten können. 77
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Rechtsgeschichte und allgemeiner in die Alte Geschichte, teils aber auch direkt zur ökonomischen theory of the firm und damit zu Themen, die seit Jahren im Zentrum von Forschung und Lehre der Jubilarin stehen. Ähnliches gilt für die Überlegungen zur Gewinn- und Verlustverteilung in der societas, da Gaius in diesem Zusammenhang den Wert der Arbeitsleistung betont und damit – aus heutiger Sicht – in den Schnittbereich von Arbeits- und Gesellschaftsrecht gerät, einen weiteren Schwerpunkt im Wirken der Jubilarin. Last but not least steht die Jubilarin mit ihrem Lehrbuch zum Gesellschaftsrecht von Auflage zu Auflage vor demselben Problem wie Gaius mit seinen Institutionen: Wie die ausufernde Stoffmenge so verdichten und systematisieren, dass die Darstellung für Studierende leicht verständlich bleibt, gleichzeitig aber nicht an praktischer Anschaulichkeit und juristischer Präzision einbüßt? Der Verfasser würde sich sehr freuen, über diese und weitere gesellschaftsrechtliche Fragen mit der Jubilarin ins Gespräch zu kommen. Gleichzeitig hofft er, dass dieser Beitrag über „Das Gesellschaftsrecht in den Institutionen des Gaius“ dem Gesellschaftsrecht ebenso wie der Romanistik einen kleinen Anstoß dazu gibt, sich öfter in das Niemandsland zwischen römischem Sozietätsrecht und heutigem Gesellschaftsrecht vorzuwagen.
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Einpersonen-Kapitalgesellschaften
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Einpersonen-Kapitalgesellschaften Holger Fleischer
Einpersonen-Kapitalgesellschaften: Ein dogmengeschichtlicher Rechtsvergleich HOLGER FLEISCHER
Christine Windbichler hat einen untrüglichen Blick für juristische Konstruktionen und deren wirtschaftliche Funktionen.1 Sie kann dabei aus ihrer reichen rechtsvergleichenden Erfahrung und ihrer unternehmensrechtlichen Allround-Ausbildung im Arbeits-, Gesellschafts- und Kartellrecht schöpfen. Ich hoffe daher auf ihr Interesse, wenn hier eine Figur unter die Lupe genommen wird, die der gesellschaftsrechtlichen Dogmatik lange Zeit nicht recht geheuer war: die Einpersonen-Kapitalgesellschaft. Dies zeigt sich etwa darin, dass sie in Windbichlers großem Gesellschaftsrechts-Lehrbuch gleich zu Beginn als Besonderheit erwähnt2 und in späteren Kapiteln abermals aufgegriffen wird.3 Der vorliegende Beitrag verfolgt die dogmengeschichtlichen Spuren der Einpersonen-Kapitalgesellschaft in verschiedenen Jurisdiktionen4 und fragt nach den Gründen für und Einwänden gegen ihre Anerkennung.
I. Entwicklungslinien in Deutschland Gemäß § 1 GmbHG können Gesellschaften durch eine oder mehrere Personen errichtet werden. In der Anlage zu § 2 Abs. 1a GmbHG findet sich sogar ein „Musterprotokoll für die Gründung einer Einpersonengesellschaft“. Einpersonen-Kapitalgesellschaften sind damit heute eine gesell1 Vgl. zuletzt Windbichler NZG 2018, 1241: „Konzernrecht: Gibt es das?“; dies. in FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, 673: „Die ,menschliche‘ juristische Person im Rechtsvergleich“. 2 Vgl. Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, § 1 Rn. 1: „Das zeigt sich etwa bei der Einpersonengesellschaft, die keine Personengemeinschaft ist, aber zum Gesellschaftsrecht gehört, da sie sich der gesellschaftsrechtlichen Organisationsform der Körperschaft bedient, um einen gesonderten Interessenträger hervorzubringen.“. 3 Vgl. etwa Windbichler (Fn. 2), § 21 Rn. 34 ff. (Einpersonen-GmbH), § 25 Rn. 22 f. (Einpersonen-AG). 4 Rechtsvergleichende Vorarbeiten bei Alonso Ureba in Alonso Ureba/Chico Ortiz/ Lucas Fernández (Hrsg.), La reforma del Derecho español de sociedades de capital, 1987, 217, 222 ff.; Grisoli, Le società con un solo socio. Analisi dei dati di una ricerca comparatistica, 1971; Lutter in FS Brandner, 1996, 81; Ochs Die Einpersonengesellschaft in Europa, 1997.
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schaftsrechtliche Selbstverständlichkeit und aus dem Wirtschaftsleben kaum mehr wegzudenken: Jüngeren Erhebungen zufolge liegt ihr Anteil deutlich über 30 Prozent, teilweise bei 40 bis 60 Prozent aller GmbHs.5 Ursprünglich sah sie sich allerdings heftigen Widerständen ausgesetzt. Fritz Rittner hat sie daher trefflich als „Schmerzenskind der Rechtswissenschaft“6 bezeichnet. Im konkreten Problemzugriff pflegt man zwischen der nachträglichen Entstehung einer Einpersonengesellschaft und der originären Einpersonengründung zu unterscheiden: 1. Anerkennung der nachträglichen Entstehung durch das RG Dass eine Kapitalgesellschaft nach Vereinigung aller ihrer Anteile in einer Hand nicht aufgelöst wird, sondern fortbesteht, hatte das RG zuerst 1888 für eine nach preußischem Recht errichtete bergrechtliche Gewerkschaft7 entschieden.8 Zur Begründung stützte es sich auf eine Digestenstelle zur römischen universitas, einem öffentlichen Personenverband: „Wenn aber die universitas auf ein Mitglied geschrumpft ist, spricht mehr dafür, daß er klagen und verklagt werden kann, denn das Recht aller ist in einen gefallen und der Name der universitas besteht fort.“9 Dieser im kanonischen und gemeinen Recht fest verankerte Kontinuitätsgrundsatz10 hatte für Korporationen, also für staatlich genehmigte Gesellschaften mit einem fortdauernden gemeinnützigen Zweck, Eingang in das Preußische Allgemeine Landrecht (ALR) von 1794 gefunden: „Corporationen und Communen dauern fort, wenn auch nur noch Ein Mitglied vorhanden ist.“11 Das RG sah keine Bedenken, diesen Rechtssatz auf die bergrechtliche Gewerkschaft zu übertragen.12 Außerdem verwies es darauf, dass die Vereinigung sämtlicher Anteile (Kuxe) in einer Hand jeden Augenblick wieder beseitigt werden könne.13 Gerade deshalb sei die Bestimmung des ALR besonders praktisch und entspreche dem Verkehrsbedürfnis.14 Drei Jahre später entschied das RG, dass die nach § 182 Satz 1 HGB 1897 erforderliche Mindestzahl von fünf Grün5 Vgl. Bayer/Hoffmann GmbHR 2014, 12, 13 f.; Kornblum/Hampf/Naas GmbHR 2000, 1240, 1245, 1249 f.; Meyer GmbHR 2002, 177, 179 f.; zusammenfassend Fleischer in MüKo GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 1 Rn. 63. 6 Rittner Die werdende juristische Person, 1973, 238. 7 Die bergrechtliche Gewerkschaft war eine Kapitalgesellschaft zum gemeinschaftlichen Betrieb eines Bergwerks, deren Anteile (Kuxe) die Gewerken hielten. Sie wurde im Jahre 1994 abgeschafft. 8 RGZ 23, 202. 9 D. 3,4,7,2. 10 Eingehend dazu und zum Prinzip der Kontinuität bei Veränderungen des Mitgliederbestandes Mehr, Societas und universitas, 2008, 216 ff. 11 ALR II, 6 § 177. 12 Vgl. RGZ 23, 202, 203. 13 So RGZ 23, 202, 204. 14 In diesem Sinne RGZ 23, 202, 204.
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dern für eine Aktiengesellschaft auch von Strohmännern erfüllt werden könne.15 Einwände, dass diese ihre Gründungserklärungen nur zum Schein abgäben oder sich an dem Unternehmen in Wahrheit nicht beteiligen wollten, ließ es nicht gelten.16 Bald nach Inkrafttreten des GmbH-Gesetzes von 1892 ging es abermals um die Zulässigkeit einer Strohmanngründung. § 2 Abs. 1 Satz 2 GmbHG hatte ursprünglich vorgeschrieben, dass der Gesellschaftsvertrag „von sämmtlichen Gesellschaftern zu unterzeichnen“ ist. Hieraus folgerte man einmütig, dass zur Gründung einer GmbH mindestens zwei Personen nötig seien.17 Um diesem Erfordernis zu genügen, griff die Gestaltungspraxis18 auch hier auf einen Strohmann zurück: Er wirkte als treuhänderischer Gesellschafter am Gründungsvorgang mit, erklärte aber bereits bei Abschluss des Gesellschaftsvertrages die Abtretung seines Gesellschaftsanteils an den einzigen Mitgründer.19 Das RG bejahte im Jahre 1905 die Zulässigkeit dieser Gründungspraxis für die GmbH unter Berufung auf seine früheren Entscheidungen zur bergrechtlichen Gewerkschaft und zur AG: „Auch die Gesellschaft m.b.H. hat als solche selbständig ihre Rechte und Pflichten (§ 13). Bedarf es zwar zu ihrer Entstehung einer Mehrzahl von Gesellschaftern, so ist sie doch, einmal entstanden, unabhängig von der Person derjenigen, denen jeweils die Geschäftsanteile zustehen, und das Gesetz enthält keine Bestimmung, wonach die Vereinigung aller Geschäftsanteile in einer Hand die Auflösung zur Folge hat.“20 2. Kritik und Zustimmung in der Rechtslehre Im Schrifttum rief die Einpersonen-Kapitalgesellschaft von Anfang an gemischte Reaktionen hervor: Manche beklagten wortreich ihre theoretischen Defizite, andere betonten nicht minder eloquent ihre praktische Notwendigkeit.
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Vgl. RGZ 28, 75, 77. Vgl. RGZ 28, 75, 77. 17 Vgl. etwa Holdheim Holdheims Monatsschrift für Aktienrecht und Bankwesen 1895, 96, 100. 18 Über einen frühen – vielleicht den ersten – praktischen Anwendungsfall betreffend die Basaltgesellschaft Limbergs Kopf mit beschränkter Haftung aus Bad Honnef berichtete Holdheim Holdheims Monatsschrift für Aktienrecht und Bankwesen 1895, 96, 100: „Eine Anfrage ergab, daß Herr Louis Voß als alleiniger Gesellschafter eingetragen ist. Es giebt also thatsächlich in Deutschland einen Menschen, der neben seiner physischen Person zugleich eine juristische Person darstellt, also zwei Persönlichkeiten in sich vereinigt.“. 19 Monographische Aufarbeitung bei O. Kuhn Strohmanngründung bei Kapitalgesellschaften, 1964. 20 RG SeuffArch 60 (1905), 410 f. 16
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a) Einpersonen-Kapitalgesellschaften im Lichte der Theorien zur juristischen Person Eine lebhafte Debatte entzündete sich schon früh an dem rechtsdogmatischen Fundament der Einpersonen-Kapitalgesellschaft. Die auf Friedrich Carl von Savigny zurückgehende Fiktionstheorie stand hier vor keinen großen Erklärungsnöten: Sie konnte sich historisch auf den Fortbestand der eingliedrigen universitas berufen und betrachtete daher auch die Einpersonen-Kapitalgesellschaft ohne Weiteres als juristische Person.21 Savigny selbst hatte 1840 im System des heutigen römischen Rechts den Grundton vorgegeben: „Für die collegia insbesondere, das heißt für die willkührlichen Corporationen (§ 88) gilt die Regel, daß drey Mitglieder dazu erforderlich sind. Das hat jedoch lediglich den Sinn, daß sie nur unter Voraussetzung einer solchen Zahl anfangen können; denn fortdauern kann jede einmal gegründete universitas auch in einem einzigen Mitglied.“22 Demgegenüber hegte Otto v. Gierke auf der Basis seiner Theorie der realen Verbandspersönlichkeit konzeptionelle Vorbehalte gegen die Einstufung der Einpersonen-Kapitalgesellschaft als juristische Person. Nach seiner Ansicht beruhte die These von der Fortdauer der universitas auf einer anstaltlichen Auffassung der Körperschaft und konnte deshalb auf zeitgenössische Körperschaften nicht übertragen werden.23 Vielmehr führe der „Wegfall der Personengesammtheit, welche den lebendigen Körper der Gesammtperson bildet“24, zum Erlöschen der Körperschaft.25 Keine Körperschaft könne nur mit einem Mitglied fortbestehen, weil dieses eine Mitglied „niemals eine Personengesammtheit mit einem gegen die Individualwillen rechtlich verselbstständigten Gemeinwillen bilden“26 könne. Hieraus zog v. Gierke den Schluss, dass eine AG mit nur einem Aktionär oder eine GmbH mit nur einem Gesellschafter als Rechtspersönlichkeit erlösche und vom Gericht von Amts wegen bzw. auf Antrag des Alleinaktionärs oder eines Gläubigers jederzeit aufgelöst werden könne.27 v. Gierkes Fundamentalkritik an der juristischen Persönlichkeit der Einmanngesellschaft wirkte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nach. So liest man etwa in dem großen Handelsrechtslehrbuch des Basler Ordinarius Karl Wieland von 1921: „Wer die juristische Person im Sinne ei21 So etwa Puchta Pandekten, 12. Aufl. 1877, 45; Windscheid Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1862, 136. 22 v. Savigny System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 2, 1840, 275 f. 23 So v. Gierke Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, 835 f. 24 v. Gierke (Fn. 23), 833. 25 So v. Gierke (Fn. 23), 833. 26 v. Gierke (Fn. 23), 835. 27 So v. Gierke (Fn. 23), 839 mit Fn. 2; ders. Deutsches Privatrecht, Bd. I, 1895, 558 f. mit Fn. 14 (dort auch zur GmbH).
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ner realen Gesamtperson versteht, für den hat mit Aufhören des Personenverbandes auch die Persönlichkeit ihr Ende erreicht.“28 Ähnlich argumentierte Erich Feine 1929, die Einpersonen-GmbH sei mit v. Gierkes Lehre nur dadurch in Einklang zu bringen, dass der Gesellschaft die „Eigenschaften der Körperschaft“ beigelegt werden, die sie „tatsächlich nicht hat und nicht haben kann“29. Andere Literaturstimmen sahen das Problem der Einpersonen-Kapitalgesellschaft weniger in dem fehlenden Personenverband, sondern eher in der Verdoppelung der Identität des Alleingesellschafters: So monierte Adolf Baumbach 1937 in seinem Aktienrechts-Kommentar, ein und derselbe Mensch könne unmöglich auf der einen Seite eine natürliche Person sein, mit einer anderen Vermögensmasse aber eine juristische, also gedachte.30 Einhellig gelangten alle Kritiker zu der Schlussfolgerung, dass die Einpersonen-Gesellschaft nicht als juristische Person, sondern als gebundenes Sondervermögen des Alleingesellschafters bzw. als Einzelunternehmen mit beschränkter Haftung zu betrachten sei.31 b) Billigung durch die herrschende Lehre Die überwiegende Lehre stand der Figur der Einpersonen-Kapitalgesellschaft dagegen schon früh aufgeschlossen gegenüber, zumindest bei ihrer nachträglichen Entstehung durch Vereinigung aller Anteile in einer Hand.32 Dabei dürfte deren feste Verankerung in Rechtsprechung und Kautelarpraxis eine wichtige Rolle gespielt haben. Gelegentlich war sogar von einer nahezu gewohnheitsrechtlichen Anerkennung der Einmann-Gesellschaft die Rede.33 In der Sache betonten ihre Anhänger vor allem deren wirtschaftliche Notwendigkeit und verwiesen darauf, dass ein nachträglicher Untergang der GmbH wegen der Vereinigung aller Anteile in einer Hand eine Katastrophe für die Gläubigerschaft wäre.34 Andererseits drohten auch dem verbleibenden Gesellschafter erhebliche Nachteile, wenn er plötzlich statt nur mit dem Betriebsvermögen mit seinem ganzen Vermögen haften müsste.35 Darüber hinaus könne die (Zwangs-)Auflösung der Gesellschaft gravierende Konse28
Wieland Handelsrecht, Bd. I, 1921, 510. Feine Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 1929, 435. 30 So Baumbach AktG, 2. Aufl. 1937, Anh. nach § 124 Anm. 2. 31 Vgl. nur Wieland Handelsrecht, Bd. 2, 1931, 391 ff.; Baumbach (Fn. 30), Anh. nach § 124 AktG Anm. 2. 32 Vgl. etwa Stobbe Handbuch des deutschen Privatrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1882, 437 mit Fn. 6; Dernburg Bürgerliches Recht, Bd. 1, 3. Aufl. 1906, § 88, 288; § 89, 299; ausführlich Renaud Das Recht der Actiengesellschaften, 2. Aufl. 1875, § 89, 822 ff.; ferner Staub/ Hachenburg GmbHG, 3. Aufl. 1909, § 60 Anm. 24; Brodmann GmbHG, 2. Aufl. 1930, § 2 Anm. 8. 33 So Feine (Fn. 29), 435. 34 So Scholz GmbHG, 2. Aufl. 1950, § 15 Rn. 61. 35 In diesem Sinne Brönner GmbHR 1952, 81. 29
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quenzen für die Belegschaft und letztendlich für die gesamte Volkswirtschaft haben.36 Diese wirtschaftlichen Argumente waren in der Diskussion um die Daseinsberechtigung der Einmanngesellschaft derart ausschlaggebend, dass selbst ihre Gegner zugeben mussten, sie sei „bei der heutigen wirtschaftlichen Entwicklung kaum zu entbehren“37. Gleichwohl bleibe sie logisch betrachtet „ein Widerspruch in sich selbst“38, „ein Unding“39, eine Konstruktion, die offenbar vielfach missbraucht werde und der „Absicht des Gesetzes in das Gesicht schlägt“40. 3. Nationalsozialistische Angriffe gegen Einmann-GmbH und Strohmanngründung Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme änderten sich Ideologie und Rhetorik.41 Zahlreiche Stimmen diskreditierten die GmbH als Schöpfung liberalen Rechtsdenkens des 19. Jahrhunderts, die dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet habe und mit nationalsozialistischen Anschauungen unvereinbar sei, weil sie durch ihre Haftungsbeschränkung dem Grundsatz der Unternehmerverantwortung zuwiderlaufe.42 Im offiziösen NS-Handbuch für Recht und Gesetzgebung trat Crisolli dafür ein, die GmbH fortan nicht mehr als juristische Person, sondern nur noch als zweckgebundenes Vermögen der Gesellschafter anzusehen43; andere forderten gar ihre gänzliche Abschaffung.44 Unter diesem Blickwinkel waren Einpersonen-GmbH und Strohmanngründung der nationalsozialistischen Rechtsideologie erst recht suspekt.45 36 Vgl. Roeckerath Die „Einmanngesellschaft“, 1938, 41 mit dem erdachten Beispiel des Untergangs der Familie Krupp und der Vereinigung aller Anteile an der Krupp AG in der Hand eines Alleinerben. 37 Teichmann/Koehler AktG, 3. Aufl. 1950, § 1 Anm. 6. 38 Teichmann/Koehler (Fn. 37), § 1 AktG Anm. 6; ganz ähnlich Brodmann (Fn. 32), § 2 GmbHG Anm. 8: „ein logischer Widersinn“ und Baumbach (Fn. 30), Anh. nach § 124 AktG Anm. 2: „ein vollkommener Widersinn“. 39 Brodmann (Fn. 32), § 2 GmbHG Anm. 8. 40 Brodmann (Fn. 32), § 2 GmbHG Anm. 8; zustimmend zur 1. Aufl. RG JW 1925, 635, 638. 41 Eingehend zur rechtspolitischen Diskussion um die GmbH während des Nationalsozialismus Fleischer (Fn. 5), Einl. Rn. 87 ff.; speziell zur Bekämpfung von Strohmanngründungen die Analyse von Kuhn (Fn. 19), 11 ff. 42 Vgl. etwa Bachmann Die Deutsche Volkswirtschaft 1935, 1121, 1123; C. Fischer ZfB 1937, 172, 183. 43 Vgl. Crisolli in Frank (Hrsg.) Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, 2. Aufl. 1935, 1155, 1157; ders. JW 1935, 8, 12. 44 So etwa Bachmann Die Deutsche Volkswirtschaft 1935, 1120, 1122; C. Fischer ZfB 1937, 172, 183; v. Frankenberg und Proschlitz Die nationale Wirtschaft 1934, 177, 180. 45 Vgl. Crisolli JW 1934, 936, 938; Franke JW 1934, 1149; Grashoff JW 1934, 936, 938 f.; Groschuff JW 1935, 3257, 3262; Herbig DJ 1936, 466 f.; ders. DFG 1936, 85; ders. DNotZ 1937, 194, 195.
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„Die neue Rechtsentwicklung, die auf allen Gebieten die Lauterkeit, Offenheit und Reinheit der Rechtsbeziehungen erfordert“, verlange „eine Säuberung des Wirtschaftslebens“ und lasse für „Schiebungen“ wie bei der Strohmann-Gründung keinen Raum mehr.46 Diese seien eine „wahre Plage für jeden recht und billig denkenden Registerrichter“47; ihre Gefahr liege „in den schädlichen Auswirkungen, die sie auf die Geschäftsmoral haben“48. Diese geistige Strömung schlug sich auch in der instanzgerichtlichen Spruchpraxis nieder.49 4. Fortführung der RG-Judikatur durch den BGH Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte das Schrifttum stillschweigend50 zu den Ergebnissen aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus zurück.51 Der BGH knüpfte nahtlos an die RG-Judikatur an und billigte in einem Grundlagenbeschluss von 195352 die nachträgliche Entstehung einer EinpersonenKapitalgesellschaft: Auch wenn eine GmbH nicht als Einmanngesellschaft gegründet werden könne, weil dazu nach § 2 GmbHG [a.F.] ein Vertrag, eine Gesellschaft, gehöre, so bestehe sie doch als juristische Person fort, wenn sich alle Geschäftsanteile durch Abtretung in einer Hand vereinigten.53 Resümierend fügte er hinzu: „Die Bedenken, die gegen die Einmann-GmbH erhoben worden sind und der Standpunkt, daß der Einmann-GmbH die eigene Rechtspersönlichkeit fehle und das Gesellschaftsvermögen nur ein gebundenes Sondervermögen des Alleingesellschafters sei (Schilling in Hachenburg GmbHG § 13 Anh 1, 4 und JZ 1953, 161; ähnlich Baumbach AktG 2. Aufl; Anh nach § 124 Anm. 2), wenden sich gegen ein Gebilde, das rechtstheoretisch zwar nicht überzeugend begründbar ist, das aber gewohnheitsrechtlich anerkannt und volkswirtschaftlich unschädlich ist, für das ein praktisches Bedürfnis besteht und gegen das außer begrifflichen Bedenken nichts Durchgreifendes geltend gemacht werden kann.“54 46
Crisolli JW 1934, 936, 937, 938. Groschoff JW 1934, 940, 949 f. 48 Grashoff JW 1934, 986, 987. 49 Für ein Beispiel LG Berlin DJ 1936, 465, 466: „Diese strenge Auslegung des § 117 BGB entspricht dem Rechtsempfinden des nationalsozialistischen Staates. […]. Die von vornherein beabsichtigte Strohmanngründung zum Zwecke der Errichtung einer Einmanngesellschaft muß als Mißbrauch des G.m.b.H.-Gesetzes bezeichnet werden und verdient keine Unterstützung durch die Gerichte.“. 50 So auch Kuhn (Fn. 19), S. 15: „stille Rückkehr“. 51 Vgl. Brönner GmbHR 1952, 81; R. Fischer GmbHR 1956, 72; Kreifels GmbHR 1956, 81; Siebert BB 1954, 417. 52 BGHZ 21, 378 – Faba Fahrradbau GmbH; näher zu den Gründen und Hintergründen dieses Beschlusses Fleischer/Dubovitskaya in Fleischer/Thiessen (Hrsg.) Gesellschaftsrechts-Geschichten, 2018, § 4, 117 ff. 53 So BGHZ 21, 378, 383. 54 BGHZ 21, 378, 383. 47
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5. Gestattung der Einpersonengründung durch den Gesetzgeber Schon unmittelbar nach dem BGH-Beschluss warben rechtspolitische Stimmen für eine Gestattung der originären Einpersonengründung durch den Gesetzgeber: Je großzügiger man die Zulässigkeit von StrohmannGründungen bejahe, desto näher liege die Erwägung, dass die Vorschriften des GmbH-Gesetzes nur noch eine formale Erschwerung der Gründung bildeten, während der Sache nach bereits anerkannt sei, dass von vornherein ein Alleingesellschafter eine GmbH gründen könne.55 Anlässlich der – letztlich gescheiterten – GmbH-Reform von 1969/71/7356 gewann diese Auffassung an Zulauf.57 Im Jahre 1971 sprach sich der mit führenden Professoren besetzte Arbeitskreis GmbH-Reform (G. Hueck, Lutter, Mertens, Rehbinder, Ulmer, Wiedemann, Zöllner) ebenfalls für die Zulässigkeit der Einpersonengründung aus.58 Energischen Widerstand leistete namentlich MeyerCording59, der vorzeiten die amtliche Begründung zu dem Referentenentwurf eines GmbH-Gesetzes von 1939 beigesteuert hatte.60 Er warnte davor, dass dieser Vorschlag auf eine „endgültige Legitimierung dieses unehelichen Kindes des Gesetzes“ hinauslaufe und ein „Signal für freie Fahrt in die falsche Richtung“61 sei. Der Reformgesetzgeber ließ sich dadurch nicht mehr 55
So ausdrücklich Siebert BB 1954, 417, 419; früher schon für die Parallelfrage im Aktienrecht Geiler Die wirtschaftlichen Strukturwandlungen und die Reform des Aktienrechts, 1927, 8: „So ist die Vorschrift des § 182 HGB, wonach der Gesellschaftsvertrag durch fünf Gründer festgestellt werden muß, in der praktischen Handhabung insofern durchlöchert, als auch Strohmänner als wahre Gründer gelten. Es fragt sich, ob unter diesen Umständen das Erfordernis der Mitwirkung von fünf Gründern noch einen Wert hat.“. 56 Zu ihr Fleischer (Fn. 5), Einl. Rn. 99 ff. 57 Vgl. etwa Wiethölter in Centrale für GmbH (Hrsg.), Probleme der GmbH-Reform, 1970, 11, 13; Ulmer ebenda, 42, 56 f. 58 Vgl. Arbeitskreis GmbH-Reform, Thesen und Vorschläge zur GmbH-Reform, Bd. II, 1972, 35, 39. 59 Vgl. Meyer-Cording JZ 1978, 10 unter der Überschrift „Der Kritiker der EinmannGmbH – ein Rufer in der Wüste?“ mit der Bemerkung: „Der Einmann ist zugleich natürliche und juristische Person und führt eine Doppelexistenz wie zum Beispiel in der Literatur E.A. Poe’s ‚Dr. Jekyll und Mr. Hyde‘.“ [Diese Novelle stammt allerdings nicht von Poe, sondern von Robert Louis Stevenson] […] „Die E-Gesellsch. ist aber erstens keine Gesellschaft und zweitens fehlen bei ihr die Gründe, die im Gesellschaftsrecht die Haftungsbeschränkung rechtfertigen.“. 60 Dazu und zu diesem Entwurf Fleischer (Fn. 5), Einl. Rn. 94 ff.; in der damaligen Entwurfsbegründung, abgedruckt bei Schubert (Hrsg.) Entwurf des Reichsjustizministeriums zu einem Gesetz über Gesellschaften mit beschränkter Haftung von 1939, 1985, 151 heißt es zu § 1 GmbHG-E: „Aus dem Wesen der Gesellschaft mit beschränkter Haftung als einer Gesellschaft ergibt sich, daß bei ihrer Errichtung mindestens 2 Personen mitwirken müssen. Wenn der Entwurf dies ausdrücklich hervorhebt, so nimmt er damit zugleich eindeutig gegen die Gründung einer Einmanngesellschaft Stellung. Mit dem Gesetz nicht vereinbar ist auch die Errichtung einer verschleierten Einmanngesellschaft.“. 61 Meyer-Cording JZ 1978, 10.
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beirren und billigte mit der GmbH-Novelle von 198062 die Einpersonengründung.63 Zur Rechtfertigung verwiesen die Gesetzesmaterialien auf die Nähe der originären Einpersonengründung zur Strohmann-Gründung.64 Diese ist als Alternative weiterhin statthaft.65 Ein knappes Jahrzehnt später wurde die Möglichkeit der Einpersonengründung durch die 12. Richtlinie auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts66 gemeinschaftsweit festgeschrieben. Art. 6 der Richtlinie stellt es den Mitgliedstaaten frei, die Einpersonengesellschaft auch für Aktiengesellschaften zuzulassen. Mit dem Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts von 199467 hat der deutsche Gesetzgeber hiervon durch eine Änderung des § 2 AktG68 Gebrauch gemacht.69
II. Entwicklungslinien in England und den Vereinigten Staaten 1. England Der Joint Companies Act 1856 und der Companies Act 1862, die den Beginn des modernen englischen Gesellschaftsrechts markierten, hatten eine Mindestzahl von sieben Gründergesellschaftern verlangt.70 Obwohl dem historischen Gesetzgeber allein Publikumsgesellschaften als Regelungsob62
BGBl. I, 836. Näher dazu Fleischer (Fn. 5), § 1 GmbHG Rn. 61 ff. 64 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 8/1347, S. 28: „Der Gründung einer Einmann-GmbH kommt die durch die Rechtsprechung anerkannte Praxis aber bereits nach geltendem Recht sehr nahe. Gründer bedienen sich nicht selten einer zweiten Person, die nur für den Augenblick der Gründung einen Geschäftsanteil übernimmt und ihn alsdann oder schon im voraus an den Gründer abtritt. […] Angesichts dieser Entwicklung will der Entwurf die Gründung einer Einmann-GmbH nunmehr gesetzlich zulassen.“. 65 Vgl. Fleischer (Fn. 5), § 1 GmbHG Rn. 65 mwN. 66 Zwölfte Richtlinie 89/667/EWG auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter, ABl. Nr. L 395/40 vom 30.1.21989. 67 BGBl. I, 1961. 68 Dazu BT-Drucks. 12/6721, 6: „Die bisherige Fassung des § 2 AktG sieht vor, daß sich bei der Gründung einer Aktiengesellschaft mindestens fünf Personen an der Feststellung der Satzung und der Aktienübernahme beteiligen. Die Zahl ist willkürlich gegriffen. Beabsichtigt war eine Mehrzahl von zivil- und strafrechtlich haftenden Personen von Anfang an. Die verlangte Mehrzahl von Personen besagt allerdings nichts über ihre Vermögensverhältnisse und ihre tatsächliche Fähigkeit, die übernommenen finanziellen Verpflichtungen auch zu erfüllen. Es reicht aus, wenn ein Gründer über die finanziellen Ressourcen verfügt, um das gesamte Aktienkapital zu übernehmen.“. 69 Zur rechtstatsächlichen Verbreitung Bayer/Hoffmann AG 2016, R 79 ff. 70 Vgl. s 6 Companies Act 1862: „Any seven or more persons associated for any lawful purpose may, by subscribing their names to a memorandum of association […] form an incorporated company, with or without limited liability.“. 63
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jekt vor Augen standen,71 entdeckten kleinere Unternehmen die neue Organisationsform bald für sich.72 Ein frühes Praktikerhandbuch empfahl dem sole trader, zur Gründung einer Einpersonengesellschaft sechs Freunde, Verwandte oder Angestellte beizuziehen.73 Ob die faktische Anerkennung solcher Strohmanngründungen in Wirtschaftskreisen74 auch vor Gericht Bestand hatte, war Gegenstand der berühmten Salomon-Entscheidung von 189775: Aron Salomon hatte im Juli 1892 sein einzelkaufmännisches Schuhmachergeschäft in eine company eingebracht, indem er seine Frau und seine fünf ältesten Kinder als Gesellschafter gewann und sie mit je einer Aktie ausstattete. Er selbst hielt 20.000 Anteile. Der Court of Appeal urteilte, dass sich mit Familienangehörigen als nominee shareholders nach dem Willen des historischen Gesetzgebers keine persönliche Haftungsbeschränkung erreichen ließe.76 Das House of Lords hob diesen Richterspruch in einem stärker am Gesetzeswortlaut orientierten Urteil jedoch wieder auf77 und billigte damit in der Sache die Zulässigkeit einer Einpersonen-Kapitalgesellschaft.78 71 Vgl. Ireland 1984, 12 Int. J. of the Sociology of Law 239, 242: „Despite its permissiveness, it is evident that the proponents of the 1856 Act did not intent to make the newly constituted company form available to ‘private’ companies or to sole traders.”. 72 Näher McQueen A Social History of Company Law. Great Britain and the Australian Colonies 1854–1920, 2010, 142 f.; rechtsvergleichend Fleischer ZGR 2016, 36, 42 ff. 73 Vgl. Cox The Law and Practice of Joint Stock Companies and Other Associations, as Regulated by the Companies Act, 1862, 6. Aufl. 1862, 23 f.: „As the company must consist of seven persons at the least, he has but to give one share of 1 £ to each of his children (if of age), brothers or sisters, parents or servants and keep the remaining 994 shares himself, and so he will obtain the advantages of incorporation, and the privilege of not being liable for any of his debts or contracts beyond the 994 £ […].”. 74 Dazu McQueen 27 Federal L. Rev. 181, 184 (1999); Lim (2014) 41 J. Law & Society 523, 533, 539. 75 Eingehende Aufarbeitung anhand der historischen Quellen bei Rubin in Adams (Hrsg.), Essays for Clive Schmitthoff, 1983, 99 ff. 76 Vgl. Broderip v Salomon [1895] 2 Ch (CA) 323, 337: „Although in the present case there were, and are, seven members, yet it is manifest that six of them are members simply in order to enable the seventh himself to carry on business with limited liability. The object of the whole arrangement is to do the very thing which the legislature intended not to be done; and ingenious as the scheme is, it cannot have the effect desired so long as the law remains unaltered.“. 77 Vgl. Salomon v Salomon [1897] AC (HL) 22, 30 (Lord Halsbury LC): „I must pause here to point out that the statute enacts nothing as to the extent or degree of interest which may be held by each of the seven, or as to the proportion of interest which may be held by each of the seven, or as to the proportion of interest or influence possessed by one or the majority of the shareholders over the others. One share is enough. Still less is it possible to contend that the motive of becoming or of making them shareholders is a field of inquiry which the statute itself recognises as legitimate. If they are shareholders, they are shareholders for all purposes.“. 78 Vgl. aus heutiger Sicht Gower/Davies/Worthington Principles of Modern Company Law, 10. Aufl. 2016, Rn. 2–7: „Not only did it finally establish the legality of the ‘one person’ company (long before EC law required this) and showed that incorporation was as
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Allerdings waren die nominee shareholders oder Strohmänner auch weiterhin für die gesamte Dauer der Gesellschaft unumgänglich: Der Companies (Consolidation) Act von 1908 bestimmte nämlich, dass die Gesellschaft gerichtlich aufgelöst werden kann, wenn die Zahl der Gesellschafter unter sieben oder im Falle einer private company unter zwei fällt. Zudem drohte den Gesellschaftern in diesem Fall eine unbeschränkte persönliche Haftung für die Schulden der Gesellschaft.79 Der drohende Verlust des Haftungsprivilegs hielt sich bis zum Companies Act 198580, auch wenn man an dem Sinn der Vorschrift zunehmend zweifelte81 und sie in der Praxis weitgehend toter Buchstabe blieb82. Mit Umsetzung der unionsrechtlichen Einpersonengesellschafts-Richtlinie durch die Companies (Single Member Private Limited Companies) Regulations 1992 wurden zunächst private companies von ihrem Anwendungsbereich ausgenommen. Der Companies Act 2006 strich sie schließlich ganz und gestattet die Einpersonen-Gründung seither auch für public companies.83 2. Vereinigte Staaten In den Vereinigten Staaten verlangten die frühen gesellschaftsrechtlichen Kodifikationen sämtlicher Gliedstaaten mit Ausnahme von Iowa und Michigan die Mitwirkung mehrerer Personen bei der Gesellschaftsgründung.84 Dessen ungeachtet stellten die Gerichte die Rechtsfähigkeit einer corporation ganz überwiegend nicht in Abrede, wenn sich die Anteile später in den Händen eines Gesellschafters vereinigten85 – jedenfalls dann nicht, wenn die An-
readily available to the small private partnership and sole trader as to the large public company […].“. 79 S 129 (4) bzw. sec. 115 Companies (Consolidation) Act 1908. 80 S 24 Companies Act 1985. 81 Vgl. Hoffmann L.J. in Nishet v Shepherd [1994] 1 B.C.L.C. 300, 305 (CA): „I have considerable sympathy with the appellant, who has fallen into a trap created by an ancient and obsolete rule. […] the reason why it has survived through successive Companies Acts is obscure. It seems to serve no purpose in protecting the public or anyone else.”. 82 Vgl. Gower/Davies Principles of Modern Company Law, 7. Aufl. 2003: „Although the facts giving rise to a possible application of the section are of not infrequent occurrence it seems rarely to be invoked […]. It constitutes an exception to the general rule of theoretical interest rather than practical importance.“. 83 Vgl. s 7(1) CA 2006; dazu Schall in Schall Companies Act, 2014, s 7 Rn. 2: „Außerdem ordnet sie (in Abweichung zur bisherige Rechtslage) an, dass nicht nur die private, sondern auch die public company von nur einer Person gegründet werden können – eine überfällige Konsequenz aus der Sinnlosigkeit von Gründerquoren.”. 84 Rückblickend Fuller 51 Harv. L. Rev. 1373, 1374 (1938); Silk, 100 U. Pa. L. Rev. 853 (1952). 85 Vgl. etwa Russel v. M’Lellan 31 Mass. 63, 14 Pick. 63 (1833); offenlassend aber Pepper v. Litton 308 U.S. 295 (1939).
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teilsvereinigung in good faith erfolgte.86 Allerdings ließen sie trotz Anerkennung der Rechtsfähigkeit anfangs den Durchgriff auf den Alleingesellschafter aus equity-Erwägungen zu, weil der Gesellschafter faktisch mit der Gesellschaft identisch sei.87 Im späten 19. Jahrhundert ging die Kautelarpraxis dazu über, corporations mit Hilfe sog. dummy incorporators als faktische Einpersonen-Kapitalgesellschaften zu gründen.88 Die Rechtsprechung billigte dies teils unter Berufung auf die englische Salomon-Entscheidung89, teils bekämpfte sie diese Praxis mit einer scharfen Durchgriffshaftung90. Seit den 1920er Jahren setzte sich allmählich die Auffassung durch, dass weder eine Umgehungsgründung noch eine nachträgliche Vereinigung aller Anteile in einer Hand für sich genommen einen Durchgriff rechtfertigen.91 In der Folge wurden einzelne abweichende Entscheidungen92 scharf kritisiert93 und veranlassten in einem Fall sogar den Gesetzgeber, korrigierend einzugreifen.94 Das Schrifttum begleitete die Entwicklung der one-man corporation durch die Rechtsprechung und bemühte sich, die Vielzahl der Entscheidungen zu systematisieren.95 Vielfach forderte es eigenständige gesetzliche Vorschriften für Gesellschaften mit Alleingesellschaftern oder einem überschaubaren Gesellschafterkreis.96 Nur vereinzelt regte sich rechtsdogmatischer Widerstand, am schärfsten in einer Monographie eines Professors der Fordham Universität, Maurice Wormser, unter dem reißerischen Titel „Frankenstein Incorporated“.97 86 Zu diesem Merkmal Louiseville Banking Co. v. Eisenman 21 S.W. 531, 534 (1893): „There is a difference between the attempt to create one person a corporation under this statute, and the purchase, in good faith, of all the stock after the corporation has been created.”. 87 Vgl. First Nat. Bank of Gatsen v. Winchester 24 So. 351 (1898). 88 Vgl. Fuller 51 Harv. L. Rev. 1373, 1375 (1938): „[…] today the use of dummy incorporators and dummy directors is a common technique employed in the formation of corporations, large and small.”; rückblickend Wells 5 Berkeley Bus. L. J. 263, 295 ff. (2008) m.w.N. 89 Vgl. etwa Liebhardt et al. v. Wilson 38 Colo. 1; 88 Pac. 173 (1906); aus dem Schrifttum etwa Note 9 Harv. L. Rev. 273, 280 (1895–1896); Note 32 Harv. L. Rev. 417, 426 (1918–1919). 90 Vgl. etwa James Pott & Co. v. Samuel D. Schmucker 84 Md. 535; 36 A. 592 (1897). 91 Vgl. etwa Erkenbrecher v. Grant 187 Cal. 7; 200 Pac. 641 (1921). 92 Park Terrace, Inc. v. Phoenix Indemnity Co. 85 S.E. 2d 677 (1955), reheard 91 S.E. 2d 584 (1956). 93 Latty 34 N.C.L. Rev. 471 (1956). 94 Dazu Latty 34 N.C.L. Rev. 471 (1956); Spoeri 19 Bus. Law. 305, 308 (1963). 95 Vgl. Machen A Treatise on the Modern Law of Corporation with Reference to Formation and Operation under General Laws, 1908, §§ 1084 ff.; Fletcher Cyclopedia of the Law of Private Corporations, Vol. I, 1917, § 22 und §§ 108, 109. 96 So etwa Rutledge 22 Wash. U. L. Q. 305, 338 ff. (1937); Fuller 51 Harv. L. Rev. 1373 (1938); Bailey 3 Baylor L. Rev. 1, 21 (1950); Silk 100 U. Pa. L. Rev. 853, 866 ff. (1952); Garret 19 Bus. Law. 535 (1964). 97 Wormser Frankenstein Incorporated, 1931, 95 ff., der jedoch de lege lata einen Durchgriff nur wegen Anteilsvereinigung ablehnte; dazu auch Wormser 12 Colum. L. Rev. 496, 515 ff. (1912).
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Der Model Business Corporation Act der American Bar Association sah in seiner Erstauflage von 1960 in sec. 47 mindestens drei Gründergesellschafter vor. Nur zwei Jahre später billigte er jedoch die Einpersonengründung, welche die Verwendung von ‚dummy‘ incorporators entbehrlich machte: „[T]he role of incorporator is neither significant nor lasting in effect; it is now little more than ritualistic, and the specification of three natural persons as incorporators has become unnessessary.“98 Damit sorgte er für einen Wendepunkt: Die Mehrheit der Gliedstaaten folgte seinem Beispiel noch in den 1960er Jahren;99 heute können überall one-man corporations gegründet werden.
III. Entwicklungslinien in Frankreich, Italien und Spanien 1. Frankreich In Frankreich hatte das altehrwürdige Gesetz über die société anonyme (SA) vom 24. Juli 1867 (Loi 1867), das 99 Jahre lang gelten sollte, in Art. 23 nach englischem Vorbild mindestens sieben Gründeraktionäre vorgeschrieben.100 Für die durch Gesetz vom 7. März 1925 eingeführte société à responsabilité limitée (SARL) bedurfte es nach Art. 5 mindestens zweier Gründergesellschafter. Bei einer nachträglichen Vereinigung aller Anteile in einer Hand gingen Rechtsprechung und Lehre im Anschluss an Art. 38 Loi 1867 einhellig von einer sofortigen Auflösung aus.101 In der Doktrin galt die société unipersonelle als eine „monstruosité juridique“102 oder als „non-sens“103. Konzeptionelle Einwände gegen sie stammten aus dreierlei Richtung: Erstens passt sie nicht zum traditionellen Vertragsprinzip des französischen Gesellschaftsrechts, das seit 1804 in Art. 1832 Code civil verankert ist und gleichermaßen für alle Gesellschaften gilt.104
98 Model Business Corporation Act Annotated, Second Edition, Comment to section 53, 161. 99 Zu dieser Entwicklung Spoerri 19 Bus. Law. 305 (1963); rückblickend American Bar Association Model Business Corporation Act Annotated, 4. Aufl. 2013, Vol. I, § 2.01 comment. 100 Vgl. Cozian/Viandier/Deboissy Droit des sociétés, 31. Aufl. 2018, Rn. 719 mit Fn. 2: „Car le droit anglais qui inspira les rédacteurs de la loi de 1867 exigeait sept fondateurs.“. 101 Wörtlich lautete die Vorschrift: „La dissolution peut être prononcée sur la demande de toute partie intéressée, lorsqu’un an s’est écoulé depuis l’époque ou le nombre des associés est réduit moins de sept.“. 102 Aztiria Travaux de l’association Henri Capitant, tome 9 (1955), 1957, 165. 103 Pic D.H. 1935, 33. 104 Näher zur „théorie contractuelle“ Le Cannu/Dondero Droit des sociétés, 7. Aufl. 2018, Rn. 266 ff.
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Zweitens fehlt ihr die affectio societatis105 als integrales, wenn auch schwer zu fassendes Element gesellschaftsrechtlicher Zusammenschlüsse in Frankreich.106 Drittens gilt sie als unvereinbar mit der Theorie der Einheit und Unteilbarkeit des Vermögens – jener unité de patrimoine, die Mitte des 19. Jahrhunderts von den Straßburger Professoren Aubry und Rau entwickelt wurde107 und bis heute zu den berühmtesten zivilrechtlichen Denkfiguren überhaupt zählt.108 Danach hat jede Person nur ein Vermögen, das unteilbar ist und keinen Raum für Sondervermögen einer Person lässt. Mit dem Gesetz über die Handelsgesellschaften vom 24. Juli 1966 entschloss sich der Reformgesetzgeber, die Härten einer dissolution de plein droit bei nachträglicher Anteilsvereinigung abzumildern und die Einpersonengesellschaft in Art. 9 für einen Übergangszeitraum zu tolerieren.109 Die Vorschrift findet sich heute im Allgemeinen Teil des französischen Gesellschaftsrechts und lautet übersetzt: „Die Vereinigung aller Geschäftsanteile in einer Hand zieht nicht die automatische Auflösung der Gesellschaft nach sich. Jeder Interessierte kann aber die Auflösung der Gesellschaft verlangen, wenn der Mangel nicht innerhalb eines Jahres behoben ist. Das Gericht kann zur Behebung des Mangels einen Aufschub von längstens sechs Monaten gewähren. Es kann die Auflösung nicht aussprechen, wenn der Mangel zum Zeitpunkt der Entscheidung behoben ist.“110 Zur Vermeidung von Rechtsnachteilen hatte die Gestaltungspraxis schon früh auf Strohmänner (prête-noms) zurückgegriffen, um ein Absinken unter die vorgeschriebene Mindestzahl von Gesellschaftern zu verhindern. Nach einem Bericht von 1984 operierten zwei Drittel aller SA und SARL mit solchen Strohmanngesellschaftern.111 Rechtlich handelte es sich um sociétés fictives, doch halfen die schwierige Beweislage und eine zögerliche Spruchpraxis112, 105 Vgl. Merle/Fauchon Sociétés commerciales, 23. Aufl. 2019, Rn. 57: „Dans l’EURL et la SASU, faute de pluralité d’associés, il ne peut y avoir d’affectio societatis de la part de l’associé unique […].“. 106 Näher Merle/Fauchon (Fn. 105), Rn. 57: „Mais il ne faut aucun doute qu’en l’absence d’affectio societatis, il ne saurait y avoir de société. Faute de précision légale, la doctrine s’est efforcée de cerner la notion, chacun des meilleurs auteurs y allant de sa propre définition, certains mettant en doute sa nécessité.“. 107 Aubry/Rau Cours de droit français, d’après la méthode de Zachariae, Tome VI, 4. Aufl. 1873, § 573, S. 231; rechtsvergleichend Paternot Haftungsbeschränkungen für Einzelunternehmer in Deutschland und Frankreich, 2014, 80 ff. 108 Vgl. Ghestin/Goubeaux Traité de droit civil, Introduction générale, 1990, Rn. 208: „[I]l n’existe guère de page de littérature juridique aussi célèbre que le passage du traité d’Aubry et Rau consacré à la théorie du patrimoine.“. 109 Vgl. Merle/Fauchon (Fn. 105), Rn. 277. 110 Art. 1844–5 Abs. 1 Code civil. 111 Rapport sur le projet de loi relatif à l’entreprise unipersonnelle à responsabilité limitée, Ass. Nat. N° 2598, 10.4.1984, S. 5. 112 Vgl. etwa Cass. civ., 7.1.1946, S. 1947, 1, 32: keine Strohmanngründung in einem Fall, in dem eine Person 98,5 Prozent des Kapitals zeichnet.
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das hiermit verbundene Nichtigkeitsverdikt113 auf breiter Front zu vermeiden. Zur Bereinigung dieses als unhaltbar empfundenen Zustands ließ das Gesetz vom 11. Juli 1985 als „une loi d‘assainissement juridique“114 die Gründung der Einpersonen-GmbH nach deutschem Vorbild zu115 und nannte sie entreprise unipersonelle à responsabilité limitée (EURL). Alle führenden Lehrbücher notieren den hierin liegenden Bruch mit dem Vertragsgedanken.116 Für die SA blieb es einstweilen bei den sieben obligatorischen Gründeraktionären, bis dieses Mindestquorum im Jahre 2015 auf zwei reduziert wurde.117 Eine Ausnahme galt schon immer für die öffentliche Hand: Gehören alle Anteile an einer (nationalisierten) Aktiengesellschaft dem Staat oder einer seiner Untergliederungen, so ist dies rechtlich in jeder Hinsicht unbedenklich: „Ce qui est permis à l’État ne l’est pas nécessairement aux particuliers.“118 2. Italien In Italien schöpfte der Codice di commercio von 1882 in seinen gesellschaftsrechtlichen Partien vor allem aus dem französischen Gesellschaftsgesetz vom 24. Juli 1867. Nachträglich entstandene Einpersonen-Aktiengesellschaften (società per azioni unipersonale) galten danach ex lege als aufgelöst.119 Später ging die Spruchpraxis von deren Fortbestand aus,120 doch war höchst umstritten, ob der Alleinaktionär dann persönlich für die Gesellschaftsschulden einstehen musste – so etwa Lorenzo Mossa121 und Cesare Vivante122 – oder nicht – so Tullio Ascarelli123 und Guiseppe Ferri124. Der Codice civile von 113 Cass., 16.6.1992, Bull. Joly 1992, 960 („l’arrêt Lumalle“): „Une société fictive est une société nulle et non inexistante.“ 114 Daigre Rev. de jurisp. comm. 1988, 5. 115 Vgl. Cozian/Viandier/Deboissy (Fn. 100), Rn. 1511: „à l’image des Einmann GmbH allemandes“. 116 Vgl. Cozian/Viandier/Deboissy (Fn. 100), Rn. 1512: „[…] il est indéniable que l’EURL bouscule la tradition qui présente la société comme un contrat conclu entre plusieurs partenaires ouvrant à une entreprise commune“; Merle/Fauchon (Fn. 105), Rn. 277: „Il y a là, incontestablement, une nouvelle marque du déclin de la conception contractuelle de la société […].“. 117 Dazu und zum früheren Mindestquorum von sieben Gründern Le Cannu/Dondero (Fn. 104), Rn. 664. 118 Houin, zitiert nach Ochs (Fn. 4), S. 114. 119 Aus der Spruchpraxis etwa App. Milano, 27.11.1925, Foro it. 1926, 947. 120 Vgl. namentlich Cass., 5.7.1928, Riv. dir. com. 1919, II, 154. 121 Mossa Riv. dir. comm., 1931, II, 315. 122 Vivante Trattato di diritto commerciale, Vol. 2, 1923, Rn. 750: „[…] l’unico titolare delle azioni garantisse in via sussidiaria il pagamento dei debiti sociali per gli affari conclusi quando era padrone di tutte le azioni, perchè nel nostro diritto una persona non può esercitare il commercio individualmente col beneficio della responsabilità limitata.“. 123 Ascarelli Foro it. 1931, I, 927. 124 Ferri Foro it. 1932, I, 722.
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1942, der die GmbH (società a responsabilità limitata) ins italienische Recht einführte, ordnete zwar keine Zwangsauflösung von Einpersonengesellschaften an, bürdete dem einzigen Gesellschafter aber im Insolvenzfall die persönliche Haftung auf125: „Bei Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft haftet für Gesellschaftsverbindlichkeiten der Gesellschafter unbeschränkt, der im Zeitpunkt der Entstehung dieser Verbindlichkeiten sämtliche Aktien auf sich vereinigte.“126 Ausweislich der Gesetzesmaterialien sollte so verhindert werden, dass Einzelgewerbetreibende nur beschränkt haften.127 Bei Hinzuziehen eines Strohmanns (testa di legno) nahm die h.M. anders als in Frankreich keine Nichtigkeit der Gesellschaft an. Den Strohmann traf gleichwohl eine persönliche Einstandspflicht, doch aktualisierte sich seine Haftung nur selten, weil dem Kläger die Begründungslast für die Strohmanneigenschaft oblag.128 Mit Umsetzung der Einpersonengesellschafts-Richtlinie sah sich der italienische Gesetzgeber veranlasst, unter Abschwächung des Vertragsgedankens129 auch die originäre Einpersonengründung durch einseitiges Rechtsgeschäft (atto unilaterale) zuzulassen130 und die scharfe persönliche Haftung des Alleingesellschafters im Insolvenzfall anzumildern. Nach Art. 2325 Abs. 2 bzw. Art. 2462 Abs. 2 Codice civile trifft ihn die unbeschränkte Haftung lediglich dann, wenn er seine Einlage nicht ordnungsgemäß erbracht oder das Entstehen der Einpersonengesellschaft nicht öffentlich bekannt gemacht hat.131 Die Frage, ob sich diese Haftung durch Einschalten von Strohmännern vermeiden lässt,132 wird überwiegend nur bei fraudulösem Verhalten bejaht, nicht aber schon dann, wenn ein Gesellschafter fast alle Anteile hält (partecipazione quasi totalitaria).133 3. Spanien In Spanien verlangte die Ley de Sociedades de Responsabilidad Limitada von 1953 für die damals eingeführte GmbH in Art. 1 Abs. 2 implizit min125
Näher dazu Ferri/Angelici Manuale di diritto commerciale, 14. Aufl. 2015, 253. Art. 2362 a.F. Codice civile für die AG; gleichsinnig Art. 2497 a.F. Codice civile für die GmbH. 127 Vgl. Relazione al Codice civile, n. 943: Verhinderung einer „limitazione della responsabilità nell’esercizio individuale dell’impresa“; dazu auch Campobasso Dritto delle società, 9. Aufl. 2015, 167 f. 128 Vgl. etwa Cass., 7.10.1982, Nr. 5143, Foro it., 1982, I, 2410. 129 So ausdrücklich Ferri/Angelici (Fn. 125), 253: „implica un‘attenuazione del suo significato contrattuale“. 130 Im Jahre 1992 zunächst für die GmbH in Art. 2463 Abs. 1, im Jahre 2003 dann auch für die AG in Art. 2328 Abs. 1 Codice civile. 131 Zu diesen „due eccezioni“ Campobasso (Fn. 127), 170 f. 132 Vgl. Ferri/Angelici (Fn. 125), S. 255: […] il problema praticamente più rilevante è se esse debbano ravvisarsi soltanto nelle c.d. echte Einmanngesellschaften […] o invece anche nelle c.d. wirtschaftliche Einmanngesellschaften […].” 133 Näher Campobasso (Fn. 127), S. 171 ff. m.w.N. auch zur Gegenansicht. 126
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destens zwei Gesellschafter („los socios“). Für die AG schrieb die Ley de Sociedades Anónimas von 1951 in Art. 10 Abs. 1 nicht weniger als drei Gründergesellschafter vor; für Aktiengesellschaften der öffentlichen Hand genügte nach Art. 10 Abs. 2 dagegen ein Gesellschafter.134 Ob die nachträgliche Anteilsvereinigung in einer Hand automatisch zur Auflösung der Gesellschaft führte, war ungeregelt; einen gesetzlichen Auflösungsgrund gab es insoweit nicht. Die frühe Spruchpraxis ging unter Berufung auf eine Stelle in den Gesetzesmaterialien davon aus, dass jedenfalls keine „inmediata disolutión de le sociedad“ eintrat.135 Unterschiedlich beurteilt wurde, ob der Alleingesellschafter persönlich für die Schulden der Gesellschaft einstehen musste.136 Manche Stimmen bejahten dies, weil es an einer richtigen Trennung zwischen Gesellschafts- und Privatvermögen fehlte;137 andere lehnten dies ab und verwiesen auf das Fehlen eines gesetzlichen Auflösungsgrundes sowie auf die Sonderbestimmung des Art. 10 Abs. 2 LSA 1951.138 Gelegentlich wurde auch die hierzulande schon vom RG zitierte Digenstelle zur universitas in Bezug genommen.139 Ob die Einschaltung von Strohmännern (socios testaferros) nach deutschem Vorbild wirksam oder nach französischen Vorbild nichtig war, darüber gingen die Meinungen auseinander.140 Heute erlaubt Art. 12 der Ley de Sociedades de Capital (LSC) für AG und GmbH sowohl die Einpersonengründung (lit. a) als auch die nachträgliche Anteilsvereinigung in einer Hand (lit. b). Der einzige Gesellschafter muss das Entstehen einer Einpersonengesellschaft allerdings im Handelsregister eintragen lassen; andernfalls haftet er nach Ablauf von sechs Monaten gemäß Art. 14 LSC persönlich, unbeschränkt und gesamtschuldnerisch für die Gesellschaftsverbindlichkeiten.
IV. Zusammenfassende Würdigung Die dogmengeschichtlichen Miniaturen sind in verschiedener Hinsicht erhellend, weil sie ein Schlaglicht auf die Grundkonzeption der jeweiligen Gesellschaftsrechtsordnung und ihr theoretisch-begriffliches Fundament werfen. Betrachtet man zunächst die nachträgliche Anteilsvereinigung, so 134 Dazu Boquera Matarredona La concentración de acciones en un solo socio en las sociedades anónimas, 1990, S. 22 ff. 135 Tribunal Supremo, 19.11.1955; dazu etwa Alonso Ureba (Fn. 4), 217, 263 f.; Boqera Matarredona (Fn. 134), 69 f. 136 Dazu etwa Arroyo Martínez RJC 81 (1982), 133, 193 f. mit dem Hinweis: „La legislación vigente no afronta directamente este problema […].” 137 So etwa De Castro Revista de Estudios Políticos, 1950, 90, 93. 138 Vgl. Alonso Ureba (Fn. 4), 217, 266 f. 139 Vgl. Jordano Barea RDM 91 (1964), 7, 15; Boqera Matarredona (Fn. 134), 61. 140 Näher Alonso Ureba (Fn. 4), 217, 268; Jordano Barea RDM 91 (1964), 7, 28 ff. zur sog. „sociedad de favor“.
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hat man sie hierzulande in der Tradition der römischen universitas unter Hinweis auf die körperschaftliche Struktur von bergrechtlicher Gewerkschaft, AG und GmbH früh gebilligt. Demgegenüber hat unsere scharfe Scheidung zwischen (Vertrags-)Gesellschaft und Körperschaft in Frankreich und seinen romanischen Tochterrechten keine systemprägende Kraft entfaltet. Das dortige Gesellschaftsrecht wird stärker einheitlich aus dem Vertragsprinzip heraus gedacht und verstanden, sodass auch Einmann-Kapitalgesellschaften vielen als eine „aberration juridique“141 erschienen. Im Hinblick auf den Umgang mit Strohmännern zeigte die historischvergleichende Umschau eine breite Palette von Reaktionen: Diese reichten von dem Simulationseinwand in Frankreich und Italien über den anfänglichen Versuch einer Trennung zwischen bona-fide-Gesellschaftern und dummies in den Vereinigten Staaten bis hin zu einer formalistischen Interpretation der Mindestgründerzahl in England. Hinter der dogmatischen Fassade verbargen sich teilweise andere, wichtigere Vorprägungen und Folgeerwägungen, in England etwa neben der Tradition der literal interpretation eine laissez-faire-Grundhaltung im Wirtschaftsleben und ein latenter Legalisierungsdruck, weil es dort bereits viele verkappte Einpersonengesellschaften gab142 und das Berufungsurteil im Salomon-Verfahren deshalb zu einem öffentlichen Aufschrei143 geführt hatte.144 Hierzulande rührten die dogmatischen Bedenken gegen die Einpersonengesellschaft weniger aus dem Vertragsprinzip, sondern vielmehr aus der Theorie der realen Verbandspersönlichkeit. Der gelegentlich erhobene Einwand des Scheingeschäfts145 drang letztlich nicht durch, da ein Strohmann seine Gründungserklärung ernstlich abgibt und die Berufung auf § 117 BGB ohnehin ausgeschlossen ist, sobald die GmbH im Register eingetragen ist.146 Ist die Strohmanngründung einmal anerkannt oder wird sie von den Gerichten nicht wirkungsvoll bekämpft, so führt über kurz oder lang aus Gründen der Wertungsstimmigkeit kein Weg an der Anerkennung der echten Einpersonengründung vorbei: „It also borders upon the silly to refuse 141
Sayag J.C.P. 1985, I, 3217 n° 7. Vgl. Lim (2014) 41 J. Law & Society 523, 539: „Further, prior to Salomon, it was documented that one-man companies had increased during the 1860s and 1870s and there was a proliferation of such companies in the 1880s and 1890s. Crucially, there was de facto recognition of one-man companies.“. 143 Vgl. 41 Sol. J. 61 (1896): „a source of danger to the multitude of private companies which have been established“; gleichsinnig 31 L.J. 631 (1896): „Shaken the stability of half of the private companies in existence”. 144 In diese Richtung Latty 34 N.C. L. Rev. 471, 478 (1956): „The great shock that this decision was to English business no doubt was a factor in its categorical reversal by the House of Lords.“. 145 LG Berlin DJ 1936, 465, 466; OLG Celle NJW 1951, 842. 146 So BGHZ 21, 378, 381 f.; dazu die authentische Interpretation von R. Fischer LM Nr. 4 § 2 GmbHG. 142
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incorporation to John Doe and yet permit him to achieve the corporate status by using dummies.“147 Ihre legislatorische Billigung, zunächst in den Vereinigten Staaten, später in Deutschland und Frankreich sowie in der Einpersonengesellschafts-Richtlinie, war und ist zugleich ein Eingeständnis, dass sich Gründerquoren zwar historisch erklären, aber rational kaum begründen lassen,148 zumal ihrer Festlegung – international schwankten die Zahlen zwischen zwei, drei, fünf und sieben – notwendig etwas Willkürliches anhaftet: „There is no magic in numbers and there is no public policy which says that three men may limit their liability and acquire a legal personality different (for some purposes) from their individual personality, but that one man or two men cannot.“149 Anfängliche Widerstände gegen die Möglichkeit einer Haftungsbeschränkung für Einzelkaufleute, die teils dogmatisch (Frankreich, Italien), teils ideologisch (Deutschland) aufgeladen waren, schlugen früher oder später ins Gegenteil um, sobald man ein praktisches Bedürfnis für die Einpersonengesellschaft als unabweisbar ansah. Der BGH hatte dies im Jahre 1956 – zu Zeiten des wirtschaftlichen Wiederaufbaus – offen ausgesprochen150; englische und italienische Gerichte taten es ihm stillschweigend gleich, indem sie die unbeschränkte Haftung bei nachträglicher Anteilsvereinigung weithin leerlaufen ließen. Weitere Bedenken, dass die Einpersonengesellschaft eine contradictio in adjecto sei151, verloren in dem Maße an Überzeugungskraft, in dem der Staat selbst Einpersonengesellschaften gründete, wie in Frankreich, oder dieses Privileg sogar in Gesetzesform goss, wie in Spanien. Unter dem Strich setzten sich allenthalben wirtschaftliche Bedürfnisse und rechtspraktische Notwendigkeiten gegen rechtstheoretische Axiome und rechtsdogmatische Prinzipienfestigkeit durch. Ob dieser ökonomische Imperativ immer segensreich wirkt, mag dahinstehen. Willkommen ist ein erhöhter Rechtfertigungsdruck jedenfalls dort, wo er sich gegen vermeintliche Wesensmerkmale gesellschaftsrechtlicher Organisationsformen richtet. Ontologische Ableitungen verkennen, dass Gesellschaftsformen kein Selbstzweck, sondern ein rechtstechnisches Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele sind: „Whatever difficulty etymologists may have in considering one man a ‚company‘ or a ‚corporation‘, to the jurist the sole stockholder is not a conceptual impossibility, at least so long as the jurist thinks in terms of the functions of the corporate device in a given social and economic order, 147
Rutledge 22 Wash. U. L. Q. 305, 338 (1937). Vgl. Le Cannu/Dondero (Fn. 104), Rn. 664: „Cette exigence, explicable par des raisons historiques […], n’était pas rationnellement fondée.“. 149 Latty 34 N.C. L. Rev. 471, 477 (1956). 150 BGHZ 21, 378, 383. 151 Jordano Barea RDM 91 (1964), 7, 13: „La sociedad unipersonal, a la luz de la lógica pura […] es una contradictio in adjecto.“. 148
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rather than in terms of the essential and eternal nature of the corporations.“152 In dieser Hinsicht könnte sich die hart erkämpfte Anerkennung der Einpersonen-Kapitalgesellschaft auch als Lehrstück für die Frage der Zulässigkeit einer Einpersonen-Personengesellschaft erweisen. Denkunmöglich ist diese jedenfalls nicht, wie uns die Rechtsvergleichung eindrucksvoll vor Augen führt: In Frankreich hat das Herabsinken einer Personengesellschaft auf einen Gesellschafter nicht automatisch ihre Auflösung zur Folge; vielmehr wird sie gemäß Art. 1844–5 Abs. 1 Code civil für eine Übergangsphase von maximal einem Jahr weiter anerkannt. Ähnliche Regelungen finden sich in Italien153, den Vereinigten Staaten154 und neuerdings auch in Griechenland155.
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Latty Subsidiaries and Affiliated Corporations, 1936, 192. Art. 2272 Nr. 4 Codice civile: maximal sechs Monate. 154 § 801(6) Revised Uniform Partnership Act: maximal 90 Tage; dazu das Streitgespräch Hillman/Weidner Partners without Partners, The Legal Status of Single Person Partnerships, 17 Fordham J. Corp. & Fin. L. 449 (2012). 155 Art. 267 des Gesetzes 4072/2012: maximal zwei Monate; dazu Kotsiris Greek Law on Partnership and Corporations, 4. Aufl. 2013: „one-man-partnership“. 153
Gesellschaftsrecht und internationaler Investitionsschutz
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Gesellschaftsrecht und internationaler Investitionsschutz Axel Flessner
Gesellschaftsrecht und internationaler Investitionsschutz AXEL FLESSNER
I. Thema Wer sich an der Gründung einer Handelsgesellschaft mit einer Einlage beteiligt oder an einer bestehenden Gesellschaft einen Anteil entgeltlich erwirbt, legt Kapital an, investiert. Der Gegenwert der Investition ist dann der Gesellschaftsanteil. Er wird gestaltet vom maßgebenden Gesellschaftsrecht – dem Gesellschaftsvertrag und dem objektiven Gesellschaftsrecht – und schützt als so geformtes subjektives Recht die Investition. Der Gesellschaftsanteil ist auch Eigentum, das verfassungsrechtlich geschützt wird – in Deutschland nach Art. 14 GG.1 Die Kapitalanleger, die Investoren, stehen so unter dem Schutz nicht nur des Gesellschaftsrechts, sondern auch der Verfassung. Aber das Gesellschaftsrecht kann den Kapitalanlegern als hoheitlich gesetztes, objektives Recht auch Verdruss bereiten. Dann kann das Verfassungsrecht mit seiner Eigentumsgarantie zur Abwehr von Gesellschaftsrecht angerufen werden, das dem Kapitalanleger und Gesellschafter unwillkommen ist. In Deutschland hat es manche Gerichtsverfahren gegeben, in denen gesellschaftsrechtliche Gesetzgebung und Rechtsprechung von Kapitalanlegern unter Berufung auf Art. 14 GG angegriffen wurde. Neben den verfassungsrechtlichen ist in jüngerer Zeit ein völkerrechtlicher Investitionsschutz getreten, den Staaten für ihre Kapitalanleger miteinander vereinbaren; seit dem Vertrag von Lissabon hat auch die Europäische Union eine Kompetenz für solche Vereinbarungen im Rahmen ihrer Handelspolitik mit Drittstaaten (Art. 206, 207 AEUV), und sie ist mit dieser Kompetenz schon rege tätig geworden.2 Dass Angriffe gegen gesellschaftsrechtliche Gesetzgebung und Rechtsprechung unter Umständen auch auf die völkerrechtlichen Investitionsschutzabkommen gestützt werden können, ist in der Fachwelt des Gesellschaftsrechts anscheinend nicht bekannt, 1
BVerfGE 14, 263 – Feldmühle. Abkommen über Investitionsschutz sind als Bestandteil von Freihandelsabkommen oder separat unterzeichnet worden mit Kanada, Vietnam, Singapur, sind zum Teil auch schon im Gesetzgebungsgang (Kanada, Vietnam) oder werden noch verhandelt (Mexiko); Angaben bei www.bmwi.de, Stichwort „Investitionsschutzabkommen“. 2
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in ihrer Literatur jedenfalls bisher nicht vorgekommen. Die möglichen Konflikte zwischen Gesellschaftsrecht und Investitionsschutz sollen in diesem Beitrag beschrieben werden. Zunächst wird der internationale Investitionsschutz, der mit völkerrechtlichen Abkommen installiert wird, in seinen Grundzügen vorgestellt (II.), sodann an Beispielen sein möglicher Stoß gegen Gesellschaftsrecht und dessen Praxis (III.). Eine Betrachtung über die Aufgabe der Wissenschaft in diesem Grenzgebiet zwischen Völkerrecht und Privatrecht schließt den Beitrag ab (IV.). II. Investitionsschutz Der Investitionsschutz, den Staaten oder ein Hoheitsverband wie die EU völkerrechtlich mit dem Ausland vereinbaren, besteht darin, (1) dass die Abkommensstaaten oder die Union bestimmte Wohlverhaltenspflichten gegenüber Kapitalanlegern („Investoren“) aus den anderen Abkommensstaaten übernehmen, (2) dass die ausländischen Kapitalanleger von dem Staat (oder der Union), in dem sie investiert haben, Entschädigung und Schadensersatz verlangen können, wenn der Staat oder die Union diese Pflichten durch Gesetzgebung, Exekutive oder Justiz verletzt,3 und (3) dass der Kapitalanleger eine eigene Gerichtsbarkeit anrufen kann, die darüber entscheidet, ob eine Abkommenspflicht verletzt und sein Anspruch begründet ist; die Gerichtsbarkeit wird in der Fachwelt „Investor-Staat-Streitbeilegung“ – Investor State Dispute Settlement, ISDS – genannt.4 Für Deutschland sind gegenwärtig rechtlich besonders interessant der Energiecharta-Vertrag (im folgenden ECV)5 und der Freihandelsvertrag mit Kanada (im folgenden CETA)6. Der ECV besteht zur Zeit mit 50 anderen Staaten (sowie der EU und EURATOM), und er ist die Grundlage für die anhängige vielbeachtete Klage des Vattenfall-Energiekonzerns gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen des Atomausstiegs.7 CETA ist unter3 Im folgenden ist die EU immer mitgemeint, wenn vom „Staat“ oder „Abkommensstaat“ die Rede ist. 4 Neuere Darstellungen des Systems bei Reinisch in Tietje (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2015, §§ 8, 18; Dolzer/Tietje/Wackernagel in Kronke/Melis/Kuhn (Hrsg.) Handbuch Internationales Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2017, Teil J Rn. 51–56, 69– 127, und Schreuer ebda., Teil P Rn. 1125–1263; Krajewski Wirtschaftsvölkerrecht, 6. Aufl. 2017, § 3; Herdegen Internationales Wirtschaftsrecht, 11. Aufl. 2017, §§ 21–23; von Arnauld Völkerrecht, 3. Aufl. 2016, § 12 C. 5 BGBl. 1997 II, 5. Über den Vertrag und den darin enthaltenen Investitionsschutz Krajewski (Fn. 4), Rn. 562–564; Herdegen (Fn. 4), § 23 Rn. 27; Gundel in Ludwigs (Hrsg.) Der Atomausstieg und seine Folgen, 2016, 47–66. 6 „Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen“ – Comprehensive Economic and Trade Agreement – CETA. 7 Ausführliche Darstellungen des dortigen bisherigen Verfahrens bei Gundel (Fn. 5); Dederer in Raetzke/Feldmann/Frank (Hrsg.) Aus der Werkstatt des Nuklearrechts, 2016, 119–156.
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zeichnet von Kanada und der EU, wurde gebilligt vom Europäischen Parlament, erfordert die Ratifizierung in allen Mitgliedstaaten, anschließend den Abschluss durch den Ministerrat der EU und wird noch bekämpft in mehreren Verfahren beim Bundesverfassungsgericht, das die Verfahren implizit zur Entscheidung angenommen hat.8 Die Betroffenheit des Gesellschaftsrechts durch den völkerrechtlichen Investitionsschutz soll deshalb hier am Beispiel dieser Verträge dargestellt werden. Von den Verhaltenspflichten, welche die Vertragsstaaten in den Abkommen für den Investitionsschutz übernehmen, sind für das Gesellschaftsrecht am wichtigsten das Gebot der anständigen und gerechten Behandlung (fair and equitable treatment) der Investitionen aus dem anderen Vertragsstaat und das Verbot ihrer entschädigungslosen Enteignung. Nach CETA „gewährt jede Vertragspartei in ihrem Gebiet den erfassten Investitionen der anderen Vertragspartei sowie Investoren in Bezug auf ihre erfassten Investitionen eine gerechte und billige Behandlung“ (Art. 8.10 Abs. 1) und darf eine Vertragspartei „… eine erfasste Investition weder direkt verstaatlichen noch indirekt durch Maßnahmen gleicher Wirkung wie Verstaatlichung oder Enteignung …, es sei denn, dies geschieht a) zu einem öffentlichen Zweck, b) nach einem rechtsstaatlichen Verfahren, c) diskriminierungsfrei und d) gegen Zahlung einer prompten, adäquaten und effektiven Entschädigung“ (Art. 8.12 Abs. 1). Nach dem ECV haben die Vertragsparteien „die Verpflichtung, den Investitionen von Investoren anderer Vertragsparteien stets eine faire und gerechte Behandlung zu gewähren“, und „keine Vertragspartei darf deren Verwaltung, Aufrechterhaltung, Verwendung, Nutzung oder Veräußerung in irgendeiner Weise durch unangemessene oder diskriminierende Maßnahmen behindern“ (Art. 10 Abs. 1 Satz 2 und 3). Auch dürfen „Investitionen von Investoren einer Vertragspartei im Gebiet einer anderen Vertragspartei […] nicht verstaatlicht, enteignet oder einer Maßnahme gleicher Wirkung wie Verstaatlichung oder Enteignung … unterworfen werden“, mit demselben „es sei denn“-Nachsatz wie bei CETA. Der ECV stellt eigens sicher, dass bei der Enteignung inländischer Vermögenswerte einer Gesellschaft oder eines Unternehmens, „an denen ein Investor einer anderen Vertragspartei in Form einer Investition beteiligt ist, einschließlich durch Anteilsrechte“, auch dieser ausländische Investor als enteignet gilt (Art. 13 Abs. 3). CETA erreicht dasselbe, indem das Abkommen „jede Vertragspartei“ zum Investitionsschutz für einen „Investor der anderen Vertragspartei“ (Art. 8.2 Abs. 1 a) verpflichtet für jede Investition „in ihrem Gebiet“ (Art. 8 Abs. 1 „erfasste Investition“) und zur Investition ausdrücklich auch „Anteile, Aktien und sonstige Formen der Kapitalbeteili8 BVerfG, 13.10.2016, 2 BvR 1368 u.a., BVerfGE 143, 65, Rn. 41. Über das Verfahren ausführlich Rh. Hoffmann ZEuS 2016, 459–477.
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gung an einem Unternehmen“ zählt (Art. 8.1 „Investition“), also auch an inländischen Unternehmen. Wenn ein Investor behauptet, dass eine der genannten Pflichten verletzt worden sei und er dadurch einen Schaden oder Verlust erlitten habe, kann er beim Investitionsgericht „Klage einreichen“ (Art. 8.18 Abs. 1 CETA) auf ein vollstreckbares Urteil, das auf „Schadensersatz in Geld, gegebenenfalls zuzüglich aufgelaufener Zinsen“ lautet (Art. 8.39 Abs. 1 a CETA). Das Urteil, dass die Klage für begründet erachtet, ist gegen den verurteilten Abkommensstaat international vollstreckbar (Art. 8.41 CETA).9 Im ECV ist das Gleiche vorgesehen für „Streitigkeiten zwischen einer Vertragspartei und einem Investor einer anderen Vertragspartei über eine Investition des letzteren im Gebiet der ersteren, die sich auf einen behaupteten Verstoß der ersteren Vertragspartei gegen eine Verpflichtung aus Teil III“ [des ECV] „beziehen“ (Art. 26 Abs. 1 ECV). Die Haftung des Abkommensstaates auf Entschädigung oder Schadensersatz, die dieses Klagerecht den Investoren eröffnet, wird ausgelöst durch abkommenswidrige „Maßnahmen“ dieses Staates.10 Als solche definiert CETA „ein Gesetz, eine sonstige Vorschrift, eine Regel, ein Verfahren, einen Beschluss, einen Verwaltungsakt, eine Auflage, eine Praxis oder jede andere Form von Maßnahme einer Vertragspartei“ (Art. 1.1 „Maßnahme“), also jegliches hoheitliche Handeln, sei es Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung. Damit gerät auch das Gesellschaftsrecht ins Visier des Investitionsschutzes, wenn der Staat durch Gesetzgebung oder seine Justiz auf gesellschaftsrechtlich gestaltete Investitionen einwirkt, die vom Abkommen geschützt sind. Dies geschieht jedenfalls immer in der Gesetzgebung über Gesellschafterrechte und im Rechtsstreit zwischen Gesellschaftern und zwischen Gesellschaftern und Gesellschaft. Mit anderen Worten: Gesetzgebung und Justiz des Abkommensstaates zum Gesellschaftsrecht stehen dauerhaft unter dem Vorbehalt, dass sie von ausländischen Investoren als abkommenswidrig beim Investitionsgericht angegriffen und von diesem mit einer Haftung belegt werden können. Von dieser latenten Haftung des Staates für sein Gesellschaftsrecht gibt die Literatur des Gesellschaftsrechts bisher keine Kunde, und umgekehrt geht auch die völkerrechtliche Literatur zum Investitionsschutz auf seine mögliche Auswirkung in Zivil- und Handelsrecht nicht ein. Der mögliche Konflikt zwischen völkervertraglichem Investitionsschutz und staatlichem Gesellschaftsrecht ist aber keine unbeachtliche Nebensache, sondern kann das objektive, das hoheitlich vom Staat gestaltete Gesellschaftsrecht erheblich unter Druck setzen. Dies soll im folgenden am Beispiel großer Themen des Gesellschaftsrechts verdeutlicht werden, welche die 9
Einzelheiten in Abs. 1–6. Art. 26 ECV; Art. 8.10, 8.12 CETA.
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deutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigt haben.
III. Investitionsschutz gegen Gesellschaftsrecht Wenn der Investitionsschutz sich gegen Rechtsetzung wendet, stellt er die vom Abkommensstaat für das Gemeinwohl geschaffene gesellschaftsrechtliche Regelung in Frage und vielleicht auch das Verfassungsrecht des Abkommensstaates, wenn dieses die gesetzliche Regelung erlaubt hat. Die Haftung des Abkommensstaates wird dann durch seine verfassungskonforme Gesetzgebung ausgelöst. Wenn der Investitionsschutz sich gegen die Rechtsanwendung richtet, hat er es zusätzlich mit den Gerichten des Abkommensstaates zu tun und zwar tendenziell mit den obersten Gerichtsinstanzen, die am Ende des Rechtszuges und oft mit grundsätzlichen Erwägungen gegen einen Investor aus dem anderen Abkommensstaat entschieden haben. Die Haftung des Abkommensstaates kann dann nicht nur durch das angewendete, als abkommenswidrig bezeichnete Gesetz ausgelöst sein, sondern zusätzlich durch dessen behauptete fehlerhafte Anwendung und durch Verfahrensfehler. Zur Verdeutlichung der Stoßrichtungen des Investitionsschutzes werden deshalb im folgenden die Beispiele zunächst aus der Gesetzgebung (1.), sodann aus der Rechtsprechung (2.) gewählt. 1. Gesetzgebung Als Deutschland 1976 die (fast) paritätische Mitbestimmung für „große“ Kapitalgesellschaften einführte, war dies eine Maßnahme zum Nachteil der Investition der Gesellschafter, denn diese büßten dadurch ihr alleiniges, mit dem Gesellschaftsanteil verbundenes Recht ein, die Zusammensetzung des Aufsichtsrats zu bestimmen.11 Das wurde neben anderem als Verletzung der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) gerügt.12 Wenn ein solches Gesetz auf Gesellschafter aus einem anderen Abkommensstaat trifft und diese dadurch einen Wertverlust an ihren Anteilen erleiden, können sie gegen den Staat, der die Mitbestimmung einführt, auch nach dem Investitionsschutzabkommen Ansprüche beim Investitionsgericht auf Schadensersatz oder Entschädigung erheben. Die Ansprüche sind nach dem Abkommen begründet, wenn das Mitbestimmungsgesetz die Gesellschafter oder ihre Investition „enteignet“ 11 Darstellung in den Lehrbüchern des Gesellschaftsrechts und ausführlich bei Raiser/Veil/Jacobs Mitbestimmungsgesetz und Drittelbeteiligungsgesetz, 6. Aufl. 2015, Einleitung, 1–42. 12 Darstellung des verfassungsrechtlichen Streits bei Raiser/Veil/Jacobs (Fn. 11), Einleitung, Rn. 37–49.
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(Art. 8.12 CETA, Art. 13 ECV) oder „ungerecht“ oder „unbillig, unfair“ behandelt (Art. 8.10 CETA, Art. 10 ECV). Als Enteignung gilt auch eine „indirekte“ durch „Maßnahmen gleicher Wirkung“ (Art. 8.12 Abs. 1 CETA, Art. 13 Abs. 1 ECV). Nach Anhang 8-A Abs. 1 b zu Art. 8.12 CETA liegt eine indirekte Enteignung vor, „wenn die Maßnahme oder Reihe von Maßnahmen einer Vertragspartei eine der direkten Enteignung gleiche Wirkung entfaltet, insofern als dem Investor in wesentlichem Maße grundlegende Eigentümerrechte an seiner Investition entzogen werden, darunter das Recht, diese zu verwenden, zu nutzen und darüber zu verfügen, ohne dass eine förmliche Eigentumsübertragung oder eine Beschlagnahme erfolgt.“ Der Enteignungstatbestand des Investitionsschutzes umfasst beim Gesellschaftsanteil also auch Fälle, in denen der Anteil dem Kapitalanleger nicht entzogen oder gekürzt, sondern nur in seinem Gehalt und seiner Nutzbarkeit beschränkt wird. Darin unterscheidet der völkerrechtliche Investitionsschutz sich deutlich von der deutschen Eigentumsgarantie, da diese seit der Nass-Auskiesungsentscheidung des BVerfG,13 jüngst bekräftigt durch die Entscheidung über den Atomausstieg,14 als Enteignung nur noch den Entzug und die Übertragung des Vermögensobjekts in andere Hände ansieht. Die gesetzliche Beschränkung gilt dagegen als Inhalts- und Schrankenregelung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, die unter Umständen verfassungswidrig und deshalb nichtig sein, aber den Staat nur in besonderen Härtefällen zur Entschädigung verpflichten kann.15 Ein Gesetz über Mitbestimmung nach deutschem Muster könnte nach Investitionsschutzrecht als indirekte Enteignung angesehen werden, die Gerichtspraxis zu dem sehr weiten Begriff ist uneinheitlich und kaum prognostizierbar.16 Sie soll es nach CETA auch nicht sein; dessen zitierter Anhang 8A zu Art. 8.12 bestimmt ausdrücklich, dass die Entscheidung darüber, ob eine Maßnahme eine indirekte Enteignung darstellt, „von Fall zu Fall nach Würdigung der Fakten“ und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen 13
BVerfG, 15.7.1981, BVerfGE 58, 300. BVerfG, 6.12.2016, 1 BvR 2821/11 u.a., BVerfGE 143, 246. 15 Näher dazu das BVerfG (Fn. 14), Rn. 310 ff., 360 ff.; Paulus/Nölscher in Ludwigs/ Remien (Hrsg.) Investitionsschutz, Schiedsgerichtsbarkeit und Rechtsstaat in der EU, 2018, 133 (147–168). 16 Die Schwankungen und die Uneinheitlichkeit der Beurteilungen in der Schiedspraxis werden deutlich in den Praxisberichten bei Krajewski (Fn. 4), Rn. 597–607; Herdegen (Fn. 4), § 23 Rn. 25–26; von Arnauld (Fn. 4), § 12 Rn. 994–996; Reinisch in Tietje (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2015, § 8 Rn. 76–81; Kriebaum in Bungenberg/Griebel/Hobe/Reinisch (Hrsg.) International Investment Law – A Handbook, 2015, Chapter 8 VIII, Rn. 36–69, 258–262, sowie in den zusammenfassenden und nach Verbesserung rufenden Würdigungen der Praxis durch die Herausgeber ebda., Ch. 1 I, Rn. 7: „sometimes inconsistent“, „inconsistent jurisprudence“; Hobér ebda., Ch. 14 II, Rn. 9: „impredictability and inconsistency“, „lack of coherence“, „uncertainty“. 14
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Auswirkungen der Maßnahme und ihrer Dauer zu treffen ist, ferner nach dem Ausmaß, in dem sie den vernünftigen Erwartungen zuwiderläuft, oder danach, ob die Auswirkungen der Maßnahme oder der Reihe von Maßnahmen „so schwerwiegend sind, dass sie offenkundig überzogen erscheinen“ (Anhang 8-A, Aspekt Nr. 3). Der Staat könnte für sein verfassungsmäßiges Mitbestimmungsgesetz also Entschädigung zahlen müssen, weil er vom Investitionsgericht verurteilt wird oder sich wegen der Rechtsunsicherheit dort auf einen Vergleich eingelassen hat. Die in der Regel sehr hohen Prozesskosten kommen dazu. Dem Staat könnte mit seinem Mitbestimmungsgesetz unter Umständen aber auch eine „ungerechte oder unbillige Behandlung“ nach Art. 8.12 CETA oder Art. 13 ECV vorgeworfen und deshalb Schadensersatz an die klagenden Investoren auferlegt werden. Die Rechtsprechung zu dieser sehr allgemeinen Haftungsgrundlage ist noch weniger prognostizierbar als die zur indirekten Enteignung, zumal in der jüngeren Zeit eine Tendenz der Schiedsgerichte zu erkennen ist, vom Enteignungstatbestand zum allgemeineren Haftungstatbestand der unbilligen Behandlung auszuweichen.17 In CETA wurde versucht, das gerichtliche Urteilsermessen enger zu halten durch einen Katalog von Regelbeispielen (Art. 8.10 Abs. 2); dieser wird aber durch einen aufgesetzten Tatbestand des Vertrauensschutzes (Art. 8.10 Abs. 4) sogleich wieder relativiert. Was hier am Beispiel der Mitbestimmung geschildert wurde, die über den Aufsichtsrat – eine gesellschaftsrechtliche Institution – eingeführt wurde, könnte dem Staat in jedem anderen solchen Fall geschehen, in dem das staatliche Gesellschaftsrecht den Anteil der Gesellschafter nachteilig betrifft und abwertet, so etwa die Einführung von Geschlechts- oder Herkunftsquoten für die Mitglieder der Gesellschaftsorgane,18 die Einführung von Umwandlungsrecht zugunsten der Mehrheitsgesellschafter,19 die Beschränkung der Mehrheitsmacht durch neue Kautelen für ihre Beschlüsse über das gesamte Gesellschaftsvermögen20 oder über einen Rückzug der Aktien vom Börsenhandel ((„Delisting“)21, die Öffnung des Insolvenz- und Sanierungsrechts für die Zurücksetzung und Umwandlung von Gesellschafterrechten.22 Wenn solche Regelungen verfassungsrechtlich vertretbar in Frage gestellt werden 17 Herdegen (Fn. 4), § 23 Rn. 20–24; Krajewski (Fn. 4), Rn. 634–636; von Arnauld (Fn. 4), § 12 Rn. 1000; Bungenberg/Reinisch Von bilateralen Schieds- und Investitionsgerichten zum multilateralen Investitionsgerichtshof – Optionen für die Institutionalisierung der Investor-Staat-Streitbeilegung, 2018, 171–173; Jacob/Schill in Bungenberg u.a. (Hrsg.) (Fn. 16), Chapter 8 I, Rn. 27–140, 159–174; Reinisch in Tietje (Hrsg.) (Fn. 16), Rn. 51–55. 18 Dazu Hellgardt/Unger ZHR 183 (2019), 406–453. 19 Dazu etwa Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, § 38; Raiser/Veil Recht der Kapitalgesellschaften, 6. Aufl. 2015, §§ 67–70. 20 Dazu Windbichler (Fn. 19), § 33 III; Raiser/Veil (Fn. 19), § 16 Rn. 9–20, § 70 I 2. 21 Dazu Harnos ZHR 179 (2015), 750–781. 22 § 217 S. 2, § 225a InsO.
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können, so etwa die Mitbestimmung,23, das Umwandlungsgesetz,24 die Geschlechterquoten für die Gesellschaftsorgane,25 bei der insolvenzinduzierten Zurücksetzung und Umwandlung von Gesellschafterrechten,26 können sie es allemal auch nach dem völkerrechtlichen Investitionsschutz, wenn es ausländische Gesellschafter in seinem Anwendungsbereich gibt. Die bei solchen Rechtsvorwürfen (Verfassungswidrigkeit, Abkommenswidrigkeit) verwendeten Streitbegriffe – etwa Rechtsverweigerung, Willkür, Diskriminierung, Machtmissbrauch, Rechtsmissbrauch, Unverhältnismäßigkeit, Enttäuschung von berechtigten Erwartungen – sind dieselben hier wie dort.27 Auch die Europäische Union kommt in das Visier des von ihr vereinbarten Investitionsschutzes, wenn sie etwa mit ihren Richtlinien und Verordnungen zum Gesellschaftsrecht auf bestehende Gesellschafterrechte trifft oder durch die neue Restrukturierungsrichtlinie28 die Unternehmenssanierung auch gegen den Willen von Gesellschaftern europaweit veranlagen will.29 Als abkommenswidrige „Maßnahme“ der Normsetzung können schließlich auch solche Fälle nach Investitionsschutzrecht von Investoren aufgegriffen werden, in denen (erklärt oder unerklärt) die höchstrichterliche Rechtsprechung investitionsrelevante „Rechtsfortbildung“ betreibt – in Deutschland so die Einführung des erzwingbaren Gesellschafterausschlusses aus der GmbH selbst gegen den Mehrheitsgesellschafter,30 die Rechtsprechung zu den Gesellschafterdarlehen31 und zur so genannten Existenzvernichtungshaftung,32 die Errichtung von Kautelen für den Ausschluss des Bezugsrechts bei Kapitalerhöhungen,33 die Einführung einer Treuepflicht auch für Aktionäre.34 In allen solchen Fällen ist die höchstrichterliche Grundsatzentscheidung, welche danach in der Praxis wie ein Gesetz befolgt wird, eine 23 Darstellung des in Deutschland ausgefochtenen Streits bei Raiser/Veil/Jacobs (Fn. 11), Rn. 40–54. 24 Darüber ausführlich Thiessen in Fleischer/Thiessen (Hrsg.) Gesellschaftsrechts-Geschichten, 2018, 193–254. 25 Hellgardt/Unger (Fn. 18). 26 Verfassungsrechtliche Diskussion etwa bei Haas in Kayser/Thole (Hrsg.) InsO (Heidelberger Kommentar), 9. Aufl. 2018, § 225a, Rn. 15–21. 27 CETA, Art. 8.10 und 8.12 mit Anhang 8-A, und andererseits die bis zum BVerfG geführten Auseinandersetzungen, geschildert in der in Fn. 23, 24, 26 angeführten Literatur und (zum Fall Suhrkamp) in Fn. 44. 28 Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.6.2019, ABl. EU L 172 v. 20.6.2019, 18. 29 Zur Richtlinie gesellschaftsrechtlich etwa H.F. Müller ZGR 2018, 56–87; C. Schäfer ZIP 2019, 1645–1649. Zum EU-Gesellschaftsrecht Grundmann Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012; Habersack/Verse Europäisches Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2019; Lutter/Bayer/J. Schmidt Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2018. 30 BGHZ 9, 157. 31 BGHZ 31,258. 32 BGHZ 173, 246. 33 BGHZ 71, 40. 34 BGHZ 129, 126.
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„Maßnahme“, die beim Investitionsgericht von ausländischen Gesellschaftern angegriffen werden kann. Gegen die Haftung aus dem völkerrechtlichen Abkommen kann der verklagte Staat nicht einwenden, dass die angegriffene neue Regelung von seiner eigenen Justiz gutgeheißen – so in Deutschland das Mitbestimmungsgesetz von 1976 vom BVerfG35 – oder – bei der eben genannten „Rechtsfortbildung“ – von ihr sogar begründet worden ist. Der Investitionsschutz nach den völkerrechtlichen Abkommen hat vor der Justiz der Abkommensstaaten keinen Respekt. Er hat vielmehr den erklärten Zweck, den ausländischen Investoren den Schutz gegen hoheitliches Handeln zu verschaffen, den sie bei den Gerichten des verklagten Abkommensstaates nicht erlangen können; er vermutet, dass ausländische Kläger gegen den Staat in dessen eigener Justiz keine unparteiische Behandlung erwarten können. Der EuGH folgt dieser Vermutung in seinem Gutachten zu CETA, indem er die Vermutung für Kläger aus der EU gegenüber Mitgliedstaaten der EU für unzulässig hält, für Kläger aus Drittstaaten aber für angebracht.36 Investitionsschutz kennt auch das allgemeine, ungeschriebene Völkerrecht; es verbietet die diskriminierende und entschädigungslose Enteignung von Ausländern.37 Wenn ein Staat dem zuwiderhandelt, kann der völkerrechtliche Anspruch auf Entschädigung gegen ihn nach allgemeinem Völkerrecht aber nicht vom Enteigneten selbst, sondern nur von dessen Heimatstaat im Wege des sogenannten diplomatischen Schutzes erhoben werden.38 Die hier behandelten Investitionsschutzabkommen sollen den Investoren dagegen den eigenen, bei einer eigenen Gerichtsbarkeit klagbaren Anspruch verschaffen. Sie sollen damit notwendig die Gerichtsbarkeit des verklagten Abkommensstaates übertrumpfen können. Der Durchsetzungswille dieses Schutzregimes gegenüber abweichender staatlicher Justiz zeigt sich etwa in Art. 8.31 Abs. 1 CETA, nach dem das Investitionsgericht nur die Bestimmungen des Abkommens anwenden darf; die innerstaatlichen des verklagten Abkommensstaates darf es nur „als Tatsache“ würdigen (Art. 8.31.Abs. 2 Satz CETA). Im ECV folgt dasselbe aus Art. 26 Abs. 6. Ein besonders prominenter Anwendungsfall dieses Rechtswillens ist zur Zeit (Anfang 2020) die Klage des Vattenfall-Konzerns gegen Deutschland wegen des Gesetzes über den Atomausstieg.39 Das BVerfG hat 2016 das Gesetz für prinzipiell vereinbar mit Art. 14 GG erklärt.40 Das schon zuvor an35
BVerfGE 50, 290. EuGH, 30.4.2019, Gutachten 1/17, Rn. 126–129, 199–204, ECLI:C:2019:341. 37 Herdegen (Fn. 4), § 20 Rn. 3–13; Krajewski (Fn. 4), Rn. 551; von Arnauld (Fn. 4), § 12 Rn. 983, 984. 38 Herdegen (Fn. 4), § 23 Rn. 1; Krajewski (Fn. 4), Rn. 646–650; von Arnauld (Fn. 4), § 12 Rn. 988, 1003. 39 Vorn Fn. 7. 40 Vorn Fn. 14, 15. 36
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gerufene Schiedsgericht bei der Weltbank in Washington führt das Verfahren gegen Deutschland, gestützt auf den ECV und das ICSID-Abkommen, aber ungerührt weiter.41 2. Rechtsanwendung Wenn Investitionsschutz gegen die gerichtliche Anwendung des staatlichen Rechts gesucht wird, ergeben sich Besonderheiten aus der Stellung und Funktion der Justiz im Rechtsstaat. Die Justiz soll für streitig oder zweifelhaft gewordene Rechtsverhältnisse durch ordentliches streitiges Verfahren und „Rechtskraft“ endgültige Festlegungen treffen. Für den völkerrechtlichen Investitionsschutz sind selbst Entscheidungen in der Ziviljustiz, also im Rechtsstreit nur zwischen Privaten, „Maßnahmen“ wie jeder andere investitionsschädliche Hoheitsakt des verklagten Staates. Wenn aber der bei der staatlichen Ziviljustiz unterlegene Investor beim Investitionsgericht remonstrieren kann, macht der Abkommensstaat selber dieses Gericht zum Konkurrenten seiner eigenen Gerichtsbarkeit, faktisch zu einer Superrevisionsinstanz. Das Investitionsgericht kann die rechtskräftige Entscheidung des staatlichen Gerichts zwar nicht aufheben, aber ihre Vereinbarkeit mit dem Investitionsschutzabkommen prüfen und, wenn es sie für unvereinbar ansieht, den Gerichtsstaat zu Schadensersatz oder Entschädigung verurteilen. Das kommt einer Aufhebung praktisch gleich; die rechtskräftige Entscheidung im Gerichtsstaat wird als Präjudiz delegitimiert und durch die Vollstreckbarkeit des investitionsgerichtlichen Urteils konterkariert, indem der Gerichtsstaat für „seine“ Entscheidung dem Investor haftbar gemacht wird. Es bedarf nicht einmal einer endgültigen Entscheidung gegen den Investor, um den Investitionsschutz in Anschlag zu bringen. Jede gerichtliche Handlung im staatlichen Verfahren – etwa: Zustellung der Klage, einstweilige Anordnung, Anberaumung eines Termins, Zwischenentscheid über die Zuständigkeit, Beweisaufnahme – ist eine „Maßnahme“ des Abkommensstaates, die mit einer Investitionsschutzklage gegen ihn beantwortet oder jedenfalls bedroht werden kann. Die Anreize für Streitparteien in der staatlichen Justiz, den völkerrechtlichen Investitionsschutz zu nutzen, nehmen zu mit der Höhe des Streitwerts, der Energie, mit welcher der Rechtsstreit geführt wird, und der Stufe im Rechtszug, gegen deren „Maßnahme“ Investitionsschutz gesucht werden kann. Wenn der Rechtsstreit nach hohem Zeit-, Energie- und Geldaufwand mit der Niederlage eines ausländischen Investors in höchster Instanz geendet hat, liegt es für den Investor nicht fern, auch noch den letzten Schritt, den zum Investitionsgericht zu tun, wenn er nach einem Abkommen des 41 Angaben bei www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Energie/Vattenfall-gegen-Bundesrepublik-Deutschland/ICSID-Fall Nr. ARB/12/12.
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Gerichtsstaates den Zugang zum Investitionsgericht für sich reklamieren kann. Die Justiz über Handelsgesellschaften steht mehr als bei anderen Streitparteien unter Beobachtung durch diesen Investitionsschutz, denn jede Niederlage einer Handelsgesellschaft, ja schon die Gefahr eines Prozesses, kann theoretisch den Wert auch der Gesellschaftsanteile mindern, also auch „Investoren“ treffen. Jedenfalls bei Millionenprozessen wird solcher Wertabfall auch in den Medien berichtet. Die Haftung des Staates für abkommenswidrige Justizakte gilt nach den Abkommen ausdrücklich auch für die abkommensgeschützten ausländischen Anteilseigner von inländischen Gesellschaften oder von Gesellschaften aus Drittstaaten, die selber den Investitionsschutz nach dem Abkommen, dessen Verletzung gerügt wird, nicht beanspruchen könnten.42 Doppelt herausgefordert wird der Investitionsschutz durch justiziellen Rechtsstreit zwischen Gesellschaftern oder zwischen einzelnen Gesellschaftern und ihrer Gesellschaft, diese vertreten durch ihre Organe, die von der Mehrheit der Gesellschafter berufen werden. Hier streiten Investoren untereinander und denknotwendig wird einer von ihnen verlieren, der Weg zum Investitionsgericht ist in den Gedanken von vornherein mit dabei. Wenn der Rechtsstreit mit starkem Einsatz, gar Erbitterung geführt wird, liegt die Nutzung auch dieser „letzten“ Möglichkeit sehr nahe. Die öffentlich bekannten deutschen „Gesellschaftsrechts-Geschichten“43 wären vielleicht um ein Investitionsschutz-Kapitel zu ergänzen gewesen, wenn abkommensgeschützte ausländische Gesellschafter - „Investoren“ – dabei waren und aktiv geworden wären. Wenn die Gesellschaftsrechtler mit diesem Blick die Fälle Suhrkamp44, Kali und Salz45, Holzmüller46, Girmes47 und die der „Existenzvernichtungshaftung“48 betrachten, werden sie erkennen, dass ihre Argumentationen und Konstruktionen auch die Probe des völkerrechtlichen Investitionsschutzes bestehen müssen. In jedem der genannten Fälle hätte das deutsche höchstrichterliche Ergebnis vor das Investitionsgericht gebracht und von diesem – besetzt mit Schiedsrichtern aus aller Welt, besonders aus internationalen Großkanzleien, die in der Regel für internationale Großunternehmen arbeiten und wirtschaftsfreundlich sind – dem deutschen Staat zur Last gelegt werden können. 42
Dazu vorn vor Fn. 9. Fleischer/Thiessen Gesellschaftsrechts-Geschichten, 2018. 44 Darüber BVerfG, 18.12.2014, NJW 2015, 465 = ZIP 2015, 80 = NZG 2015, 98; S. Meyer DB 2015, 538; Hölzle ZIP 2015, 83; C. Schäfer ZIP 2015, 1208; H.P. Westermann NZG 2015, 134; Flessner ZIP 2016, 1046 (1047). 45 BGHZ 71, 40; dazu Lieder/V. Müller in Fleischer/Thiessen (Fn. 43), § 8. 46 BGHZ 83, 122; dazu Fleischer/Heinrich in Fleischer/Thiessen (Fn. 43), § 10. 47 BGHZ 129, 136; dazu Schmolke in Fleischer/Thiessen (Fn. 43), § 13. 48 BGHZ 173, 246; dazu Fleischer/Trinks in Fleischer/Thiessen (Fn. 43), § 21. 43
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IV. Wissenschaft Aus den Beispielen ergibt sich, dass der völkerrechtliche Investitionsschutz den Staat für seine Gesetzgebung und Rechtsprechung im Gesellschaftsrecht mit einer potentiellen Haftung gegenüber Gesellschaftern – „Investoren“ – belegt. Das Spezifikum dieser Haftung ist, dass sie auch durch Justiz ausgelöst werden kann und damit eine besondere quantitative Dimension erhält, denn sie bedroht das Normalgeschäft der täglichen Justiz. Jede Gerichtsentscheidung zum Nachteil eines von einem solchen Abkommen geschützten Kapitalanlegers und Gesellschafters, aber auch schon das Gerichtsverfahren selbst, kann von dem Gesellschafter mit einer Klage auf Schadensersatz oder Entschädigung gegen den Gerichtsstaat beantwortet werden. Und eine Besonderheit ist auch, dass das Völkerrecht mit seinem Abkommen hier in den rechtlichen Binnenbereich der Abkommensstaaten und in deren Justiz zwischen Privaten übergreifen soll.49 Zudem wird im Gesellschaftsrecht oft über Investitionen erheblichen Umfangs gestritten; das lockt zum späteren Gang zum Investitionsgericht, wenn der Zivilprozess verloren wurde. Die Wissenschaft vom Gesellschaftsrecht muss angesichts dessen zunächst feststellen, dass sie ihren Gegenstand mit einer Unterdisziplin des Völkerrechts teilt, dem Wirtschaftsvölkerrecht.50 Die Literatur dieser Disziplin ignoriert aber bisher ebenso wie die gesellschaftsrechtliche die Auswirkung des Investitionsschutzes auf das Gesellschaftsrecht wie überhaupt auf das gesamte Zivil-, Handels- und Zivilprozessrecht; ihre Darstellungen der Praxis entnimmt sie Fällen, in denen der Staat auf Investitionen durch öffentliches Recht (Erlaubnisse, Gebote, Verbote, Gewährung oder Streichung von Mitteln) einwirkte. Das Verhältnis zwischen völkerrechtlichem Investitionsschutz mit ISDS und dem Zivilrecht im weiteren Sinne bedarf aber dringend der wissenschaftlichen Aufklärung, weil der ISDS-Investitionsschutz für Europa noch gar nicht fest etabliert ist, sich vielmehr in einem Schwebezustand befindet; er wird politisch und rechtlich noch bekämpft. Die Kontrahenten in dieser Auseinandersetzung sollten aber möglichst wissen, was sie tun, also vollständig die Problemzonen kennen, die das Thema zu einem streitigen machen. Gegen den endgültigen Abschluss von CETA sind Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig; sie haben dazu geführt, dass die „vorläufige Anwendung“ des Abkommens, die von den Vertragsparteien (EU und Kanada) vereinbart wurde (Art. 30.7 Abs. 3 CETA), nicht auf das Kapitel über 49 Zu diesem Aspekt ausführlich kritisch Flessner in Ludwigs/Remien (Hrsg.) Investitionsschutz, Schiedsgerichtsbarkeit und Rechtsstaat in der EU, 2018, 23 (46–49). 50 Krajewski (Fn. 4), § 3 I-IV; Herdegen (Fn. 4), §§ 20–23; von Arnauld (Fn. 4), § 12 C.
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den Investitionsschutz erstreckt werden durfte.51 Weitere Abkommen über Investitionsschutz sind zwar unterzeichnet, aber noch nicht ins weitere Gesetzgebungsverfahren gegeben worden, so das Abkommen mit Singapur, oder noch nicht bei den Parlamenten der Mitgliedstaaten angekommen, so das Abkommen mit Vietnam. In das Freihandelsabkommen mit Japan konnte der Investitionsschutz wegen verbliebener Differenzen über ihn überhaupt nicht aufgenommen werden.52 In das beabsichtigte Abkommen mit dem Mercosur, das sich nach grundsätzlicher Einigung noch in der juristischen Ausformulierung befindet,53 wird der Investitionsschutz von vornherein nicht aufgenommen.54 Auch außerhalb Europas kehren wichtige Staaten sich vom ISDS-Investitionsschutz ab.55 Der ECV dagegen ist zwar für die EU und die meisten Mitgliedstaaten, auch Deutschland, in Geltung. Russland aber, das ihn unterzeichnet hatte, hat inzwischen förmlich erklärt, ihn nicht ratifizieren zu wollen, Italien hat ihn gekündigt.56 Das Verfahren von Vattenfall gegen Deutschland bei der Weltbank57 erzeugt politische Aversionen.58 Politischer Widerstand kann den Investitionsschutz als EU-Projekt in jedem Mitgliedstaat zu Fall bringen, weil der Europäische Gerichtshof im Gutachten zum Singapur-Abkommen festgehalten hat, dass die Union für Investor-Staat-Streitigkeiten aus den Abkommen nicht die Gerichtszuständigkeit der Mitgliedstaaten ohne deren Einverständnis verdrängen darf.59 Deshalb kann die Union diesen Investitionsschutz mit dem Ausland nur noch in „gemischten“ Abkommen, also im Zusammenwirken mit allen Mitgliedstaaten vereinbaren, so auch CETA.60 Außerdem versucht man traditionell, den Investitionsschutz auch für andere als „Direktinvestitionen“ zu vereinbaren, also auch für bloße Geldanlage ohne unternehmerische Ambition 51
BVerfG (vorn Fn. 8), Rn. 41–70. www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/freihandelsabkommen-japan.html . 53 www.ec.europa.eu/germany/news/2019070/-eu-und-mercosur-staaten-umfassendesfreihandelsabkommen_de. 54 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, 18.12.2018, BT-Drucksache 19/6715, 3. 55 Angaben bei Flessner (Fn. 49), 52 f. 56 Krajewski (Fn. 4), Rn. 562. 57 Darüber vorn Fn. 7 und Krajewski (Fn. 4), Rn. 564; Herdegen (Fn. 4), § 23 Rn. 27. 58 Dies beklagen Hindelang/Wernicke EuZW 2015, 809 (810), die den Investitionsschutz hochschätzen: „Der rechtspolitische wie legitimatorische Schaden … der VattenfallVerfahren ist unabhängig von deren rechtlicher Beurteilung schon immens genug.“ 59 EuGH, 16.5.2017, Gutachten 2/15 (Plenum), ECLI:EU:C:2017:376, Rn. 292 und Opinion (nach Rn. 305). 60 Als gemischte Abkommen bezeichnet man im Europarecht solche, für die die Union und die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten zusammenlegen („mischen“), wenn die jeweilige Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaat allein für den Gesamtinhalt des Abkommens nicht ausreicht; Geiger/Khan/Kotzur EUV/AEUV, Kommentar, 6. Aufl. 2017, Art. 207 AEUV Rn. 14, Art. 216 Rn. 13–15. 52
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in Schuld- und Anteilstiteln, oft Portfolio-Investitionen genannt. Für Abkommen über diese hat die Union aber keine Zuständigkeit,61 so dass sie auch an solchen Abkommen die Mitgliedstaaten beteiligen muss, wenn sie diese Investitionen in ihren Abkommen miterfassen will. Das Schicksal von CETA, des ersten solchen EU-Abkommens, ist deshalb noch ungewiss. Bisher (Anfang 2020) ist es erst von 12 Mitgliedstaaten ratifiziert worden, in Deutschland hat die Bundesregierung es dem Parlament noch nicht vorgelegt.62 Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den ISDS-Investitionsschutz sind für die EU scheinbar durch das Gutachten des EuGH vom 30. April 2019 ausgeräumt worden.63 Der Gerichtshof hat hier festgestellt, „dass Kapitel acht Abschnitt F des CETA mit dem Primärrecht der Union vereinbar ist“.64 Diese Feststellung betrifft aber nicht den Verpflichtungsteil des Investitionsschutz-Kapitels (Abschnitt D), sondern ausdrücklich nur dessen Abschnitt F über die „Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Investoren und Staaten“, also über das Klagerecht der Investoren. Die Begründungen im Gutachten werfen auch Zweifel auf an ihrer Vereinbarkeit mit früheren Äußerungen des Gerichtshofs zum Investitionsschutz.65 Sie beschäftigen sich zudem nicht mit dem Einwand, dass das Abkommen das Haftungsregime ignoriert, welches für das hoheitliche Handeln der EU in Art. 340 Abs. 2 AEUV und für das der Mitgliedstaaten in deren Verfassungen verankert ist.66 Sie gehen ferner überhaupt nicht ein auf das Recht der Investoren, die EU für Entscheidungen ihrer eigenen Gerichtsbarkeit, also auch des EuGH selbst, beim Investitionsgericht haftbar zu machen – was nach der Rechtsprechung des EuGH zur „Autonomie des Unionsrechts“ bisher undenkbar erschien.67 Es ist nicht sicher, ob der Gerichtshof bedacht hat, dass die Union im Ernstfall – wenn ihr eigener Gerichtshof gegen den Investor entschieden hat – für ihn haften und vom Investor dafür beim Investitionsgericht in Anspruch genommen werden könnte, welches dann die Rechtsmeinung des EuGH verwerfen und die Union verurteilen könnte. Die Rückweisung der Bedenken aus dem EU-Verfassungsrecht im CETA-Gutachten des EuGH erscheint deshalb nicht so zwingend begründet, dass sie das Bundesverfassungsgericht in den dort anhängigen Verfahren
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EuGH (Fn. 59), Rn. 81–83. Jedoch hat die FDP-Fraktion im November 2019 im Bundestag einen eigenen Antrag auf Ratifizierung des Abkommens eingebracht, der vom Plenum an die Ausschüsse verwiesen wurde, BT-Drucksache 19/14783. 63 EuGH (Plenum), 30.4.2019, Gutachten 1/17, ECLI:EU:C:2019:72. 64 EuGH (Fn. 63), Rn. 245. 65 EuGH, 6.3.2018, Rs. C-284/16 – Achmea/Slowakei; dazu Gundel EWS 2019, 181 (184 f.); Engel SchiedsVZ 2019, 231. 66 Dazu ausführlich Flessner (Fn. 49), 31–35. 67 Flessner (Fn. 49), 35–37. 62
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überzeugen müsste. Ohnehin hat das deutsche Verfassungsgericht aber wegen der gesuchten und notwendigen deutschen (Mit-)Zustimmung zum Abschluss des Abkommens dieses selbständig nach deutschem Verfassungsrecht zu beurteilen. In dieser ungesicherten Lage des völkervertraglichen Investitionsschutzes in Europa bleibt noch viel Raum und Zeit für wissenschaftliche Aufklärung über sein eigenartiges Verhältnis zum Zivil-, Handels- und Zivilprozessrecht. Sowohl die Wissenschaft des Gesellschaftsrechts wie die des Völkerrechts haben Anlass, dieses bislang unbetretene Grenzland zu erkunden. Besonders das ambitionierte Ausgreifen des Völkerrechts in das ganz anders denkende Zivil- und Handelsrecht und damit auch ins Gesellschaftsrecht ist eine wissenschaftliche Herausforderung.
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Der deutsche Rechtsrahmen für Loan-to-own-Strategien TIM FLORSTEDT∗
Nach der Finanzkrise entstanden im Wettbewerb der Rechtsordnungen überall in Europa neue Restrukturierungsrechte. Sie alle ermöglichen eine Zwangsbindung dissentierender Gläubiger an einen Sanierungsplan, durch den Konditionen ihrer Forderungen geändert werden, und die sich mit dem Problem befassen, dass zu starke Vetorechte der Alteigentümer eine schnelle Restrukturierung vereiteln würden. Die deutschen Reformen des Insolvenzplanverfahrens gelten als heimliches Vorbild der Richtlinie zur präventiven Restrukturierung. Der folgende Beitrag schildert den deutschen Rechtsrahmen und geht dabei vor allem der Frage nach, ob es sich um eine rechtspolitisch ausgewogene Grenzziehung zwischen den Interessen der Gläubiger und Eigentümer handelt, oder ob das Recht nicht gerechtfertigte Umverteilungseffekte zeitigt. Katharina Pistor hat in ihrem Buch „The Code of Capital“ das weltweite Primat des anglo-amerikanischen Rechts eindrucksvoll geschildert.1 Das deutsche Recht hebt sich davon vielfältig ab und gilt regelmäßig in USamerikanischen Zeitschriften als unzeitgemäß und defizitär. So kommt es, dass in der jüngsten Reform des Aktienrechts im Grunde nur Lösungsmuster aus dem englischen Recht für unionsweit verbindlich erklärt wurden: Stewardship Code, Say on Pay und Related Party Transactions. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass im Insolvenzrecht eine ganz andere Wahrnehmung überwiegt. Die Vorinsolvenzrichtlinie liest sich beinahe, als wäre das deutsche ESUG das Vorbild gewesen. Folgendes Zitat weist darauf hin, dass auch die Distressed Debt-Investoren dem deutschen Recht vieles abgewinnen können: We have assisted a number of investors in executing loan-to-own strategies. Although subject to execution risk and often vulnerable to a number of external factors, the entry price for the investor is often ∗ Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verf. am 12. Dezember 2019 auf der Jahrestagung der NACIIL in Amsterdam gehalten hat, eine ungekürzte Version wird erscheinen in: The German Legal Framework for Loan-to-own Strategies, in: Weijs, Rolef (Hrsg.), Tagungsband NACIIL / NVRII 2019, Distressed debt trading: brave new EU legal rules in relation to bold new strategies. 1 Pistor The Code of Capital, How the Law Creates Wealth and Inequality, 2019, 158 ff.
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significantly less than what the investor would have paid in a conventional M&A process.2 In der wissenschaftlichen Diskussion werden die besonderen Herausforderungen, die sich im Zeitalter des Distressed Debt Investings ergeben, indessen gar nicht berücksichtigt. Sogar innerhalb der Diskussion um eine ESUG-Reform ist das erstaunlicherweise kein Thema.
I. Zur Einführung: das fragmentarische deutsche Restrukturierungsrecht Das deutsche Recht kennt wie die meisten Rechtsordnungen kein geschlossenes Restrukturierungsrecht. Das dem Chapter 11 nachempfundene Insolvenzplanrecht ist nur ein Teilbereich. Vereinfachend kann man von einem Dreiklang sprechen. Es gibt neben dem reformierten Insolvenzplanverfahren (§§ 217 ff. InsO) seit 2009 im AktG3 und SchVG4 wirksame Instrumente zur Bewältigung einer Krise. Der Grundton ist sicherlich die international bekannte Reform der InsO, das sog. ESUG von 2012.5 Das Gesetz lieferte mit der Einbeziehungsmöglichkeit von Gesellschafteranteilen in den Insolvenzplan einschließlich eines Debt Equity Swaps und dem Ausbau der Eigenverwaltung hin zu seiner praktischen Anwendbarkeit wichtige Impulse für die Sanierungspraxis. Die Hoffnungen und Erwartungen in das sog. Schutzschirmverfahren, welches dem Schuldner ermöglicht, zunächst innerhalb einer Drei-Monatsfrist mit einem mitgebrachten vorläufigen Sachwalter einen Plan auszuarbeiten und anschließend Insolvenzantrag zu stellen, blieben hingegen unerfüllt. Die Terz ist ein neues Restrukturierungsrecht für die außergerichtliche Sanierung von Anleihen, das SchVG von 2009. Deutschland hat also bereits ein Vorinsolvenzrecht, allerdings bezieht es sich nur auf Anleihen. Ein vergleichbares Recht kennt sonst nur die Schweiz. In der Wissenschaft gilt das SchVG als unzureichend,6 aber in der Disstressed Debt-Praxis ist es ein wichtiges Instrument der vorinsolvenzlichen Restrukturierung geworden. Die Quint bildet gleichsam die Aktienrechtsreform von 2009. Sie hat den Individualschutz der Aktionäre bei der sanierenden Kapitalerhöhung erheb2
Debtwire, European Distressed Debt Market Outlook, 2014, S. 31 und 2017, S. 26. Durch das Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie v. 30.7.2009 („ARUG“), BGBl. 2009 I, S. 2479. 4 Durch das Gesetz zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen v. 31.7.2009, BGBl. 2009 I, S. 2512. 5 S. dazu aus der umfangr. Literatur nur die Schilderung bei K. Schmidt ZIP 2012, 2085. 6 S. nur die Stellungnahmen zu dem Beschluss des OLG Frankfurt a.M., ZIP 2012, 725 ff., von Paulus BB 2012, 1556. 3
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lich geschwächt. Man hatte es dabei den Richtern überlassen, die Spannung zwischen der Funktionalität der Sanierung und einer gerechten Schutzgewähr für Aktionäre aufzulösen.7 Aber die Vorgaben sind so streng zulasten der Aktionärsminderheiten, dass die Kapitalerhöhung erheblich erleichtert worden ist.8
II. Erfahrungen mit dem deutschen Rechtsrahmen: eine Fallstudie Das Zusammenspiel dieser Elemente lässt sich am besten anhand einiger Fallstudien illustrieren.9 Es liegen zahlreiche Beispiele von Distressed Debt Takeovers vor und es ist sinnvoll, einige von ihnen der rechtlichen Bewertung des deutschen Rechtsrahmens voranzustellen. 1. Die Zeit vor Inkrafttreten des ESUG (2012) Die neue Hochphase der Übernahmen in Europa beginnt 2011 mit den Distressed Debt Takovers bei der Findus Group, Travelodge, Biffa und der Klöckner Pentaplast. Die Reorganisation der Klöckner Pentaplast im Jahr 2011 lässt den typischen Ablauf einer marktorganisierten Unternehmensübernahme gut erkennen. a) Sachverhalt Das Unternehmen wurde im Jahr 2001 erstmals und im Mai 2007, auf dem Höhepunkt des Marktes für Übernahmen, ein zweites Mal von Private Equity-Investoren, diesmal von Blackstone für 1,3 Mrd. Euro, übernommen (Secondary Buy Out). Das finanzierende Bankenkonsortium veräußerte die syndizierten Kredite überwiegend an CLO-Fonds, die in der Finanzkrise unter Druck gerieten und die Kredite mit hohen Abschlägen weiterverkauften, u.a. schon 2008 an die heutigen Eigentümer. Das durch die Buyouts hochgradig fremdfinanzierte Unternehmen konnte die Finanzkennzahlen, die noch auf das Marktumfeld vor der Krise ausgerichtet waren, nicht einhalten. Der nachfolgende Reorganisationsprozess erinnert an einen Übernahmekampf. Es bildete sich eine Koalition der vorrangigen Gläubiger und Gesellschafter. Die im Senior Lien engagierten Finanzinvestoren Oaktree und Blackstone als Alteigentümer wollten einen Schuldenschnitt durchsetzen. Die von der Strategic Value Partners im Junior Lien geführte Gegenko7 Zu den schwierigen Rechtsfortbildungsaufgaben vor allem im SchVG s. bereits Florstedt ZIP 2012, 2286 ff. 8 Vgl. statt vieler die Darstellung bei Florstedt AG 2009, 465 ff. 9 Die nachfolgenden Angaben beruhen auf hoffentlich zutreffenden, öffentlich zugänglichen Informationen.
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alition widersetzte sich dem Plan, drohte damit die Kredite fällig zu stellen und konnte das Unternehmen letztlich übernehmen. Dass Finanzierungsverträge es den nachrangigen Gläubigern ermöglichen, die vorrangigen abzulösen und die verpfändeten Geschäftsanteile einzuziehen, ist üblich. Auf diesem Weg gelang Strategic Value Partners der Kontrollerwerb. Mit eigenen Mitteln von 190 Mio. Euro und einem Kredit der Investmentbank Jefferies von über 650 Mio. Euro bezahlten sie die vorrangigen Gläubiger voll aus und ließen die verpfändeten Anteile auf sich übertragen. Die Klöckner Pentaplast begab nach der Übernahme im Mai eine mit 11% verzinste Anleihe über 225 Mio. Euro, mit denen die eigenen Mittel der SVP zurückgeführt wurden. b) Folgerung Das Verfahren zeigt, wie die unbeaufsichtigte Reorganisierung operativ erfolgreicher Unternehmen weiterhin marktorganisiert erfolgt. Die ganzen Instrumente der gerichtlichen Sanierung finden bei einem Eigentümerwechsel in der Unternehmenskrise gar keine Anwendung. Diesen Normalfall sollte im Blick behalten, wer über die Notwendigkeit weiterer Reformen und noch mehr Restrukturierungsgesetze spricht: Es sind Erweiterungen eines ohnehin schon recht großen Instrumentenkastens für Notfälle, in denen die marktliche Restrukturierung nicht reibungsfrei funktioniert. 2. Bevorzugung der wilden Sanierung auch nach Inkrafttreten des ESUG (2012) Auch nach Inkrafttreten des ESUG haben Gläubiger vorrangig versucht, ein förmliches Planverfahren zu vermeiden. a) SolarWorld AG Die Sanierung der SolarWorld AG zeigt besonders gut, dass es neben dem reformierten Insolvenzplanverfahren einen durchaus praxistauglichen Rechtsrahmen zur vorinsolvenzlichen Restrukturierung von Aktien und Anleihen gibt. aa) Sachverhalt Vor der Restrukturierung hielt der Gründer A einen Anteil von ca. 28%; die übrigen Aktien befanden sich im Streubesitz. Nach der Restrukturierung sollte der Aktionärskreis aus der Itom Investment S.à r.l. (46,5%) und der Qatar Solar S.P.C. (29%) – zwei Vehikeln von Finanzinvestoren – sowie A (19,5%) und den anderen Altaktionären bestehen, deren Anteil um 95% reduziert wurde. Der Distressed Debt Takeover hatte eine untypische Form.
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Nicht ein Finanzinvestor übernahm die Gesellschaft , wie z. B. bei der Pfleiderer AG, sondern der Wert der restrukturierten Gesellschaft – prosaisch gesagt: der „Restrukturierungskuchen“ – wurde auf drei Lager verteilt. Die Restrukturierung war, stark vereinfacht, in zwei Schritten durchzuführen: (1) Die ausstehenden Verbindlichkeiten von ca. 945 Mio. Euro sollten auf ca. 440 Mio. Euro gesenkt werden. Sie bestanden im Wesentlichen aus: – einem Darlehen über 52,5 Mio. Euro, – fünf Schuldschein-Darlehen über 90 Mio. Euro, 50 Mio. Euro, 97 Mio. Euro, 65 Mio. Euro und 50 Mio. Euro, die „alternative Finanzinvestoren“ weithin aufgekauft hatten, – zwei börsennotierten Anleihen über 387,1 Mio. Euro (Laufzeit von 2010– 2017; Jahreszins von 6,125%) und über 139,4 Mio. Euro (Laufzeit von 2011– 2016, Jahreszins von 6,375%).
Die Gläubiger sollten einen Schuldenschnitt von ca. 40% (Darlehen) bzw. 55% (Schuldscheindarlehen und Anleihen) akzeptieren. Eine Anleihe mit dem Nennwert von 1.000 Euro sollte in Erwerbsrechte erstens auf junge Aktien und zusätzlich auf eine besicherte Anleihe zum Nennwert von ca. 440 Euro getauscht werden. (2) Das Grundkapital sollte im Verhältnis 150:1 auf 744.800 Euro herabgesetzt und gegen Einlage der Schuldscheindarlehen und Anleihen – unter Ausschluss des Bezugsrechts – auf 14.896.000 Euro erhöht werden. Der Anteil aller Altaktionäre sollte auf ca. 5% gesenkt werden. Der virulente Kern der „Transaktionsstruktur“ lag zum einen in dem vollständigen Bezugsrechtsausschluss und zum anderen darin, dass Darlehens- und Anleihegläubiger ranggleich waren, aber ungleich behandelt wurden. Anleihegläubiger erhielten – wie die Gläubiger der Schuldscheindarlehen – Erwerbsrechte zum Bezug von 16,46 Stück junger Aktien. Sicher war ihnen aber nur der Erwerb von 7,31 Stück, denn A und die Qatar Solar S.P.C. hatten vorrangige Erwerbsrechte auf insgesamt 48,5% der jungen Aktien zu einem Gesamtpreis von rund 46 Mio. Euro. Diese Erwerbsrechte richteten sich nur gegen die Anleihe-, nicht aber gegen die Darlehensgläubiger. Die erforderlichen Beschlüsse wurden auf Haupt- und Gläubigerversammlungen bei niedrigen Präsenzen mit den erforderlichen Mehrheiten gefasst. Sowohl die aktien- als auch anleiherechtlichen Beschlüsse vom 6. August 2013 wurden angefochten, u. a. durch sogenannte „Berufskläger“, also Privatpersonen, die sich auf den Missbrauch von Klagerechten spezialisiert haben und sich den Lästigkeitswert solcher Klagen abkaufen lassen. Mit seinen Entscheidungen vom 13. Januar 2014 hat das OLG Köln die Freigabe erteilt und die Maßnahmen konnten umgesetzt werden.
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bb) Folgerung Die außergerichtliche Sanierung hatte zwei wesentliche Teilschritte: die Kapitalherabsetzung und die Änderungen der Anleihebedingungen. Beide Teilakte werden durch eine Beschlussfassung vollzogen, die gerichtlich überprüft werden kann und auch regelmäßig überprüft wird. Erster Schritt: der sanierende Kapitalschnitt. Das Gericht hatte zunächst zu entscheiden, ob der mehrheitlich beschlossene Kapitalschnitt vollzogen werden darf. Dies geschieht in zwei Prozessen, in einer anfechtungsrechtlichen Überprüfung des Beschlusses in Bezug auf formelle oder inhaltliche Fehler und in einem zusätzlichen Eilverfahren, das neben das normale und langwierige Beschlussmängelklageverfahren tritt. Gegenstand dieses allein entscheidenden Schnellverfahrens ist nur, ob der Beschluss vollzogen werden darf. Auf ein Wesentliches vereinfacht, geht es im Aktienrecht seit 2009 nur darum, ob ein besonders schwerer Verstoß vorliegt. Wird dies verneint, gibt das Gericht den Beschluss frei, der dann nicht rückgängig gemacht werden kann.10 Wann besondere Schwere in Sanierungssachverhalten vorliegt, ist gesetzlich nicht vorgegeben. Das OLG Köln hat den Beschluss freigegeben.11 Das OLG Köln hält dabei sogar ein „Sanieren durch Rausschmiss“12 schon vor der Insolvenz für möglich.13 Wenn die Finanzinverstoren, die das notleidende Unternehmen übernehmen, es verlangen, dass die Altaktionäre weitgehend kompensationslos ausscheiden, soll diese Forderung genügen, um den Beschluss freizugeben. Zweiter Schritt: Änderungen der Anleihebedingungen. Der Fall macht anschaulich, wie einfach nach deutschem Recht die Anleihebedingungen nachträglich mit Zwangswirkung für alle Anleihegläubiger geändert werden können. Dazu gibt § 5 SchVG einer Mehrheit umfangreiche Befugnisse. Gemäß § 5 Abs. 3 S. 1 SchVG kann etwa die Höhe der Hauptforderung oder von Zinsforderungen (Nrn. 1–3), der Rang der Forderungen (Nr. 4) oder auch der Umtausch von Schuldverschreibungen in Gesellschaftsanteile (Nr. 5) beschlossen werden. Nach § 5 Abs. 4 S. 1 SchVG ist für Beschlüsse über die Änderung der Anleihebedingungen grundsätzlich die einfache Mehrheit ausreichend. Wesentliche Änderungen der Anleihebedingungen bedürfen einer qualifizierten Mehrheit von mindestens 75%, § 5 Abs. 4 S. 2 SchVG. Für die Beschlussfähigkeit ist gemäß § 15 Abs. 3 SchVG die Anwesenheit von 50% des Nennwerts der Gesamtschuldverschreibung erforderlich; wird dieses Quorum nicht erreicht, genügt auf einer zweiten Gläubigerversammlung die Anwesenheit von 25% bei wesentlichen Änderungen. 10
§ 246a Abs. 4 S. 2 AktG. OLG Köln, ZIP 2014, 263; ausf. Florstedt ZIP 2014, 1513, 1514 f. 12 S. K. Schmidt ZIP 2012, 2085, 2086. 13 Ohne Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Diskussion. 11
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In dem konkreten Fall, hat sich gezeigt, dass auch im Anleiherecht der Rechtsschutz für dissentierende Gläubiger schwach ausgestaltet ist. Den Anleihegläubigern wird eine Anfechtungsbefugnis in Anlehnung an das Aktienrecht zugesprochen. Wird ein Beschluss der Anleihegläubiger angefochten, darf er – wie im Aktienrecht – erst vollzogen werden, wenn ein Gericht in einem besonderen Eilverfahren die sogenannte Freigabe erteilt.14 Die Vollziehung wird ebenfalls wie im Aktienrecht nur verhindert, wenn sie wegen einer „besonderen Schwere des Rechtsverstoßes“ unerträglich wäre. Eine Verletzung elementarer Rechte, die für den Einzelnen durchaus eine Härte ist, genügt nicht; der Verstoß muss vielmehr „im Einzelfall“ nach Art und Umfang die Kassation gebieten.15 Die Anforderungen sind hoch. In der einzigen Entscheidung zu dem Fall SolarWorld hat das OLG Köln die Anforderungen so hoch angelegt, dass sie kaum je erfüllt werden können. Auch an dieser Stelle fällt auf, dass die insolvenztypischen Garantien in der Vorinsolvenz nicht gewährt werden.16 Das Gläubigerinteresse wurde von vornherein von dem Gericht nur auf den Vergleich mit Liquidationswerten begrenzt.17 Noch gravierender ist, dass die Anleihegläubiger in dem Schutzverfahren nicht vortragen können, dass andere Gläubigerklassen oder Aktionäre im Vergleich zu ihnen besser gestellt werden. Die insolvenzrechtliche Vorrangregel soll in der Vorinsolvenz nicht gelten.18 b) Zur fortbestehenden Bedeutung des Scheme of Arrangement: Jack Wolfskin Hier nur angedeutet werden kann die Sanierung von Jack Wolfskin, die zeigt, dass die Praxis auch nach der ESUG-Novelle für Sanierungen von im Kerngeschäft bestandsfähigen, aber überschuldeten Unternehmen das englische Scheme of Arrangement bevorzugt. aa) Sachverhalt 2010 erwirtschaftete Jack Wolfskin mit rund 430 Mitarbeitern einen Umsatz von 304 Mio. Euro. 2011 kaufte daraufhin Blackstone Jack Wolfskin für 14 § 20 Abs. 3 S. 4 SchVG, OLG Köln, ZIP 2014, 268; ausf. dazu Florstedt ZIP 2014, 1513, 1516 ff. 15 Siehe nur Begr. RegE. BR-Drucks. 847/08, 63 zum ARUG. 16 S. bereits Florstedt ZIP 2014, 1513, 1517 f.; ders. ZBB 2017, 145, 152 ff. 17 § 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO; lesenswert zu dieser Problematik K. Schmidt ZIP 2012, 2085, 2087. 18 OLG Köln, ZIP 2014, 268, 269 f. Es heißt weiter: „Hinsichtlich der streitigen Unterpari-Emission ist hinzuzufügen, dass nach dem eigenen Vorbringen der Antragsgegner insofern eine Differenzhaftung eingreifen könnte. Außerdem ist die Prüfung der Sacheinlage durch das Registergericht zu berücksichtigen. Auch diese Gesichtspunkte stehen der besonderen Schwere der insofern gerügten Rechtsverletzung entgegen“, 270.
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700 Mio. Euro, wovon 485 Mio. Euro durch Morgan Stanley, Bank of America, Merrill Lynch, UBS und IKB fremdfinanziert waren und letztlich Jack Wolfskin aufgebürdet wurden. Die Einzelheiten der finanziellen Schieflage und der von Hedgefonds betriebenen schuldenbasierten Übernahme mögen hier ungeschildert bleiben. Der nach dem englischen Scheme of Arrangement im Jahr 2017 umgesetzte Sanierungsplan sah einen Schuldenschnitt von 365 Mio. Euro auf 110 Mio. Euro vor, wobei im Einzelnen 210 Mio. Euro auf die Hold-Co transferiert, 45 Mio. Euro erlassen und 110 Mio. Euro mit einer verlängerten Laufzeit bis 2020 bei der Op-Co verblieben. Zusätzlich wurde von den Hedgefonds weitere 25 Mio. Euro an frischem Kapital zugeführt. Blackstone wurde als Anteilsinhaber verdrängt und verlor seinen Eigenkapitaleinsatz von 300 Mio. Euro vollständig. bb) Folgerung Die Funktionsweise des Scheme of Arrangement ist hier nicht darzustellen. Von Interesse ist nur, warum deutsche Unternehmen angesichts der verschiedenen deutschen Sanierungsarten diesen Weg bevorzugen. Es wird dabei zunächst schlicht um die Vermeidung des sog. Insolvenzstigmas gehen. Insofern wird es als Problem empfunden, dass das sog. Schutzschirmverfahren in § 270b InsO Teil des förmlichen Insolvenzplanverfahrens ist. Ein weiterer Grund werden die effizient arbeitenden und sachkundigen Gerichte Englands sein. Die Negativfolgen des „forum shopping“ wurden allgemein genügend beschrieben19 und sind hier ebenso wenig zu vertiefen wie die Auswirkungen des Brexits.20 3. Loan-to-own-Verfahren nach dem ESUG (2012) Die Verfahrensweise der schuldenbasierten Unternehmensübernahme unter dem ESUG lässt sich anhand der ersten beiden größeren Übernahmen durch Distressed Debt-Investoren seit 2012 veranschaulichen. a) Pfleiderer AG Das Beispiel der Pfleiderer AG war der erste Distressed Debt Takeover unter dem neuen Insolvenzplanrecht.
19 20
Dazu Frind NZI 2019, 697, 699 mwN. Dazu Sax/Swierczok ZIP 2017, 601.
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aa) Sachverhalt21 Das holzverarbeitende Unternehmen mit 3000 Mitarbeitern und einem Konzernumsatz von über einer Milliarde Euro im Jahr 2009 erzielte u.a. durch Abschreibungen auf kurz zuvor erworbene Beteiligungen im Jahr 2010 einen Verlust von über 700 Mio. Euro. An der Pfleiderer AG war seit 2008 ein Private Equity-Unternehmen, die One Equity Partners, als größter Aktionär mit zunächst 15%, später 27% beteiligt. Während der Unternehmenskrise haben zahlreiche Hedge- und Debt-Fonds Forderungen von über etwa 372 Mio. Euro übernommen. Im Juli 2009 und später wurden Zinszahlungen auf eine 2007 begebene Hybridanleihe über 260 Mio. Euro ausgesetzt. Der Übernahme ging ein gescheiterter außergerichtlicher Sanierungsversuch voraus. Ein mit Gläubigerbanken im Mai 2011 erarbeiteter Sanierungsplan sah eine vereinfachte Kapitalherabsetzung auf weniger als 1% des gezeichneten Kapitals, eine Barkapitalerhöhung unter Ausschluss des Bezugsrechts der Altaktionäre und den Umtausch der Hybridanleihe in Anteile vor. Als Verteilungsschlüssel war vorgesehen, die Altaktionäre zu 1%, die Hybridgläubiger zu 4% und die erstrangig besicherten Gläubiger (Senior Debt) zu 80% an der restrukturierten Gesellschaft zu beteiligen. Die Altaktionäre hätten die jungen Aktien zu 5,11 Euro zeichnen können, die erstrangig besicherten Gläubiger zu 1,37 Euro. Der von Anlegerschutzverbänden stark kritisierten Beschlussvorlage stimmten die Hybridgläubiger bei knapp erreichter Mindestpräsenz mit 88,2% zu; auf einer außerordentlichen Hauptversammlung wurde den Kapitalmaßnahmen mit den Stimmen des Hauptaktionärs, einem Private Equity-Fonds, mit 93,3% zugestimmt. Die Beschlüsse der Gläubigerversammlung wurden u.a. durch Berufskläger angefochten; Vergleichsverhandlungen scheiterten. Das OLG Frankfurt a.M. hat die Freigabe durch Beschluss vom 27. März 2012 abgelehnt.22 Auf Antrag der Pfleiderer AG vom 28. März 2012 wurde das Insolvenzverfahren am 17. April 2012 in Eigenverwaltung eröffnet. Der am 3. August 2012 eingereichte Insolvenzplan sah nunmehr eine Kapitalherabsetzung auf null und eine anschließende Bar- und Sachkapitalerhöhung vor. Bemerkenswerterweise wurde ein Bezugsrecht der Altaktionäre vollständig ausgeschlossen. In der Abstimmung über den Plan am 12. September 2012 stimmten die Gläubigergruppen dem Plan mit insgesamt 99,46% und Altaktionäre mit 99,19% der Stimmen zu. Es wurden keine Rechtsmittel eingelegt und der Plan am 27. November 2012 eingetragen. Mit dem Wirksamwerden des Kapitalschnittes endete auch die Börsenzulassung der Pfleiderer-Aktien; für die jungen Aktien wurde keine Börsenzulassung mehr beantragt. Übernommen hat die jungen Aktien eine Erwerbsgesellschaft, die luxemburgi21 22
Vgl. AG Düsseldorf v. 18.10.2012 – 501 IN 84/12. OLG Frankfurt a.M., NZG 2012, 593; s. dazu auch Kessler/Rühle BB 2014, 907, 908 f.
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sche Atlantik S.A. Die wahren Investoren hielten ihre Identität hinter Treuhandkonstruktionen verborgen. Erst nach der Planeintragung im Dezember 2012 wurde der Treuhänder durch die Blackstone Group LP übernommen. bb) Bewertung Man sieht an dem Fall, wie das reformierte Insolvenzrecht den Weg der Sanierung verändert, indem es für die gescheiterte marktförmige Reorganisation eine durchaus schnelle, funktionsfähige Alternative gibt. Das Verfahren und der Verteilungsschlüssel, der die nachrangigen Gruppen nicht mehr berücksichtigt, haben Modellcharakter. Der Insolvenzplan sah einen Kapitalschnitt vor, und zwar eine Kapitalherabsetzung auf null sowie eine Kapitalerhöhung unter vollständigem Bezugsrechtausschluss der Altaktionäre.23 Im Ergebnis konnten die Finanzinvestoren dadurch 100% der neuen Aktien erwerben.24 Der Fall der Pfleiderer-AG zeugte erstmalig von der Effizienz, mit der nach Einführung des ESUG sanierende Kapitalmaßnahmen umgesetzt werden konnten und verdeutlichte, dass es auch nur einzelnen Gläubigern ohne größere Schwierigkeiten ermöglicht wurde, nicht nur widerstrebende Gesellschafter, sondern alle – auch opferbereite, also sanierungswillige – Gesellschafter auszuschließen.25 Bei dem insolvenzrechtlichen Schutz für die Altgesellschafter, der auch eine Wertprüfung ermöglichen soll, zeigte sich – wie auch im Fall SolarWorld –, dass die Altgläubiger allzu leicht mit dem Hinweis auf die sonst bestehende Regelinsolvenz verwiesen werden konnten.26 Bei der vorinsolvenzlichen Reorganisation zeigte sich schließlich erneut, dass die systematisch erhobenen Klagen gegen Unternehmen durch Berufskläger weiter die Regel sind. b) IVG Immobilien AG Bei größeren Sanierungsverfahren ist die Verhandlungssituation durch ein Sich-Gegenüberstehen einer weit größeren Anzahl von Finanzinvestoren gekennzeichnet, wie das Beispiel der IVG Immobilien AG zeigt. aa) Sachverhalt Das Unternehmen hatte bei einem Jahresumsatz von 438 Mio. Euro im Jahr 2012 einen Verlust von 100 Mio. Euro erzielt und geriet im Frühjahr 2013 durch die Nachfolgen eines zu schnellen Wachstums zwischen 2006 und 2008 nunmehr aufgrund von Basel III und der Energiewende in eine 23 Zu den Einzelheiten des Sachverhalts s. auch K. Schmidt ZIP 2012, 2085; Decher/ Voland ZIP 2013, 103. 24 Vgl. K. Schmidt ZIP 2012, 2085, 2086. 25 Vgl. Decher/Voland ZIP 2013, 103, 104 f. 26 Vgl. Decher/Voland ZIP 2013, 103, 110; vgl. dazu auch Madaus ZGR 2011, 749, 759.
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Schieflage. Von den Schulden in Höhe von 4,23 Mrd. Euro Ende 2012 waren 3,5 Mrd. bis 2014 fällig, ein Schuldenabbau um 1,75 Mrd. Euro wurde notwendig. Paketaktionäre reduzierten ihre Beteiligungen; Banken hatten schon im Herbst 2012 begonnen, Kredite an Hedgefonds zu verkaufen, genannt werden etwa Apollo und TPG. Der Hedgefonds Aurelius Capital Management hatte 30% einer auf 400 Mio. Euro lautenden Wandelanleihe eingesammelt. Aber auch in die anderen Kreditklassen hatten sich Hedgefonds eingekauft. Der Reorganisationsplan sah vor, die syndizierten Kredite (Syn Loan II) und die Objektfinanzierungen zu prolongieren. Ein nur teilweise syndizierter Kredit (Syn Loan I) und die gering besicherten Wandelanleihen sowie die unbesicherte Hybridanleihe sollten gegen Anteile getauscht werden. Im Ergebnis wären diese Gläubiger zu 96% an dem Unternehmen beteiligt, hätten aber im Gegenzug auf die Rückzahlung von 1,75 Mrd. Euro verzichtet. Dem widersetzte sich der Hedgefonds Aurelius Capital Management der eine höhere Bedienung der Wandelanleihe einforderte. Eine Einigung konnte in den Verhandlungen, welche einige Verfahrensbeteiligte an ein Spiel erinnert haben sollen, bis zu der mit den Banken ausverhandelten Frist (29. Juli) nicht erzielt werden. Im August stellte das Unternehmen einen Insolvenzantrag und verfolgte den Sanierungsplan im Rahmen des Schutzschirmverfahrens weiter. Noch im Schutzschirmverfahren musste schließlich die Zahlungsunfähigkeit angezeigt werden, da eine vorläufige Stundungsvereinbarung fällig werdender Finanzverbindlichkeiten nicht erreicht werden konnte. Die Verfahrensart wurde im Hinblick auf eine Gefährdung von Stillhalteabkommen hingegen nicht geändert. Als Gläubiger musste der Plan zwei syndizierte, teils voll besicherte, Kredite in Höhe von ca. 2,5 Mrd. Euro, durch Grundpfandrechte besicherte Objektfinanzierungen in Höhe von 400 Mio. Euro, eine hochverzinsliche, unbesicherte und nachrangige Schuldverschreibung mit unbestimmter Laufzeit mit einem Nennbetrag von 400 Mio. Euro (Wandelanleihe) sowie fällige Garantieverpflichtungen für Tochterunternehmen, insbesondere aus einer Wandelanleihe, von ca. 630 Mio. Euro berücksichtigen. Der Insolvenzplan sah bei einer Quote von 60% einen Kapitalschnitt inklusive Barkapitalerhöhung und Debt Equity Swap vor. Quotenerhöhende Umwandlungsoptionen wurden, ggf. gegen Aufgabe von Sicherheiten für die Gläubiger des ersten syndizierten Kredits sowie der Wandelanleihen, vorgesehen. Gläubiger des zweiten und voll besicherten Kredits sollten nur eine Stundung akzeptieren müssen. Der Plan wurde von allen Gruppen angenommen, wobei es lediglich innerhalb einer Gruppe eine einzige NeinStimme gab. Unter den Anteilseignern stimmte dem Plan eine Summenmehrheit von 56% zu. Nachrangige Gläubiger stimmten nicht ab.
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bb) Bewertung In der Fortsetzung des bereits vorinsolvenzlich mit einem Wandelanleihegläubiger geführten Streits über die Werthaltigkeit der Forderung und Beteiligung an der Planausschüttung folgte das Insolvenzgericht schließlich der Einschätzung von Schuldnerin und Sachwalter und wies den Minderheitenschutzantrag zurück. Man sieht dabei: Die konsensgetragenen Lösungen werden umso schwieriger, der Weg durch ein Insolvenzplanverfahren mit gesenkten Mehrheitserfordernissen und Obstruktionsverbot (cram-down) umso wahrscheinlicher, je größer das Unternehmen ist und somit die Aufmerksamkeit der Finanzinvestoren auf sich lenkt. Das Scheitern der außergerichtlichen Restrukturierung wegen großer Ziel- und Interessendisparitäten, wenn sich eine Vielzahl von Hedgefonds beteiligen, könnte für größere Reorganisationen typisch werden. Für eine vorinsolvenliche Streitbeilegung fehlt es an der Hilfe durch eine gerichtliche Instanz. Dass sich Distressed Debt-Investoren zu diesem Zeitpunkt weit unter Nennwert in die Wandelanleihe einkaufen konnten, erschwerte die Verhandlung zusätzlich. Hinsichtlich des Insolvenzplanverfahrens etablierte sich, ähnlich wie bei der Pfleiderer AG, wiederum ein Verfahren, in dem die Auswahl des (vorläufigen) Sachwalters und des (vorläufigen) Gläubigerausschusses dem Schuldner weithin überlassen blieb; dass der Minderheitenschutz in dem Rechtsschutz gegen den Plan nach § 253 Abs. 4 S. 1 InsO stark gekürzt war, muss hier angedeutet bleiben. III. Einige Folgerungen 1. Gesamtbild zur außergerichtlichen Sanierung Die Fallstudie lässt einige ausgewählte Folgerungen zu. Es zeigt sich in positiver Hinsicht, dass der Markt mit Hilfe der außergerichtlichen Restrukturierungsangebote des deutschen Rechts insgesamt gut zurechtkommt. Die „freigaberechtliche“ Sanierung wird als echte Alternative zum Insolvenzplanverfahren begriffen. Das SchVG und das Sanierungsgesellschaftsrecht nehmen funktional die Stellung des US-amerikanischen Chapter 11Verfahrens ein. Die Streitigkeiten mit Aktionären und Anleihegläubigern können oft innerhalb einer gesetzlich angeordneten dreimonatigen Frist beigelegt werden.27 Das Scheme of Arrangement bietet sich als weitere Alternative an. Bei einer kritischeren Sicht fällt das Fehlen insolvenztypischer Garantien und Schutzmechanismen auf. Es kommt zu Umverteilungseffekten. 27 § 246a Abs. 3 S. 6 AktG iVm § 20 Abs. 3 S. 4 SchVG, s. zur Einhaltung der Frist Baums/Drinhausen/Keinath ZIP 2011, 2329, 2342 ff.; Bayer/Hoffmann/Sawada ZIP 2012, 897, 907 ff.
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a) Keine insolvenztypischen Garantien Das deutsche Recht erhält seine Funktionsfähigkeit erst durch Rechtsschutzverkürzung. Die Anleihegläubiger und Aktionäre können (1) nur „Verstöße von besonderer Schwere“ rügen, deren Vorliegen theoretisch ist; (2) keine inhaltliche Überprüfung des ganzen Restrukturierungsplans erreichen;28 (3) nicht verhindern, als Eigentümer oder Anleihegläubiger ohne volle Kompensation und berechtigte Befriedigung ihres Interesses aus der Gesellschaft gedrängt zu werden.29 Das bedeutet zugleich, dass die insolvenztypischen Garantien in der Vorinsolvenz vollständig außer Kraft gesetzt werden: (1) Es gibt keine Wertkontrolle, ob die in dem Plan vorgenommenen Wertzuweisungen andere Gruppen unbillig benachteiligen; (2) Anleihegläubiger können willkürlich gegenüber gleichrangigen Kreditgläubigern schlechter behandelt werden; (3) die Wertzuteilung an Distressed DebtInvestoren ist faktisch nicht einmal durch den Nennbetrag der Forderungen begrenzt (Widerspruch zur Zielfunktion der Sanierung). b) Kein Manipulationsschutz, z.B. durch Stimmverbote Aufgrund konzeptioneller Schwachpunkte unterliegt das deutsche Anleiherecht einer stetigen Manipulationsgefahr. Nach dem SchVG können 18,75% Stimmanteile für einen Mehrheitsbeschluss genügen. Eine qualifizierte Mehrheit beispielsweise durch eine zusätzliche Kopfmehrheit ist nicht erforderlich. Bei der Pfleiderer AG waren die ersten Beschlüsse der Anleihegläubiger mangels ausreichender Präsenz der Anleihegläubiger nicht zustande gekommen, bis einer der beteiligten Distressed Debt-Investoren einfach genügend hybride Teilschuldverschreibungen kaufte und zugunsten der Kreditgeber für einen fast vollständigen Forderungsverzicht der Anleihegläubiger stimmte. Das Recht gewährt gegen ein solches Verhalten kaum eine nachgelagerte Verteidigungsmöglichkeit. Insbesondere Stimmverbote für missbräuchliches Verhalten oder ein Entzug des Stimmrechts für kürzlich erworbene Forderungen ist nicht vorgesehen. Faktisch können die Finanzinvestoren den erforderlichen Konsens unbemerkt und ohne rechtliche Kontrolle „kaufen“. Ein „gekaufter“ Konsens kann ersichtlich keine Zwangseingriffe rechtfertigen. c) Kein Schutz für Gründer und Altgesellschafter Die Rechtfertigung für den schwachen Rechtsschutz im vorinsolvenzlichen Bereich ist die schon für die formelle Insolvenz zu undifferenzierte 28 29
Wie zuvor. II. 2. a), 3. a).
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Annahme, die Anteile seien bei einer Unterbilanz wertlos.30 Das ist zuletzt eingehend und überzeugend kritisiert worden31 und muss hier aus der Betrachtung ausscheiden. d) Kein effektives Gerichtsverfahren Nach geltendem Recht erfolgt die richterliche Überprüfung eines Restrukturierungsplans als Grundlage der vorinsolvenzlichen Zwangssolidarisierung in zu vielen Prozessen. Es werden anleihe- und aktienrechtliche Hauptsache- und Zwischenverfahren geführt; daran schließen sich jeweils Wertersatzprozesse an.32 Trotz dieser Vervielfältigung von Gerichtsverfahren wird die insolvenztypische Problemaufgabe – d.h. die Bewertung und Verteilung des Wertes der restrukturierten Gesellschaft33 – nicht gelöst. 2. Ausgewählte Einsichten zum ESUG als Vorbild der Restrukturierungsrichtlinie Der deutsche Gesetzgeber orientierte sich bei der ESUG-Gesetzesnovelle an dem Chapter 11-Verfahren, ohne sich mit der zuvor durch die ABI Commission bekanntgewordenen Kritik an dem US-Verfahren auseinander zu setzen.34 Nach Überzeugung der ABI Commission bot das Chapter 11Verfahren bei seiner Entstehung 1978 eine flexible Grundlage für einen angemessenen Interessenausgleich. Heute ist es hingegen – wie sein deutsches Pendant – zu einem Übernahme-Spielfeld geworden.35 Dabei war das ESUG ursprünglich als attraktivitätssteigernde Maßnahme für eine frühzeitige Sanierung als Alternative zum englischen Scheme of Arrangement gedacht. Zentrale Bestandteile sollten die Stärkung der Gläubigerrechte durch Auswahl der Sachwalter, die Förderung der Eigenverwaltung und der DebtEquity Swap sein.36 Das ESUG wählt einen Zwischenweg, der für das 30 S. nur statt vieler Decher/Voland ZIP 2013, 103, 108; Thole ZIP 2013, 1937, 1940; Landfermann WM 2012, 821, 829. 31 Überzeugend Schäfer ZIP 2013, 2237, 2239 f. 32 Zur Möglichkeit der Umstellung der Beschlussmängelklage auf eine Schadensersatzklage nach erteilter Freigabe s. Decher AG 1997, 390. 33 Dieses Ordnungsproblem ist unabhängig von dem str. Primärziel des Insolvenzplanverfahrens (Fortführung oder Haftungsverwirklichung); zu dem insolvenztypischen Grundproblem instruktiv Bebchuk 101 Harv. L. Rev. 775, 777 ff. (1987–1988); aus dem dt. Schrifttum (zum Insolvenzplanverfahren) s. Madaus Der Insolvenzplan, 2011, 435 ff., insbes. zur Überlegenheit des konsensualen Entscheidungsmechanismus, 512 ff. Die Argumentation lässt sich auf die unbeaufsichtigte Reorganisation übertragen, denn auch das SchVG und AktG setzten auf die „Richtigkeitsgewähr des Konsensprinzips“, soweit sie die Konsensbildung durch bindende Mehrheitsentscheide ermöglichen. 34 Siemon ZInsO 2013, 1861, 1861. 35 Vgl. so auch Siemon ZInsO 2014, 172; ders. ZInsO 2013, 1861, 1861. 36 Vgl. Regierungsentwurf zum ESUG vom 4.5.2011, BT-Drucks. 17/5712, 1.
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Distressed Debt Investing von Bedeutung ist: Das Gericht ist zur Überprüfung des Plans bestimmt; der Schuldner bleibt verfügungsbefugt37 und bleibt Herr des Unternehmens und des Reorganisationsverfahrens; der „Sachwalter“ dient nur als „Kontrollorgan“ des Schuldners und überwacht die Verfahrensgestaltung (§ 274 Abs. 3 InsO);38 auch die Rolle des Gläubigerausschusses bleibt auf eine Kontrollfunktion begrenzt.39 Mit dieser Aufgabenteilung geht ein strukturelles Problem einher. Gericht und dissentierende Gläubiger haben nicht genügend Informationen zur Beurteilung des Plans. Die Informationsbeschaffung erfolgt in Deutschland in einem eigenverwalteten Insolvenzverfahren über den Bericht des Schuldners zur Gläubigerversammlung, welchen der Sachwalter teilweise überprüft und dazu Stellung nimmt, § 281 InsO. Dadurch kommt dem Schuldner (und dem Sachwalter) eine bedenkenswerte Informationshoheit zu.40 Nach der Grundkonstruktion der Insolvenzordnung bilden Gericht und Insolvenzverwalter eine Symbiose,41 indem das Gericht auf die Informationsbeschaffung des Insolvenzverwalters angewiesen ist.42 Im Recht der Eigenverwaltung zeigt sich an dieser Stelle eine Regelungslücke. Erschwerend hinzu kommt, dass das Gericht in Anbetracht des fortschreitenden Vertrauensverlustes in das operative Geschäft aufseiten der Lieferanten und Kunden unter Zeitdruck gesetzt wird und die gegebenen Informationen oft als richtig unterstellen muss. In dem Schutzschirmverfahren wird der (vorläufige) Sachwalter von dem Schuldner „mitgebracht“, d.h. vom Schuldner vorgeschlagen und ist mit Ausnahme einer offensichtlichen Ungeeignetheit vom Gericht zu bestellen, § 270b Abs. 2 S. 2 InsO. Auch in der regulären Eigenverwaltung kann der Sachwalter vom Schuldner durch Einflussnahme auf die Zusammensetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses bestimmt werden (vgl. § 56a InsO), da dieser vom Gericht regelmäßig vor der Bestellung des (vorläufigen) Sachwalters befragt wird.43 Wird ein Sachwalter auf Vorschlag eines Schuldners in Eigenverwaltung bestellt, kann er sich dem Schuldner verpflichtet fühlen. Die damit verbundenen Interessenkonflikte sind oft geschildert worden und hier nicht zu vertiefen.44 37
Siehe dazu Siemon ZInsO 2012, 2009, 2014. Siemon ZInsO 2013, 1549, 1557. 39 Siemon ZInsO 2013, 1549, 1557. 40 Siemon ZInsO 2013, 1549, 1558. 41 Vallender/Zipperer ZIP 2013, 149, 151. 42 Siemon ZInsO 2013, 1549, 1559. 43 ESUG-Evaluation, BT-Drucks. 19/4880, 133 mwN; soweit die Interessen ungesicherter Gläubiger überhaupt vertreten werden, besteht im deutschen Insolvenzverfahren stets die Gefahr einer Majorisierung, vgl. Siemon ZInsO 2013, 1549, 1558; zum Streit um die Bestimmung der Gläubigerausschussmitglieder s.: Frind ZIP 2012, 1380; Haarmeyer ZInsO 2012, 2109. 44 Vgl. nur die Nachw. in den Fn. zuvor. 38
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IV. Ausblick auf die deutsche Umsetzung der Restrukturierungs-RL Zu der am 16.6.2019 in Kraft getretenen Restrukturierungsrichtlinie (RL (EU) 2019/1023) gibt es derzeit noch keinen deutschen Umsetzungsentwurf. Angesichts der erheblichen Spielräume, welche die Richtlinie den Mitgliedsstaaten belässt, kann es hier nur um einige Schlaglichter gehen. 1. Gerichtliche Eingangskontrolle Die Restrukturierungsrichtlinie sieht – anders als das Chapter 11-Verfahren45 und das Scheme of Arrangement46 – keine gerichtliche Eingangskontrolle vor. Zwingend angeordnet ist die Beteiligung staatlicher Stellen (Justiz- oder Verwaltungsbehörde) erst bei der Planbestätigung, die gerichtliche Überprüfung ist erst im Rechtsbehelfsverfahren zwingend.47 Problematisch ist das Fehlen einer gerichtlichen Eingangskontrolle einerseits im Hinblick auf den unklaren Anwendungsbereich („wahrscheinliche Insolvenz“) der Richtlinie, andererseits eröffnet es Raum für missbräuchliche Gestaltungen, wie die gezielte Bildung von Gläubigerklassen, um Mehrheiten künstlich herbeizuführen. Die beschriebenen Fälle weisen darauf hin, dass bei der Vorinsolvenz die bislang fehlende Eingangskontrolle zu Umverteilungseffekten führen dürfte. 2. Spezialisierung der befassten Gerichte Auch die Spezialisierung der Gerichte, die bei der Planbestätigung zeitkritische Rechts- und Bewertungsfragen schnell und sachkundig entscheiden können sollen, wurde von der Kommission als bedeutend eingeschätzt.48 Eine Zuständigkeitskonzentration (wie bei dem Chapter 11-Verfahren) ist unionsrechtlich indessen nicht verlangt. Die Neigung der deutschen Sanierungspraxis, wie im Fall Jack Wolfskin ein teures und aufwändiges SchemeVerfahren anzustrengen, hat auch in der fehlenden Expertise deutscher Gerichte einen Grund. Das Problem ist in Deutschland hinlänglich bekannt, auch der von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Evaluationsbericht zum ESUG konstatiert „ein deutliches Bedürfnis, Insolvenzverfahren zu konzentrieren“.49 Ob es so kommt, bleibt abzuwarten. 45
11 U.S.C. § 1125(b). Sec. 896(1) Companies Act. 47 Art. 10 Abs. 1 RRL, Art. 16 Abs. 1 RRL. 48 Europäische Kommission, Commission Staff Working Document Accompanying the Proposal for a Directive on preventive restructuring frameworks, 22.11.2016, SWD (2016) 357 final, 22. 49 ESUG-Evaluation, BT-Drucks. 19/4880, 235 ff. 46
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3. Mehrheitserfordernisse Bemerkenswert ist, dass die Restrukturierungsrichtlinie lediglich eine zwingende Obergrenze für die bei der Planabstimmung erforderliche Mehrheit vorsieht, im Umkehrschluss lässt sie schon eine einfache Mehrheit der abstimmenden Gläubiger genügen.50 Vor diesem Hintergrund sind die deutschen Erfahrungen eine Mahnung. Das im SchVG vorgesehene Quorum der Anwesenheit von 25% der ausstehenden Schuldverschreibungen zeitigt hoch fragliche Ergebnisse. Es ist, wie der Pfleiderer-Fall verdeutlicht, für die Gläubiger schlicht zu leicht, Forderungen anderer Gläubigerklassen kurz vor der Versammlung zu kaufen und das Stimmrecht dann im eigenen Interesse auszuüben. 4. Gläubigerinteresse und Planinhaltskontrolle Ein klassenübergreifender cram-down ist nach Art. 11 Abs. 1 RRL bereits bei Zustimmung nur einer Klasse möglich, die bei Anwendung der normalen Rangfolge eine Zahlung erhalten oder eine Beteiligung behalten würde. Das maßgebliche Korrektiv bildet das Kriterium des Gläubigerinteresses: Demnach ist erforderlich, dass ablehnende Gläubiger durch den Plan nicht schlechter gestellt würden als im Fall der Liquidation oder der nächstbesten Verwertungsalternative. Der Zwang zu einer weiteren Bewertung ist in Deutschland neu. Ob dies die erwünschte Schutzwirkung hat, kann bezweifelt werden. Entscheidend wird auch sein, ob die Gläubigerminderheiten die erforderlichen Informationen erhalten, um den Liquidationswert und den weiteren Wert zu überprüfen. Im Fall der IVG Immobilien AG war die Bewertungsfrage entscheidend, bei den Vorinsolvenzen der Pfleiderer AG oder der SolarWorld AG aber konnten deutsche Minderheitengläubiger keine befriedigende Beantwortung dieser Frage rechtlich erzwingen. Ein ähnliches Bild ergibt sich hinsichtlich der gerichtlichen Inhaltskontrolle: Anders als das Scheme of Arrangement51 und das Chapter 11Verfahren52 sieht die Richtlinie keine materiell-rechtliche Überprüfung des Planinhalts vor. Dies ist auch im Vergleich zum geltenden Insolvenzplanverfahren unbefriedigend, welches u.a. mit der Lauterkeitskontrolle nach § 250 Nr. 2 InsO ein wichtiges Korrektiv enthält. Auch hier drängt sich das Problem der fehlenden Informationen für Minderheitengläubiger auf und die Tatsache, dass eine solche Plankontrolle bislang nur für die Insolvenz, nicht aber für die außergerichtlichen Sanierungsarten vorgesehen ist. 50
Art. 9 Abs. 6 RRL. Das entscheidende Gericht hat hier einen gerichtlichen Ermessensspielraum. 52 11 U.S.C. § 1129(a)(3). 51
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5. Relative priority rule Dass die ganz am Ende des Verfahrens in Art. 11 Abs. 1 lit. c) RRL eingeführte, aber optionale relative priority rule erhebliche Gefahren für die Effizienz des Verfahrens bedeutet, liegt auf der Hand und lässt sich anhand des IVG-Falls gut veranschaulichen. Auch unter der absolute priority rule wird eine Verhandlungslösung mit mehr als 100 Finanzinvestoren unwahrscheinlich. Wird aber der absolute Vorrang nach dem Rang aufgegeben, werden die Verhandlungspositionen nur noch verschiedener und eine Einigung wird noch unwahrscheinlicher, als es unter der absolute priority rule nach deutschem Recht der Fall ist.
V. Ausblick In der deutschen Rechtspolitik stellt sich die Beurteilung des deutschen Rechtsrahmens naturgemäß sehr verschieden dar. Das gilt für die Beurteilung der lex lata und der Reformperspektiven gleichermaßen. Man kann es auf zwei Gegenpole zuspitzen: Für viele ergibt sich die Chance auf einen weiteren Abbau von Sanierungshindernissen, auch wenn dies zulasten der Alteigentümer und dissentierender Gläubiger geht. Für andere kommt die Zwangssolidarisierung nicht ohne eine Aufwertung des Minderheitenschutzes aus; sie sehen die Chance darin, die wertungsmäßige Legitimation der vorinsolvenzlichen Zwangssolidarisierung durch ein kohärentes Schutzsystem der Vorinsolvenz wiederherzustellen. 1. Erste Sichtweise: für effizientere Restrukturierungen Die Forderung einer „restrukturierungsfreundlichen“ Fortschreibung des deutschen Rechts wird vor dem Hintergrund der Fallstudien plausibel. Eine wertschonende vorinsolvenzliche Unternehmenssanierung scheitere oftmals an der (zu) schwierigen Konsensbildung der Beteiligten, dem (zu) starken Schutz der Anteilseigner bzw. Gläubiger vor einschneidenden Maßnahmen sowie – teilidentisch hierzu – an den (zu) umfangreichen Blockademöglichkeiten Einzelner: die Pfleiderer AG oder die IVG Immobilien AG wurden durch dissentierende Gläubiger in ein förmliches Insolvenzverfahren gezwungen. Von hier aus ist es nachvollziehbar, wenn etwa eine Schwächung von Vetorechten Einzelner bei einem Debt Equity Swap gefordert wird, genauer: wenn Regeln zum vereinfachten Bezugsrechtsausschluss, Ausschluss der Differenzhaftung und Erweiterung des Umfangs des genehmigten Kapitals gefordert werden. Für Anleihen wird etwa der Ausschluss der AGBrechtlichen Inhaltskontrolle, die Änderung der Beschlusskontrolle (keine Anfechtungsrechte für Anleihegläubiger) oder die Möglichkeit der anleihe-
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übergreifenden Umstrukturierung gefordert und werden nunmehr im Rahmen der Umsetzung der RRL vorgeschlagen. 2. Zweite Sichtweise: für mehr Minderheitenschutz Einer anderen Sicht auf die skizzierten Restrukturierungen in Deutschland zufolge zeigt sich eher das Gegenteil, und zwar, dass es der Mehrheit zu leicht gemacht wird, Sanierungen zulasten strukturell unterlegener Gläubiger durchzusetzen. Im Grunde zeigt sich in allen Fällen, dass Kleinanleger oder Minderheitengläubiger im Ergebnis wenig gegen willkürliche Annahmen in Restrukturierungsplänen und gegen Bewertungsangaben ausrichten können. Es kommt zu Umverteilungseffekten. Von hier aus ist es konsequent, eine Stärkung der gerichtlichen Inhaltskontrolle zu fordern,53 vor allem in den Fällen der Restrukturierungen mit erheblichen Gläubigereingriffen ohne effektive Gerichtskontrolle (wie bei der SolarWorld AG). In diesem Bereich fehlen insolvenztypische Garantien weitgehend. Auffallend ist auch das Ergebnis, dass die vorinsolvenzlichen Restrukturierungsversuche, namentlich der Pfleiderer AG, IVG Immobilien AG, QCells AG, Praktiker AG, Deikon GmbH, Strenesse GmbH, Centrosolar Group AG, Rickmer Holding, MS „Deutschland“ und der SolarWorld AG allesamt in der Insolvenz mündeten. Bislang nicht diskutiert wurde, ob die Unternehmen wegen ihres operativen Geschäfts schlicht nicht bestandsfähig waren oder ob die erheblichen Kosten der Vorinsolvenz einen Teilbeitrag zu dem Scheitern der Sanierung gesetzt haben. Aber auch die Frage der gerichtlichen Kostenkontrolle wurde bislang – zu Unrecht – kaum gestellt.
53 Die Kontrollschwelle des „Verstoßes von besonderer Schwere“ wird praktisch nie erreicht, s.o.
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Of Convergent Evolution and Legal Transplantation Carsten Gerner-Beuerle
Of Convergent Evolution and Legal Transplantation: The International Diffusion of the Duty of Care ∗ and the Business Judgment Rule CARSTEN GERNER-BEUERLE
I. Introduction It is commonplace to acknowledge the considerable influence that AngloAmerican law has had on the development of corporate governance generally, and directors’ duties specifically around the world. Directors are said to be “fiduciaries” who are entrusted with other people’s money and, hence, should be subject to stringent duties of care, loyalty and good faith, which are often collectively referred to as “fiduciary duties”. The characterization of directors as fiduciaries, and their duties as fiduciary duties, has its roots in the English law of equity and trust developed in the Court of Chancery. It was adopted early on by courts in the United States and is increasingly used by continental European commentators to emphasize the duty-bound position that directors occupy. It is therefore tempting to assume that fiduciary duties, in their present form, are legal transplants from the common law world introduced into civil law jurisdictions as a result of the rise of the Anglo-American corporate governance movement.1 On this view, the prevalence of the duties of care and loyalty in civil law jurisdictions is an instance of convergence in corporate law along the lines of Anglo-American law and, some would argue, a testament to the superiority of the common law in addressing the economic problems to which the corporate form gives rise.2 Christine Windbichler, I suspect, would disagree. In characteristically nuanced and perceptive fashion, she pointed out that a fiduciary understanding of the position of directors was inherent in the concept of a “corporate or∗
An extended and amended version of this paper has been published as: The Duty of Care and the Business Judgment Rule – A Case Study in Legal Transplants and Local Narratives, in Research Handbook on Comparative Corporate Governance (Afra Afsharipour & Martin Gelter eds., 2020). 1 Holger Fleischer, Legal Transplants in European Company Law: The Case of Fiduciary Duties, 2 ECFR 378, 382–5 (2005). 2 Reinier H. Kraakman & Henry Hansmann, The End of History for Corporate Law, 89 Geo. L.J. 439, 449–51 (2001).
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gan” under German law, and hence did not have to be imported from common law jurisdictions as a legal transplant.3 It is the goal of this contribution to her Festschrift to expand on this observation and investigate what exactly has been transplanted, if anything: terminology or (also) substance? It is not possible to do justice to both of the two main types of directors’ duties—the duty of care and the duty of loyalty—in this paper. I will focus on the former, which is, more so than the duty of loyalty, a common feature of any developed system of corporate law. It is one of the oldest legal institutions to impose constraints on the behaviour of corporate directors (and more generally persons acting in various commercial relationships). In an early form, it can be found in Roman law on the societas, which required each partner to exercise the care that they were accustomed to display in their own affairs in matters of business management.4 It is also a nearuniversal rule; it exists in one form or another in virtually every jurisdiction.5 This is unsurprising, given that the duty of care is concerned with a central economic problem in corporations, the managerial agency problem. It exists whenever management authority is delegated and has prompted regulatory intervention around the world, irrespective of legal tradition or form of market economy. The duty of care has given rise to a “judicial offshoot” that qualifies the enforceability of breaches of the duty of care and has resulted, in particular in the United States, in a clear separation of a standard of conduct and a standard of review: the business judgment rule. The business judgment rule gives legal expression to the idea that questions of business judgment are best left to the honest decision of the directors. Courts are not well placed to substitute their own discretion for that of the directors, since they typi3
Christine Windbichler, Gesellschaftsrecht § 27/ 9, in particular fn. 20 (24th ed. 2017). Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations: Roman Foundations of the Civilian Tradition 461–65 (1996). 5 For a detailed comparison of the duty of care in the United States and the United Kingdom, see David Kershaw, The Foundations of Anglo-American Corporate Fiduciary Law 135–281 (2018). For further selected common law jurisdictions, see Jennifer G. Hill, Evolving directors’ duties in the common law world, in Research Handbook on Directors’ Duties 3 (Adolfo Paolini ed., 2014). For European civil law countries, see Carsten GernerBeuerle & Edmund-Philipp Schuster, Mapping Directors’ Duties: The European Landscape, in Boards of Directors in European Companies 13, 14–23 (Hanne Birkmose, Mette Neville & Karsten Engsig Sørensen eds., 2013). For China, see Guangdong Xu et al., Directors’ Duties in China, 14 EBOR 57. For Japan, see Hideki Kanda & Curtis J. Milhaupt, Re-Examining Legal Transplants: The Director’s Fiduciary Duty in Japanese Corporate Law, 51 Am. J. Comp. L. 887. Other broad comparative studies include Bernard S. Black et al., Comparative Analysis on Legal Regulation of the Liability of Members of the Board of Directors and Executive Organs of Companies, ECGI – Law Working Paper Series 103/2008; Paul Davies et al. (eds.), Corporate Boards in Law and Practice (2013); and Andreas M. Fleckner & Klaus J. Hopt (eds.), Comparative Corporate Governance: A Functional and International Analysis (2013). 4
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cally lack the necessary expertise and act with the benefit of hindsight.6 Allowing courts to fully review business decisions adopted in good faith and without a conflict of interest would therefore give rise to the risk of false positives: instances where courts might identify a breach of the duty, even though the decisions of directors, assessed from an ex-ante perspective under conditions of uncertainty about the future, were duty-compliant. Since this economic problem exists in all jurisdictions, legal systems can be expected to have developed solutions that restrict the liability of directors.7 One such solution is the business judgment rule,8 which has diffused increasingly widely over the last few decades and can now be found, for example, in eight European countries that all belong to the civil law tradition.9 Both the duty of care and the business judgment rule exhibit remarkable consistency across jurisdictions. Formulations of the two rules vary, of course, in numerous details, but the basic contours of the duty of care and the business judgment rule (where it has been adopted) are similar. Ostensibly, therefore, they are evidence of the convergence thesis mentioned above.10 However, two questions remain. First, it is important to note that convergence and transplantation are not the same. Convergence is often used without providing a precise definition of the term. The meaning of the corresponding concept in evolutionary biology makes the difference between convergence and transplantation clear (although legal scholars may, of course, opt for a broader definition). Convergent evolution in biology refers to a process whereby unrelated organisms independently evolve similar traits as a result of adaptation to similar environments.11 Convergence, in this sense, therefore, says nothing about the influence that a particular legal tradition had internationally, or the superiority of that legal tradition in 6 An early statement to this effect can be found in Ellerman v. Chicago Junction Railways & Union Stock-Yards Co. 49 N.J. Eq. 217, 232 (N.J. Ch. 1891): “Questions of policy of management, of expediency of contracts or action, of adequacy of consideration not grossly disproportionate, of lawful appropriation of corporate funds to advance corporate interests, are left solely to the honest decision of the directors . . . To hold otherwise would be to substitute the judgment and discretion of others in the place of those determined on by the scheme of incorporation.” For an overview of the historical development of the business judgment rule, see Kershaw supra note 5, 68–92. 7 It can be shown that restricting liability for breaches of the duty of care is efficient, see Holger Spamann, Monetary Liability for Breach of the Duty of Care?, 8 JLA 337. 8 Functionally equivalent solutions exist, as we will see in section IV. 9 These eight countries are Austria, the Czech Republic, Croatia, Germany, Greece, Portugal, Spain and Romania. See Luis Hernando Cebría, The Spanish and the European Codification of the Business Judgment Rule, 15 ECFR 41 (2018). 10 Supra note 2 and accompanying text. 11 C. Tristan Stayton, The definition, recognition, and interpretation of convergent evolution, and two new measures for quantifying and assessing the significance of convergence, 69 Evolution 2140, 2141 (2015).
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comparison with other traditions. The reference to directors as “fiduciaries” would not be an indication of substantive legal borrowing, but simply of an emerging common terminology denoting legal concepts that had evolved independently and endogenously, yet were similar, because they were perceived as appropriate responses to similar economic problems. Second, even where legal institutions are borrowed from Anglo-American law, as the business judgment rule, convergence, understood as not only formal borrowing, but substantive alignment of legal solutions, does not occur if the transplanted legal institution functions differently in the receiving state, for example because it is interpreted differently or complementary institutions operate differently. In order to explore these questions, this paper traces the historical development of the duty of care and the standard of care across countries. It focuses on four jurisdictions representing, and having shaped, three influential legal traditions: the United States (and here in particular Delaware), the United Kingdom, France and Germany. Section II sketches the evolution of the duty of care as a core constraint on directorial discretion. Section III elaborates on the standard of care to which directors are held accountable. Section IV describes the operation of the Delaware business judgment rule and examines whether the German version of the rule, as well as functional substitutes that can be found in the UK and France, are comparable to the Delaware rule. Section V concludes.
II. Origins of the duty of care The common law duty of care has its origins in 18th and 19th century trust law and the law of bailment, from which it was adapted to corporate directors.12 Early English case law concerning the duties of corporate directors emphasised that directors were “in the position of trustee” or “quasi trustees”.13 As such, they were required “to use all the ordinary prudence that can be properly and legitimately expected from any person in the conduct of 12
Kershaw, supra note 5, 229–63. Re Exchange Banking Co (Flitcroft’s Case) (1882) 21 Ch. D. 519, 534–35. But see also In Re City Equitable Fire Insurance Company [1925] Ch. 407, 426, where Romer J. adopted a more nuanced view eschewing direct analogies: “It has sometimes been said that directors are trustees. If this means no more than that directors in the performance of their duties stand in a fiduciary relationship to the company, the statement is true enough. But if the statement is meant to be an indication by way of analogy of what those duties are, it appears to me to be wholly misleading. I can see but little resemblance between the duties of a director and the duties of a trustee of a will or of a marriage settlement. It is indeed impossible to describe the duty of directors in general terms, whether by way of analogy or otherwise.” For a careful analysis of the extent to which courts relied on analogies to trust law and the law of bailment, see Kershaw, supra note 5, 230–35. 13
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the affairs of the world”.14 In the development of the duty of care in the United States, it has been shown that the law of bailment was more influential than trust law, a difference that has been associated with differences in the conceptualization of companies incorporated by registration. In the United States, the general incorporation statutes of the 19th century were intended to open up access to the corporate form and make it unnecessary to petition state legislatures for a corporate charter. Registered companies could therefore be seen as a continuation of chartered companies, and there was no question that both were the legal owners of the assets devoted to the business enterprise. In Britain, in contrast, incorporation by registration was introduced to remedy the defects to which the widespread use of so-called deed-of-settlement companies had given rise, which were based on partnership law and hence were not separate legal entities that owned the assets of the business.15 The law of bailment was a more natural analogy in the United States, since a bailee, just as a director, was entrusted with the management of assets owned by other persons, while there was an actual trustee in a deed-of-settlement company, who was the legal owner of the association’s property.16 These conceptual differences had implications for the standard of care applicable to directors,17 but not the fact that directors, as fiduciaries akin to either bailees or trustees, were subject to a duty of care. In the early duty of care case Briggs v. Spaulding, for example, the US Supreme Court held that directors, “as mandataries … are … bound to apply ordinary skill and diligence”.18 In its reliance on analogies with agents or bailees,19 the early approach in the United States resembles the origins of the duty of care in civil law countries. The first European piece of legislation to develop a general set of rules governing stock corporations and other business associations, the French Code de Commerce of 1807, described the directors as mandataries who were only responsible for carrying out their contractually agreed duties: “Les administrateurs ne sont responsables que de l’exécution du mandat qu’ils ont reçu.”20 The Code de Commerce applied not only in France, but also some western states of the former Holy Roman Empire from 1806–1813, the socalled Confederation of the Rhine. It influenced the first Germany-wide codification of stock corporation law, the General German Commercial 14
Overend & Gurney v Gibb (1871–72) L.R. 5 H.L. 480, 494. Kershaw, supra note 5, 176, 233–35. 16 Id. at 234. 17 Early case law in the United States was pulled in the direction of a gross negligence standard, arguably informed by the bailment analogy, since the standard of care pursuant to the law of bailment was gross negligence if the bailee acted gratuitously. See the references id. at 143–59, 174–96. 18 141 U.S. 132, 148 (1891), quoting Spering’s Appeal 71 Pa. 11, 21 (1872). 19 Id. 20 Code de Commerce, Art. 32. 15
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Code of 1861, and the corporate laws of other continental European states, for example Portugal and Spain. These jurisdictions drew on agency law to require directors to discharge their duties with appropriate care, but had nothing to say about duties not conferred on the directors as part of their mandate.21 Early European statutes, accordingly, focused only on the transgression of the mandate by a director or the failure to comply with the law and the articles, but did not describe the position of directors in terms of duties. They did not recognize obligations that were separate from contractually established obligations and existed by virtue of the appointment to a position of power, and hence did not regard directors as being subject to a general duty of care (or indeed a duty of loyalty22).23 The prevalent civil law approach changed over time, as commentators and policy makers came to realize that a formulation of the duty of care that focused on the position of directors within the corporate hierarchy, rather than their contractual obligations, was necessary to capture certain pathologies of the corporate form.24 For example, a sweeping reform of German stock corporation law of 1884,25 which was adopted in response to widespread corporate misconduct that had led to the first major stock exchange crash in German history, replaced the contractual focus of the formulation of directorial behavioral expectations with a positional focus. The General Commercial Code, as revised in 1884, provided that, “in managing the corporation, the members of the management board have to exercise the care of a diligent businessman”.26 The provision has remaind substantially the same 21 For a contemporary comparative overview, see Achilles Renaud, Das Recht der Actiengesellschaften 538–39 (1863). 22 The narrow conceptualization of the obligations of directors proved particularly obstructive to the development of the duty of loyalty in civil law countries. Many continental European jurisdictions operated for a long time (and to some degree still operate) with fragmentary rules, rather than an all-encompassing behavioural standard, to address conflicts of interest, see Carsten Gerner-Beuerle & Michael Schillig, Comparative Company Law 508, 565–69, 574–75 (2019). 23 See, e.g., Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch 1861 (ADHGB) [General German Commercial Code], Art. 241(2), providing that “members of the management board who exceed the limits of their mandate or act in contravention of the provisions of this title [of the Commercial Code] or the articles of association are personally and jointly liable for the damage thus caused”. 24 See, for example, the criticism of the General German Commercial Code of 1861 by Renaud, supra note 21, 537, who argued that the scope and content of the duties of directors should be determined by the law, articles, resolutions of the general meeting, and what was inherent in their position as a director. 25 Gesetz, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften [Act Concerning Limited Partnerships by Shares and Joint Stock Corporations] of 18 July 1884, RGBl. 1884, p. 123. 26 ADHGB, Art. 241(2) (emphasis by author). The standard of the “diligent businessman” is translated from “ordentlicher Geschäftsmann”. The same standard of care applied to members of the supervisory board, ADHGB, § 226(1).
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since 1884, and the current Stock Corporation Act requires directors to “exercise the care of a diligent and conscientious manager in managing the company.”27 A similar shift away from a contractual understanding of directors’ duties occurred in other continental European systems at different times, for example in France in the 1940s.28 Some remnants of the tripartite reference to the director’s mandate (contract), the articles of association, and corporate law as sources of directorial obligations is nevertheless still discernible in the formulation of directors’ duties in some civil law jurisdictions. The relevant provision of the French Commercial Code, for example, bears little resemblance to the duty of care of Anglo-American provenance: “The directors … shall be individually or jointly and severally liable to the company or third parties either for infringements of the laws or regulations applicable to public limited companies, or for breaches of the memorandum and articles of association, or for management mistakes.”29
III. Standard of care In spite of the different genesis of the duty of care and certain remaining differences in the formulation of the codified duties, the standard of care across both common law and civil law countries is remarkably similar. Legal systems typically use variations of the “ordinary man” or “ordinary businessman” benchmark to describe the standard of care expected of directors. In the leading English duty of care case until the codification of directors’ duties in 2006, City Equitable Fire Insurance Company,30 Romer J held that directors were expected to act with “reasonable care”, which was “to be measured by the care an ordinary man might be expected to take in the circumstances on his own behalf”.31 The English common law standard, thus, 27 Aktiengesetz (AktG) 1965 [Stock Corporation Act 1965], BGBl. I, p. 1089, § 93(1). The slightly different formulation in comparison with the ADHGB of 1884, which includes the word “conscientious”, was not intended to modify the applicable standard of care, see Marcus Lutter Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit – von seinen Anfängen bis heute, in Aktienrecht im Wandel II: Grundsatzfragen des Aktienrechts 389, 407 (Walter Bayer & Mathias Habersack eds., 2007). 28 Carsten Gerner-Beuerle, Philipp Paech & Edmund Schuster, Study on Directors’ Duties and Liability, Annex: Directors’ Duties and Liability in France, p. A304 (2013), available at http://personal.lse.ac.uk/schustee/2013-study-reports_en.pdf. 29 Code de Commerce [French Commercial Code], Art L225–251. For another example, see the Belgian Companies Code, which, until very recently, referred to directors explicitly as mandataries who were responsible “de l’exécution du mandat qu’ils ont reçu et des fautes commises dans leur gestion”, in addition to “d’infractions aux dispositions du présent code ou des statuts sociaux.” Code des sociétés 1999 [Belgian Companies Code], Arts 527, 528. These provisions have now been superseded by the Companies Code of 2019. 30 [1925] Ch. 407. 31 Id. at 428.
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was ostensibly an objective standard. However, City Equitable infused this standard with subjective elements distilled from earlier case law. Importantly, Romer J stated that “[a] director need not exhibit in the performance of his duties a greater degree of skill than may reasonably be expected from a person of his knowledge and experience.”32 It was unclear how the reference to the defendant director’s subjective attributes was to be reconciled with the objective benchmark and, in particular, whether lack of competence or experience was liable to reduce the standard of care below that of an ordinary businessman.33 The uncertainty was resolved in the 1990s with two High Court judgments that established a dual objective-subjective standard, which was later codified in section 174 of the Companies Act 2006.34 Pursuant to section 174, directors are required to “exercise reasonable care, skill and diligence”, which is defined as “the care, skill and diligence that would be exercised by a reasonably diligent person with … the general knowledge, skill and experience that may reasonably be expected of a person carrying out the functions carried out by the director in relation to the company, and … the general knowledge, skill and experience that the director has.”35 Delaware law and many other common law and civil law jurisdictions have adopted a standard of conduct that closely conforms to the objective leg of the UK’s dual standard. The Delaware Court of Chancery, in Re Walt Disney Co. Derivative Litigation,36 held that “[t]he fiduciary duty of due care requires that directors of a Delaware corporation ‘use that amount of care which ordinarily careful and prudent men would use in similar circumstances,’ and ‘consider all material information reasonably available’ in making business decisions”.37 There is little difference between this formulation and the “care of a diligent and conscientious manager” under German law.38 In both jurisdictions, it is undisputed that the standard of care is objective, but varies with the circumstances, including the type of company and industry, the financial situation of the company, general market conditions, and the director’s role and responsibilities within the corporate hierarchy. Furthermore, the requirement to “consider all material information reasonably available” is almost identical to the expectation under the German Stock Corporation Act that directors act based on “appropriate information”,39 which has
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Id. (emphasis by author). For an overview of the discussion and references, see Gerner-Beuerle & Schillig, supra note 22, 477–78. 34 Norman v Theodore Goddard [1992] B.C.C. 14; Re D’Jan of London Ltd [1993] B.C.C. 646. 35 UK Companies Act 2006, s. 174(2). 36 907 A.2d 693 (Del. Ch. 2005). 37 Id. at 749. 38 AktG, § 93(1), sentence 1. 39 AktG, § 93(1), sentence 2. 33
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been held to mean that directors must avail themselves of all available information, provided the costs are not disproportionate to the benefits.40 As a final example from yet another legal tradition, we may consider the central provision of the French law on the public stock corporation concerning the liability of directors, which was already quoted above.41 According to this provision, directors are liable for so-called management mistakes, in addition to breaches of the law and the memorandum and articles of association. What constitutes a management mistake is measured against the benchmark of the care that can reasonably be expected from a “prudent and diligent manager”.42 Again, the precise behavioural expectations that are derived from this standard depend on the circumstances of the case, in particular the director’s role in the company and the type of company.43 Thus, in all four jurisdictions reviewed briefly in this section, the formulation of the standard of care is largely interchangeable, in spite of the fact that these jurisdictions represent three distinct legal traditions that embody distinct approaches to ordering the market economy.44 This does not mean, of course, that the operation of the duty of care is interchangeable. We turn to this point in the next section.
IV. Qualification of the duty of care by the business judgment rule While a formal business judgment rule does not exist in many jurisdictions, the economic problem that was mentioned above—the inefficiencies created by a full review of business judgments by a court with the benefit of hindsight and, possibly, without the necessary expertise and experience45— has been addressed in some form by most legal systems. It is clear that courts were acutely aware of this problem early on in the development of the duty of care, as illustrated by the following quote from one of the leading English cases from the 19th century, Overend & Gurney v Gibb:46 40 Gerald Spindler, § 93 AktG, in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, vol. 2 para. 55 (Wulf Goette, Mathias Habersack & Susanne Kalss eds., 5th ed. 2019). 41 Supra, text to note 29. 42 Cass. com., 30 March 2010 (Crédit Martiniquais), Revue des sociétés 2010, p. 304, note P. Le Cannu. 43 Philippe Merle, Droit commercial: Sociétés commerciales para. 458 (22nd ed. 2018). 44 Britain, the United States and many other common law countries are typically referred to as liberal market economies, Germany, Japan, Switzerland and other countries in the German and Scandinavian legal traditions as coordinated market economies, and several Mediterranean countries, including France, Italy and Spain, are regarded as occupying an ambiguous position, Peter A. Hall & David Soskice, An Introduction to Varieties of Capitalism, in Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage 1, 19–21 (Peter A. Hall & David Soskice eds., 2001). 45 Supra, text to notes 6–8. 46 Overend & Gurney v Gibb (1871–72) L.R. 5 H.L. 480, 494–95.
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I think it would be a very fatal error in the verdict of any Court of justice to attempt to measure … the amount of prudence that ought to be exercised by the amount of prudence which the judge himself might think, under similar circumstances, he should have exercised. I think it extremely likely that many a judge, or many a person versed by long experience in the affairs of mankind, as conducted in the mercantile world, will know that there is a great deal more trust, a great deal more speculation, and a great deal more readiness to confide in the probabilities of things, with regard to success in mercantile transactions, than there is on the part of those whose habits of life are entirely of a different character. It would be extremely wrong to import into the consideration of the case of a person acting as a mercantile agent in the purchase of a business concern, those principles of extreme caution which might dictate the course of one who is not at all inclined to invest his property in any ventures of such a hazardous character.
English courts have not formalised the considerations expressed in the above excerpt and delineated the boundaries of a director’s business judgment, within which the courts will only exercise limited review. However, implicitly, they apply two distinct standards of care that have the effect of shielding a director’s good faith business decisions from judicial review. The first is a good faith standard that applies to the content of a director’s decision. Directors must act in what they consider, in good faith, to be in the best interest of the company.47 In the absence of evidence of a director’s actual state of mind, good faith is analyzed based on the reasons given for the challenged decision. While the case law is not entirely consistent and courts tend to ask whether a particular course of action was “reasonable”, they also stress that the relevant test is subjective. It does not involve an assessment of whether the decision was, in the court’s view, objectively in the best interest of the company.48 This implies that the test may be seen, more accurately, as a form of plausibility or rationality test. Courts will not second-guess a business decision that is supported by rational business reasons, in the sense of reasons that could have been regarded by at least some directors as suggesting that the decision was in the company’s interest.49 47 See, e.g., Re Smith & Fawcett [1942] Ch 304. The duty to act in the best interest of the company is now codified in s. 172 Companies Act 2006. 48 The holding in Regentcrest plc v Cohen [2001] B.C.C. 494 at 513–14 is very clear: “The question is not whether, viewed objectively by the court, the particular act or omission which is challenged was in fact in the interests of the company; still less is the question whether the court, had it been in the position of the director at the relevant time, might have acted differently. Rather, the question is whether the director honestly believed that his act or omission was in the interests of the company. The issue is as to the director’s state of mind. No doubt, where it is clear that the act or omission under challenge resulted in substantial detriment to the company, the director will have a harder task persuading the court that he honestly believed it to be in the company’s interest; but that does not detract from the subjective nature of the test.” 49 The standard has, accordingly, also been called the “any reasonable director” standard. See Kershaw, supra note 5, at 47–58 for a careful and critical analysis of the terminology used by the courts and inconsistencies in the case law.
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The second standard is the one described in section III above, which is now laid down in section 174(2) Companies Act 2006: an ordinary due care standard that imposes heightened behavioural expectations on a director if that director has particular knowledge, skill or expertise. The duty of care pursuant to section 174 Companies Act 2006 and the duty to act bona fide in the best interest of the company perform complementary functions. The former focuses on the process of decision-making. In arriving at a decision, directors are required to exercise the care, skill and diligence that can be expected of a reasonably diligent person. The latter concerns the quality of the decision itself, which must be capable of promoting the success of the company.50 This bifurcated standard is already discernible in Overend & Gurney. The case concerned the acquisition of a banking business that had initially been very successful, but, at the time of the purchase, had incurred heavy losses and was balance sheet insolvent. The House of Lords found that the purchase itself, while risky and, as the court put it, “imprudent”,51 was not irrational. The directors had restructured the debts of the business and relied on its continuing good reputation in their expectation that the company would improve its finances and become profitable again.52 This was enough for the court to conclude that the directors had acted in good faith, which, in turn, prevented the court from questioning whether they had exercised sufficient “prudence”.53 The court then outlined a second, more stringent standard of review. It explained that the directors were also under an obligation to inquire into “any circumstance or transaction which ought to have been inquired into by the persons making [the challenged] purchase” and ascertain “every fact that was to be ascertained” in the circumstances.54 This is clearly a process-related inquiry that is to be distinguished from an assessment of the merits of a business decision. In Overend & Gurney, no due-process failures had been alleged by the complaint and the court, accordingly, rejected any liability of the defendant directors for the decision to purchase the business. Subsequent cases have not always been similarly clear in their differentiation of the two standards.55 Nevertheless, where directors were found liable, this was generally (albeit not always56) because they were not sufficiently 50
“Success of the company” is the formulation used in s. 172(1) Companies Act 2006. Overend & Gurney v Gibb (1871–72) L.R. 5 H.L. 480 at 493. 52 Id. at 493–94. 53 See the quote from Overend & Gurney, supra in the text after note 46. 54 (1871–72) L.R. 5 H.L. at 495. 55 This holds, in particular, for City Equitable, supra note 30 and accompanying text. See also Kershaw, supra note 5, at 257–63, for a discussion of the influence that City Equitable had on corporate law scholarship and policy debates in the UK before the duty of care was codified in 2006 (arguing that City Equitable sowed “dissonance and confusion about the scope of the care standard”, id. at 263). 56 See Roberts v Frohlich [2012] B.C.C. 407. 51
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well informed,57 unquestioningly and uncritically complied with instructions and accepted information given by a corporate insider who engaged in fraudulent activity,58 had failed to ensure that internal reporting and control systems worked effectively,59 or had remained completely inactive.60 Furthermore, as has been pointed out in the literature, the process-related nature of the duty is evidenced by the fact that directors are less likely to be held liable if they take certain procedural precautions, such as obtaining expert advice.61 A more explicit delineation of an area of protected business judgement and a more formal distinction between a standard of conduct and a standard of review can be found in the United States. This chapter will focus on Delaware law, where the courts began to grapple with the problem of determining the standard of review applicable to business decisions in the 1920s. In a string of decisions, the Delaware courts established the rule that directors were presumed to exercise their business judgment bona fide and in the best interest of the company.62 Further, they held that the presumption did not apply if the directors were either interested in the challenged transaction63 or the circumstances of the transaction (for example the price paid for the assets of a corporation) were “so manifestly unfair as to indicate fraud”.64 The latter was the case if the directors’ actions were “so unreasonable as to be removed entirely from the realm of the exercise of honest and sound business judgment.”65 These decisions relied on older, non-Delaware (often New Jersey) precedents that had sketched an area of business dealings—typically characterized, as a minimum, by the absence of fraud or bad faith, illegality, and conflicts of interest—that was regarded to be beyond judicial control.66 Similar to the reasoning of the House of Lords in Over57 See, e.g., Re D’Jan of London Ltd [1993] B.C.C. 646; Raithatha v Baig [2017] EWHC 2059. 58 Weavering Capital (UK) Ltd v Dabhia [2013] EWCA Civ. 71. 59 Re Barings plc and others (No 5) [1999] 1 BCLC 433. 60 Lexi Holdings Plc v Luqman [2007] EWHC 2652. 61 Kershaw, supra note 5, at 280–81. 62 Allied Chemical & Dye Corporation v. Steel & Tube Co. of America, 122 A. 142 (Del. Ch. 1923) (speaking of “[a] presumption which the law would ordinarily accord in favor of the fairness of [the] official acts [of directors]” (i.e. their business judgment), id. at 146). 63 Id. at 146. 64 Robinson v. Pittsburgh Oil Refining Corporation, 126 A. 46, 48 (Del. Ch. 1924). 65 Id. at 49. 66 For example, Allied Chemical & Dye Corporation v. Steel & Tube Co. of America, 120 A. 486, 493 (Del. Ch. 1923), relied on the New Jersey case Hodge v. United States Steel Corp., 64 N.J. Eq. 807 (N.J. Ct. Err. & App. 1903) (holding that “individual stockholders cannot question, in judicial proceedings, corporate acts of directors, if the same are within the powers of the corporation, and in furtherance of its purposes, are not unlawful or against good morals, are done in good faith and in the exercise of an honest judgment”,
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end & Gurney, the rationale given for such judicial restraint was that intervening in “[q]uestions of policy of management”, which were left to the honest decision of the directors, would amount to “substitut[ing] the judgment and discretion of others in the place of those determined on by the scheme of incorporation”.67 In the first decades of its development, the Delaware approach was not yet known under the name “business judgment rule”, and the precise contours of the rule were not yet well established.68 Two decisions of the Delaware Supreme Court from the first half of the 1980s gave the business judgment rule its modern form: Zapata Corp v. Maldonado69 and Aronson v. Lewis.70 In Aronson, the Supreme Court described the business judgement rule as “a presumption that in making a business decision the directors of a corporation acted on an informed basis, in good faith and in the honest belief that the action taken was in the best interests of the company”.71 Furthermore, the protections of the business judgment rule “can only be claimed by disinterested directors … [T]his means that directors can neither appear on both sides of a transaction nor expect to derive any personal financial benefit from it in the sense of self-dealing, as opposed to a benefit which devolves upon the corporation or all stockholders generally.”72 The burden is on the plaintiff to rebut the presumption, in which case the burden of proof shifts (generally73) to the defendant director to show the entire fairness of the challenged decision.74 On the other hand, if the three conditions—acting on an informed basis, in good faith, and without a conflict of interest—are met, the courts will not engage in a review of the quality of the business decision (with one very limited exception, the so-called waste claim or irrationality review75). id. at 817–818, and quoting Ellerman v. Chicago Junction Railways & Union Stock-Yards Co., 49 N.J. Eq. 217, 232 (N.J. Ch. 1891)). 67 Ellerman, 49 N.J. Eq. at 232. A similar explanation is given by Hodge, 64 N.J. Eq. at 812. 68 The diffusion of the term “business judgment rule” is traced by Kershaw, supra note 5, at 80–81 (identifying Nadler v. Bethlehem Steel Corp. 154 A.2d 146 (Del. Ch. 1959), as the first case employing the term). 69 430 A.2d 779 (Del. 1981). 70 473 A.2d 805 (Del. 1984). 71 Id. at 812. 72 Id. 73 Unless a conflict of interest has been “cleansed” pursuant to Del. Gen. Corp. Law, § 144. 74 In re Walt Disney Co. Derivative Litigation, 907 A.2d 693, 747 (Del. Ch. 2005). 75 For a definition of waste, see In re Walt Disney Co. Derivative Litigation, 906 A.2d 27 (Del. 2006): “To recover on a claim of corporate waste, the plaintiffs must shoulder the burden of proving that the exchange was ‘so one sided that no business person of ordinary, sound judgment could conclude that the corporation has received adequate consideration.’ A claim of waste will arise only in the rare, ‘unconscionable case where directors irrationally squander or give away corporate assets.’ This onerous standard for waste is a corollary
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This basic operational framework of the business judgment rule has remained in place, although some of the conditions on which the presumption is based have shifted since Aronson. Importantly, while Aronson identified the applicable standard of care on which director liability was predicated as a gross negligence standard,76 the duty-of-care limb of the presumption (that is, the requirement to act on an informed basis) has become all but irrelevant in the wake of the controversial Delaware Supreme Court decision in Smith v Van Gorkom.77 The Delaware courts now interpret gross negligence in the corporate context in a demanding manner that conflates rationality, bad faith and gross negligence.78 They define gross negligence as a “reckless indifference to or a deliberate disregard of the whole body of stockholders”,79 involving actions “without the bounds of reason”,80 or “a wide disparity between the process the directors used … and that which would have been rational.”81 Additionally, in order to counteract the risk that corporations incorporate elsewhere to evade the heightened risk of liability suggested by Van Gorkom, the Delaware legislature included a provision in the Delaware General Corporation Law enabling companies to exclude liability of a director for monetary damages for a breach of the duty of care, provided the director did not act in bad faith.82 Furthermore, subsequent decisions subsumed good faith under the duty of loyalty. Lack of good faith does not, by itself, establish liability for a breach of a fiduciary duty.83 Rather, bad faith is, in some circumstances, a necessary condition for liability, and where it is, liability may then arise as a result of a breach of the duty of loyalty.84 Importantly, this has been held to be the case where director oversight liability is concerned.85 As a consequence, under Delaware law, qualitatively different conduct gives rise to liability for director action on the one hand, and failure to act on the other. The leading case on oversight liability, Careof the proposition that where business judgment presumptions are applicable, the board’s decision will be upheld unless it cannot be ‘attributed to any rational business purpose.’” Id. at 74 (footnotes omitted). 76 473 A.2d at 812. 77 488 A.2d 858 (Del. 1985). 78 William T. Allen, Jack B. Jacobs & Leo E. Strine, Realigning the Standard of Review of Director Due Care with Delaware Public Policy: A Critique of Van Gorkom and its Progeny as a Standard of Review Problem, 96 Nw. U. L. Rev. 449, 453 (2002). 79 Tomczak v. Morton Thiokol, Inc., 1990 WL 42607, at 12 (Del. Ch. 1990) (quoting Allaun v. Consolidated Oil Co., 147 A. 257, 261 (Del. Ch. 1929), and Gimbel v. Signal Companies, Inc., 316 A.2d 599, 615 (Del. Ch. 1974)); In re Walt Disney Co. Derivative Litigation, 907 A.2d 693, 750 (Del. Ch. 2005). 80 Id. 81 Guttman v. Huang, 823 A.2d 492, 507 n. 39 (Del. Ch. 2003) 82 Del. Gen. Corp. Law, § 102(b)(7). 83 Stone v. Ritter, 911 A.2d 362, 370 (Del. 2006). 84 Id. 85 Id. at 369.
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mark,86 held that lack of good faith as a necessary condition for director oversight liability required “a sustained or systematic failure of the board to exercise oversight—such as an utter failure to attempt to assure a reasonable information and reporting system exists”.87 This is, as the Court of Chancery noted in Caremark, “a demanding test of liability”, but it was thought to be in the economic interest of the shareholders.88 Disregarding the separate standard of review for oversight liability, Delaware and UK law operate largely in parallel, in spite of the absence of an explicit business judgement rule in the UK. The quality of a business decision is shielded from judicial review in both jurisdictions, unless a plaintiff can show bad faith. Lack of good faith will lead to liability under the further conditions of section 172 Companies Act 2006 in the UK and the entire fairness test in Delaware. The process of decision-making is ostensibly assessed against different standards of conduct: ordinary negligence (and heightened behavioural expectations in the case of special knowledge, skill or experience) in the UK and gross negligence, interpreted as recklessness or irrationality, in Delaware. However, it has been observed that British courts apply the objective limb of section 174(2) Companies Act 2006 so restrictively, and perform a skills adjustment pursuant to the subjective limb of the provision so reluctantly, that the standard of care is, in practice, close to the gross negligence standard of US jurisdictions.89 The deployment of a good faith standard to review the quality of business decisions is less common in civil law jurisdictions. The risk of liability is nevertheless generally not higher (and typically lower) than in the United States and Britain, mostly for procedural reasons.90 A good example of the less well developed distinction between the process of decision-making and decision quality (and indeed between the duty of care and the duty of loyalty) is France, where the notion of the company’s interest (l’intérêt social) guides the courts’ assessment of liability for management mistakes.91 Directors are responsible for all acts or omissions that are contrary to the interests of the company.92 The infusion of considerations of the company’s interest into the duty of care, something that, as we have seen, would be a matter for section 172 Companies Act 2006 in the UK, naturally invited the French 86
In re Caremark Intern. Inc. Derivative Litigation, 698 A.2d 959 (Del. Ch. 1996). Id. at 971. 88 Id. 89 Kershaw, supra note 5, at 281. 90 Carsten Gerner-Beuerle & Edmund-Philipp Schuster, The Evolving Structure of Directors’ Duties in Europe, 15 EBOR 191, 214–22 (2014). 91 See supra, notes 29, 42–43 and accompanying text. On the conflation of the duties of care and loyalty in French corporate law, see also Gerner-Beuerle & Schillig, supra note 22, 574–75. 92 Jean-Paul Valuet & Alain Lienhard, Code des Sociétés (34th ed. 2018), Com. Art. L225–251, Commentaire, I. Principe. 87
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courts to review not only the process of director decision-making, but also the quality of their decisions. Examples of management mistakes that gave rise to liability, accordingly, include transactions that were excessively risky, for example the ill-advised expansion of business operations without proper financing,93 the distribution of extraordinary dividends financed out of reserves during a time of contracting business operations,94 and the granting of excessive executive compensation.95 Notwithstanding these examples, courts in many civil law jurisdictions exhibit restraint in reviewing good-faith business decisions.96 Such restraint may be informal, in the sense of an acknowledgement that directors must be allowed to take risks inherent in economic activity and, hence, should benefit from an area of discretion that will not be fully reviewed by the courts,97 or formalised as a rule modelled after the Delaware business judgment rule. As mentioned, the latter approach is increasingly common, and business judgment rules similar to the Delaware rule can now be found in eight Member States of the EU belonging to the civil law tradition.98 Similar to Delaware law, the continental European variants of the business judgment rule apply if several threshold conditions are satisfied, which typically include the requirement that the challenged business decision was based on appropriate information, there was no conflict of interest, and the defendant director reasonably believed that the decision was in the best interest of the company.99 In the following paragraphs, I will focus on the German version of the business judgment rule in more detail, which was the first such rule to be adopted in Europe in 2005.100 The rule is laid down in § 93(1), second sentence Stock Corporation Act. It applies if the following threshold conditions are met: (1) The defendant director must have acted in the best interest of the company101 and (2) the decision was based on appropriate informa93 Cass. com., 3 January 1995 (Nasa Electronique), Bull. Joly Sociétés 1995, p. 432, note A. Couret. 94 Cass. com., 25 October 2011 (Sté Sorim), Bull. Joly Sociétés 2012, p. 243, note D. Poracchia. 95 CA Rennes, 13 December 1995, Droit des sociétés 1996, n° 195, note Y. Chaput. 96 For a more detailed discussion, including references, see Gerner-Beuerle & Schuster, supra note 90, 205–6. 97 Id. at 205. 98 Supra note 9. 99 See Gerner-Beuerle & Schuster, supra note 90, at 205, for references. 100 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) [Law on Corporate Integrity and Modernization of the Action of Annulment] of 22 September 2005, BGBl I 2005, p. 2802, Art. 1, no. 1a. The codified business judgment rule, in turn, is based on a decision of the Bundesgerichtshof [Federal Court of Justice] of 1997, BGHZ 135, 244 (ARAG/Garmenbeck), which adopted principles resembling the business judgment rule. 101 Business decisions are in the best interest of the company if they “further the longrun profitability and competitiveness of the company and its products or services”, BT-
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tion.102 Furthermore, even though not explicitly mentioned, because it was considered to be self-evident, challenged conduct is only protected by the business judgment rule if (3) it is not tainted by bad faith and (4) there is no conflict of interest.103 The director bears the burden of proof, since the general allocation of the burden of proof pursuant to § 93(2), sentence 2 also applies to the threshold conditions. On a cursory reading, the German business judgment rule follows closely its Delaware counterpart. The three prerequisites of the Delaware business judgment rule—duty of care, loyalty, and good faith—are all present. In two respects, the German version is more stringent (from the perspective of the director): In addition to the three conditions just mentioned, a court will assess whether the director acted in the best interest of the company. Furthermore, the burden of proof is on the director, whereas the plaintiff has to rebut the “presumptions” of the business judgment rule in Delaware. In two other respects, however, it is more lenient: The business judgment rule applies if the defendant director could “reasonable assume” that the threshold conditions of the rule were satisfied. Thus, the law does not provide for a negligence or gross negligence standard, but asks whether the director’s subjective assessment was reasonable in light of the circumstances of the case.104 Second, if the conduct of a director is protected by the German business judgment rule, it will not be reviewed any further by the courts. In this Drs. 15/5092, p. 11. It is noteworthy that the German legislator emphasises the “long-run profitability” of the company. This formulation could be interpreted as an expression of a more pluralistic approach to corporate governance, for which Germany is indeed often held out as an example. However, arguably, this is a simplistic view. The long-run profitability of the company is commonly regarded as the ultimate goal of corporate decisionmaking, irrespective of legal tradition or jurisdiction, see, for example, Paramount Communications, Inc. v. Time, Inc., 571 A.2d 1140 (Del. 1989) (holding that “absent a limited set of circumstances …, a board of directors, while always required to act in an informed manner, is not under any per se duty to maximize shareholder value in the short term, even in the context of a takeover”, id. at 1150); UK Corporate Governance Code 2018, Principle A (stipulating that it is the role of the board of directors “to promote the long-term sustainable success of the company, generating value for shareholders and contributing to wider society”). Whether the definition of “corporate interest” in the legislative memorandum accompanying the German amendments of 2005 can be taken to imply that decisions that favour the interests of the shareholders in the short run at the expense of the employees, clients, or societal interests, or investments that are highly profitable in the short run, but put the long-run development of the company at risk, are not protected by the business judgment rule is, ultimately, a function of how the law is applied by the courts and regulators. 102 What is appropriate depends on the available time, potential market pressures, the importance of the decision for the company, and generally accepted views of what constitutes good managerial practice, BT-Drs. 15/5092, p. 12. 103 Id., at 11. 104 For example, the assessment is unreasonable where a director “misjudges the risks associated with a managerial decision in an entirely irresponsible way”, id.
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sense, the presumption of compliance with the duty of care that is established by the rule is therefore non-rebuttable. In the US, on the other hand, courts will engage in a limited substantive review of well-informed business decisions adopted in good faith and without a conflict of interest and inquire whether a decision was “irrational” or constituted a “waste of corporate assets”.105 In summary, while differences exist between the German and Delaware business judgement rules, it is difficult to hold that one is clearly more protective than the other. However, an analysis not only of the codified German rule, but also its application by the courts, casts doubt on this preliminary conclusion. This can best be shown by examining the approach in both jurisdictions to excessive risk-taking, which was thrown into sharp relief by the global financial crisis. Two decisions of the Delaware Court of Chancery, In re Citigroup Inc. Shareholder Derivative Litigation106 and In re Goldman Sachs Group, Inc. Shareholder Litigation,107 provide a clear illustration of the extent of the protection afforded by the business judgment rule under a consistent application of the Caremark standard. In Citigroup, the court observed:108 Citigroup was in the business of taking on and managing investment and other business risks. To impose oversight liability on directors for failure to monitor “excessive” risk would involve courts in conducting hindsight evaluations of decisions at the heart of the business judgment of directors. Oversight duties under Delaware law are not designed to subject directors, even expert directors, to personal liability for failure to predict the future and to properly evaluate business risk. [I]t is tempting in a case with such staggering losses for one to think that they could have made the “right” decision if they had been in the directors’ position. This temptation, however, is one of the reasons for the presumption against an objective review of business decisions by judges, a presumption that is no less applicable when the losses to the Company are large.
This approach is diametrically opposed to the treatment of the problem of excessive risk-taking in Germany. The case that discusses the problem in greatest detail, a decision of the Higher Regional Court Düsseldorf from 2009, IKB, concerned the near-insolvency of a German lender that focussed on the provision of loans to medium-sized enterprises, IKB Deutsche Industriebank.109 Among other reasons, the Higher Regional Court Düsseldorf held that the “knowing” acceptance of “excessive risks”110 led to a 105
Supra, note 75 and accompanying text. 964 A.2d 106 (Del. Ch. 2009). 107 2011 WL 4826104 (Del. Ch. 2011). 108 964 A.2d at 131. The reasoning in Goldman Sachs was similar. 109 Oberlandesgericht [Higher Regional Court] Düsseldorf, decision of 9 December 2009, 6 W 45/09, BeckRS 2010, 532. 110 Id. at II 2 b) bb): “[I] it is reasonable to assume that the respondent’s management board violated its duties grossly because the board did not act on the basis of sufficient in106
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breach of duties, because “[n]o management board acts in compliance with the duty of care if they take risks that will render the company insolvent if they materialise” and relate to “foreign, largely unknown and ultimately uncontrollable securities”.111 Of course, there are a number of relevant factual differences between IKB on the one hand and Citigroup and Goldman Sachs on the other. However, the different legal qualification of risk-taking in the two jurisdictions is striking. It is also worth emphasizing that the difference in outcome in the three cases is not a function of modifications to the Delaware business judgment rule that were implemented in the process of transplantation of the rule into German law,112 but a different understanding of the role of the courts in evaluating and limiting risk-taking.113
V. Conclusion Even though directors are frequently referred to as fiduciaries not only in common law countries, but also in civil law jurisdictions, the international diffusion of the duty of care is driven less by legal transplantation, and more by what could be called convergent evolution, to borrow a term from evolutionary biology. Countries from different legal families drew on distinct legal sources, ranging from trust law to the law of bailment and agency law, to develop responses to common economic problems within business associations. While they remain, at least to some extent, true to their distinct legal origins, the duties of care of the countries surveyed here have converged independently on a virtually identical, largely objective standard of care under the impression of the growth and increasing professionalization of the management of corporations in the late nineteenth and twentieth centuries. The use of different legal concepts to achieve similar outcomes is particularly evident in the approach of the courts to the review of good-faith business decisions. All jurisdictions acknowledge that a full review of all business decisions, including those made in good faith and without a conflict of interest, would be undesirable. However, while US states rely on a formal delimitation of reviewable versus non-reviewable matters (the business formation and knowingly took excessive risks, in particular concentration risks.” Translation from Gerner-Beuerle & Schillig, supra note 22, at 517. 111 Id. at II 2 b) bb) bbb). Translation from Gerner-Beuerle & Schillig, supra note 22, at 518. 112 The different outcome is not related to any of the legal differences in the formulation of the German and Delaware business judgment rules identified supra, text to notes 104– 105, but to elements identical in the two jurisdictions: the fact that the business judgment rule does not protect conduct in violation of the law or the articles or carried out in bad faith. 113 In the publication referred to supra, note ∗, I discuss a possible explanation for the different approaches.
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judgment rule), many European jurisdictions, such as the United Kingdom and France, follow a more informal strategy that advocates judicial restraint and a certain degree of deference to managerial decision-making. Paradoxically, in the one case discussed here where deliberate legal borrowing took place, the transplantation of the American business judgment rule into German law, courts in Delaware and Germany expressed markedly different views on how the borrowed institution should operate in the context of entrepreneurial risk-taking. Convergence in corporate governance, therefore, is certainly not an unambivalent, unidirectional process from common law to civil law countries, as some commentators would have it. Legal traditions matter, and so do idiosyncratic attitudes towards risk-taking, and perhaps other matters of corporate management.
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Probleme bei der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB
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Probleme bei der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB Barbara Grunewald
Probleme bei der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB bei Kaufverträgen über Kommanditanteile BARBARA GRUNEWALD
I. Einleitung Der Kauf von Kommanditanteilen ist kein alltägliches Geschäft. Oftmals werden die Verträge im Einzelnen ausgehandelt.1 Doch gibt es – wie ein Urteil des BGH aus 2019 zeigt2 – auch Kaufverträge über Kommanditanteile, bei denen allgemeine Geschäftsbedingungen verwandt werden. Sofern das der Fall ist, greift die Inhaltskontrolle nach § 307 BGB ein. Diese verlangt, dass die AGB klar und verständlich sind und auch sonst keine unangemessene Benachteiligung enthalten. Im Folgenden soll versucht werden, diese allgemeine Regelung auf Kaufverträge über Kommanditanteile zuzuschneiden.
II. Der Fall des BGH Der Entscheidung des BGH lag folgender Fall zu Grunde: Die Klägerin kaufte gewerbsmäßig Geschäftsanteile auf. Der Beklagte verkaufte ihr einen Kommanditanteil. In dem Kaufvertrag heißt es: „Da die dingliche Wirkung der Übertragung nicht zum Stichtag, sondern erst zum Übertragungszeitpunkt eintritt, werden sich die Parteien im Innenverhältnis so stellen, wie sie stehen würden, wäre die dingliche Wirkung zum Stichtag eingetreten. Insbesondere, ohne Einschränkung des allgemeinen Grundsatzes nach vorstehendem Absatz soll Folgendes gelten: … Die Parteien sind verpflichtet, im Innenverhältnis Lasten aus der Kommanditistenhaftung nach 171 ff. HGB nach Maßgabe dieser Stichtagsabgrenzung zu tragen. Für Umstände, 1 Zu den Voraussetzungen des Aushandelns speziell bei Unternehmenskaufverträgen Habersack/Schürnbrand FS Canaris, 2007, 359, 377; Leuschner AcP 207 (2007), 491, 517; Maier-Reimer/Niemeyer NJW 2015, 1713, 1716 ff. 2 BGH NZG 2019, 703; AGB wurden auch bei der Veräußerung von Unternehmen durch die Treuhandanstalt verwandt, siehe Wurmnest in MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2019, § 307 Rn. 102.
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die die Kommanditistenhaftung vor dem Stichtag begründen, steht der Verkäufer ein, für Umstände, die die Kommanditistenhaftung ab dem Stichtag begründen, steht der Käufer ein. Die Parteien stellen sich insoweit wechselseitig frei.“ Vor dem vereinbarten Stichtag (1.8.2008) hatte der Beklagte Ausschüttungen in Höhe von ungefähr 288.000 Euro erhalten. Im April 2014 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der KG eröffnet. Der Insolvenzverwalter forderte die Klägerin zur Rückzahlung der an die Beklagte erfolgten Ausschüttungen auf. Die Klägerin verlangt nun ihrerseits eine entsprechende Freistellung von der Beklagten. Der BGH hat die Klage abgewiesen. Ein solcher Freistellungsanspruch ergebe sich nicht aus den AGB des Kaufvertrages. Die entsprechende Regelung sei intransparent und daher gemäß § 307 Abs. 1 S. 2, 1 BGB unwirksam.
III. Die ohne besondere vertragliche Vereinbarung bestehende Rechtslage Bevor man die Klausel daraufhin untersucht, ob sie der Inhaltskontrolle standhält, muss geklärt werden, was gelten würde, wenn keine gesonderte vertragliche Vereinbarung bestehen würde. 1. Gesellschaftsrechtliche Ansprüche Ansprüche der Klägerin gegen den Beklagten können sich aus § 426 Abs. 1 BGB ergeben, da sowohl die Klägerin als Neukommanditistin wie auch der Beklagte gemäß §§ 173 Abs. 1, 172 Abs. 4, 171 Abs. 1 HGB den Gläubigern der Kommanditgesellschaft persönlich haften, wenn die Kommanditeinlage – wie vom Insolvenzverwalter vorgetragen – zurückbezahlt war. Den Beklagten trifft diese Haftung allerdings nur in Bezug auf Verbindlichkeiten, die während der Zeit, in der er Kommanditist war, begründet worden sind. Dass solche Forderungen noch offen waren, konnte die Klägerin nicht beweisen. Weiterhin wäre die Frist von § 160 Abs. 1 HGB (5 Jahre ab Eintragung des Ausscheidens als Kommanditist) zu beachten. 2. Kaufrechtliche Ansprüche Verkauft war ein Gesellschaftsanteil. Gemäß § 453 Abs. 1 BGB gelten für den Kauf von Rechten, wozu der Kauf von Anteilen an Personengesellschaften zählt,3 die Regeln über den Kauf von Sachen entsprechend. Da der 3 Grunewald in Erman BGB, 15. Auflage 2017, § 453 Rn. 2; Westermann in MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2019, § 453 Rn. 20.
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Kommanditanteil dem Käufer im Moment der Rechtsverschaffung die Rechtsstellung als Kommanditist voll umfänglich verschafft hatte, lag kein Rechtsmangel vor. Zwar war der übertragene Anteil nicht voll eingezahlt, aber das beeinflusst die Stellung des Kommanditisten in der KG nicht. Dies wird zwar bei Anteilen, deren Erwerb mit Einlagerückständen bzw. Nachschusspflichten verbunden ist, teilweise anders gesehen.4 Aber so lag der Fall des BGH vermutlich nicht. Die KG hat regelmäßig keinen Anspruch gegen ihren Kommanditisten auf Wiederauffüllung der Einlage nach Auszahlung von Geldern, die die Haftung des Kommanditisten im Verhältnis zu den Gläubigern der KG begründen.5 Denkbar sind Ansprüche nach §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 BGB. Diese setzen voraus, dass der Verkäufer in Bezug auf die auch den Erwerber treffende Haftung wegen Rückzahlung der Einlage aufklärungspflichtig ist und gegen diese Pflicht schuldhaft verstoßen hat. In Anbetracht der auch für den Käufer ganz erheblichen Folgen, die mit einer Rückzahlung der Kommanditeinlage verbunden sind, wird man eine entsprechende Pflicht zu bejahen haben. Die Intensität der Aufklärungspflichten ist zwar geringer, wenn der Veräußerer nur kapitalistisch beteiligt ist, was im vorliegenden Fall durchaus so gewesen sein kann. Jedenfalls wenn es zu einer persönlichen Kontaktaufnahme zwischen Verkäufer und Käufer gekommen ist, aber wohl auch sonst, kann die Offenlegung entsprechender Informationen erwartet werden.6 Doch ist es durchaus denkbar, dass der Verkäufer selber nicht erkannt hat und auch nicht erkennen musste, dass die an ihn erfolgte Zahlung haftungsbegründend war. Ebenfalls möglich ist, dass dieser Anspruch bereits verjährt war.
IV. Die vertragliche Vereinbarung 1. Das Regelungsanliegen Wie geschildert ist der Käufer eines KG-Anteils nach der gesetzlichen Regelung nicht umfassend dagegen geschützt, dass der Verkäufer Entnahmen getätigt hat, die zu einem Wiederaufleben der Kommanditistenhaftung führen und die dann auch den Erwerber trifft. Daher liegt es nahe, sich gegen dieses Risiko im Kaufvertrag abzusichern. Dies kann etwa – wie es auch oft erfolgt – dadurch geschehen, dass der Verkäufer die Volleinzahlung des Anteils in dem Sinne garantiert, dass eine persönliche Haftung des Käufers gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft nicht besteht. 4 Büdenbender in MünchKomm BGB, 3. Aufl. 2016, § 453 Rn. 11; Faust in Bamberger/Roth/Hau/Posek BGB, 4. Aufl. 2019, § 453 Rn. 11. 5 Zu den Vertragsgestaltungen siehe Oetker HGB, 4. Aufl. 2019 § 169 Rn. 26 ff. 6 Zu den Kriterien, die beim Kauf von Beteiligungen an Gesellschaften für eine Aufklärungspflicht sprechen, Grunewald NZG 2003, 372, 374.
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2. Die von den Parteien getroffene Regelung a) Die Transparenz der Regelung Vereinbart hatten die Parteien, dass der Verkäufer „für Umstände, die die Kommanditistenhaftung vor dem Stichtag begründen“ einsteht. Dies kann – jedenfalls wenn man die Regelung isoliert betrachtet – nur so verstanden werden, dass haftungsbegründende Zahlungen an den Kommanditisten, die vor diesem Tag erfolgten – um solche Zahlungen ging es in dem Fall –, zu Lasten des Verkäufers gehen und der Käufer – wie die Parteien geregelt hatten – insoweit Freistellung verlangen kann. Klarer geht es eigentlich nicht. Der BGH hat das anders gesehen. Er führt an, dass man die Klausel auch so verstehen könne, dass sie nur die sowieso geltende Rechtslage wiedergeben sollte, also nur Fälle betrifft, in denen es einen Gläubiger aus der Zeit gibt, in der der Verkäufer noch Kommanditist war und dessen Forderung noch offen war, und zudem die Frist von § 160 HGB eingehalten wurde. Dieses Verständnis liegt aber wohl eher fern. Abzustellen ist insoweit auf den „durchschnittlichen Vertragspartner“,7 also den durchschnittlichen Veräußerer von Kommanditanteilen. Dieser wird regelmäßig keine vertieften Kenntnisse im Recht der Kommanditgesellschaft haben und daher auch kaum wissen, dass die gesamtschuldnerische Haftung und damit das Bestehen eines entsprechenden Freistellungsanspruch des Käufers davon abhängt, ob ein gemeinsamer Gläubiger existiert und die Frist von § 160 HGB eingehalten ist. Er wird die Vereinbarung so verstehen, wie sie lautet: haftungsbegründende Zahlungen an ihn, den Verkäufer, vor dem Stichtag führen zu einem Freistellungsanspruch des Käufers. Nicht einrechnen wird er demgegenüber, dass er nach Erhalt einer solchen Zahlung von der Haftung frei wird, wenn zwar der Käufer weiterhin von einem Gläubiger der Kommanditgesellschaft in Anspruch genommen werden kann, er aber, als Verkäufer, nicht mehr. Allerdings schloss die Klausel im Fall des BGH mit den Worten „insbesondere“ an die allgemeine Regel in den AGB an, wonach sich die Parteien im Innenverhältnis so stellen wollten, wie sie stehen würden, wenn die dingliche Wirkung am Stichtag eingetreten wäre. Der BGH geht davon aus, dass mit diesem „insbesondere“ mehr gemeint sei, als die bloße Bezugnahme auf den Stichtag. Vielmehr sei damit ein Verweis auf die nach dem Gesetz bestehende Rechtslage gemeint. Überzeugen kann das nicht. Denn diese gesetzliche Rechtslage war ja nirgendwo genannt.
7 Statt aller: H. Schmidt in Bamberger/Roth/Hau/Posek BGB, 4. Aufl. 2019, § 307 Rn. 45; Roloff in Erman BGB, 15. Aufl. 2017, § 307 Rn. 21; Wurmnest in MünchKomm BGB (s.o. Fn. 2), § 307 Rn. 244.
Probleme bei der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB
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Ein Blick auf weitere zur Intransparenzregel von § 307 Abs. 1 S. 2, 1 BGB ergangene Judikatur sowie die einschlägige Literatur bestätigt diese Kritikpunkte. In einer Entscheidung des BGH8 ging es um den Rückkaufswert kapitalbildender Lebensversicherungen. Zur Diskussion stand eine Klausel zur Berechnung des Überschusses und seiner Verteilung an die Versicherten. Der klagende Verbraucherschutzverein hatte verlangt, dass die Angaben zur Ermittlung der Überschussbeteiligung in den AGB so konkret sein müssten, dass jeder Versicherungsnehmer seinen Anspruch selbst feststellen könne. Der BGH hielt dem entgegen, dass dies nicht möglich sei.9 Zum einen könne der Versicherer bei Abschluss eines Lebensversicherungsvertrages nicht schon bei Vertragsschluss abstrakt festlegen, unter welchen Umständen er in welcher Weise die Bilanzierungsspielräume ausfüllen werde. Weiter heißt es dann: „Vor allem können einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer die Grundsätze zur Bilanzierung nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz und dem Handelsgesetzbuch nicht in verständlicher Weise dargelegt werden.“ Genau dies gilt für die Kommanditistenhaftung auch. Schließlich sind AGB nicht dazu geeignet, lehrbuchartig die Einzelheiten der mit einer Kommanditistenstellung verbundenen Risiken zu schildern, um dann in einem zweiten Schritt deutlich zu machen, inwieweit die Vertragsgestaltung davon abweicht. Hinzu kommt, dass jeder Adressat von AGB sich selber denken kann, dass der Verwender wohl kaum zum Vorteil des Adressaten in seinen allgemeinen Geschäftsbedingungen vom dispositivem Recht abrücken wird. Die Grenze wird allerdings überschritten, wenn die allgemeinen Geschäftsbedingungen den Eindruck erwecken, sie würden zu Gunsten des Adressaten von den allgemeinen Regeln abweichen, obwohl in Wirklichkeit das genaue Gegenteil der Fall ist.10 Dem entspricht, dass allgemein gesagt wird, dass derjenige, der AGB stellt, den Adressaten nicht zu belehren habe.11 b) Angemessenheit der Regelung Hält man die Regel nicht für intransparent oder betrachtet man eine Regelung gleichen Inhalts, die auch nach Ansicht des BGH transparent ist, stellt sich die Anschlussfrage, ob sie nicht an § 307 Abs. 1 S. 1 BGB scheitert, also aus einem anderen Grund unangemessen im Sinne dieser Norm ist. 8
BGH NJW 2001, 2014. BGH NJW 2001, 2014, 2019; dem folgend Roloff in Erman BGB (s.o. Fn. 7), § 307 Rn. 22. 10 BGHZ 153, 6, 16 f.; Coester in Staudinger, Stand Februar 2006, § 307 Rn. 192; Wurmnest in MünchKomm BGB (s.o. Fn. 2), § 307 Rn. 63. 11 Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, § 307 Rn. 342; Roloff in Erman BGB (s.o. Fn. 7), § 307 Rn. 20; enger BGH NJW 2013, 2019, wo verlangt wird, dass auf eine gesetzlich geschuldete Sicherheitsleistung hingewiesen wird. 9
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Gemäß § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist dies im Zweifel dann der Fall, wenn die Regelung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regel, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist. Auch das wird man zu verneinen haben. Abgewichen wird zum einen von der bereits geschilderten Regelung des HGB. Der Verkäufer kann also auch dann in Anspruch genommen werden, wenn kein gemeinsamer Gläubiger existiert. Da es aber mehr oder weniger vom Zufall abhängt, ob dies der Fall ist, hat diese Bestimmung des HGB ersichtlich keinen erheblichen Gerechtigkeitsgehalt. Im Gegenteil: Eigentlich ist es eine nicht gerechtfertigte Entlastung des Altkommanditisten, wenn zufällig ein solcher Schuldner nicht mehr existiert. Anderes könnte in Bezug auf die Fristen der Regelung von § 160 HGB gelten. Diese Norm soll sicherstellen, dass ein ausgeschiedener Kommanditist nicht endlos weiterhaftet. Insbesondere aus Dauerschuldverhältnissen können unverjährte Verbindlichkeiten noch lange nach dem Ausscheiden entstehen. Hierfür soll der Kommanditist nicht einstehen müssen.12 Bejaht man eine Haftung des Beklagten aus der im Kaufvertrag vereinbarten Regelung führt dies aber keineswegs zu einer solchen Endloshaftung. Vielmehr gelten für diesen Anspruch die allgemeinen Regeln von §§ 194 ff. BGB. Konkret heißt dies, dass die 3-Jahresfrist von § 195 BGB eingreift. Die Frist beginnt gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen. Das ist eine sachgerechte Bestimmung, die den Interessen beider Seiten Rechnung trägt. Der Freistellungsanspruch kann also unter Umständen verjährt sein. Ob dies im konkreten Fall so gewesen wäre, kann dem Urteil nicht entnommen werden.
V. Ausblick Löst man den Blick von dem hier im Mittelpunkt stehenden Fall, stellt sich die allgemeine Frage, inwieweit das Transparenzgebot und die allgemeine Angemessenheitsregel von § 307 Abs. 1 BGB für den Kauf von Unternehmensbeteiligungen überhaupt passen. Im Grundsatz wird man das zu bejahen haben. Wer AGB verwendet, hat sein Regelwerk an diesen Normen auszurichten. Man sollte aber bei der Beurteilung der einzelnen Klauseln bedenken, dass das Kaufobjekt komplex ist. Transparenz wird meist nicht erreicht durch eine umfassende Erläuterung der veräußerten Rechtsstellung. Dies würde auf Grund der Vielschich12 K. Schmidt in MünchKomm HGB, 4. Aufl. 2016, § 116 Rn. 1; Boesche in Oetker HGB, 5. Aufl. 2019, § 160 Rn. 1.
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tigkeit des Kaufgegenstandes oft zu einer Überfrachtung an Informationen und damit zu einem Weniger an Transparenz führen. Transparenz verlangt aber, dass der Adressat die Risiken erkennen kann, die die Vertragsgestaltung mit sich bringt. Interpretationen einer Klausel, die nur einem geschulten Berater in den Sinn kommen, stehen der Transparenz nicht entgegen.
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I. Einführung 1. Unternehmensgegenstand und Gesellschaftszweck Das deutsche Aktienrecht unterscheidet bekanntlich zwischen dem Unternehmensgegenstand und dem Gesellschaftszweck: Während der Gesellschaftszweck die allgemeine Zielsetzung des Zusammenschlusses bezeichnet, gibt der Unternehmensgegenstand das zur Zweckerreichung eingesetzte Mittel an; beide stehen deshalb in einer Mittel-Zweck-Relation.1 Die Unterscheidung zwischen Gesellschaftszweck und Unternehmensgegenstand hat keineswegs nur akademische Bedeutung. Beide Institute stimmen zwar darin überein, dass sie dem Organhandeln und damit insbesondere der Geschäftsführung Grenzen setzen. Allein der Unternehmensgegenstand bildet allerdings nach § 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG einen notwendigen Satzungsbestandteil; seine Änderung erfolgt mithin im Wege der gewöhnlichen Satzungsänderung, für die allein die Besonderheit besteht, dass § 179 Abs. 2 S. 2 AktG eine Herabsetzung der in § 179 Abs. 2 S. 1 AktG geregelten Kapitalmehrheit ausschließt. Hingegen kann auf die ausdrückliche Aufnahme des Gesellschaftszwecks in die Satzung verzichtet werden. Zwar gilt auch für die AG, was in § 1 GmbHG für die GmbH ausdrücklich bestimmt ist, dass sie nämlich zu jedem gesetzlich zulässigen Zweck errichtet werden kann; der Zweck der AG kann deshalb erwerbswirtschaftlicher, gemeinnütziger oder ideeller Art sein und bedarf der Festlegung durch die Aktionäre. Im Zweifel, das heißt beim Schweigen der Satzung, soll die AG aber erwerbswirtschaftliche Ziele verfolgen und damit auf Gewinnerzielung ausgerichtet sein.2 Allerdings soll auch die Änderung des nicht ausdrücklich in der Satzung verlautbarten 1 Hüffer/Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 23 Rn. 22 mwN.; eingehende Darstellung der teils nicht unbeträchtlich divergierenden Konzeptionen bei Röhricht/Schall in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2016, § 23 Rn. 125 ff.; ferner Pentz in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 23 Rn. 70 ff., dem zufolge der Gesellschaftszweck den Unternehmensgegenstand und das „Unternehmensziel“ umfasst; weiterführend Windbichler in FS K. Schmidt, 2019 Band II, 673 (679 ff.). 2 Wiedemann in Großkomm AktG, 4. Aufl. 1995, § 179 Rn. 54; Pentz in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 23 Rn. 71.
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Zwecks – und damit insbesondere der Übergang von erwerbswirtschaftlicher zu ideeller oder gemeinnütziger Betätigung – nicht ohne Mitwirkung der Aktionäre erfolgen können; herrschend ist gar die Ansicht, die nicht nur einen satzungsändernden Beschluss, sondern in analoger Anwendung des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB die Zustimmung aller Aktionäre verlangt.3 2. Verlangen nach „Corporate Purpose“ Nicht zuletzt institutionelle Investoren, aber auch Kleinanleger fordern freilich von der börsennotierten Gesellschaft immer deutlicher einen über die Gewinnerzielung hinausgehenden Daseinszweck,4 der in der Schaffung gemeinschaftlicher Werte und damit eines Nutzens der Allgemeinheit erblickt wird, insbesondere auf ökologischem Gebiet.5 Dieses Verlangen nach einem „Corporate Purpose“ stößt auf zunehmende Akzeptanz auf Seiten der börsennotierten Gesellschaften. In aktienrechtlicher Hinsicht verbinden sich damit Fragen grundsätzlicher Art. Unklar ist schon das Verhältnis zum Gesellschaftszweck. Von einer Mittel-Zweck-Relation, wie sie zwischen Unternehmensgegenstand und Gesellschaftszweck besteht, kann insoweit keine Rede sein; in Betracht zu ziehen ist hingegen ein Vorrang des einen, aber auch ein Nebeneinander beider und damit eine Art „Mischzweck“. Das Verhältnis zum Gesellschaftszweck entscheidet auch über die gesellschaftsinterne Zuständigkeit für die Entscheidung über „Ob“, Ausgestaltung und Änderung eines „Corporate Purpose“. Wollte man insoweit ein gesetzliches Mitspracherecht der Aktionäre in Abrede stellen, fragt sich, ob sich die Aktionäre ein solches Recht über die Satzung verschaffen können. Es liegt nicht fern, diese Fragen zum Gegenstand eines Christine Windbichler gewidmeten Beitrags zu machen, hat sich die Jubilarin doch immer wieder mit grundsätzlichen Fragen des Aktienrechts befasst und dabei eine erfreuliche Offenheit gegenüber neueren Entwicklungen bewiesen.6
3 S. für die h.M. Röhricht/Schall in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2016, § 23 Rn. 126, dort auch zur Abdingbarkeit des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB; ferner Hüffer/Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 179 Rn. 33 mit weit. Nachw.; a.A. Wiedemann in Großkomm AktG, 4. Aufl. 1995, § 179 Rn. 56. 4 Instruktiv Storck Börsen-Zeitung vom 16.3.2019, 6. 5 Details unter II.1. 6 S. aus neuerer Zeit etwa Windbichler in FS K. Schmidt, 2019, Band II, 673; Windbichler in FS Seibert, 2019, 1131; Windbichler in FS Baums, 2017, 1443.
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II. Worum geht es? 1. Die Akteure a) Kapitalgeber Das Verlangen nach einem über die Gewinnerzielung hinausgehenden „Corporate Purpose“ wird besonders nachdrücklich durch institutionelle Investoren artikuliert. So sehen die Investitionsleitlinien zahlreicher institutioneller Investoren Standards für nachhaltiges und ethisches Investmentverhalten vor.7 Vielfach reagieren die Investoren mit dem Abzug von Kapital, wenn sie von der Nachhaltigkeitsstrategie des finanzierten Unternehmens nicht überzeugt sind. Vor nicht allzu langer Zeit war beispielsweise zu lesen, dass sich der Norwegische Staatsfonds NBIM, der ein Vermögen von rund 1 Billionen Dollar verwaltet, aus 240 Unternehmen zurückgezogen hat, da diese seinen Prinzipien für verantwortungsvolles Management nicht genügt haben.8 Bisweilen werden die Erwartungen auch offensiv kommuniziert. So heißt es in dem 2019 veröffentlichten Schreiben des Gründers und CEO von Blackrock, Larry Fink, an die CEOs der Unternehmen, in die Blackrock investiert: „Society is demanding that companies, both public and private serve a social purpose. To prosper over time, every company must not only deliver financial performance, but also show how it makes a positive contribution to society. Companies must benefit all of their stakeholders, including shareholders, employees, customers, and the communities in which they operate.”9
In dem Schreiben vom Januar 2020 wird Fink deutlicher:10
7 S. z.B. Vanguard Über Vanguard: Investment Stewardship: Vanguard Richtlinien im Überblick, Umwelt/Gesellschaft, abrufbar unter https://www.de.vanguard/web/cf/ professionell/de/uber-vanguard/richtlinien-grundsaetze/Vanguard%20Richtlinien%20im %20&%23220;berblick-tab (zuletzt abgerufen am 15.2.2020); Goverment Pension Fund of Norway Goverment Pension Fund Global, Asset Manager Perspective 01/2018, The Substainable Development Goals and the Government Pension Fund Global, abrufbar unter https://www.nbim.no/contentassets/092e192d14d34d8eaf6110b75a27977c/nbim_amp_1_1 8_the-sdgs-and-the-gpfg.pdf (zuletzt abgerufen am 15.2.2020); Allianz Global Investors Über uns: Nachhaltige Geldanlage, verfügbar unter https://de.allianzgi.com/de-de/ueberuns/unser-esg-ansatz (zuletzt abgerufen am 15.2.2020). 8 Börsen-Zeitung-Zeitung Nr. 124/2019 vom 3.7.2019, 13; dazu und zu weiteren Investoren J. Vetter ZGR 2018, 338, 360 f. 9 Abrufbar unter: https://www.blackrock.com/corporate/investor-relations/2019-larryfink-ceo-letter (zuletzt abgerufen am 15.2.2020). 10 Abrufbar unter: https://www.blackrock.com/corporate/investor-relations/larry-finkceo-letter (zuletzt abgerufen am 15.2.2020).
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„Angesichts der wachsenden nachhaltigkeitsbezogenen Anlagerisiken sind wir zunehmend geneigt, Vorständen und Aufsichtsräten unsere Zustimmung zu verweigern, wenn ihre Unternehmen bei der Offenlegung von Nachhaltigkeitsinformationen und den ihnen zugrunde liegenden Geschäftspraktiken und -plänen keine ausreichenden Fortschritte machen.“
b) Gesellschaften Große Aufmerksamkeit – auch hierzulande – hat das „Statement on the Purpose of a Corporation“ der 181 der im “Business Roundtable” vereinten CEOs großer US-amerikanischer Gesellschaften vom 19. August 2019 erfahren.11 In ihm signalisieren die CEOs, dass sie den Ruf nach „Corporate Purpose“ gehört und verstanden haben.12 Mit der Erklärung wird zwar explizit am Prinzip freier Märkte und privaten Unternehmertums festgehalten, indes nicht weniger als eine Abkehr vom Shareholder Value-Gedanken und als zeitgemäßer Standard für Corporate Responsibility eine Unternehmensführung zum Wohle aller Stakeholder – Kunden, Arbeitnehmern, Zulieferern, Gesellschaft und Aktionären – in Aussicht gestellt: „Each of our stakeholders is essential. We commit to deliver value to all of them, for the future success of our companies, our communities and our country.”
Aus deutscher Sicht ist die Koalition “Business for Inclusive Growth (B4IG)“ zu erwähnen, in der sich 34 internationale Konzerne, darunter BASF und Henkel, zusammengeschlossen haben, um gemeinsam mehr als 1 Mrd. US-Dollar in über 50 Initiativen für den Schutz von Menschenrechten, für die Gleichstellung der Geschlechter und für Chancengleichheit zu investieren.13 2. Zusammenhang mit CSR und Green Finance Es sollte deutlich geworden sein, dass es bei dem Verlangen nach einem „Corporate Purpose“ nicht um die auf gesetzliche Befehle zurückgehende Indienstnahme der Aktiengesellschaft für Gemeinwohlbelange,14 sondern 11
Details unter II.1. Abrufbar unter https://www.businessroundtable.org/business-roundtable-redefinesthe-purpose-of-a-corporation-to-promote-an-economy-that-serves-all-americans (zuletzt abgerufen am 15.2.2020); dazu The Economist vom 24.8.2019, 16 ff. 13 S. https://www.oecd.org/inclusive-growth/businessforinclusivegrowth/ (zuletzt abgerufen am 15.2.2020); dazu Börsen-Zeitung Nr. 162/2019 vom 24.8.2019, 7; s. ferner die im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellte Studie von Labigne/Gilroy/Kononykhina/ Hollmann/Riess Unternehmensengagement und Corporate Citizenship in Deutschland, Die sozialen Investitionen der deutschen Wirtschaft, 2019, die ein Spendenvolumen von mindestens 9,5 Mrd. Euro jährlich ermittelt. 14 Dazu Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, § 25 Rn. 19; Habersack Staatliche und halbstaatliche Eingriffe in die Unternehmensführung, Gutachten E zum 69. DJT, 2012, S. 36 ff.; Habersack/Kersten BB 2014, 2819, 2122 ff. 12
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um einen – sowohl politische Rahmenbedingungen antizipierenden als auch Wünsche der ultimativen Anleger reflektierenden – Appell der Marktakteure, insbesondere der Kapitalgeber, an die Unternehmensleiter geht. Die Debatte ist denn auch auf das Engste mit zwei das Unternehmensrecht in der jüngeren Vergangenheit und gewiss auch künftig prägenden Themenfeldern verwoben, nämlich der CSR-Debatte im Allgemeinen und der „Green Finance“-Bewegung im Besonderen. a) Corporate Social Responsibility Was zunächst die durch das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz vom 11.4.201715 für kapitalmarktorientierte Gesellschaften in §§ 289b f., 315b f. HGB statuierten CSR-Berichtspflichten anbelangt, so sollen sie nicht nur die Transparenz der ökologischen und sozialen Belangen gewidmeten Aktivitäten der Unternehmen erhöhen und die Vergleichbarkeit der CSR-Erklärungen verbessern, sondern ausweislich der Erwägungsgründe zur CSRRichtlinie16 zugleich nachhaltiges globales Wirtschaften dadurch fördern, dass „langfristige Rentabilität mit sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz verbunden wird.“17 Das Gesetz setzt hierzu auf eine „raffinierte“18 mittelbare Verhaltenssteuerung: Wer über Konzepte berichten muss und nicht erklären möchte, keine Konzepte zu verfolgen, muss solche Konzepte sowie die entsprechenden Prozesse erst einmal ausarbeiten und implementieren.19 Die CSR-Berichtspfichten erzeugen damit durchaus einen „sanften Druck“ auf die berichtspflichtigen Unternehmen, sich eine CSR-Politik zu geben und das Nachhaltigkeitsinteresse sich nicht nur zu eigen zu machen, sondern es überdies in ihrer Liefer- und Wertschöpfungskette durchzusetzen. Sie setzen, und das ist entscheidend, darauf, dass sich die berichtspflichtigen Unternehmen nicht zuletzt aus Reputationserwägungen und damit im eigenen Interesse entsprechende Erwartungshaltungen insbesondere der Investoren und der Marktgegenseite zu eigen machen, und damit auf Marktmechanismen.
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BGBl. I, 802; dazu Mock ZIP 2017, 1195 ff. Richtlinie 2014/95/EU vom 22.10.2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU, ABl. 2014 L 330/1; dazu Spießhofer NZG 2014, 1281 ff. 17 Erwägungsgrund Nr. 3 Richtlinie 2014/95/EU (Fn. 7); s. ferner Begr. RegE, BT-Drs. 18/9982 S. 26: „Durch die neuen Vorgaben für die Berichterstattung kann mittelbar auch das Handeln der Unternehmen beeinflusst und ein Anreiz geschaffen werden, nichtfinanziellen Belangen und damit verbundenen Risiken, Konzepten und Prozessen stärkeres Gewicht in der Unternehmensführung beizumessen“; s. dazu Hommelhoff NZG 2015, 1329 f.; eingehend zu Entwicklung und Konzeptionen der CSR-Debatte Spießhofer Unternehmerische Verantwortung, 2017, 45 ff.; ferner Paefgen in FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, 105 ff. 18 Schön ZHR 180 (2016), 279, 283. 19 Zutreffend Hennrichs ZGR 2018, 206, 209; Schön ZHR 180 (2016), 279, 283. 16
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b) Green Finance Als Bestandteil ihrer CSR-Strategie sieht die Kommission ihren im Frühjahr 2018 vorgelegten Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums nebst drei daran anknüpfender Verordnungsvorschläge.20 Der Plan zielt nicht nur auf eine verbesserte Kennzeichnung „umweltfreundlicher“ Finanzprodukte (es geht insoweit vor allem um Unternehmensanleihen) sowie eine verbesserte Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten in der Finanzberatung, sondern adressiert neben institutionellen Investoren und Finanzintermediären auch die kapitalsuchenden Unternehmen selbst und erwägt, diese zur Veröffentlichung einer die Lieferkette umfassenden Nachhaltigkeitsstrategie zu verpflichten und die Vorschriften, nach denen die Geschäftsleiter sich am langfristigen Unternehmensinteresse zu orientieren haben, zu präzisieren.21 Mit der Verordnung über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor und der Verordnung zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/1011 hinsichtlich EU-Referenzwerten für den klimabedingten Wandel, jeweils vom 27. 11. 2019, sind den Worten erste Taten gefolgt.22 Der am Markt seit geraumer Zeit zu beobachtende Trend zu „Green Finance“, der wiederum Rückwirkungen auf die die Finanzierung in Anspruch nehmenden Unternehmen hat,23 wird durch derlei sanften Druck weiter beflügelt werden.
III. „Corporate Purpose“ als Bestandteil der erwerbswirtschaftlichen Zwecksetzung 1. Unternehmerisches Ermessen Das Verlangen nach einem „Corporate Purpose“ richtet sich, dies sollte nach dem bislang Gesagten deutlich geworden sein, in erster Linie an Gesell20 Aktionsplan der Kommission: Finanzierung nachhaltigen Wachstums, COM(2018) 97 final vom 17.3.2018; ferner Vorschlag für eine Verordnung über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen, COM(2018) 353 final vom 24.5. 2018; Vorschlag für eine Verordnung über die Offenlegung von Informationen über nachhaltige Investitionen und Nachhaltigkeitsrisiken, COM(2018) 354 final vom 24.5.2018; Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/1011 in Bezug auf Referenzwerte für CO2-arme Investitionen und Referenzwerte für Investitionen mit günstiger CO2-Bilanz, COM(2018) 355 final vom 24.5.2018; s. dazu noch unter IV.4.b); näher dazu Bortenlänger/Heldt in FS Seibert, 2019, 147 ff.; Bueren ZGR 2019, 813 ff.; Köndgen in FS K. Schmidt, 2019, 671 ff.; Möslein/Mittwoch WM 2019, 481 ff.; Lanfermann BB 2019, 2219 ff. 21 Näher zu den die kapitalsuchenden Unternehmen betreffenden Vorschlägen Möslein/ Mittwoch WM 2019, 481, 488 f. 22 VO (EU) 2019/2088, ABl. Nr. L 317/1; VO (EU) 2019/2089, ABl. Nr. L 317/17. 23 Dazu unter II.1.
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schaften mit erwerbswirtschaftlicher Zwecksetzung, die einen über die Lieferung von „financial performance“ hinausgehenden Beitrag zum Gemeinwohl liefern sollen. Dabei ist ersichtlich nicht an einen gemischten, erwerbswirtschaftliche und gemeinnützige Elemente vereinigenden Gesellschaftszweck gedacht; der „Corporate Purpose“ soll sich vielmehr innerhalb der erwerbswirtschaftlichen Zwecksetzung verwirklichen und hierdurch die Unterscheidung zwischen erwerbswirtschaftlicher und gemeinnütziger Zwecksetzung relativieren. Auch der neue Deutsche Corporate Governance Kodex bringt dies in seiner Präambel deutlich zum Ausdruck, wenn es dort heißt, dass sich die Gesellschaft und ihre Organe „in ihrem Handeln der Rolle des Unternehmens in der Gesellschaft und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu sein“ haben, und betont wird, dass Sozial- und Umweltfaktoren den Unternehmenserfolg beeinflussen und Vorstand und Aufsichtsrat deshalb im Interesse des Unternehmens sicherzustellen haben, „dass die potenziellen Auswirkungen dieser Faktoren auf die Unternehmensstrategie und operative Entscheidungen erkannt und adressiert werden.“ Der Mechanismus ist damit derselbe wie bei der gesetzgeberisch verordneten CSR-Berichterstattung:24 Der Vorstand soll die an die Gesellschaft herangetragenen Allgemeinbelange in seine Leitungsentscheidungen einbeziehen und diese sodann an den Folgen insbesondere für Reputation und Finanzierung der Gesellschaft, Absatz der Produkte und Dienstleistungen sowie Arbeitsklima und Attraktivität als Arbeitgeber ausrichten.25 Allgemeininteressen fließen auf diese Weise nur, aber immerhin mittelbar, nämlich vermittelt durch entsprechende Eigeninteressen der Gesellschaft, und „passgenau“, nämlich zugeschnitten auf die Gegebenheiten der konkreten Gesellschaft, in die Leitungsentscheidung des Vorstands ein. So gesehen zielt das Verlangen nach einem „Corporate Purpose“ auf einen Gleichlauf von Gesellschafts- und Allgemeininteresse, nicht dagegen auf eine Pflicht des Vorstands, bei Wahrnehmung seiner Leitungsaufgabe Allgemeinbelange auch unabhängig von deckungsgleichen Gesellschaftsbelangen zu berücksichtigen. Der Wunsch der Investoren und anderer Marktteilnehmer verstärkt damit die gesetzlichen CSR-Berichtspflichten, und dies vor dem Hintergrund der Marktmacht insbesondere der Investoren in durchaus erheblichem Ausmaß. „Corporate Purpose“ umschreibt somit die von gesellschaftlichen Gruppen an die Aktiengesellschaft herangetragenen und vom Vorstand sodann in Ausübung seines weiten, letztlich allein durch das Gebot dauerhafter Rentabilität der Gesellschaft begrenzten Leitungs24
Näher zur Organzuständigkeit und -verantwortung im Rahmen der CSR-Politik der Gesellschaft Bachmann ZGR 2018, 231, 235 ff. 25 Näher dazu sowie zum Folgenden im Zusammenhang mit den CSR-Berichtspflichten Habersack AcP 220 (2020), 594 (unter IV. 4.).
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ermessens26 in das Unternehmensinteresse27 aufgenommenen Allgemeinbelange. 2. Verlautbarung des „Corporate Purpose“ Versteht sich der „Corporate Purpose“ somit als Bestandteil des auf erwerbswirtschaftliche Betätigung gerichteten Gesellschaftszwecks und verwirklicht er sich damit auf Leitungsebene, so bedeutet dies zugleich, dass er keinen notwendigen Satzungsbestanteil bildet. Wie die Konkretisierung ist vielmehr auch die Verlautbarung des „Corporate Purpose“ Sache des Vorstands. Er wird, nachdem er sich nicht zuletzt aus Reputationserwägungen dafür entschieden hat, im Rahmen seiner Geschäftsführung Gemeinwohlbelange zu berücksichtigen, typischerweise bestrebt und auch verpflichtet sein,28 diesen über die Verfolgung erwerbswirtschaftlicher Zwecke hinausgehenden „Corporate Purpose“ auch werbemäßig zu verlautbaren, um die AG als „Good Corporate Citizen“ erscheinen zu lassen. 3. Entbehrlichkeit gesetzlicher Regelung Während der französische Gesetzgeber erst kürzlich in Art. 1833 Abs. 2 Code Civil und mit Geltung für alle Gesellschaften die Bindung an den „intérêt social“ klargestellt und ergänzend bestimmt hat, dass die Gesellschaft die mit ihren geschäftlichen Aktivitäten verbundenen Sozial- und Umweltaspekte berücksichtigt,29 dürfte sich für das deutsche Recht ein gesetzgeberischer Eingriff erübrigen: Das Unternehmensinteresse als Maßstab allen Organhandelns ist seit jeher flexibel genug, um dem Vorstand die Förderung von Gemeinwohlbelangen zu gestatten.30 Insbesondere verschafft es dem Vorstand eine hinreichende Befugnis, wenn nicht gar Verpflichtung, einen über die Lieferung von „financial performance“ hinausgehenden „Corporate Purpose“ zu verfolgen, mithin sich den an die Gesellschaft herangetragenen Allgemeinbelangen zu öffnen.31
26 Näher Kort in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2015, § 76 Rn. 53 ff.; Habersack AcP 220 (2020), 594 (unter IV. 4.). 27 Zu ihm noch unter 3. 28 Näher Habersack AcP 220 (2020), 594 (unter IV. 4.). 29 Loi relatif à la croissance et la transformation des entreprises (Loi PACTE) (n. 2018– 1088); dazu Conac in FS K. Schmidt, 2019, Band I, 229 ff.; Fleischer ZGR 2018, 703, 729 f.; Poracchia BJS 2019, 40 ff. 30 Eingehend Kort in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2015, § 76 Rn. 53 ff., 84 ff. 31 Näher dazu sowie zur Entbehrlichkeit einer „Benefit Corporation“ deutschen Rechts Habersack AcP 220 (2020), 594 (unter IV 4., 5.).
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IV. Einflussnahme durch die Hauptversammlung 1. Aktienrechtliche Ausgangslage Nach den bislang gewonnenen Erkenntnissen haben die Aktionäre grundsätzlich keinen unmittelbaren Einfluss auf die Entscheidung, ob die Gesellschaft sich einen „Corporate Purpose“ gibt und wie dieser sodann verwirklicht wird. Die Aktionäre können zwar, abgesehen von der stets möglichen „Abstimmung mit Füßen“ (mithin dem Verkauf ihrer Anteile) und der Verweigerung der Entlastung, immerhin vermittels des Aufsichtsrats Einfluss auf den Vorstand nehmen. Denn die Satzung oder der Aufsichtsrat kann nach Maßgabe des § 111 Abs. 4 S. 2 AktG Maßnahmen, mit denen die Gesellschaft Gemeinwohlbelange verfolgt, an die Zustimmung des Aufsichtsrats binden; auch droht den Vorstandsmitgliedern die Verweigerung der Wiederbestellung, wenn dem Aufsichtsrat die Richtung des Vorstands missfällt. Eine entsprechende Beschlusskompetenz der Hauptversammlung besteht hingegen nicht,32 sieht man von der Hinzuziehung der Hauptversammlung durch den Vorstand nach § 119 Abs. 2 AktG ab. Auch das durch das ARUG II33 in § 120a Abs. 1 S. 1 AktG eingeführte Vergütungsvotum verschafft der Hauptversammlung zwar die Möglichkeit, die Vergütung an nichtfinanziellen Leistungskriterien auszurichten;34 eine Bindung des Vorstands an die Verfolgung nichtfinanzieller Ziele lässt sich freilich auch hierdurch nicht herstellen. 2. Satzungsmäßige Vorgaben a) Befugnis zur Befolgung von Gemeinwohlbelangen Die vorstehend skizzierten Gegebenheiten münden in die Frage, ob die Satzung die Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen regeln kann, etwa dergestalt, dass sie den Vorstand zu entsprechenden Maßnahmen ermächtigt oder verpflichtet oder, umgekehrt, dem Vorstand derlei Maßnahmen untersagt. Auszugehen ist von der Tatsache, dass die Aktionäre nur, aber immerhin vermittels ihrer Befugnis zur Bestimmung von Gesellschaftszweck und Unternehmensgegenstand die Leitungsautonomie des Vorstands begrenzen 32 Näher am Beispiel von Gemeinwohlaktivitäten Fleischer AG 2001, 171, 177; Mülbert AG 2009, 766, 772; J. Vetter ZGR 2018, 338, 364 f. mit weit. Nachw., auch zu abw. Stimmen. 33 Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) vom 12.12. 2019, BGBl. I, 2637. 34 Näher Harbarth ZGR 2018, 379, 389 ff.; allg. zum Vergütungsvotum Florstedt ZGR 2019, 630 ff.
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können.35 Solange die Satzung an der Privatnützigkeit des Gesellschaftszwecks festhält, ist es dem Vorstand deshalb untersagt, die Richtungsentscheidung der Aktionäre zu korrigieren und ihr Handeln vorrangig und unter Gefährdung der dauerhaften Rentabilität der Gesellschaft an Gemeinwohlbelangen auszurichten.36 Vor diesem Hintergrund wird man den Aktionären auch die Befugnis zusprechen müssen, die Befugnis des Vorstands zu gemeinwohlfördernden Aktivitäten explizit anzuerkennen oder auszuweiten.37 Dies mag dazu führen, dass sich institutionelle Investoren, deren Anlagerichtlinien entsprechende Vorgaben enthalten, verstärkt von Gesellschaften angezogen fühlen, deren Satzung einen Nachhaltigkeits- oder Gemeinwohlbezug enthält. Mit Blick auf die Leitungsautonomie des Vorstands müssen sich derlei Klauseln allerdings in abstrakt-generellen Regelungen erschöpfen, ohne die sozialen Aktivitäten konkret zu benennen.38 b) Verpflichtung zur Verfolgung von Gemeinwohlbelangen Was die satzungsmäßige Verpflichtung des Vorstands zur Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen anbelangt, so ist neben der Festlegung eines gemeinnützigen oder eines gemischt erwerbswirtschaftlich/gemeinnützigen Zwecks vor allem an Gewinnverwendungsklauseln zu denken.39 In eine ähnliche Richtung kann die – unzweifelhaft zulässige – Aufnahme von Nachhaltigkeitsaspekten in den Unternehmensgegenstand gehen.40 In diesem Fall muss die Satzung allerdings – anders als bei Aufnahme eines gemischt er35
Dazu bereits unter I. Zur Begrenzung des Leitungsermessens des Vorstands durch das Gebot, die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft zu sichern, s. bereits unter III.1.; allg. zur Bindung von Vorstand und Aufsichtsrat an den satzungsmäßigen Gesellschaftszweck Kort in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2015, § 76 Rn. 45; Tieves Der Unternehmensgegenstand der Kapitalgesellschaft, 1998, 144 ff. 37 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 76 Rn. 42d; Fleischer AG 2017, 509, 514; Kort in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2015, § 76 Rn. 104; Kort NZG 2012, 926, 930; Harbarth ZGR 2018, 379, 395; Müller-Michaels/Ringel AG 2011, 101, 112; J. Vetter ZGR 2018, 338, 371 f.; so auch Mülbert AG 2009, 766, 772 und Spindler in FS Hommelhoff, 2012, 1133, 1141 f., die sich allerdings zu Unrecht für das Vorliegen einer Zweckänderung im Sinne des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB (analog) aussprechen; a.A. – gegen Satzungsautonomie – wohl Möslein ZRP 2017, 175, 176. 38 Allg. dazu im Zusammenhang mit Gegenstandsbestimmungen OLG Stuttgart AG 2006, 727, 728; im vorliegenden Zusammenhang Fleischer AG 2017, 509, 514. 39 Näher J. Vetter ZGR 2018, 338, 372 f.; s. ferner Kort in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2015, § 76 Rn. 104; Fleischer AG 2017, 509, 514; Gestaltungsspielraum der Aktionäre zu Unrecht negierend Möslein ZRP 2017, 175, 176. – „Mischzwecke“ begegnen, wenn auch in anderer Gestalt, auch bei staatseigenen Gesellschaften sowie bei Gemeinschaftsunternehmen zwischen Privaten und der öffentlichen Hand, s. dazu Habersack ZGR 1996, 544 ff.; Schön ZGR 1996, 429, 440 f.; ferner Harbarth ZGR 2018, 379, 395 f. 40 S. dazu noch unter IV.3. 36
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werbswirtschaftlich/gemeinnützigen Zwecks – die gebotene Aktivität – wenn auch in hinreichend abstrakter Form – konkret benennen; eine allgemein gehaltene satzungsmäßige Verpflichtung auf einen gemeinwohlorientierten Unternehmensgegenstand wäre hingegen nicht mit dem Leitungsermessen des Vorstands vereinbar. Entsprechendes gilt für die satzungsmäßige Verpflichtung des Vorstands auf ein Shareholder Value-Konzept, mithin ein Verbot gemeinnütziger Betätigung.41 Soweit die Gegenansicht betont, die Hauptversammlung sei der „Souverän“,42 wird von ihr verkannt, dass diese Rolle – und damit die Befugnis, im Rahmen der erwerbswirtschaftlichen Zielsetzung über die Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen zu entscheiden – seit 1937 nicht mehr der Hauptversammlung, sondern dem Vorstand gebührt.43 3. Praktische Bedeutungslosigkeit von „Corporate Purpose“-Klauseln In den Satzungen der DAX 30-Gesellschaften lassen sich derzeit44 weder „Corporate Purpose“-Klauseln noch Klauseln, die dem Vorstand explizit die Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen gestatten oder gar vorschreiben, feststellen. Nur vereinzelt begegnet die Aufnahme von Klimaund Umweltbelangen in den satzungsmäßigen Unternehmensgegenstand. So sieht die Satzung der RWE AG in ihrem § 2 vor, dass die von RWE geleiteten Gesellschaften unter anderem mit der Erzeugung und Beschaffung von Energien, einschließlich erneuerbarer Energien“ befasst sind. Außerhalb des Kreises der DAX 30-Gesellschaften lässt sich die Innogy SE hervorheben, deren Unternehmensgegenstand nach § 2 der Satzung in der Leitung von Gesellschaften besteht, die unter anderem „Strom- und Wärmeerzeugung aus vornehmlich erneuerbaren Energien“ betreiben. Der Unternehmensgegenstand der EWE AG besteht nach § 2 der Satzung in der Leitung einer Gruppe von Unternehmen, die unter anderem die Geschäftsfelder „Förderung der Energieeffizienz und Nachhaltigkeit, Entwicklung und Ausbau von Technologien in den Bereichen der Energieeinspeisung, -einsparung und erneuerbare Energien“ betreiben.
41 Mertens/Cahn in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2010, § 76 Rn. 18, 33; Mülbert ZGR 1997, 129, 164 f.; Paefgen Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, 65; a.A. Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 76 Rn. 39; Groh DB 2000, 2153, 2158; Mülbert in FS Röhricht, 2005, 421, 440; J. Vetter ZGR 2018, 338, 373; Ulmer AcP 202 (2002), 143, 159; Birke Das Formalziel der Aktiengesellschaft, 2005, 219 f. 42 So namentlich Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 76 Rn. 39; J. Vetter ZGR 2018, 338, 373. 43 Näher Habersack AcP 220 (2020), 594 (unter II.). 44 Stand: 15.2.2020; die Satzungen sind jeweils über die Homepages der genannten Gesellschaften abrufbar.
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Diese und ähnliche Klauseln bleiben zwar hinter „Corporate Purpose“Klauseln und Gemeinwohlklauseln im eigentlichen Sinne nicht zuletzt deshalb zurück, weil sie den eigentlichen Unternehmensgegenstand – nämlich die Energieerzeugung und Energiebeschaffung – regeln und diesen auf unter Klima- und Umweltgesichtspunkten nachhaltige Formen erstrecken, indes den erwerbswirtschaftlichen Gesellschaftszweck unberührt lassen. Der gesonderte Ausweis von Nachhaltigkeitsaspekten dürfte aber nicht zuletzt dazu dienen, Investoren ein entsprechendes Signal zu geben, und kann deshalb durchaus in den Zusammenhang mit der „Corporate Purpose“-Debatte gestellt werden.
V. Fazit Das Verlangen nach einem „Corporate Purpose“ zielt auf einen Gleichlauf von Gesellschafts- und Allgemeininteresse, nicht dagegen auf eine Pflicht des Vorstands, bei Wahrnehmung seiner Leitungsaufgabe Allgemeinbelange auch unabhängig von deckungsgleichen Gesellschaftsbelangen zu berücksichtigen. Es unterstützt damit die gesetzlichen CSR-Berichtspflichten und macht sich deren Mechanismus zu eigen, indem dem Vorstand abverlangt wird, die an die Gesellschaft herangetragenen Allgemeinbelange in seine Leitungsentscheidungen einzubeziehen und diese sodann an den Folgen insbesondere für Reputation und Finanzierung der Gesellschaft, Absatz der Produkte und Dienstleistungen sowie Arbeitsklima und Attraktivität als Arbeitgeber auszurichten. Den Aktionären bleibt es zwar unbenommen, dem Vorstand explizit gemeinwohlfördernde Aktivitäten zu gestatten oder solche Aktivitäten durch Ausgestaltung des Gesellschaftszwecks und Unternehmensgegenstands sowie gegebenenfalls durch Gewinnverwendungsklauseln vorzuschreiben. Vorbehaltlich einer solchen Einflussnahme durch die Aktionäre ist es allerdings das vom Vorstand in Ausübung seines Leitungsermessens zu konkretisierende Unternehmensinteresse, das über „Ob“ und „Wie“ eines über die Gewinnerzielung hinausgehenden „Corporate Purpose“ entscheidet.
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Legalitätspflicht, Vorstandshaftung und rechtliche Unsicherheit
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Legalitätspflicht, Vorstandshaftung und rechtliche Unsicherheit Lutz Haertlein
Legalitätspflicht, Vorstandshaftung und rechtliche Unsicherheit LUTZ HAERTLEIN
I. Vorstandshaftung und Legalitätspflicht des Vorstands Der Vorstand einer Aktiengesellschaft hat eine Legalitätspflicht, für deren Verletzung er der Gesellschaft haften kann. Den Zusammenhang von Legalitätspflicht und Vorstandshaftung fasst das LG Duisburg1 in einem Urteil vom 29. April 2019 prägnant wie folgt zusammen: „Gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG haben die Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Maßstab ihrer Sorgfaltspflicht ist danach, wie der Leiter eines Unternehmens vergleichbarer Art und Größe, der nicht mit eigenen Mitteln wirtschaftet, sondern wie ein treuhänderischer Verwalter fremden Vermögens verpflichtet ist, zu handeln hat … Dieser Sorgfaltsmaßstab entspricht funktional § 276 BGB und § 347 HGB, ist aber auf die spezifischen Aufgaben eines Unternehmensleiters zugeschnitten. Zu den sich daraus ergebenden Einzelpflichten zählt insbesondere auch die Pflicht des Vorstands, sich bei seiner Amtsführung gesetzestreu zu verhalten … Im Rahmen dieser Legalitätspflicht unterliegt der Vorstand zum einen einer internen Pflichtenbindung durch das Aktiengesetz, die Satzung oder die Geschäftsordnung der Gesellschaft und zum anderen einer [ex]ternen Pflichtenbindung, die sich aus allen anderen Rechtsvorschriften außerhalb des Aktienrechts ergibt“.2
Die Legalitätspflicht des Vorstands und Rechtsfragen der Vorstandshaftung wegen Verletzung der Legalitätspflicht bei Unsicherheiten der Rechtsanwendung gerieten erst nach der Jahrtausendwende unter das Brennglas der rechtswissenschaftlichen Forschung, die sich in einigen Aufsätzen3 dem Thema zugewandt hatte. Zunehmend breite Resonanz haben die inmitten stehenden Rechtsprobleme seit etwa 2010 erlangt. Neben zahlreichen weite-
1
LG Duisburg Urt. v. 29.4.2019 – 25 O 20/15. Zur Legalitätspflicht auch eingehend LG München I NZG 2014, 345 (Siemens/Neubürger); dazu Fleischer NZG 2014, 321. 3 Z.B. Haertlein ZHR 168 (2004) 437; Fleischer ZIP 2005, 141; ders. BB 2005, 2025. 2
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ren Aufsätzen4 sind inzwischen eine Vielzahl monographischer Bearbeitungen5 erschienen. Spätestens 2014 hatten die Legalitätspflicht des Vorstands und die Vorstandhaftung für Gesetzesverstöße auch die Aufmerksamkeit der breiteren Fachöffentlichkeit auf sich gezogen. Auf den 70. Deutschen Juristentag in Hannover 2014 stand der folgende Beschlussantrag zur Abstimmung der Abteilung Wirtschaftsrecht: „Der Anwendungsbereich der Business Judgment Rule sollte ausdrücklich auf alle Entscheidungen des Vorstands unter Unsicherheit und damit insbesondere auf solche unter rechtlicher Unsicherheit erweitert werden“. Der Antrag wurde mit 29:41:12 Stimmen abgelehnt.6 Fragen um die Legalitätspflicht des Vorstands und die Vorstandshaftung bei rechtlicher Unsicherheit sind demnach von dauerhafter Aktualität, und die Diskussion ist in Bewegung. Die Rechtsfragen und die ihnen zugrunde liegenden Fallgestaltungen sind außerordentlich vielgestaltig, facettenreich und intrikat. Im Folgenden sollen einige Gedanken dazu skizziert werden.
II. Differenzierungsansätze Die Ausgestaltung der Legalitätspflicht des Vorstands und die daran anknüpfenden Haftungsfragen können unterschiedlich sein, je nachdem, in welchem Rechtsgebiet die rechtliche Unsicherheit auftritt (1.), und wer der Normadressat ist (2.). Ferner berührt nicht jede Rechtsanwendungsunsicherheit die Legalitätspflicht (3.). 1. Unterschiede der Rechtsmaterien Rechtliche Unsicherheit kann in jeder Rechtsmaterie auftreten. Im Aufsichtsrecht stehen Fallgestaltungen aus dem Bankrecht (Erlaubnispflicht, 4 Z.B. Thole ZHR 173 (2009), 504; Fleischer in FS Hüffer, 2010, 187; ders. NZG 2010, 121; Holle AG 2011, 778; ders. AG 2016, 270; Bürkle VersR 2013, 792; Buck-Heeb BB 2013, 2247; dies. BB 2016, 1347; Bicker AG 2014, 8; Hasselbach/Ebbinghaus AG 2014, 873; Verse ZGR 2017, 174; Graewe/Freiherr von Harder BB 2017, 707. 5 Kaulich Die Haftung von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft für Rechtsanwendungsfehler, 2012; Harnos Geschäftsleiterhaftung bei unklarer Rechtslage, 2013; Piepenbrock „Defense of Reliance“ im deutschen Aktienrecht, 2013; Berger Vorstandshaftung und Beratung, 2015; Boll Rechtsrat und Haftung in der Kapitalgesellschaft, 2015; Weusthoff Die Organhaftung der Aktiengesellschaft bei fehlerhafter Rechtseinschätzung, 2016; Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018. 6 70. Deutscher Juristentag Hannover, Beschlüsse, 21: https://www.djt.de/fileadmin/ downloads/70/djt_70_Beschluesse_141202.pdf (abgerufen am 18.3.2020).
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§ 32 KWG) und dem Kapitalmarktrecht (Ad-hoc-Publizität, Art. 17 MAR),7 dem Kartellrecht (Freigestellte Vereinbarung, § 2 GWB)8 und dem Versicherungsrecht (Besondere Anforderungen an Vergütungssysteme, § 4 VersVergV)9 in der Diskussion über rechtliche Unsicherheit bei der Rechtsanwendung. Bei solchen aufsichtsrechtlichen Normen kommt hinzu, dass Verstöße zumeist nicht nur aufsichtsrechtlich sanktioniert sind, sondern auch straf- und ordnungswidrigkeitsrechtlich, und dass sie eine zivilrechtliche Haftung nach sich ziehen können. Aus dem öffentlichen Recht können noch bilanz- und steuerrechtliche Fragen genannt werden. Im Aktienrecht kann z.B. die Ausführungspflicht (§ 83 Abs. 2 AktG) den Vorstand vor schwierige Rechtsfragen stellen, wenn er die Rechtmäßigkeit und Beständigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen zu beurteilen hat.10 Schließlich kann der Vorstand im gesamten unternehmerischen Zivilrechtsverkehr mit allen erdenklichen zivilrechtlichen Streit- und Zweifelsfragen konfrontiert sein. In den verschiedenen Rechtsgebieten gelten unterschiedliche dogmatische Grundsätze und Regeln, namentlich die Haftung betreffend. So gilt beispielsweise bei der Ad-hoc-Publizität, dass der Emittent die Offenlegung von Insiderinformationen nur „auf eigene Verantwortung“ aufschieben kann (Art. 17 Abs. 4 MAR), das heißt, dass ihn aufsichtsrechtlich auch größte Sorgfalt nicht entlastet, wenn die Bedingungen für den Aufschub nicht erfüllt sind. Anders ist es bei der Sanktion von Verstößen gegen Art. 17 MAR als Ordnungswidrigkeit, die Vorsatz oder Leichtfertigkeit voraussetzt (§ 120 Abs. 15 Nr. 6–11 WpHG). Zivilrechtlich schließlich gilt bei unterlassenen Ad-hoc-Mitteilungen eine Verschuldenshaftung für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit (§ 97 WpHG). Allerdings ist das Verschulden nicht Tatbestandsvoraussetzung (§ 97 Abs. 1 WpHG), sondern das fehlende Verschulden ist eine anspruchshindernde Einwendung (§ 97 Abs. 2 WpHG), so dass der Emittent gehalten ist, sich zu exkulpieren. All jene Unterschiede sollten sich, so ist anzunehmen, auch auf die Vorstandshaftung wegen Verletzung der Legalitätspflicht auswirken,11 weil die unterschiedlichen Sanktionsvoraussetzungen jeweils verschiedene Sanktionsvermeidungsstrategien bedingen.
7 Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 4; Buck-Heeb BB 2013, 2247. 8 Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 4; Buck-Heeb BB 2013, 2247 (2248). 9 Buck-Heeb BB 2013, 2247 (2248). 10 Haertlein ZHR 168 (2004) 437; Fleischer BB 2005, 2025. 11 Eingehend Verse ZGR 2017, 174 (180 ff.).
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2. Normadressaten Für die Vorstandhaftung kann es eine Rolle spielen, ob die Rechtsnorm, bei der die Anwendungsunsicherheit auftritt, sich unmittelbar an den Vorstand wendet, oder ob die Gesellschaft Normadressat ist.12 Die Normzwecke und Haftungszusammenhänge können sich in Fällen dieser und jener Art wesentlich unterscheiden. Die Pflicht zur Ad-hoc-Publizität beispielsweise richtet sich an den Emittenten, also an die Gesellschaft, und auch die Schadensersatzhaftung für unterlassene Ad-hoc-Information gegenüber Dritten trifft nur die Gesellschaft (§ 97 Abs. 1 WpHG). Der Vorstand ist mit Rechtsfragen der Ad-hoc-Publizität zunächst nur im Rahmen seiner Leitungspflicht (§ 76 AktG) befasst. Die Vorstandshaftung infolge unterlassener Ad-hoc-Mitteilungen ist sodann ein Regressmittel für den Haftungsschaden der Gesellschaft (§ 97 Abs. 5 WpHG). Hingegen ist bei der Ausführungspflicht (§ 83 Abs. 2 AktG) oder den Organisationspflichten des § 91 AktG der Vorstand unmittelbarer Normadressat. Die Haftungsfragen, die aus der fehlerhaften Ausführung von Hauptversammlungsbeschlüssen im Zustand der rechtlichen Unsicherheiten resultieren, sind mehrschichtig und komplex,13 und sie sind gänzlich anders gelagert als beim Regressinstrument nach rechtsirrtümlich unterlassenen Ad-hoc-Mitteilungen. 3. Rechtliche Unsicherheit, Legalitätspflicht und unternehmerische Entscheidung Nicht jede rechtliche Unsicherheit bei der Leitung und Geschäftsführung berührt die Legalitätspflicht des Vorstands. Angenommen, es sei eine Unternehmensübernahme beabsichtigt, um neue Märkte zu erschließen, das Zielunternehmen sei aber als Beklagte in Haftungsprozesse mit Milliardenstreitwerten verstrickt. Dann kann über den Ausgang dieser Prozesse erhebliche rechtliche Unklarheit herrschen, die der Vorstand bei der Übernahmeentscheidung tunlichst zu berücksichtigen hat. Indes berühren die Rechtsfragen, die über den Prozessausgang beim Zielunternehmen entscheiden, als solche nicht die Legalitätspflicht des Vorstands der Erwerbergesellschaft. Denn vom Ausgang der Gerichtsverfahren hängt es nicht ab, ob der Erwerb des Unternehmens erlaubt oder verboten ist. Die Entscheidung, ob das Zielunternehmen erworben werden soll, ist vielmehr eine grundlegend unternehmerische Entscheidung, bei der die Chancen und Risiken abzuwägen sind. Es verhält sich nicht anders, als wenn das Zielunternehmen sich hoch verschuldet hätte, um Forschung und Produktentwicklung voranzutreiben, deren Ergebnisse noch ausstehen. So, 12 13
Ähnlich Verse ZGR 2017, 174 (180 ff.) (Innen- und Außenverhältnis). Fleischer BB 2005, 2025; Haertlein ZHR 168 (2004) 437.
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wie der Vorstand des Erwerbsinteressenten in diesem Fall die Vorteile (Innovationsaussichten) mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters gegen die Risiken (Altschulden und Unsicherheit der Innovationsaussichten) abzuwägen hat, hat er im Fall des verklagten Zielunternehmens die Vorteile, dass mit der Übernahme neue Märkte erschlossen werden können, gegen die Prozessrisiken mit drohenden Milliardenschulden sorgfältig abzuwägen. Die rechtliche Unsicherheit betrifft keine Rechtsfrage, von der die Legalität der Vorstandsentscheidung abhängt, sondern sie ist ein unternehmerischer Abwägungsfaktor.
III. Unklare Rechtslage Die unklare Rechtslage ist in der Diskussion um die Legalitätspflicht des Vorstands ein Zentralbegriff.14 An die Klarheit oder Unklarheit der Rechtslage werden bei den Vorstandspflichten und der Vorstandhaftung Rechtfolgen geknüpft. Bei unklarer Rechtslage komme eine „Durchbrechung“ der Legalitätspflicht in Betracht,15 oder die Legalitätspflicht erfahre gewisse Einschränkungen;16 namentlich könne das Vorstandsmitglied einen aus der Unklarheit resultierenden Ermessens-, Handlungs- oder Beurteilungsspielraum bei seiner Entscheidung haben,17 oder es gelte eine besondere Legal Judgement Rule. Demnach ist die Unklarheit der Rechtslage ein Kriterium bei der Bewertung von Vorstandentscheidungen als rechtmäßig oder rechtswidrig, das verhaltenssteuernd und haftungsbeschränkend wirkt. Damit ist die Frage aufgeworfen, wie der Rechtsbegriff der unklaren Rechtslage auszulegen ist, und was Unklarheit der Rechtslage bedeutet. 1. Klarheit und Unklarheit der Rechtslage Das Gegenstück der unklaren Rechtslage ist die klare Rechtslage. Dabei ist nicht eindeutig, welcher Zustand die Regel und welcher die Ausnahme ist. Ist die Rechtslage grundsätzlich klar und nur ausnahmsweise unklar, oder ist es umgekehrt? In dieser Frage können zwei Extremstandpunkte
14 Z.B. bei Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 43 ff.; Bicker AG 2014, 8 (10 f.); Buck-Heeb BB 2013, 2247 (2249 f.); Hasselbach/Ebbinghaus AG 2014, 873. 15 Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 43. 16 Bürkle VersR 2013, 792 (795). 17 Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 3 f., 156 f.; Bicker AG 2014, 8; Buck-Heeb BB 2013, 2247 (2250 ff.); Bürkle VersR 2013, 792; Fleischer in FS Hüffer, 2010, 187 (198 f.); Hasselbach/Ebbinghaus AG 2014, 873.
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eingenommen werden, von denen aus die Rechtslage entweder stets klar oder stets unklar ist. Die Rechtslage ist die rechtliche Bewertung eines Sachverhaltes, die aus fehlerfreier Rechtsanwendung auf den wahren und vollständigen Sachverhalt resultiert. Idealiter ist die Rechtslage stets eindeutig. Denn da ihre Faktoren – der Sachverhalt, das geltende Recht (das Ergebnis fehlerfreier Anwendung der juristischen Methode auf die Rechtsquellen) und die Regeln der Rechtsanwendung – jederzeit objektiv und unverrückbar feststehen, steht auch die Rechtslage jederzeit objektiv und unverrückbar fest.18 Unter dem Blickwinkel unfehlbarer Tatsachen- und Rechtserkenntnis existiert folglich keine unklare Rechtslage. Begründbar ist aber auch die gegenteilige Sicht der Dinge. Die Rechtslage ergibt sich aus der Anwendung des Rechts auf den Sachverhalt. Der Rechtsanwendung geht die Ermittlung des Inhalts der anzuwendenden Rechtsquellen – in unserer Rechtsordnung ganz überwiegend Gesetze – durch Auslegung voraus. Gesetze sind Botschaften, die der Gesetzgeber den Rechtsunterworfenen und Rechtsanwendern in (schrift-)sprachlicher Form sendet. Gesetzesauslegung ist folglich Teil des hermeneutischen Prozesses, der aus dem Verfassen, Übermitteln und Deuten (der Auslegung) einer Botschaft besteht. Da Sprache nie eindeutig ist, kann auch das Textverständnis durch Auslegung nie zu eindeutigen Ergebnissen führen. Die Rechtslage ist folglich stets unklar.19 Das Negativum der unklaren Rechtslage hat keine Entsprechung im Positivum der klaren Rechtslage. Beide Sichtweisen sind freilich unrealistisch. Selbst wenn die Rechtslage im Modell stets klar sein mag, dann bringt die menschliche Fehlbarkeit bei der Rechtserkenntnis Unklarheit und Mehrdeutigkeit hervor.20 Umgekehrt mag das Gesetz nie eindeutig sein, aber dennoch lässt sich die Rechtslage häufig mit hoher Treffsicherheit ermitteln. Richtig ist wohl, dass zwischen unklarer und klarer Rechtslage kein kategorialer, sondern ein gradueller Unterschied besteht. Die Unklarheit der Rechtslage kann folglich nicht definiert werden, sondern sie muss gemessen werden. Die Schwierigkeit besteht darin, den Maßstab zu finden. Im Schrifttum wird es häufig schlicht als Gegebenheit vorausgesetzt, dass die Rechtslage gelegentlich unklar ist.21 Andernorts werden Ursachen einer unklaren Rechtslage aufgezählt22 – Gesetzesänderungen, Neuartigkeit der Rechtsmaterie, fehlende oder divergierende (höchstrichterliche) Gerichtsentscheidungen, umstrittene Rechtsauffassungen in der Literatur, unbestimmte Rechts18
Haertlein Exekutionsintervention und Haftung, 2008, 390. A.A. Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 3. 20 Verse ZGR 2017, 174 (175). 21 Bürkle VersR 2013, 792; Graewe/Freiherr von Harder BB 2017, 707. 22 Buck-Heeb BB 2013, 2247 (2249). 19
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begriffe, Auslegungsunsicherheiten, Zweifel über die Voraussetzungen der Rechtsfortbildung –, die zwar zutreffen, sich aber nur zum Teil dazu eignen, das Maß der Unklarheit zu bestimmen. Denn auch nach Gesetzesänderungen oder bei einer neuartigen Rechtsmaterie braucht keine rechtliche Unsicherheit zu bestehen, wenn nur die Normen hinreichend deutlich machen, was gelten soll. Auslegungsunsicherheiten und Zweifel darüber, ob das Gesetz lückenhaft ist, sind hingegen eher Beschreibungen als Begründungen der Rechtsanwendungsunsicherheit. Das Fehlen höchstrichterlicher Rechtsprechung kann eine bestehende rechtliche Unsicherheit verstärken, es kann aber auch darauf beruhen, dass die Rechtsfrage hinreichend klar ist (s. die Revisionszulassungsgründe in § 543 Abs. 2 ZPO). Anders ist es hingegen, wenn zur gleichen Rechtsfrage divergierende Gerichtsentscheidungen oder Rechtsauffassungen in der Literatur vorliegen. Die Uneinheitlichkeit des Meinungsbildes weist auf Unklarheit hin und schafft Rechtsanwendungsunsicherheit. Gleichzeitig können die Meinungsunterschiede einen Anknüpfungspunkt für einen Maßstab der Unklarheit bilden. Rechtliche Unsicherheit besteht ferner definitionsgemäß bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Denn die Gruppe der unbestimmten Rechtsbegriffe zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Begriffsbedeutung unklar und konkretisierungsbedürftig ist. Klarheit können bei unbestimmten Rechtsbegriffen erst die Rechtsprechung und die Wissenschaft herstellen, zumeist durch Fallgruppenbildung.23 2. Prozessrisiko Folglich hängt die Bemessung der Klarheit oder Unklarheit der Rechtslage wesentlich vom Stand der Rechtsprechung und des Schrifttums ab. Besondere Bedeutung kommt dabei der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu. Zwar „schafft das Gericht nicht Recht, sondern stellt nur fest, was nach dem Gesetze Recht ist“.24 Aber jeder Rechtsstandpunkt muss sich vor Gericht bewähren, und in der rechtlichen Praxis entscheidet nicht die reine Lehre, sondern am Ende der Prozesserfolg. In den Worten des Reichsgerichts: „Recht ist, was der letzte Richter für Recht erkennt“.25 Maßstab der rechtlichen Unsicherheit ist mithin die Wahrscheinlichkeit, mit einer Rechtsauffassung im Prozess zu unterliegen, weil das zur Entscheidung berufene Gericht zu einer anderen Rechtserkenntnis gelangt, mit anderen Worten: Das Prozessrisiko.26 23 S. dazu Deutsch in FS Sieg, 1976, 127 (137): Bei der Konkretisierung von Generalklauseln wende der Richter das Recht nicht nur an, sondern er setze es. 24 RGZ 94, 271 (276). 25 RGZ 94, 271 (276). 26 Einzelheiten Gräns Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 2002, 15 ff., 62 ff., 95 ff.; Haertlein Exekutionsintervention und Haftung, 2008, 390 ff.
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3. Der Schuldner im Rechtszweifel Mit dem rechtserheblichen Maß an Unklarheit der Rechtslage sind Rechtsprechung und Schrifttum seit Jahrzehnten im Zusammenhang mit der Verzugshaftung des Schuldners befasst, der den Anspruch aus Rechtsgründen bestreitet und die Leistung deshalb verweigert (§§ 280 Abs. 1, 2, 286 Abs. 4, 276 BGB, §§ 285, 276 BGB a. F.).27 Das Dilemma des Schuldners im Rechtszweifel besteht darin, dass er vor der Alternative steht, ob er möglicherweise auf eine Nichtschuld leistet, oder ob er die Verzugsfolgen in Kauf nimmt. Dies entspricht nicht genau der Situation eines Vorstands, der Entscheidungen für das Unternehmen zu treffen hat, das er leitet.28 Gleichwohl bestehen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten, die eine Übertragung von Wertungen bei der Bemessung der Prozessaussichten auf die Entscheidungssituation eines Vorstands nahelegen.29 Die überwiegende Rechtsprechung geht mit dem Schuldner im Rechtszweifel streng um und stellt darauf ab, ob der Schuldner einen Rechtsstandpunkt vertritt, mit dem er nicht ernsthaft mit einem Unterliegen im Rechtsstreit zu rechnen braucht.30 Andere Stimmen, auch solche aus der Rechtsprechung, meinen, bis zur endgültigen gerichtlichen Klärung dürfe ein vertretbarer Rechtsstandpunkt eingenommen werden.31 Einigkeit besteht darüber, dass eine Rechtsauffassung, die im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht, stets vertretbar ist. Im Übrigen werden die Determinanten der Vertretbarkeit des Rechtsstandpunkts unterschiedlich beurteilt. Wahrscheinlichkeitshypothesen über die Rechtslage werden im Schrifttum abgelehnt.32 Stattdessen seien eine gewissenhafte Prüfung und ein 27
Eingehend dazu Haertlein Exekutionsintervention und Haftung, 2008, 405 ff. Haertlein ZHR 168 (2004) 437 (460 f.). 29 Ebenso Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 55. 30 BGH NJW 2007, 428 (430); BGHZ 131, 308 (318); BGHZ 89, 296 (303); BGHZ 36, 344 (346); BGH NJW 1998, 2144 (2145); BGH NJW 1990, 1531 (1533); BGH NJW-RR 1990, 160 (161); BGH NJW 1985, 486 (488); BGH NJW 1983, 2318 (2321); BGH NJW 1974, 1903 (1904); BGH NJW 1972, 1045 (1046); BGH WM 1970, 1513 (1514); BGH NJW 1957, 1759 (1760); BGH NJW 1951, 398; RGZ 118, 288 (292); RGZ 92, 376 (379 f.). 31 BGHZ 62, 29 (34 ff.); BGHZ 27, 264 (273); BGHZ 17, 266 (295); BAG Urt. v. 23. 09. 1999 – 8 AZR 791/98; BAG, Urt. v. 23. 09. 1999 – 8 AZR 792/98; BAG, Urt. v. 27. 05. 1999 – 8 AZR 322/98; Götz Zivilrechtliche Ersatzansprüche bei schädigender Rechtsverfolgung, 1989, 198 ff.; Hopt Schadensersatz aus unberechtigter Verfahrenseinleitung, 1968, 253 ff.; Mayer Der Rechtsirrtum und seine Folgen im bürgerlichen Recht, 1989, 111; Mayer-Maly AcP 170 (1970), 133 (149); Rittner in FS von Hippel, 1967, 391 (416). 32 Rittner in FS von Hippel, 1967, S. 391 (415). Ebenso Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 54. Anders zur Legalitätspflicht des Vorstands Berger Vorstandshaftung und Beratung, 2015, 357 (gleichwertig vertretbar); Hasselbach/Ebbinghaus AG 2014, 873 (879) (überwiegende Wahrscheinlichkeit); Holle AG 2016, 270 (279) (gleichermaßen vertretbar); Verse ZGR 2017, 174 (180 ff.) (annähernd gleiche oder überwiegende Wahrscheinlichkeit). 28
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von vernünftigen und billigen Überlegungen geleitetes Vorgehen zu fordern.33 Es entlaste, wenn anwaltlicher Rechtsrat eingeholt wurde,34 oder wenn in der Angelegenheit ein Gericht35 oder eine Behörde36 die zweifelhafte Rechtsauffassung geteilt hat. 4. Bedeutung des rechtswissenschaftlichen Schrifttums In seiner verdienstvollen Dissertation „Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage“ unternimmt Arden eine Definition des Begriffs „unklare Rechtslage“.37 Arden versteht als Rechtslage den „Sachverhalt[, wie er sich] unter dem Gesichtspunkt des geltenden Rechts, aus Sicht des im Streitfall für die Entscheidung der relevanten Frage zuständigen obersten staatlichen Gerichts darstellt“.38 Die Interpretation des Begriffs Rechtslage aus dem Blickwinkel des zur letzten Entscheidung berufenen Gerichts, also das Abstellen auf das Prozessrisiko, ist im gegebenen Zusammenhang der Bewertung von Vorstandentscheidungen und der auf die Praxis zugeschnittenen Fragestellung angemessen. Die Unklarheit der Rechtslage definiert Arden als Gegebenheit, in der „es an einer jüngeren, höchstrichterlichen Entscheidung oder einer gefestigten h.M. zu der relevanten Rechtsfrage fehlt. Eine gefestigte h.M. nähert sich einer allg. M. an und ihr stehen nur vereinzelte, quantitativ unbedeutende Literaturmeinungen oder untergerichtliche Entscheidungen entgegen“.39 Ein Kritikpunkt an dieser Definition, der hier nur angedeutet sein soll, betrifft das Erfordernis einer „jüngeren“ höchstrichterlichen Entscheidung. Vielmehr soll es hier um die „gefestigte h.M.“ und damit um die Rolle des rechtswissenschaftlichen Schrifttums bei der Schaffung von Rechtsanwendungssicherheit gehen. Erstens geht es um das Verhältnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur herrschenden Meinung im Schrifttum. Wenn eine Rechtsfrage höchstrichterlich entschieden ist, dann ist sie so weit geklärt, dass der Rechtsan33
BGHZ 62, 29 (36 ff.). BGHZ 62, 29 (36 ff.); BGHZ 17, 266 (295). Eingehend und differenziert zum Vertrauen eines Unternehmens auf anwaltlichen Rat Fleischer EuZW 2013, 326 (328 ff.). Ferner BGH NZG 2011, 1271 (ISION). 35 BGHZ 55, 20 (30 f.); Deutsch in FS Sieg, 1976, 127 (137); Mayer Der Rechtsirrtum und seine Folgen im bürgerlichen Recht, 1989, 113 f. (entsprechend dem im Amtshaftungsrecht geltenden Entschuldigungsgrundsatz). 36 BGHZ 62, 29 (36 ff.). Einzelheiten zum Vertrauen auf Behördenauskünfte und entscheidungen Fleischer EuZW 2013, 326 (330 f.). 37 Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 43 ff. 38 Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 55. 39 Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 56. 34
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wender gehalten ist, sein Verhalten an dieser Klärung der Rechtsfrage auszurichten, und zwar auch, wenn sich im Schrifttum eine breite Front gegen die höchstrichterliche Rechtsprechung gebildet hat.40 Denn die Prozessaussichten hängen bei weitem stärker von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ab als vom Schrifttum. Eine Ausnahme für den Fall, dass (die höchstrichterliche Entscheidung länger zurückliegt und) die Rechtsfrage „durch eine gewichtige Meinung im Schrifttum in Frage gestellt“ wurde,41 ist schon deshalb nicht anzuerkennen, weil völlig unklar ist, wann eine Äußerung im Schrifttum überhaupt hinreichend gewichtig ist. Zweitens geht es um die Bedeutung des rechtswissenschaftlichen Schrifttums, wenn eine Rechtsfrage nicht höchstrichterlich entschieden ist. Arden vertritt die Auffassung, die Rechtslage könne in einem solchen Fall als hinreichend klar angesehen werden, wenn „eine gefestigte h.M. besteht. … Unbedeutende Abweichungen im Schrifttum … dürften der Annahme einer gefestigten h.M. nicht entgegenstehen. Auf der anderen Seite dürfte bei abweichenden Meinungen, auch einzelner, sehr gewichtiger Stimmen in der Literatur, nicht von einer gefestigten h.M. auszugehen sein, wenn diese Ansichten fundiert begründet sind“.42 An anderer Stelle definiert Arden die gefestigte h.M. nicht, wie soeben zitiert, qualitativ, sondern quantitativ („Eine[r] gefestigte[n] h.M. …stehen nur vereinzelte, quantitativ unbedeutende Literaturmeinungen … entgegen“).43 Auch diese Rechtsauffassung überzeugt nicht, und zwar weder in der qualitativen noch in der quantitativen Ausprägung. Zum einen vermag das Schrifttum die Rechtssicherheit, die eine höchstrichterliche Entscheidung herstellt, nicht zu ersetzen. Zum anderen sind bei der Bestimmung der gefestigten herrschenden Meinung im Schrifttum nach Gütemerkmalen die Kriterien (unbedeutend, sehr gewichtig, fundiert begründet) reichlich unbestimmt und weitgehend subjektiv. Eine quantitative Festlegung der gefestigten herrschenden Meinung und damit des hinreichenden Maßes an Rechtsklarheit anhand der Zahl der Fachveröffentlichungen ist demgegenüber zwar möglich. Sie wäre aber nicht sachgerecht, weil Zahl und Menge nichts über Substanz und Überzeugungskraft aussagen. 40
Ein Beispiel dafür bildet die Präklusion von Einwendungen aus Gestaltungsrechten bei der Vollstreckungsgegenklage (§ 767 Abs. 2 ZPO), bei der der BGH seit Jahrzehnten auf den Entstehungszeitpunkt des Gestaltungsgrundes abstellt, und das rechtswissenschaftliche Schrifttum seit Jahrzehnten (überzeugend) den Ausübungszeitpunkt für maßgeblich hält, Schmidt/Brinkmann in MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, ZPO § 767 Rn. 80 ff. mwN. 41 Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 54. 42 Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 55. 43 Arden Haftung der Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder bei unklarer Rechtslage, 2018, 56.
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IV. Unklarheit der Unklarheit Wenn der Inhalt der Legalitätspflicht des Vorstands und der Maßstab seiner Haftung bei Rechtsverstößen von der Klarheit oder Unklarheit der Rechtslage beeinflusst werden (Beurteilungsspielraum, Legal Judgement Rule), dann entsteht eine reizvolle Meta-Rechtsfrage. Der Vorstand muss bei seiner Aufgabenerfüllung nicht nur, wie stets, die Rechtslage ermitteln, sondern er muss auch feststellen, ob die Rechtslage klar ist (kein Beurteilungsspielraum) oder unklar (Beurteilungsspielraum). Zutreffend hat BuckHeeb darauf hingewiesen, dass „[s]chon die Feststellung, ob eine unklare Rechtslage vorliegt, … problematisch sein“ kann.44 In solchen Fällen besteht die Unklarheit der Rechtslage folglich in der Unklarheit der Unklarheit der Rechtslage. Es stellt sich dann die Frage, ob der Vorstand bei der Beurteilung seines Beurteilungsspielraums einen Beurteilungsspielraum hat. Um es mit Fontane zu sagen: Es ist ein weites Feld.
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Buck-Heeb BB 2013, 2247 (2249).
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Wechsel vom Stakeholder zum Shareholder? Johannes Hager
Wechsel vom Stakeholder zum Shareholder? JOHANNES HAGER
I. Einleitung Das Meinungsbild ist einigermaßen unklar. So wird erörtert, wenngleich letztendlich verneint, ob und wie sich die Zahlung von Schmiergeldern mit den Aufgaben des Vorstands einer Aktiengesellschaft verträgt.1 Im Wesentlichen geht es bei dieser Frage um die Ausrichtung des Handelns des Vorstandes einer Aktiengesellschaft. Es gibt hier – nach der jeweils reinen Lehre – zwei Ansätze. Einmal lässt sich annehmen, den Interessen der Aktionäre Vorrang vor den Interessen anderer Beteiligter einzuräumen. Dazu ist der Ertragswert des Unternehmens so weit wie möglich zu steigern.2 Es geht um die Maximierung des Unternehmensgewinns, wobei hier schon aus ökonomischer Sicht anzumerken ist, dass diese Wortwahl tunlichst zu vermeiden ist und von Optimierung gesprochen werden sollte. Das Modell biete – so argumentieren seine Verfechter – Kontrollkostenvorteile, da es die diskretionären Handlungsspielräume des Managements verringere.3 Demgegenüber weise das StakeholderManagement keine klare Zielfunktion auf. Es stiegen die Finanzierungskosten, weil es Vermögensumverteilungen zu Lasten der Anteilseigner erlaube. Die Shareholderorientierung hindere das Management daran, eigene Interessen zu verfolgen. Der Ansatz der Stakeholder beschäftigt sich dagegen mit einer Führungstechnik, die verschiedene Gruppen zu integrieren versucht. Sie reichen von den Eigenkapitalgebern über Gläubiger, Management, Kunden, Lieferanten, Öffentlichkeit bis hin zu den Arbeitnehmern.4 Man unterscheidet so in der Gesamtdiskussion bis zu sechs Spielarten – sofortige Gewinnsteigerung, Gewinnsteigerung auf längere Zeit, Vorwegnahme positiver gesell1 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 76 Rn. 46 f.; Spindler in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 76 Rn. 109. 2 Ulmer AcP 202, 155; Kuhner ZGR 2004, 25 ff.; Reiner ZVgiRWiss 2011, 446; Wurzler Der Konzern, 2015, 363. 3 Vedder in Grigoleit AktG, 2013, § 76 Rn. 15; Fleischer in Spindler/Stilz AktG, § 76 Rn. 34. 4 Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 76 Rn. 28; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG, 3 Aufl. 2009, § 76 Rn. 15; Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, § 27 Rn. 24. Für den Aufsichtsrat vgl. BGHZ 169, 98 Rn. 18.
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schaftlicher Entwicklungen, grundlegende Missachtung der Wertsteigerung, Reduzierung des Gewinns, um eine gesellschaftliche Revolte zu vermeiden bis hin zur gänzlichen Missachtung der Interessen der Aktionäre.5
II. Der Meinungsstand 1. Daher ist es schon nicht einfach, den genauen Stand der Auffassungen darzustellen. Eine eher unrühmliche Geschichte hatte ursprünglich das Stakeholder Value – war es doch stark mit nationalsozialistischen Ideen verknüpft.6 § 70 AktG 1937 bestimmte, der Vorstand habe die Gesellschaft unter eigener Verantwortung so zu leiten, „wie das Wohl des Betriebs und seiner Gefolgschaft und der gemeine Nutzen von Volk und Reich es fordern“. Allerdings spricht man in der Historie der damals noch relativ jungen Bundesrepublik – auch ohne dass sich über Jahre der Wortlaut des Gesetzes geändert hatte7 – vom rheinischen Kapitalismus – also einem Kapitalismus mit sozialem Einschlag8 oder auch von der Deutschland AG. Hier war also auch ohne Modifizierung des Wortlauts jedenfalls in der Praxis eine Verschiebung eingetreten. Schwierigkeiten macht aber seit jeher die Definition der Interessen. Die Bezeichnung der betroffenen Gruppen und ihrer Belange bleibt sehr vage.9 2. Beim Shareholder Value geht es zunächst um eine ökonomische Methode, die es sich zum Ziel gesetzt hat, den Wert einer Gesellschaft zu ermitteln und über die Rentabilität von Investitionen zu entscheiden. Eine solche Investition sei nur ins Auge zu fassen, wenn sie einen positiven Kapitalwert erwarten lasse. Der Ansatz ist ein primär wirtschaftswissenschaftlicher,10 beschränkt sich aber – und das ist ein ganz entscheidender Gesichtspunkt – auf deskriptive, nicht normative Aspekte. 3. Damit ist schon angedeutet, dass es keineswegs um strikte Alternativen, sondern mehr um unterschiedliche Akzentsetzungen geht. Nicht von Ungefähr werden die Ziele des Shareholderansatzes und sonstige Unternehmensinteressen undifferenziert nebeneinander genannt.11 Aber vielleicht etwas voreilig spricht man davon, die Diskussion weise Ermüdungserscheinungen12 oder Ernüchterung auf.13 Das ist allerdings so sicher nicht. Man nehme als Beispiel die Übernahme von Unternehmen mit umstrittener Produktpalette. Dass die öffentliche Meinung eine gewichtige Rolle spielt – und zwar eben auch, was den Wert eines Unternehmens angeht –, ist kaum in Abrede zu stellen. Konsequenterweise kann es auch hier nicht um eine dezidierte Bejahung oder Ver5
Vgl. den Überblick bei Fleischer Die AG, 2017, 519. Vgl. die Darstellung in Spindler in MünchKomm AktG, § 76 Rn. 66; Fleischer in Spindler/Stilz AktG, § 76 Rn. 22. 7 Vetter ZGR 2018, 350. 8 Schuster in Schuster Shareholder Value, Management in Banks, 1999, 6. 9 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, § 76 Rn. 34. 10 Rappaport Creating Shareholder Value, 1986. 11 Oltmanns in Heidel AktG, 3. Aufl. 2011, § 76 Rn. 8. 12 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, § 76 Rn. 27. 13 Spindler in MünchKomm AktG, § 76 Rn. 70. 6
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neinung eines der Ansätze gehen, sondern um eine Standortbestimmung, aber auch eine Relativierung puristischer Dogmatik. Wenn hier der Shareholder Value durchaus kritisch betrachtet wird, so rührt das daher, dass seine Verfechter glauben, mit ökonomischen Argumenten die Gegenansicht widerlegen zu können.14 Das ist – wie gezeigt werden soll – aus verschiedenen Gründen wenig überzeugend.
III. Die Kritik am rein ökonomischen Ansatz 1. Der erste Punkt dieser Kritik ist ein grundsätzlicher. Die ökonomische Theorie des Rechts neigt dazu, aus ökonomischen Modellen rechtliche Konsequenzen abzuleiten.15 Das lässt sich an den grundlegenden Arbeiten zeigen. Das Coase-Theorem ist zunächst trivial. Wenn es um die Entscheidung zwischen zwei Verwendungsmöglichkeiten von Produktionsfaktoren geht, so wird man sich für die Alternative entscheiden, die den höheren Grenzertrag abwirft. Der nächste Schritt – mit dem Namen Posner verbunden – soll indes sein, dass die Produktionsfaktoren bereits primär dort alloziert werden sollen, wo sie den höheren Grenzertrag abwerfen. Das Risiko einer Schädigung sei – ohne Kompensation – demjenigen zuzuweisen, der es mit geringerem Aufwand als der Andere vermeiden könne. Das kann eine rein ökonomische Theorie nicht leisten. Genau das geschieht etwa, wenn man das Risiko von 100 dem Schädiger zuweist, wenn er es mit einem Aufwand von 49 vermeiden kann, der Geschädigte aber 51 aufwenden müsste, aber umgekehrt zu Lasten des Geschädigten entscheidet, wenn sein Aufwand bei 49 liegt, während der Schädiger 51 aufwenden müsste.16 Das Pareto-Optimum tastet die Ausgangsverteilung nicht an. Kompensationsmodelle – wie etwa KaldorHicks haben keine klaren und vor allem keine konsensfähigen Regeln. Und ähnlich liegt es hier. Aus der ohnehin nur theoretischen Möglichkeit, einen Unternehmenswert zu bestimmen, zu folgern, dieser Wert sei zu maximieren, ist kein zwingendes Axiom. Niemand bezweifelt, dass Aktiengesellschaften auf Dauer prosperieren sollen;17 aber es ist fraglich, ob Gewinnoptimierung das einzige Ziel sein soll. 2. Eines der Hauptprobleme des Shareholderansatzes in seiner Verabsolutierung ist die Ermittlung der Daten. Man kann in nicht wenigen Fällen einfach nur schätzen. Ob der Zinssatz in Orientierung des Eigenkapitals am Zinssatz erstklassiger langfristiger festverzinslicher Wertpapiere nahezu risikofrei ist,18 ist gerade die Frage – namentlich bei einer Laufzeit von 10 Jahren. Gerade in den letzten 10 Jahren ist dieser Zinssatz signifikant zurückgegangen. Quantifizierbarkeit ist nicht gleichbedeutend mit Tauglichkeit – und diese nimmt um 14
Vgl. Fleischer in Spindler/Stilz AktG, § 76 Rn. 31. Zum Folgenden ausführlich J. Hager Verkehrsschutz durch redlichen Erwerb, 1990, 231 ff. 16 J. Hager in Staudinger BGB, 2017, Vorbem zu §§ 823 ff. Rn. 18. 17 OLG Hamm BeckRS 1995, 31004040; Hüffer/Koch AktG, § 76 Rn. 34; Spindler in MünchKomm AktG, § 76 Rn. 73; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2009, § 76 Rn. 21 f. 18 So Busse von Colbe ZGR 1997, 278. 15
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so stärker ab, je längerfristig die Modelle angelegt sind.19 Auch die Zahl von zehn Jahren ist eher zufällig. Mit der Zunahme der zeitlichen Dauer steigt die Ungewissheit einer Entscheidung. So wird sich oft gerade nicht feststellen lassen, ob eine Maßnahme zum Zeitpunkt ihrer Vornahme geeignet ist, den Gesamtwert des Unternehmens zu steigern, so dass es sehr fraglich ist, ob dem Vorstand präzise Vorgaben gemacht werden können20 – man denke an eine Investition im Ausland. Das mag mit politischen Entwicklungen, aber mit gesundheitlichen Risiken zusammenhängen. Dass die Datenlage unsicher ist, lässt sich mit weiteren Äußerungen belegen. Der Stakeholder-Ansatz erlaube – nach der Shareholder-Value-These – Vermögensumverteilungen zu Lasten der Anteilseigner; damit stiegen die Finanzierungskosten für die Unternehmen.21 Die Ansicht wird nicht untermauert. Effekte wie diejenigen eines besseren Images werden, ja können vielleicht gar nicht ins Kalkül gezogen werden, weil sie nicht quantifizierbar sind. 3. Allerdings sind die Differenzen wohl geringer, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn auch Verfechter des Shareholder-Ansatzes, die es in der Apodiktik kaum geben dürfte, leugnen nicht, dass auch sonstige Belange durchaus von Einfluss sind. Das wäre angesichts der geltenden Rechtslage gar nicht möglich. Natürlich gilt das deutsche Arbeitsrecht – auch und gerade, soweit es um die Mitbestimmung geht. Und natürlich gelten die Gläubigerschutzvorschriften, soweit sich die Gläubiger etwa mit dinglichen Sicherheiten sachenrechtlich gegen den Verlust ihrer schuldrechtlichen Rückzahlungsforderungen abschirmen. Erst das Zusammenspiel dieser Regelungen ergibt ein Gesamtbild. 4. Es kann für ein Unternehmen durchaus sinnvoll sein, über die gesetzlich ohnehin normierten Mindestanforderungen hinauszugehen. Ob sich eine Aktiengesellschaft im sozialen oder kulturellen Feld engagiert, ist zunächst keine Frage nur der Gewinnoptimierung. Jedoch kann es ein sinnvolles Marketinginstrument sein.22 Gewinnstreben und Freigiebigkeit werden nicht stets als sich widersprechende, sondern durchaus als komplementäre Ziele angesehen.23 Daraus folgt im hier interessierenden Zusammenhang zweierlei. Zum einen ist ein rein mathematisches System nicht geeignet, den Effekt einer derartigen Aktion zu erfassen.24 Zum anderen lässt sich die Grenze zwischen einem altruistischen und – langfristig – egoistischen Verhalten kaum ziehen. Das Unternehmen ist auf den Rückhalt bei allen Bezugsgruppen angewiesen. Der Vorstand hat daher in dieser Hinsicht einen weiten Ermessensspielraum.25 Wollte man diesen Ermessensspielraum beschränken, so liefe man Gefahr, Maßnahmen in unangemessener Weise zu erschweren und zu verhindern. Es müssen – vorbehaltlich einschränkender Bestimmungen durch die Hauptversammlung – Rahmenbedingungen vorgegeben sein, innerhalb derer das Vorhaben durchgeführt werden darf und muss.26 19
Kort in GroßKomm AktG, 5. Aufl. 2015, § 76 Rn. 71. Mertens/Cahn in KölnKomm AktG, § 76 Rn. 12. 21 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, § 76 Rn. 3; s. schon oben I. 22 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, § 76 Rn. 45. 23 BGH(St) NJW 2002, 1535, 1536; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG, § 76 Rn. 12. 24 BGH(St) NJW 2002, 1585, 1586. 25 BGH(St) NJW 2002, 1585, 1586; OLG Frankfurt BeckRS 2011, 24234. 26 BGH NJW 1994, 1410, 1412. 20
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5. Ins Gewicht fällt die Kodifikation in gesetzlichen Regelungen. Immerhin sind wichtige Grundsätze in 4.1.1 des Deutschen Corporate Governance Kodex aufgenommen. Dieser Kodex ist in § 161 AktG in die Rechtsordnung derart integriert worden, dass seine Nichtbeachtung einen Grund zur Anfechtbarkeit von Beschlüssen bildet.27 4.1.1 S. 2 des Kodex sieht vor, dass der Vorstand das Unternehmen mit dem Ziel nachhaltiger Wertschöpfung in eigener Verantwortung und im Unternehmensinteresse, also der Belange der Aktionäre, seiner Arbeitnehmer und der sonstigen mit dem Unternehmen verbundenen Gruppen (Stakeholder) leitet. Der erste Hinweis ist zwar selbstverständlich, steht aber nicht allein. Die Bezugnahme auf das Unternehmensinteresse muss – soll sie Sinn machen – mehr bedeuten als die Steigerung des Unternehmenswerts. Auch § 289b HGB, der die CSRRichtlinie umsetzt, bei dem es also um das Corporate Social Responsibility geht, deutet in diese Richtung. Mag daraus auch keine Pflicht zur gemeinverträglichen Steuerplanung abgeleitet werden, so verpflichtet umgekehrt auch kein Shareholder Value dazu, durch eine aggressive Steuerstrategie Ausgabenlasten zu senken.28 6. Eines der Hauptargumente des Shareholderansatzes – wenngleich es selten ausdrücklich erwähnt wird - ist ein primär marktwirtschaftliches. Ein möglichst prosperierendes Unternehmen komme allen zugute und werde in einer Marktwirtschaft zugleich ihrer sozialen Verpflichtung am Ehesten gerecht.29 Ein interessenmonistisches Modell biete beträchtliche Kontrollvorteile, weil es die Messbarkeit des Erfolges erleichtere; das Stakeholder Value werde dagegen zur Rechtfertigungsformel eines nahezu beliebigen Vorstandshandelns.30 Doch lässt das insbesondere die Rolle der Verfassung außer Acht. a) Dass die Grundrechte jedenfalls den Gesetzgeber und den Richter binden, wenn er das Gesetz konkretisiert oder auch fortbildet, ist weitgehend unbestritten. Kritiker, die das bezweifeln, müssen letztendlich die grundlegende Entscheidung des Art. 1 Abs. 3 GG, der genau die direkte Bindung der Legislative und Judikative anordnet, zumindest relativieren oder gänzlich missachten. Dass dies jedenfalls nicht der Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts ist, zeigt eine Fülle von Entscheidungen. Beispiel ist etwa die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, der Ehemann habe kein Recht, von seiner Ehefrau den Namen des leiblichen Vaters des Kindes zu erfahren.31 b) Art. 14 Abs. 1 GG garantiert das Eigentum. Die oft verbreitete Formel, das Eigentum sei so geschützt, wie es die Gesetze und die gesellschaftlichen Anschauungen geformt hätten,32 ist zwar so als verfassungsrechtliche Garantie kaum haltbar – gäbe es doch sonst keine Gesetze, die gegen Art. 14 27
BGH NJW 2009, 2207, 2209 Rn. 19; NZG 2009, 1270, 1272 Rn. 16. Hüffer/Koch AktG, § 76 Rn. 35c. 29 Busse von Colbe ZGR 1997, 272; Mülbert ZGR 1997, 141, 156; vgl. auch die Nachw. bei Schilling BB 1997, 374 Fn. 30; in abgemilderter Form Weber in Hölters AktG, 3. Aufl. 2017, § 76 Rn. 22. 30 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, § 76 Rn. 34. 31 BVerfGE 138, 377, 395 Rn. 48. 32 BVerfGE 65, 196, 209. 28
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GG verstoßen könnten, und keine Möglichkeit, den Eigentumsinhalt durch einfaches Gesetz zu modifizieren.33 c) Die Eigentumsgarantie, der Regelungsauftrag des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG und die Sozialpflichtigkeit stehen in einem unlösbaren Zusammenhang. Der Gesetzgeber hat die schutzwürdigen Interessen aller Beteiligten in einen gerechten Ausgleich und in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.34 Art. 14 Abs. 2 GG als Maßstab und Richtschnur des Normierungsgebots des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG zeigt die grundlegende Entscheidung des Verfassungsgebers. Er hat der Vorstellung, die grenzenlose Zuweisung des Eigentums diene als solche und automatisch dem Wohl der Allgemeinheit, eine Absage erteilt. Dagegen spricht nicht der Gedanke, Art. 14 Abs. 2 GG sei nur an den Gesetzgeber adressiert.35 Auch der Eigentümer ist von Verfassungs wegen nicht nur verpflichtet, bestimmte Handlungen zu unterlassen, die gesetzeswidrig sind, sondern er ist auch positiv dazu verpflichtet, den Gebrauch seines Eigentums so einzurichten, dass das Wohl der Allgemeinheit dadurch gefördert wird.36 Mit der Normierung der Sozialbindung wird deutlich, dass das Eigentum schon seiner Idee nach keine absolute Verfügungsgewalt gewährt.37 d) Ausgangspunkt des Eigentumsschutzes ist die Kennzeichnung durch Privatnützigkeit und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Eigentümers.38 Es dient der Sicherung der persönlichen Freiheit des Einzelnen; hier sind der Inhaltsbestimmung durch den Gesetzgeber enge Grenzen gezogen.39 Die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung ist umso weiter, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion steht.40 Aktiengesellschaften sind von dieser Sozialbindung nicht entbunden, wobei es dabei im Einzelnen durchaus Unterschiede geben kann. Man kann das gerade am Mietrecht demonstrieren. Aktiengesellschaften sind nicht als solche vom sozialen Mietrecht ausgenommen, weil sie in die Lage versetzt werden sollen, ihren Gewinn zu optimieren. Auch der Satz, die Eigentumsprägung könne nur durch Gesetz erfolgen,41 steht dem nicht entgegen, wie wiederum das soziale Mietrecht zeigt. Seine Konturen sind durch viele Entscheidungen gezeichnet, die das Gesetz interpretieren. Das berechtigte Interesse nach § 573 BGB des Eigentümers bestimmt sich mit Hilfe von Art. 14 GG,42 umgekehrt schützt die Norm aber auch die Interessen des Mie33 Papier/Shirvani in Maunz/Dürig GG-Komm, Stand April 2018, Art. 14 Rn. 422; Hager Verkehrsschutz, 13 ff. 34 BVerfG NJW 1994, 308, 309; 1995, 511, 512; 2006, 1191, 1193 f. Rn. 42. 35 Hüffer/Koch AktG, § 76 Rn. 32. 36 Wieland in Dreier GG-Komm, 3. Aufl. 2013, Art. 14 Rn. 10 unter Berufung auf Kimminich in Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 2. Auf. 1992, Art. 14 Rn. 152 f. 37 Wieland in Dreier GG-Komm, Art. 14 Rn. 107 unter Berufung auf R. v. Ihering Der Zweck im Recht, 3. Aufl. 1893, 523. 38 BVerfGE 50, 290, 339; 52, 1, 30; 98, 17, 35; 101, 54, 74 f. 39 BVerfGE 50, 290, 340; 53, 257, 292; 104, 1, 8 f. 40 BVerfGE 37, 132, 140; 42, 263, 294; 50, 290, 340. 41 Wieland in Dreier GG-Komm, Art. 14 Rn. 103. 42 BVerfGE 79, 292, 302 ff.
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ters.43 Es ist aber auch die konkrete Auslegung anhand der Verfassung zu überprüfen,44 wobei sich die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung eigentumsbeschränkender Vorschriften im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG innerhalb der Grenzen zu halten haben, die dem Gesetzgeber durch Art. 14 Abs. 1 und 2 GG bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Eigentümerbefugnisse gezogen sind.45 e) Dem versuchen die Anhänger des Shareholder-Value-Ansatzes mit der Überlegung zu begegnen, den Belangen der Stakeholder werde auf andere Weise Rechnung getragen: durch arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen, Kapitalaufbringungs- und Erhaltungsregeln, Verbraucherschutzgesetze und Umweltschutzvorschriften;46 diese seien abschließend.47 Das ist ein zunächst schon merkwürdiges Argument – geht es doch von der Prämisse aus, es gebe eine abschließende Kodifikation. Das widerspricht aller Erfahrung. Die Überlegung ist auch inhaltlich wenig überzeugend. Sie muss davon ausgehen, dass § 76 AktG einer verfassungsorientierten Auslegung verschlossen bleibt und damit letztendlich wieder Art. 1 Abs. 3 GG ignorieren. Wenn – wie Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG es formuliert – der Gebrauch des Eigentums zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll, so gibt es keinen Grund, § 76 AktG nicht in seinem Licht zu interpretieren. f) Es kommt noch ein Weiteres hinzu. Betroffen können auch andere Grundrechte sein. So könnte ein Verbot von Parteispenden mit Art. 5 Abs. 1, 19 Abs. 3 GG kollidieren.48 Dasselbe kann man sich vorstellen, wenn es um die Förderung von Stiftungen o. ä. geht. Dann bedarf es einer Abwägung zwischen verschiedenen Grundrechten. Es zeigt zum einen erneut, dass die einfachrechtlichen Regelungen nicht abschließend sind. Zum anderen kann es bei einer Abwägungsregelung nicht von vornherein das Überwiegen eines Belangs – nämlich das Eigentumsrecht des Aktionärs – geben; es geht wie immer um die praktische Konkordanz. Die Beispiele lassen sich – fast beliebig – vermehren. Es muss einem Unternehmen möglich sein, öffentliche Bildungseinrichtungen zu unterstützen – etwa weil es sich durch die Förderung durch Drittmittel einen positiven Effekt auf die eigene wirtschaftliche Tätigkeit erhofft. Dies zu garantieren oder gar den Effekt zu quantifizieren, vermag ex ante niemand. Und doch muss es dem Vorstand möglich sein, öffentliche Forschungseinrichtungen zu fördern oder auch unhaltbar gewordene hygienische Bedingungen an Schulen verbessern zu helfen.
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BVerfGE 68, 321, 370. BVerfGE 68, 361, 372. 45 BVerfGE 68, 361, 372. 46 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, § 76 Rn. 33; Vedder in Grigoleit AktG, § 76 Rn. 16. 47 Vedder in Grigoleit AktG, § 76 Rn. 16. 48 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, § 76 Rn. 51. 44
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IV. Zusammenfassung 1. Die beiden Modelle stehen sich näher, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. 2. Ein rein deskriptives – mit vielen rechnerischen Unwägbarkeiten belastetes – ökonomisches Modell ist keine normative Richtschnur. 3. Nicht zuletzt Art. 14 Abs. 2 GG, aber auch sonstige Grundrechte bilden ein Gegengewicht gegen einen rein ökonomisch ausgerichteten Ansatz.
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Internationale Anwaltskonzerne – berechtigte und überholte Hürden im nationalen Recht MARTIN HENSSLER
I. Einführung – das Konzernrecht internationaler Anwaltsgesellschaften Mit Christine Windbichler, der dieser Beitrag anlässlich ihres 70. Geburtstages in höchstem Respekt für ihr breites und international sichtbares wissenschaftliches Oeuvre gewidmet ist, verbindet den Verfasser nicht nur die heute selten gewordene doppelte Neigung sowohl zum Arbeits- als auch zum Gesellschaftsrecht, sondern darüber hinaus ein Faible für eine besonders reizvolle Schnittstelle zwischen diesen beiden Rechtsgebieten. Gemeint ist das Konzernarbeitsrecht, mit dem wir uns beide in unseren akademischen Jugendjahren befasst haben. Da sich auf diesem Rechtsgebiet in jüngerer Zeit allerdings wenig bewegt hat und die Grundfragen geklärt sind, hofft der Verfasser, mit einem anderen Schnittstellenthema des Konzernrechts, nämlich dem Recht der internationalen Anwaltskonzerne, das Interesse der Jubilarin zu finden. Anlass hierzu ist die Verbindung mit Fragen des internationalen Rechts und der Rechtsvergleichung, zwei weiteren bevorzugten Forschungsfeldern der Jubilarin. Die Internationalisierung der Anwaltschaft ist kein neues Phänomen, vielmehr bemühen sich insbesondere die großen law firms des angelsächsischen Rechtskreises seit vielen Jahrzehnten darum, ein weltweites Netzwerk aufzubauen, um in allen Jurisdiktionen der Welt Beratungsleistungen anbieten zu können. Die Wege, die insoweit eingeschlagen werden, sind vielfältig und durch einen unterschiedlich engen Integrationsgrad ausgezeichnet. Neben bloßen „best friends“ Modellen finden sich Netzwerke von regional selbstständigen Gesellschaften, die häufig über einen Verein nach Schweizer Recht verknüpft sind, und auf diese Weise ihre Gewinne grenzüberschreitend vergemeinschaften können. Eine noch stärkere Bindung kann über sog. „valve partner“ erreicht werden, die teilweise überkreuz an den jeweiligen Regionalgesellschaften beteiligt sind, so kann etwa ein Senior Partner einer den Verbund faktisch führenden US-Gesellschaft gleichzeitig an der deutschen Regionalgesellschaft beteiligt sein und umgekehrt der Managing Partner der deutschen Gesellschaft an der US-amerikanischen Law Firm. Die intensivste Verbindung besteht bei der bloßen Gründung von Zweig-
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niederlassungen durch die angelsächsische Zentralgesellschaft in den regionalen Beratungsmärkten. Die etwa in der deutschen Zweigniederlassung einer US-Law Firm tätigen Rechtsanwälte verfügen hier über eine relativ geringe Eigenständigkeit. Selbst wenn sie Gesellschafter sein sollten, richtet sich ihre Rechtsstellung nach dem jeweiligen ausländischen Gesellschaftsrecht, bei einer US-LLP etwa nach dem Recht des US Bundesstaates, das sich vom deutschen Recht, etwa bei den Möglichkeiten einer Hinauskündigung durch die Gesellschaft oder dem Ausschluss von Abfindungsansprüchen deutlich unterscheidet. Die aus gesellschaftsrechtlicher Sicht naheliegende Bildung eines internationalen Anwaltskonzerns mit regionalen Tochtergesellschaften einer in den USA oder UK ansässigen Holding ist dagegen ein Weg, der zwar intern diskutiert, bislang allerdings nur verdeckt gewählt wird. Dabei hätte die Gründung von regionalen Tochtergesellschaften durch eine ausländische Holding gerade für Anwaltsgesellschaften klare Vorteile. Könnten sie auf dem jeweiligen Rechtsberatungsmarkt in einer nationalen Rechtsform auftreten, so würde nicht nur den Mandanten ein vertrauter Ansprechpartner präsentiert, auch die Postulationsfähigkeit vor den Gerichten und Behörden wäre sichergestellt.
II. Der gesellschaftsrechtliche Status ausländischer Rechtsanwaltsgesellschaften in Deutschland 1. Der Regelungsverzicht des Gesetzgebers Das deutsche Anwaltsrecht enthält nur eine sehr rudimentäre Regelung der Anforderungen an Rechtsanwaltsgesellschaften. Ihr liegt die für das deutsche Gesellschaftsrecht typische Trennung zwischen Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften zugrunde. Ausführlich geregelt ist in §§ 59c ff. BRAO lediglich die Rechtsanwalts-GmbH, die als Kapitalgesellschaft der englischen Ltd. ähnelt. Die auf die Angehörigen der Freien Berufe zugeschnittene Partnerschaftsgesellschaft mit ihrer Variante der Partnerschaft mit beschränkter Berufshaftung (PartG mbB) steht deutschen Rechtsanwälten zwar ebenfalls offen. Für sie gibt es jedoch im Kern nur eine gesellschaftsrechtliche Regelung im PartGG, das anwaltliche Berufsrecht erwähnt sie in § 51a BRAO lediglich im Kontext der versicherungsrechtlichen Anforderungen. Im Übrigen findet sich in der BRAO lediglich die Generalnorm des § 59a BRAO, die sich mit allgemeinen Anforderungen an den Gesellschafterkreis von Anwaltsgesellschaften begnügt.1 Völlig ungeregelt sind im deutschen Recht die Anforderungen an ausländische Rechtsanwaltsgesellschaften. Zwar gibt es ein eigenständiges Berufsge1
Ausführlich zu den Defiziten des geltenden Rechts Henssler AnwBl 2017, 378 ff.
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setz für europäische Rechtsanwälte (EuRAG), die sich auf die europäische Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit berufen können. Das EuRAG regelt aber lediglich die Rechte und Pflichten des (europäischen) Einzelanwalts. Für Rechtsanwälte aus Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation, die nicht der EU angehören, findet sich eine ergänzende knappe Regelung in § 206 Abs. 1 BRAO. Sie beschränkt die Befugnisse solcher Berufsträger im Falle einer Niederlassung in Deutschland auf die Beratung und Vertretung im Recht ihres Heimatstaates und im Völkerrecht, gewährt ihnen dagegen keine Rechtsberatungsbefugnisse im deutschen Recht. Ausländische Anwaltsgesellschaften werden in dieser Vorschrift ebenfalls nicht gesondert erwähnt. 2. Der gesellschaftsrechtliche Status ausländischer Anwaltsgesellschaften in Deutschland Auch wenn es somit im deutschen Berufsrecht keine ausdrücklichen Regelungen für ausländische Rechtsanwaltsgesellschaften gibt, so ist der für sie geltende Rechtsrahmen doch teilweise mittelbar durch europarechtliche Vorgaben und entsprechend anwendbare Vorschriften zu nationalen Gesellschaften abgesteckt. Das Europäische Primärrecht garantiert für Anwaltsgesellschaften aus Mitgliedstaaten der EU und des EWR in weitem Umfang die Möglichkeit zur grenzüberschreitenden Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat. Die jüngere Rechtsprechung des EuGH2 zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften gemäß Art. 49 iVm Art. 54 AEUV zwingt alle Mitgliedstaaten, Unternehmen, die in anderen Mitgliedstaaten der EU wirksam gegründet worden sind, als Gesellschaften ausländischen Rechts in der jeweiligen Rechtsform anzuerkennen. Auf EU-Gesellschaften ist die Gründungstheorie anzuwenden, d.h. ihr international-privatrechtliches Gesellschaftsstatut richtet sich nach demjenigen des Gründungsstaats. Die Nutzung ausländischer Organisationsformen kann auf zwei verschiedene Arten erfolgen, die der EuGH als von der Niederlassungsfreiheit erfasste Zuzugsfälle anerkannt hat: Einerseits ist es möglich, eine Gesellschaft mit Satzungssitz im Ausland zu gründen, dort registrieren zu lassen und sodann den Verwaltungssitz – also den Ort der tatsächlichen Willensbildung, an dem die Geschäftsleitung die zur Führung der Gesellschaft entscheidenden Leitlinien trifft (real seat) – in denjenigen Mitgliedstaat zu verlegen, in dem die freiberufliche Tätigkeit ausgeübt werden soll. Andererseits bestand für jede mit Satzungssitz im Ausland gegründete und dort eingetragene Gesellschaft seit jeher3 die Möglichkeit, in jedem Mitgliedstaat der EU Zweigniederlas2 Vgl. die Entscheidungen in den Rechtssachen Centros (EuGH, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459), Überseering (EuGH, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919) und Inspire Art (EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10.155). 3 Zu solchen unproblematischen Sachverhalten s. EuGH, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I1459 (Centros) und EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10.155 (Inspire Art).
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sungen zu errichten und so im Aufnahmestaat in der ausländischen Rechtsform des Heimatlandes tätig zu werden. Die letztgenannte Möglichkeit der Gründung einer deutschen Zweigniederlassung steht jeder ausländischen Gesellschaft unabhängig von der Geltung der europäischen Grundfreiheiten zu. Eine in England oder in den USA gegründete Rechtsanwalts-LLP, welche in Deutschland eine Zweigniederlassung unterhält, nimmt somit ihre gesellschaftsrechtliche Haftungsverfassung mit. Solange eine UK-LLP in Deutschland lediglich eine Zweigniederlassung unterhält, ändert sich hieran auch nach einem absehbaren harten Brexit nichts. Der dann anstehende IPR-rechtliche Wechsel von der Gründungstheorie (incorporation doctrine) zur Sitztheorie (real seat doctrine) wirkt sich nur bei Gesellschaften aus, die in Deutschland ihren Verwaltungssitz unterhalten. Verlegt eine ausländische Gesellschaft sogar ihren Verwaltungssitz nach Deutschland, so folgt die Geltung der Gründungstheorie für eine UK-LLP bislang noch aus der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 iVm Art. 54 AEUV),4 für eine US-amerikanische LLP oder LLC aus Art. XXV Abs. 5 S. 2 des deutsch-amerikanischen Freundschafts-, Handelsund Schifffahrtsvertrags vom 29.10.1954.5 Eine UK-LLP wird dieses Privileg künftig nicht mehr in Anspruch nehmen können. III. Das auf Auslandsgesellschaften anwendbare Berufsrecht Auch wenn angelsächsische Law Firms bei einer Tätigkeit in Deutschland somit grundsätzlich ihr ausländisches Gesellschaftsstatut behalten, sind sie doch bei der Erbringung von Rechtsdienstleistungen in Deutschland dem hiesigen Berufsrecht unterworfen. Eine Regel, die der geschilderten im internationalen Gesellschaftsrecht geltenden Gründungstheorie vergleichbar wäre, gibt es im internationalen anwaltlichen Berufsrecht nicht. Vielmehr muss eine ausländische Anwaltsgesellschaft grundsätzlich das zwingende Berufsrecht des Tätigkeitsorts beachten, und zwar auch dann, wenn dieses an den Gesellschafterkreis einer Berufsausübungsgesellschaft zusätzliche Anforderungen stellt und damit gesellschaftsrechtliche Fragen behandelt. Welche Anforderungen das nationale Berufsrecht im Einklang mit europäischen Vorgaben an Auslandsgesellschaften stellen darf, ist nicht abschließend geklärt. Im deutschen Berufsrecht wird über die Anwendbarkeit nationaler Vorgaben auf Gesellschaften ausländischer Rechtsform insbesondere im Zusammenhang mit der Wahl der englischen LLP als Gesellschaftsform für deutsche Kanzleien intensiv diskutiert. Anlass ist die Zulassung von Anwaltsgesellschaften im Fremdbesitz (sog. „Alternative Business Structures“ – ABS) in England und Wales und die befürchtete „Invasion“ 4 5
BGHZ 154, 185, 188 ff. = NJW 2003, 1461. BGHZ 153, 353, 355 ff. = NJW 2003, 1607.
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des deutschen Marktes durch solche Einheiten. Verbreitet ist im deutschen Schrifttum die auch vom Verfasser vertretene Auffassung, dass einer ausländischen Gesellschaft, die im Inland über eine Zweigniederlassung Rechtsdienstleistungen erbringt, die Einhaltung der deutschen Strukturvorgaben zumindest dann abverlangt werden kann, wenn das ggf. anwendbare ausländische Berufsrecht nicht dem inländischen Regelungsanliegen durch vergleichbare Regelungen ausreichend Rechnung trägt.6 Art. 11 Nr. 1, 5 der europäischen Niederlassungsrichtlinie für Rechtsanwälte lässt entsprechende Niederlassungsbeschränkungen durch den Aufnahmestaat ausdrücklich zu, soweit sie im allgemeinen Interesse zum Schutz der Mandanten und Dritter gerechtfertigt sind. Diese Voraussetzungen sind bei Anforderungen an den Gesellschafterkreis, die der Sicherung der anwaltlichen Unabhängigkeit dienen, grundsätzlich erfüllt.
IV. Nationale Anforderungen an den Gesellschafterkreis Die Zulässigkeit einer Konzernverbindung von in Deutschland aktiven Anwaltsgesellschaften richtet sich somit nach den Anforderungen, die das nationale Berufsrecht an den Gesellschafterkreis einer Anwaltsgesellschaft stellt. Zwei tragende Grundsätze des deutschen Berufsrechts der Anwaltsgesellschaften schränken die Gestaltungsmöglichkeiten insoweit ein: (1) das umfassende Verbot der Beteiligung von Kapitalgesellschaften an Anwaltsgesellschaften (dazu 1.) (2) das Gebot der aktiven Mitarbeit der Gesellschafter einer anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaft (dazu 2.). 1. Die berufsrechtliche Differenzierung zwischen Personenund Kapitalgesellschaften a) Die Regelung in § 59a Abs. 1 BRAO Befasst man sich zunächst mit den Anforderungen an den Gesellschafterkreis einer deutschen Anwaltsgesellschaft, so dürfen nach der Generalnorm des § 59a BRAO Rechtsanwälte sich „mit Mitgliedern einer Rechtsanwaltskammer und der Patentanwaltskammer, mit Steuerberatern, Steuerbevoll6 Henssler in Henssler/Prütting BRAO, 5. Aufl. 2019, Anh. §§ 59c ff. BRAO Rn. 13 ff.; ders. in FS Busse, 2005, 127, 144 ff.; ders. NJW 2009, 950, 952 ff.; Henssler/Mansel NJW 2007, 1393, 1398; Kilian in Henssler/Streck Handbuch Sozietätsrecht, 2. Aufl. 2011, G. Rn. 24 ff.; ders. in Kilian/Koch Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2018, B Rn. 1234 ff.; v. d. Linden Die Zulassung von kapitalistisch strukturierten Anwaltsgesellschaften des europäischen Auslands am deutschen Rechtsberatungsmarkt, 2008, 220 ff.; ähnlich auch BRAK-Ausschüsse „Internationale Sozietäten“ und „Gesellschaftsrecht“, BRAK-Mitt. 2008, 17, 18 f.
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mächtigten, Wirtschaftsprüfern und vereidigten Buchprüfern zur gemeinschaftlichen Berufsausübung im Rahmen der eigenen beruflichen Befugnisse verbinden.“ Ergänzend bestimmt § 59c Abs. 2 BRAO: „Die Beteiligung von Rechtsanwaltsgesellschaften an Zusammenschlüssen zur gemeinschaftlichen Berufsausübung ist unzulässig.“ Mit Rechtsanwaltsgesellschaften sind dabei ausschließlich die einem besonderen Zulassungsverfahren unterworfenen Gesellschaften, also anwaltliche Kapitalgesellschaften, gemeint. § 59a Abs. 1 BRAO und seine Vorgängerregelung wurde lange Zeit ganz herrschend7 und wird von Teilen des Schrifttums bis heute8 unter Berufung auf den Wortlaut, nach dem sich „Rechtsanwälte“ zur gemeinsamen Berufsausübung in einer Sozietät verbinden können, dahingehend interpretiert, dass sich nur natürliche Personen zur beruflichen Zusammenarbeit in einer Sozietät oder Bürogemeinschaft verbinden können. Der BGH hat allerdings zu Recht die Auffassung vertreten, aus § 59a BRAO gehe bei Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen „nicht hervor, dass sich der Rechtsanwalt zur gemeinschaftlichen Berufsausübung nur mit Einzelpersonen, nicht dagegen mit einer Gesellschaft verbinden darf, …“.9 Dass Steuerberatungs- oder Wirtschaftsprüfungsgesellschaften im Wortlaut nicht explizit genannt werden, störte den BGH insoweit nicht. Das Verbot des § 59c Abs. 2 BRAO betreffe nur Kapitalgesellschaften und diene insoweit ausweislich der amtlichen Begründung dazu, „mehrstöckige Gesellschaften und die damit verbundenen Gefahren von Abhängigkeiten und Einflussnahmen zu vermeiden“.10 Soweit der BGH in der genannten Entscheidung den Zusammenschluss gleichwohl missbilligte, weil die Rechtsanwältin gleichzeitig Gesellschafterin der Personengesellschaft war, mit der sie einen Zusammenschluss eingehen wollte, ist diese Einschränkung heute überholt. Das sog. Verbot der Sternsozietät, das einer Beteiligung an zwei Gesellschaften entgegenstand, ist inzwischen aufgehoben worden.11 Im Schrifttum12 wird – soweit es sich mit dieser Frage überhaupt befasst13 – aus dieser Entscheidung zu Recht gefolgert, dass generell kein Grund be7 Vgl. etwa Gail/Overlack Anwaltsgesellschaften, 2. Aufl. 1996, Rn. 33; ohne klare Aussage, aber ebenfalls nur von natürlichen Personen ausgehend v. Wedel in Hartung/Scharmer BORA/FAO, 6. Aufl. 2016, § 59a BRAO, Rn. 8, 9; Hartung in Henssler/Prütting BRAO, 4. Aufl. 2014, § 59a Rn. 23; anders jetzt Henssler in Henssler/Prütting BRAO, 5. Aufl. 2019, § 59a Rn. 41 f. 8 So etwa Römermann in BeckOK BRAO, 5. Edition (Stand: 1.5.2019), § 59a Rn. 11. 9 BGH NJW 2003, 3548, 3549. 10 BGH NJW 2003, 3548, 3549 unter Berufung auf BT-Drucks. 13/9820, 13. 11 Art. 4 Nr. 3 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts vom 12.12.2007, BGBl. I, 2840; vgl. dazu BT-Drucks 16/3655, 82 f.; Henssler/Deckenbrock DB 2008, 41, 46 f. 12 Brüggemann in Weyland BRAO, 10. Aufl. 2020, § 59a Rn. 60 f.; Henssler in Henssler/Prütting BRAO, 5. Aufl. 2019, § 59a Rn. 41 f. 13 In den meisten Kommentierungen zu § 59a BRAO fehlt eine Stellungnahme, vgl. etwa v. Wedel in Hartung/Scharmer BORA/FAO, 6. Aufl. 2016, § 59a BRAO Rn. 8, 9.
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stehe, das für Gesellschaften mit beschränkter Haftung geltende Zusammenschlussverbot des § 59c Abs. 2 BRAO auf Sozietäten zwischen Einzelanwälten und personal geprägten Berufsausübungsgesellschaften zu erstrecken. Die bei der Beteiligung einer GmbH bestehenden Probleme könnten bei Personengesellschaften, zu denen auch die deutsche Partnerschaft zu rechnen sei, nicht auftreten. In der Tat stehen Sinn und Zweck des § 59a BRAO einer solchen „Verbindung“ nicht entgegen. Die Vorschrift will im Interesse des rechtsuchenden Publikums gewährleisten, dass der Rechtsanwalt nur mit Angehörigen der im Gesetz genannten rechtsberatenden, steuerberatenden und wirtschaftsprüfenden Berufe zusammenarbeitet, die in gleicher Weise wie der Rechtsanwalt zur Verschwiegenheit verpflichtet sind. Die Mitgesellschafter sollen zudem – wie der Rechtsanwalt – der Aufsicht durch eine Berufskammer unterliegen.14 Diesem Regelungsanliegen läuft es nicht zuwider, wenn ein Rechtsanwalt eine Sozietät etwa mit einer als Steuerberatungsgesellschaft zugelassenen Partnerschaftsgesellschaft eingeht, deren Partner sämtlich zu den in § 59a Abs. 1 BRAO aufgezählten Berufsträgern gehören.15 Nichts anderes kann dann aber für eine Sozietät zwischen einem Einzelanwalt und einer Rechtsanwalts-Partnerschaft gelten, da an dieser ohnehin nur sozietätsfähige Personen iSd § 59a BRAO beteiligt sein können. Deutsche Rechts- und Patentanwälte können sich unproblematisch mit ausländischen Angehörigen von Rechtsanwaltsberufen in einer Berufsausübungsgesellschaft zusammenschließen (§ 59a Abs. 2 Nr. 1 BRAO). Sozietätsfähig sind Rechtsanwälte aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder anderen Staaten, die nach den Vorschriften des Gesetzes über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland (EuRAG)16 oder gemäß § 206 BRAO berechtigt sind, sich in Deutschland niederzulassen. Die angeführten Gründe gelten somit auch für die in § 59a Abs. 2 BRAO genannten ausländischen Berufsangehörigen, so dass auch ausländische Rechtsanwälte iSd EuRAG und des § 206 BRAO Gesellschafter einer Personengesellschaft iSd § 59a BRAO sein dürfen. Folgerichtig müssen sich dann aber auch ausländische Anwaltsgesellschaften in der Rechtsform von Personengesellschaften an einer deutschen Anwaltssozietät beteiligen dürfen. Für eine ausländische, der deutschen Gesellschaft bürgerlichen Rechts als Personengesellschaft vergleichbare Anwaltsgesellschaft, die sich auf der Grundlage der europäischen Grundfreiheiten in Deutschland betätigt und hierzulande eine Zweigniederlassung unterhält, kann schon wegen des europäischen Diskriminierungsverbots nichts Anderes gelten. Wendet man somit § 59a BRAO auf eine ausländische Anwaltsgesellschaft an, so ist die 14
Vgl. dazu BT-Drucks. 12/4993, 34. Dazu BGH NJW 2003, 3548, 3589. 16 BGBl. 2000 I, 182. 15
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Beteiligung einer anderen Rechtsanwaltsgesellschaft an ihr zulässig, sofern beide Gesellschaften als Personengesellschaften qualifiziert werden können. b) Der Gesellschafterkreis einer deutschen Partnerschaftsgesellschaft Für anwaltliche Berufsausübungsgesellschaften in der Rechtsform der Partnerschaftsgesellschaft enthält das PartGG gegenüber der Sozietät strengere Vorgaben. Gemäß § 1 Abs. 1 S. 3 PartGG („Angehörige einer Partnerschaft können nur natürliche Personen sein“) können sich an einer solchen Gesellschaft nur natürliche Personen beteiligen. Nach der amtlichen Begründung soll dies „am ehesten dem Leitbild der auf ein persönliches Vertrauensverhältnis zum Auftraggeber ausgerichteten freiberuflichen Berufsausübung“ entsprechen.17 Nicht nur juristische Personen,18 sondern auch Personengesellschaften sollen weder im Gründungsstadium noch durch späteren Beitritt die Mitgliedschaft in einer Partnerschaft erlangen können.19 Da die Kapitalgesellschaft auch für die freiberufliche Berufsausübung als legitime und anderen Gesellschaftsformen gleichwertige Rechtsform anerkannt ist,20 wird zwar im Schrifttum de lege ferenda gefordert, den Zusammenschluss freiberuflicher juristischer Personen mit anderen Freiberuflern in einer Partnerschaft unter dem Vorbehalt einer abweichenden berufsrechtlichen Regelung zuzulassen.21 Nach geltendem Recht führt aber angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 1 Abs. 1 S. 3 PartGG kein Weg an dem Verbot der Beteiligung selbst von Personengesellschaften vorbei. Entscheidend ist, dass diese Vorgabe nicht im allgemein anwendbaren anwaltlichen Berufsrecht, sondern nur im Gesellschaftsrecht und dort ausschließlich für den Sonderfall der PartG verankert ist. Weder auf andere nationale Gesellschaften noch auf ausländische Anwaltsgesellschaften kann diese Vorgabe damit übertragen werden. Das gilt etwa für eine englische LLP, die jedenfalls bei der Unterhaltung einer bloßen Zweigniederlassung gemäß den geschilderten IPR-rechtlichen Grundsätzen ihr englisches Gesellschaftsstatut beibehält. Nicht das deutsche Gesellschaftsrecht einer – wenn auch ähnlichen – Rechtsform, sondern nur das deutsche anwaltliche 17
BT-Drucks. 12/6152, 9. Unzulässig soll insbesondere eine „GmbH & Partner“ sein, vgl. Römermann NJW 2013, 2305, 2306 f.; Zimmermann in Römermann PartGG, 5. Aufl. 2017, § 1 Rn. 40. 19 Kritisch dazu Zimmermann in Römermann PartGG, 5. Aufl. 2017, § 1 Rn. 41 ff.; Beck AnwBl 2015, 382 f. 20 BGHZ 124, 224 = NJW 1994, 786 – Anerkennung der Freiberufler GmbH; BayObLG NJW 1995, 199. 21 Zimmermann in Römermann PartGG, 5. Aufl. 2017, § 1 Rn. 41 ff.; Lenz in Meilicke/Graf v. Westphalen/Hoffmann/Lenz/Wolff PartGG, 3. Aufl. 2015, § 1 Rn. 105; Burret WPK-Mitt. 1994, 201, 204; Stuber WiB 1994, 705, 706; K. Schmidt ZIP 1993, 633, 639. Gores Die Partnerschaftsgesellschaft als Rechtsform der Zusammenarbeit von Rechtsanwälten, 1996, 76 f. plädiert für eine ersatzlose Streichung des § 1 Abs. 1 S. 3 PartGG. 18
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Berufsrecht könnte insoweit eine Einschränkung der Gesellschafterstellung anordnen. Zwar könnte auf den ersten Blick argumentiert werden, dass § 1 Abs. 1 S. 3 PartGG quasi eine alle Freien Berufe treffende Regelung und damit ungeachtet seines systematischen Standorts im PartGG als berufsrechtliche Bestimmung zu qualifizieren sei. Eine entsprechende Argumentation scheitert im Ergebnis aber daran, dass für die Mehrzahl der Freien Berufe gerade keine Beschränkung des Gesellschafterkreises auf natürliche Personen existiert. Die Regelung des § 59a BRAO zeigt vielmehr, dass es nicht einmal für alle anwaltlichen Personengesellschaften einen entsprechenden Grundsatz gibt. Die Beschränkung der Gesellschafterstellung auf natürliche Personen ist damit keine an berufliche Merkmale anknüpfende Vorschrift, sondern eine speziell die Rechtsform der deutschen PartG treffende und damit als gesellschaftsrechtliche Spezialregelung zu qualifizierende Bestimmung. Im Ergebnis sind die dargelegten Grundsätze somit auf alle – in- wie ausländische – anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaften in Gestalt einer Personengesellschaft anzuwenden. Ordnet man die ausländische Gesellschaft, sei sie nun eine UK-LLP, eine US-LLP oder eine LLC, den Personengesellschaften zu, so greift für sie bei einer Betätigung in Deutschland keine berufsrechtliche Beschränkung des Gesellschafterkreises auf natürliche Personen. c) Die Beteiligung an einer Rechtsanwaltsgesellschaft mbH Stellt man dagegen bei einem Rechtsformvergleich größere Ähnlichkeiten mit der Kapitalgesellschaft der GmbH fest, so gelten andere Grundsätze. An einer Rechtsanwalts-GmbH können sich nämlich nach § 59e Abs. 1 S. 1 BRAO ebenfalls nur natürliche Personen beteiligen. Anders als im Fall der PartG ist hier die Einschränkung unmittelbar im anwaltlichen Berufsrecht und nicht im Gesellschaftsrecht verankert. Auch wenn der Wortlaut des § 59e Abs. 1 S. 1 BRAO („Gesellschafter einer Rechtsanwaltsgesellschaft können nur Rechtsanwälte und Angehörige der in § 59a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 genannten Berufe sein.“) nicht eindeutig ist, so ist der Wille des historischen Gesetzgebers insoweit doch unmissverständlich. Die bislang herrschende Meinung im Schrifttum und auch der Verfasser erklären selbst die Beteiligung von Personengesellschaften, wie der PartG, an einer Rechtsanwalts-GmbH auf der Grundlage der Gesetzesmaterialien für unzulässig.22 Der BGH lässt zwar eine „doppelstöckige“ Struktur unter Beteiligung einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts an einer Rechtsanwalts-GmbH zu, wenn diese Gesellschaft zugleich Alleingesellschafterin der GmbH ist.23 Er hat 22
Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 59e Rn. 4 f., 13 f. und § 1 PartGG Rn. 11; Henssler NJW 1999, 241, 243, jeweils unter Verweis auf BT-Drucks. 13/9820, 14. 23 BGHZ 148, 270 = NJW 2002, 68.
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aber die Möglichkeit der Beteiligung einer Partnerschaft mit beschränkter Berufshaftung als einziger Gesellschafterin an einer Rechtsanwaltsgesellschaft mbH verneint, und zwar auch dann, wenn an der Partnerschaft ausschließlich Rechtsanwälte beteiligt sind.24 Das grundsätzliche Verbot der Beteiligung von Personen- und Kapitalgesellschaften an anwaltlichen Kapitalgesellschaften steht angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 59e BRAO de lege lata nicht zur Disposition der Fachgerichte. Das Beteiligungsverbot dürfte auch einer europarechtlichen Überprüfung standhalten. Der EuGH25 hat sogar das noch weitergehende, im deutschen Recht verankerte Fremdbesitzverbot bei Apotheken für mit den Vorschriften der Niederlassungsfreiheit aus Art. 49, 54 AEUV vereinbar erklärt. Zwar liege in der ausschließlichen Betriebserteilung an Apotheker eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, jedoch sei diese durch zwingende Gemeinwohlinteressen gerechtfertigt. Sind somit auf eine ausländische Anwaltsgesellschaft die für Kapitalgesellschaften geltenden Grundsätze anzuwenden, so darf an ihr keine weitere Anwaltsgesellschaft beteiligt sein, wenn sie in Deutschland eine Zweigniederlassung unterhalten möchte. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich bei der Beteiligungsgesellschaft um eine Personen- oder Kapitalgesellschaft handelt. Im Berufsrecht kommt damit ebenso wie im Steuerrecht der Unterscheidung zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften nach wie vor eine entscheidende Rolle zu. Auch registerrechtlich ist die Einordnung bei ausländischen Gesellschaften von Bedeutung, weil die Zweigniederlassung einer (gewerblichen oder freiberuflichen) Kapitalgesellschaft in das Handelsregister, diejenige einer freiberuflichen Personengesellschaft dagegen in das Partnerschaftsregister einzutragen ist. Im Gesellschaftsrecht selbst hat diese Grenzziehung dagegen heute nur noch für Ausbildungs- und Systematisierungszwecke eine Bedeutung. Im Übrigen sind die Grenzen fließend, unmittelbare Rechtsfolgen sind mit der Zuordnung nicht verbunden. 2. Das Gebot der aktiven Mitarbeit der Gesellschafter Eng mit dem Verbot der Beteiligung von Kapitalgesellschaften verwandt ist das berufsrechtliche Gebot der aktiven Mitarbeit der Gesellschafter. Es gilt sowohl für die Sozietät (vgl. § 59a BRAO „gemeinschaftliche Berufsaus24 BGHZ 214, 235 = NJW 2017, 1681; kritisch Henssler NJW 2017, 1644; Römermann GmbHR 2017, 572. Gegen die Entscheidung ist unter dem Az. 1 BvR 1072/17 Verfassungsbeschwerde eingelegt. Während der Verfassungsrechtsausschuss der BRAK (BRAKStellungnahme 11/2019) diese für unbegründet hält, bejaht der Verfassungsrechtsausschuss des DAV (DAV-Stellungnahme 12/2019) eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG. 25 EuGH EuZW 2009, 409.
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übung“)26 als auch für die PartG (§ 1 Abs. 1 S. 1 PartGG)27 und die Rechtsanwaltsgesellschaft mbH (§ 59e Abs. 1 S. 2 BRAO).28 Das Dogma der aktiven Mitarbeit der Gesellschafter muss damit als allgemeiner Grundsatz des anwaltlichen Gesellschaftsrechts bewertet werden. Es hält sowohl einer verfassungsrechtlichen als auch einer europarechtlichen Überprüfung stand. Reine Kapitalbeteiligungen würden eine Gewinnabschöpfung durch außenstehende Personen ermöglichen, die der Gesetzgeber in Anwaltsgesellschaften zulässigerweise als unerwünscht ansehen kann. Die Beteiligung an einer Anwaltsgesellschaft soll keine Kapitalanlage sein, mit der Dritte am Ergebnis der anwaltlichen Tätigkeit partizipieren können.29 Soweit daher in internationalen Anwaltskonzernen Dritten, die keinen Bezug zur anwaltlichen Rechtsdienstleistung des Verbundes aufweisen, eine Beteiligung am Erfolg des Netzwerkes ermöglicht werden soll, verstoßen diese Beteiligungen gegen deutsches Berufsrecht. Das Gebot der aktiven Mitarbeit der Gesellschafter steht einer Beteiligung von in- oder ausländischen anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaften dagegen dann nicht entgegen, wenn diese Beteiligung lediglich eine – nationalen Vorschriften geschuldete – Ausgestaltung eines internationalen Anwaltsverbundes ist und die anwaltlichen Partner der Beteiligungsgesellschaft ihrerseits in diesem Verbund ihren Beruf aktiv ausüben. Die geschilderten hinter dem deutschen Gebot stehenden Normzwecke sind nicht berührt, sofern die gesellschaftsrechtliche Ausgestaltung lediglich das Ziel verfolgt, all jenen Anwälten, die in einem internationalen Anwaltsverbund tatsächlich zusammenarbeiten, auch eine angemessene Beteiligung an den in dem Verbund erzielten Gesamterträgen zu ermöglichen. Im Ergebnis besteht in solchen Fällen kein Unterschied gegenüber einer Gestaltung, bei der alle Rechtsanwälte weltweit in einer einzigen großen Anwaltsgesellschaft zusammengeschlossen sind. Die Idee einer einzigen weltweit aktiven Anwaltsgesellschaft („one firm“) lässt sich aufgrund der sehr unterschiedlichen und zum Teil kollidierenden Vorgaben der nationalen Berufsrechte nur unter erheblichen Schwierigkei26 Dazu etwa Henssler in Henssler/Prütting BRAO, 5. Aufl. 2019, § 59a Rn. 50 f.; Henssler NJW 1993, 2137, 2139; auch das BMJV geht in seinem aktuellen Eckpunktepapier vom 27.8.2019 unter Eckpunkt 6 ganz selbstverständlich von einem entsprechenden Gebot aus; aA v. Wedel in Hartung/Scharmer BORA/FAO, 6. Aufl. 2016, § 59a BRAO, Rn. 8; Römermann Entwicklungen und Tendenzen bei Anwaltsgesellschaften, 1995, 106 ff. 27 BT-Drucks. 12/6152, 9; Henssler PartGG, 3. Aufl. 2018, § 1 Rn. 24; Bösert ZAP 1994, 765, 771 = Fach 15, S. 137, 143; Stuber Partnerschaftsgesellschaft, 2. Aufl. 2001, S. 17; Stuber WiB 1994, 705, 706 f.; Schäfer in MüKo BGB, Bd. 6, 7. Aufl. 2017, § 1 PartGG Rn. 11; ausführlich Lenz in Meilicke/Graf v. Westphalen/Hoffmann/Lenz/Wolff PartGG, 3. Aufl. 2015, § 1 Rn. 89 ff.; kritisch Zimmermann in Römermann PartGG, 5. Aufl. 2017, § 1 Rn. 8 ff. 28 Henssler in Henssler/Prütting BRAO, 5. Aufl. 2019, § 59e Rn. 15 ff. 29 Henssler NJW 1999, 241, 243; ders. BRAK-Mitt. 2007, 186.
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ten verwirklichen (Problem der sog. „double deontology“). In grenzüberschreitenden Zusammenschlüssen gibt es daher einen praktischen Bedarf nach einer rechtlichen Verselbständigung einzelner Landesgesellschaften, die sodann gleichwohl über Beteiligungen miteinander verbunden sind. Ob die gegenseitige Gewinnbeteiligung über einen Schweizer Verein verwirklicht wird, an dem die internationalen Partner beteiligt sind, oder über eine direkte Beteiligung nationaler Gesellschaften, kann für die berufsrechtliche Bewertung im Ergebnis keine Rolle spielen. Entscheidend ist jeweils, dass unabhängig von der mehrstöckigen Struktur jeder Gesellschafter innerhalb des Verbunds aktiv anwaltlich tätig ist. Aus Sicht des deutschen Berufsrechts wird man zudem verlangen müssen, dass nicht nur die ausländischen Rechtsanwälte an den in Deutschland generierten Erträgen partizipieren, sondern dass im Sinne einer Überkreuzbeteiligung auch die deutschen Rechtsanwälte mit Partnerstatus von den in der – etwa US-amerikanischen – Muttergesellschaft erwirtschafteten Überschüssen profitieren. Der unerwünschte einseitige Zugriff auf die Gewinne aus der Tätigkeit inländischer Rechtsanwälte muss vermieden werden. Ist die Gegenseitigkeit dagegen gewährleistet, so sind die hinter den deutschen Beschränkungen stehenden Normzwecke nicht einschlägig, so dass nach hier vertretener Ansicht keine Kollision mit dem deutschen Gebot der aktiven Mitarbeit vorliegt. 3. Keine Geltung des deutschen Berufsrechts bei der Beteiligung an Drittgesellschaften Berufsrechtlich unproblematisch wäre es, wenn sich länderübergreifend eine in Deutschland über eine Zweigniederlassung aktive UK-LLP an einer als Zentralgesellschaft des internationalen Verbunds fungierenden USGesellschaft beteiligen wollte. Das deutsche Berufsrecht verbietet es Rechtsanwaltsgesellschaften grundsätzlich nicht, sich an anderen anwaltlichen oder sonstigen Berufsausübungsgesellschaften zu beteiligen. Nur für die Rechtsanwaltsgesellschaft mbH sieht § 59c Abs. 2 BRAO, wie bereits erwähnt, ein entsprechendes Verbot vor. Diese Regelung ist im anwaltlichen Berufsrecht ungenau verortet, da das anwaltliche Berufsrecht nicht vorschreiben kann, welche Voraussetzungen etwa an den Gesellschafterkreis einer Steuerberatergesellschaft zu stellen sind, an der sich eine Rechtsanwaltsgesellschaft beteiligen möchte.30 Soweit es nicht um die Beteiligung an einer inländischen, sondern an einer ausländischen Anwaltsgesellschaft geht, sind die Normzwecke des deutschen anwaltlichen Berufsrechts erst recht nicht betroffen, da nicht ersichtlich ist, dass eine solche Beteiligung in irgendeiner Weise auf 30 Henssler in Henssler/Prütting BRAO, 5. Aufl. 2019, § 59c Rn. 10 ff.; aA etwa Bormann/Strauß in Gaier/Wolf/Göcken Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2020, § 59c BRAO Rn. 31; v. Wedel in Hartung/Scharmer BORA/FAO, 6. Aufl. 2016, § 59c BRAO Rn. 5.
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die inländische anwaltliche Berufsübung, etwa die anwaltliche Unabhängigkeit, ausstrahlen könnte. So sind einem Einzelanwalt nach deutschem Recht (§ 7 Nr. 8 BRAO) grundsätzlich sogar gewerbliche Zweittätigkeiten gestattet.31 Für Anwaltsgesellschaften kann nichts anderes gelten.
V. Die Einordnung ausländischer Anwaltsgesellschaften in das System des deutschen Gesellschafts- und Berufsrechts Fasst man die vorstehend entwickelten Erkenntnisse zusammen, so sind mehrstöckige Strukturen im Sinne einer Beteiligung an in Deutschland aktiven ausländischen Anwaltsgesellschaften unter zwei Voraussetzungen zulässig: 1. Zunächst muss es sich bei der in Deutschland über eine Zweigniederlassung tätigen Auslandgesellschaft aus der Sicht des deutschen Rechts um eine Personengesellschaft handeln. 2. Außerdem muss auch die ausländische Gesellschafterin der in Ziff. 1 erwähnten Auslandgesellschaft, also etwa eine US-amerikanische Konzernmutter, den Qualifikations-Test als Personengesellschaft bestehen. Maßgeblich ist dabei jeweils nicht die Bewertung nach ausländischem Gesellschaftsrecht (etwa als body corporate oder corporation), sondern allein die Bewertung nach deutschen Maßstäben, wobei zur Abgrenzung auf die im Steuerrecht entwickelten Kriterien zurückgegriffen werden kann. Es muss somit ein doppelter Qualifikationstest durchgeführt werden. Internationale Anwaltskonzerne sind maW nur zulässig, wenn an ihnen ausschließlich Personengesellschaften beteiligt sind. Aus anwaltlicher Sicht ist insoweit insbesondere die gesellschaftsrechtliche Qualifikation der angelsächsischen LLP (UK-LLP, Jersey-LLP, US-LLP der jeweiligen Bundesstaaten) und diejenige der US-LLC von praktischer Relevanz. 1. UK-LLP Welcher deutschen Rechtsform die UK-LLP bei einem Rechtsformvergleich am nächsten steht, ist für das deutsche Recht nicht abschließend geklärt. Die LLP englischen Rechts ist eine typische Mischform, die der Zuordnung in die herkömmlichen Kategorien der Personen- und Kapitalgesellschaften nur schwer zugänglich ist. Sie kennt keine persönliche Haftung der Gesellschafter für die Schulden der Gesellschaft, ähnelt damit der Kapitalgesellschaft, zumal sie durch Inkorporierung entsteht und als „body corpo31
Henssler in Henssler/Prütting BRAO, 5. Aufl. 2019, § 7 Rn. 85 ff.
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rate“ bezeichnet wird. Als partnership ist sie gleichwohl formal dem Personengesellschaftsrecht zugeordnet und wird als solche auch transparent besteuert. Als eigenständiges Rechtssubjekt haftet sie selbst für berufliche Kunstfehler und andere schadensersatzauslösende Handlungen der Mitglieder, weil diese „agents“ der LLP sind. Die Gesellschafterhaftung ist anders als bei der regulären deutschen Partnerschaft nicht akzessorisch ausgestaltet, vielmehr ergibt sich eine persönliche Haftung des schadensverursachenden Gesellschafters/Berufsträgers allein aus dem Gesichtspunkt der Verletzung der dem Mandanten geschuldeten „duty of care“ nach dem richterrechtlichen Institut der fahrlässigen Vermögenshaftung des englischen Deliktsrechts – dem tort of negligence. Sie ist damit deliktischer Natur, folgt also nicht aus der Gesellschafterstellung, sondern aus einer persönlichen assumption of responsibility des nachlässigen Gesellschafters. Zwar lässt sich bei einer Gegenüberstellung von LLP und PartG nicht bestreiten, dass hier zwei unterschiedliche Systeme und Regelungskonzepte aufeinandertreffen. Mit der Einführung der PartG mbB sind diese Unterschiede aber weitgehend eingeebnet worden. Erklärtes Ziel der Neuregelung ist es, eine „deutsche Alternative zur LLP“ zur Verfügung zu stellen, die den freiberuflichen Gesellschaftern einer deutschen Partnerschaftsgesellschaft haftungsrechtlich vergleichbare Vorteile bietet.32 Da außer Zweifel steht, dass die durch § 8 Abs. 4 PartGG neu eingeführte PartG mbB in steuer-, berufs- und registerrechtlicher Hinsicht wie eine „normale“ Partnerschaft und damit als Personengesellschaft zu behandeln ist, kann für ihr erklärtes „Vorbild“, die LLP, nichts anderes gelten. Die UK-LLP ist folglich berufsrechtlich als Personengesellschaft zu qualifizieren und lediglich an den Anforderungen des § 59a Abs. 1 BRAO, nicht dagegen an den strengeren Vorgaben des § 59e Abs. 1 BRAO für Kapitalgesellschaften zu messen. Praktische Konsequenz ist, dass die Aufnahme von Personengesellschaften in den Gesellschafterkreis bei ihr berufsrechtlich unbedenklich ist. 2. Die Einordnung einer US-LLP in das System des Gesellschaftsrechts Ist schon die Einordnung einer UK-LLP nicht abschließend geklärt, so gilt dies erst recht für die in Deutschland noch weniger bekannte US-LLP. Der Verfasser hat sich schon früh dafür ausgesprochen, die für die englische LLP entwickelten Grundsätze auf ihren US-amerikanischen „Zwilling“ zu übertragen.33 Die Haftung der Gesellschafter einer US-amerikanischen LLP lässt sich nicht einheitlich beurteilen, sondern richtet sich nach dem Gesellschaftsrecht des jeweiligen Bundesstaats, in dem sie gegründet wurde. Während ei32 33
BT-Drucks. 17/10487, 1. Vgl. nur Henssler NJW 2014, 1761, 1762 f.
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nige Staaten zunächst nur die Haftung für Berufsfehler der Mitgesellschafter ausgeschlossen haben, erfasst die Haftungsbeschränkung bei der LLPGesetzgebung der sog. dritten Generation sämtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten, also auch solche aus Miet- oder Arbeitsverträgen. So lautet etwa § 26 (c) (i) New York Partnership Law: „[E]ach partner, employee or agent of a partnership which is a registered limited liability partnership shall be personally and fully liable and accountable for any negligent or wrongful act or misconduct committed by him or her or by any person under his or her direct supervision and control while rendering professional services on behalf of such registered limited liability partnership.“ Die rechtliche Situation im englischen und im US-amerikanischen Recht ist somit vergleichbar, da beide Rechtsordnungen gesellschaftsrechtlich eine vollständige Haftungsbeschränkung anordnen, die jedoch durch eine deliktsrechtliche Handelndenhaftung nach den Grundsätzen des tort law abgeschwächt wird. Die New Yorker LLP, die sich nicht als body corporate darstellt und – anders als die UK-LLP, aber ebenso wie die deutsche PartG – ausschließlich der Erbringung freiberuflicher Dienstleistungen dient, dürfte der deutschen PartG sogar noch näherstehen als die britische LLP. Das spricht dafür, jedenfalls diejenigen US-LLPs, die als Hybridgesellschaften ähnlich wie die UK-LLP ausgestaltet sind, aus der Sicht des deutschen Berufsrechts als Personengesellschaften einzustufen und sie damit auf der Grundlage der Rechtsprechung des BGH als Gesellschafterinnen einer in Deutschland tätigen (in- oder ausländischen) Anwaltspersonengesellschaft zu akzeptieren. Auf der hier vertretenen Linie liegt, dass auch das Schweizer Bundesgericht speziell die LLP des US-amerikanischen Rechts als Rechtsform qualifiziert, „die der Personengesellschaft des kontinentaleuropäischen Rechts entspricht“, obwohl sie eine von den Gesellschaftern getrennte juristische Person ist.34 3. Die Einordnung einer US-LLC in das System des deutschen Berufs-, Gesellschafts- und Steuerrechts Kaum erforscht ist die rechtliche Einordnung einer US-LLC, wobei vorliegend aus Vereinfachungsgründen eine nach dem Recht des Bundesstaates Delaware gegründete LLC in den Blick genommen werden soll. a) Besonderheiten der LLC nach dem US-amerikanischen Recht (Delaware) Ebenso wie die US-LLP ist auch die US-LLC ein gesellschaftsrechtliches Hybrid, das Elemente der Partnerschaft und Kapitalgesellschaft miteinander verbindet. Sie vereint die Vorteile beider Rechtsformen, indem sie sowohl 34
BG, Entscheid v. 6.12.2013 – 2 C 433/2013 unter 5.2.1.
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eine Haftungsbeschränkung wie bei einer Kapitalgesellschaft als auch die transparente Besteuerung der Personengesellschaft bietet.35 Damit ähnelt sie stark der LLP des angelsächsischen Rechtskreises. Im US-amerikanischen Recht wird hervorgehoben, dass die LLC zwar als partnership (Personengesellschaft), nicht jedoch als corporation (Kapitalgesellschaft) behandelt werden kann. Der Gesellschaftsvertrag der LLC wird dementsprechend nicht in einem Register veröffentlicht. Das Recht des Bundesstaates Delaware gewährt für die Gestaltung des Gesellschaftsvertrags umfassende Vertragsfreiheit, die ebenfalls derjenigen in einer deutschen Personengesellschaft (und einer US-LLP) ähnelt. Die LLC ist stets mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet, obwohl sie keine Körperschaft (corporation) ist. Sie entsteht nicht allein durch Vertrag, sondern bedarf – ähnlich wie die deutsche PartG – zusätzlich der Registrierung durch die Behörden des Gründungsstaats. Sie muss dazu eine Satzung einreichen (articles of organisation), die namentlich Angaben u. a. über die Firma, Zeitdauer, den Gesellschafts- und Geschäftszweck zu enthalten hat. Die Rechte und Pflichten der Gesellschafter im Innenverhältnis (z. B. zur Geschäftsführung und Vertretung, Gewinnverteilung) werden im Gesellschaftervertrag (operating agreement) geregelt. Dieser kann formfrei vereinbart werden, bedarf keiner notariellen Beurkundung oder Eintragung und ist nicht öffentlich zugänglich. Parallelen zur LLP weist die LLC auch insoweit auf, als sie selbst Vertragspartnerin der Mandanten wird und diesen auch im Falle von durch ihre Organe begangenen Pflichtverletzungen selbst haftet. Die Geschäftsführungsbefugnis liegt grundsätzlich bei allen Gesellschaftern (members), sie kann aber auch einzelnen Gesellschaftern oder nur einem von ihnen zustehen oder sogar auf ein gesellschaftsfremdes Management (Manager) übertragen werden. Bei der letztgenannten Ausgestaltung würde sie einer corporation angenähert. Ein Mindestkapital wird nicht gefordert, auch kann auf die Verpflichtung zur Leistung von Einlagen verzichtet werden, was ebenfalls gegen eine kapitalistische Struktur spricht. Für die bundesrechtlichen US Steuervorschriften (IRS) kann die LLC beantragen, wie eine Personengesellschaft behandelt zu werden. Sie kann allerdings auch, insoweit unterscheidet sie sich von der partnership, die Besteuerung als corporation wählen („check the box“ election). In der Praxis wird die LLC als Rechtsform insbesondere von Familienunternehmen und freiberuflichen Unternehmen gewählt,36 ähnelt damit auch insoweit stärker einer Personen- als einer Kapitalgesellschaft. Insgesamt lässt sich bei einer Gesamtschau feststellen, dass das Recht des Bundesstaates Delaware eine 35
Vgl. ausführlich Henssler in FS Kirchhoff, 2002, 177 ff.; ferner Flick/Heinsen IStR 2008, 781. 36 Dazu bereits Henssler RIW 2001, 572, 578; Henssler in FS Kirchhoff, 2002, 177, 189 ff.
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weitreichende Flexibilität bietet und es den Gesellschaftern jedenfalls ermöglicht, die Gesellschaft so auszugestalten, dass sie einer partnership weit nähersteht als einer corporation. b) Behandlung nach deutschem Recht Ob eine US-LLC nach deutschem Recht als Personengesellschaft oder aber als Kapitalgesellschaft zu behandeln ist, ist – soweit ersichtlich – bislang nur für das Steuerrecht vertieft diskutiert worden. Im Steuerrecht, in dem die Abgrenzung neben dem Berufsrecht eine wichtige Rolle spielt, wird auch die US-LLC jedenfalls dann als Personengesellschaft behandelt, wenn das Innenverhältnis der Gesellschaft personalistisch ausgestaltet ist.37 Im Einzelnen sind nach dem BMF-Schreiben zur steuerlichen Einordnung von LLCs vom 19.3.2004 für die steuerrechtliche Einordnung der LLC die von der finanzgerichtlichen Rechtsprechung38 entwickelten Grundsätze eines „Rechtstypenvergleichs“ anzuwenden. Dabei werden neben der für sich genommen nicht ausschlaggebenden Haftungsfreistellung der Gesellschafter folgende Elemente als wesentliche Strukturmerkmale einer Körperschaft behandelt: (1) Zentralisierte Geschäftsführung und Vertretung (2) Freie Übertragbarkeit der Anteile (3) Gewinnzuteilung (4) Kapitalaufbringung (5) Unbegrenzte Lebensdauer der Gesellschaft (6) Gewinnverteilung nach Anteilen (7) Formale Gründungsvoraussetzungen. Entscheidend ist im Sinne einer Generallinie, ob die Gesellschafter auf die Rolle als bloße Kapitalgeber reduziert werden, die wie Aktionäre/Shareholder lediglich aufgrund ihrer Kapitalbeteiligung am Unternehmenserfolg partizipieren, im Übrigen aber nicht in die unternehmerische Betätigung der Gesellschaft eingebunden sind. Im letztgenannten Fall liegt die Behandlung als Kapitalgesellschaft nahe. Bei freiberuflichen Gesellschaften, insbesondere bei Anwaltsgesellschaften, bei denen die Partner/Gesellschafter aktiv mitarbeiten, spricht dagegen vieles für eine personalistische Struktur. Verzichtet werden sollte im Gesellschaftsvertrag in jedem Fall auf die Möglichkeit eines Fremdmanagement, das allerdings bei Anwaltsgesellschaften ohnehin fernliegt. Ferner sollten die freie Übertragbarkeit von Gesellschaftsanteilen und die (wohl ebenfalls nicht naheliegende) Wahl der US-Besteuerung als corporation im Rahmen der „check the box“ election vermieden werden. Zwar lassen sich die steuerrechtlichen Kriterien nicht eins zu eins auf die berufs- und gesellschaftsrechtliche Einordnung übertragen, da die steuerrechtlichen Normzwecke anders gelagert sind. Allerdings liegt bei einer steuerrechtlichen Einordnung als Personengesellschaft die entsprechende berufs- und gesellschaftsrechtliche Bewertung ebenfalls nahe. Aufgrund die37 Vgl. BMF-Schreiben v. 19.3.2004 – IV B 4-S 1301 USA – 22/04 BStBl. 2004, 411, Ziff. V. 38 Vgl. etwa BFH IStR 2008, 811.
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ser Umstände hat der Verfasser seit jeher dafür plädiert, die US-LLC bei einem freiberuflichen Unternehmensgegenstand stets als partnerschaftsähnlich zu behandeln mit der Folge der Eintragung ins Partnerschaftsregister.39 Dieser Einordnung hat, soweit ersichtlich, im jüngeren Schrifttum jedenfalls niemand widersprochen. Dabei ist anzumerken, dass die Kommentierungen des PartGG sich durchgängig kaum mit ausländischen Rechtsformen auseinandersetzen. Allerdings wird im deutschen Schrifttum darauf hingewiesen, dass die US-LLC (noch stärker als die US-LLP) der UK-LLP ähnelt, die anerkanntermaßen als Personengesellschaft behandelt wird.40 Dies bestätigt mittelbar die hier vorgenommene Einordnung. Insgesamt lässt sich festhalten, dass eine anwaltlich tätige US-LLC ebenso wie eine US-LLP und die ihr noch näherstehende UK-LLP in aller Regel berufsrechtlich als Personengesellschaft zu behandeln ist. Sie sind damit geeignete Mitglieder eines in Deutschland aktiven internationalen Anwaltsverbundes. Die Beteiligung einer US-amerikanischen Law Firm in der Rechtsform einer LLC an einer in Deutschland über eine Zweigniederlassung aktiven ausländischen Personengesellschaft ist bei entsprechender Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrages berufsrechtlich unbedenklich.
VI. Zusammenfassende Thesen Die Grundsätze des deutschen Berufsrechts internationaler Anwaltskonzerne lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Während im Gesellschaftsrecht die Grenzziehung zwischen Personenund Kapitalgesellschaften heute nur noch für Ausbildungs- und Systematisierungszwecke eine Bedeutung hat, kommt der Unterscheidung im anwaltlichen Berufsrecht ebenso wie im Steuerrecht nach wie vor eine entscheidende Rolle zu. 2. Die Anforderungen, die das deutsche Berufsrecht an ausländische Rechtsanwaltsgesellschaften stellt, sind angesichts des vollständigen Regelungsverzichts des deutschen Gesetzgebers bislang allenfalls in wenigen Ansätzen geklärt. Rechtsprechung zu den Anforderungen, die an den Gesellschafterkreis einer Auslandsgesellschaft zu stellen sind, existiert nicht. 3. US-amerikanische oder britische Law Firms in der Rechtsform der LLP sind bei ihrem Auftreten in Deutschland gesellschaftsrechtlich entsprechend ihrem ausländischen Gesellschaftsstatut zu behandeln. Bei einer 39 So Henssler PartGG, 3. Aufl. 2018, § 5 Rn. 37; vgl. ferner ders. RIW 2001, 572, 578; ders. in FS Wiedemann, 2002, 907 ff.; ders. in FS Kirchhoff, 2002, 177, 192 ff. 40 So etwa Kilian NZG 2000, 1008 Fn. 18.
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Haupt- oder Zweigniederlassung in Deutschland sind sie gleichwohl den Vorgaben unterworfen, die das deutsche Berufsrecht an inländische Berufsausübungsgesellschaften stellt. 4. Eine ausländische Anwaltsgesellschaft muss bei einer Zweigniederlassung in Deutschland jedenfalls solche Beschränkungen des deutschen Berufsrechts beachten, die im allgemeinen Interesse zum Schutz der Mandanten und Dritter gerechtfertigt sind und bei denen das ausländische Berufsrecht nicht dem deutschen Regelungsanliegen durch vergleichbare Regelungen ausreichend Rechnung trägt. 5. Nach § 59a Abs. 1 BRAO ist die Beteiligung einer Rechtsanwaltsgesellschaft an einer in Deutschland aktiven Rechtsanwaltsgesellschaft zulässig, wenn es sich bei beiden Gesellschaften um Personengesellschaften handelt, an der ausschließlich in dem Unternehmensverbund beruflich aktive und sozietätsfähige Personen beteiligt sind. 6. Für eine ausländische, der deutschen Sozietät als Personengesellschaft vergleichbare Anwaltsgesellschaft, die sich auf der Grundlage der europäischen Grundfreiheiten in Deutschland betätigt und hierzulande eine Zweigniederlassung unterhält, kann schon aufgrund des europäischen Diskriminierungsverbots nichts Anderes gelten. Im Ergebnis sind die gleichen Grundsätze aber auf Gesellschaften aus einem der von § 206 BRAO erfassten Staaten (Mitgliedstaaten der WTO) zu übertragen. 7. An anwaltlichen Kapitalgesellschaften dürfen sich demgegenüber nach der strengeren Vorschrift des § 59e Abs. 1 BRAO ausschließlich natürliche Personen beteiligen. 8. Im Rahmen eines Rechtsformenvergleichs sind sowohl die LLPs des USamerikanischen und des englischen Rechts als auch eine US-LLC bei entsprechender Ausgestaltung des Innenverhältnisses als Personengesellschaften zu behandeln. 9. Gesellschaften in diesen Rechtsformen sind damit grundsätzlich geeignete Mitglieder eines auch in Deutschland tätigen Anwaltskonzerns.
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Unabhängige Aufsichtsratsmitglieder
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Unabhängige Aufsichtsratsmitglieder Peter Hommelhoff
Unabhängige Aufsichtsratsmitglieder in der faktisch konzernierten Börsengesellschaft PETER HOMMELHOFF
I. Die Rechtsgrundlage faktischer Konzernierung In dieser Zeit, da die Umsetzung der novellierten AktionärsrechteRichtlinie und in ihrem Gefolge der neu konzipierte Deutsche Corporate Governance Kodex in Geltung gesetzt werden, ist das überkommende Recht des faktischen Konzerns jenseits der §§ 311 ff. AktG herausgefordert: Auf der einen Seite setzen einige Unternehmen den Trend fort, bisher im Alleinbesitz gehaltene Tochtergesellschaften mit einem mehr oder minder großen Aktienanteil an die Börse zu führen oder dies gar, wie momentan Siemens mit der neuen Tochter Energy, mit bislang rechtlich unselbständigen Geschäftsbereichen zu tun. Ziel solcher konzerninternen oder – bildenden Umstrukturierungen ist es, den Wert des Gesamtkonzerns am Kapitalmarkt zu steigern sowie über dezentralisierte Verantwortung die Flexibilität und Agilität in der Unternehmensführung zu stimulieren, ohne jedoch die Verbundeffekte des Konzerns aufzugeben („Flottenverbands-Konzept“).1 Im Ergebnis erweitern solche Umstrukturierungen die bemerkenswerte Zahl bereits gelisteter Konzerntochter- und -enkelgesellschaften.2 Auf der anderen Seite sind diese Börsentöchter und-enkel durch die Vorgabe herausgefordert, in ihre Aufsichtsräte eine Zahl von Mitgliedern zu berufen, die von der Konzernmutter, der kontrollierenden Aktionärin, unabhängig sind. Die Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder in Börsengesellschaften ist nicht bloß das unverändert besondere Anliegen der deutschen Kodex Kommission (Empfehlungen C 6 ff.); in gleicher, wenn nicht gar noch verschärfter Weise stellt sich die Unabhängigkeitsfrage im nun geltenden Aktienrecht bei den Geschäften mit nahestehenden Personen (§§ 111a ff., 107 Abs. 3 Sätze 4 bis 6 AktG, related party transactions, RPT). Diese Vorgaben lassen Zweifel aufkommen, ob sich an der Börse gelistete Beteiligungsunternehmen künftig überhaupt noch als Konzerntöchter oder -enkel innerhalb 1
S. dazu die aufschlussreichen Informationen von Seibt in FS K. Schmidt II, 2019, Band 2, 431 f.; sowie Habersack in FS Krieger, 2020, S. 279. 2 Vgl. die Auflistung nachgeordneter Börsengesellschaften bei Hommelhoff ZIP 2013, 1645, 1649; s. auch Bayer/Hoffmann AG 2015, R 91, 93.
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einer Gruppe unter der einheitlichen Leitung der Mutter zusammengefasst (§ 18 Abs. 1 AktG) halten und führen lassen. Denn zentrales Instrument für die Einbeziehung einer nachgeordneten Aktiengesellschaft in einen faktischen Konzern und deren Führung in ihm ist die „Personalschiene“- die Besetzung der Verstandspositionen in der nachgeordneten Gesellschaft durch deren Aufsichtsrat, der die personalpolitischen Vorstellungen der Muttergeschäftsleitung mit Sicherheit deshalb in der nachgeordneten Gesellschaft umsetzt, weil in ihr die Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner ihre Position dem Besetzungsentscheid der Muttergeschäftsleitung verdanken (§§ 101 Abs. 1, 133 f., 78 Abs. 1 AktG) und zumeist auch ihren Verbleib in dieser Position (arg. § 103 Abs. 1 AktG). Damit fungiert der Aufsichtsrat in der faktisch konzernierten Aktiengesellschaft als Konzerntransformator,3 der die Tochter in den Konzern einbindet und das Tochtergeschehen mitsamt allen Aktivitäten auf den Konzern ausrichtet,4 sowie zugleich als Garant des Außenseiterschutzes (§§ 314, 171 Abs. 2 AktG).5 Im paritätisch nach dem Mitbestimmungsgesetz besetzten Tochter- oder Enkelaufsichtsrat könnte dessen Rolle als Konzerntransformator verloren gehen, weil die Vorgabe unabhängiger Anteilseignervertreter die Repräsentanten der Mutter in eine Minderheitenposition im mitbestimmten Aufsichtsrat bringt, wenn die Besetzung der Vorstandspositionen ansteht. Die Muttergeschäftsleitung könnte ihre personalpolitischen Vorstellungen nicht länger mit hinreichender Sicherheit durchsetzen, sodass sowohl die Bildung der faktischen Konzernverbindung, als auch ihre Führung zumindest stark gefährdet, wenn nicht gar ausgeschlossen wäre.6
II. Angemessenheitsprüfung im Tochteraufsichtsrat Vor diesem Hintergrund spitzt sich zunächst alles auf die Frage zu, wie „Unabhängigkeit“ im Zusammenhang der Geschäfte mit nahestehenden Personen zu verstehen ist und wie im Kontext des Corperate Governance Kodex. Danach werden die voraussichtlich realen Auswirkungen der Vor3
Hommelhoff ZIP 2013, 1645, 1646. S. ua BayObLG AG 1998,523 Rn. 39 ff.; Bayer MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 18, Rn. 36; Adler/Düring/Schmaltz Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 1997, § 18 AktG, Rn. 27. 5 Der Aufsichtsrat der konzernabhängigen Gesellschaft fungiert als „Treuhänder der abhängigen Gesellschaft und ihrer etwaigen Minderheit“, Lutter AG 2008, 1, 7. 6 So schon die Befürchtung des Handelsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins, NZG 2012, 335, 338; s. auch Bayer NZG 2013, 1, 11 f.; im Kern geht es mithin um die privatrechtlich gewährleistetet Gestaltungsfreiheit und ihre Nutzung zu wirtschaftlicher Organisation; vgl. Windbichler NZG 2018, 1241, 1245 - ihr sei dieser Beitrag in Verehrung mit allen guten Wünschen gewidmet. 4
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gaben auf die Bildung eines faktischen Konzerns mit einer nachgeordneten Börsengesellschaft zu untersuchen sein und auf die Führung einer solchen Konzernverbindung. 1. Der konzerninterne Lieferungs- und Leistungsverkehr Geschäfte der Börsengesellschaft (§ 111a AktG) mit nahestehenden Personen, die den wirtschaftlichen Schwellenwert nach § 111b Abs. 1 oder Abs. 3 AktG übersteigen, bedürfen der vorherigen Zustimmung ihres Gesamtaufsichtsrat oder eines mit dieser Aufgabe betrauten Aufsichtsratsausschusses(§ 111b Abs. 1 AktG); dieser kann die Zustimmung anstelle des Gesamtaufsichtsrats erteilen (arg. § 107 Abs. 3 Satz 4 AktG), also ersetzend tätig werden7. Nahe stehen der Börsengesellschaft nach der Normkette des § 111a Abs. 1 Satz 2 AktG8 ua alle mit ihr nach §§ 15 ff. AktG verbundenen Unternehmen, mithin sämtliche Gliedgesellschaften des Konzerns, dem die Börsengesellschaft angehört. Damit unterfällt dem Schutzregime der §§ 111a ff. AktG ua der konzerninterne Lieferungs- und Leistungsverkehr der faktisch konzernierten Börsengesellschaft mit ihrer Mutter, sofern er in seinem Gesamtwert die Schwellen des § 111b AktG übersteigt. Das bestätigt auch der neue § 311 Abs. 3 AktG.9 2. „Befangene“ Aufsichtsratsmitglieder Sollte nach dem Organisationsstatut der Börsengesellschaft ihr Gesamtaufsichtsrat für die Erteilung der Zustimmung nach § 111b Abs. 1 AktG zuständig sein, so sind bei der Beschlussfassung jene Ratsmitglieder von der Abstimmung ausgeschlossen, bei denen die Besorgnis eines Interessenkonflikts aufgrund ihrer Beziehungen zur nahestehenden Person besteht (§ 111b Abs. 2 AktG), also zur Konzernmutter. Wurzeln kann der Interessenkonflikt in der der Zustimmung vorgelagerten Aufgabe des Gesamtaufsichtsrats, den Lieferungs- und Leistungsverkehr daraufhin zu überprüfen, ob er zu angemessenen Bedingungen begründet, gestaltet und abgewickelt wird (arg. § 111c Abs. 2 Satz 3 AktG). An der unvoreingenommenen Durchführung dieser Angemessenheitsprüfung, die sich allein an den eigenen Interessen der Börsengesellschaft auszurichten hat, könnten, was zu besorgen ist, all` jene Mitglieder des Gesamtaufsichtsrate gehindert sein, die zugleich auf die Inte7 Zur Unterscheidung zwischen bloß vorbereitend und ersetzend tätigen Aufsichtsratsausschüssen ua Hopt/Roth Großkomm AktG, 5. Auflage 2019, § 107, Rn. 303 mwN. 8 Die Normkette zielt auf den internationalen Rechnungslegungsstandard IAS 24.9 ab; dazu näher Barg AG 2020, 149, 151; Florstedt ZHR 184 (2020), 10, 20 ff. mwN. 9 Zur Interdependenz zwischen §§ 311 ff. und § 111a ff. Bürgers/Guntermann in FS Krieger, 2020, 141, 148 ff.
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ressen der Konzernmutter eingeschworen sind, so dass sie sich bei der Prüfung zumindest auch von diesen leiten lassen könnten.10 Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Beziehung im Sinne des § 111b Abs. 2 AktG schädlich ist, hat sich die Begründung zum Regierungsentwurf des ARUG II eingehend geäußert.11 Nach ihrer zutreffenden Ansicht qualifiziert nicht allein schon die Tatsache, dass ein Aufsichtsratsmitglied mit den Stimmen des Mehrheitsaktionärs, also der Konzernmutter, gewählt wurde, dieses als dessen Vertrauensperson.12 Im Gegenteil kann die Stimmabgabe des Mehrheitsaktionärs im konkreten Einzelfall bewusst darauf abzielen, ein zweifelsfrei ihm gegenüber unabhängiges Ratsmitglied zu berufen. Um die Besorgnis eines Interessenkonflikts zu begründen, müssen daher weitere Umstände hinzukommen. So ist nach der (insoweit nachzuschärfenden13) Regierungsbegründung Abhängigkeit von der Konzernmutter bei jenen Aufsichtsratsmitgliedern zu besorgen, die in der Mutter als Mitglieder derer Geschäftsleitung oder ihres Aufsichtsorgans amtieren; oder anders formuliert: „Doppelbändermänner“ im Tochteraufsichtsrat sind nicht unabhängig. In ihm sitzen sie, um die Mutterinteressen zur Geltung zu bringen; davon geht auch der privilegierende § 100 Abs. 2 Satz 2 AktG aus.14 Von einer solchen Aufgabenzuweisung ist ebenfalls bei der Muttergeschäftsleitung nachgeordneten Unternehmensangehörigen der Konzernmutter, wie Abteilungsleitern oder Prokuristen, auszugehen. Sie erhalten ihr Gehalt und sonstige Versorgungsleistungen von der Mutter und sind deshalb als ihre Vertrauenspersonen im Aufsichtsrat der nachgeordneten Börsengesellschaft einzustufen.15 Auch sie sind gegenüber der Mutter und ihren Interessen nicht unabhängig, lassen mithin unaufgelöste Interessenkonflikte bei der Angemessenheitsprüfung nach § 111b Abs. 1 AktG besorgen. Mit diesen Vorgaben zum Zustimmungsentscheid reduziert das Gesetz die Verantwortung jener Aufsichtsratsmitglieder in der Börsengesellschaft, die mit der Konzernmutter „besorgniserregend“ verbunden sind, für die Überwachung des konzerninternen Lieferungs- und Leistungsverkehrs (§§ 111 Abs. 1, 314 AktG) ganz wesentlich. Zwar können sie mitberatend am Prozess der Angemessenheitsprüfung teilnehmen; von dem Akt jedoch, in dem die Verantwortung des Aufsichtsrats kulminiert und ihren prägen-
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S. Begründung RegE § 107 III AktG, Bundestags-Drs. 19/9739. Begründung RegE § 111b II AktG mit Verweis auf § 107 II AktG, aaO, S. 96/85 ff. 12 Begründung RegE § 107 III AktG, aaO, S. 87. 13 Die Begründung RegE formuliert aaO S. 88, ein solches Organmitglied könne als nahestehend anzusehen sein. 14 S. Habersack MünchKomm (Fn. 4) § 100 AktG, Rn. 27; Hüffer/Koch Aktiengesetz, 14. Aufl. 2020, § 100, Rn. 7; Hoffmann-Becking Münch Handbuch Gesellschaftsrecht, Band 4, 4. Aufl. 2015, § 30, Rn. 15. Hopt/Roth (Fn. 7), § 100 AktG, Rn. 60. 15 Auch für diese Gruppe von Aufsichtsratsmitgliedern formuliert Begründung RegE § 107 III AktG, aaO S. 88 zu offen: bloßes Indiz, wenn auch ein starkes. 11
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den Ausdruck findet, vom Zustimmungsbeschluss (oder seiner Verweigerung) sind jene Aufsichtsratsmitglieder ausgeschlossen, weil nicht rechtsgewiss gewährleistet ist, dass sie „unbefangen, unparteiisch und unbeeinflusst von jeder Rücksichtnahme“ auf die Interessen der Konzernmutter16 ihr Stimmrecht bei der Zustimmung zu diesen Geschäften wahrnehmen würden. Damit liegt der Zustimmungsentscheid allein in den Händen jener anderen Aufsichtsratsmitglieder, die nicht im Sinne des § 111b Abs. 2 AktG mit der Konzernmutter verbunden sind und somit die Kontrolle des konzerninternen Lieferungs- und Leistungsverkehrs. Ob unabhängig im mitbestimmten Aufsichtsrat wirklich alle Arbeitnehmervertreter sind17 oder allein die Vertreter von Gewerkschaften (§ 7 Abs. 2 MitbestG), mag hier dahinstehen. Allein ihnen die Angemessenheitsprüfung auch und vor allem zum Schutze der Gesellschaft und ihrer Kapitalanleger18 zu übertragen, wäre gewiss systemunverträglich. 3. Konsequenzen für die Aufsichtsrats-Besetzung Auf diesen Ausschluss der Mutter-verbundenen Aufsichtsratsmitglieder von der Überwachung des konzerninternen Lieferung- und Leistungsverkehrs muss sich die Muttergeschäftsleitung bei der Besetzung der Anteilseignersitze im Gesamtaufsichtsrat der börsennotierten Tochtergesellschaft einstellen. In Konzernen mit einem bloß geringen Lieferungs- und Leistungsverkehr innerhalb des Konzerns, etwa in einem Konglomerat unterhalb einer konzernleitenden Holding,19 mag dieser Ausschluss die Mutter und ihre Geschäftsleitung weniger beunruhigen als in einem integrierten Konzern, in dem die einzelnen Konzerngliedgesellschaften in Arbeitsteilung fein abgestimmt eng zusammenarbeiten. Zumindest in derart eingebundenen Börsengesellschaften wird deren Mutter nicht umhin können, die eine und andere Position im Gesamtaufsichtsrat mit externen Personen zu besetzen, die deshalb gegenüber der Mutter unabhängig sind, weil sie von ihr oder einer anderen Konzerngesellschaft keinerlei finanzielle oder sonst wie geldwerte Leistungen von einigem Gewicht erhalten20. In dieser Weise unabhängig sind daher zB externe Rechts-, Steuer- oder sonstige Unternehmensberater- es sei denn, sie erbringen Gesellschaften des Konzerns berufsspezifische Leistungen neben ihrer Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied in der Börsengesellschaft. 16
Begründung RegE § 107 III AktG, aaO, S. 86. Zu dieser Frage ua Hüffer/Koch (Fn. 14), § 100 AktG, Rn. 5 mwN; Langenbucher ZGR 2007, 571, 593 f. 18 Zum Schutz der Gesellschafts- und Aktionärsinteressen s. Erwägungsgrund 42 der Aktionärsrechte Richtlinie II (EU) 2017/828 vom 17. Mai 2017, ABl EU 2017, L132/4. 19 Dazu Lutter in Lutter/Bayer Holding-Handbuch, 5. Aufl. 2015, Rn. 1.34 ff.; aus betriebswirtschaftlicher Sicht Keller aaO, Rn. 4.16 ff. 20 Begründung RegE, § 107 III AktG, aaO, S. 88. 17
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Im rechtspraktischen Ergebnis wird die Mutter regelmäßig gehalten sein, den Gesamtaufsichtsrat der Börsengesellschaft mit ein oder zwei Ratsmitgliedern auf der Anteilseignerseite zu besetzen, die effektiv gegenüber der Mutter und derer Geschäftsleitung unabhängig sind. Deren Aufgabe ist es dann, zusammen mit den anderen nicht Mutter-abhängigen Ratsmitgliedern der Arbeitnehmerseite den konzerninternen Lieferungs- und Leistungsverkehr auf seine Angemessenheit hin zu überwachen und ggf. die notwendigen Zustimmungsbeschlüsse nach § 111b Abs. 2 AktG zu fassen. Eine Mindestzahl von drei unabhängigen Anteilseignervertretern im Gesamtaufsichtsrat ist nicht erforderlich, weil diese Unabhängigen (auch ohne Rücksicht auf § 107 Abs. 3 S. 6 AktG) keinen Ausschuss bilden.21 4. Lieferungs- und Leistungsverkehr im Drittvergleich Diesem Befund wird man entgegenhalten wollen, die Geschäfte des konzerninternen Lieferungs- und Leistungsverkehrs entfielen sogar oberhalb der Schwellenwerte aus § 111b Abs. 1/3 AktG der Zustimmungspflicht, weil sie nach § 111a Abs. 2 AktG als Geschäfte im ordentlichen Geschäftsgang zu marktüblichen Bedingungen aus dem RPT-Schutzsystem ausgenommen seien. Das kann zwar so sein, muss es aber nicht. Maßgeblich ist nämlich, ob die konzerninternen Geschäfte zu marktüblichen Bedingungen abgeschlossen und durchgeführt werden. Mit Blick auf die zentral bedeutsame Angemessenheit oder Unangemessenheit der Bedingungen (arg. § 111c Abs. 2 Satz 3 AktG) kommt es somit wesentlich darauf an, ob ein außenstehender Dritter anstelle der Börsengesellschaft das konzerninterne Geschäft ebenfalls zu den vereinbarten Bedingungen getätigt hätte22. Allein falls das bejaht werden kann, sind die Geschäftsbedingungen als angemessen zu qualifizieren, und kann folgerichtig die Zustimmung des Aufsichtsrats entfallen. Für konzerninterne Geschäfte bemisst sich deren „Marktüblichkeit“ mithin nach einem positiven Drittvergleich, weil konzerninterne Geschäfte zu anderen Bedingungen getätigt werden als die unter konzernfernen Dritten: Vermarktung, Risikoaufschläge, Sicherung etc. Daher ist bei diesem Drittvergleich bloß die persönliche Abhängigkeit der Tochtervorstände auszublenden, aber nicht die Konzernverflechtung der Tochtergesellschaft. Denn müsste ihr Geschäft mit dem einer konzernfreien Gesellschaft verglichen werden, so würde damit der Konzern als solcher geleugnet.23 Damit läuft der Drittvergleich nach § 111a Abs. 2 AktG in der konzernierten Börsengesellschaft auf die Prüffrage hinaus, ob das Geschäft 21 Ein ersetzender Ausschuss muss sich aus mindestens drei Mitgliedern zusammensetzen (arg. § 108 II 3 AktG); vgl. nur Hopt/Roth (Fn. 7), § 107 AktG, Rn. 343 ff. 22 Begründung RegE, § 111a II AktG, aaO, 91. 23 Zutreffend Druey, FS Krieger, 2020, S. 221, 228: „Was Nachteil und was Vorteil ist, ist im Konzern … spezifisch zu bestimmen“.
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unter Berücksichtigung der Konzernverflechtung trotzdem noch als angemessen, also als fair einzustufen ist. Ein so zu qualifizierendes Geschäft unterfällt nicht dem RPT-Schutzverfahren im Weiteren. Aber sogar konzerninterne Geschäfte, die einem Drittvergleich in ihren Bedingungen standhalten, bedürfen der Aufsichtsratszustimmung nach § 111b Abs. 1 AktG, wenn sie außerhalb des ordentlichen Geschäftsgangs angesiedelt sind (§ 111a Abs. 2 Satz 1 AktG). Außergewöhnliche Geschäfte innerhalb des Konzerns24 sind mithin immer zustimmungspflichtig; bei ihnen bedarf es nach der RPT-Konzeption des Aktiengesetzes in jedem Fall einer Angemessenheitsprüfung. Das gilt namentlich für Geschäfte, die wegen ihres Umfangs oder ihrer besonderen Bedeutung für die Börsengesellschaft nicht mehr als im ordentlichen Geschäftsgang getätigt angesehen werden können.25 Damit kann festgehalten werden: Der konzerninterne Lieferungs- und Leistungsverkehr unterfällt weder unbedingt, noch in vollem Umfang zwingend der Prüfung und Zustimmung durch den Aufsichtsrat; ob und inwieweit dieser tätig werden muss, bestimmt sich vielmehr nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. § 111a Abs. 2 Satz 1 AktG fixiert die Grenze, jenseits derer die Börsengesellschaft und ihre Kapitalanleger als schutzbedürftig gelten und deshalb die Angemessenheitsprüfung bei konzerninternen Geschäften einsetzen muss. Vor der Grenze findet keine Angemessenheitsprüfung statt – es sei denn, die Satzung gibt nach § 111a Abs. 2 Satz 3 AktG vor, sämtliche konzerninternen Geschäfte zu prüfen. Für den RPTSchutz und seine rechtspraktische Effektivität kommt daher schon dem Drittvergleich der Geschäfte im Konzern und ihrer Einordnung als gewöhnlich oder außergewöhnlich ganz wesentliche Bedeutung zu. 5. Das Bewertungsverfahren in der Zuständigkeit des Aufsichtsrates Dieser Bedeutung trägt § 111a Abs. 2 AktG durch die Vorgabe Rechnung, in der Börsengesellschaft ein internes Bewertungsverfahren zu installieren. In der konzernverflochtenen Gesellschaft ist dies Verfahren auf die regelmäßige Feststellung auszurichten, ob die konzerninternen Geschäfte diesseits oder jenseits der Grenze zur Angemessenheitsprüfung angelagert sind. Zur Zuständigkeit für die Durchführung dieses Bewertungsprozesses verhält sich das Gesetz nicht ausdrücklich, so dass man in systematischer Interpretation mit § 111b Abs. 1 AktG zu dem Ergebnis gelangen könnte, hierfür sei der Vorstand der Börsengesellschaft berufen, weil in § 111a Abs. 2 AktG, was nahegelegen hätte, der Gesamtaufsichtsrat und sein besonderer Aus24
S. hierzu auch Florstedt ZHR 184 (2020), 10, 32 ff. Begründung RegE, § 111a II AktG, aaO, S. 91; Hüffer/Koch (Fn. 14), § 111a AktG, Rn. 10. 25
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schuss nicht genannt worden seien. Aber damit würde die Angemessenheitsprüfung des konzerninternen Lieferungs- und Leistungsverkehrs von Anbeginn in die Hände derjenigen gelegt, die in ihrem Verhalten nach den RPT- Regeln kontrolliert werden sollen. Das würde überdies auf eine weitausgreifende Selbstprüfung hinauslaufen. Deshalb können (und müssen schon von der Sache her) der Vorstand und die ihm nachgeordneten Beschäftigten (etwa die in einer Clearing- Stelle) nur vorbereitend tätig werden; die Hauptverantwortung für das Bewertungsverfahren, für seine Einrichtung und Durchführung muss beim Aufsichtsrat liegen.26 Denn die Bewertung nach § 111a Abs. 2 Satz 2 AktG ist der erste integrale Bestandteil des Gesamtprozesses zur Angemessenheitsprüfung mit der Zustimmung (oder ihrer Versagung) als Kernbestandteil und der Veröffentlichung nach § 111c Abs. 1/2 AktG als letztem Bestandteil. Für diesen Gesamtprozess ist der Gesamtaufsichtsrat verantwortlich (arg. § 111b Abs. 1 AktG). Damit stellt sich ebenfalls für das Bewertungsverfahren nach § 111a Abs. 2 Satz 2 AktG die Frage, wer von der Entscheidung über die Prüfungsbedürftigkeit eines konzerninternen Geschäfts ausgeschlossen ist. Denn dieser interne Prozess ist nicht bloß auf dessen Bewertung ausgerichtet, sondern vor allem auf den Schluss, der aus der Bewertung zuordnend zu ziehen ist: prüfungsbedürftig oder nicht. Das ist in gleicher Weise eine Entscheidung wie die ggf. nachfolgende zur Zustimmung. Nach dem Gesetzestext des § 111a Abs. 2 Satz 2 AktG sind von dem Bewertungsverfahren die an dem Geschäft beteiligten nahestehenden Personen ausgeschlossen. Damit weicht diese Vorgabe bemerkenswert von der des § 111b Abs. 2 AktG ab; zum ersten ist die beteiligte nahestehende Person nicht bloß von der Abstimmung ausgeschlossen, sondern vom gesamten Entscheidungsverfahren, also auch von der Bewertung und ihrer Beratung zur Vorbereitung des Zuordnungsentscheids. Und zum zweiten sind nach dem Wortlaut des § 111a Abs. 2 Satz 2 AktG, anders als nach § 111b Abs. 2 AktG, nicht jene Personen ausgeschlossen, bei denen ein Interessenkonflikt angenommen werden kann. Dies würde für das konzerninterne Geschäft bedeuten: darüber ob es prüfungsbedürftig ist, entscheiden die Repräsentanten der Mutter im Aufsichtsrat der Börsengesellschaft mit oder (in mitbestimmungsfreien Gesellschaften) sogar allein. Indes- das würde dem Ziel einer unbefangenen, unparteiischen und von jeder Rücksichtnahme auf die Mutterinteressen unbeeinflussten Angemessenheitsprüfung27 eklatant widersprechen. Die Mutterrepräsentanten könnten nur allzu leicht versucht sein, ihrem Ausschluss beim Zustimmungsentscheid nach § 111b Abs. 1/2 AktG (oben II2) da26 So auch Barg AG 2020, 149, 154; Florstedt ZHR 184 (2020), 10, 35 f. unter Bezug auf die EU-Aktionärsrechte-Richtlinie mit Forderungen auch für den Rechenschaftsbericht des Aufsichtsrats nach § 171 II AktG; Redeke/Schäfer/Troidl AG 2020, 159, 161 mwN; aA Markworth AG 2020, 166, 174 f. 27 Begründung RegE, § 107 III AktG, aaO, S. 86.
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durch zuvorzukommen, dass sie das konzerninterne Geschäft nach § 111a Abs. 2 AktG als nicht prüfungsbedürftig einstufen.28 Um das am Beispiel des konzernweiten cash poolings zu belegen: Auch sein System ist bewertungsbedürftig und bedarf bloß dann keiner Aufsichtsrats-Zustimmung, wenn es in seinen Konditionen einem Drittvergleich standhält; das ist anzunehmen, wenn diese Konditionen den allgemein bei cash-pool-Systemen üblichen entsprechen.29 Ob das der Fall ist, kann man schlecht diejenigen entscheiden lassen, die maßgeblich an der Einrichtung dieses Systems beteiligt waren. 6. Bewertungsverfahren im Konglomerat Damit sind die Repräsentanten der Mutter schon bei der prozessinitiierenden Bewertung der konzerninternen Geschäfte ausgeschlossen; § 111a Abs. 2 Satz 2 AktG muss teleologisch zumindest insoweit durch § 111b Abs. 2 AktG ergänzt werden, als die Repräsentanten nicht an der Abstimmung über die Prüfungsbedürftigkeit teilnehmen können. Das hat Bedeutung für Konzernverbindungen mit nur schwachem Lieferungs- und Leistungsverkehr innerhalb des Konzerns, also etwa für die Börsengesellschaften innerhalb eines Konglomerats unter einer Holding (oben II3). Auch in diesen Gesellschaften ist ein internes Bewertungsverfahren einzurichten; § 111a Abs. 2 Satz 2 AktG sieht insoweit keine freistellenden Ausnahmen vor. Damit steht die Mutter ebenfalls in Konglomeraten vor der Aufgabe, den Aufsichtsrats der nachgeordneten Börsengesellschaft wenigstens teilweise mit unabhängigen Personen zu besetzen (oben II.3). 7. Angemessenheitsprüfung im RPT- Ausschuss In der faktisch konzernierten Börsengesellschaft ist es somit der Konzernmutter künftig rechtspraktisch verwehrt, deren Aufsichtsrat auf der Anteilseignerseite ausschließlich mit Mutterrepräsentanten zu besetzen. Erforderlich sind zumindest ein oder zwei Aufsichtsratsmitglieder, die von der Konzernmutter effektiv unabhängig sind. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Angemessenheitsprüfung nach § 111a Abs. 2/ § 111b Abs. 1 AktG dem Gesamtaufsichtsrat überantwortet ist. Daran ändert sich aber selbst dann nichts, wenn der Aufsichtsrat die Angemessenheitsprüfung einem besonderen (RPT-)Ausschuss zur ersetzenden Erledigung überträgt (arg. § 107 Abs. 3 Satz 4 AktG) oder einen schon bestehenden Ausschuss, etwa den Prüfungs- oder den Risikoausschuss, mit 28
Zur weichenstellenden Bedeutung dieses Entscheids vgl. auch Redeke/Schäfer/Troidl AG 2020, 159, 160 unter Beiziehung rechtsvergleichenden Materials. 29 Begründung RegE, § 111a II AktG, aaO, 91; dazu auch Barg AG 2020, 149, 154; unentschieden Hüffer/Koch (Fn. 14), § 111a AktG, Rn. 11; kritisch Tarde, NZG 2019, 488, 490.
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der Angemessenheitsprüfung als Zusatzaufgabe betraut.30 Zwar verlagert das Gesetz beim Ausschuss die Gewährleistung unvoreingenommener Angemessenheitsprüfung von der Zustimmung zum Geschäft nach vorn zur Zusammensetzung des Ausschusses, regelt also doppelt präventiv.31 Für die konzernabhängige Börsengesellschaft ändert das jedoch im Ergebnis nichts: Der RPT-Ausschuss muss mehrheitlich mit „besorgnisfreien“, also unabhängigen Aufsichtsratsmitgliedern besetzt sein (§ 107 Abs. 3 Satz 6 AktG). Mit dieser vorgegebenen Zusammensetzung aus unabhängigen und von der Konzernmutter abhängigen Ausschussmitgliedern will der Gesetzgeber nach eigenem Bekunden einen Anreiz schaffen, damit im Ausschuss die Argumente aller Seiten ausgetauscht werden können.32 Auf diesem Wege erhält die Muttergeschäftsleitung (unmittelbar oder mittelbar) Gelegenheit, ihre Erwägungen zum konzerninternen Geschäft, seiner Prüfungsbedürftigkeit und Angemessenheit in die Entscheidungsprozesse einzubringen.33 Das wird vor allem beim Bewertungsentscheid nach § 111a Abs. 2 Satz 2 AktG bedeutsam werden. Im Ergebnis sind mithin dreiköpfige RPT-Ausschüsse mit zwei unabhängigen Aufsichtsratsmitgliedern zu besetzen, fünfköpfige Ausschüsse dagegen mit drei Unabhängigen. Dementsprechend muss der Gesamtaufsichtsrat über zwei oder drei unabhängige Aufsichtsratsmitglieder verfügen. Somit bietet die Erledigung der RPT-Angelegenheiten im Gesamtaufsichtsrat mehr Organisationsfreiheit: In ihm brauchen nur ein oder zwei Ratsmitglieder mit diesen Angelegenheiten (ohne Rücksicht auf die Größe des Aufsichtsrats) befasst zu sein34. Aber gänzlich ohne unabhängige Aufsichtsratsmitglieder geht es in faktisch konzernierten Börsengesellschaften auf keinen Fall. 8. Unabhängigkeit nach dem Kodex So sieht es auch der Corporate Governance Kodex in seiner neuen Fassung von 2020. Nach der Empfehlung C6 soll dem Aufsichtsrat einer Börsengesellschaft auf der Anteilseignerseite eine angemessene Anzahl von Mitgliedern angehören, die unabhängig sowohl von der Gesellschaft und ihrem Vorstand sind als auch gegenüber einem kontrollierenden Aktionär. Von Kontrolle geht die Kodexkommission aus, wenn der Aktionär über die ab30 S. Begründung RegE, § 107 III AktG, aaO, 85: ein exklusiver Ausschuss für Geschäfte mit nahestehenden Personen sei nicht erforderlich. 31 Zu diesem Ausschuss näher Florstedt ZHR 184 (2020), 10, 44 ff.; Markworth AG 2020, 166. 32 Siehe Begründung RegE, § 107 III AktG, aaO, 85. 33 S. auch Barg AG 2020, 149, 157. 34 Zur Beschlussfähigkeit von Aufsichtsräten und Ausschüssen, in denen aufgrund von Stimmverboten weniger als drei Mitglieder stimmberechtigt sind s. Hüffer/Koch, (Fn. 14) § 108 AktG, Rn. 16 mwN einerseits und Habersack in Münch Komm (Fn. 4), § 103 AktG, Rn. 35/§ 108, Rn. 33 andererseits.
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solute Stimmenmehrheit verfügt oder doch zumindest über eine nachhaltige Hauptversammlungsmehrheit.35 Kontrollierender Aktionär ist mithin das herrschende Unternehmen (§ 17 AktG), die Konzernmutter (§ 18 AktG). Für die Unabhängigkeit von ihr empfiehlt der Kodex in C9 abgestuft nach der Größe des Gesamtaufsichtsrats mindestens ein oder zwei Aufsichtsratsmitglieder, die unabhängig von der Konzernmutter sind: in kleinen dreiköpfigen Aufsichtsräten mindestens einen Unabhängigen, in sechsköpfigen oder größeren mindestens zwei unabhängige Anteilseignervertreter. Dabei entspricht die Definition der Unabhängigkeit nach dem Kodex (C9 Abs. 2) im Wesentlichen der nach dem gesetzlichen RPT-Regime der § 111a ff. AktG. Für konzernabhängige Börsengesellschaften überlagert das Gesetz den Kodex weithin: Aus Empfehlungen, von denen die Gesellschaft mit Begründung abweichen kann (§ 161 Abs. 1 Satz 1 AktG),36 hat das ARUG II auf Rechtsverbindlichkeit hin Angelegtes geformt.
III. Unabhängige Ratsmitglieder und Konzerneinbindung Im Aufsichtsrat der faktisch konzernierten Börsengesellschaft amtieren von nun an nicht bloß mehr empfohlen, sondern rechtsverbindlich angesteuert oder gar vorgegeben unabhängige Aufsichtsratsmitglieder. Der Konzernmutter steht es jetzt nicht länger frei, die Anteilseignerseite im Aufsichtsrat ihrer börsennotierten Tochtergesellschaft allein und ausschließlich mit ihren Repräsentanten zu besetzen. Das führt zur Frage, ob und in welchen Konstellationen die „Personalschiene“, das rechtliche Fundament faktischer Konzernierung von Aktiengesellschaften,37 wegen der vorgegebenen Unabhängigkeit außer Funktion gerät. 1. Unabhängigkeit im mitbestimmungsfreien Aufsichtsrat Unbeeinträchtigt bleibt die Konzerneinbindung jener Börsengesellschaften, in deren mitbestimmungsfreiem Aufsichtsrat allein Anteilseignervertreter amtieren. Zwar muss sich dieser Aufsichtsrat künftig divers aus Mutterrepräsentanten und Unabhängigen zusammensetzen. Aber der Mutter bleibt es unverändert unbenommen, den Tochteraufsichtsrat mehrheitlich mit ihren Repräsentanten zu besetzen. Das gilt auch dann, wenn im Aufsichtsrat 35 Begründung des Deutschen Corporate Governance Kodex, Teil 2, Zusammensetzung des Aufsichtsrats, Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder, zu C6; näher zur Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder gegenüber dem kontrollierenden Aktionär Koch/ Großeastroth/Guth BB 2020, 555, 557 f. 36 S. aber auch Kley AG 2019, 818, 820: de facto habe sich der Kodex zum „hard law“ entwickelt und in Folge eine ihm nicht zustehende Verbindlichkeit erlangt. 37 S. oben I.
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ein ersetzender RPT-Ausschuss gebildet wird. Dieser ist zwar in seiner Mehrheit mit Unabhängigen zu besetzen (§ 107 Abs. 3 Satz 6 AktG); das aber führt mitnichten im Gesamtaufsichtsrat zu einem Übergewicht der Unabhängigen. Sogar in einem bloß fünfköpfigen Aufsichtsrat sind dann immer noch die Mutterrepräsentanten in der Überzahl und behalten die Besetzung der Vorstandspositionen in der Hand (§§ 84, 108 AktG)38. In mitbestimmungsfreien Börsengesellschaften lassen mithin das RPT-Regime und die Kodexempfehlungen die Konzernabhängigkeit stiftende „Personalschiene“ unberührt. 2. Drittelbeteiligte Aufsichtsräte Das hingegen gilt nicht ohne weiteres für Tochteraufsichtsräte, die nach § 4 Abs. 1 DrittelBG zu einem Drittel mit Arbeitnehmervertretern zu besetzen sind. Während bei neunköpfigen Aufsichtsräten die RPT-Vorgaben (und auch die Kodexempfehlungen) das Übergewicht der Mutterrepräsentanten sogar dann nicht gefährden, wenn ein RPT-Ausschuss installiert wird, ist dies bei kleineren Aufsichtsräten unter der Geltung des Drittelbeteiligungsgesetzes nicht der Fall: in dreiköpfigen Aufsichtsräten kann bloß ein Mutterrepräsentant amtieren, da dem Arbeitnehmervertreter nicht die Rolle des Unabhängigen zum Schutze der Kapitalanleger und der Börsengesellschaft selbst zugewiesen werden kann (oben II 2 am Ende). In gleicher Weise verlieren die Mutterrepräsentanten das Übergewicht in einem sechsköpfigen Aufsichtsrat, falls dieser einen RPT-Ausschuss installiert; dann bilden die beiden Arbeitnehmervertreter zusammen mit den beiden Unabhängigen (arg. § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG) im Gesamtaufsichtsrat die Mehrheit mit der Folge, dass sich die Mutter mit ihren Repräsentanten bei der Besetzung der Vorstandspositionen in der Börsengesellschaft nicht aus eigener Rechtsmacht durchsetzen kann. Die Konzernabhängigkeit stiftende „Personalschiene“ ist außer Funktion gesetzt oder könnte zumindest außer Funktion gesetzt werden. Allerdings hat es die Konzernmutter in der Hand, diese Beeinträchtigung ihrer Konzernmacht zu entschärfen: Sie kann in der Tochtersatzung einen neun- oder ggf. zwölf- oder fünfzehnköpfigen Aufsichtsrat vorgeben (arg. § 95 AktG), sofern sie die dafür notwendige Dreiviertelmehrheit in der Tochterhauptversammlung (§ 179 Abs. 2 AktG) zusammenbringt. Das RPT-Regime führt damit in Börsengesellschaften mit drittelbeteiligtem Aufsichtsrat zu Aufsichtsratsgrößen, die funktional betrachtet nicht immer erforderlich sind. 38
Der Aufsichtsrat fasst seine Beschlüsse mit Stimmenmehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Aufsichtsratsmitglieder: näher Hoffmann-Becking (Fn. 14), § 31, Rn. 69: Hopt/Roth (Fn. 7), § 108 AktG, Rn. 43 ff.; Hüffer/Koch (Fn. 14), § 108 AktG, Rn. 8; Spindler/Stilz Aktiengesetz, 4. Auflage 2019, § 108, Rn. 23.
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3. Paritätisch mitbestimmte Aufsichtsräte Stets und unabänderlich verloren geht der Konzernmutter hingegen die konzernstiftende alleinige Bestimmungsmacht in börsennotierten Tochtergesellschaften, die paritätischer Mitbestimmung im Aufsichtsrat (§ 7 MitbestG) unterliegen. Hier versetzt schon der eine Unabhängige im Gesamtaufsichtsrat, sogar wenn kein RPT-Ausschuss installiert wird, die Konzernmutter und ihre Repräsentanten in die Unterzahl. Dem Verlust der alleinigen Bestimmungsmacht steht auch nicht das Zweitstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden bei der Vorstandswahl (§ 31 Abs. 4 MitbestG) entgegen, weil es zu einer Pattsituation gar nicht erst kommt, falls Arbeitnehmervertreter und Unabhängiger geschlossen gegen den von der Konzernmutter initiierten Personalvorschlag oder gegen den Abberufungsvorschlag (§ 31 Abs. 5 MitbestG/§ 84 Abs. 3 AktG) votieren. Damit scheinen die paritätisch mitbestimmten Börsengesellschaften nicht länger als nachgeordnete Gesellschaften im faktischen Konzern verwendbar zu sein. Wäre dies tatsächlich so, würden Börsengesellschaften generell als Konzerntöchter oder -enkel ausfallen, weil diese Gesellschaften in aller Regel schon wegen ihrer Finanzkraft mehr als 2000 Arbeitnehmer beschäftigen. Indes- einen solchen Verwendungsausschluss der Börsengesellschaften hat der Gesetzgeber des ARUGII mit dem RPT-Regime und seiner normativen Ausgestaltung keineswegs herbeiführen wollen. Im Gegenteil sollte das übernommene Konzernrecht möglichst unberührt bleiben. Schon im Gesetzestext sprechen dafür die Bestimmungen der §§ 111a Abs. 3 Nr. 3a und 311 Abs. 3 AktG sowie zusätzlich zahlreiche schon oben herangezogene Passagen aus der Begründung zum ARUG II, mit denen der Situation einer konzernverflochtenen Börsengesellschaft bei den related party transactions Rechnung getragen werden soll. 4. Die unabhängigen Ratsmitglieder als Konzerntransformatoren Wie aber kann die „Personalschiene“ des faktischen Konzerns trotz der rechtlich vorgeben unabhängigen Aufsichtsratsmitglieder in paritätisch mitbestimmten Börsengesellschaften konzernstiftend aufrechterhalten werden? Die Lösung liegt, wie schon vor Zeiten vorgetragen,39 im Handlungs- und Pflichtenprogramm des Tochteraufsichtsrats und konsequent in den Pflichten der Aufsichtsratsmitglieder, namentlich in den Pflichten der mit den Stimmen der Konzernmutter gewählten Anteilseignervertreter einschließlich der Unabhängigen. 39
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In der faktisch konzernierten Aktiengesellschaft fällt ihrem Aufsichtsrat eine doppelte Aufgabe zu: Auf der einen Seite hat er den Tochtervorstand zu überwachen (§ 111 Abs. 1 AktG) und dabei den spezifischen Gefahren aus der Konzernierung sein besonderes Augenmerk zu schenken (arg. § 314 AktG).40 Auf der anderen Seite ist dem Aufsichtsrat der konzernabhängigen Gesellschaft die Aufgabe gestellt, vornehmlich über die Ausübung seiner Personalkompetenz (§ 84 AktG) für die Konzerneinbindung der Tochter zu sorgen und diese fortwährend sicherzustellen. Im faktischen Konzern fungiert der Tochteraufsichtsrat mithin, wie schon oben I. erwähnt, als Konzerntransformator und zugleich mit seiner Überwachung als Garant konzernspezifischen Außenseiterschutzes. Diese Doppelfunktion des Organs Aufsichtsrat prägt konsequent das Handlungs- und Pflichtenprogramm seiner Mitglieder, zumindest das der von der Hauptversammlung gewählten Aufsichtsratsmitglieder. In dies Handlungs- und Pflichtenprogramm stellt das RPT-Regime der §§ 111a ff. AktG die unabhängigen Aufsichtsratsmitglieder als qualifizierte Garanten für den Schutz der Börsengesellschaft und ihrer Kapitalanleger, namentlich des Streubesitzes hinein. Sie sollen den Außenseiterschutz nach §§ 111/314 AktG verstärken, weil der Gesetzgeber, angeleitet durch die Aktionärsrechte-Richtlinie II, den Mutterrepräsentanten im Tochteraufsichtsrat allein einen effektiven Außenseiterschutz, anders als noch der Gesetzgeber des AktG 1965, nicht länger zutraut.41 Das sollen von nun an die Unabhängigen und der Abschlussprüfer (§ 313 AktG) zusammen mit den anderen Aufsichtsratsmitgliedern sicherstellen. Indes-diese qualifizierte Garantenfunktion des oder Unabhängigen entlässt diese nicht aus ihrer anderen Aufgabe, für die Einbindung der börsennotierten Tochter in den Konzern, in seine Aktivitäten und Abläufe zu sorgen. Nicht anders als die Mutterrepräsentanten fungieren ebenfalls die Unabhängigen als Konzerntransformatoren und sind zu entsprechendem Verhalten insbesondere bei der Besetzung des Tochtervorstands verpflichtet. Oder umgekehrt formuliert: Unabhängige würden pflichtwidrig handeln, wenn sie etwa in Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmervertretern daraufhin wirken wollten, die Börsengesellschaft aus dem Konzernverbund herauszulösen. Die Konzernmutter würde dann nicht rechtsmissbräuchlich handeln, wenn sie die vorzeitige Abberufung des oder der Unabhängigen nach § 103 AktG betreiben würde. Das bedeutet jedoch auf der anderen Seite keineswegs, die Unabhängigen müssten einem Besetzungswunsch der Konzernmutter sogar dann nachkommen, wenn dieser dem Eigeninteresse 40
Zur Haftung der Tochteraufsichtsratsmitglieder Uwe H. Schneider in Krieger/ Schneider Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rn. 10.56 f. 41 So auch Bürgers/Guntermann in FS Krieger, 2020, S. 141, 146: §§ 311 ff. bieten keinen hinreichenden Schutz.
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der konzernierten Börsengesellschaft eindeutig und gewichtig widerspricht. Denn auch als Konzerntransformatoren sind die Unabhängigen primär dem Interesse der Börsengesellschaft verpflichtet.
IV. Faktische Konzernierung trotz Unabhängigkeit Damit kann nach allem festgehalten werden: Wegen der unveränderten Rolle des oder der Unabhängigen als Konzerntransformator und wegen der darauf bezogenen Organpflichten führen die gesetzlichen Vorgaben und die Kodexempfehlungen zu den unabhängigen Aufsichtsratsmitgliedern in Börsengesellschaften sogar unter dem Gebot paritätischer Mitbestimmung mitnichten dazu, dass solche Gesellschaften nicht länger faktisch konzerniert werden können. Das folgt schon aus einer konzernorientierten Auslegung der §§ 111a ff. AktG in systematischer Gesamtausschau mit den §§ 311 ff. AktG. Eine andere Frage ist, ob der Gesetzgeber nicht gut daran täte, Funktion und Pflichten der Unabhängigen bei nächster Gelegenheit expliziert zu normieren. Das neue RPT-Regime bietet dazu allen Anlass. Entsprechende Vorschläge sind ihm schon vor Zeiten offeriert worden.42
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Hommelhoff ZIP 2013, 1645, 1650.
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Peter Hommelhoff
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Aufseher im Aufsichtsrat Klaus J. Hopt und Axel v. Werder
Aufseher im Aufsichtsrat – Governanceprobleme und Regulierungsansätze (am Beispiel des Enforcement der Rechnungslegung)* – KLAUS J. HOPT UND AXEL V. WERDER**
I. Problemstellung Der Aufsichtsrat war schon immer Gegenstand intensiver Diskussionen. Seine Aufgabe, im zweistufigen System den Vorstand wirksam zu überwachen, und die tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen dafür haben die Gemüter schon ab 1900 in der viel diskutierten „Aufsichtsratsfrage“1 erhitzt. Diese Frage der Effektuierung der Aufsichtsratsarbeit ist seither nie verstummt und hat seit den 1990er Jahren im Gefolge von Missständen in der Praxis und später in der Finanzkrise zu zahlreichen Reformgesetzen und zu einem enormen Bedeutungszuwachs des Aufsichtsrats geführt.2 Die Diskussion wird heute von Ökonomen und Juristen gemeinsam im Rahmen der „guten Corporate Governance“ geführt.3 Im Kern geht es dabei um zwei Problemkreise, die Information, die der Aufsichtsrat für die Erfüllung seiner Aufgabe benötigt,4 und um die richtigen Personen im Aufsichtsrat, die, entsprechend informiert, ihre Überwachungsaufgabe voll erfüllen können. * Die im Gefolge der Wirecard-Insolvenz vorgenommene Kündigung des Vertrages mit der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) durch das BMJV und das BMF berührt den vorliegenden Beitrag nur indirekt, da hier nicht die Funktionsfähigkeit der DPR (Enforcement Governance), sondern die Bewertung der Mitgliedschaft von Aufsehern im Aufsichtsrat aus Sicht der Corporate Governance, und dies allgemeiner, nicht nur für die DPR, im Mittelpunkt steht. ** Der zweite Autor dieses Beitrags war bis zu seinem vorzeitigen Ausscheiden im Jahr 2014 Mitglied im Nominierungsausschuss der DPR. Zur Wahrung der gebotenen Verschwiegenheit werden im Folgenden selbstverständlich keine vertraulichen, sondern ausschließlich öffentlich zugängliche Informationen verwendet. 1 Dazu Lieder Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, 2006. Teils drastische Kritik an der mangelnden Effizienz des Aufsichtsrats auch schon bei Schmalenbach ZfhF 1911, 271. 2 Hopt ZGR 2019, 507 mwN. 3 Überblick bei Hommelhoff/Hopt/v. Werder Handbuch Corporate Governance, 2. Aufl. 2009, mit zahlreichen Aufsätzen zum Aufsichtsrat. 4 Leyens Die Information des Aufsichtsrats, 2006; allgemeiner zu „Informationen im Unternehmensrecht“ ders. ZGR 2019, 544, und ZGR-Symposium 2020 ZGR 2020, Heft 2/3.
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Auf den ersten Blick scheinen Personen, die ohnehin Aufsichtsfunktionen im Hinblick auf die Gesellschaft haben, dafür am besten geeignet zu sein, etwa Abschlussprüfer, Angehörige von Ratingagenturen, der Vorsitzende und die Mitglieder der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) und sogar Vertreter der BaFin. Tatsächlich sind es aber mitunter gerade die Aufsichtsfunktionen dieser Personen, die eine Mitgliedschaft im Aufsichtsrat ausschließen oder jedenfalls nicht als selbstverständlich erscheinen lassen. So können etwa Aufsichtsratsmitglieder der zu prüfenden Kapitalgesellschaft oder mit ihr verbundener Unternehmen nicht als Abschlussprüfer gewählt werden.5 Ferner hat die BaFin zwar das Recht, Vertreter in einzelne Aufsichtsratssitzungen zu schicken, wenn das für die Erfüllung ihrer Überwachungsaufgabe notwendig ist; aber ein ständiger Sitz im Aufsichtsrats eines ihrer Aufsicht unterliegenden Unternehmens wäre mit ihrer Aufgabe unvereinbar.6 Für die Mitglieder der Prüfstelle ist das bisher nicht näher gesetzlich geregelt. § 342b HGB sieht nur vor, dass die Prüfung unabhängig, sachverständig, vertraulich und unter Einhaltung eines festgelegten Verfahrensablaufs erfolgen und die Prüfung gewissenhaft und unparteiisch sein muss.7 Allerdings bildet es nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 der Verfahrensordnung der Prüfstelle (VO/PS)8 einen Ausschlussgrund für die Einbeziehung in ein Prüfverfahren, wenn die Person innerhalb der letzten drei Jahre Mitglied des Aufsichtsrats war. Darüber hinaus sieht die (nicht öffentlich zugängliche) Verfahrensordnung des Nominierungsausschusses (VO/NA) zwar Beschränkungen, allerdings keinen vollständigen Ausschluss der Übernahme von Aufsichtsratsmandaten durch Präsidiumsmitglieder der DPR vor.9 Vor diesem Hintergrund ist der derzeitige Präsident der DPR in immerhin drei börsennotierten DAX- bzw. MDAX-Gesellschaften u.a. Vorsitzender des Prüfungsausschusses,10 nachdem er früher bis zu fünf Aufsichtsratsmandate 5 § 319 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 Satz 2 HGB. Das betrifft auch Aufsichtsratsmitglieder in Unternehmen, die mit der zu prüfenden Kapitalgesellschaft verbunden sind oder von dieser mehr als 20 % der Anteile besitzen. 6 Auch de lege ferenda, Davies/Hopt Non-Shareholder Voice in Bank Governance: Board Composition, Performance, and Liability, in Busch/Ferrarini/van Solinge, eds., Governance of Financial Institutions, Oxford 2019, p. 117, para 6.43 et seq. 7 § 342b Abs. 1 Satz 2, Abs. 7 HGB. 8 Verfahrensordnung der Prüfstelle, beschlossen von der Prüfstelle am 16. August 2005, genehmigt vom Bundesministerium der Justiz im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen am 24. August 2005 (VO/PS) (abrufbar unter https://www.frep.info/ pruefverfahren/verfahrensregelungen.php, Stand: 7.7.2020). 9 Hierzu näher unten II 2 b mN. 10 Im Einzelnen ist der DPR-Präsident aktuell stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender und Vorsitzender des Prüfungsausschusses der Vonovia SE (abrufbar unter https:// www.vonovia.de/de-de/ueber-vonovia/ueber-uns/aufsichtsrat, Stand: 7.7.2020), Vorsitzender des Prüfungsausschusses und Mitglied des Strategieausschusses der TUI AG (abrufbar unter https://www.tuigroup.com/de-de/ueber-uns/ueber-die-tui-group/management/aufsichtsrat/ausschuesse-des-aufsichtsrats, Stand: 7.7.2020) und Vorsitzender des
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im Wirkungsbereich der DPR gehalten11 und zwischenzeitlich auch vorübergehend als Aufsichtsratsvorsitzender12 fungiert hat. Die Literatur weist bei der Würdigung des zweistufigen Verfahrens (DPR, BaFin) darauf hin, dass die Unabhängigkeit einer privaten Prüfstelle weitaus schwieriger zu gewährleisten ist als die einer staatlichen Behörde.13 In diesem Zusammenhang werden nicht unerhebliche Bedenken gegen die Tätigkeit des Präsidenten der Prüfstelle im Aufsichtsrat von Unternehmen geäußert, deren Unternehmensabschlüsse Prüfungsgegenstand im Enforcement-Verfahren sein können, da dies zu einem die Unabhängigkeit der Prüfung in Frage stellenden Interessenkonflikt führe.14 Diese Beiträge betreffen die Unabhängigkeit aus der Sicht des Prüfverfahrens, man mag das in Erweiterung des Governancebegriffs als Frage der Enforcement Governance bezeichnen. Der folgende Aufsatz untersucht am Beispiel der DPR hingegen aus Sicht der Corporate Governance der betreffenden Unternehmen, inwieweit Aufsichtsrats- und entsprechende Mandate von Aufsehern aktienrechtlich und unter dem Deutschen Corporate Governance Kodex 202015 problematisch sind, und welche Regulierungswege zur Bewältigung dieser Probleme sich grundsätzlich anbieten. Dabei stehen drei Aspekte im Vordergrund: Qualifikation, zeitliche Verfügbarkeit sowie Unabhängigkeit und Interessenkonflikte.
Prüfungsausschusses sowie Mitglied des Nominierungsausschusses und des Vermittlungsausschusses (§ 27 Abs. 3 MitbestG) der Metro AG (abrufbar unter https://www.metroag. de/unternehmen/aufsichtsrat, Stand: 7.7.2020). 11 Nachweise bei v. Werder in FS Baums, 2017, 1405 f.; Sendel-Müller/Weckes führen in einer Übersicht der Mandate seit 2010 auch noch ein von 2010–2013 ausgeübtes Mandat bei der Österreichischen Post AG auf (Sendel-Müller/Weckes Das DPR-Verfahren im Überblick, Mitbestimmungspraxis Nr. 27, 2019, 11). 12 Siehe Presseinformation der Vonovia SE v. 7.9.2017 (abrufbar unter https://www.vo novia.de/de-de/ueber-vonovia/presse/pressemitteilungen/20170907_wahl-aufsichtsratsvor sitzender, Stand: 7.7.2020). 13 Etwa Böcking BFuP 3/2004, 269: die Unabhängigkeit der „privaten“ Prüfer stellt eine besondere Herausforderung dar; ebenso Mock in Kölner Kommentar zum WpHG, § 37n Rn. 64. 14 Mock wie soeben, Rn. 64; v. Werder in FS Baums (Fn. 11), 1407 f. Siehe ferner auch die kritische Berichterstattung in der Presse, z.B. Ott Süddeutsche Zeitung 3.9.2014, Nr. 202, 21; Wadewitz Börsen-Zeitung 3.12.2014, Nr. 232, 11; swa Börsen-Zeitung 7.3.2015, Nr. 46, 7; Schüppen Börsen-Zeitung 16.4.2015, Nr. 72, 11; cd Börsen-Zeitung 9.9.2019, Nr. 174, 6. 15 Zu diesem ausführlich Hopt/Leyens ZGR 2019, 929–995; ferner v. Werder DB 2019, 41–49; ders. DB 2019, 1721–1729. Im Folgenden ist, sofern nichts anderes gesagt wird, der Kodex in der Fassung v. 16.12.2019 gemeint, der 2020 nach seiner Bekanntmachung im amtlichen Teil des Bundesanzeigers in Kraft tritt (DCGK 2020).
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II. Anforderungen an Aufsichtsratsmitglieder und Aufsichtsfunktionen 1. Qualifikation a) Generelle Anforderungen aa) Gesetzliche Anforderungen Das Anforderungsprofil von Aufsichtsratsmitgliedern ist in § 100 Abs. 1 AktG nicht ausdrücklich geregelt. Sondervorschriften gibt es allerdings nach § 25d Abs. 1 und 2 KWG. Danach müssen die Mitglieder des Verwaltungsoder Aufsichtsorgans von Kreditinstituten und Finanzdienstleistungsinstituten16 zuverlässig sein, die erforderliche Sachkunde zur Wahrnehmung der Kontrollfunktion sowie zur Beurteilung und Überwachung der Geschäfte, die das jeweilige Unternehmen betreibt, besitzen und der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ausreichend Zeit widmen.17 Der Verwaltungs- oder Aufsichtsrat in seiner Gesamtheit muss die Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrung haben, die zur Wahrnehmung der Kontrollfunktion sowie zur Beurteilung und Überwachung der Geschäftsleitung des Instituts18 notwendig sind. Ergänzt wird das durch Vorschriften über die Einführung, Fortbildung und Anzeigepflichten sowie durch Eingriffsbefugnisse der BaFin.19 Gesetzliche Anforderungen an die Sachkunde von Aufsichtsratsmitgliedern sehen auch §§ 119 Abs. 3, 147 Abs. 3 KAGB und als Sollvorschrift § 18 Abs. 4 KAGB vor.20 Darüber, dass die Vorschriften des KWG nicht einfach analog auf Nicht-Institute angewendet werden können, besteht weitgehender Konsens. Immerhin wird teilweise eine gewisse Ausstrahlungswirkung angenommen.21 Für die genannten Qualifikationsanforderungen des Bankaufsichtsrechts wird das aber verneint.22 16 Institute iSv § 1 Abs. 1b KWG; ferner Finanzholding-Gesellschaften und gemischte Finanzholding-Gesellschaften. 17 Zur Prüfung der Sachkunde durch die BaFin § 25d Abs. 1 Satz 2 KWG. Zu diesen Sondervorschriften Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 Rn. 29. 18 Wie Fn. 16, auch gruppenweit. Die Vorschriften über die Arbeitnehmermitbestimmung bleiben unberührt (§ 25d Abs. 2 Satz 2 KWG). 19 Nach § 36 Abs. 3 Nr. 2 KWG kann die BaFin die Abberufung verlangen, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen sich ergibt, dass die Person nicht die erforderliche Sachkunde besitzt. 20 Zu Unsicherheiten im Versicherungsaufsichtsrecht, in dem das frühere Sachkundeerfordernis in § 7a Abs. 4 VAG 2016 gestrichen worden ist, Hüffer/Koch Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018, § 100 Rn. 30 mit § 76 Rn. 78; Hersch VersR 2016, 145, 147 f., 151, 153. 21 Thaten Die Ausstrahlung des Aufsichts- auf das Aktienrecht am Beispiel der Corporate Governance von Banken und Versicherungen, 2016; für Konzernvorschriften des KWG Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 91 Rn. 61: punktueller Rückgriff. 22 ZB Hüffer/Koch (Fn. 20), § 100 Rn. 2.
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Aktienrechtlich ist die Vorstellung des Gesetzgebers, dass es Sache des Aufsichtsrats ist, der Hauptversammlung geeignete Kandidaten zu nominieren (§ 124 Abs. 3 Satz 1 AktG). Die erforderliche Sachkunde lässt sich im Vorhinein kaum beurteilen und ist deshalb, so wichtig sie ist, nicht Bestellungsvoraussetzung im Sinne von § 100 AktG, ihr Fehlen führt auch nicht zur Anfechtbarkeit des Bestellungsbeschlusses.23 Allerdings muss jedes Aufsichtsratsmitglied das Grundwissen bzw. die Sachkunde haben, die es ihm ermöglicht, an den dem Aufsichtsratsplenum vorbehaltenen Entscheidungen vernünftig mitzuwirken und die von seinen Kollegen vorgebrachten Argumente grundsätzlich zu würdigen.24 Diese Grundsätze gelten aber nur für die Bestellung und Abberufung. Was die persönliche Haftung nach §§ 116, 93 AktG angeht, steht höchstrichterlich fest, dass „ein Aufsichtsratsmitglied diejenigen Mindestkenntnisse und -fähigkeiten besitzen oder sich aneignen muss, die es braucht, um alle normalerweise anfallenden Geschäftsvorgänge auch ohne fremde Hilfe zu verstehen und sachgerecht beurteilen zu können“.25 Die Anforderungen an den Aufsichtsratsvorsitzenden und an Ausschussmitglieder und unter diesen besonders die Mitglieder des Prüfungsausschusses26 sind entsprechend den damit verbundenen besonderen Aufgaben höher. Zwar reicht auch bei diesen die Mindestqualifikation eines Aufsichtsratsmitglieds für die Bestellung als Aufsichtsratsvorsitzender oder als Mitglied eines Ausschusses aus. Die für ihre Aufgabe notwendige Sachkunde ist auch hier keine Bestellungsvoraussetzung.27 Aber es kann dann ein wichtiger Grund für eine gerichtliche Abberufung vorliegen (§ 103 Abs. 3 AktG).28 Besondere Anforderungen werden an kapitalmarktorientierte Gesellschaften29 gestellt. Dort muss mindestens ein Mitglied des Aufsichtsrats über Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung oder Abschlussprüfung30 verfügen; die Mitglieder müssen in ihrer Gesamtheit, das heißt nicht jedes einzelne Mitglied,31 mit dem Sektor, in dem die Gesellschaft tätig ist, vertraut sein (§ 100 Abs. 5 AktG).
23 Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 100 Rn. 30 ff.; Habersack in MüKo AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 Rn. 16. 24 Ausführlich Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 100 Rn. 28 ff. Zur Einzelund Gesamtqualifikation des Aufsichtsrats Dreher in FS Hoffmann-Becking, 313. 25 BGHZ 85, 293, 295 f., = NJW 1983, 991, Hertie. 26 Dolzer Die Emanzipation des Prüfungsausschusses im Aufsichtsrat, 2019, 319 ff. 27 Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 100 Rn. 353 für Ausschussmitglieder. 28 Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 100 Rn. 36, 245, 255, 263. 29 § 264d HGB sowie weitere in § 100 Abs. 5 AktG genannte Institute. 30 Zum Problem der nur alternativen Anforderung kritisch Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 100 Rn. 231 ff.; zur Kritik wegen Abschaffung des Unabhängigkeitserfordernisses ebenda, Rn. 235 ff. und unten Fn. 93 und 94. 31 Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 21), § 100 Rn. 60a.
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bb) Empfehlung der Europäischen Kommission von 2005 Die Empfehlung der Europäischen Kommission vom 15.2.200532 sieht für die fachlichen Kompetenzen der nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitglieder vor, dass der Verwaltungs-/Aufsichtsrat selbst dafür sorgen sollte,33 dass seine Mitglieder in ihrer Gesamtheit über die zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlichen Fachkenntnisse, Urteilsfähigkeiten und Erfahrungen verfügen.34 Neue Mitglieder sollten eingeführt werden, der Verwaltungs-/Aufsichtsrat sollte jährlich die eventuell notwendige Auffrischung überprüfen, und die besonderen Kompetenzen von neu Vorgeschlagenen sollten offen gelegt werden. Für Prüfungsausschussmitglieder wird mehr verlangt.35 Sie sollten in ihrer Gesamtheit zeitnahe, einschlägige Kenntnisse im Bereich Finanzen und Rechnungslegung börsennotierter Gesellschaften haben, die für die Tätigkeit der Gesellschaft von Belang sind.36 cc) Kodexanforderungen Der Deutsche Corporate Governance Kodex 2020 führt in Grundsatz 11 aus, dass der Aufsichtsrat so zusammenzusetzen ist, dass seine Mitglieder insgesamt über die zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Aufgaben erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und fachlichen Erfahrungen verfügen.37 Der Aufsichtsrat soll ein Kompetenzprofil für das Gesamtgremium erarbeiten.38 Nach Grundsatz 18 nehmen die Aufsichtsratsmitglieder die für ihre Aufgabe erforderlichen Aus- und Fortbildungsmaßnahmen eigenverantwortlich wahr. Der Vorsitzende des Prüfungsausschusses soll über besondere Kenntnisse und Erfahrungen in der Anwendung von Rechnungslegungsgrundsätzen und internen Kontrollverfahren verfügen sowie mit der Abschlussprüfung vertraut sein.39 32 Empfehlung zu den Aufgaben von nichtgeschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats v. 15.2.2005, ABlEU L 52/51. Dazu Hopt ZIP 2005, 461, 467 ff.; Hüffer ZIP 2006, 637; Langenbucher ZGR 2007, 581, 589 ff. 33 Die Begriffe „sollen“ und „sollten“ sind nur beim Deutschen Corporate Governance Kodex im Sinne von Empfehlung bzw. nur Anregung zu verstehen. 34 Ziffer 11.1. Näher zur fachlichen Qualifikation von Aufsichtsratsmitgliedern Jung WM 2013, 2110, 2116 ff. 35 Zur zentralen Rolle des Prüfungsausschusses § 107 Abs. 3 AktG; Dolzer (Fn. 26); Hüffer/Koch (Fn. 20), § 107 Rn. 22 ff.; Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 107 Rn. 498 ff.; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 21) § 107 Rn. 139 ff. 36 Ziffer 11.2. 37 So schon Tz. 5.4 Abs. 1 DCGK 2017, dazu Kremer in Kremer/Bachmann/Lutter/ v. Werder Deutscher Corporate Governance Kodex Kodex-Kommentar, 7. Aufl. 2018, Rn. 1314 ff. (zit. Kodex-Kommentar). 38 Empfehlung C.1. 39 Empfehlung D.4.
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b) Qualifikation von Aufsehern als Aufsichtsräte aa) Allgemeines Für Aufseher als Mitglieder von Aufsichtsräten, Aufsichtsratsvorsitzende oder Mitglieder von Ausschüssen, insbesondere eines Prüfungsausschusses, gelten die zuvor dargestellten allgemeinen Regeln. Soweit sie aber, was naheliegt, besondere Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrung haben, können durch ihre Mitgliedschaft je nachdem die Anforderungen erfüllt sein, die nur an den Aufsichtsrat oder den Prüfungsausschuss in seiner Gesamtheit gestellt sind. Sind sie Aufsichtsratsvorsitzende oder Ausschussmitglieder, müssen sie nicht nur in persona die diesbezüglichen höheren Anforderungen erfüllen,40 sondern es wird an sie auch haftungsrechtlich ein höherer Maßstab angelegt. Unter §§ 116, 93 AktG ist anerkannt, dass sie besondere, über das Übliche hinausgehende Kenntnisse und Erfahrungen, die sie als Aufseher haben, für die Gesellschaft einsetzen müssen.41 bb) Aufseher der DPR Die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) ist eine privatrechtlich organisierte Einrichtung zur Prüfung von Verstößen gegen Rechnungslegungsvorschriften, die gemeinsam mit der übergeordneten BaFin das zweistufige deutsche Enformcementsystem für die Rechnungslegung bildet.42 Die DPR ist vom BMJV im Einvernehmen mit dem BMF gem. § 342b Abs. 1 Satz 1 HGB durch Vertrag anerkannt worden und hat zu gewährleisten, dass sie „aufgrund ihrer Satzung, ihrer personellen Zusammensetzung und der von ihr vorgelegten Verfahrensordnung … die Prüfung unabhängig, sachverständig, vertraulich und unter Einhaltung eines festgelegten Verfahrensablaufs“ durchführt (§ 342b Abs. 1 Satz 2 HGB). Im Jahr 2018 hat die Prüfstelle insgesamt 84 Prüfungen, darunter 80 Stichprobenprüfungen, drei Anlassprüfungen und eine Prüfung auf Verlangen der BaFin, abgeschlossen.43 Die Leitung der DPR liegt nach § 9 Abs. 4 der Satzung des Trägervereins44 in den Händen eines hauptamtlich tätigen Präsidiums aus Präsident und Vi40 Es gilt der Grundsatz besondere Pflichten bei besonderer Funktion, Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 116 Rn. 50 ff. für den Aufsichtsratsvorsitzenden und Vorsitzende und Mitglieder von Aufsichtsratsausschüssen. 41 Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 59, 392; Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 116 Rn. 40 ff. 42 Für viele Baumbach/Hopt/Merkt HGB § 342b Rn. 3 ff.; Hommelhoff in Großkomm HGB, 5. Aufl. 2012, Vor § 342b Rn. 1 ff. Zur folgenden Beschreibung der DPR auch v. Werder in FS Baums (Fn. 11), 1404 f. 43 Tätigkeitsbericht 2018 der DPR, 2 (abrufbar unter https://www.frep.info/presse/ taetigkeitsberichte.php, Stand: 7.7.2020). 44 Die Satzung v. 29.4.2004 in der aktuellen Fassung v. 1.4.2009 ist im Internet abrufbar unter https://www.frep.info/struktur_der_dpr/rechtliche_grundlagen/satzung.php (Stand: 7.7.2020).
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zepräsident. Die Präsidiumsmitglieder und die übrigen Mitglieder der Prüfstelle werden durch den Nominierungsausschuss des Trägervereins gewählt, wobei die Wahl der Zustimmung des BMJV im Einvernehmen mit dem BMF bedarf (§ 8 Abs. 4 a) und Abs. 5 Vereinssatzung). Die Wahl aller Mitglieder der Prüfstelle erfolgt im Rahmen eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens in der Regel für vier Jahre, wobei eine mehrmalige Wiederwahl zulässig ist (§ 8 Abs. 4 a) Satz 1–3 Vereinsatzung).45 Die Prüfstelle besteht aus mindestens fünf Mitgliedern (§ 9 Abs. 1 Satz 1 Vereinsatzung) und hat derzeit 15 Mitglieder-Planstellen.46 Mitglieder der Prüfstelle können nur natürliche Personen sein, die Rechnungsleger im Satzungssinne sind47 und „über ausreichende Erfahrung insbesondere in der Anwendung der International Financial Reporting Standards (IFRS) verfügen.“48 Eine in der Satzung vorgeschriebene Verfahrensordnung des Nominierungsausschusses (VO/NA) definiert innerhalb dieses Rahmens das Anforderungsprofil der Mitglieder der Prüfstelle, regelt das Auswahlverfahren und legt die Grundsätze für die Verträge mit den Mitgliedern der Prüfstelle fest (§ 8 Abs. 7 Vereinssatzung). Die VO/NA ist – im Gegensatz zu der Vereinssatzung und der Verfahrensordnung der Prüfstelle (VO/PR) – nicht auf der Internetseite der DPR zugänglich.49 Sie beinhaltet Presseberichten zufolge u.a. auch Regelungen zur Übernahme von Aufsichtsratsmandaten durch die Präsidiumsmitglieder, auf die im Zusammenhang mit der zeitlichen Verfügbarkeit (unten II 2 b) näher eingegangen wird.
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Der gegenwärtig amtierende Präsident wurde 2011 erstmals in sein Amt gewählt und 2014 sowie 2018 wiedergewählt, siehe Pressemitteilungen der DPR v. 20.6.2011, v. 18.11.2014 und v. 26.11.2018 (abrufbar unter https://www.frep.info/presse/pressemitteilungen. php, Stand: 7.7.2020). 46 DPR auf ihrer Internetseite mit dem Hinweis, dass „der Stellenplan nicht vollständig ausgeschöpft wird“ (abrufbar unter https://www.frep.info/ueber_uns/mitglieder_der _pruefstelle.php, Stand: 7.7.2020). Zusätzlich weist das Organigramm der DPR noch die Position eines Geschäftsführers aus (abrufbar unter https://www.frep.info/struktur_der _dpr/organigramm.php, Stand: 7.7.2020). 47 Nach § 4 Abs. 2 sind „Rechnungsleger … alle Personen, die mit entsprechender Qualifikation die Handelsbücher oder die sonstigen in § 257 Abs. 1 Nr. 1 HGB bezeichneten Unterlagen für Kapitalgesellschaften oder andere Unternehmen im Anstellungsverhältnis oder freiberuflich führen bzw. erstellen. Weiterhin sind Rechnungsleger Personen, die als Wirtschaftsprüfer, Hochschullehrer, vereidigte Buchprüfer, Steuerberater, Rechtsanwälte oder mit vergleichbarer Qualifikation auf dem Gebiet der Rechnungslegung prüfend, beratend, lehrend, überwachend oder analysierend tätig sind; dies gilt auch für Personen, die im Bereich der Hochschulen oder staatlichen Stellen tätig sind.“ 48 § 9 Abs. 2 Vereinsatzung. 49 Wadewitz (Fn. 14), 11 spricht von einer „Verfahrensordnung, die unter Verschluss gehalten wird“.
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Personen, die den skizzierten Nominierungsprozess für das Amt des Präsidenten50 der DPR erfolgreich absolvieren, werden in den meisten Fällen wertvolle Expertise zur Rechnungslegung für ein Aufsichtsratsmandat in börsennotierten Unternehmen51 mitbringen.52 Dies gilt nicht zuletzt auch für die speziellen Einblicke in und Erfahrungen mit den Anforderungen und Abläufen von Rechnungslegungsprüfungen durch die DPR. Zu beachten ist allerdings, dass diese Qualifikation im Falle der konkreten Prüfung eines Unternehmens, dessen Aufsichtsrat und namentlich Prüfungsausschuss der DPR-Präsident angehört, ausfällt. Angesichts des klaren Interessenkonflikts, in dem sich der Präsident befindet,53 ist er nicht nur zwingend auf Seiten der DPR von der Prüfung ausgeschlossen.54 Vielmehr verbietet sich auch seine Involvierung in ein DPR-Verfahren auf Seiten des geprüften Unternehmens55 im Grunde von selbst.56 Diese Inhabilität des Prüfungsausschussvorsitzenden ist für das geprüfte Unternehmen ein gewichtiger Nachteil, weil DPR-Prüfungen in hohem Maße reputationsrelevant sind und dem 50 Da die derzeitige Vizepräsidentin keine Aufsichtsratsmandate bei Unternehmen im Wirkungsbereich der DPR ausübt, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf das Amt des Präsidenten. Sie gelten aber analog auch für den Stellvertreterposten. 51 Im Einzelnen prüft die DPR nach § 342d Abs. 2 Satz 2 HGB „die Abschlüsse und Berichte von Unternehmen, die als Emittenten von zugelassenen Wertpapieren im Sinne des § 2 Absatz 1 des Wertpapierhandelsgesetzes die Bundesrepublik Deutschland als Herkunftsstaat haben; unberücksichtigt bleiben hierbei Anteile und Aktien an offenen Investmentvermögen im Sinne des § 1 Absatz 4 des Kapitalanlagegesetzbuchs.“ Zur Entlastung des Textes wird im Weiteren vereinfacht von börsennotierten Gesellschaften gesprochen, zumal die hier thematisierten Mandate des Präsidenten ausschließlich solche Unternehmen betreffen. 52 Diese Einschätzung darf zweifelsfrei auch konkret für den gegenwärtigen Präsidenten gelten, der u.a. von 1992–2007 Vorstandsmitglied der Deutsche Bundespost Postdienst/ Deutsche Post AG war (Lebenslauf, abrufbar unter https://www.frep.info/ueber_uns/ praesidium_der_pruefstelle.php, Stand: 7.7.2020) und als Vorsitzender mehrerer Prüfungsausschüsse börsennotierter Gesellschaften (siehe Fn. 10) weiterhin auch mit den aktuellen Problemen der Rechnungsleger vertraut ist. 53 Siehe näher unten II 3. 54 § 14 Abs. 2 Nr. 2 VO/PS, hierzu schon oben I. 55 Der Vorstand eines zu prüfenden Unternehmens bildet zwar den ersten Ansprechpartner der DPR, kann aber weitere Auskunftspersonen benennen, z.B. – aber nicht ausschließlich – den Abschlussprüfer. Siehe die DPR-Beschreibung des Prüfungsverfahren (abrufbar unter https://www.frep.info/pruefverfahren/ablauf_eines_pruefverfahrens.php, Stand: 7.7.2020). Zur intensiven internen Abstimmung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss bei einem DPR-Verfahren z.B. PWC Gut vorbereitet mit dem Enforcement Planner, 7. Aufl. 2018, 19, 57 und passim; Deloitte Enforcement der Rechnungslegung. Leitfaden für Vorstände und Aufsichtsräte, 2. Aufl. 2016, 45 f. (Empfehlung einer engen Begleitung des Verfahrens durch den Aufsichtsrat; im Ausnahmefall mit Einwilligung des Vorstands auch eigene Teilnahme von Aufsichtsratsmitgliedern an den Gesprächen mit der DPR). 56 Man stelle sich nur die unhaltbare Situation vor, wenn der Präsident seinen Mitarbeitern aus der DPR als Aufsichtsratsmitglied des geprüften Unternehmens Rede und Antwort stehen würde.
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Prüfungsausschuss in solchen Verfahren eine herausgehobene Rolle57 zukommt. 2. Zeitliche Verfügbarkeit a) Generelle Anforderungen aa) Gesetzliche Anforderungen Besondere Vorschriften über die zeitliche Verfügbarkeit und den zeitlichen Einsatz sind gesetzlich nicht vorgesehen mit Ausnahme der Vorschriften zum Overboarding58 nach § 100 Abs. 2 AktG, deren Verletzung zur Nichtigkeit der Wahl des Aufsichtsratsmitglieds führen kann. Aufsichtsratsmitglieder und zumal der Aufsichtsratsvorsitzende und Ausschussmitglieder müssen aber ihre Aufgaben, wie oben dargestellt, voll erfüllen und können sich nicht auf Zeitmangel berufen. Sonst kann entweder schon ein Übernahmeverschulden oder ein pflichtwidriges Tun oder Unterlassen vorliegen, das zur Haftung führen kann (§ 116 i.V.m. § 93 AktG).59 Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Aufsichtsratsamt anders als das eines Board- oder Verwaltungsratsmitglieds nicht als Haupt-, sondern als Nebenamt60 konzipiert ist. Deshalb wird etwa zur Compliance-Kontrolle durch den Aufsichtsrat darauf hingewiesen, dass von den Mitgliedern nur das verlangt werden kann, was mit amtsadäquatem Zeitaufwand zu bewältigen ist.61 Zum „Basisaufwand“ gehören die vier regulären Sitzungen des Plenums und eines Ausschusses, in dem der Kandidat Mitglied werden soll, und die Teilnahme an der Hauptversammlung.62 Aber in Krisensituationen kann der Aufwand um ein Vielfaches höher sein.63 Diese Anforderungen an die zeitliche Ver57 So auch der DPR-Präsident selbst, siehe Ernst Das Selbstverständnis der „Bilanzpolizei“, in: Schoppen Corporate Governance: Geschichte, Best Practice, Herausforderungen, 2015, 231: „Der Aufsichtsrat stellt eine wichtige Säule des Enforcements dar, wobei die drei Säulen aus dem Abschlussprüfer, dem Aufsichtsrat – hier insbesondere dem Prüfungsausschuss – sowie der DPR/BaFin bestehen.“ Ähnlich ders. Audit Committee Quarterly, Sonderpublikation für Max Dietrich Kley 2014, 7: „Im Falle der Prüfung seitens der DPR sollte sich der Prüfungsausschuss zeitnah und fortlaufend über den Stand der Prüfung informieren lassen.“ (im Original z.T. fett). 58 § 100 Abs. 2 AktG ist nicht mehr zeitgemäß, deshalb deutlich strenger Empfehlung C.4 des DCGK, unten II 2 a cc. 59 Allgemeine Meinung, zB Habersack in MüKo AktG (Fn. 23), § 116 Rn. 36 f. 60 Dies gilt allerdings nur für die nicht geschäftsführenden Direktoren (non-executive directors), die anders als die executive directors mit Aufsichtsratsmitgliedern vergleichbar sind. 61 ZB Hüffer/Koch (Fn. 20), § 111 Rn. 3. 62 Dazu Rubner/Fischer NZG 2015, 782, 786. 63 Deshalb kritisch zu Tz. 5.4.1 Abs. 4 DCGK 2015 (Mitteilung des erwarteten Zeitaufwands) DAV-Stellungnahme NZG 2015, 508, 509; Rubner/Fischer NZG 2015, 782, 788.
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fügbarkeit gelten erst recht für den Aufsichtsratsvorsitzenden, der heute häufig hauptamtlich tätig wird.64 bb) Empfehlung der Europäischen Kommission von 2005 Die Empfehlung der Kommission von 2005 sieht nur für Mitglieder der Unternehmensleitung vor, dass jedes Mitglied seinen Aufgaben die nötige Zeit und Aufmerksamkeit widmen und die Zahl seiner anderweitigen beruflichen Verpflichtungen (insbesondere die Zahl der Mandate in anderen Gesellschaften) soweit begrenzen sollte, dass die ordnungsgemäße Wahrnehmung seinen Aufgaben gewährleistet ist.65 cc) Kodexanforderungen Der DCGK 2020 hält in seinem Grundsatz 12 ausdrücklich fest, dass jedes Aufsichtsratsmitglied darauf achtet, dass ihm für die Wahrnehmung seiner Aufgaben genügend Zeit zur Verfügung steht, und gibt dementsprechend die Empfehlungen C.4 und C.5 für die Begrenzung von konzernexternen Aufsichtsratsmandaten in börsennotierten Gesellschaften oder von vergleichbaren Funktionen.66 Das betrifft nicht nur die Vorbereitung und Anwesenheit bei den Sitzungen, sondern vor allem auch das Overboarding.67 In Praxis und Literatur wird deshalb angeregt, dass mit den Kandidaten offen besprochen wird, ob sie angesichts ihrer sonstigen Verpflichtungen genügend Zeit für das Mandat haben oder eventuell bereit sind, andere Tätigkeiten zurückzufahren.68 b) Zeitliche Verfügbarkeit von Aufsehern im Aufsichtsrat Die Position eines Präsidiumsmitglieds der DPR ist – bei entsprechend dotierter Vergütung – als Hauptamt eingerichtet69 und bildet damit den (eigentlichen) Mittelpunkt seiner beruflichen Tätigkeit. Die unveröffentlichte Verfahrensordnung des Nominierungsausschusses (VO/NA) der DPR70 beinhaltet dementsprechend auch den Grundsatz, dass „der Präsident und der 64 Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 107 Rn. 100, ausführlich zum im Gesetz nur stiefmütterlich geregelten Aufsichtsratsvorsitzenden, dies. Rn. 83 ff.; Kremer in KodexKommentar (Fn. 37), Rn. 1262 ff. 65 Ziffer 12.1. Dazu Rubner/Fischer NZG 2015, 782, 785. 66 Empfehlungen C.4 und C.5 (näher unten II 2 b). Dazu Hopt/Leyens ZGR 2019, 929, 955. Zur Vergewisserung über den zu erwartenden Zeitaufwand, DCGK 2017 Tz. 5.4.1 Abs. 5 Kremer in Kodex-Kommentar (Fn. 37), Rn. 1348 ff.; zum zeitlichen Engagement, DCGK 2017 Tz. 5.4.5 ders. (Fn. 37), Rn. 1414 ff. 67 Die Forderung „genügend Zeit“ findet sich auch in den meisten ausländischen Kodizes, ebenda. 68 Peters/Hecker BB 2015, 1859, 1864; Hüffer/Koch (Fn. 20), § 100 Rn. 8. 69 § 9 Abs. 4 Vereinssatzung, siehe auch schon oben II 1 b bb. 70 Siehe nochmals oben II 1 b bb Abs. 3.
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Vizepräsident während ihrer Amtszeit bei der Prüfstelle keine Aufsichtsratsmandate innehaben“.71 Ausnahmebestimmungen gelten für zum Zeitpunkt des Amtsantritts bestehende Mandate und sehen u.a. vor, dass „eine Vereinbarung über die Rückführung auf höchstens drei Mandate in Aufsichtsräten getroffen werden (muss, die Verf.), sofern die Anzahl der genehmigten Mandate in Aufsichtsräten während der Amtsperiode die Anzahl von drei übersteigt.“72 Ferner dürfen die Mitglieder des Präsidiums „während ihrer Zeit bei der Prüfstelle keine neuen Mandate annehmen.“73 Vor diesem Hintergrund stellt sich (auch)74 aus Unternehmenssicht die Frage, ob und in welchem Umfang hauptamtliche Aufseher einen ausreichenden Teil ihrer insgesamt verfügbaren Arbeitszeit übernommenen Aufsichtsratsmandaten widmen können. Dies gilt umso mehr, als die zeitliche Belastung der Überwachungstätigkeit als Folge der gestiegenen Professionalisierung der Aufsichtsratsarbeit in den letzten Jahren signifikant zugenommen hat.75 Der tatsächliche Zeitbedarf einer sorgfältigen Mandatsausübung lässt sich generell nur schwer quantifizieren, da es auf die Umstände des Einzelfalls wie die Größe und Komplexität76 des zu überwachenden Unternehmens sowie die im Aufsichtsrat konkret ausgeübten Funktionen ankommt.77 So sind Vorsitzende eines großen (z.B. zwanzigköpfigen) Überwachungsorgans oder seiner (wichtigen) Ausschüsse78 ungleich stärker belastet als einfache Organmitglieder, die einem kleineren Aufsichtsrat und dort keinem Ausschuss angehören. Ferner hängt es nicht zuletzt auch von den individuellen Fähigkeiten zur Selbstorganisation ab, welche Anzahl an Mandaten eine 71 Schüppen (Fn. 14), 11. Hierzu und zum Folgenden schon v. Werder in FS Baums (Fn. 11), 1395, 1409 f. 72 Schüppen (Fn. 14), 11. 73 Wadewitz (Fn. 14), 11. 74 Das Problem eines eventuellen Overboarding berührt naturgemäß spiegelbildlich ebenfalls die Enforcement Governance, hierzu auch Sendel-Müller/Weckes (Fn. 11), 11. 75 Zur gestiegenen Bedeutung des Aufsichtsrats Hopt ZGR 2019, 507. 76 Hierzu zählt aus Governancesicht nicht zuletzt auch die Frage, ob es sich um eine kapitalmarktorientierte Gesellschaft handelt oder nicht. 77 Siehe auch Rubner/Granrath NJW-Spezial 2014, 791; Kremer in Kodex-Kommentar (Fn. 37), Rn. 1352 ff., mit einer informativen Auflistung der zu berücksichtigenden Faktoren und der Feststellung, dass diese „bei neuen Aufsichtsratsmitgliedern leicht zu einem Zeitbedarf für ein einfaches Aufsichtsratsmitglied in der Größenordnung von bis zu 30 Tagen führen“ können (Rn. 1354). 78 Gerade der Vorsitz eines Prüfungsausschusses ist nicht nur fachlich besonders anspruchsvoll, sondern auch überdurchschnittlich zeitintensiv. Dementsprechend wird der Prüfungsausschussvorsitz inzwischen auch besonders hoch und vergleichbar mit dem stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitz vergütet. Siehe etwa PWC/Goethe Universität Frankfurt am Main Vergütungsstudie 2018, 23 ff. (abrufbar unter https://www.pwc.de/de/aufsichts raete/verguetungsstudie-2018.pdf, Stand: 7.7.2020); Korn Ferry Non-Executive Directors in Europe 2019, 30 f. (abrufbar unter https://infokf.kornferry.com/rs/494-VUC-482/ima ges/191206-KF%20-%20NED%20report%202019%20-%20LR%20SPREAD%20mail. pdf, Stand: 7.7.2020).
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Person innerhalb eines gegebenen Zeitbudgets problemlos bewältigen kann.79 Gleichwohl lassen sich immerhin Governancestandards und praktische Erfahrungswerte heranziehen, um den erforderlichen Zeitaufwand zumindest näherungsweise abzuschätzen. So entspricht es nach dem neuen Kodex guter Corporate Governance, wenn (ebenfalls hauptamtlich tätige) Vorstandsmitglieder börsennotierter Gesellschaften nicht mehr als zwei Aufsichtsratsmandate und keinen Aufsichtsratsvorsitz in konzernexternen börsennotierten Gesellschaften wahrnehmen.80 Aber auch für Aufsichtsräte, die keinem Vorstand einer börsennotierten Gesellschaft angehören, enthält der Kodex Beschränkungen. Aufsichtsratsmitglieder sollen danach insgesamt nicht mehr als fünf Mandate bei konzernexternen börsennotierten Gesellschaften oder vergleichbare Funktionen wahrnehmen, wobei ein Aufsichtsratsvorsitz doppelt zählt (Empfehlung C.4 DCGK). Anhaltspunkte zum Zeitaufwand eines Aufsichtsratsmandates vermitteln ferner beispielsweise empirische Befragungsergebnisse. So beträgt nach einer Erhebung unter 120 deutschen und österreichischen Aufsichtsratsmitgliedern der durchschnittliche Arbeitsaufwand über alle Branchen und Größenklassen der Unternehmen berechnet bereits 34 (alle Befragten) bzw. 46 Tage (Aufsichtsratsvorsitzende).81 Solche Befunde können zwar allenfalls Näherungswerte liefern. Gleichwohl ist es nach allem nicht lebensfremd zu konstatieren, dass die Mandatsausstattung des DPR-Präsidenten neben seiner Leitungsfunktion ein beachtliches Arbeitspensum bedeutet. Von außen betrachtet ist damit die Grenze zum Overboarding – vorsichtig formuliert – wenigstens deutlich strapaziert.82 79 „Für Manche ist schon ein Mandat zu viel, Andere schaffen locker n Mandate.“ Dieser in Kreisen von Mandatsträgern gelegentlich (mit variierendem n) geäußerte launige Satz enthält zweifelsohne mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Zugleich darf aber auch die gerade in soziologisch homogenen Gruppen virulente Gefahr der Selbstüberschätzung nicht übersehen werden. 80 Empfehlung C.5 DCGK. Der neue Kodex hat seine Empfehlung gegenüber der bisherigen Fassung durchaus nennenswert verschärft, da zuvor maximal drei Aufsichtsratsmandate zulässig waren und der Aufsichtsratsvorsitz nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurde, siehe 5.4.5 Abs. 1 Satz 2 DCGK 2017. Im Reformentwurf v. 25.10.2018 bezog sich die Empfehlung allerdings nicht lediglich auf Vorstandsmitglieder börsennotierter Gesellschaften, sondern generell auf geschäftsführende Organmitglieder einer Unternehmung (Empfehlung B.6 DCGK-E 2018). Siehe auch die strengere ISS-Leitlinie zum Overboarding: „Also, any person who holds the position of executive director (or comparable role) at one company and a non-executive chairman at a different company will be classified as overboarded.” ISS Continental Europe Proxy Voting Guidelines v. 21.1.2020, 10 (abrufbar unter https://www.issgovernance.com/policy-gateway/voting-policies/, Stand: 7.7.2020). 81 Siehe Boston Consulting Group/Georg-August-Universität Göttingen Herausforderungen der Aufsichtsratsarbeit. Ergebnisse der BCG-Aufsichtsratsbefragung 2018, 18 (abrufbar unter https://www.bcg.com/de-de/perspectives/210607, Stand: 7.7.2020). Nach Auskunft der BCG liegen die Angaben für Ausschussvorsitzende (ohne Aufsichtsratsvorsitz) zwischen „20 bis 30 Tage“ und „70 bis 80 Tage“. 82 Kritisch auch Sendel-Müller/Weckes (Fn. 11), 11.
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Selbst eine kritische Anzahl übernommener Aufsichtsratsmandate muss allerdings nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Ausübung der Überwachungstätigkeit aus Zeitnot leidet und damit die Corporate Governance der betreffenden Unternehmen unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen wird. Vielmehr ist es nicht ausgeschlossen, wenn auch hier keineswegs unterstellt, dass der eventuelle Zeitmangel eines Aufsehers im Hauptamt kompensiert wird. Wenngleich hierdurch direkt nur die Enforcement Governance berührt wäre, können daraus resultierende, möglicherweise in den Medien geführte Diskussionen mittelbar durchaus auch auf die Unternehmensebene ausstrahlen.83 Zu denken ist etwa an die Reputationsrisiken der Gesellschaften, die zeitlich überbeanspruchte Personen in ihre Aufsichtsräte berufen. Diese Risiken wiegen umso schwerer, als (auch) die private Stufe der Rechnungslegungsaufsicht über die BaFin durch Umlagen aller von § 17d Abs. 1 Satz 2 Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz erfassten kapitalmarktorientierten Unternehmen finanziert wird. 3. Unabhängigkeit und Interessenkonflikte a) Generelle Anforderungen aa) Gesetzliche Anforderungen Für Aufsichtsratsmitglieder gibt es, von Sondervorschriften etwa im Investmentrecht abgesehen, im deutschen Recht anders als teilweise international de lege lata kein Unabhängigkeitserfordernis.84 Das frühere Unabhängigkeitserfordernis für Finanzexperten in § 100 Abs. 5 AktG ist durch das Abschlussprüferreformgesetz (AReG) 2016 zulässigerweise,85 aber mit wenig überzeugenden Gründen86 gestrichen worden, was international nur schwer 83 Durch die im Zuge der Vorgänge um Wirecard eingetretenen Entwicklungen bei der DPR hat dieser Gedanke reale Gestalt angenommen. 84 Allgemeine Meinung, Hüffer/Koch (Fn. 20), § 100 Rn. 3; Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 100 Rn. 149, ausführlich zur Frage der Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern dieselben, § 100 Rn. 147–200; Habersack in MüKo AktG (Fn. 23), § 100 Rn. 83; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 21) § 100 Rn. 65. Zur Unabhängigkeit des Verwaltungsrats (Schweiz) zuletzt Bühler/Burckhardt-Buchs Expert Focus 2019/8, 584, auch dort gibt es keine allgemeine aktienrechtliche Vorschrift dazu. 85 Dies in Ausübung des Mitgliedstaatenwahlrechts in Art. 39 Abs. 5 der geänderten Abschlussprüferrichtlinie, Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 100 Rn. 160. 86 Der Finanzexperte solle auch aus dem Kreis der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat bestellt werden können, ohne dass es auf die umstrittene Frage der Unabhängigkeit der Arbeitnehmervertreter im Sinne des DCGK ankomme, RegE BTDrucks 16/10067, 102. Die Begründung überzeugt nicht, ebenso Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 21) § 100 Rn. 59a. Zwar sind Arbeitnehmervertreter nach der zutr. hL tatsächlich nicht unabhängig, Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 100 Rn. 177 mwN; Hüffer/Koch (Fn. 20), § 100 Rn. 5; Habersack in MüKo AktG (Fn. 23), § 100 Rn. 84. Aber von einer Empfehlung des DCGK kann ohne weite-
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vermittelbar ist.87 Immerhin spielt die Unabhängigkeit in anderen Zusammenhängen eine Rolle, etwa nach dem ARUG II (unten II 3 a bb). Auch die Interessenkonflikte von Aufsichtsratsmitgliedern sind nicht durch eine allgemeine, zentrale Norm geregelt, vielmehr gibt es verschiedene Vorschriften, die mehr oder weniger direkt Interessenkonfliktssituationen von Aufsichtsratsmitgliedern erfassen, und es gibt seit langem eine umfassende Aktienrechtsliteratur zu diesen Interessenkonflikten.88 Dabei wird nicht immer klar zwischen Unabhängigkeit und Interessenkonflikten unterschieden.89 So schreibt beispielsweise § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AktG im Hinblick auf Interessenkonflikte für den Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat eine Karenzzeit vor, was teilweise auch als Unabhängigkeitsregelung angesehen wird. § 101 Abs. 2 AktG bindet die Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern durch einen Aktionär an enge Voraussetzungen. In der Regel setzen die aktienrechtlichen Interessenkonfliktsregelungen jedoch nicht bei den persönlichen Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder an, sondern bei deren Handeln bzw. den von ihnen getätigten Transaktionen.90 Die Forderung nach Unabhängigkeit zielt danach darauf, das Entstehen von Interessenkonflikten von vornherein möglichst zu vermeiden, der Themenkomplex Interessenkonflikte betrifft dann den Umgang mit (trotzdem auftretenden) akuten Interessenkonflikten. Dabei besteht ein interessanter Zusammenhang zwischen der Strenge der Unabhängigkeitsanforderungen und der Gefahr von Interessenkonflikten: Je weicher (z.B. bei der Bestellung) die Anforderungen an die Unabhängigkeit sind, umso eher kann es später beim konkreten Handeln zu Interessenkonflikten kommen. Allgemein wird angenommen, dass ein Aufsichtsratsmitglied bei einem wesentlichen und nicht nur vorübergehenden Interessenkonflikt schon de lege lata verpflichtet ist, sein Amt niederzulegen.91
res abgewichen werden, und Abweichungskultur, wenn gute Gründe vorliegen, wird allgemein für wünschenswert angesehen, v. Werder in Kodex-Kommentar (Fn. 37), Rn. 147. 87 Kritisch zur Abschaffung aus betriebswirtschaftlicher Sicht auch v. Werder Audit Committee Quarterly, Heft II 2016, 23, 24 („‘Sündenfall‘ des Gesetzgebers“). 88 Hüffer/Koch (Fn. 20), § 100 Rn. 4 ff.; Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 100 Rn. 267–325; Habersack in MüKoAktG (Fn. 23), § 100 Rn. 92 ff. Umfassend Kumpan Der Interessenkonflikt im deutschen Privatrecht, 2014, 201 ff.; Seibt in FS Hopt, 2010, Bd. II, 1363. Zur Prävention und Repression von Interessenkonflikten Hopt in FS Doralt, 2004, 213. 89 So aber der DCGK, unten II 3 a cc. 90 Die business judgment rule nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 2 AktG setzt ein Handeln des Aufsichtsratsmitglieds ohne Interessenkonflikte und sachfremde Einflüsse voraus, näher Hopt/Roth (Fn. 41), § 93 Rn. 90 ff.; zuletzt Reichert in FS E. Vetter, 2019, 597. 91 LG Hannover ZIP 2009, 761, 762, Continental/Schaeffler; Hüffer/Koch (Fn. 20), § 116 Rn. 8; Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 100 Rn. 309; Habersack in MüKo AktG (Fn. 23), § 100 Rn. 103; Seibt in FS Hopt, 2010, Bd. II, 1363, 1383 f.
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bb) Empfehlung der Europäischen Kommission von 2005 und Aktionärsrechterichtlinie II mit ARUG II Die bereits zur Qualifikation erwähnte Empfehlung der Europäischen Kommission von 2005 besagt in Ziffer 13.1, dass ein Mitglied der Unternehmensleitung als unabhängig im Sinne der Empfehlung gilt, „wenn es in keiner geschäftlichen, familiären oder sonstigen Beziehung zu der Gesellschaft, ihrem Mehrheitsaktionär oder deren Geschäftsführung steht, die einen Interessenkonflikt begründet, der sein Urteilsvermögen beeinflussen könnte“. Die Letztentscheidung über die Unabhängigkeit trifft der Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrat (Ziffer 13.2 Satz 2), der den im Anhang aufgeführten Katalog mit neun Buchstaben berücksichtigen sollte.92 Kritisch ist dabei besonders Buchstabe e), wonach die betreffende Person zu der Gesellschaft oder einer verbundenen Gesellschaft kein Rechtsverhältnis in bedeutendem Umfang unterhalten oder im letzten Jahr unterhalten haben darf, was „bedeutende Anbieter von Waren und Dienstleistungen (einschließlich finanzieller, rechtlicher oder beratender Art)“ sowie bedeutende Abnehmer einschließt. Regeln zur Unabhängigkeit bzw. zu Interessenkonflikten enthalten auch die Aktionärsrichtlinie II und das Umsetzungsgesetz ARUG II.93 So regelt der durch das ARUG II eingeführte § 111a AktG n.F. Geschäfte mit nahestehenden Personen und definiert diese in § 111a Abs. 1 Satz 2 AktG unter Verweisung auf die internationalen Rechnungslegungsstandards in der jeweiligen Fassung. Dabei gibt es zwei Gestaltungsmöglichkeiten: Entweder bildet die Gesellschaft einen Ausschuss, der über die Zustimmung nach § 111b Abs. 1 AktG n.F. beschließt, oder der Aufsichtsrat beschließt selbst. Ersterenfalls können an dem Geschäft beteiligte nahestehende Personen nicht Mitglieder des Ausschusses sein (§ 107 Abs. 3 Satz 5 AktG n.F.). Zudem muss dieser Ausschuss mehrheitlich aus Mitgliedern bestehen, bei denen keine Besorgnis eines Interessenkonflikts auf Grund ihrer Beziehung zu einer nahestehenden Person besteht (§ 107 Abs. 3 Satz 6 AktG n.F.). Letzterenfalls, also bei Entscheidung durch den Aufsichtsrat selbst, können bei der Beschlussfassung diejenigen Aufsichtsratsmitglieder nicht mitstimmen, die an dem Geschäft als nahestehende Personen beteiligt sind oder bei denen die Besorgnis eines Interessenkonflikts aufgrund ihrer Beziehungen zu der nahestehenden Person besteht (§ 111b Abs. 2 AktG n.F.). Sie sind also gesetzlich nicht von der Teilnahme an den Sitzungen ausgeschlossen, sondern dürfen bei der Beschlussfassung anwesend sein und auch mitdisku92
Der Katalog ist auch abgedruckt in Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 17), § 100 Rn. 157; Kumpan (Fn. 87), 210 f. 93 Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2637.
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tieren.94 Nach der Begründung95 ist ein Interessenkonflikt anzunehmen, wenn Gründe vorliegen, aufgrund derer das Aufsichtsratsmitglied seine Entscheidung nicht allein am Unternehmensinteresse, sondern auch am Interesse der nahestehenden Person orientieren könnte. Bereits der bloße Anschein einer Beeinflussung der Entscheidung des Aufsichtsratsmitglieds soll vermieden werden. Die Beurteilung des Vorliegens der Besorgnis hat hier objektiv zu erfolgen, ist also gerichtlich voll überprüfbar.96 Eine fehlerhafte Beurteilung der Besorgnis eines Interessenkonflikts kann, wenn sorgfaltswidrig, schadensersatzpflichtig machen (§§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG).97 cc) Kodexanforderungen Der DCGK 2020 enthält sieben Empfehlungen zur Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseignerseite,98 dagegen anders als sonst keinen vorangeschickten Grundsatz, weil es einen solchen de lege lata nicht gibt.99 Empfehlung C.6 Abs. 2 sieht eine Unabhängigkeit in zweifacher Richtung100 vor, 1) von der Gesellschaft und deren Vorstand und 2) von einem kontrollierenden Aktionär.101 Für erstere kommt es nach C.7 Abs. 1 Satz 2 darauf an, dass das Aufsichtsratsmitglied in keiner persönlichen oder geschäftlichen Beziehung zu der Gesellschaft oder deren Vorstand steht, die 94 RegE ARUG II, Begründung B 85; von der Abstimmung ausgeschlossen sind nur die unmittelbar an dem Geschäft beteiligten Mitglieder. Der bloße Ausschluss von der Abstimmung erscheint nicht unproblematisch, da über die Teilnahme an der Diskussion je nach Macht- und sonstigen Verhältnissen durchaus ein wichtiger, wenn nicht gar entscheidender Einfluss genommen werden kann. 95 RegE ARUG II, Begründung B, 86 f. 96 RegE ARUG II, Begründung B, 85 f., 88, 96. 97 RegE ARUG II, Begründung B, 88, 96. 98 Kritisch dazu Hopt/Leyens ZGR 2019, 929, 958 f.; zu den Unabhängigkeitsregeln des DCGK insgesamt dies. ZGR 2019, 929, 956–965; v. Werder DB 2019, 1721, 1724 ff.; M. Roth AG 2020, 278, 289 ff. Zu den Unabhängigkeitsempfehlungen des DCGK 2017 Tz. 5.4.2 Kremer in Kodex-Kommentar (Fn. 37), Rn. 1364 ff.; zu Nr. 5.4.2 Satz 2 DCKG 2017 als zu unbestimmt OLG Celle, NZG 2018, 904, 906. Zur Diskussion um die Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern auch Bürgers in FS Marsch-Barner 2018, 83; Needham/Mack/Müller Der Konzern 2020, 104; Hopt/Leyens in Hopt/Binder/Böcking, Handbuch Corporate Governance von Banken und Versicherungen, 2020, § 1 Corporate Governance Rn. 87 ff. 99 Oben II 2 a aa. 100 Nach der grundlegenden Definition in C.6 Abs. 2 setzt die Unabhängigkeit eines Aufsichtsratsmitglieds voraus, das es „… unabhängig von der Gesellschaft und deren Vorstand und unabhängig von einem kontrollierenden Aktionär ist.“ Die Unabhängigkeit von Gesellschaft und Vorstand (Definition in C.7 Abs. 1 Satz 2) bzw. die Unabhängigkeit von einem kontrollierenden Aktionär (Definition in C.9 Abs. 2) können daher auch als bloße Teilunabhängigkeiten angesehen werden, näher v. Werder DB 2019, 1721, 1724 ff. 101 Das wird auch international als besonders kritisch angesehen, z.B. Strampelli How to Enhance Directors‘ Independence at Controlled Companies, The Journal of Corporation Law 44 (2018) 103.
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einen wesentlichen und nicht nur vorübergehenden Interessenkonflikt begründen kann. Dabei soll nach dem gegenüber der EU-Kommissionsempfehlung von 2005 verkürzten Kriterienkatalog insbesondere berücksichtigt werden, ob das Aufsichtsratsmitglied „eine wesentliche geschäftliche Beziehung mit der Gesellschaft oder einem von dieser abhängigen Unternehmen unterhält oder unterhalten hat (z.B. als Kunde, Lieferant, Kreditgeber oder Berater)“.102 Wesentlichkeit bestimmt sich dabei nach der Gefahr, dass das Aufsichtsratsmitglied andere Interessen als die der Gesellschaft verfolgt.103 Besonders wichtig ist die in Empfehlung C.10 vorgesehene funktionsbezogene Differenzierung der Unabhängigkeitsanforderungen.104 Der Vorsitzende des Prüfungsausschusses soll in beiderlei Richtung unabhängig sein, also auch vom kontrollierenden Aktionär, der Vorsitzende des Aufsichtsrats und der des Vorstandsvergütungsausschusses nur unabhängig von der Gesellschaft und dem Vorstand. Sodann enthält der DCGK 2020 unter Abschnitt E Regelungen zu den Interessenkonflikten. Nach Grundsatz 19 sind Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat dem Unternehmensinteresse verpflichtet, so für Aufsichtsratsmitglieder auch schon Grundsatz 10 Satz 4. Was das Unternehmensinteresse beinhaltet, ergibt sich de lege lata aus § 76 AktG. Gesichert ist nur, dass es sich dabei um eine interessenplurale Zielkonzeption handelt, die Aktionäre, Arbeitnehmer und Öffentlichkeit (Gemeinwohl) beinhaltet, Näheres ist umstritten.105 Der DCGK enthält dazu Umschreibungen in der Präambel Abs. 1 und 2.106 Von den drei Empfehlungen zu Abschnitt E ist für Aufsichtsratsmitglieder nur E.1 einschlägig. Dort geht es um die Offenlegung sowie um die Beendigung des Mandats bei wesentlichen und nicht nur vorübergehenden Interessenkonflikten in der Person eines Aufsichtsratsmitglieds. b) Unabhängigkeit und Interessenkonflikte von Aufsehern im Aufsichtsrat Der Fokus der folgenden Überlegungen zum Komplex Unabhängigkeit und Interessenkonflikte liegt – wie eingangs schon dargelegt wurde – nicht auf der Frage, inwieweit DPR-Vertreter aufgrund möglicher Interessenkonflikte vom Prüfverfahren ausgeschlossen sind (Perspektive der Enforcement Governance).107 Auch wenn danach der Präsident oder andere Mitglieder der Prüfstelle wegen fehlender Unabhängigkeit im konkreten Fall nicht prü102 Empfehlung C.7 Abs. 2 zweiter Spiegelstrich. Allgemeiner zu den geschäftlichen Beziehungen von erheblicher Bedeutung Kumpan (Fn. 88), 191 ff. 103 Hüffer/Koch (Fn. 20), § 100 Rn. 6. 104 Hopt/Leyens ZGR 2019, 929, 964 f. 105 Hüffer/Koch (Fn. 20), § 76 Rn. 25 ff., zur Corporate Social Responsibility (CSR) ders. § 76 Rn. 35 ff. mwN. 106 Näher Hopt/Leyens ZGR 2019, 929, 937 f.; v. Werder in Kodex-Kommentar (Fn. 37), Rn. 111 ff., 802 ff. 107 Siehe nochmals I Abs. 3.
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fen dürfen, bleibt unabhängig davon zu analysieren, was für diese Prüfer aktienrechtlich, nach der EU-Empfehlung und nach dem DCGK 2020 in ihrer eventuellen Funktion als Mitglied des Aufsichtsrats eines zu prüfenden Unternehmens gilt (Perspektive der Corporate Governance). Die unter II 3 a dargestellten Regeln für die Unabhängigkeit und die Interessenkonflikte von Aufsichtsratsmitgliedern gelten ohne weiteres auch für Aufseher in ihrer Rolle als Aufsichtsratsmitglieder, also etwa falls der Aufseher in den zwei Jahren vor der Ernennung Mitglied des Vorstands der zu prüfenden Gesellschaft war oder der Gesellschaft in größerem Umfang Waren anbietet oder ein bedeutender Abnehmer ist. Die kritische Frage ist vielmehr, ob der Aufseher als solcher schon wegen seiner Eigenschaft als Aufseher, hier als Mitglied oder sogar Präsident der DPR-Aufsicht und möglicher Aufseher dieses oder anderer Unternehmen, nicht mehr als unabhängig angesehen werden kann oder als in einem Interessenkonflikt stehend angesehen werden muss. Dieser Frage ist im Folgenden am Beispiel der Mitglieder und des Präsidenten der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung zu untersuchen. aa) Mandate einfacher Mitglieder der Prüfstelle (1) Unabhängigkeit Gesetzliche Anforderungen im Hinblick auf die Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern gibt es, wie dargestellt, nicht und die Empfehlungen der Europäischen Kommission richten sich an die Mitgliedstaaten und sind weder für diese noch erst recht für Private bindend. Es bleiben die Empfehlungen des Kodex, hier Empfehlung C.7 Abs. 1 Satz 2 mit Abs. 2 zweiter Spiegelstrich. Zu prüfen ist, ob danach ein einfaches Mitglied der Prüfstelle schon deswegen nicht mehr unabhängig ist, weil es in dieser Eigenschaft nach § 342b Abs. 2 HGB möglicherweise die Rechnungslegung von Unternehmen, auch von Wettbewerbern der zu prüfenden Gesellschaft, bei der das Mandat ansteht, prüft oder prüfen kann. Dass eine solche Prüfung nur in Kooperation mit dem jeweiligen Unternehmen stattfindet,108 ist insoweit nicht von Bedeutung. Nach dem Wortlaut von Empfehlung C.7 Abs. 2 zweiter Spiegelstrich kommt es darauf an, ob das Mitglied der Prüfstelle eine wesentliche geschäftliche Beziehung mit der Gesellschaft unterhält, die nach den dort angegebenen Beispielsangaben auch eine solche als Berater sein kann. Daran fehlt es jedoch schon deswegen, weil die Prüfstelle und für sie das Mitglied der Prüfstelle der Gesellschaft nicht als Berater, sondern als Prüfer tätig werden. Auch fehlt es an einer geschäftlichen Beziehung, dies auch unter Berücksichtigung der gebote108
Merkt in Baumbach/Hopt HGB, 39. Aufl. 2020, § 342b Rn. 5 und 6.
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nen grundsätzlich weiten Auslegung.109 Der Umstand allein, dass die DPR jederzeit die Gesellschaft prüfen kann und das betreffende Mitglied der Prüfstelle tatsächlich oder möglicherweise für andere Gesellschaften als Prüfer tätig wird oder werden kann, ist offenkundig nicht erfasst. Es fehlt hier an einer persönlichen oder geschäftlichen Beziehung zu der Gesellschaft. Das ist auch der Fall, wenn das Mitglied der Prüfstelle aktuell oder in dem Jahr bis zu seiner Ernennung als Prüfer eines von der Gesellschaft abhängigen Unternehmens tätig ist oder war. Das gilt schon deswegen, weil eine Prüfung sich nicht einfach auf die Muttergesellschaft beschränken kann, sondern jedenfalls bei einer Konzernprüfung auch auf Töchter ausgreift. Dem entspricht § 13 der Verfahrensordnung der DPR, wonach als zu prüfendes Unternehmen nicht nur das Unternehmen selbst, sondern jedes mit dem Unternehmen verbundene Unternehmen gilt. Die Tätigkeit als Mitglied der Prüfstelle ist auch keine solche in verantwortlicher Funktion eines konzernfremden Unternehmens, die Prüfstelle kann einem solchen nicht gleichgesetzt werden. Die Empfehlung C.8, wonach das betreffende Aufsichtsratsmitglied als unabhängig bezeichnet werden kann, ist nicht einschlägig, weil sie nur eingreift, wenn ein in Empfehlung C.7 genannter Indikator erfüllt ist, woran es, wie eben ausgeführt, fehlt. Aber selbst wenn man ein einfaches Mitglied der Prüfstelle als nicht unabhängig im Sinne der Empfehlung C.7 ansehen wollte, könnten die Anteilseigner der Gesellschaft, wenn sie die Unabhängigkeit nach Empfehlung C.7 Abs. 2 einschätzen, das Mitglied der Prüfstelle dennoch als unabhängig ansehen. Das sollte dann allerdings nach der Empfehlung C.8 in der Erklärung zur Unternehmensführung begründet werden. (2) Interessenkonflikte Empfehlung E.1 Satz 3 bestimmt, dass wesentliche und nicht nur vorübergehende Interessenkonflikte in der Person eines Aufsichtsratsmitglieds zur Beendigung des Mandats führen sollen. Liegen solche Interessenkonflikte schon vor oder bei Antritt des Mandats vor, ist offenbar, dass dieses dann auch nicht erst angetreten werden soll. Für einfache Mitglieder der Prüfstelle stellt auch der Umstand, dass die DPR die Gesellschaft jederzeit prüfen kann, keinen solchen wesentlichen Interessenkonflikt dar. Das wird man nicht nur für die Übernahme eines Aufsichtsratsmandats in einer anderen als der zu prüfenden Gesellschaft so sehen, sondern auch für die Übernahme eines Aufsichtsratsvorsitzes oder einer Funktion in einem Prüfungsausschuss. Hier reicht aus, dass das Mitglied der Prüfstelle nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 der Verfahrensordnung von der Einbeziehung in ein Prüfverfahren ausgeschlossen ist und nach § 4 Abs. 5 Satz 1 der Verfahrensordnung ein anderes Mitglied der Kammer an seine Stelle tritt. Das entspricht der Rechtslage bei Ausschluss von 109 Zu dieser unter DCGK 2017 Tz. 5.4.2 Kremer in Kodex-Kommentar (Fn. 37), Rn. 1383.
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der Ausübung des Richteramts oder der Ablehnung eines staatlichen Richters nach § 42 ZPO wegen Befangenheit110 oder bei Ausschluss eines Wirtschaftsprüfers bei der Abschlussprüfung nach §§ 319 ff. HGB. bb) Mandate des Präsidenten der Prüfstelle (1) Unabhängigkeit Was die Unabhängigkeit im Sinne der Empfehlung des DCGK 2020 angeht, gilt für den Präsidenten der Prüfstelle nichts anderes als für ein einfaches Mitglied der Prüfstelle. Die Empfehlung C.7 Abs. 1 Satz 2 mit Abs. 2 zweiter Spiegelstrich lässt nicht einen wesentlichen Interessenkonflikt für sich allein genügen, sondern setzt voraus, dass dieser Interessenkonflikt durch eine persönliche oder geschäftliche Beziehung begründet werden kann. Daran fehlt es. Der Umstand allein, dass die DPR jederzeit bei der Gesellschaft oder anderen Gesellschaften prüfen kann, begründet keine solche Beziehung. (2) Interessenkonflikte Die Empfehlung E.1 Satz 3 des DCGK 2020 erfasst demgegenüber jeden wesentlichen und nicht nur vorübergehenden Interessenkonflikt in der Person des Aufsichtsratsmitglieds, ohne dass dieser aus einer persönlichen oder geschäftlichen Beziehung begründet sein muss. Ein Interessenkonflikt kann darin liegen, dass der Präsident der Prüfstelle die Leitungsfunktion der Prüfstelle wahrnimmt, er in jedem Ausschuss der Prüfungsstelle Mitglied ex officio ist und dort den Vorsitz führt und er jeder Kammer der Prüfstelle, die für die Urteilsfindung zuständig ist, angehört und dort den Vorsitz führt.111 Als Aufsichtsratsmitglied der zu prüfenden Gesellschaft ist er dem Unternehmensinteresse dieser Gesellschaft verpflichtet. Seine Überwachungsaufgabe als Aufsichtsratsmitglied ähnelt der als Prüfer, ist aber nicht dieselbe. Aufgabe der Prüfstelle ist nach § 342b Abs. 1 Satz 1 HGB die Prüfung von Verstößen gegen Rechnungslegungsvorschriften. An deren Einhaltung sind im Rahmen ihrer Überwachungsaufgabe auch die Aufsichtsratsmitglieder der Gesellschaft beteiligt. Ist der Präsident Mitglied des Aufsichtsrats, würde er sich insoweit gewissermaßen selbst prüfen.112 Diese direkte Selbstprüfung verhindert zwar § 14 Abs. 2 Nr. 2 der Verfahrensordnung mittels eines Ausschlussgrundes. Der Präsident ist dann als 110 Vgl. zuletzt zutr. zur Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit im Dieselskandal, wenn dieser in einem Verfahren zwar nicht selbst Partei ist, aber über den gleichen Sachverhalt zu entscheiden hat, aus dem er selbst Ansprüche gegen eine Partei geltend macht, BGH, AG 2020, 213 = WM 2020, 218. 111 §§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1, 4 Abs. 1, 3 und 4 der Verfahrensordnung. 112 Gefahr der Selbstprüfung, Kumpan (Fn. 88), 43, 418, 423 ff.
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Vorsitzender der Kammer verhindert und das jeweils andere Mitglied des Präsidiums der Prüfstelle hat den Vorsitz inne.113 Das allein beseitigt aber den Interessenkonflikt nicht. Denn dieses andere Mitglied als Vorsitzender wie auch ein einfaches Mitglied der zuständigen Prüfstelle müssen bei ihrer Prüfung jedenfalls mittelbar auch den Tatbeitrag des Präsidenten als Aufsichtsratsmitglied der zu prüfenden Gesellschaft mitprüfen. Auch wenn sie das unvoreingenommen und objektiv tun, kann doch der Anschein einer Beeinflussung ihrer Entscheidung entstehen, und das allein genügt für einen Interessenkonflikt.114 Wenn das so ist, hätte die Übernahme eines Aufsichtsratsmandats durch den Präsidenten die Folge, dass das in § 342b HGB vorgesehene zweistufige Prüfungsverfahren nicht mehr funktionieren könnte. Aber auch unmittelbar als Aufsichtsratsmitglied setzt sich der Präsident der Prüfstelle dem Anschein aus, dass er seine Entscheidungen nicht allein aufgrund seiner Aufgabe als Aufsichtsratsmitglied, sondern auch im Hinblick auf seine Funktion in der Prüfstelle trifft. Ein solcher Anschein könnte sich, auch wenn in der Person des Präsidenten ganz unbegründet, objektiv und von außen gesehen etwa im Hinblick auf eine größere Duldsamkeit im Hinblick auf den Erhalt anderer Aufsichtsratsmandate im Konzern oder darüber hinaus ergeben. Vorstellbar wäre auch, obschon im konkreten Fall ganz unbegründet, dass für eine weniger sorgsame Ausübung der Überwachung als Aufsichtsratsmitglied der Umstand eine Rolle spielen könnte, dass die Kollegen in der Prüfstelle später nicht unbeeinflusst von der Tatsache der vorherigen Tätigkeit ihres Präsidenten als Aufsichtsratsmitglied ihre eventuelle Prüfung eventuell duldsamer vornehmen, dies ungeachtet dessen, dass sie ihre Tätigkeit weisungsunabhängig ausüben.115 Diesen Interessenkonflikt wird man aus der Sicht der zu prüfenden Gesellschaft und aus der Funktion der Prüfstelle jedenfalls dann als wesentlich und nicht nur vorübergehend im Sinne der Empfehlung E.1 Satz 3 des DCGK 2020 ansehen müssen, wenn es sich nicht nur um ein einfaches Mitglied der Prüfstelle, sondern um den Präsidenten als Aufsichtsratsmitglied handelt.116 Unter der Geltung des DCGK 2017 lag diese Auslegung unter der damaligen Empfehlung Tz. 5.5.2 noch näher. Danach waren insbesondere auch 113
§ 14 Abs. 2 Nr. 2, 4 Abs. 5 Satz 2 der Verfahrensordnung. Vgl. für die Richterablehnung BVerfG NJW 2012, 3228: „es genügt schon der „böse Schein“, dh der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität“; ebenso unter Verweis darauf BGH, 10.12.2019, WM 2020, 218 Rn. 9 (Dieselskandal). 115 Satzung der DPR § 9 Abs. 3 Satz 1. Ausstrahlungseffekte der Vorgesetztenrolle des Präsidenten auf das tatsächliche Verhalten der operativen Prüfer sieht schon v. Werder in FS Baums (Fn. 11), 1408 mwN. Anschaulich Wadewitz (Fn. 14), 11: „Ob sein Team bei der Bilanzpolizei in den Befangenheitsfällen gänzlich neutral agiert, darf man indes bezweifeln, wobei das Verhaltensspektrum von der Schere im Kopf bis zum detektivischen Übereifer reichen kann.“ 116 Den Interessenkonflikt bejaht auch Mock (Fn. 13), Rn. 64. 114
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solche Interessenkonflikte angesprochen und offenlegungsbedürftig, die auf Grund einer Beratung oder Organfunktion bei Kunden, Lieferanten, Kreditgebern oder sonstigen Dritten entstehen können. Die Funktion als Prüfer ist zwar, wie oben ausgeführt, nicht mit der als Berater gleichzusetzen, aber eine Organfunktion bei sonstigen Dritten, hier der Prüfstelle, hätte nach dem Wortlaut der Empfehlung bejaht werden können.117 Auch wenn aber die Übernahme eines einfachen Aufsichtsratsmandats durch den Präsidenten der DPR doch nicht als unter Empfehlung E.1 Satz 3 des DCGK 2020 fallend angesehen werden sollte, da dem kein wesentlicher Interessenkonflikt entgegenstehe, wird man jedenfalls die Übernahme des Aufsichtsratsvorsitzes und die des Vorsitzes im Prüfungsausschuss einer Gesellschaft, für die nach Empfehlung C.10 eine besondere, funktionsbezogene Unabhängigkeit gilt, und wohl auch schon eine einfache Mitgliedschaft im Prüfungsausschuss nicht mehr akzeptieren können. Jedenfalls dann müsste aus den zuvor genannten Gründen ein wesentlicher Interessenkonflikt angenommen werden. Im Übrigen ist in allen Fällen zu berücksichtigen, dass Diskussionen um die Interessenkonflikte aus Sicht der Enforcement Governance118 mittelbar durchaus auch die Unternehmen tangieren können.119
III. Zusammenfassung und Thesen 1. Aufsichtsratsmandate hauptamtlicher Aufseher sind nicht nur aus Sicht der Enforcement Governance, sondern auch aus Sicht guter Corporate Governance problematisch. Das gilt weniger für die Frage ihrer Qualifikation, aber wie für andere Aufsichtsratsmitglieder auch für ihre zeitliche Verfügbarkeit. 2. Problematisch ist es aber vor allem, wenn ein hauptamtlicher Aufseher ein Aufsichtsratsmandat in einer Gesellschaft übernimmt, die von der Behörde oder der Prüfstelle später geprüft werden kann. Eine gesetzliche Bestimmung zur Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern gibt es allerdings nach der derzeitigen lex lata nicht, und die Empfehlung der Europäischen Union von 2005 richtet sich nur an die Mitgliedstaaten. 117 Den Kommissionsbegründungen zur Kodexreform lassen sich keine Erläuterungen zu der bereits im Reformentwurf erfolgten Verkürzung von Tz. 5.5.2 DCGK 2017 (s. Empfehlung A.8 Satz 1 DCGK-E 2018 = Empfehlung E.1 Satz 1 DCGK 2020) entnehmen. Vermutlich war auch an dieser Stelle das Ziel der Kodexverschlankung (hierzu v. Werder DB 2019, 41, 42 f.; Hopt/Leyens ZGR 2019, 929, 933) ausschlaggebend. 118 Oben I. 119 Zur vergleichbaren Problematik hinsichtlich der zeitlichen Verfügbarkeit oben II 2 b.
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3. Die Unabhängigkeit im Sinne des Deutschen Corporate Governance Kodex 2020 wird in diesem Fall nicht berührt, weil es an einer persönlichen oder geschäftlichen Beziehung im Sinne von Empfehlung C.7 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 zweiter Spiegelstrich fehlt. 4. Anders als für einfache Aufseher etwa der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung wird man aber für den Präsidenten derselben in einem solchen Fall annehmen können, dass ein wesentlicher und nicht nur vorübergehender Interessenkonflikt im Sinne von Empfehlung E.1 Satz 3 DCGK 2020 vorliegt. 5. Das gilt jedenfalls bzw. erst recht für die Übernahme eines Aufsichtsratsvorsitzes oder des Vorsitzes oder der Mitgliedschaft in einem Prüfungsausschuss. 6. Jeder Interessenkonflikt, auch ein nicht wesentlicher bzw. nur vorübergehender, soll nach Empfehlung E.1 DCGK 2020 offengelegt werden, damit der Aufsichtsratsvorsitzende, die Hauptversammlung und die Stakeholder und der Markt ihre Schlüsse daraus ziehen können. 7. Wesentliche und nicht nur vorübergehende Interessenkonflikte in der Person eines Aufsichtsratsmitglieds sollen nach Empfehlung E.1 Satz 3 DCGK 2020 zur Beendigung des Mandats führen. Wird dieser wichtigen Empfehlung nicht gefolgt, ist in den aufgezeigten Fällen eine Abweichung zu erklären. 8. Es könnte sich empfehlen, das künftig im DCGK klarzustellen.
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Aufsichtsratspflicht und dessen Zusammensetzung in der öster. GmbH
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Aufsichtsratspflicht und dessen Zusammensetzung in der öster. GmbH Susanne Kalss
Aufsichtsratspflicht und dessen Zusammensetzung in der österreichischen GmbH SUSANNE KALSS1
I. Der Aufsichtsrat in der GmbH 1. AG – GmbH Anders als bei einer AG, die jedenfalls einen Aufsichtsrat bestellen muss, hängt die Einrichtung des Aufsichtsrats in der GmbH von bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen gem. § 29 GmbHG oder von einer statutarischen Festlegung ab. Von herausragender Bedeutung ist die Zahl der Arbeitnehmer. Im Jahr 2010 hatten rund 1.500 GmbHs einen Aufsichtsrat, was einem Anteil von rund 1,25% entsprach.2 Angesichts der großen Zahl von GmbHs, nämlich aktuell rund 165.000, ist aber die absolute Zahl von Aufsichtsräten in GmbHs durchaus von Bedeutung. Gerade wenn man im Vergleich dazu die 1.100 Aktiengesellschaften stellt. Frau Windbichler wandelt nicht nur zwischen dem Arbeits- und Unternehmensrecht. Ihre Interessen und ihre Wirkungsmacht gehen viel weiter. Ich durfte die Breite und die Qualität des wissenschaftlichen Diskurses mit ihr vor allem auch in Evaluierungen von universitären und Forschungseinrichtungen erfahren und kennen lernen. Die Beurteilung der Arbeit anderer in wertschätzender Art und auf hohem intellektuellem Niveau waren für mich eine wunderbare, sehr bereichernde Erfahrung. 2. Personalkompetenz – Feststellung des Jahresabschlusses Der Aufsichtsrat der GmbH ist deutlich weniger machtvoll als jener der Aktiengesellschaft. In der Aktiengesellschaft hat der Aufsichtsrat die Personalkompetenz, dh. er bestellt die Mitglieder des Vorstands und beruft sie auch ab. Darin liegt der wohl größte Wirkungshebel des Aufsichtsrats der 1
Univ-Prof. Dr. Susanne Kalss, LLM (Forenz), Vorständin des Instituts für Unternehmensrecht, Wirtschaftsuniversität Wien. 2 Hoffmann/Kalss/Klampfl/Maidorfer Aufsichtsrat Aktuell 2/2011, 5; Heidinger in Gruber/Harrer GmbHG, 2019, § 29 Rn. 7.
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AG. Eine geeignete Frau, einen geeigneten Mann zu finden, ist das officium nobile des Aufsichtsrats der AG. Eine gute Personalentscheidung entlastet den Aufsichtsrat ganz erheblich. Kein noch so guter Bericht, keine noch so scharfe Diskussion, keine noch so strenge Führung von notwendigen Zustimmungen kann eine falsche Personalentscheidung wettmachen. Genau diese Personalkompetenz fehlt dem Aufsichtsrat der GmbH. Ausdrücklich stellte der OGH vor Kurzem fest, dass eine gesellschaftsvertragliche Regelung, die die Zuständigkeit der Bestellung des Geschäftsführers von der Generalversammlung auf den Aufsichtsrat überträgt, gegen die zwingenden Kompetenzen des GmbH-Rechts verstößt und daher unzulässig und unwirksam ist.3 Die gesellschaftsrechtliche Regelung war durchdacht. Sie sollte eine Pattstellung zwischen zwei zerstrittenen Brüdern überwinden und damit dem als sachverständigen Berater eingerichteten Aufsichtsrat die Bestellungsbefugnis bzw. ein bindendes Vorschlagsrecht gegenüber der Generalversammlung einräumen. Dieses wurde – trotz Kontrolle des Firmenbuches und Aufnahme des Gesellschaftsvertrages in die Urkundensammlung des Firmenbuches – bei einer konkreten Beschlussfassung für nichtig und unwirksam erklärt.4 Daraus wird auch deutlich, dass eine nichtige gesellschaftsvertragliche Regelung, trotz Prüfung und Genehmigung durch das Firmenbuchgericht, nur hinreichende, aber nicht ausreichende Bedingung für die Wirksamkeit ist. Sie muss materiell dem Gesetzesrecht entsprechen.5 Der Aufsichtsrat der GmbH ist zudem nicht berechtigt, den Jahresabschluss der Gesellschaft zu billigen, dh. festzustellen und damit verbindlich zu machen. Dieses Recht steht jedenfalls gemäß § 35 GmbHG der Generalversammlung zu. 3. Einrichtung des Aufsichtsrats in der GmbH Gemäß § 29 Abs. 1 Z. 1 GmbHG muss ein Aufsichtsrat in der GmbH bestellt werden, wenn das Stammkapital 70.000 Euro und die Anzahl der Gesellschafter 50 übersteigt. Diese schon im ursprünglichen GmbHG 1906 enthaltene Regelung zielt darauf, die Geschäftsführer einer angemessenen Kontrolle zu unterwerfen. Scharfsinnig erläuterten die Materialien des GmbHG 1906, dass die Gesellschaft bei einer zu großen Zahl der Gesellschafter und dem dadurch geringen Vermögensinteresse des einzelnen Gesellschafters der „schrankenlosen Gewalt“ der Geschäftsführer unterworfen 3 OGH 6 Ob 183/18g, GesRz. 2019, 272; Kalss/Oppitz/Schörghofer Vorstand und Aufsichtsrat, 2019, 128; Kalss GesRz. 2019, 275. 4 OGH 6 Ob 183/18g TZ. 2.3.; Eckert Die Abberufung des GmbH-Geschäftsführers (2003) 29; Kalss GesRz. 2019, 275. 5 OGH 6 Ob 122/16h, GesRz. 2017, 181.
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werde.6 Wichtig ist dabei zu sehen, dass der Gesetzgeber bei der Zahl 50 von einem – strukturellen – Kontrolldefizit ausgeht und daher bei entsprechender – doppelter – Höhe des Mindeststammkapitals von einer Aufsichtsratspflicht ausgeht. Dies ist deshalb auch von Bedeutung, weil im Jahr 1904 parallel – zu dem zum Gesetz gewordenen GmbHG – auch ein Aktienentwurf auf den Weg gebracht werden sollte, der jedenfalls die Aufsichtsratspflicht vorsah. Dies ist naheliegend, da der Aktiengesetzentwurf an der typischen publikumsorientierten Gesellschaft als Leitbild ausgerichtet war.7 Diese Notwendigkeit des Interesses einer wirkungsvollen Überwachung der Geschäftsführer bei einer großen Zahl von Gesellschaftern wurde auch anlässlich einer Gesetzesnovelle im Jahre 1980 betont.8 Damit sollte auch der Gefahr begegnet werden, dass der Aufsichtsrat nicht nur eine „nutzlose Dekoration“ sein soll und sich als für die Gesellschaft als kostspieliges Organ erweise, ohne der Aufgabe als Kontrollorgan gewachsen zu sein.9 In der Praxis kommen heute derartige vielköpfige Gesellschaften selten vor,10 da die Anteilsübertragung ohnehin immobilisiert werden soll.11 Abgesehen von der dritten Kategorie der sondergesetzlich vorgesehenen Aufsichtsratspflichten, etwa bei Kapitalanlagegesellschaften (Verwaltungsgesellschaften von Investmentfonds) oder Hochschul-Gesellschaften, greift die Pflicht der Einrichtung eines Aufsichtsrats vor allem, wenn die Zahl der Arbeitnehmer dies verlangt. 4. GmbH-Aufsichtsrat – Rolle der Arbeitnehmer a) Die Anknüpfungspunkte Von deutlich größerer Bedeutung für die Praxis ist daher die zweite Alternative von § 29 Abs. 1 Z. 2 GmbHG, wonach die Einrichtung des Aufsichtsrats von der Zahl der Arbeitnehmer der Gesellschaft abhängt. Nach der zweiten Variante soll die durchschnittliche Arbeitnehmerzahl von 6 EBRV 236 Blg Herrenhaus 17. Session (1904) 67; abgedruckt in Kalss/Eckert Zentrale Fragen des GmbH-Rechts, 2005, 533. 7 Kalss/Burger/Eckert Entwicklung des österreichischen Aktienrechts, 2003, 203. 8 Erläuternde Bemerkungen RV 5 BlgNR 15. GP zu GmbHG-Novelle BGBl 1980/320; abgedruckt in Kalss/Eckert Zentrale Fragen des GmbH-Rechts, 2005, 534. 9 Herrenhausbericht 272 Blg Herrenhaus 17. Session (1906) 9; abgedruckt in Kalss/ Eckert Zentrale Fragen des GmbH-Rechts, 2005, 534. 10 Aburumieh/Hoppel in Foglar-Deinhardstein/Aburumieh/Hoffenscher-Summer, GmbHG, 2017 § 29 Rn. 5. 11 Am ehesten finden sich derartige Gestaltungen im Tourismusbereich, wenn eine Dienstleistungseinrichtung (Seilbahn) von allen Hoteliers und sonstigen Dienstleistern finanziert werden soll. In den letzten Jahren finden sich Beispiele auch im Bereich der alternativen Energiegewinnung.
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300 Arbeitnehmern12 maßgeblich für die Einrichtungspflicht eines Aufsichtsrats sein. Begründet wurde und wird diese organisatorische Verpflichtung damit, dass diesen Gesellschaften mit der hohen Arbeitnehmerzahl ein Aktiengesellschaften gleiches Gewicht im Wirtschaftsleben zukommt.13 Mit dieser Gesetzesnovelle wurden auch wichtige arbeitsverfassungsrechtliche Regelungen geschaffen. Somit spielt die Zahl der Arbeitnehmer für die Verpflichtung zur Einrichtung des Aufsichtsrats seit rund 45 Jahren in der österreichischen GmbH eine herausragende Rolle. Die Zahl der Arbeitnehmer hat im österreichischen Recht des Aufsichtsrats der GmbH für drei Fragen eine entscheidende Bedeutung, nämlich (i) für die Einrichtung eines Aufsichtsrates überhaupt in der GmbH, (ii) für die Bestellung von Arbeitnehmervertretern neben den Kapitalvertretern in das Gremium und schließlich (iii) für die Notwendigkeit der Bestellung von mindestens 30% Frauen. b) Betriebsrat – alleiniges Entsendungsrecht Ab wann werden Arbeitnehmer in den Aufsichtsrat entsandt? Gemäß § 110 Abs. 1 ArbVG (Arbeitsverfassungsgesetz) sind die Arbeitnehmer berechtigt, Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat zu entsenden, sofern sie im Unternehmen einen Betriebsrat eingerichtet haben. Die Berechtigung zur Entsendung hat der Betriebsrat in jedem Aufsichtsrat, unabhängig davon, ob der Aufsichtsrat von Gesetzes wegen oder nur aufgrund einer gesellschaftsvertraglichen Regelung eingeräumt wird. Auch ein Beirat, der mit den Befugnissen eines Aufsichtsrats ausgestattet ist, unterliegt der Arbeitnehmermitbestimmung, dh. der Betriebsrat hat ein Entsendungsrecht.14 Gemäß § 40 ArbVG muss in einem Unternehmen ein Betriebsrat ab fünf Arbeitnehmern eingerichtet werden, sofern die Arbeitnehmer dies verlangen oder selbst einrichten.15 Da das österreichische Betriebsverfassungsrecht dem Territorialitätsprinzip folgt,16 werden nur Mitarbeiter in österreichischen Betrieben gezählt. Somit greift die volle Arbeitnehmermitbestimmung an einem österreichischen Aufsichtsrat, sobald ein Betriebsrat besteht. Volle Mitbestimmung bedeutet nach österreichischem Recht stets „Drittelparität“, unabhängig wie groß die Gesellschaft ist, wie viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sie hat oder wie groß das Aufsichtsratsgremium ist. Bei ungeraden Zahlen schlägt die Drittelbeteiligung gemäß § 110 Abs. 3 ArbVG 12
Ursprünglich konzipiert wollen 150 Arbeitnehmer. Erläuternde Bemerkungen RV 845 BlgNR 13. GP 2 zu BGBl 1974/82; abgedruckt in Kalss/Eckert Zentrale Fragen des GmbH-Rechts 534. 14 OGH 9 ObA 130/05s; Koppensteiner/Rüffler GmbHG § 35 Rn. 54. 15 Marhold/Friedrich Österreichisches Arbeitsrecht, 2017, 659. 16 OGH 8 ObA 88/972, DRdA 1998, 183; Marhold/Friedrich Europäisches Arbeitsrecht2 541; Gahleitner in Gahleitner/Mosler Arbeitsverfassungsgesetz § 33 Rn. 2; Rebhahn in FS R Strasser II, 1993, 59 ff.; aA. Koppensteiner in FS Binder, 2010, 769, 775 ff. 13
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zugunsten der Arbeitnehmer aus, dh. bei 6 Kapitalvertretern dürfen 3 Arbeitnehmervertreter entsandt werden, bei 7 bereits 4. Der Betriebsrat muss ab fünf Arbeitnehmern eingerichtet werden, dh. die magische Zahl für die Aktualisierung der Arbeitnehmermitbestimmung liegt in Österreich bei fünf Arbeitnehmern, dh. sehr tief. Die Zahl 5 gilt sowohl für die Aktiengesellschaft als auch für die GmbH oder andere Rechtsformen. Maßgeblich ist nur der Umstand, ob überhaupt ein Aufsichtsrat und zugleich ein Betriebsrat eingerichtet ist. Nur der Betriebsrat bzw. im Konzern die entsprechende Einrichtung des Zentralbetriebsrats ist berechtigt, die Entsendung vorzunehmen. Nur Betriebsratsmitglieder sind auch – passiv – berechtigt, in den Aufsichtsrat entsandt zu werden.17 c) Entsendung von Frauen Gemäß § 30 letzter Satz GmbHG ist § 86 Abs. 7 bis 9 AktG auf den Aufsichtsrat der GmbH sinngemäß anzuwenden. Aus dieser Verweisbestimmung folgt die Anwendung der Quotenregelung auch für den Aufsichtsrat der GmbH, sofern bestimmte Voraussetzungen vorliegen: Der Aufsichtsrat muss aus mindestens sechs Kapitalvertretern bestehen und deren Belegschaft muss zumindest einen Frauenanteil von 20% erreichen.18 Die Bezugnahme auf die Zahl der weiblichen Arbeitnehmer ist jedenfalls rechtspolitisch zweifelhaft und entbehrt der sachlichen Rechtfertigung,19 zumal das Geschlechterverhältnis in der Arbeitnehmerschaft der beaufsichtigten Gesellschaft insgesamt keine Aussage für die Zusammensetzung und Leistungskraft des Aufsichtsorgans enthält. Die Gesellschaft muss dauernd mehr als 1.000 Arbeitnehmer beschäftigen. Dabei geht es – anders als für die Einrichtung des Aufsichtsrats selbst – nicht um eine durchschnittliche, sondern um eine dauernde Beschäftigung. Daher schlagen saisonale Abweichungen voll auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats durch.20 d) Einrichtung des Aufsichtsrats Schließlich spielt die Zahl der Arbeitnehmer, nämlich 300 bzw. 500 im Konzern, eine maßgebliche Rolle dafür, ob überhaupt ein Aufsichtsrat einzu17 Marhold/Friedrich Österreichisches Arbeitsrecht 659; Kalss in Habersack/Behme/ Eidenmüller/Klöhn Deutsche Mitbestimmung unter europäischem Reformzwang, 2016, 215 f. 18 Heidinger in Gruber/Harrer GmbHG2 § 30 Rn. 21; Walch, Die Frauenquote im Aufsichtsrat, ÖBA 2018, 110, 113; Kalss/Brameshuber/Durstberger Die Quote im Aufsichtsrat für Kapital- und Arbeitnehmervertreter, GesRz. 2017, 344, 347. 19 Kalss/Brameshuber/Durstberger GesRz. 2017, 344, 347; Schima RdW 2018, 71, 74; Heidinger in Gruber/Harrer GmbHG2, § 30 Rn. 21. 20 Kalss/Brameshuber/Durstberger GesRz. 2017, 344, 346 f.; Schima RdW 2018, 71, 73 f.; Heidinger in Gruber/Harrer GmbHG2, § 30 Rz. 22.
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richten ist. Besonderheiten gelten dafür bei verbundenen Unternehmen, somit bei dem Konzern. Genau darauf soll im Folgenden eingegangen werden. 5. Einzelgesellschaft – Aufsichtsratspflicht Gemäß § 29 Abs. 1 Z. 2 GmbHG muss ein Aufsichtsrat bestellt werden, wenn die Anzahl der Arbeitnehmer im Durchschnitt 300 übersteigt. Dies gilt aber nur für die Einzelgesellschaft. Zwar bestehen Einzelgesellschaften mit mehr als 300 Arbeitnehmern; in der Praxis kommt diese Gestaltung nicht allzu häufig vor, da Unternehmen vielfach in einzelne Gesellschaften aufgegliedert und zur Wirtschafts- und Wirkungseinheit Konzern ausgeformt sind. Die durchschnittliche Arbeitnehmerzahl ermittelt sich nach der Regelung von § 29 Abs. 3 GmbHG. Dabei geht es um die Arbeitnehmerzahlen an dem jeweiligen Monatsletzten innerhalb des vorangegangenen Kalenderjahres. Die Arbeitnehmerzahlen der jeweils Monatsletzten sind zusammenzurechnen und durch 12 zu teilen. Die Geschäftsführer der jeweiligen einbezogenen Gesellschaften haben die dafür erforderlichen Auskünfte rechtzeitig zu erteilen.21 Gemäß § 29 Abs. 1 Z. 2 GmbHG ist ein Aufsichtsrat in der GmbH zu bestellen, wenn die Anzahl der Arbeitnehmer im Durchschnitt 300 übersteigt. Damit wird die Arbeitnehmermitbestimmung gem. § 110 ArbVG im Aufsichtsrat für die GmbH verwirklicht. Eine Pflicht zur Bestellung des Aufsichtsrats entfällt, wenn die Gesellschaft selbst unter einheitlicher Leitung einer aufsichtsratspflichtigen Kapitalgesellschaft steht oder von einer Gesellschaft, die unmittelbar beteiligt ist, mit mehr als 50% beherrscht wird und in beiden Fällen die Zahl der Arbeitnehmer der Gesellschaft im Durchschnitt 500 nicht übersteigt. Dies bedeutet, dass in einem solchen Fall die Aufsichtsratspflicht nicht schon bei 300, sondern erst bei 500 Arbeitnehmern besteht, weil ohnehin eine Aufsichtsratspflicht in der beherrschenden Gesellschaft besteht. In der beherrschten Gesellschaft greift sodann die Aufsichtsratspflicht erst, wenn diese beherrschte Gesellschaft ihrerseits 500 Arbeitnehmer beschäftigt. Die Aufsichtsratspflicht wandert „nach oben“. 6. Konzerngesellschaft a) Beherrschende Gesellschaft Nunmehr soll ein genauerer Blick auf die Konzerngesellschaft, insbesondere auf die beherrschende Gesellschaft geworfen werden, insbesondere 21 Aburumieh/Hoppel GmbHG § 29 Rn. 42.
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wenn zwar eine Beteiligung besteht, aber nur die Beteiligung gehalten wird und keine Beherrschung oder Konzernsteuerung ausgeübt wird. Im Konzern ist eine weitergreifende Betrachtung vorzunehmen. Von Relevanz ist dabei § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG. Danach hat eine GmbH einen Aufsichtsrat einzurichten, wenn sie Aktiengesellschaften oder aufsichtsratspflichtige GmbHs einheitlich leitet oder beherrscht und die Gesellschaften zusammen mehr als 300 Arbeitnehmer beschäftigen. Der Begriff der einheitlichen Leitung definiert sich nach § 15 Abs. 1 AktG und § 115 GmbHG. Der Begriff der Beherrschung wird in § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG unmittelbar normiert. Die Muttergesellschaft muss die Tochtergesellschaft aufgrund einer unmittelbaren Beteiligung von mehr als 50% beherrschen.22 Jedenfalls muss eine unmittelbare Beteiligung vorliegen. Zugerechnet werden gem. § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG jedenfalls die Arbeitnehmer von Aktiengesellschaften, da diese jedenfalls einen Aufsichtsrat haben.23 Maßgeblich ist die unmittelbare Mehrheitsbeteiligung am Nennkapital. Eine allfällige Beherrschung aus einem anderen Grund ist nicht relevant.24 b) Zweck der Aufsichtsratspflicht Nunmehr ist aber in einem nächsten Schritt der Zweck der Aufsichtsratspflicht gem. § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG zu ermitteln. Der Zweck der Aufsichtsratspflicht für den Fall der Zusammenrechnung der Arbeitnehmer in der Konzernobergesellschaft und in der Konzernuntergesellschaft und die Einrichtungspflicht eines Aufsichtsrats in der konzernleitenden GmbH liegt schlicht in der Verwirklichung der Arbeitnehmermitbestimmung.25 Damit soll vor allem sichergestellt werden, dass die Mitbestimmung durch die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat jener Gesellschaft vorgenommen wird, in der tatsächlich die Kern- und die Konzernentscheidungen getroffen werden.26 § 29 GmbHG etabliert die Einrichtungspflicht des Aufsichtsrats überhaupt erst zum Zweck der Umsetzung der Arbeitnehmermitbestimmung. Sobald ein Aufsichtsrat in der GmbH errichtet ist, haben die Arbeitnehmervertreter ein Recht auf Aufsichtsratsmitwirkung gemäß 110 22 Aburumieh/Hoppel in Foglar-Deinhardstein/Aburumieh/Hoffenscher-Summer GmbHG, 2017, § 29 Rn. 19, Rn. 13; Straube/Rauter in Straube/Ratka/Rauter GmbHG, § 29 Rn. 38. 23 Schneller/Preiss in Gahleitner/Mosler, Arbeitsverfassungsrecht § 110 Rn. 112. 24 Reich-Rohrwig GmbHG I Rn. 4/21; Straube/Rauter Aufsichtsratspflicht und Konzernsachverhalte im GmbH-Recht GES, 2008, 88, 90; Kalss/Probst Familienunternehmen, 2013, Rn. 8/72. 25 845 BlgNR 13. GP 2 (zu § 29 GmbHG). 26 Aburumieh/Hoppel in Foglar-Deinhardstein/Aburumieh/Hoffenscher-Summer GmbHG, § 29 Rn. 7; Grünwald NZ. 1984, 228, 229; Reich-Rohrwig GmbH-Recht I, 1997, Rn. 4/20.
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ArbVG.27 Gerade der Fall, dass eine Zusammenrechnung der Arbeitnehmer der Muttergesellschaft und der Arbeitnehmer der Tochtergesellschaft vorgenommen wird, um die Aufsichtsratspflicht in der Muttergesellschaft zu etablieren, dient dazu, um die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auch im Konzern sicherzustellen.28 Die schlichte Anwendung der Regelung von § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG führt zur Verpflichtung der Einrichtung eines Aufsichtsrats in der GmbH, da die GmbH die – aufsichtsratspflichtige – Aktiengesellschaften durch unmittelbare Beteiligung beherrscht und in den beiden Gesellschaften gemeinsam mehr als 300 Arbeitnehmer beschäftigt sind. Der einzige Zweck der Regelung gem. § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG ist die Sicherung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in konzernrelevanten Sachverhalten.
II. Mangelnde Mitwirkung der Arbeitnehmervertreter Wie bereits ausgeführt, haben die Arbeitnehmervertreter in allen Gesellschaften, die einen Aufsichtsrat haben, das Recht auf Mitwirkung entsprechend den Bestimmungen gem. § 110 ArbVG. §§ 110 Abs. 6 f ArbVG regelt die Mitwirkung der Arbeitnehmervertreter sowie der Belegschaftsorgane von Konzernunternehmen im Aufsichtsrat der Konzernspitze. Dabei geht es darum – und dies ist der ausdrücklich in den Materialien ausgewiesene Zweck des Gesetzes –, dass die Arbeitnehmer eines Unternehmens, die von wirtschaftlichen Entscheidungen betroffen sind, die außerhalb der konkreten Gesellschaft bzw. des Unternehmens in der Konzernspitze getroffen werden, die Möglichkeit haben sollen, in den Aufsichtsgremien, in denen diese Entscheidungen fallen, auch vertreten zu sein.29 Zielrichtung von § 110 ArbVG ist nicht die Einrichtungspflicht überhaupt eines Aufsichtsrats, sondern allein die Mitwirkung von Arbeitnehmervertretern aus Tochterunternehmen im Aufsichtsrat der Konzernmutter. § 110 ArbVG setzt somit das Bestehen eines Aufsichtsrats in einer Gesellschaft voraus, um sodann daran anknüpfend die Entsendung bzw. Bestellung von Arbeitnehmervertretern in diesen schon bestehenden Aufsichtsrat zu nor27 OGH 9 ObA 130/05s, GesRz. 2007, 197; Windisch-Graetz in Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht, § 110 ArbVG, Rn. 4; Jabornegg in Strasser/Jabornegg/Resch ArbVGKommentar (Loseblatt), § 110 Rn. 26; Schneller/Preiss in Gahleitner/Mosler Arbeitsverfassungsrecht, 2015, § 110 Rn. 108. 28 Straube/Rauter in Straube/Ratka/Rauter GmbHG, § 29 Rn. 18; Koppensteiner/Rüffler GmbHG, § 29 Rn. 3; Straube/Rauter ecolex 2008, 434; Kalss/Probst Familienunternehmen, 2013, Rn. 8/71. 29 Ausdrücklich RV 840 BlgNR 13. GP 88 zu § 110 ArbVG; Schneller/Preiss in Gahleitner/Mosler Arbeitsverfassungsrecht, § 110 Rn. 120.
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mieren. § 110 Abs. 6 ArbVG setzt somit das Bestehen des Aufsichtsrats bereits voraus. § 110 Abs. 6 ArbVG hat nämlich zum Regelungsgegenstand, welche Arbeitnehmervertreter und welche Belegschaftsorgane nunmehr berechtigt sind, die Arbeitnehmervertreter für den bereits bestehenden Aufsichtsrat zu bestimmen. Grundsätzlich geht § 110 Abs. 6 ArbVG davon aus, dass eine Mitwirkung der Arbeitnehmer und der Belegschaftsorgane aus Tochterunternehmen zur Besetzung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat der Muttergesellschaft gegeben ist, wenn drei Voraussetzungen vorliegen, nämlich wenn die Mutter- und Tochtergesellschaften Aktiengesellschaften oder GmbHs sind und eine einheitliche Leitung oder Beherrschung in Form einer unmittelbaren Beteiligung von mehr als 50% besteht und schließlich das Mutterunternehmen höchstens halb so viele Arbeitnehmer beschäftigt, wie alle relevanten Tochterunternehmen zusammen. Betrachtet man nunmehr die Voraussetzungen von § 110 Abs. 6 ArbVG, so folgt daraus, dass jedenfalls GmbHs und Aktiengesellschaften betroffen sind, – auf den ersten Blick – auch die Beherrschung in Form der unmittelbaren Beteiligung von über 50% besteht und schließlich die Muttergesellschaft mit wenigen Arbeitnehmern deutlich weniger Arbeitnehmer hat, als die Tochtergesellschaft, die über 1.000 Menschen beschäftigt. Daraus wird deutlich, dass die Voraussetzungen des § 110 Abs. 6 ArbVG bei isolierter Betrachtung gegeben sind. Voraussetzung für eine Entsendung in den Aufsichtsrat einer GmbH als Konzernmutter ist es für die Arbeitnehmervertreter, dass diese GmbH überhaupt einen Aufsichtsrat hat.30 Dabei ist es unerheblich, ob er obligatorisch oder gesellschaftsvertraglich fakultativ ist.31 § 110 Abs. 6a ArbVG greift in der sogenannten arbeitnehmerlosen Holding, nämlich in einer Muttergesellschaft, in der kein Betriebsrat zu errichten ist, die die andere Gesellschaft einheitlich leitet oder unmittelbar beherrscht und sich gerade nicht nur auf die Verwaltung der Anteile beschränkt.32 Damit soll auch in der beherrschenden arbeitnehmerlosen Holding die Mitbestimmung der Arbeitnehmer sichergestellt werden. Ist nunmehr § 110 Abs. 6a ArbVG anzuwenden, bedeutet dies zunächst einmal, dass in den Aufsichtsrat der arbeitnehmerlosen Konzernmutter, die in irgendeiner Weise beherrschend Einfluss nimmt, die Arbeitnehmervertreter der Tochtergesellschaften zu entsenden sind. Somit führt das Fehlen eines Betriebsrats in der Muttergesellschaft, die konzernleitend tätig ist, nicht zum Verlust der Arbeitnehmermitbestimmung. Vielmehr sind die Arbeit30
Schneller/Preiss in Gahleitner/Mosler Arbeitsverfassungsrecht, § 110 Rn. 123. Schneller/Preiss in Gahleitner/Mosler ArbVG, § 110 Rn. 123. 32 Schneller/Preiss in Gahleitner/Mosler ArbVG, § 110 Rn. 137 Abs. 3. 31
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nehmerorgane (Belegschaftsorgane) der Tochtergesellschaften berechtigt, genau diese Entsendungen vorzunehmen.
III. Anteilsverwaltung Entscheidend ist nun herauszuarbeiten, worin der Unterschied zwischen Beherrschung und schlichter Anteilsverwaltung besteht. Wenn nämlich nur die Anteilsverwaltung in der arbeitnehmerlosen Holding (= ohne Betriebsrat) gegeben ist, entfällt die Arbeitnehmermitbestimmung. Schlichte Anteilsverwaltung liegt vor, wenn keine unternehmerischen Entscheidungen für die nachgeordneten Gesellschaften getroffen werden.33 Nur in diesem Fall der arbeitnehmerlosen Holding ist § 110 Abs. 6a ArbVG nicht anzuwenden. Zudem dürfen bei der Anteilsverwaltung auch keine Kontrollmaßnahmen über die Geschäfte abgedeckt werden, die erheblichen Einfluss auf den Unternehmenswert dieser Holdinggesellschaft haben.34 Insbesondere darf die Konzernmutter keine Finanzgestion für ihre Tochtergesellschaften vornehmen.35 Allein in dem Fall, in dem die Muttergesellschaft somit überhaupt keine konzernleitende und konzernbeherrschende Tätigkeit gegenüber den Tochtergesellschaften ausübt, sondern nur eine reine Anteilsverwaltung vornimmt, ist eine Entsendung der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der Muttergesellschaft nicht geboten. In diesem Fall entsenden weder die Belegschaftsorgane der Tochtergesellschaften noch jene der Muttergesellschaft, die über kein Belegschaftsorgan verfügt, Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der Holding und nur anteilsverwaltenden Muttergesellschaft.36 Somit würden in den Aufsichtsrat der Holdinggesellschaft überhaupt keine Arbeitnehmervertreter entsendet werden, zumal die Holding keine Arbeitnehmervertreter hat bzw. kein Belegschaftsorgan, das die Entsendung vornehmen kann und die Belegschaftsorgane der Tochtergesellschaften dies gerade nicht tun dürfen, da ohnehin eine reine Anteilsverwaltung vorliegt. Daraus wird deutlich, dass die Mitwirkung der Arbeitnehmervertreter aus Tochter- und Beteiligungsunternehmen im Aufsichtsrat der Muttergesellschaft nur dann gerechtfertigt ist und dadurch begründet wird, dass die Ar33 Naderhirn in Strasser/Jabornegg/Resch ArbVG, § 110 Rn. 4; Kalss/Probst Familienunternehmen, 2013, Rn. 8/69; Briem PSR 2010, 110; Arnold PSG § 22 Rn. 14. 34 Kalss/Probst Familienunternehmen Rn. 8/69; Jabornegg in Strasser/Jabornegg/Resch ArbVG-Kommentar (Loseblatt), § 110 Rz. 187. 35 Naderhirn in Strasser/Jabornegg/Resch ArbVG, § 110 Rn. 4; Schneller/Preiss in Gahleitner/Mosler ArbVG, § 110 Rn. 148. 36 Kalss/Probst Familienunternehmen, Rn. 8/69; Gahleitner DRdA 1994, 427; Schima GesRz. 1993, 210; Mair DRdA 2002, 531.
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beitnehmer in den Gremien vertreten sein sollen, in denen ihre Interessen betreffende Leitungs- bzw. Kontrollentscheidungen tatsächlich fallen.37
IV. Verknüpfung der Zwecke von § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG und § 110 Abs. 6 f ArbVG Zwar beschäftigt sich das ArbVG nur mit der Entsendung von Arbeitnehmervertretern in einem bereits bestehenden Aufsichtsrat und bestimmt im Gegensatz dazu § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG die Einrichtung eines Aufsichtsrats, ohne sich mit der konkreten Besetzung auseinanderzusetzen. Dennoch sind die Zwecke der Regelung parallel. Jedes Mal geht es – wie bereits unter Punkt 1. und Punkt 3. ausgeführt – um die Sicherstellung der Mitwirkung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat der jeweils für die Arbeitnehmer maßgeblich entscheidenden Gesellschaft. Jedes Mal geht es um die Sicherung der Mitbestimmung und der Mitwirkung der Arbeitnehmer in dem entscheidungsrelevanten Gremium. Wenn feststeht, dass Arbeitnehmervertreter gem. § 110 Abs. 6a ArbVG in einer arbeitnehmerlosen schlichten Holding, die sich auf die Anteilsverwaltung konzentriert, ohnehin überhaupt nicht vertreten sind, stellt sich die Frage der Notwendigkeit der Einrichtung eines Aufsichtsrats in dieser Holdinggesellschaft. § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG zielt zum Zwecke der Einrichtung eines Aufsichtsrats ja gerade darauf, die Mitwirkung der Arbeitnehmervertreter gerade in diesem zu etablierenden Aufsichtsrat sicherzustellen. Wenn die Arbeitnehmer in diesem Aufsichtsrat überhaupt nicht vertreten sein dürfen bzw. zumindest kein Recht auf Entsendung von Arbeitnehmervertretern in diesen Aufsichtsrat haben, stellt sich die Frage nach dem Zweck der Einrichtung eines Aufsichtsrats, zumal die Einrichtung des Aufsichtsrats in dieser konzernverfangenen GmbH ja die Sicherstellung der Mitwirkung der Arbeitnehmer in dem entscheidungsrelevanten Gremium ist. Da die Mitwirkung gem. §§ 110 Abs. 6 und 6a ArbVG aufgrund der Arbeitnehmerlosigkeit und schlichten Anteilsverwaltung ausgeschlossen ist, kann der von § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG verfolgte Zweck überhaupt nicht erreicht werden. Damit liefe die Pflicht, einen Aufsichtsrat zum Zweck der Sicherung der Arbeitnehmer einzurichten, vollkommen leer, weil § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG zur Einrichtung des Aufsichtsrats führte, der eigentlich die Mitwirkung der Arbeitnehmer sicherstellen sollte, aber § 110 Abs. 6a ArbVG gerade die Mitwirkung der Arbeitnehmer in diesen, eben dafür geschaffenen Gremium beseitigt und hintanhält. Damit wird deutlich, dass der von § 29 37 Kalss/Probst Familienunternehmen Rn. 8/69; Schneller/Preiss in Gahleitner/Mosler ArbVG, § 110 Rn. 148; Naderhirn in Strasser/Jabornegg/Resch ArbVG, § 110 Rn. 4.
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Abs. 1 Z. 3 GmbHG verfolgte Zweck überhaupt nicht erreicht werden kann. Die einzige Begründung für die Verpflichtung der zwingenden Einrichtung eines Aufsichtsrats gem. § 29 GmbHG fällt daher weg. Diese planwidrige Lücke durch überschießende Regelung und die mangelnde Eignung der Zweckerreichung ist durch eine teleologische Reduktion von § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG zu schließen, nämlich insofern als die Einrichtungspflicht gem. § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG nur besteht, wenn auch tatsächlich eine Beherrschung der Tochtergesellschaften gegeben ist und daher eine Entsendung der Arbeitnehmervertreter der Tochtergesellschaften in den Aufsichtsrat der Muttergesellschaft möglich ist. Wenn aber eine Entsendung gerade nicht möglich ist, dann besteht auch überhaupt kein Anlass und keine Verpflichtung, dieses Gremium überhaupt erst einzurichten. Insofern greift die Einrichtungspflicht eines Aufsichtsrats nur, wenn durch die Beherrschung der Muttergesellschaft (durch über 50-%-ige Beteiligung) tatsächlich die Beherrschung besteht und Arbeitnehmervertreter der Tochtergesellschaft entsendet werden können. Somit ist durch eine zweckorientierte teleologische Reduktion des Begriffes der Beherrschung der Regelung von § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG eine sachgerechte Lösung zu erzielen. Abgesehen von der mangelnden Verfolg- und Erzielbarkeit des Zwecks und daher aus dem Zweck gebotenen Einschränkung der Anwendung von § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG auf Konzernsachverhalte gem. § 110 Abs. 6 ArbVG folgt diese einschränkende Anwendbarkeit gem. § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG auch aus einem einschränkenden Verständnis des Begriffs Beherrschung. Ganz überwiegend wird in der Literatur für § 110 ArbVG vertreten, dass in dem Fall, in dem eine reine Anteilsverwaltung im Sinne von § 110 Abs. 6a ArbVG vorliegt, überhaupt keine Beherrschung gegeben ist und es daher aus diesem Grund keine Arbeitnehmerentsendung von Tochtergesellschaften in den Aufsichtsrat der Mutter geben kann.38 Dieser differenzierte Begriff der Beherrschung, wie er im ArbVG gem. § 110 Abs. 6a zur Sicherung der Mitwirkung der Arbeitnehmer verstanden wird, ist nunmehr auch auf den Beherrschungsbegriff gem. § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG zu übertragen, zumal dieser Beherrschungsbegriff in § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG ja genau den gleichen Zweck verfolgt, nämlich die Sicherung der Mitwirkung der Arbeitnehmervertreter in diesem Gremium. Wenn aber die Sicherung der Arbeitnehmervertreter ohnehin nicht besteht, weil eben keine Beherrschung vorliegt, ist auch der Begriff der Beherrschung im Sinne von § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG in dieser differenzierten und entsprechend dem Zweck reduzierten Weise zu verstehen. 38 Schneller/Preiss in Gahleitner/Mosler ArbVG, § 110 Rn. 148; Schima GesRz. 1993, 210; Gahleitner DRdA 1994, 427; Kalss/Probst Familienunternehmen, Rn. 8/69.
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Dieses Verständnis führt in einem nächsten Schritt dazu, dass in dem Fall, in dem die Beherrschung nicht gegeben ist, sondern eine schlichte Anteilsverwaltung vorliegt, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG überhaupt nicht gegeben sind und daher mangels Beherrschung im Sinne von § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG, der mit § 110 Abs. 6a ArbVG korreliert, die Regelung des § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG unanwendbar ist und daher auch überhaupt keine Einrichtungspflicht eines Aufsichtsrats in der Holding GmbH gegeben ist. Sofern die Gesellschaft anteilsverwaltende Aufgaben hat und die anknüpfende AG überhaupt nicht beherrscht, sind weitere Überlegungen sachgerecht. Der (mangelnde) Beherrschungsbegriff des § 110 Abs. 6 und 6a ArbVG ist auch auf den Beherrschungsbegriff des § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG zu übertragen. Daher kommt § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG überhaupt nicht zur Anwendung. Nunmehr ist zu bedenken, dass die Beherrschung in § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG selbst ausdrücklich geregelt ist und mit einer schlichten Mehrheitsbeteiligung bereits anerkannt wird.39 Dennoch geht es dabei nur um eine widerlegliche Vermutung. Insofern ist der Beherrschungsbegriff des § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG teleologisch zu reduzieren, dass er trotz des formalen Bestehens der Mehrheitsbeteiligung dann nicht gegeben ist, wenn die Tätigkeit der Muttergesellschaft eine schlichte Anteilsverwaltung ist. Diese Lücke und die Notwendigkeit der einschränkenden Auslegung bzw. teleologischen Reduzierung des Beherrschungsbegriffes des § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbH folgt nicht nur aus dem Zweck der Sicherung der Arbeitnehmer in der entscheidungserheblichen Gesellschaft und aus dem einschränkenden Verständnis des Begriffes Beherrschung aus dem Arbeitsverfassungsgesetz und dem Transfer in § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG, sondern wird auch aus der historischen Abfolge der Regelungen deutlich. § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG wurde durch die Arbeitsverfassungsgesetznovelle 197440 geschaffen und kam so in das Recht der GmbH. Das ArbVG wurde zugleich geschaffen. 1993 folgte aber eine Novelle des ArbVG, in der die Besonderheiten der arbeitnehmerlosen Holding und die Mitwirkung der Arbeitnehmervertreter neu und ergänzend geregelt wurden. Dabei sollte gerade die Mitwirkung in der belegschaftslosen Holding, die konzernsteuernd wirkt, sichergestellt werden. Gerade die nicht steuernde, nur anteilsverwaltende Gesellschaft soll davon befreit sein. 1993 wurde hingegen im GmbHG zur Einrichtung eines Aufsichtsrats keine Adaptierung vorgenommen, womit durch diese asymmetrische Modifizierung der Regelungen eine planwidrige Lücke entstanden ist, die nunmehr durch die teleologische Reduktion des Begriffes Beherrschung auszufüllen ist. 39 40
Heidinger in Gruber/Harrer GmbHG2, § 29 Rn. 21. BGBl 1974/82; s. dazu Kalss/Eckert Zentrale Fragen des GmbH-Rechts, 534.
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V. Weitergehende Überlegung § 110 Abs. 6a ArbVG setzt als Tatbestandsvoraussetzung voraus, dass kein Betriebsrat bestellt worden ist bzw. auch nicht bestellt werden kann, weil die Gesellschaft weniger als fünf Arbeitnehmer hat. Bei genauerer Sicht greifen aber die eben unter Punkt 4 entwickelten Überlegungen auch in Gesellschaften, die mehr als fünf Arbeitnehmer beschäftigen, aber völlig gleich ausgerichtet sind, nämlich nur die Anteile der nachgeordneten Gesellschaften verwalten, aber keine weiteren operativen, auf den Konzern ausgerichteten Tätigkeiten entfalten, somit in keiner Weise konzernsteuernd und konzernleitend tätig sind. Dabei sind zwei Varianten zu unterscheiden, nämlich – die Variante, dass zwar mindestens fünf Arbeitnehmer bzw. mehr als fünf Arbeitnehmer beschäftigt werden, aber die Arbeitnehmer keinen Betriebsrat etablieren und – die Variante, dass die Arbeitnehmer entsprechend den gesetzlichen Regelungen des ArbVG sehr wohl einen Betriebsrat einsetzen. Die Überlegung, dass die Arbeitnehmer in dem Aufsichtsratsgremium eines Konzerns vertreten sein sollen, in dem maßgebliche Entscheidungen für den gesamten Konzern getroffen werden, greift nicht nur in der Konstellation, in der in der Holding bzw. Anteilsverwaltungsgesellschaft nur wenige, somit weniger als fünf Arbeitnehmer, beschäftigt sind, sondern auch wenn diese Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer allein zum Zwecke der Anteilsverwaltung über die Schwelle von fünf Arbeitnehmern hinausgeht. Zwar besteht dann möglicherweise ein Betriebsrat und damit ein entsendungsberechtigtes Belegschaftsorgan und würde § 110 Abs. 6a gar nicht anwendbar sein, weil eben die Lücke der mangelnden Beschickungsmöglichkeit aus dem Konzern bzw. aus der Konzernspitze aus Arbeitnehmersicht gar nicht bestünde. Der Wegfall bezieht sich aber nur auf eine tatsächlich beherrschende Gesellschaft. Wenn aber die „Anteilsverwaltungsgesellschaft“ tatsächlich nur auf die Anteilsverwaltung ausgerichtet ist und eben gerade keine Beherrschung im Sinne von § 110 Abs. 6a ArbVG entfaltet, so entfällt auch das zweite Tatbestandselement des § 110 Abs. 6a ArbVG und ist auch aus diesem Grund gerade keine Arbeitnehmermitbestimmung und damit überhaupt kein Grund für die Einrichtung eines Aufsichtsrats in der Anteilsverwaltungs-GmbH gegeben. Die teleologische Überlegung bleibt somit vollkommen die gleiche wie in dem Fall, in dem weniger als fünf Arbeitnehmer vertreten sind. Hat man diesen Zweck in der Weise erkannt, so zeigt sich, dass der Begriff der Beherrschung, wie er im ArbVG entwickelt wurde, nämlich tat-
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sächlich konzernleitende und konzernsteuernde Tätigkeit, auch auf § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG übertragen werden muss. Die einschränkende Auslegung des Beherrschungsbegriffes in § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG, somit die Festschreibung der Beherrschung bei einer mehr als 50-%-igen unmittelbaren Beteiligung,41 ist auch für den Fall anzuwenden, in dem ein Betriebsrat errichtet werden darf und tatsächlich auch errichtet ist. Maßgeblich kommt es dabei nicht auf die Zahl der Arbeitnehmer, sondern auf die konkrete Tätigkeit der Gesellschaft an, die sich eben nur auf die Anteilsverwaltung beschränkt. Die teleologische Überlegung der mangelnden Notwendigkeit der Arbeitnehmermitbestimmung allein in der anteilsverwaltenden GmbH ist somit durch den einschränkenden Begriff der Beherrschung in § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG unmittelbar normativ umgesetzt. Sie erlangt, wenn man diese Überlegung fortdenkt, eine eigenständige Bedeutung für § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG. Der Beherrschungsbegriff ändert sich nicht durch die Zahl der Arbeitnehmer in der GmbH-rechtlichen Bestimmung. Der einschränkende Beherrschungsbegriff ist dort jedenfalls unabhängig von der Zahl der Arbeitnehmer anzuwenden. Diese Überlegung findet auch eine Parallele in einer anderen anteilsverwaltenden Organisationseinheit. In § 22 Abs. 1 2. Variante PSG wird für eine Privatstiftung die Anteilsverwaltung unmittelbar mit der Verpflichtung der Einrichtung eines Aufsichtsrates verknüpft, zusätzlich auch an die Zahl der Arbeitnehmer. Eine Privatstiftung steht in österreichischen Unternehmensgruppen sehr häufig an der Spitze, um die Anteile „zusammen“ zu halten.42 Diese muss dann aber bei der unmittelbar gehaltenen Gesellschaft und der Privatstiftung 300 übersteigen. Die Zahl der Arbeitnehmer von 300 ist hier nicht entscheidend. Von herausragender Bedeutung ist die unmittelbare Verknüpfung der Einrichtungspflicht des Aufsichtsrats mit dem Begriff der Beherrschung bzw. dem einschränkenden Verständnis der Beherrschung bei der Beschränkung der Tätigkeit der Privatstiftung auf die Verwaltung von Unternehmensanteilen der beherrschten Unternehmen, somit unmittelbar mit mehr als 50% gehaltenen Unternehmen. Zwar handelt es sich dabei um eine Regelung für die Privatstiftung und nicht für die GmbH, sie zeigt aber die gesellschaftsrechtlich korporative Bedeutung, geht es doch um die Einrichtung eines Aufsichtsrats in der Privatstiftung, die beherrschend tätig ist und umgekehrt um die mangelnde Einrichtungspflicht bei schlichter Anteilsverwaltung. In der Literatur wird die Parallelstellung von § 110 Abs. 6a und § 22 PSG auch betont, wonach bei bestimmter Gestaltung einer nur anteilsverwalten41 Zum Beherrschungsbegriff Aburumieh/Hoppel in Foglar-Deinhardstein/Aburumieh/ Hoffenscher-Summer GmbHG, § 29 Rn. 15. 42 S. nur Kalss ZVglRWiss 2018, 221 ff.
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den Holding die Arbeitnehmer kein Anrecht auf Vertretung im Aufsichtsrat haben.43 Allein die Wahrnehmung der typischen Eigentümerrechte, somit die – notwendige – Ausübung des Stimmrechts in der General- oder Hauptversammlung für die dort notwendigen Angelegenheiten, ist nicht als Ausübung der Beherrschung oder einheitlichen Leitung der Beteiligungsunternehmen zu qualifizieren, sondern noch als schlichte Anteilsverwaltung.44 Somit zeigt sich, dass in der Rechtsordnung nicht nur die mangelnde Vertretung der Arbeitnehmer in einem Aufsichtsrat einer Gesellschaft, die nicht konzernleitend und beherrschend, sondern nur anteilsverwaltend tätig ist, anerkannt wird, sondern die Wirkungen darüber hinausgehen und auch die Einrichtungspflicht des Aufsichtsrats hintanhalten. Genau diese für die Privatstiftung anerkannte und ausdrücklich ausgesprochene Wirkung ist somit anerkannt und der Rechtsordnung nicht fremd. Der parallele Gedanke kann daher wegen der Anerkennung durch die Rechtsordnung an anderer Stelle umso mehr auf die Konstellation des § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG übertragen werden. Der Beherrschungsbegriff ist auch in § 29 Abs. 1 Z. 3 entsprechend der Vorlage in § 22 PSG für die Einrichtungspflicht und einschränkend zu interpretieren. Die einschränkende Interpretation des Begriffes Beherrschung in § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG lässt sich somit insofern aus der teleologischen Parallele zu § 110 Abs. 6a ArbVG und zusätzlich zu § 22 PSG stützen. Wenn somit die Beherrschung gem. § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG wegen schlichter Anteilsverwaltung nicht besteht, greift auch die Einrichtungspflicht des Aufsichtsrats überhaupt nicht, zumal dann ein maßgebliches Tatbestandselement des § 29 Abs. 1 Z. 3 weggefallen ist. Wiederum lässt sich dies auch historisch abstützen. Das PSG wurde ähnlich wie die ArbVG-Novelle 1993 in die österreichische Rechtsordnung eingeführt, somit im Verhältnis zu § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG nachträglich. Die schon ältere Bestimmung des § 29 Abs. 1 Z. 3 GmbHG wurde auch aus Anlass dieses Gesetzes nicht geändert, sodass nachträglich die Lücke im GmbHG entstanden ist und hiermit durch § 22 PSG noch einmal bestätigt wird. Würde die betreffende GmbH hingegen Konzernleitungsentscheidungen treffen, würde jedenfalls ein Anspruch auf Arbeitnehmermitbestimmung gem. § 110 Abs. 6a ArbVG bestehen, auch wenn keine Arbeitnehmer beschäftigt sind.45 Entscheidend ist somit nicht die Zahl der Arbeitnehmer. Maßgeblich ist die Tätigkeit der betreffenden GmbH, nämlich ob sie nur anteilsverwaltend tätig ist oder eben doch konzernleitend bzw. konzernsteuernd oder konzernüberwachend. 43
Ausdrücklich Kalss/Probst Familienunternehmen, Rn. 8/67. Ausdrücklich Kalss/Probst Familienunternehmen, Rn. 8/69; Kalss RdW 2006, 3; Briem PSR 2010, 110; Arnold, PSG § 22 Rn. 14. 45 Kalss/Probst Familienunternehmen, Rn. 8/69. 44
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VI. Resümee Die Zahl der Arbeitnehmer spielt für die Einrichtung und die Zusammensetzung des Aufsichtsrats in der GmbH eine Mehrfachrolle. Zunächst hängt die Einrichtung selbst an der Mindestzahl von 300 Arbeitnehmern in der einzelnen Gesellschaft, von 500 Arbeitnehmern im Konzern bzw. in der Unternehmensgruppe. Die Zusammensetzung knüpft wiederum an die Zahl der Arbeitnehmer. Arbeitnehmer haben in einem Aufsichtsrat – unabhängig, ob er eingerichtet werden muss oder freiwillig besteht – jedenfalls ein Mitwirkungs- und Teilnahmerecht, sobald in einem Unternehmen ein Betriebsrat eingerichtet wird. Die Arbeitnehmer haben ab fünf Arbeitnehmern das Recht, einen Betriebsrat zu etablieren. Bei Konzerngesellschaften, die keine konzernsteuernde und beherrschende Rolle einnehmen, sondern schlicht die Anteile verwalten, haben die Arbeitnehmer kein Recht auf Vertretung. Schließlich knüpft an die Zahl der Arbeitnehmer auch die Frauenquote an. Nur GmbHs mit mehr als 1.000 Arbeitnehmern, von denen wiederum 20% Frauen sind, unterliegen dieser Diversitätsregelung. Da die Regelungen durch jeweils kleine anlassbezogene Novellen geschaffen wurden und jeweils einzelfallbezogene politische Kompromisse darstellten, haben sie zum Teil Systemgerechtigkeit und Überzeugungskraft im Gesamtsystem verloren.
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Konzerninterne Informations- und Mitwirkungspflichten Jens Koch
Konzerninterne Informations- und Mitwirkungspflichten im Lichte des Europarechts JENS KOCH
I. Einführung Christine Windbichler hat in den verschiedensten Bereichen des Rechts gewichtige Akzente gesetzt und die Rechtsentwicklung vorangetrieben. Namentlich aus gesellschaftsrechtlicher Sicht gehört zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen sicherlich die Kommentierung des Konzernrechts im Großkommentar zum Aktiengesetz, die mittlerweile in der 5. Auflage aus dem Jahr 2017 vorliegt. Dabei handelt es sich allerdings um eine Materie, deren Existenzberechtigung in den vergangenen Jahren deutlich in Frage gestellt wurde, weil ihr gedanklicher Ausgangspunkt, das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip, aus vielen verschiedenen Richtungen unter Beschuss genommen wird. Im folgenden Beitrag zu Ehren von Christine Windbichler soll deshalb näher untersucht werden, wie weit der Erosionsprozess namentlich infolge europarechtlicher Einflüsse tatsächlich schon fortgeschritten ist.
II. Informationspflichten und Haftung Das Prinzip der Trennung zwischen einer Körperschaft und ihren Mitgliedern ist ein Grundpfeiler des deutschen Gesellschaftsrechts und insbesondere auch des Konzernrechts.1 Das Anliegen, die Haftungsrisiken bestimmter Unternehmungen auf eine Tochtergesellschaft auszugliedern, ist anerkanntermaßen eines der Hauptmotive für die Schaffung von Konzernstrukturen.2 Die solchermaßen bezweckte Haftungsabschottung funktioniert indes nur noch eingeschränkt, weil das Trennungsprinzip in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Schrifttum gleichermaßen durchlöchert wird.3 1 Vgl. zum Trennungsprinzip statt vieler Bachmann in Großkomm AktG, 5. Aufl., 2017, § 1 Rn. 69 ff.; Wiedemann Gesellschaftsrecht, 1980, § 4 II 3b (S. 214); Windbichler NZG 2018, 1241, 1245. 2 Windbichler in Großkomm AktG, 5. Aufl., 2017, Vor §§ 15 ff. Rn. 17. 3 Symptomatischer Aufsatztitel bei Weck NZG 2016, 1374: „Das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip – Verabschiedung einer Illusion im Kartellrecht“; gegen diese Tendenz auf nationaler Ebene noch LG Düsseldorf WuW 2017, 106 Rn. 223 ff.; krit. zu dieser Ent-
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Dies wird am deutlichsten sichtbar im Bereich des europäischen Aufsichtsrechts. Insbesondere im Kartellrecht fasst der europäische Gesetzgeber den Konzern jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen als eine wirtschaftliche Einheit auf, deren einzelne Rechtsträger für Verfehlungen ihrer Mutter-, Tochter- oder Schwestergesellschaften in Anspruch genommen werden können.4 Diese Ansätze begegneten zunächst in der Kartellrechtspraxis der EU-Kommission und des EuGH, in deren Gefolge auch in der nationalen Aufsichtspraxis und fanden schließlich im neuen § 81 Abs. 3a GWB in der Fassung der 9. GWB-Novelle eine gesetzliche Bestätigung.5 Vom Kartellrecht haben sie – wiederum auf europäische Initiative – zunächst weiter auf das Kapitalmarktrecht und das Datenschutzrecht ausgestrahlt.6 Im Bereich der Finanzmarktaufsicht begründet § 25a Abs. 3 KWG zwar keine unmittelbare Haftung, aber doch eine organisationsrechtliche Verantwortung der Muttergesellschaft für nachgeordnete Tochterunternehmen.7 Aber nicht nur der europäische Gesetzgeber neigt dazu, die juristische Eigenständigkeit der einzelnen Rechtsträger zu missachten, sondern auch der nationale Gesetzgeber ist jedenfalls in einzelnen Bereichen nicht mehr bereit, die Aufspaltung wirtschaftlicher Einheiten in juristisch eigenständige Rechtspersönlichkeiten zu akzeptieren. Der dafür sichtbarste Beleg, der nicht schon vom Europarecht vorgegeben wird, findet sich insofern im Bereich des Atomrechts in Gestalt der Nachhaftung für den Rückbau von Atomkraftanlagen, wo der Muttergesellschaft ebenfalls die Berufung auf das Trennungsprinzip versagt wird.8 wicklung auch Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 1 Rn. 21; Beurskens Konzern 2017, 425 ff.; Habersack AG 2016, 691, 697; Hommelhoff ZGR 2019, 379; Poelzig in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, 2018, S. 83 ff.; Windbichler NZG 2018, 1241, 1244 ff. 4 Vgl. zu den sehr komplexen, aber hier nicht zu vertiefenden Einzelheiten etwa die Darstellung bei Bechtold/Bosch/Brinker EU-Kartellrecht, 3. Aufl., 2014, Art. 101 AEUV Rn. 33 ff.; Nowak in Loewenheim/Meesen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann Kartellrecht, 3. Aufl., 2016, Art. 23 VerfVO Rn. 17 ff.; Schütz in Kölner Komm KartellR, 2013, Band 4, Art. 23 VO Nr. 1/2003 Rn. 43; Sura in Langen/Bunte Kartellrecht, Band 2, 13. Aufl., 2018, Art. 23 VO 1/2003; J. Koch ZHR 171 (2007), 554 ff. Zur Ausdehnung auch auf die zivilrechtliche Haftung für Kartellschadensersatzschulden einer 100%-Tochter s. EuGH NZKart 2019, 217 Rn. 29 ff. (Skanska); vgl. dazu Kersting WuW 2019, 290 ff.; Richter BB 2019, 1154 ff. 5 Vgl. dazu Meyer-Lindemann in Kersting/Podszun Die 9. GWB-Novelle, 2017, Kap. 17 Rn. 53 ff.; Haus Konzern, 2017, 381 ff.; Meixner WM 2017, 1281, 1285 f.; Thomas AG 2017, 637 ff. 6 Zum Ersten § 120 Abs. 23 S. 2 WpHG; Krause CCZ 2014, 248, 259; zum Zweiten § 83 Abs. 4 bis 6 DS-GVO iVm Erwägungsgrund 150 S. 3 DS-GVO mit ausdrücklicher Bezugnahme auf EU-Kartellrecht; s. auch Cornelius NZWiSt 2016, 421 ff.; Neun/Lubitzsch BB 2017, 1538, 1543. 7 Poelzig in VGR Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, 2018, S. 83, 85 ff. 8 Gesetz zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung vom 27.1.2017, BGBl. 2017 I, S. 114; vgl. dazu König Konzern, 2017, 61 ff.; Krieger ZfU 2017, 25 ff.; Wieland ZfU 2017, 42 ff.
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Neben dem europäischen und nationalen Gesetzgeber tragen auch Rechtsprechung und Schrifttum ihren Teil dazu bei, die Eignung des Konzerns zur Haftungsabschottung zu konterkarieren. Stieß die namentlich von Peter Hommelhoff in den 1980er Jahren propagierte Figur der Konzernleitungsmacht9 noch auf überwiegende Skepsis,10 hat sie unter leicht veränderten dogmatischen Vorzeichen unter dem Schlagwort der Konzern-Compliance in neuerer Zeit doch deutlich mehr Zuspruch erhalten.11 Auf diesen Meinungsstand im Schrifttum konnte sodann auch das Landgericht Stuttgart aufbauen, das in einer vielbeachteten Entscheidung aus dem Jahr 2017 die Muttergesellschaft in der Pflicht sah, ihre Tochtergesellschaft einer umfassenden Konzernleitung zu unterwerfen.12
III. Pflichten der Konzernmutter zwischen Sollen und Können 1. Grundsätzliche Problemstellung des Konzernrechts Eine solche Einheitsbetrachtung wirft im Lichte des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips grundsätzliche dogmatische Fragen auf, daneben aber auch unmittelbar praktische Probleme. Es stellt sich nämlich die Frage, ob der Muttergesellschaft überhaupt Mittel und Wege eröffnet sind, um Risiken innerhalb ihrer Tochtergesellschaft identifizieren und steuern zu können. Dieses Problem stellt sich naturgemäß in erster Linie im faktischen Konzern, wo der Muttergesellschaft die dafür erforderlichen Steuerungsmöglichkeiten, namentlich ein Weisungsrecht, nicht zur Verfügung stehen. Dieses Problem ist nicht neu. Schon bevor europäische Fragestellungen hinzugetreten sind, konnten sich auch im nationalen Kontext Kollisionen ergeben, etwa wenn Vorgänge in der Tochtergesellschaft Gegenstand eines Aus9 Hommelhoff Konzernleitungspflicht, 1982, S. 43 ff., 165 ff., 184 ff.; grds. zust. etwa Kropff ZGR 1984, 112, 116. 10 Vgl. etwa Altmeppen in MünchKomm AktG, 5. Aufl., 2020, § 311 Rn. 403; Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl., 2019, § 76 Rn. 86 ff.; Koppensteiner in Kölner Komm AktG, 3. Aufl., 2004, § 311 Rn. 9, 18; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl., 2015, § 311 Rn. 7; Mülbert Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl. 1996, 29 ff. 11 Vgl. zu den Parallelen zwischen der Diskussion um die Konzernleitungsmacht und um die Konzern-Compliance schon Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 15 Rn. 5. Zur ausgesprochen facettenreichen, hier aber nicht weiter zu vertiefenden Diskussion um die Pflicht zur Konzern-Compliance vgl. den Überblick bei Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 76 Rn. 20 ff.; ferner aber auch Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl., 2015, § 76 Rn. 28; Fleischer CCZ 2008, 1, 5; Holle Legalitätskontrolle im Kapitalgesellschafts- und Konzernrecht, 2014, S. 93 ff.; Verse, ZHR 175 (2011), 401 ff. 12 LG Stuttgart NZG 2018, 665 Rn. 211 ff.; krit. dazu aber Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 76 Rn. 24; Kort NZG 2018, 641, 643 ff.; Mayer/Richter AG 2018, 220 ff.; Rieckers DB 2019, 107, 116.
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kunftsverlangens des Aufsichtsrats nach § 90 AktG oder eines Auskunftsverlangens eines Aktionärs nach § 131 AktG waren. Diese Kollisionslagen hat zum Teil schon der Gesetzgeber erkannt und einer gesetzlichen Regelung zugeführt oder sie werden dadurch aufgelöst, dass die kollidierenden Vorschriften im Wege einer systematischen Auslegung aufeinander abgestimmt werden (zu den Lösungsansätzen im Einzelnen vgl. die Ausführungen unter IV 2). 2. Europarechtliche Überwölbung der nationalgesetzlich ausgestalteten Pflichtenstellung der Tochtergesellschaft Ein in der Diskussion bislang nur in einzelnen Bereichen aufgeworfener Gesichtspunkt ist indes die Frage, ob die bislang praktizierten Kollisionsregeln dann versagen, wenn die entsprechenden Pflichten nicht aus dem nationalen Recht, sondern aus dem europäischen Wirtschaftsrecht an das Unternehmen herangetragen werden. Diese Diskussion wurde in der Vergangenheit vornehmlich im Bereich des Finanzmarktaufsichtsrechts geführt, wo namentlich zu § 25a Abs. 3 KWG eine knappe und in ihrer konkreten Reichweite nicht ganz eindeutige Aussage in den Gesetzesmaterialien eine solche Überlagerung des Gesellschaftsrechts in der Tat nahezulegen scheint.13 Parallele Argumentationslinien zeigen sich im Versicherungsaufsichtsrecht, wo die Gesetzeslage aber nicht identisch ist und deshalb auch die Lösungsansätze zum Teil voneinander abweichen.14 Auf der VGR-Tagung 2017 hat sodann Dörte Poelzig über das Aufsichtsrecht hinaus verallgemeinernd die Frage aufgeworfen, ob konzernrechtliche Trennungsprinzipien nicht auch in anderen unionsrechtlich überwölbten Rechtsgebieten durch eine europäische Gruppenverantwortung verdrängt 13 RegBegr BT-Drs. 17/10974, 86: „Einwirkungsrechte der Mutter sollen „uneingeschränkt gelten und nicht durch anderweitiges Gesellschaftsrecht beschnitten werden.“ Damit indes nur schwer zu vereinbaren: RegBegr BT-Drs. 17/10974 86: Nachgeordnetes Unternehmen ist verpflichtet zu prüfen, inwieweit Weisungen des übergeordneten Unternehmens rechtmäßig sind. Nach der zugrunde liegenden Richtlinienvorgabe in Art. 109 Abs. 2 und 3 der CRD IV-Richtlinie (2013/36/EU) könnte sich auch eine Unterscheidung zwischen solchen Tochterunternehmen anbieten, die vom Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst sind und solchen, wo das nicht der Fall ist. Nach Art. 109 Abs. 2 S. 2 der Richtlinie soll die Tochterunternehmen nur im ersten Fall eine eigene Verpflichtung treffen. Vgl. zum Streitstand etwa Braun in Boos/Fischer/Schulte-Mattler KWG/CRR-VO, 5. Aufl., 2016, § 25a Rn. 709 f.; Langen in Schwennicke/Auerbach KWG, 3. Aufl., 2016, § 25a Rn. 137a ff.; Binder, ZGR 2015, 667, 704; Dreher/Ballmaier ZGR 2014, 753, 767; Fett/Gebauer in FS Schwark, 2009, 375, 382 f. (allerdings zu einer älteren Gesetzeslage); J.-B. Fischer Ausstrahlungswirkungen im Recht, 2018, 186 f.; Th. Schneider Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung der gesellschaftsrechtlichen und bankaufsichtsrechtlichen Anforderungen an Risikomanagement auf Gruppenebene, 2009, 251 (ebenfalls zur älteren Rechtslage); Tröger ZHR 177 (2013), 475 ff. 14 Vgl. dazu insb. Dreher/Ballmaier ZGR 2014, 753 ff.
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würden, und hat diese Frage mit starken Argumenten bejaht:15 Schon wegen des Vorrangs des europäischen Unionsrechts könne eine solche Kollision nur zugunsten der europäischen Vorgaben ausfallen, weil diese das nationale Gesellschaftsrecht überlagerten. Anknüpfungspunkt für die Auflösung des Spannungsverhältnisses sei die Legalitätspflicht des Tochtervorstands, die ebenso wie die Pflichten der Konzernleitung durch das europäische Wirtschaftsrecht determiniert werde. Die einschlägigen Vorschriften, wie etwa Art. 101 AEUV und § 25a Abs. 3 KWG, würden nämlich nicht nur die Befolgung durch die Tochter einfordern, sondern die konzernweite Einhaltung und damit auch Aufsichtsmaßnahmen durch die Mutter. Dementsprechend sei auch der Tochtervorstand gem. §§ 76, 93 AktG aufgrund des öffentlichen Interesse an der Einhaltung des Rechts dazu verpflichtet, bei der Implementierung der konzernweiten Legalitätskontrolle durch den Muttervorstand mitzuwirken. Diese Mitwirkungspflicht münde in eine Pflicht zur Weitergabe der Information und Befolgung von Weisungen, soweit dies zur konzernweiten Legalitätskontrolle und damit zur Wahrnehmung der Konzernverantwortung erforderlich sei. Obwohl dieser Ansatz von erheblicher Sprengkraft ist und – und jedenfalls in dieser Allgemeinheit – im Widerspruch zu der bis dahin ganz herrschenden Schrifttumsauffassung steht, ist er auf der VGR-Tagung selbst nahezu durchgängig nur auf Zuspruch gestoßen.16 Das nachfolgende Schrifttum hat ihn sodann aber weitestgehend unbeachtet gelassen und allenfalls ansatzweise aufgegriffen und diskutiert.17 Ganz herrschende Meinung ist deshalb auch heute noch weiterhin, dass die Tochter – jedenfalls außerhalb der besonderen Anordnung in § 25a Abs. 3 KWG18 – weder Informationsnoch Weisungsbindungen unterliegt, solange die Abhängigkeit nicht durch einen Beherrschungsvertrag oder eine Eingliederung in vertraglich abgesicherte Formen überführt wird.19 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob die Beharrenskräfte des Schrifttums tatsächlich dem Einfluss des Europarechts standhalten oder ob das Recht des faktischen Konzerns nicht tatsächlich auch in diesem Punkt durch höherrangige Vorgaben überformt wird.
15 Vgl. zum Folgenden Poelzig in VGR Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, 2018, 83, 106 ff. 16 Kritische Töne finden sich noch am ehesten bei Decher in VGR Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, 2018, zitiert nach Diskussionsbericht Bauermeister, 112, 113, der sich aber auch eher gegen einzelne Begründungselemente wendet und nicht so sehr gegen das Ergebnis. 17 Vgl. etwa Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 311 Rn. 48a f. 18 Vgl. dazu die Nachw. in Fn. 13. 19 Vgl. statt aller Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 311 Rn. 36d, 48a f. mwN.
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IV. Bisherige Ansätze zur Lösung von Kollisionslagen 1. Normhierarchische Ausgangslage Der gedankliche Ausgangspunkt dieses unionsfreundlichen Ansatzes ist ohne Zweifel zutreffend: Anders als in sonstigen Kollisionslagen kann aus normhierarchischen Gründen im Bereich des Europarechts nicht angenommen werden, es werde durch Vorgaben des nationalen Aktienrechts verdrängt oder die beiden Bereiche müssten in einen Zustand praktischer Konkordanz überführt werden. Vielmehr muss der aktienrechtliche Normenbestand so gedeutet werden, dass er den europäischen Normbefehl nicht konterkariert und ihm überdies noch im Sinne des „effet utile“ zur praktischen Durchsetzung verhilft.20 Auf der anderen Seite darf der nationale Normenbestand aber auch nicht vorschnell europarechtlich verdrängt werden, sondern es muss zunächst geprüft werden, ob die Vorschriften des Aktienrechts nicht doch hinreichend flexibel sind, um auch ohne eine normhierarchische Überwölbung Raum für die europäischen Zielsetzungen zu lassen. Diese Frage drängt sich deshalb auf, weil entsprechende Kollisionslagen dem Aktienrecht ja schon bislang keinesfalls fremd waren (dazu ausführlich unter IV 2) und auch im rein nationalen Kontext durchaus normhierarchisch beeinflusst sein können. Das gilt namentlich für verfassungsrechtliche Vorgaben, die dann mit dem Aktienrecht in Kollision geraten können, wenn ein Hoheitsträger, und zwar insbesondere der Bund, an einer Aktiengesellschaft mehrheitlich beteiligt ist.21 In einem ersten Schritt sollen deshalb die Mechanismen näher beleuchtet werden, mit denen das Aktienrecht bislang auf derartige Kollisionslagen reagiert hat, um sodann festzustellen, inwiefern ein solcher Konstruktionsweg auch im Verhältnis zum Europarecht beschritten werden kann. 2. Ansätze zur Bewältigung von Konfliktlagen im nationalen Kontext a) Systematischer Abgleich der Kontrollpflichten mit dem konzernrechtlichen Einwirkungsmechanismus Tatsächlich wurden in der Vergangenheit nämlich unterschiedliche Begründungsansätze nutzbar gemacht, um Kollisionen zwischen gruppenwei20 Grds. zum effet utile statt vieler EuGH EuZW 2001, 715 Rn. 25 ff. – Courage; EuGH EuZW 2006, 529 Rn. 60 ff. – Manfredi; Schill/Krenn in Grabitz/Hilf/Nettesheim Recht der EU, 68. EL, Oktober 2019, Art. 4 EUV Rn. 93 ff.; W.-H. Roth WRP 2013, 257 ff. 21 Ausf. dazu noch unter IV 2 b sowie J. Koch ZHR 183 (2019), 7 ff.; zu sonstigen Kollisionslagen zwischen öffentlich-rechtlichen Vorschriften und gesellschaftsrechtlichen Vorgaben vgl. J. Koch in FS Schmidt-Preuß, 2018, 367 ff.
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ter Verantwortung einerseits und den Grenzen gesellschaftsrechtlicher Einwirkungsmöglichkeiten andererseits zu beseitigen. Zum einen können die entsprechenden Pflichten im Wege der Auslegung so ausgedeutet und begrenzt werden, dass sie nur im Rahmen der tatsächlich eröffneten Möglichkeiten bestehen. Zum anderen ist es denkbar, den Pflichtenappell als einen unbedingten zu verstehen, es der Muttergesellschaft aber selbst zu überlassen, wie sie sich Mittel und Wege eröffnet, um ihm nachkommen zu können. Der erste Weg eines systematischen Abgleichs der Kontrollpflichten mit dem konzernrechtlichen Einwirkungsmechanismus ist zum Teil schon im Gesetz selbst explizit angelegt oder kann alternativ doch zumindest im Wege der Auslegung daraus abgeleitet werden. Ein anschauliches Beispiel für beide Mechanismen findet sich in der Vorschrift zum Auskunftsrecht des Aktionärs in der Hauptversammlung nach § 131 AktG. Hier ist die Situation einer Unternehmensverbindung in § 131 Abs. 1 S. 2 AktG ausdrücklich angesprochen. Danach erstreckt sich die Auskunftspflicht des Vorstands einer Obergesellschaft auch auf verbundene Unternehmen, aber eben keinesfalls darauf, umfassend über die Angelegenheiten dieses Unternehmens Auskunft zu geben, sondern nur über ihre eigenen „rechtlichen und geschäftlichen Beziehungen“ zu diesem Unternehmen. Das trägt den juristischen Einwirkungsmöglichkeiten innerhalb einer faktischen Unternehmensverbindung passgenau Rechnung, weil hier die Muttergesellschaft über die Angelegenheiten des verbundenen Unternehmens keine gesicherten Informationsmöglichkeiten hat, über ihre eigenen rechtlichen und geschäftlichen Beziehung zu diesem Unternehmen aber durchaus Auskunft geben kann. Allerdings sind die Informationen, die eine Muttergesellschaft über ihre Tochtergesellschaft zu erteilen hat, keinesfalls auf den Anwendungsbereich des § 131 Abs. 1 S. 2 AktG begrenzt, sondern es ist anerkannt, dass Angelegenheiten der Tochtergesellschaft im Rahmen des § 131 Abs. 1 S. 1 AktG auch Gegenstand des Auskunftsrechts der Mutter sein können, wenn die Tochtergesellschaft für die Mutter eine solche Erheblichkeit hat, dass ihre Angelegenheiten mittelbar auch Angelegenheit der Muttergesellschaft sind.22 In diesem Fall greift dann aber die systematische Einschränkung, dass die 22 BGHZ 152, 339, 345 = NZG 2003, 396 (Verein); BayObLGZ 2000, 193, 196; OLG Düsseldorf NJW 1988, 1033, 1034; OLG Köln AG 2002, 89, 90 f.; Regierungsbegründung Kropff 1965, S. 185 f.; Decher in Großkomm AktG, 5. Aufl., 2020, § 131 Rn. 93 f.; Drinhausen in Hölters AktG, 3. Aufl., 2017, § 131 Rn. 8; Herrler in Grigoleit AktG, 2013, § 131 Rn. 13 f.; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 131 Rn. 18; Kubis in MünchKomm AktG, 4. Aufl., 2018, § 131 Rn. 35 ff.; Liebscher in Henssler/Strohn Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2019, § 131 AktG Rn. 5; Reger in Bürgers/Körber AktG, 4. Aufl., 2017, § 131 Rn. 7; Siems in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl., 2019, § 131 Rn. 23; für eine Sperrwirkung des § 131 Abs. 1 S. 2 AktG dagegen Vossel Auskunftsrechte im Aktienkonzern, 1996, 43 ff.
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Auskunftspflicht der Mutter dort endet, wo sie diese Information nicht hat und sich diese auch nicht beschaffen kann.23 Genau in diesem Sinne wird auch für das ähnlich gelagerte Problem der konzernweiten Berichtspflicht nach § 90 Abs. 1 S. 2 AktG zwar nicht im Gesetz, wohl aber in der Regierungsbegründung vorgesehen, dass der Vorstand nur insofern zur Berichterstattung verpflichtet ist, als er sich die Informationen „im Rahmen des nach den gesetzlichen Bestimmungen Zulässigen, des ihm faktisch Möglichen und konkret Zumutbaren“ beschaffen kann.24 Auch hier kann die Kollisionslage also im Auslegungswege so aufgelöst werden, dass die aktienrechtlichen Grenzen der Einflussnahme beachtet werden können. b) Ergebnisorientiertes Verständnis Ein anderes Verständnis der Konzernverantwortung hat sich namentlich im Bereich des öffentlichen Rechts durchgesetzt, wo schon seit vielen Jahren um das richtige Maß zwischen öffentlich-rechtlicher Pflichtenstellung und gesellschaftsrechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten gerungen wird. Hier werden aus den beiden betroffenen Rechtsgebieten, dem öffentlichen Recht und dem Gesellschaftsrecht, seit jeher zwei augenscheinlich gegenläufige Postulate formuliert: Vertreter des öffentlichen Rechts weisen darauf hin, dass der Verwaltung eine „Flucht in das Privatrecht“ verwehrt sein müsse.25 Die Verwaltung könne sich nicht selbst ihrer öffentlich-rechtlichen Zwänge entledigen, indem sie sich für eine Rechtsform entscheide, in der ihr die Erfüllung dieser Pflichten nicht mehr möglich sei.26 Die Vertreter des Gesellschaftsrechts pochen hingegen darauf, dass die öffentliche Hand, wenn sie sich für eine private Rechtsform entscheide, diese so hinzunehmen habe, wie das Zivilrecht sie ausgestalte. Die Verwaltung dürfe sich also nicht sehenden Auges in eine Rechtsform hineinoptieren, um dann aus öffentlich-rechtlichen Gründen deren unzureichenden Strukturen zu bemängeln.27 Diese beiden auf den ersten Blick gegensätzlich anmutenden Pole stehen sich aber keinesfalls so unversöhnlich gegenüber, wie es manche Publikation vermuten lässt.28 Vielmehr hat sich zwischen den Vertretern der beiden 23
Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 131 Rn. 18. Regierungsbegründung, BT-Drucks. 14/8769 S. 14; vgl. dazu auch Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 90 Rn. 7a. 25 Vgl. zum Folgenden bereits die Ausführungen in J. Koch ZHR 183 (2019), 7, 14 ff. 26 Vgl. aus jüngerer Vergangenheit etwa BVerfG NVwZ 2016, 1553 Rn. 29; BGH NJW 2017, 3153 Rn. 21; OVG Koblenz BeckRS 2016, 48854 Rn. 34. 27 Vgl. dazu etwa Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 394 Rn. 2b; Kersting in KölnerKomm AktG, 3. Aufl., 2016, §§ 394, 395 Rn. 62 ff.; Schürnbrand in MünchKomm AktG, 4. Aufl., 2017, Vor § 394 Rn. 19. 28 So bereits der Befund in Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 394 Rn. 2a; J. Koch ZHR 183 (2019), 7, 16 f. 24
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Fachdisziplinen eine Kompromissformel herausgebildet, mit der man sich darum bemüht, die beiden gegenläufigen Schutzanliegen miteinander in Einklang zu bringen. Die Vertreter des öffentlichen Rechts erkennen nämlich grundsätzlich an, dass die Gesellschaft so hinzunehmen ist, wie das Privatrecht sie ausgeformt hat,29 während die Vertreter des Gesellschaftsrechts die Notwendigkeit hoheitlicher Kontrolle nicht in Zweifel ziehen.30 Daraus wird von der mittlerweile übereinstimmend herrschenden Meinung beider Disziplinen eine Ingerenzverantwortung in Gestalt einer der Gesellschaftsbeteiligung vorgeschalteten Eingangskontrolle abgeleitet, die die Körperschaft dazu verpflichtet, sich ausschließlich solcher Rechtsformen zu bedienen, in denen ihr ein hinreichender Einfluss eingeräumt werden kann.31 Auf der Linie dieser Kompromissformel dürfte auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen „Deutsche Bahn“ vom 7.11.2017 einzuordnen sein. Dort hat das Gericht für die Konzernierungssituation zwischen der Deutsche Bahn AG und der Bundesrepublik Deutschland einerseits festgestellt, dass sich die Bundesregierung nicht ihrer verfassungsrechtlichen Pflichten entziehen dürfe und ihr der Einwand fehlender Einwirkungsbefugnisse abgeschnitten sei. Auf der anderen Seite hat das Gericht aber auch festgestellt, dass zu diesem Zweck nicht der aktienrechtliche Normenbestand öffentlich-rechtlich überwölbt werde, sondern der Hoheitsträger die private Rechtsform so hinzunehmen habe, wie sie gesellschaftsrechtlich ausgestaltet sei.32 Damit hat es das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle dem Hoheitsträger selbst überlassen, dafür zu sorgen, dass die Beteiligung so ausgestaltet wird, dass er seinen verfassungsrechtlichen Pflichtbindungen hinreichend gerecht wird.33 29 Vgl. etwa bereits VGH Kassel AG 2013, 35, 37 f.; Ehlers Verwaltung in Privatrechtsform, 1984, 109 ff.; Engellandt Die Einflußnahme der Kommunen auf ihre Kapitalgesellschaften über das Anteilseignerorgan, 1995, S. 24 ff.; Th. Mann Die öffentlich-rechtliche Gesellschaft, 2002, 173 ff.; dens. VBlBW 2010, 7, 8 f., 14 f.; H. Schmid ZKF 2004, 1; R. Schmidt ZGR 1996, 345, 356 ff.; Wehrstedt MittRhNotK 2000, 269, 278; jedenfalls im Ansatz auch Huber/Fröhlich in Großkomm AktG, 4. Aufl., 2015, Vor §§ 394, 395 Rn. 23. 30 Vgl. etwa Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 394 Rn. 2a ff.; Kersting in KölnerKomm AktG, 3. Aufl., 2016, §§ 394, 395 Rn. 13 ff.; Schürnbrand in MünchKomm AktG, 4. Aufl., 2017, Vor § 394 Rn. 17; Schmolke WM 2018, 1913, 1914 f. 31 So auch bereits VGH Kassel AG 2013, 35, 37 f.; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 394 Rn. 2b, 2d; Kersting in KölnerKomm AktG, 3. Aufl., 2016, §§ 394, 395 Rn. 63; Schürnbrand in MünchKomm AktG, 4. Aufl., 2017, Vor § 394 Rn. 17; Ehlers Verwaltung in Privatrechtsform, 1984, 109 ff.; Engellandt Die Einflußnahme der Kommunen auf ihre Kapitalgesellschaften über das Anteilseignerorgan, 1995, 24 ff.; Th. Mann Die öffentlichrechtliche Gesellschaft, 2002, S. 173 ff.; dens. VBlBW 2010, 7, 8 f., 14 f.; H. Schmid ZKF 2004, 1; R. Schmidt ZGR 1996, 345, 356 ff.; Schmolke WM 2018, 1913, 1914 f.; Wehrstedt MittRhNotK 2000, 269, 278; ähnlich, wenngleich tendenziell weitergehend Huber/Fröhlich in GroßkommAktG, 4. Aufl., 2015, Vor §§ 394, 395 Rn. 23. 32 BVerfG 147, 50 Rn. 225 = NVwZ 2018, 51; ausf. Analyse bei J. Koch ZHR 183 (2019), 7, 13 ff. 33 J. Koch ZHR 183 (2019), 7, 13 ff.
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Diese Positionierung ist für die hier zu beantwortende Fragestellung von großer Bedeutung, weil sie ebenfalls in einem Kontext der Normenhierarchie angesiedelt ist, in dem die Einwirkungs-, Kontroll- und Informationspflicht den aktienrechtlichen Vorgaben übergeordnet ist, ohne dass daraus eine Verdrängung des aktienrechtlichen Normenbestands abgeleitet wird. Das Bundesverfassungsgericht nimmt im Anschluss an das ganz herrschende Schrifttum lediglich eine „Ergebnisverantwortung“ des Hoheitsträgers an und überlässt es diesem selbst, sich im Rahmen der gesellschaftsrechtlichen Handlungsbefugnisse Wege zu erschließen, um dieser Verantwortung nachzukommen.
V. Eignung zur Auflösung europarechtlich bedingter Kollisionslagen 1. Kein systematischer Abgleich zu Lasten europarechtlicher Vorgaben Versucht man, diese beiden Ansätze auf die europarechtlichen Pflichtenursprünge zu übertragen, so muss zunächst klargestellt werden, dass die konkrete Ausdeutung selbstverständlich auch hier – wie im nationalen Recht – vom konkreten Normenbestand abhängig ist. So ist es durchaus denkbar, dass auch das europäische Recht eine Verpflichtung der Obergesellschaft unter den Vorbehalt stellt, dass sie mit dem nationalen Gesellschaftsrecht in Einklang steht.34 Ebenso können die Mitgliedstaaten, denen in vielen Richtlinien durchaus breite Umsetzungsspielräume belassen werden, die Pflichtenstellung der Obergesellschaft an das nationale Gesellschaftsrecht angleichen, wie es etwa noch in der Regierungsbegründung zu § 64a VAG a.F. vorgesehen war.35 Umgekehrt steht es dem Gesetzgeber aber ebenso frei, das nationale Gesellschaftsrecht durch eine Spezialitätsanordnung beiseite zu schieben. Wird die Spezialität im Gesetz nicht ausdrücklich angeordnet, kann sie gegebenenfalls auch im Wege der Auslegung, namentlich in den Kategorien einer lex specialis- oder einer lex posterior-Verdrängung,36 daraus abgeleitet werden, wie es im Bereich des § 25a Abs. 3 KWG diskutiert wird.37 Am unübersichtlichsten bleibt die juristische Gemengelage dagegen, wenn es an einer solchen mehr oder weniger klaren Vorranganordnung fehlt und das Gesetz ausschließlich die Muttergesellschaft für die Einhaltung be34 Für eine solche Deutung in Bezug auf das Versicherungsaufsichtsrecht namentlich Dreher/Ballmaier ZGR 2014, 753, 786 ff. 35 Vgl. dazu RegBegr, BT-Drs. 16/6518, 17: Das übergeordnete Unternehmen darf zur Erfüllung seiner Verpflichtungen auf die gruppenangehörigen Unternehmen nur einwirken, soweit dem „das allgemeine Gesellschaftsrecht nicht entgegensteht“. 36 Vgl. dazu Dreher/Ballmaier ZGR 2014, 753, 768 f. 37 Vgl. dazu die Nachw. in Fn. 13.
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stimmter Standards in die Pflicht nimmt oder von einer Gruppenverantwortung ausgeht, ohne die Erfüllung ausdrücklich der Ober- oder Untergesellschaft zuzuweisen. Das wird durchaus häufig der Fall sein, weil das Europarecht selbst naturgemäß keine ausdifferenzierte Abstimmung mit dem Normenbestand einzelner Mitgliedstaaten vorsehen kann. In einer solchen Kollisionslage versagt der im nationalen Recht verbreitete Ansatz, die europarechtliche Vorgabe mit den gesellschaftsrechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten in eine praktische Konkordanz zu setzen. Sofern der europäische Pflichtenappell an die Obergesellschaft unbedingt formuliert ist, darf aus normhierarchischen Gründen nicht angenommen werden, dass er aus systematischen Gründen dort ende, wo die entsprechenden Einwirkungsbefugnisse an ihre nationalrechtlich gezogenen Grenzen stoßen.38 2. Ergebnisverantwortung bei europarechtlichem Normbefehl a) Keine Auswechslung des Pflichtadressaten Dagegen ist nicht ohne weiteres einsichtig, warum nicht der zweite Ansatz einer reinen Ergebnisverantwortung auch auf die Auflösung europarechtlich bedingter Kollisionslagen übertragen werden kann. Er entspricht am ehesten dem europäischen Rechtssetzungsstil, der zwar klare Gestaltungsvorstellungen vorgeben mag, dabei aber den Eingriff in den mitgliedstaatlichen Normenbestand möglichst gering halten soll. Das gelingt mit dieser Lösung, die zwar die Obergesellschaft in der Pflicht hält, ohne zugleich aber zu einer rechtsfortbildenden Korrektur des nationalen Normenbestands zu zwingen. Diese Lösung ist jedenfalls für solche Vorschriften vorzugswürdig, die allein die Muttergesellschaft in die Pflicht nehmen, ohne ihr zugleich Einwirkungsrechte gegenüber der Tochtergesellschaft einzuräumen. In diesem Fall vermag es nur die Annahme einer Ergebnisverantwortung zu gewährleisten, dass die legislativ formulierten Pflichten ausschließlich dort verbleiben, wo sie auch der Gesetzgeber vornehmlich verortet hat, nämlich auf der Ebene der Obergesellschaft. Wollte man davon ausgehen, dass damit zugleich auch eine konkrete Verpflichtung der Tochtergesellschaft einhergeht, Weisungen der Mutter zu befolgen und Auskünfte zu erteilen, so könnte ein solcher Normbefehl möglicherweise zuverlässiger umgesetzt werden, aber nur um den Preis, dass die Normadressaten in eigentümlicher Weise ihre Rollen tauschen. In der Obergesellschaft wandelt sich ihre Pflicht in eine Berechtigung zur Weisungserteilung und zum Informationsverlangen um und die Tochtergesellschaft, die von der Vorschrift überhaupt nicht adressiert wird, erhält einen umfassenden Pflichtenkanon aufgebürdet, der im nationalen Aktienrecht 38 Dreher/Ballmaier ZGR 2014, 753, 764 f.; Poelzig in VGR Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, 2018, 83, 106 ff.
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nicht vorgesehen ist. Das kann auch nicht mit der Legalitätspflicht der Tochter begründet werden, weil die Legalitätspflicht nur die eigene Pflichtenstellung betrifft, nicht aber zur Mitwirkung an der Erfüllung einer fremden Legalitätspflicht anhält. Konstruktiv eher erwägenswert ist insofern der Gedanke einer aus dem Treuegedanken abgeleiteten Verpflichtung zum konzernfreundlichen Verhalten, der auch die Tochtergesellschaft auf das Gruppeninteresse verpflichtet.39 Auch auf diesem Wege wird die Pflichtenzuordnung aber in einer Weise verschoben, für die in dem diffusen Pflichtengrund der Treupflicht (und zwar derjenigen der Gesellschaft gegenüber ihrem Gesellschafter) nur eine sehr schwache Ableitungsbasis gefunden werden kann.40 Nicht ganz so eindeutig fällt der Befund in solchen Bereichen aus, wo sich der europäische Normbefehl von vornherein an die Unternehmensgruppe in ihrer Gesamtheit richtet. Das ist insbesondere im europäischen Kartellrecht der Fall, wo das Unternehmen als „wirtschaftliche Einheit“ in die Pflicht genommen wird und der primäre Pflichtadressat nicht gleichermaßen klar in Gestalt einer einzelnen Gesellschaft zu identifizieren ist.41 Hier ist es sicherlich richtig, dass Mutter- und Tochtergesellschaft über den Transmissionsriemen der Legalitätspflicht jede für sich gleichermaßen dazu angehalten sind, die kartellrechtlichen Vorgaben zu beachten. Zweifelhaft ist dagegen die Folgerung, dass die Tochter darüber hinaus dazu angehalten sein soll, an ihrer eigenen Überwachung mitzuwirken,42 weil sich die dafür maßgebliche Legalitätskontrollpflicht,43 hier also die konzernweite Gruppenverantwortung, nur an die Obergesellschaft richtet.44 Nur so ist es zu erklären, dass die Annahme der „wirtschaftlichen Einheit“ an Mehrheits- und Einwirkungsbefugnisse geknüpft wird, aus denen eine solche Verantwortung abgeleitet werden kann.45 Wollte man dies anders sehen, müsste man auch der Tochtergesellschaft Informations- und Weisungsrechte gegenüber ihrer Muttergesellschaft einräumen, was indes zu recht von niemandem vertreten wird. Auch nach diesem Verständnis ist die Muttergesellschaft dort, wo es um die Legalitätskontrolle geht, primäre Pflichtenadressatin, während die Toch39 Vgl. zu dieser Konstruktion etwa Habersack in FS Möschel, 2011, S. 1175, 1192; Schneider/Burgard in FS Ulmer, 2003, 579, 597 f.; mit ähnlicher Wirkungsrichtung, aber doch anderer Konstruktion auch Drygala AG 2013, 202 ff. 40 Skeptisch deshalb auch Dreher/Ballmaier ZGR 2014, 753, 782 ff. 41 Vgl. dazu die Nachw. in Fn. 4. 42 So aber wohl Poelzig in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, 2018, 83, 107. 43 Zur Abgrenzung von Legalitätspflicht und Legalitätskontrollpflicht vgl. statt vieler Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 93 Rn. 6 ff. 44 Ebenfalls für die primäre Gruppenverantwortung des übergeordneten Unternehmens Tröger ZHR 177 (2013), 475 ff.; sehr klar in diese Richtung auch Dreher/Ballmaier ZGR 2014, 753, 806 These 7; ebenso für das Kartellrecht augenscheinlich auch der Befund von Poelzig in VGR Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, 2018, 83, 90 f.; vgl. im Übrigen auch die Nachw. in Fn. 4. 45 Vgl. auch dazu die Nachw. in Fn. 4.
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tergesellschaft eher als Gegenstand dieser Kontrollpflicht aufzufassen ist. Diese Pflichtenposition wird deshalb auch hier besser dadurch abgebildet, dass nicht der Tochtergesellschaft Weisungsbindung und Auskunftspflichten aufgebürdet werden, sondern die Obergesellschaft in einer Ergebnispflicht gesehen wird. Sie hat dafür zu sorgen, sich die entsprechenden Befugnisse und Information zu verschaffen, wo diese nicht freiwillig zur Verfügung gestellt werden. b) Weitere konstruktive Vorzüge Der Vorzug dieser Lösung liegt nicht allein darin, dass auf diese Weise eine sehr umfassende Überwölbung des nationalen Konzernrechts vermieden wird, sondern man weicht zugleich der zweiten Schwierigkeit aus, dass diese Überwölbung in ihren konkreten Einzelformen nur äußerst vage formuliert werden könnte. Das würde schon mit der Frage beginnen, ab welchem Zeitpunkt dieses europarechlich bedingte Pflichtenregime überhaupt Geltung beanspruchen würde. Die Tochtergesellschaft würde nach nationalem Recht keinen Weisungsbindungen und keinen Auskunftspflichten unterliegen, doch wäre eine andere Beurteilung angezeigt, sobald etwa die – bislang ja keinesfalls trennscharf gezogenen – Grenzen einer „wirtschaftlichen Einheit“ im kartellrechtlichen Sinne überschritten wären und auf der Ebene der Tochtergesellschaft Kartellierungsgefahren zu vermuten wären. Welche Gesellschaften für diese Gefahren besonders anfällig sind und welche nicht, lässt sich aber kaum trennscharf fassen.46 Sodann wären in einem zweiten Schritt auch die konkreten Pflichtinhalte nur schwer fassbar. So lässt es sich schon nur äußerst schwer formulieren, welche Compliance-Pflichten auf der Ebene eines Einzelunternehmens als geboten angesehen werden können, was dadurch kompensiert wird, dass dem Vorstand insofern ein weites unternehmerisches Ermessen eingeräumt wird.47 Aber wie soll sich dieses Ermessen in eine Anspruchsstruktur zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft übertragen lassen und wie soll es möglich sein, die solchermaßen gefassten Mitwirkungs- und Informationspflichten der Tochtergesellschaft ausschließlich auf den Bereich der tatsächlich europarechtlich überformten Rechtsgebiete zu beschränken? Es braucht nicht viel Phantasie, um die Folgen einer solchen Ungewissheit zu prognostizieren: Über kurz oder lang müsste dieser Ansatz wohl zwangsläufig deutlich überschießende Wirkungen zeitigen. Die Obergesellschaften würden 46 Insbesondere im Kartellrecht tritt dieses Problem deutlich stärker zutage als bei den wesentlich detaillierteren Vorgaben des Finanzmarktaufsichtsrechts. 47 Vgl. dazu etwa Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 76 Rn. 14; Spindler in MünchKomm AktG, 5. Aufl., 2019, § 91 Rn. 67; M. Arnold/Rudzio KSzW 2016, 231, 235 ff.; Balke/Klein ZIP 2017, 2038, 2042 f.; Nietsch ZGR 2015, 631, 634 ff.; Ott ZGR 2017, 149, 163 ff.
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pauschale Weisungsbefolgung und Auskunft verlangen, ohne dass diese in klare juristische Formen gegossen werden könnten.48 Große Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen würden sich schließlich auch dort zeigen, wo es um die wirtschaftlichen Belastungen solcher Überwachungsmaßnahmen geht. Veranlasst die Mutter aufgrund ihrer Ergebnisverantwortung die Tochter nämlich zu bestimmten Maßnahmen, ohne dass damit eine entsprechende Verpflichtung der Tochtergesellschaft korrespondiert, greift das Regelungsgefüge der §§ 311 ff. AktG ein und die Muttergesellschaft hat der Tochtergesellschaft zumindest die daraus entstehenden Nachteile zu ersetzen. Geht man hingegen von einer korrespondierenden Pflicht der Tochtergesellschaft aus, verbleibt es bei deren Kostenbelastung. Der europäischen Grundkonzeption, die – wie oben dargelegt – in erster Linie die Muttergesellschaft adressiert, dürfte die erstgenannte Lösung besser entsprechen, weil sie die wirtschaftlichen Belastungen des Pflichtenbündels dort verortet, wo sie nach der gesetzlichen Konstruktion getragen werden sollen, nämlich bei der Mutter- und nicht bei der Tochtergesellschaft.
VI. Geeignetes Instrumentarium zur Erfüllung der Ergebnispflicht 1. Freiwillige Kooperation Bedenken gegen diese Lösung könnten allerdings dann verbleiben, wenn die Gefahr bestünde, dass die Obergesellschaften ihren so formulierten Ergebnispflichten letztlich nicht gerecht werden könnten, solange man ihnen nicht rechtsfortbildend konstruierte Weisungs- und Informationsrechte an die Hand gibt. Schon ein Blick in die Unternehmenspraxis zeigt indes, dass diese Gefahr tatsächlich nicht besteht. Vielmehr wird in zahllosen Veröffentlichungen bestätigt, dass die Tochtergesellschaften aufgrund der faktischen Einwirkungsmöglichkeiten der Muttergesellschaft üblicherweise aus freien Stücken dazu bereit sind, dieser Auskunft über ihre Unternehmensangelegenheiten zu geben und auch deren sonstigen Gestaltungsanregungen nachzukommen.49 In den allermeisten Fällen wird schon auf einer solchen freiwilligen Basis die Überwachung im Sinne der europarechtlichen Vorgaben möglich sein.
48 Ähnlich in anderem Kontext Holle Legalitätskontrolle im Kapitalgesellschafts- und Konzernrecht, 2014, 92. 49 Vgl. zu diesem Befund für den Bereich des Finanzmarktaufsichtsrechts auch Tröger ZHR 177 (2013), 475, 506 unter Verweis auf einen Diskussionsbeitrag von Krekeler ZBB 2012, 363.
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2. Strukturändernde Maßnahmen Wo das nicht der Fall ist, stehen unterschiedliche Handlungsformen zur Verfügung, deren Durchführbarkeit im Einzelnen allerdings davon abhängt, wie sich die Mehrheitserfordernisse innerhalb der Gesellschaft darstellen und bis zu welchem Grade die Tochtergesellschaft zur Kooperation bereit ist. Verfügt die Muttergesellschaft über eine Dreiviertelmehrheit, die sie zu strukturändernden Maßnahmen ermächtigt, kann sie den Abschluss eines Beherrschungsvertrags oder die Umwandlung in eine GmbH initiieren, um sich auf diese Weise Weisungsbefugnisse zu verschaffen (§ 308 AktG, § 37 Abs. 1 GmbHG; zur weiteren Möglichkeit einer Auflösung der Gesellschaft vgl. noch die Ausführungen unter VI 5). 3. Doppelorganschaft Bleibt die Beteiligungshöhe der Obergesellschaft unterhalb der Schwelle zur Mehrheit, die für eine strukturändernde Maßnahme erforderlich ist, so bleibt ihr die in der Praxis ebenfalls verbreitet genutzte Option, über Doppelmandate die abhängige Gesellschaft zu überwachen, ohne auf die freiwillige Kooperation der Geschäftsleitungsorgane der Tochter angewiesen zu sein. Aus der Beratungspraxis wird berichtet, dass der Einsatz von Doppelmandaten als Mittel der Beteiligungsverwaltung mittlerweile zum Teil auch als bedenklich angesehen wird, weil über die unglückliche Diskussion über die Wissenszurechnung (namentlich im Bereich des Art. 17 MMVO)50 der Eindruck entstanden ist, es könnten über diese Konstruktion Risiken aus der Tochtergesellschaft über den Transmissionsriemen des Doppelmandats in die Muttergesellschaft transportiert werden.51 Tatsächlich besteht diese Gefahr aber nach heute nahezu einhelliger Auffassung jedenfalls dann nicht, wenn die Organmitgliedschaft der Tochtergesellschaft auf die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat beschränkt bleibt.52 Das Doppelmandat ist deshalb auch heute weiterhin als eine der effektivsten Möglichkeiten anzusehen, eine Tochtergesellschaft zu überwachen. Die Obergesellschaft, die ansonsten auch bei einer durchaus prominenten Beteiligung in ihren Einflussmöglichkeiten doch im Wesentlichen auf die schwachen Befugnisse angewiesen ist, die das Aktiengesetz dem Aktionär zuweist, 50 Vgl. zu dieser sehr facettenreichen Fragestellung den Überblick bei Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 78 Rn. 24 ff. 51 Vgl. zu einer solchen Konstruktion Schwintowski, ZIP 2015, 617, 618 ff.; dagegen aber zu Recht die ganz hM – vgl. die Nachw. in Fn. 52. 52 Habersack in MünchKomm AktG, 5. Aufl., 2019, § 112 Rn. 26 f.; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 112 Rn. 7; Buck-Heeb AG 2015, 801 ff.; Gasteyer/Goldschmidt AG 2016, 116, 123; J. Koch ZIP 2015, 1757 ff.; Schürnbrand ZHR 181 (2017), 357, 377; Verse AG 2015, 413, 417; Weller ZGR 2016, 384, 406; Werner WM 2016, 1474 ff.
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hat über diesen Hebel die Möglichkeit, die Organe der Tochtergesellschaft nicht nur mit Personen ihres Vertrauens zu besetzen, sondern sogar mit eigenen Mandatsträgern. Auf diese Weise können diese Doppelmandatsträger nicht mehr nur allein mit den Befugnissen des Aktionärs die Interessen der Obergesellschaft vertreten, sondern sie verfügen darüber hinaus auch über die Instrumente und Befugnisse, die ihnen als Mitglieder dieser Organe zustehen. In dieser Effektivierung der verbundweiten Überwachung liegt der große praktische Vorzug eines Doppelmandats, das auch den deutschen Gesetzgeber ungeachtet aller immer wieder aufflackernder rechtspolitischer Kritik dazu veranlasst hat, Doppelmandate nicht etwa zu verbieten, sondern sie durch die Sonderregelung des § 100 Abs. 2 S. 2 AktG gerade gegenläufig zu privilegieren und damit ihre Verbreitung zu fördern.53 Damit bieten sie eine weitere Option der sehr eng geführten Überwachung einer Tochtergesellschaft innerhalb des aktienrechtlichen Systems, so dass für die rechtsfortbildende Überwölbung durch europarechtliche Kontrollerfordernisse auch unter diesem Gesichtspunkt kein Bedarf besteht. 4. Relationship Agreements Alternativ oder flankierend zu diesen Gestaltungswegen wird in der Unternehmenspraxis zunehmend auch ein kautelarjuristischer Mechanismus nutzbar gemacht, um den Unwägbarkeiten einer nur freiwilligen Kooperation der Tochtergesellschaft entgegenzuwirken, nämlich der Abschluss sog. „Relationship Agreements“, in denen die Tochter auf vertraglicher Grundlage eine entsprechende Informationsversorgung der Mutter zusichert.54 Die rechtliche Tragfähigkeit solcher Abreden ist noch nicht vertieft erforscht und hängt selbstverständlich auch von der konkreten Ausgestaltung im Einzelfall ab. Zumindest im Grundsatz ist ihre Zulässigkeit aber zu bejahen. Wenn es heute zu recht anerkannt ist, dass der Vorstand der Tochtergesellschaft solche Informationen weitergeben darf, ist es durchaus konsequent, dass er die53 Vgl. zu dieser Privilegierung etwa Mader Der Informationsfluss im Unternehmensverbund, 2016, 493 ff. Auch die RegBegr. KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 16 hat (in Entgegnung auf kritische Stimmen – vgl. etwa die Entwürfe der SPD-Fraktion, BTDrucks. 13/367 und des Bundesrates, BT-Drucks. 13/9716) klargestellt, es gehöre gerade zur „typischen Vorstandstätigkeit“, Aufsichtsratsmandate im Konzern wahrzunehmen. „Sinnvollerweise“ solle ein Holdingvorstand gar dem Aufsichtsrat des Konzernunternehmens vorsitzen, für das er in der Holding zuständig sei. Deshalb sogar für eine Pflicht zum Doppelmandat Hommelhoff ZGR 1996, 144, 162; Lutter in FS Rob. Fischer, 1979, 419, 427 Fn. 20; Martens ZHR 159 (1995), 567, 570 f.; zutr. dagegen Mader Der Informationsfluss im Unternehmensverbund, 2016, 493 ff. 54 Vgl. zu diesem Phänomen insb. Seibt in FS K. Schmidt, 2019, Bd. 2, 431 ff.; generell zur Möglichkeit vertraglicher Koordination innerhalb einer Unternehmensgruppe auch Windbichler NZG 2018, 1241, 1245 f.
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se Bereitschaft auch durch eine schuldrechtliche Bindung vorwegnehmen darf.55 Gerade die hier im Mittelpunkt stehende Untersuchungsfrage illustriert besonders deutlich, dass es notwendig ist, die Zulässigkeit solcher Gestaltungen anzuerkennen: Wenn die Frage im Raum steht, ob die Tochtergesellschaft nicht sogar rechtsfortbildend als verpflichtet angesehen werden muss, Informationen weiterzugeben und an einer engen Überwachung mitzuwirken, damit die Obergesellschaft ihren Kontrollpflichten nachkommen kann, muss es den Parteien zumindest möglich sein, eine solche Mitwirkung auf vertraglicher Basis zu vereinbaren.56 Zu beachten ist allerdings, dass diese Bindungen nicht so weit gehen dürfen, dass die Schwelle zum (verdeckten) Beherrschungsvertrag überschritten57 und auch die Leitungsmacht des Vorstands nicht übermäßig eingegrenzt wird58. Diesen Anforderungen kann dadurch Rechnung getragen 55 Dazu und zu den Grenzen rechtlicher Bindung vgl. Seibt in FS K. Schmidt, 2019, Band 2, 431 ff.; zust. Emmerich/Habersack Konzernrecht, 2019, § 25 Rn. 46a; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 311 Rn. 48b; zu ähnlichen Argumentationslinien im Bereich der sog. Investorenvereinbarungen und Business Combination Agreements vgl. Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 76 Rn. 41 ff. mwN. 56 Vgl. zu diesem Zusammenhang schon Seibt Unternehmen reagieren auf Konzernhaftung, Börsen-Zeitung Ausgabe 2017 vom 10. November 2018, 9; dens. in FS K. Schmidt, 2019, Band 2, 431, 433 f.; s. auch Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 311 Rn. 48a f. 57 Die Figur eines verdeckten Beherrschungsvertrags wird etwa anerkannt von LG München I ZIP 2008, 555, 559 ff. im Anschluss an Hirte/Schall Konzern 2006, 243, 244 ff. (offen gelassen aber in LG München I NZG 2019, 384 Rn. 36 ff.); zust. Mülbert in Großkomm AktG, 4. Aufl., 36. Lief., 2012, § 291 Rn. 116; Emmerich in FS Hüffer, 2010, 179, 183 ff.; wohl auch LG Nürnberg-Fürth, AG 2006, 179 f.; die klar hM nimmt dagegen an, dass auf die Figur des verdeckten Beherrschungsvertrags generell verzichtet werden kann, solange nur die Voraussetzungen des Beherrschungsvertrags als solche zutreffend erfasst werden; so etwa LG Flensburg Der Konzern 2006, 303, 306 f.; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 291 Rn. 14 f.; Langenbucher in K. Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl., 2015, § 291 Rn. 29; Krieger in Münchener Handbuch AG, 4. Aufl., 2015, § 71 Rn. 12; Decher in FS Hüffer, 2010, 145, 149 ff.; Ederle Verdeckte Beherrschungsverträge, 2010, 119 ff.; ders. AG 2010, 273, 274 ff.; Herrwig Leitungsautonomie und Fremdeinfluss, 2014, 132 f.; Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 566 ff.; Reichert ZGR 2015, 1, 10 ff.; Wiegand Investorenvereinbarungen und Business Combination Agreements bei Aktiengesellschaften, 2017, 74 ff.; offenlassend, in der Tendenz aber doch sehr zurückhaltend OLG München NZG 2008, 753, 754 f.; OLG München BeckRS 2015, 126345 Rn. 32; OLG Schleswig NZG 2008, 868, 872 ff. 58 Vgl. zu den dadurch gezogenen Grenzen etwa die grundlegende (wenngleich noch zu eng gefasste) Positionierung von Fleischer in FS Schwark, 2009, 137, 149 ff.; großzügiger jetzt augenscheinlich aber ders. in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl., 2019, § 76 Rn. 78; weiter auch Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 76 Rn. 41 f.; Mertens/Cahn in KölnerKomm AktG, 3. Aufl., 2010, § 76 Rn. 49 ff.; Herwig Leitungsautonomie und Fremdeinfluss, 2014, 65 ff.; Heß Investorenvereinbarungen, 2014, 178 ff.; Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 576 ff.; J. Koch in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, 2016, S. 65, 95 ff.; Schall in Kämmerer/Veil, Übernahme- und Kapitalmarktrecht in der Reformdiskussion, 2013, 76, 89 ff.; Seibt in Kämmerer/Veil, Übernahme- und Kapitalmarktrecht in der Reformdiskussion, 2013, 105, 119 f.; Wansleben Konzern, 2014, 29 ff.; dagegen Otto NZG 2013, 930, 936 f.
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werden, dass – wie es in der Praxis geschieht – folgende inhaltliche Vorgaben beachtet werden: (1) Der Kernbereich der Leitungsmacht muss von einer Einflussnahme der Muttergesellschaft ausgenommen werden. (2) Der Kompetenzkreis anderer Organe muss von der Bindung des Vorstands ausgenommen werden. (3) Die vorrangige Bindung an die Interessen der Tochtergesellschaft muss gewährleistet bleiben. (4) Bei einer Veränderung wesentlicher Umstände muss der Tochtergesellschaft die Kündigung des Vertrags möglich sein. (5) Die Einbeziehung der Mutter muss auf Informations- und Konsultationsrechte beschränkt werden, die Letztentscheidungsbefugnis aber stets beim Vorstand bleiben. Auch mit diesen Einschränkungen kann das Relationship Agreement die Muttergesellschaft aber durchaus zu einer hinreichend durchsetzungsstarken Überwachung der Tochtergesellschaft befähigen, so dass auch mit Blick auf diese Möglichkeit eine rechtsfortbildende Konstruktion von Informations- und Mitwirkungspflichten nicht erforderlich erscheint. 5. Auflösung der Beteiligungsstruktur Sollten alle diese Mittel versagen, bleibt der Obergesellschaft als letzte Option, die Beteiligungsstruktur aufzulösen, indem sie sich von der Tochtergesellschaft trennt oder ihre Beteiligung auf ein solches Maß reduziert, dass die Eingriffsschwellen für die jeweiligen juristischen Pflichtnormen, die ihre Verantwortung begründen, nicht mehr erfüllt sind. Sind die entsprechenden Beteiligungsquoten für den Beschluss strukturändernder Maßnahmen erreicht, ist es darüber hinaus auch denkbar, die Gesellschaft aufzulösen oder auf die Muttergesellschaft zu verschmelzen, um dann mit den herkömmlichen Mitteln der Geschäftsleitung die Überwachung der risikoanfälligen Sparten zu gewährleisten. Selbstverständlich wird es nach allen Regeln rechtstatsächlicher Erfahrung einer solchen ultima ratio nicht bedürfen, aber als theoretische Option belegt sie doch ebenfalls, dass es nicht erforderlich ist, das Recht des faktischen Konzerns so stark europarechtlich zu überwölben, dass es mit der nationalen Gesetzeslage kaum noch in Einklang zu bringen ist.
VII. Ergebnis Das deutsche Trennungsprinzip als Grundlage des Konzernrechts ist europarechtlich angezählt und mittlerweile weniger ein ehernes Grundprinzip als vielmehr eine durch zahlreiche Ausnahmen durchlöcherte Regel. Der teilweise Abschied vom Trennungsprinzip im Bereich der konzernrechtlichen Verantwortung wirft die Frage auf, ob nicht auch in anderen Bereichen der Gedanke einer rechtlichen Eigenständigkeit der Tochter aufgegeben
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werden muss und sie umfassenden Informations- und Mitwirkungspflichten zugunsten der Muttergesellschaft zu unterwerfen ist. Eine solche Überlagerung gesellschaftsrechtlicher Vorgaben kann im europäischen wie im nationalen Recht ausdrücklich angeordnet werden oder sich unter Umständen nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen ergeben. Wo das nicht der Fall ist, sondern lediglich die Muttergesellschaft in die Pflicht genommen oder die Gruppe insgesamt als wirtschaftliche Einheit adressiert wird, besteht für eine solch umfassende Umgestaltung des nationalen Normenbestands aber kein zwingendes Bedürfnis. Die normhierarchisch höherrangig angesiedelten europarechtlichen Pflichten begründen – ähnlich wie das deutsche Verfassungsrecht – in diesem Bereich lediglich eine Ergebnisverantwortung, überlassen es den Gesellschaften aber selbst, wie sie dieser Verantwortung nachkommen. Solange das deutsche Konzernrecht – wie es derzeit der Fall ist – hinreichende Gestaltungswege eröffnet sind, um diese Pflichtenstellung auszufüllen, besteht für seine rechtsfortbildende Überlagerung kein Bedürfnis.
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Organpflichten beim Whistleblowing
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Organpflichten beim Whistleblowing: Paradigmenwechsel durch die Hinweisgeber-Richtlinie? MICHAEL KORT
I. Einleitung Wie Christine Windbichler treffend 2018 ausgeführt hat, wird Whistleblowing bislang hierzulande eher als freiwillige Aktivität gesehen.1 Whistleblowing spielt jedoch in den Unternehmen in den letzten Jahren eine zunehmend große Rolle.2 Missstände, die Gegenstand von Whistleblowing sind, betreffen etwa die Fälschung finanzieller Kennzahlen, Geldwäsche, Korruption, Wirtschaftsspionage, Betrug, Diebstahl, Unterschlagung, Mobbing oder sexuelle Belästigung. Nach einer Studie aus dem Jahr 2018,3 die u.a. deutsche Unternehmen betraf, hat etwa die Hälfte der deutschen Unternehmen Hinweisgeber-Kanäle installiert. Gut die Hälfte der Unternehmen ermöglicht anonyme Hinweise. Fast jede zweite eingegangene Meldung war substantiell und relevant, missbräuchliche Meldungen selten. Die durchschnittliche Anzahl der Meldungen pro deutsches Unternehmen betrug etwa 50. Nach einer anderen, ebenfalls 2018 durchgeführten Studie4 hatten in Deutschland ca. ein Drittel der befragten Unternehmen ein anonymes Hinweisgebersystem installiert, ca. 6% ein nicht-anonymisiertes Hinweisgebersystem und fast zwei Drittel der befragten Unternehmen kein Hinweisgebersystem eingerichtet. Rechtlich ist bislang der Schutz von Hinweisgebern in der Europäischen Union nur bruchstückhaft geregelt, so hatten im Jahr 2019 nur 10 EUMitgliedsstaaten überhaupt Rechtsvorschriften, die Hinweisgebern einen umfassenden Schutz bieten.5 1
Windbichler NZG 2018, 1241, 1243. Maume/Haffke ZIP 2016, 199; Dilling CCZ 2019, 214. 3 https://whistleblowingreport.eqs.com/de/studie/projektdesign, zuletzt abgerufen am 1.7.2020. 4 Ternes DB 2019, 112, 117 f. 5 Phillipp EuZW 2019, 436. 2
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Auf Unionsebene gibt es bislang nur wenige Sektoren, hauptsächlich im Bereich der Finanzdienstleistungen, für die Rechtsvorschriften bestehen, die Maßnahmen zum Schutz von Hinweisgebern vorsehen. Rechtlich führte das Whistleblowing somit bis vor kurzem auf EU-Ebene sowie auf Ebene der Mitgliedsstaaten trotz seiner enormen praktischen und wirtschaftlichen Bedeutung ein regulatives Schattendasein. Mit dem Inkrafttreten der EU-Richtlinie zum Schutz von Hinweisgebern (im Folgenden: Hinweisgeber-Richtlinie) am 16.12.2019, die – abgesehen von wenigen Ausnahmen – bis zum 17.12.2021 von den Mitgliedsstaaten umzusetzen ist, tritt das Whistleblowing nunmehr aus diesem regulativen Schattendasein. Im Folgenden soll die Bedeutung der EU-Hinweisgeber-Richtlinie für das deutsche Gesellschaftsrecht, insbesondere für die Organpflichten in deutschen Kapitalgesellschaften, beleuchtet werden. II. Status quo gesellschaftsrechtlicher Fragen des Whistleblowing in Deutschland 1. Whistleblowing als Teil von Compliance Die Diskussion, ob und inwiefern das Geschäftsleitungsorgan und ggf. sogar der Aufsichtsrat ein Hinweisgeber-System im Unternehmen etablieren muss oder kann, mithin also das Whistleblowing im Unternehmen mehr oder weniger stark strukturieren muss oder kann, ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass Whistleblowing nach neuerer Betrachtung zunehmend als wesentliches Element von Compliance betrachtet wird.6 Inzwischen ist es praktisch einhellige Auffassung in der gesellschaftsrechtlichen Literatur,7 in der Compliance-rechtlichen Literatur8 sowie in der Rechtsprechung, dass Compliance selbst und damit eine bestimmte Strukturierung von Compliance zu den Geschäftsleiterpflichten gehört und – wenn auch in geringerem Ausmaß – auch zu den Pflichten des Aufsichtsrats gehört. Hierbei besteht eine direkte Korrelation zwischen dem Ausmaß und der Qualität von Compliance-Anforderungen und dem Ausmaß und der Qualität von Anforderungen an die Etablierung eines strukturierten Hinweisgeber-Systems: Je stärker die Organe einer Gesellschaft verpflichtet sind, die 6 Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 76 Rn. 18; Buchert in Hauschka/Moosmayer/ Lösler Corporate Compliance, 3. Aufl., 2016, § 42 Rn. 1 ff.; Rieder in Inderst/Bannenburg/ Poppe Compliance, 3. Aufl., 2017, 2. Kapitel Rn. 64; Inderst/Steiner in Inderst/Bannenburg/Poppe Compliance, 3. Aufl., 2017, 3. Kapitel Rn. 59 ff.; Hülsberg/Laue in Inderst/ Bannenburg/Poppe Compliance, 3. Aufl., 2017, 3. Kapitel Rn. 179; Maume/Haffke ZIP 2016, 199, 200. 7 Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 76 Rn. 11 ff. 8 Rieder in Inderst/Bannenburg/Poppe Compliance, 3. Aufl., 2017, 2. Kapitel Rn. 7 ff.
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Compliance im Unternehmen zu strukturieren, etwa durch Etablierung eines Compliance Management Systems (CMS) und eines Risk Management Systems (RMS), umso stärker sind sie nach bisherigem Recht auch verpflichtet, Whistleblowing im Unternehmen vorzusehen und zu strukturieren. 2. Ausmaß von Compliance-Pflichten in deutschen Kapitalgesellschaften a) Sektorspezifische Pflichten zur strukturierten Compliance Ausdrückliche gesetzliche Regelungen, auf entsprechenden unionsrechtlichen Vorgaben beruhend, finden sich in Hinblick auf Compliance-Anforderungen in Deutschland im Banken- und Finanzdienstleistungssektor. So sieht § 25a Abs. 1 KWG vor, dass die Geschäftsleiter für die ordnungsgemäße Geschäftsorganisation verantwortlich sind und dass die ordnungsgemäße Geschäftsorganisation insbesondere ein angemessenes und wirksames Risikomanagement umfassen muss. Ferner müssen die Geschäftsleiter die erforderlichen Maßnahmen für die Ausarbeitung der entsprechenden institutsinternen Vorgaben ergreifen. § 80 Abs. 1 Satz 1 WpHG verweist für Finanzdienstleistungsunternehmen auf diese Geschäftsleiterpflichten nach § 25a Abs. 1 KWG. Auch bei Versicherungsunternehmen finden sich sektorspezifische Anforderungen an die Organisation von Compliance durch die Geschäftsleitung. So heißt es in § 23 Abs. 1 Satz 2 VAG, dass die Geschäftsorganisation neben der Einhaltung der von den Versicherungsunternehmen zu beachtenden Gesetze, Verordnungen und aufsichtsbehördlichen Anforderungen eine solide und umsichtige Leitung des Unternehmens gewährleisten müsse. Dazu gehöre neben anderen Anforderungen, so § 23 Abs. 1 Satz 3 VAG, insbesondere eine angemessene, transparente Organisationsstruktur mit einer klaren Zuweisung und einer angemessenen Trennung der Zuständigkeiten sowie ein wirksames unternehmensinternes Kommunikationssystem. Betrachtet man diese sektorspezifischen Anforderungen an Compliance im Kontext der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen (und deren unionsrechtlicher Vorgaben), so wird deutlich, dass der Zweck dieser ComplianceAnforderungen sektorspezifisch ist und sich daher nicht ohne Weiteres auf Compliance-Anforderungen in gewöhnlichen Kapitalgesellschaften (Aktiengesellschaften oder GmbH) übertragen lässt.9 b) Compliance im DCGK Im 2020 neu strukturierten DCGK findet sich – wie schon in den Vorgänger-Fassungen des Kodex – die Bestimmung (jetzt: Grundsatz 5), dass 9 Spindler in MünchKomm AktG, 5. Aufl., 2019, § 91 Rn. 65; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 76 Rn. 16a; Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG, 22. Aufl., 2019, § 43 Rn. 11.
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der Vorstand für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der internen Richtlinien zu sorgen habe und auf deren Beachtung im Unternehmen hinwirke, als Definition von Compliance. Weiter heißt es dort unter Empfehlung A.2., der Vorstand solle für ein an der Risikolage des Unternehmens ausgerichtetes Compliance Management System (CMS) sorgen und dessen Grundzüge offenlegen.10 Auch die im DCGK genannte Anregung, ein CMS zu etablieren, und die Maßgabe, dass die Compliance bei börsennotierten AG strukturiert und geordnet werden muss, also ein Compliance-System etabliert werden muss, lässt sich nicht auf alle Aktiengesellschaften oder gar auf alle Kapitalgesellschaften übertragen.11 Die Realstruktur sowohl bei der AG als auch bei der GmbH kann so unterschiedlich ausgeprägt sein, dass sich ComplianceAnforderungen nicht „über einen Leisten schlagen“ lassen.12 Zutreffend dürfte es aber spätestens seit dem „Siemens/Neubürger“Urteil des LG München I13 klar sein, dass die Anforderungen an die Strukturierung von Compliance im Unternehmen bis hin zum Erfordernis der Entwicklung eines ausgeklügelten Compliance Management Systems (CMS) steigen, je größer ein Unternehmen ist und je stärker es risikoexponiert ist.14 c) Aufsichtsrats-Compliance Organpflichten in Hinblick auf Compliance treffen auch den Aufsichtsrat. Das gilt jedenfalls bei allen Aktiengesellschaften und bei der mitbestimmten GmbH. Allerdings ist die Compliance-Pflicht des Aufsichtsrats von der Compliance-Pflicht des Geschäftsleitungsorgans zu unterscheiden. Neben einer gleichsam selbstbezüglichen Compliance-Pflicht in Hinblick auf das eigene Aufsichtsrats-Handeln und die eigene AufsichtsratsOrganisation ist nämlich die Compliance des Aufsichtsrats maßgeblich auf die Überwachung der Erfüllung von Compliance-Pflichten durch das Geschäftsleitungsorgan gerichtet. 3. Pflicht der Geschäftsleitung zur Einrichtung eines Hinweisgeber-Systems? Bestehen, wie oben (II.2.) aufgezeigt, keine „allgemeingültigen“ Compliance-Anforderungen an die Organe aller deutschen Kapitalgesellschaften, so gilt nach (noch) geltendem Recht auch für die Pflicht zur Errichtung eines Hinweisgeber-Systems, dass nicht etwa die Organmitglieder aller Kapitalge10
Dazu Hopt/Leyens ZGR 2019, 929, 950. Spindler in MünchKomm AktG, 5. Aufl., 2019, § 91 Rn. 66. 12 Spindler in Münch Komm AktG, 5. Aufl., 2019, § 91 Rn. 67 ff.; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 76 Rn. 14 ff. 13 LG München I v. 10.12.2013, NZG 2014, 345. 14 Maume/Haffke ZIP 2016, 199, 201 f. 11
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sellschaften einer gleich weit reichenden Pflicht zur Etablierung eines Hinweisgeber-Systems unterliegen. Vielmehr ist auch hier – ebenso wie bei der Betrachtung der Compliance – zwischen sektorspezifischen Anforderungen, Kodex-Anforderungen und sonstigen Anforderungen zu unterscheiden. a) Sektorspezifische Anforderungen In den oben (II.2.a) genannten sektorspezifischen deutschen Normen zu Compliance-Pflichten finden sich auch Pflichten zur Etablierung eines Hinweisgeber-Systems. Das zeigt den engen Zusammenhang zwischen Compliance und Whistleblowing. So heißt es in § 25 Abs. 1 Satz 6 Nr. 3 KWG, dass eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation u.a. einen Prozess umfasse, der es den Mitarbeitern unter Wahrung der Vertraulichkeit ihrer Identität ermöglicht, Verstöße gegen diverse kapitalmarktrechtliche Normen und Rechtsverordnungen sowie etwaige strafbare Handlungen innerhalb des Unternehmens an geeignete Stellen zu berichten. Deutlich zeigt sich hierbei der sektorspezifische Charakter dieser Hinweisgeber-Anforderungen, da sich das dort geregelte Whistleblowing nur auf Verstöße gegen das Kapitalmarktrecht bezieht. Dasselbe gilt für Finanzdienstleistungsunternehmen aufgrund des Verweises in § 80 Abs. 1 Satz 1 WpHG auf § 25 Abs. 1 KWG. Ferner finden sich Hinweisgeber-Anforderungen an Versicherungsunternehmen in § 23 Abs. 6 VAG. Demgemäß haben Versicherungsunternehmen einen Prozess vorzusehen, der es den Mitarbeitern unter Wahrung der Vertraulichkeit ihrer Identität ermöglicht, potenzielle oder tatsächliche Verstöße gegen das Versicherungsaufsichtsrecht sowie etwaige strafbare Handlungen innerhalb des Unternehmens an eine geeignete Stelle zu melden. Entsprechend der sektorspezifischen Regelung für Banken- und Finanzdienstleistungsunternehmen gilt also auch für Versicherungsunternehmen, dass sich die Hinweisgeber-Anforderungen auf das sektorspezifische Recht, hier also das Versicherungsaufsichtsrecht, beziehen. Aus der sektorspezifischen Ausrichtung der Pflicht zur Etablierung von Hinweisgeber-Systemen ergibt sich bereits, dass sich daraus keine allgemeine Pflicht der Geschäftsleitungsorgane aller Kapitalgesellschaften zur Etablierung von Hinweisgeber-Systemen herleiten lässt.15
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b) Whistleblowing im DCGK Im Kontext16 der Bestimmungen des DCGK zur Compliance (dazu oben II.2.b) findet sich auch eine Anregung und Empfehlung zum Whistleblowing: Beschäftigten soll auf geeignete Weise die Möglichkeit eingeräumt werden, geschützt Hinweise auf Rechtsverstöße im Unternehmen zu geben; auch Dritten sollte diese Möglichkeit eingeräumt werden. Auch diese Bestimmung im DCGK erstreckt sich – wie die übrigen Compliance-Anforderungen (dazu oben II.2.b) – nur auf börsennotierte Unternehmen und lässt sich nicht auf Organpflichten zum Whistleblowing bei anderen als börsennotierten Kapitalgesellschaften übertragen.17 c) Keine Herleitung einer allgemeinen Pflicht zur Einrichtung eines Hinweisgeber-Systems aus straf- und ordnungswidrigkeitsrechtlichen Normen Aus § 13 StGB, der in Bezug auf Geschäftsleitungsmitglieder eventuell zu einer Garantenstellung in Bezug auf betriebsbezogene Straftaten führen kann, resultiert keine Pflicht zur Etablierung eines Hinweisgeber-Systems, sondern nur eine Pflicht, Hinweisen nachzugehen, falls es ein solches System gibt.18 Dasselbe gilt für § 130 OWiG. Auch diese Norm führt, ggf. in Verbindung mit § 30 OWiG, nicht zu einer allgemeinen Pflicht von Geschäftsleitern von Unternehmen, ein Hinweisgeber-System zu etablieren,19 sondern nur zu einer Pflicht, Hinweisen nachzugehen, falls ein solches Hinweisgeber-System besteht. 20 Allerdings besteht in Hinblick auf § 30 OWiG angesichts der Grundsatzentscheidung des BGH aus dem Jahr 2017 zur Bedeutung der Einrichtung von effizienten Compliance-Management-Systemen (CMS) für die Höhe der Bußgeldbemessung nach § 30 OWiG21 ein indirekter Druck auf Unternehmen, ein effektives CMS einzurichten, das ggf. auch die Etablierung eines effektiven Hinweisgeber-Systems umfasst. d) Whistleblowing und AGG Auch aus § 12 AGG, der den Arbeitgeber verpflichtet, erforderliche Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung zu treffen, resultiert keine Pflicht zur Etablierung eines Hinweisgeber-Systems, sondern nur eine Pflicht, Hinweisen von Arbeitnehmern auf Diskriminierung nachzugehen.22 16
Dazu Marsch-Barner ZHR 181 (2017), 847, 849. Dazu Thüsing/Rombey NZG 2018, 1001, 1002; Egger CCZ 2018, 126, 128. 18 Eufinger DB 2018, 891, 893. 19 Buchert in Hauschka/Moosmayer/Lösler Corporate Compliance, 3. Aufl., 2016, § 42 Rn. 62; Eufinger DB 2018, 891, 892 f. 20 Eufinger DB 2018, 891, 892 f. 21 BGH v. 9.5.2017, CCZ 2017, 285 mit Anm. Jenne. 22 Eufinger DB 2018, 891, 893. 17
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e) Einrichtung eines Hinweisgeber-Systems als unternehmerische Entscheidung Außerhalb sektorspezifischer Regelungen steht es nach bislang geltendem deutschen Recht weitgehend im unternehmerischen Ermessen des Geschäftsleitungsorgans, ob ein strukturiertes Hinweisgeber-System im Unternehmen eingeführt wird oder nicht.23 Aus dem bloßen Umstand, dass bereits in vielen Unternehmen ein strukturiertes Whistleblowing existiert, lässt sich keine haftungsrelevante Rechtspflicht auf Einrichtung eines solchen Hinweisgeber-Systems im Wege eines Schlusses vom Sein auf das Sollen (bzw. Müssen) herleiten.24 Je größer das Unternehmen ist und je risikoanfälliger seine Aktivitäten sind, umso eher reduziert sich das Ermessen und es besteht ggf. eine Pflicht, ein strukturiertes Hinweisgeber-System einzurichten.25 Hierbei handelt es sich aber um ein bewegliches System bzw. um fließende Übergänge, nicht aber um ein „Alles-oder-Nichts“ in dem Sinn, dass bei Überschreitung einer diffusen „Compliance-Schwelle“ stets eine Pflicht zur Einrichtung eines (bestimmten) Hinweisgeber-Systems besteht.26 Selbst wenn aber angesichts der Unternehmensgröße und der Risikoexposition eine Pflicht zur Etablierung eines Hinweisgeber-Systems besteht, so unterliegt dessen Ausgestaltung nach der lex lata dennoch der Business Judgment Rule.27 Problematisch ist auch die Herleitung von Organpflichten in Bezug auf das Whistleblowing mit dem Argument, das Whistleblowing erfolge primär im öffentlichen Interesse.28 Es ist zwar im Hinblick auf viele Gegenstände des Whistleblowing zutreffend, dass diese auch im öffentlichen Interesse liegen. Compliance und als deren Bestandteil das Whistleblowing umfasst aber mehr als die bloße Regeleinhaltung bzw. Wahrung des öffentlichen Interes23 Kort in GroßKomm AktG, 5. Aufl., 2015, § 91 Rn. 181; Spindler in MünchKomm AktG, 5. Aufl., 2019, § 91 Rn. 72; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl., 2020, § 76 Rn. 18; Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG, 22. Aufl., 2019, § 43 Rn. 11; Fest in Franzen/Gallner/Oetker EuArbK, 3. Aufl., 2020, Hinweisgeber-RL (idF v. 16.4.2019), Art. 8 Rn. 3; Buchert in Hauschka/Moosmayer/Lösler Corporate Compliance, 3. Aufl., 2016, § 42 Rn. 62; Egger CCZ 2018, 126 f.; Schmolke ZGR 2019, 876, 899 f.; Thüsing/Rombey NZG 2018, 1001, 1002; Marsch-Barner ZHR 181 (2017), 847, 851; nicht eindeutig Hülsberg/Fischer in Inderst/Bannenburg/Poppe Compliance, 3. Aufl., 2017, 6. Kapitel Rn. 193 ff., Rn. 196 ff.; aA wohl Maume/Haffke ZIP 2016, 199, 200 und Miege CCZ 2018, 45 („Standard“). 24 Marsch-Barner ZHR 181 (2017), 847, 851; Eufinger DB 2018, 891, 892. 25 Fleischer in BeckOGK, AktG (hrsg. von Spindler/Stilz), Stand 15.1.2020, § 91 Rn. 48; Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG, 22. Aufl., 2019, § 37 Rn. 4 und § 43 Rn. 11; Schmolke ZGR 2019, 876, 899 f. 26 In diese Richtung gehend aber Maume/Haffke ZIP 2016, 199, 202. 27 Marsch-Barner ZHR 181 (2017), 847, 851. 28 So aber Maume/Haffke ZIP 2016, 199, 201.
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ses. Vielmehr liegt die Etablierung und Strukturierung von Whistleblowing auch im Unternehmensinteresse. 4. Keine Pflicht und kein Recht des Aufsichtsrats zur Einrichtung eines Hinweisgeber-Systems Bisweilen wird – oft in Zusammenhang mit Forderungen nach einer Pflicht oder jedenfalls nach einem Recht des Aufsichtsrats, sich neben seiner Kommunikation mit dem Vorstand zusätzlich weitere Informationen zu beschaffen – die Pflicht oder jedenfalls das Recht des Aufsichtsrats postuliert, seinerseits ein Hinweisgeber-System einzurichten. Ein solches Recht oder sogar eine dahingehende Pflicht bestehen jedoch nicht.29 Vielmehr ist das deutsche Aufsichtsrats-System nach wie vor sehr stark auf eine Kommunikation mit dem Vorstand und eine dementsprechende Kanalisierung der Kommunikation ausgerichtet. Das schließt die Einrichtung eines Hinweisgeber-Systems durch den Aufsichtsrat aus. Darüber hinaus ist es nach der lex lata aber auch nur in Ausnahmefällen möglich, dass der Aufsichtsrat direkt Hinweise durch ein vom Geschäftsleitungsorgan etabliertes Hinweisgeber-System entgegennimmt. Auch diesbezüglich ist es in aller Regel das Geschäftsleitungsorgan selbst, das mit dem Aufsichtsrat kommuniziert.
III. Neuregelung von Organpflichten in Hinblick auf das Whistleblowing durch die Hinweisgeber-Richtlinie 1. Sachlicher Anwendungsbereich der Hinweisgeber-Richtlinie Zwar erstreckt sich die Hinweisgeber-Richtlinie nach deren Art. 2 letztlich auf den Anwendungsbereich der im Anhang der Hinweisgeber-Richtlinie aufgeführten Rechtsakte der Union und nur auf die in Art. 2 Abs. 1 Hinweisgeber-Richtlinie genannten Politikbereiche, diese sind jedoch sehr weitreichend. Fast alle Bereiche, auf die sich nach bislang nicht normativ vorgegebenem Verständnis des Whistleblowing dieses in Erfüllung von ComplianceAnforderungen erstreckt, sind von der Hinweisgeber-Richtlinie abgedeckt.30 Kritisch zu bewerten ist, dass der Arbeitnehmer- bzw. Beschäftigtenschutz als einer der „klassischen“ Bereiche nicht von der Richtlinie erfasst wird.31 29
Spindler in MünchKomm AktG, 5. Aufl., 2019, § 91 Rn. 72; Spindler in BeckOGK, AktG (hrsg. von Spindler/Stilz), Stand 15.1.2020, § 111 Rn. 36; Kort in FS E. Vetter, 2019, 341, 354 f. 30 Gerdemann RdA 2019, 16, 22. 31 Thüsing/Rombey NZG 2018, 1001, 1002.
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Jedoch besteht die in Art. 2 Abs. 2 Hinweisgeber-Richtlinie genannte Möglichkeit, dass die Mitgliedstaaten nationale Hinweisgeber-Gesetze auch auf andere als die in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie genannten Bereiche und Rechtsverstöße erstrecken.32 Eine solche Erstreckung auf nationaler Ebene ist sinnvoll, um eine Zersplitterung der rechtlichen Anforderungen an das Whistleblowing, bezogen auf dessen verschiedene Gegenstände, zu vermeiden.33 Auch ist es aus Sicht des Whistleblowers nicht zumutbar, überprüfen zu müssen, ob ein Verstoß gegen Unionsrecht i.S. von Art. 2 HinweisgeberRichtlinie vorliegen könnte, also der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie eröffnet ist oder nicht.34 Überdies dürfte selbst dann, wenn es nicht zu einer „überschießenden“ nationalen Umsetzung der Hinweisgeber-Richtlinie kommen sollte, der praktische Druck auf Unternehmen, Hinweisgeber-Systeme auch auf andere als die in Art. 2 Abs. 1 der Hinweisgeber-Richtlinie genannten Bereiche zu erstrecken, sehr groß sein: Wenn nach Art. 8 der Hinweisgeber-Richtlinie (und deren Umsetzung) ohnehin ein geordnetes Hinweisgeber-System mit internen Meldekanälen in Unternehmen einzurichten ist (dazu unten III.3.), so ist es aus Unternehmensperspektive nicht sinnvoll, dieses System lediglich auf die in Art. 2 Abs. 1 der Hinweisgeber-Richtlinie genannten Gebiete zu erstrecken. So dürfte es im Unternehmensinteresse liegen, dass entsprechende Hinweisgeber-Systeme etwa auch allgemeine Rechtsverstöße im Arbeitsverhältnis als Gegenstand des Whistleblowing erfassen. Nicht von der Hinweisgeber-Richtlinie erfasst ist das „unethische Verhalten“ als Gegenstand des Whistleblowing.35 Dieses kann jedenfalls auf der Basis der Hinweisgeber-Richtlinie auch nicht von den Mitgliedsstaaten geregelt werden, da Art. 2 Abs. 2 Whistleblowing-Richtlinie nur die Befugnisse der Mitgliedschaften unberührt lässt, den Schutz nach nationalem Recht in Bezug auf Bereiche oder Rechtsakte auszudehnen, die nicht unter Abs. 1 fallen. Mithin adressiert Art. 2 Abs. 2 Hinweisgeber-Richtlinie – anders als die Regelung zum Whistleblowing in § 5 Nr. 2 GeschGehG36 – nicht das „unethische Verhalten“, das sich nicht durchgängig auf Verstöße gegen Rechtsvorschriften bezieht, etwa auf (nach ausländischem Recht nicht stets rechtswidrige) Kinderarbeit bei Auslandsgeschäften oder auf umweltschädliche 32 Dazu Fest in Franzen/Gallner/Oetker EuArbK, 3. Aufl., 2020, Hinweisgeber-RL (idF v. 16.4.2019), Art. 2 Rn. 46 ff.; Hièramente in Fuhlrott/Hièramente BeckOK GeschGehG, 2. Ed., Stand: 15.12.2019, § 5 Rn. 48. 33 Garden/Hièramente BB 2019, 963, 964; Schmolke NZG 2020, 5, 10. 34 Wiedmann/Seyfert CCZ 2019, 13, 19. 35 Schmolke NZG 2020, 5, 6; Garden/Hièramente BB 2019, 963. 36 Dazu Hièramente in Fuhlrott/Hièramente BeckOK GeschGehG, 2. Ed., Stand: 15.12.2019, § 5 Rn. 24.1; Scholtyssek/Judis/S. Krause CCZ 2020, 23, 25.
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Produktionsbedingungen, die von der Allgemeinheit als Fehlverhalten angesehen werden. 2. Umfassender Schutz von Hinweisgebern durch die Hinweisgeber-Richtlinie Die Hinweisgeber-Richtlinie sorgt für einen umfassenden Schutz von Hinweisgebern, also Whistleblowern. Sie gilt nach Art. 4 Abs. 1 für Hinweisgeber, die im privaten oder im öffentlichen Sektor tätig sind und im beruflichen Kontext Informationen über Verstöße erlangt haben, darunter insbesondere Arbeitnehmer. Nach Art. 5 Hinweisgeber-Richtlinie ist zwischen drei Formen des Whistleblowing zu unterscheiden, nämlich der internen Meldung innerhalb eines Unternehmens, der externen Meldung an zuständige Behörden und der Offenlegung als öffentlichem Zugänglichmachen von Informationen über Verstöße. Diese Dreiteilung ist aus deutscher Sicht insofern neu, als nach überwiegender deutschsprachiger Terminologie bislang unter „externem Whistleblowing“ sowohl die (jetzt sogenannte) externe Meldung an zuständige Behörden als auch die (jetzt sogenannte) Offenlegung verstanden wurden.37 Wichtiger als diese begriffliche Neuordnung ist es freilich, dass zwar die Offenlegung an strengere Voraussetzungen als die interne Meldung und die externe Meldung geknüpft ist, jedoch die endgültige Fassung der Hinweisgeber-Richtlinie die interne Meldung und die externe Meldung im Grundsatz gleichstellen.38 Das bewirkt aus deutscher Sicht – insbesondere auch in Hinblick auf arbeitsrechtliche Konsequenzen des Whistleblowing – einen Paradigmenwechsel, da nach bislang ganz überwiegendem deutschen Verständnis die externe Meldung an zuständige Behörden (sowie die jetzt sogenannte Offenlegung) subsidiär gegenüber der internen Meldung innerhalb eines Unternehmens eingestuft wurde: Whistleblowing wurde bis dato nur dann als zulässig angesehen, wenn sich der Whistleblower zunächst um eine interne Meldung bemüht hat.39 Ein externes Whistleblowing kam nach der Rechtsprechung des BAG ohne vorherigen Versuch eines internen Whistleblowings nur dann in Betracht, wenn der Arbeitgeber eine Straftat selbst begangen hat, wenn es sich 37
Maume/Haffke ZIP 2016, 199 f. Zu den gegenüber der finalen Fassung der Hinweisgeber-Richtlinie anders gefassten vorherigen Konzepten Schmolke AG 2018, 770, 777 f. sowie M. Schreiber NZWiSt 2019, 332, 337. 39 Allg. dazu Gerdemann RdA 2019, 16, 17 f.; Schmolke NZG 2020, 5, 9; Schmolke ZGR 2019, 876, 894 f.; kritisch Schmolke ZGR 2019, 876, 906 ff.; positiv zu diesem Paradigmenwechsel hingegen Aszmons/Herse DB 2019, 1849, 1854. 38
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um schwere Straftaten handelt oder sich bei Nichtanzeige der Arbeitnehmer selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde oder ansonsten eine interne Abhilfe nicht zu erwarten war.40 3. Geschäftsleiterpflichten gemäß der Hinweisgeber-Richtlinie In der Hinweisgeber-Richtlinie werden Pflichten von Geschäftsleitungsorgangen von Gesellschaften nicht direkt adressiert. Allerdings sieht Art. 8 Abs. 1 Hinweisgeber-Richtlinie vor, dass die Mitgliedsstaaten sicherstellen, dass juristische Personen des privaten und öffentlichen Sektors Kanäle und Verfahren für interne Meldungen und für Folgemaßnahmen einrichten. Diese Pflicht gilt nach Art. 8 Abs. 3 Hinweisgeber-Richtlinie für juristische Personen des privaten Sektors mit 50 oder mehr Arbeitnehmern. Der Begriff der juristischen Person i.S. der Hinweisgeber-Richtlinie ist sehr weit zu verstehen. Er umfasst nicht nur Gesellschaften, die nach deutschem Gesellschaftsrecht als juristische Personen anzusehen sind, sondern darüber hinaus alle Gesellschaften, die überhaupt Rechte und Pflichten haben können.41 Die Verpflichtung zur Einrichtung interner Meldekanäle ist aus Sicht des deutschen Gesellschaftsrechts als Geschäftsführungsmaßnahme anzusehen und unterfällt daher der Pflicht der Vorstandsmitglieder bzw. der Geschäftsführer einer GmbH. Die Pflicht zur Etablierung interner Meldekanäle ist aus der Perspektive des deutschen Gesellschaftsrechts ein Novum, da nach herrschender Auffassung bislang keineswegs alle „größeren“ AG und GmbH zur Einrichtung eines strukturierten Hinweisgeber-Systems verpflichtet gewesen sind.42 4. Pflichten von Unternehmen unterhalb der 50 Arbeitnehmer-Schwelle gemäß der Hinweisgeber-Richtlinie Abgesehen von dieser ausdrücklich in Art. 8 Whistleblower-Richtlinie vorgesehenen Pflicht zur Einrichtung interner Meldekanäle folgen spiegelbildlich aus den zahlreichen Rechten, die Whistleblowern in der Hinweisgeber-Richtlinie eingeräumt werden, selbstverständlich korrespondierend entsprechende Pflichten der Unternehmen und damit Pflichten von deren Geschäftsleitungsorganen. Die auf Unternehmen ab 50 Arbeitnehmern beschränkte Pflicht zur Etablierung interner Meldekanäle besagt nichts darüber, dass für Unternehmen nicht auch außerhalb kanalisierter Hinweisgebersysteme Pflichten im Rah40
BAG v. 3.7.2003, NZA 2004, 427; dazu Kort in FS Kreutz, 2010, 247, 254 f. Fest in Franzen/Gallner/Oetker EuArbK, 3. Aufl., 2020, Hinweisgeber-RL (idF v. 16.4.2019), Art. 8 Rn. 9. 42 Teilweise kritisch dazu Gerdemann RdA 2019, 16, 19 und 27 f. 41
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men von Whistleblowing bestehen,43 so etwa die in Art. 16 bis 18 Hinweisgeber-Richtlinie vorgesehenen Regelungen über die Vertraulichkeit, die Verarbeitung personenbezogener Daten und die Dokumentation von Meldungen. Geschäftsleiterpflichten bestehen daher im Zusammenhang mit dem Whistleblowing zusätzlich neben der ggf. bestehenden Pflicht zur Einrichtung interner Meldekanäle. Vor allem ist es von Bedeutung, dass der Hinweisgeber jedenfalls immer dann, wenn – aus welchem Grund auch immer, also u.a. auch unterhalb der 50-Arbeitnehmer-Schwelle – keine internen Meldekanäle bestehen, sofort den Weg der externen Meldung beschreiten kann.44 5. Verhältnis interner Meldungen zu externen Meldungen Insgesamt betrachtet ist das Verhältnis interner Meldungen und externer Meldungen in der Hinweisgeber-Richtlinie nicht durchgängig klar geregelt. Allgemein gilt jedoch, wie bereits oben (III. 2.) ausgeführt, dass internes und externes Whistleblowing „gleichberechtigt“ nebeneinanderstehen, wie etwa in Art. 6 Abs. 1 lit. b, Art. 7 Abs. 1 und Art. 10 Hinweisgeber-Richtlinie zum Ausdruck kommt. Allerdings findet sich ein Rest der aus bisheriger deutscher Sicht anzunehmenden Subsidiarität des externen Whistleblowing gegenüber dem internen Whistleblowing in dem kryptisch formulierten Art. 7 Abs. 2 Hinweisgeber-Richtlinie,45 wo es heißt, dass sich die Mitgliedsstaaten dafür einsetzen, dass die Meldung über interne Meldekanäle gegenüber der Meldung über externe Meldekanäle in den Fällen bevorzugt wird, in denen intern wirksam gegen den Verstoß vorgegangen werden kann und der Hinweisgeber keine Repressalien befürchtet. Inwiefern diese Formulierung den Mitgliedsstaaten Spielraum lässt, für eine Subsidiarität des externen Whistleblowings gegenüber dem internen Whistleblowing zu sorgen, bleibt angesichts des im Übrigen gegebenen „Zungenschlags“ der Hinweisgeber-Richtlinie in Bezug auf eine gleiche Berechtigung zu internem wie zu externem Whistleblowing unklar. 6. Faktischer Druck zur Einrichtung interner Meldekanäle auch unterhalb der 50 Arbeitnehmer-Schwelle Jedenfalls dürfte die in Art. 10 ff. Hinweisgeber-Richtlinie eingeräumte Möglichkeit externer Meldungen ohnehin einen Druck auf Unternehmen, 43
Garden/Hièramente BB 2019, 963, 968. R. Krause SR 2019, 138, 151. 45 Dazu Schmolke NZG 2020, 5, 8; Aszmons/Herse DB 2019, 1849, 1850 f.; Garden/Hièramente BB 2019, 963, 965; Forst EuZA 2020, 283, 296 f. 44
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die die 50-Arbeitnehmer-Schwelle des Art. 7 Abs. 3 Hinweisgeber-Richtlinie nicht erreichen, und damit auf deren Geschäftsleitungsorgan ausüben, interne Meldekanäle gem. Art. 7 ff. Hinweisgeber-Richtlinie einzurichten. Ohne das Bestehen interner Meldekanäle ist die Gefahr externer Meldungen größer als bei Bestehen interner Meldekanäle, da ohne die Existenz interner Meldekanäle in jedem Fall die Möglichkeit der Meldung über externe Meldekanäle (Art. 10 ff. Hinweisgeber-Richtlinie) besteht.46 Als Zwischenergebnis lässt sich somit festhalten, dass nicht nur in Hinblick auf Aktiengesellschaften und GmbH, die 50 oder mehr Arbeitnehmer haben, sondern auch in Hinblick auf andere Aktiengesellschaften und GmbH ein Paradigmenwechsel stattfinden dürfte, was die Einrichtung interner Meldekanäle betrifft. Für Gesellschaften ab 50 Arbeitnehmer besteht ohnehin aufgrund von Art. 7 ff. Hinweisgeber-Richtlinie und deren Umsetzung eine Pflicht zur Einrichtung interner Meldekanäle, für Unternehmen unterhalb der 50-Arbeitnehmer-Schwelle dürfte die Einrichtung von Meldekanälen ebenfalls faktisch von Vorteil sein, um die Häufigkeit externer Meldungen zu verringern. In Hinblick auf die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen Geschäftsleiters gem. § 93 AktG bzw. gem. § 43 GmbHG fragt sich sogar, ob es eine schuldhafte Pflichtverletzung von Geschäftsleitern von Gesellschaften unter 50 Arbeitnehmern ist, die Einrichtung interner Meldekanäle zu unterlassen, da durch diese Unterlassung die Gefahr externer Meldungen größer wird. Letztlich ist es aber unterhalb der 50 Arbeitnehmer-Schwelle auch in Zukunft eine Frage des unternehmerischen Ermessens, ob Meldekanäle eingerichtet werden oder nicht. Das Ermessen könnte in Zukunft etwa reduziert sein, wenn es in einem Unternehmen ohne internen Hinweisgeber-Kanal häufig zu externen Meldungen kommt. 7. Einrichtung von Hinweisgeber-Systemen durch Aufsichtsräte aufgrund der Hinweisgeber-Richtlinie? In Hinblick auf das oben (II.4.) angesichts der bisherigen Rechtslage beschriebene Recht oder sogar die Pflicht des Aufsichtsrats zur Etablierung eines Hinweisgeber-Systems ändert sich mit der Hinweisgeber-Richtlinie und deren Umsetzung nichts. Die Hinweisgeber-Richtlinie adressiert, wie ebenfalls oben (III.3.) bereits ausgeführt, in Art. 8 Abs. 3 als Verpflichtete für die Einrichtung interner Meldekanäle die juristischen Personen des privaten Sektors, ohne auf diesbezügliche Organpflichten einzugehen. Die übrigen Bestimmungen der Hinweisgeber-Richtlinie enthalten Rechte des Whistleblowers, aus denen sich aber indirekt korrespondierende Pflichten juristischer Personen des privaten Sektors ergeben. 46
S. dazu Erwägungsgrund 51 der Hinweisgeber-Richtlinie.
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Welches Organ konkret die Pflichten der juristischen Person des privaten Sektors zu erfüllen hat, ergibt sich nicht aus der Hinweisgeber-Richtlinie, sondern aus deutschem Gesellschaftsrecht. Die oben (II.4.) bereits zur bisherigen Rechtslage angestellten Überlegungen zur Rolle des Aufsichtsrats gelten daher auch nach zukünftigem Recht. Der Aufsichtsrat ist weder verpflichtet noch berechtigt, interne Meldekanäle gem. Art. 8 Hinweisgeber-Richtlinie einzurichten, noch ist er im Übrigen verpflichtet oder berechtigt, ein strukturiertes Hinweisgeber-System im Unternehmen einzuführen. Abzulehnen ist auch eine Umsetzung der Hinweisgeber-Richtlinie in deutsches Recht, die einen direkten Meldeweg zum Aufsichtsrat vorschreiben würde.47 8. Partizipation des Aufsichtsrats an von der Geschäftsleitung eingerichteten Meldekanälen? Auch in Hinblick auf die Kenntnisnahme durch den Aufsichtsrat von Hinweisen, die über interne Meldekanäle erfolgen, enthält die HinweisgeberRichtlinie keine Aussagen. Daher bleibt es bei den zur bisherigen Rechtslage erfolgten Ausführungen (oben II.4.). Der Aufsichtsrat kann daher – außer in Ausnahmefällen wie etwa demjenigen der Kommunikationsverweigerung durch das Geschäftsleitungsorgan – nicht direkt an Hinweisgebers – Systeme und Meldekanälen partizipieren.
IV. Whistleblowing durch Organmitglieder Aus bisheriger deutscher Sicht mutet es auf den ersten Blick merkwündig an, dass nach Art. 4 Abs. 1 lit. c Hinweisgeber-Richtlinie Geschäftsleitungsmitglieder sowie Aufsichtsratsmitglieder als Hinweisgeber in Betracht kommen. Hintergrund hierfür ist der weite persönliche Anwendungsbereich der Hinweisgeber-Richtlinie, der sich nicht allein an der individuellen Schutzbedürftigkeit der Whistleblower orientiert, sondern an deren Fähigkeit zum Zugriff auf unternehmensinterne Informationen über Verstöße (privilegierter Zugang).48 1. Interne Meldungen Hierbei dürfte zwischen internen Meldungen einerseits und externen Meldungen sowie der Offenlegung nach Art. 15 Hinweisgeber-Richtlinie ande47
Zutreffend Schmolke NZG 2020, 5, 11. Fest in Franzen/Gallner/Oetker EuArbK, 3. Aufl., 2020, Hinweisgeber-RL (idF v. 16.4.2019), Art. 4 Rn. 2 und Rn. 11; Schmolke AG 2018, 769, 777; Gerdemann RdA 2019, 16, 22. 48
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rerseits zu unterscheiden sein: Ein internes Whistleblowing von Geschäftsleitungsmitgliedern ist schwerlich denkbar, da die Geschäftsleitung letztlich Empfänger der Hinweise ist, nicht aber Hinweisgeber selbst sein kann. Interne Meldungen von Aufsichtsratsmitgliedern dürften ebenfalls nicht in Betracht kommen, sondern an deren Stelle die gesellschaftsrechtlich vorgesehenen Kommunikationswege, wie insbesondere die in § 90 AktG adressierte Kommunikation zwischen Vorstand und Aufsichtsrat. 2. Externe Meldungen und Offenlegung Externen Meldungen sowie der Offenlegung durch Geschäftsleitungsmitglieder oder Aufsichtsratsmitglieder dürfte im Allgemeinen die organschaftliche Treuebindung und Loyalitätspflicht gegenüber der Gesellschaft entgegenstehen.49 Ausnahmen hiervon bestehen allerdings dann, wenn das Geschäftsleitungsmitglied oder das Aufsichtsratsmitglied andere gesellschaftsrechtliche Möglichkeiten, die in seine Organkompetenz fallen, ausgeschöpft hat und Abhilfe von Missständen nicht möglich ist. In diesem Sinne lässt sich von einer Subsidiarität externer Meldungen und der Offenlegung durch Geschäftsleitungsmitglieder oder Aufsichtsratsmitglieder sprechen, falls diese intern alle ihnen gegebenen gesellschaftsrechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Ein voraussetzungsloses externes Whistleblowing von Organmitgliedern dürfte hingegen auch unter der Hinweisgeber-Richtlinie und deren Umsetzung nicht in Betracht kommen.
V. Auslegung der Hinweisgeber-Richtlinie und deren Umsetzung im Lichte der Vorgaben der EMRK und der Europäischen Grundrechte-Charta 1. Kritik des gleichberechtigten Nebeneinanders von internen Meldungen und externen Meldungen In der Literatur zur Hinweisgeber-Richtlinie finden sich zutreffend drei Haupt-Kritikpunkte: Erstens erlaubt die Richtlinie nicht in ausreichender Weise anonyme Hinweise.50 Das schwächt die Effektivität von Hinweisgeber-Systemen. Zweitens bietet die Hinweisgeber-Richtlinie keinen ausreichenden Schutz der vom Whistleblowing betroffenen Personen.51 Das 49 Kort in GroßKomm AktG, 5. Aufl., 2015, § 84 Rn. 426a und Rn. 491a (zu Vorstandsmitgliedern). 50 Kritisch Schmolke NZG 2020, 5, 11; Schmolke ZGR 2019, 876, 909 f.; Federmann/Racky/Kalb/Modrzyk DB 2019, 1665, 1669. 51 Dazu Schmolke NZG 2020, 5, 7; Dilling CCZ 2019, 214, 220 ff., insbes. 223; zum Schutz des Betroffenen nach bisherigem Recht Eufinger DB 2018, 891, 896.
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ist nicht nur persönlichkeitsrechtlich, sondern auch datenschutzrechtlich fragwürdig.52 Diese beiden Gesichtspunkte sind von großer Bedeutung, können aber im Rahmen des Themas dieses Beitrags nicht behandelt werden. Der dritte Haupt-Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass – anders als nach bisherigem deutschen Verständnis – kein Vorrang des internen Whistleblowing gegenüber dem externen Whistleblowing besteht.53 2. Einschränkende Auslegung der Bestimmungen der HinweisgeberRichtlinie über die Gleichrangigkeit von internem und externem Whistleblowing? a) Rechtsprechung des EGMR in Sachen „Heinisch“ In der für das Whistleblowing maßgeblichen Entscheidung des EGMR vom 21.07.2011 in Sachen „Heinisch“54 hat der EGMR zwar in besonderer Weise die Freiheit der Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK betont und damit das Recht eines Beschäftigten zum Whistleblowing gestärkt: Der Arbeitgeber könne nicht darauf vertrauen, wegen eines gesetzwidrigen Verhaltens nicht angezeigt zu werden, deshalb verletzt ein Arbeitnehmer mit einer nicht wissentlich unwahren oder leichtfertig falschen Anzeige nicht seine Rücksichtnahmepflicht. Dennoch kommt in dieser Entscheidung des EGMR auch zum Ausdruck, dass die Meinungsäußerungsfreiheit des Arbeitnehmers nach Art. 10 EMRK mit den wirtschaftlichen Interessen des Arbeitgebers gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK im Zuge einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abgewogen werden muss.55 Auch nach der Entscheidung „Heinisch“ können somit Loyalitätspflichten des Arbeitnehmers einen Vorrang des internen Whistleblowing 52 Allg. zum Datenschutz beim Whistleblowing Thüsing/Rombey NZG 2018, 1001, 1004; Weidmann DB 2019, 2393; zum Datenschutz des Betroffenen Schmolke ZGR 2019, 876, 897 f.; Aszmons/Herse DB 2019, 1849, 1853 ff.; Altenbach/Dierkes CCZ 2020, 126, 127 ff.; zum Persönlichkeitsrecht des Betroffenen Klaas CCZ 2019, 163, 170; Eufinger BB 2018, 891, 895; Thüsing/Rombey NZG 2018, 1001, 1006 f.; zum Grundrechtsschutz des Betroffenen Klaas CCZ 2019, 163, 165 f. 53 Kritisch Klaas CCZ 2019, 163, 163, 168 ff. (eine eindeutige Dreistufigkeit von internen Meldungen, externen Meldungen und Offenbarung sei aus Gründen des Ausgleichs der Grundrechtspositionen der Beteiligten geboten); kritisch ferner Garden/Hièramente BB 2019, 963, 965; M. Schreiber NZWiSt 2019, 332, 337; Szesny BB 2019, Heft 16–17, Seite I; kritisch auch Schmolke ZGR 2019, 876, 908; Aszmons/Herse DB 2019, 1849, 1851; zur Bedeutung des Wegfalls der Dreistufigkeit für das deutsche Arbeitsrecht Schmolke NZG 2020, 5, 8. 54 EGMR v. 21.7.2011, NZA 2011, 1269. 55 Entsprechend zur Geschäftsgeheimnis-Richtlinie und zu deren Umsetzung im GeschGehG Preis in ErfKomm, 20. Aufl. 2020, BGB § 611a Rn. 717; Preis/Seiwerth RdA 2019, 351, 355; L. Schmitt RdA 2017, 365, 371.
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gebieten.56 So nimmt die Entscheidung „Heinisch“ in Rz. 73 ausdrücklich Bezug auf eine grundlegende Entscheidung des BAG vom 3.7.2003,57 in der der Vorrang des internen Whistleblowing betont wurde.58 Nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 Grundrechte-Charta (GrCh) darf die GrCh bei ihren Gewährleistungen nicht hinter der durch die Rechtsprechung des EGMR konkretisierten EMRK zurückbleiben. Überdies reicht der Schutz der unternehmerischen Freiheit und des Eigentums gem. Art. 16 und 17 GrCh sogar deutlich weiter als deren Gewährleistung in der EMRK.59 Im Anwendungsbereich von Art. 11 GrCh besteht daher ein Vorrang des internen Whistleblowing vor dem externen Whistleblowing.60 Das Sekundärrecht der Europäischen Union ist an der GrundrechteCharta zu messen, die ihrerseits im Lichte der EMRK ausgelegt werden muss.61 In der „Heinisch“-Entscheidung fordert der EGMR eine Abwägung der beteiligten Interessen, und damit einen Ausgleich zwischen dem Erfordernis, den guten Ruf des Arbeitgebers und seine Rechte zu schützen, und dem Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung i.S. eines Rechts zum Whistleblowing.62 b) Primärrechtliches Gebot des Vorrangs des internen Whistleblowing Die „Kette“ von Art. 8 und 10 EMRK über Art. 52 Abs. 3 S. 1, 11, 16 und 17 GrCh zur Hinweisgeber-Richtlinie (und in Zukunft: zu ihrer Umsetzung ins nationale Recht) spricht dafür, dass trotz des Anscheins einer Gleichrangigkeit von internen und externen Meldungen in der Hinweisgeber-Richtlinie ein Whistleblower auch unter Geltung der Hinweisgeber-Richtlinie und deren Umsetzung ins nationale Recht gehalten ist, primär eine interne Meldung vorzunehmen und nur dann, wenn eine interne Meldung unmöglich oder unzumutbar ist, sogleich eine externe Meldung vornehmen darf.63 56 EGMR v. 21.7.2011, NZA 2011, 1269 (Rz. 72 bis 74); so auch unter Bezug auf die Entscheidung „Heinisch“ LAG Düsseldorf v. 4.3.2016, BeckRS 2016, 68431, Rn. 49; ferner Garden/Hièramente BB 2019, 963, 965. 57 BAG v. 3.7.2003, NZA 2014, 427; dazu Kort in FS Kreutz, 2010, 247, 254 f. 58 Insofern zu enge Auslegung der Entscheidung „Heinisch“ bei R. Krause SR 2019, 138, 145 (Nachrang nur der Information der Öffentlichkeit) unter Berufung lediglich auf Rn. 69 der Entscheidung „Heinisch“. 59 L. Schmitt RdA 2017, 365, 368. 60 L. Schmitt RdA 2017, 365, 368. 61 S. entsprechend zur Geschäftsgeheimnis-Richtlinie und deren Umsetzung im GeschGehG Preis in ErfKomm, 20. Aufl. 2020, BGB § 611a Rn. 717. 62 Zu dieser Abwägung L. Schmitt RdA 2017, 365, 367 f.; Schubert in Franzen/Gallner/ Oetker EuArbK, 3. Aufl., 2020, RL 2016/943/EU, Art. 5 Rn. 7. 63 In diese Richtung gehend Thüsing/Rombey NZG 2018, 1001, 1003; Garden/Hièramente BB 2019, 963, 965; ebenso schon für die Geschäftsgeheimnis-Richtlinie und deren Umsetzung Preis in Erf Komm, 20. Aufl. 2020, BGB § 611a Rn. 717; L. Schmitt RdA 2017,
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Insofern ergibt sich aus dem europäischen Primärrecht die Möglichkeit, den vielfach geforderten Vorrang des internen Whistleblowing gegenüber dem externen Whistleblowing durch eine primärrechtlich gebotene Auslegung der Hinweisgeber-Richtlinie und deren Umsetzung zu erreichen.64
VI. Finanzielle und sonstige Anreize für interne Meldungen? Vor allem in den USA bestehen zahlreiche Möglichkeiten, das Whistleblowing durch finanzielle oder sonstige Anreize zu fördern.65 Diese Möglichkeit der Förderung von Whistleblowing im Unternehmen besteht auch nach bisherigem und zukünftigen deutschen Recht. Die Hinweisgeber-Richtlinie selbst schweigt hierzu. Art. 25 Abs. 1 Hinweisgeber-Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, für die Rechte von Hinweisgebern günstigere Bestimmungen als die in der Hinweisgeber-Richtlinie festgelegten Bestimmungen einzuführen. Denkbar wäre es, dass der deutsche Gesetzgeber in Umsetzung der Richtlinie entweder gesetzliche Anreize zum Whistleblowing schafft oder den Unternehmen gesetzlich die Möglichkeit einräumt, das Whistleblowing durch ein Anreizsystem zu fördern. Es ist indes unwahrscheinlich, dass der deutsche Gesetzgeber einen solchen Schritt gehen wird. Nach der lex lata stehen Anreize für Arbeitnehmer zu internen Meldungen unter einer gesellschaftsrechtlichen und einer arbeitsrechtlichen Bedingung: Gesellschaftsrechtlich muss der Anreiz im Unternehmensinteresse erfolgen und darf keine Verschwendung von Gesellschaftsvermögen sein. Diese Bedingung wird bei Anreizen zu internen Meldungen in der Regel vorliegen, da – wie oben aufgezeigt – das (interne) Whistleblowing als Teil von Compliance-Maßnahmen nicht nur im öffentlichen Interesse liegt, sondern auch im Unternehmensinteresse. Arbeitsrechtlich dürfen finanzielle oder sonstige Anreize zum (internen) Whistleblowing nicht gegen das arbeitsrechtliche Maßregelungsverbot verstoßen. Arbeitnehmer dürfen also keine Vorteile dafür erhalten, dass sie ihre Rechte nicht ausüben. Hierbei kann die in der Hinweisgeber-Richtlinie zum Ausdruck kommende grundsätzliche Gleichrangigkeit interner und externer Meldungen jedenfalls dann eine Rolle spielen, wenn man nicht dem hier vertretenen Gebot einer primärrechtlichen Auslegung der HinweisgeberRichtlinie in dem Sinne folgt, dass auch unter der Geltung der Richtlinie ein Vorrang interner Meldungen vor externen Meldungen besteht: Bei Gleich365, 368; Schubert in Franzen/Gallner/Oetker EuArbK, 3. Aufl., 2020, RL 2016/943/EU, Art. 5 Rn. 7. 64 Umfassend dazu Fest in Franzen/Gallner/Oetker EuArbK, 3. Aufl., 2020, Hinweisgeber-RL (idF v. 16.4.2019), Art. 1 Rn. 5 ff., insbes. Rn. 7, Rn. 9, Rn. 11. 65 Granetzny/M. Krause CCZ 2020, 29, 30 f.; Marsch-Barner ZHR 181 (2017), 847, 848.
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rangigkeit interner und externer Meldungen könnten nämlich Anreize zu internen Meldungen den Arbeitnehmer von (gleichrangigen) externen Meldungen und damit von der Wahrnehmung seiner Rechte abhalten. Ein Anreizsystem müsste demgemäß so gestaltet sein, dass es den Arbeitnehmer nicht von externen Meldungen abhält. Damit würde allerdings aus Unternehmenssicht das Ziel eines solchen Anreizsystems zumindest teilweise vereitelt.
VII. Fazit Insgesamt besteht mit der Umsetzung der Hinweisgeber-Richtlinie und deren Umsetzung eine viel weiter reichende Pflicht von Geschäftsleitungsmitgliedern zur Etablierung von Hinweisgeber-Systemen im Unternehmen als nach bisherigem deutschen Recht.66 Der Umfang von Pflichten und Rechten des Aufsichtsrats in Hinblick auf das Thema „Whistleblowing“ bleibt mit der Umsetzung der Hinweisgeber-Richtlinie und deren Umsetzung hingegen weiterhin sehr gering.
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Schmolke NZG 2020, 5, 9.
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Nochmals: Zum Anwendungsbereich des § 287 Abs. 3 AktG Gerd Krieger
Nochmals: Zum Anwendungsbereich des § 287 Abs. 3 AktG in der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA GERD KRIEGER
I. Einführung Seit der Bundesgerichtshof mit seinem Beschluss vom 24. Februar 1997 die GmbH & Co. KGaA als zulässige Gestaltungsform akzeptiert hat,1 hat die bis dahin in der Rechtspraxis eher unbedeutende KGaA einen starken Aufschwung genommen. Aus seinerzeit rd. 30 Gesellschaften in der Rechtsform der KGaA sind heute mehr als 350 geworden.2Als Mischform zwischen AG und KG lässt sie es zu, die Haftungsbeschränkung und Börsenfähigkeit der AG mit der Flexibilität der KG bei der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen persönlich haftenden Gesellschaftern und Kommanditaktionären zu verbinden und Gestaltungen zu finden, die den Kommanditaktionären einen viel weitergehenden Einfluss auf die Geschäftsführung der KGaA erlauben, als dies für die Aktionäre einer AG möglich wäre. Das alles ist oft beschrieben und braucht hier nicht wiederholt zu werden.3 Es macht die Komplementärgesellschaft & Co. KGaA zu einer attraktiven Rechtsform insbesondere für Familienunternehmen, die Zugang zum Kapitalmarkt suchen, zugleich aber den Einfluss der Unternehmerfamilie sichern wollen. Bekannte Gesellschaften haben die Rechtsform der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA für sich gewählt, wobei als Komplementärgesellschaften die GmbH,4 AG5 und SE6 beliebt sind; hier und da begegnen auch KGaA, bei denen Stiftungen und Personengesellschaften die Komplementärstellung innehaben. Wie die AG hat die KGaA zwingend einen Aufsichtsrat. Seine Kompetenzen sind allerdings deutlich geringer als in der AG. Sie beschränken sich 1
BGHZ 134, 392. Nähere Angaben bei Herfs in Münch Hdb AG, 5. Aufl. 2020, § 76 Rz. 3. 3 Vgl. nur Herfs in Münch Hdb AG, § 76 Rz. 5; Hoffmann-Becking/Herfs in FS Sigle, 2000, 273, 276 ff. 4 Z.B. HELLA GmbH & Co. KGaA; DWS Group GmbH & Co. KGaA. 5 Z.B. Henkel AG & Co. KGaA; Fresenius Medical Care AG & Co. KGaA. 6 Z.B. Bertelsmann SE & Co. KGaA; Fresenius SE & Co. KGaA. 2
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im Kern darauf, die Geschäftsführung des Komplementärs zu überwachen und zu beraten, bestimmte Beschlüsse der Hauptversammlung auszuführen (§ 287 Abs. 1 AktG) und die Gesellschaft gegenüber den Komplementären zu vertreten (§§ 278 Abs. 3, 112 AktG; § 287 Abs. 2 AktG). Anders als bei der AG, in der der Aufsichtsrat für die Bestellung und Abberufung der Vorstandsmitglieder und die Regelung ihres Anstellungsvertrags zuständig ist (§§ 84, 112 AktG), fehlt ihm im gesetzlichen Normalstatut der KGaA jede Personalkompetenz. Wenn nicht die Satzung im Einzelfall etwas anderes regelt, kann der Aufsichtsrat persönlich haftende Gesellschafter weder bestellen noch abberufen,7 er kann nicht einmal ihre Geschäftsordnung regeln.8 Mitspracherechte bei der Geschäftsführung stehen ihm ebenfalls nicht zu, weder gilt § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG, wonach die Satzung oder der Aufsichtsrat bestimmte Arten von Geschäften an die Zustimmung des Aufsichtsrats binden müssen, noch ist der Aufsichtsrat auch nur berechtigt, von sich aus solche Zustimmungsvorbehalte einzurichten, wenn nicht die Satzung ihm diese Kompetenz zubilligt.9 Anders als bei der AG wird auch der Jahresabschluss nicht gemäß § 172 AktG durch Billigung des Aufsichtsrats festgestellt, sondern für die Feststellung des Jahresabschlusses ist in der KGaA die Hauptversammlung zuständig (§ 286 Abs. 1 Satz 1 AktG). Obwohl also die gesetzlichen Kompetenzen des Aufsichtsrats der KGaA weit hinter denen des AG-Aufsichtsrats zurückbleiben, ist seine Besetzung gleich geregelt. Auch für den Aufsichtsrat der KGaA gelten die Vorschriften des DrittelbG und des MitbestG über die Mitwirkung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (§§ 1 Abs. 1 Nr. 2 DrittelbG, 1 Abs. 1 Nr. 1 MitbestG). Auch auf den KGaA-Aufsichtsrat findet § 105 Abs. 1 AktG mit seinem Verbot der Zugehörigkeit von Prokuristen und Generalbevollmächtigten der Gesellschaft Anwendung (§ 278 Abs. 3 AktG). Und ebenso wie § 105 Abs. 1 AktG für den AG-Aufsichtsrat die Unvereinbarkeit der gleichzeitigen Zugehörigkeit zum Vorstand und zum Aufsichtsrat statuiert, schließt § 287 Abs. 3 AktG es auch für den Aufsichtsrat der KGaA aus, dass persönlich haftende Gesellschafter zugleich Aufsichtsratsmitglieder sein können. Deutlich enger regelt das Gesetz das Stimmrecht des Komplementärs. Während der Vorstand der Aktiengesellschaft ohne Weiteres berechtigt ist, aus von ihm selbst gehaltenen Aktien auch bei der Wahl und Entlastung der Aufsichtsratsmitglieder abzustimmen, unterliegt der Komplementär der KGaA insoweit einem Stimmverbot. Hält er selbst Aktien, kann er bei der Wahl, Abberufung und Entlastung der Aufsichtsratsmitglieder nicht mit abstimmen, sondern diese Beschlussgegenstände liegen allein in der Kompe7
Herfs in Münch Hdb AG, § 79 Rz. 66; Habersack ZIP 2019, 1453, 1454. Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 278 Rz. 12; Bachmann in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 278 Rz. 55. 9 Hüffer/Koch AktG, § 278 Rz. 15; Bachmann in Spindler/Stilz AktG, § 278 Rz. 10. 8
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tenz der (übrigen) Kommanditaktionäre (§ 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AktG). Die Inkompatibilitätsregel des § 287 Abs. 3 AktG scheint klar, wenn der Komplementär eine natürliche Person ist; diese kann nicht zugleich Mitglied des Aufsichtsrats sein. Auf die Komplementärgesellschaft & Co. KGaA ist § 287 Abs. 3 AktG jedoch nicht zugeschnitten. Offensichtlich ist zwar, dass die Komplementärgesellschaft selbst nicht Mitglied des Aufsichtsrats sein kann, aber das folgt nicht erst aus § 287 Abs. 3 AktG, sondern ergibt sich schon daraus, dass auch dem Aufsichtsrat der KGaA nur natürliche Personen angehören können (§§ 278 Abs. 3, 100 Abs. 1 AktG). Diskutiert wird hingegen, ob und inwieweit § 287 Abs. 3 AktG auch auf Organmitglieder und Gesellschafter der Komplementärgesellschaft zu erstrecken ist. Diese Fragen haben für die Praxis beträchtliche Bedeutung, denn wer über maßgeblichen Einfluss auf die KGaA verfügt, hat ein natürliches Interesse daran, auch im Aufsichtsrat der Gesellschaft angemessen repräsentiert zu sein. Die Frage nach der Reichweite der Unvereinbarkeitsregel des § 287 Abs. 3 AktG wird daher dem Rechtsberater immer wieder gestellt und hat auch in der jüngeren Literatur immer wieder Interesse gefunden.10
II. Überblick über den Meinungsstand Einigkeit besteht in der Literatur, dass § 287 Abs. 3 AktG in der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA auf die gesetzlichen Vertreter der Komplementärgesellschaft entsprechend anwendbar ist.11 Der Bundesgerichtshof hat sich zwar hierzu nicht ganz festgelegt, dürfte dem aber ebenfalls folgen.12 Auch die juristische Person kann nur durch natürliche Personen handeln, die ihren Willen bilden und sie im Rechtsverkehr vertreten. Dem Gesetzeszweck der Inkompatibilitätsregelung kann es deshalb nicht genügen, nur die Komplementärgesellschaft als solche vom Aufsichtsratsamt auszuschließen, sondern er verlangt die Erstreckung auf die Mitglieder des Vertretungsorgans, die für die Komplementärgesellschaft handeln, d.h. auf deren Geschäftsfüh10 Vgl. aus der jüngeren Zeit namentlich Bachmann AG 2019, 581; Habersack ZIP 2019, 1453; Hennemann ZHR 218 (2018), 157; Fett/Stütz NZG 2017, 1121; davor etwa Wollburg in FS Hoffmann-Becking, 2013, 1425; Mertens in FS Ulmer, 2003, 419. 11 Hüffer/Koch AktG, § 287 Rz. 4, § 287 Rz. 5; Bachmann in Spindler/Stilz AktG, § 287 Rz. 5. 12 BGHZ 165, 192, 197 f. („Da eine juristische Person … ohnehin nicht Aufsichtsratsmitglied sein kann, mag es – mit der insoweit einhelligen Auffassung im Schrifttum – geboten sein, diese Funktionsträger in den Anwendungsbereich des § 287 Abs. 3 AktG einzubeziehen …“).
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rer oder Vorstandsmitglieder, bei der monistischen SE auf die geschäftsführenden Direktoren.13 Hat die Komplementärgesellschaft ein mehrköpfiges Vertretungsorgan, kann keines seiner Mitglieder zugleich dem Aufsichtsrat angehören. Ist das Vertretungsorgan der Komplementärgesellschaft wiederum eine juristische Person, so erstreckt sich § 287 Abs. 3 AktG auf die natürlichen Personen, die dort das Vertretungsorgan bilden.14 Schwieriger zu beantworten und seit langem Gegenstand der Diskussion ist demgegenüber die Frage, ob und inwieweit Gesellschafter der Komplementärgesellschaft analog § 287 Abs. 3 AktG von der Mitgliedschaft im KGaA-Aufsichtsrat ausgeschlossen sind. Während sich in der Frühphase dieser Diskussion vereinzelte Stimmen dafür aussprachen, sämtliche Gesellschafter der Komplementärgesellschaft15 oder jedenfalls alle, die nicht nur unmaßgeblich an der Komplementärgesellschaft beteiligt sind,16 für eine Mitgliedschaft im KGaA-Aufsichtsrat als inhabil anzusehen, besteht heute Einigkeit, dass sich ein so weit gehendes Amtsverbot nicht begründen lässt.17 Der Bundesgerichtshof sieht den Zweck des § 287 Abs. 3 AktG darin zu vermeiden, dass Geschäftsführungsund Überwachungsfunktionen in einer Hand zusammenfallen,18 und es ist offensichtlich, dass dieser Zweck es nicht rechtfertigen kann, nur gering beteiligte Gesellschafter der Komplementärgesellschaft in den Anwendungsbereich des § 287 Abs. 3 AktG einzubeziehen. Ob es sich bei maßgeblich beteiligten Gesellschaftern der Komplementärgesellschaft anders verhält, hat der Bundesgerichtshof nicht entschieden, vielmehr hat er es ausdrücklich dahinstehen lassen, „ob eine … ‚Ausdehnung‘ des § 287 Abs. 3 AktG auf Gesellschafter der Komplementär-GmbH einer KGaA ohne entsprechende gesetzliche Anordnung überhaupt in Betracht“ komme und ergänzt, jedenfalls komme das nicht bei jedem Gesellschafter der Kommanditgesellschaft in Betracht, sondern es „wären im Wege einer etwaigen analogen Anwendung der Vorschrift allenfalls diejenigen Gesellschafter der Komplementärgesellschaft einzubeziehen, welche in ihr eine organähnliche Leitungsfunktion tatsächlich ausüben … oder an der Komplementärgesellschaft maßgeblich beteiligt sind und deshalb bestimmenden Einfluss auf deren Geschäftsleitung ausüben können“.19 Diese Entscheidung
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Seibt/von Rimon AG 2019, 753, 756. OLG Frankfurt v. 28.4.2013 – 5 U 126/12, juris Rz. 33. 15 So LG München AG 2002, 467, 468; Kölling Gestaltungsspielräume und Anlegerschutz in der kapitalistischen KGaA, 2005, 158 ff. 16 Assman/Sethe in Großkomm AktG, 4. Aufl. 2001, § 287 Rz. 10; Ihrig/Schlitt ZHRBeiheft Nr. 67, 1998, 33, 43 f. 17 BGHZ 165, 192/198; Hüffer/Koch § 287 Rz. 4; Herfs in Münch Hdb AG, § 79 Rz. 64; Hennemann ZHR 218 (2018), 157, 169 ff. 18 BGHZ 165, 192, 198. 19 BGHZ 165, 192, 198. 14
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wird häufig so zitiert, als habe der Bundesgerichtshof entschieden, dass in diesen beiden Fallgruppen eine analoge Anwendung von § 287 Abs. 3 AktG geboten sei. 20 Tatsächlich aber hat das Gericht die Frage ausdrücklich offengelassen. Die erste der beiden vom BGH ins Auge gefassten Fallgruppen, der Fall der organähnlichen Leitungsfunktion, ist unproblematisch. Der BGH bezieht sich hierzu ausdrücklich auf die Kommentierung von Mertens/Cahn im Kölner Kommentar, die ihrerseits auf den Beitrag von Mertens in der Festschrift Ulmer verweist.21 Mit der „tatsächlichen Ausübung einer organähnlichen Leitungsfunktion“ ist dort eine Tätigkeit als faktischer Geschäftsführer gemeint, nicht aber Einflussnahme- und Mitwirkungsrechte im Hinblick auf die Geschäftsführungstätigkeit des Komplementärs. Dass der faktische Geschäftsleiter einem ordnungsgemäß bestellten Organmitglied gleichzustellen ist, ist auch sonst anerkannt.22 Die herrschende Meinung hält eine analoge Anwendung von § 287 Abs. 3 AktG auch in der anderen vom BGH erwogenen Fallgruppe für richtig und will auch Gesellschafter der Komplementärgesellschaft vom Aufsichtsrat ausschließen, die an der Komplementärgesellschaft maßgeblich beteiligt sind und deshalb bestimmenden Einfluss auf deren Geschäftsleitung ausüben können. Dabei werden vielfach die unbestimmten Begriffe der „maßgeblichen“ Beteiligung und des „bestimmenden“ Einflusses verwendet,23 während in jüngerer Zeit zumeist eine Anknüpfung an den Abhängigkeitsbegriff des § 17 AktG befürwortet wird.24 Sei der herrschende Gesellschafter der Komplementärgesellschaft eine juristische Person, so erstrecke sich die Inkompatibilitätsregelung auch auf die nächste Ebene, d.h. das Vertretungsorgan dieses herrschenden Gesellschafters.25 Andere Autoren sprechen sich ebenfalls für eine analoge Erstreckung des § 287 Abs. 3 AktG auf Gesellschafter der Komplementärgesellschaft aus, wollen dabei aber nicht jeden herrschenden Gesellschafter der Komplementärgesellschaft einbeziehen, sondern die Analogie auf Fälle beschränken, in denen der Gesellschafter ein Weisungsrecht gegenüber der Komplementär20 Vgl. zuletzt etwa Herfs in Münch Hdb AG, § 79 Rz. 64; Seibt/von Rimon AG 2019, 753, 758. 21 Mertens/Cahn in Kölner Komm AktG, 2. Aufl. 2004, § 287 Rz. 8 [= 3. Aufl. 2014, § 287 Rz. 10] mit Verweis auf Mertens in FS Ulmer, 2003, 419, 421 ff., 431. 22 Vgl. näher etwa Hüffer/Koch AktG, § 93 Rz. 38. 23 OLG München NZG 2004, 521/523; K. Schmidt in K. Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 287 Rz. 9; ders. in FS Ulmer, 2000, 691, 705. 24 Herfs in Münch. Hdb AG, § 79 Rz. 64; Förl/Fett in Bürgers/Körber AktG, 4. Aufl. 2017, § 287 Rz. 10; Seibt/von Rimon AG 2019, 753, 758 f.; Hennemann ZHR 218 (2018), 157, 169 ff.; Fett/Stütz NZG 2017, 1121, 1124 f.; so auch noch Bachmann in Spindler/Stilz AktG § 287 Rz. 5b (aufgegeben in AG 2019, 581 Fn. 63). 25 Herfs in Münch Hdb AG, § 79 Rz. 64; Hennemann ZHR 218 (2018), 157, 177 f.; Fett/Stütz NZG 2017, 1121, 1125.
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gesellschaft hat.26 Von dem Verbot erfasst werde wegen des Weisungsrechts aus § 37 GmbHG der herrschende Gesellschafter einer KomplementärGmbH,27 gleiches sei denkbar, wenn eine Komplementär-AG in einen Vertragskonzern eingebunden sei und damit dem beherrschungsvertraglichen Weisungsrecht des § 308 AktG unterliege.28 Bei einer AG als Komplementärgesellschaft falle der bloße Mehrheitsaktionär jedoch aufgrund der Weisungsfreiheit des Vorstands nicht unter § 287 Abs. 3 AktG.29 Wenn der die Komplementärgesellschaft beherrschende Gesellschafter seinerseits eine juristische Person mit mehrköpfigen Organstrukturen sei, werde man die Analogie auch nicht noch auf deren Organwalter ausdehnen können.30 Die Autoren, die – wenn auch mit unterschiedlicher Auffassung zur Reichweite – eine Erstreckung von § 287 Abs. 3 AktG auf Gesellschafter der Komplementärgesellschaft befürworten, argumentieren mit dem Zweck des § 287 Abs. 3 AktG. Dieser solle die Trennung zwischen Leitung und Kontrolle sicherstellen und verhindern, dass eine Eigenkontrolle stattfinde.31 Diesem Gesetzeszweck würde es nach Auffassung der Vertreter der herrschenden Meinung nicht genügen, wenn nur die Mitglieder des Geschäftsführungsorgans der Komplementärgesellschaft von der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat ausgeschlossen wären, sondern er verlange eine Erstreckung der Inkompatibilität auf Dritte, wenn diese einen hinreichend starken Einfluss auf die Geschäftsführung des phG ausüben könnten. Eine erst in jüngster Zeit wiederbelebte Gegenmeinung lehnt eine analoge Anwendung von § 287 Abs. 3 AktG auf Gesellschafter der Komplementärgesellschaft grundsätzlich ab. Zum Teil wird geltend gemacht, eine je nach Einfluss des Gesellschafters auf die Geschäftsführung der Komplementärgesellschaft differenzierende Anwendung sei unvereinbar mit der gerade bei Anwendung einer Inkompatibilitätsregelung erforderlichen Rechtssicherheit.32 Demgegenüber haben Bachmann und Habersack jüngst die Überlegung vorgetragen, ein Blick auf die Parallelvorschrift des § 105 AktG und in das Konzernrecht zeige, dass sich der Schutzzweck des § 287 Abs. 3 AktG in der Vermeidung der personellen Identität von Geschäftsführungs- und Überwachungsorganen erschöpfe. Eine Aufsichtsratsmitgliedschaft des herrschenden Unternehmens und seiner Repräsentanten sei auch bei der AG
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Hüffer/Koch AktG, § 287 Rz. 4; Förl/Fett in Bürgers/Körber AktG. § 287 Rz. 10 Hüffer/Koch AktG, § 287 Rz. 4; Förl/Fett in Bürgers/Körber AktG, § 287 Rz. 10. 28 Hüffer/Koch AktG, § 287 Rz. 4; Fett/Stütz NZG 2017, 1121, 1124. 29 Hüffer/Koch AktG, § 287 Rz. 4; Förl/Fett in Bürgers/Körber AktG, § 287 Rz. 10. 30 Hüffer/Koch AktG, § 287 Rz. 4; Förl/Fett in Bürgers/Körber AktG, § 287 Rz. 10. 31 Vgl. etwa Herfs in Münch Hdb AG, § 79 Rz. 64; Hennemann ZHR 218 (2018), 157, 160 f.; Fett/Stütz NZG 2017, 1121, 1124. 32 So Mertens in FS Ulmer, 2003, 419, 426; Wollburg in FS Hoffmann-Becking, 2013, 1425, 1431 ff.; auf den Aspekt der Rechtssicherheit hinweisend auch Bachmann AG 2019, 581, 586. 27
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nicht verboten und es gebe keinen Grund, dies bei der Komplementärgesellschaft & Co. KGaA anders zu beurteilen.33
III. Parallele zu § 105 Abs. 1 AktG Soweit es bei § 287 Abs. 3 AktG um den Schutz der Überwachungs- und Beratungsfunktion des Aufsichtsrats durch Sicherstellung der Trennung zwischen Leitung und Überwachung geht,34 ist Bachmann und Habersack beizupflichten, dass allein dieser Schutzzweck des Gesetzes sich für die von der h.M. befürwortete Analogie bei einem Blick auf § 105 Abs. 1 AktG und in das Konzernrecht als nicht tragfähig erweist. Auch bei der AG verbietet § 105 Abs. 1 AktG den Vorstandsmitgliedern die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat. Zwar können in der AG nur natürliche Personen Vorstandsmitglieder sein (§ 76 Abs. 3 Satz 1 AktG), aber auch der aus natürlichen Personen bestehende AG-Vorstand ist von Einflüssen auf seine Geschäftsführungstätigkeit selbstverständlich nicht frei. Einerseits hat er zwar die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten (§ 76 Abs. 1 AktG) und unterliegt keinen Weisungen des Aufsichtsrats oder der Hauptversammlung. Andererseits gestattet § 311 Abs. 1 AktG es dem Vorstand der abhängigen AG aber, selbst nachteiligen Veranlassungen des herrschenden Unternehmens bei Ausgleich des Nachteils zu folgen. Das Gesetz billigt damit die Ausübung herrschenden Einflusses auf die Geschäftsführungstätigkeit des Vorstands der AG.35 Zugleich steht außer Frage, dass das herrschende Unternehmen oder Mitglieder seines Geschäftsführungsorgans nicht etwa von einer Mitgliedschaft im Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft analog § 105 Abs. 1 AktG ausgeschlossen sind. Im Gegenteil: § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AktG schließt nur die gesetzlichen Vertreter eines von der Gesellschaft abhängigen Unternehmens von der Aufsichtsratsmitgliedschaft aus, nicht jedoch die gesetzlichen Vertreter des herrschenden Unternehmens. Und § 100 Abs. 2 Satz 2 AktG setzt es nicht nur als zulässig voraus, dass gesetzliche Vertreter des herrschenden Unternehmens dem Aufsichtsrat einer abhängigen Gesellschaft angehören, sondern privilegiert solche Konzernmandate sogar noch. Dementsprechend ist es in der Praxis gang und gäbe und in seiner Zulässigkeit 33 Bachmann AG 2019, 581, 587 unter Aufgabe seiner abweichenden Meinung in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 287 Rz. 5b; Habersack ZIP 2019, 1453, 1460 unter Aufgabe seiner abweichenden Ansicht in FS Hellwig, 2010, 143, 149; für Konzernsachverhalte zustimmend auch Perlitt in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2020, § 287 Rz. 114. 34 BGHZ 165, 192/198. 35 Hüffer/Koch AktG § 311 Rz. 4; Habersack in Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 311 Rz. 8; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter AktG, 4. Aufl. 2015, § 311 Rz. 6.
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unbestritten, dass Mitglieder des Vorstands des herrschenden Unternehmens dem Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft angehören. Noch deutlicher zeigt sich die Vereinbarkeit von Konzernleitung und Aufsichtsratsmitgliedschaft im Vertrags- und im Eingliederungskonzern. Besteht ein Beherrschungsvertrag, ist das herrschende Unternehmen berechtigt, dem Vorstand der abhängigen Gesellschaft hinsichtlich deren Leitung Weisungen zu erteilen, und der Vorstand ist verpflichtet, diesen Weisungen zu folgen (§ 308 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AktG), ein noch etwas weitergehendes Weisungsrecht besteht gegenüber dem Vorstand der eingegliederten Gesellschaft (§ 323 Abs. 2 AktG). Auch das führt aber nicht zu einer analogen Anwendung von § 105 Abs. 1 AktG auf das herrschende Unternehmen und seine gesetzlichen Vertreter, sondern auch im Vertrags- und im Eingliederungskonzern ist es unbestritten zulässig, dass dieselben gesetzlichen Vertreter des herrschenden Unternehmens, die gegenüber dem Vorstand der abhängigen Gesellschaft weisungsberechtigt sind, zugleich dem Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft angehören können. Die Unvereinbarkeitsregel des § 105 Abs. 1 AktG will mithin nichts weiter als eine Personenidentität zwischen Vorstand und Aufsichtsrat verhindern. Die Funktion des Aufsichtsrats als Überwachungs- und Beratungsorgan des Vorstands liefe leer, wenn eine personenidentische Besetzung dazu führte, dass dieselben Personen die Gesellschaft leiten und sich dabei gleichzeitig überwachen und beraten sollen. In der Verhinderung einer solchen Personenidentität aber erschöpft sich der Zweck der Regelung auch. Einflussmöglichkeiten auf den Vorstand der Aktiengesellschaft, wie stark auch immer sie sein mögen, stehen der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat der Gesellschaft nicht entgegen. Bachmann und Habersack ziehen daraus den Schluss, für die KGaA könne schwerlich anderes gelten, Anhaltspunkte dafür, dass für die KGaA eine abweichende Beurteilung geboten sein könnte, seien nicht ersichtlich, denn die konzernrechtlichen Vorschriften des AktG gälten für die KGaA genauso wie für die AG. 36 Das ist im Ausgangspunkt richtig. Auch die KGaA kann abhängige Gesellschaft iSv § 17 AktG sein, und auch für die abhängige KGaA gilt nach der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung des § 311 Abs. 1 AktG, dass das herrschende Unternehmen seinen Einfluss benutzen darf, um Rechtsgeschäfte und Maßnahmen der abhängigen KGaA zu veranlassen. Zwar greift bei der KGaA die Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG nicht, weil dem Aufsichtsrat die Personalkompetenz fehlt,37 sondern die Abhängigkeit muss nach § 17 Abs. 1 AktG positiv festgestellt werden. Aber auch die KGaA mit einer natürlichen Person als Komplemen36
Bachmann AG 2019, 581, 587; Habersack ZIP 2019, 1453, 1460. Vgl. nur Herfs in Münch Hdb AG, § 79 Rz. 95; Bachmann in Spindler/Stilz AktG, § 278 Rz. 92; Perlitt in MünchKomm AktG, vor § 278 Rz. 98a. 37
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tär kann von dem Mehrheits-Kommanditaktionär abhängig sein, etwa wenn besondere Satzungsregeln ihm die Bestellung und Abberufung von Komplementären ermöglichen.38 Auch die KGaA kann die Leitung ihrer Gesellschaft durch Beherrschungsvertrag einem anderen Unternehmen unterstellen (§ 291 Abs. 1 Satz 1 AktG) mit der Folge, dass das herrschende Unternehmen berechtigt ist, den persönlich haftenden Gesellschaftern der KGaA hinsichtlich der Leitung der Gesellschaft Weisungen zu erteilen und die Komplementäre diese Weisungen zu befolgen haben (§ 308 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AktG). Diese gleiche Ausgangslage heißt aber nicht automatisch, dass deshalb auch bei der KGaA eine Repräsentanz des herrschenden Unternehmens im Aufsichtsrat der Gesellschaft ebenso zulässig sein müsste wie in der AG und dies auch dann zu gelten hätte, wenn nicht eine natürliche, sondern eine juristische Person Komplementär ist. Vielmehr ist es denkbar, dass Besonderheiten der KGaA bestehen, die es nötig machen, den Anwendungsbereich von § 287 Abs. 3 AktG weiter zu ziehen als den des § 105 AktG.
IV. Sonderbeurteilung der KGaA mit Komplementärgesellschaft? Eine Besonderheit, die eine unterschiedliche Reichweite von § 105 Abs. 1 und § 287 Abs. 3 AktG begründen könnte, sehen die Vertreter der h.M. anscheinend in der besonderen Struktur der KGaA mit einer juristischen statt einer natürlichen Person als Komplementär. Denn die Autoren, die den herrschenden Gesellschafter der Komplementärgesellschaft entsprechend § 287 Abs. 3 AktG vom Aufsichtsratsamt in der KGaA ausschließen wollen, beschränken diese Analogie auf die Sondersituation der KGaA mit einer Komplementärgesellschaft. Das geschieht im Allgemeinen unausgesprochen, indem die Frage der Inkompatibilität des herrschenden Gesellschafters überhaupt nur für den beherrschenden Gesellschafter der Komplementärgesellschaft angesprochen, eine Erstreckung auf den beherrschenden Kommanditaktionär in einer normal strukturierten KGaA jedoch nicht einmal erwogen wird.39 Vereinzelt wird aber auch ausdrücklich geäußert, dass das vermeintliche Amtsverbot nur den beherrschenden Gesellschafter der Komplementärgesellschaft treffe, nicht aber den Mehrheits-Kommanditaktionär der KGaA.40 Eine solche Differenzierung kann jedoch nicht zutreffen. Wenn derjenige, der herrschenden Einfluss auf eine KGaA mit einer natürlichen Person als 38
Vgl. nur Herfs in Münch Hdb AG, § 79 Rz. 95; Emmerich in Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 17 Rz. 47. 39 Vgl. die Nachweise oben Fn. 23 und 24. 40 Hennemann ZHR 218 (2018), 157, 178.
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Komplementär ausübt, nicht unter § 287 Abs. 3 AktG fällt, dann kann nichts anderes gelten, nur weil der beherrschende Einfluss nicht die KGaA unmittelbar, sondern deren Komplementärgesellschaft trifft. Der Einfluss dessen, der die Komplementärgesellschaft beherrscht, ist nicht stärker und nicht „gefährlicher“ als der Einfluss dessen, der unmittelbar herrschenden Einfluss in der KGaA ausübt. Herrschender Einfluss muss sich immer auf die natürlichen Personen richten, in deren Händen die Geschäftsführung und Vertretung der abhängigen Gesellschaft liegt. Wenn der MehrheitsKommanditaktionär über die Mittel verfügt, faktisch beherrschenden Einfluss iSv §§ 17, 311 AktG auf den Komplementär auszuüben, dann macht es keinerlei Unterschied, ob sich dieser Einfluss auf die Person richtet, die selbst Komplementär ist oder auf die Personen, die das Vertretungsorgan der Komplementärgesellschaft bilden. Ebenso macht es keinen Unterschied, ob das herrschende Unternehmen im Vertragskonzern den Beherrschungsvertrag mit der Komplementärgesellschaft oder direkt mit der KGaA geschlossen hat, das Weisungsrecht aus § 308 AktG hat die gleiche Wirkung. Entweder macht herrschender Einfluss in der KGaA für den Aufsichtsrat inkompatibel oder nicht, aber es kann keine Rolle spielen, ob dieser herrschende Einfluss unmittelbar gegenüber der KGaA oder nur mittelbar über eine Komplementärgesellschaft besteht. Vielmehr wäre es wertungswidersprüchlich, den Inhaber herrschenden Einflusses auf die Komplementärgesellschaft vom Aufsichtsratsamt auszuschließen, dem Inhaber herrschenden Einflusses in der normal strukturierten KGaA jedoch nicht. Die besondere Struktur der KGaA mit einer juristischen Person als Komplementär kann es also nicht rechtfertigen, den Anwendungsbereich des § 287 Abs. 3 AktG weiter zu ziehen als den des § 105 Abs. 1 AktG. Es bleibt aber die Frage, ob andere Besonderheiten des Rechts der KGaA dazu nötigen, die Inkompatibilität für den KGaA-Aufsichtsrat anders als für den AG-Aufsichtsrat auf den Inhaber herrschenden Einflusses zu erstrecken.
V. Sonderbeurteilung wegen des Stimmverbots gem. § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AktG? Eine gewichtige Besonderheit des Rechts der KGaA, die für diese Frage von Bedeutung sein könnte, besteht darin, dass sich das Recht der KGaA nicht damit begnügt, in § 287 Abs. 3 AktG die Inkompatibilität der persönlich haftenden Gesellschafter für eine Mitgliedschaft im Aufsichtsrat anzuordnen, sondern in § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AktG deutlich weitergeht und das Stimmrecht der persönlich haftenden Gesellschafter aus ihnen gehörenden Aktien für die Wahl und Abberufung des Aufsichtsrats sowie für die Entlastung der Aufsichtsratsmitglieder ausschließt. Dem KGaAKomplementär ist nicht nur die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat versagt, son-
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dern ihm ist es auch verwehrt, über die Besetzung des Aufsichtsrats und die Billigung der Aufsichtsratstätigkeit mitzuentscheiden. Das ist eine massive Abweichung vom Recht der AG, die für die KGaA zu einer weit strikteren Trennung zwischen Komplementär und Aufsichtsrat führt, als das Recht der AG sie für die Trennung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat kennt. Das wirft die Frage auf, ob möglicherweise der mit dem Stimmverbot des § 285 Abs. 1 Satz 2 AktG verbundene Regelungszweck es nötig macht, auch § 287 Abs. 3 AktG in seinem Anwendungsbereich weiter zu ziehen als § 105 Abs. 1 AktG. Die Literatur sieht § 287 Abs. 3 AktG und § 285 Abs. 1 Satz 2 AktG als zwei Komponenten eines Regelungskonzepts, zwischen denen ein Gleichlauf bestehe.41 Deshalb entspricht es der ganz herrschenden Meinung, dass der beherrschende Gesellschafter der Komplementärgesellschaft nicht nur analog § 287 Abs. 3 AktG von der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat ausgeschlossen sei, sondern dass auch § 285 Abs. 1 Satz 2 AktG auf ihn analog angewandt werden müsse.42 Träfe diese herrschende Meinung zu, wäre das ein starkes und letztlich wohl ausschlaggebendes Argument dafür, auch § 287 Abs. 3 AktG analog auf Inhaber herrschenden Einflusses über die Komplementärgesellschaft anzuwenden. Denn anzunehmen, wer die Komplementärgesellschaft beherrsche, dürfe zwar entsprechend § 285 Abs. 1 Satz 2 AktG bei der Wahl, Abberufung und Entlastung der Mitglieder des Aufsichtsrats nicht mitstimmen, sei aber nicht daran gehindert, selbst Mitglied des Aufsichtsrats zu werden, wäre als Regelungskonzept in sich widersprüchlich. Wer nicht einmal sein Stimmrecht bei der Wahl und Entlastung der Aufsichtsratsmitglieder ausüben darf, kann erst recht nicht selbst Mitglied des Aufsichtsrats sein und in dieser Funktion viel stärkeren Einfluss ausüben, als es ihm über das Stimmrecht in der Hauptversammlung möglich wäre.43 Anders als bei § 287 Abs. 3 AktG kann der Gesetzeszweck des § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AktG schwerlich in der Trennung von Leitung und Überwachung liegen,44 denn dann wäre es nicht erklärlich, dass für den Vorstand der AG ein entsprechendes Stimmverbot nicht gilt. Das Stimmverbot des § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AktG hat einen anderen Hinter41
Hennemann ZHR 218 (2018), 157, 184 f. Hüffer/Koch AktG, § 285 Rz. 1; Assmann/Sethe in Großkomm AktG, § 285 Rz. 25; Förl/Fett in Bürgers/Körber AktG, § 285 Rz. 3; Bachmann in Spindler/Stilz AktG, § 285 Rz. 26; Seibt/von Rimon AG 2019, 753, 757 ff.; Hennemann ZHR 218 (2018), 157, 183 ff.; Schnülle NZG 2017, 1056, 1057 f.; 43 Anders Bachmann AG 2019, 581, 586, der sich gegen eine analoge Anwendung von § 287Abs. 3 AktG unter anderem mit dem Argument ausspricht, der herrschende Gesellschafter des Komplementärs dürfe wegen § 285 Abs. 2 AktG an der Wahl ohnehin nicht teilnehmen, so dass die übrigen Kommanditaktionäre unbeeinflusst entscheiden könnten. 44 Zutreffend Bachmann in Spindler/Stilz AktG, § 285 Rz. 16; aA Mertens/Cahn Kölner Komm AktG, § 285 Rz. 13; Assmann/Sethe Großkomm AktG, § 285 Rz. 26. 42
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grund. Es geht zurück auf § 227 Abs. 1 AktG 1937 und wurde von dort unverändert in das AktG 1965 übernommen. Bis zum AktG 1937 hatten die persönlich haftenden Gesellschafter einer KGaA aus von ihnen gehaltenen Aktien keinerlei Stimmrecht (§ 327 HGB 1897). Der Gesetzgeber des AktG 1937 sah für eine derart weitgehende Beschränkung keinen hinreichenden Grund mehr, hielt einen Stimmrechtsausschluss aber weiterhin für angebracht, vor allem bei der Wahl und Abberufung des Aufsichtsrats. Denn, so die damalige Gesetzbegründung, der Aufsichtsrat sei „bei der Kommanditgesellschaft auf Aktien derjenige Verwaltungsträger der berufen ist, die Rechte der Aktionäre gegenüber den persönlich haftenden Gesellschaftern zu vertreten“.45 In der Literatur wird zumeist weitergehend davon gesprochen, die Stimmverbote des § 285 Abs. 1 Satz 2 AktG gingen insgesamt darauf zurück, dass sich wegen der Vorstandsfunktion der Komplementäre sonst Interessenkollisionen ergeben würden.46 Das ist für die Gesamtheit der Stimmverbote zutreffend, bei § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AktG geht es jedoch ausweislich der Gesetzeshistorie nur um die Vertretung „der Rechte der Aktionäre gegenüber den persönlich haftenden Gesellschaftern“. Dabei handelt es sich zunächst um die grundsätzliche Befugnis des Aufsichtsrats, die KGaA gegenüber den persönlich haftenden Gesellschaftern zu vertreten, die aus § 287 Abs. 3 iVm § 112 AktG folgt.47 § 287 Abs. 2 AktG weist dem Aufsichtsrat zudem die Prozessvertretung der „Gesamtheit der Kommanditaktionäre“ in Streitigkeiten mit den Komplementären zu. Diese Vertretungskompetenz ergibt sich nach dem heutigen Stand der Rechtsentwicklung schon aus § 112 AktG;48 das ihr zugrunde liegende Verständnis, dass der Aufsichtsrat hier die „Gesamtheit der Kommanditaktionäre“ zu vertreten habe, ist ebenfalls überholt, und es besteht Einigkeit, dass der Aufsichtsrat in den Fällen des § 287 Abs. 2 AktG nicht die Kommanditaktionäre vertritt, sondern die Gesellschaft.49 Diese Vertretungsbefugnisse des KGaA-Aufsichtsrats unterscheiden sich nicht von denjenigen des AG-Aufsichtsrats, ohne dass deshalb bei der AG das Stimmrecht des Vorstands bei der Wahl und Entlastung von Aufsichtsratsmitgliedern ausgeschlossen wäre. Sie können das Stimmverbot des § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AktG daher rechtspolitisch nicht überzeugend begründen und deshalb erst recht eine etwaige Erstreckung des Stimmverbots für herrschende Gesellschafter nicht rechtfertigen. 45 Amtliche Begründung zu §§ 219 bis 232 AktG 1937, abgedruckt bei Klausing AktienGesetz nebst Einführungsgesetz und amtlicher Begründung, 1937, 191. 46 Hüffer/Koch AktG, § 285 Rz. 1; gleichsinnig Assmann/Sethe Großkomm AktG, § 285 Rz. 23. 47 Zur Anwendbarkeit von § 112 AktG im Recht der KGaA vgl. nur BGH ZIP 2005, 348, 349; Hüffer/Koch AktG, § 278 Rz. 16. 48 Näher Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, § 287 Rz. 25. 49 BGHZ 165, 192, 199; Bachmann in Spindler/Stilz AktG, § 287 Rz. 24; Hüffer/Koch AktG § 287 Rz. 2.
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Es bleibt die Vertretungskompetenz aus § 287 Abs. 1 AktG, wonach der Aufsichtsrat die Beschlüsse der Kommanditaktionäre ausführt, wenn die Satzung nichts anderes bestimmt. Gemeint sind damit nicht alle Beschlüsse der Hauptversammlung, sondern nur solche, mit denen bestimmte personengesellschaftsrechtliche Rechte gegenüber den Komplementären geltend gemacht werden.50 Bei diesen Beschlüssen vertritt der Aufsichtsrat allerdings nach heutigem Verständnis nicht die „Gesamtheit der Kommanditaktionäre“, sondern auch hierbei handelt er als Organ der Gesellschaft für diese.51 Diese besondere Vertretungsbefugnis mag das weitreichende Stimmverbot des § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AktG begründen, sie kann aber eine Ausdehnung dieses Stimmverbots auf den herrschenden Kommanditaktionär nicht tragen. Der Konflikt, der im Einzelfall bestehen mag, wenn die Mehrheit der Kommanditaktionäre durch den Aufsichtsrat auszuführende Beschlüsse fasst, die sich gegen den Komplementär richten, kann das Stimmverbot allenfalls für den Komplementär selbst rechtfertigen, keinesfalls aber die Erstreckung dieses Stimmverbots auf einen herrschenden Kommanditaktionär. Denn die nach § 287 Abs. 1 AktG zu fassenden und vom Aufsichtsrat auszuführenden Beschlüsse können ohne die Zustimmung des herrschenden Kommanditaktionärs ohnehin nicht zustande kommen. Werden sie mit seinen Stimmen gefasst, ist ein Interessenwiderstreit zwischen dem Aufsichtsrat, der sie ausführen muss und den Kommanditaktionären, die sie herbeigeführt haben, ausgeschlossen. Man kann sich die Frage stellen, ob das Stimmverbot des § 285 Abs. 1 Satz 2 AktG mit seinen Motiven weitergeht und von einem Grundverständnis des historischen Gesetzgebers getragen war, das auf der Annahme eines potentiellen Interessengegensatzes zwischen den Gesellschaftergruppen der Kommanditaktionäre und der persönlich haftenden Gesellschafter beruhte, einen Aktienbesitz der Komplementäre als Ausnahme verstand und den Aufsichtsrat möglichst „gegnerfrei“ halten wollte. Schon der Bundesgerichtshof hat aber ausführlich und überzeugend begründet, dass ein solches Verständnis heute dem Stand der Rechtsentwicklung nicht mehr entspräche.52 Das ändert an der Geltung der Stimmverbote nichts, schlösse es aber aus, mit Verweis auf ein solches überholtes Vorstellungsbild heute Gesetzeslücken ausmachen und durch Analogie schließen zu wollen. Gegen eine etwaige Erstreckung der Stimmverbote auf den beherrschenden Gesellschafter sprechen schließlich weitere konzernrechtliche Gesichtspunkte. Nach dem Wortlaut des Gesetzes gilt auch für die KGaA § 100 Abs. 2 AktG, der die Übernahme von Aufsichtsratsmandaten des herr50
Näher Bachmann in Spindler/Stilz AktG, § 287 Rz. 21; Hüffer/Koch AktG, § 287 Rz. 1. 51 BGHZ 165, 192, 199. 52 BGHZ 165, 192, 198 ff.
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schenden Unternehmens eines Konzerns in anderen Konzerngesellschaften, die gesetzlich einen Aufsichtsrat zu bilden haben, privilegiert und damit zugleich als zulässig voraussetzt. Wenn das Gesetz dem herrschenden Unternehmen die Übernahme eines Aufsichtsratsmandats in der KGaA gestattet, kann es aber nicht zugleich das herrschende Unternehmen vom Stimmrecht und von der Übernahme des Aufsichtsratsamtes ausschließen. Wer §§ 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2, 287 Abs. 3 AktG auf ein herrschendes Unternehmen analog anwenden will, hat deshalb auch § 100 Abs. 2 AktG gegen sich. Zu bedenken ist überdies, dass die Möglichkeit, die Anteilseignerseite im Aufsichtsrat mit Repräsentanten oder Vertrauenspersonen des herrschenden Unternehmens zu besetzen, die Basis für die Konzernleitung im faktischen Konzern ist. Die Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG knüpft gerade hieran an, und auch wenn sie in der KGaA nicht gilt, sondern Abhängigkeit nach § 17 Abs. 1 AktG positiv festgestellt werden muss,53 ist das Recht zur Besetzung des Aufsichtsrats ein wichtiges Element der Konzerneinbeziehung eines abhängigen Unternehmens, die § 311 Abs. 1 AktG ausdrücklich auch für die KGaA zulässt. Dem herrschenden Unternehmen sein Stimmrecht bei der Aufsichtsratswahl und -entlastung und die Möglichkeit der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat zu nehmen, liefe deshalb auf einen massiven Eingriff in die Rechtsstellung des herrschenden Unternehmens und zugleich auf eine fundamentale Veränderung der Struktur der KGaA hinaus, weil es den Aufsichtsrat zu einem Organ der Minderheit der Kommanditaktionäre machen würde. Das wäre auch im Lichte des Mitbestimmungsurteils des BVerfG54 wegen des damit verbundenen Eingriffs in das Eigentumsrecht des herrschenden Kommanditaktionärs problematisch.55 Jedenfalls aber reicht der beschränkte Zweck des Stimmverbots aus § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AktG nicht, um einen solchen Eingriff im Wege der Analogie zu begründen.
VI. Beschränkung auf (bestimmte) Konzernsituationen? Im Ergebnis ist daher der Auffassung zuzustimmen, dass das selbstverständliche Recht des herrschenden Unternehmens in der AG, seine Repräsentanten in den Aufsichtsrat zu wählen, auch in der KGaA gilt. § 287 Abs. 3 AktG ist auf das herrschende Unternehmen ebenso wenig zu erstrecken wie § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AktG. Ob es sich dabei um eine KGaA mit einer natürlichen oder einer juristischen Person als Komplementär handelt, und ob der herrschende Einfluss unmittelbar auf der Ebene der 53
Oben Fn. 37. BVerfGE NJW 1979, 699, 703 ff. 55 Bachmann AG 2019, 581, 588. 54
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KGaA besteht oder über die Komplementärgesellschaft vermittelt wird, ist hingegen bedeutungslos. Es bleibt die Frage, ob es sich hierbei um eine Rechtslage handelt, die auf Konzernsituationen beschränkt ist, oder ob diese Grundsätze auch außerhalb von Konzernstrukturen gelten. In der Literatur ist hierzu die Überlegung angestellt worden, wenn der die Komplementärgesellschaft beherrschende Gesellschafter auch maßgeblicher Kommanditaktionär sei, bestehe ein struktureller Interessengleichlauf, der es rechtfertige, den herrschenden Gesellschafter vom Verbot der Zugehörigkeit zum Aufsichtsrat auszunehmen, ob das auch außerhalb von Konzernstrukturen gelte, bleibe hingegen abzuwarten.56 Das Argument des Interessengleichlaufs nimmt den herrschenden Gesellschafter der Komplementärgesellschaft vom Anwendungsbereich des § 287 AktG nur aus, wenn er zugleich als Kommanditaktionär maßgeblich beteiligt ist. Das wird in vielen Fällen so sein, aber genauso denkbar sind Strukturen, in denen der beherrschende Gesellschafter der Komplementärgesellschaft nicht oder nur unmaßgeblich als Kommanditaktionär beteiligt ist.57 Auf einen Interessengleichlauf mit den Kommanditaktionären kommt es aber für die rechtliche Beurteilung nicht an, sondern der Inhaber herrschenden Einflusses kann Mitglied des Aufsichtsrats sein, unabhängig davon, ob seine Interessen sich mit denen der Aktionärsmehrheit decken, weil er selbst diese Mehrheit besitzt. Konzernherrschaft muss nicht auf Anteilsbesitz beruhen. Auch im AG-Konzern ist es z.B. rechtlich zulässig (wenn auch faktisch irrelevant) einen Beherrschungsvertrag mit einem herrschenden Unternehmen zu schließen, das nicht zugleich als Aktionär beteiligt ist.58 Auch dann steht § 105 Abs. 1 AktG einer Mitgliedschaft der Repräsentanten dieses herrschenden Unternehmens nicht entgegen. Gleiches gilt bei einer KGaA mit einer natürlichen Person als Komplementär. Eine Sonderbehandlung der KGaA mit einer Komplementärgesellschaft wäre verfehlt. Im Übrigen hat die Frage, ob die hier entwickelte Rechtslage sich auf Konzernsituationen beschränke oder auch außerhalb von Konzernstrukturen gelte, einen engen Anwendungsbereich. Denn wenn die Komplementärgesellschaft unter herrschendem Einfluss steht, handelt es sich immer um eine Konzernstruktur, es sei denn, dem über die Komplementärgesellschaft herrschenden Gesellschafter fehle die konzernrechtliche Unternehmenseigenschaft. Herrschendes Unternehmen im Sinne des Konzernrechts ist ein Gesellschafter nach der vom Bundesgerichtshof entwickelten und bis heute 56
Perlitt in MünchKomm AktG, § 287 Rz. 114. Vgl. hierzu auch K. Schmidt in FS Priester, 2007, 691, 696 ff. mit der Unterscheidung zwischen einem „Integrationsmodell“ mit Herrschaft der Kommanditaktionäre und einem „Zentralverwaltungsmodell“ mit einer Komplementärin als Fremdsteuerungsinstrument. 58 Unbestritten, vgl. nur Hüffer/Koch AktG, § 291 Rz. 8; Thoma in FS HoffmannBecking, 2013, 1237, 1240 ff. 57
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ganz herrschenden Meinung dann, wenn in seiner Person die sog. „Konzerngefahr“ besteht, d.h. wenn er andere unternehmerische Interessen hat, die nach Art und Intensität die Gefahr begründen, zur Förderung seiner anderweitigen Interessen seinen Einfluss auf die abhängige Gesellschaft zu deren Nachteil ausüben.59 Wenn ein herrschendes Unternehmen trotz dieser Konzerngefahr nicht unter den Anwendungsbereich der §§ 105 Abs. 1, 287 Abs. 3 AktG fällt, dann dürfte die Annahme naheliegen, dass ein herrschendes Nicht-Unternehmen von diesen Beschränkungen erst recht nicht erfasst wird. Das wäre nur anders, wenn man annehmen müsste, die Zulassung des herrschenden Unternehmens als Mitglied des Aufsichtsrats der AG/KGaA sei eine besondere Privilegierung der Konzernherrschaft, für die außerhalb von Konzernen kein Raum sei. Dies anzunehmen, liegt jedoch fern. Der Gesetzeszweck von § 105 Abs. 1 AktG und §§ 267 Abs. 3, 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AktG hat mit der Frage der Konzerngefahr und der daraus abgeleiteten Unternehmenseigenschaft nichts zu tun. § 105 Abs. 1 AktG lässt nicht nur Vertreter eines herrschenden Unternehmens als Aufsichtsratsmitglied zu, sondern steht auch der Mitgliedschaft eines herrschenden Gesellschafters ohne Unternehmenseigenschaft nicht entgegen. Gleiches muss folgerichtig für die KGaA gelten, denn Besonderheiten der KGaA, die insoweit eine andere Betrachtung verlangen könnten, sind nicht ersichtlich.
VII. Fazit Das führt insgesamt zu dem Ergebnis, dass herrschender Einfluss auf die KGaA für die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat nicht inhabil macht. Es kommt nicht darauf an, ob dieser herrschende Einfluss gegenüber der KGaA unmittelbar oder gegenüber einer Komplementärgesellschaft besteht, und es kommt auch nicht darauf an, ob der Inhaber dieses herrschenden Einflusses die Voraussetzungen des konzernrechtlichen Unternehmensbegriffs erfüllt oder nicht. Vom Aufsichtsrat ausgeschlossen sind nur der Komplementär selbst und die Mitglieder seines Geschäftsführungs- und Vertretungsorgans.
neue rechte Seite! 59 Vgl. etwa BGHZ 69, 334, 337 – Veba/Gelsenberg; Hüffer/Koch AktG, § 15 Rz. 10 ff.; Krieger in Münch. Hdb. AG, 5. Aufl. 2020, § 69 Rz. 6 ff.
Kapitalmarktrecht zur Abwehr verdeckten Beteiligungsaufbaus
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Kapitalmarktrecht zur Abwehr verdeckten Beteiligungsaufbaus Hanno Merkt
Kapitalmarktrecht zur Abwehr verdeckten Beteiligungsaufbaus durch ausländische Investoren? – Der Fall Li Shufu / Daimler AG HANNO MERKT
I. Einführung Im Februar 2018 erwarb der chinesische Investor Li Shufu, Eigentümer des chinesischen Autokonzerns Geely, 9,69% der Aktien der Daimler AG. Die Transaktion war als Überraschungs-Coup konzipiert.1 Um die Mitteilungspflichten nach §§ 33, 38 WpHG zu umgehen, wurde eine Wertpapierleih-Konstruktion gewählt. Nach Angaben der BaFin lag der aggregierte Bestand Li Shufus an Aktien und Finanzinstrumenten bis zum 23. Februar 2018 nur geringfügig über 3%. Von diesem Bestand aus wurden mehrere Beteiligungsschwellen zugleich überschritten. Li Shufu übte am 23. Februar 2018 die Finanzinstrumente innerhalb des aggregierten Bestands von knapp über 3% aus und erwarb parallel die restlichen 6,19% in einem Gesamtpaket. Die Beteiligung an der Daimler AG wird unmittelbar von der Tenaclou3 Prospect Investment Limited (TPI) gehalten. Bei den Finanzinstrumenten handelte es sich offensichtlich um geliehene Aktien der Daimler AG. Eine Meldung von Morgan Stanley enthält den Hinweis, dass sich Morgan Stanley & Co. International plc am 23. Februar 2018 untertägig 6,19% der stimmberechtigten Aktien der Daimler AG geliehen und an einen Kunden weitergegeben habe (untertägige Saldierung von Transaktionen). Möglicherweise ist es in diesem Zusammenhang auch zu Kettenleihe gekommen, d.h. zur Hintereinanderschaltung mehrerer leihender Banken, was das Nachverfolgen der Leihkette erschweren könnte. Zwar hatte Li Shufu bereits am 23. Februar 2018 das Überschreiten der Schwellen von 3 und 5% nach §§ 33, 34 WpHG gemeldet. Allerdings hätte er nach Auffassung der BaFin bereits einen Tag zuvor, nämlich am 22. Februar 2018 aufgrund ihm zuzurechnender Aktien und Instrumente das Überschreiten der Schwelle von 5% nach § 38 Abs. 1 WpHG melden müssen. 1 Die folgende Sachverhaltsdarstellung ergibt sich im Wesentlichen aus BT-Drucks. 19/ 1126 vom 9. März 2018, BT-Drucks. 19/2419 vom 1. Juni 2018 und BT-Drucks. 19/2771 vom 15. Juni 2018.
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Eine am 4. Mai 2018 erfolgte und diesbezüglich korrigierte Stimmrechtsmitteilung müsse deshalb als verspätet angesehen werden. Dass die erworbene Beteiligung mit 9,69% knapp unter 10% lag, könnte damit zu erklären sein, dass der Erwerber bei Erreichen oder Überschreiten der 10%-Schwelle der Emittentin die mit dem Erwerb verfolgten Ziele und die Herkunft der für den Erwerb verwendeten Mittel mitteilen muss, § 43 Abs. 1 S. 1 WpHG. Zwar ist diese Mitteilungspflicht nicht sanktioniert. Jedoch ist damit zu rechnen, dass diese Anforderung gleichwohl abschreckend wirkt. Vor dem Hintergrund dieser Transaktion stellt sich für den Gesetzgeber die Frage, ob beim Beteiligungsaufbau durch ausländische Investoren zusätzlicher Regulierungsbedarf im Kapitalmarktrecht besteht.
II. Mögliche Gründe für das „heimliche Anschleichen“ eines Investors im Wege des „Empty Voting“ Wählt ein Investor, um den Beteiligungsaufbau möglichst diskret und ohne öffentliche Aufmerksamkeit abzuwickeln, eine Gestaltung, bei der die Inhaberschaft an Stimmrechten ganz oder weitgehend vom wirtschaftlichen Risiko gelöst ist, welches üblicherweise mit dem Halten von Beteiligungen verknüpft ist, spricht man vom sog. „empty voting“.2 Was auf den ersten Blick missbilligenswert erscheint, weil es mit dem Odium des Heimlichen bzw. des Verheimlichens behaftet ist und weil es die „natürliche“ Einheit von Anteilseigentum und Stimmrecht auflöst, kann allerdings ganz unterschiedliche und durchaus nachvollziehbare bzw. billigenswerte Gründe haben.3 Zunächst wird es vielfach darum gehen, negative public relations zu vermeiden, gerade wenn es um den Erwerb von Beteiligungen durch ausländische bzw. nicht-EU-ansässige Investoren geht. Denn wenn die Öffentlichkeit über die Presse Kenntnis vom Beteiligungsaufbau erlangt, beginnen in der Regel rasch Spekulationen über die mit der Beteiligung verfolgten Motive. Und es besteht latent die Befürchtung, dass der Erwerb mit den Interessen des Unternehmens und insbesondere seiner Belegschaft oder mit gesamtwirtschaftlichen nationalen Interessen unvereinbar ist, etwa weil es dem 2 Zum „empty voting“ monografisch etwa Friedeborn Vormitgliedschaftliche Beteiligungstransparenz – Offenlegungspflichten im Vorfeld des Aktienerwerbs, 2014; Mittermeier Empty Voting – Risikoentleerte Stimmrechtsausübung im Recht der börsennotierten Aktiengesellschaft, 2014; Ostler Stimmrecht ohne Beteiligungsinteresse – Erwerb und Ausübung des Aktienstimmrechts ohne das Vermögensinteresse an der Beteiligung, 2009; Tautges Empty Voting und Hidden (Morphable) Ownership – Die Entkopplung des Stimmrechts des Aktionärs einer börsennotierten Aktiengesellschaft von der wirtschaftlichen Betroffenheit, 2015. 3 Zu den möglichen Gründen siehe die Abhandlungen in der vorigen Fn.
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ausländischen Investor um den Aufkauf von Zukunftstechnologien, Produktnachahmung, Wirtschaftsspionage oder um die Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit geht.4 Hinzu kommt, dass es vielfach im Herkunftsland des ausländischen Investors an einem vergleichbaren Marktzugang, wie er bei uns gewährt wird, fehlt.5 Ein weiterer Grund für das Anschleichen wird nicht selten darin liegen, mögliche Abwehrmaßnahmen seitens der Emittentin zu verhindern oder doch zu erschweren. Je größer der Überraschungseffekt ist, desto geringer sind die Möglichkeiten der Emittentin, etwa durch Kapitalmaßnahmen den Beteiligungsaufbau zu verhindern oder doch uninteressant bzw. finanziell unattraktiv zu machen. Ein dritter wichtiger Grund wird oft sein, dass mit dem Bekanntwerden des Erwerbsinteresses der Kurs der Emittentin steigt, wodurch sich der Beteiligungsaufbau verteuert. Dieser Effekt ist besonders stark bei gestrecktem bzw. gestuftem Beteiligungsaufbau festzustellen. Daher wird dem Erwerbsinteressent in der Regel daran gelegen sein, den Paketerwerb „uno actu“ zu vollziehen. Der mit dem Paketerwerb verbundene Kursanstieg ist auch der Grund dafür, dass Anleger einem solchen Paketerwerb in aller Regel positiv gegenüberstehen. Denn der Wert ihres Portfolios steigt und versetzt sie in die Lage, den Kursanstieg „mitzunehmen“.
III. Rechtliche Aspekte Zunächst lassen sich bei der Regulierung des Beteiligungsaufbaus kapitalmarktrechtliche und gesellschaftsrechtliche Ansätze unterscheiden. 1. Kapitalmarktrecht a) Geltende Mitteilungspflichten Nach geltendem Recht bestehen bereits durchaus komplexe Mitteilungspflichten für die Stimmrechtsanteile an deutschen Emittenten, deren Aktien zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind. Da es sich um umgesetztes Richtlinienrecht handelt, das eine Maximalharmonisierung darstellt, bleibt für abweichende Regelungen wenig Spielraum.6 4
Böni/Wassmer BB 2019, 707 ff. Böni/Wassmer (Fn. 4), 707, 709 f. 6 Vgl. ErwGr. 12 der Richtlinie 2013/50/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 zur Änderung der Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des 5
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An erster Stelle zu nennen sind die Mitteilungspflichten nach §§ 33 ff. WpHG mit den Meldeschwellen von 5, 10, 15, 20, 25, 30, 50 und 75% der Stimmrechte. Ein Investor, dessen Stimmrechtsanteil die Schwellenwerte von 3%, 5%, 10%, 15%, 20%, 25%, 30%, 50% oder 75% der Gesamtzahl der Stimmrechte erreicht, überschreitet oder unterschreitet, hat dies dem Emittenten und der BaFin mitzuteilen. Einem Meldepflichtigen werden nicht nur die Stimmrechte aus den Aktien zugerechnet, die er unmittelbar selbst hält, sondern auch aus solchen, bei denen vermutet wird, dass er auf die Stimmrechtsausübung Einfluss hat. Dafür besteht eine Vielzahl von Zurechnungstatbeständen. So differenziert das Gesetz zwischen a) Mitteilungspflichten beim Erwerb von Stimmrechten aus Aktien (§ 33 WpHG), b) Mitteilungspflichten im Fall der Inhaberschaft von Instrumenten, die dem Inhaber bei Fälligkeit entweder ein unbedingtes Recht auf den Erwerb mit Stimmrechten verbundener und bereits ausgegebener Aktien verleihen, oder ein Ermessen in Bezug auf sein Recht auf Erwerb dieser Aktien verleihen, wie etwa Optionen oder Swaps mit sog. physischem Settlement oder sich auf Aktien beziehen und eine vergleichbare Wirkung haben ohne einen Anspruch auf physische Lieferung einzuräumen (§ 38 WpHG7).8 Dazu zählen etwa auf Barausgleich gerichtete Instrumente (z.B. sog. Call Option mit Barausgleich) oder Differenzgeschäfte sowie auf Aktienkörbe (Baskets) und Indizes bezogene Instrumente, ferner Stillhalterpositionen aus sog. Put Optionen. Schließlich bestehen Mitteilungspflichten für Inhaber von Stimmrechten i.S.v. a) und Instrumenten i.S.v. b), wenn die Summe aus a) und b) die Meldeschwellen (mit Ausnahme der drei-Prozent-Schwelle) erreicht bzw. über- oder unterschreitet (§ 39 WpHG). Mithin beträgt nach derzeitiger Rechtslage nur bei einer reinen Aktienposition die Eingangsschwelle drei Prozent (§ 33 WpHG). Für Positionen allein aus Instrumenten (§ 38 WpHG) oder aus Aktien und Instrumenten zusammen (§ 39 WpHG, Zusammenrechnung) gilt hingegen ein Eingangsschwellenwert von jeweils fünf Prozent.
Rates betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, sowie der Richtlinie 2007/14/EG der Kommission mit Durchführungsbestimmungen zu bestimmten Vorschriften der Richtlinie 2004/109/EG Text von Bedeutung für den EWR, ABl. L 294 vom 6. November 2013, 13; dementsprechend auch Schneider in Assmann/Schneider/Mülbert Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Vor §§ 33 Rn. 13; Bayer in MünchKomm Aktiengesetz, 5. Aufl. 2019, WpHG, Rn. 16. 7 Bis 2015 § 25 WpHG, neu gefasst mit Wirkung vom 26. November 2015 durch G v. 20.11.2015, BGBl. I 2029, seither § 38 WpHG, geändert mit Wirkung vom 3. Januar 2018 durch Gesetz vom 23. Juni 2017, BGBl. I 1693. 8 Instrumente im Sinne von § 38 WpHG können insbesondere übertragbare Wertpapiere, Optionen, Terminkontrakte, Swaps, Zinsausgleichsvereinbarungen und Differenzgeschäfte sein, siehe § 38 Abs. 2 WpHG.
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Wie oben angemerkt, basieren die Regelungen des WpHG zu Stimmrechtsmitteilungen auf der Umsetzung der Transparenzrichtlinie),9 die zuletzt durch die Richtlinie 2013/50/EU (Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie)10 geändert wurde. Diese geht grundsätzlich vom Prinzip der Vollharmonisierung aus, d.h. der Herkunftsmitgliedstaat darf in Bezug auf die Pflicht zur Mitteilung bedeutender Stimmrechtsanteile keine strengeren Anforderungen vorsehen, als die in der Transparenzrichtlinie festgelegten, es sei denn, diese sieht insoweit eine ausdrückliche Ausnahme vor.11 So können Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1a UAbs. 4 der Transparenzrichtlinie (1) Mitteilungsschwellen festlegen, die niedriger als jene gemäß Art. 9 Abs. 1 der Transparenzrichtlinie sind oder jene ergänzen, und gleichwertige Mitteilungen in Bezug auf Kapitalanteilsschwellen vorschreiben, (2) strengere Anforderungen für die Ausgestaltung der Meldungen und der Meldefristen vorsehen, und (3) ergänzende Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anwenden, die im Zusammenhang mit Übernahmeangeboten, Zusammenschlüssen und anderen Transaktionen stehen, die die Eigentumsverhältnisse oder die Kontrolle von Unternehmen betreffen. Dazu zählt Erwägungsgrund 12 der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie, insbesondere die Anforderung, zusätzliche Informationen über bedeutende Beteiligungen zu verlangen. Bei den Stimmrechtsmitteilungsregelungen nach dem WpHG sind darunter etwa die weiteren Mitteilungspflichten bezüglich der von dem Meldepflichtigen verfolgten Ziele und der Herkunft der zum Erwerb verwendeten Mittel zu fassen. Zudem können im Zusammenhang mit Übernahmeangeboten, Zusammenschlüssen und anderen Transaktionen, die die Eigentumsverhältnisse oder die Kontrolle von Unternehmen betreffen, strengere Offenlegungsanforderungen vorgesehen werden. b) Einführung von Haltefristen? Man könnte nun erwägen, das Anschleichen ausländischer Investoren durch Verknüpfung der Meldeschwellen mit Haltefristen zu erschweren, sodass nach Erreichen der Meldeschwelle das Wertpapier zunächst für eine bestimmte Frist etwa von zwei Wochen gehalten werden muss, bevor es weitergegeben (abgetreten, übereignet, verliehen etc.) werden darf.12 Haltefristen könnten auch unabhängig von Mitteilungspflichten eingeführt wer9 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG ABl. L 390 vom 31. Dezember 2004, 38. 10 S. Fn. 7. 11 Zur schleichenden Vollharmonisierung im europäischen Kapitalmarktrecht bereits Merkt in FS 25 Jahre WpHG, 2019, 775, 786 f. 12 So auch Schneider (Fn. 7), § 33 Rn. 4.
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den. Dann würde der Lauf der Frist mit der Übernahme (Entleihung) beginnen. Die Frage lautet, ob solche Haltefristen im eingangs geschilderten Fall das Anschleichen verhindert hätten. Soweit Haltefristen dazu dienen sollen, den Beteiligungsaufbau durch einen Dritten zu verhindern, der den so erworbenen Bestand an den eigentlichen Investor weiterveräußert, sollte dem schon durch die geltenden Regelungen begegnet werden können. Denn das Halten von Stimmrechten für Rechnung eines Investors, wird diesem schon jetzt nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG zugerechnet.13 Hinzu kommt, dass Haltefristen den Markt stark belasten und die Liquiditätssteuerung der Investoren nachhaltig beeinträchtigen können. Überdies erscheint die Einführung von Haltefristen als Instrument zur Erschwerung eines verdeckten Beteiligungsaufbaus nur sehr eingeschränkt tauglich. Bereits in der Vergangenheit haben Investoren, die am verdeckten Aufbau einer Beteiligung interessiert waren, die betreffenden Bestände auf so viele Parteien aufgeteilt, dass jede von ihnen unterhalb der relevanten Meldeschwelle geblieben ist, so namentlich im Vorfeld des Übernahmeangebots der Schaeffler KG auf die Continental Aktiengesellschaft 2008.14 Zudem begegnet ein entsprechend starker Einschnitt in die Dispositionsfreiheit der Marktakteure nicht unerheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, insbesondere im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Grundrechte der Investoren im Lichte ihrer nur sehr begrenzten Wirksamkeit. Und schließlich gibt es zahlreiche Investmentfonds bzw. Anlagestrategien, die schon aufgrund Ihrer z.B. indexabbildenden oder anderweitigen passiven Anlagestrategie auf kurzfristige Reaktionsmöglichkeiten angewiesen sind. Dies betrifft nicht nur institutionelle Anleger, sondern beeinträchtigt auch die Vermögensbildung von Kleinanlegern. Zudem hätten Haltefristen auch Auswirkungen auf den Wertpapierleihemarkt und die durch ihn eröffnete Möglichkeit, sich flexibel gegen Kursrisiken abzusichern.15 Zur Vermeidung solcher ungewollter und volkswirtschaftlich nachteiliger Kollateraleffekte müssten Haltefristen zudem zahlreiche Ausnahmetatbestände vorsehen, etwa eine dem Insiderhandelsrecht nachgebildete Selbstbefreiungsoption für den Erwerber (Art. 17 Abs. 7 MMVO), was aber ihre Anwendung in der Praxis erheblich erschweren würde. Bereits das geltende Regelwerk weist eine Komplexität auf, die selbst professionellen Anlegern 13 Diesbezüglich gilt der Grundsatz der doppelten Zurechnung, s. Schneider (Fn. 7), § 34 Rn. 42 mwN. 14 Zum Schaeffler-Fall etwa Baums/Sauter ZHR 173 (2009) 454; Bayer/Scholz ZHR 181 (2017) 861; Bingel/Cascante NZG 2011, 1086; Eichner ZRP 2010, 5; Habersack AG 2008, 817; Weber/Meckbach BB 2008, 2022; Weidemann NZG 2016, 605; Zetzsche EBOR 10 (2009) 115. 15 Zur wirtschaftlichen Bedeutung der Wertpapierleihe s. etwa Ostler (Fn. 2), 79 ff.
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erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Ein deutliches Anzeichen dafür sind die immer wieder zu beobachtenden zahlreichen Korrekturmeldungen.16 Insgesamt erscheint die Einführung von Halte- bzw. Wartefristen zur Erschwerung des „Anschleichens“ nicht überzeugend. c) Absenkung der Meldeschwellen? Eine andere Strategie zur Verhinderung des Anschleichens könnte darin bestehen, die (Eingangs-) Meldeschwelle der Mitteilungspflicht für Instrumente nach § 43 Abs. 1 WpHG (Mitteilung der mit dem Erwerb verfolgten Ziele und der Herkunft der für den Erwerb verwendeten Mittel) von aktuell 10% etwa auf 3% oder sogar 1% abzusenken.17 Selbst wenn die Meldeschwelle bei 1% oder 3% gelegen hätte, wäre es im Eingangsfall nicht untersagt gewesen, ein größeres Aktienpaket oder andere Instrumente, die Stimmrechte vermitteln können, auf einmal zu erwerben und damit mehrere Meldeschwellen zu überspringen. Offen ist zunächst, ob es überhaupt ein grundlegendes Interesse der Markteilnehmer an niedrigeren Meldeschwellen gibt, d.h. immer informiert zu sein, wenn Stimmrechte in Höhe von etwa 1% oder 3% gehalten werden. Entscheidend erscheint, dass eine solche verschärfte Meldepflicht das Anschleichen weder erschwert noch unterbunden hätte. Zwar ist kritisch zu sehen, dass es für Stimmrechte aus unmittelbarem Aktienbesitz einerseits und den mittelbaren Zugriff auf Stimmrechte über andere Instrumente unterschiedliche Eingangsmeldeschwellen gibt. Dies scheint schwer vermittelbar und führt in der Praxis zu Irritationen. Für das Anschleichen ist dies allerdings im Ergebnis nicht ausschlaggebend.18 Schon jetzt wird eine Vielzahl von Stimmrechtsmitteilungen veröffentlicht, die gerade bei Überschreiten der niedrigeren Schwellen geringe Aussagekraft haben. Zudem würde ein weiteres Zunehmen der Datenflut an Stimmrechtsmeldungen eher zu erhöhter Intransparenz anstatt zu gezielt ausgerichtetem Investorenverhalten beitragen.19 Außerdem stellt sich hier die Frage der an das Überschreiten der Schwellen geknüpften Konsequenzen. Soweit es einhelliges Verständnis ist, dass Europa grundsätzlich offen für Beteiligungen von ausländischen Investoren und Kapitalgebern ist und es somit grundsätzlich keiner Genehmigungsoder Untersagungsmöglichkeiten bedarf, kann eine Meldeschwelle lediglich der Kapitalmarktinformation dienen.20 16
Vgl. hierzu etwa Mock AG 2018, 695, 701. So bereits im Nachgang zum Fall Schaeffler (Fn. 14) in der Diskussion, s. Fleischer/ Schmolke NZG 2009, 401, 403 f. 18 Vgl. Schneider (Fn. 7), § 34 Rn. 4 ff., der insoweit die gesetzliche Regelung dahingehend beschreibt sie sei „mehr Loch als Käse“. 19 Mittermeier (Fn. 2), 377. 20 So wohl auch Mittermeier (Fn. 2), 374 ff. 17
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d) Erweiterung der Mitteilungspflicht aus § 43 Abs. 1 WpHG? Denkbar wäre ferner, die Mitteilungspflichten aus § 43 Abs. 1 WpHG zu erweitern. Vorbild könnte die US-amerikanische Regelung in Schedule 13D sein.21 Sie geht in mehrfacher Hinsicht über die deutsche Vorschrift hinaus: Die Meldeschwelle liegt bereits bei 5%, es ist auch jeder bloß wirtschaftliche Inhaber der Aktie (beneficial owner) mitteilungspflichtig, die Meldefrist ist mit 10 Tagen nur halb so lang wie nach § 43 Abs. 1 S. 1 WpHG, die Mitteilungspflicht besteht nicht gegenüber der Emittentin, sondern gegenüber der SEC als Aufsichtsbehörde und es müssen die Art der stimmrechtsvermittelnden Beteiligung und alle im Zusammenhang mit Emittent und Wertpapieren stehenden Vereinbarungen, Verträge, Zusagen und alle daran beteiligten Personen angegeben werden. Darüber hinaus besteht die Pflicht zur Beifügung sämtlicher Vereinbarungen, Verträge und Zusagen als Anlage zur Mitteilung. Der Gedanke einer Erweiterung der Mitteilungspflicht wurde bereits an anderer Stelle kritisch beleuchtet.22 Hier sei nur noch einmal rekapituliert: Zwar erscheint es auf den ersten Blick durchaus sinnvoll, den Katalog der Angaben im Sinne der US-amerikanischen Regelung zu erweitern und ergänzend zu verlangen, dass insbesondere die Art der stimmrechtsvermittelnden Beteiligung, also ggf. eine Wertpapierleihe, sowie ferner alle im Zusammenhang mit Emittent und Wertpapieren stehenden Vereinbarungen, Verträge, Zusagen und alle daran beteiligten Personen angegeben werden. Insbesondere sollte dies mit Art. 3 Abs. 1a UAbs. 4 der Transparenzrichtlinie 2013 vereinbar sein. Vorstellbar wäre nach dem Vorbild des Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetzes von 2012,23 durch das die bis dahin nicht mitteilungspflichtige wichtige Fallgruppe der Rückforderungsansprüche aus Wertpapierdarlehen der Mitteilungspflicht unterworfen wurde, den Anwendungsbereich der Mitteilungspflicht nochmals zu erweitern und bereits die Erteilung des schuldrechtlichen Auftrags des Erwerbers an Dritte, Wertpapiere der Emittentin zu leihen, meldepflichtig zu machen. Ergänzend könnte verlangt werden, Angaben zu Eigentums- und Zurechnungsverhältnissen im Sinne der §§ 33, 34 WpHG zu verlangen. Dadurch ließen sich die Informationen der Meldungen leichter in Zusammenhang bringen und bewerten. Allerdings zeigt die Praxis, dass bereits die Angaben, die nach § 43 Abs. 1 WpHG mitgeteilt werden müssen, oftmals wenig aussagekräftig sind, sondern meist nur formelhafte Angaben enthalten. Zudem können sich die Ziele eines Investors jederzeit ändern. Dies muss er weder mitteilen, noch muss 21
Näher Merkt US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl., 2013, Rn. 1443, 1447 ff. Merkt in FS 25 Jahre WpHG, 2019, 775, 793 f. 23 Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts vom 5.4.2011, BGBl. I, 538. 22
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er die Anteile dann wieder veräußern. Ferner kann eine Mentalreservation des Investors im Hinblick auf seine verfolgten Ziele faktisch nicht verhindert werden. Hinzu kommt, dass eine Erweiterung der Mitteilungspflicht korrespondierend weitere Ausnahmeregelungen erforderlich macht, so namentlich für Wertpapierleihen (genauer: Darlehen), die im gewöhnlichen Geschäftsverlauf von Banken eingegangen werden. Problematisch erscheint darüber hinaus, nach US-Vorbild auch die Offenlegung der Vereinbarungen, Verträge und Zusagen zu verlangen, denn es geht in Deutschland um eine Mitteilung gegenüber der Emittentin, während in den USA eine Vorlage gegenüber der SEC verlangt wird. Eine Vorlage gegenüber der BaFin wäre mit dem Konzept des § 43 WpHG nicht ohne Weiteres vereinbar. Gegen eine Vorlage der Dokumente selbst spricht auch der enorme Mehraufwand bei der Meldung. 2. Gesellschaftsrecht Die gesellschaftsrechtlichen Meldepflichten nach § 21 AktG greifen bei Erreichen einer Beteiligung von 25% der Aktien. Diese Schwelle ist für Zwecke der Kontrolle des Beteiligungsaufbaus uneffektiv. Ein effektives Kontrollinstrument könnte hingegen der sog. Rechtsverlust nach § 44 WpHG sein. Danach bestehen Rechte aus Aktien des Meldepflichtigen nicht für die Zeit, für welche die Mitteilungspflicht nicht erfüllt ist. Hier wäre zu überlegen, ob ein Rechtsverlust bei Erwerb der Wertpapiere qua Aktienleihe für eine gewisse Zeitspanne ab dem Erwerb vorgesehen werden kann. Zu überlegen wäre ferner, ob die Satzung ein geeigneter Ort ist, um optionale Kontrollmechanismen vorzusehen. Hier wäre im Prinzip an das Instrumentarium anzuknüpfen, das nach § 33 WpÜG als zulässige Maßnahmen der Abwehr von Übernahmeangeboten in Betracht kommt, etwa die Ermächtigung (ggf. mit Zustimmung des Aufsichtsrats bzw. der Hauptversammlung) zur Ausgabe neuer Aktien unter Ausschluss des Bezugsrechts, der Erwerb oder die Veräußerung eigener Aktien und die Veräußerung wesentlicher Vermögensgegenstände.24 Schließlich könnte nach US-amerikanischem Vorbild erwogen werden, qua Gesetz oder Satzung vorzusehen, dass die anderen Aktionäre die Aktien des Anlegers, der der Mitteilungspflicht nicht genügt, zum ermäßigten Preis erwerben können oder das insoweit Bezugsrechte eingeräumt werden (sog. flip-in).25 Allerdings ist bei solchen statutarischen Maßnahmen immer zu berücksichtigen, dass die Hauptversammlung dem Paketerwerb in der Regel grundsätz24
Näher zu diesem Instrumentarium etwa Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/ Pötzsch/Schneider WpÜG-Kommentar, 2. Aufl., 2013, § 33 WpÜG Rn. 153 ff. 25 Schneider (Fn. 7), § 44 Rn. 106; zum flip-in Merkt US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl., 2013, Rn. 1510.
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lich positiv gegenüberstehen wird, weil er – jedenfalls zunächst – zu einem Kursanstieg führt, siehe oben. Dies ist insbesondere aus Übernahmefällen bekannt. Daher sollte der präventive Effekt solcher Maßnahmen nicht überschätzt werden. 3. Schuldrecht a) Vorverlagerung der Mitteilungspflicht Vorstellbar wäre, nach dem Vorbild des Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz von 2012,26 das die bis dahin nicht mitteilungspflichtige wichtige Fallgruppe der Rückforderungsansprüche aus Wertpapierdarlehen der Mitteilungspflicht unterwarf, den Anwendungsbereich der Mitteilungspflicht nochmals zu erweitern bzw. zeitlich vorzuverlagern und bereits die Erteilung des schuldrechtlichen Auftrags des Erwerbers an Dritte, Wertpapiere der Emittentin zu leihen, meldepflichtig zu machen. Noch weiter würde es gehen, jegliche Absprache zur Vorbereitung der Leihe mitteilungspflichtig zu machen. Ziel müsste dann sein, den Erwerb an bestimmten Unternehmen kontrollieren und ggf. wie bei Instituten untersagen zu können. Erstens begegnet eine solche einschränkende Regelung aus europarechtlicher Sicht erhebliche Bedenken. Zweitens stellt sich die Frage der Konsequenz für den hier beleuchteten Fall. Der chinesische Investor hätte zwar den beabsichtigen Erwerb anzeigen müssen, der Erwerb selbst hätte jedoch allein dadurch nicht verhindert werden können. Denn die Untersagung einer solchen Beteiligung könnte auch dann nur aufgrund Bedenken für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gerechtfertigt sein. Diese sind hier – worauf gleich unter III. 4. noch näher einzugehen sein wird – jedoch nicht ersichtlich. Soll eine Absichtsanzeige lediglich der Transparenz dienen, scheint sie ein wenig taugliches Mittel. Zum einen wäre mit einer Flut von Absichtsanzeigen zu rechnen. Diese würden die Transparenz über die wahren Beteiligungsverhältnisse verschleiern. Wenn jeder, der beabsichtigt in irgendeiner Form direkt oder indirekt 3% der Stimmrechtsanteile an einem börsennotierten Unternehmen zu erwerben, eine Anzeige veröffentlichen müsste, egal, ob diese Absicht sich verwirklicht, wäre die Datenflut kaum beherrschbar. b) Rückgabepflicht zum Record Date Einen anderen Weg zur Vermeidung des Anschleichens geht man in der Praxis des Asset Managements. Bekanntlich ist es gängige Praxis, dass Inves26 Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts vom 5.4.2011, BGBl. I, 538.
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toren ihre Aktien über einen Asset Manager zum Zweck der Erhöhung der Portfolio-Rendite verleihen lassen.27 Allerdings gehört zu den Aufgaben der Portfolioverwaltung auch ein aktives Management, was bedeutet, dass der Asset Manager das Stimmrecht im Interesse des Investors ausübt. Damit würde sich eine Leihe, bei der die Stimmrechtsausübung dem Entleiher übertragen wird, nicht vereinbaren lassen. Hier ist es verbreitete Praxis, dass der Asset Manager mit dem Entleiher vereinbart, dass die Aktien im Falle von Corporate Action, d.h. insbesondere, wenn die Hauptversammlung ansteht, punktuell zum record date an den Asset Manager zurückgegeben werden.28 Anschließend wird sie wieder dem Entleiher gegeben. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass Aktieninhaberschaft und Stimmrecht nicht auseinanderfallen. Man könnte überlegen, ob diese Praxis gesetzlich verbindlich vorgeschrieben werden kann. Mit der Transparenzrichtlinie von 2013 sollte sich das vereinbaren lassen. Denn es handelt sich bei einer solchen Pflicht zur Rückgabe nicht um eine Regelung betreffend Mitteilungspflichten über Beteiligungen, weshalb der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie nicht berührt ist. Allerdings würde die Vertragsautonomie durch eine gesetzliche Pflicht empfindlich eingeschränkt. Welchen Anteil diese Form des Asset Managements am gesamten Aktienleihemarkt hat, ist unklar. Daher stellt sich auch die Frage, ob die vertragliche Praxis nicht ausreicht. Eine Kompromisslösung könnte darin bestehen, dass die Rückgabe zum record date zum Gegenstand der Aktionärsentscheidung bzw. der Satzung gemacht wird. So wäre denkbar, eine gesetzliche Rückgabepflicht mit einer Öffnungsklausel zugunsten der Satzung zu koppeln. Die Hauptversammlung könnte dann beschließen bzw. die Satzung vorsehen, dass von der gesetzlichen Pflicht zur Rückgabe abgesehen wird. Umgekehrt könnte der Gesetzgeber vorsehen, dass eine Rückgabepflicht von den Aktionären beschlossen bzw. in der Satzung vorgesehen werden darf. Eine solche Regelung würde am geltenden Recht nichts ändern, hätte aber eine gewisse Appellwirkung. Unklar ist allerdings, inwieweit entsprechende Regelungen zur Rückgabe am record date die Attraktivität der Aktienleihe beeinträchtigen würden und inwieweit eine mögliche Beeinträchtigung dazu führen würde, dass man auf DerivatStrukturen ausweicht. 4. Mögliche Ausweichstrategien Regulatorische Maßnahmen zur Kontrolle bzw. Erschwerung des Beteiligungsaufbaus in Gestalt der Wertpapierleihe, wie sie im vorliegenden Sach27 28
Zur Wertpapierleihe ausführlich Bachmann ZHR 173 (2009), 596. Zum record date capture etwa Ostler (Fn. 2), 87 ff.
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verhalt genutzt wurden, fordern natürlich – wie auch schon früher – die Phantasie und die Kreativität der Rechtsberater von Investoren und Banken heraus, die nach neuen Ausweichstrategien Ausschau halten werden. In diesem Zusammenhang ist unter anderem an den Beteiligungsaufbau im Wege des Dark Trading zu denken.29 Hier wäre zu prüfen, ob die regulatorischen Vorkehrungen gegen Dark Trading in der MiFIR, die sich auf post-trade-Transparenz beschränken („Double Volume Cap Mechanism“: Max. 4% des Handels der letzten 12 Monate und 8% des gesamten Aktienbestands einer Emittentin darf im Dark Trade gehandelt werden)30 ausreichen. 5. Außenwirtschaftsrecht Die im Vorangehenden erörterten Maßnahmen gegen ein Anschleichen sind unabhängig von der Person des Erwerbers darauf gerichtet, die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts und den Schutz der einzelnen Anleger zu gewährleisten. Geht es hingegen darum, die öffentliche Ordnung und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland im Fall des Anteilserwerbs durch einen Nicht-EU-Ausländer zu schützen, ist das Außenwirtschaftsrecht die zutreffende Regelungsebene und -materie. Das Außenwirtschaftsrecht sieht eine Anteilseignerkontrolle in Gestalt einer Kontrolle des Erwerbs von Beteiligungen vor. So hat ein inländisches Unternehmen der Bundesbank zu melden, wenn einem Ausländer oder mehreren wirtschaftlich verbundenen Ausländern zusammen mindestens 10% der Anteile oder Stimmrechte an dem inländischen Unternehmen zuzurechnen sind, und wenn mehr als 50% Prozent der Anteile oder Stimmrechte an diesem Unternehmen einem von einem Ausländer oder einem von mehreren wirtschaftlich verbundenen Ausländern abhängigen inländischen Unternehmen zuzurechnen sind (§ 65 Außenwirtschaftsverordnung, AWV).31 Ferner kann das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie prüfen, ob es die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet, wenn ein Nicht-EU-Ausländer an einem Unternehmen einer der in der AWV aufgelisteten besonders sensiblen Branchen 10% der Stimmrechte (§ 55 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 56 Abs. 1 Nr. 1 AWV)32 und an sonstigen Unternehmen 25% 29 Siehe zum Dark Trading jetzt die Freiburger Dissertation von Salger Dark Trading – Shedding Light on US and EU Regulation oft he Securities Market´s Dark Sektor, 2020. 30 Art. 5 Abs. 1 lit. a) und b) der Verordnung (EU) Nr. 600/2014 vom 15.5.2014 über Märkte für Finanzdienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012, ABl. EU L 173/84 vom 12.6.2014. 31 Außenwirtschaftsverordnung vom 2. August 2013, BGBl. I 2865. 32 Die 10%-Schwelle bei Unternehmen sensibler Branchen wurde neu eingeführt durch die Verordnung vom 19.12.2018, BAnz AT vom 28.12.2018, dazu Annweiler NZG 2019, 528; Slobodenjuk BB 2019, 202; Johannsen IR 2018, 225; Asbrand/Nehring-Köppl IWRZ 2018, 63.
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der Stimmrechte (§ 56 Abs. 1 Nr. 2 AWV) erwirbt. Der Erwerb oder die Ausübung der Stimmrechte kann ggf. untersagt bzw. die Stimmrechtsausübung kann eingeschränkt werden. Angesichts dieser spezifisch außenwirtschaftsrechtlichen Kontroll- und Untersagungsbefugnisse erscheint es höchst problematisch, auf den außenwirtschaftsrechtlichen Sachverhalt mit einer Verschärfung der kapitalmarktrechtlichen Beteiligungstransparenz reagieren zu wollen, wie das im politischen Raum Sympathie findet. Etwaigen Missständen des Beteiligungserwerbs durch ausländische Investoren lässt sich vielmehr angemessen und systemkonform nur im Rahmen des Außenwirtschaftsrechts und dem dort geltenden Instrumentarium begegnen. Das zentrale Problem besteht gegenwärtig vor allem darin, dass inländische Investoren im Ausland gegenüber ausländischen Investoren im Inland nicht selten benachteiligt sind. Ziel muss es daher sein, die Chancen und Möglichkeiten für inländische wie ausländische Investoren einander anzugleichen. Ein nationaler Ansatz ist hier unzureichend. Dadurch würden bestehende nationale Unterschiede und Ungleichbehandlungen nur zementiert bzw. vertieft. Vorzugswürdig erscheint es, auf europäischer Ebene anzusetzen und das erforderliche internationale level playing field mit gleichen Investitionsmöglichkeiten für eigene wie fremde Investoren durch Schaffung eines EU-Außenwirtschaftsrechts in Gestalt eines EU-Investitionskontrollverfahrens herzustellen. Ob Beteiligungstransparenz hierzu einen Beitrag leisten kann, wäre zu prüfen, erscheint aber naheliegend. Allerdings fehlt es bislang an einem effektiven Schutzinstrumentarium. Zwar einigte man sich Ende 2018 zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung der EU auf die Einrichtung eines Kooperationsmechanismusses sowie eines wechselseitigen Informationsaustauschs zwischen den Mitgliedstaaten und der EU.33 Allerdings sollten die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet werden, eine Investitionskontrolle einzuführen. Im April 2019 trat dann die Verordnung zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Union in Kraft.34 Danach bleibt es allein die Aufgabe der Mitgliedstaaten, gesetzliche Investitionskontrollmaßnahmen einzuführen, wobei, anders als Deutschland, eine Reihe wichtiger Mitgliedstaaten auf die Einführung verzichten werden. Die EU-Kommission zieht sich insoweit auf eine rein beratende Funktion zurück.35 Zudem besteht die Befürchtung, dass regulatorische Maßnahmen auf europäischer Ebene genutzt werden, um unter dem Vorwand der Gefahr für die Sicherheit und öffentliche Ordnung, industriepolitisch motivierte Unter33
Dazu Heinrich/Jalinous/Staudt AG 2019, 145, 146. VO vom 19. März 2019, ABl. 2019 L 79 I, 1 vom 21. März 2019; dazu Böni/Wassmer (Fn. 4), 707, 711; Walter RIW 2019, 473, 476 ff. 35 Böni/Wassmer (Fn. 4), 707, 711. 34
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sagungen von Unternehmensübernahmen im Bereich von Schlüsseltechnologien auszusprechen. Der damit angesprochene mitgliedstaatliche Investitionsprotektionismus könnte dazu beitragen, dass Nicht-EU-Staaten Gegenmaßnahmen ergreifen und ihrerseits regulative Hürden für ausländische Investitionen errichten.36
IV. Thesen 1. Das Anschleichen ausländischer Investoren an deutsche börsennotierte Aktiengesellschaften wirft für den Gesetzgeber die Frage auf, ob beim Beteiligungsaufbau durch ausländische Investoren zusätzlicher Regulierungsbedarf im Kapitalmarktrecht besteht. Allerdings bestehen bereits nach geltendem Recht durchaus komplexe Mitteilungspflichten für die Stimmrechtsanteile an deutschen Emittenten, deren Aktien zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind. 2. Die Einführung von Haltefristen stellt einen starken Einschnitt in die Dispositionsfreiheit der Marktakteure dar und begegnet nicht unerheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, insbesondere im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Grundrechte der Investoren im Lichte ihrer nur sehr begrenzten Wirksamkeit. 3. Auch zusätzliche Meldeschwelle bei 1% oder 3% können nicht verhindern, dass größere Aktienpakete oder andere Instrumente, die Stimmrechte vermitteln können, auf einmal erworben und damit mehrere Meldeschwellen gleichzeitig übersprungen werden. 4. Erweiterte Mitteilungspflichten erweisen sich nach den Erfahrungen der Praxis wenig wirkungsvoll, weil bereits die vorgeschriebenen Mitteilungen oftmals wenig aussagekräftig sind, sondern meist nur formelhafte Angaben enthalten. Zudem können sich die Ziele eines Investors jederzeit ändern. 5. Optionale Schutzmaßnahmen in Gestalt von Satzungsregelungen müssen berücksichtigen, dass die Hauptversammlung dem Paketerwerb in der Regel grundsätzlich positiv gegenüberstehen wird, weil er – jedenfalls zunächst – zu einem Kursanstieg führt. Daher sollte der präventive Effekt solcher Maßnahmen nicht überschätzt werden. 6. Auch eine zeitliche Vorverlagerung der Mitteilungspflicht bringt nicht viel, denn der beabsichtigen Erwerb muss zwar angezeigt werden, der Erwerb selbst jedoch lässt sich allein dadurch nicht verhindern. 36
Böni/Wassmer (Fn. 4), 707, 711.
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7. Bei der gesetzlich vorgeschriebenen Pflicht zur Rückgabe der Aktien zum record date ist unklar, inwieweit entsprechende Regelungen die Attraktivität der Aktienleihe beeinträchtigen würden und inwieweit eine mögliche Beeinträchtigung dazu führen würde, dass man auf Derivat-Strukturen ausweicht. 8. Außerdem sind stets Ausweichstrategien zu bedenken, etwa der Erwerb im Wege des Dark Trading, der nach der MiFiR nur sehr beschränkt reguliert ist. 9. Geht es darum, die öffentliche Ordnung und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland im Fall des Anteilserwerbs durch einen Nicht-EUAusländer zu schützen, ist das Außenwirtschaftsrecht die zutreffende Regelungsebene und -materie. Angesichts der spezifisch außenwirtschaftsrechtlichen Kontroll- und Untersagungsbefugnisse erscheint es höchst problematisch, auf den außenwirtschaftsrechtlichen Sachverhalt mit einer Verschärfung der kapitalmarktrechtlichen Beteiligungstransparenz reagieren zu wollen, wie das im politischen Raum Sympathie findet.
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A Nexus of Smart Contracts? Gesellschaftsrechtspraxis und -theorie im Spiegel der Blockchain FLORIAN MÖSLEIN In Rahmen ihrer Blockchain-Strategie adressiert die deutsche Bundesregierung auch gesellschaftsrechtliche Fragen: Sie hält für denkbar, „dass der Einsatz und die Nutzung der Blockchain-Technologie im Bereich Gesellschaftsrecht erhebliche Erleichterungen, etwa bei der Anteilsverwaltung (Anteilsabwicklung, Wahrnehmung von Anteilsrechten o.ä.), mit sich bringt“, und will daher „die Anwendung der Blockchain-Technologie im Gesellschaftsrecht im Rahmen eines externen Gutachtenauftrags“ prüfen.1 Ebenso nimmt die europäische Kommission das Schnittfeld von Blockchain und Gesellschaftsrecht intensiv in den Blick. Sie erwägt „additional company law measures to facilitate cross-border expansion and scale-up by SMEs“;2 zugleich probagiert das High-Level Forum on Capital Markets Union gesellschaftsrechtliche Maßnahmen, um unternehmensinterne Prozesse mit Hilfe von Distributed-Ledger-Technologien effizienter zu gestalten.3 Die Digitalisierung dürfte somit weitere gesellschaftsrechtliche Reformschritte auslösen, künftig nicht mehr nur mit Blick auf längst etablierte Telekommunikationstechnologien,4 sondern zu innovativen Blockchain1 BMWi/BMF Blockchain-Strategie der Bundesregierung – Wir stellen die Weichen für die Token-Ökonomie, 18.9.2019, 14, abrufbar unter https://www.bmwi.de/Redaktion/ DE/Publikationen/Digitale-Welt/blockchain-strategie.pdf?__blob=publicationFile&v=10. 2 EU-Kommission An SME Strategy for a sustainable and digital Europe, COM(2020) 103 final, 9. 3 High Level Forum on the Capital Markets Union A new Vision for Europe’s capital markets – Final Report, June 2020, 80 f., abrufbar unter https://europa.eu/!gU33hm; allgemeine Informationen zu den Tätigkeitsschwerpunkten dieses Forums unter https:// ec.europa.eu/info/publications/cmu-high-level-forum_en. 4 So noch der Ansatz der RL (EU) 2019/1151 zur Änderung der RL (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht, ABl. L 186 v. 11.7.2019, 80; explizit in diesem Sinne der vorbereitende Bericht der Informal Company Law Expert Group (ICLEG) Report on digitalisation in company law, März 2016, abrufbar unter http://ec.europa.eu/justice/civil/files/company-law/icleg-report-ondigitalisation-24-march-2016_en.pdf , 6: „By digitalisation, we mean the representation of communication in writing or sound by electronic means, and the concept thus concerns electronic communication“. Kritisch zu diesem engen Verständnis Möslein European Company Law 16 (2019), 4.
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und Distributed-Ledger-Technologien. Da digitale Technologien häufig ineinandergreifen, wird die (jüngst coronabedingt erfolgte, vorerst nur temporäre) Einführung rein virtueller Hauptversammlungen5 die aktienrechtliche Relevanz der Blockchain-Technologie weiter erhöhen. Einem neugierigen Forschergeist wie Christine Windbichler bleiben solche technologiegetriebenen Veränderungen selbstverständlich nicht verschlossen. Vielmehr regen sie zum Vor-, Nach- und Weiterdenken an, noch lange bevor sie im geltenden Recht Niederschlag finden. Ebendiese Neugier prägte die Werkstatt-Runden, die Christine Windbichler über viele Jahre an der Humboldt-Universität zu Berlin angeboten hat. Indem sie dem rechtswissenschaftlichen Nachwuchs Kreativ- und Innovationsmethoden lehrten, waren diese inspirierenden Runden „Humboldts Wagniswerkstätten“ im besten Sinne.6 Mit dort erlernter Neugier beleuchtet dieser Beitrag an das Schnittfeld von Blockchain und Gesellschaftsrecht. Obwohl diese Technologie (auch) die Corporate Governance grundlegend zu verändern verspricht,7 ist jenes Schnittfeld trotz der genannten rechtspolitischen Initiativen hierzulande noch wenig erforscht,8 ungleich weniger als die finanzmarktrechtlichen Bezüge der Blockchain.9 In einem so frühen Stadium mag das Werkstück noch ungehobelt erscheinen – aber wer, wenn nicht die Jubilarin, wäre offen für einen solchen Werkstattbericht? Die Vertragsbündeltheorie, die sie so oft beschäftigt,10 schillert im Spiegel der Blockchain in neuen Facetten, die das Gesellschaftsrecht grundlegend herausfordern: „The nexus of smart contracts on the blockchain represents a fundamental challenge to business association law“.11
5 Vgl. § 1 Abs. 2 des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus; dazu näher etwa Noack/Zetzsche AG 2020, 1; Schäfer NZG 2020, 481; Tröger BB 2020, 1091. 6 Inzwischen haben Veranstaltungen unter genau dieser Bezeichnung Eingang in das Vorlesungsverzeichnis der Humboldt-Universität gefunden, vgl. unter https://www.huberlin.de/de/wirtschaft/hww. 7 In diesem Sinne etwa Yermack Review of Finance 21 (2017), 7. 8 S. jedoch Beurskens in FS Seibert, 2019, 71; Mann NZG 2017, 1014; Schwintowski/Klausmann/Kadgien NJOZ 2018, 1401; allgemein zu Digitalisierung und Gesellschaftsrecht etwa Möslein ZIP 2018, 204; Noack ZHR 183 (2019), 105; Paal ZGR 2017, 590; Sattler BB 2018, 2243; Spindler ZGR 2018, 17; Weber/Kiefner/Jobst NZG 2018, 1131; Zetzsche AG 2019, 1. 9 Dazu näher unten, einleitend zu II. 10 Vgl. etwa Windbichler in Münkler/Fischer (Hrsg.) Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, 2002, 165, 172; dies. in FS 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2010, 1079, 1084; dies. Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, 17 f. (bes. Fn. 53). 11 Rodrigues Iowa L. Rev. 104 (2019), 679, 728; zum Begriff außerdem Finck Blockchain Regulation and Governance in Europe, 2019, 22; s. ferner De Filippi/Wright Blockchain and the Law, 2018, 136; Hacker/Thomale in Hacker/Lianos/Dimitropoulos/Eich (Hrsg.), Regulating Blockchain, 2019, 229, 233 f.
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I. Technische Grundlagen Um die Bedeutung der Blockchain für Gesellschaftsrechtspraxis und -theorie einschätzen zu können, sind die technischen Grundlagen zumindest in aller Kürze12 zu skizzieren. 1. Verteilte Kassenbücher als Vertrauensarchitektur Die Blockchain kann man sich als dezentrale Datenbank vorstellen, in der Einträge in chronologisch sortierten, verknüpften Blöcken gruppiert sind.13 Die einzelnen Vorgänge werden in diesen Blöcken transparent und unveränderbar abgebildet.14 Dadurch entsteht ein elektronisches Register für digitale Datensätze, Ereignisse und Transaktionen, dessen Verwaltung keiner zentralen Stelle obliegt, sondern allen Teilnehmern des verteilten Rechnernetzes gemeinsam.15 Distributed-Ledger-Technologien ermöglichen allgemein die Errichtung von Systemen, die ohne zentrale Steuerungsautorität verlässlich funktionieren, selbst wenn sich die Teilnehmer untereinander nicht kennen und vertrauen.16 Ihre verteilten Kassenbücher bilden eine gemeinsame, intermediärsunabhängige Vertrauensarchitektur.17 Konsensmechanismen, die unberechtigte Änderungen unter Einsatz kryptographischer Verfahren ausschließen, gewährleisten Einheitlichkeit und Fälschungssicherheit. Zu diesem Zweck beugt eine Art Benutzungsentgelt missbräuchlichen Transaktionen vor, entweder in Form von Rechenaufwand für das Lösen bestimmter Aufgaben (sog. Proof of Work) oder in Form von Vermögensaufwand durch Einsatz von Kryptowährungen (sog. Proof of Stake).18 Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Zugänglichkeit: Während sog. open bzw. public blockchains grundsätzlich freien Zugang gewähren, bekommen in sog. private bzw. permissioned blockchains 12 Ausführlicher zuletzt etwa Kuntz AcP 220 (2020), 52, 55–70; ferner bspw. Paulus/ Matzke ZfPW 2018, 431, 432–437; Kaulartz, CR 2016, 474; Roßbach in Möslein/Omlor, FinTech-Handbuch, 2019, § 4; etwas breiter auch: Möslein in FS 25 Jahre WpHG, 2019, 465, 466–470. 13 Walport Distributed Ledger Technology: beyond block chain – A report by the UK Government Chief Scientific Adviser, 2015, abrufbar unter https://www.gov.uk/govern ment/uploads/system/uploads/attachment_data/file/492972/gs-16-1-distributed-ledgertechnology.pdf, 17. 14 S. etwa BaFin Stichwort Blockchain-Technologie, abrufbar unter https://www.bafin. de/DE/Aufsicht/FinTech/Blockchain/blockchain_node.html. 15 Condos/Sorrell/Donegan Blockchain Technology: Opportunities and Risks, 2016, abrufbar unter http://legislature.vermont.gov/assets/Legislative-Reports/blockchain-tech nology-report-final.pdf, 6 f. 16 Hinckeldeyn Blockchain-Technologie in der Supply Chain, 2019, 5. 17 In diesem Sinne Werbach The Blockchain and the New Architecture of Trust, 2018. 18 Näher Roßbach in Omlor/Möslein (Hrsg.), FinTech-Handbuch, 2019, § 4 Rn. 45–66.
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nur ausgewählte Teilnehmer die Befugnis eingeräumt, „Transaktionen zu veranlassen, Transaktionen zu validieren und neue Blöcke zu schaffen“.19 2. Selbstdurchsetzende Abreden per Quellcode Auch Regeln und Sanktionen lassen sich auf dieser technischen Grundlage abbilden bzw. automatisiert durchsetzen. Vergleichbare Möglichkeiten bestehen zwar auch bei mechanischen Konstrukten, etwa herkömmlichen Verkaufsautomaten, die Waren erst nach Zahlung des Kaufpreises ausgeben.20 Auf Grundlage der Blockchain lassen sich aber ungleich komplexere Regeln und Durchsetzungsmechanismen implementieren, zudem in dezentralisierter, ortsungebundener Form und mit integriertem Abwicklungssystem: Die Technologie ermöglicht, „Bedingungen für die Durchführung von Transaktionen zu formulieren, die Durchführung zu überwachen und Konditionen durchzusetzen, auf die sich die beteiligten Parteien zuvor geeinigt haben“.21 Solche selbstdurchsetzenden, im Quellcode der Blockchain abgebildeten Abreden werden als Smart Contracts bezeichnet.22 Sie versprechen, die Wirtschaft stärker zu verändern als jede andere Eigenschaft der Blockchain.23 Der in den 1990er Jahren von Nick Szabo geprägte Begriff wird allerdings unterschiedlich definiert.24 Zudem ist er mißverständlich, weil Smart Contracts nicht zwangsläufig Verträge im Rechtssinne sind. Sie lösen technische, aber nicht notwendig rechtswirksame Veränderungen aus.25 Allerdings können sie rechtlich relevante Handlungen steuern, kontrollieren und dokumentieren.26 Zwei Eigenheiten sind charakteristisch: Smart Contracts 19
Kuntz AcP 220 (2020), 52, 69. Swan Blockchain: Blueprint for a New Economy, 2015, 16. 21 S. nochmals Kuntz AcP 220 (2020), 52, 65. 22 Entsprechend titeln bspw. die Sammelbände von Fries/Paal (Hrsg.), Smart Contracts, 2019; und Braegelmann/Kaulartz (Hrsg.), Rechtshandbuch Smart Contracts, 2019. 23 N.N. Disrupting the Trust Business, The Economist v. 15.7.2017, abrufbar unter https://www.economist.com/the-world-if/2017/07/15/disrupting-the-trust-business. 24 Szabo selbst spricht spricht teils von Software-Transaktionsprotokollen, die Vertragsbedingungen ausführen, teils von einer Reihe von Versprechen in digitaler Form, einschließlich der Protokolle, mit deren Hilfe die Parteien diese Versprechen einhalten, vgl. ders. Smart Contracts, 1994, abrufbar unter http://www.fon.hum.uva.nl/rob/Courses/ InformationInSpeech/CDROM/Literature/LOTwinterschool2006/szabo.best.vwh.net/ smart.contracts.html; ders. Smart Contracts: Building Blocks for Digital Markets, 1996, abrufbar unter http://www.fon.hum.uva.nl/rob/Courses/InformationInSpeech/CDROM/ Literature/LOTwinterschool2006/szabo.best.vwh.net/smart_contracts_2.html. 25 So etwa Glatz in Breidenbach/ders. (Hrsg.), Rechtshandbuch Legal Tech, 2018, 112 (5.3, Rn. 12: „in einem faktischen Sinne verbindlich“); Heckelmann NJW 2018, 504, 505; ähnlich Linadartos K&R 2018, 85, 91; D. Paulus/Matzke ZfPW 2018, 431, 433 f.; Sattler BB 2018, 2243, 2249; Schrey/Thalhofer NJW 2017, 1431. 26 Braegelmann/Kaulartz in dies. (Hrsg.), Rechtshandbuch Smart Contracts, 2019, Rdn. 17–29; vgl. ferner Simmchen MMR 2017, 162, 163; Kaulartz/Heckmann CR 2016, 618, 619 und 621; Wagner BB 2017, 898, 901. 20
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können vereinbarte Regeln und Sanktionen erstens technisch abbilden und zweitens automatisch umsetzen.27 Sie dienen insofern als ein funktionales Äquivalent zu rechtlichen Verträgen, das zuverlässige Durchsetzung verspricht, auf Grund stärkerer Formalisierung aber wenig Wertungsspielräume eröffnet.28 Wegen dieser Funktionalität bezeichnet man die Blockchain als „regulatory technology“, d.h. als Technologie „that can be used both to define and incorporate legal provisions into code, and to enforce them”.29
II. Einsatzpotenzial in der Gesellschaftsrechtspraxis Das Potenzial der Blockchain und etwaige rechtliche Anpassungsbedarfe werden für verschiedene Anwendungsbereiche diskutiert.30 Im Vordergrund stehen vorerst wertpapier- und kapitalmarktrechtlichen Fragen rund um Initial Coin Offerings, Security Tokens und digitale Schuldverschreibungen.31 Unter gemeinsamer Federführung von BMF und BMJV entsteht derzeit ein Gesetzesentwurf, der die elektronische Begebung von Schuldverschreibungen über die Blockchain ermöglichen soll.32 Die gesellschaftsrechtliche Diskussion steckt demgegenüber noch in den Startlöchern, dürfte durch die o.g. rechtspolitischen Initiativen aber schon bald eine Initialzündung erfahren.33 Was das Einsatzpotenzial der Blockchain innerhalb der Unternehmung angeht, lassen sich grob drei Stufen zunehmenden Technologieeinsatzes unterscheiden, nämlich die Identifikation von Gesellschaftern, die Durchsetzung gesellschaftsrechtlicher Pflichten sowie die Etablierung eigenständiger organisationaler Infrastrukturen.
27 Ausführlich Möslein ZHR 183 (2019) 254, 264–266; vgl. außerdem ders. in Braegelmann/Kaulartz (Hrsg.), Rechtshandbuch Smart Contracts, 2019, Rdn. 23–28. 28 Vgl. nochmals Möslein ZHR 183 (2019) 254, 269. 29 de Filippi/Hassan Blockchain Technology as a Regulatory Technology: From Code Is Law to Law Is Code, First Monday 2016, 21, abrufbar unter http://firstmonday.org/ojs/ index.php/fm/article/view/7113/5657 (Hervorh. i. Orig.); vgl. außerdem Micheler/Whaley EBOR 20 (2019), 1. 30 Für einen praxisbezogene Einführung vgl. D. Tapscott/A. Tapscott The Blockchain Revolution, 2016. 31 S. zu diesen Fragen etwa: Casper BKR 2019, 209; Chatard/Mann NZG 2019, 567; Heppekausen BKR 2020, 10; Kalss/Ebner EuZW 2019, 433; Kleinert/Mayer EuZW 2019, 857; Möslein in Festschrift 25 Jahre WpHG, 2019, 465; Patz BKR 2019, 435; Spindler WM 2018, 2109; Veil ZHR 183 (2019), 346; Weitnauer BKR 2018, 231. 32 Aus den Vorarbeiten vgl. vor allem das gemeinsame Papier BMF/BMJV (Hrsg.) Eckpunkte für die regulatorische Behandlung elektronischer Wertpapiere und Krypto-Token, vom 11.3.2019, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungverfren/ Dokumente/Eckpunkte_Krypto_Blockchain.pdf?__blob=publicationFile&v=3. 33 S. Nachw. oben, Fn. 1 bis 3.
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1. Identifikationsmechanismus Aufgrund ihrer Vorzüge als dezentrale, transparente Datenbank verspricht die Blockchain die einfache, eindeutige Ermittlung von Gesellschaftern. Die Bedeutung einer solchen Identifikation vor allem bei börsennotierten Gesellschaften mit grenzüberschreitendem Aktionärskreis betont neuerdings die zweite EU-Aktionärsrechte-Richtlinie.34 Die Wahrnehmung von Aktionärsrechten, etwa Stimm-, Informations- oder Klagerechten setzt nämlich ebenso wie umgekehrt die Durchsetzung gesellschaftsrechtlicher Ansprüche die eindeutige Identifikation des jeweils berechtigten bzw. verpflichteten Anspruchsstellers bzw. -gegners voraus. Die vorherrschende Verwahrpraxis erschwert diese Identifikation jedoch, weil Aktien nicht direkt gehalten werden, sondern über eine Kette von Intermediären (den sog. Verwahrungsbaum).35 Die Richtlinie operiert deshalb mit kaskadenartigen Informationspflichten. So formuliert die deutsche Umsetzung in § 67d Abs. 1 AktG, die börsennotierte Gesellschaft könne „von einem Intermediär, der Aktien der Gesellschaft verwahrt, Informationen über die Identität der Aktionäre und über den nächsten Intermediär verlangen“. Je verästelter und vielgliedriger die Verwahrungsbäume, desto komplexer, aufwändiger und fehleranfälliger gerät freilich die intermediärsbasierte Identifikation. Der Anpassungsaufwand der IT-Systeme der Emittenten und Intermediäre ist so groß, dass der Gesetzgeber sich (trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist) gezwungen sah, den Anwendungsbeginn der einschlägigen Vorschriften gem. Art. 26j Abs. 4 EGAktG eigens hinauszuschieben.36 Als dezentrale, transparente Datenbank birgt die Blockchain das Potenzial, diesen Aufwand zu reduzieren: Sind die Aktionäre in einer solchen Datenbank verzeichnet und werden auch Aktionärswechsel zuverlässig durch Hinzufügung neuer Blöcke abgebildet, so lässt sich das Erfordernis „to know your shareholder“37 ungleich leichter erfüllen: Es bedarf nur eines Blicks in die Datenbank; Aktien sind unmittelbar verfolgbar („traceable shares“).38 Es gibt 34 Vgl. Erwägungsgrund 4, S. 2 der RL (EU) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.5.2017 zur Änderung der RL 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre, ABl. EU Nr. L 132 v. 20.5.2017, 1 („Voraussetzung für die unmittelbare Kommunikation zwischen den Aktionären und der Gesellschaft und deshalb von wesentlicher Bedeutung dafür, dass die Ausübung von Aktionärsrechten und die Mitwirkung der Aktionäre erleichtert werden“). 35 Dazu ausführlich Zetzsche AG 2020, 1, 3. 36 Die Vorschrift auch des § 67d AktG ist demnach „erstmals auf Hauptversammlungen anzuwenden, die nach dem 3. September 2020 einberufen werden“; dazu auch Zetzsche AG 2020, 1, 1. 37 S. hierzu vor allem Bork NZG 2019, 738; Noack NZG 2017, 561, 561 f.; Zetzsche ZGR 2019, 1. 38 Geis Nw. U. L. Rev. 113 (2018), 227 (“poised to allow for specific share identification and precise records of share provenance”); ähnlich De Filippi/Wright Blockchain and the Law, 2018, 134.
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längst Online-Plattformen, die solche Lösungen zu Zwecken von Stimmrechtsausübung und -vertretung anbieten.39 Zweifelsohne wirft auch diese alternative Form der Aktionärsidentifikation technische Gestaltungsfragen auf. Einerseits muss die Registerführung in rechtlich zulässiger Form erfolgen. Die Vorschrift zum Aktienregister in § 67 AktG wirft die Frage auf, ob die blockchaintypische Dezentralität zulässig ist.40 Auch wenn § 67 Abs. 3 AktG vorsieht, dass Löschung und Neueintragung „auf Mitteilung und Nachweis“ erfolgen, ist anerkannt, dass der Vorstand die Registerführung nicht operativ selbst zu betreiben braucht, sondern Bereitstellung und Überwachung des technischen Rahmens ausreicht.41 Auch dezentrale Registerführung sollte deshalb zulässig sein, allerdings nur in der technischen Form der permissioned blockchain, bei der nur ausgewählte, vom Vorstand ermächtigte Teilnehmer Transaktionen validieren können. Andererseits ist Geheimhaltungserfordernissen Rechnung zu tragen, die teils in Interessen der Beteiligten wurzeln,42 teils aber auch rechtlich vorgegeben sind, etwa durch die Begrenzung der Einsichtsmöglichkeiten in § 67 Abs. 5 S. 1 AktG.43 Geheimhaltung ist jedoch technisch möglich, weil sich die Transparenz der Blockchain einschränken lässt und Nutzer grundsätzlich per öffentlichem Schlüssel auftreten, so daß ohnehin Pseudonymität herrscht.44 Technische Gestaltungen, die jenen Anforderungen entsprechen, sind mithin möglich und mindern keineswegs die Effizienzvorteile, die blockchain- gegenüber intermediärsbasierter Aktionäridentifizierung verspricht.45 Auch wenn sich dieser technische Schritt auf die Funktion der Datenaufzeichnung beschränkt, zeitigt er bereits weitreichende gesellschafts39 Bspw. bietet die elektronische Handelsplattform Nasdaq eine entsprechende e-VotingAnwendung an (allerdings vorerst nur in Südafrika, innerhalb der EU lediglich Pilotversuche in Estland), vgl. https://www.nasdaq.com/solutions/evoting-technology. Innerhalb der Citigroup wurde zu Zwecken der Stimmrechtsvertretung die Plattform Proximity entwickelt, s. https://www.citivelocity.com/proxymity/. Weitere Beispiele bei van Rijmenam How Blockchain Proxy-Voting Will Improve Shareholder Engagement, 4.10.2019, abrufbar unter https://datafloq.com/read/blockchain-proxy-voting-improve-shareholders/ 6977; Van der Elst/Lafarre EBOR 20 (2019), 111, 130 f. 40 Vgl. Beurskens in FS Seibert, 2019, 71, 80. 41 OLG München NZG 2005, 756, 757; Hüffer/Koch § 67 AktG, Rn. 5; noch weitergehend Harnos DSRI-Tagungsband 2015, 265, 267 ff., der delegierbare Geschäftsführungsaufgabe annimmt. 42 Zum Interesse der Banken am Schutz der Daten ihrer jeweiligen Depotkunden Noack Blog-Eintrag v. 19.3.2018, abrufbar unter https://notizen.duslaw.de/identifikation-undinformation-der-aktionaere-via-blockchain/. 43 Näher Beurskens in FS Seibert, 2019, 71, 81. 44 Allgemein zur Pseudonymität der Blockchain: De Filippi/Wright Blockchain and the Law, 2018, 38 f. 45 Van der Elst/Lafarre EBOR 20 (2019), 111, 133; s. außerdem Zetzsche AG 2020, 1, 12 („Idealzustand“); Panisi/Buckley/Arner Blockchain and Public Companies: A Revolution in Share Ownership Transparency, Proxy-Voting and Corporate Governance?, Stanford Journal of Blockchain Law & Policy 2 (2019), 189.
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rechtliche Bedeutung: „It will change the structure of shareholder lawsuits, alter the allocation of corporate governance rights, and require lawmakers to rethink fundamental principles of shareholder responsibility for corporate misdeeds“, so resümiert jedenfalls ein vielbeachteter US-amerikanischer Aufsatzbeitrag.46 2. Durchsetzungsinstrument In einem weiteren Schritt lässt sich die Blockchain nutzbar machen, um Regeln und Sanktionen automatisiert durchzusetzen. Die Unternehmensverfassung besteht bekanntlich aus Normen, „welche die Organisation und insbesondere die Willensbildung eines Unternehmens bestimmen“.47 Diese Vorgaben, die in Gesetz und Satzung verankert sind, aber durch „wirtschaftliche und andere Anreize, Gepflogenheiten und Empfehlungen“ zu einer umfassenden Corporate Governance ergänzt werden,48 definieren die organ- und mitgliedschaftlichen Rechte und Pflichten der Akteure, insbesondere der Geschäftsleitung und der Gesellschafter. Die Regeln setzen präventive Verhaltensanreize, bedürfen im Konfliktfall aber auch effektiver Lösungs- und Durchsetzungsmechanismen. Solche Mechanismen lassen sich, wie Christine Windbichler treffend formuliert, „keinesfalls ausschließlich auf klagbare Rechte oder überhaupt die Inanspruchnahme der Gerichte festlegen“.49 Die Blockchain eröffnet die Möglichkeit, jene Regeln in technischem Code abzubilden und dadurch ihre Durchsetzung zu automatisieren.50 Ein geläufiges Beispiel sind tokenisierte Wertpapiere (security token), die Vermögensrechte repräsentieren und mit Hilfe von Smart Contracts bei Eintritt bestimmter Parameter (etwa: Ausschüttungsbeschluss) Zins- bzw. Dividendenzahlungen automatisiert auslösen, was deren Verwaltung und Überwachung erheblich effizienter macht.51 Die Anwendungsmöglichkeiten beschränken sich nicht auf Vermögensrechte, sondern erstrecken sich auf die gesamte gesellschaftsrechtliche Organisationsverfassung.52 Insbesondere lassen sich gesellschaftsinterne Entscheidungsvorgänge automatisie46
Geis Nw. U. L. Rev. 113 (2018), 227, 227. So etwa Papier VVDStRL 35 (1976), 55, 71. 48 Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, S. 300; allgemeiner zu Mechanismen des private ordering: Eisenberg Harv. L. Rev. 89 (1976), 637; Bachmann Private Ordnung, 2006. 49 Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, 302. 50 In diesem Sinne De Filippi/Wright Blockchain and the Law, 2018, 133: “With a blockchain, organizations could decide to use code to implement parts of the organization’s rules and procedures”. 51 S. etwa Nathmann BKR 2019, 540, 541; Hacker/Thomale ECFR 2018, 645, 650; allgemein auch Kleinert/Mayer EuZW 2019, 857; Kaulartz/Matzke NJW 2018, 3278, 3280. 52 Ausführlich De Filippi/Wright Blockchain and the Law, 2018, 133–136. 47
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ren.53 So können Unternehmen die Software etwa von Boardroom nutzen, um die Entscheidungsfindung im Vorstand zu organisieren.54 Mit der jüngst erfolgten Zulassung virtueller Hauptversammlungen erstrecken sich die Anwendungsmöglichkeiten auch auf Beschlüsse dieses Gesellschaftsorgans.55 Mit Hilfe der Blockchain lässt sich Aktionärszustimmung leicher einholen, etwa bei eigeninteressierten Geschäften, und die Einhaltung organisationsverfassungsrechtlicher Regeln dichter überwachen. Anwendungen wie Otonomos bieten die Möglichkeit, blockchaingestützte Governancestrukturen im Rahmen geltender Gesellschaftsrechte zu nutzen: „Using Otonomos, people can form a corporation […] that is entirely administered through a blockchain, including procedures related to voting, dividends, and capital increases“.56 3. Organisationale Infrastruktur In einem dritten Schritt kann man die Blockchain nutzen, um Regelungen nicht lediglich durchzusetzen, sondern durch technischen Code zu ersetzen. Als regulatory technology ermöglicht die Blockchain die Organisation von Unternehmen auch losgelöst von den Strukturen des Gesellschaftsrechts: Sie erlaubt die Schaffung von „companies which consist only of computer code“.57 Die Technologie verheißt damit eine Alternative zum Recht als Infrastruktur menschlicher Kooperation.58 Entsprechende Organisationsformen, die von Plattformen wie Aragon (“Unstoppable organizations: Aragon provides all the necessary tools for human collaboration”) oder Gnosis (“a new design space for organizing globally”) angeboten werden59 und sich zunehmend praktischer Beliebtheit erfreuen,60 bezeichnet man als „Decentralized Autonomous Organisations“ (DAOs).61 53
Dazu auch Beurskens in FS Seibert, 2019, 71, 89 f.; Spindler ZGR 2018, 17, 50. Vgl. www.boardroom.to; dazu De Filippi/Wright Blockchain and the Law, 2018, 135. 55 S. oben, Nachw. Fn. 5; zuvor schon zur automatisierten Beschlussfeststellung Beurskens in FS Seibert, 2019, 71, 90. 56 De Filippi/Wright Blockchain and the Law, 2018, 135; näher unter https://otonomos. com/: Zur Wahl stehen bspw. Gesellschaftsformen der Schweiz (GmbH), des Vereinigten Königreichs (LLP) sowie von Delaware (LLC und C-Corp.), Hongkong (Ltd.) und Singapur (Pte. Ltd.). 57 So die Formulierung des Gründers von Slock.it, Christoph Jentzsch, in seinem TedX Talk vom 9.1.2017, abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=EJrPW3254wg. 58 Zum Bild des Privatrechts als Infrastruktur grundlegend Windbichler AcP 198 (1998), 261, 271; vgl. ferner Bachmann Private Ordnung, 2006, 20 f.; Grundmann in FS Hopt, 2010, 61, 89; Riesenhuber/Möslein ERCL 3 (2009), 248, 269; speziell für Gesellschaftsrecht Fleischer ZHR 168 (2004), 673, 707. 59 S. unter https://aragon.org bzw. https://dxdao.daostack.io/. 60 In diesem Sinne etwa Mienert BTC Echo v. 22.3.2020, abrufbar unter https://www. btc-echo.de/dezentrale-autonome-organisationen-als-krisensichere-unternehmensformder-zukunft/. 61 Dazu vor allem Mann NZG 2017, 1014; ders. in Braegelmann/Kaulartz (Hrsg.), Rechtshandbuch Smart Contracts, 2019, 219; vgl. außerdem Teichmann ZfPW 2019, 247, 54
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Als Bausteine einer DAO dienen Smart Contracts. Sie erlauben die Abbildung auch komplexer Regeln.62 Sie können von externen Ereignissen (etwa Börsenkursen oder Umsatzzahlen) abhängig gemacht werden, indem sog. „oracles“ als Schnittstelle zur Realität den Bedingungseintritt prüfen.63 Einzelne Klauseln sind als dezentrale Applikationen (Dapp) auf Plattformen wie Ethereum hinterlegt64 und lassen sich wie in einem Baukastensystem kombinieren.65 Für den Fall, dass sich die vorgesehenen Regeln als unvollständig erweisen und Streitigkeiten entstehen, bieten die Plattformen Streitschlichtungsmechanismen an („the world’s first digital jurisdiction“).66 Diese Bauelemente ermöglichen eine Architektur, in der sich gesellschaftsähnliche Organisationen unschwer abbilden lassen. Gegenüber rechtsbasierten Gesellschaften versprechen DAOs einige Vorteile:67 Erstens ist ihre Errichtung ist billig und einfach. Zweitens besteht ungleich größere Gestaltungsfreiheit als im staatlichen Gesellschaftsrecht, besonders im zwingenden deutschen Aktienrecht (vgl. § 23 Abs. 5 AktG). Drittens sind die Regelungsangebote nicht an nationale Rechtsordnungen gebunden, sondern beanspruchen globale Reichweite. Viertens sind die blockchainbasierten Durchsetzungsmechanismen einfach und effektiv. Auf der anderen Seite sollten die Adressaten allerdings nicht die Nachteile verkennen, die gegenüber staatlichen Gesellschaftsrechten bestehen: Erstens fehlt es vorerst an praktischer Erfahrung bzw. sind die Erfahrungen abschreckend (etwa der 50 Mio. US$ Hack der berüchtigten „The DAO“).68 Zweitens funktionieren technologiebasierte Regeln zwar automatisiert, aber auch sehr mechanisch. Ihnen fehlt an Interpretations- und Ermessensspielräumen, wie 266 f.; Simmchen MMR 2017, 162, 164 f.; Kaulartz/Matzke NJW 2018, 3278, 3280; demnächst umfassend Mienert Blockchain-basierte dezentrale autonome Organisationen und Gesellschaftsrecht, Diss. Marburg 2020. 62 Heckelmann NJW 2018, 504, 505. 63 Hohn-Hein/Barth GRUR 2018, 1089, 1093; Müller ZfIR 2017, 600, 610 (mwN); vgl. auch https://www.zap.org/. 64 Näher Rodrigues Iowa Law Review 104 (2018), 679, 698 f. Vgl. außerdem die zahlreichen „Bauanleitungen“, beispielsweise https://codeburst.io/build-your-first-ethereumsmart-contract-with-solidity-tutorial-94171d6b1c4b. 65 Heckelmann NJW 2018, 504, 505; ausführlich außerdem D. Tapscott/A. Tapscott The Blockchain Revolution, 2016, 117–122. 66 S. https://aragon.org/network/; näher Möslein in Hacker/Lianos/Dimitropoulos/ Eich (Hrsg.), Regulating Blockchain, 2019, 275, 276 f. 67 Zum Folgenden vgl. nochmals unter https://aragon.org/ („Global by default“, „fast and easy“ und „truly sovereign”); s. außerdem DAOstack White Paper v. 22.4.2018, 5 ff., abrufbar unter https://daostack.io/wp/DAOstack-White-Paper-en.pdf; ferner Kaal Blockchain-based Corporate Governance, Arbeitspapier 2019, abrufbar unter https:// papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3441904. 68 Vgl. Grasegger Die erste Firma ohne Menschen, Die Zeit v. 26.5.2016, abrufbar unter http://www.zeit.de/digital/internet/2016-05/blockchain-dao-crowdfunding-rekordethereum.
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sie bei Rechtsregeln im Einzelfall gerechte Ergebnisse ermöglicht.69 Drittens ist die Aussicht auf Rechtsschutz ungewiss, weil DAOs als bewusste Abkehr vom Recht konzipiert sind und die Zulässigkeit entsprechender Rechtsbehelfe noch ungeklärt ist. Viertens wiegt diese Rechtsunsicherheit besonders schwer für Dritte, die sich anders als die Gesellschafter nicht bewusst für das digitale Ökosystem der Blockchain entscheiden. Kreditgeber, Lieferanten oder Arbeitnehmer werden im Zweifel keine Dienste für Entitäten erbringen, gegen die sie Gegenansprüche möglicherweise nicht einklagen können. Solange nicht feststeht, ob DAOs das Privileg der Haftungsbeschränkung bieten können, sind sie auch für Gesellschaftsgründer wenig attraktiv. Entsprechend geht die Tendenz dahin, die jeweiligen Vorteile von Blockchain und Gesellschaftsrecht zu kombinieren statt sie als exklusive Alternativen zu behandeln. Einerseits bieten erste Plattformen rechtskonforme DAOs – so genannte LAOs – an, bei denen die Haftung der Gesellschafter rechtssicher beschränkt ist, weil herkömmliche Gesellschaften als sog. „limited liability wrappers“ einbezogen werden.70 Wenngleich es sich um USamerikanische Gesellschaften handelt, genießen LAOs aufgrund der europäischen Niederlassungsfreiheit im Zusammenspiel mit Art. XXV Abs. 5 S. 2 des deutsch-amerikanischen Handelsvertrags in Deutschland gleichermaßen rechtliche Anerkennung wie in den USA.71 Andererseits konzipieren erste Jurisdiktionen Rechtsformen, die spezifisch auf DAOs zugeschnitten oder für deren Etablierung zumindest geeignet sind.72 Perspektivisch scheint alles 69 So mit Blick auf Smart Contracts Möslein ZHR 183 (2019) 254, 289; vgl. außerdem Werbach 33 Berkeley Tech.L.J. (2018) 489 (unter dem Titel: „Trust, But Verify: Why the Blockchain Needs the Law“). 70 OpenLaw The Era of Legally Compliant DAOs, Medium v. 26.6.2019, abrufbar unter https://medium.com/@OpenLawOfficial/the-era-of-legally-compliant-daos-491edf88f ed0; zu in Frage kommenden Rechtsformen dies. A Taxonomy For LAOs: Making Sense of the Emerging LAO Ecosystem, Medium v. 13.11.2019, abrufbar unter https://medium. com/@thelaoofficial/a-taxonomy-for-laos-making-sense-of-the-emerging-lao-ecosystem1122b035fe1a. 71 Generell in diesem Sinne BGHZ 154, 185, im Anschluss an EuGH 5.11.2002 – Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002, I-9919; näher: Damann RabelsZ 68 (2004) 607; Paefgen DZWiR 2003, 441; speziell zur Anerkennung regulierter DAOs (aus Schweizer Perspektive): Riva Decentralized Autonomous Organisations as subjects of law, Master Thesis Neuchâtel 2019, abrufbar unter https://libra.unine.ch/Publications/ 40515, 36 ff. 72 Etwa Malta mit dem Act No. XXXIII v. 20.7.2018 (Innovative Technology Arrangements Bill), abrufbar unter https://parlament.mt/media/95214/act-xxxiii-innovativetechnology-arrangements-and-services-act.pdf; dazu näher Ganado Maltese Technology Foundations, Arbeitspapier, 2018, abrufbar unter https://papers.ssrn.com/sol3/papers. cfm?abstract_id=3245783. Ähnlich ferner Liechtenstein mit der segmentierten Verbandsperson gem. Art. 243 ff. PGR, dazu Büch SPWR 2019, 75, sowie der US-Bundesstaat Vermont mit Blockchain-Based Limited Liability Company gem. Vermont Act n. 205 (279), An act relating to blockchain business development.
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auf Kooperation von staatlichem Gesellschaftsrecht und Blockchain hinauszulaufen, auch wenn vorerst offen ist, wie diese Kooperation im Einzelnen austariert sein wird.73
III. Gesellschaftsrechtstheoretische Einordnung Für die Gesellschaftsrechtsdogmatik besteht die Herausforderung darin, die rechtliche Behandlung von DAOs zu klären und eine Art Kollisionsrecht zu entwickeln, um das Verhältnis von rechtlichen und blockchainbasierten Regeln zu bestimmen.74 Dabei stellen sich zahlreiche Einzelfragen: Finden DAOs rechtliche Anerkennung? Wenn ja, welche Voraussetzungen müssen rechtskonforme DAOs erfüllen? Welche Gestaltungsgrenzen setzt ihnen das staatliche Gesellschaftsrecht? Und welches Gesellschaftsrecht ist nach IPR überhaupt zur Anwendung berufen?75 Nicht zuletzt fragt sich, als welche Gesellschaftsform DAOs zu qualifizieren sind. Während die fehlende Registereintragung ihrer Anerkennung als Kapitalgesellschaft formal entgegensteht, sprechen der Wille der Beteiligten, deren potentiell unüberschaubare Anzahl sowie die pseudonyme Natur blockchain-basierter Organisationen materiell gegen eine Qualifikation als Personengesellschaft, weil das Typusmerkmal der Personenbezogenheit fehlt.76 Die Blockchain spiegelt sich nicht nur in Auslegungs- und Regelsetzungsfragen wider, sondern auch in der Gesellschaftsrechtstheorie, namentlich in der ökonomisch informierten Theorie der Unternehmung.77 Diese Theorie behandelt die Frage, „warum und unter welchen Voraussetzungen die Organisation (Hierarchie) dem Vertrag überlegen ist“.78 Werden hierarchische Organisationsstrukturen auf Grundlage der Blockchain durch dezentrale, konsensbasierte Strukturen (Smart Contracts) ersetzt, so mag diese Theorie dazu beitragen, den verbleibenden Mehrwert unternehmerischer Organisationen zu erklären. Zugleich kann sie helfen, mögliche Anpassungsbedarfe des staatlichen Gesellschaftsrechts zu erkennen, jedenfalls aber teleologische Auslegungsfragen zu lösen, weil sich die Realfolgen der unterschiedlichen 73
Im gleichen Sinne zum Verhältnis von Smart Contracts und Vertragrecht Möslein ZHR 183 (2019) 254, 289 f. 74 Dazu allgemein Möslein in Hacker/Lianos/Dimitropoulos/Eich (Hrsg.), Regulating Blockchain, 2019, 275. 75 Näher zu diesen Fragen Mann in Braegelmann/Kaulartz (Hrsg.), Rechtshandbuch Smart Contracts, 2019, 219, 221–226; vgl. außerdem Mienert Blockchain-basierte dezentrale autonome Organisationen und Gesellschaftsrecht, Diss. Marburg 2020 (im 2. Teil unter A.II.1.). 76 Zu diesem Merkmal grundlegend Westermann Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften, 1970, 141 ff. 77 Grundlegend Coase The Nature of the Firm, Economica 4 (1937), 386. 78 Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, 17.
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Regelungs- und Auslegungsvarianten auf Grundlage des ökonomischen Verhaltensmodells besser prognostizieren lassen.79
1. Vertragsbündeltheorie Weil sich DAOs aus einer Vielzahl selbstdurchsetzender, im Quellcode der Blockchain abgebildeter Abreden zusammensetzen, werden sie als „nexus of smart contracts“ bezeichnet.80 Bereits mit dieser Bezeichnung ist die Brücke zu der vieldiskutierten Vertragsbündeltheorie geschlagen.81 Jene „Modellvorstellung, die Gesellschaft sei ein ‚Netz von Verträgen‘ (nexus of contracts)“,82 erleichtert bekanntlich die ökonomische Analyse der Anreizstrukturen in den Verhältnissen zwischen den unterschiedlichen, mit der Unternehmung verbundenen Akteuren.83 Zugleich weckt sie rechtsdogmatische Bedenken, weil sie die Unterschiede zwischen Organisation (Hierarchie) und Vertrag (Markt) verwischt,84 indem sie das Konzept der juristischen Person und des Verbands dekonstruiert.85 Die Vertragsbündeltheorie gilt daher als zwar hilfreiche ökonomische Problembeschreibung, zugleich aber als juristisch fragwürdiges Konzept.86 Neuerdings wird diese Theorie freilich zu einer Zurechnungspunktlehre fortentwickelt, die dem „nexus for contracts“ der Kapitalgesellschaft als Rechtssubjekt vertragsdienende Funktion zuschreibt87 – und damit nicht mehr weit von den klassischen verbandsrechtlichen Theorien entfernt ist.88 Die Vertragsbündeltheorie spiegelt sich in der DAO wie in einem Brennglas wider: Das Netz der Verträge dient hier keineswegs nur als Modellvorstellung, sondern bildet die technologische Grundlage der Unternehmung.89 Auch Smart Contracts sind zwar nicht notwendig Verträge im 79 In diesem Sinne Eidenmüller JZ 2001, 1041; zuvor bereits ähnlich Albert Rechtswissenschaft als Realwissenschaft, 1993; Lübbe-Wolff Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981. 80 Nachw. oben, Fn. 11. 81 S. nur Krolop Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2008, 29, 41 f. („Gretchenfrage“). 82 Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, 18 (in Fn. 53). 83 Näher etwa Eidenmüller JZ 2001, 1041, 1042 f.; Procaccia ZGR 1990, 169; Ruffner Die ökonomischen Grundlagen des Rechts der Publikumsgesellschaft, 2000, 129 f., 155– 157. 84 In diese Richtung bspw. Windbichler EBOR 2 (2001), 795, 801; vgl. außerdem Fleischer ZHR 168 (2004), 673, 683 f.; von Hein Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, 2008, 621 ff. 85 Krolop Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2008, 29, 42. 86 Ähnlich Buxbaum JITE 149 (1993), 698; Eisenberg J. Corp. L. 24 (1999), 819. 87 Näher Thomale AcP 218 (2018), 685, 687. 88 Überblicksweise insbesondere zu Fiktionstheorie (Savigny) und Theorie der realen Verbandsperson (Gierke): Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, 22 f. 89 Ähnlich Hacker/Thomale in Hacker/Lianos/Dimitropoulos/Eich (Hrsg.), Regulating Blockchain, 2019, 229, 234.
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Rechtssinne, aber immerhin ein funktionales Vertragsäquivalent, das hier für die Konstruktion einer Organisationsform genutzt wird, die Kapitalgesellschaften zumindest ähnelt.90 Sollten diese technologischen Konstrukte nicht ohne die „limited liability wrappers“ des Rechts auskommen, träten umgekehrt die Defizite von Vertragsbündeln in aller Schärfe zu Tage.91 Die Frage, ob real existierende DAOs selbst Rechtsträgerschaft erzeugen oder der Anerkennung durch die Rechtsordnung bedürfen, wird so zu einem Lackmustest, der dem alten Theorienstreit zwischen Savigny und Gierke völlig neue praktische Relevanz verleiht.92
2. Transaktionskosten- und Agenturtheorie Auch die Transaktionskostentheorie, die durch Berücksichtigung von Informations-, Verhandlungs- und Überwachungskosten die Wahl von Organisationsformen zu erklären sucht,93 spiegelt sich in der DAO vielfältig wider. Zunächst versprechen Smart Contracts eine erhebliche Senkung solcher Kosten, und zwar vor allem ex post, indem sie Selbstdurchsetzung ermöglichen, aber auch ex ante durch Automatisierung der Vertragsbegründung.94 Diese Reduktion schmälert die relativen Vorteile hierarchischer Organisationen gegenüber einzelnen Verträgen (was letztlich dem Trend zu einer Plattformökonomie entspricht). Umgekehrt vermögen Smart Contracts die Transaktionskosten jedoch nicht auf Null zu senken. Die Abbildung vertraglicher Regeln im blockchainbasiertem Code setzt nämlich Vollständigkeit voraus. Die mechanische Funktionsweise technologiebasierter Regeln stößt folglich an Grenzen, weil sich aufgrund der Unvorhersehbarkeit künftiger Ereignisse besonders komplexe und langfristige Kooperationsbeziehungen nur unvollständig regeln lassen.95 Entsprechend bedarf es auch bei der DAO Entscheidungs- und Streitschlichtungsmechanismen, die zumindest gewisse Transaktionskosten verursachen. Folglich steht nicht zu erwar90 Ähnlich Rohr/Wright in Hacker/Lianos/Dimitropoulos/Eich (Hrsg.), Regulating Blockchain, 2019, 43, 51. 91 Vgl. nochmals Rohr/Wright in Hacker/Lianos/Dimitropoulos/Eich (Hrsg.), Regulating Blockchain, 2019, 43, 51 f.; ferner Reyes Geo. Wash. L. Rev. 87 (2019), 373. 92 Zur bislang fehlenden Bedeutung etwa Ott Recht und Realität der Unternehmenskorporation, 1977, 36 ff. 93 Grundlegend Coase Econometrica 4 (1937), 386, 390; vgl. außerdem Williamson The mechanisms of governance, 1999, 93, 161 (“costs of running the economic system”). 94 Möslein ZHR 183 (2019) 254, 263 und 288. 95 In diesem Sinne kürzlich etwa der Nobelpreisträger Oliver Hart in einem Interview, vgl. Frank/Chin/Silverstein, Business Insider v. 11.8.2018, abrufbar unter https://www. businessinsider.com/nobel-prize-winner-in-economics-shares-his-thoughts-on-smart-con tracts-2018-5?IR=T; s. andererseits Vatiero Smart contracts and transaction costs, Arbeitspapier, 2018, abrufbar unter https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=32599 58.
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ten, dass Smart Contracts und DAOs herkömmliche Vertrags- und Gesellschaftsstrukturen vollständig verdrängen werden.96 Vielmehr versprechen sie deren „Anreicherung oder […] komplementäre Ergänzung“.97 Weitere, hierauf aufbauende Spiegelungen der DAO resultieren schließlich in der Agenturtheorie. Die Grundidee der DAO besteht nämlich darin, das Prinzipal-Agenten-Dilemma, das aus Informations- und Interessenasymmetrien zwischen Gesellschaftern und Geschäftsleitern resultiert und vielfältige gesellschaftsrechtliche Kontrollmechanismen erfordert, mit der transparenten Vertrauensarchitektur der Blockchain aufzulösen.98 Viele erhoffen sich nicht lediglich die Senkung jener Agenturkosten, sondern die vollständige Überwindung gesellschaftsrechtstypischer Agenturbeziehungen: „Using blockchain, they say, collaborators will be able to work together as free agents instead of under a hiearchy of bosses“.99 Die Governance dezentraler Organisationen verspricht zumindest, weniger hierarchischen Charakter zu erfordern und stärker auf Konsensmechanismen zu basieren als die herkömmliche, insbesonders aktienrechtlich normierte Unternehmensverfassung.100 Weil Transaktionskosten nicht völlig verschwinden und deshalb auch blockchainbasierter Konsens etwas kostet, wird das Gesellschaftsrecht und seine Entscheidungsmechanismen jedoch auch in Zukunft nicht vollständig zu ersetzen sein: „corporate agency problems cannot be ‚coded away‘“.101 Weil die Blockchain-Technologie verspricht, ex postÜberwachung zunehmend durch ex ante-Begrenzung zu ersetzen,102 dürften der Corporate Goverance allerdings grundstürzende anatomische Veränderungen bevorstehen,103 die noch viel Vor-, Nach- und Weiterdenken erfordern werden: „Together these changes could profoundly alter the relative 96 So für Verträge Lipshaw Stan. J. Blockchain L. & Pol’y 2 (2019), 1 (unter dem treffenden Titel „the persistence of dumb contracts”). 97 Hopf/Picot in: Redlich/Moritz/Wulfsberg (Hrsg.), Interdisziplinäre Perspektiven zur Zukunft der Wertschöpfung, 2018, 109, 118. 98 Näher Laurence Introduction to Blockchain Technology, 2019, 76; illustrativ auch D. Tapscott/A. Tapscott The Blockchain Revolution, 2016, 87–92. 99 Coy/Kharif This is Your Company on Blockchain, Bloomberg Businessweek v. 25.8. 2016, abrufbar unter https://www.bloomberg.com/news/articles/2016-08-25/this-is-yourcompany-on-blockchain. 100 De Filippi/Wright Blockchain and the Law, 2018, S. 117; ähnlich Lafarre/van der Elst in Mak/Tjong Tjin Tai/Berlee (Hrsg.), Research Handbook in Data Science and Law, 2018, 153, 160. 101 Enriques/Zetzsche Corporate Technologies and the Tech Nirvana Fallacy, ECGI Law Working Paper 457/2019, abrufbar unter https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm? abstract_id=3392321, 51. 102 Näher Rohr/Wright in Hacker/LianosDimitropoulos/Eich (Hrsg.), Regulating Blockchain, 2019, 43, 49. 103 Zur Unterscheidung beider Kategorien im tradierten Gesellschaftsrecht Armour/ Hansmann/Kraakman in Kraakman u.a. (Hrsg.), The Anatomy of Corporate Law, 3. Aufl. 2017, 29, 37 f.; dazu (mit gewissen Vorbehalten): Windbichler in FS Röhricht, 693, 698–700.
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power of managers, shareholders, lenders, regulators, and third party experts who interact in the corporate governance arena”.104 Der Werkstatt des Gesellschaftsrechts geht auch in Zeiten blockchainbasierter Digitalisierung die Arbeit nicht aus. Vielmehr braucht sie ihre Meister wie selten zuvor: Ad multos annos, liebe Christine Windbichler!
neue rechte Seite! 104 Yermack Review of Finance 21 (2017), 7, 28; ähnlich Shermin Strategic Change 26 (2017), 499, 500 („potenial to disrupt governance as we know it”).
Konzernhaftung im Lauterkeits- und Immaterialgüterrecht
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Konzernhaftung im Lauterkeits- und Immaterialgüterrecht Hans-Friedrich Müller
Konzernhaftung im Lauterkeitsund Immaterialgüterrecht HANS-FRIEDRICH MÜLLER
I. Einleitung Christine Windbichler hat unlängst in einem sehr lesenswerten Beitrag herausgearbeitet, dass es ein in sich geschlossenes System der Konzernhaftung nicht gibt, sondern vielmehr in verschiedenen Haftungssituationen ganz unterschiedliche Anspruchsgrundlagen zur Anwendung kommen, die ganz überwiegend gar keinen Konzerntatbestand voraussetzen.1 Die Jubilarin hat ferner auf die mannigfaltigen Erscheinungsformen des Phänomens Konzerns in der Rechtswirklichkeit hingewiesen und undifferenzierten Einheitslösungen, die sich am Leitbild der von der Muttergesellschaft hierarchisch geführten und dicht koordinierten Unternehmensgruppe ausrichten, eine klare Absage erteilt.2 Die nachfolgende Untersuchung knüpft an diese Überlegungen an und zeigt ihre Relevanz für die Haftung im Lauterkeits- und Immaterialgüterrecht auf. Die fachgerichtliche Judikatur gelangt hier zu einer strengen Zurechnung von Wettbewerbsverstößen und Schutzrechtsverletzungen der einzelnen Gruppenmitglieder innerhalb des Unternehmensverbunds, deren Vereinbarkeit mit grundlegenden gesellschaftsrechtlichen Wertungen, namentlich dem Prinzip der Haftungstrennung, durchaus zweifelhaft erscheint. Die kritische Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung beginnt mit einem kurzen Überblick über die einschlägigen Haftungstatbestände, die partiell dem Prinzip respondeat superior folgen (sub II.) Im Anschluss steht dann die konzernrechtliche Dimension der Haftung des Unternehmensinhabers nach § 8 Abs. 2 UWG und den immaterialgüterrechtlichen Parallelvorschriften im Mittelpunkt (sub III.). Weitere Ausführungen sind der Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft als Teilnehmerin am Delikt der Tochtergesellschaft (sub IV.), unter dem Gesichtspunkt einer Haftung für den Verrichtungsgehilfen gem. § 831 BGB (sub V.) sowie der Verletzung eigener Verkehrspflichten (sub VI.) gewidmet. Eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse (sub VII.) rundet die Abhandlung ab. 1 2
Windbichler NZG 2018, 1241, 1242. Windbichler NZG 2018, 1241, 1246.
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II. Sektorale Geltung des Prinzips respondeat superior Das deutsche Deliktsrecht sieht grundsätzlich nur eine Verantwortlichkeit für eigenes Fehlverhalten vor. § 8 Abs. 2 UWG geht darüber hinaus und statuiert eine bemerkenswerte Erweiterung der Haftung für unlautere geschäftliche Handlungen: „Werden die Zuwiderhandlungen in einem Unternehmen von einem Mitarbeiter oder Beauftragten begangen, so sind der Unterlassungsanspruch und der Beseitigungsanspruch auch gegen den Inhaber des Unternehmens begründet.“ Die Vorschrift geht auf § 13 Abs. 4 UWG 1909 zurück. Der historische Gesetzgeber wollte durch die Regelung verhindern, dass der derjenige, dem die in Rede stehende Tätigkeit wirtschaftlich zugutekommt, sich durch eine arbeitsteilige Organisation hinter von ihm mehr oder weniger abhängigen Dritten verstecken kann.3 Denn wer durch den Einsatz von Hilfspersonen seinen Geschäftskreis erweitert, schafft ein zusätzliches Risiko für die Begehung unlauterer Handlungen, das er durch hinreichende Vorsichtsmaßnahmen zu beherrschen vermag.4 Ein bloßer Zugriff auf die Hilfspersonen wäre für den Verletzten häufig unzureichend.5 Die zusätzliche Einstandspflicht des Unternehmensinhabers dient zugleich der effektiven Durchsetzung des Wettbewerbsrechts.6 Anders als nach der allgemeinen Regelung des § 831 BGB kann der Geschäftsherr sich hier nicht darauf berufen, dass er die für ihn Handelnden sorgfältig ausgesucht und überwacht hat.7 Auch spielt es für die Zurechnung8 keine Rolle, ob er den Verstoß seiner Angestellten oder Beauftragten kannte oder kennen musste.9 Damit wird eine strikte Erfolgshaftung im Sinne des aus dem anglo-amerikanischen Recht bekannten Prinzips
3 S. etwa RGZ 151, 287, 292 f. – Alpina-Uhren; BGH GRUR 2007, 994 Rz. 19 – Gefälligkeit; BGH GRUR 2009, 1167 Rz. 21 – Partnerprogramm; BGH GRUR 2018, 924 Rz. 62 – Ortlieb I; ausführlich zu Normzweck und Entstehungsgeschichte Alexander Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 658 ff.; Hahn Die Haftung des Unternehmensinhabers nach § 8 Abs. 2 UWG, 2007, 75 ff. 4 BGH GRUR 1995, 605, 607 – Franchise-Nehmer; BGH GRUR 2009, 1167 Rz. 21 – Partnerprogramm; Köhler GRUR 1991, 344, 346. 5 Köhler GRUR 1991, 344, 345 f. 6 Alexander (o. Fn. 3), 662 f. 7 BGH GRUR 1995, 605, 607 – Franchise-Nehmer; Fritzsche in MüKoUWG, 2. Aufl. 2014, § 8 Rz. 296; Köhler/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 38. Aufl. 2020, § 8 Rz. 2.33. 8 BGH GRUR 1994, 441, 443 – Kosmetikstudio; BGH GRUR 2005, 864, 865 – Meißner Dekor II; BGH GRUR 2009, 1167 Rz. 21 – Partnerprogramm. 9 Pastor NJW 1964, 896, 897; Köhler/Feddersen (o. Fn. 7), § 8 UWG Rz. 2.32; Eckhartt in BeckOK MarkenR, 20. Ed. 1.1.2020, § 14 MarkenG Rz. 663.
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respondeat superior begründet.10 Dem § 8 Abs. 2 UWG vergleichbare Bestimmungen finden wir in § 14 Abs. 7 MarkenG, § 44 DesignG, § 99 UrhG sowie in § 2 Abs. 1 S. 2 UKlaG. Die Unternehmensinhaberhaftung ist grundsätzlich auf negatorische Ansprüche beschränkt.11 Lediglich im Markenrecht erstreckt sie sich auch auf Schadensersatzansprüche, wenn Angestellte oder Beauftragte schuldhaft gehandelt haben (§ 14 Abs. 7 MarkenG). Keine diesbezügliche Regelung sieht das Patentrecht vor, hier bleibt es bei der Haftung desjenigen, der eine patentierte Erfindung rechtswidrig benutzt (§§ 139 ff. PatG). Ähnlich defizitär ist das Gebrauchsmuster-, Halbleiter- und Sortenschutzrecht (s. § 24 Abs. 1 GebrMG, § 9 Abs. 1 S. 1 HalblSchG, § 37 Abs. 1 SortSchG). Auch wenn die unterschiedliche Behandlung in der Sache nicht recht einzuleuchten vermag, so ist sie doch de lege lata zu respektieren. Angesichts der regen gesetzgeberischen Aktivität auf dem Gebiet des Geistigen Eigentums kann nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden, so dass sich eine Ausdehnung der strikten Unternehmensinhaberhaftung im Wege der Analogie verbietet.12 Die Geltung der Maxime respondeat superior bleibt auf die spezialgesetzlich geregelten Fälle beschränkt. Die Haftung des Geschäftsherrn für das Handeln von Angestellten und Beauftragten richtet sich im Übrigen nach allgemeinem Zivilrecht, insbesondere nach § 831 BGB.13 Der Begriff des Beauftragten in § 8 Abs. 2 UWG und den Parallelvorschriften ist deutlich weiter als der des Verrichtungsgehilfen. Beauftragter kann jeder sein, der aufgrund eines vertraglichen oder sonstigen Rechtsverhältnisses für das Unternehmen tätig wird. Er muss aber in die betriebliche Organisation in der Weise eingliedert sein, dass der Erfolg seiner Handlung zumindest auch dem Unternehmensinhaber zugutekommt und diesem ein bestimmender, durchsetzbarer Einfluss jedenfalls auf diejenige Tätigkeit eingeräumt ist, in deren Bereich das beanstandete Verhalten fällt.14 Ob der Unternehmensinhaber in der konkreten Situation von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, diesen Einfluss auszuüben, spielt demgegenüber keine Rolle.15 Unstreitig kommt auch ein selbstständiges Unternehmen als „Beauf10 Klotz Wirtschaftliche Einheit und Konzernhaftung im Kartellzivilrecht, 2016, 191; König AcP 217 (2017), 611, 652. 11 Unter Einschluss vorbereitender Auskunftsansprüche, s. BGH GRUR 1995, 427, 428 – Schwarze Liste; Hahn (o. Fn. 3), 50 f.; Köhler GRUR 1991, 344, 352. 12 Renner/A. Schmidt GRUR 2009, 908, 912; Werner WRP 2018, 286, 290 f.; Mes Patentgesetz Gebrauchsmustergesetz, 4. Auflage 2015, § 139 PatG Rz. 69. 13 BGH GRUR 2012, 1279 Rz. 43 – Das große Rätselheft (zur Schadensersatzhaftung nach § 9 UWG); OLG Düsseldorf BeckRS 2006, 12701 (zu patentrechtlichen Ansprüchen); Bernau in Staudinger BGB, Neubearb. 2018, § 831 Rz. 89. 14 BGH GRUR 1995, 605, 607 – Franchise-Nehmer; BGH GRUR 2005, 864, 865 – Meißner Dekor II; BGH GRUR 2009, 1167 Rz. 21 – Partnerprogramm; BGH GRUR 2011, 543 Rz. 11 – Änderung der Voreinstellung III. 15 BGH GRUR 2011, 543 Rz. 11 – Änderung der Voreinstellung III; s. auch unten III.3.b).
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tragter“ in Betracht, wenn es in der genannten Weise in die Betriebsorganisation des anderen Unternehmens, zu der insbesondere auch die Einkaufsund Vertriebsorganisation gehört, integriert ist.16
III. Konzernrechtliche Ausprägung der Beauftragtenhaftung 1. Entwicklung der Rechtsprechung Angesichts des weiten Begriffs des Beauftragten liegt es nicht fern, die Haftung auch an die Tätigkeit von Konzerntöchtern anzuknüpfen. Den ersten vorsichtigen Schritt in diese Richtung ist der BGH in seiner „VeronaGerät“-Entscheidung gegangen.17 Zu befinden war hier über die Unterlassungsklage gegen einen Großhändler wegen eines Wettbewerbsverstoßes der von ihm eingeschalteten Vertriebsgesellschaft. Der Beklagte war an der Vertriebsgesellschaft maßgeblich beteiligt und zugleich deren Geschäftsführer. Der BGH bejahte eine Haftung nach § 12 Abs. 2 RabattG (der § 8 Abs. 2 UWG entsprach). Zwar rechtfertige die Tatsache, dass der Großhändler das Einzelhandelsunternehmen gegründet habe und wirtschaftlich beherrsche, es noch nicht, sich über dessen rechtliche Selbstständigkeit hinwegzusetzen. Auch dass die beiden Unternehmen in denselben Räumen geführt wurden und ein Angestellter des Großhändlers den Verkauf angebahnt hatte, genügte nach Ansicht des BGH ebenso wenig wie das bestehende Beteiligungsverhältnis. Als ausschlaggebend sah das Gericht es aber an, dass der Großhändler über seine mitgliedschaftliche Beteiligung hinausgehend als Geschäftsführer Einfluss auf die Tätigkeit der Vertriebsgesellschaft hatte. Dieser Umstand rechtfertige es in Verbindung mit den übrigen organisatorischen Verbindungen, den Rabattverstoß hier dem Beklagten als auch in seinem Geschäftsbetrieb vorgenommen zuzurechnen, obwohl der Kaufvertrag erkennbar namens der Versandgesellschaft abgeschlossen worden sei. Aus dem Tatbestand des Urteils ist klar ersichtlich, dass hier ein Konzernverhältnis vorlag. Der BGH hat zwar nicht konzernrechtlich argumentiert, aber mit maßgeblicher Beteiligung und Personalverflechtung der Sache nach Kriterien herangezogen, die auch für die Annahme einer einheitlichen Leitung i.S.v. § 18 AktG relevant sind. Eine generelle Konzernhaftung für Wettbewerbsverstöße war aber sicherlich nicht intendiert, die Entscheidungsgründe heben den Ausnahmecharakter der besonderen Umstände des Falles deutlich hervor. 16 S. nur RGZ 151, 287, 294 – Alpina-Uhren; BGH GRUR 1964, 263, 266 f. – Unterkunde; BGH GRUR 2011, 543 Rz. 11 – Änderung der Voreinstellung III; Hahn (o. Fn. 3), 91 f.; Fritzsche (o. Fn. 7), § 8 UWG Rz. 302; Köhler/Feddersen (o. Fn. 7), § 8 UWG Rz. 2.43. 17 BGH GRUR 1964, 88, 89 – Verona-Gerät.
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Die einige Jahrzehnte später ergangene Meißner Dekor II-Entscheidung ging dann wesentlich weiter. Sie betraf die Verantwortlichkeit einer Konzernmutter für Markenrechtsverstöße ihrer Tochtergesellschaft, der die Aufgabe zugewiesen war, einen Teil der von der Muttergesellschaft vertriebenen Produkte im Versandwege abzusetzen. Der BGH stellte auf die allgemeine Definition des Beauftragten ab. Von der notwendigen Eingliederung in die betriebliche Organisation des Betriebsinhabers sei auszugehen, wenn es sich bei dem beauftragten Unternehmen um eine Tochtergesellschaft des Betriebsinhabers handele und dieser – über die Funktion einer reinen Holding-Gesellschaft hinaus – beherrschenden Einfluss auf die Tätigkeit des Tochterunternehmens ausübe. Bei einer in den Vertrieb der Muttergesellschaft eingebundenen Tochtergesellschaft sei dies ohne weiteres anzunehmen. Dass der später abgeschlossene Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft zum Zeitpunkt des Markenrechtsverstoßes noch nicht vorgelegen habe, sei für die Haftung ohne Bedeutung.18 Es genügte also die faktische Beherrschung, zu der das Urteil aber keine näheren Aussagen trifft. In der RätselheftEntscheidung hat der BGH wenige Jahre später diese Grundsätze für das Lauterkeitsrecht bekräftigt.19 Im vorliegenden Fall war der Einfluss der Mutter auf die Tochter, die sie nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zum Vertrieb ihrer pharmazeutischen Produkte einsetzte,20 durch einen Beherrschungsvertrag abgesichert. Im Ortlieb-Urteil nahm der BGH dann 2018 erstmals eine Haftung von Schwestergesellschaften an. Eine der in Anspruch genommenen Gesellschaften hatte als Betreiberin einer Internet-Plattform Markenrechte der Klägerin verletzt. Die Internetseite war von einer Schwestergesellschaft als Verkäuferin, von einer anderen als Vertragspartnerin von Drittanbietern genutzt worden. Dem BGH genügte es für die Annahme einer Beauftragtenhaftung nach § 14 Abs. 7 MarkenG, dass die Verletzerin Teil der arbeitsteilig organisierten Tätigkeit ihrer beiden Schwestergesellschaften war und der Betrieb der Website diesen unmittelbar zugute kam.21 Zu den Einwirkungsmöglichkeiten, die diese beiden in die Verantwortung genommenen Gesellschaften auf ihre Schwester hatten, verhält sich das Revisionsurteil ebenso wenig wie die Entscheidungen der Vorinstanzen.22 Das OLG München23 hat sogar eine Haftung der Tochtergesellschaft für eine von der Konzernmuttergesellschaft erstellte Internetseite bejaht. Die Konzernmutter sei schon deshalb als „Beauftragte“ der Tochter i.S.v. § 8 18
BGH GRUR 2005, 864, 865 – Meißner Dekor II. BGH GRUR 2012, 1279 Rz. 61 f.– Das große Rätselheft. 20 OLG Karlsruhe BeckRS 2012, 22179. 21 BGH GRUR 2018, 924 Rz. 62 f. – Ortlieb I. 22 LG München I BeckRS 2015, 17221; OLG München GRUR-RR 2016, 403. 23 OLG München GRUR-RS 2012, 3268. 19
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Abs. 2 UWG anzusehen, weil aufgrund der gesellschaftsrechtlichen Verbindungen insoweit ein Interessenwahrungsverhältnis bestehe. In vielen weiteren Entscheidungen haben Instanzgerichte in den letzten Jahren in Anlehnung an die einschlägige Spruchpraxis des BGH eine Beauftragtenhaftung in Konzernkonstellationen angenommen.24 Die Argumentation ist zumeist formelhaft knapp. Das Hinweggehen über die rechtliche Selbstständigkeit der abhängigen Gesellschaft, die nach der „Verona-Gerät“-Entscheidung25 ausdrücklich auf Ausnahmekonstellationen beschränkt sein sollte, ist in der Praxis zum offenkundig kaum noch als begründungsbedürftig angesehenen Regelfall geworden. 2. Keine Sperrwirkung des Trennungsprinzips Die neuere Rechtsprechung ist in der Literatur fast vorbehaltlos rezipiert worden, Kritik betrifft zumeist Detailfragen, nicht die grundsätzliche Ausrichtung.26 Strikt gegen eine Anwendung der Inhaberhaftung auf Konzernsachverhalte hat sich allein Kurt Ballerstedt ausgesprochen, dessen Beitrag allerdings schon geraume Zeit zurückliegt.27 Er argumentierte, aufgrund der rechtlichen Selbstständigkeit der Tochtergesellschaft könne ein von ihr begangener Wettbewerbsverstoß niemals zugleich im Geschäftsbetrieb der Mutter vorgenommen worden sein. Auch bei enger finanzieller, organisatorischer und finanzieller Eingliederung der Untergesellschaft gehe deren Bindung auf keinen Fall so weit, dass sie zu unerlaubten Handlungen verpflichtet sei. Dass der Unternehmensinhaber für das Verhalten anderer rechtlich selbstständiger Unternehmen einstehen muss, ist jedoch im weit gefassten Begriff des Beauftragten angelegt. Es kann keinen Unterschied machen, ob dieses Unternehmen aufgrund eines Geschäftsbesorgungsvertrages oder aufgrund einer gesellschaftsrechtlichen Verbindung tätig wird. Wenn sich etwa der Hersteller eines Produkts die unlautere Werbung einer von ihm beauftragten Werbeagentur zurechnen lassen muss, dann sicher auch entsprechende Aussagen einer mit der Werbung betrauten Tochtergesellschaft.28 Ein genereller Ausschluss lediglich aufgrund des Konzernverhält24
Vgl. zur Haftung nach dem UWG OLG Bamberg BeckRS 2011, 8628; OLG Frankfurt/M WRP 2001, 1111; BeckRS 2001, 30205114; GRUR-RR 2020, 74 Rz. 45 ff.; OLG Hamm BeckRS 2016, 117435 = GRUR-Prax 2017, 219 mit Anm. Altmann; LG Köln BeckRS 2005, 8756; zum MarkenG KG GRUR-RS 2017, 155281 Rz. 92; OLG München WRP 2002, 358; GRUR-RS 2012, 3268; OLG Stuttgart NJW-RR 1991, 1333, 1334; zum MarkenG KG GRUR-RS 2017, 155281 Rz. 92; LG Koblenz Urt. v. 23.7.2013 – 2 HK O 2/13 (juris); zu § 99 UrhG OLG Hamburg BeckRS 2015, 14371 Rz. 411 ff. 25 BGH GRUR 1964, 88, 89 – Verona-Gerät. 26 S. die Darstellung bei Klotz (o. Fn. 10), 212 ff.; weitere Nachweise in den nachfolgenden Fn. 27 Ballerstedt DB 1956, 813. 28 S. OLG Stuttgart NJW-RR 1991, 1333, 1334; Köhler GRUR 1991, 344, 349.
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nisses würde dem Zweck der Beauftragtenhaftung, den Unternehmensinhaber wegen des von seinem Unternehmen ausgehenden Risikos in die Verantwortung zu nehmen, nicht gerecht.29 Die Ausgleichsysteme der §§ 300 ff., 311 ff. AktG gewähren dem Verletzten keine auch nur annähernd gleichwertigen Rechte.30 Außerdem trifft es zwar zu, dass die Obergesellschaft der Untergesellschaft weder im sog. faktischen Konzern noch im Vertragskonzern Weisungen zur Vornahme unerlaubter Handlungen erteilen kann. Doch sind solche Weisungen auch auf schuldrechtlicher Grundlage unzulässig, vertragliche Abreden, die den Beauftragten zu einem rechtswidrigen Tun oder Unterlassen verpflichten würden, wären jedenfalls in der Regel nach §§ 134, 138 BGB nichtig. Es kommt für die Anwendung des § 8 Abs. 2 UWG und der entsprechenden Parallelvorschriften aber auch gar nicht darauf an, ob der Geschäftsherr den Beauftragten zu dem in Rede stehenden Wettbewerbsverstoß zwingen könnte, sondern ob er aufgrund seiner Einflussmöglichkeiten in der Lage gewesen wäre, diesen zu verhindern.31 Bei Kapitalgesellschaften wird die Trennung von Gesellschafts- und Gesellschaftersphäre durch eine Haftungsabschottung ergänzt (§ 1 Abs. 1 S. 2 AktG, § 13 Abs. 2 GmbHG). Sie ermöglicht es der Konzernmutter; Tochtergesellschaften unter einheitlicher Leitung zusammenzufassen, ohne – abgesehen vom Sonderfall der Eingliederung (§ 322 AktG) – für die in deren Geschäftsbetrieb begründeten Verbindlichkeiten aufkommen zu müssen. Eine Sperrwirkung im Sinne Ballerstedts ergibt sich aber auch daraus nicht. Denn es ist anerkannt, dass das kapitalgesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip einer Haftung aus einem eigenständigen Rechtsgrund nicht entgegen steht. Die Verbindlichkeit kann auch darauf beruhen, dass der Gesellschafter den Tatbestand einer Deliktsnorm verwirklicht hat.32 Dies ist aber jeweils genau zu prüfen. Weder die Konzernzugehörigkeit der Verletzerin an sich noch diffuse Billigkeitsüberlegungen vermögen die Haftungszurechnung innerhalb des Unternehmensverbunds zu begründen. 3. Haftungsvoraussetzungen a) Zugutekommen Erste Voraussetzung für eine Zurechnung ist, dass das Handeln des Beauftragten dem Geschäftsherrn zugutekommt. Die Haftung ist auch Korrelat dafür, dass der Inhaber des Unternehmens den Nutzen aus der Tätigkeit 29 Kniesbeck Die Unterlassungshaftung der Konzernobergesellschaft für Wettbewerbsverstöße der Untergesellschaft, 1999, 54. 30 Rehbinder Konzernaußenrecht und allgemeines Privatrecht, 1969, 541. 31 Kniesbeck (o. Fn. 29), 80. 32 S. etwa Bork ZGR 1994, 237, 256 ff.; Holle Legalitätskontrolle im Kapitalgesellschaftsund Konzernrecht, 2014, 275 f.; Rehbinder (o. Fn. 30), 110.
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des Dritten zieht.33 Das ist in Konzernkonstellationen sicher dann der Fall, wenn ein Mitglied des Unternehmensverbunds für ein anderes Leistungen erbringt, etwa für dessen Geschäft Produkte herstellt oder dessen Produkte vertreibt. Unabhängig davon profitiert die Muttergesellschaft stets zumindest mittelbar vom Erfolg der Tochter, weil der Wert ihrer Anteile und ihr Gewinnanspruch sich bei gutem Geschäftsverlauf erhöhen.34 Dagegen besteht für die Konzernunternehmen, die vom Verletzer weder Leistungen erhalten haben noch über eine maßgebliche Beteiligung an etwaigen Erträgen partizipieren, kein relevanter Vorteil, der eine Inanspruchnahme rechtfertigen könnte. b) Bestimmender und durchsetzbarer Einfluss Zu Recht wird ferner ein bestimmender und durchsetzbarer Einfluss des Unternehmensinhabers auf die von ihm eingeschaltete Hilfsperson gefordert. Die Beherrschung des durch den Dritten geschaffenen Gefahrenkreises setzt hinreichende Einwirkungsmöglichkeiten auf dessen Tätigkeit voraus. Nach den Materialien zu § 13 Abs. 4 UWG a.F. soll die Vorschrift dem Geschäftsherrn „in gesteigertem Maße die Pflicht auferlegen, die Handlungen seiner Angestellten und Beauftragten sorgfältig zu überwachen.“35 Maßgeblich ist jedoch nicht, welchen Einfluss sich der Unternehmensinhaber tatsächlich gesichert hat, sondern welchen Einfluss er sich sichern konnte und musste.36 Er soll sich nicht dadurch der Verantwortlichkeit entziehen können, dass er im konkreten Fall seine Einwirkungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft hat, obwohl ihm dies möglich und zumutbar gewesen wäre. Nach diesen Maßstäben ist ein bestimmender und durchsetzbarer Einfluss wegen des Weisungsrechts gem. § 308 AktG – ohne Rücksicht darauf, ob es tatsächlich ausgeübt wurde – unproblematisch gegeben, wenn das herrschende Unternehmen und die für dieses tätige abhängige Gesellschaft durch einen Beherrschungsvertrag verbunden sind.37 Die Obergesellschaft hat die rechtlich abgesicherte Möglichkeit, die Geschäftstätigkeit der Unter33 BGH GRUR 1995, 605, 607 – Franchise-Nehmer; Hahn (o. Fn. 3), 84; Scherer WRP 2016, 941, 942. 34 Klotz (o. Fn. 10), 204; Werner WRP 2018, 286, 289. 35 Amtliche Begründung des Entwurfs eines Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 252, Nr. 1109, 13. 36 BGHZ 28, 1, 12 – Buchgemeinschaft II; BGH GRUR 1995, 605, 607 – FranchiseNehmer; BGH GRUR 2009, 1167 Rz. 21 – Partnerprogramm; BGH GRUR 2011, 543 Rz. 11 – Änderung der Voreinstellung III Renner/A. Schmidt GRUR 2009, 908, 909 ff.; Scherer WRP 2016, 941, 942; Fritzsche (o. Fn. 7), § 8 UWG Rz. 300; Köhler/Feddersen (o. Fn. 7), § 8 UWG Rz. 2.41; für einen Verzicht auf das Merkmal Hahn (o. Fn. 3), 161 ff.; Köhler GRUR 1991, 344, 348. 37 BGH GRUR 2012, 1279 Rz. 59 ff. – Das große Rätselheft; OLG Bamberg BeckRS 2011, 8628; OLG Frankfurt/M WRP 2001, 1111; Klotz (o. Fn. 10), 206; Kniesbeck (o. Fn. 29), 86 ff.; Werner WRP 2018, 286, 287.
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gesellschaft umfassend zu steuern. Wenn das Weisungsrecht vertraglich für den Geschäftsbereich, in dem die Rechtsverletzung begangen wurde, ausgeschlossen ist, kann dies allerdings ausnahmsweise einer Haftung entgegengestehen. Ein (isolierter) Gewinnabführungsvertrag genügt mangels Einwirkungsmöglichkeiten für eine Zurechnung nicht. Im faktischen GmbHKonzern kann der Mehrheitsgesellschafter aufgrund der Weisungsgebundenheit der Geschäftsführer (§ 37 Abs. 1 GmbHG) seine Pläne ähnlich umfassend durchsetzen wie im Vertragskonzern, so dass hier ebenfalls eine Beauftragtenhaftung in Betracht kommt.38 Schwieriger stellt sich die Situation im faktischen Aktienkonzern dar, weil der Vorstand die Gesellschaft in eigener Verantwortung leitet (§ 76 Abs. 1 AktG) und der Muttergesellschaft kein Weisungsrecht zusteht.39 Hier sind aber die Wertungen der § 17 Abs. 2, § 18 Abs. 1 S. 3 AktG zu beachten. Danach wird auch von einer in Mehrheitsbesitz i.S.v. § 16 AktG stehenden Aktiengesellschaft vermutet, dass sie sich im Zweifel einem mit Mehrheit beteiligten Unternehmen unterordnet. Dahinter steht die Überlegung, dass der Mehrheitsgesellschafter über die Personalkompetenz des typischerweise von ihr dominierten Aufsichtsrats (§ 101 AktG) einen wirksamen Hebel in der Hand hält, um seine Vorstellungen zur Geschäftspolitik zur Geltung zu bringen. Entspricht der Vorstand der abhängigen Gesellschaft nicht den Erwartungen des herrschenden Unternehmens, muss er damit rechnen, abberufen oder nach Auslaufen seiner Amtszeit nicht wieder bestellt zu werden (§ 84 AktG). Im Hinblick darauf kann unterstellt werden, dass er, auch wenn keine formale Folgepflicht besteht, offen ist für die Einflussnahme durch das herrschende Unternehmen,40 zumal dieses der abhängigen Gesellschaft für etwaige Nachteile einen Ausgleich gewähren muss (§ 311 Abs. 2 AktG). Das reicht in dem hier interessierenden Zusammenhang für eine Zurechnung aus.41 Ganz und gar fern liegt der Gedanke, eine Tochtergesellschaft könne auf ihre Muttergesellschaft einen bestimmenden und durchsetzbaren Einfluss ausüben. Zwar ist die Mutter aufgrund ihrer gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht gehalten, Rücksicht auf die Belange der Tochter zunehmen. Aber die Treubindung hat doch in erster Linie die Funktion, die Herrschaft des Gesellschafters über die Gesellschaft zu begrenzen. Zur Beauftragten i.S.v. § 8 38 Eine Haftung für die GmbH-Tochtergesellschaft bejahend etwa OLG Hamm BeckRS 2016, 117435; OLG München WRP 2002, 358; OLG Stuttgart NJW-RR 1991, 1333, 1334; LG Köln BeckRS 2005, 8756; Kniesbeck (o. Fn. 29), 92 f.; Werner WRP 2018, 286, 289; für eine in der Rechtsform einer Limited Company organisierten ausländischen Konzerntochter OLG Frankfurt/M GRUR-RR 2020, 74 Rz. 45 ff. 39 S. nur Habersack in Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 311 AktG Rz. 78; H.F. Müller in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 311 Rz. 62. 40 Windbichler in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2017, § 17 Rz. 20, § 18 Rz. 27. 41 Klotz (o. Fn. 10), 204; Kniesbeck (o. Fn. 29), 88 ff.; a.A. wohl Werner WRP 2018, 286, 289.
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Abs. 2 UWG wird sie dadurch entgegen der oben referierten Auffassung des OLG München42 nicht. Großen Bedenken unterliegt auch die unlängst in der Ortlieb-Entscheidung43 vorgenommene Haftungszurechnung im Verhältnis von konzernangehörigen Schwestergesellschaften. Dass Gesellschaften unter einheitlicher Leitung i.S.v. § 18 Abs. 1 AktG zusammengengefasst sind, ändert nichts daran, dass nur die Muttergesellschaft einen gesellschaftsrechtlich vermittelten Einfluss auf die geschäftlichen Aktivitäten der Tochtergesellschaft hat. Über (denkbare) Einwirkungsmöglichkeiten auf anderer Rechtsgrundlage im konkreten Fall sagen die Entscheidungsgründe von BGH und Vorinstanzen nichts. Dieses Defizit wird durch den bloßen Hinweis auf die arbeitsteilig organisierte Konzernstruktur keineswegs kompensiert. Einer Gesellschaft kann nicht der Wettbewerbsverstoß einer anderen Gesellschaft angelastet werden, nur weil es sich um Tochtergesellschaften derselben Muttergesellschaft handelt. Abgesehen von Ausnahmefällen kann allein letztere kraft ihrer Organisationshoheit für ein Fehlverhalten der Töchter in Anspruch genommen werden. c) Rechtsverstoß innerhalb des Unternehmens Die dritte Voraussetzung ist, dass die Zuwiderhandlung „in einem Unternehmen“, und zwar im Unternehmen des in Anspruch genommenen Unternehmensinhabers, begangen wurde.44 Dieser haftet nur für solche Rechtsverletzungen, die in einem inneren und funktionalen Zusammenhang zu seinem Geschäftsbetrieb stehen.45 Umgekehrt soll eine Inanspruchnahme ausscheiden für geschäftliche Handlungen, die nicht der Geschäftsorganisation des Auftraggebers, sondern derjenigen eines Dritten oder des Beauftragten selbst zuzuordnen sind.46 Die sachgerechte Abgrenzung der Verantwortungsbereiche rechtlich selbstständiger Unternehmen hat gerade in Konzernkonstellationen große Bedeutung. In den drei grundlegenden Entscheidungen „Verona-Gerät“,47 „Meißner Dekor II“48 und „Das große Rät42 OLG München GRUR-RS 2012, 3268; Köhler/Feddersen (o. Fn. 7), § 8 UWG Rz. 2.45; ebenfalls abl. aber Fritzsche (o. Fn. 7), § 8 UWG Rz. 305. 43 BGH GRUR 2018, 924 Rz. 62 f. – Ortlieb I. 44 In § 14 Abs. 7 MarkenG ist gleichsinnig von einer Verletzungshandlung „in einem geschäftlichen Betrieb“ sowie von dem „Geschäftsinhaber“ die Rede. 45 BGH GRUR 2008, 186 Rz. 23 – Telefonaktion; Hahn (o. Fn. 3), 197 ff.; Renner/ A. Schmidt GRUR 2009, 908, 911 f.; Scherer WRP 2016, 941, 942; Köhler/Feddersen (o. Fn. 7), § 8 UWG Rz. 2.47. 46 BGHZ 180, 134 = GRUR 2009, 597 Rz. 15 – Halzband; BGH GRUR 2009, 1167 Rz. 27 – Partnerprogramm; BGH GRUR 2019, 813 Rz. 74 – Cordoba II; OLG Hamm MMR 2013, 41, 42. 47 BGH GRUR 1964, 88 ff. – Verona-Gerät. 48 BGH GRUR 2005, 864 ff. – Meißner Dekor II.
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selheft“49 lag es jeweils so, dass das herrschende Unternehmen selbst operativ tätig war und die abhängige Gesellschaft in den Vertrieb der von ihm eingekauften bzw. hergestellten Produkte eingebunden hatte.50 Der notwendige funktionale Bezug zur eigenen unternehmerischen Tätigkeit war somit gegeben, die Zurechnung des Fehlverhaltens der Tochter daher im Ergebnis gerechtfertigt. Ob und inwieweit eine Beauftragtenhaftung auch dann in Betracht kommt, wenn die Tochter gar nicht unmittelbar für das Unternehmen der Mutter tätig wird, sondern ihre eigenen Produkte oder die von Schwestergesellschaften vertreibt, musste der BGH bislang noch nicht entscheiden. Er hat lediglich ausgesprochen, dass er die Verantwortlichkeit einer „reinen“ Holdinggesellschaft ausschließt.51 Instanzgerichte und Literatur bejahen verbreitet die Haftung der Muttergesellschaft, wenn sie über die Verwaltung ihrer Beteiligungen hinaus auf die operativen Entscheidungen der Töchter aktiv Einfluss nimmt.52 Dann soll es auch keine Rolle spielen, dass es sich bei der Mutter um eine Holdinggesellschaft handelt, die kein eigenes Kundengeschäft unterhält. Wer selbst operative Entscheidungen mit Bezug zum Marktgeschehen treffe, könne sich der Haftung nicht dadurch entziehen, dass er sich für die Ausführung dieser Entscheidungen nicht seines eigenen – unmittelbaren – Unternehmens bediene, sondern hierfür eine Tochtergesellschaft einsetze.53 Einige Autoren gehen darüber noch etwas hinaus und lassen eine funktionale Dependenz,54 einheitliche Unternehmensplanung55 bzw. Wirtschaftsplanung56 oder gar die weit zu verstehende einheitliche Leitung i.S.v. § 18 Abs. 1 AktG genügen.57 Rechtsdogmatisch ist eine solche weitreichende Zurechnung nur dann begründbar, wenn man von der Annahme eines einheitlichen Konzernunternehmens ausgeht, in dem die Rechtsverletzung begangen wurde und das der Konzernmutter als Unternehmensinhaberin zugeordnet wird.58 Eine solche 49
BGH GRUR 2012, 1279 ff. – Das große Rätselheft. Ebenso etwa bei OLG Frankfurt/M GRUR-RR 2020, 74 ff.; KG GRUR-RS 2017, 155281; LG Köln BeckRS 2005, 8756. 51 BGH GRUR 2005, 864, 865 – Meißner Dekor II; BGH GRUR 2012, 1279 Rz. 61 – Das große Rätselheft. 52 OLG Frankfurt/M BeckRS 2001, 30205114; OLG Hamm BeckRS 2016, 117435; OLG München WRP 2002, 358; Maier Wettbewerbsrechtliche Haftung geschäftsführender Organe, 1988, 39 f.; Werner WRP 2018, 286, 287 ff.; abl. Kniesbeck (o. Fn. 29), 82 ff. 53 OLG Hamm BeckRS 2016, 117435. 54 Rehbinder (o. Fn. 30), 526 ff. 55 Hahn (o. Fn. 3), 359 ff. 56 Köhler GRUR 1991, 344, 349. 57 Klotz (o. Fn. 10), 214 ff. Zum Streit zwischen den Anhängern des „engen“ und des „weiten“ Konzernbegriffs s. Wimmer-Leonardt Konzernhaftungsrecht, 2004, 10 ff.; Bayer in MüKo AktG, 5. Aufl. 2019, § 18 Rz. 28 ff.; gegen diese Unterscheidung Windbichler (o. Fn. 40), § 18 AktG Rz. 19. 58 In diesem Sinne Klotz (o. Fn. 10), 214 ff.; Köhler GRUR 1991, 344, 352. 50
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Einheitsbetrachtung finden wir im Europäischen Kartellrecht, der deutsche Gesetzgeber hat sie gerade im Zuge der 9. GWB-Novelle in § 81 Abs. 3a GWB für die Bußgeldverantwortlichkeit übernommen. Voraussetzung für eine wirtschaftliche Einheit ist danach, dass ein Unternehmen das Marktverhalten des anderen durch Weisungen oder auf ähnliche Weise bestimmt. Eine solche Einflussnahme wird in den Fällen, in denen eine Beteiligung von (annähernd) 100% besteht, vermutet, sie muss im Übrigen nachgewiesen werden. Liegt eine solche wirtschaftliche Einheit vor, haftet das weisungsbefugte Unternehmen für kartellwidriges Verhalten des weisungsabhängigen Unternehmens.59 Diese Rechtsprechung hat heftige Kritik erfahren, da sie die kartellrechtlichen Verantwortlichkeiten verwischt und die Mutter ohne Beteiligung am konkreten Verstoß in die Haftung nimmt.60 Diese berechtigten Einwände sprechen auch gegen eine Übernahme dieses Konzepts in das Lauterkeitsund Immaterialgüterrecht. Abgesehen davon ist die normative Grundlage aber auch ganz eine andere. Adressat der Verbote in Art. 101, 102 AEUV sind „Unternehmen“, § 8 Abs. 2 UWG und seine Schwestervorschriften richten sich dagegen an den „Inhaber des Unternehmens“ und folgen damit ganz klar dem Rechtsträgerprinzip. Nicht eine diffuse wirtschaftliche Einheit aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen61 soll zur Verantwortung gezogen werden, sondern das Rechtssubjekt, für den der Angestellte oder Beauftragte bei seinem Wettbewerbsverstoß gehandelt hat. Dementsprechend sind auch die Unternehmen der verschiedenen rechtlich selbstständigen Konzernglieder voneinander zu trennen. Inhaber des Unternehmens ist das Rechtssubjekt, in dessen Namen und unter dessen Verantwortung der Geschäftsbetrieb geführt wird. Das ist aber bei einer Kapitalgesellschaft nun einmal die juristische Person selbst, nicht aber deren Gesellschafter. Angesichts dieser der gesetzlichen Regelung zugrunde liegenden klaren Abgrenzung der Verantwortungsbereiche nach dem Rechtsträgerprinzip kommt eine Einheitsbetrachtung nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen in Frage. In der Regel werden die Interessen der Gläubiger hinreichend dadurch gewahrt, dass die Tochtergesellschaft verschuldensunabhängig für das Fehlverhalten ihrer Hilfspersonen einzustehen hat. Eine zusätzliche Inanspruchnahme der Muttergesellschaft, die legitimerweise auf ein eigenunternehmerisches Auftreten am Markt verzichtet und sich auf die Ausübung der einheitlichen Leitung i.S.v. § 18 Abs. 1 AktG beschränkt, ist nicht gerechtfertigt. Anders liegt es nur in den Fällen, in denen die Kon59 Grundlegend EuGH Slg. I 2009, 8237 Rz. 54 ff. – Akzo Nobel; für das Kartellschadensersatzrecht jetzt auch EuGH NJW 2019, 1197 Rz. 36 ff. – Skanska. 60 S. Hommelhoff ZGR 2019, 379, 404 ff.; umfangreiche Nachweise bei Moser Konzernhaftung bei Kartellrechtsverstößen, 2017, 91 ff. 61 EuGH Slg. I 2009, 8237 Rz. 55 – Akzo Nobel; EuGH NJW 2019, 1197 Rz. 37 – Skanska.
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zernmutter die Tochtergesellschaften wie unselbstständige Betriebsabteilungen führt und ihnen keinerlei eigenen Entscheidungsspielraum belässt. Die faktische Leitung des Konzerns als Einheitsunternehmung führt bei wertender Betrachtung dazu, dass etwaige Rechtsverletzungen der nachgeordneten Konzernglieder auch als Zuwiderhandlungen im Unternehmen der Konzernmutter anzusehen sind. Wenn diese das operative Handeln der Töchter vollständig ihrem Willen unterwirft, dann muss sie sich dieses auch zurechnen lassen und kann sich nicht darauf berufen, dass sie selbst nicht unmittelbar am Markt tätig ist. Eine derart rigorose zentralistische Führung kann aber selbst bei Bestehen eines Beherrschungsvertrages oder einer 100%-Beteiligung nicht einfach unterstellt werden, auch eine Personalverflechtung genügt für sich genommen nicht. Es bedarf vielmehr weitergehender eindeutiger Anhaltspunkte, die in einer Gesamtschau den sicheren Schluss darauf zulassen, dass die Mutter ihre Einflussmöglichkeiten tatsächlich nutzt, um das Verhalten der Töchter dauerhaft und umfassend zu steuern. Diese besonders intensive Form der Einwirkung auf die Aktivitäten der Tochtergesellschaften kann insbesondere durch ein gemeinsames Auftreten am Markt zum Ausdruck kommen, durch ein weitgehend identisches Waren- bzw. Dienstleistungsangebot, einheitliche Preispolitik, gemeinschaftliches Corporate Design und Marketing. Wenn unter den genannten Voraussetzungen etwa die rechtlich selbstständigen Betreibergesellschaften einer vielgliedrigen, bundesweit tätigen Verbrauchermarktkette eine wettbewerbswidrige Werbeanzeige schalten, dann besteht zumindest eine tatsächliche Vermutung dafür, dass sie auch hier nicht autonom, sondern nur als Befehlsempfänger der herrschenden Holdinggesellschaft agieren. Die Haftung der Mutter für die konzernweite Werbekampagne (einschließlich eines Fehlverhaltens der beauftragten Werbeagentur) ist dann begründet, auch wenn sie diese nicht selbst in Auftrag gegeben hat.62
IV. Teilnehmerhaftung (§ 830 BGB) Wenn eine Konzerngesellschaft am Rechtsverstoß der anderen als Mittäterin, Anstifterin oder Gehilfin mitwirkt, so haften die Beteiligten nach Maßgabe der §§ 830 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB. In Ermangelung einer speziellen Regelung gilt die Vorschrift auch für die Abwehr- und Schadensersatzansprüche im Lauterkeits- und Immaterialgüterrecht.63 Doch sind die Hürden, die Muttergesellschaft für rechtswidrige Weisungen an die Toch62
So aber OLG München WRP 2002, 358. BGHZ 180, 134 = GRUR 2009, 597 Rz. 14 – Halzband; BGH GRUR 2011, 152 Rz. 30 ff. – Kinderhochstühle im Internet I; Alexander (o. Fn. 3), 616 ff.; Köhler GRUR 2008, 1, 2; Wagner in MüKoBGB, 7. Aufl. 2017, § 830 BGB Rz. 10. 63
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tergesellschaft oder gar für ein bloßes Unterlassen auf diesem Wege in Anspruch zu nehmen, vor allem in subjektiver Hinsicht hoch. Bei allen Formen der Teilnahme i.S.d. § 830 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB ist stets eine vorsätzliche Mitwirkung an der unerlaubten Handlung erforderlich.64 Erst das von jedem einzelnen steuerbare Willenselement rechtfertigt die wechselseitige Zurechnung der Tatbeiträge.65 Nach der zusammenfassenden Formel der Rechtsprechung „verlangt die Teilnahme neben der Kenntnis der Tatumstände wenigstens in groben Zügen den jeweiligen Willen der einzelnen Beteiligten, die Tat gemeinschaftlich mit anderen auszuführen oder sie als fremde Tat zu fördern.“66 Ein lediglich fahrlässiges Geschehen-Lassen genügt daher auf keinen Fall. Zum Teilnehmervorsatz gehört zudem auch das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit der Haupttat.67 Die liegt jedoch angesichts der Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen zulässigem und unzulässigem geschäftlichen Verhalten selten klar auf der Hand.68 Auch wenn dolus eventualis, also billigendes Inkaufnehmen des Wettbewerbsverstoßes bzw. der Schutzrechtsverletzung, genügt,69 so ist doch der Nachweis nur sehr schwer zu führen. Aufgrund der engen Voraussetzungen hat die Teilnehmerhaftung in Konzernkonstellationen kaum praktische Bedeutung erlangt.70
V. Verantwortlichkeit für den Verrichtungsgehilfen (§ 831 BGB) § 831 BGB begründet gemäß der individualistischen Konzeption des Gesetzgebers eine Haftung des Geschäftsherrn für vermutete eigene Schuld bei der Auswahl- und Überwachung seiner Hilfspersonen. Ob der Anspruch in den hier interessierenden Konzernkonstellationen überhaupt Anwendung 64 BGH NJW-RR 1990, 604, 605; BGH GRUR 2002, 599 – Funkuhr; BGH GRUR 2004, 619, 620 – kurt biedenkopf.de; Hahn (o. Fn. 3), 11 f.; Brandi-Dohrn in FS Pagenberg, 2005, 375, 384; König AcP 217 (2017), 611, 638 ff.; Spindler in BeckOK BGB, 53. Ed. 1.2.2020, § 830 Rz. 5 ff., 10 ff. 65 S. König AcP 217 (2017), 611, 639; Förster in BeckOGK BGB, Stand 1.1.2020, BGB § 830 Rz. 8. 66 BGH NJW 2004, 3423, 3425; NJW 2014, 1380 Rz. 15; zur Zusammenfassung zu einem einheitlichen zivilrechtrechtlichen Teilnahmebegriff s. auch Förster (o. Fn. 65), § 830 BGB Rz. 5; Wagner (o. Fn. 63), § 830 BGB Rz. 15. 67 BGHZ 177, 150 = GRUR 2008, 810 Rz. 15 – Kommunalversicherer; BGHZ 180, 134 = GRUR 2009, 597 Rz. 14 – Halzband; BGH GRUR 2015, 485 Rz. 35 – Kinderhochstühle im Internet III; Köhler/Feddersen (o. Fn. 7), § 8 UWG Rz. 2.15; gleichsinnig BGH NJW 2004, 3423, 3425; NJW 2014, 1380 Rz. 15: Verhalten muss von einem „auf die Rechtsgutverletzung gerichteten Willen getragen“ sein. 68 Alexander (o. Fn. 3), 624 f. 69 Brandi-Dohrn in FS Pagenberg, 2005, 375, 384. 70 Die Voraussetzungen im konkreten Fall ablehnend BGH GRUR 2002, 618, 619 – Meißner Dekor I; OLG Düsseldorf BeckRS 2006, 12701; LG Düsseldorf NJOZ 2007, 2100, 2135 f.
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finden kann, ist jedoch umstritten. Der VI. Zivilsenat hat in einer neueren Entscheidung gesagt, ein selbstständiges Unternehmen könne regelmäßig selbst dann, wenn es in einem Konzernverhältnis zu dem Unternehmen stehe, für das es eine bestimmte Aufgabe wahrnehme, nicht als dessen Verrichtungsgehilfe i.S.v. § 831 BGB qualifiziert werden, weil es insoweit an der erforderlichen Abhängigkeit und Weisungsgebundenheit fehle. Die Übertragung von Aufgaben auf ein bestimmtes Unternehmen innerhalb eines Konzerns diene regelmäßig gerade dem Zweck, durch die selbstständige – nicht weisungsgebundene – Erledigung der Aufgabe andere Teile des Konzerns zu entlasten.71 In der Literatur wird verbreitet mit ähnlichen Argumenten eine Geschäftsherrenhaftung für Konzerngesellschaften generell verneint.72 Allerdings hat der I. Zivilsenat in der bereits angesprochenen Rätselheft-Entscheidung deutlich andere Akzente gesetzt. Beim Vorliegen besonderer Umstände sei es durchaus nicht ausgeschlossen, dass ein rechtlich selbstständiges Unternehmen Verrichtungsgehilfe eines anderen Unternehmens sein könne. Maßgeblich sei, ob nach den tatsächlichen Verhältnissen eine Eingliederung in den Organisationsbereich des Geschäftsherrn erfolgt sei und der Handelnde dessen Weisungen unterliege. Dies sei wegen des zwischen den Beteiligten abgeschlossenen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags hier gegeben.73 Entscheidend ist die Vergleichbarkeit der Konzerngesellschaft mit der natürlichen Person, die dem Gesetzgeber des BGB zweifellos als Verrichtungsgehilfe vor Augen stand.74 Für diese wird gefordert, dass sie ihre Tätigkeit in einer abhängigen Stellung vornimmt und der Geschäftsherr diese Tätigkeit jederzeit beschränken oder entziehen oder nach Zeit und Umfang bestimmen kann.75 Eine dem wertungsmäßig entsprechende enge organisatorische Eingliederung wird bei Konzerngesellschaften eher selten vorkommen, sie ist aber auch nicht generell ausgeschlossen. Eine Gleichstellung liegt nahe in den bereits angesprochenen76 Fällen, in denen die Konzernmutter die Tochter quasi als unselbstständige Betriebsabteilung behandelt,77 sie mit ihren dirigistischen Vorgaben als Werkzeug und verlängerten Arm ein-
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BGH NJW 2013, 1002 Rz. 16. Wimmer-Leonardt (o. Fn. 57), 409 f.; Grunewald NZG 2018, 481, 482 ff.; Bernau (o. Fn. 13), § 831 BGB Rz. 102, 108; Wagner (o. Fn. 63), § 831 BGB Rz. 17; Habersack (o. Fn. 39), § 311 AktG Rz. 92. 73 BGH GRUR 2012, 1279 Rz. 45 – Das große Rätselheft. 74 Rehbinder (o. Fn. 30), 521 ff., 529 ff. 75 BGH NJW 2009, 1740 Rz. 11; NJW 2014, 2797 Rz. 18; Bernau (o. Fn. 13), § 831 BGB Rz. 99; Wagner (o. Fn. 63), § 831 BGB Rz. 14. 76 S. oben III.3.c). 77 Fleischer/Korch DB 2019, 1944, 1947; ähnlich Holle (o. Fn. 32), 273 f.; Spindler in BeckOGK BGB, Stand 1.2.2020, BGB § 831 Rz. 18. 72
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setzt.78 Das Bestehen eines Weisungsrechts reicht hierfür nicht aus, weil von ihm auch im Sinne einer dezentralen Konzernführung Gebrauch gemacht werden kann. Umgekehrt kann trotz des Fehlens eines formalen Weisungsrechts die abhängige AG ausnahmsweise dann als Verrichtungsgehilfin anzusehen sein, wenn das herrschende Unternehmen mit dem Tochtervorstand faktisch wie mit nachgeordneten Mitarbeitern eines Einheitsunternehmens umgeht.79 Maßgeblich sind bei der Beurteilung der Weisungsabhängigkeit stets die tatsächlichen Gegebenheiten.80 Die Zusammenfassung von Konzernunternehmen unter einheitlicher Leitung i.S.v. § 18 Abs. 1 AktG ist keineswegs mit flächendeckenden Eingriffen in das operative Geschäft gleichzusetzen und begründet für sich genommen noch kein den Anforderungen des § 831 BGB genügendes hierarchisches Über-/Unterordnungsverhältnis.81 In der Regel ausgeschlossen ist Weisungsabhängigkeit im Verhältnis von Schwestergesellschaften untereinander.82 Insgesamt gesehen erweist sich der Anwendungsbereich Geschäftsherrenhaftung in Konzernverbund als sehr überschaubar und auf doch eher atypische Sonderkonstellationen beschränkt. Selbst dann kann sich das herrschende Unternehmen nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB entlasten, wenn es nachweist, dass es die Geschäftsleitung der Tochtergesellschaft sorgfältig ausgewählt und bei der Aufgabenerfüllung angemessen kontrolliert hat.83
VI. Verletzung von Verkehrspflichten Eine Konzerngesellschaft haftet selbst als Verletzerin, wenn sie durch ihre Organe (§ 31 BGB) selbst den Tatbestand der einschlägigen Norm in vollem Umfang erfüllt, etwa indem sie ihre Website mit der Website einer anderen Konzerngesellschaft verlinkt und sich deren rechtsverletzende Inhalte so zu eigen macht.84 Auf die Restriktionen der Beauftragten-,Teilnehmer- und Geschäftsherrnhaftung kommt es dann nicht an. Eine weitergehende originäre täterschaftliche Verantwortlichkeit lässt sich durch die Anerkennung von konzernweiten Verkehrspflichten erreichen. Wettbewerbsrechtlichen Verkehrspflichten unterliegt, wer durch sein Handeln im geschäftlichen Verkehr die ernsthafte Gefahr begründet, dass Dritte durch das Wettbewerbs78 Vgl. OLG Düsseldorf GRUR-RR 2013, 273, 274; bestätigend, die Voraussetzungen aber im konkreten Fall ablehnend OLG Düsseldorf GRUR 2018, 855, 861. 79 Fleischer/Korch DB 2019, 1944, 1947. 80 Bernau (o. Fn. 13), § 831 BGB Rz. 100; Wagner (o. Fn. 63), § 831 BGB Rz. 16. 81 So aber tendenziell König AcP 217 (2017), 611, 661 ff.; bei zusätzlichem Bestehen eines Weisungsrechts auch Schall ZGR 2018, 479, 496 ff. 82 Spindler (o. Fn. 77), § 831 BGB Rz. 18. Diese Konstellation lag der Entscheidung BGH NJW 2013, 1002 zugrunde, der Fall wurde also im Ergebnis zutreffend entschieden. 83 Dazu näher Rehbinder (o. Fn. 30), 539 f.; König AcP 217 (2017), 611, 665. 84 So zu einer Urheberrechtsverletzung OLG Frankfurt/M MMR 2017, 702, 703.
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recht geschützte Interessen von Marktteilnehmern verletzen; er ist dazu verpflichtet, diese Gefahr im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren zu begrenzen.85 Das wird man annehmen können, wenn die Konzernmutter die Tochtergesellschaft zu einem bestimmten objektiv rechtswidrigen Verhalten anweist86 oder ihr ein auf Rechtsverletzungen angelegtes Geschäftsmodell aufoktroyiert.87 Sie ist dann für die Folgen der von ihr durch aktive Einwirkung auf die Tochter geschaffenen konkreten Gefahrenlage unter dem Gesichtspunkt der Ingerenz verantwortlich. Zurückhaltung ist aber geboten gegenüber Ansätzen im Schrifttum, die Haftung an ein bloßes Unterlassen zu knüpfen. Allein aufgrund ihres Einflusspotentials ist die Mutter nicht verpflichtet, rechtswidrige Praktiken ihrer Töchter zu verhindern.88 Eine deliktische Verantwortlichkeit erwächst auch nicht daraus, dass sie die Tochter in einen Unternehmensverbund einbindet, diesen arbeitsteilig organisiert und von den dadurch erzielten Synergieeffekten profitiert. Die §§ 291 ff. AktG sollen es der Konzernspitze ermöglichen, Herrschaft in der Form einheitlicher Leitung bei gleichzeitiger Haftungsabschottung auszuüben. Wer aus der Konzernherrschaft verbundweite haftungsauslösende Sorgfaltsund Überwachungspflichten ableiten will,89 konterkariert diese Wertung. Die Bildung eines Konzerns bedeutet keinesfalls eine zu missbilligende Gefahrsetzung, sondern legitime privatautonome Entscheidung für eine besonders leistungsfähige, vom Gesetzgeber ausdrücklich akzeptierte Organisationsform wirtschaftlichen Handelns.90 Eine andere Bewertung ist auch an dieser Stelle wieder in der bereits als pathologisch erkannten Konstellation geboten, in der die rechtliche Selbstständigkeit der Tochter eine rein formale ist und sie wie eine Betriebsabteilung geführt wird.91 Die Erweiterung des Verantwortungsbereichs beruht hier auf dem Gesichtspunkt der Beherrschung der Gefahrenlage, die über das konzerntypische Ausmaß sehr deutlich hinausgeht. Wenn die Mutter die operative Tätigkeit der Tochter umfassend und dauerhaft steuert und so die Organisationsgewalt über deren Geschäftsbetrieb praktisch komplett übernimmt, so sind ihr auch die in dieser Sphäre entstehenden Risiken zuzurechnen.92
85 BGHZ 173, 188 = GRUR 2007, 890 Rz. 36 – Jugendgefährdende Medien bei eBay; Alexander (o. Fn. 3), 610 ff. mwN. 86 Grunewald NZG 2018, 481, 484. 87 S. dazu im Kontext der Organhaftung BGHZ 214, 344 = GRUR 2014, 883 Rz. 31. 88 BGH GRUR 2002, 618, 619 – Meißner Dekor I. 89 S. Buxbaum GRUR 2009, 240, 243 ff.; Schall ZGR 2018, 479, 503 ff.; ansatzweise bereits Rehbinder (o. Fn. 30), 544 ff. 90 Ähnlich Fleischer/Korch DB 2019, 1944, 1951; Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 281 ff.; Wagner (o. Fn. 63), § 823 BGB Rz. 99 f. 91 Fleischer/Korch DB 2019, 1944, 1951; König AcP 217 (2017), 611, 671. 92 Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 291.
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VII. Zusammenfassung 1. Die vorstehende Untersuchung kommt zu dem alarmierenden Befund, dass die Rechtsprechung die Beauftragtenhaftung in Konzernlagen in zentralen Bereichen des Lauterkeits- und Immaterialgüterrechts fast uferlos ausgeweitet hat. Zwar erfasst diese strikte Erfolgshaftung nach dem Prinzip respondeat superior abgesehen von § 14 Abs. 7 MarkenG nur Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche. Sie bedeutet aber doch in ihrer überaus großzügigen Handhabung durch die fachgerichtliche Judikatur eine Entwertung des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips, der entschieden zu widersprechen ist. 2. Zwar kann eine rechtlich selbständige Gesellschaft „Beauftragte“ i.S.d. § 8 Abs. 2 UWG und der einschlägigen Parallelvorschriften sein. Zu fordern ist jedoch, dass der Erfolg ihrer Tätigkeit dem in Anspruch genommenen Unternehmensinhaber zugutekommt, diesem ein bestimmender, durchsetzbarer Einfluss auf diese Tätigkeit eingeräumt ist, und das beanstandete Verhalten in einem inneren und funktionalen Zusammenhang zu dessen Geschäftsbetrieb steht. Schon mangels relevanter Einwirkungsmöglichkeiten scheidet in der Regel eine geschwisterliche Haftung und erst recht eine Haftung der Tochter für die Mutter aus. Das arbeitsteilige Zusammenwirken von Konzerngesellschaften im Unternehmensverbund vermag eine Zurechnung nicht zu rechtfertigen. 3. Die Konzernmutter, die über ihre gesellschaftsrechtliche Beteiligung von der Tätigkeit der Tochter profitiert und auf diese einwirken kann, haftet grundsätzlich nur unter der weiteren Voraussetzung, dass sie die abhängige Gesellschaft mit einer aus ihrem eigenen Geschäftsbetrieb resultierenden Funktion betraut hat. Eine Holdinggesellschaft, die selbst nicht operativ am Markt auftritt, unterliegt regelmäßig nicht der Beauftragtenhaftung. Nur in den Ausnahmefällen, in denen die Konzernspitze die Tochtergesellschaften wie unselbstständige Betriebsabteilungen führt und deren geschäftliche Tätigkeit dauerhaft und umfassend steuert, können Rechtsverletzungen der nachgeordneten Konzernglieder auch als haftungsauslösende Zuwiderhandlungen im Unternehmen der Konzernmutter bewertet werden. 4. Der Zurechnung von Tatbeiträgen innerhalb des Konzernverbunds nach § 830 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB sind schon wegen der strengen subjektiven Anforderungen enge Grenzen gesetzt. Der notwendige Teilnahmevorsatz, der auch das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit der Haupttat umfassen muss, ist in der Praxis nur schwer nachweisbar.
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5. Auch die Geschäftsherrenhaftung für vermutetes Auswahl und Überwachungsverschulden nach § 831 BGB hat zu Recht bisher nur geringe praktische Bedeutung in Konzernlagen erlangt. Typischerweise fehlt es an der zur Bejahung der Verrichtungsgehilfeneigenschaft notwendigen Intensität der Abhängigkeit und Weisungsgebundenheit der Verbundmitglieder. Abweichend ist auch hier zu werten, wenn die Mutter die Tochtergesellschaft wie die bloße Betriebsabteilung eines einheitlichen Unternehmens organisiert und behandelt, so dass deren rechtliche Selbstständigkeit nicht mehr als eine formale Hülle ist. Auch dann bleibt der Obergesellschaft die Chance, sich nach § 831 S. 2 BGB zu entlasten. 6. Vorsicht und Augenmaß sind bei der Anerkennung konzernweiter Verkehrspflichten geboten. Als mittelbare Verletzerin haftet die Konzernmutter, wenn sie der Tochtergesellschaft die Weisung zur Vornahme einer bestimmten objektiv rechtswidrigen geschäftlichen Handlung erteilt oder ihr ein von vorneherein auf Rechtsverstöße angelegtes Geschäftsmodell aufzwingt. Eine generelle haftungsbewehrte deliktische Pflicht zur Verhinderung schädigender Praktiken im Konzernverbund trifft die Konzernspitze nur, wenn sie die Töchter wie Betriebsabteilungen ohne eigenen Entscheidungsspielraum steuert. Die Einbindung mehrerer Unternehmen unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens iSv § 18 Abs. 1 AktG reicht zur Begründung übergreifender Sorgfaltsund Überwachungspflichten keinesfalls aus. Die autonome Entscheidung für die durch das Gesellschaftsrecht zur Verfügung gestellte Organisationsform des Konzerns ist auch durch das Wettbewerbsrecht zu akzeptieren, sie taugt daher nicht zur Begründung einer Garantenpflicht des herrschenden Unternehmens und daran anknüpfende Haftungsfolgen.
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„Management Letter“ der GmbH Geschäftsführer Andreas Nelle
„Management Letter“ der GmbH-Geschäftsführer – Auskunftspflichten und Haftung der Geschäftsführung beim Verkauf von Geschäftsanteilen der GmbH ANDREAS NELLE
I. Die Rolle der Geschäftsführung beim Verkauf von Geschäftsanteilen an der Gesellschaft Die Rolle des Management der Zielgesellschaft im M&A Prozess ist ein Ausschnitt aus dem Themenkreis Corporate Governance, der im wissenschaftlichen Werk der Jubilarin einen wichtigen Platz einnimmt.1 Der folgende Beitrag will, beschränkt auf die besonders praxisrelevante GmbH vor allem ein Instrument in den Blick nehmen, das sich in den vergangenen Jahren zunehmender Beliebtheit in M&A Prozessen erfreut: den so genannten „Management Letter“. In diesem macht die Geschäftsführung Angaben zum Geschäftsbetrieb der Gesellschaft, die für den Erwerber im Rahmen des Verkaufsprozesses bedeutsam sind. Diese Management Letter treten in einer Vielzahl unterschiedlicher Gestaltungen auf, enthalten allerdings häufig keine klare rechtliche Einordnung, manchmal nicht einmal eine Regelung zu den Rechtsfolgen, falls eine von der Geschäftsführung gemachte Angabe nicht zutrifft.2 Die rechtliche Einordnung dieser Management Letter und die aus solchen Erklärungen folgenden Haftungsrisiken für die Geschäftsführung der GmbH sind in den letzten zehn Jahren Gegenstand einer ganzen Reihe überwiegend von Praktikern verfasster Aufsätze geworden.3 1 Beispielhaft nur Corporate Governance internationaler Konzerne unter dem Einfluss kapitalmarktrechtlicher Anforderungen, in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance. Leitung und Überwachung börsennotierter Unternehmen in der Rechts- und Wirtschaftspraxis, 2. Aufl. 2009, 825–848; Dienen staatliche Eingriffe guter Unternehmensführung?, NJW 2012, 2625. 2 Krüger/Pape NZI 2009, 870; Hohaus/Kaufhold BB 2015, 709, 712 f.; Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1099; Scheuffele GmbHR 2010, 965, 967. 3 In chronologischer Reihenfolge sind insbesondere zu nennen: Haas/Müller Haftungsrisiken des GmbH-Geschäftsführers im Zusammenhang mit Unternehmens(ver)käufen,
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Zur Einführung in die Fragestellung sollen nachfolgend zunächst in aller Kürze in paar Eckpunkte zur Rolle des Managements in einem M&A Prozess im Regelfall und in Sonderfällen der Managementbeteiligung dargestellt werden. 1. Kontrast: Die Rolle der Geschäftsführung beim Share Deal und beim Asset Deal Die Domäne des Management Letter ist der Unternehmensverkauf in Form des Share Deal. Der Asset Deal ist insofern ein instruktiver Kontrast, als dort die Weichen von Anfang an grundsätzlich anders gestellt sind: Die Zielgesellschaft selbst veräußert ihren Geschäftsbetrieb und ist damit Verkäuferin, auch wenn wirtschaftlich am Ende ihre Gesellschafter den Verkaufserlös erhalten. Die Geschäftsführung ist in diesem Fall daher unmittelbar in der Rolle und Verantwortung, dem Käufer gegenüber Auskünfte zum Geschäftsbetrieb der Gesellschaft zu erteilen. Im Share Deal fällt dagegen die Rolle des Verkäufers dem Gesellschafter zu, der über weit weniger Informationen in Bezug auf den Geschäftsbetrieb verfügt, als die Geschäftsführung. 2. Die Rolle der Geschäftsführung bei Vorbereitung und Vertragsschluss Die Kenntnis der Geschäftsführung vom Geschäftsbetrieb der Zielgesellschaft gibt ihr eine Schlüsselrolle für die Erteilung von Informationen an den Kaufinteressenten im Rahmen seiner Prüfung des Kaufobjekts, der so genannten Due Diligence. Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang die Geschäftsführung dem Kaufinteressenten im Rahmen der Due Diligence Informationen über den Geschäftsbetrieb offen legen darf, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen, die im Folgenden noch etwas näher zu schildern sind. Da sich der Käufer nicht allein auf seine Due Diligence verlassen wird, sondern stets im Rahmen des Kaufvertrags auch Garantien über den Geschäftsbetrieb verlangt, kommt der Geschäftsführung als weitere Aufgabe in GmbHR 2004, 1169; Schaffner Haftungsbeschränkungen in Management Letter, BB 2007, 1292; Seibt/Wunsch Managementgarantien bei M&A Transaktionen, ZIP 2008, 1093–1102; Berg Der Direktanspruch des Veräußerers gegen den Geschäftsführer im Rahmen von M&A Transaktionen, NZG 2008, 641; Krüger/Pape Managementgarantien in Krise und Insolvenz, NZI 2009, 870; Scheuffele Stellungnahme zu Garantie-Erklärungen beim Unternehmenskauf: Pandora-Büchse für die Geschäftsführer der zu veräußernden GmbH?, GmbHR 2010, 965; Hohaus/Kaufhold Garantien des Managements bei Private Equity Transaktionen, BB 2015, 709–714, Jakobs/Thiel Managementerklärungen bei Unternehmenskäufen – Risiken und Absicherung aus Sicht der Geschäftsführung, BB 2016, 1987– 1991; Werner Die Verletzung des Auskunftsrechts nach § 51a GmbHG durch den Geschäftsführer, GmbHR 2018, 400–405.
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aller Regel zu, diesen Garantiekatalog darauf zu prüfen, ob die verlangten Garantien so abgegeben werden können, oder ob sie jedenfalls im Hinblick auf bestimmte Sachverhalte eingeschränkt werden müssen, etwa indem diese Sachverhalte dem Käufer offen gelegt werden. Wenn der Verkäufer die vom Käufer geforderten Garantien nach Prüfung durch die Geschäftsführung so abgibt, wie verlangt, stellt sich die Frage, wer das Risiko trägt, dass der Geschäftsführung bei ihrer Prüfung Fehler unterlaufen sind. Dabei soll sich die Betrachtung im Rahmen dieses Beitrags darauf beschränken, dass unabsichtlich objektiv falsche Angaben gemacht wurden. 3. Besonderheiten bei Managementbeteiligung Besonderheiten im Hinblick auf die Rolle des Managements ergeben sich, wenn das Management an der Zielgesellschaft selbst bereits vor dem Verkauf beteiligt ist oder sich an dem Erwerbsvehikel und damit wirtschaftlich an dem Kauf beteiligt, man spricht dann unter Umständen auch von einem Management-Buy-Out („MBO“). a) Beteiligung vor dem Verkauf Eine praktisch wichtige Sonderkonstellation, die im Rahmen dieses Beitrags auch betrachtet werden soll, sind die Fälle, in denen die Geschäftsführung (das „Management“) selbst an der Zielgesellschaft beteiligt ist. Dies kann entweder als unmittelbare Beteiligung gestaltet sein oder – wie häufig – als mittelbare Beteiligung, etwa über eine zwischengeschaltete ManagementBeteiligungsgesellschaft (in der Regel eine GmbH & Co. KG). Dabei ist wichtig zu verstehen, dass das Management im Rahmen dieser Beteiligung in der Regel keinerlei Kontrollrechte erhält und die Entscheidung über den Verkaufszeitpunkt allein beim Hauptgesellschafter (häufig ein Finanzinvestor) liegt, ebenso wie die gesamte Steuerung des Verkaufsprozesses, Auswahl des (potentiellen) Käufers und Verhandlung des Kaufvertrags. Gelegentlich ist die Managementbeteiligung auch nicht als gesellschaftsrechtliche Beteiligung, sondern rein „virtuell“ ausgestaltet. Die Grenzen zu einem rein dienstvertraglichen „Exit-Bonus“ sind dabei fließend. b) Beteiligung am Erwerb und „MBO“ Eine besondere Rolle hat das Management auch – insbesondere angesichts des oben bereits angesprochenen Informationsvorsprungs gegenüber den Gesellschaftern und dem Erwerber – wenn es seinerseits (auch) an dem Erwerber beteiligt ist. In der Praxis kommen auch hier wieder die unterschiedlichsten Gestaltungen und Erscheinungsformen vor. Nicht selten verlangen Finanzinvesto-
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ren als Erwerber von dem Management, vor allem sofern es bereits vor dem Verkauf an der Zielgesellschaft beteiligt ist, dass es sich an dem Erwerb beteiligt, also beispielsweise jedenfalls einen Teil des Verkaufserlöses wieder in das Erwerbsvehikel reinvestiert (sog. „Roll-Over“), auch als Zeichen dafür, dass es an eine zukünftige positive wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft glaubt und bereit ist, zu dieser beizutragen.4 Ob auch in diesen Fällen die Folgerungen gerechtfertigt sind, die für den „MBO“ teilweise gezogen werden5, ist fraglich. 4. Management Letter Bei allen Unterschieden in der Ausgestaltung geht es beim Management Letter in der Regel meist nicht mehr in erster Linie um die Erteilung detaillierter Auskünfte, sondern vor allem um die Bestätigung, dass keine für die Erwerber wichtigen, im Rahmen der vorherigen oder parallelen Due Diligence noch nicht offen gelegten Umstände bestehen. Insofern bildet der Management Letter häufig einen Teil oder den Abschluss der Tätigkeit der Geschäftsführung im Rahmen der Due Diligence und ist mit dieser eng verknüpft. Die mit einem solchen Ansinnen und Dokument konfrontierte Geschäftsführung muss sich zum einen fragen, ob sie zur Erteilung der begehrten Auskünfte und Bestätigung verpflichtet ist und wenn ja in welcher Form und mit welchen Risiken dies verbunden ist. Dieser Beitrag will zeigen, dass es im unübersichtlichen Feld der Management Letter und verwandter Erklärungen der Geschäftsführung sinnvoll ist, eine grundsätzliche Unterscheidung einzuführen zwischen solchen Erklärungen, mit denen die Geschäftsführung lediglich ihre bestehenden organschaftlichen Pflichten erfüllen will (im Folgenden als deklaratorischer Management Letter bezeichnet, dazu nachfolgend unter II.), und solchen, mit denen eine neue vertragliche Regelung geschaffen wird, nach der der Geschäftsführer für die erteilten Auskünfte vertraglich haftet (im Folgenden als konstitutiver Management Letter bezeichnet, dazu anschließend unter III. und IV.).
4 Bei dieser Gestaltung handelt es sich um einen praktischen Anwendungsfall einer von der Agency Theory empfohlenen Gleichrichtung der Interessen, in diesem Fall zwischen dem Finanzinvestor als Erwerber und dem Management, das zum einen das Kaufobjekt sehr gut kennt und zum anderen dessen zukünftigen Erfolg maßgeblich mit herbeiführen soll. 5 Vgl. etwa die Ausführungen in OLG Düsseldorf v. 16.6.2016, I-6 U 20/15 (Masterflex).
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II. Deklaratorischer Management Letter Der deklaratorische Management Letter erteilt eine Auskunft, aber begründet ausdrücklich kein neues Schuldverhältnis. Er entspricht damit dem Leitbild des § 675 Abs. 2 BGB. Der veräußerungswillige Gesellschafter hat – unter bestimmten Voraussetzungen und bestimmten Einschränkungen – einen Anspruch gegen die Gesellschaft nach § 51a GmbHG auf Erteilung von Auskünften, die er im Rahmen des Veräußerungsprozesses, insbesondere zur Ermöglichung einer Due Diligence benötigt (1.). Die Geschäftsführung ist zur Erteilung von Auskünften in dem von § 51a GmbHG vorgesehenen Umfang verpflichtet (2.). Zur Erfüllung dieser Auskunftspflicht kann der Geschäftsführer verpflichtet sein, Erklärungen über von dem Gesellschafter abgefragte Verhältnisse der Gesellschaft abzugeben (3.). Für den Fall, dass sich die erteilte Auskunft als unvollständig oder fehlerhaft herausstellt, sind grundsätzlich Ansprüche des veräußernden Gesellschafters gegen die Gesellschaft denkbar, denen aber erhebliche Einwände entgegenstehen und die in der Praxis regelmäßig scheitern werden (4.). Angesichts dieser Schwierigkeiten gibt es etliche, aber nach hiesiger Ansicht nicht überzeugende Versuche, direkte Ansprüche des veräußernden Gesellschafters gegen den Geschäftsführer zu begründen, der die Auskunft erteilt hat (5.). Zusammenfassend ergibt sich ein klares Bild hinsichtlich Inhalt und Wirkungen eines deklaratorischen Management Letters (6.). 1. Auskunftsanspruch des veräußernden Gesellschafters nach § 51a GmbHG Ob und in welchem Umfang der GmbH-Gesellschafter den Auskunftsanspruch nach § 51a GmbHG nutzen darf, um Auskünfte zur Weitergabe an potentiellen Erwerber seines Geschäftsanteils zu erlangen, war um das Jahr 2000 herum Gegenstand einer intensiven Diskussion, die relativ klare Leitlinien hinsichtlich des Verfahrens und der Grenzen der Informationsbereitstellung für eine Due Diligence erarbeitet hat (a)). Besteht demnach eine Pflicht, die für die Due Diligence benötigten Auskünfte zu erteilen, so ist dabei doch die besondere Struktur des Auskunftsanspruchs nach § 51a GmbHG zu beachten (b)). a) Nutzung des Auskunftsanspruchs nach § 51a GmbH für Zwecke einer Due Diligence Ob der verkaufswillige GmbH-Gesellschafter sein Auskunftsrecht nach § 51a GmbHG nutzen darf, um einem Erwerber die von diesem im Rahmen einer Due Diligence verlangten Informationen über die Gesellschaft zu-
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kommen zu lassen, ist umstritten. Lutter6 und Oppenländer7 plädieren unter dem Gesichtspunkt der Treuepflicht für eine starke Einschränkung oder sogar Unzulässigkeit der Erteilung von Informationen an einen Gesellschafter zum Zwecke der Weitergabe an Erwerbsinteressenten. Die Begründung ist auch für die nachfolgende Untersuchung der Haftungsfolgen eines deklaratorischen Management Letters von Bedeutung: Der Auskunftsanspruch nach § 51a GmbHG beruhe auf der Prämisse, dass die auskunftsberechtigten Gesellschafter untereinander und mit der Gesellschaft gleichlaufende Interessen verfolgten. Dies sei bei einem Verkaufsprozess jedoch nicht der Fall, bei diesem bewege sich der veräußernde Gesellschafter vielmehr ausschließlich im Feld eigener Interessenwahrnehmung. Deshalb sei die Wahrnehmung des Auskunftsanspruchs nach § 51a GmbHG durch die Treuepflicht des Gesellschafters (stark) eingeschränkt.8 Dies wird ausdrücklich auch für die Fälle vertreten, in denen der Erwerbsinteressent nicht ein Wettbewerber der Gesellschaft ist und auch die Voraussetzungen, die § 51a Abs. 2 GmbHG für das Recht der Gesellschaft, die Auskunft zu verweigern, aufstellt, nicht erfüllt sind.9 Die weitere Diskussion hat dann vor allem in der eingehenden und abgewogenen Untersuchung durch Götze10 das berechtigte Interesse des Gesellschafters an einer praktikablen Möglichkeit zur Veräußerung seiner Geschäftsanteile in den Blick genommen, die ohne Ermöglichung einer üblichen Due Diligence praktisch ausgeschlossen wäre. Die Lösung, die heute wohl als herrschend bezeichnet werden kann,11 hält daher die Nutzung des Auskunftsrechts nach § 51a GmbHG zum Zwecke der Ermöglichung einer Due Diligence für zulässig, sofern die berechtigten Geheimhaltungsinteressen der Gesellschaft dabei im Einzelfall angemessen gewahrt werden, insbesondere durch eine entsprechende Vertraulichkeitsvereinbarung mit dem Erwerbsinteressenten sowie Einschränkung der Informationsweitergabe, falls es sich bei dem Erwerbsinteressenten um einen potenziellen Wettbewerber handelt oder die Informationen aus anderen Gründen besonders sensibel sind. Darüber hinaus ist ein prozeduraler Aspekt von Bedeutung, nämlich die Notwendigkeit eines die Informationserteilung durch die Geschäftsführung für Zwecke einer Due Diligence autorisierenden Gesellschafterbeschlusses, 6
Lutter in FS Schippel, 445, nochmals veröffentlicht in ZIP 1997, 613. Oppenländer GmbHR 2000, 535, 537 f. 8 Lutter ZIP 1997, 613, 615 f.; Oppenländer GmbHR 2000, 535, 537 f.; vgl. auch Götze ZGR 1998, 202, 209 ff. 9 Götze ZGR 1998, 202, 209, 218 f. 10 Götze ZGR 1998, 202–233. 11 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz, § 51a Rn. 32; K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 51a Rn. 27; eingehend begründet von Götze ZGR 1998, 202–233; Ziegler DStR 2000, 249, 251 f. 7
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obwohl § 51a Abs. 2 GmbHG einen Gesellschafterbeschluss nur für die Verweigerung von Auskünften verlangt. Begründet wird die Erforderlichkeit eines Gesellschafterbeschlusses damit, dass es sich bei der Auskunftserteilung an den Gesellschafter für Zwecke einer Due Diligence, anders als bei der Auskunftserteilung in dem von § 51a GmbHG ins Auge gefassten Regelfall, um ein außergewöhnliches Geschäft im Sinne von § 49 Abs. 2 GmbHG handele.12 Während zahlreiche Autoren für einen solchen Beschluss mangels anderweitiger Satzungsregelung, eine einfache Mehrheit für ausreichend halten13, halten manche eine ¾-Mehrheit für erforderlich14 oder sogar einen einstimmigen Beschluss15. Für den Fall, dass eine Minderheitsbeteiligung veräußert werden soll, kann allerdings die Treuepflicht die übrigen Gesellschafter verpflichten, einen zustimmenden Beschluss zu fassen.16 Der entsprechende Beschluss autorisiert auch zur Abgabe eines deklaratorischen Management Letter als Abschluss der Due Diligence. b) Struktur des Auskunftsanspruchs nach § 51a GmbHG Nach § 51a GmbHG haben die Geschäftsführer jedem Gesellschafter auf Verlangen unverzüglich Auskunft über die Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben. Anders als es der Gesetzeswortlaut nahelegt, ist Schuldner des damit formulierten Informationsanspruchs des Gesellschafters die GmbH, nicht die Geschäftsführer selbst.17 Erteilt die Geschäftsführung daher dem Gesellschafter die gewünschten Informationen, so handelt sie hierbei für die Gesellschaft und erfüllt zugleich ihrerseits ihre eigenen Pflichten, die sich aus der Organstellung als Geschäftsführer gegenüber der Gesellschaft sowie aus dem Dienstvertrag ergeben.18 Die Gegenmeinung, der Auskunftsanspruch nach § 51a GmbHG richte sich auch unmittelbar gegen die Geschäftsführer, wird nur vereinzelt vertreten.19 Es würde in der Tat eine fatale Durchbrechung der gesellschaftsrecht12 Körbers NZG 2002, 263, 268; jedenfalls für „in der Praxis erforderlich“; Götze ZGR 1998, 227 f. 13 Götze ZGR 1998, 202, 229 f.; Körbers NZG 2002, 263, 268. 14 Oppenländer GmbHR 2000, 535, 537 f. 15 LG Köln v. 26.3.2008 – 90 O 11/08; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbH-Gesetz, § 51a GmbHG Rn. 32; Lutter ZIP 1997, 613, 616 16 So wohl auch Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbH-Gesetz, § 51a Rn. 32. 17 Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbH-Gesetz, § 51a Rn. 7; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 51a Rn. 9. 18 BGH v. 6.3.1997 – II ZB 4/96; bei BayObLG v. 18.3.2003 – III ZB BR 246/02; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 51a Rn. 16; Hillmann in MüKo GmbHG, § 51a Rn. 10; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbH-Gesetz, § 51a GmbHG Rn. 5; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 51a Rn. 9; Scheuffele GmbHR 2010, 965, 966. 19 U. Schneider in Scholz GmbHG, 51a GmbHG Rn. 301; dies ist nicht zu verwechseln mit der Ansicht von Berg (siehe unten Ziffer 4), der einen direkten Schadensersatzanspruch gegen den Geschäftsführer über § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 51a GmbHG konstruiert.
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lichen Strukturen bedeuten, wenn die Pflicht zur Auskunftserteilung, bei der es sich um eine genuine Organpflicht der Geschäftsführung handelt, direkte Ansprüche der Gesellschafter gegen das einzelne Organmitglied zeitigen würde. 2. Verpflichtung des Geschäftsführers zur Auskunftserteilung Die Pflicht zur Erteilung der Auskunft folgt konsequent nicht aus § 51a GmbHG, sondern aus seiner Organstellung und gegebenenfalls dem Dienstvertrag (§ 666 BGB in Verbindung mit § 675 Abs. 1 BGB direkt oder analog) und besteht gegenüber der Gesellschaft.20 Der Fall, dass der Dienstvertrag oder sonstige Verträge eine separate spezielle Pflicht des Geschäftsführers zur Auskunftserteilung gegenüber dem Gesellschafter begründen, wird noch separat unter III. 1. zu betrachten sein. 3. Umfang und Art der Auskunftspflicht Zwar unterliegt die Art und Weise der Auskunftserteilung grundsätzlich dem Ermessen der Geschäftsführung, dieses Ermessen ist jedoch gebunden. Die Art der Auskunftserteilung muss daher dem Gegenstand angemessen sein.21 Dies dürfte bei Verkaufsprozessen dazu führen, dass grundsätzlich eine Pflicht zu bejahen ist, einen detaillierten, schriftlich unterbreiteten Fragenkatalog auch schriftlich zu beantworten. Es wird aber keine Pflicht begründen, einen einfach vom veräußerungswilligen Gesellschafter weitergeleiteten Garantiekatalog aus dem Kaufvertragsentwurf zu prüfen, sofern er wie häufig auch stark auslegungsbedürftige Formulierungen enthält oder rechtliche Einschätzung erfordert. Das Ansinnen, ein solches Dokument als Management Letter gegenzuzeichnen, ist von dem Auskunftsrecht nach § 51a GmbHG nicht mehr gedeckt.22 Dagegen mag auch die Erfüllung der Auskunftspflicht durch Erteilung der Auskünfte direkt an den Erwerber als Bevollmächtigten des veräußerungswilligen Gesellschafters noch von § 51a GmbHG gedeckt sein23, wobei gerade in solchen Fällen besonders wichtig ist, dass die Erklärung gegenüber 20 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 51a Rn. 62; BGH DStR 1993, 1752; Hillmann in MüKo GmbHG, § 51a Rn. 10. 21 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 51a Rn. 16; K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 51a GmbHG Rn. 23; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz § 51a Rn. 30; Höffer/Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, § 51a Rn. 33. 22 Kritisch insofern auch Scheuffele GmbHR 2010, 965, 966; Hohaus/Kaufhold BB 2015, 709, 712 f.; Grundsätzlich kritisch: Krüger/Pape NZI 2009, 870. 23 Götze ZGR 1998, 202, 223.
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dem Erwerber nicht als konstitutiver Management Letter (Auskunftsvertrag) missverstanden wird.24 4. Ansprüche gegen die Gesellschaft bei unvollständiger oder fehlerhafter Auskunft a) Grundsätzliche Haftung der Gesellschaft für die Erfüllung der Pflicht nach § 51a GmbHG Folgt man der herrschenden Meinung, dass der Anspruch aus § 51a GmbHG sich allein gegen die Gesellschaft richtet, so ergibt sich, dass auch im Falle einer unvollständigen oder fehlerhaften Auskunft mögliche Ansprüche des Gesellschafters wegen Schlechterfüllung sich gegen die Gesellschaft richten. Am zwanglosesten lässt sich ein Anspruch auf Schadensersatz wegen Schlechterfüllung auf § 280 BGB stützen, wegen positiver Verletzung der sich aus dem mitgliedschaftlichen Sonderverhältnis ergebenen Auskunftspflicht.25 Anderen Begründungsansätzen für die Haftung der Gesellschaft für Falschauskünfte, etwa es handele sich um eine Verletzung der Mitgliedschaft als sonstiges Recht im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB oder es handele sich bei § 51a GmbHG um ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB im Interesse der Gesellschafter,26 wird in der Kommentarliteratur zu Recht überwiegend nicht gefolgt.27 b) Einschränkung des Haftungsumfangs nach dem Schutzzweck der Norm Allerdings sind Zweifel daran berechtigt, ob die Gesellschaft hier dem Gesellschafter den Schaden ersetzen muss, der ihm im Rahmen des Verkaufs aus einer unvollständigen oder falschen Auskunft entstehen kann, weil er eine entsprechend unzutreffende Garantie gegenüber dem Erwerber abgegeben hat („Verkäuferschaden“). Dieser Schaden kann enorm und jedenfalls für die Geschäftsführung und mögliche Mitgesellschafter bei Erteilung der Auskunft in keiner Weise überschaubar sein. Nimmt man dann noch das Szenario eines Teilverkaufs in den Blick (d.h. es werden weniger als 100% der Geschäftsanteile veräußert), so wird deutlich, dass eine Sozialisierung des Verkäuferschadens durch Rückgriff gegenüber der Gesellschaft nicht 24
Dazu mehr siehe unten IV. Werner GmbHR 2018, 400, 404; K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 51a Rn. 48; Hillmann in MüKo GmbHG, § 51a Rn. 104; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 51a Rn. 52. 26 Dazu eingehend Berg NZG 2008, 641. 27 K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 51a Rn. 48; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbH, § 51a Rn. 51 und 52; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbH-Gesetz, § 51a Rn. 47; ebenso Werner GmbHR 2018, 400, 404. 25
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richtig sein kann. Wenn man (zu Recht) für die Zulassung der Informationsweitergabe im Rahmen einer Due Diligence einen Mehrheitsbeschluss genügen lässt, würden Minderheitsgesellschafter, obwohl sie mit der Weitergabe der Informationen nicht einmal einverstanden waren, auf diese Weise für die Fehler der Auskunft wirtschaftlich haften. Selbst im Fall eines einstimmig die Due Diligence zulassenden Gesellschafterbeschlusses dürfte höchst fraglich sein, ob damit auch das Einverständnis erklärt werden soll, die Gesellschaft im Falle von Auskunftsfehlern für den Verkäuferschaden haftbar zu machen. Karsten Schmidt bezeichnet zurecht die rechtsdogmatischen Grundlagen einer Haftung der Gesellschaft (oder der Geschäftsführer, dazu sogleich) für Auskünfte nach § 51a GmbHG als „noch nicht geklärt“.28 Dies wird besonders deutlich am Prüfstein einer Haftung für Auskünfte im deklaratorischen Management Letter. An dieser Stelle ist es hilfreich, sich an das Treuepflichtargument aus der oben geschilderten Grundsatzdiskussion um die Erteilung von Auskünften nach § 51a GmbHG für Zwecke einer Due Diligence zu erinnern.29 Die Überlegung, bei der Veräußerung des Geschäftsanteils handele es sich um ein gesellschaftsfremdes Geschäft, jedenfalls aber um eine Wahrnehmung von Interessen außerhalb des eigentlichen Anwendungsfelds und Schutzbereichs von § 51a GmbHG,30 wäre hier umso mehr einschlägig, als die Übernahme einer Haftung der Gesellschaft für einen möglichen Verkäuferschaden jedenfalls nicht Voraussetzung für eine praktische Veräußerbarkeit der Beteiligung ist. In diesem Zusammenhang ist auch die Kontrollüberlegung bedenkenswert, ob aus Sicht der Gesellschaft die Geschäftsführungsmaßnahme Auskunftserteilung noch durch eine für die Geschäftsführer abgeschlossene D&O Versicherung abgedeckt wäre. Dafür wäre, ohne dass hier auf Einzelheiten eingegangen werden kann, in der Regel die Frage zu beantworten, ob die Auskunftserteilung (die Abgabe des deklaratorischen Management Letter) noch eine Maßnahme ist, die „betrieblich veranlasst ist“, was zu verneinen sein dürfte.31 Die Beschränkung eines Schadensersatzanspruchs nach § 280 BGB auf den Schutzzweck der verletzten Norm ist allgemein anerkannt.32 Der Schutzzweck des § 51a GmbHG dürfte sich jedenfalls im Bereich der Informationserteilung für Zwecke einer Due Diligence darauf beschränken, dem Gesellschafter den Zugang zu allen bei der Gesellschaft vorhandenen Informationen (innerhalb der oben unter II. 1. a) erörterten Schranken) zu gewähren, nicht aber auch die Qualität der bereitgestellten Informationen 28
K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 51a Rn. 48. Siehe oben unter II. 1. 30 Lutter ZIP 1997, 613, 615. 31 Jakobs/Thiel BB 2016, 1987, 1991 mit weiterführendem Nachweis in Fn. 77. 32 Ernst in MüKo BGB, § 280 Rn. 67; Lorenz in BeckOK BGB § 280 Rn. 41. 29
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abzusichern. Schadensersatz nach § 280 BGB schuldet die Gesellschaft also, wenn Informationen verweigert werden und sich der Gesellschafter diese erst unter Beschreitung des Rechtswegs und Einschaltung von Beratern beschaffen muss,33 nicht aber wenn sich die Qualität der bereitgestellten Informationen später als mangelhaft herausstellt, auch wenn ein (wie auch immer zu quantifizierender) Verkäuferschaden als hierdurch verursacht angesehen werden könnte. Als Zwischenergebnis ist an dieser Stelle festzuhalten, dass gute Gründe dafür sprechen, dass der Ersatz eines Verkäuferschadens aufgrund unzutreffender Auskünfte nicht mehr vom Schutzbereich der Norm des § 51a GmbHG umfasst ist. c) Keine „Regresskette“ Diejenigen, die eine Haftung der Gesellschaft für die nach § 51a GmbHG erteilten Auskünfte im Allgemeinen befürworten (s.o. a), wobei sie den hier eingehend reflektierten Fall des Management Letter nicht näher in den Blick nehmen), halten konsequent auch einen Rückgriff gegen die Geschäftsführung nach § 43 GmbHG grundsätzlich für möglich.34 Dies aufgreifend plädiert Scheuffele mit eingehender Begründung dafür, bei falschen Angaben in einem Management Letter den Anspruch des Gesellschafters auf Ersatz seines Verkäuferschadens gegenüber der Gesellschaft umfassend zuzulassen und ebenso dann einen entsprechenden Rückgriff der Gesellschaft gegenüber dem Geschäftsführer zu ermöglichen, mit dem Ziel dadurch die Erteilung fehlerhafter Auskünfte durch den Geschäftsführer über eine „Regresskette“ zu sanktionieren.35 Scheuffele selbst räumt bereits ein, dass diese Konstruktion in der Praxis Schwierigkeiten bei der Ermittlung des ersatzfähigen Schadens bereiten dürfte, da der ersatzberechtigte Gesellschafter (Verkäufer) sich jedenfalls auf seinen Schaden das anrechnen lassen müsste, was er aufgrund der im Kaufvertrag abgegebenen (jetzt verletzten) Garantie an Mehrkaufpreis erzielt hat im Vergleich zu der Lage, wenn er (aufgrund zutreffender Beauskunftung durch die Gesellschaft) die Abgabe der Garantie verweigert hätte.36 33 Dies ist allgemein anerkannt, K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 51a Rn. 48; Zöllner/ Noack in Baumbach/Hueck GmbH, § 51a Rn. 51 und 52; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbH-Gesetz, § 51a Rn. 47. 34 K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 51a Rn. 48; U. Schneider in Scholz GmbHG, § 43 Rn. 301; Werner GmbHR 2018, 400, 404; ebenso dezidiert für den hier betrachteten Fall: Scheuffele GmbHR 2010, 965, 969. 35 Scheuffele GmbHR 2010, 965, 969 mit weiteren Nachweisen; zustimmend wohl Jakobs/ Thiel BB 2016, 1987, 1989; diesen Vorschlag ebenfalls aufgreifend, allerdings bereits mit Skepsis hinsichtlich der Praktikabilität: Wächter M&A Litigation, Rn. 14.9. 36 Scheuffele GmbHR 2010 965, 970; auf die Schwierigkeiten, dies zu ermitteln, weist auch Wächter M&A Litigation, Rn. 14.9. hin.
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Vor allem aber dürfte der Kettenregresslösung und überhaupt jeder Liquidierung eines (wie auch immer zu quantifizierenden) Verkäuferschadens in der Praxis entgegenstehen, dass der Käufer selbstverständlich nicht bereit sein wird, eine Belastung der Gesellschaft mit einem solchen Rückgriffsanspruch des Verkäufers bei Garantieverletzung zuzulassen. Dies gilt auch dann, wenn die Gesellschaft ihrerseits einen Regressanspruch gegen den Geschäftsführer haben sollte. Denn ganz abgesehen von der Frage, ob und mit welchem Aufwand ein solcher Rückgriff durch die Gesellschaft realisiert werden könnte, stellt sich für den Käufer das Problem, dass er damit gerade die Gesellschaft und die Geschäftsführer belasten wird, mit denen er weiter zusammenarbeiten will. In aller Regel werden daher die Formulierungen des Kaufvertrags, welche den Verkäufer zum Schadensersatz verpflichten, einen solchen Rückgriff zumindest implizit ausschließen: die Verpflichtung des Verkäufers, die Gesellschaft so zu stellen, als sei der garantierte Zustand vorhanden, umfasst in diesem Fall dann auch, die Gesellschaft von seinem eigenen, von der Unrichtigkeit derselben Angabe im Management Letter ausgelösten, Regress freizustellen. Als Zwischenfazit bleibt festzuhalten, dass jedenfalls bei einer Due Diligence auf Basis von nach § 51a GmbHG erteilten Auskünften und (deklaratorischem) Management Letter ein Anspruch des Gesellschafters auf Ersatz seines Verkäuferschadens bei fehlerhaften Auskünften nicht mehr vom Schutzzweck der Norm gedeckt sein dürfte. Dies hat zur Konsequenz, dass auch eine Haftung des Geschäftsführers gegenüber der Gesellschaft für die fehlerhafte Beauskunftung ausscheidet, da die Gesellschaft insoweit selbst keinen Schaden hat.37 5. Ansprüche gegen den Geschäftsführer bei unvollständiger oder fehlerhafter Auskunft Die dogmatischen, vor allem aber auch die praktischen Schwierigkeiten, denen ein Anspruch des Gesellschafters gegen die Gesellschaft auf Ersatz seines Verkäuferschadens begegnet, legen die Überlegung nahe, diesen Verkäuferschaden unmittelbar gegenüber dem Geschäftsführer geltend zu machen, ganz ohne die soeben geschilderten Hürden eines Kettenregresses. Schließlich hat der Geschäftsführer ja auch die Auskünfte erteilt und den (deklaratorischen) Management Letter abgegeben. Die herrschende Meinung lehnt jedoch eine Direkthaftung des Geschäftsführers für die Verletzung von Pflichten im Zusammenhang mit der Auskunftserteilung nach § 51a GmbHG ab.38 Die Gegenansicht, die einen direk37
Eine Drittschadensliquidation scheidet aus den oben angeführten Gründen erst Recht
aus. 38 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, § 51a Rn. 51; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbH-Gesetz, § 51a GmbHG Rn. 47; Hüffer/Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, § 51a Rn. 77; Werner GmbHR 2018, 400, 404.
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ten Anspruch auf Schadensersatz – insbesondere unter Rückgriff auf § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 51a GmbHG – zulassen will39, würde, wie bereits oben ausgeführt, zu einer unvertretbaren Durchbrechung der Haftungskonzentration bei der Gesellschaft und gerade im Zusammenhang mit M&A Transaktionen zu nicht überschaubaren und wohl auch nicht versicherbaren Haftungsrisiken für die Geschäftsführung führen. Auch aus dem Dienstvertrag des Geschäftsführers lässt sich ein solcher Anspruch nicht herleiten, er entfaltet keine Schutzwirkung für den Gesellschafter als Dritten;40 die von der Rechtsprechung für den Sonderfall der (Publikums-)GmbH & Co. KG entwickelten Grundsätze41 lassen sich hier nicht übertragen. 6. Zwischenfazit: Inhalt und Wirkungen des Deklaratorischen Management Letter Während viele Autoren betonen, der veräußerungswillige Gesellschafter habe keinen Anspruch auf Abgabe eines Management Letters, 42 kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass § 51a GmbHG einen Anspruch auf Abgabe eines deklaratorischen Management Letters begründet. Allerdings haften für den Fall von Fehlern des deklaratorischen Management Letter weder die Gesellschaft noch der Geschäftsführer persönlich. Der deklaratorische Management Letter hat damit eine klar begrenzte Funktion, die ihn allerdings keineswegs nutzlos macht. Vielmehr sichert sich der Verkäufer durch die Einholung eines solchen deklaratorischen Management Letters auch ohne Schadensersatzhaftung der Gesellschaft oder des Geschäftsführers gleich in doppelter Hinsicht ab: Zum einen dokumentiert er im Verhältnis zum Erwerber, dass er im Garantiekatalog keine Angaben zur Gesellschaft „ins Blaue hinein“ gemacht hat; zum anderen stellt die Geschäftsführung des Verkäufers, sofern es sich hierbei wiederum selbst um eine Gesellschaft handelt, sicher, dass sie ihrerseits die ihr obliegende Sorgfalt im Zusammenhang mit dem Abschluss des Kaufvertrages und der Abgabe der dort vorgesehenen Garantien eingehalten hat.
39 Berg NZG 2008, 641, 644 mit eingehender Begründung; Schneider in Scholz GmbHG, § 43 Rn. 301 ohne nähere Begründung; soweit auch eher zweifelnd: K. Schmidt in Scholz GmbHG, § 51a GmbHG Rn. 48. 40 Fleischer in MüKo GmbHG, § 43 Rn. 335; Paefgen in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, § 43 Rn. 313; Ziemons/Pöschke in BeckOK GmbHG Ziemons/Jaeger/Pöschke, § 43 Rn. 395; ebenso auch konkret für die Haftung im Rahmen eines M&A Prozesses gegenüber dem Verkäufer Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1097. 41 Fleischer in MüKo GmbHG, § 43 Rn. 335. 42 Jakobs/Thiel BB 2016, 1987,1989; Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1997; Krüger/Pape NZI 2009, 870,872; Hohaus/Kaufhold BB 2015, 709, 715; ebenso dezidiert Wächter M&A Litigation, Rn. 14.6.
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Das Ergebnis, dass die Geschäftsführung die Auskünfte erteilt, im Falle von Fehlern aber weder die Gesellschaft noch die Geschäftsführung hierfür mit dem Verkäuferschaden belastet werden können, dürfte auch in aller Regel sowohl den berechtigten Erwartungen des Erwerbers entsprechen, als auch – im Falle eines Teilverkaufs – die berechtigten Interessen der Mitgesellschafter wahren.
III. Konstitutiver Management Letter an den veräußernden Gesellschafter Vom deklaratorischen Management Letter, der rechtlich nichts anderes ist als die Erteilung einer nach § 51a GmbHG dem Gesellschafter geschuldeten Auskunft, ist scharf zu unterscheiden der konstitutive Management Letter, der eine eigene Verpflichtung des die Auskunft erteilenden Geschäftsführers gegenüber dem Empfänger begründet. Im Folgenden soll zunächst der Fall betrachtet werden, dass Empfänger bzw. Vertragspartner des konstitutiven Management Letters der verkaufswillige Gesellschafter ist. Dabei wird anders als im Zusammenhang mit dem deklaratorischen Management Letter auch insbesondere auf diejenigen Sondersituationen einzugehen sein, in denen der Geschäftsführer nicht Fremdgeschäftsführer ohne weitere vertragliche Bindungen an die Gesellschaft oder den Gesellschafter ist, sondern seinerseits direkt oder im Rahmen eines Management-Beteiligungsprogramms an der Gesellschaft beteiligt ist. Zunächst ist festzustellen, dass nur aus solchen zusätzlichen Sonderbeziehungen des Geschäftsführers ein Anspruch des Gesellschafters auf Abschluss eines konstitutiven Management Letters erwächst (1.). Sofern ein konstitutiver Management Letter abgeschlossen wird, ist zu prüfen, ob damit wirksame vertragliche Bindungen hinsichtlich der erteilten Auskünfte und der Haftung für diese eingegangen werden (2.). Anschließend sind die Haftungsfolgen für den Geschäftsführer zu untersuchen (3.). Schließlich ist kurz darzulegen, warum der veräußernde Gesellschafter in aller Regel verpflichtet sein wird, einen konstitutiven Management Letter gegenüber dem Erwerber offen zu legen (4.). 1. Anspruch des veräußernden Gesellschafters auf Abgabe der Erklärung a) Regelfall: Kein Anspruch auf Abschluss eines Konstitutiven Management Letters Die, insbesondere in der speziellen Literatur zum Management Letter, durchweg betonte Aussage, der veräußerungswillige Gesellschafter habe keinen Anspruch auf Abgabe eines Management Letter und die Geschäfts-
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führung sei nicht verpflichtet, einen solchen zu unterzeichnen43, erweist sich in Bezug auf den konstitutiven Management Letter (im Unterschied zum deklaratorischen Management Letter) als grundsätzlich richtig. Sie gilt allerdings, wie sich gleich zeigen wird, nur, soweit nicht außerhalb der Stellung als Fremdgeschäftsführer Umstände oder vertragliche Bindungen bestehen, die eine Rechtspflicht zur haftungsbewährten Abgabe von Auskünften im Zusammenhang mit ihrer Veräußerung begründen. b) Anspruch aufgrund Dienstvertrag Während der Dienstvertrag des Geschäftsführers in der Regel keine Schutzwirkung für den Gesellschafter als Dritten entfaltet44, ist es durchaus möglich, im Dienstvertrag explizit Informationspflichten eines Geschäftsführers auch gegenüber den Gesellschaftern zu begründen.45 Ob hiermit dann allerdings auch die Pflicht verbunden ist, im Rahmen eines M&A Prozesses einen konstitutiven Management Letter mit entsprechenden Haftungsfolgen abzugeben, dürfte im Einzelfall auszulegen sein. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, welche weiteren Beziehungen eventuell noch zwischen dem Geschäftsführer und der Gesellschafterebene bestehen. c) Anspruch aufgrund Managementbeteiligung oder Stellung als Gesellschafter In der Praxis dürfte sich eine Verpflichtung zum Abschluss eines konstitutiven Management Letters vor allem dann ergeben, wenn der Geschäftsführer zugleich eine Managementbeteiligung erhalten hat, sei es als Direktbeteiligung, die ihn zum Mitgesellschafter des Veräußerers und in aller Regel sogar zum Mitveräußerer im Rahmen des geplanten Verkaufs macht, sei es im Rahmen einer mittelbaren Beteiligung, die jedenfalls wirtschaftlich einen vergleichbaren Effekt hat. In solchen Fällen ist eine Verpflichtung zur Abgabe auch haftungsbewehrter Erklärungen zu den Verhältnissen der Gesellschaft, gelegentlich auch bereits explizit in Form eines Management Letters, häufig ausdrücklich vorgesehen.46 Diese Praxis befindet sich auch insofern völlig im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen, als selbst bei Fehlen solcher expliziten Regelungen (die es im Rahmen eines Management-Beteiligungsprogramms in aller Regel geben 43 Jakobs/Thiel BB 2016, 19987,1989; Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1997; Krüger/Pape NZI 2009, 870,872; Hohaus/Kaufhold BB 2015, 709, 715; ebenso dezidiert Wächter M&A Litigation, Rn. 14.6. 44 Siehe oben unter II 5; ebenso auch Ziemons/Pöschke in BeckOK GmbHG Ziemons/ Jaeger/Pöschke, § 43 Rn. 395. 45 Ziemons/Pöschke in BeckOK Ziemons/Jaeger/Pöschke, § 43 Rn. 395; Reufels in Hümmerich/Reufels Gestaltung von Arbeitsverträgen, § 2 Rn. 119. 46 Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1096; Hohaus/Kaufhold BB 2015, 709, 711.
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wird) bereits aus dem Grundsatz der Treuepflicht zwischen Mitgesellschaftern eine Verpflichtung hergeleitet wird, gerade im Rahmen eines Verkaufsprozesses dem Mitgesellschafter Auskunft über für die Beurteilung der Gesellschaft als Kaufobjekt relevanten Umstände zu geben.47 d) Sonderfall „MBO“ Eine weitere, noch speziellere Sondersituation entsteht, wenn der Geschäftsführer selbst den Verkauf als Erwerber betreibt und maßgeblich kontrolliert (Management-Buy-Out, „MBO“) oder jedenfalls maßgeblich an der Erwerbsgesellschaft beteiligt ist und eventuell auch bereits als deren Geschäftsführer fungiert. Richtigerweise werden die in dieser Situation entstehenden speziellen Aufklärungspflichten des Geschäftsführers gegenüber den veräußernden Gesellschaftern jedoch nicht aus seiner Organstellung bei der Zielgesellschaft hergeleitet, sondern im Rahmen von § 311 Abs. 2 BGB aus seiner Stellung und Rolle als Erwerber oder Repräsentant des Erwerbers in den Verhandlungen über den Erwerb.48 Zudem liegt es in einem solchen Fall wesentlich näher, die gegenüber dem Erwerber abzugebenden Garantien von vornherein zu begrenzen,49 statt von dem Geschäftsführer einen Management Letter zu verlangen. 2. Abschluss eines konstitutiven Management Letter mit dem veräußernden Gesellschafter Da Management Letter in einer Vielzahl von Erscheinungsformen auftreten und dabei eine ausdrückliche Regelung der Verbindlichkeit und der Rechtsfolgenseite häufig fehlt,50 sollen nachfolgend vor allem Grundsätze für die Auslegung und Wirksamkeit von konstitutiven Management Letters erarbeitet werden. a) Restriktive Auslegung Aus den Ausführungen zum deklaratorischen Management Letter ergibt sich, dass dieser den Regelfall darstellt. Erst das Vorliegen der soeben ge47 BGH v. 11.12.2006, II ZR 166/05; Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1098; Axhausen in Becksches Handbuch der GmbH, § 5 Rn. 225. 48 Eingehend hierzu Fleischer AG 2000, 318; so wohl inzwischen auch die Rechtsprechung, vgl. OLG Düsseldorf v. 16.6.2016 - I-6 U 20/15 (Masterflex). 49 Vgl. OLG Düsseldorf v. 16.6.2016, I-6 U 20/15 (Masterflex) sowie die zahlreichen Besprechungen dieses Urteils; Nachweise und Stellungnahme dazu bei Nelle in Drygala/ Wächter Verschuldenshaftung, Aufklärungspflichten, Wissens- und Verhaltenszurechnung bei M&A-Transaktionen (erscheint 2020 bei C.H.Beck). 50 Krüger/Pape NZI 2009, 870; Hohaus/Kaufhold BB 2015, 709, 712 f.; Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1099.
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schilderten besonderen Umstände vermittelt dem veräußerungswilligen Gesellschafter einen Anspruch auf Abschluss eines konstitutiven Management Letter. Daher ist eine restriktive Auslegung von konstitutiven Management Letters geboten.51 Die Autoren, die eine eher weite Auslegung vertreten, tun dies häufig explizit oder implizit mit Blick auf die oben beschriebenen Sondersituationen, insbesondere Transaktionen, bei denen die Geschäftsführung bereits im Rahmen eines Management-Beteiligungsprogramms wirtschaftlich an der Veräußerung beteiligt ist oder einen erheblichen Exit-Bonus erhält.52 Dogmatischer Anknüpfungspunkt für diese Zurückhaltung bei der Annahme eines Rechtsbindungswillens bei der Auskunftserteilung bleibt § 675 Abs. 2 BGB.53 Dessen Anwendung auf den Management Letter kann nicht etwa entgegen gehalten werden, die Annahme des Gesetzes, im Zweifel werde eine Auskunft nur als Gefälligkeit erteilt, treffe hier nicht zu.54 Vielmehr handelt es sich eben vorliegend im Zweifel bei einem Management Letter um eine Auskunft gemäß § 51a GmbHG und die Annahme eines konstitutiven Management Letters, der ein neues Schuldverhältnis begründet, bedarf hinreichender Anhaltspunkte für einen hierauf gerichteten Willen. Für Zurückhaltung bei der Annahme eines konstitutiven Management Letter spricht auch, dass, wenn damit ein Garantieversprechen oder ein Auskunftsvertrag vorliegt, der Geschäftsführer unter Umständen auch dann unbegrenzt haftet, wenn die Vereinbarung selbst gewisse Haftungsbegrenzungen vorsieht. Dieses Problem beruht auf der Anwendung von § 276 Abs. 3 BGB in Verbindung mit der sehr weitherzigen Rechtsprechung zum bedingten Vorsatz, insbesondere bei den sogenannten „Angaben ins Blaue“.55 Schaffner56 will es dadurch lösen, dass die Geschäftsführer anstelle von Auskunftsverträgen oder Garantieversprechen Management Letter sogar in Form einer Freistellung für bestimmte vom Käufer im Garantiekatalog aufgezeigte Risikobereiche abgeben.57 Diese Lösung stellt allerdings den Geschäftsführer zunächst für den Regelfall, das heißt außerhalb denkbarer Vorsatzfälle, noch einmal schlechter als ein Auskunftsvertrag oder ein selbständiges Garantieversprechen und dürfte daher keine praktikable Lösung sein.58
51 Krüger/Pape NZI 2009, 870,873; Scheuffele GmbHR 2010, 965, 967; Hohaus/ Kaufhold BB 2015, 709, 712; im Ausgangspunkt wohl auch Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1099. 52 Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1100 f.; Hohaus/Kaufhold BB 2015, 709, 711. 53 Ebenso Wächter M&A Litigation Rn. 14.10 ff. mit Nachweisen zur Rechtsprechung 54 So aber Jakobs/Thiel BB 2016, 1987,1988. 55 Vgl. nur Wächter M&A Litigation, Rn. 14.6. 56 Schaffner BB 2007 1292. 57 Schaffner BB 2007 1292. 58 Schaffner BB 2007 1292.
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Auch wenn ein konstitutiver Management Letter anzunehmen ist, ist die inhaltliche Ausgestaltung im Zweifel auch eher restriktiv auszulegen, etwa im Hinblick darauf, dass der Geschäftsführer in der Regel nur verschuldensabhängig wird haften wollen und nicht etwa – wie eventuell der veräußernde Gesellschafter nach dem Kaufvertrag – verschuldensunabhängig.59 Ein mit dem Veräußerer geschlossener Auskunftsvertrag (konstitutiver Management Letter) entfaltet auch nach richtiger Ansicht keine Schutzwirkung für den Erwerber.60 Die Annahme eines konstitutiven Management Letters scheint dagegen gerechtfertigt bei Vorliegen der in Ziffer 1 genannten besonderen Umstände. Sie liegt auch nahe bei Verknüpfung mit einer Exit-Vereinbarung, in welcher der veräußernde Gesellschafter verspricht, im Falle einer erfolgreichen Veräußerung aus dem Verkaufserlös einen Bonus an die Geschäftsführung zu zahlen und im Gegenzug verlangt, dass ihm gegenüber ein konstitutiver Management Letter abgegeben wird.61 b) AGB-Kontrolle Eine restriktive Auslegung und unter Umständen auch Inhaltskontrolle kann bei Management Letters, die über den gesetzlichen Rahmen des § 51a GmbHG hinausgreifen, auch unter dem Aspekt möglich sein, dass es sich häufig um allgemeine Geschäftsbedingungen im Sinne des § 305 BGB handeln dürfte. Denn der Management Letter ist regelmäßig jedenfalls zur Abgabe durch mehrere Geschäftsführer der Zielgesellschaft vorformuliert und eine Verhandlung jedenfalls über die Haftungsregelungen ist eher selten. Verkäufer, die häufiger in M&A-Situationen agieren (Finanzinvestoren, Konzerne), werden sogar in der Regel mit Mustern arbeiten, die sie für zahlreiche Transaktionen verwenden. c) Prüfung am Maßstab des § 138 BGB Wenn der Management Letter ausdrücklich Formulierungen enthält, die eindeutig einen Auskunftsvertrag oder ein selbständiges Garantieversprechen des Geschäftsführers formulieren, ohne dass eine entsprechende strukturell-wirtschaftliche Basis erkennbar ist, so ist im Einzelfall durchaus zu 59
Ebenso Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1101. Scheuffele GmbHR 2010, 965, 968. 61 Ein solcher Exit-Bonus, der durch den Verkäufer gezahlt wird, begegnet auch keinen steuerlichen oder strafrechtlichen Bedenken, anders als ein Bonus, der von der Gesellschaft versprochen wird. Zu den strafrechtlichen Bedenken siehe Krüger/Pape NZI 2009, 870, 877; ein Verstoß gegen die Treuepflicht des Geschäftsführers dürfte bei einer Zahlung durch den veräußernden Gesellschafter aus dem Verkaufserlös gerade nicht bestehen, vgl. Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1098. 60
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prüfen, ob die getroffene Vereinbarung wegen Verstoßes gegen § 138 BGB unwirksam ist. Denn ebenso wie in der Literatur weitgehend Konsens besteht, dass kein Geschäftsführer zum Abschluss eines konstitutiven Management Letters verpflichtet ist, wird auch verbreitet die empirische Beobachtung berichtet, dass die Geschäftsführung sich häufig dennoch faktisch genötigt sieht, Erklärungen im Zusammenhang mit einem Verkaufsprozess auf Grundlage eines von dem veräußernden Gesellschafter vorformulierten und vorgelegten Management Letters abzugeben.62 3. Haftung des Geschäftsführers gegenüber dem veräußernden Gesellschafter aus konstitutivem Management Letter Der Geschäftsführer haftet aus dem konstitutiven Management Letter nach dessen (eng auszulegenden) expliziten Regelungen oder, falls solche ausnahmsweise fehlen, nach allgemeinem Recht. Beschränkungen der Haftung werden in der Regel vorgesehen sein, finden aber wie schon dargelegt ihre Grenze in § 276 Abs. 3 BGB. Der Gesellschafter kann auf Basis des konstitutiven Management Letters für den Fall, dass dort eine unvollständige oder fehlerhafte Auskunft erteilt wurde und er deshalb seinerseits aus einer Garantie im Anteilskaufvertrag in Anspruch genommen wird, seinen Verkäuferschaden gegenüber dem Geschäftsführer geltend machen. Unter den vorstehend dargelegten Voraussetzungen kann also die Risikoabwälzung des verkaufenden Gesellschafters auf die Geschäftsführung gelingen. 4. Pflicht zur Offenlegung eines konstitutiven Management Letter gegenüber dem Erwerber Hat der veräußernde Gesellschafter mit einem Geschäftsführer, der nicht mit Vollzug des Verkaufs ausscheidet, einen konstitutiven Management Letter geschlossen, so ist dieser Umstand in der Regel dem Erwerber gegenüber offenzulegen. Denn aus einem solchen konstitutiven Management Letter können sich – wie soeben dargelegt – für den Geschäftsführer erhebliche Haftungsfolgen ergeben, die eine erhebliche potentielle Belastung darstellen.63 Für eine solche Offenlegungspflicht spricht auch, dass der Geschäftsführer durch Abschluss des konstitutiven Management Letter jedenfalls in einen potentiellen Interessenkonflikt gerät, für den Fall, dass ihm nach dem Closing Umstände bekannt werden, die eine Garantieverletzung nach dem 62 Krüger/Pape NZI 2009, 870,875 (Machtfrage); Schaffner BB 2007, 1292; Jakobs/Thiel BB 2016, 1987,1988 („nolens volens“). 63 Scheuffele GmbHR 2010, 971; Wächter M&A Litigation, Rn. 14.7. bis 14.9.
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Kaufvertrag und zugleich eine Unrichtigkeit seiner im Management Letter abgegebenen Erklärungen bedeuten würden.
IV. Konstitutiver Management Letter an den Erwerber Gelegentlich kommt in der Praxis auch vor, dass ein Management Letter von der Geschäftsführung unmittelbar an den Erwerber adressiert wird, auch wenn dies der Ausnahmefall sein dürfte.64 Auch hier stellen sich Fragen zur wirksamen Begründung und Auslegung der Verpflichtungen, die nachfolgend kurz beleuchtet werden sollen. 1. Anspruch des veräußernden Gesellschafters auf Abgabe der Erklärung Der veräußernde Gesellschafter hat, wie dargelegt, in der Regel nur einen Anspruch auf Auskunft nach § 51a GmbHG. Er kann die Geschäftsführung anhalten, die Auskunft direkt an den Erwerber als Bevollmächtigten zu erteilen. Erfolgt eine solche Auskunftserteilung schriftlich, darf dennoch nicht davon ausgegangen werden, dass damit etwa ein konstitutiver Management Letter an den Erwerber herausgelegt wird mit den entsprechenden Haftungsfolgen. Nur in den oben bereits beschriebenen Sondersituationen, in denen der veräußernde Gesellschafter Anspruch auf Abgabe eines konstitutiven Management Letters hat, kann, je nach vertraglicher Regelung, auch ein Anspruch auf Abgabe von Erklärungen gegenüber dem Erwerber bestehen. Selbstverständlich ist dies, wenn der Geschäftsführer selbst Mitgesellschafter ist und daher auch gegenüber dem Erwerber mit als Verkäufer auftritt. In diesem Fall kann eine Verkäufervereinbarung zwischen den Gesellschaftern (z.B. Management und Finanzinvestor) regeln, wie die Haftung bei der Verletzung bestimmter Garantien, die auf Basis der Angaben des Managements abgegeben wurden, geregelt wird. 2. Anspruch des Erwerbers auf Abgabe der Erklärung Dem Erwerber steht naturgemäß ein Anspruch nach § 51a GmbHG nicht zur Verfügung. Er kann also allenfalls aufgrund einer Sondersituation Anspruch auf einen konstitutiven Management Letter haben. Dies kann etwa der Fall sein, wenn der Erwerber seinerseits die Geschäftsführer an dem Erwerbsvehikel beteiligt und im Rahmen dieser Beteiligungsmöglichkeit verlangt, dass die Geschäftsführung einen konstitutiven Management Letter, z.B. in Form einer Garantieerklärung, abgibt. 64
Haas/Müller GmbHR 2004, 1169, 1173; Schaffner BB 2007, 1292 ff.
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Andere Sondersituationen, in denen eine wirksame Abgabe eines konstitutiven Management Letters gegenüber dem Erwerber denkbar ist, sind die besonderen Konstellationen einer Sachwalterstellung des Geschäftsführers, die in Literatur und Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Haftung nach § 311 Abs. 3 BGB erörtert werden.65 Auf keinen Fall besteht eine Pflicht des Geschäftsführers zur Abgabe eines Management Letters gegenüber dem Erwerber, auch nicht aufgrund des Dienstvertrages.66 3. Abschluss eines konstitutiven Management Letter mit dem Erwerber Wenn ein konstitutiver Management Letter gegenüber dem Erwerber abgegeben wird, ist nach den gleichen Grundsätzen wie bereits oben für den konstitutiven Management Letter gegenüber dem veräußernden Gesellschafter dargelegt, kritisch zu prüfen, ob diese Vereinbarung, mit der der Geschäftsführer unter Umständen erhebliche Risiken übernimmt, wirksam zustande gekommen und wie sie auszulegen ist. Auch hier ist wieder mit zu berücksichtigen, wenn der Geschäftsführer eine Gegenleistung für die Abgabe der Erklärungen erhält, insbesondere auch in Form einer Beteiligung an dem Erwerbsvehikel.
V. Zusammenfassung und Ausblick Ziel dieses Beitrags ist, mit der Unterscheidung zwischen deklaratorischem und konstitutivem Management Letter eine Orientierungshilfe für die Auslegung und auch kritische Prüfung der vielgestaltigen Erklärungen zu liefern, welche der Geschäftsführung immer häufiger als Teil eines organisierten Verkaufsprozesses abverlangt werden. Die getroffene Unterscheidung schärft einerseits das Bewusstsein dafür, dass die Geschäftsführung zur Unterstützung eines Verkaufsprozesses durch Erteilung entsprechender Auskünfte in der Regel und jedenfalls, wenn die Gesellschafter zugestimmt haben, verpflichtet ist, dass damit aber nicht zugleich eine Verpflichtung zur Übernahme von Haftung durch die Gesellschaft oder gar die Geschäftsführer persönlich verbunden ist. Wenn Erklärungen abgegeben werden, aus denen sich eine persönliche Haftung der Geschäftsführer ableiten lässt (konstitutive Management Letter), so ist deren Auslegung und Wirksamkeit kritisch zu prüfen im Hinblick darauf, dass erst ein Hinzutreten besonderer Umstände die Annahme 65
Haas/Müller GmbHR 2004, 1169, 1173; Wächter M&A Litigation, Rn. 14.15. ff. Scheuffele GmbHR 2010, 965, 967; Seibt/Wunsch ZIP 2008, 1093, 1097; Jakobs/Thiel BB 2016, 1987,1989. 66
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rechtfertigt, dass ein Geschäftsführer eine mit erheblichen Haftungsrisiken verbundene Erklärung wirksam abgegeben hat. Dies schärft auch den Blick für die Bedeutung von Managementbeteiligungen für die strukturelle und wirtschaftliche Einordnung der Rolle der Geschäftsführung im M&A Prozess. Der Geschäftsführer, der an der Zielgesellschaft direkt oder indirekt beteiligt ist, ist nun als Mitgesellschafter (auch) auf derselben Ebene wie die übrigen Veräußerer von Geschäftsanteilen angesiedelt und ihm kann deshalb auch die Übernahme entsprechender Verantwortung auf dieser Ebene angesonnen werden. Schließlich zeigt die Untersuchung des deklaratorischen Management Letters, das im dort zugrunde gelegten Regelfall die Einordnung des Geschäftsführers als Auskunftsperson gegenüber dem Erwerber deutlich interessengerechter sein dürfte, als etwa eine Qualifizierung als Erfüllungsgehilfe des veräußernden Gesellschafters. Der veräußernde Gesellschafter hat es in diesen Fällen in der Hand, durch eine entsprechende Organisation des Verkaufsprozesses dafür zu sorgen, dass der Geschäftsführer auch vom Erwerber nur als Auskunftsperson wahrgenommen wird und dadurch seine Risiken in Bezug auf eventuell ihm nicht bekanntes Sonderwissen des Geschäftsführers zu begrenzen. Dies ist vor allem dann wichtig und interessengerecht, wenn, wie in dem dargelegten Regelfall des deklaratorischen Management Letters, eine Überwälzung der Haftung für etwaige falsche Angaben der Auskunftsperson nicht möglich ist.
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Künstliche Intelligenz und die Unternehmensleitung ULRICH NOACK Werden wir von der Künstlichen Intelligenz (KI) abgelöst? Solches fragen sich Arbeitnehmer, die mit allerhand Studien über den Wandel der Arbeitswelt konfrontiert werden. Die Frage ist aber auch für die Chefetage brisant. Die Unternehmensleitung entscheidet über den Einsatz der KI – und dermaleinst könnte es dahin kommen, dass der Knecht zum Herrn wird.1 Die KI hat das Potential, die Prozesse sowohl auf der Arbeits- wie auf der Leitungsebene umzustürzen. Technologisch ist alles im reißenden Fluss, das Recht zieht nach und ordnet vor,2 ohne dass schon klare Konturen erkennbar sind. Daher soll das Vorliegende als „spekulative Studie“3 verstanden werden, verfasst in der Hoffnung, das Interesse unserer Jubilarin zu finden, die gerne das Neue und Übergreifende in den Blick nimmt. Sie hat in ihrem führenden Lehrbuch das Gesellschaftsrecht beschrieben als funktionsteiliges Zusammenwirken, das nach Verfahrensregeln, Verhaltensgrundsätzen und Kompetenzverteilungen verlangt.4 Ist diese Konfiguration allein auf Menschenwerk zugeschnitten oder könnten diese Regeln, Grundsätze und Verteilungen auch für „intelligente“ Maschinen in Betracht kommen?5
I. Die KI anfangs der zwanziger Jahre Ein herkömmliches Computerprogramm kann nur ausführen, was ihm durch „wenn-dann“-Parameter vorgegeben wurde. Das mag banal sein, etwa als Taschenrechner mit Zahlen hantieren oder auch sehr komplex, zum
1
So Hegels Parabel in Phänomenologie des Geistes, 1807. EU-Kommission, Weißbuch und Konsultation: Zur Künstlichen Intelligenz – ein europäisches Konzept für Exzellenz und Vertrauen, Februar 2020; https://ec.europa.eu/ info/sites/info/files/commission-white-paper-artificial-intelligence-feb2020_de.pdf; Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung, November 2018, www.bmbf.de/files/ Nationale_KI-Strategie.pdf; allg. zum Verhältnis von Innovation und Recht s. Grundmann/Möslein in FS Schwintowski, 2017, 410. 3 BDAI-Bericht der BaFin: Big Data trifft auf künstliche Intelligenz, 2018 (Hinweis, 2). 4 Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, 1. 5 So auch die Frage von Möslein Künstliche Intelligenz im Gesellschaftsrecht in Ebers/Heinze/Krügel/Steinrötter Rechtshandbuch Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 14 Rn. 6. 2
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Beispiel eine Industrieanlage steuern. Doch die deterministisch angelegte Programmierung bestimmt, was „rauskommt“. Ein KI-Programm ist in der Lage, Aufgaben zu bewältigen, für die ihr Algorithmus nicht eigens programmiert wurde. Die KI kann aus Daten „schöpfen“ und neue Zusammenhänge herstellen. Bekannt ist die Erkennung von Mustern: Wenn der Algorithmus hinreichend trainiert wurde (z.B. Katzenbilder), kann er auf neuen Bildern die Objekte entsprechend klassifizieren („das ist eine Katze“). Für die folgenden Erörterungen wesentlich ist der Befund, dass ein (heutiger) KI-Algorithmus nicht im menschlichen Sinne intelligent ist. Sondern er kann auf seinem Gebiet sehr viel (Röntgenbilder deuten, Schachspielen, Fahrzeuge navigieren, Musiktitel auswählen), aber der Arzt z.B. kann dies alles auch, nur evtl. nicht perfekt. Um eine Sportmetapher zu bemühen: Der Mensch ist ein geborener Zehnkämpfer, die KI ein guter Einzelkämpfer in jeder ihr zugewiesenen Disziplin. Dieser auf seinem Sektor mächtige, im Übrigen aber ohnmächtige Algorithmus wird als „schwache“ KI bezeichnet.6 Das Adjektiv sollte nicht täuschen, die Schwäche liegt nur darin, dass eine sektorübergreifende „Intelligenz“ nicht vorhanden ist. Ein KI-Spieleprogramm kann sich nicht aus sich heraus weiterentwickeln und fortan z.B. das betriebliche Rechnungswesen bewältigen oder eine Drohne lenken. Würde diese Grenze fallen, was zum Teil für die Jahrhundertmitte angenommen, zum Teil jedoch kategorial verneint wird, dann hätten wir eine starke KI, eine sog. Superintelligenz. Wichtig für das Voranschreiten der KI-Anwendungen ist die Digitalisierung, die für eine breite Datenbasis sorgt. Menschen und Maschinen erzeugen in den Unternehmen einen breiten Strom von Daten („Big Data“), welcher zum Lernen für die KI notwendig ist. Hinzu tritt der rasante Fortschritt in der Hard- und Software, der eine Verarbeitung auf hohem Niveau erlaubt.
II. KI als Tool der Geschäftsführung 1. KI im Einsatz in Unternehmen KI-gestützte Systeme sind sowohl nach außen7 als auch nach innen8 im Einsatz in Unternehmen.9 So gruppiert die KI die Kreditaspiranten einer 6 KI-Strategie Bundesregierung (Fn. 2), 4: „Die (schwache) KI ist fokussiert auf die Lösung konkreter Anwendungsprobleme auf Basis der Methoden aus der Mathematik und Informatik, wobei die entwickelten Systeme zur Selbstoptimierung fähig sind. Dazu werden auch Aspekte menschlicher Intelligenz nachgebildet und formal beschrieben bzw. Systeme zur Simulation und Unterstützung menschlichen Denkens konstruiert.“ 7 Gentsch Künstliche Intelligenz für Sales, Marketing und Service, 2018. 8 Gröner/Heinecke Kollege KI: Künstliche Intelligenz verstehen und sinnvoll im Unternehmen einsetzen, 2019.
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Bank in Risikoklassen aufgrund diverser Daten („scoring“). Die KI eines Online-Versandhändlers schlägt den Kunden weitere Kaufobjekte entsprechend seiner vorherigen Bestellungen vor. Die dynamische Bepreisung der Produkte wird durch eine KI vorgenommen, die auf die jeweilige Markt- und Wettbewerbslage reagiert.10 Auch KI-gelenkte Produkte gelangen auf den Markt, etwa ein Roboter-Rasenmäher, der auf das Wetter achtet und bei der Gartenarbeit dazulernt11 – und am Horizont erscheint das selbstfahrende Auto. Vielfältige Anwendungen finden sich im Innenbereich der Unternehmen – und es ist zu erwarten, dass der Einsatz in den nächsten Jahren in Breite und Tiefe zunimmt. Die Personalauswahl übernimmt eine KI-Software, die Bewerber vorsortiert. Die Produktionsprozesse sind vernetzt und KI-gesteuert, eine multimodale Mensch-Maschine-Interaktion in der Fertigung wird in Gang gesetzt. Das Finanz- und Rechnungswesen wird mittels KIExpertensystemen bewältigt.12 Auch das Vertragsmanagement eines Großunternehmens bedient sich zunehmend der LegalTech-Instrumente zur Beherrschung und Risikoanalyse der umfangreichen Dokumente.13 Bei den vorgenannten, sich rapide fortentwickelnden Anwendungen ist noch darauf hinzuweisen, dass es meistens um Kollaboration geht, also um eine Verbindung menschlicher und maschineller Tätigkeit („Cobots“). Eine isolierte („autonome“) KI als zentrales Geschäftsmodell gibt es, soweit ersichtlich, nur in der Finanzbranche in Gestalt der Anlageroboter, die ein algorithmengesteuertes Portfolio zusammenstellen.14 2. Gesellschaftsrechtliche Fragen Der KI-Einsatz im Unternehmen wirft arbeitsrechtliche Fragen auf sowie gesellschaftsrechtliche. Unsere Jubilarin beherrscht beide Rechtsgebiete in hervorragender Weise,15 doch der Autor dieser Zeilen kann nur zu dem letztgenannten beitragen bzw. es versuchen. a) Entscheidung über KI-Einsatz Die erste Frage lautet: Wer entscheidet über den KI-Einsatz im Unternehmen? Für die Aktiengesellschaft ist die Antwort klar, es ist der Vor9 S. die Befragungsstudien der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften PwC (2018) und Deloitte (2019) sowie des Fraunhofer-Instituts (2019) und der Mittelstand-Digital Begleitforschung (2019). 10 Paal GRUR 2019, 43 zum „Algorithmic Pricing“. 11 www.bosch-presse.de/pressportal/de/de/bosch-setzt-auf-kuenstliche-intelligenzbeim-rasenmaehen-%E2%80%92-zukunftsvision-jeder-roboter-maeher-lernt-individuell169444.html. 12 Weißenberger/Bauch in FS Altenburger, 2017, 203. 13 J. Wagner BB 2017, 898. 14 Linardatos Rechtshandbuch Robo-Advice, 2020. 15 S. nur Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989.
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stand; ob der Aufsichtsrat genehmigend mitwirkt, hängt von dem Zustimmungskatalog ab (§ 111 Abs. 4 AktG). Bei der GmbH kann es darauf ankommen, wie tiefgreifend die Umstellung ist, denn bei ungewöhnlichen Geschäften sind die Gesellschafter jedenfalls dann zu konsultieren, wenn aus ihren Reihen eine Opposition zu erwarten ist.16 Ähnlich liegt es bei der Personenhandelsgesellschaft, wo ebenfalls das Kriterium darin besteht, ob die Handlung über den „gewöhnlichen Betrieb“ hinausreicht (§§ 116, 164 HGB). Für die bloße KI-Anwendung in Einzelbereichen wird das kaum der Fall sein, wohingegen eine Umstellung des gesamten Geschäftsbetriebs auf KI-Steuerung durchaus ungewöhnlich sein kann – wobei sich die Beurteilung im Lauf der Zeit anpassen dürfte, was anfangs der zwanziger Jahre noch ungewöhnlich war, wird es am Ende des Jahrzehnts nicht mehr sein. b) Zulässigkeit des KI-Einsatzes Die zweite Frage lautet: Dürfen die das, kann die Geschäftsleitung ein System installieren, das eine Black Box beinhaltet? Entspricht es der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters, gewissermaßen in den Blindflug zu gehen? Für den innerkorporativen Bereich wurde schon kritisch angemerkt, dass der Vorstand schwerlich den Aufsichtsrat pflichtgemäß über etwas informieren kann, das zu erkennen er selbst nicht in der Lage ist.17 Damit ist der Umstand angesprochen, dass die KI zu Resultaten gelangt, die nicht linear aus der Programmierung folgen (s.o.). Die KI verwertet Daten, „lernt“ und entwickelt daraus „eigene“ Entscheidungen. Eine Begründung dafür ist oft technisch nicht oder nur mit erheblichem Aufwand (sog. Explainable AI) möglich. Indessen taugt die Sorge um die Begründung nicht, den unternehmerischen KI-Einsatz überhaupt zu blockieren. Denn ob eine Maschine oder ein Mensch agiert, es gilt immer noch: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen“.18 Sind die KI-Vorschläge zur Bewerberauswahl AGG-widrig19 oder läuft die KI-Preisbildung auf eine Kartellierung hinaus, muss dies gestoppt werden. Auch die menschliche Entscheidung ist im Grunde eine Black Box, denn was im Gehirn vor sich geht, ist (noch) im Dunkeln, man kann dem Menschen nur vor den Kopf sehen: „Die Gedanken sind frei“. Gewiss kann ein Mitarbeiter etwas über seine Beweggründe sagen, doch ob diese Erklärungen der wahren inneren Motivation entspricht, lässt sich naturgemäß nicht aufhellen.20 Die Black-Box-Metapher sollte auch nicht dahin falsch verstan16
Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 37 Rn. 47. Strohn ZHR 182 (2018), 371, 376. 18 1. Johannes 2, 1–6. 19 Dzida/Groh NJW 2018, 1917. 20 Linardatos ZIP 2019, 504, 507 f.; Möslein Der Aufsichtsrat 1/2020, 2. 17
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den werden, dass alles schwarz bleibt. Vielmehr ist der Daten-Input im Allgemeinen bekannt und ebenso die Arbeitsweise des maschinellen Lernens, weshalb die Grundstruktur zutage liegt. Bei personenbezogenen Daten werden „aussagekräftige Informationen über die involvierte Logik sowie die Tragweite und die angestrebten Auswirkungen einer derartigen Verarbeitung“ verlangt (Art. 13 Abs. 2 lit. f DSGVO). c) Aufsicht über den KI-Einsatz Die dritte Frage lautet daher: Wie wird die KI beaufsichtigt? Hier liegt das eigentliche Problemfeld, das in großen politischen Zusammenhängen ebenso erörtert wird,21 wie in fachspezifischen Beiträgen.22 Für die Betriebsorganisation ist die Geschäftsleitung verantwortlich, einerlei ob natürliche (vulgo: Menschen) oder künstliche Intelligenzen tätig sind. Die Überwachung ist allerdings schon im Ansatz unterschiedlich. Das Arbeitsrecht erlaubt und begrenzt den Zugriff auf die Mitarbeiter. Aus Leitungssicht bestehen dadurch Restriktionen, die für KI-Systeme nicht gelten („Roboter arbeiten 24/7“). Nur in einem Spezialgebiet gibt es gesetzliche Vorschriften zum Umgang mit Algorithmen, die Geschäftsprozesse automatisch ausführen: gemeint ist der Handel an der Börse. § 80 Abs. 2 WpHG verlangt, dass die Handelssysteme belastbar sind, keine Marktstörungen und keinen Marktmissbrauch verursachen und über wirksame Notfallvorkehrungen verfügen. Die Anforderungen sind teils sehr allgemein („Belastbarkeit“), teils spezifisch („Marktmissbrauch“), weshalb sich daraus keine für alle Unternehmen gültigen Grundsätze ableiten lassen.23 Schaut man auf die für Aktiengesellschaften (und nach hM für große GmbH) geltenden Anforderungen, fällt einem § 91 Abs. 2 AktG ins Auge: Der Vorstand hat „geeignete24 Maßnahmen“ zur Risikovorsorge zu treffen. Das heißt im Zusammenhang mit KI-Systemen, dass von ihnen drohende Gefahren ins Kalkül gezogen und Sicherungen installiert werden müssen. Gegenwärtig lässt sich dazu kaum mehr sagen. Zum einen ist die Entwicklung noch nicht so fortgeschritten, dass das Gesamtunternehmen am KINerv hängt, zum anderen sind die KI-Anwendungen überaus vielgestaltig: Es gibt informierende, entscheidungsvorbereitende und letztentscheidende KI-Systeme. Eine sachgerechte KI-Compliance wird sich auf den spezifischen Einsatz konzentrieren, allgemeine Aussagen über Algorithmenkunde 21
S. oben Fn. 2. Lücke BB 2019, 1986; Zetzsche AG 2019, 1; Möslein ZIP 2018, 204; Weber/Kiefner/ Jobst NZG 2018, 1131; Wagner BB 2017, 1097; Sattler BB 2018, 2243. 23 Abw. wohl Möslein ZIP 2018, 204, 211. 24 Nebenbei ein wenig Kritik an der Gesetzessprache: das Adjektiv ist unnütz – so wie „ungeeignete“ Maßnahmen es wären. 22
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von Geschäftsleitern etc. sind nicht hilfreich. Ob es sich um eine Leitungsaufgabe handelt, die nicht – auch nicht im Vorstand - delegationsfähig ist, kann abstrakt nicht dekretiert werden.25 Wie auch beim Gebaren der Mitarbeiter muss die Leitung auf die Ergebnisse der Algorithmen achten. Wenn eine KI-Software die Bewerber bzw. Kunden unzulässig diskriminiert26 oder die Preisfestsetzung durch KISysteme konkurrierender Unternehmen sich als Kartellierung erweist,27 hat die Geschäftsleitung einzugreifen. Damit sie dies rechtzeitig kann, wird eine Überwachung einzurichten sein, die ggf. als KI-System in der Metaebene gestaltet ist. Für den Vorstand und den Aufsichtsrat bzw. den Geschäftsführer stellt sich beim unternehmerischen KI-Einsatz dieselbe Grundaufgabe, für einen sicheren und legalen Betrieb zu sorgen. Zu sorgen bedeutet nicht, dass die Leitungsmitglieder alle Geschäftsprozesse selbst beaufsichtigen und sachlich beherrschen; sonst wären z.B. nur Spezialisten bei einem Biotech-Unternehmen zugelassen usw. Die Leitung muss eine Struktur schaffen, die den genannten Anforderungen genügt. Insoweit unterscheidet sich der KI-Einsatz im Ansatz nicht von anderen, nur Fachleuten zugänglichen Vorgängen. Allerdings werden sich KI-spezifische Pflichten entwickeln, die sich zunächst auf außerrechtliche Wertungen beziehen. Insoweit sind die OECD-Empfehlungen vom Mai 2019,28 das EU-Weißbuch vom Februar 2020 und die Verlautbarungen der Enquete-Kommission Künstliche Intelligenz des Deutschen Bundestages (2019/2020)29 in den Blick zu nehmen. Die Forderung, dass die KI-Technik durch Menschen beherrschbar sein muss, ist selbstverständlich, aber zu allgemein. Die eigentliche Frage lautet, ob jede KI-Entscheidung menschlich geprüft werden muss oder nur wesentliche oder ob es ausreicht, dass das Gesamtsystem dem Design und der Kontrolle menschliche Geschäftsleiter unterliegt. Mit Bezug auf die Adressaten von KI-Entscheidungen wird verlangt, dass der algorithmische Einsatz transparent wird – wobei wieder die Frage ist, ob nur der Befund als solcher oder auch der Entscheidungsgang offenzulegen ist. Weit darüber hinaus reichen materielle Anforderungen, wie sie etwa die hochrangige KI-Expertengruppe der EU-Kommission formuliert hat: „Vielfalt, Nichtdiskriminierung und
25
So aber Lücke BB 2019, 1986, 1993 f. Was bei der üblichen pejorativen Konnotation oft vergessen wird: Diskriminierung ist wichtig und nicht per se schlecht. Dass Unternehmen z.B. zwischen Neu- und Bestandskunden unterscheiden und je nach Geschäftsmodell, dem einen oder anderen bessere Konditionen bieten, ist ein korrekter Vorgang. 27 Dück/Mäusezahl/Symnick ZWeR 2019, 94; Buse LTO.de v. 31.7.2019. 28 https://www.oecd.org/going-digital/ai/principles/. 29 S. insbesondere Projektgruppe „KI und Wirtschaft“ v. 18.12.2019 (https://www.bun destag.de/ausschuesse/weitere_gremien/enquete_ki/sonstige_veroeffentlichungen). 26
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Fairness, gesellschaftliches und ökologisches Wohlergehen.“30 Hier beschleicht einen doch der Verdacht, dass gesellschaftspolitische Vorstellungen auf diesem Wege zu Vorgaben für unternehmerisches Handeln werden. d) Binnenhaftung bei KI-Einsatz Und wenn doch etwas passiert? Die Personalauswahl-KI diskriminiert unzulässig, die Gesellschaft hat Schadensersatz gem. § 15 AGG zu erbringen. Die Steuerungs-KI bei vernetzter Lieferung geht fehl, so dass eine Vertragsstrafe aufgerufen wird; usw. Die KI ist als solche nicht satisfaktionsfähig. Ob sich Regelungen zu Verantwortung und Haftung bei „Entscheidungen digitaler autonomer Systeme“ empfehlen, war als Gegenstand des 73. Deutschen Juristentags 2020 vorgesehen (doch Pandemie-bedingt verschoben worden). Doch das ist Rechtspolitik. Was ist der gegenwärtige Stand de lege lata? Bei Mitarbeitern, die ggf. im Zusammenwirken mit der KI „versagen“, kommt eine Haftung zwar in Betracht, aber die anerkannten Haftungsbeschränkungen bei betrieblich veranlasster Tätigkeit werden vielfach eingreifen. Die Chefetage kann in Regress genommen werden, wenn die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters missachtet wurde. Was diese Sorgfalt beim KI-Einsatz ausmacht, ist noch weithin ungeklärt (s. soeben oben c). KI-Compliance hat das Zeug, zu einem großen Thema der zwanziger Jahre zu werden. Erste Versuche gibt es, etwa durch einen „10-Punkte-Pflichtkanon“ spezifische Verhaltensregeln für die menschliche Leitung zu dekretieren.31
III. KI als Hilfe bei Leitungsaufgaben Eine weitere Frage lautet: Kann die KI auch Leitung? Bislang war die Rede vom KI-Einsatz in der laufenden Geschäftsführung, also einem Bereich, den die Leitung zu organisieren und zu überwachen, aber nicht selbst zu betreiben hat. Bei genuinen Leitungsaufgaben32 sieht es anders aus. Diese müssen grundsätzlich vom Vorstand bzw. von den Geschäftsführern selbst wahrgenommen werden – allerdings darf man sich dabei unterstützen lassen, beispielsweise bei der Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung. Diese Unterstützung muss keine menschliche sein, sondern kann durch Technik erfolgen, wie bisher üblich mittels Datenbanken oder einer Tabellenkalkulation. Der finanzverantwortliche Geschäftsleiter, der die Zah30 EU-Kommission 2019, s. https://ec.europa.eu/futurium/en/ai-alliance-consultation/ guidelines, Ethik-Leitlinien für eine vertrauenswürdige KI, S. 29. 31 Lücke BB 2019, 1986, 1993 f. 32 Mertens/Cahn in KölnerKomm AktG, 3. Aufl. 2010, § 76 Rn. 4 ff.; Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 76 Rn. 8; Kort in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2015, § 76 Rn. 28.
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len dem Aufsichtsrat präsentiert, darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass Excel richtig rechnet bzw. seine Leute das Programm korrekt bedienen. 1. KI unterstützt Ob es auf der Leitungsebene schon ausgewiesene KI-Programme gibt, entzieht sich der Kenntnis des Autors dieses Beitrags. Für sie würden zunächst dieselben Grundsätze gelten wie zuvor für die geschäftsführende KI dargestellt. Zusätzlich ist zu erwarten, dass die Leitungsperson eine grundsätzliche Kenntnis von der Funktionsweise einer KI hat, mithin den Unterschied zu den herkömmlichen Algorithmen kennt.33 Dies rechtfertigt sich aus dem Umstand, dass die Datenbasis ein wesentlicher Parameter ist, an dem sich der selbstlernende Algorithmus ausrichtet. Geht es um eine Fairness Opinion zum Unternehmenswert bei einer Transaktion, dann muss offenbar sein, welche Daten für das KI-Testat zur Verfügung standen. a) Ision (BGH) Diese Anforderung passt zu dem Ision-Urteil des BGH,34 der für den Expertenrat eine „umfassende[r] Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen“ verlangt. Auch das weitere Erfordernis, den (Rechts-)Rat einer „sorgfältigen Plausibilitätskontrolle“ zu unterziehen, ist bei einem KI-Einsatz zu genügen, im Grunde eine Selbstverständlichkeit, denn eine blinde Übernahme der maschinellen Empfehlung würde mit der eigenverantwortlichen Leitung nicht vereinbar sein. Das weitere Ision-Kriterium, das nach einem „unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger“ verlangt, passt für ein technisches Expertensystem nicht.35 Weder können Zeugnisse der fachlichen Qualifikation vorgelegt werden, noch ist sinnvoll, über die „Unabhängigkeit“ der KI zu sprechen. Insoweit kommt es auf den Gedanken an, der diesem Kriterium zugrunde liegt. Zu erwarten ist ein ausgereiftes, wissenschaftlich-technisch aktuelles System, das menschliche Fachleute aufgesetzt haben und betreuen. Die „Plausibilitätskontrolle“, die abschließend verlangt wird, sollte nicht dahin verstanden werden, dass der menschliche Geschäftsleiter sich um die Begründung sorgen muss – diese gibt es vielfach nicht explizit (Black Box), sondern es geht um eine Prüfung auf Folgerichtigkeit. Die derzeit gängigen LegalTech-Anwendungen haben allerdings noch nicht die Reife, um den menschlichen Experten, der für komplexe Rechtsfragen zu Rate gezogen wird, zu ersetzen.36 Die LegalTechs finden ihr An33
Möslein (Fn. 5), § 14 Rn. 28. BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, NZG 2011, 1271 (2. Leitsatz). 35 Überlegungen dazu bei Hoch AcP 219 (2019), 648, 675 ff.; Zetzsche AG 2019, 1, 8. 36 Wagner BB 2018, 1097; Hoch AcP 219 (2019), 648. 34
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wendungsfeld bei repetitiven Sachverhalten37 und bei eng abgesteckten Rechtsgebieten, die automatisiert abgearbeitet werden können. Wohl mag es Entscheidungshilfen geben, etwa zum optimalen Finanzierungsmix von Eigen- und Fremdkapital oder zur Prüfung steuerlich relevanter Sachverhalte.38 Für Entscheidungen, wie sie auf Leitungsebene zu treffen sind, reicht ihre „Intelligenz“ bei weitem nicht aus. b) Business Judgement Rule Eine sich anschließende Frage ist, ob der Vorstand in den Genuss der Business Judgement Rule kommt, wenn er sich KI-technisch beraten lässt – oder anders gewendet, ob er sich via KI informieren muss, um im sicheren Hafen zu sein. Die Reichweite der Pflicht zur Informationsbeschaffung ist umstritten. Der BGH verlangt nach der situationsgerechten (!) Auswertung „aller verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art“.39 Externe und interne Informationsquellen liegen in vielerlei Gestalt vor. Sind sie als Datenbanken digital strukturiert, könnte man meinen, dass die Auswertung „auf Knopfdruck“ möglich ist. Doch so liegt es nicht: „Das Meer der Tatsachen bleibt stumm, erst unsere Theorie bringt sie zum Reden“, lautet das Diktum des Pioniers der Betriebswirtschaft Ernst Schneider. Ob und wie ein KI-Algorithmus diese Auswertung (darauf kommt es an!) erledigen kann, ist offen. Denn er müsste mit vergleichbaren Daten trainiert worden sein, um Korrelationen im neuen Fall zu entdecken. Ob schließlich ein neutrales Votum zum „Wohl der Gesellschaft“ ausgestellt wird, hängt wiederum maßgeblich vom Input ab. Es ist also darauf zu achten, wer die KI wie füttert.40 Keineswegs sind ihre Ergebnisse schon deshalb objektiv, weil eine Maschine als solche keine Eigeninteressen zum Nachteil der Gesellschaft verfolgen kann. Absehbar wird es dazu kommen, dass die KI-Systeme mächtiger werden und bei Vorliegen großer Datenmengen der menschlichen Erkenntnis überlegen sind. Allerdings geht es bei unternehmerischen Entscheidungen nicht nur um objektive Prognosen, sondern oft auch um subjektive Einschätzungen. Diese Werturteile können nicht der KI überlassen werden, doch der Vorwurf kann lauten, sie nicht rational nach dem Stand der Technik fundiert zu haben. Die KI wäre dann im Ergebnis eine Begrenzung des unternehmerischen Ermessens, des „Bauchgefühls“.
37
„Mietbremse“, „Zugverspätung“, „Dieselskandal“. Burr BB 2018, 476; Hoch AcP 219 (2019), 648, 657 f. (jew. zur Konzernklausel des § 6a GrEStG). 39 BGH NJW 2008, 3361 = WuB II C § 43 GmbHG 1.09 (Noack/Bunke). 40 Zetzsche AG 2019, 1, 9. 38
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c) Compliance Eine wichtige Hilfe könnte die KI bei der Verhinderung von Rechtsverstößen durch Unternehmensangehörige spielen, vulgo: Compliance. Dienstleister bieten Programme an, die „Vorbereitungshandlungen für InsiderTrading oder Marktmissbrauch identifizieren, bevor es zur eigentlichen Tathandlung kommt“.41 Auch die Überwachung von Lieferketten, genauer: der guten Praxis der Zulieferer weltweit, ist eine Herkulesaufgabe, bei welcher große und amorphe Datenmengen zu durchdringen sind.42 Die KI kann im Datenwust signifikante Muster illegaler Aktivitäten erkennen, die kein ermittelnder Mensch in angemessener Zeit entdeckt hätte. Allerdings muss ihr Algorithmus darauf vorbereitet sein, weshalb man auf diesem Felde nicht zu viel erwarten sollte. Die Maschine ist auf ein einschlägiges Datentraining angewiesen, doch jetzt kommt`s: Wer legal unterwegs ist, hat gerade kein Fraud-Material zur Verfügung, aus welchem der Algorithmus lernen könnte. Man ist demnach auf reale Vorfälle aus anderen Unternehmen angewiesen. So werden KI-Compliance-Algorithmen mit Material aus dem Enron-Fall trainiert, der im Jahr 2001 die Finanzwelt erschütterte. Doch die seinerzeitigen E-Mails in der US-amerikanischen Geschäftssprache sind ersichtlich keine gute Grundlage, um heutigen, in Deutschland beheimateten Problemfällen auf die Schliche zu kommen. 2. KI als Zünglein an der Waage „Leitung“ heißt: Informationen verarbeiten, entscheiden, umsetzen und kontrollieren. Jeder Teilakt lässt sich weiter untergliedern, zum Beispiel die Entscheidung. Da geht es um Meinungsaustausch, um Risikoabwägungen, um Lösungsalternativen und schließlich um die Abstimmung. Wie wäre es, wenn eine progressive KI maßgebend an diesen Schritten beteiligt ist, insbesondere bei dem abschließenden Beschluss? Das ist unzulässig, wird oft die erste Reaktion sein, denn nur natürliche Personen sind zu Leitungspersonen berufen (§§ 76 III 1 AktG, 6 II 1 GmbHG, § 9 II 1 GenG). Aber noch geht es nicht darum, die KI als Leitungsmitglied zu führen (unten IV.), sondern ihr eine Maßgeblichkeit im Leitungsgeschehen zuzuweisen. So sei es im Jahr 2014 bei der Deep Knowledge Group in Hongkong geschehen, die einen Algorithmus namens VITAL bei Investmententscheidungen im Biopharmasektor befragt,43 aber entgegen manchen Übertreibungen in den Medien nicht zum Co-Boss ernannt hat. 41
S. den Bericht von Neufang IRZ 2017, 249. www.integritynext.com. 43 Dazu Strohn ZHR 182 (2018), 371; Möslein ZIP 2018, 204, 206; Weber/Kiefner/ Jobst NZG 2018, 1131, 1136; Zetzsche AG 2019, 1, 9 f. 42
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Denkbar wäre eine Regelung im Gesellschaftsvertrag der GmbH, dass die KI bei Patt-Situationen auflöst oder ihr Veto durch Anrufung der Gesellschafterversammlung überwunden werden muss. „Wenn es in einer deutschen GmbH zulässig ist, bei Stimmengleichheit die Münze zu werfen – warum sollte nicht einem Computerprogramm dieselbe Validität zukommen?“44 Bei der Aktiengesellschaft dürfte eine solche bindende Inklusion der KI in die Leitungsentscheidung allerdings nicht möglich sein. Die Geschäftsordnung des Vorstands ist im Rahmen der §§ 76 ff. AktG gestaltbar,45 aber dieser Rahmen ist begrenzt: „Unter eigener Verantwortung“ (§ 76 I AktG) zu leiten heißt auch, sich dieser Verantwortung nicht durch Hinweis auf die Maschine zu entziehen.46
IV. KI ist ein Mitglied der Leitung Wie zuvor erwähnt, ist es im deutschen Gesellschaftsrecht de lege lata nicht zulässig, nicht-natürliche Personen in der Geschäftsleitung zu haben.47 Über die juristische Person als mögliches Leitungsmitglied wird zuweilen de lege ferenda diskutiert48 – und andere Rechtspersonen gibt es nicht. Noch nicht. Denn die elektronische Person erscheint am Horizont, jedenfalls aus der Sicht des Europäischen Parlaments, welches im Jahr 2017 sich dafür aussprach.49 Seither ist freilich auf politischer Ebene nichts mehr passiert, während die akademische Diskussion kräftig befeuert wurde.50 Würde im Laufe der Dekade eine solche E-Person europaweit eingeführt, bestünde Anlass, auch das restriktive Gesellschaftsrecht auf den Prüfstand zu stellen. Einstweilen bleibt es beim Verdikt: geht nicht. V. KI ist die alleinige Leitung Einen „disruptiven“ Schritt weiter ist die Vision einer KI, die ohne Menschen selbst ein Unternehmen leitet. In Anlehnung an die bekannten Pro44 Teichmann ZfPW 2019, 247, 265 unter Hinweis u.a. auf Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 47 Rn. 23 (Losentscheid). 45 Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 77 Rn. 21. 46 So auch Möslein Aktienrechtliche Leitungsverantwortung beim Einsatz künstlicher Intelligenz in Kaulartz/Braegelmann (Hrsg.), Rechtshandbuch Artificial Intelligence und Machine Learning, 2020, Kapitel 9, Rn. 5 („Letztentscheidungskompetenz“); offener wohl Zetzsche AG 2019, 1, 7. 47 Dies mit Blick auf das Ergebnis; bei der KGaA kann eine juristische Person der Komplementär sein (und damit geschäftsleitend), aber sie wird wiederum von natürlichen Personen vertreten. 48 Abl. Fleischer AcP 204 (2004) 502, 532 f.; Gehrlein NZG 2016, 566. 49 Entschließung v. 16.2.2017, dort Nr. 59 f. 50 Repräsentativ Teubner AcP 218 (2018) 155 ff.; Schirmer JZ 2016, 660.
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jekte der Auto(!)mobil-Industrie hat Eidenmüller auf dem ZHR-Symposion 2019 von „selbstfahrenden Kapitalgesellschaften“ gesprochen. Was hat es damit auf sich? Dass die gegenwärtige Rechtslage eine solche Gestaltung nicht hergibt, sei nur als Selbstverständlichkeit erwähnt. Doch ist es nicht nur, aber immerhin, das Recht, das sperrt (jedoch geändert werden könnte). Die technische Realisierung einer „starken“ KI steht in den Sternen. Die künstliche Superintelligenz taugt den einen als Verheißung, den anderen als Horror. Jedenfalls handelt es sich um Science Fiction, wenn von Robotern als Chefs gehandelt wird. Maschinen sind nicht imstande und werden es wahrscheinlich nie sein, wie ein menschlicher Unternehmenslenker zu agieren, und zwar mit „Instinkt, Erfahrung, Phantasie und Gespür für künftige Entwicklungen und ein Gefühl für die Märkte.“51 Ob die KI jemals so etwas wie ein Bewusstsein haben wird, ist eine wissenschaftsphilosophische Frage. Ein Unternehmen, das sich ohne menschliches Zutun selbst organisiert und steuert, braucht auch keine futuristische Superintelligenz als Leitung – wenn es sich auf einen bestimmten Sektor beschränkt. Insoweit kommen Tochtergesellschaften im Konzern in Betracht, die ein strukturiertes Geschäftsfeld beackern. Erörtert werden heute schon Special Purpose Vehicles im Finanzsektor und im Transportgewerbe.52 Der Fall der Yellow Cab Corporations (für jedes Taxi wird eine Kapitalgesellschaft gegründet)53 kehrt wieder, nur dass das Taxi selbst die „Gesellschaft“ ist, sich selbst verwaltet. Es fährt autonom, bezieht Energie, akquiriert Fahrgäste per App, zahlt Versicherung und Steuer per smart contract. Die KI kommt durchaus ins Spiel, sei es situativ beim sog. autonomen Fahrbetrieb oder bei der Entscheidung, welcher Energieversorger zu welchen Zeiten zu welchen Bedingungen gewählt wird. Doch man sieht, dass es nicht um „Instinkt, Phantasie und Gespür“54 geht, sondern ein Arbeitspensum erledigt wird. Um es noch einmal hervorzuheben: Mit herkömmlicher Programmierung wäre es nicht möglich, auf unbekannte Herausforderungen zu reagieren. Doch der lernfähige KI-Algorithmus ist innerhalb seines Anwendungsfeldes (!) dazu in der Lage. Der Einsatz solcher Vehikel wirft die stets virulente Frage auf: wer haftet? Was Vertragsschulden anbelangt, ist das Problem vielleicht gar nicht bedeutsam. Denn es ließen sich die smart contracts so gestalten, dass der Leistungsaustausch automatisch erfolgt. Im Übrigen käme der Durchgriff (piercing) 51 RegBegr. UMAG 2005, BT-Drs. 15/5092 S. 11; J. Vetter in FS Bergmann, 2019, 827 ff. 52 Armour/Eidenmüller ZHR 183 (2019), 169, 182; zur Dezentralen Autonomen Organisation (DAO), die 2016 als Investmentvehikel auf der Ethereum-Blockchain aufgesetzt wurde und an einem Programmfehler scheitere s. Mann NZG 2017, 1014; Teichmann ZfPW 2019, 247, 266 f. 53 Wiedemann Gesellschaftsrecht Bd. I, 1980, 228. 54 S. bei Fn. 51.
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auf die Obergesellschaft(er) wieder zu Ehren, mit spannender Diskussion über Missbrauch. Denn einen solchen kann es an sich nur geben, wenn die KI-Programmierung darauf angelegt war, Schaden zu stiften („KillerDrohne“). Im Übrigen wird es ein Zulassungsproblem sein. Eine Wiederkehr des Konzessionssystems steht zu erwarten. Die Kalibrierung der KIgesteuerten Unternehmensziele müsste auf den Prüfstand, bevor das Vehikel im Markt aktiv wird. Dass dem Algorithmus derselbe diskretionäre Spielraum wie menschlichen Leitungspersonen zugebilligt wird, ist wenig wahrscheinlich.55 Und die Verbandssanktionen, über die derzeit im Hinblick auf einen Gesetzentwurf gestritten wird, hätten ein wirkliches Anwendungsfeld bei einer Unternehmung ohne menschliche Adressaten.
VI. KI und Corporate Governance Der intensive Einsatz von KI-Algorithmen wird auch die Beziehungen der Gesellschaftsorgane und möglicherweise deren Existenzberechtigung betreffen. Das sei für die Aktiengesellschaft, für die gesetzlich eine dezidierte Organbalance vorgeschrieben ist, näher skizziert. 1. Aufsichtsrat Die Überwachung durch den Aufsichtsrat könnte durch KI-Algorithmen ergänzt, stark verbessert56 … und schließlich ersetzt werden, jedenfalls wenn sich die Kontrolle allein auf die Zielerreichung bezieht. Den Umgang mit Produktions-, Vertriebs- und Finanzdaten beherrscht die KI, in der Durchdringung des Materials spielt sie ihre Vorzüge aus. Sobald allerdings strategische Überlegungen ins Spiel kommen, ist der Mensch gefordert. Die Folgerungen aus einer Diskrepanz von Planung und Realität kann die Entlassung des Vorstands, aber auch ein Weiter-so oder eine Anpassung der Ziele sein – hier sind auch zwischenmenschliche (!) Aspekte von Belang, etwa ob die Führungskräfte einander vertrauen. Dieses nicht datengetriebene Gebaren ist der KI verschlossen. Weitere Hilfsmittel für den Aufsichtsrat können Algorithmen sein, die sich für die Vorstandsvergütung einsetzen lassen. Dort ist insbesondere darauf zu achten, was der Konfiguration und dem Datenlernen zugrunde liegt.57 Ein sehr wesentlicher Aspekt ist die Informationsversorgung des Aufsichtsrats. Darüber ist viel geschrieben worden,58 vor dem Hintergrund, dass 55
So die Erwartung von Armour/Eidenmüller ZHR 183 (2019), 169, 183 f. Fleischer Der Aufsichtsrat, 2018, 121; Möslein Der Aufsichtsrat, 2020, 2, 3; Noack in FS E. Vetter, 2019, 506. 57 Zetzsche AG 2019, 1, 6. 58 Jüngst etwa Lieder ZGR 2018, 523, 563. 56
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die Information vom Vorstand kommt, den der Aufsichtsrat kontrollieren soll. Der zu Kontrollierende besorgt demgemäß die Unterlagen für seine Kontrolle. Dieses dem two-tier-System eigene Defizit kann durch eine gemeinsame Nutzung der Unternehmens-KI überwunden werden – was im Ergebnis auf ein Board-System hinausläuft.59 2. Vorstand Die KI-gestützten Geschäftsprozesse (oben II. 1.) sind wie jede IT-Struktur anfällig für Hackerangriffe und Datenmissbrauch. Wird das ganze Unternehmen digital ausgerichtet, gerät die Überwachung der IT zur „Chefsache“.60 Gewiss ist die Mahnung angebracht, mit dieser Zuweisung vorsichtig zu sein,61 denn sonst gerät sie zur Beliebigkeit. Doch bei dem Zentralnerv des Unternehmens, den die KI/IT bildet, versteht sich fast von selbst, dass hier die oberste Leitung in der Verantwortung steht. Ob es einen ausgewiesenen Corporate Digital Officer braucht,62 ist demgegenüber zweitrangig. Über den gesetzlichen Rahmen hinaus, der derzeit noch nicht KI-spezifisch gebildet ist, kommen Grundsätze einer Corporate Digital Responsibility in Betracht. Ähnlich wie bei der inzwischen verrechtlichten Corporate Social Responsibility (§ 289b HGB) dringen (ethische) Wertungen vor, die das Leitungshandeln zu prägen suchen (s. bereits oben II. 2. c). Das Bundesministerium der Justiz hat im Mai 2018 die CDR-Initiative ins Leben gerufen, um einen Prozess zur Entwicklung von Prinzipen und Leitlinien anzustoßen; von Allianz bis Zalando sind deutsche Großunternehmen dabei. „Über das gesetzlich Vorgeschriebene hinaus sollen noch mehr Unternehmen dazu motiviert werden, die Digitalisierung menschen- und werteorientiert zu gestalten.“, heißt es etwas schwülstig. Schon gibt es ein „KIGütesiegel“ eines KI Bundesverbandes e.V. mit dem hehren „Ziel einen menschen-zentrierten und menschen-dienlichen Einsatz von Künstlicher Intelligenz zu sichern.“63 Die Deutsche Telekom AG hat sich KI-Leitlinien gegeben („wir stehen für Transparenz“) und die SAP SE hält sich einen KIBeirat. Letzteres wirft die Frage auf, wie dieses Gremium zum Aufsichtsrat steht, der schließlich das auf KI setzende Technologieunternehmen zu überwachen hat. Eine Auslagerung ist kritisch.
59
Windbichler ZGR 1985, 50 ff. Kort in GroßKomm AktG, 5. Aufl. 2015, § 76 Rn. 37. 61 Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 76 Rn. 9. 62 Dazu Sattler BB 2018, 2243, 2247. 63 https://ki-verband.de/ki-guetesiegel-ai-made-in-germany. 60
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3. Hauptversammlung Schließlich ist auch der Umgang mit den Aktionären eine Aufgabe des Vorstands im Benehmen mit dem Aufsichtsrat. Hier hat die KI bislang kein ausgewiesenes Anwendungsfeld. Gegen eine KI-gestütztes Reporting an die Hauptversammlung (Geschäftsbericht etc.) wäre nichts einzuwenden.64 Denkbar ist, dass die Prozesse rund um die Hauptversammlung durch Algorithmen gesteuert werden. Das beträfe vor allem Dienstleister, die ihr Geschäftsmodell weiterentwickeln müssen. Die durch das ARUG II eröffnete Möglichkeit, die Aktionäre einzeln zu identifizieren und zu informieren,65 schafft ab Herbst 2020 eine Basis, um eine KI einzusetzen. Noch mehr käme in Betracht, wenn der Plan, eine digitale Aktie zu schaffen, umgesetzt würde. Die Digitalisierung des Aktionariats eröffnet einer KI-gestützten Durchdringung der Beteiligungsstruktur, der Planung von HV-Beschlüssen und nicht zuletzt der Abwehr unerwünschter Übernahmeavancen ein hoch interessantes Feld. Allerdings wird man dann bei der Corporate-Governance-Debatte, an welcher die Jubilarin hoffentlich weiter aktiv teilnimmt, die kritische Frage nach der Machtbalance aufwerfen. Ein Corporate Governance-Thema ist nicht nur die Organverfassung der Gesellschaft, sondern auch die Rolle der institutionellen Aktionäre und Stimmrechtsberater, denen das ARUG II die §§ 134a ff. AktG gewidmet hat. Wenn diese KI einsetzen, um das Massengeschäft der Stimmrechtswahrnehmung zu organisieren, wird man hier durchaus eine Berichtspflicht entsprechend § 134 II 2 AktG annehmen dürfen.66
VII. Fazit Die Künstliche Intelligenz bzw. die sie ermöglichende Digitalisierung ist im Unternehmensrecht angekommen, zumindest in der wissenschaftlichen Diskussion in Deutschland67 und vor allem international.68 Hier gehen zuweilen das rechtlich und technisch Mögliche mit dem Visionären eine Melange ein. 64
Anders wohl Strohn ZHR 182 (2018), 371, 377. Kuntz AG 2020, 18 ff.; Zetzsche AG 2020, 1 ff. 66 Möslein (Fn. 5), § 14 Rn. 44. 67 S. die Nachw. oben Fn. 22 sowie insbesondere Beurskens in FS Seibert, 2019, 71 ff. und Spindler ZGR 2018, 17; Strohn ZHR 182 (2018), 371; Teichmann ZfPW 2019, 247; Linartados ZIP 2019, 504; Lieder NZG 2018, 1081 und NZG 2020, 81; Bormann/ Stelmaszczyk NZG 2019, 601 (zur Online-Gründung). 68 S. die umfassenden Nachweise bei Möslein (Fn. 5); ferner Zetzsche AG 2019, 1 und Noack ZHR 183 (2019), 105, 110. 65
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Die junge69 KI-Technologie macht derzeit große Fortschritte. Wird sie für Geschäftsprozesse des Unternehmens eingesetzt, besteht eine Verantwortung der Leitung, die Struktur für einen ordnungsgemäßen Ablauf zu schaffen. Der Umstand, dass der Entscheidungsvorgang nicht stets transparent ist („Black Box“), kann den KI-Einsatz nicht hindern (oben II. 2. b). Bei KIAnwendungen auf Leitungsebene sind die für menschliche Sachverständige geltenden Ision-Grundsätze des BGH nur modifiziert übertragbar. Die KI kann Berater, aber nicht Mitglied der Leitung sein. KI-Unternehmen, die ausschließlich algorithmengesteuert operieren, sind für Spezialaufgaben denkbar; für normale Rechtsträger, die auf einem breiten Markt tätig sind, ist eine KI als Leitung ungeeignet, da sie die Vielfalt unternehmerischen Handelns (noch) nicht beherrscht. Die Unternehmenspraxis hilft sich mit Leitsätzen und Beiräten, ähnlich verfährt die Rechtspolitik mit Kommissionen, Gutachten und Weißbüchern.70 Im Vordergrund stehen Überlegungen zur Verantwortung beim KIEinsatz, während die Folgerungen für die Unternehmensverfassung erst in zweiter Linie interessieren.71 Doch gerade hier kann die mittels KI-Algorithmen forcierte Digitalisierung zu großen Umbrüchen führen. Nicht nur verschwinden äußerlich die Krawatten der Unternehmenslenker – auch das Leitungsgebaren wird sich mit dem Kollegen „KI“ ändern. Mit Christine Windbichler erwarten wir hier die spannenden zwanziger Jahre.
neue rechte Seite! 69 Die KI-Idee geht auf die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, doch nach etlichen „Wintern“ (https://de.wikipedia.org/wiki/KI-Winter) ist nach der langen Inkubationszeit wohl ihr Frühling angebrochen. 70 S. oben Fn. 2. 71 Dazu Seibert in dieser FS S. 1079 ff.
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Neujustierung der deutschen Unternehmensverfassung nach der COVID-19-Pandemie MARKUS ROTH
I. Einleitung Aktienrechtliche Reformen erfolgen häufig als Reaktion auf Krisen. In den 1990er Jahren wurde nach Unternehmenszusammenbrüchen im Gesetz über die Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich die Stellung von Aufsichtsrat und Abschlussprüfer gestärkt.1 In den USA führten bereits in den 1970er Jahren Verstöße gegen Bilanzierungsvorschriften zur Einführung eines Prüfungsausschusses (Audit Committee), nach dem EnronSkandal wurden die Regeln Anfang des Jahrtausends im Sarbanes-Oxley Act weiter verschärft.2 Neben dem Prüfungsausschuss wurden in den USA auch unabhängige Direktoren verpflichtend vorgesehen.3 Ausstrahlungswirkung hatten diese Reformen auf die Europäische Union, die Bilanzrichtlinie sieht ebenfalls einen Prüfungsausschuss vor,4 zumindest in einer EU-Empfehlung werden unabhängige Direktoren oder Aufsichtsratsmitglieder vorgesehen.5 Aktienrechtliche Reformgesetzgebung kann aber auch durch über die Insolvenz einzelner Unternehmen hinausgehende Krisen angestoßen werden. Die Finanzmarktkrise führte zum größten Einbruch der Wirtschaft seit der Weltwirtschaftskrise der 1920/30er Jahre. In der Folge wurden zunächst die Regeln zur Vergütung geändert und auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung ausgerichtet.6 Aufgrund des über die Vergütung der Unternehmensleitung hinausgehenden Fokus auf Nachhaltigkeit wurde auch in den USA die shareholder value-Doktrin aufgegeben. Große Unternehmen 1 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) vom 27.4.1998, BGBl I 786, dazu AG-Sonderheft, Die Aktienrechtsreform 1997. 2 Zum Audit Committee etwa Maushake Audit Committees, Prüfungsausschüsse im US-amerikanischen und deutschen Recht, 2009; Warncke Prüfungsausschüsse und Corporate Governance, 2. Auflage 2010. 3 Gordon The Rise of Independent Directors in the United States, 1950–2005, Stanford Law Review 59 (2007) 1465. 4 Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Auflage 2019, § 107 Rn. 504 ff. 5 Hopt/Roth in Großkomm AktG, 4. Auflage 2005, § 100 Rn. 86 ff. 6 Gesetz über die Angemessenheit von Vorstandsvergütungen (VorStAG) vom 31.7. 2009, BGBl I 2509.
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betonen nun weltweit, nicht nur den Aktionären, sondern der Gesellschaft insgesamt zu dienen.7 In Deutschland waren die Gründerkrise der 1870er Jahre sowie die Kapitalknappheit deutscher Unternehmen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg Anstoß für weitreichende Reformen. Aufgrund des nach der Euphorie über den gewonnenen deutsch-französischen Krieg grassierenden Gründungsschwindels wurden im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch (ADHGB) noch vor Einführung eines eigentlichen Kapitalmarktrechts strenge Regeln für die Gründung von Aktiengesellschaften und die Haftung der Gründer eingeführt.8 Reformiert wurde aber auch die Organisationsverfassung, so dass zutreffend von einem modernen Aktienrecht gesprochen werden kann.9 Sodann wurde in der Weimarer Republik unter Beteiligung des Berliner Kaiser Wilhelm-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht eine grundlegende Reform des deutschen Aktienrechts vorbereitet.10 Aufgrund der Weltwirtschaftskrise konnten die Reformvorschläge11 allerdings vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten nur teilweise umgesetzt werden. Im Aktiengesetz 1937 wurden sie sodann ergänzt und überlagert, insbesondere bei der Ausgestaltung der Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft.12 Das 1884 eingeführte moderne deutsche Aktienrecht mit der Möglichkeit der Ausgestaltung des Aufsichtsrats als Verwaltungsrat ist seitdem überholt, Aufsichtsrat und Hauptversammlung sind von der Geschäftsführung grundsätzlich ausgeschlossen. Aktuell stellt sich die Frage einer weiteren großen Reform.13 Im ersten Halbjahr 2020 verbreitete sich weltweit der Corona-Virus. Bereits Anfang April 2020 waren weltweit eine Million Infektionen offiziell bestätigt. Die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie haben die Bewegungsfreiheit von Milliarden Menschen weltweit beschränkt. In Deutschland wurden wie in allen europäischen Ländern größerer Versammlungen 7 Business Roundtable, Statement on the Purpose of a Corporation, August 2019, zu Blackrock schon Lanfermann BB 2018, 490. 8 Art. 209b ff. ADHGB 1884, dazu die Allgemeine Begründung, §§ 1 ff., 9 f., abgedruckt bei Schubert/Hommelhoff Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 407 ff., 441 ff. 9 So der Titel von Schubert/Hommelhoff Hundert Jahre modernes Aktienrecht, ZGR Sonderheft 4, 1985. 10 Dazu die Habilitationsschrift des ersten Präsidenten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Hallstein Die Aktienrechte der Gegenwart, 1931. 11 Reichsjustizministerium, Entwurf eines Gesetzes über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien, 1930, sodann der Entwurf von 1931, abgedruckt auch bei Schubert/Hommelhoff (Hrsg.), Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer Republik, 849 ff. 12 Markus Roth ZGR 2011, 516, 532 f., pointiert Thiessen AG 2013, 573, 574 f. 13 Zuletzt das AktG 1965, dazu Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz.
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verboten, so dass auch die Hauptversammlungen großer Aktiengesellschaften nicht wie geplant stattfinden konnten.14 Zur Bewältigung der Folgen der Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Corona-Virus sieht das COVID-19-Pandemie-Gesetz15 die Möglichkeit einer rein virtuellen Hauptversammlung vor. Auf Verlangen des Vorstands sind Fragen von den Aktionären spätestens zwei Tage vor der Hauptversammlung zu stellen. Der vorliegende Beitrag will die langfristigen Auswirkungen dieser Ausnahmeregelungen ausleuchten. Zutreffend empfiehlt sich eine modifizierende Aufnahme der Regelungen in das Aktiengesetz.16 Gestärkt werden sollte die Kompetenz der Hauptversammlung, über solche Verfahrensfragen selbst zu entscheiden. Die Kontrolle der Aktionäre verlagert sich so weiter in das Vorfeld und die Zeit zwischen den Hauptversammlungen. Daraus ergeben sich weitere Reformimpulse für die Organisationsverfassung der deutschen Aktiengesellschaft.17
II. Virtuelle Beschlussfassung in der Aktiengesellschaft 1. Die virtuelle Hauptversammlung nach dem COVID-19 Pandemie-Gesetz Aufgrund der Beschränkung von Versammlungen ist in der Hauptversammlungssaison 2020 die Durchführung von Präsenzhauptversammlungen in Deutschland und ganz überwiegend international nicht möglich. Zunächst wurden Großveranstaltungen untersagt, unter die auch die Hauptversammlungen großer Aktiengesellschaften fallen. Sodann haben erst einzelne Länder und wurden sodann bundesweit alle Versammlungen von mehr als zwei Menschen aus infektionsschutzrechtlichen Gründen untersagt. Praktisch müssen die Aktiengesellschaften zur Durchführung der Hauptversammlungen so auf alternative Angebote zurückgrei14 Internationale Hinweise bei Noack/Zetzsche AG 2020, 265, 266 (Schweiz, Österreich, Norwegen, Luxemburg). Weiter etwa in Frankreich, Italien, Spanien und Schweden, hierzu OECD, National corporate governance related initiatives during the Covid-19 crisis, 28 May 2020. 15 Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenzund Strafverfahrensrecht vom 27.3.2020, BGBl I, 569, Art. 2, Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, in der Folge kurz COVID-19Pandemie-Gesetz. 16 Noack/Zetzsche AG 2020, 265, 277 f. 17 Zu Grundsatzfragen des Aktienrechts mit Blick auf den Vorstand Hüffer in Bayer/ Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, Band 2, § 7 Rn. 12 (eigentümergeführte Aktiengesellschaft als Alternative zur GmbH) und § 7 Rn. 14 (Wahlrecht zwischen monistischem und dualistischen System).
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fen.18 Die technischen Möglichkeiten sind vorhanden. Moderne Konferenzund Videotechnik ermöglicht die gegenseitige audiovisuelle Wahrnehmung auch einer großen Anzahl von Teilnehmern.19 Um unter diesen außergewöhnlichen Umständen das Abhalten von Hauptversammlungen auch aktienrechtlich zu ermöglichen, wurde im Schnellverfahren das COVID-19-Pandemie-Gesetz verabschiedet, das neben Vorschriften zum Verbraucherrecht,20 zur Insolvenzantragspflicht21 sowie zum Strafverfahren auch Regelungen zum Gesellschaftsrecht enthält.22 Auf Grundlage einer Formulierungshilfe des Justizministeriums haben die Fraktionen der CDU/CSU sowie der SPD den Gesetzesvorschlag eingebracht. Der Regelung zu Grunde liegt so formal kein Entwurf der Regierung, sondern der die Bundesregierung bildenden Faktionen. Inhalt und Begründung sind allerdings mit der Formulierungshilfe des Ministeriums für Justiz und Verbraucherschutz identisch. Für Aktiengesellschaften eröffnet § 1 Abs. 5 COVID-19-PandemieGesetz die Option der Verschiebung der Hauptversammlung,23 diese muss nur innerhalb des Geschäftsjahres stattfinden. Praktisch erfolgt eine Aufhebung der Achtmonatsfrist des § 175 Abs. 1 Satz 2 AktG. Allerdings ist jedenfalls zum Zeitpunkt des Erlasses des COVID-19-Pandemie-Gesetzes und damit der üblichen Hauptversammlungssaison ungewiss, ob Großveranstaltungen im Verlauf des Kalenderjahres 2020 stattfinden können. Für eine zeitnahe Abhaltung sprechen die üblicherweise auf Hauptversammlung anstehenden Entscheidung. Vor allem die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat sollte nicht länger als notwendig aufgeschoben werden. In der aktienrechtlichen Praxis spricht so viel für die in § 1 Abs. 2 COVID19-Pandemie-Gesetz als erste Wahlmöglichkeit genannte Option einer rein virtuellen Hauptversammlung.24 Vorgesehen werden kann eine rein virtuelle Hauptversammlung vom Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats. In der Krise ist allein eine Entscheidung durch die Verwaltung möglich. Auch eine spätere Kontrolle durch die Aktionäre war zu beschränken, die Einschränkung der Anfechtbarkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen trägt dem Bedürfnis der Gesellschaften nach Rechtssicherheit Rechnung. 18
Zu den bereits de lege lata beachtlichen Spielräumen Mülbert in Großkomm AktG, 5. Auflage 2017, § 118 Rn. 97 ff. 19 Mülbert in Großkomm AktG, 5. Auflage 2017, Vor § 118 Rn. 59: Anwesenheitserfordernis konnte so nicht gehalten werden. 20 Dazu Markus Roth in Langenbucher/Bliesener/Spindler (Hrsg.), Bankrechts-Kommentar, 3. Auflage 2020, Anhang nach § 515 BGB. 21 Dazu Thole ZIP 2020, 650. 22 Erste Darstellung von Noack/Zetzsche AG 2020, 265. 23 Dies jedenfalls in einer ersten Reaktion bevorzugend Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V. (DSW), Pressemitteilung vom 24. März 2020. 24 Noack/Zetzsche AG 2020, 265: zeitlich unkalkulierbarer Aufschub ist mit Handlungsunfähigkeit erkauft.
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Das Gesetz verzichtet mit der Zulassung einer rein virtuellen Hauptversammlung auf die nach herkömmlichem Recht und Verständnis unabdingbare Möglichkeit der Aktionäre, an der Hauptversammlung persönlich oder durch einen physisch präsenten Vertreter teilzunehmen.25 Auch für Aufsichtsratsmitglieder enthält das COVID-19-Pandemie-Gesetz eine Sonderregelung. Die Mitglieder des Aufsichtsrats können zugeschaltet werden, dies im Wege der Bild- und Tonübertragung nach § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG. Nicht verzichtet werden kann auf die Präsenz der Vorstandsmitglieder. Die Regelung des COVID-19-Pandemie-Gesetzes gilt nach § 7 Abs. 1 COVID-19-Pandemie-Gesetz für Hauptversammlungen, die im Jahre 2020 stattfinden.26 Praktisch wichtig ist die Verlängerungsmöglichkeit nach § 8 COVID-19-Pandemie-Gesetz bis Ende 2021, so dass genügend Zeit für eine Evaluation der Praxis aufgrund des Gesetzes bleibt. Voraussichtlich wird es angezeigt sein, dass das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz von der Verordnungsermächtigung auch Gebrauch macht. Eine Verlängerung erscheint wegen des ungewissen weiteren Verlaufs der Epidemie empfehlenswert, wenn sich bis zum Jahresende 2020 keine sicher positive Entwicklung abzeichnet.27 Aufgrund des langen Vorlaufs von Hauptversammlungen darf die Entscheidung über die Verlängerung nicht zu spät getroffen werden.28 Einige Gesellschaften benötigen Planungssicherheit bereits für Anfang des Jahres 2021 stattfindende Hauptversammlungen.29 Betroffen sind Gesellschaften, deren Geschäftsjahr zum 30. September endet, etwa Siemens. 2. Regelung der virtuellen Hauptversammlung im Aktiengesetz Bei einer Verlängerung der Ausnahmevorschriften des COVID-19Pandemie-Gesetzes ist eine Anschlussregelung im Aktiengesetz erst ab der Hauptversammlungssaison 2022 notwendig. Aufgebaut werden kann für diese auf eine dann mehr als zwei Jahrzehnte andauernde Diskussion von Online-Hauptversammlungen,30 diskutiert wurde die Hauptversammlung 25
Mülbert in Großkomm AkG, 5. Auflage 2017, § 118 Rn. 4, 97, 104. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BTDrucks 19/18110, zu Art. 2 § 7 Abs. 1. 27 Social distancing bis Anfang/Mitte 2021 erwartend Kissler/Tedijanto/Goldstein/ Grad/Lipsitch Projecting the transmission dynamics of SARS-CoV-2 through the postpandemic period, Science 368 (2020) 860. 28 Auf ein Durchstehen der Pandemie 2020 hoffend Noack/Zetzsche AG 2020, 265, 278, zum Vorlauf der Terminplan bei Butzke Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 5. Auflage 2011, Anhang 1. 29 Allgemein zur Kommunikation des Hauptversammlungstermins bereits im Vorjahr E. Vetter in Großkomm AktG 5. Auflage 2018, § 175 Rn. 24. 30 Noack ZGR 1998, 592, 601 f.; Spindler ZGR 2000, 420, 440 ff.; Habersack ZHR 165 (2001) 172, 195. 26
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im Internet bereits um die Jahrtausendwende.31 Seither wurden die Möglichkeiten virtueller Hauptversammlungen, aber auch weitere Fragen digitaler Kommunikation und Beschlussfassung, etwa des Aufsichtsrats,32 umfassend behandelt. Bereits jetzt kann die Satzung vorsehen oder den Vorstand dazu ermächtigen, dass die Aktionäre ihre Rechte oder einzelne davon auch im Wege elektronischer Kommunikation ausüben, auch die Stimmabgabe. Allerdings verblieb es im Kern bei der Präsenzhauptversammlung, es wurde lediglich die virtuelle Teilnahme ermöglicht.33 Die geltenden Regelungen gehen zurück auch auf eine Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie durch das ARUG. Aktuell erfolgten Anpassungen an die geänderte Aktionärsrechterichtlinie durch das ARUG II. Rein virtuelle Hauptversammlungen sollten auch künftig möglich sein, dies zunächst als zwingend notwendige Krisenvorsorge für den Fall einer weiteren Epidemie.34 Das Beispiel Asiens zeigt, dass nicht darauf vertraut werden kann, dass es sich bei der COVID-19-Pandemie um ein einmaliges Ereignis handelt. Nach MERS und der ersten SARS-Pandemie um die Jahrtausendwende ist COVID-19 dort der dritte Ausbruch innerhalb von etwa zwanzig Jahren. Nimmt man die auf Afrika beschränkte Ebola-Epidemie hinzu, handelt es sich weltweit sogar um den vierten Ausbruch in nur zwei Jahrzehnten. Die in den letzten Jahren weiter gestiegene Verflechtung der Weltwirtschaft macht es zunehmend schwieriger, einen Ausbruch auf einen Kontinent zu beschränken. Die Verwaltung sollte so auch für den Fall künftiger Versammlungsverbote mit einer dem COVID-19-Pandemie-Gesetz entsprechenden Notfallkompetenz ausgestattet werden.35 Auch im Übrigen hat die Zulassung rein virtueller Hauptversammlungen Vorteile.36 Ermöglicht werden passgenaue Lösungen nicht nur für kleine Gesellschaften.37 Große Gesellschaften haben häufig mehr als eine Million Aktionäre, die ohnehin nicht alle zugleich persönlich an der Hauptversammlung teilnehmen können. Hier stellt sich nicht nur die Frage der Kosten einer Präsenzveranstaltung, sondern auch die der Möglichkeit der Anwesenheit in Person oder durch einen persönlich anwesenden Vertreter.38 Institutionelle In31
Noack/Spindler (Hrsg.), Unternehmensrecht und Internet, 2001. Zöllner in Noack/Spindler (Hrsg.), Unternehmensrecht und Internet, 2001, 69, 79 ff. 33 Mülbert in Großkomm AktG, 5. Auflage 2017, § 118 Rn. 104. 34 Zur möglichen Entwicklung der Infektionszahlen bei unzureichenden Schutzmaßnahmen Leopoldina 3. April 2020, Zweite Ad-Hoc-Stellungnahme: Coronavirus-Pandemie: Gesundheitsrelevante Maßnahmen, 2. 35 Zur Zustimmung des Aufsichtsrats Noack/Spindler AG 2020, 265, 275. 36 Zur Förderung der Aktionärsdemokratie schon Spindler ZGR 2000, 420, 440 f. 37 Insbesondere auf nicht börsennotierte Gesellschaften abstellend Habersack ZHR 165 (2001) 172, 197. 38 Zu Stimmrechtsberatern etwa Kuhla Regulierung internationaler Stimmrechtsberater, 2014. 32
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vestoren stehen vor dem Problem, in der auch international sehr kurzen Hauptversammlungssaison auf tausenden Hauptversammlungen ihre Interessen vertreten zu müssen.39 Es müssen praktisch zeitgleich mehrere Veranstaltungen besucht werden. Sieht man die Ausübung der Stimmrechte durch die Aktionäre selbst gegenüber der Ausübung durch Stimmrechtsvertreter als vorzugswürdig an, so liegt in einer virtuellen Hauptversammlung sogar ein Gewinn für die Beteiligung. Weltweit wird gefordert, dass institutionelle Investoren die ihnen zustehenden Aktionärsrechte ausüben. International wird die Einflussnahme nicht auf die Wahrnehmung der Rechte in der Hauptversammlung beschränkt. Für Anbieter von ETF wird bereits die Forderung nach Mindestausgaben für Stewardship-Aktivitäten erhoben.40 3. Kompetenz der Hauptversammlung Nach geltendem Aktienrecht liegt die Zulassung elektronischer Kommunikationsmittel und einer elektronischen Beschlussfassung in der Kompetenz der Hauptversammlung.41 Eine Kompetenz der Hauptversammlung ist erst recht vorzusehen, wenn dauerhaft rein virtuelle Hauptversammlungen zugelassen werden sollen. Es handelt sich um eine Frage der Selbstorganisation der Aktionäre. Diese sollten die Regeln für die Teilnahme bei begrenzter Kapazität erlassen. Dabei sollte nicht ein Geschäftsordnungsbeschluss mit einfacher Mehrheit ausreichen,42 sondern in Anknüpfung an die bestehenden Regeln eine Satzungsregelung vorgesehen werden.43 Insbesondere sollten die Aktionäre durch Satzungsregelung vorsehen können, dass einzelne Rechte nur elektronisch ausgeübt werden können, etwa das Fragerecht, weiter in Betracht kommt eine generelle Beschränkung der Größe der Hauptversammlung. Jedenfalls sollte die Satzung dem Vorstand das Recht einräumen können, bei weiteren Pandemien eine virtuelle Hauptversammlung einzuberufen. Sofern eine Hauptversammlung nach den Regeln für das öffentliche Leben auch als Präsenzveranstaltung durchgeführt werden kann, erscheint ein Minderheitenrecht zur Einberufung einer Präsenzhauptversammlung angemessen. Ein Minderheitenrecht zur Einberufung einer Präsenzveranstaltung kann sich grundsätzlich an dem geltenden Quorum für die Einberufung einer Hauptversammlung durch Aktionäre orientieren.44 39
Hein Stewardship-Verantwortung institutioneller Investoren, 2018. Bebchuk/Hirst Index Funds and the Future of Corporate Governance, Columbia Law Review 119 (2019) 2029. 41 Mülbert in Großkomm AktG, 5. Auflage 2017, Vor § 118 Rn. 59. 42 Nach § 129 Abs. 1 Satz 1 AktG ist eine Geschäftsordnung mit Dreiviertelmehrheit zu beschließen, dies gilt auch für die Übertragung der Hauptversammlung im Internet, § 118 Abs. 4 AktG. 43 Für Einstimmigkeit noch Habersack ZHR 165 (2001) 172, 197. 44 § 122 Abs. 1 AktG verlangt einen Anteil von fünf Prozent des Grundkapitals, nach § 122 Abs. 2 AktG genügt für das Verlangen der Ergänzung der Tagesordnung ein anteiliger Betrag von 500.000 Euro des Grundkapitals. 40
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4. Weitere virtuelle Beschlussfassungen Im COVID-19-Pandemie-Gesetz enthalten sind besondere Regeln für den Aufsichtsrat der Genossenschaft.45 Hintergrund dürfte eine in der genossenschaftsrechtlichen Kommentarliteratur vertretene Ansicht sein, nach der das Widerspruchsrecht einzelner Aufsichtsratsmitglieder in Satzung und Geschäftsordnung des Aufsichtsrats nicht wirksam ausgeschlossen werden kann.46 Für die Aktiengesellschaft sind spezielle Regelungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie nur für Beschlussfassung des Aufsichtsrats zur Vorbereitung einer virtuellen Hauptversammlung vorgesehen.47 Die Frage einer virtuellen Beschlussfassung stellt sich aber auch darüber hinaus. In der Krise kann über die Treupflicht der Aufsichtsratsmitglieder abgeholfen werden, ein Widerspruch gegen die Beschlussfassung außerhalb der Sitzung erscheint rechtsmissbräuchlich und ist unbeachtlich, wenn die Entscheidung nach dem pflichtgemäßen Ermessen der Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder keinen Aufschub duldet und eine Präsenzsitzung nicht möglich ist. Rechtsmissbrauch wird so regelmäßig vorliegen, wenn bei Reise- und Versammlungsbeschränkungen eine physische Anwesenheit verlangt wird.48 Langfristig erscheint die geltende aktienrechtliche Regelung ausreichend, nach § 108 Abs. 4 AktG können die Aufsichtsräte durch eine Änderung der Geschäftsordnung vorsorgen und einen Widerspruch gegen eine Beschlussfassung außerhalb der Sitzung ausschließen oder doch zumindest beschränken, weiter die Aktionäre durch eine entsprechende Regelung in der Satzung.49 Dabei können auch die Vorteile physischer Anwesenheit hinreichend berücksichtigt werden. Durch den Gesetzgeber gelöst werden sollte allerdings die seit längerem streitige Frage, ob bei audiovisueller Wahrnehmbarkeit eine Beschlussfassung in der Sitzung vorliegt.50 Die Regelung im COVID-19-Pandemie-Gesetz stellt auf eine Beschlussfassung ohne physische Anwesenheit ab, Beschlussfassung außerhalb der Sitzung wäre dann auch die Beschlussfassung in einer Videokonferenz.
45
§ 3 Abs. 6 COVID-19-Pandemie-Gesetz. Beuthien GenG, 16. Auflage 2018, § 36 Rn. 17. 47 § 1 Abs. 6 Satz 2 COVID-19-Pandemie-Gesetz. 48 Zur unzulässigen Berufung auf einen Unwirksamkeitsgrund bei eigener Pflichtwidrigkeit Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Auflage 2019, § 108 Rn. 189. 49 Dazu Schmidt Videokonferenzen als Aufsichtsratssitzungen, 2012. 50 Dazu Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Auflage 2019, § 108 Rn. 136. 46
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III. Fragerecht der Aktionäre in der Hauptversammlung 1. Beschränkung auf eine vorherige Fragestellung Das COVID-19-Pandemie-Gesetz sieht die Möglichkeit vor, dass der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats das Fragerecht beschränkt und die Fragen nur zum Teil beantwortet. Aufgrund der Beschränkungen des Versammlungsrechts auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes können keine Präsenzhauptversammlungen durchgeführt werden. Bei rein virtuellen Hauptversammlungen besteht aber mehr noch als bei einer Präsenzhauptversammlung die Gefahr, dass die Durchführung der Hauptversammlung ungebührlich verzögert wird.
2. Möglichkeit zur Regelung des Fragerechts Ein Verweis auf eine vorherige Fragestellung erscheint unabhängig von der aktuellen Krise sinnvoll.51 Dabei kann durchaus vorgesehen werden, dass vierzehn Tage vor der Hauptversammlung gestellte Fragen bereits zwei Tage vor der Hauptversammlung beantwortet sein sollten. Stehen den Aktionären die Antworten auf Aktionärsfragen bereits vor der Hauptversammlung zur Verfügung, können sie sich besser vorbereiten. Häufig wird eine Berücksichtigung sogar nur in diesem Fall möglich sein, insbesondere bei institutionellen Investoren bedarf die Entscheidungsfindung eines längeren zeitlichen Vorlaufs. Im Fall einer Übernahme der Regeln zum Fragerecht in das Aktiengesetz erscheinen hinreichende Rechtsmittel zur Durchsetzung vorhanden. Dabei sind die Aktionäre nicht zwingend auf eine Klageerzwingung verwiesen.52 Möglich ist auch die inzidente Kontrolle im Rahmen einer Anfechtungsklage gegen die Entlastung der Organmitglieder. Wenn unzureichende oder keine Auskunft gegeben wird kann die Entlastung verweigert bzw. angefochten werden, dies erfolgt bereits bei Erklärungen zum Deutschen Corporate Governance Kodex.53 Weiter besteht die Möglichkeit der Anfechtungsklage gegen eine Strukturmaßnahme, wenn die Beantwortung der Frage für die Beurteilung der Strukturmaßnahme geboten erscheint.54
51 Siehe den Rechtsvergleich bei Decher in Großkomm AktG, 5. Auflage 2020, § 131 Rn. 49 ff., zu den USA Rn. 57, zu den Reformvorschlägen Rn. 42 ff. 52 Zu den Rechtsfolgen der Verletzung des Auskunftsrechts Decher in Großkomm AktG, 5. Auflage 2020, § 131 Rn. 510 ff. 53 Zur Anfechtung Decher in Großkomm AktG, 5. Auflage 2020, § 131 Rn. 511 ff. 54 Zum Freigabeverfahren Decher in Großkomm AktG, 5. Auflage 2020, § 131 Rn. 534.
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3. Kompetenz der Hauptversammlung Wie die Möglichkeit der Beschränkung von Präsenzveranstaltungen fällt auch eine Regelung des Fragerechts grundsätzlich in die Kompetenz der Hauptversammlung. Es handelt sich um eine Frage der Selbstorganisation der Hauptversammlung.55 Wird die Möglichkeit vorgesehen, sich eigene Regeln zu geben, sind allerdings auch die Grenzen zu bestimmen.56 Denkbar erscheint es, Anzahl, Form und Zeitpunkt von Fragen der Regelung durch die Hauptversammlung zu überlassen. Nicht eingeschränkt werden sollte das Fragerecht an sich, auch sollten bei Erreichen eines Quorums auch noch ad hoc in der Hauptversammlung weitere Fragen möglich sein. IV. Neujustierung der Rolle der Hauptversammlung 1. Stärkung der Kompetenz der Hauptversammlung Bei einer hier befürworteten Verlängerung der zur Bewältigung der akuten Phase der COVID-19-Pandemie getroffenen aktienrechtlichen Maßnahmen ist letztlich mit einer weiteren Stärkung der Kompetenzen der Hauptversammlung zu rechnen. Die durch das AktG 1937 eingeführten Restriktionen57 würden ein weiteres Stück zurückgeführt und die Selbstverantwortung der Hauptversammlung nochmals stärker betont. Die Stärkung der Eigenverantwortung der Aktionäre hat mit der Befugnis zur Regelung elektronischer Teilnahme auch an der Beschlussfassung der Hauptversammlung begonnen und wurde mit dem beratenden Votum zur Vergütung von Vorstandsmitgliedern (say on pay) fortgeführt. Seit der Umsetzung der geänderten Aktionärsrechterichtlinie hat die Hauptversammlung auch das Vergütungssystem zu billigen, über den Vergütungsbericht zu entscheiden und kann eine Höchstgrenze für die Vorstandsvergütung vorsehen. 2. Verlagerung der Kontrolle durch die Aktionäre Ursprünglich verwies das Aktienrecht darauf, dass die Aktionäre ihre Rechte in der Hauptversammlung ausüben.58 Dies war rechtlich nie ganz exakt, da Anträge bereits vor der Hauptversammlung gestellt werden können und zum traditionellen Bestand des deutschen Aktienrechts gehören.59 Der 55 Zur Organisationsautonomie der Hauptversammlung im Zusammenhang mit der Geschäftsordnung Mülbert in Großkomm AktG, 5. Auflage 2017, § 129 Rn. 11. 56 Zum Minderheitenschutz schon oben II.3. 57 Amtliche Begründung zum AktG 1937, abgedruckt bei Klausing, S. 3, 56 f., 88. 58 § 250 HGB 1897, der konkret auf die Beschlussfassung abgestellt hatte. 59 Insofern zutr. Korrektur bereits durch das AktG 1937, siehe Schmidt/Meyer-Landrut in Großkomm AktG, 2. Aufl. 1961, § 102 Anm. 4, 5.
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Kodex verweist so richtiger darauf, dass die Rechte der Aktionäre regelmäßig in der Hauptversammlung ausgeübt werden.60 Dies kann vor der Hauptversammlung sein.61 Müssen Fragen im Vorfeld der Hauptversammlung gestellt werden, ergibt sich eine Vorverlagerung der Kontrolle durch die Aktionäre62 und ist Kontrolle generell verstärkt auch außerhalb der Hauptversammlung auszuüben.63 V. Folgen für die Rolle des Aufsichtsrats 1. Kommunikation zur Vorbereitung der Hauptversammlung Eine Kommunikation des Aufsichtsrats mit maßgeblichen Aktionären vor der Hauptversammlung erscheint bereits de lege lata und unabhängig von einer Stärkung der Selbstorganisationsrechte der Hauptversammlung notwendig.64 Inzwischen ist anerkannt, dass der Aufsichtsrat jedenfalls über aufsichtsratsspezifische Themen mit Aktionären sprechen kann.65 Dies sind Vorschläge für die Neubestellung und Wiederbestellung von Aufsichtsratsmitgliedern, das Vergütungssystem für den Vorstand und Vergütung des Aufsichtsrats sowie der Vorschlag zur Bestellung des Abschlussprüfers.66 Die Bestellung der Anteilseignervertreter obliegt den Aktionären, die Aktionäre können auch eigene Vorschläge unterbreiten. Schweden sieht noch weitergehend einen Nominierungsausschuss vor, der durch die Aktionäre gebildet wird.67 Wie international empfiehlt sich auch in Deutschland eine Rücksprache mit institutionellen Investoren, jedenfalls über Prinzipien, gegebenenfalls auch über Personen. Gestärkt ist die Rolle der Hauptversammlung auch bei der Vergütung des Vorstands. Nach der Neuregelung durch das ARUG II bedarf es der Erarbeitung eines Vergütungssystems,68 dieses sollte vorbesprochen werden. 2. Kommunikation mit Aktionären zwischen den Hauptversammlungen De lege lata wird verbreitet davon ausgegangen, dass die zur Vertretung der Interessen der Aktionäre bestellten Aufsichtsratsmitglieder sich mit den Ak60 Deutscher Corporate Governance Kodex 2020, Grundsatz 8, dazu Markus Roth AG 2020, 278, 285. 61 Für Fragen der Aktionäre Decher in Großkomm AktG, 5. Auflage 2020, § 131 Rn. 43. 62 Auf die Ausübung der Rechte vor oder während der Hauptversammlung verweisend zuvor DCGK 2017; Ziffer 2.1. 63 Zur Investorenkommunikation in Deutschland Hirt/Hopt/Mattheus AG 2016, 725. 64 Leitsätze für den Dialog zwischen Investor und Aufsichtsrat, Fassung vom 5. Juli 2016. 65 So trotz grundsätzliche Kritik Koch AG 2017, 129, 134. 66 Zum Dialog Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Auflage 2019, § 111 Rn. 567 ff. 67 Skog/Sjöman in Lekall (ed.), The Nordic Corporate Governance Model, 247, 261. 68 Dazu Spindler AG 2020, 61, 62 ff.
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tionären über die Wahrnehmung der Interessen zwischen den Hauptversammlungen nur sehr beschränkt austauschen dürfen.69 Kontakte werden auf Themen beschränkt, die allein in der Kompetenz des Aufsichtsrats liegen.70 Grund für die Beschränkung ist der Ausschluss von Hauptversammlung und Aufsichtsrat von der Geschäftsführung, §§ 119 Abs. 2, 111 Abs. 4 Satz 1 AktG. Ein Kontakt mit Aktionären wird verbreitet nicht der Kontrollsphäre des Aufsichtsrats zugerechnet, sondern der Geschäftsordnung zugeordnet.71 Ungeachtet der restriktiven Ansicht im aktienrechtlichen Schrifttum ist praktisch die Unternehmensentwicklung und -strategie wichtigstes Thema in der Kommunikation von Aktionären und Aufsichtsrat.72 Rechtstheoretisch erscheint es zumindest äußerst fragwürdig, dass die Aktionäre mit den von ihnen gewählten Interessenvertretern nicht kommunizieren können sollen. Sofern die Aktionäre künftig das Fragerecht autonom konkretisieren können, sollte das auch für die Kommunikation mit dem Aufsichtsrat gelten. Allerdings sollte es dabei verbleiben, dass primär der Aufsichtsrat zur Organisation seiner Tätigkeit befugt ist.73 Sofern nicht weitergehende Reformen der Unternehmensverfassung erfolgen, sollte die Hauptversammlung Richtlinien für die Kommunikation des Aufsichtsrats mit den Aktionären nicht selbst aufstellen, sondern wie ein Vergütungssystem lediglich billigen. VI. Weitergehende Reformoptionen 1. Wahl des monistischen Systems Seit längerem wird gefordert, die Wahl des monistischen Systems mit einem Verwaltungsrat zuzulassen.74 Ein monistisches System ist für die Societas Europaea, die Europäische (Aktien)Gesellschaft vorgesehen und hat sich auch hierzulande bewährt.75 In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird auch für nationale Aktiengesellschaft nunmehr überwiegend die Wahlmöglichkeit zwischen monistischem und dualistischem System zugelassen.76 International wird der Verwaltungsrat bzw. Board zunehmend als Kontroll69 Auf die Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands verweisend Hüffer/Koch AktG, 14. Auflage 2020, § 111 Rn. 34a. 70 Holle ZIP 2019, 1895, 1897 f. 71 Zur Beauftragung von Sachverständigen aber BGHZ 218, 122 Rn. 21. 72 Tietz/Hammann/Hoffmann Der Aufsichtsrat 2019, 69, 70: mit 32,4% am häufigsten als wichtigstes Thema genannt, auch insgesamt wurde dieses Thema am häufigsten behandelt. Zur Unternehmensstrategie auch das Interview des Aufsichtsratsvorsitzenden der Lufthansa AG, Kley, Handelsblatt vom 3./4./5. Juli 2020, Seiten 49 bis 51. 73 Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Auflage 2019, § 107 Rn. 120. 74 Hüffer in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, Band 2, § 7 Rn. 14. Dazu Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Auflage 2019, § 95 Rn. 44. 75 Bachmann ZGR 2008, 779. 76 OECD Corporate Governance Factbook 2019, 135.
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organ ausgestaltet.77 Zulässig wäre die Kommunikation nicht geschäftsführender Direktoren mit den Aktionären, diese ist im monistischen System nicht umstritten. Praktisch ermöglicht werden sollte die Wahl insbesondere kleineren und mittleren Gesellschaften, die bislang mitbestimmungsfrei oder nach dem Drittelbeteiligungsgesetz organisiert sind.78 Problematisch ist insbesondere die Übertragung der paritätischen Mitbestimmung im Montanbereich sowie der quasiparitätischen Mitbestimmung nach dem MitbestG 1976.79 Als politisch durchsetzbar dürfte sich eine Wahlmöglichkeit deshalb insbesondere erweisen, wenn für Unternehmen mit mehr als 2.000 Arbeitnehmern in Deutschland weiterhin zwingend ein Aufsichtsrat vorgesehen wird. Allerdings zeigt die Praxis der Europäischen Gesellschaft in Deutschland eine generelle Zurückhaltung bei der Wahl des monistischen Systems durch mitbestimmte Gesellschaften.80 Zwar wählen deutsche Unternehmen bei Gründung einer Europäischen Gesellschaft nicht selten die monistische Form, allerdings bestand soweit ersichtlich bislang keine paritätisch mitbestimmte monistische SE.81 Als drittelparitätisch mitbestimmte Gesellschaft hatte die Puma SE zunächst einen Verwaltungsrat, es erfolgte aber sodann ein Wechsel in eine dualistische Unternehmensverfassung.82 Folgen hat diese Zurückhaltung für die Ausgestaltung der Aufsichtsratsverfassung, es bedarf einer Regelung jedenfalls für mitbestimmte Gesellschaften, die keine (praktische) Option haben, eine monistische Unternehmensverfassung einzuführen. 2. Rückkehr zur Organisationsverfassung des ADHGB 1884 a) ADHGB 1884 als traditionelle deutsche Organisationsverfassung Historisch stellt sich in Anbetracht der in Friedenszeiten größten Wirtschaftskrise zumindest seit den 1930er Jahren die Frage einer Rückkehr zur traditionellen deutschen Organisationsverfassung des ADHGB sowie des HGB 1897. Die geltende Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft wurde nicht von einer legitimierten demokratischen Regierung eingeführt, sondern unter den Umständen des Nationalsozialismus. Die Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer Republik sollte an der aus dem ADHGB 77
Hopt ZGR 2019, 507, 517, dazu schon Windbichler ZGR 1985, 50, 54, 57. Bayer Gutachten E zum 67. DJT Erfurt 2008, E 113. 79 Markus Roth ZfA 2004, 431. 80 Zur Funktionstrennung von Geschäftsführung sowie nicht geschäftsführenden und unabhängigen Mitgliedern schon Windbichler ZGR 1985, 50, 71 (5. gesellschaftsrechtliche Richtlinie). 81 Zur Notwendigkeit einer Modifikation der gesetzlichen Regelung Bachmann ZGR 2008, 779, 797, 805 ff. 82 Dies im Jahre 2018, Zustimmung auf der Hauptversammlung: 99,99 Prozent. 78
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entnommenen Organisationsverfassung des damaligen Handelsgesetzbuchs von 1897 nichts ändern.83 Zurückgenommen werden könnte die überschießende Rezeption USamerikanischen Gesellschaftsrechts durch das Aktiengesetz von 1937. Der Ausschluss der Hauptversammlung von der Geschäftsführung wurde in einer 1934 erschienenen Monographie rechtsvergleichend begründet.84 Noch heute sind die Aktionäre in den USA von der Geschäftsführung ausgeschlossen, wenn auch nicht so weitgehend wie in Deutschland.85 Bereits in der Weimarer Republik wurde der Ausschluss der Hauptversammlung von der Geschäftsführung in den USA herausgearbeitet, allerdings wurde dies in den Arbeiten zur Aktienrechtsreform in Deutschland zu Recht nicht aufgegriffen. 86 b) Geschäftsführung durch den Aufsichtsrat als optionale Gestaltung Bei der Vorbereitung der heutigen Unternehmensverfassung wurde der zwingende Ausschluss des Aufsichtsrats von der Geschäftsführung der Gesellschaft nicht rechtsvergleichend begründet.87 Zwar ist der Aufsichtsrat als Kontrollorgan konzipiert, aufgrund der Entwicklung aus der KGaA historisch als das Kontrollorgan der Kommanditaktionäre.88 Das traditionelle deutsche Aktienrecht hat aber die Ausgestaltung des Aufsichtsrats als Verwaltungsrat zugelassen,89 dies als dualistisches System, mit einem Vorstand, wie heute noch für Sparkassen und die meisten anderen öffentlich-rechtlich organisierten Finanzinstitute. Jedenfalls sollte optional die Kommunikation der Aktionäre mit ihren Vertretern, den Aufsichtsratsmitgliedern durch die Hauptversammlung geregelt werden können. International findet sich ein zwingender Ausschluss des Aufsichtsrats von der Geschäftsführung zwar in Österreich. Österreich musste das AktG 1937 übernehmen,90 hat aber den Ausschluss von der Geschäftsführung in der Folge stärker abgeschwächt,91 als das in Deutschland erfolgt ist. Zutreffend ist der 83 § 82 Abs. 6 Entwurf II 1931 sah vor, dass weitere Aufgaben des Aufsichtsrats von der Satzung bestimmt werden, § 87 Abs. 1 Entwurf II 1931, dass die Aktionäre ihre Rechte in der Hauptversammlung ausüben, abgedruckt bei Schubert/Hommelhoff (Hrsg.), Die Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer Republik, 1987, 866 f. 84 Zahn Wirtschaftsführertum und Vertragsethik im neuen Aktienrecht, 1934. 85 Zu beratenden Hauptversammlungsbeschlüssen Fleischer AG 2010, 681. 86 Dazu schon Schmey Aktie und Aktionär im Recht der Vereinigten Staaten, 1930, 279 f., 283 ff. 87 Dazu schon Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Auflage 2019, § 111 Rn. 604. 88 Lieder Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, 2006, 66 ff. 89 Explizit die Begründung zum ADHGB 1884, abgedruckt bei Schubert/Hommelhoff Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 1985, S. 460 f., dazu auch Hüffer in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, Band 2, § 7 Rn. 14. 90 Zum Anschluss Thiessen AG 2013, 573, 575. 91 Zum Zustimmungskatalog des § 95 Abs. 5 Satz 2 öAktG Kalss in Doralt/Nowotny/ Kalss (Hrsg.), Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Auflage 2012, § 95 Rn. 81 ff.
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Ausschluss von der Geschäftsführung aktuell kein Kennzeichen der dualistischen Unternehmensverfassung. In den Niederlanden ist der Aufsichtsrat nicht zwingend von der Geschäftsführung ausgeschlossen. Vorgesehen wird dort auch ein Kontakt mit den Aktionären, dessen Organisation ist nach dem Dutch Corporate Governance Code 2016 Aufgabe des Aufsichtsratsvorsitzenden.92 Der niederländische Stewardship Code sieht einen Kontakt auch mit Aufsichtsratsmitgliedern vor, wenn es „areas of concern“ gibt, ohne diese auf Fragen in alleiniger Kompetenz des Aufsichtsrats zu verengen.93 Die in der deutschen Praxis weiterhin bestehende Verunsicherung aufgrund geltend gemachter rechtlicher Bedenken gegen Kontakte des Aufsichtsrats mit Aktionären94 würden auch ohne explizite Regelung der Kommunikationsbefugnisse ausgeräumt, wenn der Aufsichtsrat wie im traditionellen deutschen Aktienrecht nicht zwingend von der Geschäftsführung ausgeschlossen wird. Sofern ein Aktionär gegen einen direkten Kontakt des Aufsichtsrats Bedenken hat, könnte die Hauptversammlung die Frage eigenverantwortlich klären. International wird insbesondere vom Vorsitzenden des Kontrollorgans erwartet, dass er für Gespräche mit Investoren zur Verfügung steht.95 Der UK Corporate Governance Code nennt für den chair (president des board) neben Fragen der Corporate Governance explizit auch Gespräche über die Strategie.96 Es müssen nicht alle Aufsichtsratsmitglieder für Gespräche mit Aktionären oder Vertretern anderer Stakeholder97 zur Verfügung stehen. Als zweiter Ansprechpartner kommt ein Sprecher unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder in Betracht. Nach der Neufassung des Deutschen Corporate Governance Kodex 2020 erscheint eine entsprechende Weiterentwicklung möglich. c) Geschäftsführung durch die Hauptversammlung Insbesondere für nicht börsennotierte Gesellschaften und abhängige Unternehmen im Konzern stellt sich die Frage, ob der Hauptversammlung nicht auch Geschäftsführungsfragen übertragen werden können.98 Familiengesellschaften könnten so die Aktiengesellschaft als Alternative zur KGaA 92 Dutch Corporate Governance Code, 2.3.6 Chairman of the supervisory board: The chairman of the supervisory board should in any case ensure that: (…) xii.: effective communications with shareholders is assured. 93 Eumedion Dutch Stewardship Code 2018, Principle 3. 94 Zuletzt Holle ZIP 2019, 1895. 95 Dazu Hopt Revue Trimestrielle de Droit Financie, 2017, 97. 96 UK Corporate Governance Code 2018, Principle D, Provision 3. 97 Insoweit nun UK Corporate Corporate Governance Code 2018, Principle D, Provision 5. 98 Hüffer in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, Band 2, § 7 Rn. 12 (eigentümergeführte Aktiengesellschaft als Alternative zur GmbH), dies teilweise aufgreifend Bayer Gutachten E zum 67. DJT Erfurt 2008, E 116 (Zustimmungsvorbehalte in der nicht börsennotierten Gesellschaft, offener die Empfehlung 18).
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nutzen.99 Einzelne Geschäftsführungsfragen könnten aber auch für andere Gesellschaften von Interesse sein. Nach dem ADHGB 1884 sowie dem HGB 1897 konnte auch die Hauptversammlung in Geschäftsführungsfragen entscheiden und etwa den Vorstand bestellen.100 Modern kommt weiter eine Kompetenz bei Geschäften mit nahe stehenden Personen in Betracht.101 Vorbild für eine Neuorientierung könnten auch insoweit die Niederlande sein, dort kann die Hauptversammlung über alle Fragen entscheiden, die nicht explizit anderen Organen zugewiesen sind.102 3. Unternehmerische Mitbestimmung und Unternehmensbeteiligung von Arbeitnehmern Ein weiteres besonderes Merkmal der deutschen Unternehmensverfassung ist die Arbeitnehmermitbestimmung im Kontrollorgan.103 Formen unternehmerischer Mitbestimmung finden sich außer in Deutschland auch in Europa sowie international in China,104 dies allerdings nicht in einer vergleichbar intensiven Form einer quasi-paritätischen Besetzung des Aufsichts- oder Verwaltungsrats. Dennoch spricht der gesellschaftliche Zusammenhalt nach der Krise gegen eine maßgebliche Rücknahme und auch gegen eine Rückführung der deutschen unternehmerischen Mitbestimmung auf ein in Europa übliches Maß, also etwa gegen eine Beschränkung auf eine drittelparitätische Mitbestimmung wie in Österreich oder in den Niederlanden.105 Eine Rückführung der deutschen unternehmerischen Mitbestimmung erfolgte auch gegen den aktuellen internationalen Trend. Nach Einführung einer unternehmerischen Mitbestimmung in Frankreich finden sich im Vereinigten Königreich erste Schritte zur Einbeziehung von Arbeitnehmern in die Corporate Governance Code großer britischer Aktiengesellschaften106 und Vorschläge für eine unternehmerische Mitbestimmung in den USA,107 99
Zur Corporate Governance Habersack ZIP 2019, 1453. Zum Widerruf und zur Bestellung durch die Hauptversammlung Pinner in Staub HGB, 14. Auflage 1933, § 231 Anm. 16. 101 Zur Umsetzung der geänderten Aktionärsrechterichtlinie im Recht des Aufsichtsrats Florstedt ZHR 184 (2020) 10. 102 Zur Möglichkeit von Weisungen der Hauptversammlung Nowak in Davies/Hopt/ Nowak/van Solinge (eds.), Corporate Boards in Law and Practice, 2013, 429, 478 f. 103 Zu den sechs Möglichkeiten der Zusammensetzung des Aufsichtsrats nach dem Aktiengesetz Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Auflage 2019, § 96 Rdn. 20 ff. 104 OECD Corporate Governance Factbook 2019, 120, 148. 105 Nur Deutschland sieht nach einer Übersicht der OECD ein zwingendes Mindestquorum von 50 Prozent vor, OECD Corporate Governance Factbook 2019, 148. 106 UK Corporate Governance Code 2018 Provision 5 empfiehlt einen durch die Arbeitnehmer bestellten Direktor, ein formales Beratunsgremium der Arbeitnehmer oder einen designierten nicht geschäftsführenden Direktor, andere Arrangements sind zu erläutern und zu erklären. 107 So der Vorschlag eines Accountable Capitalism Act von Senator Elisabeth Warren. 100
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die unternehmerische Mitbestimmung in Deutschland wird auch aus USamerikanischer Sicht mittlerweile durchaus für erfolgreich gehalten.108 Auch die Abkehr von der Shareholder Value-Ausrichtung109 spricht eher für eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer. Fraglich erscheint allerdings, ob die Arbeitnehmer künftig weiter zwingend in der traditionellen Form beteiligt werden müssen.110 So steht nicht nur die Internationalisierung oder doch zumindest die Europäisierung der unternehmerischen Mitbestimmung weiter aus. Es stellt sich auch und insbesondere in der Krise die Frage nach anderen Formen der Beteiligung von Arbeitnehmern. Alternative Formen der Arbeitnehmerbeteiligung könnten sich entwickeln, wenn im Zuge der Krise in größerer Anzahl auch Restrukturierungen notwendig werden und hierfür neue Wege gesucht und zugelassen werden.111 Bei einem schon heute bei Sanierungen üblichen Lohnverzicht als Beitrag der Arbeitnehmer112 könnte im Gegenzug eine Beteiligung am Unternehmen vereinbart werden. Ermöglicht werden könnte eine modifizierte Beteiligung der Arbeitnehmer bei Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie.113 Im Rahmen eines Tauschs von Lohnforderungen gegen eine Beteiligung am Unternehmen könnten auch modifizierende Vereinbarungen über die unternehmerische Mitbestimmung zugelassen werden.114 Im Restrukturierungsverfahren ist nach der Richtlinie ohnehin eine gerichtliche Kontrolle vorgesehen. Durchgeführt werden müsste weiter jeweils ein Statusverfahren.115 Einen Konnex zur Mitbestimmung haben historisch auch die Betriebsrentenzusagen in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg dienten Ruhegeldzusagen der Innenfinanzierung der Gesellschaften. Das Betriebsrentengesetz sieht weiter an sich eine nur durch bilanzielle Rückstellung gedeckte Zusage vor, keine eigentliche Kapitaldeckung.116 Es wurde so die quasiparitätische Mitbestimmung auch als Anspruch zur Kontrolle der Arbeitnehmer als langfristige Gläubiger der Gesellschaft betrachtet.117
108 109
Gordon Journal of the British Academy 8 (2018), 405, 408 (für Deutschland). Zum enlightened shareholder value approach schon Windbichler EBOR 2005, 507,
532. 110
Markus Roth EBOR 2010, 51. Allgemein: Boot et al Corona and Financial Stability 3.0: Try equity – risk sharing for companies, large and small, SAFE Policy Letter No. 81, March 2020. 112 Zur Kündigung zur Entgeltabsenkung etwa BAG NZA 2008, 1182. 113 EU-Restrukturierungsrichtlinie 2017/1132, dazu etwa Schäfer ZIP 2019, 1645. 114 Ohne diese Beschränkung Arbeitskreis „Unternehmerische Mitbestimmung“ ZIP 2009, 885, zu den zu lösenden Problemen Windbichler EBOR 2005, 507, 535 ff. 115 Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Auflage 2019, § 97 Rn. 34 ff. 116 Zur Bilanzierung Markus Roth Private Altersvorsorge, 2009, S. 51 ff. 117 Steindorff ZHR 141 (1977), 457, 464: in vielen Großunternehmen übersteigen die Pensionsrückstellungen das Eigenkapital. 111
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VII. Fazit Das COVID-19-Pandemie-Gesetz setzt Reformimpulse und gibt Anlass für eine Bestandsaufnahme. Auch künftig sollten Hauptversammlungen rein virtuell durchgeführt werden können und das Fragerecht der Aktionäre durch die Gesellschaft geregelt werden können, für beides sollte die Hauptversammlung selbst zuständig sein. Letztlich würde die Rolle der Hauptversammlung damit gestärkt. Die Kontrolle der Aktionäre würde sich verlagern und verstärkt im Vorfeld der Hauptversammlung stattfinden. Dies gilt auch für die Kommunikation des Aufsichtsrats mit den Aktionären. Bei einer Übernahme der Regeln zur virtuellen Hauptversammlung sowie zum Fragerecht der Aktionäre in das Aktiengesetz sollte die Hauptversammlung zugleich die Möglichkeit erhalten, die Kommunikation der Aktionäre mit dem Aufsichtsrat zwischen den Hauptversammlungen auf eine rechtssichere Basis zu stellen. Die Neujustierung der deutschen Unternehmensverfassung könnte aber über die weitere punktuelle Stärkung der Rolle der Hauptversammlung hinausgehen. Zugelassen werden sollte wie bereits in der Europäischen Gesellschaft auch für nach dem AktG inkorporierte Gesellschaften die Wahl des monistischen Systems, also eines Verwaltungsrats. Jedenfalls praktisch erscheint die Wahl eines Verwaltungsrats für mitbestimmte Gesellschaften allerdings wenig attraktiv zu sein. Die Möglichkeit der Wahl eines Verwaltungsrats sollte für mitbestimmte Gesellschaften um anderweitige Regelungsoptionen ergänzt werden. Auf den Prüfstand zu stellen ist der Ausschluss von Hauptversammlung und Aufsichtsrat von der Geschäftsführung, zu erwägen eine Rückkehr zur traditionellen deutschen Unternehmensverfassung des ADHGB 1884 sowie des HGB 1897. Traditionell konnten dem Aufsichtsrat zusätzliche Aufgaben übertragen werden, hierzu zählt nach einer verbreiteten Ansicht auch die Kommunikation des Kontrollorgans mit den Aktionären. Eine Öffnung der Hauptversammlung für Geschäftsführungsentscheidungen würde die Attraktivität der Aktiengesellschaft als Rechtsform für nicht börsennotierte und abhängige Gesellschaften erhöhen. Schließlich stellt sich die Frage der Zulassung von Vereinbarungen über die unternehmerische Mitbestimmung. Eine einvernehmliche Regelung der unternehmerischen Mitbestimmung ist in Betracht zu ziehen, wenn Arbeitnehmer in der Krise am Unternehmen beteiligt werden, im Rahmen der Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie könnte eine gesetzliche Regelung erfolgen.
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Innengesellschaft – die Zündapp unter den Gesellschaften
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Innengesellschaft – die Zündapp unter den Gesellschaften Carsten Schäfer
Innengesellschaft – die Zündapp unter den Gesellschaften CARSTEN SCHÄFER
I. Einführung und Themenabgrenzung Christine Windbichler lässt in ihrem Lehrbuch zum Gesellschaftsrecht keinen Zweifel daran, dass die Innengesellschaft (bürgerlichen Rechts) ein Mauerblümchendasein fristet:1 Sie erfülle zwar alle Begriffsmerkmale des § 705 BGB und sei demgemäß eine echte Gesellschaft; doch fänden die §§ 705 ff. BGB nur Anwendung, „soweit sie sich nicht auf das Gesamthandsvermögen bzw. die Vertretung nach außen beziehen.“2 Zuvor war der Begriff der Innengesellschaft in einem Grundlagenkapitel dahin bestimmt worden, dass die Gesellschafter, obwohl sie ihr Innenverhältnis dem Gesellschaftsrecht unterstellt hätten, nach außen nicht gemeinschaftlich hervorträten. Mit dieser, wie sich zeigen wird, ins Schwarze treffenden Charakterisierung hat es aber sein Bewenden; das Buch lässt die Innengesellschaft im Folgenden beiseite und befasst sich ausschließlich mit der Außengesellschaft. Wie bei der Zündapp dürfte das Mauerblümchenartige weniger mit fehlender Relevanz zusammenhängen.3 Zwar weiß naturgemäß niemand, wie viele Innengesellschaften existieren (so wenig, wie die Zahl der in einem bestimmten Zeitraum geschlossenen Kaufverträge je sicher bestimmt werden könnte). Doch reichen die häufig genannten Beispiele von der typischen Gelegenheitsgesellschaft (Tippgemeinschaft) über die Ehegattengesellschaft, den Poolvertrag, die Unterbeteiligung und das Konsortium bis zur stillen Gesellschaft bürgerlichen Rechts4 und drücken so eine durchaus erhebliche Vielfalt an Erscheinungsformen aus, der eine erhebliche praktische Bedeu1 Auch bei der Zündapp beruht(e) das Mauerblümchendasein keineswegs auf geringer Stückzahl (wegen ihres günstigen Preises war sie als „KS-Serie“ bis in die 1970er Jahre vielmehr weit verbreitet), sondern auf qualitativen Gründen: Sie war untermotorisiert (125 ccm), kam also nicht recht vom Fleck, und ihr fehlte vollkommen die mythische Qualität einer Moto Guzzi (o.ä.) – die Zündapp DB musste einst gar mit dem Beinamen „Bauernmotorrad“ leben. 2 Windbichler Gesellschaftsrecht, § 5 Rn. 10. 3 Windbichler Gesellschaftsrecht, § 2 Rn. 14. 4 S. nur Schäfer in MünchKomm BGB, § 705 Rn. 283.
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tung entsprechen dürfte. Was die Innengesellschaft zu einem in der Rechtslehre eher ungeliebten Vertrag macht, dürfte also weniger mit ihrer praktischen Verbreitung als mit ihrer unklaren Rechtsgrundlage zu tun haben. So richtig es ist, dass die §§ 705 ff. BGB zwar Anwendung finden, aber eben nur, soweit sie auf die Innengesellschaft passen, so schwierig ist es im Detail zu bestimmen, für welche der Bestimmungen dies im Einzelnen gilt. Entspricht das Recht der Innengesellschaft dem Innenrecht der Außengesellschaft oder geht es darüber hinaus? Welcher Modifikationen bedarf es? Ist auch die Innengesellschaft zu liquidieren? Um nur einige Fragen zu nennen. Denn das BGB hat sich bekanntlich nicht nur einer präzisen begrifflichen Unterscheidung zwischen Außen- und Innengesellschaft enthalten, sondern eben auch einer systematischen Ordnung der jeweils anwendbaren Normen. Eine Frage stand unlängst zur Klärung durch den BGH an: Hat auch die Innengesellschaft Geschäftsführer – und was folgt daraus? Sie soll hier deshalb beispielhaft herausgegriffen werden (unter III. 2.). Zugleich wirft der gegenwärtige Rechtszustand die Frage auf, ob man es nicht künftig besser machen und präziser bestimmen sollte, welche Normen anwendbar sind – und welche nicht (dazu III. 3.). Entschließt man sich dazu, muss naturgemäß an einen (gesetzlichen) Begriff angeknüpft werden, weshalb dieses Thema hier vorangestellt werden soll: Wie ist der Begriff der Innengesellschaft zu bestimmen – und besteht insofern Änderungsbedarf (dazu sogleich unter II.)?
II. Zum Begriff der Innengesellschaft de lege lata und de lege ferenda 1. Der Begriff nach geltendem Recht Das gegenwärtige Personengesellschaftsrecht unterscheidet spätestens seit 2001 generell nur noch zwischen der (nicht rechtsfähigen) Innengesellschaft und der rechtsfähigen Außengesellschaft. Für OHG und KG ordnet der Gesetzgeber die Rechtsfähigkeit seit jeher in § 124 Abs. 1 HGB an,5 und im Jahre 2001 ist sie durch einen Akt höchstrichterlicher Rechtsfortbildung6 mit Zustimmung der h.L.7 generell auf die Außengesellschaft bürgerlichen 5 § 124 Abs. 1 HGB hatte in Art. 111 Abs. 1 ADHGB eine Vorgängernorm, die aber noch abweichend interpretiert wurde, s. Schäfer in Staub HGB, § 124 Rn. 1. 6 BGHZ 146, 341 (v. 29.1.2001); Nachweis zum ganz überwiegend zustimmenden Schrifttum bei Schäfer in MünchKomm BGB, § 705 Rn. 301 (zur Rechtsentwicklung Rn. 299 f.). 7 Habersack BB 2001, 478 f.; K. Schmidt NJW 2003, 1897, 1904; Pohlmann WM 2002, 1423; Wertenbruch NJW 2002, 328; vgl. auch Westermann in Erman BGB, Vor § 705 Rn. 17 ff.; Hadding/Kießling in Soergel BGB, Vor § 705 Rn. 21.
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Rechts übertragen worden, und zwar ohne Differenzierung zwischen unternehmenstragenden und sonstigen Außengesellschaften8 bzw. zwischen Außengesellschaften mit und ohne Identitätsausstattung.9 Aus dieser Dichotomie ergibt sich die Notwendigkeit eines abgrenzungssicheren Begriffs, der entweder von der Innen- oder von der Außengesellschaft ausgehen kann, da sich beide komplementär zueinander verhalten: Jede Gesellschaft ist entweder Innen- oder Außengesellschaft – tertium non datur. Nachvollziehbarerweise setzt die h.M. bei der Außengesellschaft an und hält für entscheidend, dass die Gesellschaft nach dem Willen ihrer Gesellschafter als solche (durch ihre Geschäftsführer) am Rechtsverkehr teilnimmt, also „nach außen“ auftreten soll.10 Ein eigenmächtiges Handeln einzelner Gesellschafter im Namen der Gesellschaft macht diese also nicht zur Außengesellschaft; es gilt richtigerweise das gleiche wie in Bezug auf die Entstehung einer Außengesellschaft durch Geschäftsbeginn: Nur die Zustimmung aller Gesellschafter kann ein Rechtssubjekt zur Entstehung bringen.11 Diesem Ansatz folgt auch das reformierte Recht der GesbR in Österreich: Nach § 1176 Abs. 1 S. 1 ABGB können die Gesellschafter „die Gesellschaft auf ihr Verhältnis untereinander beschränken (Innengesellschaft) oder gemeinschaftlich im Rechtsverkehr auftreten (Außengesellschaft).“ Schon hierdurch und vollends durch die Vermutungsregel in § 1176 Abs. 1 S. 2 ABGB (dazu noch unter 2.) wird deutlich, dass die Teilnahme am Rechtsverkehr vom Willen aller Gesellschafter getragen sein muss. Für einen solchen Willen haben vertragliche Bestimmungen zur Geschäftsführung/Vertretung („Organisationsregeln“) und die Vereinbarung eines Gesellschaftsnamens zweifellos eine indizielle Wirkung, sind aber andererseits nicht begriffsnotwendig, zumal §§ 709, 714 BGB dispositive Regelungen zur Geschäftsführung und Vertretung treffen (letztere naturgemäß nur bei der Außengesellschaft relevant). Auch das Vorhandensein eines Gesellschaftsvermögens ist ein (sogar hinreichendes) Indiz für die Außengesellschaft; denn die Innengesellschaft kann mangels Rechtsfähigkeit kein 8 So das früher von K. Schmidt vorgeschlagene Unterscheidungskriterium, s. Schäfer Gutachten E zum 71. DJT, 2016, S. 428, 480 ff., 495 ff. und Gesetzesvorschlag, 565 [§ 732 E-BGB]. 9 So das früher von Ulmer vorgeschlagene Unterscheidungskriterium, AcP 198 (1998), 126 ff. und ZIP 2001, 593 f. (in Schäfer in MünchKomm BGB, § 705 Rn. 306 seit der 7. Aufl. 2017 aufgegeben). 10 S. nur BGHZ 146, 341 (Leitsatz b); Flume Die Personengesellschaft, 1977, § 1 III, 6 f.; Schäfer in MünchKomm BGB, § 705 Rn. 305 iVm 254; Westermann in Erman BGB, § 705 Rn. 64, 67. 11 Vgl. zu § 123 Abs. 2 HGB als systembildende Norm nur Schäfer in FS Schneider, 2011, 1085; demgegenüber meint Beuthien in NZG 2011, 161, dass auch die Zustimmung aller Gesellschafter eine Innen- nicht zur Außengesellschaft mache, vielmehr sei eine „umfassende und dauerhafte“ (?) Erweiterung des Innen- zum Außenzweck erforderlich. Dem kann schon aus Gründen der Rechtssicherheit nicht gefolgt werden.
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eigenes Vermögen haben (darauf ist unter III. 1. noch kurz zurückzukommen).12 2. Änderungs- oder Präzisierungsbedarf? Ein Änderungsbedarf ist in Bezug auf den Begriff als solchen zwar nicht erkennbar, gleichwohl besteht naturgemäß Regelungsbedarf, wenn das BGB künftig die Rechtsfähigkeit exklusiv der Außengesellschaft zuschreibt, wie es durch § 124 HGB in Bezug auf die OHG bzw. KG als notwendige Außengesellschaften seit jeher geschieht (während eine entsprechende Anordnung bei der stillen Gesellschaft fehlt, bei der zudem Einlagen „in das Vermögen des Inhabers der Handelsgesellschaft“ zu leisten sind, § 230 Abs. 1 HGB). Für den Begriff der Außengesellschaft genügt es freilich, entsprechend der h.M., festzuschreiben, dass die Gesellschaft rechtsfähig ist, wenn sie nach dem gemeinsamen Willen der Gesellschafter am Rechtsverkehr teilnehmen soll. Eine Gesellschaft, für die das nicht gilt, ist dann notwendig Innengesellschaft (Formulierungsvorschlag unter III. 4. b). Man mag allerdings fragen, ob die Funktionsfähigkeit dieser – notwendig recht abstrakten – Begriffsbestimmung durch das Gesetz selbst erleichtert werden sollte. In Österreich gilt: Betreibt die Gesellschaft ein Unternehmen (i.S.v. § 1 UGB) oder tritt sie unter einem „gemeinsamen Gesellschaftsnamen“ i.S.v. § 1177 ABGB auf, so wird vermutet, dass sie als Außengesellschaft gewollt ist (§ 1176 Abs. 1 S. 2 ABGB); zudem ist der auf eine Innengesellschaft gerichtete Willen irrelevant, wenn die Gesellschafter gemeinsam ein Unternehmen betreiben oder einen Gesellschaftsnamen führen, sofern der Dritte den entgegenstehenden Willen nicht kennt (§ 1176 Abs. 2 ABGB). Das ist eine in Bezug auf unternehmerische Tätigkeit13 zwar praktisch wohl nicht sehr relevante, aber allemal konsistente und in ihrem Ziel sinnvolle Regel zum Verkehrsschutz. Denn vom Vorliegen einer Außengesellschaft hängt nicht nur deren Rechtsfähigkeit ab, sie ist vielmehr auch entscheidend für Vertretungsbefugnis und Haftung der Gesellschafter. Eine Übernahme in das deutsche Recht ist daher in beiden Fällen und insbesondere für das Auftreten unter eigenem Namen zu empfehlen. Wegen der abweichenden Begrifflichkeit des deutschen Rechts sollte statt von „unternehmerischer“ allerdings von einer „gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeit“ die Rede sein, während die Festlegung eines Gesellschaftsnamens als gesetzliches Indiz unverändert übernommen werden kann. Weitere Anknüpfungspunkte für Vermutungen bieten sich hingegen nicht an.14 12
Eingehend zuletzt Schäfer in FS Seibert, 2019, 723, 729 ff. So auch BegrGesbR-ReformG, BT zu § 1176, S. 13 ABGB: Betrieb eines Unternehmens in aller Regel durch Außengesellschaft. Ein entgegenstehender Wille dürfte deshalb regelmäßig schon wegen Perplexität unbeachtlich sein. 14 Näher Schäfer Gutachten E zum 71. DJT, 2016, E 38 ff. 13
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Ob man der Empfehlung folgt, hängt von einer Abschätzung ihrer Erleichterungswirkung ab; selbstverständlich ist es auch ohne gesetzliche Vermutung nicht ausgeschlossen, die als Vermutungsbasis vorgeschlagenen Aspekte als Indizien für die Abgrenzung heranzuziehen (die sie zweifellos sind). Aus diesem Grund steht eine Aufnahme in das Gesetz in ihrer Dringlichkeit gewiss hinter der Begriffsbestimmung als solcher zurück.
III. Zum anwendbaren Recht der Innengesellschaft de lege lata und de lege ferenda 1. Das geltende Recht im Überblick Den Grundsatz hat Windbichler in ihrem Lehrbuch präzise beschrieben: Die §§ 705 ff. BGB sind anwendbar, soweit sie nicht auf das Außenhandeln der Gesellschaft („Vertretung nach außen“) bezogen sind. Unmittelbar ergibt sich daraus (bzw. aus ihrer fehlenden Rechtsfähigkeit), dass die Innengesellschaft als solche keine Geschäfte schließen oder, allgemeiner, weder Rechte begründen noch Pflichten eingehen kann. Regeln zu Haftung und Vertretungsmacht bleiben daher ebenso offensichtlich unanwendbar wie Vorschriften, die hierauf unmittelbar beruhen, namentlich zur Entstehung im Außenverhältnis oder zur Begründung eines (auf der unvorbereitet eintretenden Haftung des Erben beruhenden) außerordentlichen Austrittsrechts (analog § 139 HGB). Auch die actio pro socio zur Geltendmachung eines Sozialanspruchs auf Leistung an die Gesellschaft, kann es bei der Innengesellschaft nicht geben. Ferner folgt aus der fehlenden Rechtsfähigkeit unmittelbar, dass die Innengesellschaft als solche kein Vermögen haben kann. Windbichler zieht daraus folgenden Schluss: „Vielmehr gehört, wenn ein dem Gesellschaftszweck gewidmetes Vermögen vorhanden ist, dieses entweder, wie bei der stillen Gesellschaft, einem Gesellschafter allein, oder es können mehrere Gesellschaftern bestimmte Bruchteile an den einzelnen Gegenständen zustehen. Zwischen den Gesellschaftern einer Innengesellschaft bestehen in Bezug auf ein solches Gesellschaftsvermögen nur schuldrechtliche Beziehungen.“15 Das entspricht der h.M.16 und überzeugt, ist allerdings nicht unumstritten. Insbesondere Beuthien hat immer wieder die Möglichkeit eines Gesamthandsvermögens für die Innengesellschaft gefordert.17 Mangels Rechtsfähigkeit könnte es zwar nicht der Gesellschaft als solcher zugeordnet sein, möglicherweise aber ihren Gesellschaftern in gesamthänderischer Verbundenheit. 15
Windbichler Gesellschaftsrecht, § 2 Rn. 14. Nachweise bei Schäfer in MünchKomm BGB, § 705 Rn. 277. 17 Zuletzt etwa Beuthien NZG 2017, 201. 16
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Richtigerweise sollte ein solches Zwitterwesen weder anerkannt noch geschaffen werden.18 Aus rechtspolitischer Sicht würde es sich geradezu verheerend auswirken, wenn man, wie auch der 71. DJT in seinen Beschlüssen zu Register und Rechtsfähigkeit (Nrn. 5 a-d), als wesentliches Ziel einer Neuregelung anerkennt, die Publizitätsdefizite im gegenwärtigen Recht der GbR zu beseitigen. Jedes Bemühen um Besserung in dieser Hinsicht würde nämlich schon im Ansatz konterkariert, wollte man ein Gesamthandsvermögen bei der nicht einmal rechtsfähigen, geschweige denn registrierten Innengesellschaft tolerieren. Zudem würde die Anerkennung eines Gesamthandsvermögens, das nicht der Gesellschaft als solcher, sondern ihren Gesellschaftern gemeinschaftlich zuzuordnen wäre, ein Hybrid zwischen (nichtrechtsfähiger) Innen- und (rechtsfähiger) Außengesellschaft schaffen und besondere gesetzliche Regeln erforderlich machen, ohne dass hierfür ein praktisches Bedürfnis erkennbar wäre. 2. Einzelne Problemfelder a) Geschäftsführung Ob sich auch bei der Innengesellschaft die Geschäftsführung nach den §§ 709 ff. BGB richtet, hat den BGH unlängst in folgender Konstellation beschäftigt:19 Insgesamt vier Architekten beteiligten sich an einer Gesellschaft, deren Zweck auf Erwerb und Entwicklung eines Grundstücks gerichtet war. Nur ein Gesellschafter sollte aber als Käufer und Erwerber (im eigenen Namen) auftreten, weil die übrigen einen Interessenkonflikt befürchteten. Kosten und Gewinne sollten geviertelt werden. Der Hauptgesellschafter (der Senat nennt ihn „Außengesellschafter“) verlangte von einem anderen Gesellschafter Erstattung anteiliger Kosten, nachdem das Grundstück nur mit Verlust verkauft werden konnte. Einer der übrigen beiden Gesellschafter war abhandengekommen, der andere zahlte klaglos seinen Verlustanteil in Raten. Erste und zweite Instanz hatten die Klage deshalb abgewiesen, weil der klagende Gesellschafter zwar allein habe nach außen auftreten sollen, sich daraus aber keine Alleingeschäftsführungsbefugnis ergeben habe, weshalb er die übrigen Gesellschafter bei der (verlustreichen) Veräußerung hätte um Zustimmung bitten müssen. Der BGH sah dies im Ergebnis anders. Richtig sei zwar, dass die Geschäfte im Außenverhältnis von dem „Außengesellschafter“ allein, im Innenverhältnis aber auf Rechnung der Gesellschaft geführt würden.20 Und richtig sei auch, dass „die vertragliche Beschränkung des Außenhandelns auf den Au18
Dazu näher Schäfer in FS Seibert, 2019, 723, 729 ff. BGH II ZR 161/17, ZIP 2018, 2267 = NZG 2019, 1387. 20 BGH II ZR 161/17, Rn. 11 mit Verweis u.a. auf BGHZ 12, 308, 314 f. 19
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ßengesellschafter“ noch nicht den Ausschluss der übrigen Gesellschafter von der Geschäftsführung zur Folge habe, ihnen vielmehr grundsätzlich das Zustimmungsrecht aus § 709 Abs. 1 BGB zustehe, zumal keine Rechtfertigung für eine „generelle Entmachtung der Innengesellschafter“ ersichtlich sei.21 Das Berufungsgericht habe aber substantiierten Vortrag unberücksichtigt gelassen, dass die Mitgesellschafter dem Verkauf tatsächlich zugestimmt hätten. Verkannt habe das Berufungsgericht überdies, dass eine Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis allenfalls einen Schadensersatzanspruch gegen den eigenmächtig Handelnden zur Folge gehabt hätte (der dann in die vereinfachte Auseinandersetzungsrechnung hätte eingestellt werden müssen).22 Dem ist zuzustimmen. Zutreffend ist zunächst der Ausgangspunkt: Auch bei der Innengesellschaft richtet sich die Geschäftsführung nach den §§ 709– 713 BGB, sofern der Vertrag nichts anderes regelt.23 Zum Teil wird im Schrifttum zwar generell bestritten, dass bei der Innengesellschaft sämtliche Gesellschafter an der Geschäftsführung beteiligt sind;24 doch überzeugt dies nicht. Die abweichende Ansicht mag zum einen auf dem (vermeintlichen) Gleichklang zwischen Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis beruhen (§ 714 BGB), dessen Berechtigung aber hier gerade in Frage steht. Zum anderen mag sie auch eine (implizite) Parallele zur stillen Gesellschaft ziehen; denn der stille Gesellschafter ist bekanntlich von der Geschäftsführung grundsätzlich ausgeschlossen und gem. § 233 HGB auf ein kommanditistenartiges Kontrollrecht beschränkt. Indessen ist zwar anerkannt, dass auch eine stille Gesellschaft bürgerlichen Rechts möglich ist, bei der eine Einlage in das Vermögen eines Unternehmers vereinbart wird, der kein Kaufmann ist (s. noch unter 3.). Doch handelt es sich insofern lediglich um eine spezielle Ausprägung der Innengesellschaft, deren Struktur nicht verallgemeinerungsfähig ist. Denn ihr (typischer) Zweck beschränkt sich auf eine Kapitalanlage, und die sich daraus ergebende besondere Interessenlage trifft keineswegs auf sämtliche Gestaltungen zu. Es besteht daher in der Tat kein nachvollziehbarer Grund, die Innengesellschafter generell von der Geschäftsführung, und damit insbesondere vom Zustimmungserfordernis nach § 709 BGB auszuschließen, zumal es sich zweifelsfrei nur um eine dispositive Vorschrift handelt, so dass Abweichungen im Gesellschaftsvertrag, auch konkludenter Art, ohne Weiteres möglich bleiben. Zutreffend sind ferner die vom Senat hieraus gezogenen Konsequenzen beim Fehlen einer gem. § 709 Abs. 1 BGB erforderlichen Zustimmung. Die 21 BGH II ZR 161/17, Rn. 20 mit Verweis u.a. auf Schäfer in MünchKomm BGB, § 705 Rn. 284 und Hadding/Kießling in Soergel BGB, Vor § 705 Rn. 30. 22 BGH II ZR 161/17, Rn. 26. 23 Schäfer in MünchKomm BGB, § 705 Rn. 284. 24 Westermann in Erman BGB, § 705 Rn. 66; Habermeier in Staudinger BGB, § 705 Rn. 60.
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Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis lässt nämlich generell die Wirksamkeit eines im Außenverhältnis für die Gesellschaft geschlossenen Geschäfts unberührt; vielmehr verletzt der eigenmächtige Geschäftsführer im Innenverhältnis seine Pflichten, was naturgemäß nur dann Folgen hat, wenn hierdurch ein Schaden eingetreten ist.25 Für die Innengesellschaft ist dieser Zusammenhang weniger offensichtlich als bei der Außengesellschaft; denn für deren Verpflichtung kommt es allein auf die Vertretungsmacht des handelnden Gesellschafters an, die nur im Zweifel der Geschäftsführungsbefugnis folgt (§ 714 BGB). Demgegenüber kann bei der Innengesellschaft nur der Hauptgesellschafter („Außengesellschafter“) selbst verpflichtet werden, weil eine Vertretung der Gesellschaft naturgemäß ausscheidet. Das ändert aber nichts an der Wirkung des Geschäfts für die (Innen-)Gesellschaft, wie der II. Senat richtig ausführt; nur bleibt diese Wirkung bei der Innengesellschaft notwendig auf das Innenverhältnis beschränkt, nämlich auf ein Handeln für ihre Rechnung. Hierdurch hatte sich das (Berliner) Berufungsgericht offenbar verwirren lassen. Warum sollte indessen bei der Innengesellschaft das Überschreiten der Geschäftsführungsbefugnis eine ganz andere Qualität haben als bei der Außengesellschaft? Denn gerade bei der Innengesellschaft ist das Auseinanderfallen von Vertretungsmacht und Geschäftsführungsbefugnis nicht nur möglich (§ 714 BGB), sondern geradezu wesensimmanent, weil es eben eine Vertretung der Gesellschaft hier nicht geben kann. Für die Auseinandersetzungsrechnung (nach Beendigung der Gesellschaft) war also entgegen den Instanzgerichten von einer gemeinschaftlichen Wirkung der Geschäfte auszugehen. Nur sofern aus dem eigenmächtigen Handeln des „Außengesellschafters“ ein Schaden entstanden sein sollte, wäre er zu Lasten des Hauptgesellschafters in die vereinfachte Auseinandersetzungsrechnung einzustellen. b) Auseinandersetzung Das lenkt unmittelbar über zu der Frage, ob die Auseinandersetzungsregeln der §§ 730–735 BGB auf die Innengesellschaft passen. Auch hierzu enthält die unter a) dargestellte Entscheidung des II. Senats eine Reihe von Klarstellungen. Der Senat geht zunächst zu Recht davon aus, dass die Innengesellschaft nicht über ein liquidierbares Vermögen verfügt; sie kann auch nicht über eigene Schulden verfügen. Demgemäß gibt es bei ihr nicht die Unterscheidung zwischen Auflösung, Liquidation und (Voll-) Beendigung. Die Auflösung der Innengesellschaft führt vielmehr unmittelbar zu ihrer Beendigung.26 Gleichwohl kann es, so auch in dem vom BGH entschiedenen Fall, ein der Verwirklichung des gemeinsamen Zwecks dienendes und demgemäß der 25
S. nur Schäfer in MünchKomm BGB, § 708 Rn. 8 ff.; am Eintritt eines Schadens hatte der Senat offenbar Zweifel, s. BGH II ZR 161/17, Rn. 26. 26 So zutreffend auch BGH II ZR 161/17, Rn. 13; näher Schäfer in MünchKomm BGB, § 730 Rn. 12.
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Innengesellschaft wirtschaftlich zurechenbares Vermögen (Aktiva und Passiva) geben, das im Beendigungsfall einer Gesamtabrechnung zu unterwerfen ist: Tritt nur einer der Innengesellschafter nach außen auf, so begründet er Verbindlichkeiten rechtlich zwar ausschließlich zu eigenen Lasten und erwirbt auch Gegenstände nur zugunsten seines eigenen Vermögens. Doch hält er das Vermögen wirtschaftlich für sämtliche Innengesellschafter – und um die Verteilung dieses wirtschaftlichen Vermögens nach Gewinn- bzw. Verlustverteilungsschlüssel (§ 722 BGB) geht es bei der Auseinandersetzung einer Innengesellschaft.27 Auch § 235 HGB spricht im Übrigen in Bezug auf die Innengesellschaft (stille Gesellschaft) von „Auseinandersetzung“. Es entsteht also (mindestens) ein schuldrechtlicher Auseinandersetzungsanspruch, der sich im Falle eines Gesamtgewinns gegen den „Außengesellschafter“, im Falle eines Verlusts anteilig gegen die (übrigen) Innengesellschafter richtet. Zu ermitteln ist er aufgrund einer vereinfachten Auseinandersetzungsrechnung auf den Stichtag der Vollbeendigung, in die prinzipiell sämtliche noch offenen Ansprüche aus dem Verhältnis der Gesellschafter untereinander einzustellen sind; die Einzelansprüche verlieren damit ihre Durchsetzbarkeit (sog. Durchsetzungssperre).28 Weil eine Bilanzerstellung nicht erforderlich ist, sind die Ansprüche mit ihrer Entstehung jedenfalls dann sogleich durchsetzbar, wenn die Auseinandersetzungsrechnung „übersichtlich“ ist – der Senat spricht insofern vom „Direktanspruch“.29 Kommt somit auch der Auseinandersetzung einer Innengesellschaft die Funktion einer Gesamtabrechnung mit anschließender Verteilung von Gewinn oder Verlust an die Gesellschafter zu, so sind die §§ 730–735 BGB konsequentermaßen grundsätzlich anwendbar.30 Die wohl wichtigste Abweichung betrifft § 733 Abs. 3 BGB, wonach „das Gesellschaftsvermögen, soweit erforderlich, in Geld umzusetzen“ ist. Nach gefestigter und zutreffender Rechtsprechung können die Innengesellschafter vom Hauptgesellschafter nämlich gerade nicht verlangen, dass dieser sein Vermögen liquidiert;31 das wirtschaftliche Vermögen wird insofern also nicht dem rechtlichen gleichgestellt. Demgemäß bleiben auch die §§ 731 S. 2, 752 BGB unanwendbar, wonach Teilung in Natur verlangt werden könnte. Anwendbar ist hingegen die Verlustausgleichspflicht bei Ausscheiden eines Gesellschafters oder Beendigung der Gesellschaft (§§ 735, 739 BGB); denn sie dient der Verteilung eines Verlusts unter den Gesellschaftern. Der Anspruch steht dem Ausgleichsberechtigten, also dem Hauptgesellschafter, zu.32 Sofern er seine Geschäftsführungsbefugnis überschritten hat und hierdurch ein Schaden entstanden ist, 27
Näher Schäfer in MünchKomm BGB, § 730 Rn. 16. BGH II ZR 1/17, Rn. 13; näher Schäfer in MünchKomm BGB, § 730 Rn. 14, 49 ff. 29 BGH II ZR 1/17, Rn. 14. 30 BGH II ZR 1/17, Rn. 16; Schäfer in MünchKomm BGB, § 730 Rn. 12. 31 BGHZ 142, 137 (155 f.); Schäfer in MünchKomm BGB, § 730 Rn. 13. 32 BGH II ZR 1/17, Rn. 16. 28
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haben die übrigen Gesellschafter einen Anspruch auf anteiligen Ersatz (oben a a.E.), und dieser Anspruch kann von den in Anspruch genommenen Gesellschaftern gegen die geltend gemachte Ausgleichsforderung verrechnet werden.33 c) Innenrecht Wie sieht, abgesehen von der Geschäftsführung (dazu unter a), das Innenrecht aus, welches das Verhältnis der Gesellschafter untereinander bestimmt? Insofern erscheinen die Regeln der §§ 705 ff. BGB grundsätzlich auch für die Innengesellschaft geeignet, doch ist generell zu berücksichtigen, dass Rechte wie das Auskunfts- und Einsichtsrecht gem. § 716 BGB nicht gegenüber der Gesellschaft als solcher, sondern immer nur gegenüber Mitgesellschaftern bestehen und ausgeübt werden können. Sind die Gesellschafter freilich, wie regelmäßig (s. unter a), kraft ihrer Geschäftsführungsbefugnis zur Mitentscheidung berufen, bedürfen sie des Auskunfts- und Einsichtsrecht de facto nur, soweit es nicht um die gemeinsam zu beschließenden Maßnahmen geht. Was ohnehin bekannt oder offensichtlich ist, kann nicht Gegenstand eines Auskunftsverlangens sein. Grundsätzlich ist das Auskunfts- und Einsichtsrecht gegenüber dem Hauptgesellschafter auszuüben oder, allgemeiner, gegenüber demjenigen Mitgesellschafter, der über die begehrte Information verfügt. Soweit der Anspruch auf Zahlung gerichtet ist, wie beim Abfindungsanspruch gem. § 738 Abs. 1 S. 2 BGB, beim Herausgabeanspruch gem. §§ 713, 667 BGB und beim Aufwendungsersatzanspruch gem. §§ 713, 670 BGB, ist dieser anteilig, also gemäß ihrer Verlustbeteiligung (§ 722 BGB) gegen die Mitgesellschafter zu richten, sofern nicht eine Abrechnung nur mit einem Hauptgesellschafter (konkludent) verabredet wird. Entsprechendes gilt auch für Pflichten, man denke etwa an die Beitragspflicht: Sofern sie als Einlagepflicht vereinbart wurde, kann zwar jeder einzelne Gesellschafter Erfüllung verlangen, aber nur nach Maßgabe der Vereinbarung, also beispielweise durch Leistung an den Hauptgesellschafter, wenn dieser das dem Gesellschaftszweck gewidmete Vermögen treuhänderisch verwalten soll. Im Übrigen sind das gesamte Beschlussrecht (§ 709 BGB), das Verbot der Mehrbelastung (§ 707 BGB), die – schon mehrfach erwähnten – Regeln zu Gewinn- und Verlustverteilung bzw. Entnahmen (§§ 721, 722 BGB) ebenso zweifelsfrei anwendbar wie die Bestimmungen über Auflösungs- bzw. Ausscheidensgründe (§§ 723–725; 726–728 [ohne Abs. 1] BGB)34 und das Abspal33
BGH II ZR 1/17, Rn. 26. Die Kündigung eines Gesellschafters (§§ 723 f. BGB), sein Tod (§ 727 BGB) und seine Insolvenz (§ 728 Abs. 2 BGB) sind zwar ebenfalls als Auflösungsgründe konzipiert, doch können diese Fälle durch eine gesellschaftsvertragliche Fortsetzungsklausel in Ausscheidensgründe verwandelt werden (§ 736 BGB). 34
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tungsverbot (§ 717 S. 1 BGB). Andererseits ist offensichtlich, dass mangels Rechtsfähigkeit (und eigenen Vermögens) die Regeln über das Gesamthandsvermögen (§§ 718, 719 BGB), die Auflösung durch Insolvenz (§ 728 Abs. 1 BGB) und die Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft35 ebenso wenig Anwendung finden können wie die actio pro socio zur Geltendmachung von Sozialansprüchen,36 derer es wegen der Rechtszuordnung bei den (einzelnen) Gesellschaftern auch nicht bedarf (s. schon oben 1.). 3. Die stille Gesellschaft bürgerlichen Rechts insbesondere Eine Sonderform der Innengesellschaft stellt bekanntlich die stille Gesellschaft iSd. §§ 230 ff. HGB dar; sie ist gem. § 230 Abs. 1 HGB dadurch gekennzeichnet, dass der Stille eine Einlage in das Vermögen eines Kaufmanns leistet und dafür an Gewinn und Verlust teilhat (§ 231 HGB). Der Stille ist – als reiner Anlagegesellschafter – von der Geschäftsführung ausgeschlossen und auf ein kommanditistenartiges Informationsrecht beschränkt (§ 233 HGB). Es gelten (teilweise nur nominell [s.u.]) Sonderregeln für die Gewinn- und Verlustverteilung (§ 232 HGB), für Kündigung bzw. Tod des Gesellschafters (§ 234 HGB), für die Auseinandersetzung der Gesellschaft und zu den Folgen einer Insolvenz des Kaufmanns (§§ 235, 236 HGB). Eine entsprechende Gestaltung ist auch gem. § 705 BGB denkbar, wenn nämlich eine zweigliedrige Innengesellschaft so ausgestaltet wird, dass ein Gesellschafter eine Einlage in das Vermögen des anderen gegen Gewinnbeteiligung zu leisten hat, letzterer aber kein Kaufmann ist. Aufgrund der hierdurch ausgelösten besonderen Interessenlage besteht weitgehend Einvernehmen, dass insbes. für eine Anwendung der §§ 709, 711, 712, 714, 715, 718–720 BGB kein Raum ist. Nach h.M. finden stattdessen die Regeln über die stille Gesellschaft des Handelsrechts (§§ 230 ff. HGB) grundsätzlich entsprechende Anwendung,37 soweit sie nicht ohnehin der korrespondierenden BGB-Norm entsprechen (so § 231 Abs. 2 HGB, der bedeutungsgleich ist mit § 722 Abs. 2 BGB; ebenso § 232 Abs. 3 HGB mit § 707 BGB). Im Rahmen ihrer Anwendbarkeit verdrängen also HGB-Normen nach Spezialitätsgrundsätzen die sonst auf die Innengesellschaft anwendbaren Regeln des BGB.
35 Insoweit nominell (zu Unrecht) abweichend bekanntlich der BGH, näher mit Nachweisen Schäfer in MünchKomm BGB, § 705 Rn. 358 f. 36 BGH NJW 1995, 1353 (1355). 37 Schäfer in MünchKomm BGB, § 705 Rn. 287; Harbarth in Staub HGB § 230 Rn. 23; Westermann in Erman BGB, § 705 Rn. 68.
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4. Änderungs- oder Klarstellungsbedarf? a) Änderungsbedarf? Fragt man vor diesem Hintergrund nach einem Regelungsbedürfnis de lege ferenda, so wird man dies, was die inhaltliche Seite betrifft, guten Gewissens verneinen können: Die allgemeinen Regeln für die Gesellschaft sind im Grundsatz angemessen, namentlich in Bezug auf das Innenrecht der Außengesellschaft, soweit sie überhaupt auf die Innengesellschaft passen (dazu oben 2.). Für den Sonderfall der stillen Gesellschaft bürgerlichen Rechts ist die Anwendbarkeit der §§ 230 ff. HGB nach Spezialitätsgrundsätzen anerkannt; auch dabei kann es im Prinzip sein Bewenden haben. Die §§ 230–236 HGB ihrerseits sind zwar durch einen „ärmlichen Normenhaushalt“ gekennzeichnet, aber doch flexibel genug, um auf ihrer Basis und der darin hinreichend deutlich zum Ausdruck gebrachten grundlegenden Dichotomie „Außengesellschaft/Innengesellschaft“ auch die atypischen Formen der Innengesellschaft zu bewältigen.38 Die stille Gesellschaft erscheint in den §§ 230 ff. HGB als Prototyp der rein schuldrechtlich zu qualifizierenden Innengesellschaft – ohne Rechts- und Vermögensfähigkeit, und diese Normen sind gerade deshalb für die Systembildung geeignet, weil sie nicht den – vermutlich ohnehin untauglichen – Versuch unternehmen, für alle denkbaren Varianten der „atypischen“ stillen Gesellschaft Regelungen zur Verfügung zu stellen. Insofern gilt allgemein: Je stärker die Position der „Stillen“ einer mitgliedschaftlichen Beteiligung angenähert ist, desto stärker sind Vertragslücken mit Hilfe des Rechts der jeweiligen Außengesellschaft zu schließen und ist hierauf als Wertungsmaßstab abzustellen. In welchem Maße dieser Rückgriff zu erfolgen hat, lässt sich nicht schematisch, sondern nur unter genauer Würdigung der jeweiligen Parteiabsprachen beantworten.39 In einem unlängst erschienen Beitrag haben Kauffeld und Mock40 zwar dezidiert die gegenteilige Auffassung vertreten und einen konkreten Regelungsvorschlag vorgelegt. Ein hinreichender Bedarf für die vorgeschlagenen Bestimmungen bleibt aber zu undeutlich. Hinsichtlich der Finanzverfassung sehen die Autoren zwar zu Recht das Erfordernis einer Buchung der stillen Einlagen als Eigenkapital; doch lässt diese sich auch durch einen Rangrücktritt erreichen. Hinsichtlich Gewinnermittlung und -verteilung sowie in Bezug auf Beendigung, Auflösung und Insolvenz soll es ohnehin bei den §§ 231 f. bzw. §§ 235 f. HGB bleiben. Bei der Kapitalerhaltung geht es um die 38
K. Schmidt ZHR 177 (2013) 720 f. unter Bezugnahme auf Flume ZHR 136 (1972) 177 und ders. Die Personengesellschaft, 1977, 50 ff. 39 Näher Schäfer Gutachten E für den 71. DJT, 2016, S. E 100 f. 40 Kauffeld/Mock ZIP 2019, 1411.
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Erstreckung der Rechtsprechung zur GmbH & Co KG auf die „Innen-KG“ – und diese kann man getrost weiter der Rechtsprechung überantworten. Die Binnenorganisation soll schließlich auch nach Vorstellung der Autoren im Wesentlichen dem Gesellschaftsvertrag überlassen bleiben. Damit lässt sich insgesamt für die Innengesellschaft feststellen, dass ein Änderungsbedarf zu verneinen ist, zumal der Gesetzgeber mit Regelungsbemühungen recht schnell an seine Grenzen stieße. b) Klarstellungsbedarf Gleichwohl wird man es bei einem völligen Schweigen des Gesetzes bzw. einer nur impliziten Regelung der Innengesellschaft nicht belassen können, wenn das Gesetz künftig die Rechts- (und Vermögens-)fähigkeit der Außengesellschaft explizit definiert und sie damit für die Innengesellschaft ausschließt. Ein eigenständiger Begriff der Innengesellschaft erscheint zwar entbehrlich (oben II. 1., 2.). Dennoch ist eine gesetzliche Definition sinnvoll, wenn nur für Innengesellschaften geltende Regeln in einem eigenen Abschnitt des Gesetzes zusammengefasst werden. Der Begriff kann aber streng komplementär angelegt werden, also negativ an die Definition der Außengesellschaft anknüpfen („Eine Gesellschaft, die nicht die Voraussetzungen des § X [Definition Außengesellschaft] erfüllt, ist Innengesellschaft“). In einem solchen speziellen Abschnitt des Gesetzes für die Innengesellschaft könnten sodann die Regeln des Außenverhältnisses (Entstehung, Haftung, Vertretung etc.) durch schlichte Nichterwähnung ausgeschlossen, die Regeln des Innenverhältnisses für entsprechend anwendbar erklärt werden. Letzteres betrifft insbesondere die Regeln über Beiträge, Stimmrecht und Beschlussfassung, Mehrbelastungsverbot, Gewinn- und Verlustverteilung, Rechnungsabschluss, Abspaltungsverbot, Übertragbarkeit von Gesellschaftsanteilen, Geschäftsführungsbefugnis (und ihre Entziehung), Informationsrecht, Herausgabepflicht und Aufwendungsersatz. Auf diese Weise ließen sich die oben unter 2. genannten Spezialitäten ohne größere Schwierigkeiten berücksichtigen (zumal wenn die Motive Hilfestellung geben). Nur dort, wo eine entsprechende Anwendung der allgemeinen Bestimmungen an Grenzen stößt, auch terminologischer Art, sollten eigene Normen für die Innengesellschaft geschaffen werden. Freilich dürfte der Kreis solcher Bestimmungen nicht sonderlich groß sein. Sinnvoll erscheinen immerhin Regelungen zur Beendigung der Gesellschaft (auch um sie terminologisch klar von der Auflösung zu unterscheiden), zu ihrer anschließenden Auseinandersetzung sowie zu den Ausscheidensgründen, die als Möglichkeit zur Abweichung von bestimmten Beendigungsgründen dargestellt werden könnten. Die Beendigungsgründe selbst können allerdings eng an diejenigen der Außengesellschaft angelehnt werden (Zeitablauf, Zweckerreichung, Beschluss, Tod eines Gesellschafters, Kündigung, Gesellschafterin-
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solvenz). Die gesellschafterbezogenen Gründe sollten dann durch den Gesellschaftsvertrag zu Ausscheidensgründen gewandelt werden können. Noch wichtiger ist wohl eine Regelung zur Auseinandersetzung der Innengesellschaft, welche die erforderlichen Modifikationen (oben 3. b) umsetzt und berücksichtigt, dass die Innengesellschaft zwar über kein eigenes Vermögen verfügt, ihr gleichwohl aber ein Vermögen wirtschaftlich zugeordnet sein kann. Erwägenswert – aber nicht zwingend – ist es, die entsprechende Anwendbarkeit der §§ 230 ff. HGB für die stille Gesellschaft bürgerlichen Rechts explizit anzuordnen.
IV. Zusammenfassung in Thesen 1. Die Innengesellschaft ist weder rechts- noch vermögensfähig. Sie ist das Gegenstück zur Außengesellschaft, die darauf gerichtet ist, aufgrund des gemeinsamen Willens ihrer Gesellschafter als solche am Rechtsverkehr teilzunehmen. 2. Der Gesetzgeber sollte künftig den Begriff der Außengesellschaft und deren Rechtsfähigkeit bestimmen und den Begriff der Innengesellschaft negativ beschreiben als eine Gesellschaft, die nicht die Voraussetzungen einer Außengesellschaft erfüllt. Sinnvoll ist dies namentlich dann, wenn Sonderregeln für die Innengesellschaft geschaffen werden (s. Nrn. 10, 11). 3. Empfehlenswert (aber nicht unbedingt erforderlich) ist es, die Abgrenzung zwischen Innen- und Außengesellschaft durch gesetzliche Vermutungen nach österreichischem Vorbild zu unterstützen. Diese sollten an die Festlegung eines Gesellschaftsnamens und eine gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit anknüpfen. Aber auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung haben diese Merkmale Indizwirkung für das Vorliegen einer Außengesellschaft. 4. De lege lata sind auf die Innengesellschaft die §§ 705 ff. BGB anwendbar, soweit sie nicht auf das Außenhandeln der Gesellschaft bezogen sind bzw. ihre Rechts- und Vermögensfähigkeit voraussetzen. Unanwendbar sind damit insbesondere Regeln zu Haftung, Vertretung und (Gesamthands-)Vermögen, aber beispielsweise auch das (ungeschriebene) Austrittsrecht im Vererbungsfall (§ 139 HGB analog), die Regeln der fehlerhaften Gesellschaft und die actio pro socio. 5. Auf die stille Gesellschaft bürgerlichen Rechts sind die §§ 230 ff. HGB (nach Spezialitätsgrundsätzen) entsprechend anwendbar.
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6. In einer neueren Entscheidung hat der BGH zu Recht betont, dass auch in der Innengesellschaft grundsätzlich sämtliche Gesellschafter geschäftsführungsbefugt und daher an Entscheidungen über alle Geschäftsführungsmaßnahmen zu beteiligen sind (§ 709 Abs. 1 BGB). Das gilt namentlich auch dann, wenn nur ein Gesellschafter nach außen auftreten und Geschäfte im eigenen Namen, aber auf Rechnung der Gesellschaft schließen soll. Eine Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis durch eigenmächtiges Handeln hat – wie bei der Außengesellschaft – potentiell lediglich einen Schadensersatzanspruch zur Folge. 7. Die Auseinandersetzung der Innengesellschaft richtet sich nur mit Abweichungen nach den §§ 730–735 BGB; denn die Innengesellschaft verfügt über kein Vermögen und für sie gilt nicht die Unterscheidung zwischen Auflösung und (Voll-)Beendigung. Aber auch bei der Innengesellschaft unterliegt das ihr wirtschaftlich zuzurechnende Vermögen einer Gesamtabrechnung aufgrund vereinfachter Auseinandersetzungsrechnung. Der sich daraus ergebende Gewinn oder Verlust ist nach dem vereinbarten Schlüssel unter die Gesellschafter zu verteilen. Insbesondere die §§ 731 S. 2, 733 Abs. 3 BGB bleiben unanwendbar. 8. Der Innengesellschafter hat im Grundsatz dieselben mitgliedschaftlichen Rechte und Pflichten wie bei der Außengesellschaft. Freilich gibt es keine Rechte und Pflichten der Gesellschaft gegenüber (sondern immer nur unter den Gesellschaftern). 9. De lege ferenda besteht kein nennenswerter inhaltlicher Änderungsbedarf. Wenn jedoch das Gesetz künftig zwischen Innen- und Außengesellschaft unterscheidet (s. Nr. 2), sollte es auch einen speziellen Abschnitt für die Innengesellschaft bereithalten. 10. Dieser kann sich in Bezug auf Beiträge, Stimmrecht und Beschlussfassung, Mehrbelastungsverbot, Gewinn- und Verlustverteilung, Rechnungsabschluss, Abspaltungsverbot, Übertragbarkeit von Gesellschaftsanteilen, Geschäftsführungsbefugnis (und ihre Entziehung), Informationsrecht, Herausgabepflicht und Aufwendungsersatz darauf beschränken, die jeweiligen Bestimmungen zur Außengesellschaft für entsprechend anwendbar zu erklären. 11. Beendigung und Auseinandersetzung der Gesellschaft sollten hingegen ebenso eigene Bestimmungen erhalten wie das Ausscheiden der Gesellschafter.
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Metaphern und Menschenrechtshaftung im Konzern
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Metaphern und Menschenrechtshaftung im Konzern Jan-Erik Schirmer
Metaphern und Menschenrechtshaftung im Konzern JAN-ERIK SCHIRMER
I. Was schenken? Was schenkt man seiner akademischen Großmutter zum Geburtstag, noch dazu zum Siebzigsten? In jedem Fall nichts Belangloses, etwas Besonderes muss her, das dem Anlass gerecht wird. Es macht es auch nicht unbedingt leichter, dass Christine Windbichler schon zu sehr vielen Dingen sehr kluge Sachen gesagt hat. Da hilft nur die Enkelkarte. Persönlicher Bezug ist immer gut, wenn es noch eine biografische Verknüpfung gibt, umso besser. Das Thema muss also im Konzernrecht spielen, Mutter-, Tochter-, Enkelgesellschaften, das liegt ja auf der Hand. Was insofern passt, als dass Christine Windbichler die Unternehmensgruppe immer besonders interessiert hat.1 In jüngerer Zeit hat sie zudem die Corporate Social Responsibility (CSR) für sich entdeckt,2 mich fasziniert die deliktische Haftung von juristischen Personen. So gesehen ist es also fast schon zwingend, dass es im Folgenden um die deliktische Menschenrechtshaftung im Konzern geht. Allerdings, das sei als Warnung vorausgeschickt, aus einer mitunter etwas ungewohnten Perspektive. Ich möchte auf ein Phänomen aufmerksam machen, das im deutschen Recht – und besonders im Privatrecht3 – bislang wenig Beachtung gefunden hat: die Wirkung von Metaphern.4 Weil Sie, liebe Christine Windbichler, sich immer für Interdisziplinarität begeistert haben, hoffe ich, 1 Die rund 1200 Seiten ihrer wirkmächtigen Habilitationsschrift sind ein deutliches Zeichen, vgl. Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989; jüngst zweifelnd, ob es das Konzernrecht (als solches) überhaupt gibt dies. NZG 2018, 1241 ff. 2 Windbichler in FS Seibert, 2019, 1131 ff.; dies. RW 10 (2019), 34 ff. 3 Eine gewichtige Ausnahme bilden die Arbeiten von Daniel Damler Rechtsästhetik, 2016 und ders. Konzern und Moderne, 2016. Am Beispiel des Dieselskandals jüngst Schirmer/Pauschinger AcP 220 (2020), 211 ff. 4 In der rechtstheoretischen Diskussion sind Metaphern (in einen weit verstandenen Sinn) durchaus Thema, vgl. etwa Kirchhof Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, 1987; Rottleuthner in Autopoietic Law - A New Approach to Law and Society, 1987, 97 ff.; Steinhauer in Die Innenwelt der Außenwelt des Rechts, 43 ff.; J. Braun Leitbilder im Recht, 2015, 23 ff.; Thomale in Messen und Verstehen in der Wissenschaft, 2017, 69 ff. Für den US-Diskurs vgl. etwa Bosmajian Metaphor and Reason in Judical Opinions, 1992 und jüngst den Sammelband von Hanne/Weisberg Narrative and Metaphor in the Law, 2018, der die Brücke zur Law as Narrative Debatte schlägt (dazu insb. M. R. Smith ebenda, 65 ff.).
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Ihnen mit dieser etwas eigenwilligen Gabe eine Freude zu machen. Und bekanntlich sind Großmütter mit ihren Enkeln ja besonders nachsichtig.
II. Menschenrechtshaftung im Konzern Das Thema der Menschenrechtshaftung im Konzern ist vielschichtig.5 Ich möchte mich nur auf einen Aspekt konzentrieren: Lässt sich eine deliktische Haftung der Obergesellschaft begründen, wenn im Wirkungskreis der Untergesellschaft absolute Rechte eines Dritten verletzt werden?6 Um das Ganze an einem Fallbeispiel zu illustrieren: Wird eine Arbeiterin schwer verletzt, weil die Untergesellschaft (ihre Arbeitgeberin) es mit dem Arbeitsschutz nicht so genau nimmt, kann die Arbeiterin dann auch die Obergesellschaft aus unerlaubter Handlung in Anspruch nehmen? In der Praxis ist dies von zahlreichen Vorfragen abhängig. Nicht zuletzt ist unklar, ob überhaupt deutsches Privatrecht zur Anwendung kommt, sitzt die Untergesellschaft doch typischerweise im Ausland.7 All das soll im Folgenden ausgeblendet bleiben. Genau genommen soll es nicht einmal um das juristische ‚Ob‘ gehen, also um Gründe für oder gegen eine Deliktshaftung der Obergesellschaft. Stattdessen liegt der Fokus auf dem ‚Wie‘: Wir wollen uns ansehen, in welcher Form Befürworter und Kritiker ihre Argumente sprachlich verpacken. Dabei werden wir auf unterschiedliche Leitmetaphern des Konzerns stoßen, und diese Leitmetaphern wirken bis in die Frage der Menschenrechtshaftung hinein – einerseits wird die Haftung beleuchtet, anderseits verdunkelt. Um nicht den Überblick zu verlieren, konzentrieren wir uns dabei auf die zwei dominierenden Meinungspole: das haftungsoptimistische Lager um Marc-Philippe Weller, Chris Thomale und Leonard Hübner auf der einen und das haftungsskeptische Lager um Mathias Habersack und Peter Zickgraf auf der anderen Seite.8 Der Begriff „Lager“ soll nicht bedeuten, dass die Beteiligten eine Agenda o.ä. verfolgen. Die Lagerzugehörigkeit ist allein eine Kurzformel dafür, dass die Autoren (häufig) zusammen publizieren und die Begründungsmuster ähnlich sind. Selbst dann bleibt die Auswahl freilich 5
Instruktiv Weller/Kaller/Schulz AcP 216 (2016), 387 ff. Zur engen Verknüpfung von Menschrechtsschutz und absolutem Rechtsgüterschutz Wagner RabelsZ 80 (2016), 717, 752 ff. 7 Dazu eingehend Wagner RabelsZ 80 (2016), 717, 732 ff.; Weller/Kaller/Schulz AcP 216 (2016), 387, 391 ff. 8 Konkret einerseits Thomale/Hübner JZ 2017, 385; Weller/Thomale ZGR 46 (2017), 509; Hübner in Zivil- und strafrechtliche Unternehmensverantwortung für Menschenrechtsverletzungen, 2017, 13 Weller/Hübner/Kaller in 20. Kongress für Rechtsvergleichung in Fukuoka, 2018, 239; Weller/Lieberknecht JZ 2019, 317 und anderseits Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252; Habersack/Ehrl AcP 219 (2019), 155. 6
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angreifbar. Zum einen handelt es sich nur um ein kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit, denn es gibt eine Vielzahl weiterer, ebenso kundiger Stimmen, die hier nur kurz oder gar nicht zur Sprache kommen.9 Dennoch rechtfertigt sich der vorgenommene Zuschnitt damit, dass beide Lager mehrfach in wirkmächtigen (Archiv-)Zeitschriften publiziert haben, durch ihre klare Positionierung Orientierung bieten und vor allem prominent rezipiert werden.10 Damit ist zugleich gesagt, was dieser Beitrag nicht ist: Obwohl meine Analyse auf der Beobachtung semantischer Phänomene fußt, unternehme ich ausdrücklich keine empirische Diskursanalyse.11 Es geht um eine qualitative Einordnung ausgewählter Beiträge, die meines Erachtens einen guten Eindruck des gegenwärtigen Stimmungsbilds bieten. 1. Das juristische Problem Der Kernstreitpunkt der Menschenrechtshaftung im Konzern ist – bei allen Unterschieden im Detail – schnell erklärt. Dogmatisch sind zwei Haftungskonstrukte auseinanderzuhalten: Einerseits ist an § 831 BGB zu denken, was voraussetzt, dass sich die Untergesellschaft als Verrichtungsgehilfin der Obergesellschaft einordnen lässt und die Obergesellschaft ein Auswahl- oder Überwachungsverschulden trifft.12 Anderseits könnte § 823 Abs. 1 BGB einschlägig sein, sofern eine konzernweite Organisations(verkehrs)pflicht der Obergesellschaft besteht. In beiden Varianten stellt sich indes dieselbe Ausgangsfrage: Wie eng muss das Verhältnis zwischen Ober- und Untergesellschaft sein, damit die Obergesellschaft eine eigene deliktische Verantwortlichkeit trifft – sei es als Geschäftsherrin im Sinne von § 831 BGB oder als Verkehrspflichtige im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB.13 Der zentrale Unterschied zwischen dem haftungsoptimistischen und dem haftungsskeptischen Lager besteht nun darin, dass die Optimisten bereit sind, eine eigene deliktische Verantwortlichkeit bereits aus dem Bestehen einer (beherrschenden) 9 Insb. Wagner RabelsZ 80 (2016), 717 ff.; König AcP 217 (2017), 611 ff.; Fleischer/ Korch BB 2019, 1944; aus dem monografischen Schrifttum nur Nordhues Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern, 2019. 10 Exemplarisch Fleischer/Korch BB 2019, 1944 (1944 mit Fn. 1); B. Schneider NZG 2019, 1369 (1371 mit Fn. 23 und 24). 11 Dies ist etwa der Ansatz der rechtswissenschaftlichen Korpuslinguistik (Law and Corpus Linguistics), grundlegend Mouritsen BYU L. Rev. 5 (2010), 1915 oder der survey interpretation method iSv Ben-Shahar/Strahilevitz NYU L. Rev. 92 (2017), 1753. In Deutschland betreibt das von Christoph Möllers geleitete Projekt „Leibniz Linguistic Research into Constitutional Law“ eine korpuslinguistische Auswertung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. 12 Genauer gesagt ihre Repräsentanten, was dann via § 31 BGB eine originäre Deliktsverantwortlichkeit der Obergesellschaft nach sich zöge, dazu generell Schirmer Das Körperschaftsdelikt, 2015, 185 ff. 13 Ebenso Wagner RabelsZ 80 (2016), 717, 757 ff.
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mitgliedschaftlichen Verbindung zwischen Ober- und Untergesellschaft abzuleiten, während für die Skeptiker eine konkrete Einflussnahme hinzukommen muss.14 Oder anders ausgedrückt: Den Optimisten genügt, wenn die Obergesellschaft qua ihrer dominanten Gesellschafterstellung Einfluss auf die Geschicke der Untergesellschaft nehmen kann. Diese bloße Möglichkeit ist dem haftungsskeptischen Lager zu wenig, vielmehr muss die Obergesellschaft ihren Einfluss (in erheblicher Weise) tatsächlich ausüben.15 Im Kern dreht sich der Streit damit um die Reichweite des sog. Trennungsprinzips, wonach die juristische Person und ihre Mitglieder selbstständige, auch in Konzernkonstellationen strikt auseinanderzuhaltende Rechtssubjekte sind. Trotz ihrer gesellschaftsrechtlich vermittelnden Verbindung bleiben Ober- und Untergesellschaft bekanntlich autarke Einheiten mit jeweils eigenen Rechten und Pflichten – und vor allem getrennten Haftungsmassen.16 Zwar verstoßen die genannten Haftungskonstruktionen streng genommen nicht gegen das Trennungsprinzip – es geht schließlich um eine eigene deliktische Verantwortlichkeit der Obergesellschaft, nicht um einen Durchgriff, also eine Haftung für eine fremde Schuld der Untergesellschaft. Doch wertungsmäßig ist die Trennungsidee sehr wohl berührt.17 Denn es besteht zumindest ein Spannungsverhältnis zum Gedanken getrennter Haftungsmassen, weil ein Gesellschafter mit seinem Vermögen für ein Geschehen haftet, das sich primär im Wirkungskreis der Gesellschaft abspielt. Wenn eine Arbeiterin wegen mangelhaften Arbeitsschutzes in den Räumen der Untergesellschaft verletzt wird und sich in der Folge unmittelbar am Vermögen der Obergesellschaft schadlos halten kann, dann bleibt von der strikten Trennung in selbstständige Rechtsträger jedenfalls im Ergebnis wenig übrig. Insofern bringt es Gerhard Wagner treffend auf den Punkt, dass „das Rechtsträgerprinzip die eigentliche Hürde der Menschenrechtsklagen [ist]“.18 Und je nach Standpunkt ist diese Hürde leichter oder schwerer zu nehmen: Während das haftungsoptimistische Lager mehr das Verbindende als das Trennende zwischen Ober- und Untergesellschaft betont, ist es beim haftungsskeptischen Lager genau umgekehrt. 14 Vgl. Thomale/Hübner JZ 2017, 385, 395 bzw. Weller/Thomale ZGR 46 (2017), 509, 520 f. einerseits und Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 279 ff. (insb. 282) andererseits. 15 Vgl. die Darstellung bei Fleischer/Korch BB 2019, 1944, 1945 und 1947 f. 16 Deutlich jüngst Windbichler NZG 2018, 1241, 1244: „Die juristische Person und damit das Trennungsprinzip sind unverzichtbare Bausteine, anderenfalls hätte man Unternehmen ohne Rechtsträger, die für sich genommen nicht nur nicht rechtsfähig, sondern auch nicht lebensfähig sind.“. 17 Treffend Fleischer/Korch BB 2019, 1944, 1948; tendenziell auch Windbichler NZG 2018, 1241, 1244: „Die Diskussionen über die Bedeutung einer rein wirtschaftlichen Abhängigkeit und über die Verantwortung in der Lieferkette lassen die Ränder [sc. des Trennungsprinzips] weiter ausfransen.“. 18 Wagner RabelsZ 80 (2016), 717, 761.
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So viel zu den groben rechtlichen Linien. Schauen wir uns nun aber genauer an, wie Optimisten und Skeptiker ihre Positionen sprachlich strukturieren. 2. Die Begründungsmuster a) Das haftungsoptimistische Lager Der Aufschlag der Haftungoptimisten ist der 2017 in der JZ erschienene Aufsatz von Chris Thomale und Leonard Hübner; auf ihn bezieht sich das Lager später immer wieder.19 Darin weisen die Autoren einleitend auf die „spezifische Besonderheit“ der konzernrechtlichen Konstellation hin, wonach „das rechtliche Band zwischen der deutschen Mutter und der ausländischen Tochter enger geknüpft ist als bei der schlicht schuldvertraglichen Verbindung des deutschen Herstellers mit dem ausländischen Zulieferer.“20 Denn erstens habe „die Mutter Kontrolle über ihre Tochter“, und zweitens „ist die Mutter kraft Ihrer Beteiligung an der Tochter“ residualgewinnberechtigt.21 Vom Start weg ist also von „Mutter“ und „Tochter“ die Rede, wird die Menschenrechtshaftung im Konzern als Konstellation einer „Mutter-Tochter-Beziehung“ erzählt. Das ist sachlich natürlich völlig zutreffend, denn in der deutschen Rechtssprache sind die Begriffe Mutter- und Tochtergesellschaft nicht nur üblich, sondern etablierte Fachausdrücke.22 Allerdings gilt das auch für die Bezeichnungen Ober- und Untergesellschaft bzw. herrschendes und beherrschtes (oder abhängiges) Unternehmen. Dieselbe Konstellation lässt sich also mit verschiedenen Begriffen belegen, ohne dass damit ein inhaltlicher Bedeutungsverlust einherginge. Es handelt sich – jedenfalls im hiesigen Kontext der Menschrechtshaftung im Konzern – um perfekte Substitute, sog. strikte Synonyme wie Streichholz oder Zündholz.23 Allein fallen die Bezeichnungen Ober- bzw. Untergesellschaft bei Thomale und Hübner fast nie24 und herrschendes bzw. beherrschtes Unter19 Thomale/Hübner JZ 2017, 385; vgl. die Verweise bei Weller/Thomale ZGR 46 (2017), 509, 520 f.; Weller/Hübner/Kaller in 20. Kongress für Rechtsvergleichung in Fukuoka, 2018, 239 ff.; Weller/Lieberknecht JZ 2019, 317, 317. 20 Thomale/Hübner JZ 2017, 385, 394 (ähnlich nochmal 395). 21 Thomale/Hübner JZ 2017, 385, 394. 22 Vgl. Aichberger in Creifelds Rechtswörterbuch, 23. Aufl. 2019, Stichwort: Muttergesellschaft. 23 Vgl. Aichberger in Creifelds Rechtswörterbuch, 23. Aufl. 2019: „Muttergesellschaft ist wirtschaftlich eine Kapital- oder Personengesellschaft mit beherrschendem Einfluss auf ein anderes Unternehmen (Tochtergesellschaft).“ Andere Autoren variieren deshalb auch die Begrifflichkeiten, exemplarisch Fleischer/Korch BB 2019, 1944, 1944: „[Missstände haben zu der Frage geführt,] ob die Muttergesellschaft für Menschenrechtsverletzungen ihrer Töchter einstehen muss. [Die Debatte] lotet die Spielräume einer deliktischen Verantwortlichkeit der Obergesellschaft aus.“. 24 Nämlich exakt zweimal („Konzernobergesellschaft“).
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nehmen überhaupt nicht. Dagegen ist allein im relevanten Textabschnitt zu den deliktischen Haftgründen von Mutter und Tochter mehr als 50-mal die Rede. b) Das haftungsskeptische Lager Exakt der umgekehrte Befund zeigt sich im 2018 in der ZHR erschienenen Aufsatz von Mathias Habersack und Peter Zickgraf.25 In der Einleitung sprechen die Autoren zwar mehrfach von „Fehlverhalten auf Tochterebene“ bzw. „Tochterfehlverhalten“, und auch im Hauptteil wird der Begriff Tochter oder Tochtergesellschaft beständig verwendet.26 Das sprachliche Gegenstück – die Mutter oder Muttergesellschaft – taucht jedoch in der Einleitung überhaupt nicht auf. Stattdessen wird das Programm des Beitrags damit umrissen, dass es um die „konzernmäßige Dimension deliktsrechtlich relevanter Organisationspflichten des herrschenden Unternehmens“ gehen soll.27 Überhaupt lässt sich die Verwendung der Begriffe Konzernmutter oder Muttergesellschaft im Haupttext an einer Hand abzählen,28 die Termini herrschender Gesellschafter und herrschendes Unternehmen bzw. Obergesellschaft fallen dagegen – spiegelverkehrt zum Text von Thomale und Hübner – rund 50-mal. c) Kognitive Metapherntheorie Dazu ließe sich sagen, dass der Befund sprachlich interessant sein mag, für den rechtlichen Diskurs aber jeder Relevanz entbehrt. Denn wenn die Begriffe (jedenfalls im hiesigen Kontext) dasselbe meinen, könnte es schlicht eine Stilfrage sein, ob man nun von Mutter-, Obergesellschaft oder herrschendem Unternehmen spricht. Rhetorisch mögen für Thomale und Hübner die Bezeichnungen Mutter- und Tochtergesellschaft prägnanter oder auch nur eleganter sein, während es Habersack und Zickgraf genau umgekehrt gehen könnte – wir wissen es nicht, und es könnte letztlich auch völlig egal sein. Das wäre allerdings zu kurz gedacht: So richtig der erste Befund ist, so falsch wäre der zweite. Es macht einen Unterschied, ob wir von Mutter und Tochter, herrschendem und beherrschten Unternehmen oder von Ober- und Untergesellschaft reden. Das ist jedenfalls so, wenn die Annahmen der maßgeblich von George Lakoff und Mark Johnson entwickelten kognitiven Metapherntheorie zu25
Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252. Vgl. Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252 ff. und etwa 263 ff. 27 Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 254. 28 Nämlich viermal, vgl. Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 262 f. Im relevanten Teil zur Haftung werden sie im Haupttext überhaupt nicht verwendet, vgl. Habersack/ Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 279 ff. 26
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treffen.29 Danach sind Metaphern keine bloßen Stilmittel, sondern erfüllen eine fundamentale Funktion beim Verstehen abstrakter oder in unserer Erfahrung nicht klar umrissener Konzepte.30 Sie liefern einen intuitiven Verständniszugang, indem eine durch Alltagserfahrungen gefestigte Konzeptstruktur auf einen selbst nicht klar umrissenen Erfahrungsbereich projiziert wird. Vereinfacht gesagt, wird also ein Konzeptbereich, den wir nicht intuitiv verstehen, mit einem Konzeptbereich, den wir intuitiv verstehen, rückgekoppelt. So entsteht ein geschlossenes metaphorisches Konzeptsystem, das Subkategorisierungen und Ableitungen zulässt. Allerdings hat der Rückkopplungsmechanismus einen Haken: Es werden unvermeidlich bestimmte Aspekte beleuchtet und andere verborgen. Die Metapher erzeugt gewissermaßen eine Sogwirkung, der man sich nur schwer entziehen kann. Ableitungen die aus der metaphorischen Konzeptstruktur folgen, wirken selbstverständlich, ja geradezu natürlich. Genau das sind sie aus Sicht der kognitiven Metapherntheorie aber nicht. Denn die metaphorische Rückkopplung ist nicht möglich, weil sich zwei Konzepte gleichen, also präexistent ähnlich sind. Im Gegenteil, die Ähnlichkeit wird erst mittels der Metapher geschaffen, sie entsteht als Folgeerscheinung aus der Metapher.31 Diese produktive Kraft ist der eigentliche Clou der Theorie: Metaphern sollen eine wesentliche Rolle dabei spielen, wie wir Realität verstehen und was für uns real ist.32 Das mag kompliziert klingen, lässt sich aber am hiesigen Beispiel des Konzerns gut verdeutlichen. „Konzern“ ist ein abstraktes, in unserer Erfahrung nicht klar umrissenes Konzept, das wir uns mittels eines erfahrungsbasierten Alltagskonzepts erst strukturell erschließen müssen.33 Das gilt nicht nur für die breite Öffentlichkeit, sondern auch für juristische Fachleute. 34 29 Grundlegend Lakoff/Johnson Metaphors we live by, 1980 und dies. The Journal of Philosophy 77 (1980), 453 ff. Ähnliche Ansätze lassen sich freilich schon deutlich früher finden, etwa bei Kant und vor allem bei Weinrich; näher Jäkel in Gibbs/Stehen Metaphor in Cognitive Linguistics, 1999, 9 ff. Im Folgenden verweise ich aber nur auf das Hauptwerk (in deutscher Übersetzung) Lakoff/Johnson Leben in Metaphern, 9. Aufl. 2018. 30 Lakoff/Johnson (Fn. 29), insb. 11 ff., 70 ff., 135 ff. 31 Deutlich Lakoff/Johnson (Fn. 29), 247: „Die Ähnlichkeiten entstehen als Folgeerscheinungen aus den konzeptuellen Metaphern und sind folglich als Ähnlichkeiten interaktioneller und nicht inhärenter Eigenschaften zu betrachten.“ [Hervorhebungen auch im Original]. 32 Die kognitive Metapherntheorie steht insofern im Lager konstruktivistischer (Erkenntnis-)Theorien, ausführliche Begründung bei Lakoff/Johnson (Fn. 29), 179 ff. 33 So allgemein für soziale Gruppen oder Unternehmen Lakoff/Johnson (Fn. 29), 35 ff., 44 f., 72 ff. 34 Eingehend (und eindrücklich) Damler (Fn. 3/2), insb. 108 ff., 295 ff. Aus dem USDiskurs grundlegend Bosmajian (Fn. 4), 49: „Nonliteral language is often needed to explain the abstraction […] that cannot be conveyed as effectively and persuasively through literal language”; speziell zur juristischen Person Berger Journal of the Association of Legal Writing Directors 2 (2014), 169, 178 ff.
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Zwar braucht es vielfach keinen metaphorischen Verständniszugang. Wo klare gesetzliche Bestimmungen konkrete Aspekte einer Konzernbeziehung regeln, genügt ein Blick ins Gesetz; und dort wo Bestimmungen fehlen, haben Rechtsprechung und Lehre häufig passende Institute entwickelt. Was ein Konzern aber genau ist, ist damit noch nicht beantwortet, ja mitunter sogar verkompliziert.35 Denn wie Karsten Schmidt beklagt, verschwänden aufgrund des „schwierigen Verhältnisses von Recht und Rechtswirklichkeit“ die einzelnen Konzerngesellschaften einerseits „im Nebel des Virtuellen“, anderseits werde der Konzern „eben nicht zum Rechtssubjekt“ erhoben. „Der Befund“, so Schmidt weiter, „überfordert unsere Schulweisheit und wird deshalb als Paradoxon wahrgenommen“.36 Selbst aus Expertensicht bleibt das Phänomen Konzern also abstrakt und wenig fassbar – und deshalb setzen auch wissenschaftliche Modelle zur Beantwortung neuer oder grundlegender Fragen häufig auf Leitmetaphern.37
III. Metaphern und Konzern – Familien und Netze Exakt dieser Effekt lässt sich auch bei der Debatte zur Menschenrechtshaftung im Konzern beobachten. Die im Folgenden näher entwickelte These lautet: Während die Haftungsbefürworter den Konzern sprachlich als Familie strukturieren und so den Aspekt einer Einstandspflicht beleuchten, wird dies im metaphorischen Konzept der Haftungsskeptiker verdunkelt, weil sie den Konzern mit der Leitmetapher des Netzwerks erfassen. 1. Familienmetapher Schauen wir dazu zunächst auf das haftungsoptimistische Lager: Wie gesehen sprechen Thomale und Hübner fast durchweg von „Mutter“ und „Tochter“, die Menschrechtshaftung im Konzern wird als Aspekt einer „Mutter-Tochter-Beziehung“ gefasst.38 Mutter und Tochter sind Rollen, die dem Konzept der Familie entstammen; die Leitmetapher lautet also: „Der 35 Dazu auch jüngst Windbichler NZG 2018, 1241, 1244: „Für den Konzern oder die Unternehmensgruppe gibt es kein vergleichbares anatomisches Gerüst.“. 36 K. Schmidt in FS Lutter, 2000, 1167, 1174. 37 Dazu Lakoff/Johnson (Fn. 29), 27, 252 ff. und am Beispiel des Staats Lakoff Moral Politics, 3. Aufl. 2016, 326 ff. Für den Konzern deutlich Emmerich/Habersack Konzernrecht, 10. Aufl. 2013, 58: „Der Konzern […] erscheint je nach Blickwinkel des Betrachters mehr als einheitliches Unternehmen oder als (mehr oder weniger) lockereres Konglomerat […]. Es hängt deshalb ganz und gar vom Standpunkt des Betrachters ab, welchen Aspekt er in den Vordergrund rückt.“ Für den betriebswirtschaftlichen Kontext grundlegend Morgan Images of Organization, Updated Edition 2006. 38 S.o., bei II.2.a).
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Konzern ist eine Familie“.39 Das Konzept „Familie“ eignet sich deshalb so gut als Projektionsfläche, weil es dank reicher Alltagserfahrungen eine gefestigte Konzeptstruktur aufweist. Obwohl selbstredend auch andere, ebenso legitime Familienmodelle existieren, charakterisieren wir Familien typischerweise als Gruppen von Personen, die eine klare und wiederkehrende Ordnung aufweisen: Es gibt Kinder, Eltern, Großeltern usw. und alle sind durch eine einzigartige Abstammungsbeziehung verklammert.40 Die Familie mag zwar ein Familienheim, ein Familienauto oder gar ein Familienwappen haben, aber dennoch nehmen wir Familien nicht als abgeschlossene, verabsolutierte Entitäten wahr. Eltern und Kinder gehen in der Außenwahrnehmung nicht in der Einheit Familie auf, sondern bleiben trotz ihrer Zugehörigkeit zum Familienverband selbstständige Individuen.41 Diese ambivalente Doppelrolle mag zwar sozial konfliktträchtig und gesellschaftlich kontrovers sein, aber sie bereitet uns als wiederkehrende Alltagserfahrung kognitiv wenig Probleme. Nicht von ungefähr versteht jeder, was mit dem Ausspruch „Ich bin Frau und Mutter“ gemeint ist. a) Der Konzern ist eine Familie Die Projektionsfläche „Familie“ kann dem abstrakten Konzept „Konzern“ so Form und Struktur geben.42 Durch den einsetzenden Rückkopplungsmechanismus werden Subkategorisierungen und Ableitungen möglich: Konzernverflechtungen lassen sich mithilfe bekannter familiärer Rangordnungen fassen, aus Gesellschaftern und Gesellschaft werden Mutter-Tochter-Beziehungen. Gleichzeitig – und hier liegt wohl die größte Stärke der Familienmetapher – vermag sie das „Paradoxon des Konzerns“ zu erklären: Weil die Familie als eng verbandelte Gruppe, nicht aber als verabsolutierte Entität erfahren wird, ist es intuitiv verständlich, warum der Konzern zwar Organisationseinheit, nicht aber Rechtssubjekt ist.43 Und auch leuchtet es ein, dass die verbundenen Unternehmen trotz ihrer Zugehörigkeit zum Konzern selbstständige Rechtsträger bleiben, denn die Doppelrolle von Individualität und Gruppenzugehörigkeit ist gerade das zentrale Charakteristikum des Familienverbandes.
39 Zum kulturhistorischen Hintergrund ausführlich Damler (Fn. 3/2), 104 ff.; grundlegend Marchand Creating the Coporate Soul, 1998. 40 Die kognitive Metapherntheorie spricht hier von „Radialkategorien“ bzw. „prototypischen Konzepten“ vgl. Lakoff/Johnson (Fn. 29), 84 ff. und speziell zur Familie Lakoff (Fn. 37), 7 ff., 32 ff. 41 Lakoff (Fn. 37), 65 ff. 42 Eingehend am Beispiel des Staats Lakoff (Fn. 37), 153 ff. 43 Das wurde auch früh im juristischen Diskurs erkannt, dazu erhellend Damler (Fn. 3/2), 106 ff.
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b) Autorität und Verantwortung Allerdings stehen Familien auch für ein prototypisches Autoritäts- und Verantwortungsmodell. Wenngleich im Laufe eines Familienlebens durchaus Verschiebungen stattfinden können, haben die Eltern im Allgemeinen Bestimmungsmacht über die Kinder.44 Und mit der Autorität geht eine besondere Verantwortung für die Kinder einher: Die Eltern sind nicht nur zur Fürsorge verpflichtet, sondern sie haben auch eine Einstandspflicht nach außen.45 Geht beim kindlichen Fußballspielen eine Fensterscheibe zu Bruch, wird von der Allgemeinheit regelmäßig erwartet, dass die Eltern dafür geradestehen. Zwar mag innerhalb der Familie (ein Teil) des Schades auf das Kind umgelegt werden, etwa durch Taschengeldkürzungen o.ä. Aber nach außen sind es grundsätzlich die Eltern, an die die Verantwortung adressiert wird. Und das unabhängig davon, ob ihnen ein konkreter Vorwurf gemacht werden kann. Im Regelfall genügt, dass ihr Sprössling den Schaden verursacht hat – „es ist schließlich ihr Kind!“, „Sie sind doch die Eltern!“ usw. Kurzum: Weil Eltern schon kraft der familiären Autoritätsbeziehung wie niemand sonst dazu berufen sind, Schädigungen durch ihre Kinder zu verhindern, fallen kindliche Verfehlungen prinzipiell auf sie zurück.46 Die Aussage „Eltern haften für ihre Kinder“ mag juristisch ungenau sein, drückt aber exakt diese Alltagswahrnehmung aus.47 Die Familienmetapher kann also nicht nur das Paradoxon des Konzerns intuitiv verständlich machen, sondern ihr Rückkopplungsmechanismus reicht erheblich weiter. Und deshalb wirkt auch das Begründungsmuster der Haftungsoptimisten so stimmig: Wenn gerade die Abstammung die familiäre Beziehung so einzigartig macht, dann leuchtet es unmittelbar ein, „dass das rechtliche Band zwischen der deutschen Mutter und der ausländischen Tochter enger geknüpft ist als bei der schlicht schuldvertraglichen Verbindung“.48 Genauso wie Eltern kraft ihrer Stellung Autorität und Bestimmungsmacht über die Abkömmlinge haben, hat dann auch im Konzern „die Mutter Kontrolle über ihre Tochter“.49 Und wenn wegen jener Autoritätsbeziehung kindliche Verfehlungen prinzipiell auf die Eltern zurückfallen, dann erscheint es nur konsequent, dass die Muttergesellschaft aufgrund „ih-
44 Lakoff (Fn. 37), 81: “This metaphor is based on the folk theory of the natural order: The natural order is the order of dominance that occurs in the world.”. 45 Lakoff (Fn. 37), 76 ff., 116 ff., 134. 46 Lakoff (Fn. 37), 76: “The legitimacy of parental authority comes from (1) the inability of the child to know what is in the best interest of himself […,] (3) the ability of the parent to know what is best for the child, and (4) the social recognition that the parent has responsibility”. 47 In diese Richtung auch Winbichler RW 10 (2019), 34, 44: „anthropomorph gedacht“. 48 Thomale/Hübner JZ 2017, 385, 394 (ähnlich nochmal 395). 49 Thomale/Hübner JZ 2017, 385, 394.
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rer Kontrollbefugnisse als Überwachungsgarantin für die Rechtstreue ihrer Töchter zu sorgen [hat]“.50 Denn die Annahme einer solchen Verkehrspflicht entspricht genauso den „Erwartungen der betroffenen Verkehrskreise“,51 wie die Allgemeinheit von den Eltern erwartet auf ihre Sprösslinge aufzupassen. Weil in unserem prototypischen Familienkonzept Eltern grundsätzlich für ihre Kinder einzustehen haben, wirkt es geradezu natürlich, wenn wir gleiches auf die Konzernfamilie projizieren. Zwar ist die Projektion selbstredend nicht zwingend. Die Sogwirkung von Metaphern ist keine Naturgewalt, d.h. auch auf Basis der Familienmetapher bleibt es immer möglich, einer Haftung skeptisch gegenüberzustehen und eine konkrete Einflussnahme zu fordern.52 Aber – und das ist der entscheidende Punkt – weil der Aspekt der konkreten Einflussnahme im Konzept der Familienmetapher verdunkelt wird, fällt er aus dem Rückkopplungsrahmen und wird besonders legitimationsbedürftig. Die Situation ist ähnlich, wie wenn wir „Zeit im Überfluss haben“: Weil wir in unserem Kulturkreis Zeit mittels der Metapher „Zeit ist Geld“ als knappe Ressource strukturieren, ist die Aussage nicht vom Konzept gedeckt und wird beim Gegenüber regelmäßig Rückfragen nach den Gründen provozieren: „Du Glückliche, wie hast du das angestellt?“ „Wie kannst du dir das erlauben?“ usw. Während die Aussage „Meine Zeit ist knapp“ als metaphorische Rückkopplung grundsätzlich normal und nicht weiter begründungsbedürftig erscheint, fällt die Aussage „Zeit im Überfluss zu haben“ aus der Konzeptstruktur und verlangt deshalb nach Erklärung und Rechtfertigung.53 Wer auf Basis der Familienmetapher einer prinzipiellen Haftung eine Absage erteilt, hat mithin eine deutlich höhere Begründungslast – es will begründet sein, warum die Muttergesellschaft nur bei konkreter Einflussnahme haftet, obwohl sie Mutter ist. Wer dagegen die mitgliedschaftliche Verbindung als zentralen Haftgrund betont, kann auf den metaphorischen Rückkopplungseffekt bauen: Das Konzept der Familienmetapher beleuchtet eine Außenhaftung der Muttergesellschaft schon deshalb, weil sie Mutter ist. 2. Netzmetapher Demgegenüber ist in den Begründungsmustern des haftungsskeptischen Lagers die Familienmetapher kaum präsent. Wie oben erwähnt gibt es zwar 50
Thomale/Hübner JZ 2017, 385, 395. Weller/Thomale ZGR 46 (2017), 509, 521. 52 Eingehend für die Sogwirkungen der Familienmetapher im politischen Diskurs in den USA, Lakoff (Fn. 37), 143 ff. 53 Lakoff/Johnson (Fn. 29), 203 ff. sprechen hier vom „indirekten Verstehen“ mittels Metaphern. Zum Wandel des Zeitkonzepts innerhalb der Elite eindrücklich D. Markovits The Meritocracy Trap, 2019, 77 ff. 51
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einzelne Passagen, in denen die Konzernkonstellation als Mutter-TochterBeziehung beschrieben wird.54 Allerdings dominiert eine andere Leitmetapher, die jedoch nicht so leicht zu entdecken ist. Auf den ersten Blick scheinen Habersack und Zickgraf den Konzern metaphorisch als „Herrschaftsbeziehung“ zu strukturieren, also mittels derselben Leitmetapher, die sich auch durch das AktG zieht: Das Programm ihres Beitrags wird mit der „konzernmäßige[n] Dimension deliktsrechtlich relevanter Organisationspflichten des herrschenden Unternehmens“ umrissen, und auch im weiteren Text ist das Beherrschungsmotiv dauerpräsent, sei es in Form des herrschenden Gesellschafters oder des herrschenden Unternehmens.55 Indes stellen die Autoren schon in der Einleitung klar, dass sie die Menschenrechtshaftung nicht als konzernrechtliches Sonderthema, sondern als eine Grundfrage der Haftungsverteilung zwischen „der (Kapital-)Gesellschaft und ihren Gesellschaftern“ ansehen.56 Dem Modell der Haftungsoptimisten wollen sie vor allem deshalb nicht folgen, weil „die Gefahr für Dritte nicht von der mitgliedschaftlichen Rechtsbeziehung, sondern von den – durch die Organe und Angestellten der Gesellschaft gesteuerten – unternehmerischen Aktivitäten ausgehen.“57 Die Menschrechtshaftung im Konzern wird bei genauem Hinsehen also nicht als Aspekt einer besonderen Herrschaftsbeziehung präsentiert, sondern als ein komplexes Abgrenzungs- und Zuordnungsproblem zwischen den involvierten Akteuren – der Gesellschaft, ihren (Vertretungs-)Organen, den Angestellten und eben den Gesellschaftern. a) Der Konzern ist ein Netz Das ist auch nur konsequent, denn Habersack und Zickgraf bauen ihre Argumentation ausdrücklich auf der rechtsökonomischen Prämisse auf, dass das Unternehmen ein „Vertragsnetzwerk (sog. nexus of contracts) zwischen den verschiedenen Stakeholdern [ist]“.58 Der Clou dieser Lesart besteht bekanntlich darin, dass das Unternehmen – sei es eine einzelne Kapitalgesellschaft oder ein ganzer Konzern – gedanklich in einzelne Vertrags- und Zurechnungsbeziehungen zergliedert wird, was u.a. eine detailgenaue Analyse der einzelnen Anreizstrukturen und Informationsasymmetrien möglich macht.59 Das Verhältnis zwischen Anteilseignern und Geschäftsleitern lässt sich etwa mithilfe der Prinzipal-Agenten-Theorie modellieren und auch die Außenhaftung von (Mehrheits-)Gesellschaftern wird letztlich zu einer Frage 54
S.o. bei II.2.b). Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 254 und öfter. 56 Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 252. 57 Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 283. 58 Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 260. 59 Grundlegend Jensen/Meckling Journal of Financial Economics 3 (1976), 305 ff.; weiterführend Easterbrook/Fischel The Economic Structure of Corporate Law, 1991, 8 ff. Dazu auch jüngst Windbichler in FS K. Schmidt, Band II, 2019, 673, 678. 55
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der Korrektur von Fehlanreizen, die von der kapitalgesellschaftsrechtlichen Haftungsbeschränkung ausgehen.60 Im metaphorischen Konzept der Haftungsskeptiker ist der Konzern mithin weder Familie noch Herrschaftsverhältnis. Die Leitmetapher lautet: „Der Konzern ist ein Netz(werk)“.61 Zwar ist das Konzept des Netzes weit weniger durch Alltagserfahrungen strukturiert als das Konzept der Familie, aber es eignet sich dennoch als intuitiver Verständniszugang. Netze stehen für kleinteilige, mehrdimensionale Beziehungsgeflechte mit einer Vielzahl an Knotenpunkten, Abzweigungen und Untergliederungen. Netze sind flexibel, ihre Verbindungen stets erweiterbar; wer die Konstruktion verstehen will, muss die einzelnen Knotenpunkte, Abzweigungen und Untergliederungen in den Blick nehmen.62 Dadurch erscheint der Konzern weit weniger paradox, aber auch weit weniger besonders: Er ist eine Netzstruktur in einer Welt voller Netzstrukturen, und wie auch sonst liegt der Fokus nicht auf dem Gesamtgebilde, sondern auf den einzelnen Akteuren und ihren Zurechnungsbeziehungen.63 b) Heterarchie und Komplexität Anders als die Familienmetapher beleuchtet die Netzmetapher also weit weniger den Aspekt einer geschlossenen, geradezu schicksalhaften Bindung der Netzbestandteile.64 Vor allem aber verkörpert ein Netz im Gegensatz zur familiären Abstammungsordnung keine natürliche Rangfolge. Eine Verknüpfung ist erst einmal nur Verknüpfung, es gibt keine feststehendes oben und unten, keine offensichtliche Hierarchie.65 Dementsprechend folgen aus der Netzstruktur als solcher auch keine klaren Autoritäten und Verantwortlichkeiten. Die Stellung im Netz sagt für sich genommen nichts aus – selbst wenn sich ein Netz um einen Knoten in viele Verzweigungen ausdehnt, folgt daraus keine klare Einstandsverpflichtung wie zwischen Eltern und Kindern.66 Auf Basis der Netzmetapher ist es daher kohärent, wenn die Skeptiker eine Haftung des Gesellschafters nicht schon aus der Zugehörigkeit zum Netz folgern, begründet doch die mitgliedschaftliche Stellung 60
So dann auch Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 255 ff. Eingehend zum kulturhistorischen Hintergrund Damler (Fn. 3/1), 89 ff.; ders. (Fn. 3/2), 295 ff. 62 Zum Phänomen des Netzes ausführlich J. Braun (Fn. 4), 139 ff.; Teubner Netzwerk als Vertragsverbund, 2004. 63 Dazu jüngst auch Kolter RW 10 (2019), 50, 63 ff. 64 Vorsichtige Kritik auch bei Windbichler in FS K. Schmidt, Band II, 2019, 673, 679: „mangelnde Abgrenzung, wer oder was sich innerhalb oder außerhalb des Netzes befindet, also der Unterscheidung von Innen- und Außenverhältnis, sowie der Unterscheidung zwischen Unternehmen und Unternehmensträger.“ 65 Ähnlich jüngst Eller RW 10 (2019), 5, 29; eingehend zur rechtswissenschaftlichen Verarbeitung des Netzwerks und Netzwerkdenken J. Braun (Fn. 4), 149 ff. 66 Zu Konzepten eines sog. „normativen Knotens“ J. Braun (Fn. 4), 152 ff. 61
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„nicht mehr als die Möglichkeit der Gefahrbeherrschung und damit eine zwar notwendige, nicht aber auch hinreichende Voraussetzung“.67 Der Rückkopplungsmechanismus wirkt also exakt umgekehrt wie bei der Familienmetapher: Weil im Konzept der Netzmetapher die Aspekte der Hierarchie und Autorität verdunkelt werden, fällt eine Außenhaftung des Gesellschafters (bzw. des herrschenden Unternehmens) aus dem Rückkopplungsrahmen und wird besonders legitimationsbedürftig. Wer sie begründen will, kann nicht auf den metaphorischen Rückkopplungseffekt bauen: Das Konzept der Netzmetapher beleuchtet eine Außenhaftung der herrschenden Gesellschaft nicht schon deshalb, weil der Konzern ein Netz ist. Vielmehr muss die Haftung gerechtfertigt sein, obwohl der Konzern (nur) ein Netz ist. Es muss mit anderen Worten ein besonderer, über die mitgliedschaftliche Verbindung hinausgehender Grund hinzukommen – im Modell der Haftungsskeptiker die konkrete Einflussnahme.
IV. Metaphors matter Was folgt aus alledem?68 Jedenfalls nicht, dass sich die Modelle der Haftungsoptimisten und Haftungsskeptiker allein mit metaphorischen Sogwirkungen erklären lassen. Um keine Missverständnisse zu provozieren: Beide Lager führen selbstredend gewichtige und juristisch valide Argumente für ihre Position an. Aber die vorgeschlagenen Modelle sind eben auch Ausdruck eines bestimmten metaphorischen Konzepts. Und die Wirkung von Metaphern im juristischen Diskurs ist nicht zu unterschätzen. Was kohärent aus der Rückkopplungsstruktur folgt, wirkt intuitiv einleuchtend, geradezu natürlich und provoziert so deutlich weniger Rechtfertigungsdruck. Was umgekehrt aus dem Rückkopplungsrahmen fällt, ruft Irritationen hervor und erhöht die Begründungslast.69 1. Auch Juristinnen und Juristen leben in Metaphern Sind Metaphern also vor allem gefährlich, weil ihre Sogwirkung den Blick auf das Wesentliche verstellt? Gerade mit Blick auf Konzerne hat schon der berühmte US-Richter Benjamin N. Cardozo zur Vorsicht gemahnt: „The whole problem of the relation between parent and subsidiary corporations is one that is still enveloped in the mists of metaphor. Metaphors in law are to be narrowly watched, for starting as devices to liberate thought, they end often by enslaving it.”70 Hat er Recht, sollten Metaphern besser ganz aus dem professio67
Habersack/Zickgraf ZHR 182 (2018), 252, 283. Vgl. dazu bereits Schirmer/Pauschinger AcP 220 (2020), 211, 229 ff. 69 Näher Berger Journal of the Association of Legal Writing Directors 2 (2014), 169, 178 ff. 70 In Berkey v. Third Avenue Railway, 244 N.Y. 602 (1927). 68
Metaphern und Menschenrechtshaftung im Konzern
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nellen Diskurs verbannt werden?71 Auf Basis der kognitiven Metapherntheorie wäre das freilich eine Illusion. Ihre Kernthese lautet ja gerade, dass metaphorische Konzepte tief im menschlichen Denken und Verstehen verwurzelt sind. Sie lassen sich nicht einfach abschalten, wir leben in Metaphern72 – und zwar nicht nur im Alltag, sondern wie das hiesige Beispiel zeigt (und weitere andere) auch im fachlichen Diskurs.73 2. Zwei Konsequenzen: Risiko und Chance Sind auch wir Juristinnen und Juristen Metaphern also schlicht ausgeliefert, sodass gar keine Lehren möglich sind? Auch wenn dies hier nur angedeutet werden kann, lassen sich zumindest zwei Konsequenzen ziehen: Metaphern sind Risiko und Chance zugleich. Risiko, weil die von ihnen ausgehende Sogwirkung Selbstverständlichkeit suggeriert, wo keine Selbstverständlichkeit ist. Metaphorische Rückkopplungen sind erst einmal nur Rückkopplungen – aus ihnen folgt normativ nichts. Genauso wie die familiäre Autoritäts- und Verantwortungsordnung für sich genommen keine Außenhaftung der Muttergesellschaft gebietet, rechtfertigt es die metaphorische Strukturierung als Netz ebenso wenig, eine Haftung nur bei konkreter Einflussnahme anzuerkennen.74 So ausgesprochen ist das natürlich eine Banalität. Aber – und das ist entscheidend – der Befund ist nur deshalb banal, weil er das Ergebnis einer „reflektierten Selbstreflexion“ (Johanna Braun) des Lesenden ist.75 Wo die Reflexion ausbleibt, besteht die Gefahr der Sogwirkung, wie Chad M. Oldfather zu Recht warnt: “A reader who finds that a particular metaphor aptly captures a doctrine […] will be likely in the future to think of the doctrine in terms of the metaphor. Even a metaphor that has no virtue apart from being memorable can increase the impact of an opinion.”76 Das von Metaphern ausgehende Risiko kann also zumindest abgemildert werden, indem man sich stets den Rückkopplungseffekt bewusst macht.77 71 In diesem Sinne Röhl/Röhl Allgemeine Rechtslehre, 2008, 180 f.; weitere Nachweise bei Schindler Rechtsmetaphorologie, 2016, 113 ff. 72 Dies ist keine Erkenntnis, die die kognitive Metapherntheorie exklusiv hat, sondern gilt im Kern für alle sog. leistungsbezogenen oder funktionalen Ansätze, eingehend Rolf Metaphertheorien: Typologie, Darstellung, Bibliographie, 2005, 225; ähnlich auch Schindler (Fn. 71), 87: „Grundstellung des menschlichen Lebens“. 73 Deutlich auch Schindler (Fn. 71), 117: „Metapher als Faktum juristischen Sprechens“; eingehend Bosmajian (Fn. 4), 45 ff.; am Beispiel des Dieselskandals jüngst Schirmer/Pauschinger AcP 220 (2020), 211 ff. 74 Generell auch J. Braun (Fn. 4), 190: „Vermeidung von Dogmatisierungsreflexen“. 75 J. Braun (Fn. 4), 199. Speziell zur corporate speech doctrine in den USA Berger Journal of the Association of Legal Writing Directors 2 (2014), 169, 186 ff. 76 Oldfather Conn. L. Rev. 27 (1994), 17, 22. 77 In der Sache ähnlich Schindler (Fn. 71), 177, der für eine „metaphorologische Analyse des Rechts“ plädiert, verstanden als die „gelehrte Beachtung des metaphorischen Aspekts im Rahmen wissenschaftlicher, in der Regel historisch arbeitender Methodiken.“.
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Damit ist zugleich die zweite Konsequenz angesprochen. Metaphern zeichnen sich durch eine ganz eigene Dialektik aus: Der Rückkopplungseffekt ist immer auch Chance. Prägnant eingesetzt, eignen sich Metaphern hervorragend als frames, sie können die intuitive Überzeugungskraft von (juristischen) Argumenten erhöhen.78 Das ist freilich keine neue Erkenntnis. Die nexus of contracts-Theorie ist dafür ein gutes Beispiel: Ihre Leitmetapher ist ganz bewusst als Kontrast zur Personifikation des Unternehmens gesetzt.79 Durch die Konzeptualisierung als Netz sollte auch und gerade verdeutlicht werden, “that the personalization of the firm […] is seriously misleading. The firm is not an individual.”80 Was von vielen als theoretische Revolution gefeiert wurde, ist also nicht zuletzt eine geschickte metaphorische Akzentverschiebung. “[I]n some sense,” kommentiert Lewis A. Kornhauser treffend, “the revolution has simply replaced one legal metaphor, the trust, with another legal metaphor, the nexus of contracts.“81 Gerade bei einem so kontroversen Thema wie der Menschenrechtshaftung im Konzern kann es also sinnvoll sein, auf wirkmächtige Leitmetaphern und den Rückkopplungseffekt zu setzen. Denn es geht nicht um irgendeine Frage, sondern um eine Richtungsentscheidung des Privatrechts. Die Haftungsoptimisten machen daraus auch keinen Hehl. Für sie ist die Menschenrechtshaftung ein Teilaspekt eines modernen „politischen Privatrechts“,82 das sich nicht länger (vermeintlich) neutral auf ein formales Freiheitsverständnis zurückzieht, sondern gezielt soziale und ökologische Missstände angeht. Ein gegen Diskriminierung, Umweltverschmutzung oder unfaire Arbeitsbedingungen zu Felde ziehendes Privatrecht stößt freilich nicht überall auf Gegenliebe. Auch Christine Windbichler hat in der CSR-Diskussion immer wieder große Skepsis gegen eine „Aufladung mit ethischen und gesellschaftspolitischen Anliegen“ durchblicken lassen83 – und fraglos hat sie gewichtige Argumente auf ihrer Seite. Denn bevor das Privatrecht sich aufmacht die Welt zu retten, sollte klar sein, ob das eigentlich seine Aufgabe ist.84 Klar ist nach dem bisher Gesagten aber auch: Sofern man dies bejaht, werden Metaphern zum Faktor. Wer einer Menschenrechtshaftung im Konzern das Wort redet, tut gut daran, nicht nur juristisch stichhaltig zu argumentieren, sondern dies mithilfe der Familienmetapher zu tun. Und wer einer Haftung skeptisch gegenübersteht, ist bei der Netzmetapher weit besser aufgehoben. 78 Eindrücklich Lakoff (Fn. 37); Kahneman/Tversky Choices, values and frames, 2000; aus der deutschen Literatur jüngst Wehling Politisches Framing, 2016. 79 Ausführlich Damler (Fn. 3/1), 89 ff.; ders. (Fn. 3/2), 295 ff. 80 Jensen/Meckling Journal of Financial Economics 3 (1976), 305, 311. 81 Kornhauser Columbia Law Review 89 (1989), 1449, 1449. 82 So ausdrücklich Weller/Lieberknecht JZ 2019, 317, 317. 83 Windbichler in FS Seibert, 2019, 1131, 1146. 84 Dazu Halfmeier AcP 216 (2016), 717, 737 ff. und demnächst monografisch Schirmer Nachhaltiges Privatrecht.
Metaphern und Menschenrechtshaftung im Konzern
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Es bleibt ein zwiespältiges Fazit: Der Privatrechtsdiskurs kommt nicht ohne Metaphern aus, vor allem bei Fundamentaldebatten sind sie ein mächtiges Mittel. Und weil sie so mächtig sind, sollten wir uns stets ihre Sogwirkung bewusst machen.
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Zum Gesellschaftsrecht der Handelsvertreter-GmbH
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Zum Gesellschaftsrecht der Handelsvertreter-GmbH Karsten Schmidt
Zum Gesellschaftsrecht der Handelsvertreter-GmbH – Eine Skizze – KARSTEN SCHMIDT
I. Zum Gegenstand dieses Beitrags 1. Die GmbH im Handelsvertreterrecht des HGB Christine Windbichler hat ihre Leser mehrfach gelehrt, dass unternehmensrechtliche Themen in ihrer sachbezogenen Gänze betrachtet und nicht in das Prokrustesbett akademischer Teildisziplinen eingezwängt werden sollten.1 Allemal gilt dies für die traditionelle Symbiose von Handels- und Gesellschaftsrecht,2 von der hier die Rede sein wird. Das Recht der Handelsvertreter-GmbH ist jedenfalls seit der Hamburger Dissertation von Raimond Emde ein mehrfach behandeltes Thema.3 Doch wurde dieses seither ganz aus der Perspektive des Handelsvertreterrechts diskutiert, für das sich namentlich folgende Fragen stellten: – Sind die §§ 84 ff. HGB sinnvollerweise auf Handelsgesellschaften anwendbar?4 – Erfüllt eine Handelsgesellschaft, auch wenn sie in Konzernabhängigkeit steht, die in § 84 Abs. 1 HGB beschriebene Voraussetzung eines „selbständigen Gewerbetreibenden“?5 – Steht im Fall der Beendigung des Handelsvertreterverhältnisses einer Handelsgesellschaft ein Ausgleichsanspruch nach § 89b HGB zu und welche Bedeutung haben in diesem Bereich die in dieser Bestimmung beschriebenen Zumutbarkeitsmerkmale?6 1 Vgl. für Gesellschaftsrecht und Arbeitsrecht Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989, S. V. 2 Zum Standpunkt des Verfassers vgl. Karsten Schmidt Handelsrecht, 6. Aufl. 2014, § 1 Rn. 23 ff. 3 Emde Die Handelsvertreter-GmbH, 1994, passim; ders. GmbHR 1999, 1005 ff.; Westphal, BB 1999, 2517 f. 4 Über Bedenken im älteren Schrifttum Emde GmbHR 1999, 1005, 1006 f. 5 Bejahend BGH NJW 2015, 1754 Rn. 11; Karsten Schmidt Handelsrecht, § 27 Rn. 3; Löwisch EBJS (Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn), HGB, 4. Aufl. 2020, § 84 Rn. 28; heute unstr. 6 Angaben bei Emde GmbHR 1999, 1005, 1008; Westphal BB 1999, 2517, 2518.
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– Gibt es Mindestarbeitsbedingungen für Einfirmenvertreter (§ 92a HGB) auch im Recht der Handelsvertreter-GmbH,7 und kann die Handelsvertreter-GmbH i.S. von § 92b HGB „Handelsvertreter im Nebenberuf“ sein?8 Diese Fragen sind Bestandteile genuinen Handelsvertreterrechts. Sie handeln nur von der sachgerechten Anwendung von HGB-Regeln auf die Handelsvertreter-GmbH. Im Folgenden wird es um etwas anderes gehen: um die Anwendung gesellschaftlicher Regeln auf diese Gesellschaften. 2. Vertriebs-Organisationsrecht Wie nahe eine gesellschaftsrechtliche Sicht auf das Thema ungeachtet seiner gesetzlichen Ansiedelung liegt, macht ein Blick auf die organisationsrechtliche Struktur von Handelsvertreterverhältnissen deutlich:9 Ein durch Verträge entlang den Wertschöpfungsketten geflochtenes Vertriebsnetz – dieses kann nicht nur aus Handelsvertreterverträgen bestehen, sondern auch aus Kommissionsagenturen, Vertragshändler- oder Franchiseverbindungen10 – konstituiert ein durch Kompetenzen, Einflüsse, Informationsstränge und Vertragspflichten der beteiligten Unternehmen privatrechtlich integriertes Ganzes11 in dem wir ein „Oben“ und „Unten“ erkennen.12 Vertriebsmittlungsverträge und damit namentlich auch Handelsvertreterverträge weisen dem Vertriebsmittlungsunternehmen eine dienende Funktion und vor allem auch bestimmte Rechte und Pflichten zu, machen dieses Unternehmen m.a.W. zu einem dienenden Teil dieser vernetzten Organisation. Es konnte deshalb nicht verwundern, dass sie mit dem Fortschreiten der Konzernrechtsdoktrin auch in das Blickfeld der Konzernrechtswissenschaft gerieten.13 Wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund ihrer Befassung mit Betriebführungsverträgen (Stichwort „Holiday Inn“)14 kam deshalb auch die Jubilarin bei Ihrem Zivilrechtslehrervortrag über „Neue Vertriebsformen 7 Bejahend z.B. Baumbach/Hopt HGB, 39. Aufl. 2020, § 92a Rn. 3; Heymann/Froitzheim HGB, 3. Aufl. 2019, § 92b Rn. 9. 8 Bejahend z.B. Baumbach/Hopt HGB, 39. Aufl. 2020, § 92b Rn. 2; Heymann/Froitzheim HGB, 3. Aufl. 2019, § 92b Rn. 5. 9 Zum organisationsrechtlichen Anliegen des Vertriebsrechts vgl. Karsten Schmidt Handelsrecht, § 25 Rn. 11 ff.; Karsten Schmidt JuS 2008, 665 ff., allerdings ohne hinlängliche Herausstellung der Vorarbeit durch Martinek ZHR 161 (1997), 67 ff. 10 Angaben bei Karsten Schmidt Handelsrecht § 25 Rn. 17 ff. 11 Repräsentativ Martinek Moderne Vertragstypen II, 1992, S. 57. 12 Zur „Subordinationsfixiertheit“ des Vertriebsrechts vgl. Martinek Moderne Vertragstypen II, 1992, S. 58. 13 Dazu Martinek in Moderne Vertragstypen II, 1992, S. 75 ff.; Martinek in Martinek/Semler/Habermeier/Flohr Hdb. des Vertriebsrechts, 3. Aufl. 2010, § 4 Rn. 79 ff. 14 Vgl. Windbichler, ZIP 8 1987, 825 ff.; zu BGH NJW 1982, 1817 vgl. auch Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 14 II 2b, § 17 III 1c.
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und ihr Einfluss auf das Kaufrecht“15 auf die Frage nach der konzernrechtlichen Dimension der Vertriebsnetze zu sprechen. Während sie sich im Bereich der Betriebsführungsverträge für diesen Ansatz durchaus offen zeigte,16 hat sie sich aber mit großer Entschiedenheit der Einbeziehung bloßer Vertriebs-Organisationsverträge in das Vertragskonzernrecht widersetzt.17 Selbst das sog. Subordinationsfranchising18 mit den charakteristischen Betriebseingliederungspflichten des Vertriebsmittlers ist nicht auf eine Subordination der Unternehmensführung in toto, sondern auf die Durchsetzung nur des Marketingkonzepts gerichtet, womit in dem damals gebrauchten Worten die „Ansiedelung der Einflussmöglichkeit auf der Ebene des Unternehmensträgers“ fehlt.19 Die vertraglich begründete Abhängigkeit ist nun einmal, wie dies Rüdiger Veil formuliert, „nur marktlicher Natur“.20 Die eine Formulierung trifft ebenso ins Schwarze wie die andere. Das Konzernrecht handelt von der Verfassung eines aus rechtlich selbständigen Komponenten zusammengesetzten Konzernunternehmens, das Vertriebsrecht von der Verfassung eines unter Marktakteuren vertraglich abgestimmten Vertriebsmodells. Der Handelsvertretervertrag, so sehr er die HandelsvertreterGmbH fremdbestimmten Spielregeln unterwirft, ist kein Beherrschungsvertrag i.S. des § 291 Abs. 1 AktG oder des praeter legem entwickelten GmbHKonzernrechts.21 Auch um „andere“ Unternehmensverträge nach § 292 AktG handelt es sich bei Handelsvertreterverträgen nicht.22 Die für Franchiseverträge verschiedentlich erwogene analoge Anwendung des § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG23 vermag daran nichts zu ändern.
II. Folgerungen 1. Vertretungsmacht der GmbH-Geschäftsführung Nach dem „Supermarkt“-Beschluss des BGH aus dem Jahr 198824 bedarf ein im Namen einer abhängigen GmbH abgeschlossener Beherrschungsvertrag zu seiner Wirksamkeit sowohl einer mit qualifizierter Mehrheit zu be15
Windbichler AcP 198 (1998), 261 ff. Windbichler ZIP 1987, 825, 826. 17 Windbichler GroßkommAktG, 5. Aufl. 2017, § 17 Rn. 41. 18 Terminologie und Analyse bei Martinek Franchising, 1987, S. 45 ff. 19 Windbichler AcP 198 (1998), 261, 264 f. Fn. 12. 20 Veil Unternehmensverträge, 2003, S. 58. 21 Repräsentativ Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 291 Rn. 10. 22 S. auch LG Mainz AG 1978, 320, 322. 23 Dafür Veil Unternehmensverträge, S. 302; Veil in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 292 Rn. 61 f.; a.M. wohl Langenbucher in Karsten Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 292 Rn. 44. 24 BGHZ 105, 324 = NJW 1989, 295 „Supermarkt“. 16
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schließenden Zustimmung der Gesellschafterversammlung als auch der notariellen Beurkundung und der Eintragung in das Handelsregister.25 Für die wirksame Einbeziehung der GmbH in ein Vertriebssystem ist keine dieser Voraussetzungen vonnöten. Da es sich nur um ein für die GmbH eingegangenes beiderseitiges Handelsgeschäft handelt, ist dessen Abschluss durch die in §§ 35, 37 GmbHG geregelte Organvertretungsmacht der Geschäftsführer ohne weiteres gedeckt,26 und in formeller Hinsicht ist es mit dem beiderseitigen Anspruch auf Dokumentation des Vertrags in einer Vertragsurkunde getan (§ 85 HGB). Das Vertragskonzernrecht mischt sich bei all dem nicht ein, eben weil die GmbH durch den Abschluss eines Handelsvertreter-, Vertragshändler- oder Franchisevertrags keinen Umbau ihrer Unternehmensstruktur vollzieht, sondern sich nur in der Ausübung ihrer kaufmännischen Aufgaben einem ihr Marktgebaren regulierenden System einfügt. Die ganz andere Frage, inwieweit die Praktizierung eines Vertriebssystems als Ausübung faktischer Konzernherrschaft gegenüber dem Vertriebsunternehmen erscheinen und in diesem Sinne gewürdigt werden kann, ist hiervon zu trennen und liegt außerhalb der hier behandelten Thematik.27 Die von der Jubilarin verwendete Formel, dass eine bloß marktbedingte Abhängigkeit für den Tatbestand des § 17 AktG nicht genügt,28 schließt einen offenen Blick auf diese Eventualität jedenfalls nicht aus. 2. Flankierender Schutz durch GmbH-Organisationsrecht Die Nichtanwendung konzernrechtlicher Regelungen auf den Abschluss, die Änderung und die Beendigung des Handelsvertretervertrags einer Handelsvertreter-GmbH hat nicht zur Folge, dass der Geschäftsführung plein pouvoir zugestanden, die GmbH also dem Geschäftsführerhandeln schutzlos ausgeliefert werden müsste. Seit einem vielzitierten Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1991 steht nämlich fest, dass Grundentscheidungen wie Änderungen der Geschäftspolitik einer GmbH der vorherigen Zustimmung der Gesellschafter bedürfen.29 Gerade weil nun das Vertriebsunternehmen seine Außenpräsenz am Markt in den Dienst eines Vertriebsnetzes stellt, muss der Abschluss, muss auch die Beendigung und muss jede wesentliche Änderung des Vertriebsverhältnisses als eine strategische Richtungsentscheidung betrachtet werden, die eines Placet der Gesellschafter bedarf. Die Nennung des Handelsvertretergeschäfts als Gegenstand des 25 Dazu umfassend Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 293 AktG Rn. 38 ff. 26 Zum Umfang der Vertretungsmacht vgl. statt vieler Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz, 20. Aufl. 2020, § 35 Rn. 9 f. 27 Zur Seltenheit solcher Fälle Martinek Moderne Vertragstypen II, 1992, S. 76 f. 28 Windbichler in GroßkommAktG, § 17 Rn. 41. 29 BGH, GmbHR 1991, 197 = NJW 1991, 1681.
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Unternehmens im Gesellschaftsvertrag (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG) und in der Registereintragung (§ 10 Abs. 1 Satz 1 GmbHG) befreit die Geschäftsführung nicht von dieser Bindung. Dass die geschäftspolitische Relevanz einzelner Vertragsregeln von Fall zu Fall einer abwägenden, also der Rechtssicherheit nicht unbedingt zuträglichen Wertung bedarf, spricht nicht gegen diese Ausdifferenzierung. Sie betrifft nur die Handsteuerung im Innenverhältnis und hat hier ihren angemessenen Platz.
III. Rechtssystematische Coda Wenn der Verfasser dieses Beitrags den Denkstil der Jubilarin richtig verstanden haben sollte, ist dieser stärker durch den hellwachen Blick auf die Rechtswirklichkeit und auf sich im Rechtsvergleich bewährende Lösungsangebote gekennzeichnet als durch teutonisch anmutende Systemüberlegungen. Es wird sie allerdings wenig verwundern, wenn die Leser der Festschrift nicht ganz ohne diesbezügliche Aperçus aus der Lektüre entlassen werden. 1. Das Handelsvertreterrecht im Gesetzesaufbau Die erste dieser Bemerkungen betrifft die Architektur unseres Handelsgesetzbuchs. Als einen der Systemfehler dieses auch sonst nicht ohne Fehl konzipierten Kodifikationswerks kann man betrachten, dass das Gesetz den Handelsvertreter im Anschluss an die „Handlungsgehilfen und Handlungslehrlinge“ (Erstes Buch, Sechster Abschnitt) im Siebenten Abschnitt als Hilfspersonen des Kaufmanns, also gleichsam als Glieder des Unternehmens, darstellt,30 statt den Handelsvertretervertrag – noch besser: die Vertriebs-Organisationsverträge31 – im Rahmen der Handelsgeschäfte zu regeln.32 Die im Verhältnis zwischen dem Handelsvertreterrecht und dem Recht der verbundenen Unternehmen aufgetretenen systematischen Schwierigkeiten kommen insofern nicht von ungefähr. 2. Grenzen des Konzernrechts Christine Windbichler hat mitgeholfen, dem Vertragskonzernrecht im Bereich des vorliegenden Themas Grenzen zu stecken. Gefragt, ob das im 20. Jahrhundert herausgebildete deutsche Konzernrecht Flegeljahre durchlaufen 30 Karsten Schmidt Handelsrecht, § 17 Rn. 40 f.; § 25 Rn. 6; ders. JuS 2008, 665 ff.; grundlegend bereits Schmidt-Rimpler Ehrenbergs Hdb., Bd. V/1, 1926, S. 1 ff.; a.M. Brüggemann ZHR 131 (1968), 3; Sandrock in Festschrift Raisch, 1995, S. 167 ff. 31 Dazu in einer simultan erscheinenden anderen Festschrift. 32 Vgl. Karsten Schmidt Handelsrecht, § 17 Rn. 41.
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hat, werden die meisten Gesellschaftsrechtler mit einem spontanen „Ja“ antworten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass damit allenthalben der „qualifizierte faktische Konzern“ unseligen Angedenkens gemeint ist, den Christine Windbichler in ihrem Gesellschaftsrechtslehrbuch nur mehr mit einer distanzierten Marginalie abtut.33 Unbestreitbar gehört die unter diesem Banner ins Feld geführte Haftungsrechtsprechung zur chronique scandaleuse der gesellschaftsrechtlichen Rechtsfortbildungsversuche.34 Wie hier gezeigt wurde, musste sich jedoch auch die vergleichsweise unverdächtige Rechtsfigur des Vertragskonzerns fast zu gleicher Zeit vor bedenkliche Einmischung in das Recht der B2B-Geschäfte zurückgehalten, zumal das Schlagwort des „Organisationsvertrags“ gar zu gut auch auf Vertriebsverträge übertragbar schien.35 Doch ist und bleibt es ein Missverständnis, das Vertragskonzernrecht allenthalben als Nothelfer für Schutzdefizite gegenüber dem Machtgefälle bei beiderseitigen Handelsgeschäften zu berufen.36
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Windbichler Gesellschaftsrecht, § 24 Rn. 36. Abrechnung mit dieser Rechtsfigur bei BGHZ 149, 10 „Bremer Vulkan“; eingehende Nachweise bei Altmeppen MüKoAktG, 5. Aufl. 2020, Anh. § 317 Rn. 2 ff. 35 Charakteristisch Ensthaler NJW 1994, 817, 819. 36 Richtig Bayer MünchKommAktG, 4. Aufl. 2016, § 11 Rn. 30 aE; ähnlich Emmerich in Emmerich/Habersack § 17 Rn. 15. 34
Whistleblowing im Konzern
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Whistleblowing im Konzern Klaus Ulrich Schmolke
Whistleblowing im Konzern – Einige Gedanken zu den rechtlichen Rahmenbedingungen konzernweiter Hinweisgebersysteme KLAUS ULRICH SCHMOLKE
I. Thema Die EU-Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, kurz: Whistleblower-Richtlinie (WBRL), ist am 23. Oktober 2019 verabschiedet worden.1 Darin werden die Mitgliedstaaten verpflichtet sicherzustellen, dass juristische Personen des privaten Sektors mit 50 oder mehr Arbeitnehmern interne Hinweisgebersysteme einrichten.2 Die Frage nach einer gesellschaftsrechtlichen Pflicht zur Einrichtung eines solchen Systems als Teil der eigenen Compliance-Organisation stellt sich damit jedenfalls für den Anwendungsbereich der WBRL künftig nicht mehr.3 Den Regelungen der WBRL steht dabei erkennbar das unabhängige Einzelunternehmen vor Augen. Spezielle Vorschriften zu konzernweiten Meldesystemen in Unternehmensgruppen sucht man jedenfalls vergebens. In der Rechtspraxis finden sich indes bereits häufig Lösungen, die ein einheitliches Meldesystem mit einer zentralen Meldestelle für die gesamte Unternehmensgruppe (oder Teile hiervon) vorsehen.4 Vor diesem Hintergrund unternimmt es der vorliegende Beitrag, die Vereinbarkeit konzernweiter Hinweisgebersysteme mit den Vorgaben der WBRL zu überprüfen und mit den gesellschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen für solche Systeme abzugleichen. Das Thema liegt auf einer Schnittstelle aktueller und klassischer Fragen des Unternehmensrechts: Geht es 1 ABl. EU Nr. L 305 v. 26.11.2019, S. 17. Zu Umsetzungsfragen Schmolke NZG 2020, 5 ff. mwN. 2 Zu den Einzelheiten s. II.1. Dort auch zur Frage eines mitbestimmungsrechtlichen Zustimmungsvorbehalts. 3 S. bereits Schmolke ZGR 2019, 876, 900; ders. NZG 2020, 5, 9 ff. 4 S. etwa das Meldesystem von VW, online: https://www.volkswagenag.com/de/group/ compliance-and-risk-management/whistleblowersystem.html; ferner das Meldesystem „TellUs“ des Siemens-Konzerns. Daneben bestehen eigenständige Meldesysteme für Siemens Healthineers („Let Us Know“) und Siemens Gamesa („Integrity Hotline“), s. online: https://www.bkms-system.net/bkwebanon/report/clientInfo?cin=19siem14&language= ger. S. dazu noch näher unter III.
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zum einen um die künftige Umsetzung der WBRL durch den Gesetzgeber und die praktische Implementierung durch die Unternehmen, handelt es sich zugleich um einen Anwendungsfall der klassischen, in letzter Zeit wieder intensiver geführten Debatte um die rechtlichen Vorgaben für den Informationsfluss im Konzern.5 Mit der Informationsweitergabe im Rahmen eines Hinweisgebersystems und der allfälligen Veranlassung von Folgemaßnahmen ist auch das Thema der Konzern-Compliance angesprochen. Der Verfasser dieser Zeilen darf auf das Interesse der Jubilarin an der aufgeworfenen Fragestellung hoffen, ist doch das Whistleblowing mit seinen Bezügen zum Gesellschafts- wie zum Arbeitsrecht ein unternehmensrechtliches Thema par excellence. Zudem gehört das hier auch angesprochene Konzernrecht seit jeher zu den „Leib- und Magenthemen“ von Christine Windbichler.
II. Die Aussagen der Whistleblower-Richtlinie 1. Das Fehlen konzernspezifischer Regelungen Wirft man zunächst einen Blick auf die Aussagen der WBRL, ergibt sich für deren verfügenden Teil folgender Befund: Die Mitgliedstaaten haben sicherzustellen, dass „juristische Personen des privaten Sektors“ mit 50 oder mehr Arbeitnehmern „Kanäle und Verfahren“ für interne Meldungen und für Folgemaßnahmen einrichten (Art. 8 Abs. 1 Hs. 1 mit Abs. 3 WBRL).6 Sofern nach nationalem Recht vorgesehen, hat dies nach Rücksprache und im Einvernehmen mit den Sozialpartnern zu erfolgen (Art. 8 Abs. 1 Hs. 2 WBRL).7 Die „interne Meldung“ definiert Art. 5 Nr. 4 WBRL als Mitteilung von Informationen über Verstöße „innerhalb einer juristischen Person“. Die Kanäle und Verfahren müssen jedenfalls „den Arbeitnehmern der juristischen Person“ die Meldung von Informationen über Verstöße ermöglichen, können jedoch auch für bestimmte meldewillige Dritte geöffnet werden (Art. 8 Abs. 2 WBRL). Dabei können die Meldekanäle intern von einer hierfür benannten (natürlichen) Person oder Abteilung der juristischen Person betrieben oder extern von einem Dritten bereitgestellt werden (Art. 8 Abs. 5 S. 1 WBRL). 5 S. monographisch Mader Der Informationsfluss im Unternehmensverbund, 2016; ferner etwa Bosse Der Konzern 2019, 1 ff. 6 S. Art. 8 Abs. 4 und 7 WBRL für (mögliche) Abweichungen vom Schwellenwert des Art. 8 Abs. 3 WBRL. 7 Für Deutschland dürften damit § 87 Abs. 1 Nr. 1 und ggf. Nr. 6 BetrVG angesprochen sein. Danach ist auch die Einrichtung von (elektronisch gestützten) Hinweisgebersystemen mitbestimmungspflichtig [s. hier nur Fitting BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 87 Rn. 71 mwN]. Fragen der betrieblichen Mitbestimmung bleiben im Weiteren ausgeklammert.
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Die Richtlinie macht zudem inhaltliche Vorgaben für das Verfahren der internen Meldung und für daran anknüpfende Folgemaßnahmen (s. Art. 9 WBRL). So müssen (1) die Meldekanäle die Vertraulichkeit der Identität des Hinweisgebers und in der Meldung erwähnter Dritter gewährleisten.8 Ferner muss (2) eine „unparteiische Person“ oder Abteilung benannt werden, die für die Folgemaßnahmen zuständig ist. Die Folgemaßnahmen müssen schließlich (3) ordnungsgemäß durchgeführt und (4) dem Hinweisgeber muss spätestens nach drei Monaten und sieben Tagen nach Eingang der Meldung Feedback gegeben werden.9 Zur Implementierung eines internen Meldeverfahrens im Unternehmensverbund finden sich hingegen keine speziellen Regelungen.10 Immerhin bestimmt Art. 8 Abs. 6 WBRL, dass juristische Personen des privaten Sektors mit 50 bis 249 Arbeitnehmern für die Entgegennahme von Meldungen und für möglicherweise durchzuführende Untersuchungen Ressourcen teilen können. Dies gilt freilich „unbeschadet der diesen juristischen Personen […] auferlegten Verpflichtung, Vertraulichkeit zu wahren, Rückmeldung zu geben und gegen den gemeldeten Verstoß vorzugehen.“ Lässt sich aus diesen Aussagen etwas zur Zulässigkeit eines konzernweiten Meldesystems ableiten? Man könnte zunächst versucht sein, im Wege eines Umkehrschlusses aus Art. 8 Abs. 6 S. 1 WBRL herauszulesen, dass eine Ressourcenteilung für juristische Personen mit mehr als 249 Arbeitnehmern ausscheidet.11 Dies wiederum würde sich auf ein konzernweites Meldesystem einer Unternehmensgruppe auswirken, die solche juristischen Personen zu ihren Konzernunternehmen zählt. Indes sind an diesem vorläufigen Befund Zweifel angebracht: Wie gesehen können von der Richtlinie erfasste Rechtsträger die Wahrnehmung ihrer Verpflichtung zur Einrichtung interner Meldesysteme auf externe Dritte übertragen, solange diese nur die Verfahrensstandards gem. Art. 9 Abs. 1 WBRL einhalten (s. Art. 8 Abs. 5 WBRL). Dann aber sollte auch eine (Teil-)Übertragung an andere Rechtsträger derselben Unternehmensgruppe möglich sein, zumal Art. 8 Abs. 5 WBRL den Kreis der möglichen Delegate nicht einschränkt. Eine Rechtsverkürzung ist damit für die Verfahrensbeteiligten insofern nicht verbunden, als der delegierende Rechtsträger diesen gegenüber verpflichtet bleibt (s. Art. 8 Abs. 6 S. 2 WBRL) und die Verfahrensstandards auch durch den Delegaten einzuhalten sind (Art. 8 Abs. 5 S. 2 WBRL). 8
S. zum Vertraulichkeitsgebot auch Art. 16 WBRL. Art. 9 Abs. 1 WBRL nennt als weitere Mindeststandards des Meldeverfahrens die Bestätigung des Eingangs der Meldung binnen sieben Tagen sowie die Erteilung klarer und leicht zugänglicher Informationen über die Verfahren für externe Meldungen an die zuständigen Stellen. 10 Vgl. auch Federmann et al., DB 2019, 1665, 1666; Hopt ZGR 2020, 373, 398, der auf hier nicht interessierende Spezialvorschriften für regulierte Unternehmen hinweist. 11 In dieser Richtung Federmann et al., DB 2019, 1665, 1666. 9
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2. Erwägungsgrund 55 WBRL Letzte Bedenken scheint schließlich ErwG 55 WBRL auszuräumen. Dort heißt es: „Interne Meldeverfahren sollten juristische Personen des privaten Sektors in die Lage versetzen, nicht nur den Meldungen ihrer Arbeitnehmer bzw. der Arbeitnehmer ihrer Tochterunternehmen oder verbundenen Unternehmen (im Folgenden ,Gruppe‘) unter vollständiger Wahrung der Vertraulichkeit nachzugehen, sondern soweit möglich auch den Meldungen der Arbeitnehmer von Vertretern und Lieferanten der Gruppe […].“ Diese Aussage ist in der Tat ein deutliches Indiz dafür, dass die erfassten juristischen Personen des privaten Sektors nach Ansicht des Richtliniengebers ihrer Pflicht zur Einrichtung von internen Meldekanälen und -verfahren auch durch Teilnahme an einem konzernweiten Hinweisgebersystem genügen können. Allerdings bleibt es bei dem Befund, dass dieses Verständnis im verfügenden Teil der Richtlinie, insbesondere in Art. 8 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 sowie Art. 5 Nr. 4 WBRL, leider keinen gleichermaßen deutlichen Niederschlag gefunden hat. 3. Der Verweis auf die Vorgaben der DS-GVO in Art. 17 WBRL Auch von datenschutzrechtlicher Warte ergeben sich keine durchgreifenden Einwände gegen die Zulässigkeit eines konzernweiten Meldesystems. Die WBRL verweist insofern in Art. 17 auf die Vorgaben der DS-GVO.12 Für das Thema Datenverarbeitung innerhalb eines Hinweisgebersystems gelten im Ausgangspunkt die Erlaubnisanforderungen des Art. 6 Abs. 1 DSGVO.13 Art. 88 DS-GVO enthält für die hier interessierende „Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten im Beschäftigungskontext“ indes eine Öffnungsklausel. Danach können die Mitgliedstaaten „insbesondere für Zwecke […] der Erfüllung des Arbeitsvertrags einschließlich der Erfüllung von durch Rechtsvorschriften oder durch Kollektivvereinbarungen festgelegten Pflichten“ und „der Organisation der Arbeit“14 durch Rechtsvorschriften oder durch Kollektivvereinbarungen spezifischere Vorschriften zur Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten vorsehen. Der deutsche Gesetzgeber hat von dieser Öffnungsklausel durch die neue Vorschrift des § 26 BDSG15 Gebrauch gemacht. Nach h.L. bildet der Erlaubnis12
Verordnung (EU) 2016/679 v. 27.4.2016, ABl. EU Nr. L 119 v. 4.5.2016, S. 1. Hier ist vor allem an Art. 6 Abs. 1 lit. f DS-GVO zu denken. Für die Erlaubnis zur Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Hinweisgebers selbst erscheint auch die Einwilligung nach Art. 7 DS-GVO praktikabel; s. zum Ganzen knapp Thüsing/Fütterer/ Rombey RDV 2018, 133, 135. 14 Hierauf für die Datenverarbeitung im Rahmen von Hinweisgebersystemen abstellend Selk in Ehmann/Selmayr DS-GVO, 2017, Art. 88 Rn. 93. 15 S. Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz EU (DSAnpUG-EU) v. 30.6. 2017, BGBl. 2017 I 2097. § 26 BDSG steht dabei erkennbar in der Nachfolge von § 32 BDSG a.F. 13
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tatbestand des § 26 Abs. 1 BDSG auch eine hinreichende datenschutzrechtliche Grundlage für die Einrichtung eines Hinweisgebersystems.16 Freilich wird teils bezweifelt, ob der vergleichsweise strikte § 26 BDSG als Ausfüllungsnorm des Art. 88 DS-GVO den europarechtlichen Vorgaben genügt.17 Daher wollen einige (zusätzlich) auf den Erlaubnistatbestand des Art. 6 Abs. 1 lit. f DS-GVO abstellen.18 Mit Blick auf das Transparenzgebot (vgl. Art. 5 Abs. 1 lit. a, 12 ff. DS-GVO), insbesondere die nach Art. 14 DS-GVO bestehende Pflicht, den von der Meldung Betroffenen zu informieren,19 eröffnet wiederum Art. 23 DS-GVO die Möglichkeit zur mitgliedstaatlichen Einschränkung.20 Als insofern einschlägige Beschränkungsnormen werden mit Blick auf Hinweisgebersysteme § 32 Abs. 1 Nr. 4 und § 33 Abs. 1 Nr. 2 lit. a BDSG ausgemacht. Diese Vorschriften erlauben eine Ausnahme von den Benachrichtigungspflichten der DS-GVO, wenn die Benachrichtigung der gemeldeten Person die Gefahr der Vernichtung von Beweismitteln und der Verschleierung des Fehlverhaltens begründen und daher die Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung zivilrechtlicher Ansprüche des Arbeitgebers gegenüber dem Betroffenen beeinträchtigen würde.21 Vor dem Hintergrund des Umsetzungsbefehls der WBRL wird der deutsche Gesetzgeber allerdings sowieso nicht umhinkommen, die Regelungen des BDSG kritisch zu prüfen (oder einfach eine vorrangige Sonderregelung einzuführen). Denn die Öffnungsklausel des Art. 88 Abs. 2 DS-GVO erlaubt es nicht, die Vorgaben zur Einrichtung interner Hinweisgebersysteme datenschutzrechtlich auszuhebeln.22 Speziell für die Datenverarbeitung im Konzern gilt Folgendes: Die Öffnungsklausel für den Beschäftigtendatenschutz in Art. 88 DS-GVO gibt eindeutig zu erkennen, dass sie auch Regelungen zur „Übermittlung personenbezogener Daten innerhalb einer Unternehmensgruppe“ unter den be16 S. etwa DSK Orientierungshilfe zu Whistleblowing-Hotlines, Stand: 14.11.2018, 3 und öfter; Thüsing/Fütterer/Rombey RDV 2018, 133, 135 ff. mwN. 17 S. insb. Maschmann in Kühling/Buchner DS-GVO/BDSG, 2. Aufl. 2018, § 26 BDSG Rn. 1 f. und passim, nach dessen Verständnis Art. 88 DS-GVO nur eine Konkretisierungskompetenz für die Mitgliedstaaten enthält [ebenda, Art. 88 DS-GVO Rn. 30 ff. mwN]; hingegen für Ermächtigung zu vorrangigen sektorspezifischen Regelungen des nationalen Rechts etwa Thüsing/Traut in Heidelberger Kommentar DS-GVO/BDSG, 2018, Art. 88 DS-GVO Rn. 6 ff. 18 S. etwa Schröder in Forgó/Helfrich/Schneider Betrieblicher Datenschutz, 3. Aufl. 2019, Teil VI Kap. 3 Rn. 54 ff.; auch DSK (Fn. 16), 5 f. 19 S. dazu knapp etwa Franzen in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 26 BDSG Rn. 26. 20 S. dazu Maschmann in Kühling/Buchner DS-GVO/BDSG, 2. Aufl. 2018, Art. 88 DSGVO Rn. 47. Für Art. 14 DS-GVO ziehen DSK (Fn. 16), 10; Franzen in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 26 BDSG Rn. 26 stattdessen die Ausnahmeregelung des Art. 14 Abs. 5 lit. b DSGVO heran. 21 S. nur Thüsing/Fütterer/Rombey RDV 2018, 133, 137 f.; vgl. zu abgeschlossenen Vorgängen LAG Baden-Württemberg NZA-RR 2019, 242 Rn. 160 ff. 22 Vgl. insofern auch ErwG 83 WBRL.
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sonderen Voraussetzungen des Art. 88 Abs. 2 DS-GVO ermöglicht.23 Allerdings hat der deutsche Gesetzgeber bislang auf die Einführung konzernspezifischer Rechtsvorschriften zum Beschäftigtendatenschutz verzichtet. Schon deshalb24 ist die Übermittlung von Daten zwischen Rechtsträgern derselben Unternehmensgruppe datenschutzrechtlich im Ausgangspunkt wie die Übermittlung an einen (unabhängigen) Dritten zu behandeln.25 Als Rechtsgrundlage kommt daher gerade im Zusammenhang mit der KonzernCompliance Art. 6 Abs. 1 lit. f DS-GVO in Betracht, der eine Interessenabwägung vorsieht.26 Sofern der deutsche Gesetzgeber bei Umsetzung der WBRL keine speziellen Rechtsvorschriften einführt, bleibt als taugliche Grundlage für eine „spezifischere“ Regelung der konzerninternen Übermittlung personenbezogener Beschäftigtendaten lediglich eine Kollektivvereinbarung i.S.d. Art. 88 DS-GVO.27
III. Konzernweite Hinweisgebersysteme in der Praxis Die Vorgaben der WBRL treffen auf eine bereits geübte Praxis. Viele Großunternehmen halten schon heute interne Hinweisgebersysteme vor.28 Dies gilt auch für Obergesellschaften von Unternehmensgruppen.29 Nicht 23 S. Maschmann in Kühling/Buchner DS-GVO/BDSG, 2. Aufl. 2018, Art. 88 DSGVO Rn. 52; wohl auch Thüsing/Schmidt in Heidelberger Kommentar DS-GVO/BDSG, 2018, Anh. zu Art. 88 DS-GVO Rn. 21. Zur Rechtslage vor Geltung der DS-GVO Spindler in FS Hoffmann-Becking, 2013, 1185 ff. 24 Darüber hinaus wird bezweifelt, dass Art. 88 DS-GVO überhaupt zur mitgliedstaatlichen Gewährung eines datenschutzrechtlichen „Konzernprivilegs“ ermächtigt, s. dazu Maschmann in Kühling/Buchner DS-GVO/BDSG, 2. Aufl. 2018, Art. 88 DS-GVO Rn. 52 ff. mwN. 25 S. etwa Maschmann in Kühling/Buchner DS-GVO/BDSG, 2. Aufl. 2018, Art. 88 DSGVO Rn. 52 f.; Pauly in Paal/Pauly DS-GVO, 2017, Art. 88 Rn. 12; Thüsing/Schmidt in Heidelberger Kommentar DS-GVO/BDSG, 2018, Anh zu Art. 88 DS-GVO Rn. 21. 26 S. insofern auch ErwG 48 DS-GVO. Speziell zu Hinweisgebersystemen Schröder in Forgó/Helfrich/Schneider Betrieblicher Datenschutz, 3. Aufl. 2019, Teil VI Kap. 3 Rn. 64; zum Ganzen näher ferner Schwartmann/Jacquemain in Heidelberger Kommentar DSGVO/BDSG, 2018, Art. 6 DS-GVO Rn. 142 ff.; s. auch Maschmann in Kühling/Buchner DS-GVO/BDSG, 2. Aufl. 2018, § 26 BDSG Rn. 73; Selk in Ehmann/Selmayr DS-GVO, 2017, Art. 88 Rn. 141 ff. S. aber auch Wedde in v.d. Bussche/Voigt Konzerndatenschutz, 2. Aufl. 2019, Kap. 6 Rn. 36, 47, 49: Unter Anwendung des § 26 Abs. 1 S. 1 und S. 2 BDSG sei eine Datenverarbeitung unternehmensübergreifend innerhalb eines Konzerns nicht zulässig. 27 S. zum Ganzen Maschmann in Kühling/Buchner DS-GVO/BDSG, 2. Aufl. 2018, Art. 88 DS-GVO Rn. 53 f. und § 26 BDSG Rn. 73; Thüsing/Schmidt in Heidelberger Kommentar DS-GVO/BDSG, 2018, Anh. zu Art. 88 DS-GVO Rn. 51. 28 S. für die deutschen DAX-Unternehmen Thüsing/Fütterer/Jäntsch RDV 2018, 133, 138 ff.; für Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die Schweiz HTW Chur/EQS Integrity Line Whistleblowing Report 2019, 17. 29 S. etwa für das Hinweisgebersystem von VW und von Siemens (Fn. 4); ferner für die Allianz https://www.allianz.de/compliance/vertrauensanwalt/.
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selten schalten diese einen externen Dritten, etwa eine Kanzlei, als Ombudsstelle und Meldeadressat ein.30 Teilweise wird daneben auch eine interne Anlaufstelle angeboten.31 Wann und wie die Informationen vom unternehmensexternen Meldeadressaten weitergeleitet werden, wird aus den Internetauftritten der Unternehmen nicht immer klar. Sofern hier lediglich ein externer Dritter als Meldestelle fungiert, der die Meldung nach einer ersten Prüfung an die jeweilige Konzerngesellschaft zur weiteren Veranlassung von Folgemaßnahmen zurückspielt, handelt es sich streng genommen nicht um ein konzerndimensionales Hinweisgebersystem. Vielmehr nutzen die Konzerngesellschaften nur – letztlich unabhängig voneinander – die Dienste ein und derselben Meldestelle. Es finden sich aber auch „echte“ gruppenweite Hinweisgebersysteme. So hält die VW AG als Muttergesellschaft der Volkswagen-Gruppe ein System vor, das als „Anlaufstelle des Volkswagen Konzerns“ das dem Ressort „Integrität und Recht“ zugehörige „Aufklärungs-Office“ benennt. Die alternativ mögliche Meldung bei externen Ombudsleuten führt nur zu einer Vorprüfung durch diese, bevor die solchermaßen geprüfte externe Meldung an das „Aufklärungs-Office“ zur weiteren Bearbeitung übermittelt wird.32 Besonders deutlich wird die auch verbundene Unternehmen umspannende Reichweite des Meldesystems bei der Siemens Healthineers AG. In ihrem Informationsblatt zum Datenschutz innerhalb des Meldeverfahrens33 wird klargestellt, dass die gemeldeten Informationen „von der Siemens Healthineers AG und, falls erforderlich, ihren Tochtergesellschaften […] ausgewertet“ werden. Nach Eingang der Meldung prüft die Compliance-Abteilung der Siemens Healthineers AG, ob eine vertiefte Untersuchung erforderlich ist. Abhängig vom Inhalt der Meldung „erhalten die für die weitere Bearbeitung bei Siemens Healthineers [meint: die AG und ihre Tochtergesellschaften] zuständigen Stellen die […] gemeldeten Informationen.“ Falls der Hinweis „eine Tochtergesellschaft betrifft, werden die zuständigen Stellen in diesen Gesellschaften benachrichtigt.“ Als Vorteil solcher gruppenweiten Hinweisgebersysteme nennt der Chief Compliance Officer der Volkswagen-Gruppe den besseren Überblick, der bei der Einschätzung helfe, ob „ein Problem nur einen bestimmten Bereich, eine bestimmte Gesellschaft oder den ganzen Konzern betrifft“.34
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S. etwa das Beispiel der Allianz (Fn. 29). S. als Beispiel wiederum das Hinweisgebersystem von VW (Fn. 4). 32 S. dazu die Informationen auf der Homepage der VW AG unter https://www.volks wagenag.com/de/group/compliance-and-risk-management/whistleblowersystem.html. 33 Online abrufbar unter https://www.bkms-system.net/bkwebanon/bkweb-static/cin/ 19sh8/Siemens-Healthineers-Information-about-data-protection-and-consent-GER.pdf. 34 S. https://www.volkswagenag.com/de/news/stories/2017/10/interview-whistleblowersystem.html zur Konsolidierung der 25 Einzelsysteme im Jahre 2017. 31
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IV. Gesellschaftsrechtlicher Rahmen für ein konzernweites Hinweisgebersystem Wie unter II. ausgeführt, lassen die Whistleblower-Richtlinie ebenso wie die dort in Bezug genommenen Regeln des Datenschutzrechts die unter III. beschriebenen konzerndimensionalen Gestaltungen der Unternehmenspraxis grundsätzlich zu. Es bleibt zu klären, wie das Gesellschaftsrecht hierzu steht. Dies soll zunächst für die Weitergabe von Hinweisen zwischen verbundenen Unternehmen (1.) und sodann für die Veranlassung von Folgemaßnahmen durch die Obergesellschaft (2.) untersucht werden. Die Darstellung konzentriert sich auf das Aktienrecht. Zum GmbH-Recht muss ein kurzer Seitenblick genügen (3.). 1. Weitergabe von Hinweisen zwischen verbundenen Unternehmen Die Frage nach der Zulässigkeit der Hinweisübermittlung zwischen verbundenen Unternehmen verweist auf die allgemeinere Debatte über die rechtlichen Bedingungen für die Informationsweitergabe im Unternehmensverbund. Hier gilt im Ausgangspunkt, dass die zur Unternehmensgruppe gehörenden Gesellschaften selbstständige Rechtsträger sind, die auch hinsichtlich der Weitergabe von Informationen grundsätzlich ihre eigenen Interessen verfolgen, sich also nicht schon qua Gruppenzugehörigkeit dem Gruppeninteresse unterordnen müssen.35 In der hier betrachteten Konstellation sollte dabei nicht zweifelhaft sein, dass auch die ursprüngliche Meldung des bei einer Tochtergesellschaft beschäftigten Hinweisgebers an die vom konzernweiten Hinweisgebersystem vorgesehene Stelle eine der betreffenden Tochtergesellschaft zurechenbare Informationsweitergabe ist. Denn die Meldung des Hinweisgebers folgt im Rahmen des von der Tochtergesellschaft (durch ihren Vorstand) sanktionierten Hinweisgebersystems und damit im Rahmen ihrer eigenen (konzerndimensional verlängerten) Compliance-Organisation. Auf der „Empfängerseite“ gelangt die Meldeinformation beim hier allein interessierenden „echten“ konzernweiten Hinweisgebersystem wie gesehen typischerweise zur Compliance-Abteilung der Muttergesellschaft. Digitale Dienstleister und dritte Ombudsstellen sind nur Durchlaufstationen, die – ggf. nach einer filternden Vorprüfung – die bedeutsamen Meldeinformationen an die Muttergesellschaft weiterleiten.36 Aus gesellschaftsrechtlicher Sicht stellen sich hier zwei Fragen: Kann das Mutterunternehmen die Weitergabe der Meldeinformation aus der Tochter35 36
S. statt aller Mader (Fn. 5), 2. S. dazu oben unter III.
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gesellschaft und damit letztlich auch die Mitwirkung an einem konzerndimensionalen Meldesystem verlangen (a.)? Oder ist die Tochtergesellschaft zumindest berechtigt, die innerhalb des Hinweisgebersystems übermittelten Informationen des Hinweisgebers an das Mutterunternehmen weiterzugeben (b.)? Für die Beantwortung dieser Fragen ist zwischen Vertragskonzern und faktischem Konzern bzw. bloßer Abhängigkeit zu unterscheiden. a) Recht des Mutterunternehmens auf Mitwirkung der Tochter? aa) Vertragskonzern Fragt man zunächst nach einem Recht des Mutterunternehmens auf Mitwirkung der Tochtergesellschaft an einer Informationsweitergabe im Rahmen eines Hinweisgebersystems, so liegen die Dinge im Vertragskonzern auf den ersten Blick noch vergleichsweise einfach. Dies gilt selbst dann, wenn man für das Recht auf Mitwirkung der Tochter nicht unmittelbar auf das Weisungsrecht nach § 308 AktG abstellen will37, sondern für die Weitergabe der Meldeinformation einen hiervon zu unterscheidenden Auskunftsanspruch fordert.38 Denn für den Vertragskonzern ist ein Auskunftsanspruch des herrschenden Unternehmens gegenüber der Tochtergesellschaft anerkannt, soweit er sich auf Informationen bezieht, die für die Ausübung des Weisungsrechts nach § 308 AktG von Bedeutung sind.39 Seine Begründung ist freilich umstritten.40 Die Einordnung als Hilfsrecht oder Annexkompetenz zum Weisungsrecht nach § 308 AktG erscheint plausibel.41 Informationsweitergabehindernisse aus §§ 93 Abs. 1 S. 3, 131 Abs. 4 AktG oder Art. 14 lit. c MAR stehen nicht entgegen.42 Der über § 308 AktG hergestellte Bezug zur Konzernleitung erfasst auch die Konzernkontrolle und damit den hier angesprochenen Bereich der Konzern-Compliance.43 Mit Blick auf deren Reichweite erstreckt sich der Auskunftsanspruch auf jede Meldung eines möglichen Compliance-Verstoßes in der Tochtergesellschaft, die für die Ausübung der (mehr oder weniger intensiv angelegten) Konzernkontrolle relevant werden kann.44 Die Anknüpfung des Informations37
Vgl. insofern etwa Windbichler in FS Peltzer, 2001, 629, 636; Verse ZHR 175 (2011), 401, 418 bei Fn. 71. 38 S. zur Diskussion ausführlich Mader (Fn. 5), 77 ff. mwN. 39 Vgl. Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 308 Rn. 12a; Emmerich in Emmerich/ Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 308 Rn. 39a. 40 Mader (Fn. 5), 77 ff. mit ausführlicher Darstellung des Meinungsstands. 41 Hierfür etwa Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 308 Rn. 12a mwN. 42 S. nur Mader (Fn. 5), 128 ff. mwN; zum Insiderrecht Klöhn in Klöhn MAR, 2018, Art. 10 Rn. 125 ff., 130 f. 43 Vgl. Mader (Fn. 5), 106; ferner etwa Fleischer CCZ 2008, 1, 4 f. 44 Vgl. nur Emmerich in Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 308 Rn. 39a; Mader (Fn. 5), 106.
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anspruchs an § 308 AktG führt hingegen nicht dazu, dass die einmal erlangte Information allein für die Zwecke einer Weisungserteilung verwendet werden dürfte.45 Die Erfüllung des Informationsanspruchs kann der Vorstand der Tochtergesellschaft delegieren, so dass „der Etablierung institutionalisierter Berichtswege im Rahmen von Konzern-Controllingeinrichtungen im Vertragskonzern nichts entgegen[steht]“.46 Freilich wird hierbei teils verlangt, dass der Vorstand die Organisation so gestaltet, dass er allfällige Auskunftsverlangen auf deren Rechtmäßigkeit prüfen kann.47 Entsprechende Vorkehrungen stoßen im Rahmen eines konzernweiten Hinweisgebersystems indes auf Schwierigkeiten. Hier steht nämlich nicht die letztlich vom Tochtervorstand gesteuerte Informationsweitergabe aufgrund eines konkreten Auskunftsverlangens der Mutter in Rede. Vielmehr geht es um die generelle Ermöglichung der Weitergabe von Informationen über mögliche Rechtsbzw. Compliance-Verstöße durch Beschäftigte der Tochter an eine dem Mutterunternehmen zurechenbare Stelle. Damit aber begibt sich der Tochtervorstand gerade jedes Einflusses auf die Weiterleitung der konkreten Meldung. Man könnte zwar daran denken, dass eine externe Meldestelle nach einer Vorprüfung substantiierte Hinweise zunächst an den Tochtervorstand oder die Compliance-Abteilung48 schickt, damit diese(r) die Übermittlung an die Compliance-Abteilung der Konzernmutter freigibt. Allerdings macht dies die Abläufe umständlich und treibt die Kosten. Die besseren Gründe sprechen indes ohnehin dafür, dass der Tochtervorstand seiner Prüfungspflicht genügt, wenn er diese anlässlich des Beitritts zum konzernweiten Hinweisgebersystem wahrnimmt. Denn bestimmungsgemäße Meldungen innerhalb des Systems dienen allein dem Zweck effektiver Compliance und sind zur Zweckerreichung auch geeignet. Insofern stellt das Hinweisgebersystem selbst die Rechtmäßigkeit der in seinem Rahmen erfolgenden Informationsweitergabe sicher. Zweckfremde Meldungen von Beschäftigten sind der Tochtergesellschaft hingegen nicht zurechenbar, da nicht von dem vom Tochtervorstand sanktionierten Übermittlungsrahmen erfasst. Letztlich wird es aber wohl auch hierauf in der Praxis gar nicht ankommen, weil die Muttergesellschaft bei Einrichtung des Hinweisgebersystems nicht auf ihr Informationsrecht pochen muss. Denn der Tochtervorstand wird die Teilnahme an einem konzernweiten Hinweisgebersystem aufgrund
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S. näher hierzu wiederum Mader (Fn. 5), 107 f. Mader (Fn. 5), 102 f. 47 Mader (Fn. 5), 103 unter Verweis auf die Prüfungspflicht gegenüber Weisungen der Muttergesellschaft. Zur Delegierbarkeit dieser Prüfpflicht etwa Verse ZHR 175 (2011), 401, 422 in Fn. 91. 48 Vgl. Verse ZHR 175 (2011), 401, 422 in Fn. 91. 46
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einer Kosten-Nutzen-Abwägung orientiert am Konzerninteresse49 regelmäßig von sich aus befürworten (und damit der allfälligen Pflicht zur Einrichtung eines eigenen, auf die Tochtergesellschaft beschränkten Hinweisgebersystems vorziehen). Die Befugnis, die Tochtergesellschaft unter diesen Umständen in das konzernweite Hinweisgebersystem zu integrieren, hat er jedenfalls.50 bb) Faktischer Konzern und bloße Abhängigkeit Bei faktischer Konzernierung oder bloßer Abhängigkeit besteht ein Weisungsrecht des herrschenden Unternehmens bekanntlich nicht. Damit kann eine Mitwirkungspflicht der abhängigen Gesellschaft an einem konzernweiten Hinweisgebersystem auch nicht auf einen Informationsanspruch des herrschenden Unternehmens gestützt werden, der sich aus § 308 AktG ableitet. Teile der Literatur bejahen gleichwohl einen allgemeinen konzernrechtlichen Informationsanspruch, der teils auf eine Gesamtanalogie zu §§ 294 Abs. 3, 320 Abs. 3 HGB, § 145 AktG51, teils auf die Treuepflicht52 oder eine Sonderverbindung zwischen herrschendem und abhängigem Unternehmen53 gestützt wird.54 Die h.M. lehnt einen solchen Anspruch indes zu Recht ab.55 Denn § 311 Abs. 1 AktG begründet gerade keinen „Anspruch auf Konzerngefolgschaft“, aus dem ein Informationsanspruch abgeleitet werden könnte.56 Die dogmatischen Anknüpfungsversuche der Gegenansicht tragen nicht.57 Es bleibt zu klären, ob ein spezieller Informationsanspruch des herrschenden Unternehmens besteht, aus dem eine Mitwirkungspflicht an einem konzernweiten Meldesystem abgeleitet werden könnte. Eine starke Literaturströmung bejaht spezielle Informationsansprüche des herrschenden Unternehmens dort, wo es Informationen von der Tochtergesellschaft benötigt, 49 S. dazu hier nur Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 76 Rn. 103; Koppensteiner in KK-AktG, 3. Aufl. 2004, § 308 Rn. 71; a.A. etwa Emmerich in Emmerich/ Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 308 Rn. 54. 50 S. zur Informationsweitergabebefugnis im Vertragskonzern noch unten unter b) aa). 51 Dafür etwa Semler Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 1996, Rn. 300 ff. 52 So etwa U.H. Schneider/Burgard in FS Ulmer, 2003, 579, 600 f. 53 S. etwa Löbbe Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003, 154 ff. 54 S. neben den in Fn. 51–53 Genannten etwa noch Kropff DB 1967, 2204, 2205. 55 S. für die h.M. etwa Windbichler in Hommelhoff/Hopt/v. Werder Hdb. Corporate Governance, 1. Aufl. 2003, S. 605, 614, 616; Altmeppen in MünchKomm AktG 5. Aufl. 2020, § 311 Rn. 425; einschränkend Fleischer ZGR 2009, 505, 532; wN bei Mader (Fn. 5), 179 f. in Fn. 35. 56 S. Lutter Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rn. 179; zust. etwa Altmeppen MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2020, § 311 Rn. 425; Bosse Der Konzern 2019, 1, 4; ausführlich Mader (Fn. 5), 233 ff., 247 ff. 57 S. zu den Einwänden hier nur Mader (Fn. 5), 180 ff., 249 ff. mwN.
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um eigene Pflichten mit Konzernbezug zu erfüllen.58 Dies betrifft insbesondere gesetzliche Informationspflichten der Mutter.59 Inwiefern auch andere Pflichten einen korrespondierenden Informationsanspruch begründen (sollen), wird unterschiedlich beurteilt.60 Ganz allgemein stellt sich die Frage, ob besagte Pflicht das Bestehen und den Umfang des Informationsanspruchs gegenüber der abhängigen Gesellschaft bestimmen soll oder umgekehrt die vorfindliche Möglichkeit zur Informationserlangung den Umfang der Pflicht.61 Mit Blick auf die Meldung von möglichen Rechtsverstößen in der Tochtergesellschaft ist insofern an die Konzern-Compliance-Pflicht des Mutterunternehmens zu denken. Hieran anknüpfend will etwa Habersack unter Rückgriff auf die mitgliedschaftliche Treuepflicht „Mitwirkungs- und Informationspflichten der abhängigen Gesellschaft herleiten, soweit deren Erfüllung unerlässlich für auf Ebene des herrschenden Unternehmens angesiedelte Organisations- und Kontrollpflichten ist und das Interesse der abhängigen Gesellschaft an vertraulicher Behandlung der Informationen gewahrt wird.“62 Im hiesigen Kontext ist allerdings schon fraglich, ob ein konzerndimensionales Hinweisgebersystem in diesem Sinne wirklich „unerlässlich“ für eine pflichtgemäße Konzern-Compliance-Organisation ist.63 Darüber hinaus lässt ein Blick auf das herrschende Verständnis von § 90 Abs. 1 S. 2 AktG an einem speziellen, auf die Übermittlung von Meldeinformationen im Rahmen eines konzernweiten Hinweisgebersystems gerichteten Informationsanspruch zweifeln. Denn für die Pflicht des Muttervorstands zur konzerndimensionalen Regelberichterstattung ist weithin anerkannt, dass lediglich eine Informationsbeschaffungspflicht „im Rahmen des nach den gesetzlichen Bestimmungen Zulässigen, des ihm faktisch Möglichen und konkret Zumutbaren“ besteht,64 § 90 Abs. 1 S. 2 AktG aber gerade kein eigenständiges konzernweites Informationsrecht begründet.65 Auch jenseits der speziellen Berichtspflicht des § 90 Abs. 1 S. 2 AktG nimmt die wohl h.L. mit guten Gründen an, dass sich nicht ausdrücklich normierte konzerndimensionale Einzelpflichten aus §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 AktG nur in dem Umfang begründen lassen, wie dem Muttervorstand eine Pflichterfüllung aufgrund der bestehenden (!) gesellschaftsrechtlichen Ein58
Weitherzig etwa Altmeppen in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2020, § 311 Rn. 425; abl. bspw. Bosse Der Konzern 2019, 1, 4. 59 S. hierfür etwa Windbichler (Fn. 55), 605, 614, 616; einschränkend Fleischer ZGR 2009, 505, 532. 60 S. zum Meinungsbild ausführlich wiederum Mader (Fn. 5), 186 ff. 61 Auf den Punkt Fleischer ZGR 2009, 505, 532. 62 Habersack in FS Möschel, 2011, 1175, 1192. 63 Spezielle Vorgaben für regulierte Unternehmen, etwa nach dem KWG, bleiben hier ausgeblendet. 64 S. Begr. RegE TransPuG, BT-Drs. 14/8769, 14. 65 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 90 Rn. 30 mwN; a.A. etwa Altmeppen in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2020, § 311 Rn. 425.
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wirkungsbefugnisse überhaupt möglich ist.66 Im Ergebnis wird man daher ein durchsetzbares Recht des herrschenden Unternehmens auf Teilnahme der Tochtergesellschaften an einem konzerndimensionalen Hinweisgebersystem jedenfalls nach gegenwärtiger Rechtslage nicht überzeugend aus einem entsprechenden Informationsanspruch der Mutter ableiten können.67 b) Recht der Tochtergesellschaft zur Teilnahme an einem konzerndimensionalen Hinweisgebersystem? aa) Vertragskonzern Mit dem Recht des Mutterunternehmens auf Mitwirkung der vertraglich konzernierten Gesellschaft an einem konzernweiten Hinweisgebersystem68 geht selbstredend die Berechtigung des Tochtervorstands einher, dem Mitwirkungsverlangen der Mutter nachzukommen und damit die Weitergabe von Meldeinformationen aus dem Beschäftigtenkreis zu dulden.69 Aber auch dort, wo das herrschende Unternehmen dieses Recht nicht geltend macht, sondern der konzernierten Gesellschaft lediglich anbietet, an einem konzernweiten Hinweisgebersystem mitzuwirken, kann der Tochtervorstand dieses Angebot annehmen, wenn er aufgrund einer Kosten-Nutzen-Abwägung orientiert am Konzerninteresse die Teilnahme an einem konzernweiten Hinweisgebersystem für sinnvoll erachtet.70 Dies dürfte regelmäßig der Fall sein, wenn und weil hierdurch gegenüber „Einzellösungen“ der verschiedenen Konzerngesellschaften Kosten gespart und bei rechtsträgerübergreifenden Compliance-Verstößen möglicherweise auch Vorteile bei der Informationsgewinnung und der Koordinierung der Folgemaßnahmen gehoben werden können.71 bb) Faktischer Konzern und bloße Abhängigkeit Für den faktischen Konzern und die bloße Abhängigkeitslage wurde festgestellt, dass ein Anspruch des herrschenden Unternehmens auf Mitwirkung der abhängigen Gesellschaft an einem gruppenweiten Hinweisgebersystem nicht besteht.72 Möglicherweise steht der abhängigen AG aber zumindest 66 S. für die h.L. und speziell für den Umfang der Konzern-Compliance-Pflicht Fleischer CCZ 2008, 1, 6; Mader (Fn. 5), 351 ff.; Verse ZHR 175 (2011), 401, 422 f. jeweils mwN. 67 Zur Frage der Berechtigung der Tochtergesellschaft, an einem konzernweiten Hinweisgebersystem teilzunehmen, s. noch unter b) bb). 68 S.o. unter a) aa). 69 S. allgemein für das Informationsrecht des herrschenden Unternehmens statt aller nur Mader (Fn. 5), 361 mwN. 70 S. dazu bereits oben unter a) aa) bei Fn. 50. 71 S. dazu oben unter III. bei Fn. 34. Vgl. allgemein zur Informationsweitergabe für Zwecke der Konzern-Compliance auch Verse ZHR 175 (2011), 401, 420. 72 S. dazu oben unter a) bb).
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das Recht zu, im Rahmen eines solchen Systems Informationen weiterzuleiten. Ein Recht zur Informationsweitergabe wird teilweise recht pauschal mit dem Hinweis begründet, dass es ungereimt wäre, wenn der Gesetzgeber den faktischen Konzern ausweislich der §§ 311 ff. AktG zwar hinnehme, aber gleichzeitig der für eine sachgemäße Konzernleitung zwingend erforderliche Informationsfluss von der Tochter an die Mutter unterbunden würde.73 Richtigerweise kommt man aber nicht umhin, die Berechtigung zur Weitergabe für die konkret in Rede stehende Information, und zwar in Bezug auf die Art der Information und den Verwendungszweck, an § 311 Abs. 1 AktG zu messen.74 Für die hier interessierende Informationsweitergabe zum Zwecke der Konzern-Compliance ist man sich dabei weitgehend einig, dass diese grundsätzlich auch im Interesse der Tochtergesellschaft75 und jenseits der ausgleichsfähigen Kosten für die Informationsbeschaffung, -aufbereitung und -weiterleitung nicht nachteilig i.S.d. § 311 Abs. 1 AktG ist.76 Speziell für die Teilnahme an einem konzernweiten Hinweisgebersystem kommt hinzu, dass auf der Ebene der Tochtergesellschaft typischerweise keine nennenswerten Kosten für die Informationsbeschaffung, -aufbereitung und -weiterleitung anfallen. Steht die Tochtergesellschaft vor der Wahl ein eigenes Hinweisgebersystem einzurichten oder am konzernweiten System teilzunehmen, dürfte letzteres sogar mit Kostenvorteilen für die Tochter einhergehen. Für die Weitergabe der Meldeinformation selbst gilt hingegen: Fehlt es hier schon an der Nachteiligkeit, kommt es auf die insofern problematische Quantifizierbarkeit des Nachteils77 nicht mehr an.78 Unterschiedlich wird allerdings beurteilt, inwieweit sich die Tochtergesellschaft dagegen absichern muss, dass die weitergegebene Information tatsächlich nur für die Konzernkontrolle und nicht für andere, die Tochtergesellschaft schädigende Zwecke verwendet wird.79 Bei der bloßen Mehrheitsbeteiligung des herrschenden Unternehmens setzt sich insofern zunehmend die Überzeugung durch, dass der Tochtervorstand die Information 73 Habersack/Verse AG 2003, 300, 306; s. ferner etwa Habersack in FS Möschel, 2011, 1175, 1189 f.; Verse ZHR 175 (2011), 401, 420 f.; sowie die N. bei Mader (Fn. 5), 363 in Fn. 10. 74 S. allgemein Mader (Fn. 5), 400 ff., dort auch zum Meinungsstand 367 ff.; so letztlich auch Verse ZHR 175 (2011), 401, 420 f. für die Informationsweitergabe im Rahmen der Konzern-Compliance. 75 Vgl. etwa Fleischer CCZ 2008, 1, 4. 76 S. – mit unterschiedlicher Begründung – etwa Habersack in FS Möschel, 2011, 1175, 1190 f.; Mader (Fn. 5), 382 ff., 385 f.; Verse ZHR 175 (2011), 401, 420 f. 77 S. dazu nur Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 311 Rn. 36b; Mader WM 2015, 2074, 2077 f. 78 Zur Frage der Prüfpflicht am Maßstab des § 311 Abs. 1 AktG durch den Tochtervorstand angesichts der fehlenden Steuerbarkeit der konkreten Meldehinweise kann im Wesentlichen auf die Ausführungen zum Vertragskonzern verwiesen werden (s.o. unter a) aa)). 79 S. ausführlich zur Diskussion wiederum Mader (Fn. 5), 392 ff., 407 ff.
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auch ohne gesonderte Vereinbarung weitergeben darf, weil die mitgliedschaftliche Treuepflicht das herrschende Unternehmen bereits in ausreichender Weise bindet.80 Hiernach ist das herrschende Unternehmen nämlich gehalten, die weitergegebene Information ausschließlich für legitime Zwecke wie der Konzernkontrolle81 und nicht zum Schaden der Tochtergesellschaft zu verwenden.82 Bei der Alleinbeteiligung des herrschenden Unternehmens scheidet ein Rückgriff auf die Treuepflicht indes aus. Hier bedarf es daher grundsätzlich einer gesonderten Zusage des herrschenden Unternehmens, die weitergegebenen Informationen nicht zum Schaden der Tochtergesellschaft zu verwenden.83 Für die hier in Rede stehende Mitwirkungspflicht an einem konzernweiten Hinweisgebersystem wird dieser „Verwendungsschutz“ zudem durch die Vorgaben des Datenschutzrechts84 sowie künftig auch durch das Vertraulichkeitsgebot der WBRL85 flankiert. Das präsentierte Ergebnis wird auch nicht durch die Pflicht zur Nachauskunft gem. § 131 Abs. 4 AktG in Frage gestellt.86 Denn es entspricht weithin geteilter und in der Sache überzeugender Ansicht, dass § 131 Abs. 4 AktG nicht nur im Vertragskonzern, sondern auch im faktischen Konzern keine Anwendung findet.87 Für die bloße Abhängigkeitslage gilt richtigerweise nichts anderes.88 Weitere Einschränkungen der Befugnis zur Informationsweitergabe im Rahmen eines konzernweiten Hinweisgebersystems ergeben sich auch nicht aus der Verschwiegenheitspflicht nach § 93 Abs. 1 S. 3 AktG89 oder dem insiderrechtlichen Offenlegungsverbot nach Art. 14 lit. c MAR90. Die Einzelheiten können hier nicht vertieft werden.
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Zur Anwendbarkeit der Treuepflicht s. nur Mader (Fn. 5), 416 ff. mwN. Auch die Erfüllung von Publizitätspflichten wird als legitimer Zweck angesehen [vgl. Mader (Fn. 5), 392 f., 418; deutlich einschränkend hingegen Habersack in FS Möschel, 2011, 1175, 1190 f.]. Mit Blick auf Compliance-Verstöße in der Tochtergesellschaft ist dabei insbesondere an Art. 17 MAR zu denken [s. dazu allgemein Klöhn in Klöhn MAR, 2018, Art. 17 Rn. 96 ff.; für einen Anschauungsfall LG Stuttgart WM 2019, 463]. 82 S. etwa Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 311 Rn. 36c; Verse ZHR 175 (2011), 401, 421; Mader (Fn. 5), 392 ff., 414 ff.; anders aber etwa Habersack in FS Möschel, 2011, 1175, 1190 f. 83 So etwa Mader (Fn. 5), 418 f.; vgl. auch Schmolke WM 2018, 1913, 1919 f. 84 S. dazu oben unter II.3. 85 S. dazu oben unter II.1. Das Vertraulichkeitsgebot der WBRL muss natürlich erst noch in nationales Recht umgesetzt werden, um für die beteiligten Privaten Rechtswirkungen zu entfalten. 86 S. zur Diskussion statt vieler nur Fleischer ZGR 2009, 505, 537 ff. 87 S. hier nur Decher in GK-AktG, 5. Aufl. 2020, § 131 Rn. 467 ff. mwN. 88 S. etwa Decher in GK-AktG, 5. Aufl. 2020, § 131 Rn. 471; Mader (Fn. 5), 458 f.; a.A. etwa Habersack/Verse AG 2003, 300, 307. 89 S. Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 311 Rn. 36a; Holle Legalitätskontrolle im Kapitalgesellschafts- und Konzernrecht, 2014, 140 f.; ferner Mader (Fn. 5), 420 ff. 90 Hierzu eingehend Klöhn in Klöhn MAR, 2018, Art. 10 Rn. 125 ff., 133 ff. 81
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2. Veranlassung von Folgemaßnahmen im Konzern aufgrund eines Hinweises Art. 8 Abs. 1 WBRL verlangt von den Mitgliedstaaten nicht nur, die erfassten juristischen Personen des privaten Sektors zur Einrichtung von „Kanälen und Verfahren“ für interne Meldungen zu verpflichten. Die Verfahren müssen auch „Folgemaßnahmen“ vorsehen.91 Hierunter versteht die Richtlinie „Maßnahmen zur Prüfung der Stichhaltigkeit der in der Meldung erhobenen Behauptungen und gegebenenfalls zum Vorgehen gegen den gemeldeten Verstoß“ (Art. 5 Nr. 12 WBRL). Die typischerweise durch die ComplianceAbteilung tätig werdende Muttergesellschaft wird dabei spätestens dann auf die Mitwirkung der Tochtergesellschaft angewiesen sein, wenn sie gegen einen gemeldeten Verstoß im Tätigkeitsbereich der Tochter vorgehen will. Es stellt sich daher die Frage, ob die Muttergesellschaft die Mitwirkung der Tochtergesellschaft bei der Durchführung der Folgemaßnahmen einseitig durchsetzen kann oder aber auf deren Kooperationsbereitschaft angewiesen ist. a) Vertragskonzern Im Vertragskonzern kann das herrschende Unternehmen die Mitwirkung der beherrschten Gesellschaft an der Durchführung von Folgemaßnahmen mithilfe seines Weisungsrechts durchsetzen. Da jenseits echter Leitungsaufgaben sowohl die Erteilung der Weisung als auch die Prüfung ihrer Zulässigkeit delegiert werden können, sind entsprechende Weisungen aus der Compliance-Abteilung des herrschenden Unternehmens an die ComplianceAbteilung der Tochtergesellschaft möglich.92 Werden im Zuge der Durchführung der Folgemaßnahmen Informationen, etwa die Ergebnisse weiterer Sachverhaltsaufklärung, angefordert, kann sich das herrschende Unternehmen auf das bereits für die Weiterleitung der Meldung des Hinweisgebers erörterte Informationsrecht stützen.93 b) Faktischer Konzern und bloße Abhängigkeitslage Im faktischen Konzern und bei bloßer Abhängigkeitslage fehlt es hingegen am Weisungsrecht und einem hieraus ableitbaren Informationsanspruch.94 Das herrschende Unternehmen ist daher für die Mitwirkung der 91
S.o. unter II.1. S. dazu Verse ZHR 175 (2011), 401, 418; vgl. ferner Löbbe (Fn. 53), 345 f.; ausführlich Altmeppen in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2020, § 308 Rn. 38 ff., 78 ff.; a.A. mit Blick auf die Prüfpflicht des Tochtervorstands etwa Emmerich in Emmerich/Habersack Aktienund GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 308 Rn. 20. 93 S. dazu näher oben unter 1. a) aa), dort auch zur umstrittenen Natur dieses Informationsrechts. 94 S.o. unter 1. a) bb). 92
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Tochtergesellschaft an Folgemaßnahmen i.S. der WBRL auf deren Kooperationswilligkeit angewiesen. Ihm kommt hierbei zugute, dass der Tochtervorstand aufgrund seiner eigenen Legalitäts(kontroll)pflicht ohnehin verpflichtet ist, Anhaltspunkten auf Rechtsverstöße in seinem Unternehmen nachzugehen und diese abzustellen, sollte sich der Verdacht bestätigen. Im Anwendungsbereich der WBRL (bzw. des künftigen Umsetzungsrechts) kommt hinzu, dass die zur Einrichtung eines internen Hinweisgebersystems verpflichtete Tochtergesellschaft auch aufgrund dieser Verpflichtung gehalten ist, die ordnungsgemäße Durchführung von Folgemaßnahmen sicherzustellen (vgl. Art. 8 Abs. 1 i.V.m. 9 Abs. 1 lit. d, e WBRL). Steht damit das „Ob“ der Durchführung von Folgemaßnahmen unter Mitwirkung der Tochtergesellschaft nicht ernsthaft in Zweifel, können im Hinblick auf das „Wie“ die Ansichten zwischen dem herrschenden Unternehmen und der abhängigen Gesellschaft natürlich auseinandergehen. 3. Kurzer Seitenblick auf die GmbH Für die Teilnahme einer konzernierten oder abhängigen GmbH an einem konzernweiten Hinweisgebersystem liegen die Dinge deutlich einfacher. Das herrschende Unternehmen hat hier als Gesellschafter der abhängigen GmbH nicht nur ein umfassendes Informationsrecht aus § 51a GmbHG,95 sondern kann im Falle der Mehrheitsbeteiligung den Geschäftsführern der GmbH auch Weisungen erteilen, ohne hierfür einen Beherrschungsvertrag abschließen zu müssen (§ 37 GmbHG).96 Existieren Minderheitsgesellschafter, unterwirft die Treuepflicht das herrschende Unternehmen zwar einem strikten Schädigungsverbot.97 Da für die Feststellung einer Schädigung nach h.L. auf die für den Nachteilsbegriff i.S.d. § 311 AktG entwickelten Maßstäbe zurückgegriffen werden kann,98 ergeben sich hieraus nach dem zum Aktienrecht Gesagten aber keine entscheidenden Hindernisse für die Teilnahme an einem konzernweiten Hinweisgebersystem.99 Allerdings setzt die Treuepflicht hier wie dort Schranken für die anderweitige Verwendung der im Rahmen des Hinweisgebersystems erlangten Informationen.100
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S. nur Hillmann in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 51 Rn. 4, 26 mwN. S. zum Weisungsrecht nur Stephan/Tieves in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 37 Rn. 107 ff., 117 f. 97 Hierzu ausführlich Liebscher in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2019, Anh. § 13 Rn. 401 ff. mwN. 98 S. etwa Emmerich in Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, Anh. § 318 Rn. 29; Liebscher in MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2019, Anh. § 13 Rn. 418, auch Rn. 407 ff. (dort zur „Gesamtbetrachtung“ im Rahmen der Abwägung von Vor- und Nachteilen bei Konzernsachverhalten). 99 S.o. unter 1. b) bb). 100 S. zur aktienrechtlichen Situation insofern oben unter 1. b) bb) bei Fn. 80. 96
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V. Fazit Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt: Die vielfach geübte Praxis konzernweiter Hinweisgebersysteme lässt sich nicht nur in den aktuell geltenden gesellschaftsrechtlichen Rahmen einpassen, sondern auch mit den Vorgaben der WBRL zur Einrichtung interner Hinweisgebersysteme in Einklang bringen. Jetzt kommt es darauf an, dass der deutsche Umsetzungsgesetzgeber sich mit eigenen Vorgaben zur Ausgestaltung verpflichtender interner Hinweisgebersysteme für den Privatsektor zurückhält.101 Mit Blick auf das Datenschutzrecht wäre es hingegen zu begrüßen, wenn er die Zulässigkeit unternehmensübergreifender Verarbeitung von Beschäftigtendaten für Zwecke der (Konzern-)Compliance in aller Deutlichkeit klarstellen und insofern eine „spezifischere Vorschrift“ i.S.d. Art. 88 DS-GVO erlassen würde.
neue rechte Seite! 101
S. dazu bereits Schmolke NZG 2020, 5, 11.
Zur Grundfreiheitenbindung des Unionsgesetzgebers
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Zur Grundfreiheitenbindung des Unionsgesetzgebers Wolfgang Schön
Zur Grundfreiheitenbindung des Unionsgesetzgebers im Europäischen Gesellschaftsrecht WOLFGANG SCHÖN
I. Einführung Die Entwicklung des Europäischen Gesellschaftsrechts schreitet im Wechselspiel von Gesetzgebung und Rechtsprechung voran1. Seit dem Inkrafttreten des Publizitäts-RL vor mehr als fünfzig Jahren haben die Europäischen Institutionen auf der Grundlage von Art. 50 Abs. 2 lit.g AEUV2 die mitgliedstaatlichen Gesellschaftsrechte der Kapitalgesellschaften einander in vielen, aber nicht in allen Bereichen angeglichen und damit den europäischen Unternehmen Stück für Stück ein level playing field bereitet. Mit der Konsolidierung des gesellschaftsrechtlichen acquis communautaire in der Gesellschaftsrechts-RL aus dem Jahre 20173 und deren Ergänzung durch die zum Jahresende 2019 verabschiedete Mobilitäts-RL4 wurden vorläufige Höhepunkte erreicht. Hinzu tritt die Einführung genuin europäischer Gesellschaftsformen wie der Europäischen Aktiengesellschaft oder der Europäischen Wirtschaftliche Interessenvereinigung, für deren Statuten die Europäischen Institutionen seit den 1980er Jahren die Abrundungskompetenz des heutigen Art. 352 AEUV in Anspruch genommen haben5. Parallel dazu hat der Europäische Gerichtshof in wichtigen Grundsatzurteilen die in Art. 49 Abs. 1, 54 Abs. 1 AEUV diesen Gesellschaften eingeräumte Niederlassungsfreiheit, aber auch die Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 Abs. 1 AEUV aktiviert und damit ein hohes Maß grenzüberschreitender Organisationsfreiheit garantiert. Leitentscheidungen wie Cen1 Ausführliche Darstellung bei Habersack/Verse Europäisches Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 2019, § 4; Lutter/Bayer/J.Schmidt Europäisches Unternehmensrecht, 6. Aufl., 2018, § 5. 2 Früher: Art. 54 Abs. 3 lit.g EWG-Vertrag; Art. 44 Abs. 2 lit.g EG-Vertrag. 3 Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (kodifizierter Text) ABlEU L 169/46 v. 30.6.2017. 4 Richtlinie (EU) 2019/2021 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.11. 2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen ABlEU L 321/1 v. 12.12.2019. 5 Näher Lutter/Bayer/J.Schmidt a.a.O. (Fn. 1), §§ 44 und 45.
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tros6, Überseering7, Inspire Art8, Cartesio9, Vale10 und Polbud11 haben enorme Aufmerksamkeit erzielt und weit über die konkreten Einzelfälle hinaus in den bisher nicht harmonisierten Bereichen den Gesetzgebungswettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten befeuert. Europäisches Gesellschaftsrecht – das ist heute ein machtvolles Konglomerat aus Europäischem Primärrecht und Europäischem Sekundärrecht. Das Wachstum sowohl der judikativen als auch der legislativen Vorgaben zum europäischen Gesellschaftsrecht zwingt immer häufiger dazu, das Verhältnis zwischen diesen beiden Rechtsquellen und den dahinterstehenden Gewalten zu klären. Sowohl institutionell als auch materiell drängt sich dabei die Frage in den Vordergrund, in welchem Umfang der Unionsgesetzgeber sowohl bei der Angleichung von mitgliedstaatlichem Recht als auch bei der Einführung und Ausgestaltung europäischer Gesellschaftsformen an die Grundfreiheiten in deren Ausprägung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gebunden ist. Beispielgebend lassen sich die folgenden Streitfragen benennen: – In den Urteilen Centros12 und Inspire Art13 aus den Jahren 1999 und 2003 entschied der Gerichtshof, dass ein Mitgliedstaat die Anerkennung der inländischen Zweigniederlassung einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates gegründeten geschlossenen Kapitalgesellschaft nicht davon abhängig machen darf, dass diese das für inländische Kapitalgesellschaften vorgesehene Mindestkapital aufgebracht hat – und zwar auch dann nicht, wenn die ausländische Kapitalgesellschaft in ihrem Gründungsstaat überhaupt keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Der Gerichtshof hielt diese auf den Schutz der Gesellschaftsgläubiger abzielende Maßnahme weder für geeignet noch für erforderlich. Für Aktiengesellschaften aus allen Mitgliedstaaten schreibt das europäische Richtlinienrecht jedoch seit dem Jahre 197614 ein europaweit harmonisiertes Mindestkapital vor. Auch für die supranationale Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft findet sich in der SE-VO eine vergleichbare Vorgabe15. Lässt sich daraus schließen, dass der europäischen Legislative mehr erlaubt ist als den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern16?
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EuGH v. 9.3.1999 Rs. C-212/97 (Centros). EuGH v. 5.11.2002 Rs. C-208/00 (Überseering). 8 EuGH v. 30.9.2003 Rs. C-167/01 (Inspire Art). 9 EuGH v. 16.12.2008 Rs. C-210/06 (Cartesio). 10 EuGH v. 12.7.2012 Rs. C-378/10 (VALE). 11 EuGH v. 25.10.2017 Rs. C-106/16 (Polbud). 12 EuGH v. 9.3.1999 a.a.O. (Fn. 6), Rz. 14 ff. 13 EuGH v. 30.9.2003 a.a.O. (Fn .8), Rz. 95 ff. 14 Art. 45 Abs. 1 Gesellschaftsrechts-RL a.a.O. (Fn. 3); näher Habersack/Verse a.a.O. (Fn. 1), § 6 Rz. 18 ff.; Lutter/Bayer/J.Schmidt a.a.O. (Fn. 1), Rz. 19.35 ff., 19.42 ff. 15 Art. 4 Abs. 2 SE-VO. 16 Verneinend Schall Kapitalgesellschaftsrechtlicher Gläubigerschutz, 2009, 66 ff. 7
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– Auf dieser Linie hat der Gerichtshof in dem Urteil Überseering17 aus dem Jahre 2002 festgestellt, dass die Rechtsfähigkeit einer EU-ausländischen Gesellschaft von einem Mitgliedstaat nicht deshalb in Frage gestellt werden kann, weil sie ihren Verwaltungssitz (und auch ihre übrigen wirtschaftlichen Aktivitäten) nicht im Gründungsstaat unterhält. Im Jahre 2017 hat der Gerichtshof in dem Urteil Polbud die weitere Konsequenz gezogen, dass eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft nach Art. 49 Abs. 1 AEUV auch dann berechtigt ist, ihren Satzungssitz in einen anderen Mitgliedstaat der Union zu verlegen und damit zugleich eine Rechtsform des Zuzugsstaats anzunehmen, wenn sie weder ihren Verwaltungssitz noch andere substanzielle wirtschaftlichen Aktivitäten in den Zuzugsstaat verlegt18. Diese Linie des Gerichtshofs ist vielfach kritisiert und der europäische Gesetzgeber zu einer Korrektur aufgerufen worden. Bereits im Gefolge des Urteils Centros war vorgeschlagen worden, mit Hilfe einer europäischen Richtlinie oder Verordnung die Anerkennung von pseudo-foreign corporations im Binnenmarkt an den Verwaltungssitz19 oder näher bestimmte Auflagen zu knüpfen20. Für die Europäische Aktiengesellschaft wurde eine solche Bindung des Satzungssitzes an den Verwaltungssitz in der SE-VO festgelegt21. Im Zuge der aktuellen Gesetzgebung zur Mobilitäts-RL wurde explizit gefordert, für sämtliche Kapitalgesellschaften den Zugang zum grenzüberschreitenden Formwechsel (Umwandlung) entgegen der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Polbud an die Verlegung des Verwaltungssitzes oder jedenfalls wesentlicher wirtschaftlicher Aktivitäten in den Zuzugsstaat zu knüpfen22. Die Verfechter dieses Vorschlags stellten sich auf den Standpunkt, dass der Unionsgesetzgeber einer grenzüberschreitenden Reorganisation von Unternehmen Schranken setzen dürfe, die ein einzelner Mitgliedstaat nicht wirksam errichten könne23. Auch wenn die MobilitätsRL diesen Vorschlägen nicht gefolgt ist (und stattdessen einen ebenfalls problematischen substanziellen Missbrauchsvorbehalt eingefügt hat24), lohnt es sich, der Frage nach der Zulässigkeit einer solchen Einschränkung nachzugehen. 17
EuGH v. 6.11.2002 a.a.O. (Fn. 7), Rz. 56 ff. EuGH v. 25.10.2017 a.a.O. (Fn. 11), Rz. 32 ff.; zum Diskussion im Schrifttum siehe die Nachweise bei Bayer/Lutter/J.Schmidt a.a.O. (Fn. 1), Rz. 7.52 ff.; Habersack/Verse a.a.O. (Fn. 1), § 3 Rz. 41 f. 19 Kindler NZG 2019, 1 (5) für eine Ergänzung des Gesellschaftskollisionsrechts durch eine entsprechende Rom-Verordnung. 20 Kersting 28 Brooklyn Journal of International Law (2002) 1 (64 ff.). 21 Art. 7 und 64 SE-VO; ebenso de lege ferenda Kindler ZHR 179 (2015) 330 (377 f., 383) für die Societas Unius Personae. 22 Bormann/Stelmaszczyk ZIP 2019, 353 (360 f.); Kindler a.a.O. (Fn. 19), 6. Mörsdorf EuZW 2019, 141 (147 f.); Stelmaszczyk EuZW 2017, 890 (894); GmbHR 2020, 61 (72 ff.); Wicke DStR 2018, 2642 ff., 2703 (2704 f.); a.A. Behme ZHR 182 (2018) 32 (61); Bayer/J.Schmidt ZIP 2017, 2225 (2233). 23 Zur Reichweite des gesetzgeberischen Ermessens im europäischen Gesellschaftsrecht allgemein Teichmann in FS Scheuing, 2011, 735 ff.; speziell zur Mobilitäts-RL ders. NZG 2019, 241 (247 f.); zum Gestaltungsspielraum des Richtliniengebers im Steuerrecht eingehend Kofler in FS Rödler, 2010, 433 ff.; Wacker in FS Bundesfinanzhof, 2018, 781 ff. 24 Dazu demnächst Schön in FS Krieger, 2020. 18
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Die gewählten Beispiele sprechen unterschiedliche Zielstellungen europäischer Gesetzgebung an. Bei der Diskussion über einen europaweiten Kapitalschutz geht es um die inhaltliche Angleichung der europäischen Gesellschaftsrechte, namentlich durch eine materielle Abwägung der involvierten Interessen und die Wahl des passenden Schutzinstrumentariums. Bei der Diskussion über die gesetzlichen Voraussetzungen eines grenzüberschreitenden Formwechsels geht es demgegenüber um eine Verteidigung der nationalen Regelungsunterschiede gegenüber der Niederlassungsfreiheit der Gesellschaften. Es wird sich zeigen, dass diese Differenz bei den Überlegungen zur Vereinbarkeit der jeweiligen Gesetzgebung mit den Regeln des Binnenmarkts eine gewichtige Rolle spielt: Wenn der europäische Gesetzgeber einen einheitlichen materiellen Rechtsrahmen für alle Wirtschaftssubjekte in der Europäischen Union schafft, kommt ihm ein hoher Gestaltungsspielraum zu. Wenn der europäische Gesetzgeber demgegenüber nationale Regelungsunterschiede zementiert und grenzüberschreitende Wirtschaftsvorgänge erschwert, trifft ihn die strenge Kontrolle durch den Gerichtshof am Maßstab der Grundfreiheiten.
II. Institutioneller Rahmen Der Gerichtshof entscheidet in ständiger Rechtsprechung, dass die Grundfreiheiten des AEUV nicht nur für nationale Maßnahmen, sondern auch für Maßnahmen des Unionsgesetzgebers Geltung beanspruchen25. Wie lässt sich dies begründen und was bedeutet es für den Gestaltungsspielraum der europäischen Legislative?26 Eine erste Annäherung an diese Problematik ist zwei Grundsatzperspektiven gewidmet, die über das Gesellschaftsrecht hinaus die institutionellen Grundlagen des Unionsrechts berühren: dem Verständnis der europäischen Normenhierarchie und dem Verhältnis zwischen den europäischen Gewalten.
25 EuGH v. 20.4.1978 Verb. Rs.80 und 81/77 (Ramel) Rz. 35/36 (zum Verbot der Zölle und Abgaben gleicher Wirkung); EuGH v. 17.5.1984 Rs.15/83 (Denkavit Nederland) Leitsatz 1 und Rz. 15 f. (zum Verbot mengenmäßiger Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung); EuGH v. 9.8.1994 Rs. C-51/93 (Meyhui) Rz .11 (Produktbezogene Richtlinie und freier Warenverkehr); EuGH v. 25.6.1997 Rs. C-114/96 (Kieffer und Thill) Rz. 27 (Außenwirtschaftliche Verordnung und freier Warenverkehr); EuGH v. 13.9.2001 Rs. C-169/99 (Schwarzkopf) Rz. 37 (Produktbezogene Richtlinie und freier Warenverkehr). 26 Monographisch: Scheffer Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages als Ermessensgrenze des Gemeinschaftsgesetzgebers, 1997; Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1994; Zazoff Der Unionsgesetzgeber als Adressat der Grundfreiheiten, 2011; einen systematischen Überblick zur älteren Literatur bietet Mortelmans 39 Common Market Law Review (2002), 1303 ff.
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1. Normenhierarchie im Europäischen Recht Die erste Perspektive betrifft die Normenhierarchie im Europäischen Recht27. Hier gilt der Grundsatz, dass das europäische Primärrecht (d.h. die Europäischen Verträge, aber auch bestimmte allgemeine Grundsätze des Unionsrechts28) dem europäischen Sekundärrecht (d.h. namentlich den Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen nach Art. 288 Abs. 1 AEUV) „vorgeht“29. Es wäre jedoch ein Kurzschluss anzunehmen, dass der bloße Umstand, dass Grundfreiheiten wie die Niederlassungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit im AEUV verankert sind, den gesetzgebenden Instanzen der Europäischen Union bereits in vollem Umfang die Wahrung dieser Grundfreiheiten auferlegt30. Entscheidend für die Bindung an konkrete Vorschriften der Europäischen Verträge muss sein, wen die jeweilige Vorschrift als Normadressat festlegt. Im Falle der Grundfreiheiten sind dies nach Wortlaut und Systematik des AEUV in erster Linie die Mitgliedstaaten. Ihnen untersagt der AEUV nicht gerechtfertigte Diskriminierungen und Beschränkungen grenzüberschreitender Wirtschaftsvorgänge. Ob und in welchem Umfang auch die Europäischen Institutionen an die Marktfreiheiten gebunden sind, ist damit nicht schon eindeutig festgelegt31. Für den europäischen Gesetzgeber beziehen die Grundfreiheiten ihre politikleitende Kraft aus den Zielbestimmungen der europäischen Verträge32. Sowohl Art. 3 Abs. 3 EUV als auch Art. 26 AEUV legen das Binnenmarktprinzip als Leitlinie des gesamten Handelns der Europäischen Union und ihrer Organe fest. Sämtliche Institutionen der Union sind nach Art. 26 Abs. 1 AEUV dazu aufgerufen, zur Verwirklichung dieses Binnenmarkts beizutragen. Das gilt für Kommission, Rat und Parlament namentlich dann, wenn sie Sekundärrechtsakte initiieren und verabschieden. Das Binnenmarktprinzip bildet seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1957 das zentrale Leitprinzip europäischer Gesetzge27 Dazu systematisch Nettesheim EuR 2006, 737 ff.; Rosenfeldt/Würdemann EuR 2016, 453 ff. 28 Siehe nunmehr exemplarisch EuGH v. 26.2.2019 Verb.Rs. C-115/16 u.a. (T Danmark) Rz. 95 ff. zum „allgemeinen Grundsatz, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf das Unionsrecht berufen kann“, der Vorrang vor speziellen Richtlinienregeln genießen soll. 29 Becker in: Becker/Hatje/Schwarze/Schoo (Hrsg.), Schwarze: EU Kommentar, 4. Aufl., 2019, § 34 AEUV Rz. 101. 30 Rosenfeldt/Würdemann a.a.O. (Fn. 27), 453. 31 Rosenfeldt/Würdemann a.a.O. (Fn. 27), 456 ff. 32 Forsthoff in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, Art. 45 AEUV (Stand 2010) Rz. 131; Müller-Graff in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl., 2018, Art. 49 AEUV Rz. 37; ders. in von der Groeben/Schwarze/Hatje Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl., 2015, Art. 34 AEUV Rz. 295; Leible/Streinz in Grabitz/Hilf/ Nettesheim (Hrsg.) Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, Art. 34 AEUV Rz. 36 (Stand 2010); Rosenfeldt/Würdemann a.a.O. (Fn. 27), 458 ff.
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bung. Es ist allerdings nicht das einzige Gemeinwohlziel der Europäischen Union und mag daher im Einzelfall auch hinter anderen europäischen Grundwerten – etwa im Bereich der Umweltpolitik, des sozialen Zusammenhalts oder des Verbraucherschutzes - zurückstehen.33 Dem Binnenmarkt kommt daher im Gesamtgefüge der Verträge eine konturierende und begrenzende Rolle für das Handeln der Union zu. Da nach Art. 26 Abs. 2 AEUV der Binnenmarkt durch den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gekennzeichnet ist, muss der europäische Gesetzgeber konkret auf diese Marktfreiheiten Rücksicht nehmen34. Das bedeutet zunächst, dass Normen des Sekundärrechts im Sinne der Zielsetzungen des Binnenmarkts35 und anderer Grundsätze des Unionsrechts36 ausgelegt werden müssen. Gelingt dies nicht, so kommt die Feststellung der Unvereinbarkeit einer Norm des Sekundärrechts mit den Verträgen in Betracht37. Eine Bindung der Europäischen Institutionen lässt sich auf der Grundlage von Art. 26 AEUV somit bejahen, doch lässt sich daraus nicht ohne weiteres eine Aussage dazu ableiten, ob dem Handeln der europäischen Institutionen ein größerer Spielraum als den Mitgliedstaaten zukommt. 2. Zum Verhältnis von Legislative und Judikative a) Gewaltenteilung im Binnenmarkt Die Frage nach der Reichweite der Bindung der Europäischen Gesetzgebung an die Grundfreiheiten berührt darüber hinaus die Balance zwischen Gerichtshof und Gesetzgeber in der Union. Denn je stärker die Bindung des 33 Heber Enhanced Cooperation and European Taxation, Habilitationsschrift 2020, WU Wien, Chapter V, Part I, D, 2. 34 Wacker a.a.O. (Fn. 23), 791 ff.; Bemerkenswert erscheint, wie Mortelmans (a.a.O. (Fn. 26)1314) festhält, dass die im deutschen Schrifttum selbstverständlich erscheinende Parallele zwischen den „Grundfreiheiten“ und den „Grundrechten“ als Fundamentalwerte von Verfassungsrang in der Perspektive (und Terminologie) anderer Mitgliedstaaten nicht aufscheint, wo lediglich von Regeln über free movement u.ä. die Rede ist. 35 Beispielhaft: EuGH v. 25.11.1986 Verb.Rs. 201/85 und 202/85 (Klensch) Rz. 21 (Auslegung einer Verordnung in Übereinstimmung mit dem Verbot der Diskriminierung von landwirtschaftlichen Erzeugern aus verschiedenen Mitgliedstaaten); EuGH v. 2.2.1994 Rs. 315/92 (Clinique) Rz. 12; EuGH v. 13.9.2001 a.a.O. (Fn. 25), Rz. 36 (Auslegung einer Richtlinie zur Verpackung kosmetischer Mittel mit der Warenverkehrsfreiheit). 36 EuGH v. 21.3.1991 Rs. C-314/89 (Rauh) Rz. 17; EuGH v. 27.1.1994 Rs. C-98/91 (Herbrink) Rz. 9 (beide zur Auslegung von Verordnungen in Übereinstimmung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes). 37 EuGH v. 13.12.1983 Rs. 218/82 (Kommission ./. Rat) Rz. 15 (Vereinbarkeit eines Wiederausfuhrverbots von Waren aus Drittstaaten mit der Warenverkehrsfreiheit); EuGH v. 27.1.1994 a.a.O. (Fn. 36), Rz. 17; EuGH v. 8.4.2014 Verb.Rs. C-293/12 und C-594/12 (Digital Rights) Rz. 69 (Vereinbarkeit Daten-RL mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz).
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Sekundärrechts an das Primärrecht betont wird, desto größer erscheint auch der Einfluss des Gerichtshofs auf das Gesamtbild der Europäischen Rechtsordnung. Primärrechtlicher Ausgangspunkt ist die im AEUV mehrfach betonte Aufgabe des Gerichtshofs, im Rahmen von Nichtigkeitsklagen nach Art. 263 f. AEUV oder Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 1 lit.b AEUV über die Gültigkeit der Rechtsakte der Europäischen Union zu entscheiden38. Der europäische Gesetzgeber agiert nicht im kontrollfreien Raum und muss sich der Interpretation der formellen und materiellen Vertragsvorschriften durch den Gerichtshof beugen. Hier zeigt sich auf den ersten Blick das wohlbekannte Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung39, das namentlich in den Vereinigten Staaten40 und in der Bundesrepublik Deutschland41 intensiv diskutiert wird42. Auch aus Anlass der Überprüfung von europäischem Sekundärrecht am Maßstab der Grundfreiheiten wird daher die Frage gestellt, wie viel judicial self-restraint oder wie viel political activism der Europäische Gerichtshof an den Tag legt (bzw. legen sollte)43. Schaut man näher hin, so verfügt die Arbeitsteilung zwischen europäischer Gerichtsbarkeit und europäischer Gesetzgebung über eine besondere inhaltliche Note. Das institutionelle Gefüge bildet das „Produkt des Integrationswillens weiterhin souveräner Staaten“44 und reicht damit über den klassischen verfassungsrechtlichen Gewaltenkonflikt einer separation of powers hinaus. In den europäischen Verträgen ist beiden Instanzen – sowohl dem Europäischen Gerichtshof als auch dem europäischen Gesetzgeber – aufgegeben, im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen an der Begründung und Vollendung des Binnenmarkts mitzuwirken. Um eine vielzitiertes Begriffspaar zu bemühen: Aus der Sicht des Binnenmarkts leistet der Gesetzgeber „positive Integration“, der Gerichtshof leistet „negative Integration“. 38 Wacker a.a.O. (Fn. 23), 791 ff.; Beispielhaft für ein erfolgreiches Vorabentscheidungsersuchen: EuGH v. 1.3.2011 Rs. C-236/09 (Test-Achats) Rz. 15 – 33 zum Verstoß der Richtlinie von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 gegen das Gebot der Gleichbehandlung der Geschlechter im Versicherungsrecht; zu den rechtlichen Folgen der Derogation (Gestaltung ex tunc?) näher Nettesheim a.a.O. (Fn. 27), 748 ff. 39 Hey StuW 2017, 248 (253 f.); Nettesheim a.a.O. (Fn. 27), S. 753 ff.; Teichmann a.a.O. (Fn. 23), 755 f. 40 Exemplarisch Waldron The Core of the Case Against Judicial Review, 115 Yale L.J. (2006), 1346 ff. 41 Siehe die Beiträge in Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger Das entgrenzte Gericht, 2011. 42 Zum politisch-theoretischen Hintergrund für die europäische Gerichtsbarkeit eingehend Haltern Europarecht: Dogmatik im Kontext, Bd.II, 3. Aufl., 2017, Rz. 55 ff. 43 Syrpis 52 Common Market Law Review (2015) 461 ff. 44 Oppermann/Classen/Nettesheim Europarecht, 8. Aufl., 2018, § 5 Rz. 19.
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Es geht also bei der Arbeitsteilung zwischen Gerichtshof und europäischem Gesetzgeber im Sachbereich der Grundfreiheiten nicht (wie im Fall der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder des U.S. Supreme Court zu den jeweiligen Grundrechten) in erster Linie darum, in welchem Umfang ein Verfassungsgericht vor dem Hintergrund eines statischen Verfassungskorpus die Rechte des Einzelnen in ein Verhältnis zum demokratischen Mehrheitswillen setzen kann. Es geht vielmehr darum, dass sowohl der Gerichtshof als auch die gesetzgebenden europäischen Institutionen jeweils dazu aufgerufen sind, in der Dynamik des Binnenmarktprogramms eine angemessene Balance zwischen den Marktfreiheiten der europäischen Bürger und Unternehmen und den staatlich verfolgten Gemeinwohlinteressen zu finden. Der Gerichtshof erfüllt diese Aufgabe dadurch, dass er bei der Prüfung von mitgliedstaatlichem Recht am Maßstab der Grundfreiheiten die von den Mitgliedstaaten verfolgten Gemeinwohlinteressen auf ihre Validität und die gewählten mitgliedstaatlichen Maßnahmen auf ihre Angemessenheit untersucht. Der europäische Gesetzgeber erfüllt diese Aufgabe dadurch, dass er im Wechselspiel zwischen Kommission, Rat und Parlament versucht, sämtliche maßgeblichen Interessen auszutarieren und in einem konsensualen legislativen Ergebnis abzubilden45. b) Zur Definitionshoheit des europäischen Gesetzgebers Bei der Thematik des judicial self-restraint des Gerichtshofs im Rahmen der Prüfung von Unionsrecht am Maßstab der Grundfreiheiten geht es daher in erster Linie um die Frage, wem bei der Kalibrierung der privaten Freiheitsinteressen einerseits und der öffentlichen Gemeinwohl- und privaten Drittinteressen andererseits im Zuge der Vollendung des Binnenmarkts die Definitionshoheit zukommt. Und hier wird man dem europäischen Gesetzgeber im Grundsatz den Vorrang einräumen müssen. In einem dynamisch sich entwickelnden Binnenmarkt besitzt die Kontrolle des mitgliedstaatlichen Rechts durch den Gerichtshof immer nur einen vorläufigen Charakter: Wenn und soweit der europäische Gesetzgeber sich eines Sachbereichs noch nicht angenommen hat, bleibt es bei der Gesetzgebungshoheit der Mitgliedstaaten, die ihrerseits durch den Gerichtshof auf die Wahrung der Binnenmarktregeln verpflichtet werden. Wenn aber der europäische Gesetzgeber die Thematik an sich gezogen hat, ist es in erster Linie Aufgabe von Kommission, Rat und Parlament, private und öf45 Dieses dynamische Modell beschreibt EuGH v. 13.5.1997 Rs. C-233/94 (Deutschland./.Parlament und Rat) treffend anhand der Richtliniengesetzgebung zur Einlagensicherung (Rz. 17 S. 1 und 2): „Die Mitgliedstaaten können folglich unter bestimmten Umständen Maßnahmen erlassen oder beibehalten, die den freien Verkehr behindern. Gerade solche Hindernisse darf die Gemeinschaft nach Artikel 57 Absatz 2 des Vertrages durch die Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften beseitigen“.
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fentliche Zwecke gegeneinander abzuwägen und einer Einigung zuzuführen46. Das bedeutet nicht, dass ein Verstoß dieser Gesetzgebung gegen die Prinzipien des Binnenmarktes gar nicht denkbar wäre oder dass dem Gerichtshof insoweit jede Prüfungskompetenz fehlen würde47. Aber der Gerichtshof muss den europäischen Gesetzgeber als das anerkennen, was er ist: als die Instanz, in der die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat auf Initiative der Kommission und in Einvernehmen mit dem Europäischen Parlament einen unionsweiten politischen Konsens und damit auch europäisch maßgebliche Wertungen formulieren48. Zu einer bankrechtlichen Koordinierungsmaßnahme im Rahmen der Niederlassungsfreiheit hat der Gerichtshof dies knapp, aber treffend formuliert: „Da es sich um Koordinierungsmaßnahmen handelt, trägt die Gemeinschaft dem von den verschiedenen Mitgliedstaaten verfolgten Allgemeininteresse Rechnung und legt zur Wahrung dieses Interesses ein Schutzniveau fest, das in der Gemeinschaft akzeptabel erscheint.“49
Es ist nur konsequent, wenn der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung daraus die weitere Konsequenz zieht, dass in einem voll harmonisierten Sachbereich über die Vereinbarkeit der mitgliedstaatlichen Gesetze und Maßnahmen nicht mit einem Blick auf die Grundfreiheiten, sondern nur mit einem Blick auf das maßgebliche Sekundärrecht entschieden wird50. Denn 46 Everling in FS Knobbe-Keuk, 1995, 607 (623 f.); Nettesheim a.a.O. (Fn. 27), 757 f.; Rosenfeldt/Würdemann a.a.O. (Fn. 27), 460 ff.; Mörsdorf a.a.O. (Fn. 22), 148; Wacker a.a.O. (Fn. 23), 791 ff. 47 In diese Richtung aber Kingreen in Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl., 2016, Art. 34–36 AEUV Rz. 109 f.; Zazoff a.a.O. (Fn. 26); zurückhaltend auch Korte in Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl., 2016, Art. 49 AEUV Rz. 42. 48 Es ist bemerkenswert, dass mit Rücksicht auf die im Binnenmarktprinzip angelegte Abwägung zwischen privater Wirtschaftsfreiheit und öffentlichen Interessen auch eine zu weit gehende Liberalisierung durch europäisches Recht gerügt werden kann. In der Rechtssache Luxemburg ./. Parlament und Rat (Urteil v. 7.11.2000 Rs. C-168/98) hatte das Großherzogtum einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit darin erblickt, dass die RL 98/5/EG in der EU ansässigen Rechtsanwälten einen weitgehenden Anspruch auf Zulassung in einem anderen Mitgliedstaat nach der RL 98/5/EG einräumte. Der Gerichtshof betont das weite Ermessen des Gemeinschaftsgesetzgebers in der Abwägung privater und öffentlicher Belange (a.a.O., Rz. 43). 49 EuGH v. 13.5.1997 a.a.O. (Fn. 45), Rz. 17, 3; im konkreten Fall zu Recht kritisch Roth 35 Common Market Law Review (1998) 459 (474), der darauf hinweist, dass das von der Bundesrepublik Deutschland beanstandete „Exportverbot“ für ein höheres Schutzniveau in andere Mitgliedstaaten eben kein Gemeinschaftsanliegen definiert. 50 EuGH v. 12.10.1993 Rs. C-37/92 (Vanacker und Lesage) Rz. 9; EuGH v. 13.12.2001 Rs. C-324/99 (DaimlerChrysler AG) Rz. 32 und 42 f.; EuGH v. 11.12.2003 Rs. C-322/01 (DocMorris) Rz. 45–52; EuGH v. 29.4.2004 Rs. C-287/99 (Kommission ./. Deutschland) Rz. 50; EuGH v. 16.12.2008 Rs. C-205/07 (Gysbrechts und Santurel) Rz. 33; EuGH v. 16.7.2015 Rs. C-95/14 (UNIC) Rz. 33 f.; EuGH v. 12.11.2015 Rs. C-198/14 (Visnapuu) Rz. 40–48; EuGH v. 8.3.2017 Rs. C-14/16 (Euro Park) Rz. 19; EuGH v. 7.9.2017 Rs. C-6/
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dieses Recht konkretisiert nunmehr die aus der Sicht der Europäischen Union maßgeblichen Wertungen und Allgemeininteressen51. Es lässt sich vielleicht sogar sagen, dass die Urteile des Gerichtshofs im Vorfeld der europäischen Gesetzgebung eine „gesetzesvertretende“ Wirkung besitzen52. Bei diesem Verständnis wird übrigens auch deutlich, dass die vielfach geäußerte Kritik an vorgeblichen politischen Übergriffen des Gerichtshofs in seiner Judikatur zu den Marktfreiheiten letztlich nur das (bisherige) Konsensdefizit der Mitgliedstaaten und der Europäischen Institutionen im Fortgang des Binnenmarktes widerspiegelt53. In diesem Sinne hat der Gerichtshof beispielhaft in Inspire Art für solche gesellschaftsrechtlichen Anforderungen an Auslandsgesellschaften, die ihren Ursprung in der Zweigniederlassungs-RL der EU haben, einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit erst gar nicht geprüft54. c) Gerichtliche Kontrolle bei fehlendem materiellen Konsens Der Respekt vor der politischen Willensbildung des europäischen Gesetzgebers ist allerdings dann nicht geboten, wenn es ihm nicht gelingt, im europäischen Sekundärrecht gemeinsame Werte zu formulieren, Interessen abzuwägen, einheitliche Instrumente bereitzustellen und ein angemessenes Schutzniveau zu vereinbaren. Wenn und soweit der europäische Gesetzgeber den Mitgliedstaaten Spielräume belässt oder diese gar zu garantieren sucht, ist es Aufgabe des Gerichtshofs, solche fortbestehenden Regelungsdifferenzen auf ihre Vereinbarkeit mit den Regeln des Binnenmarkts zu überprüfen55. Dies muss a fortiori auch dann gelten, wenn der europäische Gesetzgeber in Richtlinien oder Verordnungen gezielt Regelungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zementiert oder grenzüberschreitende 16 (Eqiom und Enka) Rz. 15); EuGH v. 20.12.2017 Verb.Rs. C-504/16 und C-613/16 (Deister Holding und Juhler Holding) Rz. 45. 51 Schroeder in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl., 2018, Art. 34 AEUV Rz. 14. 52 W.-H. Roth ZHR 179 (2015) 668 (675). 53 Treffend Haltern a.a.O. (Fn. 42), Rz. 66 ff. 54 EuGH v. 30.9.2003 a.a.O. (Fn. 8), Rz. 58; dazu Teichmann a.a.O. (Fn. 23), 738 f.; entgegen Teichmann (744) besitzt der Umstand, dass das mitgliedstaatliche Recht in vollharmonisierten Fällen nur am Sekundärrecht zu prüfen ist, keinen unmittelbaren Konnex zu der Frage, ob und wie weit das Sekundärrecht selbst an den Grundfreiheiten gemessen werden kann. 55 EuGH v. 18.9.2003 Rs. C-168/01 (Bosal) Rz. 25 f.; EuGH v. 11.12.2003 a.a.O. (Fn. 50), Rz. 63–65, 102; EuGH v. 29.4.2004 a.a.O. (Fn. 50), Rz. 52, 63; EuGH v. 23.2.2006 Rs. C-471/04 (Keller Holding) Rz. 45; EuGH v. 16.12.2008 a.a.O. (Fn. 50), Rz. 34 f.; EuGH v. 8.3.2017 a.a.O. (Fn. 50), Rz. 26; EuGH v. 7.9.2017 a.a.O. (Fn. 50) Rz. 17 f.; EuGH v. 20.12.2017 a.a.O. (Fn. 50) Rz. 45 f.; offenlassend BFH v. 19.7.2017 I R 87/15 Rz. 17; differenzierend zum Inhalt solcher „Spielräume“, deren Bandbreite von der fehlenden Betroffenheit eines Sachverhalts durch die Richtlinie („nonrule“) bis zu expliziten Gestaltungsaufträgen an die Mitgliedstaaten reichen, Kofler a.a.O. (Fn. 23), 437 ff. und Wacker a.a.O. (Fn .23), 784 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung.
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Wirtschaftsvorgänge erschwert. Denn in diesen Fällen fehlt es an dem im Binnenmarkt erwünschten Angleichungseffekt und damit auch an dem „Mehrwert“ einer europäischen Gesetzgebung, die europaweit einen inhaltlichen Konsens repräsentiert und damit für sich in Anspruch nehmen kann, sowohl materiell die involvierten Interessen abschließend ins Gleichgewicht zu bringen als auch formell ein unionsweites level playing field für die Wirtschaftssubjekte zu etablieren. Ein in Gesetzesform gegossener „Konsens der Uneinigkeit“ verdient nicht den institutionellen Schutz, der einer echten inhaltlichen Lösung zukommt. Eine schwer zu beantwortende Frage ist darauf gerichtet, ob der Gerichtshof bei der Kontrolle von Gesetzgebungsakten der Europäischen Union Rücksicht darauf nehmen soll, dass das jeweilige europäische Sekundärrecht sich häufig nur als eine vorläufige „Etappe“56 auf dem Weg zu einer abschließenden Lösung versteht oder einen politisch erforderlichen „Kompromiss“ aus wechselseitigen Zugeständnissen formuliert, der nur in einer „Gesamtbetrachtung“57 aus den jeweiligen binnenmarktförderlichen und binnenmarktfeindlichen Elementen gewürdigt werden könne. Verständnis für dieses Anliegen ist der Rechtsprechung nicht fremd, aber im Kern zurückzuweisen. Bereits aus praktischer Sicht zeigt sich, dass viele „vorläufige“ und „kompromisshafte“ Regelungsregimes in der Europäischen Union einen sehr langfristigen Charakter annehmen können, so dass eine reduzierte Kontrolldichte für diese Fälle zu einem substanziellen Verlust an Rechtsschutz führen könnte. Vor allem aber kann es nicht hingenommen werden, wenn sich die Mitgliedstaaten im Zuge eines übergreifenden politischen Kompromisses auf europäischer Ebene gegenseitig die Erlaubnis zur Beschränkung der Grundfreiheiten einräumen – nur um das Gesamtergebnis nicht zu gefährden. Der Ausweg der Mitgliedstaaten aus der Kontrolle ihrer Maßnahmen am Maßstab der Grundfreiheiten liegt nur in der Findung einer einheitlichen, europaweit gültigen, materiellen Lösung. Andernfalls müssen sie wie im Falle mitgliedstaatlicher Gesetze damit rechnen, dass nachträglich einzelne binnenmarktfeindliche Teile des Sekundärrecht für ungültig erklärt oder zumindest grundfreiheitskonform ausgelegt werden.
III. Gesetzgebung zwischen Marktfreiheiten und Gemeinwohlinteressen Für jede Gesetzgebung – mitgliedstaatliche oder europäische – auf wirtschaftlich relevanten Gebieten gilt, dass sie den Freiheitsanspruch des Bürgers – als Unternehmensträger, Arbeitnehmer, Kapitalinvestor, Dienstleister oder Warenlieferant – ausgestaltet und dabei sowohl Handlungsoptionen 56 57
Müller-Graff a.a.O. (Fn. 31), Art. 34 AEUV Rz. 298. Forsthoff a.a.O. (Fn. 31), Art. 45 AEUV (Stand 2010), Rz. 133.
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eröffnet als auch untersagt. Aus der Sicht des Unionsverfassungsrechts weisen jedoch mitgliedstaatliche und unionsrechtliche Vorschriften substanzielle Unterschiede auf. 1. Nationale Gesetzgebung Der Zweck der wirtschaftsrechtlich relevanten Gesetzgebung der Mitgliedstaaten ist nicht in erster Linie darauf gerichtet, zur Entstehung und Vollendung des Europäischen Binnenmarkts beizutragen. Die Mitgliedstaaten definieren je für sich Gemeinwohlziele oder Drittinteressen, bringen diese in eine Balance zu den Freiheitsansprüchen der Bürger und Unternehmen und wählen Regelungsinstrumente, die den Freiheitsrechten, Gemeinwohlzielen und Drittinteressen zur Durchsetzung verhelfen sollen. Wenn und soweit mit diesen gesetzgeberischen Maßnahmen der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr Benachteiligungen oder Beschränkungen unterworfen wird, prüft der Gerichtshof, ob der jeweilige Mitgliedstaat (nach Maßgabe der geschriebenen Öffnungsklauseln der Europäischen Verträge oder der in der bisherigen Judikatur entwickelten ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe) ein zulässiges Gemeinwohlziel oder Drittinteresse vorbringen kann und die gewählten Maßnahmen dieses Anliegen in geeigneter, erforderlicher und verhältnismäßiger Weise verwirklichen. Dabei prüft der Gerichtshof namentlich, ob die gewählten Instrumente vor dem Hintergrund der fehlenden Rechtsvereinheitlichung zwischen den Mitgliedstaaten angemessen sind oder ob binnenmarktfreundlichere Maßnahmen (z. B. die Anerkennung des Heimatrechts von Wirtschaftssubjekten) ausreichend sein können. 2. Europäische Binnenmarktgesetzgebung Anders ist die Gesetzgebung der europäischen Institutionen zu bewerten. Denn diese verfolgt ein doppeltes Ziel: – Zunächst muss auch der europäische Gesetzgeber entscheiden, welchen Gemeinwohl- und Drittinteressen er im Rahmen seiner Maßnahmen welchen Rang einräumt. Die jüngst verabschiedete gesellschaftsrechtliche Mobilitäts-RL mit ihren ausführlichen Schutzregeln für Gläubiger, Gesellschafter und Arbeitnehmer ist ein Beispiel für eine sorgsame und langfristig diskutierte Austarierung der unternehmerischen Freiheit der „umzugswilligen“ Unternehmen und dem Schutz von deren shareholdern und stakeholdern. Das jeweilige legislatorische Ergebnis ist bei europäischen Richtlinien und Verordnungen dann der Ausdruck eines europaweiten Konsenses, zumindest aber des gemeinschaftlichen politischen Willens einer (qualifizierten) Mehrheit von Mitgliedstaaten. – Hinzu tritt auf europäischer Ebene der Wert der Angleichung als solcher: Durch die Schaffung eines harmonisierten Sachbereichs wird der Binnen-
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markt in Europa durch die Erhöhung von Transparenz, die Rückführung von Rechtszersplitterung und die Senkung von Transaktionskosten vorangebracht.58 Zugleich sinkt mit dem Grad der Harmonisierung das Risiko von einseitigen Benachteiligungen oder Mehrfachbelastungen grenzüberschreitender Wirtschaftsvorgänge. Dieser institutionelle „Mehrwert“ europäischer Gesetzgebung wird vom Gerichtshof im Rahmen seiner Kontrolle der „Gültigkeit“ von Sekundärrechtsakten selbstverständlich anerkannt.
Diese doppelte Zielsetzung europäischer Gesetzgebung lässt sich gerade für die Harmonisierung der Gesellschaftsrechte in der Union am Wortlaut des Art. 50 Abs. 2 lit.g AEUV klar nachweisen59. Wenn diese Vorschrift die Europäischen Institutionen ermächtigt, „soweit erforderlich, die Schutzbestimmungen (zu) koordinieren, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 54 Absatz 2 im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vor geschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten“,
dann wird darin die besondere Dialektik zwischen dem Ziel des materiellen Schutzes bestimmter Personengruppen („Schutzbestimmungen“) und dem Ziel der Rechtsangleichung („koordinieren“, „gleichwertig“) zum Ausdruck gebracht60. Der Harmonisierungsauftrag des Europäischen Gesetzgebers ist nicht auf Rechtsangleichung als Selbstzweck gerichtet; die europäische Legislative muss vielmehr auch die (bisher) von der nationalen Gesetzgebung verfolgten Schutzzwecke angemessen aufgreifen und gegen die Niederlassungsfreiheit austarieren. Diese doppelte Zielsetzung ist in der Ermächtigungsgrundlage des Art. 50 Abs. 2 lit.g AEUV für das Gesellschaftsrecht nicht nur für den Gesetzgeber angelegt, sondern sie muss auch gewürdigt werden, wenn es um die Überprüfung von europäischen Regelungsgehalten am Maßstab der Grundfreiheiten durch den Gerichtshof geht.
IV. Das Binnenmarktprinzip: Kompetenzgrenze oder materielle Schranke? Bevor konkrete Konsequenzen aus diesem systematischen Überblick für das Gesellschaftsrecht gezogen werden, muss auf einen Gesichtspunkt hingewiesen werden, der bei der Überprüfung von Rechtsvorschriften am Maßstab höherrangigen Rechts typischerweise eine Rolle spielt: die Differenzierung zwischen formellen, vor allem kompetenzrechtlichen, Vorgaben und 58 Zur Effizienzabwägung zwischen Rechtsangleichung und Rechtswettbewerb im Gesellschaftsrecht siehe: Schön ZHR 160 (1996) 221 (232 ff.); Grundmann Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., 2011, § 2; Eidenmüller in Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, 2004, § 1 Rz. 21 ff. 59 Näher Lutter/Bayer/J.Schmidt a.a.O. (Fn. 1), Rz. 2.5 ff. 60 Schön ZGR 1995, 1 (13 ff.).
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materiellen, vor allem durch Grundrechte und Grundfreiheiten geprägten Rahmenbedingungen höherrangigen Rechts61. Diese Differenzierung ist im Bereich der Binnenmarktgesetzgebung nicht einfach zu ziehen. Einerseits verlangen die europäischen Kompetenznormen (namentlich Art. 114 und 115 AEUV) einen Beitrag der sekundärrechtlichen Maßnahmen zur Entstehung und Vollendung des Binnenmarkts (oder des „Gemeinsamen Markts“). Für Art. 50 Abs. 2 lit.g AEUV gilt nichts anderes. Andererseits dürfen diese Maßnahmen auch auf inhaltlicher Ebene nicht gegen die Prinzipien des Binnenmarkts verstoßen. Wann aber führt ein „binnenmarktwidriger“ Akt des Sekundärrechts zu einem Verfehlen der Kompetenzgrundlage und wann zu der Feststellung materieller Rechtsverstöße? Beispielhaft ist dazu die aktuelle Diskussion im Europäischen Steuerrecht zur Anti-Tax-Avoidance Directive (ATAD). Diese rein fiskalisch ausgestaltete Richtlinie zur Besteuerung von Unternehmen wird von einigen Stimmen im Schrifttum als glatt kompetenzwidrig qualifiziert62, während andere Stimmen vor allem einzelne materielle Verstöße gegen die Grundfreiheiten rügen63. Schaut man näher hin, so bietet es sich an, eine formelle Verfehlung der Kompetenzgrundlage nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zu bejahen. Wie der Gerichtshof zur Tabakwerbe-RL der Europäischen Union entschieden hat64, fehlt es an einer Ermächtigung nach Art. 114 AEUV (damals Art. 100a EGV) nur dann, wenn und soweit die Richtlinie bereits ihrer Zielsetzung nach nicht auf die Entwicklung des Binnenmarkts gerichtet ist und dazu auch tatsächlich nichts beiträgt. Wenn hingegen einzelne Maßnahmen innerhalb einer insgesamt binnenmarktförderlichen Richtlinie die Marktfreiheiten zu stark beschränken oder unzulässige Diskriminierungen enthalten, sollte demgegenüber einer materiellen Prüfung der Vereinbarkeit der Richtlinienregeln mit den Grundfreiheiten oder anderen inhaltlichen Vorgaben des Primärrechts – nicht zuletzt rechtsstaatlichen Grundsätzen wie denen des Vertrauensschutzes oder der Verhältnismäßigkeit65 – der Vorrang gegeben werden66. Letztlich ist die Frage, ob der binnenmarktwidrige Gehalt einer Maßnahme des Sekundärrechts das Fehlen der Gesetzgebungskompetenz oder (nur) eine materielle Ungültigkeit einer einzelnen Regelung impliziert, auch aus der Perspektive der jeweiligen Schutzrichtungen des maßgeblichen Primärrechts zu entscheiden:
61
Dazu Rosenfeldt/Würdemann a.a.O. (Fn. 27), 463 ff. Oppel IStR 2016, 797 (798 ff.); Schönfeld IStR 2017, 721 (722). 63 Zur Diskussion: Hey a.a.O. (Fn. 39), 248 ff.; Wacker a.a.O. (Fn. 23), 797 ff. 64 EuGH v. 5.10.2000 Rs. C-376/98 (Deutschland ./. Parlament und Rat) Rz. 81–86. 65 EuGH v. 17.5.1984 a.a.O. (Fn. 25), Rz. 25. 66 Rosenfeldt/Würdemann a.a.O. (Fn. 27), 466 ff. m.w.N. 62
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– Die jeweilige Formulierung der Ermächtigungsgrundlagen des AEUV, aber auch die allgemeinen kompetenzrechtlichen Grundsätze der Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sind in erster Linie darauf gerichtet, im institutionellen Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten eine angemessene Regulierungsbalance herzustellen. Das Verdikt der Kompetenzwidrigkeit sollte daher nur dann ausgesprochen werden, wenn die Mitgliedstaaten zu Recht einen Übergriff der Union in ihre Souveränitätsfelder rügen können. – Die materiellen Regeln des Binnenmarkts, namentlich die Vorgaben der Grundfreiheiten, zielen demgegenüber darauf ab, die Handlungsmöglichkeiten der Marktbürger und Unternehmen gegenüber den mitgliedstaatlichen und europäischen Gewalten zu sichern. Wenn es um den Schutz der privaten Wirtschaftssubjekte vor unangemessenen Eingriffen des europäischen Gesetzgebers geht, spricht vieles dafür, die materiellen Grundfreiheiten des Binnenmarkts als Prüfungsmaßstäbe heranzuziehen.
Diese doppelte Perspektive schließt nicht aus, dass eine gesetzgeberische Maßnahme sowohl die formellen Kompetenzgrenzen des AEUV als auch die materiellen Marktfreiheiten verletzt; dann können beide Verstöße in demselben Verfahren vor dem Gerichtshof gerügt werden67.
V. Konsequenzen für das Europäische Gesellschaftsrecht Welche Konsequenzen zeitigt diese Analyse für den Gestaltungsspielraum des Unionsgesetzgebers im Europäischen Gesellschaftsrecht? Die Antwort auf diese Frage fällt differenziert aus. Sie unterscheidet zwischen solchen Sachbereichen, die dem Zugriff des europäischen Gesetzgebers inhaltlich entzogen sind, und solchen Sachbereichen, zu welchen den Europäischen Institutionen ein politischer Entscheidungsspielraum eingeräumt ist. Weiterhin ist bei den Ansprüchen an die inhaltliche Rechtfertigung danach zu differenzieren, wie schwerwiegend der Eingriff des europäischen Gesetzgebers in die Grundprinzipien des Binnenmarkts ausfällt. Dafür empfiehlt es sich zunächst, zwischen dem Inhalt der Grundfreiheiten auf der einen Seite und der Art und Rechtfertigung von Eingriffen auf der anderen Seite zu differenzieren. 1. Persönlicher und sachlicher Schutzbereich der Grundfreiheiten Nach Art. 26 Abs. 1 AEUV umfasst der Binnenmarkt „einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet 67 Beide Gesichtspunkte hatte die Bundesrepublik Deutschland sowohl im Fall der Einlagensicherung (EuGH v. 13.5.1997 a.a.O. (Fn. 45), Rz. 10 ff. und Rz. 51 ff.) als auch im Fall der Tabakwerbe-RL (EuGH v. 5.10.2000 a.a.O. (Fn. 64), Rz. 9) angesprochen.
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ist“. Diese Definition des Binnenmarkts ist nicht nur den Mitgliedstaaten, sondern auch den Europäischen Institutionen vorgegeben. Sie können den Gehalt der Grundfreiheiten nicht „umdefinieren“ oder gar einschränken. a) Der subjektive Zugang zu den Grundfreiheiten Für die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit von Gesellschaften sind die Voraussetzungen für den subjektiven Zugang zu den Grundfreiheiten abschließend und präzise in Art. 54 Abs. 2 AEUV festgelegt. Dessen Wirkkraft kann nicht auf dem Wege europäischen Sekundärrechts eingeschränkt werden. Eine Richtlinie oder Verordnung, welche aus der Sicht des Kollisionsrecht den Mitgliedstaaten etwa das Recht einräumen würde, die Anerkennung ausländischer Gesellschaften nach Maßgabe der Sitztheorie zu verweigern, stünde in klarem Widerspruch zu dieser Norm des Primärrechts, die jeder nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft die Niederlassungsfreiheit gewährt, wenn sie auf dem Gebiet der Union ihren Satzungssitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung unterhält. In diesem Punkt bestehen weder ein Anlass noch die Möglichkeit für den Gerichtshof, dem Europäischen Gesetzgeber einen Beurteilungsspielraum zuzugestehen oder in anderer Weise judicial selfrestraint zu üben. Diese konstituierenden Elemente des Binnenmarkts sind für alle Europäischen Institutionen – vorbehaltlich einer Vertragsänderung unverfügbar. Eine besondere Rolle kommt im System des Art. 54 AEUV dem Gründungsstaat einer Gesellschaft zu. Dieser Staat hat das vom Gerichtshof in einer einheitlichen Rechtsprechungslinie von Daily Mail68 bis Polbud69 bestätigte Recht, die mitgliedstaatlichen Voraussetzungen für den Erwerb und Fortbestand der Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft frei festzulegen; erst wenn eine diese Voraussetzungen erfüllt sind, gelangt die Gesellschaft in den subjektiven Anwendungsbereich des Art. 54 AEUV. Dies führt zu der Frage, ob der Europäische Gesetzgeber im Bereich der Gesellschaftsrechtsangleichung die Mitgliedstaaten der Europäischen Union – gleichsam im tatbestandlichen Vorfeld des Art. 54 AEUV – zwingen dürfte, in ihren nationalen Gesellschaftsrechten den Zugang zur Rechtsfähigkeit an restriktive Merkmale, namentlich das Innehaben der Geschäftsleitung am Satzungssitz der Gesellschaft zu binden. Der Gerichtshof scheint eine sekundärrechtliche Vorprägung des Zugangs zur Rechtsfähigkeit für mitgliedstaatliche juristische Personen für möglich zu halten70. Doch würde die hier diskutierte Vorgabe strukturell grenzüberschreitende Sachverhalte (Trennung von Sat68
EuGH v. 27.9.1988 Rs.81/87 (Daily Mail) Rz. 19. EuGH v. 25.10.2017 a.a.O. (Fn. 11) Rz. 33. 70 EuGH v. 16.12.2008 a.a.O. (Fn. 9) Rz. 109 f.; EuGH v. 12.7.2012 a.a.O. (Fn. 10) Rz. 28 f.; EuGH v. 25.10.2017 a.a.O. (Fn. 11) Rz. 34. 69
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zungssitz und Verwaltungssitz) gegenüber rein inländischen Sachverhalten (Zusammenführung von Satzungssitz und Verwaltungssitz) benachteiligen. Dies würde wenn nicht die Gesellschaft selbst, dann doch deren Gründer in ihrer europäischen Organisationsfreiheit zu behindern71. Es ist nicht erkennbar, womit eine solche Vorgabe – selbst wenn sie nicht von vornherein wegen der damit verbundenen Einschränkung des Normbereichs des Art. 54 Abs. 2 AEUV unwirksam ist – gerechtfertigt werden könnte. Es ist dann nur konsequent, dass der Unionsgesetzgeber dort, wo er eigene Rechtsformen begründet, seinerseits darüber entscheiden kann, an welche Voraussetzungen ihre Entstehung und ihr Fortbestand anknüpfen sollen. Die in Art. 7 und 64 der SE-VO enthalte Voraussetzung, dass eine Europäische Aktiengesellschaft ihren Satzungssitz im Mitgliedstaat des Verwaltungssitzes innehaben muss und eine grenzüberschreitende Sitzverlegung nur bei gleichzeitiger Verlegung des Verwaltungssitzes durchführen darf, ist vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden72. b) Die objektive Reichweite der Grundfreiheiten Ebenfalls keinen Spielraum kann der europäische Gesetzgeber für sich in Anspruch nehmen, wenn es um den objektiven Schutzbereich der Grundfreiheiten geht. Der Inhalt der Niederlassungsfreiheit ist als solcher primärrechtlich vorgegeben und nicht Gegenstand politischer Abwägungsprozesse. Der Gerichtshof hat in einer Vielzahl von Urteilen die sachliche Reichweite der Niederlassungsfreiheit und anderer Marktfreiheiten ausgemessen. Eine „Verkleinerung“73 dieses Schutzbereichs kraft Sekundärrechts würde die Ziele und Ansprüche des Binnenmarkts grundlegend verfehlen74. 71 Zum Verständnis der Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften als Gründungsfreiheit ihrer Gesellschafter näher Schön in FS Priester, 2007, 737 (746). 72 Dies entspricht der h.M.: Casper/Weller NZG 2009, 681 (683); Eidenmülle, JZ 2004, 24 (31); Habersack in Bergmann (Hrsg.), 10 Jahre SE, 2015, 9 ff. (24); a.A. Drinhausen/ Nohlen in FS Spiegelberger, 2009, 645 ff.; Ziemons ZIP 2003, 1913 (1918); monographisch Ringe Die Sitzverlegung der Europäischen Aktiengesellschaft, 2006, 49 ff.; weitere Nachweise bei Lutter/Bayer/J.Schmidt a.a.O. (Fn. 1), Rz. 45.14 und Ringe in Lutter/Hommelhoff/Teichmann (Hrsg.), SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SE-VO Rz. 27–33. 73 Treffend Rosenfeldt/Würdemann a.a.O. (Fn. 27), 461 f. 74 Eine „erläuternde“ Wirkung von Sekundärrecht für das Verständnis der subjektiven oder objektiven Reichweite primärrechtlicher Normen ist damit nicht ausgeschlossen, wie dies z.B. durch den Gerichtshof für den objektiven Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit nach Maßgabe der Kategorien der (zeitlich vorausgehenden) Kapitalverkehrs-RL vorgenommen wird (ständige Rechtsprechung seit EuGH v. 31.1.1984 Verb.Rs.286/82 und 26/83 (Luisi und Carbone) Rz. 20); auch mag der europäische Gesetzgeber andere „ausfüllungsfähige“ (Oppermann/Classen/Nettesheim a.a.O. (Fn. 44), § 10 Rz. 43) Tatbestände des Primärrechts als „Erstinterpret“ näher ausgestalten (Nettesheim a.a.O. (Fn. 27), 753 ff.; Roth a.a.O. (Fn. 52), 678 ff.; Syrpis a.a.O. (Fn. 43), 17 ff.). Für die in mehreren Jahrzehnten durch den Gerichtshof entfaltete subjektive und objektive Reichweite der Grundfreiheiten
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Daran würden auch neuere Vorschläge scheitern, mit Hilfe einer Richtlinie der „isolierten Satzungssitzverlegung“ durch grenzüberschreitenden Formwechsel entgegenzuwirken75. Der Gerichtshof hat in Polbud anerkannt, dass eine Gesellschaft von der in Cartesio76 und Vale77 gewährten Freiheit der grenzüberschreitenden Umwandlung auch dann Gebrauch machen kann, wenn sie ihren Verwaltungssitz und ihre übrigen wirtschaftlichen Aktivitäten im Herkunftsstaat belässt78. Dies ist konstitutiv für die grenzüberschreitende Organisationsfreiheit von Unternehmen im Binnenmarkt und daher dem Zugriff des Richtliniengebers entzogen. Eine „Anreicherung“ der Umzugsvoraussetzungen um Vorgaben zur wirtschaftlichen Substanz im Zuzugsstaat wäre nicht zulässig. Es sei an dieser Stelle auch angemerkt, dass der europäische Gesetzgeber sich für die Rechtfertigung einer solchen Maßnahme auch nicht auf den typischen „Mehrwert“ einer Harmonisierungsmaßnahme berufen könnte, der in anderen Fällen der europäischen Gesetzgebung einen höheren Bestandsschutz gegenüber dem Zugriff des Gerichtshofs vermittelt. Denn die von einigen Stimmen im Schrifttum79 geforderte sekundärrechtliche Einschränkung der grenzüberschreitenden Mobilität der Gesellschaften würde ja in keiner Weise ein level playing field begründen und damit gerade keine gemeinsamen Wertungen der Europäischen Institutionen zum Schutz von Gemeinwohlund Drittinteressen verbindlich formulieren.80 Im Gegenteil würde ein solcher Schritt ausschließlich dazu dienen, die jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtssysteme gegen den Gesetzgebungswettbewerb in der Europäischen Union abzuschotten und damit die bestehenden Regelungsdifferenzen zu stabilisieren. Das ist kein politisches Ziel, das in der Union Anspruch auf privilegierte Behandlung erheben kann81 – und zwar auch dann nicht, wenn es „einheitlich“82 für alle Mitgliedstaaten durchgesetzt werden soll83. 2. Diskriminierungen, Beschränkungen und Rechtfertigungen Bei der Prüfung einer Verletzung von Grundfreiheiten durch mitgliedstaatliche Gesetzgeber wird regelmäßig untersucht, ob und in welchem Umals Kernelemente des Binnenmarkts kann diese Argumentation keine Geltung beanspruchen. 75 So bereits Leible ZGR 2004, 531 (547 f.). 76 EuGH v. 16.12.2008 a.a.O. (Fn. 9), Rz. 111 ff. 77 EuGH v. 12.7.2012 a.a.O. (Fn. 10), Rz. 27 ff. 78 EuGH v. 25.10.2017 a.a.O. (Fn. 11), Rz. 37 ff. 79 Oben bei Fn. 19–22. 80 Heber a.a.O. (Fn. 33), Chapter V, Part I, D, 3. 81 Deutlich Oppermann/Classen/Nettesheim a.a.O. (Fn. 44), § 22 Rz. 7 („Segmentierung“). 82 Wicke a.a.O. (Fn. 22), 2705. 83 Ebenso für rein „koordinierende“ Maßnahmen Mortelmans a.a.O. (Fn. 26), 1334 f.
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fang ein Eingriff in deren Schutzbereich durch geschriebene oder ungeschriebene Rechtfertigungsgründe legitimiert werden kann. Wie steht es vor diesem Hintergrund um konkrete Einschränkungen der grenzüberschreitenden Ausübung von Grundfreiheiten durch den europäischen Gesetzgeber und deren Legitimation? Der Gerichtshof formuliert dazu im Grundsatz, dass auch sekundärrechtliche Maßnahmen am Maßstab der Grundfreiheiten gemessen werden können. Doch wird vielfach festgestellt, dass die entsprechende Kontrolle weniger streng als gegenüber mitgliedstaatlichen Rechtsakten erfolge84. Schaut man genauer hin, so stellt sich eine Abgrenzung danach ein, ob die europäischen Maßnahmen für den zentralen Aspekt des Binnenmarktes, den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr, spezifische Nachteile mit sich bringen oder ob sie einen „diskriminierungsfreien“ unionsweiten materiell-rechtlichen Angleichungseffekt erzielen. a) Nachteile für grenzüberschreitende Wirtschaftsvorgänge Kennzeichnend für diese Sichtweise sind die viel zitierten Referenzurteile Meyhui85 sowie Kieffer und Thill86, in denen der Gerichtshof sekundärrechtliche Rechtsakte in vollem Umfang am Maßstab der Grundfreiheiten gemessen hat. In jedem dieser Urteile stand die Anordnung von unternehmensbezogenen Rechtspflichten im Raum, die spezifisch den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr erschwerten: In Meyhui ging es um die Frage, ob eine Richtlinie für den europaweiten Vertrieb von Glaswaren den Ausweis spezieller Produktbezeichnungen in der jeweiligen Landessprache anordnen kann, auch wenn dies für die Hersteller bei Exportware einen erheblichen Mehraufwand bedeutet87. In Kieffer und Thill ging es um spezifische Aufzeichnungspflichten für Kfz-Händler im Hinblick auf grenzüberschreitende An- und Verkäufe. Der Gerichtshof kontrollierte in beiden Fällen jeweils sowohl die Auswahl der maßgeblichen Gemeinwohl- und Drittinteressen als auch die Angemessenheit der gesetzgeberischen Maßnahmen im Sinne von Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Dabei blieb die Prüfungsdichte nicht wesentlich hinter derjenigen zurück, die bei mitgliedstaatlichen Gesetzen angewandt wird. Daran überzeugt, dass die Verpflichtung des europäischen Gesetzgebers auf die Grundsätze des Binnenmarktes vor allem dann aktualisiert werden muss, wenn seine Maßnahmen gerade den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr belasten und damit die in Art. 26 Abs. 2 AEUV angelegte Mobilität von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital einschränken. 84
Leible/Streinz a.a.O. (Fn. 31), Art. 34 AEUV Rz. 37 (Stand 2010). EuGH v. 9.8.1994 a.a.O. (Fn. 25), Rz. 13–21. 86 EuGH v. 25.6.1997 a.a.O. (Fn. 25), Rz. 28–38. 87 Gleichsinnig EuGH v. 13.9.2001 a.a.O. (Fn. 25) Rz. 37–41; zu Anforderungen an die Verpackung von Kosmetikwaren. 85
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Das Sekundärrecht darf insoweit keine „Unterscheidungen vorgeben oder legitimieren“88. Die Besserstellung des Inlandssachverhalts gegenüber dem grenzüberschreitenden Fall ist im Kern binnenmarktwidrig und kann nicht durch gemeinsames Handeln der Mitgliedstaaten im Rahmen der Europäischen Institutionen gegenüber den Grundfreiheiten „immunisiert“ werden89. Das gilt auch dann, wenn eine Richtlinie die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, sondern lediglich ermächtigt, grenzüberschreitende Situationen im Verhältnis zu innerstaatlichen Situationen zu benachteiligen90. Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass derartige Maßnahmen im Einzelfall gerechtfertigt werden, aber dafür müssen die Rechtfertigungsgründe, mit denen der europäische Gesetzgeber sein eingreifendes Handeln zu legitimieren sucht, denen entsprechen, die auch bei mitgliedstaatlichen Maßnahmen vorausgesetzt werden91. In diesem Sinne müssen auch im Gesellschaftsrecht solche Vorschriften, die spezifisch grenzüberschreitende Vorgänge ansprechen und mit rechtlichen Sonderlasten versehen, einer gesteigerten Kontrolle am Maßstab der Grundfreiheiten ausgesetzt sein. Dazu ein Beispiel: Die im Jahre 2019 verabschiedete Mobilitäts-RL92 errichtet vielfältige materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Schranken für grenzüberschreitende Formwechsel, Spaltungen und Verschmelzungen, die 88 Müller-Graff a.a.O. (Fn. 31), Art. 49 AEUV Rz. 37; Forsthoff a.a.O. (Fn. 31), Art. 45 AEUV (Stand 2010), Rz. 136; Schön IStR 2004, 289 (297); Teichmann a.a.O. (Fn. 23), 754 f.; anders wohl Wacker a.a.O. (Fn. 23), 794, der auch Ungleichbehandlungen kraft Richtlinienrechts dem Gestaltungsvorbehalt des europäischen Gesetzgebers zuweist; 89 Den klaren Fall des Versuchs einer europarechtlichen „Immunisierung“ einer diskriminierenden mitgliedstaatlichen Maßnahme bildet der Fall „Ouzo“ (EuGH v. 5.10.2004 Rs. C-475/01 (Kommission ./. Griechenland), in dem die Richtlinie 92/83/EWG zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchssteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke dem Mitgliedstaat Griechenland die steuerliche Privilegierung von anishaltigem Schnaps erlaubte. Der Gerichtshof stellte sich der materiellen Frage nicht, sondern wies darauf hin, dass die Kommission nicht auf dem Umweg des Vertragsverletzungsverfahrens gegen den betroffenen Mitgliedstaat die Unwirksamkeit der Richtlinie in Frage stellen durfte; solange nicht im Rahmen einer Nichtigkeitsklage oder eines Vorabentscheidungsersuchens die Nichtigkeit oder Ungültigkeit der Richtlinie festgestellt worden sei, spreche für diese und die Ausführungsrechtsakte des Mitgliedstaats die „Vermutung der Rechtmäßigkeit“ (Rz. 18–23). In seinen Schlussanträgen vom 15.1.2004 verneint GA Tizzano die „Gleichartigkeit“ des griechischen Ouzos mit ausländischen Getränken (Rz. 83–107); ein Grenzfall ist demgegenüber EuGH v. 26.5.2005 Rs. C-249/04 (Allard), in welcher ein in Belgien und Frankreich tätiger Unternehmer mit seinem französischen Einkommen nach der VO 1408/71 bei der Erhebung eines belgischen Sozialversicherungsbeitrags verbeitragt wurde. Dies ist allenfalls dann ein Diskriminierungsfall, wenn man die „Gleichbehandlung des Ungleichen“ rügt. Der Gerichtshof prüfte die VO am Maßstab der Niederlassungsfreiheit, verneinte jedoch einen Verstoß (Rz. 25–32). 90 A.A. Forsthoff IStR 2006, 222 (223 ff.); dagegen Lüdicke/Hummel IStR 2006, 694 ff. mit Replik von Forsthoff, IStR 2006, 698 ff. 91 Becker a.a.O. (Fn. 29), Art. 34 AEUV Rz. 102. 92 a.a.O. (Fn. 4), Erwägungsgrund 12 ff.
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für vergleichbare innerstaatliche Rechtsvorgänge nicht existieren. Diese Sonderregeln für die grenzüberschreitenden Organisation von Unternehmen sind nicht generell unzulässig, aber sie können und müssen vom Gerichtshof darauf geprüft werden, ob sie genuine Interessen des Gemeinwohls oder schützenswerter Zielgruppen (Gläubiger, Minderheitsgesellschafter, Arbeitnehmer) in geeigneter, erforderlicher und verhältnismäßiger Weise verwirklichen. Dies gilt nicht zuletzt für die in der Mobilitäts-RL angelegte Verpflichtung der mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte, bestimmte grenzüberschreitende Organisationsmaßnahmen wegen „Missbrauchs“ vollständig zu sperren93. Dabei mag der Gerichtshof auch berücksichtigen, dass eine transparente und verlässliche Ordnung der grenzüberschreitenden Reorganisation von Unternehmen weder durch die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber noch durch den Gerichtshof selbst geschaffen werden kann und daher die Wahl einer europäischen Richtlinie in besonderem Maße erforderlich ist94. 3. Nichtdiskriminierende Regeln des Marktzugangs und der Marktausübung Eine grundsätzlich andere Betrachtungsweise empfiehlt sich dann, wenn Richtlinien auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts ohne spezifischen Bezug zu internationalen Sachverhalten den Schutz der Gesellschafter, der Gläubiger, der Arbeitnehmer oder anderer stakeholder koordinieren95. In diesen Fällen kann der europäische Gesetzgeber in zweifacher Hinsicht den Respekt des Gerichtshofs einfordern: – Eine Maßnahme, welche materiell den Schutz des Gemeinwohls oder von Drittinteressen verwirklicht, bringt eine inhaltliche Wertentscheidung zum Ausdruck, bei deren Formulierung die Europäischen Institutionen – und namentlich die Vertreter der Mitgliedstaaten – sämtliche beteiligten Interessen gewürdigt und einen Ausgleich zwischen den Freiheitsrechten der Marktbürger und Unternehmern einerseits und den Ansprüchen des Gemeinwohls oder schutzwürdiger Personengruppen andererseits hergestellt haben.96 Damit verwirklicht eine solche Maßnahme die Ziele des Binnenmarkts in besonderem Maße. Die bei der Prüfung von mitgliedstaatlichen Rechtsakten dem Gerichtshof überantwortete Abwägung zwischen natio93
Siehe dazu jetzt Schön a.a.O. (Fn. 24). Zur „Anmahnung“ europäischer Gesetzgebung für den grenzüberschreitenden Formwechsel siehe u. a. EuGH v. 12.7.2012 a.a.O. (Fn. 10), Rz. 38. 95 Der Gerichtshof nimmt seinen Kontrollanspruch auch dann zurück, wenn die europäische Maßnahme zwar zwischen inländischen und grenzüberschreitenden Fällen differenziert, dabei aber „wenn nicht identische, so doch zumindest gleichwertige Bedingungen“ vorsieht (EuGH v. 17.5.1984 a.a.O. (Fn. 25), Rz. 17; für eine vollständige Erfassung von diskriminierenden und nichtdiskriminierenden Maßnahmen des europäischen Gesetzgebers bei gleichzeitiger Annahme unterschiedlicher Ermessensspielräume Mortelmans a.a.O. (Fn. 26), 1322. 96 Heber a.a.O. (Fn. 33), Chapter V, Part I, D, 3. 94
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nalem Regulierungsziel und individueller Freiheit übernimmt hier der europäische Gesetzgeber. Der Gerichtshof sollte das Ergebnis dieser Abwägung letztlich nur bei groben Verfehlungen in Frage stellen können97. – Zugleich wird mit einer solchen Maßnahme das Binnenmarktziel der Rechtsangleichung verwirklicht, d.h. ein level playing field geschaffen, auf dem die Akteure transparent, mit reduzierten Transaktionskosten und ohne wettbewerbsbeeinträchtigende Regulierungsvorteile ihre wirtschaftlichen Ziele verwirklichen können. Das ist nicht nur für sich gesehen ein Mehrwert (auch gegenüber einer potentiell inhaltsgleichen nationalen Regelung), sondern auch gegen den Verdacht des verdeckten Protektionismus gefeit. Dass eine Rechtsangleichung immer auch dazu führen kann, dass die Marktteilnehmer aus bestimmten Mitgliedstaaten existierende Vorteile verlieren, liegt in der Natur der Sache, nämlich in der Reduktion des Regulierungswettbewerbs98.
Ein Beispiel ist die Einführung eines einheitlichen Mindestkapitals durch die Kapital-RL aus dem Jahre 1976. Bei der Einigung auf diese Richtlinie haben die Europäischen Institutionen ein bestimmtes Niveau des Gläubigerschutzes vereinbart und mit der Festlegung von Regeln zum aktienrechtlichen Mindestkapital eine bestimmte Maßnahme ergriffen. Diese Entscheidung kann nicht deshalb angegriffen werden, weil der Gerichtshof es in Centros und Inspire Art im Hinblick auf den Schutz privater Gläubiger für ausreichend gehalten hat, wenn ausländische Gesellschaften angemessen über ihre Kapitalausstattung informieren müssen. Es macht eben einen Unterschied, ob ein einzelner Mitgliedstaat einseitig Schutzziele und -maßnahmen formuliert und sie einseitig den Wirtschaftssubjekten aus der gesamten Europäischen Union aufdrängt oder ob der europäische Gesetzgeber eine einheitliche Lösung für die gesamte Union definiert, der ex definitione jeder diskriminierende Effekt fehlt99. Hinzu tritt, dass – wie der Gerichtshof in Centros klargestellt hat – die Anwendung des inländischen Kapitalschutzregimes auf ausländische Kapitalgesellschaften inkonsequent erscheint, wenn dieses Modell des Gläubigerschutzes davon abhängen soll, ob und in welchem Umfang die Auslandsgesellschaft in ihrem Heimatstaat eine aktive Wirtschaftstätigkeit ausübt100. Derartige Inkonsistenzen und wettbewerblich problematische Verwerfungen kommen typischerweise erst gar nicht vor, wenn der europäische Gesetzgeber einen einheitlichen Standard für die Kapitalausstattung sämtlicher in der Union ansässigen Gesellschaften formuliert. Teichmann hat die Frage aufgeworfen, ob die Existenz der Grundfreiheitsbindung des europäischen Gesetzgebers und die Prüfungsdichte des Gerichtshofs davon abhängen sollen, ob eine Richtlinienregelung für Unternehmen und ihre Gründer aus der Sicht des Gesellschaftsrechts den 97
Forsthoff a.a.O. (Fn. 31), Art. 45 AEUV (Stand 2010) Rz. 134 f. EuGH v. 13.5.1997 a.a.O. (Fn. 45), Rz. 42. 99 Teichmann a.a.O. (Fn. 23), 749 f. und 754 f. 100 EuGH v. 9.3.1999 a.a.O. (Fn. 6), Rz. 35. 98
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„Marktzugang“ regelt oder lediglich die „Handelsmodalitäten“101. Damit greift er eine Differenzierung auf, die der Gerichtshof für seinen Kontrollanspruch gegenüber diskriminierungsfreien Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Recht des Warenverkehrs entwickelt hat102. Diese Differenzierung leuchtet im Ausgangspunkt ein, ist aber im Detail nicht leicht zu verwirklichen. So mag man sich fragen, ob die Festlegung von Regeln über die Aufbringung von Kapital für die Gründung von Aktiengesellschaften den stärker geschützten „Marktzugang“ einer (inländischen oder grenzüberschreitenden) Niederlassung regelt oder unterhalb dieser Schwelle lediglich die „Ausübung“ der Niederlassungsfreiheit im konkreten Markt betrifft103. Und wäre diese Qualifikation bei den maßgeblichen Vorschriften für spätere Kapitalerhöhungen anders vorzunehmen? Sind ex post wirkende Haftungsregeln im Konzern maßgeblich für den Marktzugang oder für die Tätigkeit am Markt?104 Man wird eher annehmen können, dass sich bei diskriminierungsfrei ausgestalteten Vorschriften des europäischen Gesellschaftsrechts die Prüfungsdichte des Gerichtshofs auf einer gleitenden Skala nach dem Ausmaß der Beschränkungswirkung der jeweiligen Sachregelung auf das Handeln der betroffenen Unternehmen richten muss. 4. Grundrechte und Grundfreiheiten Spätestens mit dem Inkrafttreten der Europäischen Grundrechte-Charta, die neben der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten einen umfassenden Grundrechtsschutz für Unternehmen und Bürger gegen die Rechtsakte der Union und deren Ausführung durch die Mitgliedstaaten ins Werk setzt105, stellt sich die Frage nach der Konkurrenz von Grundfreiheiten und Grundrechten. Gibt es Sinn, wenn europäische Rechtsakte sowohl an den Grundrechten der Charta als auch an den Grundfreiheiten des AEUV gemessen werden? Führt dies zu einer überflüssigen Verdoppelung oder gar zu inhaltlichen Widersprüchen der Kontrollfunktion? Der Gerichtshof wendet bisher die unternehmensrechtlichen Grundrechte und die Marktfreiheiten parallel an106, 101 Teichmann a.a.O. (Fn. 23), 754 ff.; ähnlich und allgemein Rosenfeldt/Würdemann a.a.O. (Fn. 27), 467 ff. 102 Zur Anwendung dieser aus dem Recht der Warenverkehrsfreiheit stammenden Differenzierung auf die Niederlassungsfreiheit siehe Habersack/Verse a.a.O. (Fn. 1), § 3 Rz. 6 ff.; Lutter/Bayer/J.Schmidt a.a.O. (Fn. 1) Rz. 4.34 m.w.N. 103 Drinkuth Die Kapital-RL – Mindest- oder Höchstnorm, 1998, 104 ff. und 132 ff. 104 Näher Schön in FS Hommelhoff, 2012, 1037 (1046 ff.). 105 Zur Unternehmerfreiheit nach der Grundrechtecharta umfassend Gundel ZHR 180 (2016) 323 ff. 106 Siehe etwa EuGH v. 30.4.2014 Rs. C-390/12 (Pfleger) Rz. 57 ff.; EuGH v. 11.6.2015 Rs. C-98/14 (Berlington Hungary) Rz. 90 f.
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auch wenn im Schrifttum107 eine weitgehende Inhaltsgleichheit konstatiert wird. Sinnvoll erscheint es, hier zu unterscheiden: Wenn und soweit es darum geht, die allgemeine Unternehmerfreiheit oder andere Freiheitsrechte in ein Verhältnis zu Eingriffen des europäischen Gesetzgebers zu setzen, kommt der Vorrang den europäischen Grundrechten zu. Hier geht es nicht um die Reichweite des Binnenmarkts und dessen Vollendung, sondern um eine „verfassungstypische“ Abwägung zwischen öffentlichen und privaten Interessen. Für die meisten nichtdiskriminierenden Maßnahmen des Sekundärrechts dürfte hier der Schwerpunkt der Betroffenheit von Unternehmen liegen. Anders ist die Situation, wenn und soweit die Marktakteure geltend machen können, dass eine nichtdiskriminierende Maßnahme über ihren allgemeinen Eingriffseffekt hinaus gerade die Teilnahme am Binnenmarkt erschwert. Dann sollten – gegebenenfalls zusätzlich – auch die Grundfreiheiten in die Waagschale geworfen werden.
VI. Thesen 1. Die Bindung des Unionsgesetzgebers an die Grundfreiheiten des Binnenmarkts folgt aus Art. 3 Abs. 3 EUV und Art. 26 AEUV, die sämtliche Europäische Institutionen in ihrem jeweiligen Handeln auf das Binnenmarktziel festlegen. 2. Das Verhältnis zwischen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten einerseits und der Binnenmarktgesetzgebung von Kommission, Rat und Parlament andererseits lässt sich nicht ausschließlich aufgrund der europäischen Normenhierarchie aus Primärrecht und Sekundärrecht bestimmen. Sowohl der europäische Gesetzgeber als auch der Gerichtshof wirken im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen an dem dynamischen Prozess der Entstehung und Vollendung des Binnenmarktes mit. Dabei ist es Aufgabe des Gerichtshofs, im Vorfeld der Rechtsangleichung die Grundfreiheiten der europäischen Bürger und Unternehmen gegen diskriminierende und beschränkende Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu verteidigen. Es ist Aufgabe der europäischen Gesetzgebungsinstanzen, die involvierten Freiheitsrechte, Gemeinwohlziele und Drittinteressen langfristig einem materiellen Ausgleich zuzuführen. Dies verschafft dem Ergebnis europäischer Gesetzgebung einen Anspruch auf grundsätzlichen Respekt durch den Gerichtshof. 3. Der europäischen Gesetzgebung kann gegenüber mitgliedstaatlichen Maßnahmen dann ein besonderer Mehrwert zukommen, wenn sie nicht 107
Gundel a.a.O. (Fn. 105), 329.
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nur die involvierten Gemeinwohlziele und Drittinteressen in ein angemessenes Verhältnis zu den Freiheitsansprüchen der Marktakteure setzt, sondern zugleich ein level playing field erzeugt, das sich durch Transparenz, Senkung der Transaktionskosten und Abbau von Wettbewerbsvorteilen auszeichnet. Wenn und soweit die europäische Gesetzgebung demgegenüber darauf angelegt ist, Regelungsdifferenzen zwischen den Mitgliedstaaten zu zementieren oder grenzüberschreitende Sachverhalte gegenüber Inlandsfällen mit Sonderlasten zu belegen, kann sie vom Gerichtshof keine geringere Kontrolldichte beanspruchen als ein mitgliedstaatlicher Gesetzgeber. 4. Die Voraussetzungen der subjektiven Grundfreiheitsberechtigung sind im AEUV abschließend festgelegt. Nach Art. 49, 54 AEUV besitzen sämtliche nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften mit Satzungssitz, Verwaltungssitz oder Hauptniederlassung in der Union zugleich den Zugang zur europäischen Niederlassungsfreiheit. Der Unionsgesetzgeber kann daher weder über eine kollisionsrechtliche Verordnung noch im Wege materiell-rechtlicher Richtlinien die Anerkennung von EU-Auslandsgesellschaften grundsätzlich in Frage stellen noch besondere Auflagen für pseudo-foreign corporations festlegen. Lediglich für die supranationalen Rechtsformen des Unionsrechts (EWIV, SE etc.) steht es in der Macht des europäischen Gesetzgebers, a priori die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft von dem Zusammenfallen von Satzungssitz und Verwaltungssitz im selben Mitgliedstaat oder anderen Voraussetzungen abhängig zu machen. 5. Die objektive Reichweite der Grundfreiheiten ist dem Zugriff des Sekundärrechts ebenfalls entzogen. Eine legislative „Verkleinerung“ des primärrechtlichen Normgehalts kommt nicht in Betracht. Damit erweisen sich namentlich Vorschläge, die grenzüberschreitende Umwandlung, Verschmelzung oder Spaltung von einer gleichzeitigen Verlegung des Verwaltungssitzes oder substanzieller wirtschaftlicher Aktivitäten abhängig zu machen, als unvereinbar mit Art. 49, 54 AEUV. 6. Gelingt dem europäischen Gesetzgeber auf der Grundlage des Art. 50 Abs. 2 lit.g AEUV eine inhaltliche „Koordinierung“ der Gemeinwohlund Drittschutzziele mit der Niederlassungsfreiheit von Gesellschaftern und ihren Gründern, so muss das Ergebnis dieses Angleichungsvorgangs vom Gerichtshof im Kern respektiert werden. Beispielhaft ist die Schaffung eines einheitlichen Kapitalschutzsystems für die Aktiengesellschaft. Soweit die europäische Regelung indessen grenzüberschreitende Sachverhalte besonderen Lasten unterwirft (so z. B. durch die besonderen Anforderungen der Mobilitäts-RL an grenzüberschreitende Formwechsel, Verschmelzungen und Spaltungen im Vergleich zu innerstaatlichen Orga-
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nisationsmaßnahmen), sind diese Vorgaben darauf zu prüfen, ob sie ein anerkanntes Schutzziel in angemessener Weise verwirklichen. 7. Eine vollständige Bereichsausnahme für unterschiedslos anwendbare „Handelsmodalitäten“ im Gesellschaftsrecht ist im Hinblick auf die Schwierigkeit der Grenzziehung zwischen Marktzugangsregeln und Ausübungsregeln nicht zu empfehlen; jedoch sinkt die Kontrolldichte mit der Bedeutung einer konkreten Gesellschaftsrechtsvorschrift für den Binnenmarkt. 8. Langfristig werden die unternehmensbezogenen Grundrechte der Europäischen Grundrechtecharta die Aufgabe übernehmen, einen angemessenen Ausgleich zwischen unionsrechtlichen Regelungszielen und -instrumenten einerseits und Freiheitsansprüchen von Unternehmen andererseits herzustellen. Neben diesen verfassungstypischen Grundrechten ist es Aufgabe der europäischen Grundfreiheiten, den spezifischen Anliegen des Binnenmarktes zur Durchsetzung zu verhelfen.
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Zur Begrenzung der Vergütung von Vorstandsmitgliedern Claudia Schubert
Zur Begrenzung der Vergütung von Vorstandsmitgliedern CLAUDIA SCHUBERT
I. Einleitung Die Vorstandsvergütung ist seit dem KonTraG, spätestens seit dem VorstAG ein Dauerthema des Aktienrechts, das auch Gegenstand der reformierten Aktionärsrechterichtlinie1 und ihrer Umsetzung im ARUG II2 ist. Während in der Finanz- und Wirtschaftskrise vor allem die Fehlanreize durch die variable Vergütung mit kurzen Bezugszeiträumen für den Gesetzgeber im Vordergrund standen, setzen die reformierte Aktionärsrechterichtlinie und das ARUG II vor allem auf eine Erhöhung der Transparenz und Mitsprache durch Regelungen zum Vergütungssystem und Vergütungsbericht, um unangemessen hohen Vorstandsvergütungen entgegenzuwirken3. Die Personalkompetenz bleibt zwar beim Aufsichtsrat, die Aktionäre werden aber stärker einbezogen. Das unverbindliche Say-on-Pay der Hauptversammlung zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht ist jetzt für große börsennotierte Aktiengesellschaften obligatorisch (§ 120a AktG). Das soll die Schwäche der Aufsichtsräte bei der Vergütungsbegrenzung durch das Votum der Hauptversammlung reduzieren.4 Gerade die zum Teil exzessive Höhe der Vorstandsvergütung hat seit Jahren besondere öffentliche Wahrnehmung erfahren.5 Bereits 2007 haben Schwalbach und Schmidt in einer Studie deren sprunghafte Entwicklung eindrücklich dokumentiert, stiegen doch die Vorstandsbezüge seit 1998 um 1
Richtlinie 2017/828/EU zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre, ABl. EU L132 v. 17.5.2017, 1–25. 2 Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 19/739; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Justiz und Verbraucherschutz, BT-Drs. 19/15153. 3 Dazu Bayer DB 2018, 3034, 3035 ff.; Velte DStR 2018, 2445 ff. 4 Zweifelnd hinsichtlich der Wirksamkeit des Say-on-Pay Bayer DB 2018, 3034, 3038 ff.; Göx/Kunz ZfB 2012, 123, 139 ff.; Hupka Das Vergütungsvotum der Hauptversammlung, 2012, 166 ff.; anders Correa/Lel Say on Pay Laws, Executive Compensation CEO Pay Slice, and Firm Value around the World, Juni 2013 (abrufbar auf www.ssrn. com, zuletzt 17.1.2020). 5 Beispiele bei Bayer NZG 2013, 1, 6 f.; ders. DB 2018, 3034; Bayer/Meier-Wehrsdorfer AG 2013, 477 ff.; Timm ZIP 2010, 2125, 2127 f.
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ca. 7,4% jährlich, während die Vergütung der Belegschaft nur um ca. 3,2% wuchsen.6 An dieser Entwicklung hat das VorstAG nichts geändert.7 Die Höhe der Vergütung ist zunächst zwar eine Frage der angemessenen Gegenleistung und ein Anreiz im Wettbewerb um Führungskräfte. Allerdings zeigen Studien, dass der Anreiz zu einem Wechsel ins Ausland vergleichsweise gering ist.8 Eine Begrenzung der Vorstandsvergütung gefährdete daher nicht zwangsläufig den Wirtschaftsstandort Deutschland. Darüber hinaus ist die Bemessung der Vergütung eine wirtschaftsethische Frage und betrifft die gesellschaftliche Akzeptanz hoher Managerbezüge.9 Bereits 2010 hat in den USA der Dodd Frank Act zu einer Regelung verpflichtet, die den Aktiengesellschaften aufgibt, die Jahresvergütung des CEO und den Median der jährlichen Vergütung aller Arbeitnehmer dieser Gesellschaft sowie die sich daraus ergebende Worker-Pay-Ratio zu veröffentlichen.10 In der Schweiz hat die Kritik an den hohen Vorstandsvergütungen 2014 nach einer Volksabstimmung zum Erlass einer Verordnung geführt.11 In Österreich ist die Abzugsfähigkeit der Vorstandsbezüge als Betriebsausgaben auf 500.000 EUR beschränkt (§ 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG). In Deutschland hat die rechtspolitische Diskussion vergleichbare Regelungen hervorgebracht. Neben der Einführung einer Worker-Pay-Ratio12 wird die Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit der Vorstandsvergütung13 oder die Begrenzung der Vorstandsvergütung auf ein fixes Vielfaches 6 Schmidt/Schwalbach ZfB 2007, Sonderheft 1, 111, 118; s. auch Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V., Technische Universität München, Studie zur Vergütung der Vorstände in den DAX- und MDAX-Unternehmen in den Geschäftsjahren 2003, 2007, https://www.dsw-info.de/fileadmin/user_upload/Tabellen_PK_Vorstandsvergue tung_2016.pdf (zuletzt 4.1.2020). 7 Vgl. Allen&Overy Analyse der Vergütungssysteme 2016, 2017, https://www.alleno very.com/de-de/global/news-and-insights/news/analyse-der-vorstands--und-aufsichtsrats gehaelter-der-dax-30-unternehmen-2016 (zuletzt 4.1.2020); Hans-Böckler-Stiftung, IMU, Mitbestimmungsreport 2018, Nr. 44, https://www.boeckler.de/pdf/p_mbf_report_2018_ 44.pdf (zuletzt 4.1.2020). 8 Otto Vorstandsvergütung – Gesetzliche Obergrenzen als Garant für Angemessenheit?, 2012, 81 ff.; ders. AG 2012, R155; Stenzel Rechtliche und empirische Aspekte der Vorstandsvergütung, 2012, 173 ff. 9 Dazu z. B. Bayer DB 2018, 3034, 3035, 3041; Habersack NZG 2018, 127, 134. 10 Section 953 (b) Dodd Frank Wallstreet Reform and Consumer Protection Act v. 21.7. 2010, H.R. 4173, PUBLIC LAW 111–203, 124 STAT. 1376. 11 Verordnung gegen übermäßige Vergütungen bei börsennotierten Aktiengesellschaften vom 20.11.2013, in Kraft seit dem 1.1.2014, Amtl. Sammlung 2013, 4403. 12 Antrag der Fraktion der SPD, BT-Drs. 17/13472; zur Verfehlung des Regelungsziels in der US-amerikanischen Praxis Fleischer/Hupka DB 2010, 601, 604 ff.; Hupka (Fn. 4), S. 136 ff.; krit. auch Hey/Hey FR 2017, 309, 311 ff.; Verse NZG 2013, 921, 927. 13 Antrag der Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drs. 16/12112; Antrag der Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drs. 17/13239; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 17/14214, S. 15 f.; s. auch Antrag der Fraktion der SPD, BT-Drs. 17/13472; Antrag der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 19/7979;
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einer Referenzgröße für die Arbeitnehmervergütung vorgeschlagen.14 Das ARUG II enthält ebenso wie die reformierte Aktionärsrechterichtlinie indes keine Vorgaben für die Höhe der Vorstandsvergütung. § 87 Abs. 1 S. 2 AktG nimmt für die börsennotierten Gesellschaften lediglich das Kriterium der Nachhaltigkeit der Vergütung auf. Das Vergütungssystem muss zukünftig aber eine Maximalvergütung für die Vorstandsmitglieder festlegen und den Beitrag der Vergütung zur Geschäftsstrategie und zur langfristigen Entwicklung der Gesellschaft darlegen (§ 87a Abs. 1 Nr. 1, 2 AktG). Zudem muss der Vergütungsbericht Auskunft über die jährliche Änderung der Vorstandsvergütung, die Leistung der Gesellschaft und die durchschnittliche Vergütung der Beschäftigten (nach FTE) in den letzten fünf Jahren enthalten (§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 2 AktG). Diese Transparenz soll zumindest Anreiz sein, die Höhe der Vorstandsvergütung nicht exzessiv zu gestalten. Zudem kann die Hauptversammlung die Maximalvergütung für Vorstandsmitglieder bindend herabsetzen (§§ 87 Abs. 4, 122 Abs. 2 AktG). Weitergehende Vorgaben enthalten nur die Empfehlungen des DCGK.15 Die Angemessenheit der Vorstandsvergütung regelt – von den Sonderregelungen für Banken und Institute abgesehen – allein § 87 Abs. 1 AktG und bestimmt zwingend, dass „die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe“ überschritten werden darf. Diese Vorgabe hat bisher wenig Konkretisierung erfahren, zum Teil wird ihre Konkretisierbarkeit sogar in Abrede gestellt.16 Ziel des Beitrags ist es, sowohl die horizontale als auch die vertikale Vergleichbarkeit der Vorstandsvergütung näher zu bestimmen und damit den Inhalt der bereits vorhandenen Regelungen zu entfalten. Dabei sind die Tauglichkeit der Worker-Pay-Ratio sowie eines Peer-GroupVergleichs von wesentlicher Bedeutung, die zum Teil Gegenstand des 2019 neu gefassten DCGK sind.
zur Anwendbarkeit von § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 7 EStG bei unangemessenen Vorstandsbezügen Schiffer BB 2019, 931 ff. 14 Antrag der Fraktion DIE LINKE, Managergehälter gesetzlich beschränken, BTDrs. 19/7979. 15 Vgl. Teil G des Deutschen Corporate Governance Kodex v. 16.12.2019. 16 Bauer/Arnold AG 2009, 717, 720; Bosse Handbuch Vorstandsvergütung, 2010, Rn. 251; Lutter/Verse/Krieger Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, § 7 Rn. 397; Rieble/Schmittlein Vergütung von Vorständen und Führungskräften, 2011, Rn. 158; abl. auch Hüffer/Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rn. 3 ff.; Kort in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 87 Rn. 91; Seibt in Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 87 Rn. 10a.
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II. Üblichkeit der Vergütung als zwingender Maßstab nach § 87 Abs. 1 S. 1 AktG 1. Vergütungsparameter – Vergütungsbegrenzung Die Angemessenheit der Vorstandsvergütung bestimmt § 87 Abs. 1 S. 1 AktG durch eine Mehrzahl von Vergütungsparametern, die eine große Bandbreite an Gestaltungsmöglichkeiten zulassen. Teilweise wird § 87 Abs. 1 S. 1 AktG daher entgegen seiner formalen Einordnung als Soft Law bezeichnet.17 Grundsätzlich ist die Vorstandsvergütung individuell nach personenbezogenen Kriterien bemessen. Insofern bedarf es keiner generellen Gleichbehandlung der Vorstandsmitglieder.18 Bei der Bemessung der Vergütung stehen regelmäßig der Umfang der Aufgaben und die Leistungen des Vorstandsmitglieds im Vordergrund, so dass die Vergütung dessen Verantwortung und Erfolg spiegelt. Faktoren sind der Gremienvorsitz, die Größe des Ressorts und dessen Bedeutung für die Gesellschaft (Anzahl der Mitarbeiter, Umsatzverantwortung).19 Daneben ist die Leistung des Vorstandsmitglieds maßgebend.20 Kriterien sind die Dauer und Qualität der bisherigen Tätigkeit, die Qualifikation sowie tätigkeitsspezifische Kenntnisse und Berufserfahrungen.21 Das rechtfertigt insbesondere die in der Praxis übliche abgestufte Vergütung zwischen Vorstandsvorsitzendem und einfachem Vorstandsmitglied. Aufgrund der umfangreicheren Aufgaben und der höheren Verantwortung ist es mit § 87 Abs. 1 S. 1 AktG vereinbar, wenn der Vorstandsvorsitzende eine Vergütung in Höhe des Eineinhalb- bis Zweifachen eines einfachen Vorstandsmitglieds erhält.22 Soziale Kriterien wie die familiären Verhältnisse oder der Versorgungsbedarf von Ehegatten und Kindern sind angesichts der gesetzlichen Vorgaben keine zulässigen Parameter für die Vergütung.23 Weitere Kriterien für die Angemessenheit der Vergütung nach § 87 Abs. 1 S. 1 AktG sind die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft und die Üblichkeit der Vergütung. Ersteres soll auch eine Überforderung der Gesellschaft ver17
Hanau NJW 2009, 1652, 1653. Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rn. 10; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 133. 19 Z. B. Bosse (Fn. 16), Rn. 226; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 123 f. 20 Übernahme von Dritteinschätzungen bei der Erstbestellung unzulässig, so Bauer/ Arnold AG 2009, 717, 718; Bosse (Fn. 16), Rn. 224; Hohenstatt ZIP 2009, 1349, 1350; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 125. 21 Z. B. Bosse (Fn. 16), Rn. 226; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 123 f. (krit. zur Betriebstreue). 22 Ähnlich Bauer/Arnold AG 2009, 717, 719. 23 Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 123 f.; anders Bosse (Fn. 16), Rn. 226; Thüsing AG 2009, 517, 518. 18
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hindern, Letzteres begrenzt die Vorstandsvergütung stets und nicht nur im Sanierungsfall. Im Grunde handelt es sich um eine Rückbindung der Vergütungshöhe an den Markt für entsprechende Führungskräfte bzw. an die Verhältnisse im Unternehmen bei der Vergütungsfindung. Der Aufsichtsrat soll keine höhere Vergütung vereinbaren als für eine solche Tätigkeit marktüblich und unternehmensadäquat ist. Die Gesetzesmaterialien sehen für die Üblichkeit der Vergütung zwei Vergleichsmaßstäbe vor: zum einen die Vergütung von vergleichbaren Vorständen (horizontaler Vergleich), zum anderen das Lohn- und Gehaltsgefüge im Unternehmen (vertikaler Vergleich).24 Letzteres bewirkt einen Schutz angesichts des Marktversagens bei der Preisbildung für die Vorstandstätigkeit. 2. Horizontale Vergleichbarkeit der Vergütung Die Üblichkeit der Vergütung eines Vorstandsmitglieds im horizontalen Vergleich ermittelt sich anhand des üblichen Vergütungsniveaus für Vorstandsmitglieder. Das entspricht dem Maßstab in § 612 Abs. 2 BGB. Als Grundlage können die von Kienbaum gesammelten und jährlich veröffentlichten Daten dienen.25 Entscheidend für den Umgang mit den Zahlenwerken ist das richtige Abstecken des vergleichbaren Personenkreises bzw. des Marktes, auf dem die (potentiellen) Vorstandsmitglieder ihre Tätigkeit anbieten. Der Gesetzentwurf des VorstAG und der Bericht des Rechtsausschusses scheinen davon auszugehen, dass für den horizontalen Vergleich räumlich auf Deutschland abzustellen ist.26 Der Wortlaut des § 87 Abs. 1 S. 1 AktG gibt das indes nicht klar vor, und der Normzweck erzwingt diese Beschränkung nicht in jedem Fall. Für den horizontalen Vergleich ist ein Vergleichspreis zu ermitteln, so dass es darauf ankommen muss, auf welchem Markt das betreffende Vorstandsmitglied seine Leistung anbietet. Für ein (potentielles) Vorstandsmitglied, das bisher nur im Inland tätig war und keine konkreten Angebote aus dem Ausland hatte, kann daher nur der nationale Markt maßgebend sein.27 Etwas anderes gilt bei international tätigen Vorständen bzw. solchen, die ein relevantes Angebot aus dem Ausland haben.28 24
Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 16/12278, 5; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 16/13433, 10. 25 Vgl. https://shop.kienbaum.com/gehaltsdaten/gehaltsdaten-nach-produktart/gehalts studien-gehaltsreports/vorstaende-aufsichtsraete (zuletzt 4.1.2020). 26 Vgl. Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. 16/12278, 5; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 16/13433, 10 (auf den Geltungsbereich des Gesetzes abstellend); krit. Bauer/Arnold AG 2009, 717, 719; Mertens/Cahn in KKAktG, 3. Aufl. 2010, § 87 Rn. 16; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 143 f. 27 Bosse (Fn. 16), Rn. 247 f. 28 Bauer/Arnold AG 2009, 717, 720; Bosse (Fn. 16), Rn. 248; Fleischer NZG 2009, 801, 802; Kort in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 87 Rn. 95; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 144; Spindler in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 87 Rn. 58.
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Für den horizontalen Vergleich wird es in vielen Fällen auf die Branche, die vergleichbare Marktstellung, Größe und Komplexität des Unternehmens ankommen. Abgrenzungskriterien sind insbesondere Bilanzsumme, Umsatz, Ergebnis, Ertragskraft, Liquidität, Aktionärsstruktur, Internationalität, Arbeitnehmerzahl und Wettbewerbsposition.29 Insofern bleibt ein Spielraum, der es erlaubt, Rücksicht auf den Verantwortungsbereich des Vorstandsmitglieds zu nehmen. Der Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher zum ARUG II stellt klar, dass § 87 Abs. 1 S. 1 AktG keine Beschränkung des Vergleichs auf börsennotierte Gesellschaften bewirkt.30 Die Börsennotierung hat auf die Anforderungen und die Verantwortung des Vorstandsmitglieds keinen Einfluss, die eine unterschiedliche Vergütung rechtfertigt. Der Marktbezug hat aber zur Folge, dass es für die Vergleichsvergütung nicht auf die Branche des Unternehmens ankommt, wenn das Vorstandsmitglied branchenübergreifend tätig werden kann. Insbesondere für Finanzund Personalvorstände, für die der Branchenwechsel ohne weiteres möglich ist, ist ein Vergleich unabhängig von der Branche der Vergleichsunternehmen vorzunehmen. Für Entwicklungs- und Technikvorstände ist die Branchenzugehörigkeit indes von Relevanz. Dies mag auch für Vertriebsvorstände gelten. In jedem Fall ist die Üblichkeit der Vergütung nur ein Anhaltspunkt für die Angemessenheit. Abweichungen sind aus sachlichem Grund – nach oben wie nach unten – zulässig. Für eine niedrigere Vergütung spricht insbesondere die Lage der Gesellschaft, für eine höhere z. B. ein Konkurrenzangebot oder die Gewinnung eines Vorstands mit besonderem Sachwissen, die ihm eine außergewöhnliche Verhandlungsposition gibt.31 Ein Abweichen vom Üblichen ist auch gerechtfertigt, wenn die Lage des Unternehmens und seine strategische Planung den Einsatz von Vorständen jenseits der üblichen Vergütung erforderlich machen.32 Letztlich können nur solche Umstände eine höhere Vergütung rechtfertigen, die sich den anderen in § 87 Abs. 1 S. 1 AktG genannten Kriterien zuordnen lassen.33 Der DCGK 2019 empfiehlt 29 Bosse (Fn. 16), Rn. 215, 243, 246; Lutter/Verse/Krieger (Fn. 16), § 7 Rn. 397; Rieble/ Schmittlein (Fn. 16), Rn. 141; krit. zur Bestimmbarkeit des relevanten Vorstandsmarktes, Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 146 ff. 30 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher, BTDrs. 19/15153, 60. 31 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rn. 16,19; Hoffmann/Becking/ Krieger NZG 2009, Beilage Heft 26, 1; Kling DZWir 2010, 221, 225; Kort in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 87 Rn. 95; Lingemann BB 2009, 1918 f.; Spindler in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 87 Rn. 59; Suchan/Winter DB 2009, 2531, 2535; vgl. LG München I AG 2007, 458 (besondere Leistung). 32 Kort in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 87 Rn. 94; Seibt in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 87 Rn. 10. 33 Kort in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 87 Rn. 94.
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zudem, dass der Aufsichtsrat die Zusammensetzung der Vergleichsgruppe offenlegt (G.3). Weiter soll der Vergleich genutzt werden, damit es nicht zu einer automatischen Aufwärtsentwicklung der Vorstandsvergütung kommt. 3. Vertikale Vergleichbarkeit der Vergütung i. S. von § 87 Abs. 1 S. 1 AktG a) Vertikale Üblichkeit der Vergütung – eine notwendige Begrenzung Der horizontale Vergütungsvergleich ist zwar eine Methode, um die übliche Vergütung zu ermitteln, er verhindert aber nicht effektiv die Loslösung der Vorstandsvergütung vom Vergütungsgefüge des Unternehmens und ein Aufschaukeln der Vorstandsbezüge über lange Zeiträume. Erst recht taugt der horizontale Vergleich nicht dazu, die Entwicklung der Vergangenheit zu korrigieren. Eine wirksame Begrenzung der Vorstandsvergütung kommt nach § 87 Abs. 1 S. 1 AktG vor allem dadurch in Betracht, dass die Üblichkeit der Vergütung durch einen vertikalen Vergleich der Vorstandsbezüge im Verhältnis zum Vergütungsgefüge im Unternehmen ermittelt wird. Die Bestimmung der üblichen Vergütung anhand eines solchen vertikalen Vergleichs ist vom weiten Wortlaut des § 87 Abs. 1 S. 1 AktG gedeckt und war vom Gesetzgeber als Korrektiv gewollt.34 Bisher hat die gesetzliche Regelung indes keine nennenswerte Wirkung gezeigt. Die vertikale Üblichkeit, die das Vergütungsgefüge innerhalb der Belegschaft erfassen soll, hat keine hinreichende Konkretisierung erfahren.35 Inhaltlich geht es bei der Bestimmung der Vergütungshöhe an sich um die Leistungsgerechtigkeit der Vergütung. Maßgebend ist das für synallagmatische Austauschverträge geltende Prinzip der iustitia commutativa. Ausgangspunkt der Vergütungsbemessung sind wegen der angestrebten Austauschgerechtigkeit die personenbezogenen Kriterien nach § 87 Abs. 1 S. 1 AktG. Die Üblichkeit der Vergütung im vertikalen Vergleich tritt als Korrektiv wegen des existierenden Marktversagens hinzu.36 Im Vergleich dazu nehmen Regelungen wie § 612 BGB oder § 632 BGB zur Ermittlung der üblichen Vergütung nur den Vergleich mit ähnlichen Dienstnehmern oder Unternehmen vor.37 Beide Normen haben im Gegensatz zu § 87 Abs. 1 AktG nur die Funktion, als dispositives Recht Vertragslücken hinsichtlich der Ge34
Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 16/12278, 5. Gegen eine Konkretisierung Lutter/Verse/Krieger (Fn. 16), § 7 Rn. 397; Schwark in FS Raiser, 2005, 377, 387 ff.; krit. auch Hüffer/Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rn. 3; Grattenthaler Die Vergütung von Vorstandsmitgliedern in Aktiengesellschaften, 2007, 345 ff.; anders Lücke NZG 2005, 692, 696 f. 36 Vgl. Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 16/12278, 1, 5; vgl. auch Fleischer DStR 2005, 1279, 1282; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 17. 37 BAG NZA 2011, 1173 Rn. 16; Busche in MüKoBGB, 8. Aufl. 2018, § 632 Rn. 22; Müller-Glöge in MüKoBGB, 8. Aufl. 2020, § 612 Rn. 29; Peters/Jacoby in Staudinger BGB, 2014, § 632 Rn. 49 ff.; Richardi/Fischinger in Staudinger BGB, 2016, § 612 Rn. 56. 35
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genleistung zu füllen.38 § 87 Abs. 1 AktG bewirkt hingegen eine Angemessenheitskontrolle unterhalb der Sittenwidrigkeitsschwelle. Es sollen nicht nur Fehlanreize im Hinblick auf eine langfristige und nachhaltige Entwicklung des Unternehmens, sondern auch überhöhte Vergütungen vermieden werden. Hierfür kommt neben dem Anknüpfen an die Lage des Unternehmens auch die Rückbindung an das Gehaltsgefüge in Betracht. Ein solches Vorgehen beim Versagen des Vertragsmechanismus ist in der Rechtsordnung kein Einzelfall. Ursache für das Eingreifen des Gesetzgebers ist in diesem Fall nicht die strukturelle Unterlegenheit eines Vertragspartners wie im Miet-, Arbeits- oder Verbraucherschutzrecht, sondern ein Defizit im institutionellen Gefüge der AG. Das VorstAG hat bereits versucht, dem durch inhaltliche Vorgaben für die Vergütungsvereinbarung (§ 87 Abs. 1 AktG) und das Say-on-Pay der Hauptversammlung (§ 120 Abs. 4 AktG a.F.) entgegenzuwirken.39 Das ARUG II hat die Transparenz und die Mitwirkung der Hauptversammlung noch verstärkt. Die Aufsichtsratsmitglieder sind als Organwalter bei der Festsetzung der Vorstandsvergütung zudem an das Unternehmensinteresse und ihre Treuepflicht gegenüber der AG gebunden. Sie dürfen Gesellschaftsvermögen nicht verschwenden und somit nicht ohne sachlichen Grund mehr als üblich bezahlen.40 Dem lässt sich nicht entgegengehalten, dass es eines solchen Maßstabs zum Schutz der Aktionäre vor einer maßlosen Vergütung nicht bedürfe, weil diese nicht die Interessen der Aktionäre bedrohe. Zudem bestehe die Gefahr, einen falschen Anreiz dahingehend zu setzen, das Lohnniveau allgemein zu erhöhen.41 Letzteres liegt eher fern, weil sich auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens verschlechtert, was sich letztlich negativ auf die variable Vorstandsvergütung auswirkt. Gerade der vertikale Vergleich ermöglicht die Rückkehr zu einem nachvollziehbaren Vergütungsgefüge im Unternehmen. Damit wird keine absolute Obergrenze gezogen42, sondern die Preisbildung wieder auf einen in der Vergangenheit bestehenden Preisbildungsmechanismus zurückgeführt, der ein insgesamt nachvollziehbares Marktgeschehen bei der Vergütung im Auge hat (siehe II.3.b). Daraus ergeben sich auch keine gravierenden Nachteile beim Wettbewerb um Führungskräfte. Eine massenhafte Abwanderung von Managern ins Ausland ist nicht zu erwarten. Angesichts der deutlich höheren 38 Vgl. Busche in MüKoBGB, 8. Aufl. 2019, § 632 Rn. 18; Müller-Glöge in MüKoBGB, 8. Aufl. 2020, § 612 Rn. 1 ff.; Peters/Jacoby in Staudinger BGB, 2014, § 632 Rn. 1, 42; Richardi/Fischinger in Staudinger BGB, 2016, § 612 Rn. 6. 39 Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 16/12278, 5. 40 Dazu Schwark in FS Raiser, 2005, 377, 382; ähnlich Peltzer in FS Lutter, 2000, 571, 577. 41 Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 155. 42 Dagegen auch Habersack NZG 2018, 127, 133; Kort in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 87 Rn. 91; Seibt in Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 87 Rn. 10a; Spindler in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 87 Rn. 61.
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Vorstandsvergütung in den USA wäre dies schon längst zu beobachten gewesen. b) Vergleichsgruppe Das zentrale Problem des vertikalen Vergütungsvergleichs sind die Bezugsgrößen. Wegen der individuellen Ermittlung der angemessenen Vergütung wäre es wenig plausibel, wenn der Maßstab für den vertikalen Vergleich unabhängig vom Unternehmen und seiner Vergütungsstruktur wäre. Der Gesetzgeber kann sich zwar entscheiden, allgemeine absolute Obergrenzen zu regeln oder eine Begrenzung der Vergütung zumindest indirekt dadurch anzusteuern, dass die Vergütung von Vorstandsmitgliedern jenseits eines bestimmten Höchstbetrages (z. B. 500.000 Euro) nicht abzugsfähige Betriebsausgaben sind. Beides trägt aber nicht zu einem funktionierenden vertikalen Vergleich bei. Für die Maßstabsfindung sollte eine Orientierung an den Aufgaben und der Verantwortung des Vorstandsmitglieds erhalten bleiben, weil es sich zum einen um zentrale Kriterien der Vergütungsfindung nach § 87 Abs. 1 S. 1 AktG handelt, zum anderen die Leistungsgerechtigkeit der Vergütung Ausdruck einer iustitia commutativa ist. Daher liegt es nahe, die Vorstandsvergütung in Relation zu anderen Beschäftigtengruppen zu setzen, die nach Aufgabe und Verantwortung – in einem abgestuften Verhältnis – einen Vergleich ermöglichen. Eine erste Vergleichsgruppe sind insbesondere die Führungskräfte des Unternehmens unterhalb des Vorstands, aus denen die Gesellschaft typischerweise ihren Vorstandsnachwuchs rekrutiert (erste Ebene unterhalb des Vorstands).43 Diese Beschäftigten tragen Verantwortung und treffen eine Vielzahl weitreichender Richtungsentscheidungen in den Unternehmensteilen. Insofern bedarf es besonderer Sachgründe, wenn die Vergütung eines Vorstandsmitglieds mehr als das Dreifache von deren Vergütung betragen sollte. Schließlich sind Aufgaben, Leistung und Verantwortung maßgebende Vergütungsparameter. Diesem Herangehen steht nicht entgegen, dass Führungskräfte wegen besonders hoher Boni gelegentlich genauso viel oder mehr als ein Vorstandsmitglied verdienen.44 Das Kriterium der Üblichkeit dient der Plausibilisierung eines Vergütungsgefüges, so dass punktuelle Abweichungen aus sachlichen Gründen ohnehin möglich sind. 43 Hüffer/Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rn. 3; Ihrig/Schäfer Rechte und Pflichten des Vorstands, 2014, Rn. 203; Kling DZWiR 2010, 221, 226; Kort in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 87 Rn. 91; für eine funktionale Abgrenzung der obersten Führungskräfte SchmidtBendun AG 2014, 177, 178; ähnlich Peltzer in FS Lutter, 2000, 571, 586. 44 Darauf verweisen Lutter/Verse/Krieger (Fn. 16), § 7 Rn. 397; s. auch HoffmannBecking/Krieger NZG 2009, Beilage Heft 26, 1 (keine Pflicht zur Einhaltung einer bestimmten Vergütungsstaffelung).
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Auch der DCGK empfiehlt seit 201345, eine Relation für die Vergütung Vorstandsmitglieder im Verhältnis zur Vergütung des obersten Führungskreises vorzusehen. Die Abgrenzung und Festsetzung der Relation der Vergütung zwischen Vorstandsmitglied und Führungskräften, ist aber allein dem Aufsichtsrat überlassen. Insoweit bleibt der Kodex hinter dem möglichen Grad der Gesetzeskonkretisierung zurück. c) Vergleich mit der Belegschaft insgesamt und Worker-Pay-Ratio Zur Vervollständigung des vertikalen Vergleichs kommt ein Vergleich zwischen der Vorstandsvergütung und der Vergütung der Belegschaft in Betracht. Eher unspezifisch und aussageschwach ist jedoch ein Vergleich mit der Durchschnittsvergütung der Belegschaft. Das gilt selbst dann, wenn man, wie es der DCGK empfiehlt46, auf die „relevante Belegschaft“ abstellt. Diese Einschränkung hat zwar den Vorteil, dass sich der Vergleich auf die Stammbelegschaft unter Außerachtlassung der atypischen Beschäftigten (Teilzeit, Befristung, Leiharbeit) konzentriert.47 Auch eine Beschränkung auf die in Deutschland beschäftigte Belegschaft kann sinnvoll sein. Mit dem Zahlenvielfachen des Durchschnitts oder Medians dieser Belegschaft ist jedoch nicht viel gewonnen. Die Festlegung eines Vielfachen als maximale Obergrenze der Vorstandsvergütung wäre vergleichsweise willkürlich. Zudem sind Manipulationen durch Auslagerungen möglich.48 Der Zweck des § 87 Abs. 1 S. 1 AktG und des Abstellens auf die übliche Vergütung legt es vielmehr nahe, sich an dem im Unternehmen bestehenden Vergütungsgefüge, insbesondere an dem mit den Sozialpartnern bestimmten Tarifgefüge zu orientieren. Dabei ist für deutsche Vorstandsmitglieder eine Begrenzung des Vergleichs auf die Belegschaft in Deutschland sinnvoll, ansonsten würde der vertikale Vergleich durch die abweichenden Tarifgefüge und die unterschiedliche Kaufkraft in den einzelnen Staaten inoperabel. Sofern ein Tarifgefüge besteht, ist vor allem auf die höchste Tarifgruppe Bezug zu nehmen. Trotz der höheren Verantwortung, lässt sich kaum begründen, dass außertarifliche Führungskräfte mehr als das Drei- bis Vierfache dieser Beschäftigten verdienen. Dieser Vergleich ergänzt den Vergleich der Vorstandsvergütung mit derjenigen der Führungskräfte, aus denen Vorstandsmitglieder rekrutiert werden, dem Normzweck entsprechend. Er verhindert ein Aufschaukeln der Vergütung der außertariflichen Angestellten. Zudem wird innerhalb der Stammbelegschaft typischerweise auf ein nachvollzieh45 Zunächst Ziff. 4.2.2 Abs. 2 S. 3 DCGK, in der Neufassung von 2019 in die Empfehlung G.4 übernommen. 46 Zunächst Ziff. 4.2.2 Abs. 2 S. 3 DCGK, in der Neufassung von 2019 in die Empfehlung G.4 übernommen. 47 Zum Gestaltungsspielraum des Aufsichtsrates Schmidt-Bendun AG 2014, 177, 178. 48 Habersack NZG 2018, 127, 133.
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bares Lohngefüge geachtet. Ein solcher Vergleich ist selbst beim Zusammentreffen mehrerer Vergütungsstandards in einem Unternehmen (z. B. infolge von Betriebsübergängen) handhabbar, weil an der höchsten Lohngruppe angeknüpft wird. Hilfreich und plausibel erscheint darüber hinaus, auf die Gehaltsentwicklung, also die Lohnsteigerung, in der (relevanten) Belegschaft und bei Vorstandsmitgliedern abzustellen. Die unterschiedliche Vergütungsentwicklung für die Belegschaft und die Vorstandsmitglieder bedarf eines Sachgrundes. Das gilt insbesondere, wenn die Vorstandsvergütung deutlich stärker steigen soll als die Vergütung der Belegschaft. Ein solcher Sachgrund kann vorliegen, wenn ein Vorstandsmitglied abgeworben werden soll49 oder die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft die Geschäftsleitung vor besondere Herausforderungen stellt und besondere Sanierungs- oder Branchenerfahrung erforderlich ist50. Auch außergewöhnliche Leistungen oder Kenntnisse51 einzelner Vorstandsmitglieder stellen einen Sachgrund dar. Eine dauerhafte überproportionale Steigerung lässt sich damit freilich nicht legitimieren. Zudem hindert diese Betrachtung nicht die Korrektur von Fehlentwicklungen in der Vergangenheit. Die Üblichkeit der Vergütung ist bei der Beurteilung der Angemessenheit der Vorstandsvergütung kein subsidiäres, sondern bereits dem Wortlaut nach ein gleichrangiges Kriterium. Der horizontale und der vertikale Vergleich zur Beurteilung der Üblichkeit stehen in keinem Rangverhältnis. Insofern besteht auch kein Vorrang des horizontalen Vergleichs.52 Die Gesetzesbegründung zu § 87 Abs. 1 S. 1 AktG verweist zwar darauf, dass die vertikale Üblichkeit auch herangezogen werden kann.53 Daraus ergibt sich aber kein eindeutiger Vorrang der horizontalen Vergleichbarkeit, zumal sich dies nicht im Gesetz spiegelt.54 Vielmehr bedarf es einer Würdigung aller Faktoren. Über die (vertikal bemessene) Üblichkeit der Vergütung hinaus wird die Einführung einer Worker-Pay-Ratio gefordert, um das Verhältnis der Vorstandsvergütung zur Vergütungsentwicklung des Belegschaftsdurchschnitts
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Bosse (Fn. 16), Rn. 262; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 165. Bosse (Fn. 16), Rn. 263; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 165, 206. 51 Z. B. besondere Kundenbeziehungen, Bosse (Fn. 16), Rn. 263; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 165, 206. 52 So aber Bauer/Arnold AG 2009, 717, 720; s. auch Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rn. 18; Hüffer/Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rn. 3; Kort in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 87 Rn. 91, 92; Seibt in Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 87 Rn. 10a. 53 Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 16/12278, 5. 54 So aber Bauer/Arnold AG 2009, 717, 720; Fleischer NZG 2009, 801, 802; Hüffer/Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rn. 3; Seibt in Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 87 Rn. 10a. 50
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abzubilden.55 Für einen solchen Maßstab, zumal wenn er eine feste Obergrenze sein soll, fehlt indes eine rationale Grundlage.56 Es handelt sich um eine politisch gesetzte Größe, die an den Realitäten der Unternehmen vorbeigehen kann. Die Vergütung ist das zentrale Steuerungselement in Vorstandsverträgen zum Interessenausgleich, so dass exzessive Vergütungen verhindert werden sollten, ohne die Anpassung an das Unternehmen zu unterbinden. Zu einer Einführung einer verbindlichen Worker-Pay-Ratio zwingt auch die reformierte Aktionärsrechterichtlinie nicht. Art. 9b Abs. 1 UAbs. 2 lit. b verpflichtet nur zur Information der Hauptversammlung über das Verhältnis der Vorstandsvergütung zur durchschnittlichen Vergütung der Vollzeitbeschäftigten der Gesellschaft, die nicht zur Unternehmensleitung gehören und „einen Vergleich ermöglichen“. Ziel der Richtlinie ist Transparenz, aber nicht die Koppelung der Vergütung an eine Management-Worker-PayRatio.57
III. Maximalvergütung für Vorstandsmitglieder nach § 87a Abs. 1 Nr. 1 AktG Nach § 87a Abs. 1 S. 1 AktG muss das Vergütungssystem der Aktiengesellschaft zukünftig zwingend eine Maximalvergütung für Vorstandsmitglieder enthalten. Das übernimmt eine Empfehlung des DCGK ins AktG, lässt aber einen weiten Gestaltungsspielraum, so dass die Maximalvergütung individuell oder für alle einfachen Vorstandsmitglieder gemeinsam bestimmt werden kann.58 Nicht vorgegeben ist, ob ein Globalbetrag oder eine ausdifferenzierte Vorgabe für einzelne Vergütungsbestandteile beschlossen wird, jedenfalls ist nach der Ausschussbegründung eine konkrete Zahl festzuhalten.59 Dies war für den DCGK, der seit 2013 eine solche Vorgabe enthält, noch streitig60, obwohl der Kodex anders als § 87a Abs. 1 Nr. 1 AktG „betragsmäßige Höchstgrenzen“ empfahl, was für die Festsetzung eines konkreten Betrages sprach. 55
Z.B. DGB, AG Vorstandsvergütung, Empfehlungen des DGB zur Regulierung der Vorstandsvergütung, www.dgb.de/themen/++co++d342e3de-5011-11e7-aa53-525400e5a 74a (zuletzt am 4.1.2020). 56 Bosse (Fn. 16), Rn. 251; Habersack NZG 2018, 127, 133; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 158; Zweifel an Justiziablität auch bei Lutter/Verse/Krieger (Fn. 16), § 7 Rn. 397. 57 Leuering NZG 2017, 646, 649. 58 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher, BTDrs. 19/15153, 63. 59 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher, BTDrs. 19/15153, 63 f. 60 Dafür Kramarsch/Siepmann Der Aufsichtsrat 2013, 54; a.A. Sünner AG 2014, 115, 117.
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Die Maximalvergütung kann die Hauptversammlung, anders als beim übrigen Say-on-Pay, verbindlich herabsetzen. Das belässt die Vergütungskompetenz an sich beim Aufsichtsrat, stellt ihm bei der Begrenzung der Vergütung durch das Vergütungssystem die Hauptversammlung zur Seite, um dem Ziel, exzessive Vorstandsvergütungen zu verhindern, Nachdruck zu verleihen.61 Das mag im Einzelfall diejenigen Aufsichtsratsmitglieder, die sich für eine zurückhaltende Festsetzung oder Herabsetzung der Vergütung aussprechen, in der Auseinandersetzung schwächen, weil die Entscheidung darüber auf die Hauptversammlung verlagert werden kann. Ob es dazu kommt oder die Selbstbehauptung des Aufsichtsrats einsetzt, mag die Zukunft zeigen. Jedenfalls werden Vorstandsverträge in Zukunft eine Anpassungsklausel in Bezug auf die Maximalvergütung enthalten müssen, damit der Aufsichtsrat pflichtgemäß handelt. Im Ergebnis kombiniert das AktG heute materiell-rechtliche Kriterien für deren Angemessenheit für die Vorstandsvergütung mit prozeduralen Vorgaben.
IV. Rechtsfolgen bei Verstößen gegen die §§ 87 Abs. 1, 87a Abs. 1 AktG Ein Verstoß gegen § 87 AktG führt nach h. M. nicht zur Nichtigkeit der Vergütungsvereinbarung, sondern ist nur eine Pflichtverletzung des Aufsichtsrats, die dessen Mitglieder zum Schadensersatz verpflichtet (§§ 116 S. 3, 93 Abs. 2 AktG). Die Vereinbarung sei nur dann schwebend unwirksam, wenn ein Missbrauch der Vertretungsmacht vorliege.62 Die notwendige Evidenz des Pflichtverstoßes komme insbesondere bei Vertragsverlängerungen in Betracht, wobei genüge, dass ein ordentliches und gewissenhaftes Vorstandsmitglied hätte erkennen können, dass die Grenze von § 87 Abs. 1 AktG überschritten sei.63 Zudem sei das Vorstandsmitglied wegen der Treuepflichtverletzung schadensersatzpflichtig.64 61 Für ein unverbindliches Say-on-Pay der Hauptversammlung wegen der dualistischen Verfassung der AG z. B. Hupka (Fn. 4), 333 f.; Lanfermann/Maul BB 2017, 1218, 1220; Lieder/Fischer ECFR 2011, 376, 408 ff.; Renner AG 2015, 513, 515, 518 f., 522; rechtspolitisch Leuering NZG 2017, 646, 649; rechtsvergleichend Lieder/Fischer ECFR 2011, 376, 381 ff. 62 OLG Celle AG 2003, 433; OLG München AG 2008, 423; Drygala in Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 112 Rn. 20 f.; Heins Die Angemessenheit von Vorstandsbezügen einer Aktiengesellschaft, 2006, 159 f.; Köhler NZG 2008, 161, 163; Leuering in FS Kollhosser, 2004, 361, 373; Lutter/Verse/Krieger (Fn. 16), § 7 Rn. 395; Macht MittBayNot 2004, 81, 89; Mertens/Cahn in KKAktG, 3. Aufl. 2010, § 87 Rn. 5; Nägele/Böhm BB 2005, 2197, 2199; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 96; Spindler AG 2011, 725, 730; Verse NZG 2013, 921, 928; Werner ZGR 1989, 369, 392 ff.; offenlassend BGH AG 1994, 35. 63 Zur Absenkung der subjektiven Anforderungen mangels berechtigten Interesses am Verkehrsschutz Langenbucher in FS Huber, 2006, 861, 863 ff.; Lutter ZIP 2006, 733, 735; Martens ZHR 169 (2005), 124, 135 f.; Schwark in FS Raiser, 2005, 377, 395; Spindler in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 87 Rn. 143 f.; Peltzer in FS Lutter, 2000, 574, 579; ähnlich
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§ 87 Abs. 1 AktG ist ein Angemessenheitsmaßstab unterhalb der Sittenwidrigkeit65 und setzt dem Aufsichtsrat Grenzen.66 Die Norm ist Teil der Organisationsverfassung der AG, stellt aber auch eine wirtschaftsethische Regelung im Interesse der Allgemeinheit dar. Bereits das AktG 1937 enthielt eine solche Vorgabe als Reaktion auf Skandale wegen zu hoher Vorstandsvergütungen; zumindest die Regelung zur Gewinnbeteiligung in § 86 Abs. 2 S. 2 AktG 1937 sah die Nichtigkeit abweichender Vereinbarungen vor.67 Auch die Gesetzesmaterialien zum VorstAG verwiesen insoweit auf das AktG 1937 und die bloße Anpassung des Angemessenheitsmaßstabs nach den Erfahrungen aus der Wirtschafts- und Finanzkrise.68 Darüber hinaus ist § 87 Abs. 1 AktG eine Konkretisierung der Treuepflicht der Organwalter gegenüber der AG, die auch die zukünftigen Vorstandsmitglieder vorwirkend binden muss. Dennoch hat der Gesetzgeber bereits im TransPuG bei der Streichung des § 86 AktG erkennen lassen, dass lediglich § 138 BGB eine zur Nichtigkeit führende Grenze für die Vergütungsvereinbarung ist.69 Die Einordnung des § 87 Abs. 1 AktG als Verbotsgesetz ist angesichts seines wirtschaftsethischen Gehalts zumindest de lege ferenda angezeigt.70 Das Gleiche muss gelten, wenn die Vergütungsvereinbarung dem Vergütungssystem nach § 87a AktG widerspricht.71 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem ARUG II, das durch erhöhte Transparenz und die Mitwirkung der Hauptversammlung überhöhten Vorstandsbezügen entgegenwirken will. Diese Ergänzung des § 87 Abs. 1 Kort DStR 2007, 1127, 1129 ff.; krit. Brandes ZIP 2013, 1107, 1110 f.; Drygala in FS Schneider, 2011, 275, 286 f.; Rieble/Schmittlein (Fn. 16), Rn. 97. 64 Zetzsche, NZG 2014, 1121, 1130; zur culpa in contrahendo vor Amtsübernahme Fleischer DStR 2005, 1318, 1322; anders wohl Spindler in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 87 Rn. 141 f. 65 Hüffer/Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rn. 1; Spindler, AG 2011, 725, 729. s. auch Peltzer in FS Lutter, 2000, 571, 579. 66 Ebenso Säcker/Stenzel JZ 2006, 1151, 1152 f. 67 Vgl. Reichsgesetzblatt 1937, 107 ff.; Amtliche Begründung zu § 86 AktG 1937, Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Reichsanzeiger 1937, Nr. 28, 4; ferner MeyerLandruth in GroßKommAktG, 3. Aufl. 1973, § 86 Anm. 6; dennoch die Wirksamkeit des Anstellungsvertrages bis zur Sittenwidrigkeitsgrenze annehmend Schmidt/Meyer-Landrut in GroßkommAktG, 2. Aufl. 1961, § 78 Anm. 5; s. auch Schlegelberger AktG, 3. Aufl. 1939, § 78 Rn. 7, § 77 Rn. 21 (nur Gewinnbeteiligung nichtig). 68 Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 16/12278, 5. 69 Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. 14/8769, 13. 70 So de lege lata OLG Stuttgart AG 1993, 85, 86; OLG Hamburg AG 1986, 259; Hopt/Roth in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2019, § 112 Rn. 114 ff.; Säcker/Stenzel JZ 2006, 1151, 1152 ff.; Semler in FS Rowedder, 1994, 441, 455 f.; Werner Der Konzern 2008, 639, 642 f. Für eine Aufwertung des § 87 Abs. 1 AktG zu einem Verbotsgesetz Bayer/MeierWehrsdorfer AG 2013, 477, 488; Thüsing ZGR 2003, 457, 506; ebenso in Bezug auf § 112 AktG Lim Die Vertretungsmacht des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft, 1986, 47 ff.; a. A. Fleischer DStR 2005, 1318, 1322; Langenbucher FS Huber, 2006, 861, 863; MarschBarner FS Röhricht, 2005, 401, 403; Schwark in FS Raiser, 2005, 377, 398; Spindler in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 87 Rn. 142. 71 So zum Verstoß gegen die Vergütungspolitik Zetzsche NZG 2014, 1121, 1130.
Zur Begrenzung der Vergütung von Vorstandsmitgliedern
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AktG ist notwendig, um den Aufsichtsrat, der die Ansprüche gegen die Vorstandsmitglieder durchsetzen muss, stärker zum Handeln zu motivieren. Das gilt umso mehr als die Schadensersatzansprüche gegen den Aufsichtsrat (§§ 116 S. 3, 93 Abs. 2 AktG) vom Vorstand geltend zu machen sind und damit ein wechselseitiges Stillhalten trotz Gesetzesverstoßes zu erwarten ist. Das ist auch dann nicht entbehrlich, wenn § 87 Abs. 1 AktG ein Verbotsgesetz ist. Vielmehr intensiviert sich so das Private Enforcement. Selbst wenn § 87 Abs. 1 AktG kein Verbotsgesetz ist, so handelt der Aufsichtsrat jedenfalls außerhalb seines Kompetenzbereichs und damit als Organ ultra vires. Der BGH hat in solchen Fällen die §§ 177–179 BGB analog angewandt.72 Eine Genehmigung scheidet jedoch wegen der Vorgaben der §§ 87 Abs. 1, 87a Abs. 1 AktG aus, weil es sich um eine Regelung im Interesse der Allgemeinheit handelt. Ein Anspruch aus § 179 Abs. 1 BGB scheitert ggf. an der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis des Vorstandsmitglieds von der Unangemessenheit der Vergütung. Der Verkehrsschutz des § 179 Abs. 1 BGB ist wegen des Gesetzesverstoßes an sich nicht berechtigt, so dass zumindest mit der h.M. ein strenger Maßstab an das Kennenmüssen des Vorstandsmitglieds anzulegen ist.
V. Fazit Die Angemessenheit der Vorstandsvergütung betrifft nicht nur das Eigeninteresse der Aktiengesellschaft, sondern ist auch eine wirtschaftsethische Frage. § 87 Abs. 1 AktG sollte insofern nicht nur Schutz-, sondern auch Verbotsgesetz sein. Seine praktische Wirksamkeit hängt von der konsequenten Konkretisierung der Angemessenheitskriterien, insbesondere der Üblichkeit der Vergütung, ab. Für den vertikalen Vergleich der Vorstandsvergütung ist ein handhabbarer Maßstab möglich. Dazu ist auf die Vergütung der Führungskräfte abzustellen, aus denen sich die Vorstandsmitglieder rekrutieren. Diese sind zudem in ein Verhältnis zu den obersten Lohngruppen im Unternehmen zu setzen, so dass sich die Vorstandsvergütung insgesamt in das Vergütungsgefüge des Unternehmens einschließlich der außertariflichen Angestellten einfügen muss. Dieses Vorgehen entspricht dem Normzweck mehr als der Vergleich mit der Durchschnittsvergütung der (relevanten) Belegschaft. Für eine effektive Begrenzung der Vorstandsvergütung ist daneben wesentlich, dass der Aufsichtsrat die Rückzahlungsansprüche geltend macht. Insofern ist die Einführung eines Vergütungssystems und die Stärkung des Say-on-Pay durch § 120a AktG eine Ergänzung, die bei entsprechendem Interesse der Aktionäre das Privat Enforcement verstärkt. 72
Z. B. BGHZ 195, 174 Rn. 33 ff. = NJW 2013, 464.
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Zukunftsüberlegungen zur Corporate Governance
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Zukunftsüberlegungen zur Corporate Governance Ulrich Seibert
Zukunftsüberlegungen zur Corporate Governance ULRICH SEIBERT
I. Einleitung Der im Jahr 1982 erschienene Film Blade Runner von Ridley Scott mit Harrison Ford in der Hauptrolle spielt im Jahr 2019 und zeigt eine Welt, in der die Menschheit fremde Planeten besiedelt hat und es Maschinen gibt, die „Replikanten“ genannt werden und von echten Menschen kaum unterscheidbar sind. Kaum etwas von seinen Prognosen ist eingetreten. Wie Peter Thiel wohl zu Recht bemängelt: In den letzten Jahrzehnten ist die Entwicklung allgemein eher flach verlaufen, nur in den Bereichen Computing, Kommunikation und Internet gab es revolutionäre Fortschritte. Dies vorausgeschickt, wage ich dennoch ein paar Ausblicke zur künftigen Entwicklung der Corporate Governance, also zum Regelungsrahmen zur Führung und Kontrolle von Publikumsgesellschaften. 1. Die börsennotierten Gesellschaften1 Zunächst ein Wort zu den Publikumsgesellschaften. Außerhalb der USA gibt es ca. 45.000 börsennotierte Gesellschaften weltweit.2 Allerdings: In den USA fiel die Zahl in den letzten 20 Jahren von ca. 8.000 in der Spitze auf ca. 4.150 heute. Der geregelte Markt in Deutschland ist binnen 10 Jahren von 761 auf etwas über 400 geschrumpft. Das wird nur zum Teil kompensiert durch Börsengänge in Asien, vor allem China.3 Es gibt zunehmend Delistings und weniger Börsengänge, hinzu kommen Übernahmen und Fusionen.4 Grund ist zum Teil das reichlich vorhandene Private Equity Kapital und vor allem: Die Börse macht aus Sicht der Unternehmen keinen Spaß mehr. Nach Jahren der Kapitalmarktregulierung fällt die Abwägung der Vor- und Nachteile oft gegen die Börse aus. Auch im Aktienrecht werden 1 Zu allem sehr hilfreich: De la Cruz/Medina/Tang, (2019), „Ownership of Listed Companies Around the World“, OECD Capital Market Series, Paris, www.oecd.org/cor porate/Ownership-of-Listed-Companies-Around-the-World.html. 2 Nach einer Untersuchung von JPMorgan. 3 Asia currently represents 43% of global stock markets – s. Fn. 1. 4 Börse ohne Sinn, Handelsblatt 8.7.2019, 46.
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immer neue, gut gemeinte Regulierungen auf die Publikumsgesellschaft geladen, z.B. Frauenquote, Corporate Social Responsibility, Related Party Transactions-Regime usw. Dazu komme ich noch später. Überspitzt könnte man sagen: Wir regeln immer perfekter und bürokratischer für immer weniger Unternehmen, bis wir alles geregelt haben für niemanden. So stimmt es auch nachdenklich, dass von den ca. 84 Billionen Dollar Börsenkapitalisierung weltweit Deutschland nur einen Anteil von ca. 2 Billionen hat. Unglaublich bei der wirtschaftlichen Bedeutung Deutschlands. Mancher könnte also denken: wird die ganze aufgeregte Corporate Governance Diskussion überhaupt noch gebraucht? Gesellschaftspolitisch ist das eine negative Entwicklung. Es bestand die Hoffnung, die Kluft zwischen Arbeit und Kapital dadurch zu überbrücken, dass sich jeder Bürger auch mit kleinem Geld an den erfolgreichen Unternehmen beteiligen kann. Als Ergänzung zur staatlichen Rente ist das angesichts der demographischen Entwicklung absolut zu empfehlen.5 Bei Private Equity, selbst wenn man PE-Fonds sucht, ist das mit kleinen Spargroschen sehr viel schwieriger und weniger unmittelbar. Dennoch ist es durchaus vorstellbar, dass das direkte Halten von Aktien verschwindet und nur noch Mega-Investmentfonds (zum Teil auch ausländische Staatsfonds) und Private Equity-Fonds herrschen, die dann wohl stärker reguliert werden müssten als das ARUG II es bisher tut.
II. Die Organe Aber zurück zur Definition der Corporate Governance und der Frage: Für wen soll der Regelungsrahmen der Corporate Governance gezogen werden? Dieser bezog sich traditionell in Deutschland auf die Organe Vorstand, Aufsichtsrat und Hautversammlung. Das Gesetz strebte eine sorgfältig austarierte Machtbalance zwischen den Organen an. Wir beobachten nun zweierlei: Zum einen die Verlagerung von Kompetenzen auf die nächsthöhere Ebene. Hier möchte ich auf ein Dilemma der Politik hinweisen, das vor allem bei der Frage der Vorstandsvergütung sichtbar wird: Wenn die Politik unzufrieden mit einigen Vorständen und deren Arbeit ist, dann ist sie versucht, die nächsthöhere Instanz, den Aufsichtsrat, stärker in die Pflicht zu nehmen und ihm mehr Kompetenzen zu geben. „Professionalisierung“ nennt man das. Ist sie dann auch mit der Arbeit der Aufsichtsräte unzufrieden, ist sie geneigt, Kompetenzen auf die wiederum nächsthöhere Ebene zu verlagern, also die Hauptversammlung. 5 https://www.tagesspiegel.de/politik/vorschlag-von-friedrich-merz-aktien-fuer-diealtersvorsorge/23707972.html.
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Insbesondere die Gewerkschaften haben zu Recht darauf hingewiesen, dass in den Hauptversammlungen nicht die deutschen Parlamentarier sitzen und dass die institutionellen Investoren, die ausländischen Pensionsfonds und Hedge-Fonds nicht notwendiger Weise dasselbe Interesse an einer Ausrichtung und Mäßigung der Vorstandsvergütung haben, wie die deutschen Politiker, und folglich nicht ohne Weiteres für deren politische Ziele instrumentalisiert werden können. Was also tun, wenn die Hauptversammlung es auch nicht so macht, wie es der Politik gefällt? Welches könnte die Ebene darüber sein? Wäre das dann am Ende ein Aktienamt? Ich denke, man sollte nicht entsprechend dem Peter-Prinzip6 die immer höhere Stufe anstreben, bis man die Stufe der Inkompetenz erreicht hat. Als zweites aktuelles Phänomen beobachten wir die Ausdehnung der Corporate Governance auf Aktionäre und Intermediäre.7 Die Corporate-Governance-Entwicklung geht über die drei Organe Vorstand, Aufsichtsrat und Hautversammlung hinaus. Ausgangspunkt war vor allem der britische Stewardship Code von 2010, der Prinzipien auflistete, die institutionelle Investoren befolgen sollen. Er richtet sich also an Asset Manager und institutionelle Investoren, die anderer Leute Geld verwalten. Dies ist eine Folge der veränderten Aktionärsstruktur, die ich bereits eingangs erwähnte. Vom romantischen Bild des ehrbaren Aktionärs im Nadelstreifen, der auf der Hauptversammlung gerne mal einen Rollgriff in die Zigarrenkiste tat, müssen wir Abschied nehmen. Heute sind es institutionelle Investoren: Pensionsfonds, Lebensversicherungen, Investmentfonds, Hedgefonds etc. Sie stehen zwischen dem Letztbegünstigten und der Gesellschaft. Die geänderte Aktionärsrechte-RL greift das Thema in Richtlinienform auf, die wir in Deutschland mit dem ARUG II umgesetzt haben. Dies ist eine sehr bedeutende Veränderung der Corporate Governance. Früher dachte man: Der Aktionär ist der Principal, er ist fern. Sein Agent, der Vorstand, muss überwacht werden – das soll der Aufsichtsrat tun. Das ist der PrincipalAgent-Konflikt in seiner klassischen Form. Heute ist die Eigentümerstruktur vielschichtiger mit zusätzlichen eingebauten Ebenen und Interessenkonflikten. Die wichtigsten Eigentümergruppen sind institutionelle Investoren (41% der globalen Marktkapitalisierung), public sector owners (13%, vor allem China), private corporations und strategische individuelle Investoren (zusammen 18%)8. In den USA z.B. halten die 10 größten institutionellen
6 Zurückgehend auf Peter/Hull The Peter Principle, 1969; Auf den Umstand, dass am Ende dieser Entwicklung, gewissermaßen als letzte Konsequenz, ein europäisches Aktienamt aus der Taufe gehoben werden könnte, habe ich bereits an verschiedener Stelle hingewiesen, zuletzt auch warnend Bortenlänger/Heldt in FS Seibert, 2019, 147 ff. 7 Siehe schon Seibert Corporate in FS Hoffmann-Becking, 2013, 1100 ff. 8 Zu allem Fn. 1.
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Investoren im Schnitt 31% des Gesellschaftskapitals. Diese Entwicklung könnte sich noch deutlich verschärfen. Darauf muss die Corporate Governance Diskussion reagieren – und zwar nicht nur in dem Sinne, dass solche institutionellen Investoren keine Eigeninteressen gegenüber den hinter ihnen stehenden Anlegern, Pensionären etc. verfolgen. Vielleicht müsste man irgendwann die „Anteilseignerversammlung“ auf die Ebene der institutionellen Investoren verlagern, da die Letztbegünstigten in der HV der operativen Aktiengesellschaften ja nicht mehr auftauchen. Genauso interessant ist auch der Zusammenhang von „Common Ownership“ und Wettbewerb: Welches Interesse haben institutionelle Investoren, die bedeutend an allen oder vielen im Wettbewerb miteinander stehenden Unternehmen beteiligt sind, daran, dass diese Unternehmen sich im Wettbewerb bekämpfen? Auf den ersten Blick keines, denn gewinnt das eine und verlieren mehrere andere, hilft das der Gesamtperformance nicht. Welchen möglichen Einfluss hat das auf das Abstimmungsverhalten dieser Investoren – z.B. hinsichtlich der Vorstandsvergütung?9
III. Der Einfluss der Digitalisierung Nun möchte ich zum Thema der Digitalisierung kommen. 1. Die erste Digitalisierungswelle10 Eine erste Digitalisierungswelle haben wir hinter uns. Es ist in den letzten Jahrzehnten sehr viel zur Einführung neuer Medien in das Gesellschaftsrecht und zur Digitalisierung der Hauptversammlung getan worden: Stimmrechtsvollmachten bedürfen nicht mehr der Schriftform auf Papier, die Stimmrechtsausübung kann über einen Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft stattfinden, die elektronische Briefwahl wurde eingeführt, ebenso der elektronische Bundesanzeiger. Die Bekanntmachung in Papiertageszeitungen wurde abgeschafft, erinnern Sie sich noch daran? Das elektronische Handelsregister, die Ermöglichung elektronischer Einladungen, das Zugänglichmachen von Mitteilungen im Internet, von frequently asked questions und Gegenanträgen auf der Website der Gesellschaft, die Aufsichtsratssitzungen per TelKo, die HV-Übertragung per Streaming im Internet, die Zulassung der elektronischen Teilnahme an der HV und des Fragerechts der Aktionäre über das Internet, also die Voraussetzung für eine virtuelle Hauptversammlung usw. Das haben wir alles schon. 9
Sehr interessant dazu: Florstedt ZIP 2019, 1693 ff. So genannt von Noack ZHR 183 (2019), 105, 106.
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Nur einen Punkt möchte ich herausgreifen: Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen im Wege der Video-Konferenzen sind in Corona-Zeiten fast schon zur Regel geworden. Viele sagen: „Aber diese wackelnden Bilder auf dem Screen können doch keine Präsenzbesprechung ersetzen“. Die das sagen, haben zweifellos Recht – und doch: man darf die Zukunftschancen von Technologien nie nach ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand beurteilen! Wir werden irgendwann Videokonferenzen in dreidimensionaler Darstellung auf voller Wandbreite haben. Natürlich haben wir das Sprachproblem, gerade unter Geltung der Mitbestimmung ist oft schon das Abhalten der AR-Sitzungen auf Englisch umstritten, was die Internationalisierung der Gremien erschwert. Aber wir werden irgendwann Simultanübersetzungssoftware haben, die das, was wir sagen, nicht nur in einer anderen Sprache bringt, sondern auch mit unserer Stimme und Betonung. Aber schon taucht ein neues gravierendes Problem auf, das des deepfake, also der mit künstlicher Intelligenz generierten Filme von Personen. Ein Wettlauf gegen den Fortschritt der Technik. Mit dem ARUG II kommen nun endlich Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Identifizierung der Aktionäre, eine deutliche Verbesserung der grenzüberschreitenden Information der Aktionäre und der Stimmrechtsausübung. Die Kapitalmärkte und die Aktionärsstruktur sind international geworden. Das Gesellschaftsrecht passt sich dem mit erheblicher zeitlicher Verzögerung an. Mit dem Company-Law-Package der EU wird die Digitalisierung im Gesellschaftsrecht, insbesondere bei Gründung von Gesellschaften im Wege der Onlineregistrierung vorangetrieben werden. Das sollte nur der Anfang sein, alle Kommunikation mit dem Handelsregister und oder Notar sollte via Internet erfolgen. Es ist viel geschehen, und Deutschland war hier besonders innovativ, aber die Praxis geht nur zögernd auf diese neuen Möglichkeiten zu, teilweise auch aus Angst vor rechtlichen Risiken. 2. Die zweite Digitalisierungswelle Kommen wir nun zu dem, was man als zweite Digitalisierungswelle bezeichnet. In den Jahren 2018/2019 sind etliche Beiträge erschienen, die sich mit „Gesellschaftsrecht und Digitalisierung“11 „Corporate Technologies“12 und mit der „Unternehmensleitung durch Algorithmen“13 befassen. 11 Hier nur ein paar Beispiele: „Gesellschaftsrecht und Digitalisierung“, Spindler ZGR 2018, 17; „Digitalisierung und Gesellschaftsrecht“, Teichmann ZfPW 2019, 247; „Digitalisierung des Europäischen Unternehmensrechts“, Lieder NZG 2018, 1081; „Digitalisierung des Gesellschaftsrechts nach dem EU-Company Law Package“, Bormann/Stelmaszczyk NZG 2019, 601; „Der Einfluss der Digitalisierung auf das Gesellschaftsrecht“, Sattler BB 2018, 2243; „Digitalisierung im Gesellschaftsrecht und grenzüberschreitende Umwandlungen“, Mayer/Kleinert EuZW 2019, 393; Spindler ZGR 2018, 177 ff.
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Eins von vielen Themen dabei ist die Digitalisierung und Virtualisierung der Aktie.14 Eine neue Qualität in den Beziehungen zwischen Aktionären und ihrer Gesellschaft wird erreicht, wenn die Aktie voll virtualisiert ist. Die früher gebräuchliche Nummerierung der einzelnen Aktie ist spätestens mit der faktischen Abschaffung der Einzel-Papierurkunde verschwunden, was auch zu einer hohen Verkehrsfähigkeit der Aktie als vertretbarem Gegenstand führte. Im Digitalzeitalter kann die verlorene Zuordnung wieder erreicht werden. Die Wiedereinführung der Nummerierung der Aktien wäre einfach, Internet und Cloud haben Platz für viele Milliarden von Aktiennummern. Manche Intransparenz, Doppelzählung, Unsicherheit in der Zuordnung bis hin zu Gestaltungen wie den cum-ex-Geschäften wären erledigt. Schon sind Bestrebungen zur „Tokenisierung“ der Aktie im Gange, die auf der Blockchain-Technologie ansetzen. Das vom Vorstand geführte Aktienregister könnte in einem Registernetz aufgehen, das als BlockchainAnwendung auf verteilte Speicherung bei den Intermediären setzt. Die Unterscheidung zwischen Inhaber- und Namensaktien wäre endgültig obsolet. Sie ist ja heute schon nur durch Fortschleppen der Tradition erklärbar. Zahlreiche Regelungen über die Legitimation, über Stimmrechtsmeldungen, über Informationsketten, über Aktienregister könnten überdacht und eventuell einfacher werden. Auch der internationale Börsenhandel, der mit zentralen Gegenparteien operiert, müsste sich anpassen, was unter Konkurrenzdruck schneller als jede Gesetzgebung geschehen dürfte – denn erste Krypto-Börsen machen auf, die nicht mehr Aktien, sondern Token handeln. Da Blockchain einem Hype gleicht, über den viele reden, aber wenige genau wissen, worum es geht, hat das BMJV, einen Gutachtenauftrag an Prof. Maume erteilt, um die Einsatzmöglichkeiten, Chancen und Risiken dieser Technologie für das Gesellschaftsrecht zu klären. 3. Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) Ein weiteres Gebiet, in dem in naher Zukunft große Entwicklungssprünge möglich sind, ist der Einsatz von KI. „Bald testiert der Roboter die Bilanz“ las man im Sommer 2019 im Handelsblatt.15 Jedenfalls werden, so hieß es dort, ab 2026 mehr Prüfungsleistungen von Maschinen erbracht, als vom Menschen. Das scheint konsequent. Die Daten, die im Unternehmen alle elektronisch vorhanden sind, 12
Zetzsche AG 2019, 1 ff. Möslein ZIP 2018, 204; s. auch Strohn ZHR 182 (2018), 371; Weber/Kiefner/Jobst NZG 2018, 1131; Wagner BB 2018, 1097; Sattler BB 2018, 2243. 14 Noack ZHR 183 (2019), 105, 140. 15 19.07.19, 21. 13
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abzugreifen, zu strukturieren, auszuwerten, Unstimmigkeiten zu entdecken, alles in vorgegebener Form zusammenzufassen – das kann KI – irgendwann – sicher viel besser als der Mensch. Dabei wird man nicht auf einen Menschen verzichten, der das dann am Ende unterschreibt. Aber er wird zunehmend gar nicht mehr in der Lage sein, das Testierte zu hinterfragen. Bei KI-gestützten Entscheidungsvorschlägen beunruhigt das „Black-BoxProblem“.16 Auch die Aufsichtsratstätigkeit wird davon betroffen sein. Von „Robots in the Boardroom“17 ist die Rede. Geschäftsführer der GmbH und Vorstandsmitglieder bei der AG können nur natürliche Personen sein. Daher kann es de lege lata keine Besetzung mit KI-Maschinen geben, auch dann nicht, wenn diese als digitale Rechtsperson anerkannt wären. Die in den Medien zuweilen zu findenden Beispiele aus den USA und Hongkong unterliegen einem anderen Rechtssystem – und zeigen bei näherem Hinschauen: Auch dort ist die KI nicht als Vorstand zugelassen, sondern fungiert als virtueller Berater. Ich wage mal die Behauptung, dass das auf längere Sicht so bleiben wird. Auch die Fragen der Longevity (längeren Lebenserwartung) durch medizinischen Fortschritt sind noch Zukunftsmusik. Wenn Menschen 150 Jahre oder länger leben, was ist mit Altersgrenzen im Aufsichtsrat? Welche Auswirkung hat es unter anderem für Human Resources, wenn jemand 75 Jahre im Aufsichtsrat sitzt und immer noch fit ist? Welche Auswirkungen auf die Mitbestimmung wird es haben, wenn in den Fertigungshallen nur noch Roboter arbeiten? a) Anforderungen an den Aufsichtsrat Im Mai 2017 habe ich in Valetta auf einer Europäischen Corporate Governance Konferenz der damaligen maltesischen EU-Ratspräsidentschaft die These aufgestellt, dass wir die Anforderungen an unsere Aufsichtsräte vielleicht schon überspannt haben, wir erwarten immer mehr an Qualifikation von ihnen, wir sollten keine Übermenschen verlangen. Zugleich wünschen wir uns Diversity, also AR-Mitglieder unterschiedlichen Geschlechts, sozialer Herkunft, Backgrounds, Ausbildung, Alter, Nationalität. Dies kann ein widersprüchliches Anforderungsprofil ergeben. All das wird man am besten vereinen können, wenn KI den Aufsichtsrat unterstützt, wir können dann die sehr hohen Anforderungen an die einzelnen Personen wieder absenken. Diese Auffassung erzeugte in Valetta damals erstauntes Raunen, aber es wird wohl so kommen und es liegt eine Chance darin.18 16
Noack ZHR 2019 (183), 105, 115. Möslein in Barfield/Pagallo Research Handbook on the Law of Artificial Intelligence, 2019, 649 f.; s. auch Noack in dieser FS, S. 945 ff. 18 Jetzt auch Noack ZHR 183 (2019), 105, 140. 17
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b) KI und Prognose „The power to predict the future is about to emerge“ sagte Mr. Masayoshi Son, CEO der Softbank auf einer Konferenz im Juli 2019. Es geht um die Auswertung von Big Data mit KI. Grund genug für Softbank einen zweiten 100 Mrd. Dollar Investment Fonds aufzulegen, der sich auf Investments in KI konzentrieren soll. Wenn man die Zukunft vorhersagen kann, also zum Beispiel Konjunkturentwicklung, Währungsschwankungen, Rohstoffpreise, Käuferverhalten, dann bringt das natürlich greifbare Vorteile für die Entscheidungen der Unternehmensorgane. Das ist etwa vergleichbar mit der Geschichte, Nathan Rothschild habe vom Ausgang der Schlacht bei Waterloo frühzeitig gewusst und seine Aktieninvestments darauf gestützt.19 Wenn man die Zukunft mit einiger Treffsicherheit vorhersagen kann, werden die Organe diese Möglichkeit nutzen müssen. Das Bauchgefühl oder ein Beratergutachten wird nicht mehr reichen. Corporate Digital Responsibility (CDR) wird eine neue Haftungsgrundlage werden, mit der die Organe für digitale Rückständigkeit und Nachlässigkeit in die Haft genommen werden.20 Freilich werden dann alle die KI zur Voraussage der Zukunft verwenden und zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen, was ja selbst die Zukunft wieder beeinflusst, aber das lässt sich sicher auch in die Algorithmen einpflegen.21
IV. Social Media Welche Veränderungen bringen Social Media für das Verhalten der Organe? Spitzenmanager sollten in der Öffentlichkeit zu wichtigen gesellschaftspolitischen Themen Stellung beziehen und mutig und klar ihre Meinung äußern. Dem wird man gerne zustimmen! Aber was sollen sie denn sagen? Natürlich nur das Richtige, das politisch Korrekte!! Sie müssen das sagen, was die Mainstream-Medien und das Publikum hören wollen. Jede abweichende Meinung führt zu einem sog. „shit storm“, zu einer Protestwelle von Hassmails und Boykottaufrufen in den Social Media und gefährdet die Karriere oder schadet dem Unternehmen. Eine „mutige“ Äußerung muss also durch die PR-Abteilung zehnmal durchgesiebt sein und am Ende kommt eine schöne, politisch-korrekte Konsensäußerung heraus, die den Beifall al19
– ob die Geschichte stimmt, ist allerdings umstritten. Noack ZHR 183 (2019), 105, 112. 21 Die historische Kausalität ist schlechterdings unentwirrbar, sie besteht aus so vielen Gliedern, dass sie dadurch für uns den Charakter der Kausalität verliert, schrieb Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit; was aber, wenn mit Big Data und KI diese Glieder entwirrt werden können?. 20
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ler moralisch Empfindsamen im Lande findet. Diese neue Ängstlichkeit wird vermutlich zunehmen und Auswirkungen auf das Verhalten von Managern haben. Extremes Negativbeispiel ist etwa die Aussage des Chefs des Modeherstellers Abercrombie & Fitch, wonach seine Klamotten nicht für dicke Mädchen gedacht seien.22 Schalke Aufsichtsrats-Chef und Fleisch- und Wurstwarengroßhändler Clemens Tönnies kam mit politisch tabuisierten Äußerungen zur Demographie in Afrika nicht gut an.23 Die Gedanken des Barilla-Chefs über Schwule und seine Nudeln lösten einen Sturm der Empörung aus.24 Siemens-Chef Kaeser hat es dabei in seinem Bemühen, das zeitgemäß Korrekte zu sagen und den Beifall der Medien zu finden, schon fast wieder übertrieben.25 Larry Fink’s Äußerungen hingegen sind sehr geschickt und lassen ihn und Blackrock als „Gute“ erscheinen.26 Man kann eben nur vor „mutigen“ Äußerungen warnen, es sei denn, sie sind absolut politisch korrekt und Mainstream. Originalität ist nicht gefragt. Ein verbaler Fehltritt wird über Social Media gleich ins 1000-Fache vergrößert. In seinem Abschiedsinterview vom Siemens-AR hat Gerhard Cromme nostalgisch bemerkt: „Die CEOs heute sind viel geschliffener. Heute wirken manche wie Steine in einem Flussbett. So oft hin- und her gewälzt, dass sie glatt wie runde Kiesel sind. Die kernigen Typen sind heute seltener.“
V. Die Hauptversammlung der Zukunft und die Zukunft der Hauptversammlung27 Kommen wir zum Organ Hauptversammlung: Erfüllt die Hauptversammlung heute noch ihren Zweck oder irgendeinen sinnvollen Zweck? Zunächst einmal, wer ist denn dort: Stimmrechtsvertreter, die etwas gelangweilt herumsitzen und die Abstimmung herbeisehnen, wackere Sprecher von Aktionärsvereinigungen, Betriebsrentner und andere Kleinaktionäre, 22 https://www.sueddeutsche.de/stil/abercrombie-fitch-dicke-maedchenunerwuenscht-1.1669393. 23 https://www.fr.de/kultur/toennies-debatte-falsche-bilder-kopf-12911730.html. 24 https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/aeusserungen-ueber-schwulebarilla-chef-loest-empoerungswelle-aus/8857896.html. 25 https://www.welt.de/wirtschaft/article205349197/Siemens-Kein-PR-Gag-Kaeserrechtfertigt-Angebot-an-Neubauer.html. 26 Auch diese Strategie ist allerdings nicht stets von Erfolg gekrönt und vermag bisweilen lautstarke Kritik der Klimabewegung nicht zu verhindern, vgl. Handelsblatt vom 11.2.2020, Proteste gegen Blackrock, 32. 27 S. schon Däubler-Gmelin HFR 2000, Beitrag 1; Wohlwend Hauptversammlung im Wandel der Kommunikationsformen, 2001; Zetzsche Die virtuelle Hauptversammlung, 2002; Sasse Hauptversammlung und Internet, 2002; Heckelmann Hauptversammlung und Internet, 2006.
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die zwar zahlreich erscheinen, aber kaum nennenswerte Stimmrechte halten. Die Aktionärsstruktur hat sich wesentlich geändert, unsere börsennotierten Gesellschaften, insbesondere die größeren, befinden sich zu über 50% in den Händen ausländischer Anleger, die lange Anreisen zu den heimeligen deutschen Mehrzweckhallen scheuen.28 Das Verfolgen einer sechsstündigen Hauptversammlung auf einem Bildschirm, teilweise über mehrere Zeitzonen hinweg, macht auch keinen Spaß. Hinzu kommen Sprachbarrieren (bis die Übersetzungsalgorithmen auch simultan das gesprochene Wort übersetzen können). Wir müssen erkennen: Die Hauptversammlung ist auf dem Stand des letzten Jahrhunderts und hält einer seriösen Überprüfung kaum mehr stand. Sie ist seit langem in einer Sinnkrise, wird aber aus Pfadabhängigkeit weitergeschleppt. Es ist ein teures, aber vertrautes Ritual, ein Kostümstück aus alten Zeiten, so wie die Fotos vom Börsenpaket, auf denen in der Baisse gepeinigte Makler die Hände vors Gesicht schlagen, während in Wahrheit alles über den Server läuft. Irgendwann wird man sich entscheiden müssen, ob die Hauptversammlung eine Marketingveranstaltung mit Musik, Entertainment, Bühnenshow, mit Auftritten von Vorstandsvorsitzenden wie Pop-Stars, mit klatschenden und singenden Aktionären wie bei einem Erweckungsgottesdienst und Übertragung der Veranstaltung zu Werbezwecken in die ganze Welt sein soll. Soll die Hauptversammlung eine Plattform zur Erörterung wichtiger gesellschaftspolitischer Zukunftsfragen wie Klimaschutz sein?29 Oder wollen wir einen möglichst zügig abgewickelten Arbeitstermin zur Kontrolle des Aufsichtsrats und zur Protokollierung von wichtigen Eigentümerbeschlüssen? In der letzteren Variante bräuchte man eine physische Versammlung kaum noch und könnte und sollte alles elektronisch gehen. Im Moment befinden wir uns irgendwo in einer nicht ganz befriedigenden Gemengelage zwischen den Polen und damit im Nichts von Beidem. Ich denke, die Diskussion wird nach der Corona-Krise und mit den gemachen Erfahrungen der „virtuellen Hauptversammlung“ mit Wucht über uns einbrechen.
VI. Moralisierende Gesetzgebung Und die Politik? Wie wird sie im Bereich der Corporate Governance in Zukunft agieren? Das ist vielleicht noch schwerer zu beantworten als alles andere. Die Aktiengesellschaft stand ursprünglich unter staatlicher Aufsicht und Lizenzvergabe. Dann kam eine lange Phase der Freiheit, in der der Staat den Gesellschaftern die Gründung völlig freigegeben und sich wenig eingemischt hat, sich auf die Festsetzung fairer Rahmenbedingungen beschränkt 28 29
Noack ZHR 183 (2019), 105, 138. Ott Hauptversammlung for Future, NZG 2020, 99 ff.
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und sich gesellschaftspolitisch nicht eingemischt hat – von der Mitbestimmung einmal abgesehen. Seit dem Höhepunkt der Shareholder-Value Doktrin und ihrem Platzen zusammen mit der New Media Bubble um 2001 änderte sich die Stimmung langsam hin zur Stakeholder-Doktrin. Mit der Finanzkrise 2008 und 2009 kam der große Bruch. Shareholder-Value-Denken ist heute verpönt. Es gibt eine aktive Lobby-Bewegung, die eine Rechtsform für Gesellschaften im Verantwortungseigentum fordert, Gesellschaften also, in denen Gründer arbeiten, ohne an der Wertsteigerung der Gesellschaftsanteile verdienen zu können. Mit dem Ausscheiden eines Gesellschafters fällt sein Anteil an die Gesellschaft zurück. Kasse machen soll nicht mehr das Ziel sein, sondern der Purpose. Seither bemerken wir ein zunehmend starkes Einmischen des Gesetzgebers in das Gesellschaftsrecht aus gesellschaftspolitischen Gründen, ich kann das nur kurz aufzählen; nehmen wir Diversity und vor allen Dingen die gesetzliche Frauenquote, nehmen wir die verschiedenen Anläufe zur Transparenz und Beschränkung der Vorstandsvergütung, die Corporate Social Responsibility (CSR), die Corporate Digital Responsibility, und blicken wir auf die sich abzeichnenden Eingriffe des Gesetzgebers aus Gründen des Klimawandels und zur Beachtung der Menschenrechte nicht nur konzernweit, sondern weltweit entlang der gesamten Lieferkette. Das sind alles gute und gewichtige politische Anliegen. Es findet gewissermaßen eine moralische Aufheizung des Gesellschaftsrechts statt, ein Phänomen, für das es viele Gründe geben mag, denen ich auf dem Zehnten deutsch-österreichischschweizerischen Symposium zum Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht am 6. und 7. Juni 2019 in Zürich versucht habe nachzugehen.30 Diese Entwicklung scheint noch nicht abgeschlossen, sondern könnte die nächsten Jahre in der Gesetzgebung zur Corporate Governance beherrschen oder wie Fleischer dort bemerkt hat, so kommen wir vielleicht vom ursprünglichen Lizenzregime und staatlich stark gegängelten Aktienrecht über die Zeiten der Freiheit schließlich zurück an den Ursprung. „The separation between public policy in setting the rules of the game and private corporations in playing by them is invalid. Public policy should promote corporate purposes through law, regulation, and taxation.“, schreibt Colin Mayer31 – diese These stürzt die Leitmaximen der Corporate Governance der vergangenen Jahrzehnte um und liegt zugleich voll im Trend. Übrigens kam im Jahr 2017 eine Fortsetzung des Blade Runner Films in die Kinos. Erneut hat Harrison Ford mitgespielt. Er sah leider nicht gut aus. Diesmal ist die Handlung auf das Jahr 2049 datiert. Warten wir ab, was bis 30
Politik und Gesellschaftsrecht (Gibt es vermehrt sozialpolitisch motivierte Eingriffe der Politik in das Gesellschaftsrecht und wenn ja, warum?), in: Protagonisten im Gesellschaftsrecht, 2020, S. 169 ff. 31 Prosperity: Better business makes the better good, 2018, 232.
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dahin eintrifft. Nach diesem Potpourri versuchter Blicke in die Zukunft, möchte ich schließen mit den Worten von Ludwig Uhland aus dem Roland Schildträger (1811): „Wer suchen will im wilden Tann, Manch Waffenstück noch finden kann, ist mir zu viel gewesen.“
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Bezugsrechtskapitalerhöhung „unter Wert“
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Bezugsrechtskapitalerhöhung „unter Wert“ Wolfgang Servatius
Bezugsrechtskapitalerhöhung „unter Wert“ WOLFGANG SERVATIUS
I. Problemstellung Die Kapitalerhöhung unter Gewährung des Bezugsrechts findet in Rechtsprechung und Literatur eher wenig Beachtung. Dies mag daran liegen, dass die große Thematik des Verwässerungsschutzes hierbei vordergründig keine Rolle spielt. Eine etwas genauere Betrachtung offenbart indessen auch hier handfeste Konflikte zwischen Mehrheit und Minderheit. Ein durchaus praxisrelevantes Beispiel ist die Problematik des Ausgabebetrags der neuen Anteile. Ist dieser – vermeintlich – zu niedrig, können sich unter dem Aspekt des faktischen Bezugszwangs gesetzlich nicht explizit vorgesehene Schranken der Gestaltungfreiheit ergeben. Nachfolgend wird dargelegt, dass es entgegen vielfacher Stimmen keineswegs kategorisch unzulässig ist, durch Mehrheitsbeschluss die Ausgabe der neuen Anteile zu einem Ausgabetrag vorzusehen, der niedriger ist als der wahre „innere“ Wert. Vielmehr wird aufgezeigt, dass derartige Gestaltungen prinzipiell zulässig sind und eine rechtliche Missbilligung allenfalls anhand der beweglichen Schranken der Mehrheitsmacht in casu erfolgen darf. Eine vorherige Unternehmensbewertung ist daher nicht stets erforderlich.
II. Kapitalerhöhung zum angemessenen Ausgabebetrag Im Kern ist zu fragen, ob es bei der AG eine Pflicht gibt, den Ausgabebetrag der neuen Aktien bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung zu einem angemessenen, d.h. gegenüber dem Nennbetrag höheren Ausgabebetrag festzusetzen, wenn der Unternehmenswert zum Zeitpunkt der Beschlussfassung einen (vermeintlich) höheren „inneren Wert“ der Anteile ergibt. Für die GmbH stellt sich diese Problematik gleichermaßen. Eine dogmatische Stütze für dieses Gebot ergäbe sich aus einer analogen Anwendung von §§ 186 Abs. 4 S. 2, 255 Abs. 2 AktG mit einem hieraus ableitbaren Erfordernis der Festlegung eines angemessenen erhöhten Ausgabebetrags nebst entsprechendem Vorstandsbericht im Vorfeld der Beschlussfassung. Diese Analogie wäre erforderlich, denn die §§ 182 ff. AktG enthalten jenseits des Bezugsrechtausschlusses insofern keine rechtlichen Vorgaben; vielmehr statuiert § 9
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Abs. 1 AktG allein das Verbot der Unterpariemission. Bei der GmbH besteht dieselbe gesetzliche Ausgangslage.1 Das OLG Stuttgart hat sich in einer viel beachteten Entscheidung aus dem Jahr 19992 zwar nicht explizit für eine derartige Analogie ausgesprochen. Im Ergebnis scheint es indessen hiervon geleitet zu sein, denn es wird ausdrücklich ein Verbot statuiert, bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung neue Anteile „unter Wert“ auszugeben.3 Diese Entscheidung betraf zwar allein die GmbH, sie wird allerdings als Richtschnur für die Bezugsrechtskapitalerhöhungen bei AG und GmbH angesehen; der BGH hat hierzu noch nicht Stellung bezogen. Die Praxis hat hiermit freilich ihre Schwierigkeiten, denn das apodiktische Verbot wird nach Ansicht des OLG Stuttgart noch dadurch untermauert, dass der Bezugsrechtskapitalerhöhung grundsätzlich eine Unternehmensbewertung nach Maßgabe der Ertragswertmethode vorherzugehen habe.4 Es liegt auf der Hand, dass diese Rechtsprechung wie ein Damokles-Schwert über jeder Bezugsrechtskapitalerhöhung bei pluralistisch strukturierten Gesellschaften hängt. Das hierdurch hervorgerufene Anfechtungsrisiko, die Bewertungskosten und ggf. langwierige Gutachterstreitigkeiten führen so zu einer faktischen Gleichstellung der Kapitalerhöhung mit und ohne Bezugsrechtsgewährung. Man muss sich daher fragen, ob diese Entwicklung nicht über das Ziel hinausschießt, mithin mit der gesetzlichen Konzeption der maßgeblichen Regeln unvereinbar ist. 1. §§ 186 Abs. 4 S. 2, 255 AktG analog bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung? Die §§ 182 ff. AktG sowie die Regelungen über das genehmigte Kapital gem. §§ 202 ff. AktG unterscheiden die Bezugsrechtskapitalerhöhung und die Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss. Diese Differenzierung ist durch eine grundlegend unterschiedlich zu beurteilende Schutzbedürftigkeit der Altaktionäre gekennzeichnet, insbesondere unter Berücksichtigung der durch das Mehrheitsprinzip bedingten Möglichkeit der Überstimmung einzelner. Während beim Bezugsrechtsausschluss durch die Verschiebung der Beteiligungsverhältnisse denknotwendig eine Verwässerung der Mitgliedschaft der nicht partizipierenden Altaktionäre hervorgerufen wird, ist dies bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung gesetzlich gerade nicht bedingt. Durch das Bezugsrecht haben vielmehr sämtliche Altaktionäre die Freiheit, durch Übernahme der entsprechenden Aktien ihre Beteiligung aufrecht zu erhalten. Beide Varianten der Kapitalerhöhung haben somit im Hinblick auf die hierdurch hervorgerufene Beeinträchtigung von Aktionärsrechten unter1
Statt anderer Servatius in Baumbach/Hueck GmbHG, § 55 Rn. 13. OLG Stuttgart NZG 2000, 156. 3 OLG Stuttgart NZG 2000, 156, 158 („Heranziehung der Grundsätze des § 255 Abs. 2 AktG“). 4 OLG Stuttgart NZG 2000, 156, 158. 2
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schiedliche Wirkungen: Beim Bezugsrechtsausschluss ist die Verwässerung der Mitgliedschaft eine gesetzliche Folge; bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung tritt diese nur ein, wenn die durch das Bezugsrecht begünstigten Aktionäre hierauf verzichten. Für die GmbH gilt dies gleichermaßen. Hieraus resultiert eine bedeutsame Weichenstellung im Hinblick auf die gesetzlichen Schutzmechanismen zu Gunsten der Aktionäre bzw. Gesellschafter: Beim Bezugsrechtsausschluss ist es allgemein anerkannt, dass der Ausgabebetrag der neuen Aktien gem. § 255 Abs. 2 AktG angemessen sein muss und der Vorstand gem. § 186 Abs. 4 S. 2 AktG unter anderem verpflichtet ist, diesen Ausgabebetrag im Vorfeld der Beschlussfassung dahingehend zu begründen.5 Beim genehmigten Kapital gilt diese Differenzierung gleichermaßen.6 Wie der eindeutige Wortlaut und die systematische Stellung dieser Regelungen ergeben, gelten diese besonderen Anforderungen indessen nicht bei der Kapitalerhöhung unter Wahrung des Bezugsrechts. Dieses Bezugsrecht ist vielmehr nach der Konzeption des Gesetzes insbesondere für die überstimmten Aktionäre der adäquate Schutz vor rechtlicher und wirtschaftlicher Verwässerung ihrer Mitgliedschaft, indem es ermöglicht, die Beteiligungsquote beizubehalten.7 Angesichts dieses gesetzlich klar konturierten und differenzierten Schutzsystems scheidet eine analoge Anwendung der §§ 255 Abs. 2, 186 Abs. 4 S. 2 AktG auf die Bezugsrechtskapitalerhöhung aus. Wegen der grundlegend unterschiedlichen Schutzbedürftigkeit der (ggf. überstimmten) Altaktionäre vor einer Verwässerung ihrer Mitgliedschaft fehlen sowohl die hierzu notwendige planwidrige Regelungslücke als auch die gebotene vergleichbare Interessenlage. Die Problematik des angemessenen Ausgabebetrags bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung muss daher anderweitig erfasst werden. 2. Verbot der Aktienausgabe „unter Wert“? Angesichts dieses methodisch eindeutigen Befunds verwundert es durchaus, dass sich das OLG Stuttgart und eine Vielzahl von Literaturstimmen dafür aussprechen, die beim Bezugsrechtsausschluss gesetzlich vorgesehenen Schutzinstrumente zu Gunsten der (ggf. überstimmten) Altaktionäre im Ergebnis geradezu identisch auf die Bezugsrechtskapitalerhöhung anzuwenden. So heißt es etwa für das Recht der GmbH, dass auch bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung ein den geringsten Ausgabetrag übersteigendes Agio zwingend festgelegt werden müsse, wenn die Gesellschaft über erhebliche stille Reserven verfüge und sich nicht alle Gesellschafter mit der un5 Vgl. hierzu bei der AG nur Servatius in Spindler/Stilz AktG, § 184 Rn. 22 ff.; bei der GmbH Servatius in Baumbach/Hueck GmbHG, § 55 Rn. 20. 6 Statt anderer Wamser in Spindler/Stilz AktG, § 203 Rn. 57 ff.; bei der GmbH Servatius in Baumbach/Hueck GmbHG, § 55a Rn. 14a. 7 Statt anderer Dürr in Wachter AktG, § 186 Rn. 2.
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terwertigen Ausgabe einverstanden erklärten.8 Die tragende Erwägung für diese Erkenntnis ist, dass die Gesellschafter andernfalls gezwungen wären, an der Kapitalerhöhung teilzunehmen, um durch den unterwertigen Erwerb der Anteile durch andere Gesellschafter eine Entwertung ihrer eigenen Anteile zu verhindern (sog. faktischer Bezugszwang als Widerspruch zum gesetzlichen Nachschussverbot). Als Konsequenz verlangt diese Ansicht zudem, dass die Feststellung der gebotenen Höhe des Agios im Vorfeld der Beschlussfassung durch eine ordnungsgemäße Unternehmensbewertung nach Maßgabe der Ertragswertmethode zu erfolgen habe.9 Für die AG findet diese Ansicht ebenfalls Zuspruch.10 3. Die grundlegenden Erwägungen Immengas aus dem Jahr 1970 Letztlich stellen diese Ansichten alle auf die grundlegenden Ausführungen von Immenga aus dem Jahr 1970 ab.11 Dieser spricht sich auf der Grundlage eines Vergleichs mit dem US-amerikanischen Recht in der Tat explizit für ein generelles Verbot aus, bei einer personalistischen Kapitalgesellschaft ohne Marktwert des Bezugsrechts neue Anteile unter ihrem Wert auszugeben.12 Wenngleich der internationale Rechtsvergleich dies keineswegs so eindeutig vorgibt,13 vertritt er als Konsequenz die These, dass § 255 Abs. 2 AktG auch bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung gelte, wenn die betreffende Gesellschaft nicht kapitalmarktorientiert sei.14 Dies würde konsequenterweise für die nicht-börsennotierte AG sowie für alle GmbH gelten. Die hierfür angeführten Erwägungen überzeugen indessen nicht völlig. Vor allem aber lässt sich die Ansicht bei genauerer Betrachtung nicht zur Begründung eines geradezu apodiktischen Verbotes der Ausgabe neuer Anteile unter Wert heranziehen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine Unterscheidung von Publikums- und Privatgesellschaften für die hier interessierende Problematik kei8 Hermanns in Michalski GmbHG, § 55 Rn. 21; ders. ZIP 2003, 788, 790; Wagner DB 2004, 293, 294. 9 Priester in Scholz GmbHG, § 55 Rn. 27; Hermanns in Michalski GmbHG, § 55 Rn. 21 (anders aber ders. bei der AG, vgl. Hermanns in Henssler/Strohn GesR, § 182 AktG Rn. 20); Gerber/Pilz GmbHR 2005, 1324, 1326. 10 Vgl. Ekkenga in KölnKommAktG § 182 Rn. 43 mit verfehltem Hinweis auf Schürnbrand in MüKoAktG § 182 Rn. 60, 54, der sich jedoch gerade nicht für eine Analogie ausspricht, sondern – wie hier – eine Treuepflichtlösung favorisiert. Auch Hermanns sieht anders als bei der GmbH hier weitreichende Gestaltungsfreiheit der Hauptversammlung und verneint die analoge Anwendung von § 255 Abs. 2 AktG (vgl. Hermanns in Henssler/Strohn GesR, § 182 AktG Rn. 20). 11 Besonders deutlich OLG Stuttgart NZG 2000, 156, 157 f. 12 Immenga Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, 239 f. 13 Vgl. Wiedemann in GroßKommAktG, § 182 Rn. 46, der nachweist, dass ausländische Gerichte den Verwässerungsschutz bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung durchaus unterschiedlich betrachten. 14 Immenga Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, 240.
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ne fruchtbaren Abgrenzungskriterien bietet. Die Annahme, der durch einen niedrigen Ausgabebetrag hervorgerufene Kaufanreiz sei nur bei börsennotierten Gesellschaften legitim, ist bereits sehr pauschal. Man kann nicht generell anführen, der öffentliche Kapitalmarkt sei derartigen Kaufanreizen offen gegenüber eingestellt, private Investoren indessen nicht. Würde man dies als rechtlich verbindliche ökonomische Erwägung ernst nehmen, wäre auch die generelle, auf alle AG und GmbH anzuwendende Regel des § 255 Abs. 2 AktG für den Fall des Bezugsrechtsausschlusses verfehlt (teleologische Reduktion?), was der gesetzgeberischen Intention nicht entspricht. Richtigerweise kann die Marktbezogenheit daher allenfalls insofern eine Bedeutung haben, als es um die Veräußerbarkeit des Bezugsrechts geht, wenn der Altgesellschafter nicht selbst zeichnen möchte. Die von Immenga angeführten Kaufanreize mögen daher durchaus ein rechtlich erheblicher Aspekt sein, eine Bezugsrechtskapitalerhöhung „unter Wert“ rechtlich zu würdigen. Eine apodiktische Verneinung dieses Gestaltungsmittels bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung von Privatgesellschaften resultiert hieraus indessen nicht. Schließlich besteht auch hier oftmals die Möglichkeit, das Bezugsrecht oder die zuvor im Zuge der Zeichnung günstig erworbenen Anteile ertragreich an Dritte weiter zu veräußern. Insofern bedarf es daher stets weiterer klärungsbedürftiger Umstände, die einer strikten Trennlinie zwischen Publikums- und Privatgesellschaften als Maßstab für eine Rechtsfortbildung entgegensteht. Bei genauerer Betrachtung relativiert Immenga zudem auch selbst seine zentrale These vom allgemeinen Verbot der Bezugsrechtskapitalerhöhung „unter Wert“ bei Privatgesellschaften. So identifiziert er durchaus zutreffend das Kernproblem dahingehend, dass auch bei Wahrung des Bezugsrechts die Neuausgabe von Gesellschaftsanteilen „als Instrument der Mehrheit zur Bekämpfung der Minderheit verwandt werden kann“; hierbei könne nämlich „bewusst so vorgegangen werden“, dass die Übernahmeangebote die finanziellen Möglichkeiten der Minderheit übersteigen.15 Immenga stellt so überzeugend auf Missbrauchskonstellationen ab, die zudem auch durch ein subjektives zielgerichtetes Verhalten der Mehrheit zum Nachteil der Minderheit gekennzeichnet sind. Dies lenkt den Blick richtigerweise auf die beweglichen Schranken der Mehrheitsmacht, mithin die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht.16 Dies erkennt Immenga letztlich auch an, indem er sich explizit gegen die Anfechtbarkeit der Bezugsrechtskapitalerhöhung zum Nennbetrag ausspricht, sofern die Kapitalerhöhung einem im Gesellschaftsinteresse aggre15
Immenga Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, 237. Ebenso in Renner FS Sigle, 2000, 341, 435; Dürr in Wachter AktG, § 182 Rn. 32; Gätsch BB 2000, 1158; Seibt/Vogt AG 2009, 133, 139; Gehling ZIP 2011, 1699, 1701; Kocher/Feigen CFL 2013, 116. 16
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gierten Finanzierungsbedürfnis der Gesellschaft entspricht.17 Umgekehrt gewendet bedeutet dies, dass er eine Bezugsrechtskapitalerhöhung „unter Wert“ jenseits des gezielt minderheitenschädigenden Verhaltens der Mehrheit als legitime unternehmerische Finanzierungsmaßnahme anerkennt, die eine rechtliche Missbilligung unter dem Aspekt des faktischen Bezugszwangs gerade nicht erfährt. Mit einer Analogie zu §§ 186 Abs. 4, 255 Abs. 2 AktG hat das nichts zu tun. Dass es sich nach der Ansicht Immengas nicht um ein striktes Gebot handelt, sondern vielmehr eine Beurteilung anhand eines beweglichen Systems der maßgeblichen Aspekte geboten ist, wird schließlich auch deutlich, indem Immenga anerkennt, dass bei Wahrung des Bezugsrechts auch eine Kapitalerhöhung unter Wert zulässig sein kann, wenn der Gesellschafter der Verwässerungsgefahr durch den Erwerb der (auch für ihn!) „billigen Anteile“ begegnen könne.18 Einem hierdurch vermittelten faktischen Bezugszwang könne zudem dadurch begegnet werden, dass der Gesellschafter sein Bezugsrecht veräußere und damit die vermögensmäßigen Einbußen kompensieren könne.19 Wenn Immenga gleichwohl Fälle identifiziert, in denen eine Bezugsrechtskapitalerhöhung unter Wert rechtswidrig ist, stellt er vielmehr auf Umstände ab, die über diese objektiven Merkmale hinausgehen: Erforderlich sei ein „unlösbares Dilemma“ der Minderheit, welches dadurch gekennzeichnet sei, dass diese wegen den aus der Beteiligung an der Kapitalerhöhung zu erwartenden negativen Renditeerwartungen kein Interesse habe, sich an der Kapitalerhöhung zu beteiligen.20 Eine allgemeine Pflicht, die Bezugsrechtskapitalerhöhung zum angemessenen Ausgabebetrag nebst korrespondierender Unternehmensbewertung durchzuführen, tragen seine Ausführungen daher auch unter diesem Aspekt nicht. 4. Die Entscheidung des OLG Stuttgart aus dem Jahr 1999 Auch die in der Literatur zumeist als vermeintliche Bestätigung eines Verbots der Anteilsausgabe „unter Wert“ angeführte Entscheidung des OLG Stuttgart21 vermag entgegen des veröffentlichten nichtamtlichen Leitsatzes des Einsenders keine Anhaltspunkte zu liefern, eine generelle Pflicht zur Festlegung eines angemessenen Ausgabebetrags zu statuieren. Dies gilt für die in dieser Entscheidung streitgegenständliche GmbH gleichermaßen wie für die AG. In den Entscheidungsgründen heißt es nämlich zentral, dass die Beschlussfassung über die dort streitgegenständliche Kapitalerhöhung anfechtbar sei, weil die Zustimmung der Mehrheit gegen die gesellschafts17
Immenga Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, 238. Immenga Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, 238. 19 Immenga Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, 237 f. 20 Immenga Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, 239. 21 OLG Stuttgart NZG 2000, 156. 18
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rechtliche Treuepflicht verstoßen habe.22 Die durch das Gericht beanstandete Festsetzung des niedrigen Ausgabebetrags (immerhin 700% des Nennbetrags!) und die nicht durchgeführte Unternehmensbewertung sind hiernach als Verletzung der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht zu werten, ohne dass das Gericht, wie nach dem Vorgesagten teilweise von der Literatur vertreten, eine entsprechende Anwendung der §§ 186 Abs. 4, 255 Abs. 2 AktG bejaht oder auch nur in Erwägung zieht. Die Anfechtbarkeit eines Beschlusses wegen eines Verstoßes gegen die Treuepflicht und die Anfechtbarkeit wegen Missachtung von § 255 Abs. 2 AktG sind nicht dasselbe. Die Konsequenzen dieser Differenzierung sind beachtlich: Die Einbettung der Entscheidung des OLG Stuttgart in die gesellschaftsrechtliche Treuepflichtdiskussion folgt als bewegliche Schranke der Stimmrechtsmacht23 einem strukturell vollständig anderen Muster als die Beurteilung der Unangemessenheit gem. § 255 Abs. 2 AktG. Es kommt hierbei nämlich, wie bereits durch Immenga im Jahr 1970 ausgeführt, auf weitere Umstände an. Diese sind jenseits der Ausgabe unter Wert und der fehlenden oder vermeintlich unzureichenden Unternehmensbewertung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des jeweils konkreten Falles rechtlich zu würdigen, einschließlich etwaiger subjektiver Aspekte des Mehrheitshandelns, welche bei der Ermittlung eines Treuepflichtverstoßes unstreitig zu beachten sind.24 Diese weiteren Umstände sind nach Ansicht des OLG Stuttgart etwa die Festsetzung des Ausgabebetrags aus „sachfremden Erwägungen“, welches eindeutig Raum für die Beachtlichkeit subjektiver Aspekte bietet im Gegensatz zu § 255 Abs. 2 AktG. Weiter heißt es in der Entscheidung, Anknüpfungspunkt für den gegebenenfalls zur Anfechtung führenden Verstoß gegen die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht sei „nicht die Unangemessenheit der Bewertung als solche, sondern die Beschlussfassung der Gesellschafterversammlung“. Anfechtbar ist ein Kapitalerhöhungsbeschluss daher nur, wenn das Abstimmungsverhalten der Mehrheit treuwidrig sei, sie also die Zustimmung zu diesem Beschluss nicht hätte erteilen dürfen. Diese nicht zu beanstandenden Ausführungen des OLG Stuttgart bezeugen eindeutig, dass es in dieser Entscheidung entgegen der vielfach anzutreffenden Literaturmeinung nicht um eine objektive, klar anhand des entsprechenden Tatbestandmerkmals der Angemessenheit konturierbare Anwendung eines auf § 255 Abs. 2 AktG gestützten Gebots zur Festsetzung eines angemessenen Ausgabebetrags geht, sondern vielmehr um eine Erkenntnis auf der Grundlage der allgemeinen Treuepflichtbindung, welche nach Maßgabe eines beweglichen Systems der Einzelaspekte und -interessen für den jeweils kon22
OLG Stuttgart NZG 2000, 156, 157. Grundlegend Zöllner Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht, 1963, 339 ff. 24 Zur Treuepflicht der Mehrheit als Rücksichtnahmegebot statt anderer Servatius in Wachter AktG, § 53 a Rn. 44 (m.w.N.). 23
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kreten Einzelfall rechtlich zu würdigen ist. Schließlich spricht sich das OLG Stuttgart sogar selbst ausdrücklich gegen eine analoge Anwendung von § 255 Abs. 2 AktG und die hiernach allein objektive Angemessenheitskontrolle aus.25 Mit diesem Ergebnis erklärt sich auch die allgemeine Meinung, wonach eine Aktienausgabe unter Wert bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung keine verbotene Einlagenrückgewähr gem. § 57 Abs. 1 AktG begründet26 und auch steuerrechtlich keine verdeckte Gewinnausschüttung darstellt.27 Eine rein objektive Beurteilung der Bezugsrechtskapitalerhöhung als (vermeintlich) „unter Wert“ vermag für sich genommen keine rechtswidrige Beschlussfassung der Hauptversammlung zu begründen.
III. Treuepflichtgesteuerte Inhaltskontrolle der Bezugsrechtskapitalerhöhung Bejaht man nach dem Vorgesagten die treuepflichtgesteuerte Inhaltskontrolle der Bezugsrechtskapitalerhöhung anstelle der analogen Anwendung von § 255 Abs. 2 AktG, ist hiermit noch nicht gesagt, auf welche Weise diese konkret zu erfolgen hat. Der Grund für diese Unsicherheit liegt darin, dass insofern nach allgM zwei verschiedene Ansätze anerkannt sind: die sog. materielle Inhaltskontrolle eines Hauptversammlungsbeschlusses als institutionelle Ausprägung der Treuepflicht28 und die hiervon abzugrenzende allgemeine Treuepflichtbindung der Mehrheit gegenüber der Minderheit als Instrument der Missbrauchskontrolle zur Verwirklichung des Rücksichtnahmegebots. Relevanz hat diese Differenzierung nicht nur im Hinblick auf die tatbestandlichen Voraussetzungen, sondern auch wegen der Darlegungsund Beweislast: Während diese grundsätzlich beim Anfechtungskläger liegt, ist allgemein anerkannt, dass im Anwendungsbereich der materiellen Beschlusskontrolle die beklagte Gesellschaft die Darlegungs- und Beweislast für die sachliche Rechtsfertigung des Beschlussinhalts trifft.29 Gerade bei der hier interessierenden Problematik des sog. faktischen Bezugszwangs bei einer Kapitalerhöhung wegen der (vermeintlichen) Aktienausgabe „unter Wert“ werden in diesem Spannungsfeld verschiedene Ansichten vertreten, ohne dass jedoch stets hinreichend deutlich gemacht wird, welches Rechtsinstitut die angeführte Rechtswidrigkeit der Beschlussfassung zu tragen vermag. Es bedarf daher einer genauen dogmatischen Ab25
OLG Stuttgart NZG 2000, 156, 158. Dürr in Wachter AktG, § 182 Rn. 30; Hüffer/Koch AktG, § 182 Rn. 23; Seibt/Vogt AG 2009, 133, 139. 27 Vgl. BFHE 114, 185, 187; Dürr in Wachter, AktG, § 182 Rn. 30; Hüffer/Koch AktG, § 182 Rn. 23. 28 Statt anderer Hüffer/Koch AktG, § 53 a Rn. 21. 29 Statt anderer Hüffer/Koch AktG, § 243 Rn. 63 f. 26
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grenzung, welchem Regelungsmodell die treuepflichtgesteuerte Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung konkret folgt. 1. Materielle Beschlusskontrolle bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung? Es ist gesellschaftsrechtliches Allgemeingut, dass ein ordnungsgemäß gefasster Mehrheitsbeschluss bei der AG seine Richtigkeit in sich trägt; Beschlüsse der Hauptversammlung werden daher im Regelfall nicht auf ihre inhaltliche Richtigkeit hin überprüft.30 Dieses vor allem auch für die Darlegungs- und Beweislast bedeutsame Regel-Ausnahmeverhältnis gilt auch bei den hier in Rede stehenden Kapitalmaßnahmen in Gestalt einer ordentlichen Kapitalerhöhung gem. §§ 182 ff. AktG bzw. §§ 55 ff. GmbHG sowie für die Beschlussfassung über ein genehmigtes Kapital (§§ 202 ff. AktG, § 55a GmbHG). Wird daher eine ordentliche Kapitalerhöhung bzw. die Schaffung genehmigten Kapitals mit der erforderlichen Mehrheit beschlossen und unter Wahrung des gesetzlichen Bezugsrechts der Aktionäre der geringste Ausgabebetrag gem. § 9 Abs. 1 AktG sowie ggf. ein darüber hinausgehendes Agio festgesetzt, ist dieser Beschlussinhalt im Ausgangspunkt rechtlich anzuerkennen. Weitere Anforderungen sind gesetzlich weder für die GmbH noch für die AG vorgesehen.31 Dies entspricht insofern der ganz überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur, als diese anerkennt, dass die Hauptversammlung jenseits des zwingenden Verbots der Unterpariemission gem. § 9 Abs. 1 AktG einen großen Ermessens- bzw. Gestaltungsspielraum hat, ob und wie sie von der gesetzlich gem. § 9 Abs. 2 AktG lediglich als Option vorgesehenen Möglichkeit der Ausgabe zu einem höheren Ausgabebetrag Gebrauch macht oder nicht.32 Die Bezugsrechtskapitalerhöhung bedarf somit keiner sachlichen Rechtfertigung, da das Gesetz selbst die notwendige Abwägung zwischen den Belangen der betroffenen Aktionäre bzw. Gesellschafter und dem Interesse der Gesellschaft vorgenommen hat, indem es den Mitgliederschutz durch Einräumung des gesetzlichen Bezugsrechts für ausreichend erachtet.33 Die Aktionäre bzw. GmbH-Gesellschafter müssen selbst die Entscheidung treffen, ob sie investieren möchten oder nicht.34 Das Bestehen des 30
Grundlegend RGZ 68, 235, 254 f. – Hibernia. Gätsch BB 2000, 1158; Jaspers in Ekkenga/Schröer Handbuch AG-Finanzierung, 2014, Kap. 4 Rn. 236. 32 Für die AG etwa Hüffer/Koch AktG, § 182 Rn. 23; Veil in Schmidt/Lutter AktG, § 182 Rn. 21; Marsch-Barner in Bürger/Körber AktG § 182 Rn. 35; Schürnbrand in MünchKomm AktG § 182 Rn. 53; für die GmbH Scholz in MünchHdb GesR 4, § 57 Rn. 29; Lieder in MünchKomm GmbHG, § 55 Rn. 48; Gätsch BB 2000, 1158. 33 Kocher/Feigen CFL 2013, 116, 123. 34 Kocher/Feigen CFL 2013, 116, 123. 31
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gesetzlichen Bezugsrechts kann daher nur in Ausnahmefällen dazu führen, dass die Festsetzung eines bestimmten Ausgabebetrags unzulässig ist.35 Von dieser Grundlegung abweichend finden sich im hier interessierenden Zusammenhang aber Stimmen, die sich mehr oder weniger offen für eine Inhaltskontrolle auch bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung aussprechen. Wiederum ausgehend vom Recht der GmbH, aber nach den jeweiligen Ansichten durchaus auf die AG übertragbar, wird vielfach angeführt, dass auch der Beschluss für eine Bezugsrechtskapitalerhöhung nicht zu den Beschlüssen zu rechnen sei, die ihre sachliche Rechtfertigung in sich trügen.36 Als Konsequenz ergebe sich das intensive inhaltliche Kontrollregime, wonach der Kapitalerhöhungsbeschluss im Gesellschaftsinteresse geboten sein müsse und die für die Minderheit nachteilige Maßnahme das schonendste Mittel sein müsse, um dem Gesellschaftsinteresse gerecht zu werden; schließlich dürften die durch die Maßnahme für einzelne Gesellschafter eintretenden Nachteile nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Interesse der Gesellschaft stehen.37 Als Konsequenz obliege es der Mehrheit, im Anfechtungsprozess darzulegen und zu beweisen, dass der Minderheit durch die Festlegung des Aufgelds hiernach keine Nachteile entstehen.38 Diese Ansicht vermag indessen nicht zu überzeugen und entspricht bei genauerer Betrachtung auch keinesfalls der herrschenden Ansicht in der Literatur. Der zentrale dogmatische Einwand hiergegen ist in der Verkennung der gesetzlich angelegten Schutzmechanismen zu Gunsten der (ggf. überstimmten) Minderheit zu sehen, welche anders als bei den sonstigen anerkannten Fällen der materiellen Beschlusskontrolle bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung gerade nicht fehlt und damit das Regelungsbedürfnis für diese gesteuerte Form der Treuepflichtkontrolle entfallen lässt. Am Beispiel der Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss lässt sich nämlich sehr deutlich darstellen, dass die allgemein anerkannten Anforderungen an die materielle Beschlusskontrolle berechtigt sind, denn der Gesetzgeber hat es schlichtweg übersehen, die hiermit verbundene Beeinträchtigung der Minderheit jenseits des vermögensmäßigen Schutzes von § 255 Abs. 2 AktG zu kompensieren. Indem die Beschlussfassung bestimmungsgemäß und denklogisch die Mitgliedschaft der nicht partizipierenden Minderheit verwässert, ist es absolut überzeugend, wenn die nahezu einhellige Meinung in Rechtsprechung und Literatur hier rechtsfortbildend das Gebot der materiellen 35
Kocher/Feigen CFL 2013, 116, 123. So etwa Renner in FS Sigle, 2000, 341, 346; ebenso Wiedemann in GroßKomm AktG, § 182 Rn. 46, der sich jedoch ohne überzeugende Begründung für eine generelle materielle Inhaltskontrolle bei Hauptversammlungsbeschlüssen ausspricht, was sich aber zu Recht nicht durchgesetzt hat. 37 Renner in FS Sigle, 2000, 341, 347. 38 Renner in FS Sigle, 2000, 341, 347. 36
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Rechtfertigung verlangt.39 Bei vielen anderen Grundlagenentscheidungen der Hauptversammlung und sonstigen Beschlüssen fehlt es indessen an dieser Schutzlücke, so dass es der ganz herrschenden Meinung entspricht, das Institut der materiellen Beschlusskontrolle nur sehr zurückhaltend zur Geltung zu bringen.40 Genau diese Zurückhaltung ist auch bei der hier interessierenden Bezugsrechtskapitalerhöhung angezeigt. Wie bereits oben dargelegt, ist die Schutzund Interessenlage bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung eine völlig andere als beim Bezugsrechtsausschluss: Die Verwässerung der Mitgliedschaft der Minderheit ist nämlich nicht die bestimmungsgemäße gesetzliche Folge der Beschlussfassung, sondern allein eine Folge des privatautonomen Verhaltens der an sich durch das Bezugsrecht Begünstigten. Man kann auf dieser Grundlage dem Gesetzgeber nicht im Sinne einer die Rechtfortbildung legitimierenden Gesetzeslücke unterstellen, den Minderheitenschutz unvollkommen ausgestaltet zu haben, welches eine die grundsätzliche Richtigkeitsgewähr der Beschlussfassung in Frage stellende materielle Inhaltskontrolle rechtfertigen würde. Zudem ist zu bedenken, dass anders als beim Bezugsrechtsausschluss bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung im Hinblick auf die hieraus resultierenden Vor- und Nachteile alle Aktionäre „in einem Boot sitzen“, mithin auch strukturell keine nachteilige Interessenlage der Minderheit besteht, was wiederum ein Unterschied zur Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss darstellt. Hiernach ist somit eine materielle Inhaltskontrolle des Beschlusses bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung abzulehnen und stattdessen allein auf die allgemeine Treuepflichtbindung der Mehrheit gegenüber der Minderheit zu rekurrieren. 2. Rücksichtnahmepflicht der Aktionärsmehrheit bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung Die vorstehend herausgearbeitete Einbettung der Bezugsrechtskapitalerhöhung in das Konzept der allgemeinen Treuepflichtbindung bietet Anlass, das Abstimmungsverhalten sowohl der Aktionärsmehrheit rechtlich zu würdigen als auch das der Minderheit – die Treuepflichtbindung kann grundsätzlich beide Lager betreffen.41 Gleichwohl wird es in der Praxis regelmäßig darum gehen, dass Abstimmungsverhalten der Mehrheit zu überprüfen, soweit es um die Festsetzung des Ausgabebetrags der neuen Anteile geht. In diesem Kontext ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das als treu39 Zum Ganzen beim Bezugsrechtsausschluss statt anderer m.w.N. Servatius in Spindler/Stilz AktG, § 186 Rn. 40 ff. 40 Vgl. zur Nichtanwendung statt anderer Hüffer/Koch AktG, § 243 Rn. 25 ff. 41 Unstreitig, vgl. nur Servatius in Wachter AktG, § 53a Rn. 44 ff., 51 ff.; Fastrich in Baumbach/Hueck GmbHG, § 13 Rn. 20 ff.
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widrig angesehene Abstimmungsverhalten der Mehrheit allenfalls einen Anfechtungsgrund gem. § 243 Abs. 1 AktG zu begründen vermag.42 a) Prinzipielle Zulässigkeit der Aktienausgabe „unter Wert“ Ausgehend von der exklusiven Anwendbarkeit von § 255 Abs. 2 AktG beim Bezugsrechtsausschluss folgt als argumentativer Ausganspunkt e contrario, dass die Ausgabe von Aktien zum Nennbetrag bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung auch dann zulässig ist, wenn dieser Ausgabebetrag nicht nach dem inneren Wert der Anteile bemessen und deswegen möglicherweise zu niedrig ist.43 Der Grund für diese Erkenntnis liegt einmal im bereits angeführten Prinzip der Abstimmungsfreiheit und dem Gestaltungsermessen der Haupt- bzw. Gesellschafterversammlung, darüber hinaus in der Bezugsrechtskapitalerhöhung selbst begründet: Die möglicherweise unterbewerteten neuen Aktien gebühren nach Maßgabe von § 186 Abs. 1 AtG den Altaktionären selbst; etwaige nachteilige Folgen sind von diesen ebenso zu tragen wie etwaige Vorteile. Für die Beschussanfechtung wegen der Gewährung von Sondervorteilen gem. § 243 Abs. 2 AktG ist konsequenterweise kein Raum.44 Selbst bei unstreitig niedriger Festsetzung des Ausgabebetrags kann man den Aspekt der „zu billigen Aktienausgabe“ nicht zum Anlass einer normativen Korrektur nehmen, da dieser Vorteil der Minderheit proratarisch betrachtet gleichermaßen gebührt wie der Mehrheit. Wegen dieses normativen Interessenmonismus besteht bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung somit strukturell betrachtet gerade kein Fall für gesellschaftsrechtlich vorgeprägte Mehrheiten-Minderheiten-Konflikte oder ein in diese Richtung tendierendes Gefahrenpotential zu Lasten der Minderheit. Eine (nachträgliche) Rechtskontrolle anhand wirtschaftlicher Maßstäbe ist somit wegen der prinzipiellen Richtigkeitsgewähr der Selbstbetroffenheit entbehrlich bzw. in Anerkennung der privatautonomen Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse durch die Aktionäre sogar im Grundsatz unzulässig. b) Normativer Korrekturbedarf bei besonderen Umständen als Ausnahmetatbestand Dieser wichtige Befund bietet indessen auch bei der Treuepflichtkontrolle nur den Ausgangspunkt der Argumentation. Es ist zu Recht allgemein aner42 AllgM, vgl. nur BGH NJW 1988, 1579; BGH NJW 1999, 3197; Cahn/v. Spannenberg in Spindler/Stilz AktG, § 53a Rn. 56; für die hier interessierende Problematik auch OLG Stuttgart NZG 2000, 156. 43 Für die GmbH Schnorbus in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, § 55 Rn. 42; Gätsch BB 2000, 1158. 44 Seibt/Vogt AG 2009, 133, 140; Jaspers in Ekkenga/Schröer Handbuch AG-Finanzierung, 2014, Kap. 4 Rn. 236; ebenso Seibt in Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Kap. 3 Rn. 35.
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kannt, dass die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht (der Mehrheit) auch bei Konstellationen greift, die formal betrachtet eine rechtmäßige Beschlussfassung darstellen, in den hier interessierenden Fällen somit keinen Verstoß gegen das Verbot der Unterpariemission gem. § 9 Abs. 1 AktG als einzige speziell geregelte Schranke begründen. Konkret bedeutet dies, dass – im Einklang mit der Entscheidung des OLG Stuttgart45 – besondere rechtliche oder tatsächliche Umstände zum Zeitpunkt der Beschlussfassung vorliegen müssen, die einen nach Maßgabe der Treuepflichtbindung zu beurteilenden „unzulässigen Zwang der Minderheit zur Teilnahme an der Kapitalerhöhung“ bewirken.46 Dies überzeugt ohne weiteres, denn die rechtsbegrenzende Funktion der Treuepflicht beansprucht gerade dort Geltung, wo das formale Mehrheitsprinzip der kollektiven Willensbildung im Verband im konkreten Einzelfall aus Gründen des Minderheitenschutzes zu korrigieren ist.47 Die tatbestandliche Präzisierung derartiger Fälle hat bei der hier interessierenden Problematik durchaus normativ vorgeprägte Konturen: Maßgeblich ist nicht allein der wie auch immer begründete „faktische Zwang“ zur Teilnahme an der Kapitalerhöhung, sondern die rechtliche Einordnung dieses Zwangs als „unzulässigen“. Nur durch diesen, auch vom OLG Stuttgart explizit angewendeten Filter, sind die bestimmungsgemäßen, mithin zulässigen, Folgen der Bezugsrechtskapitalerhöhung von den unzulässigen abzugrenzen. Indem eine Bezugsrechtskapitalerhöhung gerade darauf abzielt, den Aktionären und Gesellschaftern durch die Möglichkeit der Teilnahme den gebotenen Schutz vor Verwässerung zu gewährleisten, darf diese Obliegenheit nicht ins Gegenteil verkehrt werden, indem man annimmt, die Notwendigkeit der Ausübung des Bezugsrechts durch die Minderheit sei bereits ein zu missbilligender „faktischer Zwang“.48 Dies gilt umso mehr, wenn man zusätzlich die konkrete Veräußerbarkeit des Bezugsrechts als Alternative zur Investition berücksichtigt.49 Nur durch die auch vom OLG Stuttgart für notwendig erachtete Unzulässigkeit des faktischen Bezugszwangs lässt sich normativ begründen, warum eine Minderheit nicht nur aus intrinsischen Motiven gehalten ist, die neuen Aktien zu erwerben, um ihre Beteiligung aufrecht zu erhalten, sondern dass sie – gleich einer unzulässigen Nachschusspflicht – extrinsisch hierzu verleitet wird, indem die rechtlich zu missbilligende Dominanz der Mehrheit eine nicht hinnehmbare Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfrei45
OLG Stuttgart NZG 2000, 156. OLG Stuttgart NZG 2000, 156, 157; ebenso Gehling ZIP 2011, 1699, 1701. 47 Statt anderer Servatius in Wachter AktG, § 53a Rn. 39. 48 So aber vielfach die Lit., vgl. etwa Brenner in FS Sigle, 2000, 341, 348; Kocher/Feigen CFL 2013, 116. 49 Vgl. insofern auch Schlitt/Schäfer CFL 2001, 410; Jaspers in Ekkenga/Schröer Handbuch AG-Finanzierung, 2014, Kap. 4 Rn. 104; Scholz in MünchHdb GesR 4, § 57 Rn. 29. 46
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heit begründet. Diese grundlegende Weichenstellung führt dazu, die Treuepflichtkontrolle des Abstimmungsverhaltens der Mehrheit im Einklang mit der ganz herrschenden Meinung zu den strengen Vorgaben der Treuepflichtkontrolle als Schutz vor missbräuchlichem Verhalten der Mehrheit zu sehen bzw. als deren Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot.50 Die bloße Unterbewertung der neuen Anteile hat keinen eigenständigen Unrechtsgehalt, der die Treuepflichtwidrigkeit herbeiführen könnte.51 Es bedarf somit, unter Anerkennung der Beweislast der Anfechtungskläger52, besonderer Umstände objektiver und subjektiver Art zum Zeitpunkt der Beschlussfassung, die den Schluss zulassen, dass sich die Mehrheit über die berechtigten Belange der Minderheit durch die Festsetzung eines zu niedrigen Ausgabebetrags hinweg gesetzt hat.53 Mit Wiedemann ist daher festzuhalten, dass die Mehrheit verpflichtet ist, auf die Aktionäre Rücksicht zu nehmen, die sich an der Kapitalerhöhung nicht beteiligen können oder wollen.54 Dies ist freilich stets eine Frage des konkreten Einzelfalles. Mögliche Ansätze, die gegen eine Treuwidrigkeit sprechen, lassen sich gleichwohl abstrakt formulieren. So ist die Treuwidrigkeit regelmäßig ausgeschlossen, wenn die konkrete Maßnahme in ein sinnvolles unternehmerisches Konzept eingebettet ist, unter starker Berücksichtigung des Finanzierungsinteresses der Gesellschaft.55 Umgekehrt spricht es für die Treuwidrigkeit, wenn die Höhe des Ausgabebetrags willkürlich bestimmt wurde oder aus sachfremden Erwägungen.56 Evident treuwidrig wäre es schließlich, wenn die Kapitalerhöhung gezielt ausgenutzt wird, um die Minderheit aus der Gesellschaft zu drängen bzw. deren Beteiligung zielgerichtet zu verwässern.
IV. Konsequenzen für die Unternehmensbewertung Im Einklang mit der vorstehenden Grundlegung über die materiellrechtlichen Vorgaben für eine rechtmäßige Beschlussfassung über eine Bezugsrechtskapitalerhöhung kann auch die Frage beantwortet werden, ob und in welchem Umfang im Vorfeld eine Unternehmensbewertung zu erfolgen hat. Explizite gesetzliche Regelungen hierfür finden sich nämlich nicht. Die Pflicht zur Begründung des vorgeschlagenen Ausgabebetrags be50 Veil in Schmidt/Lutter AktG § 182 Rn. 21; Schürnbrand in MüKoAktG, § 182 Rn. 54. 51 Ebenso Gätsch BB 2000, 1158, 1159. 52 Dies betont auch Gätsch BB 2000, 1158, 1159. 53 So die allgemeine Formel eines Treuepflichtverstoßes der Mehrheit, vgl. zum Ganzen Cahn/v. Spannenberg in Spindler/Stilz AktG, § 53 a Rn. 36 ff. 54 Wiedemann in GroßKommAktG, § 182 Rn. 69. 55 Scholz in MünchHdb GesR 4, § 57 Rn. 29; Vaupel/Reers AG 2010, 93, 94; Kocher/Feigen CFL 2013, 116, 123; Seibt/Vogt AG 2009, 133, 138. 56 Für die Beachtlichkeit von Letzterem OLG Stuttgart NZG 2000, 156, 157.
Bezugsrechtskapitalerhöhung „unter Wert“
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steht nur beim Bezugsrechtsausschluss (vgl. § 186 Abs. 4 S. 2 AktG). Konsequenterweise richten sich die gesetzlichen Vorgaben allein nach den allgemeinen Regeln, bei der AG insbes. § 124 Abs. 3 S. 1 AktG, wonach Vorstand und Aufsichtsrat zu jedem Punkt der Tagesordnung einen Beschlussvorschlag zu machen haben, sowie nach dem allgemeinen Auskunftsrecht der Aktionäre gem. § 131 AktG. Bei der GmbH gelten vor allem die §§ 51 Abs. 2, 51 a GmbHG. 1. Die Entscheidung des OLG Stuttgart aus dem Jahr 1999 In der bereits erwähnten Entscheidung des OLG Stuttgart57 zum Recht der GmbH wird im Hinblick auf die Notwendigkeit der Unternehmensbewertung ausgeführt, dass die Initiatoren der Kapitalerhöhung zur Ermittlung des angemessenen Wertes der Anteile und eines angemessenen Ausgabebetrags angehalten seien. Diese Ermittlungen hätten grundsätzlich nach den anerkannten Bewertungsregeln zu erfolgen, im allgemeinen also nach Maßgabe der Ertragswertmethode („förmliche Unternehmensbewertung“). Anknüpfungspunkt für den gegebenenfalls zur Anfechtung führenden Verstoß gegen die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht sei aber nicht die Unangemessenheit der Bewertung als solche, sondern die Beschlussfassung der Gesellschafterversammlung. Eine Treuepflichtverletzung könne etwa anzunehmen sein, wenn keine ausreichenden Bewertungsgrundlagen vorlagen, wenn der Mehrheitsgesellschafter eine Fehlbegutachtung zu verantworten hat, indem er etwa dem zur Bewertung herangezogenen Wirtschaftsprüfer falsche oder unvollständige Informationen erteilt, oder wenn er ein erkennbar falsches Bewertungsgutachten zu Grunde legt. 2. Kritische Würdigung – Keine zwingende Unternehmensbewertung Betrachtet man die maßgebliche Entscheidung des OLG Stuttgart, drängt sich in der Tat der Eindruck auf, es bedürfe bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung stets einer förmlichen Unternehmensbewertung im Vorfeld der Beschlussfassung. So mündet die richterliche Erkenntnis prägnant in der Feststellung, dass die Anfechtbarkeit des Beschlusses bereits wegen des Fehlens einer sachgerechten Unternehmensbewertung gegeben sei, ohne dass noch vom Gericht zu prüfen wäre, welcher Ausgabebetrag angemessen wäre.58 In einer derartigen Deutlichkeit wäre die Erkenntnis indessen unter verschiedenen Aspekten angreifbar. Es dürfte zunächst nicht zu bestreiten sein, dass jede Unternehmensbewertung ein Ziel verfolgt, welches nicht in der Bewertung als solches liegt, 57 58
OLG Stuttgart NZG 2000, 156. OLG Stuttgart NZG 2000, 156, 159.
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sondern in der Relevanz dieser Bewertung für einen hiervon zu unterscheidenden Aspekt. Vereinfacht gesagt ist die Unternehmensbewertung kein Selbstzweck, sondern das Mittel, um – im hier interessierenden Kontext – eine sich aus rechtlichen Bedürfnissen ergebende Frage zu beantworten. Hieraus folgt, dass vorrangig zu klären ist, welches Ziel die Bewertung verfolgen soll, ob dieses Ziel überhaupt durch die Bewertung erreicht werden kann oder ob das Ziel nicht bereits anderweitig erreicht wurde bzw. zu erreichen ist. Diese Grundvoraussetzung ist im vorliegenden Kontext geradezu essentiell, indem es, wie oben gesehen, gerade an einer speziellen gesetzlichen Regelung fehlt, wonach bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung eine „förmliche Unternehmensbewertung“ der Beschlussfassung voranzugehen habe. Im Kern gilt es nämlich darum, entweder eine Analogie zu begründen oder die generalklauselartige gesellschaftsrechtliche Treuepflicht zu konkretisieren. Beides kann methodengerecht nicht erfolgen, ohne die Zielgerichtetheit der ggf. zu begründenden Bewertung herauszuarbeiten. Bezogen auf den Ausgabebetrag der neuen Aktien bei einer Bezugsrechtskapitalerhöhung bedarf es somit einer vorrangigen Klärung, ob die vom OLG Stuttgart geforderte förmliche Unternehmensbewertung überhaupt erforderlich ist, um das Bewertungsziel zu verwirklichen. Die Ausführungen des OLG Stuttgart zum Erfordernis einer förmlichen Bewertung haben daher nur dann ihre Berechtigung, wenn – aus anderen dogmatischen Erwägungen begründet – feststeht, dass ein angemessener Ausgabebetrag überhaupt festzusetzen ist. Ohne die normative Maßgeblichkeit des Kriteriums der Angemessenheit fehlt nämlich bereits der Bezugspunkt, auf den sich die Unternehmensbewertung beziehen soll. Wenn also das OLG Stuttgart zur Erkenntnis gelangt, dass die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht der Mehrheit im konkret zu entscheidenden Fall gebietet, dass ein angemessener Ausgabebetrag, bezogen auf den sog. inneren Wert der neuen Anteile festgesetzt wird, ist dies konsequent und für sich genommen nicht zu beanstanden, zumal eine Entscheidung zu einem konkreten Sachverhalt erging. Wenn aber – im Einklang mit der Argumentationsstruktur des OLG Stuttgart – in einem anderen Sachverhalt gerade keine Ansätze für eine Treuepflichtbindung der Beschlussmehrheit bestehen, wonach die Hauptversammlung bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung einen angemessenen Ausgabebetrag festsetzen muss, ist es ebenso konsequent, dass eine förmliche, hierauf bezogene Unternehmensbewertung gerade nicht zu erfolgen hat. Das Erfordernis einer förmlichen Unternehmensbewertung ist somit akzessorisch zum etwaigen konkret bestehenden Gebot der Aktienausgabe zum angemessenen Ausgabebetrag. Das Urteil des OLG Stuttgart ist also dahingehend überzeugend, als aus dem rechtlich begründeten Gebot der Angemessenheit auch eine Pflicht zur vorherigen Unternehmensbewertung resultieren kann. Die Entscheidung kann indessen nicht pauschal herangezogen werden, eine generelle Pflicht zur
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Unternehmensbewertung bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung zu begründen. Diese Akzessorietät der Unternehmensbewertung ist auch wertungsmäßig geboten. Eine allgemeine, nicht an die konkret zu begründende Gebotenheit der Angemessenheit geknüpfte Pflicht zur Einholung einer förmlichen Unternehmensbewertung im Vorfeld einer Bezugsrechtskapitalerhöhung ließe nämlich die hierfür anfallenden Kosten unberücksichtigt und wäre auch im Hinblick auf den erforderlichen Zeitaufwand kaum als mit dem Gesellschaftsinteresse im Einklang stehend anzusehen.59 Man muss vielmehr stets bedenken, dass es auch umgekehrt durchaus im Gesellschaftsinteresse liegen kann, wenn die Hauptversammlung (durchaus initiiert von der Mehrheit) einen bewusst niedrigen Ausgabebetrag wählt, um langwierige und komplizierte Streitigkeiten über die Deckung eines höheren Ausgabebetrags zu vermeiden und damit das unternehmerische Ziel der Durchführung der Kapitalerhöhung effektiv zu verwirklichen, insbesondere zur Bewältigung einer Krise bzw. zur Sanierung. Dieses Ziel ließe sich mit dem generellen Gebot einer förmlichen Unternehmensbewertung nicht verwirklichen. Schließlich ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass das Gebot einer förmlichen Unternehmensbewertung bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung gesetzlich nicht vorgesehen ist und daher – im Grunde übereinstimmend mit den Ausführungen des OLG Stuttgart – allenfalls auf der Grundlage der Treuepflicht der Mehrheit im konkreten Einzelfall begründbar ist. Würde man hierbei zu leichtfertig vorgehen, entstünde ein erheblicher Wertungswiderspruch zur Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss. Im Rahmen des dort maßgeblichen § 255 Abs. 2 AktG ist nämlich keineswegs stets eine förmliche Unternehmenswertung erforderlich.60 Vielmehr lässt sich das Kriterium der Angemessenheit auch aus anderen Faktoren ableiten bzw. beurteilen. Auch die Erfüllung der Berichtspflicht des Vorstands beim Bezugsrechtsausschuss gem. § 186 Abs. 4 S. 3 AktG setzt nicht zwingend die hier in Rede stehende förmliche Unternehmensbewertung voraus.61 Es kann daher nicht sein, dass die Notwendigkeit einer förmlichen Unternehmensbewertung bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung weiter reicht als beim Bezugsrechtsausschluss (Erst-recht-Schluss).
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Ebenso Kocher/Feigen CFL 2013, 116, 123. Vgl. Stilz in Spindler/Stilz AktG, § 255 Rn. 20: nur „regelmäßig“. 61 Vgl. Servatius in Spindler/Stilz AktG, § 186 Rn. 29: Berechnungsgrundlagen und Bewertungskriterien sind zu nennen; ebenso Schürnbrand in MünchKomm AktG, § 186 Rn. 83. 60
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V. Ergebnis Ein generelles Gebot der förmlichen Unternehmensbewertung im Vorfeld einer Bezugsrechtskapitalerhöhung besteht nicht kraft Gesetzes und ist auch rechtsfortbildend nicht begründbar. Das Gebot der Unternehmensbewertung ist vielmehr akzessorisch zum Gebot des angemessenen Ausgabebetrags. Bei der Bezugsrechtskapitalerhöhung kommt daher eine Pflicht zur förmlichen Unternehmensbewertung von vornherein nur in Betracht, wenn – anderweitig und vorrangig! – die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht der Mehrheit eine Ausgabe der Aktien zum angemessenen Ausgabebetrag gebietet. Dies darf nicht leichtfertig bejaht werden.
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Der Konzern im Konzern im Aktien- und Mitbestimmungsrecht
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Der Konzern im Konzern im Aktien- und Mitbestimmungsrecht Gerald Spindler
Der Konzern im Konzern im Aktienund Mitbestimmungsrecht GERALD SPINDLER
I. Einleitung Die Jubilarin vereinigt wie kaum noch mehr heutzutage die früher ideale Kombination aus Arbeits- und Gesellschafsrecht, die sie mit ihren fundamentalen Arbeiten wesentlich geprägt hat, allen voran ihre Habilitationsschrift zum Arbeitsrecht im Konzern.1 Genau mit einem dieser Themen, einem Dauerbrenner zwischen Mitbestimmungs- und Konzernrecht, hat sich Christine Windbichler schon frühzeitig auseinandergesetzt, nämlich der Figur des „Konzerns im Konzern“, die trotz mehr als 40-jähriger Diskussion immer noch nicht endgültig geklärt ist und immer wieder für Statusverfahren nach §§ 97 ff. AktG zur richtigen Besetzung der Aufsichtsräte sorgt. Daher kann eine Aufarbeitung des Diskussionstandes auf das Interesse der Jubilarin hoffen; dabei sind zunächst die Grundlagen zu klären (II), um sich sodann den nötigen Abgrenzungen (III.) sowie schlussendlich den möglichen Anwendungsfällen zuzuwenden (IV.). Dabei wird sich zeigen, dass die Figur des Konzerns im Konzern aus mitbestimmungsrechtlicher Sicht untrennbar mit der Reichweite der Mitbestimmung an der Konzernspitze verknüpft ist. II. Mitbestimmung im Konzern: Grundlagen Eine unternehmerische, aber auch betriebliche Mitbestimmung (BetrVG), die nur auf der Ebene der jeweiligen Gesellschaft ansetzen würde, wäre angesichts der verbreiteten Bildung von Unternehmensgruppen und Konzernierung illusorisch und sinnlos, da die Arbeitnehmervertreter nicht an denjenigen Stellen Mitspracherecht erhalten würden, an denen die entsprechenden Entscheidungen fallen. Daher muss notwendigerweise jede Mitbestimmung eine konzernweite Zurechnungsregelung enthalten, was selbst schon im MontanMitbestG (§ 1 Abs. 4) enthalten ist. Praktisch relevant ist vor allem § 5 MitbestG, der in § 5 Abs. 1 MitbestG die Arbeitnehmer der 1
Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989.
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einheitlich geleiteten Konzernunternehmen dem herrschenden Unternehmen zurechnet. Voraussetzung ist daher stets die einheitliche Leitung gem. § 18 AktG – anders als für die Regelungen der §§ 291 ff. AktG, für die Abhängigkeit nach § 17 AktG bereits ausreicht. Für die Zurechnung nach § 5 MitbestG genügt nicht die Möglichkeit der einheitlichen Leitung, sie muss vielmehr tatsächlich ausgeübt werden.2 Wie die einheitliche Leitung durchgeführt wird, ist dabei im Prinzip irrelevant, so dass neben Vertrags- und Eingliederungskonzern auch die faktisch ausgeübte Leitung nach §§ 311 AktG zur Begründung der Zurechnung nach § 5 Abs. 1 MitbestG ausreicht.3 Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass der Konzernbegriff im Aktienrecht dem Schutz der abhängigen Gesellschaft, der Gläubiger sowie Minderheitsgesellschafter dient, während § 5 MitbestG die Mitspracherechte der Arbeitnehmer auf der Ebene, auf der unternehmerische Entscheidungen gefällt werden, sichern soll, so dass durchaus Divergenzen zwischen Aktien- und Mitbestimmungsrecht auftreten können.4 So soll für den mitbestimmungsrechtlichen Konzern im Konzern bereits die Leitung auch nur einiger relevanter Unternehmensfunktionen wie Controlling etc., von Unternehmensbereichen wie Personal, Produktion etc.5 oder von Sparten oder Segmenten für die Ausübung der einheitlichen Leitung ausreichen.6 Erforderlich ist wie im Aktienkonzernrecht7 eine gesellschaftsrechtliche Veranke2 Wichert in NK-Aktienrecht, 5. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 6; Habersack in HH/ MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 20; Wißmann in WKS/MitbestR, 5. Aufl. 2017, § 5 MitbestG Rn. 29; Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 8; Raiser in RVJ/ MitbestG und DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 22 f. 3 Habersack in HH/MitbestR, 24; Wißmann in WKS/MitbestR, 5. Aufl. 2017, § 5 MitbestG Rn. 31. 4 BayObLG Beschl. vom 24.3.1998 – 3Z BR 236/96, NZG 1998, 509; OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956 (957); OLG Frankfurt Beschl. vom 10.11.1986 – 20 W 27/86, ZIP 1987, 107 (108); OLG Stuttgart Beschl. vom 3.5.1989 – 8 W 38/89, AG 1990, 168 (169); LG München I Beschl. vom 25.9.1995 – 21 O 21794/93, AG 1996, 186 (187); Seibt in HWK/Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 3; Kort NZG 2009, 81 (82); Konzen ZIP 1984, 269 (270). 5 BayObLG Beschl. vom 24.3.1998 – 3Z BR 236/96, NZG 1998, 509; Konzen ZIP 1984, 269 (270). 6 BayObLG Beschl. vom 24.3.1998 – 3Z BR 236/96, NZG 1998, 509 (510); OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956 (957); LG Köln Beschl. vom 3.4.1984 – 3 AktE 1/82, AG 1995, 252 (253); Seibt ZIP 2008, 1301 (1302); Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG. Rn. 6; Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 23; Raiser in RVJ/MitbestG und DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 13; a.A. Hoffmann/Lehmann/Weinmann in MitbestG, 1. Aufl. 1978, § 5 MitbestG Rn. 22. 7 Grundlegend BGH Urteil vom 26.3.1984 – II ZR 171/83, NJW 1984, 1893 (1896 f.); Windbichler in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2017, § 17 AktG Rn. 12 f.; Hüffer/Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 17 AktG Rn. 8; Grigoleit in Grigoleit AktG, 1. Aufl. 2013, § 17 AktG Rn. 6; J. Vetter in K.Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 17 AktG Rn. 15; Bayer in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 17 AktG Rn. 21 f.; im Grundsatz zustimmend Schall in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 17 AktG Rn. 21.
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rung der einheitlichen Leitung;8 weder genügen schuldrechtliche Abhängigkeiten noch virtuelle Managementstrukturen.9 Ferner gelten auch hier die Vermutungsregelungen der §§ 16 ff. AktG, insbesondere für den Konzern die Vermutungen des § 18 Abs. 1 S. 2, 3 AktG – die aber durch den Nachweis widerlegbar sind, dass die Leitungsmacht nicht ausgeübt wird, vor allem dass das Eigeninteresse des abhängigen Unternehmens im Vordergrund steht, wobei punktuelle Einflussmaßnahmen unschädlich sind.10 Daraus resultiert aber auch bereits der Anlass für die Diskussion um den Konzern im Konzern: Da eine Pflicht zur intensiven Konzernleitung nicht angenommen werden kann,11 erst recht nicht zur Begründung eines Vertragskonzern, kommen alle Leitungsformen in Betracht, seien sie zentralistischer oder dezentraler Natur. Im Falle der dezentralen Leitung kann sich die Muttergesellschaft aber sogar auf Zielvorgaben z.B. hinsichtlich zu erreichender Umsatzrenditen beschränken, z.B. bei sparten- oder markenorientierten Organisationen, die in entsprechenden Tochtergesellschaften gegliedert sind. Der Vorstand der Muttergesellschaft muss nicht über Maßnahmen der jeweiligen Geschäftsführungen der Tochtergesellschaften selbst entscheiden, sondern kann dies den dortigen Organen überlassen, ohne dass damit die einheitliche Leitung selbst in Frage gestellt würde. Damit liegt das Problem der Mitbestimmung in der Unternehmensgruppe aber auf der Hand: Übt der Vorstand der Muttergesellschaft selbst nicht seine Leitungskompetenz aus, hat auch der Aufsichtsrat der Muttergesellschaft kein effektives Mitspracherecht. Allenfalls über Auskunftsrechte und Berichtspflichten kann der Aufsichtsrat am Geschehen in den Tochtergesellschaften teilhaben.12 Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Überlegungen dazu angestellt werden, ob nicht auch bei der Konzernzwischengesellschaft (also Tochtergesellschaft etc.), die Teilbereiche der einheitlichen Leitung ausübt, eine Mitbestimmungszurechnung nach § 5 Abs. 1 MitbestG eingerichtet werden muss. Erreicht wird dies mit der Rechtsfigur des „Konzerns im 8
Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 14. Seibt ZIP 2008, 1301 (1303). 10 BayObLG Beschl. v. 6.3.2002 – 3Z BR 343/00, NZG 2002, 579 (581). Oetker in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 4; Gach in MüKoAktG, 4. Aufl. 2014, § 5 MitbestG Rn. 25; Seibt in HWK/Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 6; Seibt ZIP 2008, 1301 (1302 f.). 11 Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 76 AktG Rn. 90; Altmeppen in MüKoAktG, 5. Aufl. 2020, § 309 AktG Rn. 54; Kort in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2015, § 76 AktG Rn. 177 ff.; Langenbucher in K. Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 291 AktG Rn. 40; Hüffer/Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 76 AktG Rn. 47, § 309 AktG Rn. 10; Schatz/Schödel in NK-AktG, 5. Aufl. 2020, § 311 AktG Rn. 8; grundlegend, allerdings für eine Konzernleitungspflicht Hommelhoff Die Konzernleitungspflicht, 1932, 41 ff.; ebenfalls dafür Schneider BB 1981, 249, (256 ff.). 12 Hoffmann-Becking ZHR 159 (1995), 325, (332 ff.); Lutter AG 2006, 517, (519); Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989, 557, 560. 9
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Konzern“, die nach wie vor umstritten ist, wobei gerade die Jubilarin13 Position gegen die h.M.14 und Rechtsprechung15 bezogen hat.: Auch im Betriebsverfassungsrecht findet die Figur des „Konzerns im Konzern“ dem Grunde nach Akzeptanz in der Rechtsprechung.16
III. Die Rechtsfigur des Konzerns im Konzern 1. Irrelevanz im Aktienkonzernrecht Im Aktienkonzernrecht spielt die Frage der einheitlichen Leitung bekanntlich kaum eine Rolle, da die konzernrechtlichen Schutzvorschriften schon bei reiner Abhängigkeit eingreifen. Nur früher war die einheitliche Leitung für die Konsolidierung der Bilanzen im Konzern erforderlich, die heute aber durch den weiter gefassten angelsächsischen Begriff der Kontrolle („control“) verdrängt ist, § 290 Abs. 2 HGB.17 Demgemäß hat die Auf-
13 Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989, 524 ff.; ihr folgend Richardi in FS Zeuner, 1994, 147 (157 f.); ablehnend auch Meik BB 1991, 2441 (2443 f.); Meilicke/Meilicke BB 1978, 406 (409); Schilling ZHR (140) 1976, 520 (534); J. Semler DB 1977, 805 (808 f.); Lutter Mitbestimmung, 1978, 12; Säcker Wahlordnungen, 1975, Rn. 164 ff. 14 Für die Annahme eines Konzerns im Konzern im MitbestG: Habersack in HH/Mit bestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 39 f., 42; Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 8 f.; Raiser in RVJ/MitbestG und DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 23 f.; Seibt in HWK/Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 8; Wißmann in WKS/MitbestR, 5. Aufl. 2017, § 5 MitbestG Rn. 37 ff.; Uffmann in MHdb Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2018, § 373 Rn. 25; Mertens/Cahn in KölnKomm, 3. Aufl. 2013, Anh. § 117 B Rn. 32; Oetker in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 31; Gach in MüKoAktG, 4. Aufl. 2014, § 5 MitbestG Rn. 24; Geßler BB 1977, 1313 (1317); Theisen AG 1998, 153 (159); Konzen ZIP 1984, 269 (270 f.) je mwN; Hanau ZGR 1984, 468 (477); Duden ZHR (141) 1975, 145 (159 f.); Raiser in FS Kropff, 1997, 243 (251); Hanau/Wackerbarth in FS Lutter, 2000, 425 (433). 15 Befürwortend OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956 f.; OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (318); OLG Frankfurt Beschl. vom 10.11.1986 – 20 W 27/86, ZIP 1987, 107 (108); OLG München Beschl. vom 19.11.2008 – 31 Wx 99/07, NZG 2009, 112 (113); LG München I Beschl. vom 25.9.1995 – 21 O 21794/93, AG 1996, 186 (187); dazu tendierend LG Nürnberg-Fürth Beschl. 10.10.1983 – 4 O 3900/83 AktGE, AG 1984, 55; offengelassen (aber in concreto abgelehnt OLG Düsseldorf Beschl. vom 27.12.1996 – 19 W 4/96, ZIP 1997, 546 (547 f.); ebenfalls offengelassen aber in concreto verneint LG Hamburg Beschl. vom 26.6.1995 – 321 T 61/94, AG 1996, 89 (89 f.); auch offen OLG Celle Beschl. 22.3.1993 – 9 W 130/92, BB 1993, 957 (958). 16 BAG Beschl. vom 14.2.2007 – 7 ABR 26/06, NZG 2009, 999 (1003 f. Rn. 49) = BAGE 121, 212; bestätigt in BAG Beschl. vom 23.5.2018 – 7 ABR 60/16, ZIP 2016, 1993 (1995); krit. dazu Richardi in FS Zeuner, 1994, S. 147 (153 f.). 17 Dazu von Colbe in MüKoHGB, 3. Aufl. 2013, § 290 HGB Rn. 18 ff.; Kindler in Staub HGB, 5. Aufl. 2011, § 290 Rn. 69 ff.
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stellung eines Teilkonzernabschlusses von vornherein keine indizielle Bedeutung für § 5 MitbestG.18 Demgemäß ist es nicht erstaunlich, dass der Begriff des Konzerns im Konzern für weitgehend überflüssig, als „nicht denkbar“19 oder gar unstatthaft im Rahmen von § 18 AktG gehalten wird, da der Konzern eine Einheit voraussetzt und nicht in verschiedene Teilbereiche aufgespalten werden kann. In der Tat ist der primäre Zweck des Schutzes von Minderheitsaktionären und/oder Gläubigern nicht davon abhängig, wie intensiv die einheitliche Leitung ausgeübt wird. Die Gefahren der Aushöhlung der Gesellschaft durch anderweitige unternehmerische Tätigkeiten des Mehrheitsaktionärs bzw. konzernleitenden Gesellschaften bestehen jenseits der verschiedenen Konzernarten unabhängig von der Intensität der tatsächlich ausgeübten einheitlichen Leitung.20 2. Der Konzern im Konzern im Mitbestimmungsrecht Der Verweis des Mitbestimmungsrechts auf den Konzernbegriff nach § 18 AktG impliziert nicht, dass die Begriffe in den Rechtsgebieten gleich ausgelegt werden müssen.21 Maßgeblich ist die Zurechnung der Arbeitnehmer bei einer Konzernzwischengesellschaft durch den Telos des § 5 MitbestG bedingt, die Teilhabe der Arbeitnehmervertreter auf derjenigen Ebene zu sichern, die die Entscheidungen in Gestalt der einheitlichen Leitung ausübt.22 Demgemäß formuliert das OLG Düsseldorf zu Recht, dass „[…] die Mitbestimmung [unvollständig bliebe], wenn eine Konzerngestaltung ihr das Zusammenwirken mit unabhängigen Partnern für einen unternehmenspolitischen Grundsatzbereich versperrte.“23 Der Konzern im Konzern setzt voraus, dass die Konzernzwischengesellschaft tatsächlich in weitgehenden Umfang selbst eine einheitliche Leitung 18 Zutr. Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 9; Habersack in HH/Mit bestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 42; Wißmann in WKS/MitbestR, 5. Aufl. 2017, § 5 MitbestG Rn. 40; zu Teilkonzernabschlüssen allgemein Kindler in Staub HGB, 5. Aufl. 2011, § 290 Rn. 69 ff. 19 So Koppensteiner in KölnKomm, 3. Aufl. 2009, § 18 AktG Rn. 22. 20 BGH Urt. vom 4.3.1974 – II ZR 89/72, NJW 1974, 855 (856); Bayer in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 17 AktG Rn. 11. 21 Konzen ZIP 1984, 269 (270); Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 11. 22 OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956; OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (318); BayObLG Beschl. vom 24. 03. 1998 – 3Z BR 236/96, NZG 1998, 509; Konzen ZIP 1984, 269 (270); Seibt ZIP 2008, 1301 (1302); Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 8; Raiser in RVJ/MitbestG und DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 23; Seibt in HWK/Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 1; Heiter/von Morgen in NK-Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Aufl. 2016, § 5 MitbestG Rn. 19. 23 OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956 (957).
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ausübt; wiederum ist nicht die Tatsache der Abhängigkeit nach § 17 AktG der nachgeordneten Gesellschaften maßgeblich, sondern die tatsächlich geübte einheitliche Leitung. Daher kann auch die reine Vermittlung von Leitungsmaßnahmen der Muttergesellschaft nicht genügen, selbst wenn diese durch Konkretisierungen etwa auf der Ebene der Konzernzwischengesellschaft „angereichert“ werden.24 Ob und wie weit davon gesprochen werden kann, dass eine Zwischengesellschaft selbst einheitliche Leitung ausübt, kann nur durch die mitbestimmungsrechtlich spezifische Auslegung des Begriffs der einheitlichen Leitung geklärt werden. So soll es nicht auf das Vorhandensein einer wirtschaftlichen Unternehmenseinheit ankommen, ebenso wenig auf die Vereinheitlichung zumindest der Finanz- und Investitionspolitik bei der Konzernspitze. Auch nur bestimmte Funktionen oder Sparten, die der Konzernspitze unterstehen, genügen demnach für die Annahme der einheitlichen Leitung durch die Zwischengesellschaft gegenüber den nachgeordneten Unternehmen.25 Andere verlangen, dass wenigstens ein Teil der Leitung auf der Ebene der Muttergesellschaft ausgeübt wird, da sonst keinerlei Konzern auf dieser Ebene gegeben sei bzw. die Vermutung nach § 18 Abs. 1 AktG widerlegbar sei.26 Allein eine dezentrale Struktur begründet für sich genommen ebenfalls noch kein Indiz für einen Konzern im Konzern.27 Die Gegenargumente liegen allerdings auch auf der Hand: Denn wenn die Konzernspitze frei ist, in welcher Intensität sie die Leitung ausübt, kann sie in einem dezentral organisierten Konzern unbeschadet rechtlicher Hürden jederzeit die Leitung auch wieder zurückholen bzw. verstärken, so dass für eine Leitung auf der Ebene der Zwischengesellschaft kein Raum mehr verbleibt.28 Begründet wird die Ablehnung zudem damit, dass der Gesetzgeber sich bewusst für den Konzernbegriff des § 18 AktG entschieden habe und dieser unteilbar sei, mithin die Leitung eben nur „einheitlich“ ausgeübt werden kann.29 Wenn die Obergesellschaft die Leitungskompetenzen abge24 Ebenso Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 35; Kort NZG 2009, 81 (83). 25 So OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956 (957); Kort NZG 2009, 81 (82); Habersack in HH/MitbestG, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 23, 38. 26 Kort NZG 2009, 81 (83). 27 OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (319); LG Hamburg Beschl. vom 26.6.1995 – 321 T 61/94, AG 1996, 89 (90); LG München I Beschl. vom 25.9.1995 – 21 O 21794/93, AG 1996, 186 (187); Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 9. 28 v. Hoyningen-Huene ZGR 1978, 515 (536 ff.); Meik BB 1991, 2441 (2443 f.); Meilicke/Meilicke BB 1978, 406 (409); Schilling ZHR 1976, 520 (534); Birk ZGR 1984, 23 (54 ff.); Hoffmann/Lehmann/Weinmann in MitbestG, 1. Aufl. 1978, § 5 MitbestG Rn. 41 f.; Schneider in GK-MitbestG, 1992, § 5 MitbestG Rn. 75; Säcker Wahlordnungen, 1978, Rn. 164 ff. 29 Annuß in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 5 MitbestG Rn. 10; s. auch schon Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989, 525 f.; Richardi in FS Zeuner, 1994, 147 (157 f.).
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geben habe, liege keine Konzernbindung mangels Leitung vor, da es im Gegensatz zum Konzernbetriebsrat um die gesamte Leitung (unternehmerische Leitung) und nicht nur Einzelentscheidungen gehe.30 Ferner wird argumentiert, dass die Kriterien, die zum Konzern im Konzern führen sollen, in der Praxis unübersichtlich und verwirrend sind.31 Auch hätten Arbeitnehmer in den Enkelgesellschaften u.U. mehr Wahlrechte als ihnen zustehen würden, da sie ggf. nicht nur Wahlrechte in ihrem Unternehmen und zur Gesamtkonzernspitze, sondern auch zur Zwischenkonzernspitze hätten.32 Nur rechtspolitisch, aber im Rahmen der lex lata nicht dogmatisch, könne der Konzern im Konzern begründet werden.33 Die Argumente verfangen aber nicht: Denn damit wird nicht dem Telos von § 5 MitbestG Rechnung getragen, dass die Mitbestimmung gerade dort ansetzen soll, wo für den Konzern insgesamt tatsächlich die Entscheidungen getroffen werden,34 was mit rein rechtspolitischen Begründungen nichts zu tun hat. Es kann nicht darauf ankommen, ob die Konzernspitze die Leitungsmachtstrukturen jederzeit wieder ändern kann, da die Arbeitnehmervertreter in der Konzernobergesellschaft über keine bzw. nur sehr beschränkte Möglichkeiten verfügen, auf diese Änderungen hinzuwirken, so dass sie keine tatsächliche Teilhabe und Mitspracherechte bei den tatsächlich gefällten Entscheidungen haben.35 Andernfalls könnte die Mitbestimmung durch eine entsprechende Konzerngestaltung unterlaufen werden.36 Richtig an den Bedenken ist, dass die Figur des Konzerns im Konzern nicht dahingehend ausgedehnt werden kann, dass jegliche Abspaltung von Leitungsfunktionen per se dazu führt, dass auf jeder betroffenen Ebene die Mitbestimmung durchzuführen ist. Zum einen ergäben sich hieraus im Zeitlauf Probleme, da ständig für jeden einzelnen Zeitpunkt festgestellt werden müsste, ob und welche Entscheidungen dezentral getroffen werden, mit dem absurden Ergebnis eines ständigen Statuswechsels. Zum anderen würde damit der Begriff der einheitlichen Leitung zu sehr aufgespalten, da nicht jeder noch so klein verbleibender Entscheidungsspielraum zur Leitungs30
Richardi in FS Zeuner, 1994, 147 (157 f.). Säcker Wahlordnungen, 1978, Rn. 164; Schneider in GK-MitbestG, 1992, § 5 MitbestG Rn. 76. 32 Schneider in GK-MitbestG, 1992, § 5 MitbestG Rn. 76. 33 So Annuß in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 5 MitbestG Rn. 10; s. ferner die Nachw. in Fn. 19; Hoffmann/Lehmann/Weinmann in MitbestG, 1. Aufl. 1978, § 5 MitbestG Rn. 41 f.; Schilling ZHR 1976, 520 (534); Birk ZGR 1984, 23 (54 ff.); Schneider in GKMitbestG, 1992, § 5 MitbestG Rn. 75. 34 So zu Recht OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (318 f.); Konzen ZIP 1984, 269 (270 f.); Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, MitbestG § 5 Rn. 39; Gach in MüKoAktG, 4. Aufl. 2014, § 5 MitbestG Rn. 25. 35 Mertens/Cahn in KölnKomm, 3. Aufl. 2013, Anh. § 117 B § 5 MitbestG Rn. 32; a.A. Lutter ZGR 1977, 195 (212); J. Semler DB 1977, 805 (809). 36 OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (318 f.). 31
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befugnis auf der Zwischengesellschaftsebene taugt. Da die Mitbestimmung bei der Konzernzwischengesellschaft aber vom Umfang der einheitlichen Leitung, die der Zwischengesellschaft eingeräumt ist, abhängt, müssen im Hinblick auf diese Bedenken in jedem Einzelfall sorgfältig die Voraussetzungen geprüft werden.37 Demgemäß kann auch die Vermutung des § 18 Abs. 1 S. 3 AktG im Verhältnis von Tochter- zu Enkelgesellschaft nicht eingreifen.38 Entscheidend muss das Verhältnis von Überwachung durch den Aufsichtsrat auf der Ebene der Obergesellschaft einerseits und andererseits den Ebenen sein, auf denen die maßgeblichen Entscheidungen getroffen werden. Eine Lücke dergestalt, dass bei der Obergesellschaft eine Überwachung der Konzerngesellschaften aufgrund einer umfassenden Delegation von Leitungsmacht an die Zwischengesellschaft nicht möglich ist, andererseits auf der Ebene der Zwischengesellschaft keine Mitbestimmung stattfindet, entspricht nicht dem Telos des § 5 Abs. 1 MitbestG.39 Da es einen Konzernaufsichtsrat im engeren Sinne nicht gibt, der unmittelbare Befugnisse gegenüber den Geschäftsführungen in den Tochtergesellschaften hätte,40 müsste daher entweder die Beteiligungsrechte des Aufsichtsrats – etwa der Zustimmungsvorbehalt – auf strategische Entscheidungen in den Tochtergesellschaften ausgedehnt werden41 oder die Mitbestimmung auf der Ebene der (leitenden) Tochtergesellschaft erstreckt werden (als Konzern im Konzern).42 In ähnlicher Weise stellt das BAG für die Bildung eines Konzernbetriebsrats nach § 54 BetrVG 1972 darauf ab, ob diesem ein „Gegenspieler“ mit Leitungsmacht gegenübersteht.43 Dies ist nur dann der Fall, wenn „ […] die Tochtergesellschaft über einen wesentlichen Entscheidungsspielraum in mitbestimmungspflichtigen (personellen, sozialen und wirtschaftlichen) Angelegenheiten in Bezug auf die ihr nachgeordneten Unternehmen“ verfügt.44 Allerdings gilt anders als im MitbestG grundsätzlich die Subsidiarität des 37 In diese Richtung auch Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 39. 38 OLG München Beschl. vom 19.11.2008 – 31 Wx 99/07, NZG 2009, 112 (113); Raiser in RVJ/MitbestG und DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 24; Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 43; Kort NZG 2009, 81 (83). 39 Auf diesen Zusammenhang zutreffend abstellend Konzen ZIP 1984, 269 (271). 40 S. dazu Hoffmann-Becking ZHR 159 (1995), 325 (331 ff.); Spindler in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 111 Rn. 91 mwN. 41 Zur Diskussion um die konzerndimensionale Wirkung von § 111 Abs. 4 AktG Spindler in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 111 Rn. 96 f. mwN. 42 S. auch Konzen ZIP 1984, 269 (271). 43 S. auch BAG Beschl. vom 14.2.2007 – 7 ABR 26/06, ZIP 2007, 1518 (1523 Rn. 63) = BAGE 121, 212. 44 BAG Beschl. vom 23.5.2018 – 7 ABR 60/16, ZIP 2018, 1993 (1995); BAG Beschl. vom 14.2.2007 – 7 ABR 26/06, NZA 2007, 999 (1003 f.); BAG Beschl. vom 21.10.1980 – 6 ABR 41/78, AP BetrVG 1972 § 54 NR. 1.
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Konzernbetriebsrates, so dass keine Schutzlücke entstehen kann.45 Bestritten wird diese Annahme einer Unterkonzernspitze allerdings mit ähnlichen Argumenten wie für das MitbestG, insbesondere der Unteilbarkeit der einheitlichen Leitung.46 Die Annahme eines Konzerns im Konzern scheint zunächst für erhebliche Rechtsunsicherheit zu sorgen, muss doch immer wieder aufs Neue je nach den tatsächlichen Gegebenheiten geprüft werden, ob und inwieweit die Leitungsmacht ausgeübt wird. Dem steht jedoch entgegen, dass die Prüfung, wo die einheitliche Leitung erfolgt, von vornherein stets vorgenommen werden muss.47 Zudem sorgen eine restriktive Handhabung und Begrenzung auf lose organisierte Konzerne dafür, dass es sich nur um Ausnahmen handelt.48 3. Abgrenzung zum Teilkonzern Der Konzern im Konzern ist auch nicht dem Teilkonzern gleichzusetzen; daher können auch aus § 5 Abs. 3 MitbestG keine Argumente gegen den Konzern im Konzern abgeleitet werden.49 Denn § 5 Abs. 3 MitbestG betrifft nicht den Fall, dass die einheitliche Leitung größtenteils auf der Zwischengesellschaftsebene stattfindet, sondern soll nur die Mitbestimmung für die Fälle sichern, in denen die Konzernspitze nicht der Mitbestimmung z.B. aus rechtlichen Gründen (Auslandskonzernspitze) unterliegen kann.50 Die Norm stellt damit eine reine Fiktion dar, um die Mitbestimmung in Deutschland zu gewährleisten.51 Demgemäß ist auch nach – allerdings umstrittener52 – Auffassung der Rechtsprechung nicht die Ausübung einer Lei45
BAG Beschl. vom. 14.2.2007 – 7 ABR 26/06, ZIP 2007, 1518; BAG Beschl. vom 21.10.1980, AP BetrVG 1972, § 54 Nr. 1; insoweit auch Richardi in FS Zeuner, 1994, 147 (153 f.). 46 Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989, 318 ff.; zust. Richardi in FS Zeuner, 1994, 147 (153 f.); Meik BB 1991, 2442 (2443 f.); Annuß in Richardi/BetrVG, 1972, § 54 Rn. 10 ff. im Erg. auch ablehnend für den Betriebsrat Hanau ZGR 1984, 468 (477 ff.); für den Konzern im Konzern Fitting BetrVG, 1972, § 53 Rn. 32 f. 47 v. Hoyningen-Huene ZGR 1978, 515 (529). 48 OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956 (957). 49 Konzen ZIP 1984, 269 (270 f.); Wißmann in WKS/MitbestR, 5. Aufl. 2017, § 5 MitbestG Rn. 38; v. Hoyningen-Huene ZGR 1978, 515 (525); Duden ZHR 141 (1971), 145 (159 f.); Bayer ZGR 1977, 173 (186); so aber Säcker Wahlordnungen, 1978, Rn. 164; Lutter Mitbestimmung, 1975, 12; Hoffmann BB 1974, 1276 (1277). 50 Zutr. Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989, 525; Habersack in HH/MitbestG, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 40; Raiser in RVJ/MitbestG und DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 23; Gach in MüKoAktG, 4. Aufl. 2014, § 5 MitbestG Rn. 24. 51 Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 72; Kort NZG 2009, 81 (83 f.). 52 Krit. Seibt ZIP 2008, 1301 (1304 f.); Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 70; Habersack AG 2007, 641 (650); Oetker ZGR 2000, 19 (35).
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tung durch die Zwischengesellschaft erforderlich53 – im Gegensatz zur Figur des Konzerns im Konzern. Demnach muss die Zwischengesellschaft noch nicht einmal die Leitung der Konzernspitze an die Enkelgesellschaft vermitteln, also nicht Teil des Leitungsstrangs sein.54 Ob dies indes nicht zu weit geht, insbesondere ob nicht auch für § 5 Abs. 3 MitbestG die Mitbestimmung nur dort angesiedelt werden kann (im Inland), wo die Leitungsentscheidungen fallen,55 so dass die Leitungsmacht wenigstens ausgeübt werden kann (aber nicht notwendigerweise tatsächlich ausgeübt wird),56 kann hier dahinstehen. Allerdings kann in Fällen, in denen auch die nicht der Mitbestimmung unterliegende (ausländischen) Konzernspitze nur eine dezentrale oder gar keine einheitliche Leitung ausübt, die Mitbestimmung aufgrund der Figur des Konzerns im Konzern mit derjenigen nach § 5 Abs. 3 MitbestG kulminieren.57 Umgekehrt weist die Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 3 MitbestG auf den Ausnahmecharakter hin, so dass auch für die Figur des „Konzerns im Konzern“ zu Recht darauf hingewiesen wird, dass dieser die begründungsbedürftige Ausnahme darstellt.58 Für den Konzernbetriebsrat spielt dagegen § 5 Abs. 3 MitbestG keine, auch nicht indirekte Rolle, da das BAG die Annahme einer unbewussten Regelungslücke und damit einer Analogie zum Teilkonzern nach wie vor ablehnt.59 Maßgeblich ist für das BAG zu Recht die Erwägung, dass 53 OLG Stuttgart, Beschl. vom 30.3.1995 – 8 W 355/93 NJW-RR 1995, 1067 (1068); OLG Frankfurt a.M. Beschl. vom 21.4.2008 – 20 W 342/07, ZIP 2008, 878 (879); Beschl. 21.4.2008 – 20 W 8/07, ZIP 2008, 880 (882). 54 OLG Stuttgart Beschl. vom 30.3.1995 – 8 W 355/93, NJW-RR 1995, 1067; ähnlich OLG Düsseldorf Beschl. vom 27.12.1996 – 19 W 4/96, ZIP 1997, 546 (547 f.). 55 OLG Celle Beschl. vom 22.3.1993 – 9 W 130/92, AG 1994, 131; dagegen aber Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 70. 56 So Kort NZG 2009, 81 (85), der selbst die Weitergabe von Weisungen für nicht ausreichend hält, sondern auf die rechtlichen Einflussmöglichkeiten der Tochter gegenüber der Enkelgesellschaft abstellt; ähnlich Seibt ZIP 2008, 1301 (1304 f.); Henssler ZfA 2005, 289 (308); Habersack AG 2007, 641 (647 f.); Habersack in HH/MitbestG, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 70; Weiterleitung allein ausreichend lassen Wißmann in WKS/MitbestR, 5. Aufl. 2017, § 5 MitbestG Rn. 70; Hölters RdA 1979, 335 (339). 57 Kort NZG 2009, 81 (83); Habersack in HH/MitbestG, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 40; Wißmann in WKS/MitbestR, 5. Aufl. 2017, § 5 MitbestG Rn. 38; Raiser in RVJ/ MitbestG und DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 23; a.A. Lutter Mitbestimmung, 1975, 12. 58 Hohe Anforderungen in tatsächlicher Art an den Beweis daher stellend LG München I Beschl. vom 25.9.1995 – 21 O 21794/93, AG 1996, 186 (187); wie hier auch Kort NZG 2009, 81 (83). 59 BAG Beschl. vom 14.2.2007 – 7 ABR 26/06 (LAG Köln Beschl. 10.11.2005 – 10 TaBV 15/05), NZG 2009, 999 Rn. 52 ff., 62 = BAGE 121, 212; bestätigt in BAG Beschl. vom 23.5.2008 – 7 ABR 60/16, ZIP 2016, 1993 (1995); ebenfalls gegen die Regelungslücke Koch in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 54 BetrVG Rn. 7; für eine Regelunglücke Kort NZA 2009, 464 (465 f.); Annuß in Richardi/BetrVG, 16. Aufl. 2018, § 58 BetrVG Rn. 21.
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– anders als für die unternehmerische Mitbestimmung – für die betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmung kein Wegfall des nötigen Schutzes bzw. der Mitbestimmung mit einer Konzernspitze im Ausland eintritt, da die Befugnisse dann auf der Ebene von Gesamt- bzw. Betriebsrat eingreifen.60 4. Die Vermutung der einheitlichen Leitung nach § 18 Abs. 1 AktG Wie dargelegt, kommt es auf das Ausmaß der tatsächlichen Ausübung der einheitlichen Leitung an. Damit steht die Vermutungswirkung des § 18 Abs. 1 S. 3 AktG tendenziell in Konflikt; allerdings darf nicht verkannt werden, dass die Vermutung schon mit dem AktG 1965 eingeführt wurde, damals keineswegs mit Blick auf eine konzernweite Erstreckung der Mitbestimmung, sondern unter Gläubigerschutz- und Minderheitsschutzaspekten im Wesentlichen für bilanzielle Fragen der Konsolidierung, und hier auch anknüpfend an die Vermutungen des § 17 AktG. Andererseits hat der Gesetzgeber des MitbestG ausdrücklich auf den Konzernbegriff des § 18 AktG und damit auch auf die Vermutungsketten der §§ 16–18 AktG Bezug genommen.61 Die Vermutung des § 18 Abs. 1 3 AktG findet insoweit auf die Zwischenholding keine Anwendung,62 da diese nur für die Konzernspitze über die Verweisung auf § 18 Abs. 1 S. 3 AktG gilt. Zwar könnte man argumentieren, dass der Konzern im Konzern eben auch die einheitliche Leitung ausübe und daher hier die Vermutung eingreifen müsste; doch würde sich dann buchstäblich „die Katze in den Schwanz beißen“, da gerade die Stellung der Zwischenholding als (Zwischen-) Konzernspitze erst als Ausnahme begründet werden muss. Selbst für den Beherrschungsvertrag der Zwischengesellschaft mit der Enkelgesellschaft kann die unwiderlegliche Vermutung nach § 18 Abs. 1 S. 2 AktG nicht eingreifen, da damit die Feststellung der tatsächlichen Leitungsmachtverhältnisse obsolet würde; zu Recht wird daher hier für eine teleologische Reduktion plädiert.63 Denn die Vermutung nach § 18 Abs. 1 S. 2 AktG besagt nichts darüber, inwieweit die tatsächliche Leitung
60 BAG Beschl. vom 14.2.2007 – 7 ABR 26/06, NZG 2009, 999 (1003 f. Rn. 62) = BAGE 121, 212; s. auch schon Windbichler Arbeitsrecht im Konzern, 1989, 525 f. 61 Kort NZG 2009, 81 (82); Wißmann in WKS/MitbestR, 5. Aufl. 2017, § 5 MitbestG Rn. 13, 17. 62 OLG München Beschl. vom 19.11.2008 – 31 Wx 99/07, NZG 2009, 112 (113); OLG Hamburg Beschl. 4.7.2017 – 11 W 19/17, ZIP 2017, 1621; Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 9; Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 43; Raiser in RVJ/MitbestG und DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 24; Uffmann in MHdb Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2018, § 373 Rn. 25; Wißmann in WKS/MitbestR, 5. Aufl. 2017, § 5 MitbestG Rn. 40; a.A. KMS/AR-Praxis, Rn. 251. 63 Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 43.
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auf der Ebene der Konzernspitze ausgeübt wird, die aber maßgeblich für die Anwendung von § 5 MitbestG ist.64
IV. Konstellationen 1. Zentralisierter Konzern Differenziert man nach der ausgeübten Leitung liegt es auf der Hand, dass eine Mitbestimmung auf der Zwischengesellschaftsebene im zentralisierten Konzern nicht stattfinden kann, da es an der einheitlichen Leitung im Sinne einer selbständigen, planmäßigen und dauerhaften Ausübung von Leitungsfunktionen fehlt.65 2. Beherrschungsvertrag und Eingliederungskonzern Ob von einer einheitlichen Leitung auf der Ebene der Konzernmuttergesellschaft bei Bestehen eines Beherrschungsvertrags zwischen der Konzernspitze und der Konzernzwischengesellschaft per se ausgegangen werden kann,66 erscheint zunächst fraglich; denn damit würden die rechtlichen Möglichkeiten mit der tatsächlichen Ausübung der Leitungsmacht gleichgesetzt, was gerade nicht dem Ansatz des Konzerns im Konzern entspricht.67 Andererseits legt § 18 Abs. 1 S. 2 AktG für den Beherrschungsvertrag und den Eingliederungskonzern eine unwiderlegliche Vermutung fest, so dass selbst beim Nachweis fehlender ausgeübter Leitungsmacht dennoch der Konzern auf der Ebene der Muttergesellschaft angenommen wird.68 Darauf, ob im Beherrschungsvertrag tatsächlich die Geschäftsführung der Tochtergesellschaft geregelt wird, etwa auch durch Zustimmungsvorbehalte, kommt es daher nicht an.69 64 Gegen die Anerkennung in diesen Konstellationen v. Hoyningen-Huene ZGR 1978, 515 (528); a.A. K.Schmidt in FS Lutter, 2000, 1190 f., der § 18 Abs. 1 S. 2 anwenden will und dementsprechend von der Vermutung ausgeht. 65 Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 41. 66 Seibt ZIP 2008, 1301 (1303 f.); Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 41. 67 In diese Richtung geht die Entscheidung des OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (319), das trotz eines Beherrschungsvertrages die Ausübung der Leitungsmacht prüft; ähnlich OLG Frankfurt Beschl. vom 10.11.1986 – 20 W 27/86, ZIP 1987, 107 (108); ebenso Konzen ZIP 1984, 269 (271). 68 Kort NZG 2009, 81 (82); Windbichler in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2017, § 18 AktG Rn. 29; dies scheint Konzen ZIP 1984, 269 (271) zu übersehen. 69 Wie hier Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 26; anscheinend in diese Richtung aber OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (319): „jedenfalls dann“.
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3. Spartenorganisation innerhalb des Konzerns Für einen Konzern, der nach dem Spartenprinzip aufgebaut ist, fehlt es in der Regel an einem Konzern im Konzern, wenn dieser – wie häufig in der Praxis – bei der Konzernspitze zusammengefasst ist und dort die Sparte jeweils einem Geschäftsführungsmitglied zugeordnet ist.70 Allerdings werden hier Ausnahmen konzediert, wenn „ein bisher selbständiger Konzern als neue „Division“ von einem nach dem Spartenprinzip organisierten Konzern übernommen wird und es an einem Beherrschungsvertrag fehlt“.71 Umgekehrt soll es in dieser Konstellation der Übernahme einer Unternehmensgruppe an der einheitlichen Leitung auf der Ebene der (nunmehr) Zwischengesellschaft fehlen, wenn die neue Konzernspitze einen Beherrschungsvertrag mit der Zwischengesellschaft schließt, der zahlreiche Zustimmungsvorbehalte für die Konzernspitze enthält.72 Dies erscheint indes zu eng, wenn dies nur auf einer vorherigen Übernahmesituation beruhen soll, da es immer wieder vorkommende nachträgliche Umstrukturierungsprozesse ausschließen sollte. Maßgeblich ist daher auch hier, ob und wie tatsächlich die Konzernspitze die übernommenen Gesellschaften lenkt. 4. Dezentral organisierter Konzern Das eigentliche Anwendungsgebiet für die Figur des Konzerns im Konzern ist der dezentral geleitete Konzern: Hier kommt es auf den Einzelfall an, insbesondere wie weit die Dezentralisierung tatsächlich geht.73 Wenn bei der Konzernspitze der Schwerpunkt der Leitungsfunktion liegt, vor allem durch Zustimmungsvorbehalte der Konzernspitze gegenüber Entscheidungen in der Tochtergesellschaft,74 wird weiterhin von einer einheitlichen Leitung auszugehen sein. Die Rechtsprechung verfährt hier äußerst restriktiv: so soll selbst bei einer Beschränkung der Konzernspitze auf die Festlegung bestimmter Unternehmensgrundsätze gegenüber der Zwischengesellschaft und selbst bei Einräumung eines großen Entscheidungsspielraums die einheitliche Leitung bei der 70 S. etwa OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956 (957); Frisinger/Lehmann, DB 1972, 2337; Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 41; Wißmann in WKS/MitbestR, 5. Aufl. 2017, § 5 MitbestG Rn. 41; v. Hoyningen-Huene ZGR 1978, 515 (527). 71 Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 41; ähnlich Duden ZHR 141 (1971), 145 (159). 72 OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (320); Raiser in RVJ/MitbestG und DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 24. 73 OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956. 74 S. etwa im Fall OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (320 f.).
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Konzernobergesellschaft verbleiben.75 Anerkannt ist lediglich, dass etwa bei einer reinen Vermögensholding als Obergesellschaft keine einheitliche Leitung ausgeübt wird.76 Entscheidend soll sein, dass die Konzernspitze ihre Leitungsbefugnis „in vollem Umfang“ abgegeben hat, so dass mit der Zwischengesellschaft nur noch lose Rechtsbeziehungen bestehen und der Aufsichtsrat bei der Konzernobergesellschaft keine Aufsichtsfunktion mehr gegenüber den nachgeordneten Gesellschaften ausüben kann.77 Dies soll auch der Fall sein, wenn „das Zwischenunternehmen mittels eigener Weisungen, Leitlinien, Empfehlungen und von ihm selbst gesetzter Rahmenbedingungen die Geschäftspolitik der nachgeordneten Unternehmen beeinflusst, ohne dass diese der Kontrollbefugnis des herrschenden Mutterunternehmens unterliegen“.78 Diese Rechtsprechung geht in ihrer Tendenz zu weit: Denn wenn überhaupt der Konzern im Konzern anerkannt werden soll, muss es denknotwendig bei einem Minimum an Leitung bei der Konzernobergesellschaft bleiben, da sonst gar kein Fall des § 5 Abs. 1 MitbestG bei dieser vorliegt. Zwar kann von einer einheitlichen Leitung der Konzernobergesellschaft (und nicht von einem Konzern im Konzern) ausgegangen werden, wenn sich die Konzernobergesellschaft die Zustimmung zu wesentlichen Entscheidungen in der Tochtergesellschaft vorbehalten hat79 oder die strategische und operative Planung bei der Konzernspitze liegt, ebenso das Controlling, die Finanzierung der Konzerngesellschaften bis hin zur Betreuung und Auswahl von Führungskräften, hat die Zwischenholding keine eigenständigen Leitungsfunktionen.80 Auch ist die Erwägung zutreffend, dass allein die Auslagerung von unternehmerischen Entscheidungen auf eine Tochtergesellschaft noch nicht 75 LG Frankfurt Beschl. vom 19.12.1985 – 2/6 AktE 1 /85, ZIP 1986, 573 (574); LG Nürnberg-Fürth Beschl. vom. 10.10.1983 – 4 O 3900/83, BeckRS 2009, 07994; zust Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 9. 76 BayObLG Beschl. vom 6.3.2002 – 3Z BR 343/00, NZG 2002, 579 (581); BayObLG Beschl. vom 24.3.1998 – 3Z BR 236/96, NZG 1998, 956 (957). Seibt ZIP 2008, 1301 (1303). 77 OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (321); OLG Düsseldorf Beschl. vom 27.12.1996 – 19 W 4/96, ZIP 1997, 546 (547 f.); zust. Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 9; Seibt in HWK/Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 8; Seibt ZIP 2008, 1301 (1304). 78 Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 9. 79 So im Fall von OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956 (957). 80 So die Konstellation in OLG Düsseldorf Beschl. vom 27.12.1996 – 19 W 4/96, ZIP 1997, 546 (547 f.); LG München I Beschl. vom 25.9.1995 – 21 O 21794/93, AG 1996, 186; Seibt ZIP 2008, 1301 (1304); Geßler BB 1977, 1313 (1318); Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 42; Raiser in RVJ/MitbestG und DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 24; Oetker in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 32; kritisch zur restriktiven Sichtweise der Rechtsprechung Theisen AG 1998, 153 (158); a.A. Bayer ZGR 1977, 173 (185).
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bedeutet, dass die Konzernspitze ihre Aufsicht (und damit ihre Leitungsmacht) gegenüber der Tochtergesellschaft aufgibt;81 dabei wird aber auch zu Recht auf die Konnexität mit der Überwachung durch den Aufsichtsrat auf der Ebene der Obergesellschaft abgehoben.82 Doch erkennt etwa das OLG Düsseldorf zu Recht an, dass es „immerhin denkbar sei, dass in Bereichen wie der Finanz-, Investitions-, Produktions-, Absatz- und Personalpolitik jeweils eigenständige wirtschaftliche Zwecke unmittelbar Gegenstand einer aufgeteilten Unternehmensführung sind. Die Koordination dieser Bereiche muss nicht stets so ausgebildet sein, dass sie notwendig als einheitliche Leitung aller Bereiche zu verstehen wäre.“83 Auch wird der einer Zwischengesellschaft vollkommen vorbehaltene eigenständige Geschäftsbereich als Indiz für einen Konzern im Konzern anzunehmen sein.84 In diese Richtung weist auch die Rechtsprechung des BAG zum Konzernbetriebsrat: Das Fehlen der Leitungsmacht kann sich demnach daraus ergeben, dass Beherrschungsverträge mitbestimmungspflichtige Bereiche nicht der Obergesellschaft zuordnen oder bei Abhängigkeit infolge von Mehrheitsbeteiligung keine Bindung des Tochterunternehmens in wesentlichen Fragen veranlasst ist.85 Maßgeblich ist für das BAG, ob dem Konzernbetriebsrat ein „Gegenspieler“ mit Leitungsmacht gegenübersteht.86 Dies ist nur dann der Fall, wenn „[…] die Tochtergesellschaft über einen wesentlichen Entscheidungsspielraum in mitbestimmungspflichtigen (personellen, sozialen und wirtschaftlichen) Angelegenheiten in Bezug auf die ihr nachgeordneten Unternehmen“ verfügt.87 Problematisch ist in diesem Zusammenhang vor allem die Konstellation, in der die faktische Einflussnahme über Doppelmandate bzw. Personalunion zwischen den Organen wahrgenommen wird;88 hier soll auch in der Regel von einer entsprechenden einheitlichen Leitung durch die Konzernspitze auszugehen sein.89 So können auch Angestellte der Obergesellschaft, die in 81
So OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (319). OLG Zweibrücken, Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83 ZIP 1984, 316 (319). 83 OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956; ebenso Konzen ZIP 1984, 269 (270). 84 Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 42; Bayer ZGR 1977, 173 (185). 85 Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 9. 86 S. auch BAG Beschl. vom 14.2.2007 – 7 ABR 26/06, NZG 2009, 999 (1003 f. Rn. 63) = BAGE 121, 212. 87 BAG Beschl. vom 23.5.2018 – 7 ABR 60/16, ZIP 2016, 1993 (1995). 88 S. etwa die Fallkonstellation im Babcock-Konzern OLG Düsseldorf Beschl. vom 27.12.1996 – 19 W 4/96, ZIP 1997, 546 (547 f.); ferner OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956 (957). 89 LG Hamburg Beschl. vom 26.6.1995 – 321 T 61/94, AG 1996, 89; so wohl auch Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 42; Raiser in RVJ/MitbestG und 82
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den Tochtergesellschaften leitende Funktion als Organmitglied ausüben, die Interessen der Obergesellschaft repräsentieren.90 Dies gilt auch für den Fall, dass „nur“ Aufsichtsratsmitglieder in der Tochtergesellschaft in Personalunion mit Organmitgliedern der Obergesellschaft stehen, da typischerweise der Einfluss im faktischen Konzern über den Aufsichtsrat vorgenommen wird.91 Umgekehrt wertet die Rechtsprechung die Aufhebung einer Personalunion als Indiz für eine fehlende einheitliche Leitung.92 Anders gewendet spricht eine Personalunion zwar für sich genommen noch nicht gegen einen Konzern im Konzern, wohl aber zusammen mit anderen Indizien, z.B. der Einbindung in konzernweite Berichtssysteme. Demgegenüber können bilanzrechtliche Konsolidierungen nur als ein schwaches Indiz herangezogen werden, etwa wenn die Konsolidierung der Tochtergesellschaften (einschließlich der Zwischenholding) auf der Ebene der Konzernspitze stattfindet, einschließlich der Bezeichnung der Enkelgesellschaften als mittelbare Beteiligungen.93 Umgekehrt soll eine Teilkonsolidierungsbilanz auf der Ebene der Zwischengesellschaft noch kein Indiz für die fehlende Leitungsmacht seitens der Obergesellschaft sein.94 Bei Zweifeln, wo im Unternehmen einheitliche Leitungsmacht ausgeübt wird, muss der konkrete Einzelfall genau geprüft werden; in der Regel soll aber von einer Ausübung durch die Konzernspitze auszugehen sein.95 Dabei sollen strenge Anforderungen gelten.96 Betont man allerdings (zu Recht) die Einzelfallabhängigkeit und bedenkt man zudem, dass dem Statusverfahren nach §§ 97 ff. AktG der Amtsermittlungsgrundsatz nach FamFG zu DrittelbG , 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 24; Seibt in HWK/Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 8; Seibt ZIP 2008, 1301 (1304). 90 So OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316 (320); ebenso OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956 (957). 91 BayObLG Beschl. vom 24.3.1998 – 3Z BR 236/96, NZG 1998, 956 (958). 92 So etwa BayObLG Beschl. vom 6.3.2002 – 3Z BR 343/00, NZG 2002, 579 (581). 93 Für Indizwirkung OLG München Beschl. vom 19.11.2008 – 31 Wx 99/07, NZG 2009, 112 (113) – Edeka, in concreto fehlten aber die weiteren genauen Tatsachenfeststellungen. 94 OLG Zweibrücken Beschl. vom 9.11.1983 – 3 W 25/83, ZIP 1984, 316; LG Hamburg Beschl. vom 26.6.1995 – 321 T 61/94, AG 1996, 89 (90); LG München I Beschl. vom 25.9.1995 – 21 O 21794/93, AG 1996, 186 (187). 95 OLG München Beschl. vom 19.11.2008 – 31 Wx 99/07, NZG 2009, 112 (113); OLG Düsseldorf Beschl. vom 30.1.1979 – 19 W 17/78, WM 1979, 956 (957); Seibt ZIP 2008, 1301 (1303 f.); Habersack in HH/MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 42; Oetker ZGR 2000, 19 (31 ff.); Oetker in ErfK, 20. Aufl. 2020, § 5 MitbestG Rn. 9; Raiser in RVJ/MitbestG und DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 5 MitbestG Rn. 24; Seibt in HWK/ Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 5 MitbestG Rn. 8; Kort NZG 2009, 81 (83); Duden ZHR 141 (1971), 145 (159); Wißmann in WKS/MitbestR, 5. Aufl. 2017, § 5 MitbestG Rn. 40, 42. 96 OLG München Beschl. vom 19.11.2008 – 31 Wx 99/07, NZG 2009, 112 (113) unter Bezugnahme auf Seibt ZIP 2008, 1301 (1303 f.); dies auch feststellend Raiser in RVJ/ MitbestG und DrittelbG, Aufl. 2015, § 5 Rn. 24.
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Grunde liegt, kann allenfalls eine Art Begründungslast hieraus zu entnehmen sein.97
V. Fazit Im Ergebnis hat die Figur des Konzerns im Konzern aus Sicht des Mitbestimmungsrechts ihre Berechtigung, wobei die Rechtsprechung mitunter zu strenge Kriterien anlegt, die bei Lichte betrachtet bereits die Leitungsmacht auf der Ebene der Konzernobergesellschaft ausschließen. Daher muss es genügen, dass einzelne Bereiche bzw. Funktionen komplett der Zwischengesellschaft überlassen werden. Das korrespondierende Verhältnis zwischen Beteiligungsrechten an der Konzernspitze seitens des Aufsichtsrats der Konzernobergesellschaft einerseits und dem Konzern im Konzern andererseits muss dabei stärker in den Fokus genommen werden; eine „Lücke“ beim dezentral geführten Konzern, indem einerseits auf die Weisungsunabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern bei der Zwischengesellschaft abgestellt würde (und damit weitgehend die Beteiligung des Aufsichtsrats bei der Konzernspitze negiert wird), andererseits gerade wegen einer Personalunion etwa der Konzern im Konzern verworfen wird, widerspräche dem Telos von § 5 MitbestG.
97 auf den Einzelfall abstellend etwa OLG Düsseldorf Beschl. vom 27.12.1996 – 19 W 4/96, ZIP 1997, 546 (547 f.); LG München I Beschl. vom 25.9.1995 – 21 O 21794/93, AG 1996, 186 (187).
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Unternehmenskauf und Vertretung der AG durch den Aufsichtsrat Eberhard Vetter
Unternehmenskauf und Vertretung der AG durch den Aufsichtsrat EBERHARD VETTER
I. Vorbemerkung Die Forschungsfelder von Christine Windbichler weisen eine große Diversität auf. Wiederkehrendes Thema ihrer Publikationen ist die Corporate Governance der Unternehmen, wobei nicht selten auch rechtsvergleichende Überlegungen einfließen.1 Der „Healthy Body Corporate“ ist ihr ein wichtiges Anliegen.2 Auf welchem Weg gute und gesunde Corporate Governance zu erreichen ist, lässt sich nicht eindimensional erklären. Verstärkte Transparenz ist sicher ein wichtiges Regelungsinstrument, um gute Corporate Governance herzustellen. Der Ruf nach mehr Sonnenlicht verdient Zustimmung, doch Transparenz kann nicht stets die maßgebliche Antwort zur Lösung der Probleme liefern.3 Die rechtzeitige Identifizierung von Interessenkonflikten, ihre vorausschauende Vermeidung oder ihre rechtzeitige Isolierung bei gefährdeten Entscheidungsabläufen im Unternehmen sind ein anderes Regelungsinstrument, das eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung von guter Corporate Governance spielt. Der Vermeidung von Interessenkonflikten dient u.a. § 112 Satz 1 AktG, der die gerichtliche wie außergerichtliche Vertretung der AG gegenüber den Mitgliedern des Vorstands exklusiv dem Aufsichtsrat zuweist und der zu Recht als eine Zentralnorm der aktienrechtlichen Corporate Governance bezeichnet worden ist.4 Zum Umgang mit Interessenkonflikten in der AG hat der BGH jüngst einen Fall im Anwendungsbereich von § 112 Satz 1 AktG entschieden,5 der Anlass zu weiteren Überlegungen gibt, die zu Ehren der Jubilarin nachfolgend in der Hoffnung dargelegt werden, damit ihr Interesse zu finden.
1 Windbichler ZGR 1985, 50: „Zur Trennung von Geschäftsführung und Kontrolle bei amerikanischen Großgesellschaften“. 2 Siehe Windbichler FS Hopt, 2010, 1505: „Sunlight for a Healthy Body Corporate“. 3 Windbichler FS Hopt, 2010, 1505, 1518. 4 Bayer/Scholz ZIP 2015, 1853. 5 BGH v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, NZG 2019, 420 („Telenet“).
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II. Der Fall BGH v. 15.1.2019 – II ZR 392/17 („Telenet“) 1. Wesentlicher Sachverhalt Im entschiedenen Fall hatte die klagende AG – vertreten durch einen Bevollmächtigten des Vorstands – mit der beklagten GmbH und einer anderen GmbH einen Vertrag zum Kauf und zur Abtretung von Geschäftsanteilen einer weiteren GmbH abgeschlossen. Dieser Vertrag sah unter anderem vor, dass die jeweiligen Alleingeschäftsführer der beiden GmbHs, die zugleich jeweils auch deren Alleingesellschafter waren, entweder bei der Klägerin selbst oder bei einem verbundenen Unternehmen Führungspositionen übernehmen sollten. Die Abtretung der Geschäftsanteile stand u.a. unter der aufschiebenden Bedingung des Abschlusses von Vorstandsanstellungsverträgen zwischen der Klägerin und den zwei Geschäftsführern, deren Eintritt wiederum von der fristgemäßen Zahlung des Kaufpreises abhing. Unmittelbar nach Abschluss des notariellen Vertrages über den Kauf und die Abtretung der Geschäftsanteile bestellte der Aufsichtsrat der Klägerin die beiden Geschäftsführer zu Vorstandsmitgliedern und ermächtigte den Aufsichtsratsvorsitzenden zur Unterzeichnung der Anstellungsverträge, die ebenfalls noch am selben Tag erfolgte. 2. Wesentliche Entscheidungsgründe a) Wirtschaftliche Identität Ungeachtet des Wortlauts von § 112 Satz 1 AktG, der nur die Vertretung der AG gegenüber Vorstandsmitgliedern anspricht, bejaht der BGH die Anwendung der Vorschrift im Wege der erweiternden Auslegung auch dann, wenn Geschäftspartner der AG nicht das Vorstandsmitglied persönlich ist, sondern eine GmbH, deren alleiniger Gesellschafter das Vorstandsmitglied ist, da ein Fall der wirtschaftlichen Identität vorliege.6 Der BGH stützt seine Auffassung im Wesentlichen auf den Schutzzweck von § 112 AktG, der der Gefahr einer Interessenkollision des Vorstands entgegenwirken will, wenn dieser die AG gegenüber einem Vorstandsmitglied vertreten will. Diese Interessenkollision bestünde nicht nur beim Abschluss eines Rechtsgeschäfts unmittelbar mit einem Vorstandsmitglied selbst, sondern auch bei einem Rechtsgeschäft mit dem Unternehmen des Vorstandsmitglieds, da dessen persönliche und wirtschaftliche Interessen mittelbar gleichermaßen betroffen seien. Denn für die Annahme eines Interessenkonflikts i.S.v. § 112 Satz 1 AktG kommt es, wie der BGH wiederholt festge6
BGH v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, NZG 2019, 420 Rz. 24 („Telenet“).
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stellt hat,7 nicht auf den Nachweis einer konkreten Interessenkollision an. Vielmehr ist es ausreichend, dass bei typisierender Betrachtung die abstrakte Gefahr der nicht mehr unbefangenen Vertretung der Interessen der AG durch den Vorstand besteht. Die Frage, ob die AG abweichend von § 78 Abs. 1 Satz 1 AktG in entsprechender Anwendung von § 112 Satz 1 AktG auch dann allein vom Aufsichtsrat gegenüber einer GmbH vertreten wird, wenn das Vorstandsmitglied nicht deren Alleingesellschafter ist, sondern nur mehrheitlich beteiligt ist oder neben anderen zumindest eine maßgebliche Beteiligung hält, hat der BGH in seinem Urteil ausdrücklich offengelassen.8 b) Begriff des Vorstandsmitglieds in zeitlicher Hinsicht Auch wenn § 112 Satz 1 AktG seinem Wortlaut nach nur das amtierende Vorstandsmitglied im Blick hat, wendet der BGH die Vorschrift auch auf Geschäfte mit Personen an, die erst künftig zu Vorstandsmitgliedern bestellt werden sollen.9 Der Schutz der unbefangenen Interessenvertretung der AG gebietet nicht zuletzt auch zur Vermeidung von Umgehungen insoweit eine weite Auslegung der Norm, auch wenn sich dadurch Rechtsunsicherheiten für die Unternehmenspraxis nicht ausschließen lassen.10 Nach Ansicht des BGH ist entscheidend, dass das Rechtsgeschäft in unmittelbarem Zusammenhang mit einer beabsichtigten Vorstandsbestellung steht. Dies ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn zwischen beiden Vorgängen ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht oder eine inhaltliche Verknüpfung gegeben ist, wie dies bei der Bestellung unter der aufschiebenden Bedingung des Vollzugs des Erwerbsgeschäfts offensichtlich war.11 III. Einordnung des Telenet-Urteils 1. Regelungszweck von § 112 Satz 1 AktG Das AktG hat die organschaftliche Vertretung der AG in mehreren Bestimmungen geregelt. Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 AktG wird die AG sowohl 7 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, NZG 2009, 466 Rz. 7; BGH v. 16.10.2006 – II ZR 7/05, NZG 2007, 31 Rz. 5; BGH v. 22.4.1991 – II ZR 151/90, DStR 1991, 752; BGH v. 30.4.2019 – II ZR 317/17, NZG 2019, 798 Rz. 5 (Sparkasse Stralsund); BGH v. 26.6.1995 – II ZR 122/94, BGHZ 130, 108, 111 (zur Genossenschaft). 8 BGH v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, NZG 2019, 420 Rz. 17 und 27 („Telenet“); zum Streitstand siehe z.B. Wasserbäch Die Vertretung der Aktiengesellschaft durch ihren Aufsichtsrat, 2018, S. 46 ff. 9 Siehe bereits früher BGH v. 29.1.1962 – II ZR 1/61, BGHZ 36, 296, 299, („HEW AG“); Windbichler Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, § 28 Rz. 34. 10 BGH v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, NZG 2019, 420 Rz. 32 („Telenet“). 11 BGH v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, NZG 2019, 420 Rz. 33 („Telenet“).
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gerichtlich wie auch außergerichtlich vom Vorstand vertreten. In Abweichung zur vorgenannten Regelung weist § 112 Satz 1 AktG, dem Aufsichtsrat im Verhältnis zu den Mitgliedern des Vorstands zwingend die gerichtliche wie außergerichtliche Vertretung der AG zu. § 112 Satz 1 AktG will die eigenverantwortliche und unbefangene Wahrnehmung der Interessen der AG im Verhältnis zu den Mitgliedern des Vorstands sicherstellen und auf präventivem Weg der Gefahr des Einflusses sachfremder Erwägungen entgegentreten.12 Dabei kommt es nicht auf eine konkrete Bedrohung der unbeeinflussten Interessenwahrnehmung an; es genügt, wenn bei typisierender Betrachtung ohne Rückgriff auf den konkreten Einzelfall und die dabei betroffenen Personen ein abstraktes Risiko gegeben ist.13 2. Entwicklung der BGH-Rechtsprechung zu § 112 Satz 1 AktG Bereits zu § 97 AktG 1937 – der Vorgängervorschrift zu § 112 Satz 1 AktG – hat der BGH im Jahre 1958 festgestellt, dass der Gesetzeswortlaut zu eng ist.14 In einer Jahrzehnte zurückreichenden Reihe von Urteilen hat er seine Rechtsprechung entwickelt, dass die AG über den Wortlaut von § 112 Satz 1 AktG hinaus auch dann allein durch den Aufsichtsrat vertreten wird, wenn es z.B. um die Vertretung gegenüber einem ehemaligen Vorstandsmitglied oder gegenüber Dritten geht und das konkrete Rechtsgeschäft in der Vorstandstätigkeit wurzelt.15 Die erweiterte Auslegung von § 112 Satz 1 AktG wird auf den besonderen Regelungszweck von § 112 Satz 1 AktG gestützt, der die unbefangene und von sachfremden Erwägungen unbeeinflusste Interessenvertretung der AG gewährleisten soll. Bei typisierender Betrachtung fehlt diese nicht nur bei aktiven Vorstandsmitgliedern sondern auch im Verhältnis zu ehemaligen Vorstandsmitgliedern oder deren Hinterbliebenen, wenn es um Fragen geht, die ihre Ursache im früheren Vorstandsverhältnis haben. Auch in diesen Fällen kann die abstrakte Gefahr nicht ausgeschlossen werden, dass die anstehenden 12 BGH v. 26.6.1995 – II ZR 122/94, BGHZ 130, 108, 111 (zur Genossenschaft); BGH v. 8.2.1988 – II ZR 159/87, BGHZ 103, 213, 216; siehe z.B. auch Habersack in Münchener Komm AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 Rz. 1; Hopt/Roth in Großkomm AktG, 2019, § 112, Rz. 3; Wasserbäch Die Vertretung der Aktiengesellschaft durch ihren Aufsichtsrat, 2018, 11 ff. 13 Eine konkrete Interessengefährdung ist nicht erforderlich, siehe z.B. BGH v. 20.3. 2018 – II ZR 359/16, BGHZ 218, 122 Rz. 25 (DTB Deutsche Biogas AG); BGH v. 26.6. 1995 – II ZR 122/94, BGHZ 130, 108, 112 (zur Genossenschaft); BGH v. 22.4.1991 – II ZR 151/90, DStR 1991, 752; BAG v. 4.7.2001 – 2 AZR 142/00, NZG 2002, 392, 393. 14 BGH v. 13.1.1958 – II ZR 212/56, BGHZ 26, 236, 238. 15 BGH v. 29.1.2013 – II ZB 1/11, NZG 2013, 297 Rz. 10 (Heberger); BGH v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, NZG 2009, 466 Rz. 7; BGH v. 16.10.2006 – II ZR 7/05, NZG 2007, 31 Rn. 5; BGH v. 26.6.1995 – II ZR 122/94, BGHZ 130, 108, 111, (zur Genossenschaft); BGH v. 22.4.1991 – II ZR 151/90, DStR 1991, 752; BGH v. 9.10.1986 – II ZR 284/85, NJW 1987, 254 (255); siehe jüngst E. Vetter ZGR 2020, 35 ff.
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Entscheidungen von sachfremden Erwägungen beeinflusst werden. Dies soll nach dem Regelungszweck von § 112 Satz 1 AktG gerade vermieden werden.16
IV. Praktische Auswirkungen des Telenet-Urteils 1. Unternehmenskauf durch den Aufsichtsrat Der erweiterte Anwendungsbereich von § 112 Satz 1 AktG kann insbesondere bei Unternehmenskäufen Bedeutung erlangen, wenn im Zuge der Übernahme der Geschäftsführer und Alleingesellschafter des Targets in die Dienste des erwerbenden Unternehmens eintreten soll, weil dieses sich das Know-how und die sonstigen Fähigkeiten des Geschäftsführers weiterhin sichern will. Käme in diesem in der Praxis seltenen Fall die allgemeine Vertretungsregel von § 78 Abs. 1 Satz 1 AktG zur Anwendung, wäre der Vorstand der erwerbenden AG aufgefordert, nicht nur deren Interessen bei der Verhandlung des Unternehmenskaufs zu verfolgen, sondern auch insoweit als es um die künftige Position des Veräußerers in deren Vorstand geht. Steht nicht der Erwerb des Unternehmens von dem (künftigen) Vorstandsmitglied selbst an, sondern – wie im vom BGH entschiedenen Fall – von einer ihm allein gehörenden GmbH, sodass ein Fall der wirtschaftlichen Identität gegeben ist,17 ist die Interessenlage bezüglich des sog. „Vorstandsunternehmens“18 nicht anders. Die Interessenvertretung der AG durch ihren Vorstand stößt hier erkennbar an ihre Grenzen. Wenn die Position des Veräußerers als künftiges Vorstandsmitglied der erwerbenden AG in Rede steht, ist offensichtlich, dass eine unbefangene Interessenvertretung durch ihren Vorstand nicht gewährleistet ist, sondern gemäß § 112 Satz 1 AktG vielmehr der Aufsichtsrat gefragt ist. Beide Komplexe – Unternehmenserwerb und künftige Vorstandsposition – lassen sich in diesem Fall nicht voneinander trennen. Die Vertretung der AG durch den Aufsichtsrat gemäß § 112 Satz 1 AktG gilt deshalb, wie der BGH festgestellt hat, für das gesamte Geschäft. In der Sache führt das dazu, dass dem Vorstand nicht erst die Vertretung beim Abschluss des Unternehmens- oder Anteilskaufvertrags sondern bereits die Vertragsverhandlungen entzogen sind, sobald erkennbar ist, dass neben dem Kaufvertrag auch eine Bestellung des Verkäufers oder einer Person, die mit dem Verkäufer wirtschaftlich identisch ist, zum Vorstandsmitglied der AG in Rede steht. 16 BGH v. 16.10.2006 – II ZR 7/05, NZG 2007, 31 Rz. 5; BGH v. 29.11.2004 – II ZR 364/02, NZG 2005, 276; BGH v. 26.6.1995 – II ZR 122/94, BGHZ 130, 108 (111), (zur Genossenschaft). 17 BGH v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, NZG 2019, 420 Rz. 24 („Telenet“). 18 Zu diesem Begriff siehe Rupietta NZG 2007, 801, 802; siehe auch Wasserbäch Die Vertretung der Aktiengesellschaft durch ihren Aufsichtsrat, 2018, 57.
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Für den Aufsichtsrat ergibt sich auf Grund der Personalkomponente eine ungewohnte Rolle. Seine Zuständigkeit nach § 112 Satz 1 AktG erstreckt sich sowohl auf die Vertretungsmacht zur Abgabe der Willenserklärung für die AG und damit zum Abschluss des Rechtsgeschäfts als auch auf die Geschäftsführungsbefugnis.19 Der Aufsichtsrat ist demgemäß im Anwendungsbereich von § 112 Satz 1 AktG neben der Personalentscheidung hinsichtlich des Vorstands nicht nur für den Abschluss des Vertrages über den Unternehmens- oder Anteilskauf zuständig, sondern ihm obliegen auch die Vertragsverhandlungen hinsichtlich des Kaufvertrages und damit die inhaltliche Verantwortung für das vorgesehene Geschäft, und zwar ungeachtet von § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG, der dem Aufsichtsrat ausdrücklich die Geschäftsführung untersagt.20 Der Aufsichtsrat steht damit in sachlicher wie zeitlicher Hinsicht vor einer besonderen Herausforderung. Er kann die Verhandlungen nicht dem Vorstand überlassen und sich lediglich auf den formalen Abschluss der Transaktion durch Unterzeichnung des Kaufvertrages beschränken, denn dem Vorstand ist nach dem Sinn und Zweck von § 112 Satz 1 AktG die Einflussnahme auf das Geschäft insgesamt versagt. Auch wenn das Geschäfts typischerweise einem Zustimmungsvorbehalt gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG unterliegt, kann er sich nicht auf die Erteilung der Zustimmung beschränken, denn die Zustimmungserklärung hat nur interne Wirkung.21 Die bloße Unterzeichnung des vom Vorstand verhandelten Vertragspakets durch den Aufsichtsrat wird der Verantwortung nach § 112 Satz 1 AktG ebenfalls nicht gerecht. Für Aufsichtsrat und Vorstand ist dies eine Herausforderung und Gratwanderung, wollen sie der besonderen Kompetenzzuweisung ordnungsgemäß Rechnung tragen. Der Aufsichtsrat hat sich bei den Verhandlungen an der Strategie des Vorstands auszurichten und ist auch sonst auf die Unterstützung und Begleitung durch den Vorstand zwingend angewiesen, darf sich aber die Verhandlungsführung nicht aus der Hand nehmen lassen. Der Aufsichtsrat muss sich auf die schwierige Situation einstellen und sich mit den Beweggründen des Vorstands für den ins Auge gefassten Unternehmenskauf auf Basis der bestehenden Strategie auseinandersetzen. Zudem hat er organisatorische Maßnahmen zu ergreifen. Schließlich ist der Aufsichtsrat auch gut beraten, neben der Einsetzung eines Ausschusses mit Auf19 Cahn FS Hoffmann-Becking, 2013, 247, 249; Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 112 Rz. 2; Hopt/Roth in Großkomm AktG, 2019, § 112, Rz. 18; Hüffer/ Koch 13. Aufl. 2018, § 112 Rz. 7; Semler FS Rowedder, 1994, 441, 449; wohl auch Spindler in Spindler/Stilz AktG, 3. Aufl. 2019, § 112 Rz. 33. 20 Bayer/Scholz ZIP 2015, 1853, 1856; Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 112 Rz. 11; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2010, § 112 Rz. 3. 21 Habersack in Münchener Komm AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 140; Spindler in Spindler/Stilz AktG, 3. Aufl. 2019, § 111 Rz. 75.
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sichtsratsmitgliedern, die für die Erledigung der Aufgabe geeignet sind, für die Verhandlung des Unternehmenskaufs auf die Unterstützung von externen Dritten wie z.B. von Rechtsanwälten oder Wirtschaftsprüfern zu bauen. Er wird dabei unter dem Gesichtspunkt der angemessenen Informationsbeschaffung i.S.v. § 93 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 116 Satz 1 AktG zwangsläufig auf die Expertise des Vorstands und dessen Kenntnisse hinsichtlich des Targets zurückgreifen. Schließlich wird der Aufsichtsrat auch während der Vertragsverhandlungen zur Vermeidung von verhandlungstaktischen Nachteilen engen Kontakt zum Vorstand halten und ihn meist auch bei den Verhandlungen hinzuziehen. Dieser ist dabei jedoch stets auf eine unterstützende und begleitende Rolle beschränkt. Die Entscheidungs- und Vertretungskompetenz für den Abschluss des Geschäfts ist ihm entzogen und liegt gemäß § 112 Satz 1 AktG ausschließlich beim Aufsichtsrat. Für diese außergewöhnliche Rollenverteilung kann insoweit auf die Erfahrungen bei der Auswahl und Beauftragung des Abschlussprüfers zurückgegriffen werden. Auch in diesem Fall liegt die Zuständigkeit und Verantwortung gemäß §§ 111 Abs. 2 Satz 3 und 124 Abs. 3 Satz 1 AktG ebenfalls zwingend allein beim Aufsichtsrat, der dabei einerseits auf die Unterstützung des Vorstands angewiesen ist und sich andererseits von diesem aber nicht aus seiner Führungs- und Entscheidungsverantwortung verdrängen lassen darf.22 In der Praxis wird den beteiligten Parteien oftmals bereits bei Beginn der Gespräche über den Unternehmenserwerb bekannt sein, dass bei erfolgreichem Abschluss der Transaktion der Verkäufer in den Vorstand der AG eintreten soll. Mitunter wird dieser Umstand erst im Verlauf der Gespräche, die vom Vorstand der AG gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 AktG geführt werden, aufkommen. Sobald das Interesse am Eintritt in den Vorstand bekannt wird, ist dem Vorstand die alleinige und selbständige Fortsetzung der Gespräche verwehrt und der Aufsichtsrat ist gemäß § 112 Satz 1 AktG für die weitere Verhandlungsführung wie auch für den Abschluss des Vertrages zuständig. Zur Vorbereitung des Aufsichtsrats auf seine neue Aufgabe hat der Vorstand diesen über die bisherigen Gespräche in Kenntnis zu setzen und ihm die notwendigen Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Der Aufsichtsrat hat danach zu entscheiden, wie er der Aufgabe in organisatorischer und personeller Hinsicht gerecht werden will, denn eine Verhandlungsführung durch ein Kollegialorgan scheidet aus praktischen Gründen aus. Im Rahmen eines Koordinations- und Abstimmungsgesprächs hat der Vorstand den Aufsichtsrat über die im Unternehmen in das Projekt eingebundenen Mitarbeiter zu informieren. Sowohl die Mitglieder des Vorstands wie auch die ihm zuarbeitenden Mitarbeiter sind verpflichtet, dem Aufsichtsrat für Fragen und weitere Informationen über die vorgesehenen Vorhaben zur Verfügung zu stehen. Der Aufsichtsrat wird auch Kontakt zu den Beratern aufnehmen 22
Siehe dazu z.B. E. Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter 50 Jahre AktG, 2016, 105, 128.
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müssen, die bisher den Vorstand unterstützt haben und im Regelfall ebenfalls mandatieren. Ungeachtet des Wechsels der Zuständigkeit und Verantwortung für die weitere Verhandlungsführung, ist der Aufsichtsrat im Unternehmensinteresse darauf angewiesen den Vorstand in seine Überlegungen zur Fortführung der Gespräche mit dem Verkäufer einzubeziehen und gegebenfalls die Verhandlungen mit ihm gemeinsam zu führen, ohne freilich die Entscheidungsverantwortung aus der Hand zu geben. 2. Ungesicherte Rechtsfolgen Die Beachtung der ordnungsgemäßen Vertretung der AG im Rechtsverkehr hat gerade im Fall des Unternehmenskaufs besonderes Gewicht, denn die Rechtsfolgen der Missachtung der Vertretung gemäß § 112 Satz 1 AktG sind bisher höchstrichterlich noch ungeklärt. Einige Instanzgerichte und ein Teil des Schrifttums betrachten das Rechtsgeschäft nach § 177 BGB als schwebend unwirksam mit der Möglichkeit der nachträglichen Genehmigung.23 Andere sehen in § 112 Satz 1 AktG ein gesetzliches Verbot i.S.v. § 134 BGB mit der Konsequenz der Nichtigkeit des gesamten Geschäfts.24 Letztere Auffassung kann dramatische Folgen mit sich bringen, wenn der gesamte Unternehmenskauf wegen der damit verbundenen Vorstandsbestellung nichtig ist und nur noch eine Neuvornahme in Betracht kommt. Der BGH hat zu dieser Frage, die generelle Bedeutung hat, wiederholt eine Entscheidung mangels Relevanz im konkreten Fall – zuletzt im Telenet-Urteil – abgelehnt.25
23
KG v. 28.6.2011 − 19 U 11/11, NZG 2011, 865, 866; OLG München v. 18. 10. 2007 – 23 U 5786/06, AG 2008, 423, 425; OLG Celle v. 25. 2. 2002 – 4 U 176/01, AG 2003, 433; OLG Karlsruhe v. 13. 10. 1995 – 10 U 51/95, WiB 1996, 431, 432; Drygala in K. Schmidt/ Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 112 Rz. 21; Habersack in Münchener Komm AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 Rz. 34; Hübner Interessenkonflikt und Vertretungsmacht, 1977, 250; Israel in Bürgers/Körber AktG, 4. Aufl. 2017, § 112 Rz. 10; Kort in Fleischer Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 2 Rz. 25; Lutter/Krieger/Verse Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 445; Leuering FS Kollhosser, Band 2, 2004, 361, 373; Schubmann/ Tolksdorf AG 2019, 295, 296; Spindler in Spindler/Stilz AktG, 3. Aufl. 2019, § 112 Rz. 49; E. Vetter FS Günter H. Roth, 2011, 855, 868; Wasserbäch Die Vertretung der Aktiengesellschaft durch ihren Aufsichtsrat, 2018, 166; R. Werner Der Konzern, 2008, 639, 643; W. Werner ZGR 1989, 369, 392. 24 OLG Brandenburg v. 14.1.2015 – 7 U 68/13, AG 2015, 428, 430; OLG Stuttgart 20. 3. 1992 – 2 U 115/90, AG 1993, 85, 86; OLG Hamburg v. 16.5.1986 – 11 U 238/85, AG 1986, 259, 260; Ekkenga AG 1985, 40, 42; Fischer GS Gruson, 2009, 151, 161; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2013, § 112 Rz. 11; Semler FS Rowedder, 1994, 441, 456; Stein AG 1999, 28, 35. 25 BGH v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, NZG 2019, 420 Rz. 35 („Telenet“); zuvor bereits BGH v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, BGHZ 196, 312 Rz. 9; BGH v. 17.3.2008 – II ZR 239/06, AG 2008, 894, 895; BGH v. 29.11.2004 – II ZR 364/02, NZG 2005, 276, 277.
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V. Offene Fragen 1. Kauf von mehreren künftigen Vorstandsmitgliedern Im Telenet-Fall des BGH ging es um den Erwerb von GmbH-Geschäftsanteilen, die einer GmbH gehörten, deren Alleingesellschafter im Zuge des Anteilskaufs zum Vorstandsmitglied der erwerbenden AG bestellt werden sollte. Die vom BGH entschiedene Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 112 Satz 1 AktG betrifft die Ein-Personen-GmbH eines (künftigen) Vorstandsmitglieds, das heißt eines Vorstandsunternehmens, bei dem die wirtschaftliche Identität mit dem dahinter stehenden Vorstandsmitglied außer Zweifel steht. Zur weitergehenden Frage der Anwendung von § 112 Satz 1 AktG bei nur maßgeblicher oder beherrschender Beteiligung eines Vorstandsmitglieds hat sich der BGH ausdrücklich nicht festlegen wollen.26 Auch wenn das BGHUrteil insoweit schweigt, wird man die Entscheidungsgründe dahin zu verstehen haben, dass § 112 Satz 1 AktG auch dann zur Anwendung kommt, wenn die GmbH, mit der die AG das Rechtsgeschäft abschließen will, nicht im Alleinbesitz einer Einzelperson steht, sondern z.B. zwei Personen gehört, die beide im Zuge des Erwerbsgeschäfts zu Vorstandsmitgliedern bestellt werden sollen. Ist ein wesentlicher Bestandteil des Erwerbsgeschäfts der Umstand, dass die „wirtschaftlichen“ Verkäufer beide Vorstandsmitglieder der Erwerberin werden sollen, reicht es für den „Zurechnungsdurchgriff“27 aus, dass die beiden Verkäufer zusammen mit der veräußernden GmbH wirtschaftlich identisch sind. Die prozentuale Verteilung der Anteile unter den beiden Verkäufern und künftigen Vorstandsmitgliedern der Erwerberin ist irrelevant, denn in jedem Fall wäre bei einer Vertretung der erwerbenden AG durch ihren Vorstand gegenüber der GmbH, die zwei künftigen Vorstandsmitgliedern gehört, die durch § 112 Satz 1 AktG geschützte unbefangene Interessenvertretung nicht gewährleistet. 2. Kauf von künftigem Vorstandsmitglied, das nicht Alleingesellschafter ist Während die Frage der wirtschaftlichen Identität im Zusammenhang mit § 112 AktG nunmehr höchstrichterlich geklärt ist, hat der BGH erneut die Frage offengelassen, ob die entsprechende Anwendung von § 112 Satz 1 AktG auch dann zum Tragen kommt, wenn das Vorstandsmitglied an der Gesellschaft, mit der die AG das Rechtsgeschäft abschließen soll, nur mehr26
BGH v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, NZG 2019, 420 Rz. 27 („Telenet“). Zu diesem Begriff siehe Raiser/Veil Recht der Kapitalgesellschaften, 6. Aufl. 2015, § 39 Rz. 5. 27
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heitlich beteiligt ist oder zumindest einen maßgeblichen Anteil hält.28 Bereits 2013 hat der BGH entschieden, dass die entsprechende Anwendung von § 112 Satz 1 AktG zur Vertretung der AG jedenfalls gegenüber einer Gesellschaft ausscheidet, an der das Vorstandsmitglied nur mit 24,99% beteiligt ist.29 Die für die Rechtspraxis bedeutsame Streitfrage ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung und im Schrifttum umstritten. Eine Ansicht will für die entsprechende Anwendung von § 112 Satz 1 AktG eine beherrschende oder auch maßgebliche Beteiligung eines Vorstandsmitglieds i.S.v. § 17 Abs. 1 AktG genügen lassen.30 Nach anderer Ansicht reicht eine Minderheitsbeteiligung zur Anwendung von § 112 Satz 1 AktG aus.31 Nach der Gegenansicht gebietet die Sicherheit des Rechtsverkehrs die Beschränkung der entsprechenden Anwendung von § 112 Satz 1 AktG allein auf Fälle der wirtschaftlichen Identität.32 Vereinzelt wird schließlich die erweiterte Anwendung von § 112 Satz 1 AktG mit einem vergleichenden Hinweis auf den aus dem unterschiedlichen Wortlaut der §§ 89 und 115 AktG erkennbaren Willen des Gesetzgebers generell abgelehnt.33 Die Rechtfolgen der verschiedenen Auffassungen sind beachtlich. Deshalb ist es aus Sicht der Rechtspraxis bedauerlich, dass die Streitfrage der erweiterten Anwendung von § 112 Satz 1 AktG weiterhin ungeklärt ist, zumal sich die maßgeblichen Gründe des BGH-Urteils auch auf den Fall der bloßen Beteiligung des Vorstandsmitglieds übertragen lassen.34 Der Streit über die Frage, ob die erweiterte Anwendung von § 112 Satz 1 AktG auch dann stattfindet, wenn das Vorstandsmitglied, an der Gesellschaft, mit der die AG das Rechtsgeschäft abschließen soll, nur als Mitgesellschafter beteiligt ist, hat durch die durch das ARUG II35 erfolgte Umsetzung 28 BGH v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, NZG 2019, 420 Rz. 17 und 27 („Telenet“); zuvor bereits BGH v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, BGHZ 196, 312 Rn. 9. 29 BGH v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, BGHZ 196, 312 Rn. 9; a.A. E. Vetter FS Günter H. Roth, 2011, 855, 863. 30 KG v. 28.6.2011 − 19 U 11/11, NZG 2011, 865; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters AktG, 3, Aufl. 2017, § 112 Rz. 7; Rupietta NZG 2007, 801, 803; Theusinger/Wolf NZG 2012, 901, 903; R. Werner Der Konzern 2008, 639, 642; Wiesner in MünchHdbGesR AG, 5. Aufl. 2015, § 23 Rz. 6. 31 E. Vetter FS Günter H. Roth, 2011, 855, 863. 32 Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 112 Rn. 11; Grigoleit/Tomasic in Grigoleit AktG, 2013, § 112 Rz. 6; Habersack in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 Rz. 9; Hüffer/Koch AktG,13. Aufl. 2018, § 112 Rz. 4; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2010, § 112 Rz. 18; W. Werner ZGR 1989, 369, 373; nicht eindeutig Spindler in Spindler/Stilz AktG, 3. Aufl. 2019, § 112 Rn. 9. 33 Fischer ZNotP 2002, 297, 300; Honert/Schuhknecht GWR 2013, 479, 481; Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 Rz. 67. 34 Ebenso Wachter DB 2019, 951, 953. 35 Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), BGBl. I 2019, 2637.
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der Aktionärsrechterichtlinie neue Nahrung erfahren. Der neue § 111b Abs. 1 Satz 2 AktG sieht für börsennotierte Gesellschaften besondere Regeln für sog. Related-Parties-Transactions vor, wobei dieser Begriff gemäß § 111a Abs. 1 Satz 2 AktG nach den internationalen Rechnungslegungsstandards und damit speziell nach IAS 24.9 auszufüllen ist36. Nach IAS 24.9 (a) (ii), (b) ist eine Nähebeziehung unter anderem dann zu bejahen, wenn ein Gesellschafter am berichtenden Unternehmen in einem Umfang beteiligt ist, der einen maßgeblichen Einfluss vermittelt. Dieser liegt vor, wenn die Partei an den finanz- und geschäftspolitischen Entscheidungen des Unternehmens mitwirken kann, ohne dieses zu beherrschen. Hält ein Anteilseigner etwa 20% oder mehr der Stimmrechte an einem Beteiligungsunternehmen, ist ein maßgeblicher Einfluss zu vermuten.37 Auch wenn die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 111b Abs. 1 Satz 2 AktG und § 112 Satz 1 AktG nicht identisch sind,38 zielen doch beide Vorschriften auf die Vermeidung von Interessenkonflikten bei Nähebeziehungen ab. Angesichts dieser neuen Rechtslage kann die BGH-Entscheidung aus dem Jahre 2013, in der eine Nähebeziehung bei einer Beteiligung von 24,99% verneint wurde,39 zur Ablehnung des erweiterten Anwendungsbereichs von § 112 Satz 1 AktG nicht mehr vorbehaltslos herangezogen werden.40 3. Bestellung des Vorstandsmitglieds kurz nach Erwerb der Geschäftsanteile Was den zeitlichen Zusammenhang zwischen dem mit der AG abgeschlossenen Geschäft und der Bestellung des Vorstandsmitglieds anbetrifft, so ergibt sich aus den Entscheidungsgründen, dass mit Blick auf die abstrakte Gefahr der Befangenheit des Vorstands nicht allein auf die zeitliche Nähe abzustellen ist, sondern auch eine inhaltliche Verknüpfung zwischen beiden Vorgängen zu berücksichtigen ist. Von weiteren konkretisierenden Aussagen hat der BGH jedoch leider abgesehen.41 Ungeachtet der in den Entscheidungsgründen gewählten Formulierung des „engen zeitlichen Zusammenhangs“, die schon in anderem Zusammenhang, nämlich bei der verschleierten Sacheinlage bekannt ist,42 schließt jedenfalls eine zeitliche Dimension von mehreren Monaten zwischen dem Rechtsgeschäft und der 36
Begründung zu § 111a RegE zum ARUG II, BR-Drucks. 156/19, 88. Hennrichs/Schubert in MünchKomm BilanzR, 2009, IAS 24 Rz. 43; Theusinger/ Guntermann AG 2017, 799, 801. 38 Begründung zu § 111b RegE zum ARUG II, BR-Drucks. 156/19, S. 93; siehe auch Wachter DB 2019, 951, 958. 39 BGH v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, BGHZ 196, 312 Rn. 9; a.A. zuvor z.B. E. Vetter Der Konzern 2012, 437, 443; E. Vetter FS Roth, 2011, 855, 860 ff. 40 Siehe bereits Theusinger/Guntermann AG 2017, 799, 801. 41 Kritisch z.B. auch Paschos DB 2019, 899. 42 Siehe nur Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, 20. Aufl. § 19 Rz. 63; Fastrich in Baumbach/Hueck GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 19 Rz. 49a. 37
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späteren Vorstandsbestellung die entsprechende Anwendung von § 112 Satz 1 AktG im Regelfall aus. Der BGH hat in seinem Urteil wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der erweiterten Anwendung von § 112 Satz 1 AktG stets auch das allgemeine Interesse des Rechtsverkehrs zu berücksichtigen ist.43 Damit wäre ein unüberschaubar langer mehrmonatiger Schwebezustand über die Wirksamkeit der Vertretung der AG keinesfalls zu vereinbaren.44 Festzuhalten ist, dass § 112 Satz 1 AktG auch bereits bei einem künftigen Vorstandsmitglied zu befolgen ist.45 Liegt also eine Absprache vor, dass eine Person demnächst zum Vorstandsmitglied bestellt werden soll, ist bei allen nachfolgenden Vereinbarungen der AG mit dieser Person § 112 Satz 1 AktG zu beachten, auch wenn die Bestellung zum Vorstandsmitglied z.B. wegen eines ausstehenden Eintritts einer Bedingung oder aus sonstigen Gründen noch nicht erfolgt ist.46 Wann ein enger zeitlicher Zusammenhang im Sinne des BGH besteht, lässt sich nur schwer beurteilen, wenn nicht bereits bei Abschluss des Rechtsgeschäfts mit der AG die Vorstandsbestellung fest vereinbart oder zumindest als Option vorgesehen ist. Zu Recht hat deshalb der BGH betont, dass auch ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem abgeschlossenen Geschäft und der Vorstandsbestellung zu berücksichtigen ist.47 Ähnlich wie bei der verschleierten Sacheinlage wird es sich oftmals nicht vermeiden lassen mit Vermutungen zu arbeiten, die die Beteiligten durch Vorlage entsprechender Nachweise entkräften können. So wird man, auch wenn die Vorstandsbestellung im Rechtsgeschäft nicht geregelt ist, einen engen zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang annehmen müssen, wenn die Einberufung zu der Aufsichtsratssitzung, in der das neue Vorstandsmitglied bestellt werden soll, unmittelbar nach dem Abschluss des maßgeblichen Rechtsgeschäfts erfolgt. Das AktG schreibt keine bestimmte Frist zur Einberufung einer Aufsichtsratssitzung vor; in der Praxis beträgt die übliche Einberufungsfrist 14 Tage.48 Dieser Zeitraum, der in § 110 Abs. 1 Satz 2 AktG eine normative Verankerung findet, ist auch unter dem Gesichtspunkt des Interesses des Rechtsverkehrs nicht zu beanstanden. Generell lässt sich 43 Siehe dazu aber auch Bayer/Scholz ZIP 2015, 1853, 1856; Schubmann/Tolksdorf AG 2019, 295, 296. 44 Zu pauschal deshalb z.B. von Schenck in Semler/von Schenck Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 4. Aufl. 2013, § 4 Rz. 134. 45 BGH v. 13.1.1958 – II ZR 212/56, BGHZ 26, 236, 238; OLG Brandenburg v. 14.1.2015 – 7 U 68/13, AG 2015, 428, 430; Habersack in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 Rz. 11; Hüffer/Koch AktG. 13. Aufl. 2018, § 112 Rz. 2. 46 Z.B. die „Freigabe“ des aktuellen Arbeitgebers des künftigen Vorstandsmitglieds oder die Erteilung einer aufsichtsrechtlichen Erlaubnis. 47 BGH v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, NZG 2019, 420 Rz. 33 („Telenet“); ebenso Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 Rz. 43. 48 E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 27, 34.
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daraus die Vermutung ableiten, dass jedenfalls bei einer Bestellung zum Vorstandsmitglied innerhalb von 14 Tagen nach dem Abschluss des Rechtsgeschäfts durch die AG § 112 Satz 1 AktG grundsätzlich zu beachten ist, und zwar unabhängig davon, wann die Einberufung zur Sitzung erfolgt. 4. Unternehmenserwerb im Wege der Verschmelzung a) Grundsätzlich vergleichbare Interessenlage Unternehmen können vom Kaufinteressenten nicht nur durch rechtsgeschäftlichen Erwerb übernommen werden, sondern auch im Wege der Verschmelzung der Zielgesellschaft auf die Käuferin. Diese Konstellation wird vom BGH-Urteil vom 15.1.2019 nicht unmittelbar erfasst. Aus funktionaler Sicht lässt sich eine Verschmelzung durchaus mit einem Unternehmenserwerb vergleichen. Bei typisierender Betrachtung kann die abstrakte Gefahr einer Interessenkollision bei Verschmelzung des Vorstandsunternehmens (Zielgesellschaft) mit der erwerbenden AG als übernehmendem Rechtsträger kaum verneint werden, sofern im Rahmen der Verschmelzung vorgesehen ist, dass der Alleingesellschafter des übertragenden Rechtsträgers (Zielgesellschaft) im Zuge der Verschmelzung zum Vorstandsmitglied der übernehmenden AG bestellt werden soll. Ist deshalb beim Abschluss des Verschmelzungsvertrages die erweiterte Anwendung § 112 Satz 1 AktG zu beachten? Zur Wahrung der unbefangenen Vertretung der Interessen der aufnehmenden AG müssten dann die nach dem UmwG dem Vertretungsorgan zugewiesenen Rechtsakte gemäß § 112 Satz 1 AktG anstelle des Vorstands vom Aufsichtsrat ausgeführt werden. Beim Abschluss des Verschmelzungsvertrages nach § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwG, bei der Erstattung des Verschmelzungsberichts nach § 8 Abs. 1 Satz 1 UmwG als auch bei der Bestellung des Verschmelzungsprüfers nach § 10 Abs. 1 UmwG würde die aufnehmende AG durch ihren Aufsichtsrat vertreten werden. b) Abschluss des Verschmelzungsvertrags Grundsätzliche Bedenken gegen eine Vertretung der an der Verschmelzung beteiligten Gesellschaften durch den Aufsichtsrat sind nicht ersichtlich. In § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwG wird der Vorstand der beteiligten AG nicht ausdrücklich erwähnt, vielmehr spricht die Vorschrift allgemein vom Vertretungsorgan der beteiligten Rechtsträger. In der Kommentierung wird dabei auf den Vorstand als vertretungsberechtigtes Organ verwiesen.49 Liegen die Voraussetzungen für die erweiterte Anwendung von § 112 Satz 1 AktG vor, wäre abweichend von § 78 Abs. 1 Satz 1 AktG der Aufsichtsrat das 49 Siehe z.B. Drygala in Lutter UmwG, 5. Aufl. 2014, § 4 Rz. 7; Marsch-Barner in Kallmeyer UmwG, 6. Aufl. 2017 § 4 Rz. 4.
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Vertretungsorgan des betreffenden Rechtsträgers. Der Wortlaut von § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwG steht dem nicht entgegen. Auch aus dem Charakter des Verschmelzungsvertrags als einem organisationsrechtlichen Vertrag50 ergeben sich keine Einwände gegen die erweiterte Anwendung von § 112 Satz 1 AktG. Schließlich ist anerkannt, dass sich die Abschlusskompetenz des Vertretungsorgans nicht allein aus den gesetzlichen Vorschriften ergibt, sondern auch die Regeln der Satzung zur Anwendung kommen51 und damit auch individuelle Gegebenheiten der Vertragsparteien beachtlich sind. Für besondere gesetzliche Vorgaben hinsichtlich der organschaftlichen Vertretung kann nichts anderes gelten. Dazu ist auch der Umstand zu zählen, dass einer der an der Verschmelzung beteiligten Rechtsträger mit einem Vorstandsmitglied des anderen Rechtsträgers wirtschaftlich identisch ist. Dies ist im Licht des Regelungszwecks von § 112 Satz 1 AktG auch in der Sache gerechtfertigt, denn bei der Verhandlung der Bedingungen des Verschmelzungsvertrags und insbesondere bei der Festlegung des Umtauschverhältnisses durch den Vorstand der aufnehmenden AG ist die Besorgnis nicht von der Hand zu weisen, dass die unbefangene Wahrnehmung ihrer Belange nicht mehr gewährleistet ist. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der Verschmelzungsvorgang nicht allein mit dem Abschluss des Verschmelzungsvertrages abgeschlossen ist, sondern es vielmehr der Zustimmung der Anteilseigner der beteiligten Rechtsträger durch Beschluss der Hauptversammlung oder Gesellschafterversammlung bedarf. Den Geschäftsleitungen der beteiligten Unternehmen ist damit die Möglichkeit der abschließenden Entscheidung über die inhaltliche Ausgestaltung der Verschmelzung verwehrt. Der abstrakten Gefahr der nicht unbefangenen Interessenwahrnehmung der aufnehmenden AG hinsichtlich der Festlegung des Inhalts des Verschmelzungsvertrages und des Umtauschverhältnisses ist damit der Boden entzogen. Aus dem Blickwinkel des Principal/Agent-Phänomens ist festzustellen, dass nicht die Agents, sondern die Anteilseigner und damit die Principals der beteiligten Rechtsträger das letzte Wort über den Verschmelzungsvertrag haben, die bei der aufnehmenden AG zudem noch über eine Kapitalerhöhung zu beschließen haben, womit ein weiteres Sicherungsinstrument zur Verfügung steht. Die Notwendigkeit der Vertretung der übernehmenden AG bei Abschluss des Verschmelzungsvertrags durch ihren Aufsichtsrat nach der erweiterten Anwendung von § 112 Satz 1 AktG ist nicht ersichtlich. Es bleibt deshalb bei der Vertretung der aufnehmenden AG beim Vertragsabschluss allein durch den Vorstand gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 AktG. 50
Marsch-Barner in Kallmeyer UmwG, 6. Aufl. 2017 § 4 Rz. 2; Schröer in Semler/ Stengel UmwG, 4. Aufl. 2017 § 4 Rz. 4; Wicke in Beck-onlineGK UmwG, 2019, § 4 Rz. 5. 51 Heidinger in Henssler/Strohn GesellschaftsR, 4. Aufl. 2019 § 4 UmwG Rz. 7; Wicke in Beck-onlineGK UmwG, 2019, § 4 Rz. 11.
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c) Erstellung des Verschmelzungsberichts Auch für die Erstellung des Verschmelzungsberichts nach § 8 Abs. 1 Satz 1 UmwG, die im Normalfall in den Händen des Vorstands der aufnehmenden AG liegt, stellt sich die Frage der Zuständigkeit. Der Bericht dient dem Informationsinteresse der Anteilsinhaber, die über die Zustimmung zum Verschmelzungsvertrag zu beschließen haben.52 Bei typisierender Betrachtung ist die abstrakte Gefahr der fehlenden Unbefangenheit des Vorstands bei der Berichtserstellung durchaus gegeben, wenn im Rahmen der Verschmelzung der Alleingesellschafter des übertragenden Rechtsträgers (Zielgesellschaft) im Zuge der Verschmelzung zum Vorstandsmitglied der übernehmenden AG bestellt werden soll. Einwände gegen die Anwendung von § 112 Satz 1 AktG und die Übertragung der Zuständigkeit auf den Aufsichtsrat ergeben sich daraus, dass der Bericht keine Willenserklärung sondern eine Wissenserklärung ist.53 Darzustellen und zu erläutern ist gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 UmwG vor allem der Inhalt des Verschmelzungsvertrages und das Umtauschverhältnis. Auch wenn der Bericht für die Entscheidung der Anteilseigner große Bedeutung hat, kommt ihm kein Einfluss auf den Inhalt des Verschmelzungsvertrages oder das festgesetzte Umtauschverhältnis zu. Der Vorstand ist demnach im Rahmen seiner Geschäftsleitungsverantwortung nach § 76 Abs. 1 AktG auch dann für die Erstellung des Verschmelzungsberichts zuständig, wenn im Zuge des Vorhabens vorgesehen ist, dass der (Allein-)Gesellschafter des übertragenden Rechtsträgers in den Vorstand der übernehmenden AG eintritt. d) Bestellung des Verschmelzungsprüfers Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 UmwG hat das Gericht auf Antrag des Vertretungsorgans den Verschmelzungsprüfer zu bestellen, wobei das Gericht nicht an einen eventuellen Bestellungsvorschlag gebunden ist.54 Die gerichtliche Bestellung soll dem Eindruck der Parteinähe der Prüfer entgegenwirken.55 Mit Blick auf § 112 Satz 1 AktG ist festzustellen, dass der förmliche Antrag weder eine Erklärung der Gesellschaft gegenüber einem Vorstandsmitglied darstellt, noch gegenüber einem Dritten abzugeben ist, der mit dem Vorstandsmitglied gleichzusetzen ist. Damit fehlt es an der Vergleichbarkeit 52
BGH v. 21.5.2007 – II ZR 266/04, NZG 2007, 625 Rz. 27 („Vattenfall Europe“). KG v. 25.10.2004 – 23 U 234/03, AG 2005, 205 („Vattenfall Europe“); Drygala in Lutter UmwG, 5. Aufl. 2014, § 8 Rz. 6; Gehling in Semler/Stengel UmwG, 4. Aufl. 2017 § 8 Rz. 7. 54 Lanfermann in Kallmeyer UmwG, 6. Aufl. 2017 § 10 Rz. 13; Zeidler in Semler/Stengel UmwG, 4. Aufl. 2017 § 10 Rz. 8. 55 Drygala in Lutter UmwG, 5. Aufl. 2014, § 10 Rz. 3. 53
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der Lage mit den Sachverhaltskonstellationen, denen der BGH im Wege der erweiterten Anwendung von § 112 Satz 1 AktG begegnen will. Auch wenn gerade im Fall der Beantragung eines gemeinsamen Prüfers durch beide an der Verschmelzung beteiligten Rechtsträger gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 UmwG eine Verständigung zwischen der übernehmenden AG und der Zielgesellschaft als übertragendem Rechtsträger erforderlich ist und dadurch der Eindruck einer übergroßen Nähe entstehen kann, ist zu berücksichtigen, dass das Gericht auch in diesem Fall an den Antrag in personeller Hinsicht nicht gebunden ist, sondern vielmehr die Unabhängigkeit des zu bestellenden Prüfers eigenständig zu würdigen hat.56 Seitens der übernehmenden AG ist für den Antrag zur Bestellung des Verschmelzungsprüfers gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 UmwG allein ihr Vorstand zuständig.
VI. Praktische Empfehlung Steht im Zusammenhang mit einem Unternehmenskauf die Bestellung des Verkäufers oder einer Person, die mit dem Verkäufer wirtschaftlich identisch ist, zum Vorstandsmitglied der erwerbenden AG in Rede, wird sich aus Sicht der Praxis bei Zweifeln an der wirksamen Vertretung der AG beim Abschluss des Kaufvertrags vorsorglich die Vertretung durch Vorstand und Aufsichtsrat empfehlen.57 Angesichts der Unschärfe des Begriffs des engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Abschluss des Unternehmenskaufs und einer späteren Vorstandsbestellung gilt diese Empfehlung zur Doppelvertretung der AG auch bei Zweifeln, ob der Gedanke zur Vorstandsbestellung erst unmittelbar nach Abschluss des Unternehmenskaufs aufgekommen ist oder bereits früher bestand.
VII. Fazit Der BGH hat im Telenet-Urteil seine langjährige Rechtsprechung zur erweiterten Anwendung von § 112 Satz 1 AktG fortentwickelt und nunmehr im Sinne guter Corporate Governance erstmals ausdrücklich auch auf den Fall der wirtschaftlichen Identität zwischen dem Vorstandsmitglied und der ihm allein gehörenden Gesellschaft erstreckt. 56 Drygala in Lutter UmwG, 5. Aufl. 2014, § 10 Rz. 10; Lanfermann in Kallmeyer UmwG, 6. Aufl. 2017 § 10 Rz. 15. 57 Ebenso Paschos DB 2019, 899; Schatz/Schödel EWiR 2019, 199, 200; Stöber BB 2019, 914; Wachter DB 2019, 951, 957; früher bereits Fuhrmann NZG 2017, 291, 293; Hüffer/ Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 112 Rz. 4; Wiesner in MünchHdbGesR AG, 5. Aufl. 2015, § 23 Rz. 6; siehe auch Schubmann/Tolksdorf AG 2019, 295, 296, die allerdings von Genehmigung sprechen.
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Im Zusammenhang mit Rechtsgeschäften der AG mit künftigen Vorstandsmitgliedern besteht auch nach dem BGH-Urteil erheblicher Klarstellungsbedarf zum Anwendungsbereich von § 112 Satz 1 AktG hinsichtlich des zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Rechtsgeschäft und der späteren Vorstandsbestellung. Klärungsbedarf besteht angesichts des durch das ARUG II neu eingefügten § 111a Abs. 1 Satz 2 AktG auch insoweit, ob bei Rechtsgeschäften der AG mit Gesellschaften, die nicht im Alleinbesitz des Vorstandsmitglieds stehen, ihm jedoch ein maßgeblicher Einfluss auf die Gesellschaft zukommt, gleichwohl die erweiterte Anwendung von § 112 Satz 1 AktG gilt. Bei einem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Unternehmenserwerb und Vorstandsbestellung, begründet die umfassende Zuständigkeit des Aufsichtsrats nach § 112 Satz 1 AktG große rechtliche und organisatorische Herausforderungen, die nicht ohne enge Zusammenarbeit mit dem Vorstand bewältigt werden können. Ungeachtet der funktionalen Nähe zwischen der Verschmelzung durch Aufnahme und dem Unternehmenskauf bleibt es auch nach dem TelenetUrteil des BGH bei der alleinigen Zuständigkeit des Vorstands zum Abschluss des Verschmelzungsvertrags, auch wenn damit eine Vorstandsbestellung verbunden ist. Für die Praxis empfiehlt sich bei Zweifeln, ob der Vorstand die AG gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 AktG vertreten kann oder ob die Zuständigkeit des Aufsichtsrats gemäß § 112 Satz 1 AktG gegeben ist, weil ein Rechtsgeschäft mit einem Vorstandsunternehmen vorliegt, die Doppelvertretung durch Vorstand und Aufsichtsrat.
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Das Verständnis des verständigen Anlegers
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Das Verständnis des verständigen Anlegers Martin Weber
Das Verständnis des verständigen Anlegers MARTIN WEBER
I. Der verständige Anleger als unbestimmter Rechtsbegriff Er zählt zu den schillerndsten, folgenreichsten und umstrittensten Rechtsfiguren des Kapitalmarktrechts. Sein Verständnis steuert die Reichweite von Insiderhandelsverboten und Publizitätsgeboten, spielt beim Verbot der Kursmanipulation, im Prospekt- und Anlegerschutzrecht und in vielen weiteren Zusammenhängen eine maßgebliche Rolle, und hat sich, vor allem in den letzten Jahren, zu einer Art „hidden champion“ der juristischen Argumentation entwickelt, die Steuerungswirkung auch in umgekehrter Richtung entfaltet: nicht der „verständige Anleger“ bestimmt danach, gesetzgeberischer Vorstellung folgend, bestimmte Rechtsfolgen, vielmehr bestimmen diese, oder ein bestimmtes Verständnis von diesen, das Verständnis des „verständigen Anlegers“. Diese Vielseitigkeit verdankt er v.a. seiner hervorstechenden Bedeutung unter einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe, die sich, aus Gründen regulatorischer Flexibilität oder/und gesetzgeberischer Nachlässigkeit, zuhauf in diesem Rechtsgebiet tummeln – sehr zum verständlichen Unmut ihrer Adressaten, den sie damit ebenso schüren wie deren nicht minder verständliche Suche nach praxisfreundlicheren Wegen aus dem damit angerichteten Dilemma nachvollziehbar befeuern. Ein anschauliches Beispiel dafür bildet die Rolle des verständigen Anlegers bei künftigen Ereignissen und deren Verhältnis zu einzelnen Zwischenschritten auf dem Weg dorthin (s. IV.) – ein kleiner, doch folgenschwerer Ausschnitt aus einer weitläufigen, seit der Daimler/Geitl-Rspr. des EuGH1 und dem das Urteil weitgehend kodifizierenden europäischen Marktmissbrauchsrecht unendliche Praxisprobleme auslösenden Debatte. Ist er in Gesetz, Theorie und Praxis als Rechts- und Argumentationsfigur damit auch äußerst präsent, zuweilen will es sogar scheinen, omnipräsent, stellt sich doch die Frage: Gibt es den „verständigen Anleger“ in dieser Allgemeinheit wirklich? Oder verhält es sich dabei eher wie in Hans Christian Andersens „Keiserens nye Klæder“, mag die Kleidung hier auch mehr oldfashioned als neu sein, für ihre jeweiligen Couturiers indes so brauchbar wie 1
EuGH NZG 2012, 784 – Geitl.
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im Märchen. Ist er womöglich einer der „Dinge, die es vielleicht gar nicht gibt“,2 deren Entdeckung die Jubilarin von Beginn ihrer wissenschaftlichen Laufbahn an immer wieder fasziniert und am Beispiel des Konzernrechts eingehend durchbuchstabiert hat, so dass diese kleine Betrachtung einer schillernden Rechtsfigur vielleicht ihr Interesse finden könnte.
II. Der verständige und andere das Kapitalmarktrecht bevölkernde Anleger Anleger sind nicht gleich Anleger und werden auch vom Gesetzgeber nicht über einen Kamm geschoren. Konnte man vor Jahren eine intensive, am Verbraucherleitbild des „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers“3 orientierte Diskussionen um ein allgemeines Anlegerleitbild verfolgen,4 die – von der Prospektpublizität, Regel- und anlassbezogene Publizität über die Beteiligungstransparenz und das Recht der Marktmittler bis zu den Haftungsregimen reichend – den verständigen Anleger als „besondere Ausprägung des verständigen Rechtsgenossen“5 sah, wird man die Dinge heute differenzierter zu betrachten haben. Im Verhaltensrecht der Marktmittler hat eine Kundenkategorisierung in geeigneten Gegenparteien, professionelle und Privatkunden mit Möglichkeiten (auch partieller) Auf- und Ab-Option Einzug gehalten,6 flankiert von variierend ausgestalteten Verhaltenspflichten.7 Das Prospektrecht verwendet den Begriff des qualifizierten Anlegers8 und legt, z.B. als weitere Voraussetzung der Prospektbefreiung nach § 3 WpPG, für nicht qualifizierte Anleger Einzelanlageschwellen mit je weiteren Voraussetzungen fest,9 verknüpft mit einem dritten Schutzmechanismus: dem Verhaltensrecht der Marktmittler.10 Wie schon professionelle und qualifizierte Anleger,11 erfährt so auch die nicht qualifizierte Anlegerspezies ihre Ausdifferenzierung. Eine vergleichbare (ebenfalls mit Einzelanlageschwellen und obligatorischer Anlageberatung/vermittlung arbeitende) Regelung ist für Prospekt- und andere Befrei2
Windbichler NZG 2018, 1241. EuGH NJW 1998, 3183 Rn. 31 – Gut Springenheide; NJW 2002, 425 Rn. 52 – Toshiba/ Katun; NJW 2016, 3423 Rn. 32 - Deroo-Blanquart/Sony; NJW 2019, 3290 Rn. 54 – Romano/DSL-Bank. 4 Veil ZBB 2006, 162; Mülbert ZHR 177 (2013), 160. 5 So explizit Veil ZBB 2006, 162 (171). 6 § 67 WpHG, § 2 WpDVerOV. 7 §§ 63 ff. WpHG; dazu Buck-Heeb/Poelzig BKR 2017, 485. 8 § 2 Nr. 3 WpPG. 9 § 6 WpPG. 10 Obligatorische Anlageberatung/vermittlung. 11 § 67 WpHG, § 2 Nr. 3 WpPG; Art. 4 I Nr. 10 MiFiD II iVm Anh. 2; Art. 2 lit. e ProspektVO. 3
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ungen bei Schwarmfinanzierungen zu finden.12 Das Investmentrecht weist ähnliche Entwicklungen auf: Das KAGB sieht mit semiprofessionellen Anlegern eine Zwischenstufe zwischen Privatkunden und professionellen Kunden vor, die wertpapierhandelsrechtlich (für Anlageberatungen z.B.) Privatkunden sind.13 Ohne weiteres semiprofessionelle Anleger sind Anleger, die einen hohen Gegenwert14 investieren oder einen deutlich geringeren15 und viele Zusatzbedingungen erfüllen.16 Auch hier tritt ein praxistauglich ausdifferenziertes Zusammenspiel verschiedener Schutzmechanismen auf den Plan, die verdrängend an die Stelle allgemeiner Adressatenetikettierungen getreten sind. Das Schuldverschreibungsrecht kennt bei Ermittlung der generellen Zulässigkeit von Anleihebedingungen den sachverständigen Anleger,17 der an den verständigen Anleger prospektrechtlicher Debatten18 gemahnt. In beiden Fällen geht es, wenn auch gleichsam zeitlich versetzt, – da hier nicht eine nachträgliche Ermittlung von Ansprüchen bestimmter Anleger, sondern eine zeitlich vorgelagerte, die generelle Zulässigkeit der Klausel betreffende Transparenzfrage in Rede steht19 –, um bereichsspezifische Verständnishorizonte – und damit um ganz anderes als im Insiderrecht und bei der Ad-hoc-Publizität, deren Reichweite der „verständige Anleger“ maßgeblich steuert. Indes wird auch sein Verständnis weiter von alten prospektrechtlichen Fragen beeinflusst: ob ein fachkundiger und ggf. wie fachkundiger, ein einfach durchschnittlicher oder ein zwar „durchschnittlicher Anleger“, wie der der „Beton- und Monierbau“-Entscheidung,20 gemeint sei, welcher in geradezu kontradiktorischem Gegensatz stehende Eigenschaften aufweist: zwar Bilanzen lesen zu können, ohne mit der maßgeblichen Materie und bereichsspezifischen Sprache vertraut sein zu müssen. Dabei hat sich das Blatt mit europäischer Nachhilfe hier längst gründlich gewendet: Während das Prospektrecht heute mittels en détail standardisierter Prospektinhalte, Formate, Module und Schemata, deutlich verfeinerte und praxistauglichere Schutzsets vorhält, und das auf prozessualer Ebene 12
§ 2a III VermAnlG. Zum nicht immer reibungsfreien Zusammenspiel am Bsp. der Anlagevermittlung von Beteiligungen an „Offshore-Fonds“ Heppekausen BKR 2019, 490 (493 ff.). 14 § 1 Abs. 19 Nr. 33 lit. c KAGB: ab 10 Mio. Euro. 15 § 1 Abs. 19 Nr. 33 lit. a aa KAGB: ab 200 000 Euro. 16 § 1 Abs. 19 Nr. 33 lit. a bb ff. KAGB. 17 § 3 SchVG. Dieser Anlegerbegriff geht über durchschnittliche Vertreter angesprochener Kundenkreise (stRspr. zu § 307 I 2 BGB, s. nur BGH NJW-RR 2011, 1144 [1145]) als auch den prospektrechtlichen hinaus. 18 Dazu Veil ZBB 2006, 162 (164 f.). 19 Oulds in Veranneman SchVG, 2. Aufl. 2016, § 3 Rn. 13. 20 BGH WM 1982, 862 (865); keine Spezialkenntnisse bei erkennbar an Kleinanleger gerichteten Anleiheemissionen: BGH WM 2012, 2147 – Wohnungsbau Leipzig. 13
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auch für Product-Governance und Produktintervention21 gilt, sind andernorts weiterhin unkonturierte Begrifflichkeiten in Gebrauch, wie der „verständige Anleger“ in Art. 7 IV MAR, bei dem der Gesetzgeber fast alles dem Rechtsanwender überlässt.
III. Der verständige Anleger als ein jedenfalls rationaler Investor Dem Wortlaut nach, wonach Eignung zur Kursrelevanz angenommen werden kann, wenn ein verständiger Anleger die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde, kann erst einmal nur eines entnommen werden: Maßgeblich ist, dass ein hinreichender Anreiz erzeugt wird, um Transaktionen in dem betroffenen Finanzinstrument zu tätigen.22 Alles Weitere bleibt unklar. Für die Palette denkbarer Handelsanreize gilt das nicht minder, zumal sie in irrationalste Abgründe hinab- und zur unbekümmerten Inanspruchnahme des „right to make a fool of oneself“23 hinaufreichen kann,24 ohne dass diese Extreme – schon mit Blick auf daran anschließende Ge- und Verbotsszenarien – gemeint sein dürften. Darüber hinaus sollen den Anreizen auch nicht alle, sondern nur „verständige“ Anleger erliegen dürfen. Würde man indes nicht rechtsverständige Anleger nach ihrem Verständnis verständiger Anleger befragen, könnte es gut sein, dass sich einige bereits über den Begriff selbst wundern: Ist ein Anleger nicht alles Mögliche: ahnungslos oder kenntnisreich, Laie oder Profi, ängstlich oder gierig – aber verständig? Klingt betulich und ist es vielleicht auch. Wie eine Benimmnote der besseren Sorte: Hat sich nicht spekulativ daneben benommen.25 Die einzige Gemeinsamkeit im Streit um zu fordernde (Mindest-)Qualifikationen bildet noch die Forderung nach rationalem Verhalten der reasonable investors:26 Ausblendung aller Liebhaberinteressen also, zB an einer Aktie, die unbeirrt bis in ihren ökonomischen Untergang gehalten wird. 21 Dazu Grigoleit ZHR 177 (2013), 264; Buck-Heeb ZHR 2015, 782; dies. CCZ 2016, 2; D Busch WM 2017, 409. 22 Zur „Theorie des Handlungsanreizes“ Mennicke/Jakovou in Fuchs WpHG, 2. Aufl. 2016, § 13 Rn. 159 ff. 23 Loss ZHR 129 (1067), 197, 208. 24 Dass Anlageentscheidungen durch vielfältige – rationale, irrationale und spekulative – Faktoren beeinflusst werden, betont auch der BGH immer wieder, s. nur BGHZ 160, 134, 144 – Informatec I; BGH NJW 2005, 2450 (2453) – EM.TV; BGH NZG 2007, 345 Rn. 5, 9 – Comroad I; BGH NZG 2007, 346 Rn. 4 – Comroad II; BGH NZG 2007, 708 Rn. 13 – Comroad IV; BGH NZG 2007, 711 Rn. 13 – Comroad V. 25 Zum verständigen, nicht spekulativen Anleger pointiert Merkner/Sustmann in Börsen-Zeitung v. 26.8.2017, 9 u. v. 14.7.2018, 9; Krause in Meyer/Veil/Rönnau HdB MarkmissbrauchsR, 2018, § 6 Rn. 116. 26 Dazu Veil ZHR 172 (2008) 239 (249); ders. ZBB 2006, 162 (163); Krause in Meyer/ Veil/Rönnau HdB MarkmissbrauchsR, § 6 Rn. 116; Klöhn MAR, § 7 Rn. 270; OLG Stuttgart NZG 2009, 624 (628) – DaimlerChrysler II.
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Danach aber geht alles streitig zu: Gilt das Rationalitätserfordernis auch für – fast jedem Handel innewohnende – Spekulationsmomente?27 Bei nicht ganz blauäugigem Handel mit Erwartungen wird dieser sich zwar auf ein einigermaßen festes Tatsachengerüst stützen – aber immer nur „einigermaßen“. Zudem müssen Erwartungen nicht die eigenen sein und sind es häufig auch nicht, und noch weniger kommt es für lukrativen Handel mit fremden darauf an, ob sie zutreffend sind: „It only matters that other people in the market believe it.“28 Den Fragen, die sich aus diesem Verhältnis rationaler Markterwartung und auf dem Markt selbst gehandelter Erwartungen samt deren Qualitäten ergeben, schließt eine weitere nach der Reichweite des gemeinten rationalen Verhaltens gleich ein: Folgt daraus z.B. ein kategorischer Ausschluss irrationalen Verhaltens? Die Diskussion dieser Frage hat im Wesentlichen zwei Dreh- und Angelpunkte: Die IKB-Rechtsprechung des XI. Zivilsenats des BGH29 mit ihrer Berücksichtigung auch „irrationale[r] Reaktionen anderer Marktteilnehmer“ – ein indes falscher Fall für eine richtige Diskussion –, und behavorial finance30 mit ihrer Sicht auf tatsächliches, damit auch irrationales Investitionsverhalten. Von irrationalem Verhalten, konnte im Fall der IKB-Entscheidung mit seinem Subprime-Hintergrund die Rede gar nicht sein: Das Verhalten der Marktteilnehmer dort war alles andere als irrational, in damaliger Situation sogar sehr rational. Insoweit handelt es sich eher um eine irritierende Formulierung des BGH zu einem Problem, das im entschiedenen Fall gar nicht vorkam.31 Wo es vorkommt und die Frage sich tatsächlich stellt, inwieweit rationale Erwartungen auch irrationales Verhalten anderer in Rechnung stellen, sind Fallstudien zu wiederkehrenden, damit auch instrumentell ausbeutbaren Verhaltensmustern irrationaler Handlungen, die behavorial finance mittlerweile zahlreich zusammengetragen hat.32 Wird Rationalität indes nicht allein 27
Zur Rolle der Spekulation in Kapitalmärkten Schwark in FS Steindorff, 1990, 473. Ein Börsenhändler nach Froot/Scharfstein/Stein Journal of Finance 47 (1992), 1461 f. 29 BGHZ 192, 90 = JZ 2012, 571 (m. Anm. Bachmann) Rn. 44 – IKB; dazu Klöhn AG 2012, 345 (insb. 349 f.); Seibt EWiR 2012, 159; Spindler NZG 2012, 575; Langenbucher AG 2016, 417 (420 f.). 30 S. Statman Behavioral Finance, 2019; W Forbes Behavioral Finance, 2009; H Beck Behavorial Economics, 2014; Fleischer/Zimmer Beitrag der Verhaltensökonomie zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011. 31 Zu Recht Merkner/Sustmann AG 2018, 621 (623): die Frage spiele für die Begründung keine Rolle. 32 Tversky/Kahneman 5 Cog. Psych. (1973), 208, 228; Lord/Ross/Lepper 37 J. Personality & Soc. Psychol. (1979), 2098, 2101; Langevoort 51 Vand. L. Rv. (1998), 1499, 1503; Bainbridge 68 U. Cin. L. Rev. (2000), 1023, 1035; Shleifer Inefficient Markets, 2000, S. 89 ff.; Oehler ÖBA 2000, 978 (983); Stout 28 J. Corp. L. (2003), 635, 651 f., 659 f.; Shiller 17 J. Econ. Persp. (2003), 83, 101 f. 28
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durch Bezugnahme auf irrationales Verhalten anderer in Frage gestellt, ist es doch eine ganz andere (normative) Frage, ob das, was entsprechendes Ausbeutungsverhalten in Rechnung stellt, auch ein verständiger Anleger in Rechnung stellen würde, d.h. in Rechnung stellen darf, oder er sich damit außerhalb zulässiger Ausbeutungsreservate bewegt, die möglicherweise nur einer bestimmten Spezies „verständiger Anleger“ vorbehalten sind. Tatsächlich argumentieren Kritiker einer Berücksichtigung irrationaler Kursreaktionen auch nicht damit, dass sie deren Rationalität bestreiten, vielmehr damit, dass diese Berücksichtigung Zwecken des europäischen Insider- und Ad-hoc-Publizitätsrechts zuwiderlaufe: Verfalle ein Emittent z.B. unter Rückgriff auf Studien zur „Dotcom-Manie“ auf die Idee, den Firmennamen mit einem „com“-Zusatz zu schmücken, um so den Börsenwert zu steigern, komme eine Ad-hoc-Pflicht schon deshalb nicht in Betracht, weil dies am Fundamentalwert nichts ändere.33 Für ein Anteilsscheine „optisch verbilligendes“ Aktiensplitting u.ä. hätten derartige Überlegungen ebenso zu gelten: Sie führen zu keiner – an Stelle strittiger Wahrscheinlichkeiten von Kursänderungen tretender34 – Fundamentalwertänderungen und sind daher nicht berücksichtigungsfähig. Das ist indessen nur dann ein nicht nur ökonomisches Argument, wenn der Fundamentalwertbezug selbst ein normatives Konzept darstellt. Und das gilt noch für einen weiteren Streitpunkt: die Frage insiderrechtlicher Irrelevanz falscher Tatsachen.35 Das Argument auch hier: jedenfalls erwiesene36 falsche Tatsachen sind keine Insidertatsachen, weil sie am Fundamentalwert nichts ändern. Nur Kenntnis der Wahrheit begründe Insiderwissen, deren Unkenntnis bei Outsidern nur die Angst, von kenntnisreicheren Insidern hinters Licht eines vermeintlichen „Marktrauschens“ geführt zu werden, in dem in Wirklichkeit ein (ihnen) entgehender Arbitragegewinn steckt. Deshalb könnten sie sich auch, unbeschadet möglicher Beteiligungen an Marktmanipulationen, bei Kenntnis um bevorstehende Veröffentlichungen falscher Ad-hoc-Meldungen,37 unbedenklich mit den betroffenen Aktien eindecken. Derart produziertes „Eigenrauschen“ als (nicht nur vorweggenommenes, sondern selbst) falsches Marktsignal ist zwar ggf. marktpreisrelevant (und marktpreismanipulierend), gefährdet auch ggf. den Handel Unwissender, doch spiele das als fundamentalwertirrelevanter Marktzauber
33
Klöhn in Klöhn MAR, Art. 7 Rn. 284 f. Klöhn in Klöhn MAR, Art. 7 Rn. 283. 35 Dazu mwN Klöhn in Klöhn MAR, Art. 7 Rn. 62 ff., 288; ders. ZHR 177 (2013), 349, 382. 36 Anders, wenn sie sich später erst als Fehlinformationen erweisen, Klöhn MAR, Art. 7 Rn. 63. 37 Bsp. Klöhn MAR, Art. 7 Rn. 65. 34
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insiderrechtlich keine Rolle.38 Das ändere erst eine reverse Handelsaktivität wie ein scalpingartiger Aktienverkauf nach Veröffentlichung, der gleichsam fundamentalwertrelevantes „Entrauschen“ bewirke, das dem falschen Marktzauber preiskorrigierend Rechnung trägt – und, so das zentrale Argument, nur dieser Differenz zwischen fundamentalwertbezogen falschem und (wieder) richtigem Marktpreis insiderrechtliche Bedeutung zukomme. Dem entspricht die ebenso exklusive Beachtung durch einen „verständigen Anleger“, dem dieser Fundamentalwertbezug als einziger in den Blick gelegt ist.
IV. Der verständige Anleger als vernünftige Markterwartung am Beispiel künftiger Ereignisse Ein weiteres Einsatzfeld „verständiger Anleger“ stellt das eingangs erwähnte Verhältnis künftiger Ereignisse und ihnen vorausgehender Zwischenschritte nach Art. 7 II 2, III MAR dar. Bei künftigen Ereignissen muss deren Eintritt vernünftigerweise erwartet werden können, Art. 7 II 1 MAR, somit eine Mindesteintrittswahrscheinlichkeit gegeben sein, die der BGH mit 50% + x veranschlagt.39 Da sich die Wahrscheinlichkeit anhand bereits verfügbarer Anhaltspunkte manifestiert, die nach Art. 7 II 2, III MAR selbst als publikationspflichtige Zwischenschritte in Betracht kommen, versuchen verschiedene Strategien, Gefahren überbordender Zwischenschrittpublikationen gegenzusteuern. Einer der Wege ist die telelogische Reduktion des Kursrelevanzmerkmals bzw. die einschränkende Interpretation des Begriffs des verständigen Anlegers, der Zwischenschritte nur bei Eintrittswahrscheinlichkeit des Endereignisses iHv. 50% + x berücksichtige.40 Eine andere Variante, die Ausstrahlungswirkung – in der Literatur meist Sperrwirkung genannt41 – des Endereignisses zu nutzen, bildet die Aufspaltung vorausgehender Zwischenschritte in zwei Typen: eine Art, die „für sich“, soll heißen, vom Endereignis losgelöst, Zwischenschritt sein könne, und eine andere, die nur Wegmarke ist – und für die die Sperrwirkung ebenso gelte.42 38 Ähnl. die insiderrechtl. Beurteilung des Scalpings: verständige Anleger würden keiner Scalper-Empfehlung folgen, Klöhn MAR, Art. 7 Rn. 27; zur (str.) Anwendbarkeit des InsiderR dabei Rn. 25 f.; Langenbucher ZBB 2019, 307 (314). 39 BGH NZG 2013, 708 Rn. 29 – Geitl. 40 S. Heider/Hirte GWR 2012, 429 (431); Koch/Widder AG 2012, 1820 (1821); dies. AG 2012, 1820 (1821); Bachmann DB 2012, 2206 (2209); Krause/Brellochs AG 2013, 309 (313); Brellochs ZIP 2013, 1165 (1173). 41 Klöhn NZG 2011, 166 (170); ders. MAR, Art. 7 Rn. 100 ff.; Ekkenga NZG 2013, 1081 (1083); Wilsing/Goslar DStR 2013, 1610 (1612); Ihrig/Kranz BB 2013, 451; Bunz NZG 2016, 1249. 42 Vetter/Engel/Lauterbach AG 2019, 160 (164); ebenso Groß/Royé BKR 2019, 272 (276 ff.); schon Sustmann in Kämmerer/Veil Übernahme- und Kapitalmarktrecht in der Reformdiskussion, 2013, 229, 248 f.; ferner Merkner/Sustmann/Retsch NZG 2020, 688 (689 f.).
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Auch dieser Weg bedient sich der Brille des „verständigen Anlegers“: Dieser, so die Behauptung, berücksichtige bei nicht endereignisbezogenen Zwischenschritten, z.B. bestimmten Vorgesprächen, den Zwischenschritt für sich allein – „für sich genommen“, „if, by itself“, „si, por si mismo“, „si en soi“ iSd. Art. 7 III MAR – unter Ausblendung des Endergebnisses, oder, wenn es so nicht reicht, dann nicht.43 Tatsächlich? Ein naturgemäß auf einen Prozess bezogenes Gespräch, denn ansonsten wäre es kein Zwischenschritt iSd. Art. 7 II 2, III MAR, vielmehr ein singuläres Ereignis, wird vom Investor ohne dessen eigentlichen Gesprächsinhalt, den weiteren, wenn auch nur möglichen Prozessverlauf, gewürdigt? Eine recht eigenwillige Interpretation des „si en soi“, der die gesetzliche Regelung geradezu in ihr Gegenteil verdreht, indem aus Zwischenschritten, die, wenn sie bereits „für sich genommen“ dazu taugen (und nichts anderes meint die Formulierung), neben dem Endereignis – insoweit ganz der Blaupause des Geitl-Urteils des EuGH44 folgend – ebenfalls für anlassbezogene Publikationspflichten in Betracht kommen, dadurch, dass sie aus ihrem Prozessbezug herauskatapultiert und zu solchen gemacht werden, die – weil „für sich genommen“ iSv. isoliert – gar nicht „Zwischenschritt“ sein können. Während bei künftigen Ereignissen die Kursspezifität nach Art. 7 II 1 Alt. 2 MAR mit dem Filter vernünftiger Erwartungen ihres Eintritts präzisiert wird („vernünftigerweise erwartet werden kann“), ist das bei Zwischenschritten nach dem klaren Wortlaut sowohl von S. 1 als auch S. 2 des Art. 7 II MAR nicht der Fall.45 Da ist es kein Argument für die Übertragbarkeit des Erfordernisses hinreichender Eintrittswahrscheinlichkeit des Endereignisses auf Zwischenschritte, dass „sich der EuGH an keiner Stelle des Geltl-Urteils gegen“ diese Möglichkeit ausgesprochen habe;46 entscheidend ist, dass er und der Gesetzgeber sich an keiner Stelle für diese Möglichkeit ausgesprochen haben. Auch die übrigen Argumente für eine Übertragbarkeit, wie ansonsten gegebene Zwänge zur 43
Groß/Royé BKR 2019, 272 (276). EuGH, NZG 2012, 784 – Geitl. 45 So iE. auch Klöhn (MAR, Art. 7 Rn. 100 ff.), der (beides verneinend) zwischen (kompletter) „Sperrwirkung auf Konkurrenzebene“ (Rn. 105 ff.) und „Sperrwirkung auf Kursrelevanzebene“ (Rn. 107 ff.) unterscheidet; bereits ders. ZIP 2012, 1885 (1891); zust. Teigelack BB 2016, 1604 (1606); Ausstrahlungswirkung der Eintrittswahrscheinlichkeit künftiger Ereignisse bejahend bei gegenwärtig unsicheren Ereignissen (Rn. 112 ff.: Analogie). – Kursrelevanz u. Kursspezifität (Eintrittswahrscheinlichkeit) fungieren so als unabhängige Filtersysteme. Ist Kursspezifität aber nur ein Vorfilter (Rn. 84: „Evidenzkontrolle“) und stellt der Lackmustest die Frage dar, kann es überhaupt kursrelevante Ereignisse geben, die nicht auch kursspezifisch sind, und die richtige Antwort nur lauten kann: nein (so auch Rn. 82), sind Ausnahmen bei unsicheren künftigen wie gegenwärtigen Ereignissen (einer Fallgruppe mit großer Praxisbedeutung, M. Lorenz NZG 2019, 1380) rechtssystematisch nicht unbedenklich. Das gilt umso mehr, wenn man (so auch Klöhn Rn. 217 mwN aus der Rspr.) relative Kursrelevanz-Prüfungen nach dem probability-magnitude-test für richtig hält. 46 So Vetter/Engel/Lauterbach AG 2019, 160 (167). 44
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Zwischenschrittpublikation bei noch nicht ausgereifter Eintrittswahrscheinlichkeit des Endereignisses,47 weisen ebenso zirkuläre Strukturen auf, bei der Zu-Begründendes und Begründung nahtlos ineinander übergehen. Fortgesetzte Übergänge im Sinne prozessualer Verläufe weisen indes die meisten kursrelevanten Ereignisse auf, die fast alle Teil eines Prozesses sind. Selbst Unternehmenskennzahlen, die unternehmensintern erst einmal zusammengetragen müssen, weisen den Bezug nicht nur im Hinblick auf vorangegangene Veröffentlichungen auf, mit der Konsequenz, dass an noch nicht ganz, doch fast vollständig zusammengetragenen Daten kaum geringeres Interesse bestehen würde, dem kein Unternehmensinteresse entspricht: Und das ist der eigentliche Kern des Problems – nicht nur bei Unternehmenskennzahlen. Entsprechend schwierig erweist es sich für Vertreter der Zweitypenzwischenschrittlehre, überhaupt Beispiele für den Typ nicht endereignisbezogener Zwischenschritte zu finden: Als einziges wird der amtsmüde Vorstandvorsitzende angeführt,48 dessen mangelnder Elan bereits „für sich“ kursrelevante Auswirkungen haben könne. Abgesehen davon, dass dies ein singuläres Ereignis und kein „Zwischenschritt“ wäre, fehlt dem Beispiel nicht von vornherein der mögliche Bezug zum Endereignis (Amtsbeendigung): Nicht nur ist ausgeschlossen, dass Amtsmüdigkeit in Amtsaufgabe umschlägt, auch stellt sich die Frage, ob nicht noch andere Formen der Amtsbeendigung in Betracht kommen als die eigene, z.B. infolge – u.U. aufsichtsrechtlich sogar gebotener – Aktivitäten des Aufsichtsrats, insb. bei angespannter Unternehmenssituation. Ein anderes Beispiel nicht endereignisbezogener „Zwischenschritte“ liefert auf den ersten Blick die (Entscheidung zur) strategische(n) Neuausrichtung eines Unternehmens. Doch auch hier ist ein möglicher und ausreichender Endereignisbezug im Sinne prozessualer Einbettung des vermeintlichen Singulärereignisses nicht ausgeschlossen: z.B. wenn, wie nicht selten, die Neuausrichtung, nicht (allein) aus eigener Kraft zu stemmen ist, sie vielmehr Akquisitionen erfordert, für die nur eine überschaubare Anzahl an Unternehmen in Betracht kommen, deren Preis schon durch Bekanntgabe des kontradiktorischen Gegensatzpärchens „singulärer Zwischenschritt Neuausrichtung“ kräftig in die Höhe getrieben würde – im Extremfall bis zu dem Endereignis: keine Neuausrichtung.
47 Vetter/Engel/Lauterbach AG 2019, 160 (166): die praktische Konsequenz als Argument – und (unfreiwillig, da kaum von den Autoren veranlasst) durch wortgleich doppelten Abdruck (ebd.) noch besonders hervorgehoben. 48 Vetter/Engel/Lauterbach AG 2019, 160 (165). Zum Bsp. schon Fleischer/Schmolke AG 2007, 841 (846); Klöhn MAR, Art. 7 Rn. 58.
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V. Der verständige Anleger als Marktmetapher Führt die Suche nach konkreten Eigenschaften zu mehr Schwierigkeiten als Nutzen, macht es Sinn, die Suche einfach umzukehren und mehr abstrakte Eigenschaften des „verständigen Anlegers“ zu suchen: Angesichts schillernder Vielfalt ist er womöglich nur das Bild für etwas, das sie alle anonym, abstrakt und funktional miteinander verbindet: ein Bild für den Markt selbst – eine anthropomorphe Marktmetapher: Der „verständige Anleger“ als Ausdruck einer bestimmten Markttheorie, so wie Thomas Hobbes’ Leviathan die Personifizierung und Visualisierung einer bestimmten Staatstheorie, die in dessen Titelbild bleibenden Ausdruck gefunden hat.49 Ganz in dem Sinne liegt seit einiger Zeit denn auch ein rechtsökonomisch inspiriertes, erstmals zur geschlossenen Konzeption ausgearbeitetes Erklärungsmodell vor, das dem „verständigen Anleger“ die Rolle einer Personifizierung des effizienten Markts zuschreibt:50 ein aufgrund seiner theoretischen Geschlossenheit das bislang faszinierendste Erklärungsmodell – bei näherer Betrachtung vielleicht aber etwas zu geschlossen, geradezu hermetisch abgeschlossen, zu abstrakt einerseits und andererseits nicht abstrakt genug. Ausgestattet mit dem wertpapierhandelsrechtlichen Auftrag, „einen kompetitiven Markt für Informationshändler zu schaffen, deren Handel dafür sorgt, dass alle öffentlich bekannten kurrelevanten Informationen im Marktpreis reflektiert werden“,51 findet das Kapitalmarktrecht in jenen Händlern sowohl die einzigen (unmittelbaren)52 Schutzadressaten als auch den „verständigen Anleger“: in Gestalt einer in ihrer Gesamtheit Preisinformationen reflektierenden Marktfunktion – und in der in den 1970er Jahren ökonomietheoretisch entwickelten Kapitalmarkteffizienzhypothese (Efficient Capital Market Hypothesis, ECMH)53 in ihrer halbstrengen Variante54 deren theoretisches Fundament. Über Arbitragehandel als An49 Dazu Bredekamp Stratégies visuelles de Thomas Hobbes. Le Léviathan, archétype de l’État moderne. Fondation Maison des sciences de l’homme, 2003. 50 Grdl. Klöhn ZHR (2013), 349, 366 ff. 51 Klöhn ZHR (2013), 349; ders. ZHR 178 (2014), 671, 675. 52 Nur reflexiven Schutz genießen andere rational informationsaversive Händler/Investoren, die Informationen nur mittelbar, z.B. über Marktpreise zur Kenntnis nehmen, der Markt für sie also wie ein „unbezahlter Agent“ fungiert, dazu Fischel 38 Bus. Law. 1, 10 (1982), 3–4. 53 Grdl. Fama 25 J. Fin. 383 (1970); s. auch Ulmrich Investorentransparenz, 2013, 139 ff. 54 Danach reflektieren auf durchschnittlich effizienten Kapitalmärkten die Preise jederzeit alle öffentlich zugänglichen Informationen, nach der strengen Variante auch nicht öffentliche Informationen, die ohne Verzögerung eingepreist, Informationsgefälle zwischen In- und Outsidern idealiter planieren und Publizitätspflichten überflüssig machen. – Neben theoretischen Paradoxien (Einpreisung neuer Informationen, obwohl es in vollkom-
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reiz55 suchen sie exklusiv geschützt fundamentalwertorientierte Informationen zur Aufdeckung und Beseitigung von Differenzen zwischen Markpreis und „wahrem Wert“ in Gestalt des durch künftigen Cashflow und Anlagerisiken bestimmten Fundamentalwerts. Die durch Arbitragehandel eingepreisten Informationen stehen als Marktpreise dann kostenlos auch allen übrigen rational informationsaversiven Händlern und Investoren zur Verfügung. Die Brille des verständigen Anlegers aber tragen allein die Informationshändler, da nur sie an öffentlichen Informationen tatsächlich interessiert sind. Im Zentrum der Kritik steht der Fundamentalwertbezug des Modells, der über seine ökonomische Provenienz hinaus als Rechtsbasis in Anspruch genommen wird. Tatsächlich ist Arbitragehandel kein exklusives Vorrecht darin operierender Informationshändler, dessen ihn kennzeichnende Differenzausbeutung kein von Rechts wegen ihnen vorbehaltenes Ausbeutungsreservat. Dafür erforderliche Preisdifferenzen liefern auch andere kursrelevante Umstände. Und dass andere als fundamentalwertbezogene von Rechts wegen nicht gemeint seien, ist erst einmal nur eine Behauptung, die von der vermeintlichen Wohlfahrt des speziellen Eigensinns gefüttert wird, korrekte Informationseinpreisungen in kostenlos auch allen anderen zur Verfügung stehende Marktpreise zu liefern, für die ihnen zur Belohnung (und Vergütung aufgewandter Informations- u. Analysekosten) der Arbitragegewinn exklusiv zufallen und nicht durch fundamentalwertirrelevanten „Noise“ marktdysfunktionaler Handelsaktivitäten andersgearteter Händler gefährdet werden soll. Dabei leben Informationshändler parasitär selbst von diesem „Noise“, den sie in ihrer beständigen Angst vor Fehlinterpretationen so sehr ignorieren wie gleichzeitig fürchten,56 da sie andernfalls dem Paradox immer schon korrekter Marktpreise gar nicht entgehen könnten. Dass sie ihm zuweilen auch tatsächlich nicht entgehen wollen, wenn irrelevanter „Noise“ von ihnen zwar als solcher, zugleich aber auch als Gewinnchance erkannt wird, behauptet auch das Modell nicht,57 setzt vielmehr ganz darauf, dies als menen Märkten keine ausbeutbaren Informationsgefälle mehr gibt) gilt die strenge Variante schon durch den Nachweis, dass Insider vor Informationsveröffentlichung Überrenditen erzielen, als widerlegt, dazu Grossmann/Stiglitz 66 Am. Econ. Rev. 246, 250 f. (1976); dies. 70 Am. Econ. Rev. 393, 395 (1980); Coffee 70 Va. L. Rev. 717, 723 (1984); Cunningham 62 Geo. Wash. L. Rev. 546, 562 (1994); Paredes 81 Wash. U. L. Q. 417, 431 f. (2003). 55 Zur Informationsarbitrage und Kapitalmarkteffizienz, für die nicht alle Marktakteure über relevante Marktinformationen verfügen müssen, grdl. Grossmann/Stieglitz 10 Am. Econ. Rev. (1980), 393. – Zu den limits of arbitrage Stout 28 J. Corp. L (2003), 635, 651 f., 655 f.; Gilson/Kraakman 28 J. Corp. L. (2003), 715, 729; Goshen/Parchomovski 55 Duke L. J. (2006), 711, 729; Bak/Bigus ZBB 2006, 430, 436. 56 S. nur Klöhn ZHR 177 (2013), 349, 373. 57 Zu diesem Seitenwechsel: Stout 28 J. Corp. L (2003), 635, 655 f.; Gilson/Kraakman 28 J. Corp. L. (2003), 715, 729; Goshen/Parchomovski 55 Duke L. J. (2006), 711, 729; Bak/Bigus ZBB 2006, 430, 436.
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normativen Irrweg zu brandmarken, der verständige Informationshändler von Ihrem einzig wahren abbringt: dem oszillierenden Blick zwischen Preisund Fundamentalwertänderung im Dienste des Gesamtmarkts. Kursrelevant sind u.a. aber auch signifikante Auswirkungen von Marktinformationen auf andere Marktteilnehmer, deren Verhalten(smuster), gleich ob rational oder irrational, für Investitionsentscheidungen in Rechnung zu stellen, kein weniger rationales und – bis zur Marktintegritätsgrenze eines weder Insiderwissen noch marktmanipulative Eigenaktivitäten ausbeutenden Handels – zweifelsfrei zulässiges Investitionsverhalten darstellt, das darüber hinaus auch sinnvollem Marktverhalten iS kompetitiver Marktpreisfindung entsprechen kann. Denn beim Prozess der Marktpreisfindung geht es primär nicht um (neue) Preisbestimmungen für (veränderte) Fundamentalwerte, sondern, abstrakter, erst einmal um Preisbestimmungsfaktoren für künftige Erwartungen, die nicht nur von ihrem Fundamentalwertbezug, sondern ebenso sehr von anderen, nicht zuletzt spekulativen Elementen leben, geerdet allein durch ein grundlegendes Rationalitätserfordernis, das sie vor reinem Wunschdenken schützt. Das von dem ECMH-Modell maßgeblich ins Feld geführte Argument für die Eignung zur Fundamentalwertänderung als (alleinigem) Kriterium und gegen dasjenige eines Wahrscheinlichkeitsurteils bei Bestimmung der Kursrelevanz58 – ein Wahrscheinlichkeitsurteil, das mit dem vernünftigerweise zu erwartenden Eintritt künftiger Ereignissen59 aber wieder auf den Plan tritt –, das Argument geringerer Unberechenbarkeit, überzeugt nur, wenn zweifelsfrei feststehen würde, dass, auch unter Berücksichtigung erheblicher Volatilität der selbst keine exakte Wissenschaft darstellenden Fundamentalwertbestimmung,60 diese grds. bessere Ergebnisse verglichen mit den gerade auf dem Markt gehandelten Erwartungen erzielt, als Wahrscheinlichkeitsurteile, wie sie z.B. als zweistufiges Verfahren von der BaFin praktiziert werden (allgemeine Eignung der Information zur Kursveränderung und Eignung dazu im konkreten Fall). Zudem spielen Betrachtungs- und Anlagehorizonte am Markt agierender Investoren eine das Urteil auch insoweit stark differenzierende Rolle. Diese Differenzen rechtfertigen auch keine kategorische Unterscheidung zwischen informationsinteressierten und -aversen Händlern. Längerfristig agierende Fondsmanager haben gewiss andere Interessen als Hochfrequenzhändler (die wiederum andere als Informationshändler haben mögen), werden Fonds aktiv gemanagt, haben sie gleichwohl auch unternehmensbezo58 Dazu Mennicke/Jakovou in Fuchs WpHG, 2. Aufl. 2016, § 13 Rn. 136 ff.; Klöhn MAR, Art. 7 Rn. 283; Krause in Meyer/Veil/Rönnau HdB MarktmißbrauchsR, § 5 Rn. 116; Merkner/Sustmann AG 2018, 621 (624). 59 Art. 7 II 1 Alt. 2 MAR. 60 Dazu Hüttemann in Fleischer/Hüttemann RechtsHdB Unternehmensbewertung, 2. Aufl. 2019, § 1 Rn. 1.6 ff.; anschaulich Höfling NZG 2020, 136.
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gene Informationsinteressen, die über Risikostreuungen nicht von vornherein rational wegdiversifiziert sind, je geringer der Grad an Diversifizierung, umso weniger. Selbst bei Entscheidungen für passive, nur einen Index abbildende Anlagen, spielt unter dem Gesichtspunkt der Opportunitätskosten im Hinblick auf „aktive“ Alternativen das Informationsinteresse eine Rolle, wenngleich sehr unterschiedliche Informationstiefen zweifellos ebenfalls. Doch die Art und Weise der Informationsausbeutung ist allein Sache des Investors. So wie kein Informationsinteresse, kann auch ein geringes oder partielles (mit z.B. stärkerer Ausrichtung auf Marktdaten, bekannte Verhaltensmuster, über Algorithmen ermittelte Handelsstrukturen u.a. mehr) nicht weniger rational sein. Hinzu kommt, dass viele unternehmensbezogene Informationen Ausstrahlungswirkung auf Konkurrenzunternehmen, eine Branche und auch darüber hinaus haben.
VI. Der verständige Anleger als Markterwartung selbstreferentieller Informationsbewertungssysteme Im marktbezogenen Zentrum des Kapitalmarktrechts steht ein Preisfindungsmechanismus, den der Gesetzgeber schon wegen irreversibler Folgen „falscher Marktpreise“ besonders schützt: durch Sicherung formell korrekt entstehender Preise und deren Transparenz zum einen,61 durch Abwehr der Preisfindung und informationelle Chancengleichheit störenden Einpreisung marktunbekannter und markttäuschender Informationen (Signale) mittels Insiderhandels- und Marktmanipulationsverboten zum anderen. Mit diesen Leitplanken versehen, fungiert der Markt wie ein – über diesen formellen Preismechanismus gesteuertes – selbstreferentielles Informationsverarbeitungs- und -bewertungssystem, das als permanenter Prozess Informationen sowohl verarbeitet und bewertet als auch (als Markterwartung) wieder erzeugt. Differenzen zwischen (abweichenden) Markterwartungen und (selbst Markterwartungen darstellenden) Marktpreisen können ihre Ursachen in (temporär oder strukturell) unzureichender Informationsverarbeitung, in markterwartungsfernen Einpreisungen marktunbekannter wie markttäuschender Informationen, aber auch in einer grds. Instabilität der Markterwartungen verkörpernden Marktpreise selbst haben. Diese Ungleichgewichtslagen, von der auch die Herstellung (vorübergehender) Gleichgewichtslagen parasitär profitiert, gehen, neben ungleicher Informationsbeschaffung und -verarbeitung, zwar nicht zuletzt auf ungleich ausgelotete Informationstiefen bei der Erwartungsbewertung zurück, die von Marktpreisbetrachtungen bei sonstiger Informationsignoranz über partielle Informationsnutzungen 61 S. nur § 24 II, III BörsG, ferner §§ 7, 25, 26a bis f, 28 I 3 ff., II BörsG; §§ 14, 57, 73, 74 WpHG; Art. 48 II b, 52, 53, 54, 57, 58 MiFiD II uvm.
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bis zu umfangreichen Analysen reichen. In erster Linie aber sind es unterschiedliche Erwartungsbewertungen und unterschiedliche Betrachtungszeiträumen, die als solche vollkommen dem formellen Prozess der Marktpreisfindung entsprechen, der auf Markterwartungen beruht, hinter denen sich bereits ein ebenso komplexer wie kompetitiver Prozess von Erwartungserwartungen verbirgt, die sich in diesen Markterwartungen spiegeln, und bei denen sich der Markt seiner Teilnehmer quasi als „Agenten“ bedient: Einen „verständigen Anleger“ mit bestimmbar rationalem Anlageverhalten gibt es mithin in der Tat weder als konkrete Person noch bestimmten Personentypus, der spezielle Eigenschaften, wenn auch häufig eine gewisse Professionalität (was ja auch für Informationshändler gilt), aufweist, aber auch nicht als bestimmtes Marktmodell oder (z.B. durch Fundamentalwerte) bestimmte Markterwartung,62 sondern als selbstreferentiellen Prozess kompetitiver Marktpreisfindung zur Bewertung künftiger Erwartungen, der auch ein rational begründeter ist, da von ihm erzeugte Markterwartungen unterschiedlichste rationale wie irrationale Erwartungserwartungen widerspiegeln, und damit auch Informationen über irrationale Marktentwicklungen vorhalten, denen, schon aus Eigeninteressen, seitens der Marktteilnehmer rational begegnet werden kann und wird. Das können fundamentalwertbezogene Korrekturen sein, müssen es aber nicht.63 Denkbar sind auch anders begründete Gewichtungen mit Rationalitätsanspruch, wie ein kurzfristiges Ausnutzen von Kursdifferenzen durch fundamentalwertneutrale ArbitrageGeschäfte oder eine nicht ausschließliche Orientierung an kurzfristiger Gewinnmaximierung zugunsten stärkerer Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten. Dabei spielen unterschiedliche Zeithorizonte wieder eine maßgebliche Rolle, die sich in dynamisch-prozessorientierten Marktmodellen besser abbilden lassen als in verhältnismäßig statisch fundamentalwertbezogenen. Dass der Prozess kompetitiver Marktpreisfindung bestimmten ökonomischen Modellen mehr oder minder vollkommen entspricht, begegnet auch insofern Bedenken, als schon die Markteffizienz in der halbstrengen (nicht auf alle, nur auf öffentlich zugängliche Informationen bezogenen) Variante der ECMH nicht zweifelsfrei ist, da ansonsten alle öffentlichen Informationen durch entsprechende Einpreisung sogleich und derart verarbeitet würden, dass Marktpreise sich in keinen längeren „Ungleichgewichtslagen“ be62 Gegen jede Festlegung auf ein theoretisches Modell Langenbucher AG 2016, 417 (419). 63 So kann bei (rationalen wie irrationalen) Verhaltens- und Handelsmustern schon durch Gebrauch u. Bekanntwerden „Verbrauch“ oder Eindämmung eintreten, wie kurzfristig bei Informationen durch Einpreisung, wenn auch kaum vollständig – was bei behaupteter Beseitigung von Fehlbewertungen durch Arbitrage (De Long/Shleifer/Summers/ Waldmann 98 J. Pol. Econ. (1990), 703, 704) aber de facto auch nicht der Fall ist (zu den limits of arbitrage Fn. 55 oben).
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wegen könnten, es zu erosionsartigen Kurskorrekturen gar nicht kommen dürfte. Andererseits berücksichtigt das „Marktwissen“ der Marktpreise neben Signalen markttäuschenden Manipulationsverhaltens zweifellos auch Insiderwissen, wenngleich ebenso zweifelsfrei nicht jedes (d.h. nicht alle nicht öffentlichen Informationen iSd. strengen ECMH-Variante), da sich nicht jeder Insider auch illegal verhält. Tatsächliche Markteffizienz wäre mithin sowohl unter- als auch oberhalb der halbstrengen ECMH-Variante einzusortieren – und passt so richtig in keine von beiden.64 Stellt der Markt aber einen kompetitiven Prozess um Preisbewertungsfaktoren von Erwartungen dar, spielen diese Erwartungen rational (mit-) begründende Verhaltensmuster, durch Algorithmen ermittelte Strukturzusammenhänge und Handelsmuster oder „technische Marktverfassungen“ ebenso eine Rolle, wie verschiedene Bewertungsmethoden samt ihrer rechtlichen Vorgaben durch Wahlrechte und Bewertungsspielräume (im Allgemeinen wie im Besonderen, hier v.a. bei immateriellen Werten), Nachhaltigkeitsstrategien, Marktverhaltens- wie Bewertungsänderungen bewirkende sustainable finance65 uvm. Welche Bedeutung aber hätten damit verbundene fundamentalwertbezogene Bedeutungsverluste für die Praxis? Eine fatale, dürfte die vorhersehbare Antwort lauten. Doch weniger fatal als überschaubar sind die Konsequenzen erst einmal nur für bestimmte Marktteilnehmer wie Emittenten und den Umfang ihrer Publizitätspflichten, nicht für ihnen dabei vermeintlich in die Quere kommende (un)verständige Anleger, die es als solche nicht gibt und die folglich auch nicht mit Blick auf Kopplungen kursrelevanter Unternehmensinformationen mit (anlassbezogenen) Publikationspflichten zur „informationellen Raison“ zurückhaltenderer Neugier gebracht werden müssten. Notwendig ist vielmehr eine bessere Unterscheidung zwischen gleichberechtigtem Informationszugang und überhaupt zulässigem Informationsanspruch, den schon das Gesetz selbst, wenn auch nicht gerade hinreichend, „vorgespurt“ hat: mit der Kursspezifität als „Vorfilter“, der (erheblichen) Kursrelevanz, legitimen Handlungen als (nicht vage, sondern recht genau beschriebenen) legislativen Ausnahmen – und der Möglichkeit der Selbstbefreiung.66
64 Gegen ein Monopol fundamentalwertbezogener Erwartungsbewertungen spricht auch die nicht mehr fundamentalwertbezogene Beurteilung der Kursrelevanz als Erwartungswert in Fällen handelsbezogener Informationen (dazu Klöhn MAR, Art. 7 Rn. 290 ff., 301; zu Kursrelevanz und Fundamentalwert als Erwartungswerten: Rn. 205, 192, zur Kursrelevanz nur fundamentalwertbezogener Informationen: Rn. 282 ff., 272), eine Differenzierung, die gewiss Sinn macht, einheitliche Markterklärungen aber auch auf die Probe stellt. 65 Hier zeigen sich Veränderungen gleich von zwei Seiten: iR. geänderten Marktverhaltens im Vorfeld von Rechtsänderungen und iRd. rechtlicher Bewertung. 66 Dazu VII.
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VII. Der verständige Anleger als regulatorischer Entsorgungsfall de lege ferenda Die berechtigten Einwände dagegen (nicht funktionierende Selbstbefreiungen infolge lancierter Marktgerüchte, fehlende Rechtssicherheit, rechtssystematische Widersprüchlichkeiten, zu viele unbestimmte Rechtsbegriffe usw.) sind leicht vorbringen, gehören richtigerweise aber an den Herd ihrer Ursachen: Funktionierende Selbstbefreiungen als einer Art nachgelagerter „Information light“67 könnten durch klarere Normierungen und praktikablere Regeln der Unternehmenssphärenabgrenzung (anstelle einer luftigen Trias aus berechtigtem Interesse, keiner Irreführung und Vertraulichkeitswahrung) Gefahren ausufernder Unternehmenspublizität schon weitgehend steuern. Die recht präzisen Beschreibungen legitimer Handlungen in § 9 MAR als Equal-access-Durchbrechungen und Legalausnahmen von der Spector-Vermutung des § 8 I MAR68 mit ihrer impliziten Interessenabwägung zwischen allgemeinem Marktinteresse an gleichberechtigtem Informationszugang und Funktionsinteressen der Marktteilnehmer (die letztlich auch im Markt- und Investoreninteresse selbst liegen) könnten die Richtung vorgeben, und besser erkennbare Unterscheidungen zwischen gleichberechtigtem Informationszugang und überhaupt zulässigem Informationsanspruch – durch einen vor- oder nachgelagerten Schutz normierter Emittenteninteressen, z.B. vor „unfertiger“ Information (unripe information), Beeinträchtigungen von Geschäftschancen, Geschäftszwecken, lfd. Verhandlungen usw.69 – ein Übriges tun. Dann würde auch die Behelfsperspektive „verständiger Anleger“ entbehrlich, die in der Praxis nur wie eine „Blackbox“ wirkt, aus dem, wie das Kaninchen aus dem Hut, das Gewünschte beliebig hervorgezogen werden kann – ein Hut, der wie bei seinen außerjuristischen Kunststückfabrikanten nie so ganz leer ist, sondern das Kaninchen immer schon irgendwie enthält. Europäische Entwicklungen in mittlerweile vielen Bereichen des Kapitalmarktrechts,70 die mit ihrem Übergang von vagen Etikettierungen zu besseren Regulierungen ohne derart schillernde Begrifflichkeiten auskommen, sie vielmehr praktikabel durch klare Tatbestandsvoraussetzungen ersetzen, könnten de lege ferenda auch hier die Richtung vorgeben. Dann wäre der verständigste „verständige Anleger“ vielleicht einmal der verschwundene „verständige Anleger“. 67 Zur „information light“ Veil/Brüggemeier in Meyer/Veil/Rönnau HdB MarktmissbrauchsR, § 10 Rn. 42 Fn. 95. 68 Eingehend Klöhn ZBB 2017, 261. 69 Entweder durch Legalausnahmen von Kursrelevanz/Kursspezifität oder durch Selbstbefreiung; dazu (insb. rechtsvergleichend) Oesterle 20 Cardozo L. Rev. 135, 138 ff., 165 ff. (1998); Ph. Steinrück Das Interesse des Kapitalmarkts am Aufschub der Ad-hoc-Publizität, 2018, 75 ff.; Klöhn ZHR 178 (2014), 55, 58 ff. 70 S. II.
Der Aufsichtsrat der AG – ein überfordertes Unternehmensorgan?
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Der Aufsichtsrat der AG – ein überfordertes Unternehmensorgan? Harm Peter Westermann
Der Aufsichtsrat der AG – ein überfordertes Unternehmensorgan? HARM PETER WESTERMANN
I. Fragestellung Die Überschrift des folgenden Beitrags klingt ein wenig nach einer Provokation für jeden, der weiß und die entsprechende Übersicht über das riesige1 gesellschaftsrechtliche Schrifttum hat, welches ihm belegt, dass und wie eindeutig der Aufsichtsrat im Zentrum juristischer und wirtschaftlicher Überlegungen, vieler Gerichtsurteile und mancher Reformbestrebungen steht und schon lange gestanden hat.2 Grundsätzlich kritische, auch den nach vielen Reformschritten erreichten Gesetzeszustand für überholt und stark änderungsbedürftig erklärende Äußerungen, kürzlich die eines bekannten Aufsichtsratsvorsitzenden eines Groß-Unternehmens,3 können aber dem Wissenschaftler – auch wenn er selber Erfahrungen mit der Aufsichtsratstätigkeit und sogar dem Vorsitz in einem Aufsichtsrat hat4 – nicht ganz die Scheu nehmen, die Frage nach der Erfüllbarkeit der in letzter Zeit stark gestiegenen Aufgaben des AG-Aufsichtsrats5 und sogar nach der Zumutbarkeit der ebenfalls gestiegenen Haftungsrisiken6 in einen Beitrag für eine Jubilarin zu stellen, die in ihrem bekannten maßstäblichen Lehrbuch des Gesellschaftsrechts schreibt, dass das Verhältnis von Vorstand und Auf1 Im Großk. zum AktG von Hopt und Roth findet sich etwa vor § 111 ein Schriftenverzeichnis auf 35 Druckseiten, jede Seite umfasst ca. 50 Titel. Ähnliches vor § 116 (28 Seiten). 2 Letzte, von Rechtsvergleichung und Entstehungsgeschichte ausgehende Schilderung im großen Aufsatz von Hopt ZGR 2019, 507 ff. 3 Kley AG 2018, 818 ff. besonders konzentriert auf Störungen durch die Aufteilungen der Arbeit auf Ausschüsse. 4 Der Verfasser war Aufsichtsratsmitglied und Vorsitzender bei einem Versicherungsunternehmen, dessen Vorgänger-Aufsichtsrat in einem bekannt gewordenen BGH-Urteil kritisiert wurde, sowie in einer Familien-AG der Baubranche mit zwei gleich starken Familienstämmen, ferner Aufsichtsrat und Beiratsmitglied bei einer WirtschaftsprüfungsGmbH. 5 Dazu Hopt aaO Fn. 2; mit Blick auf das „Rätsel“ Maximalvergütung der Vorstandsmitglieder unter Hinweis auf eine „Gretaisierung des AktG“ hinweisend Mutter Aufsichtsrat 2020, 10. 6 Dazu Windbichler Lehrbuch des Gesellschaftsrechts, 24. Aufl., 2017, 322.
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sichtsrat nicht allein durch die rechtliche Regelung geprägt ist, wovon die – zweifelhafte – Leistungsfähigkeit zusammenwirkender dominierender Persönlichkeiten in Gestalt des Aufsichtsrats- und des Vorstandsvorsitzenden beeinflusst sein könnte7, was also auf ein von Menschen, ihren persönlichen Erfahrungen und ihrer Dursetzungsstärke bestimmtes spezielles Ordnungssystem hindeutet. Dass die diesbezügliche Einschätzung einer Legalordnung offenbar, wie zahlreiche gründliche rechtsvergleichende Arbeiten zeigen8, zwischen dem dualen, Vorstand und Aufsichtsrat nebeneinander stellenden, und andererseits dem monistischen, auf einen board mit geschäftsführenden und kontrollierenden Mitgliedern gestützten Verfassungen keine allzu großen Unterschiede zu begründen scheint, liegt, wie es wiederum die Jubilarin ausgedrückt hat9, an der „Rechtskultur“, die aber nicht an der „Pfadabhängigkeit“ der einzelner Problemlösungen10 vorbeiführt, so dass die praktisch befriedigende Lösbarkeit einzelner Streitpunkte zum Kriterium der grundsätzlichen – ablehnenden, sympathisierenden oder nur Verbesserung fordernden – Einstellung zu dem Rechtsinstitut „AG-Aufsichtsrat“ werden kann. Wie die fast unübersehbare Literatur in Fachzeitschriften, zum Aufsichtsrat, ferner der Widerhall in Fest- und Gedächtnisschriften11 zeigen, handelt es sich hier um ein Element unseres Kapitalgesellschaftsrecht, vergleichbar mit den Prinzipien der effektiven Kapitalaufbringung und der Kapitalerhaltung, das schon allein im Hinblick auf die vielschichtige, die Planung, die Durchführung und Realitätsnähe geplanter Strategien und die Beachtung aller rechtlichen und wirtschaftlichen Risiken durch den Vorstand und die von ihm zu kontrollierenden nachgeordneten Mitarbeiter zusammengesetzte Arbeitswelt des Aufsichtsrats schon aus Gründen der Arbeitsökonomie die Überlegung rechtfertigt, ob man aus dem Thema im Interesse alltäglicher Problembewältigung nicht doch ein wenig Luft herauslassen sollte. Ob der Aufsichtsrat einer AG, jedenfalls einer Publikums-AG eine klar definierte Stelle und Rolle im Unternehmensalltag, auch bei nicht alltäglichen, etwa unternehmens-strukturellen Entscheidungen hat, ist eine Frage, die nichts an der Überzeugung ändern sollte, dass neben dem weitgehend selbständigen und weisungsunabhängigen Geschäftsführungsorgan ein weiteres mit den Geschäftsführern die Macht teilendes Organ benötigt wird – das private Gesellschaftsrecht strebt generell Ordnungen an, die Entscheidungskompetenzen und die Verantwortung gegenüber innergesellschaftlichen Partnern und dem Rechtsverkehr ausbalancieren. Das ist durchweg im deutschen Recht gut gelungen, ist aber bei der AG im Hinblick auf den Vor7
Auch hierzu Windbichler aaO, 322. Nachweise bei Hopt aaO Fn. 2. 9 Lehrbuch des Gesellschaftsrechts, 280 unter Hinweis auf Windbichler JZ 2008, 845. 10 Hopt ZGR 2019, 507, 518 ff. 11 Dazu kürzlich Fleischer NZG 2019, 1241. 8
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stand, dem Aufsichtsrat und die Hauptversammlung – und das alles vor dem Kapitalmarkt und der Gerichtsöffentlichkeit – nicht ganz so zweifelsfrei ausgebaut, dass einzelne Beteiligte nicht doch öfter als Regel-Ausleger fungieren müssen, wobei sie durch hohe Komplexität des Umfelds einer anzuwendenden Regel überfordert sein können. Der Jurist, der dem Rechnung tragen will, sollte sich nicht mit der Zuweisung von Aufgaben, Teilhaberechten und Haftungsrisiken begnügen, sondern muss stets überlegen, ob die in diesem Rahmen erhobenen Forderungen des Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts erfüllbar sind und ihre strikte Beachtung den Gremien und ihren natürlichen Mitgliedern zumutbar ist; das ist, um es mit dem vorherigen Zitat der Jubilarin zu sagen, ein wichtiger Teil der kulturellen Dimension unserer Unternehmensverfassung.
II. Das zwiespältige Aufgabenfeld des Aufsichtsrats 1. Ein gesetzliches Modell einer Unternehmensverfassung kann die Vielfältigkeit selbst der einem bestimmten „Pfad“ folgenden Einzelregelungen und Anwendungsfragen nicht restlos bewältigen, aber es gibt doch einige im Ansatz modell-übergreifende Ausgangsbestimmungen; wie jeder weiss, ist hiermit das Verhältnis von Aufsicht (Kontrolle), Beratung und Mitentscheidung angesprochen. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass die Überwachungsaufgabe sich nicht allein auf bereits abgeschlossene Sachverhalte bezieht, sondern auch auf geplante, auch schon praktisch in Angriff genommene Maßnahmen12. Eine solche „prospektive Überwachung“ mündet schon in eine Beratungspflicht und -funktion, für die aber manchmal zu überlegen ist, ob sie sich in vollem Umfang, vielleicht sogar im selben Ausmaß wie beim Vorstand, auf die Zweckmäßigkeit, die Rechtmäßigkeit und die personelle und wirtschaftliche Durchführbarkeit einer Aktion richtet13. Die Trennschärfe der zu den Folgerungen aus dem Gesetzestext, hauptsächlich aus §§ 90 Abs. 1, 91 Abs. 2, entnommenen begrifflichen Erfassungen des Prüfungsgegenstandes und der Prüfungsmaßstäbe wird manchmal bezweifelt14. Das verwundert nicht, wenn man unter der „Ordnungsmäßigkeit“ nicht selbstverständlich auch die Legalität und die Einhaltung von nicht nur im Gesetz, etwa auch vom DCGK oder von den CSR aufgegriffenen Com12 BGHZ 114, 127, 130; Simon in FS Seibert, 2019, 847 ff.; Lutter/Krieger/Verse Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rn. 103; Hopt ZGR 2019, 523; etwas anders Habersack in MünchKomm AktG, § 116 Rn. 18 ff. 13 Auch dazu Simon in FS Seibert 2019, 849 f.; zur Zweckmäßigkeit Lutter/Krieger/ Verse, Rn. 90. 14 Simon aaO., 849 unter Hinweis auf Hopt/Roth AktG, § 111 Rn. 295.
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pliance-Forderungen versteht und insoweit auch deren juristische Aspekte heranzieht. Dies ist für eine zukunftsgerichtete Überwachung der Auswirkungen der Vorstandspläne und ins Werk gesetzten Maßnahmen auf Liquidität, Rentabilität und Planungskonformität nicht ohne Weiteres anzunehmen, abgesehen von der tatsächlichen Abhängigkeit der Überwachungsmöglichkeiten vom Inhalt der Vorstandsberichte und von der Zubilligung eines Ermessensspielraums für die Aufsichtsratsentscheidungen15 Die in der wissenschaftlichen Literatur genannten Rechtsregeln, deren Einhaltung durch den Vorstand und schlechthin „das Unternehmen“ durch den Aufsichtsrat zu kontrollieren seien, sind nicht generell nur im AktG einschließlich des Rechts der verbundenen Unternehmen zu finden, sondern gehören auch zum Kartell- und Wettbewerbsrecht, zum Bilanz- und Steuerrecht, zum KreditwesenG und sicher zum Insolvenzrecht, in allen diesen Bereichen müssen bei entsprechender Ausdehnung der Unternehmenstätigkeit auch ausländische Normen beachtet werden16, somit auch das in zunehmend weltweiten Aktivitäten ausgebaute Umweltrecht17, ganz zu schweigen vom Arbeitsrecht und den von ihm ausgehenden Einflüssen auf das Ansehen des Unternehmens. Zumindest um ein publik gewordenes Vorhaben, dass das „Tierwohl“ und damit die Reputation des Unternehmens gefährden könnte, wird sich neben dem Aufsichtsrat auch der von ihm gecharterte juristische Berater, wenn er nicht seinerseits seinen Ruf aufs Spiel setzen will, kümmern müssen. Selbst wenn man solche Überwachungspflichten stets auf die Wirtschaftlichkeit des gesamten Unternehmens und nicht nur einzelner Sachverhalte bezieht18, ist nicht daran vorbeizukommen, dass ein aus nebenamtlich tätigen und in ihrem Hauptberuf nicht immer auf diese Anforderungen genügend vorbereiteten Mitgliedern bestehendes Gremium nur sehr schwer imstande sein wird, einem erfahrenen und bislang erfolgreichen Vorstand (oder einzelnen seiner Mitglieder) mehr als nur mit allgemeinen Wendungen Ratschläge für angelaufene oder auch – vielleicht sogar für eine nähere Zukunft – geplante Maßnahmen zu geben oder ihm Grenzen seiner Entscheidung zu setzen, ohne sich dabei außerhalb der ihm selbst gesetzten Grenzen zu bewegen. Die Lektüre der sehr zahlreichen literarischen Schilderungen der Aufgaben des Aufsichtsrates, also seiner Überwachung des an sich eigenverantwortlich handelnden Vorstands unter sorgfältiger, neugieriger, auf Planmäßigkeit der Handlungen und Ergebnisse, aber auch auf die Realitätsnähe von Erwartungen und Prognosen achtende Analyse und Bewertung des Geschehenen ist ebenso eindrucksvoll wie furchterregend, wenn man einfach nur 15
Auch dazu Simon, 850; zu den Maßstäben weiter Hüffer/Koch AktG, § 93 Rn. 8. Eindrucksvolle Zusammenstellung bei Hopt/Roth AktG, § 111 Rn. 389, 290. 17 Lutter/Krieger/Verse, Rn. 74. 18 So Simon aaO., 851. 16
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liest, wie leicht sich manche Autoren mit der Zuweisung unternehmerischer Verantwortung an das Kontroll- und Überwachungsorgan bei Fehlern oder Missgeschick der Geschäftsführer tun. Die verbreiteten Urteile, der Aufsichtsrat müsse die Zahl seiner Sitzungen erhöhen oder notfalls auch eines seiner Mitglieder gemäß § 105 Abs. 2 AktG in den Vorstand delegieren,19 können wohl davon ausgehen, dass derartige Maßnahmen dem Vorstand zum Nachdenken und zur Vorsicht bewegen können, aber sie müssen nicht unbedingt zu unternehmerisch-sachlichen Verbesserungen der Entscheidungsvorbereitung führen, namentlich dann nicht, wenn die Aufsichtsratsmitglieder nach Herkunft, praktischen Erfahrungen und etwaigen Interessenbindungen nicht immer monolithisch entscheiden. Die individuellen Schwierigkeiten können auch durch die Unterschiede im InformationsNiveau und in der für den Umgang mit Berichten und Akten verfügbaren Zeit begründet sein. 2. Das rückt die Frage nach den Möglichkeiten eigener Information des Aufsichtsrats, also durch die Berichterstattung des Vorstands, durch direkte Kontakte mit (zumindest leitenden) Mitarbeitern und außenstehenden Beratern in den Vordergrund. Sie beeinflusst auch das Gesprächsklima mit dem Vorstand, wobei allerdings nicht unumstritten ist, dass dem Aufsichtsrat ein anhaltendes Misstrauen gegenüber dem Vorstand zu empfehlen sei20, was schon die heute offenbar ziemlich häufige Praxis bei der Aufnahme von claw-back-Klauseln in die Regelung der Vorstandsvergütung21 nicht gut vertragen wird. Man wird angesichts der Rekrutierungspraxis für Aufsichtsräte und Vorstände, die ja durch die zunehmende Bedeutung des Geschlechterproporzes im Vorstand und auf der Leitungsebene nicht vereinfacht wird, wohl auch einsehen müssen, dass „Beratung“ der anderen Seite nicht nur vom Aufsichtsrat an den Vorstand, sondern auch umgekehrt gefragt werden kann und gelegentlich sein muss. Da aber gewöhnlich doch noch ein Informationsabstand zwischen den beiden Organen bestehen wird, ist eine der hauptsächlichen Aufgaben der Organverfassung in der AG die Gewährleistung hinlänglicher Information über die Vorgänge im Unternehmen, ohne die eine effektive, rückwärtsgerichtete und vor allem prospektive Überwachung und Beratung nicht möglich ist. Zentral wichtig sind somit die in § 90 AktG geregelten Berichtspflichten des Vorstands und die Rechte des Aufsichtsrats, sich gem. § 111 Abs. 2 AktG aus Büchern und Schriften der Gesellschaft sowie aus einzelnen Vorgängen selbstständig zu informieren. Allerdings ist nicht vollständig klar, ob wirklich, wie es der BGH verlangt, alle 19
Lutter/Krieger/Verse, § 3 Rn. 95. So wiederum Simon aaO., 851 (das sogen. Konzept gestufter Überwachungspflicht). 21 Dazu eingehend Poelzig NZG 2020, 41; Mutter Der Aufsichtsrat 2020, 101. 20
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verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art ausgeschöpft werden müssen22, wobei aber erschwerend hinzukommt, dass die bloße Aufbereitung von Gegebenheiten durch den Informierenden und die Kompetenz und Erfahrung des Informierten in Bezug auf die Bewertung von Tatsachen- und Rechtsaussagen so bedeutende Unterschiede in der Handhabung von Einzelfällen begründen können, dass für alle Beteiligten nachvollziehbare Maßstäbe für Handlungen, Pläne und Ergebnisse oft kaum herauskommen können. Ob und inwieweit durch eine sogen. vorstandsunabhängige Information durch die Belegschaft des Unternehmens, namentlich durch die internen Revisionseinrichtungen, ferner durch die Zuziehung von Sachverständigen und Prüfungs-Unternehmen, ein an Perfektion grenzender Zustand erreicht werden kann, ohne dass störende Umstände auftreten oder der Verdacht entsteht, ein hier etwas zurückhaltender Vorstand wolle durch gezielte Auswahl der dem Aufsichtsrat mitgeteilten Informationen die Überwachung faktisch ausschalten oder etwas bremsen23, kann kaum anders als ganz einzelfallabhängig, praktisch am ehesten in Ansehung zurückliegender und in den Ergebnissen bekannter Entscheidungen beurteilt werden. Auch hier kann es offenbar leicht zu überzogenen Ansprüchen kommen. Wenn man es verliest, ein Aufsichtsratsmitglied, das seine Untätigkeit bezüglich eines bei genügend intensiver Information wohl offensichtlichen das Risiko-Aspekts mit dem Satz begründet, das habe er nicht gewusst, werde damit vor Gericht nicht gehört werden24, muss man überlegen, ob hier nicht eine probatio diabolicha die für Aufsichtsräte in manchen Punkten anerkannten business judgment rule glatt überspielt. 3. Um es rundheraus zu fragen: Ist prospektive Überwachung durch denjenigen, der die Entscheidung nicht trifft und nicht treffen kann, wenn er nicht von der doch als Ausnahme gedachten Möglichkeit Gebrauch macht, einen Zustimmungsvorbehalt nach AktG zu schaffen, mehr als ein Wunschbild und jedenfalls ein Fortschritt?25 Wenn man die Realisierung wünscht und für möglich hält, muss man freilich auch darüber nachdenken, ob dies für das unabhängig und sogar eigenständig26 urteilende Aufsichtsratsmitglieder angesichts 22 BGH ZIP 2008, 1675 (zur GmbH), zur AG BGHZ 197, 304 – als „Überzogen“ bezeichnet von Hopt ZGR 2019, 328; Lieder ZGR 2018, 523, 555. 23 Ähnlich einmal der BGH AG 2018, 436. 24 Lutter/Kriegr/Verse, § 3 Rn. 91 – man denke etwa an Vorkommnisse wie eine CSRVerletzung in einem auch ausländischen Unternehmen umfassenden „Lieferkette“. 25 Näher hierzu Simon in FS Seibert, zum Fortschrittsdenken in der Rechtswissenschaft H.P. Westermann NJW 1997, 1 ff. 26 Zur Problematik „eigenständiger“ (anders als unabhängiger) Fallbeurteilung durch Aufsichtsratsmitglieder H.P. Westermann in FS Hommelhoff, 2012, 1319 ff.; zum Ausdruck auch Israel in Bürgers/Körber AktG, § 111 Rn. 29.
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der verhältnismäßig scharfen Haftungsmaßstäbe zumutbar ist. Das wäre zu bejahen, wenn man dem Aufsichtsrat zumindest ein gewisses Entscheidungsermessen zubilligen könnte – das aber ist inzwischen ein ähnlicher Stolperstein wie die vorstandsunabhängige Information, bisher hauptsächlich erörtert im Hinblick auf Entscheidungen konfliktbefangener Aufsichtsratsmitglieder und besonders im Hinblick auf die umstrittenen related parties transactions27, aber doch auch als Element der zukunftsgerichteten Überwachung28. An sich ist angesichts der Qualifikation präventiver Kontrolle und weiterer Entwicklungen wie etwa der Erteilung einer Zustimmung zu Einzelmaßnahmen als unternehmerischer Tätigkeit die analoge Anwendung des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG im Rahmen des § 116 nicht zu bestreiten, sie ist allerdings nicht passend für die Legalitätskontrollplicht. In der Nähe eines Menschenbildes des nebenamtlich handelnden und womöglich auch als Repräsentant unternehmens-externer Interessen entscheidenden Aufsichtsratsmitglieds befindet man sich wohl auch, wenn man auch die nachträgliche Überwachung doch noch als Beurteilung der Vertretbarkeit des Vorstandshandelns qualifiziert29. Die Entwicklung der Unternehmensverfassung scheint auch insoweit noch nicht endgültig übersehbar; der Aufsichtsrat, der im Hinblick auf seine Verantwortung und Haftung sicher gehen möchte, namentlich in Ansehung der in der Öffentlichkeit ständig wiederholten und verschärften Versagensvorwürfe und ihrer haftungsrechtlichen Folgen, wird hier und heute einen safe harbour kaum vorfinden. Das dürfte dann auch für die Anwendung (oder Nichtanwendung) von Zustimmungsvorbehalten und vielleicht sogar für die ebenfalls schwierigen, viel beachteten, aber auch heiklen Entscheidungen in der „Personalpolitik“ gelten, auf die dann hier noch einzugehen sein wird (unten III). 4. Im Zusammenhang mit den unternehmerischen Aspekten und möglichen Anfechtungen des Aufsichtsrats ist vorher noch auf die Bedeutung eines vom Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 4 S. 2 AktG begründeten Zustimmungsvorbehalts einzugehen, die angesichts der relativen Dürftigkeit der gesetzlichen Regelung einige Klärungen erfordert, um die sich in einem Urteil vom Sommer 2018 auch der BGH bemüht hat30. Im entschiedenen Fall ging es um die Haftung des ehemaligen Alleinvorstands einer AG, der für die Sanierung eines von der Gesellschaft zu erwerbenden Schloss-Grundstücks einen Geldbetrag von unge27 Näher Reichert in FS E. Vetter, 2019, 597, 606 ff.; ZGR 2019 507, 536, Hopt ZGR 2019, 507 f. 28 Cahn WM 2013, 1293; Simon in FS Seibert, 850; Hüffer/Koch AktG, § 116; eingehend Hopt/Roth GrossK AktG § 116 Rn. 66 ff., zur präventiven Überwachung dort Rn. 67. 29 Zögernd Hopt/Roth aaO., Rn. 68. 30 AktZ II ZR241/17 NZG 2018, 189 (Schloss Eller), dazu Priester EWIR 2018, 645; Fleischer BB 2018, 2619; Haarmann BB 2018, 2550; Schäfer in FS E. Vetter, 2019, 645 ff.
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fähr 4 Mio Euro angesetzt hatte, wofür er nach der Satzung, wenn die Kosten 200.000 Euro überschreiten würden, die Zustimmung des Aufsichtsrats brauchte, die auch erteilt wurde. Indessen stiegen nun bald danach die geschätzten Kosten stark an, was den Vorstand aber nicht hinderte, mit der bisherigen Eignerin des Geländes einen Erbbauvertrag über das Objekt über 50 Jahre abzuschließen und für eine Sanierung 3Mio aufzuwenden, wozu der Aufsichtsrat nicht gefragt wurde; allerdings hatte der Aufsichtsratsvorsitzende sein Einverständnis signalisiert. Der BGH ging davon aus, dass die erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats ausdrücklich vor der Durchführung des Geschäfts hätte erteilt werden müssen, also als Einwilligung im Zuge präventiver Kontrolle und nicht als (nachträgliche) Genehmigung,31 und zwar durch das Gesamtorgan. Danach hatte der Vorstand pflichtwidrig gehandelt, der BGH hielt ihm aber zugute, dass der Aufsichtsrat, wäre er korrekterweise gefragt worden, die Zustimmung erteilt haben würde (Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens),32 für den in der Tat spricht, dass die Zustimmung des Aufsichtsratsvorsitzenden ein Indiz für eine dem folgende Entscheidung des Gesamtorgans darstellen kann. Die Anforderungen an diesen Beweis dürfen allerdings nicht zu leicht sein, sie setzen insbesondere voraus, dass die später durchgeführte Investition nicht wesentlich von dem Programm abweicht, dem der Aufsichtsrat zugestimmt hat, wobei natürlich auch die Entstehungsgeschichte des zuvor gefassten Zustimmungsbeschlusses zu würdigen ist. Als Bedenken kann diesem Einwand der Umstand entgegengesetzt werden, dass – wie es sich im Fall des BGH auch tatsächlich verhielt – der Aufsichtsratsvorsitzende bei seiner Einverständniserklärung kraft seiner Befugnis zum Handeln im Interesse des Alleinaktionärs tätig wurde,33 was auf die mögliche Hypothese einer Zustimmung der Hauptversammlung zielt.34 Das Risiko des Vorstands, das sich im Übrigen allenfalls bei unumgänglichen Eilentscheidungen verringert,35 ist also nicht gering zu achten, der Aufsichtsrat darf es, um Schwächen der eigenen Position zu vermeiden, jedenfalls nicht bewusst auf solche Fragestellungen ankommen lassen, was freilich durch die Maßgeblichkeit der (hypothetischen) Entscheidung eines verantwortlich handelnden abstrakten Aufsichtsrats36 kaum zu begründen ist.
31 Zu den bürgerlich-rechtlichen Unterschieden mit Blick auf § 112 AktG Schäfer in FS Vetter, 2019, 647 ff. 32 Hierzu generell zu Fragen der Organhaftung Haarmann in FS Marsch/Barmer, 2018, 138 ff.; speziell für die AG Krieger in FS Seibert, 2019, 511 ff. 33 Auf den Verdacht einer Treuwidrigkeit weist hier Schäfer, 652 hin, dort auf 657 ff. auch zum Gesichtspunkt der wesentlichen Abweichung. 34 Koch in FS Köndgen, 2016, 329, 343 ff.; Hüffer/Koch AktG, § 93 Rn. 501; dagegen aber Krieger in FS Seibert, 2019, 570. 35 Auch dazu Schäfer aaO., 650 ff. 36 Auch dazu Schäfer ebenda.
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Den einigermaßen praxis-erfahrenen Rechtsanwender wird das kleine Zwischenfazit nicht überraschen, dass alle Beteiligten, also Aufsichtsräte, Vorstände und ihre jeweiligen Vorsitzenden, sich in diesem Fragenkreis auf einem gefährlichen Gelände bewegen (versari in re illicta), was aber nicht heißen sollte, dass der Verantwortung nicht ausgewichen werden könnte. Manche Aspekte der hier gebotenen rechtlichen Subsumtion können beide Gremien überfordern, sodass eine gemeinsame Beratung durch Fachleute (in den gewöhnlichen Grenzen) eine Lösung bieten könnte. Auf der anderen Seite sollte es nicht allzu schwierig sein, im Verfahren um die Erteilung einer satzungsmäßig oder durch Aufsichtsratsbeschluss vorgeschriebenen Zustimmung die Entscheidungskriterien offenzulegen. 5. Während in diesem Zusammenhang die Vorgaben für die Entscheidungen des Aufsichtsrats zwar vom Gesetzgeber stammen, aber von Einschätzungen der diesbezüglichen Voraussagen und Prognosen durch die heute entscheidenden Personen beeinflusst sind, gibt es an anderer Stelle des Pflichtenprogramms des Organs zwar bindende rechtliche Zuweisungen und Pflichten, die aber nicht ohne ernst zu nehmende Rücksichtnahme auf das „Unternehmenswohl“ und damit eine einzelfallbezogene Interessenabwägung erfüllt werden können, unter denen die Zubilligung eines Beurteilungsspielraums oder die Anwendung der business judgment rule herausragen. Für die Aufsichtsräte einer AG ist dies bekanntlich vor allem in den praktisch zentral wichtigen und unter hohem Publizitätsdruck zu treffenden Entscheidungen über eine Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern wegen das Unternehmen schädigender Pflichtverletzungen nach §§ 93, 111 Abs. 1, 112 AktG relevant. Dieser nach der sogn. ARAG-Garmen beckEntscheidung des BGH37 lebhaft diskutierte38 und in den Grundsätzen bis heute nicht völlig unstreitige Fall zeigte allerdings, wie im Schrifttum auch bemerkt wurde39, die Hintergrund-Problematik nicht in allen Punkten. Es ging um die Beurteilung des von einigen Aufsichtsratsmitgliedern beanstandeten Verhaltens des Finanzvorstands und des nach Ansicht dreier Aufsichtsratsmitglieder zu verklagenden Vorstandsvorsitzenden der AG, im Zusammenhang mit der Teilnahme an einem von einem nicht gut beleumundeten Unternehmer betriebenem Schneeballsystem mit einem auch für die Verhältnisse der AG sehr hohen Geldbetrag, mit der Folge des völligen Verlusts der aufgewendeten Gelder. Der Aufsichtsrat hatte es abgelehnt, den 37
BGHZ 135, 244, 252 = NJW 1997, 1926; später ähnlich BGHZ 202, 26; 180, 9. Reichert ZIP 2016, 1189; ders. in FS Hommelhoff, 2012, 907 ff.; Grooterhorst ZIP 1996, 1117; Habersack NZG 2016, 321; Fassbender NZG 2018, 501. 39 Reichert ZIP 2016, 1190. 38
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Vorstandsvorsitzenden in Anspruch zu nehmen, diesen Beschluss fochten in der Minderheit gebliebene Kläger an, in erster Instanz mit Erfolg, sie waren aber in der Berufungsinstanz unterlegen. Der BGH brauchte anders als die Berufungsinstanz nicht viel über die rechtliche Würdigung des unternehmerischen Verhaltens des Vorstands zu sagen, die ja auch klar war, gab aber der Klage statt, weil er von einer Pflicht des Aufsichtsrats zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Inanspruchnahme des schuldigen Vorstandsvorsitzenden ausging, wobei er die Einstellung des OLG verwarf, in derartigen Situationen stehe dem Aufsichtsrat ein Beurteilungsspielraum bezüglich denkbarer der Klage entgegenstehenden Gesichtspunkte und eine „Entscheidungsprärogative“ zur Beurteilung dieser Umstände durch ein Gericht zu. Die im Schrifttum zum Urteil erwähnte, für den Beschluss mitursächliche Schonung des Vorstands aus „freundschaftlicher oder familiärer Verbundenheit“40 erwähnte der BGH nicht, obwohl sicher klar war, dass die Meinungsverschiedenheiten im Aufsichtsrat durch die Verbindung seiner Mitglieder zu der einen oder anderen Eigner-Familie mit verursacht waren. Hiermit befasst sich verständlicherweise auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem ARAG-Urteil nicht näher. Die dabei aufgekommenen Fragen zur Pflichtenstellung des Kontrollorgans scheinen sich hier auch nicht auf die Problematik der prospektiven Überwachung zu beziehen, wohl aber auf die Frage, ob wirklich, um über die Verantwortlichkeit des Vorstandes entscheiden zu können, alle tatsächlichen und rechtlichen Informationen bis zum letzten ausgeschöpft werden müssen.41 In den Mittelpunkt gehören jedenfalls die beiden wohl wichtigsten Einwände gegen die unbedenkliche Pflicht zur Klage gegen den Vorstand, nämlich der Zweifel, ob der verurteilte Beklagte auch nur annähernd imstande sein wird, seine Schuld zu begleichen, ferner, ob die Inanspruchnahme einer möglicherweise im Hause verdienten und außerhalb angesehenen Organperson, die seine wirtschaftliche Existenz bedrohen kann, das Betriebsklima wie die Reputation des Unternehmens gefährden und das Vertrauen der übrigen Mitglieder der Geschäftsführung auf das Verständnis des Aufsichtsrats für die Besonderheiten ihrer Situation verringern42. Das sind Erwägungen, die zum Unternehmenswohl schon in einer – losen – Verbindung stehen können (was der BGH auch nicht zum unabdingbaren Kriterium gemacht hat43); klarer ist aber das Unternehmensinteresse an einer zurückhaltenden Anspruchsverfolgung, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Gesellschaft wegen der Handlungen des Vorstands von dritter Seite in Anspruch genommen
40
Reichert ZIP 2016, 1189, 1190. So die kritische Deutung des BGH-Urteils durch Reichert aaO. 42 Auch dazu eingehend Reichert aaO., 1194 f.: – Ansehen von der Anspruchsdurchsetzung trotz Erfolgsaussichten. 43 Hinweis von Habersack NZG 2016, 323 r.Sp. 41
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werden könnte und der Schaden die Deckungssumme einer etwa vorhandenen D&O-Versicherung übersteigt44. 6. Hier erreichen die Ansprüche an die Tätigkeit und die Überlegungen des Aufsichtsrats eine neue Dimension. Man mag die Abschätzung der Folgen einer Schadensersatzklage gegen eines oder mehrere Vorstandsmitglieder für die Reputation des Unternehmens, das Betriebsklima und die Ersetzung des Betroffenen durch einen – noch zu suchenden – Nachfolger zur unternehmerischen Entscheidungssphäre rechnen, ohne daraus – so der BGH – schon einen Beurteilungsspielraum und ein Entschließungs-Ermessen ableiten zu müssen. Man muss aber doch sehen, dass die dem Gremium hier vorgegebene strikte Aufklärungs- und Klagepflicht mit ihren Ausnahmen von der Beurteilung schwieriger Rechtsfragen (man denke auch an die Verjährung45 der Ansprüche gegen den Vorstand wie auch diejenige der eigenen Haftung wegen Nicht-Geltendmachung dieses Anspruchs)46 und bis ins Atmosphärische hineinreichender Unternehmensfragen abhängen kann. Hinzu kommen u.U. auch prozessuale Hindernisse. Im ARAG-Fall war der BGH zur Klagepflicht des Aufsichtsrats im Rahmen des § 112 AktG gekommen, was aber erst der Anfang ist und gerade im Hinblick auf die vom BGH zugelassenen und auch den Instanzgerichten zur Prüfung aufgegebenen Ausnahmen Meinungsverschiedenheiten im Aufsichtsrat nicht ohne weiteres vorbeugt. Man weiß schließlich, dass ein Rechtsstreit innerhalb des Aufsichtsrats – auch vor dem Hintergrund der Verjährungsfrage, deren Ausweitung auf eine Art Kettenverjährung derzeit besonders problematisch erscheint,47 wenn es dabei um die Erzwingung einer Zustimmung zu einem Vorgehen gegen den Vorstand geht – sich leicht zu einem Verfahren mit unübersehbaren Ausgang entwickeln kann, da die gerichtliche Prüfung einer Zustimmungsverweigerung Klarheit im gesamten hier vorgestellten Komplex voraussetzen dürfte. Die Öffentlichkeit eines solchen Rechtsstreits, die durch ein Schiedsgerichtsverfahren innerhalb des Aufsichtsrats nicht leicht zu umgehen ist,48 gehört sicher zu den im Unternehmensinteresse möglichst zu vermeidenden Effekten, was der Aufsichtsrat zu beachten hat. Das alles ist Teil der Pflichten des Gremiums und des einzelnen Mitglieds, was erneut die Frage nach dem Haftungsmaßstab im Rahmen des § 116 AktG aufwirft, mit der weiteren Besonderheit, dass bekanntlich die business judgment rule
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Auch dazu Habersack aaO., 324. Auch dazu Habersack aaO., 324. 46 Reichert aaO. und Habersack aaO. 47 Dazu Altmeppen ZIP 2019, 125; Goj ZIP 2019, 447. 48 Zu inner-gesellschaftlichen Schiedsgerichten kürzlich H.P. Westermann ZGR 2017, 89. 45
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in der Sichtweise der Judikatur49 jedenfalls bei den oftmals sicher kniffligen gesellschafts- und prozessrechtlichen Vorfragen keine nennenswerte Erleichterung begründen kann. Ein abgeschlossenes Gesamtbild der Haftung des Aufsichtsrats in unserer „dualen“ Unternehmensverfassung sollte nicht allein aus den Konfliktfällen entwickelt werden, zu denen dann auch noch die neuerdings stark ins Gerede gekommenen Befugnisse zu Entscheidung von Rechtsfragen zu – und Behinderungen bei – Kontakten mit Investoren und Übernahme-Interessenten kommen dürften, sondern man muss die im Gesetz mehr als Vorsorge konzipierten, wenn auch nicht selten konfliktträchtigen Personalentscheidungen einbeziehen; die im Titel dieses Beitrags angesprochene Besorgnis, als Unternehmensorgan überfordert zu werden, könnte auch in diesem Bereich nicht ganz fern liegen, muss also hier stärker angesprochen werden.
III. Pflichten des Aufsichtsrats in der Personalpolitik 1. Die Höhe der Anforderungen und die Größe der Verantwortung des Aufsichtsrats im Zusammenhang mit der Auswahl und Bestellung der Vorstandsmitglieder, zu der bei Finanzdienstleistungsunternehmen die Prüfung der besonderen fachlichen Anforderungen der Aufsichtsbehörde hinzutritt50, brauchen hier nicht besonders betont zu werden, weil die begrenzte Justiziabilität der dabei anstehenden Entscheidungen auf der Hand liegt, auch im Hinblick auf die gesetzlich in §§ 76, 84 AktG nicht sonderlich spezifizierten persönlichen Eignungsvoraussetzungen von Vorstandsmitgliedern. Zu einem Praxistest der gesetzlichen Bestimmungen zur Gesellschafterquote im Vorstand reichen die Erfahrungen eines seit längerem nicht mehr in einem Aufsichtstrat Tätigen wie des Verfassers nicht aus, allenfalls ist ein kurzes Referat möglich. Dagegen haben sich im Hinblick auf die Vorstandsvergütung zuletzt einige charakteristische Fragen gestellt, bei deren Bearbeitung allerdings auch die Zuständigkeiten der Hauptversammlung zu beachten sind. Die aus dem politischen Raum gekommene Forderung, für die personelle Zusammensetzung von Vorstand und Aufsichtsrat den Frauenanteil zu erhöhen und insoweit jedenfalls ein angemessenes Stimmverhältnis von Männern und Frauen zu sichern, ist im Gesetz (§§ 111 Abs. 5, 96, Abs. 2) für börsennotierte und mitbestimmte Gesellschaften in Gestalt einer Pflicht des 49 BGH v. 20.9.2011; AG 2011, 876; BGH NZG 2015, 792; Strohn ZHR 176, 137, 140; Bürgers in Bürgers/Körber AktG, § 92 Rn. 13. 50 Dazu im einzelnen Hemeling in Praxis und Lehre im Wirtschaftsrecht, 2018, 151 ff.
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Aufsichtsrats zur Festlegung von Zielgrößen realisiert worden, und zwar für den Vorstand uneingeschränkt, für den Aufsichtsrat nach Maßgabe der stark differenzierenden Regelung in § 96 Abs. 2 AktG. Die Zielgrößen können explizit auf den Frauenanteil abstellen, aber auch geschlechtsneutral formuliert sein, solange sie den Frauenanteil erkennen lassen51. Nicht klar ist aber, ob der Aufsichtsrat in der Bestimmung der Zielgrößen frei ist, also Quoten zwischen 0 oder 100% oder jeden Wert zwischen 0 und 50% bestimmen kann52. Da er danach jedenfalls einen nicht ganz geringen Spielraum hat, sich auch mit der Festlegung einer Bandbreite begnügen kann53, sollte er aber beachten, dass sehr niedrige Zielgrößen als diskriminierend betrachtet werden, was Reputationswünsche begründet, auch weil hierüber nach § 289f Abs. 2 Nr. 5 lit. a HGB berichtet werden muss, wie auch später über Gründe für eine Nichterreichung der vorgegebenen Zielgröße54. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass ein schriftlicher Bericht über die Gründe, warum der Hauptversammlung nicht genügend Aufsichtsräte des einen oder anderen Geschlechts vorgeschlagen werden konnten, ohne weiteres den Übergang zur Tagesordnung ermöglichen wird. Die Aufgabe für den Aufsichtsrat ist also insgesamt nicht nur schwierig bis heikel; ob der Praxisleitfaden der Bundesministerien für Familie und Justiz55 viel hilft, ist im Hinblick darauf interessant, dass Verletzungen des Regelwerks zu ziemlich schwerwiegenden Rechtsfolgen führen können, etwa zur Verweigerung der Entlastung oder sogar zu Schadensersatzpflichten (obwohl es an einem kausal verursachten Schaden meist fehlen wird)56; die Rede ist aber auch von einer Klage zur Feststellung einer pflichtmäßigen oder pflichtwidrigen Quotennennung, wobei die letztere strafrechtliche und ordnungswidrigkeitenrechtliche Folgen haben kann57. Wenn angesichts der verfassungsrechtlichen Lage diskutiert wird, ob sogar eine Pflicht zur Festlegung von Zielgrößen für den Aufsichtsrat, aber auch für den Vorstand, für Intersexuelle geschaffen werden sollte58, so ist einzuwenden, daß hierdurch die Erreichbarkeit des Ziels, die personelle Zusammensetzung des Vorstands vor allem nach Kriterien der fachlichen Qualifikation zu bestimmen, weiter erschwert werden dürfte.
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Hopt/Roth GroßKomm, § 111 Rn. 775. Für das letztere K. Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rn. 67d; für größere Freiheit in Bezug auf den Vorstand der RegE (BT Drucks 18-4, 123, aber mit Bezug auf den Vorstand mit größerem Gewicht auf Parität). 53 Herb DB 2015, 964, 979; Hopt/Roth, Rn. 778. 54 Hopt/Roth, Rn. 786. 55 Dazu Stüber BB 2015, 2043. 56 Dazu Weller/Benz AG 2015, 467, 470 ff.; Hopt/Roth, Rn. 787. 57 Frommholzer/Simon AG 2015, 457, 465. 58 Zu diesem Fragenkreis Mutter in FS E. Vetter, 2019, 479 ff. 52
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2. Für die Verlängerung eines Vorstandsmandats gilt im Wesentlichen dasselbe wie für die erstmalige Bestellung, es handelt sich sachlich um eine unternehmerische Entscheidung. Anders, wenn der Aufsichtsrat mit Vorgängen und Maßnahmen des Vorstands befasst war, die einen Widerruf der Bestellung nach § 84 Abs. 3 AktG rechtfertigen könnten. Bei der Feststellung eines wichtigen Grundes wird dem Aufsichtsrat bemerkenswerterweise kein Beurteilungsspielraum gewährt59, obwohl hierfür (wie für die Inanspruchnahme auf Schadensersatz) eine Abstimmung zwischen den Interessen der AG und denen des Vorstands an einer Fortsetzung seines Amts gefordert wird60. Eine solche Entscheidung kann sehr wohl „von der Parteien Gunst und Hass verwirrt“ sein, sodass auch Meinungsverschiedenheiten im Aufsichtsrat, die durch Beschluss nach § 108 AktG aufgelöst werden müssen, leicht vorstellbar sind, welche Entscheidung aber von der unterlegenen Minderheit als rechtsmissbräuchlich und darum anfechtbar empfunden werden könnte, und auch vom Vorstand durch eine Gestaltungsklage auf Unwirksamkeitserklärung angegriffen werden kann61. In diesem Rechtsstreit vertritt der Aufsichtsrat nach § 112 AktG die beklagte Gesellschaft,62 was aber, wenn Meinungsgruppen im Gremium bestehen, wiederum keine leichte Aufgabe ist, wie sich schon daran zeigt, dass für die Erteilung einer Prozessvollmacht im Rechtsstreit der Aufsichtsratsvorsitzende einen Beschluss braucht63, den er – etwa wegen gleicher Größe der im Aufsichtsrat vertretenen und für oder gegen die Abberufung stimmenden Gruppen – nur erreichen kann, wenn es ihm gelingt, das Gericht, das ohne einen wirksam bestellten Prozessbevollmächtigten der Gesellschaft ein Versäumnisurteil erlassen würde64, zu einer Prüfung des Gewichts der Abberufungsgründe und ggf. zur Annahme von Missbräuchlichkeit der den Beschluss ablehnenden Aufsichtsratsmitglieder zu bewegen. Dies wird wiederum zu durchaus nicht alltäglichen Rechtsfragen führen (wie etwa die Frage, ob und durch wen gegen ein Versäumnisurteil ein Rechtsmittel eingelegt werden kann, was bei Ausbleiben eines hierfür erforderlichen Aufsichtsratsbeschlusses nur durch Nebenintervention eines Aufsichtsratsmitglieds durchgesetzt werden kann.65 Diese keineswegs theoretische Fallgestaltung66 erlaubt den 59 OLG Frankfurt NZG 2015, 514, 515; K. Schmidt/Lutter/Fleischer AktG, § 84 Rn. 153; Bürgers in Bürgers/Körber AktG, § 84 Rn. 27. 60 Siehe etwa OLG Hamburg ZIP 1990, 1435; Seibt in Schmidt/Lutter, § 84 Rn. 66. 61 Näher Bürgers in Bürgers/Körber, § 84 Rn. 23, 24. 62 Hopt/Roth, § 112 Rn. 82, 84. 63 BGH AG 2013, 257 Tz. 11. 64 Siehe den Fall OLG Zweibrücken AG 2010, 918. 65 BGH AG 2013, 257, 258; Hopt/Roth, § 112 Rn. 83. 66 Der Verfasser sollte nicht verschweigen, dass diese Situation eines Aufsichtsrats (und seines Vorsitzenden) ihm aus eigener Erfahrung bekannt geworden ist.
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Schluss, dass den im Aufsichtsrat entscheidenden Mitgliedern nicht nur Verständnis für rechtliche und unternehmerische Beurteilungen, sondern auch eine gewisse Standfestigkeit bezüglich der Art der Verfolgung von Unternehmensinteressen gewünscht werden sollte. 3. Das trifft in erhöhtem Maß auf die Fragen im Zusammenhang mit der Vorstandsvergütung zu, die in aller Munde sind und jemandem, der auf die Wahl zu einem Aufsichtsrat angesprochen wird, große Zurückhaltung nahelegen dürften. Nun mag es inzwischen einigermaßen sichere Maßstäbe für die reine Höhe eines Gehalts im Vergleich zur Prosperität der Gesellschaft und der Größe der Geschäftsführungstätigkeit geben, die Kriterien sind in § 87 AktG allerdings mehr schlagwortartig angegeben. In einem Sonderfall, der anscheinend aber keine Seltenheit mehr ist, bestand insoweit eine Vereinbarung über einen variable Vorstandsvergütung mit Zubilligung von Sonderleistungen durch den Aufsichtsrat nach billigem Ermessen und der möglichen Rückforderung bei unerwünschter Entwicklung der Vorstandsleistung; der spätere Streit ergab sich daraus, dass die Gesellschaft dies nicht erfüllen wollte. Eine Solche sogn. claw-back-klausel wurde vom BGH in einem Urteil behandelt, das auf eine im Text der Vereinbarung stehende Regelung zur variablen Vorstandsvergütung Bezug nehmen konnte, wobei betont worden war, dass es sich stets um freiwillige Zuwendungen handle, aus denen ein Rechtsanspruch nicht folge, sodass auch ein Anspruch auf einen variable Vergütung zu dem vom klagenden Vorstand bestimmten Betrag nicht bestand67. Nun werden die Aufsichtsräte künftig derartige Regelungen vielleicht vermeiden, weil die Entscheidungen über das Für und Wider einer entsprechenden Vereinbarung im Vertrag und die Reaktion auf nachvertragliche unternehmerische Entscheidungen als überlastend empfunden werden könnten. Der BGH würde eine im selben Vertrag stehende Zielvereinbarung über die vom Vorstandsmitglied zu erreichenden Ziele, also eine „vergütungsorientierte Zielvereinbarung“, die er im konkreten Fall allerdings vermisste, und die auch nicht schlüssig aus früher vertretenen Bonusvereinbarungen folgte, wohl zugelassen haben, da hierdurch die Vorgabe des § 87 Abs. 1, die die Vorstandsvergütung und besonders die Gesamtheit der Bezüge einschließlich „anreizorientierter Vergütungszusagen“ in ein angemessenes Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds zu stellen vorschreibt, nicht verletzt werde. Ob dies wirklich, wie der BGH (Tz 33 der Begründung) schreibt, nur 67
BGH NZG 2020, 84 und dazu Poelzig, 41 ff.; Thau Anm. WuB 3/2020, 153 ff.; zum Ganzen auch Mutter Der Aufsichtsrat, 2020; zum vorhergegangenen Urt. des OLG Frankfurt vom 18.4.2018 (Beck RS 2018, 9111); Kort in FS K. Schmidt I, 2019, 719 ff.; Löw AG 2018, 837.
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als Aufsichtsrecht zu verstehen ist68 und die Wirksamkeit konkret getroffener Regelungen nicht berührt, muss nicht zu Ende gedacht werden, um mit dem BGH zu dem Schluss zu kommen, dass § 87 kein dispositives Vertragsrecht enthält, aus dem der Vorstand die Unwirksamkeit der im konkreten Fall mit ihm getroffenen Regelungen und damit einen Anspruch auf eine „angemessene Vergütung“ (also ohne den Freiwilligkeits-Vorbehalt) ableiten könnte. Der Aufsichtsrat muss nach einer solchen Regelung des claw-back auch keinen Beschluss fassen, der etwa eine weitere neben der festen Vergütung zu gewährende Zuwendung ablehnt; auf eine einfache Entscheidung (nach billigem Ermessen) hat der Vorstand keinen Anspruch. Zu überlegen ist demgegenüber aber noch ein weiterer Schritt in den claw-back-Vereinbarungen, nämlich die im DCGK empfohlene Vereinbarung, dass der Aufsichtsrat in begründeten Fällen variable Vergütungskomponenten einbehalten oder zurückfordern kann, was dann allerdings nach § 87a Abs. 1 S. 2 Nr. 4 des damaligen Kodex-Entwurfs transparent zu machen sei. Ob für ein solches Vorgehen volle Freiheit besteht, muss, da es sich dabei um eine Beeinträchtigung der Vorstandsinteressen handelt, grundlegend geprüft und wohl auch mit den Grundsätzen des ARAG-Garmenbeck-Urteils abgestimmt werden, dies auch deshalb, weil derartige Regelungen leicht zu einer Überforderung der Betroffenen führen könnten69; eine Pflicht des Aufsichtsrats, derartig Regelungen anzuwenden, wird man aber bejahen können. In weiteren Verlauf sind dann aber Differenzierungen geboten, und zwar ein Unterschied danach, ob der claw-back das vereinbarte Verhältnis von variabler Vergütung und der vereinbarten Vorstandsleistung, also die Zielvorgabe, wiederherstellen soll (sogen. performance- claw-back), oder ob hierdurch auf Pflichtverletzungen des Vorstands reagiert werden soll (compliance-claw-back)70. Aus der Sicht des über solche Vereinbarungen verhandelnden Aufsichtsrats ist vor diesem Hintergrund zu überlegen, ob eine Rückforderungsmöglichkeit ausdrücklich vorgesehen werden soll, was über § 87 Abs. 2 u. 3 AktG insofern hinausgeht, als es um bereits ausgezahlte Vergütungsbestandteile geht, während nach dem Gesetz nur zukünftige Bezüge sollen herabgesetzt werden können71. Die bereicherungsrechtliche Rückforderung wegen Fehlens eines Rechtsgrundes für den performance-Bestandteil der Zahlung oder wegen Zweckerreichung (§ 812 Abs. 1 S. 2 zweite Alt. BGB) ist bei Abschätzung der forensischen Erfolgsmöglichkeiten72 wohl kaum attraktiv. Hinzu kommt, dass eine derartige Abrede in einem Vor68
Dem folgend auch Thau aaO Fn. 67. So auch Mutter AG-Report 1/2020 Rn. 4, 5. 70 Zu dieser Unterscheidung eingehend Seyfahrt WM 2019, 521, 569 ff.; Schockenhoff/Nussbaum AG 2019, 813; Poelzig NZG 2020, 41, 42 ff. 71 Poelzig aaO., 45; Hüffer/Koch AktG, § 87 Rn. 27. 72 Auch dazu Poelzig, 45; Schockenhoff/Nussbaum aaO., 820. 69
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standsvertrag den Ruf nach einer AGB-Inhaltskontrolle laut werden lässt, die durch die Behauptung der Arbeitnehmer- oder Verbrauchereigenschaft eines Vorstandsmitglieds in Anwendung des § 310 Abs. 4 S. 2 BGB noch verschärft würde73; eine AGB-Inhaltskontrolle stößt auch wegen der Unbestimmtheit der in den Ziervorgaben enthaltenen Kriterien für die Berechnung und den Zeitpunkt der variablen Vergütung auf Bedenken. Am Ende hätte man wiederum angesichts der rechtlichen und tatsächlichen Beurteilungsschwierigkeiten Verständnis dafür, wenn sich in einem auf claw-backVereinbarungen angesprochenen Aufsichtsrat die Ansicht durchsetzte, besser doch die Finger davon zu lassen. Das im allgemeinen Rahmen der Aufsichtsratspflichten, auch bei prospektiver Überwachung, für bedeutsam gehaltene Vertrauensverhältnis zwischen den Organen und Organpersonen bzw. den jeweiligen Vorsitzenden des Gremiums müsste darunter nicht unbedingt leiden, weil auch für betroffene Vorstandsmitglieder Rechtsunsicherheit in diesem Bereich schwer erträglich sein würde. 4. Die nach dem weiteren, insbesondere gegenüber den verschärften und nach verbreiteter Ansicht sogar überzogenen Haftungsrisiken74 nicht mehr sonderlich attraktive Funktion als Aufsichtsrat einer börsennotierten AG wird trotz der (nach Eindrücken aus der Tagespresse) häufig noch durchaus namhaften Aufsichtsratsvergütungen noch unter einigen weiteren Warnzeichen zu leiden haben. So ist nach einem kürzlich ergangenen Urteil des BFH entgegen früherer Rechtsprechung die Annahme einer UnternehmerEigenschaft eines Aufsichtsratsmitglieds mit nicht variabler Festvergütung mit der Folge der Mehrwertsteuerpflicht nicht ganz ausgeschlossen75. Vorbehalte gegen die Aufsichtsratstätigkeit könnte auch ein Urteil des OLG Köln erzeugen, das die Stellungnahme eines einzelnen Aufsichtsratsmitglieds zu einer von der Hauptversammlung angestrebten Sonderprüferbestellung entgegen der Enthaltung des Gesamtaufsichtsrats gegenüber dieser Anfrage als wichtigen Grund zur sofortigen Abberufung qualifizierte, obwohl der Abberufene lediglich auf eine Anfrage des Gerichts, die er für sich als verbindlich betrachtet hatte, geantwortet hatte76.
73 Eingehend dazu Kort in FS K. Schmidt I, 2019, 715, 724 im Ergebnis ablehnend; auch zur Parallele zum Arbeitsrecht (deren Anwendung durch das Berufungsgericht der BGH als für die Bestellung von Vorstandsmitgliedern unpassend verwarf; Bedenken auch bei Poelzig, 45; Schockenhoff/Nussbaum aaO., 820. 74 Lesenswert dazu Hopt ZGR 2019, 507, 540. 75 Näher BFH NZG 2020, 259 ff. = GmbHR 2020, 382 m.Anm. Heinrichshofen; näher zum Problemkreis Binnewies/Esteves/Gomes AG 2020, 249 ff. 76 OLG Köln v. 21.8.2019 NZG 2020, 560.
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IV. Der Aufsichtsrat in der Legalitätsverantwortung 1. Obwohl im vorliegenden Beitrag sicher noch weitere Einzelheiten zur Gefahr der Überforderung des AG-Aufsichtsrats behandelt werden könnten, auch im Zusammenhang mit den Beratungspflichten, muss ein abschließender Blick auf die Arbeits- und Prüfungsmöglichkeiten des Gremiums und seiner einzelnen Mitglieder und auf ihre Gesamtstellung geworfen werden, was auch im Hinblick auf die eingangs erwähnte ziemlich pauschale Ablehnung des geltenden Rechtszustandes durch einen Praktiker77 nützlich wirken könnte. Nicht zu vergessen ist andererseits die als deutliche Stärkung des Aufsichtsrats bezeichnete und wohl auch allgemein gebilligte Berechtigung des Aufsichtsrats, zur Sicherung seiner Überwachungsaufgaben außenstehende Berater heranzuziehen und hierbei auch namens der Gesellschaft einen Vertrag zu schließen, und – daraus folgend – später auch in einem Honorarrechtsstreit mit dem Sachverständigen die Gesellschaft zu vertreten78. Nach einem ebenfalls neuen Urteil des BGH79 steht dem Aufsichtsrat für die Heranziehung sachverständiger Beratung im Hinblick auf eine beabsichtigte Inanspruchnahme des Vorstands wegen Pflichtverletzung die Geschäftsführungsbefugnis, aber auch Vertretungsmacht zu, was aus dem notwendigen Gleichlauf zwischen Geschäftsführung- und Vertretungsmacht folge80. Wie im Vorigen gezeigt, umfasst die Aufgabe des Aufsichtsrats sowohl bei der rückblickenden als auch bei der prospektiven Überwachung auch den bei der Gestaltung von Vorstandsverträgen auftretenden Kreis wirtschaftlicher, rechtlicher und auch politischer Probleme in solchem Umfang, dass der Aufsichtsrat bei Hilfsgeschäften u. U. zu einer Hinzuziehung von Assistenten und Beratern gezwungen sein kann, die schon auch längerfristig verpflichtet werden müssen. Der BGH hat nicht umfassend erörtert, wer die Zahlung der hier entstehenden Kosten, die ja aus Gesellschaftsmitteln kommen müsste, veranlassen kann, was nur so gelöst werden kann, dass der Vorstand auf Betreiben des Aufsichtsrats gehalten ist, die Zahlung zu erledigen, wogegen er aber auch einwenden kann, dass die Beauftragung des Sachverständigen überflüssig oder zu teuer gewesen sei; möglich wäre auch, dass der Vorstand dem Aufsichtsrat den Zugriff auf ein bestimmtes Bankkonto eröffnet81. Allerdings hat der Aufsichtsrat den Vorstand rechtzeitig zu informieren mit dem Ratschlag, in sei77
Kley AG 2019, 898. BGH v. 30.4.2018, BGHZ 318, 122; früher ähnlich BGH ZIP 1991, 796; der tendenziellen Stärkung des Aufsichtsrats zustimmend E.Vetter ZGR 2020, 35 ff. 79 NJW-RR 2018, 800. 80 Zustimmend Strohn in FS K. Schmidt II, 2019, 461, 469. 81 Zum weiteren Vorgehen Strohn aaO., 467 ff. 78
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nen Entscheidungen „Maß zu halten“, andernfalls wäre eine Verletzung von Pflichten (§ 116) nicht von der Hand zu weisen82. Dies berührt sich mit Bestrebungen, dem Aufsichtsrat weitere Kompetenzen und am Ende sogar ein eigenes Budget einzuräumen83 oder stattdessen eine gemeinschaftliche Vertretungsbefugnis der beiden Organe einzuführen84, Maßnahmen also, die das Gesamtbild der Organverfassung im dualen System stark verändern würden und deshalb in einem weiteren als im hier behandelten Rahmen vertieft diskutiert und vielleicht eines Tages entschieden werden müssen. Die Jubilarin wird hoffentlich Verständnis dafür haben, dass vor diesem Hintergrund wieder unsere „Rechtskultur“ des Kapitalgesellschaftsrechts beschworen wird. 2. Aufwertungen der Aufsichtsratstätigkeit betreffen nicht nur „Hilfsgeschäfte“, sondern müssen auch für die zunehmend wichtig gewordene „Legalitätsverantwortung“ als ganze erwogen werden. Hier ist weniger an die Auswirkungen einer Einführung des von der Europäischen Kommission geplanten Klassifikationssystems nachhaltiger Tätigkeiten von Unternehmen, also auch AG und GmbH,85 gedacht, bei dem es immerhin um eine Gemeinwohlorientierung unternehmerischer Entscheidungen und ihre behördliche Überwachung durch so etwas wie ein „Nachhaltigkeitsamt“ geht, was im Hinblick auf das Ausmaß der Regulierung, die auch in anderen Punkten zu steigen scheint, Änderungen der Organverfassung ergeben könnte. Kernpunkt solcher Auswirkungen auf das Gesellschaftsrecht, hier auf die Aufgaben des AGAufsichtsrats, ist mehr die allgemeine Legalitätsverantwortung der Unternehmen, die unter dem Stichwort CSR heute einen Grundaspekt der Geschäftsleitung im Aktienrecht darstellt,86 sind jedenfalls aber auch die hieraus abgeleiteten „Legalitätsorganisationspflichten“.87 Darunter wird hauptsächlich eine Ordnung verstanden, die general- wie auch spezialpräventiv die Aufklärung und Sanktionierung von Organmitgliedern begangener Gesetzesverletzungen und Beeinträchtigungen der Rechte Privater wie des Gemeinwesens gewährleisten soll, womit zwar keine „direkten“ Pflichten zur Risikominimierung verbunden seien,88 aber doch das Bewusstsein für compliance geschärft werden solle, u.a. durch Einführung von Zuständigkeiten und Berichtslinien.89 82
Hierzu Koch ZHR 180, 578, 593. Theissen AG 2018, 589; Bulgrin AG 2019, 110. 84 So unter Ablehnung eines Budgetrechts v. Schenck in FS Marsch-Barner, 2018, 483 ff. 85 Dazu und zum Folgenden kürzlich Bortenlänger/Heldt in FS Seibert, 2019, 147 ff. 86 Hier nur Paefgen in FS Seibert, 2019, 629 ff.; ders. in FS K. Schmidt II, 2019, 105 ff. 87 Gedanke von Grigoleit in FS K. Schmidt I, 2019, 367, 380. 88 Grigoleit aaO., 378. 89 Dazu E. Vetter in FS Seibert, 2019, 1007 ff. 83
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Nun ist der Aufsichtsrat zwar in seiner Überwachungs- und Beratungstätigkeit wie der Vorstand an die CSR gebunden, eine Neuerung besteht aber darin, dass die zu seinen hauptsächlichen Pflichten zählende regelmäßige Berichterstattung an die Hauptversammlung (§ 171 Abs. 2 AktG) nach dem neuen Abs. 1 S. 4 dieser Vorschrift auch die CSR-Berichterstattung des Vorstandes umfassen soll, was auch bedeutet, dass der Aufsichtsrat über seine Prüfung dieses Teils des Vorstandberichts zu referieren hat, also vor allem über die „nichtfinanziellen Aspekte der Unternehmenstätigkeit“90. Der Aufsichtsrat muss also die genannten nicht finanziellen Aspekte der Unternehmenstätigkeit im Sinne der Regelung des § 289b Abs. 1 HGB neben die gewöhnliche Prüfung des Vorstandshandelns stellen. Da es sich dabei um Umstände handelt, die teilweise den Jahresabschluss und den Lagebericht beeinflussen und deshalb Gegenstand der Abschlussprüfung sind, gilt die CSR-Prüfung durch den Aufsichtsrat nicht selbstverständlich allen Angaben des Vorstandsberichts, sondern nur solchen nicht finanziellen Angaben, die nach §§ 289 Abs. 3, Abs. 5 und 315 Abs. 3 HGB zu den prüfungspflichtigen Inhalten des Lageberichts zählen91. Angesichts der Anforderungen an den Sachverstand der mit dem Bericht befassten Aufsichtsratsmitglieder und die Intensität dieser Prüfung, die sich ja typischerweise auf Vorgänge in der Außentätigkeit des Unternehmens – auch im Ausland und in Sondersituationen – bezieht, stellt sich doch die Frage, ob eine solche Prüfung überhaupt ernsthaft durchgeführt werden kann, zumal möglicherweise mit den bisher umstrittenen Modifikationen auch wieder außenstehende Sachverständige herangezogen werden müssen92. Diese Frage ist nicht ganz klar, zumal diese Prüfung gerade mit derjenigen des Lageberichts und des Jahresabschlusses und damit mit der Entscheidung über die Wahl des Abschlussprüfers zusammenhängt. Natürlich muss der Aufsichtsrat berichten, wenn er die CSR-Berichterstattung des Vorstandes nicht ausreichend oder sogar pflichtwidrig findet, oder wenn er besondere Prüfungsmaßnahmen zur CSR-Berichterstattung für nötig hält; es kann gut sein, dass sich bezüglich der Beauftragung eines Prüfers und seiner Bezahlung hier dieselben Probleme ergeben wie bei der Prüfung eines Vorgehens wegen Pflichtwidrigkeit. Einstweilen ist wohl auch noch damit zu rechnen, dass das oben erwähnte „Nachhaltigkeitsamt“ der EU sich unter übergeordneten Aspekten auch mit den Aufsichtsratsberichten zur CSR-Berichterstattung der AG befassen wird. Anstelle einer Schlussbetrachtung drängt sich hier eine weitere Bemerkung auf, da auch in diesem Bereich die eigene Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder wegen (angeblich) ungenügender Erfüllung 90
Grigoleit, 389 unter Hinweis auf LG München I NZG 2014, 345, 347; zur Erweiterung der Kontrollpflichten des Aufsichtsrats Ekkenga in FS E. Vetter, 2019, 105 ff. 91 Dazu E. Vetter aaO., Fn. 89, 1013. 92 Hennrichs ZGR 2018, 206, 222; E. Vetter aaO., 1014.
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der die Einhaltung der CSR-Regeln betreffenden Anforderungen stets im Bild ist. Daher könnte sich bald die Frage stellen, ob und in welchem Umfang der Aufsichtsrat im Hinblick auf die Intensität und Breite seiner Prüfungen und Berichte über einen gewissen Beurteilungsspielraum verfügt, und ob er ähnlich wie nach den ARAG-Garmen beck-Regelungen aus den möglicherweise relevanten normativen Elementen der CSR93 Folgerungen zu Belangen der durch die Berichterstattung womöglich in ein schlechtes Licht geratenen Personen oder Gremien ziehen muß und die Interessen gegeneinander abzuwägen berechtigt ist. Das wird sich für die Beurteilung, ob der Aufsichtsrat der AG – jedenfalls einer börsennotierten oder auch im Ausland tätigen – durch die neuen Entwicklungen und Ansprüche praktisch überfordert ist, vermutlich wiederum zu einem ernst zu nehmenden Streitpunkt entwickeln – manchmal könnte man sich dabei mit der leicht resignierenden These begnügen, dass die hier zum Zuge kommenden einschlägigen business-judgment-Regeln durch Lektüre eines Festschriftbeitrages wie des vorliegenden wesentlich weniger gut verdeutlicht und in ihrer Tragweite erklärt werden als durch die Durcharbeitung eines eingeführten Gesellschaftsrechtslehrbuchs wie dem der Jubilarin oder anderer WissenschaftlerInnen.
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Zum Rechtscharakter des CSR-Regelwerks, besonders mit Blick auf § 161 AktG, näher Beisheim in FS Stilz, 2014, 45 ff.; Spießhofer NZG 2018, 442, 444; Hoffmann/Becking ZIP 2011, 573; in anderem Zusammenhang auch H.P. Westermann in FS Seibert, 2019, 1105 ff.
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Abschied vom GmbH-Konzern? Herbert Wiedemann
Abschied vom GmbH-Konzern? HERBERT WIEDEMANN*
Die Jubilarin widmete den arbeits- und wirtschaftsrechtlichen Problemen des deutschen Konzernrechts viele wichtige Beiträge – nicht zuletzt mit der herausfordernden Frage: „Konzernrecht: Gibt es das?“ 1 Wir möchten die Anregung aufgreifen und diese Frage für das GmbH-Konzernrecht wiederholen.
I. Befund Die Entwicklung des sogenannten GmbH-Konzernrechts ist in den letzten Jahren mehrfach aufgezeichnet und kritisch beleuchtet worden. Das braucht hier nicht wiederholt zu werden; es genügt, die Leitentscheidungen des BGH, also sozusagen die „Leuchttürme“ der Entwicklung in Erinnerung zu bringen. Am Anfang steht das Urteil in BGHZ 95, 330 (Autokran), das eine vorbildliche richterliche Studie der strengen, man möchte sagen moralischen Verantwortung einer später zusammengebrochenen Unternehmung ausarbeitet – leider nur als obiter dictum, weil die geltend gemachten Ansprüche bereits verjährt waren. Nach einem Wechsel im Vorsitz des II. Zivilsenats des BGH wurde dieser Ansatz in BGHZ 149, 10 (Bremer Vulkan) und in BGHZ 151, 181 (KBV) aufgegeben und die Durchgriffshaftung im GmbH-Recht von der Existenzvernichtung durch die Unternehmensleitung abhängig erklärt. In jüngerer Zeit gab es eine erneute Wende in BGHZ 173, 246 (Trihotel), in der die Verantwortung des oder der einflussreichen Familiengesellschafter nicht mehr im Gesellschafts-, sondern im allgemeinen Deliktsrecht der §§ 826, 830 BGB gefunden wurde. In der sogenannten GAMMA-Entscheidung in BGHZ 176, 204 wird 2008 die neue Grundlage bestätigt. Alle Herangehensweisen wurden im wissenschaftlichen Schrifttum mit Respekt gewürdigt.2 * Für ihre umfangreiche Mitarbeit sei auch an dieser Stelle Frau Dr. Carolin Baranowski, wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln, gedankt. 1 Windbichler NZG 2018, 1241. 2 Vgl. dazu die eingehenden Erläuterungen von Fleischer in: Fleischer/Thiessen, Gesellschaftsrechts-Geschichten, 2017, 657; Habersack ZGR 2008, 533; Kurzwelly in FS Goette, 2011, 277; Rubner DStR 2009, 1538; Strohn ZInsO 2008, 706.
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II. Grenzen des Konzernbegriffs Die Urteilskette vom Autokran- bis zum GAMMA-Entscheid geht, soweit ersichtlich, durchweg von einem Sachverhalt aus, in dem ein GmbHGesellschafter als natürliche Person, Stiftung oder Familienrat in der „abhängigen“ Gesellschaft selbst beteiligt war. Das weicht strukturell völlig von der eigentlichen Unternehmensgruppe ab, die im ausländischen Recht als groupement des sociétés oder group of companies bezeichnet wird. Die Spielarten einer abhängigen Gesellschaft haben zwar im deutschen Aktien- wie im geplanten europäischen Konzernrecht3 dieselben Denkansätze der Organisationsleitung einerseits und des Finanzierungsschutzes andererseits, die Auswirkungen in der Leitungsbefugnis und im Schutz von Minderheiten und Gläubigern sind jedoch grundverschieden.4 Die Herangehensweise erfolgt nicht mehr (nur) zum Schutz und aus dem Blickpunkt der abhängigen Gesellschaft „von unten“, sondern aus der Perspektive des herrschenden Unternehmens zugunsten der Wirtschaftseinheit, also quasi mit einem organisatorischen Durchgriff „von oben“. Für die konzernabhängige Aktiengesellschaft bleibt es bei der gesetzlichen Regelung in den §§ 311 ff. AktG; auf die Entwicklung der konzernabhängigen GmbH ist später zurückzukommen (unter IV.).
III. Haftung in der konzernfreien Einpersonen-GmbH Es gilt zunächst nochmals ins Bewusstsein zu rufen, dass es sich bei einer von einer anderen Unternehmensgesellschaft abhängigen GmbH einerseits und bei der nur von einem Mitgesellschafter, also einem Insider, beherrschten GmbH um zwei grundverschiedene Tatbestände handelt. Eine herrschende Muttergesellschaft will und kann in angemessenem Umfang Organisation und Finanzierung von in- und ausländischen Tochtergesellschaften in Form der GmbH beeinflussen. Dabei bilden Organisation und Finanzierung nach moderner Auffassung die tragenden Säulen der juristisch selbstständig gedachten Bauhütten. Die von ihrem Alleingesellschafter oder Mehrheitsgesellschafter beherrschte GmbH bildet dagegen einen einheitlichen Organisations- und Finanzierungskreis, der typisch von einem „Patriarchen“ gesteuert wird. Was uns hier zunächst interessiert, ist lediglich die zweite Alternative, für die Rechtsprechung und Schrifttum verschiedene Haftungs3
„European Model Companies Act (EMCA) 2017 – 1st Edition“; vgl. dazu Hommelhoff/Lutter/Teichmann, Corporate Governance im grenzüberschreitenden Konzern, 2017. 4 Klarsichtig dazu Schön ZGR 2019, 343.
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modelle vorgeschlagen und teilweise wieder verworfen haben.5 Die Entwicklung begann in den ersten Leitentscheidungen „Autokran“ 19856 und „Video“ 19917, und zwar – wenn man dies sagen darf – mit einem Fehlstart. Der II. Zivilsenat des BGH hat zwar zutreffend erkannt, dass eine unmittelbare oder analoge Anwendung des aktienrechtlichen Vertragskonzerns in den §§ 291 ff. AktG nicht angebracht ist, lehnte sich jedoch wegen vermeintlicher Ähnlichkeit an die einschlägigen Vorschriften der §§ 292, 303 AktG an und entwarf damit das Modell des qualifiziert faktischen GmbH-Konzerns. Es fehlte jedoch für eine Anlehnung an das Aktienrecht nicht nur ein Unternehmensvertrag, sondern bereits die Grundlage jeder Konzernabhängigkeit von einem fremden Unternehmensträger: Die abhängige GmbH war von ihrer eigenen Organisation beherrscht und konnte deshalb auch lediglich anhand ihrer eigenen Struktur und den für sie einschlägigen Rechtsvorschriften beurteilt werden. Die Verabschiedung vom aktienrechtlichen Konzernrecht fällt rückblickend leicht, nachdem sich bei der Vorbereitung eines europäischen Aktien- und Konzernrechts die Abneigung der anderen Mitgliedsstaaten gegenüber der formalisierten und etwas starren Bundesgesetzgebung herausgestellt hat. Der Senat vollzog die Abkehr vom konzernrechtlichen Denken und gleichzeitig die richtige Verortung im GmbH-Recht in der sog. KBV-Entscheidung im Jahre 2002.8 Er suchte und fand die zutreffende Rechtfertigung für die Verantwortung des Einmann-Gesellschafters oder des beherrschenden Gesellschafters in der maßgeblichen Kapitalstruktur des Gesetzes selbst in den §§ 30, 31 GmbHG. Der vielzitierte Leitsatz lautet: „Die Respektierung der Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger während der Lebensdauer der GmbH ist unabdingbare Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Haftungsprivilegs des § 13 Abs. 2 GmbHG. Zugriffe der Gesellschafter auf das Gesellschaftsvermögen, welche die aufgrund dieser Zweckbindung gebotene angemessene Rücksichtnahme auf die Erhaltung der Fähigkeit der Gesellschaft zur Bedienung ihrer Verbindlichkeiten in einem ins Gewicht fallenden Maße vermissen lassen, stellen deshalb einen Missbrauch der Rechtsform der GmbH dar, der zum Verlust des Haftungsprivilegs führt.“9 Der die Rechtsprechung vorbereitende Senatsvorsitzende10 sprach von einer „Existenzvernichtungshaftung“ – ein Ausdruck, der in der Zwischenzeit die Durchgriffshaftung ersetzt. Die Verortung der Durchgriffshaftung in der zwingend 5 Zur hier nicht erörterten etwaigen Organhaftung eines GmbH-Geschäftsführers gegenüber Dritten vgl. zuletzt BGH, Urt. v. 7.5.2019 – VI ZR 512/17, BB 2019, 1549; Brammsen BB 2019, 2958. 6 BGH, Urt. v. fn. 15 – II ZR 275/84, BGHZ 95, 330. 7 BGH, Urt. v. fn. 21 – II ZR 135/90, BGHZ 115, 187. 8 BGH, Urt. v. fn. 22 – II ZR 300/00, BGHZ 151, 181. 9 BGH, Urt. v. fn. 22 – II ZR 300/00, BGHZ 151, 181 (KBV), 1. Leitsatz. 10 Vgl. Röhricht in FS 50 Jahre BGH, 2000, 83.
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vorgeschriebenen Kapitalstruktur der GmbH selbst überzeugt, die Verantwortung wegen Rechtsmissbrauchs dagegen weniger, denn ein Rechtsmissbrauch setzt allemal die rücksichtslose Ausübung einer individuellen Rechtsgestaltung voraus.11 Das gesetzliche System verlangt einen Bestandsschutz des eingesetzten und bekannt gemachten Eigenkapitals, der weder von den Gesellschaftern noch von ihren Geschäftsführern ausgehöhlt werden darf. Es wäre nun möglich gewesen, im Wege der Rechtsfortbildung den Geltungsbereich des Haftungskonzepts auf ein eigenes Schutzverbot zu „erstrecken“ und bei dieser Gelegenheit auch seinen Inhalt zu konkretisieren und seine Geltendmachung aufzuzeigen. Das ist leider nicht geschehen und konnte mit dem Hinweis auf einen Rechtsmissbrauch auch nicht erreicht werden – ganz abgesehen davon, dass dieses im deutschen Zivilrecht wenig benutzte Rechtsinstitut nicht hierher passt. Im Bestreben, den Schutzbereich der GmbH-Gesellschafter deutlicher einzugrenzen, entwickelte der II. Zivilsenat ein anderes Haftungskonzept weiter, das im Hintergrund in der einschlägigen Rechtsprechung schon mehrfach berücksichtigt und als Kontrollmaßstab eingesetzt wurde, nämlich die §§ 826, 830 BGB, also das Verbot sittenwidriger Schädigung anderer Personen.12 Die neue Wende brachte neben dem Rückgriff auf das allgemeine Deliktsrecht einen Bruch mit der Tradition, weil der Senat die Gesellschafterhaftung jedenfalls grundsätzlich nur als Innenhaftung ansprechen will, die durch die sittenwidrige Geschäftsführung geschädigten Gläubiger mithin nicht weiter bevorzugen will. Der Rückgriff auf das allgemeine Deliktsrecht ist seit jeher zur Beurteilung einer unzureichenden Kapitalaufbringung herangezogen worden; er wird wie jetzt vom BGH13 auch im französischen Recht mit Art. 1382 code civil eingesetzt. Die Sittenwidrigkeit wird freilich auch nur mit Blick auf die Verkehrsmoral in den §§ 30, 31 GmbHG konkretisiert werden können. Überraschend war und bleibt die vom Senat vorgenommene Beschränkung der Haftung auf eine Binnenhaftung gegenüber der Gesellschaft à la § 31 GmbHG – eine Systemvermengung oder eine Verabschiedung von der Durchgriffshaftung? Insoweit sollte das letzte Wort in der langen Rechtsprechung noch nicht gesprochen sein. Im jüngsten einschlägigen Urteil aus 2009 (Sanitary)14 erstreckt der BGH sein Haftungskonzept auf eine Liquidationsgesellschaft, in der der maßgebende Gesellschafter auf dem Weg über ein Versäumnisurteil einen gegen ihn gerichteten Ersatzanspruch des § 73 GmbHG auf prozessualem Weg vernichten wollte. Auf der Grundlage des § 73 GmbHG überträgt der 11 Siebert Verwirkung und unzulässige Rechtsausübung (1934), 68; Larenz/Wolf Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Aufl. 1997, § 16 Rn. 25 ff.; Fleischer JZ 2003, 865; Fleischer/Trinks NZG 2015, 289. 12 Ebenso das französische Gesellschaftsrecht mit einem Rückgriff auf Art. 1382 code civil. 13 Kritisch dazu Rubner DStR 2009, 1538. 14 BGH, Urt. v. 9.2.2009 – II ZR 292/07, BGHZ 179, 344.
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BGH sein neues Haftungskonzept auf eine Liquidationsgesellschaft, in der der maßgebende Gesellschafter das Eigenkapital zu seinen Gunsten schmälerte und damit die Gesellschaft in die Insolvenz trieb. Damit stellte sich unausweichlich die Frage, ob die Ersatzpflicht des Gesellschafters aus seiner Verantwortung nach § 31 Abs. 3 GmbHG oder aus § 826 BGB zu begründen ist. Der Senat spricht von Anspruchskonkurrenz, ohne sie weiter zu entscheiden. Rechtsprechung und Rechtslehre stimmen heute darin überein, dass das Haftungsprivileg der Kapitalgesellschafter nur in Ausnahmefällen gerichtlich überprüft und gegebenenfalls versagt werden darf. Auch eine Rechtfertigung im allgemeinen Zivilrecht wird auf den inneren Zusammenhang von Haftungsprivileg und Wirtschaftsmoral zurückgreifen müssen.
IV. Die konzernabhängige GmbH Die GmbH ist im deutschen Wirtschaftsleben die gebräuchliche Rechtsform einer rechtlich selbstständigen, aber organisatorisch und finanziell abhängigen Untergesellschaft; meist, aber nicht notwendig als EinpersonenGesellschaft und häufig nur mit einem gesetzlichen Mindestkapital gegründet. Das herrschende Unternehmen behält sich die nähere Aufgabenstellung, ihre Kontrolle und wenn notwendig ihre Abänderung vor und stützt sich dabei auf ihre Personalhoheit. Für dieses typische Konzernmodell mit einer herrschenden Aktiengesellschaft und mehreren abhängigen Tochtergesellschaften mbH hat der Gesetzgeber keine Vorsorge getroffen, denn das Aktienkonzernrecht gestaltet nur die Aktienfamilie und das GmbH-Recht schweigt auch in seiner Neubearbeitung im Jahr 2008. Es bleibt mithin Rechtsprechung und Rechtslehre die Aufgabe, die vorhandene Gesetzeslücke für die faktisch abhängige GmbH auszufüllen, was hier nur andeutungsweise aufgegriffen werden kann. Für konzernabhängige Allein- oder Mehrheitsgesellschaften gelten die strikten Regelungen zur Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung wenigstens in Höhe des satzungsmäßig festgelegten Stammkapitals. Der Schutz etwaiger Minderheitsgesellschafter wird auf der Grundlage der gesellschaftlichen Treuepflicht zum Beispiel durch Informationsrechte oder durch das Gebot der Verhältnismäßigkeit anlässlich der Gewinnthesaurierung berücksichtigt, auch wenn sich in der Satzung dafür keine Anhaltspunkte ergeben. Die Schutzrechte der §§ 311, 317 AktG lassen sich zwar weder unmittelbar noch mittelbar heranziehen, weil sie auf eine abhängige Aktiengesellschaft zugeschnitten sind; es steht aber nichts entgegen, die aktienrechtlichen Regelungen auf vergleichbare Tatbestände im GmbH-Bereich zu prüfen und auf dieser Grundlage die Entscheidungsfreiheit des Mehrheitsgesellschafters in der GmbH einzuschränken. Einschlägige Rechtsprechung ist bislang
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nicht ersichtlich.15 Wenn eines Tages die geplante europäische Aktiengesellschaft mit ihrem Schwerpunkt im Konzernrecht in Kraft gesetzt wird, kann man erwägen, das moderne Konzernmodell mit seiner Ausrichtung am Konzerninteresse, also einem echten Gruppenmodell, zu übernehmen.16
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Zur Rechtslage bei einer durch Unternehmensvertrag abhängig gemachten GmbH vgl. Lieder/Hoffmann GmbHR 2019, 1261. 16 Vgl. dazu die Darstellung bei Hommelhoff/Lutter/Teichmann Corporate Governance im grenzüberschreitenden Konzern, 2017.
Addressing the Crisis of the Modern Corporation
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Addressing the Crisis of the Modern Corporation Jaap Winter
Addressing the Crisis of the Modern Corporation: The Duty of Societal Responsibility of the Board JAAP WINTER
I. Introduction Many and extensive are the analyses of recent years on how capitalism is failing us. To mention just a few books targeting today’s capitalism: The Selfish Capitalist (2008) by Oliver James, Postcapitalism (2015) by Paul Mason, Confronting Capitalism (2015) by Philip Kotler, Nine Visions of Capitalism (2015) by Charles Hampden-Turner and Frans Trompenaars, Throwing Rocks at the Google Bus (2016) by Douglas Rushkoff, Doughnut Economics (2017) by Kate Raworth, The Value of Everything (2018) by Mariana Mazzucato, Firm Commitment (2013) and Prosperity (2018) by Colin Mayer, The Code of Capital (2019) by Katharina Pistor and The Infinite Game (2019) by Simon Sinek. A core element of many if not most of the analyses is the shareholder primacy doctrine that has taken hold of corporate law and corporate governance in the wake of Milton Friedman’s watershed 1970 article in the New York Times Magazine. “In a free-enterprise, privateproperty system” Friedman wrote, “a corporate executive is an employee of the owners of the business. He has direct responsibility to his employers. That responsibility is to conduct the business in accordance with their desires, which generally will be to make as much money as possible while conforming to the basic rules of the society, both those embodied in law and those embodied in ethical custom… there is one and only one social responsibility of business, to use its resources and engage in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game.” Although Friedman may not have intended to free the corporation of all moral responsibility1, nonetheless his theory has been understood, elaborated upon and practiced to generate a corporate reality that accepts to a large extent that the corporation is responsibility-free beyond the responsibility to create value to shareholders. The costs of shareholder-value creating actions to others, such as employees, customers and wider society (e.g. environmental and climate 1 Hess The Unrecognized Consensus about Firm Moral Responsibility in Eric Orts/ N. Craig Smith The Moral Responsibility of Firms, 169–187.
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costs) are of no concern to the corporation itself. In the hands of the capital markets, investment banks, institutional investors, hedge funds and heavily incentivized executives corporations have become, if not immoral, at least amoral. What matters in corporate decision-making is the prospective financial outcome for shareholders, not much else. I oversimplify, I am aware, but I am afraid I am not oversimplifying too much. Proposals are made to address this ailment at the core of the concept of the corporation. Typically they focus on the restriction of shareholder control over the company or their access to the corporation’s wealth, on the requirement to formulate a wider purpose of the corporation beyond the narrow financial interests of shareholders, and on the involvement of other stakeholders in the governance of the corporation. In this paper I will first put forward my version of the analysis of the problem of responsibility of business in society, par. II, and then review certain solutions that have been put forward and critique levied against them, par. III. In par. IV I will explain that in all solutions that are put forward the role of the board is crucial. At the same time, these proposals do not address adequately what is needed for boards to commit to the responsibility of the corporation in society. I will argue that a specific duty for boards to do so could be introduced in corporate law. A duty of societal responsibility requires elaborations in corporate law and corporate governance, par. V. I will conclude in par. VI that a duty of societal responsibility should indeed be introduced in corporate law and under circumstances can emerge from law itself.
II. The Heart of the Matter: the Modern Corporation has become Amoral In a recent paper Dehumanisation of the Large Corporation2 I have set out a number of factors that have contributed to a context of listed corporations that I would describe as dehumanized, stripped of human inspiration, meaning and judgement, disengaged from society, from what the people that make up society believe is important. My analysis is by no means complete. My analysis is specific in that it is focused on the human aspects of the context of the modern corporation, both how this context is created by us and how it affects us. This is essential. The core of the problem is not outside of us, it is in us. It is in how we design our corporate reality and how we conduct ourselves within it. By the combination of design and conduct we shape the context in which corporations exist and act in society. Solutions therefore are also not beyond us, but within our reach, they are about us.
2 Winter The Dehumanisation of the Large Corporation, Dutch in Ondernemingsrecht 2019/2, in English available at https://ssrn.com/abstract=3517492.
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I summarize my argument of how the corporation has become amoral, in a somewhat stylized fashion for the sake of argument.3 Five factors jointly and interactively cause concerns on the state of the modern corporation: (i) the dominant theory of the firm, (ii) the view of capital markets and institutional investors on corporations, (iii) the efficiency driven organizational practice, (iv) the effects of regulation and (v) the remuneration of executives. (i) The shareholder primacy theory of the firm that originated from Friedman’s work has come to dominate thought and practice on and inside the corporation. In thought, it was developed into the agency theory: managers are primarily seen as agents who should act in the interest of shareholder as their principals. As managers act rationally in their self-interest, they will not always further the interests of shareholders. Corporate law and corporate governance have the function to ensure that managers do act in the interests of shareholders. In practice, executive remuneration that aligns managers’ interests with those of shareholders and takeover bids that may force managers out of their jobs if they underperform for shareholders, have been developed as mechanisms that discipline managers to do so. Other stakeholders that have interests in the corporation and its business, such as employees, customers and the wider community, are no longer seen as relevant principals for whom managers should act as agents. Externalities such as the costs of environmental and climate damage or the social damage caused by restructuring are not factored in this shareholder value model. Put in a different way: in today’s dominant corporate context only financial capital is rewarded, at the expense of human capital (well-being of employees), social capital (public goods, social infrastructure, community) and natural capital (resources, environment and climate).4 (ii) Building on this theory of the firm, capital markets and their main players over time have come to view corporations as bundles of assets and liabilities. They represent separate units of financial value that can be realized at specific prices. Listed corporations do not have a balance sheet, they are a balance sheet with assets and liabilities that can be realized in individual transactions. The financial value of those individual transactions, the price somebody apparently is willing to pay, is justification for breaking down the corporation as an integrated entity that in myriad ways is connected to society. Advisors in the capital markets context (investment banks, business consultants, analysts, tax-advisors, auditors, lawyers) receive compensation as a spin-off from the financial value thus attributed to assets and liabilities, which value is extracted through transactions that crystalize it. Derivative financial instruments further remove investors from the reality of the corporation as an organization where real people work and that is connected to society through a multiplicity of parties 3
For reference to literature supporting my argument see my paper Winter The Dehumanisation of the Large Corporation, Dutch in Ondernemingsrecht 2019/2, in English available at https://ssrn.com/abstract=3517492. 4 Roche/Jakub Completing Capitalism, 2017; Mayer Prosperity, 2018.
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and relationships. In financial capitalism, investors are only interested in the financial value that emerges from these instruments, it is all that matters. Institutional investors who excessively diversify their portfolios are no longer investing in individual corporations but search for mathematically calculated absolute and relative returns. Intermediation of the whole investment process removes investors even further from the corporations they invest in. Financial capital is uncommitted to the corporations in which it invests.5 (iii) The world of modern management as taught in business schools and practiced in corporations is characterized by its endless search for efficiency improvement and cost savings as a means of maximizing shareholder value. Employees are a cost factor and staff reductions will maximize shareholder value. Those employees that can stay are directed through key performance indicators, control systems, target setting and measuring and compliance e-tools to ensure they perform and behave according to plan. A plan that is overly based on illusions and scientific pretensions of certainty, while in reality corporations are constantly faced with uncertainty and unpredictability. The dominant organizational pattern is mechanistic, steering towards predetermined objectives and controlling employees through formalistic accountability procedures in bureaucratic processes. The capacity for human judgement of employees is no longer utilized. (iv) The managerial control bureaucracy is augmented with more and more external regulation defining what corporations can, must and may not do. After every new crisis, new rules give a false sense of control over a reality that was never under control before the crisis hit, with more and more external supervision through regulatory authorities. The paradoxical consequence has been to reduce the sense of responsibility that people have for the consequences of their behavior towards others, to a responsibility to comply with the rules. We actually feel less responsible and no longer train our moral muscle, a regulatory crowding-out effect. This has become what I call a Perfect System Syndrome, taken from the words of T.S. Eliot in his poem the Rock from 1934: “They constantly try to escape, From the darkness outside and within, By dreaming of systems so perfect that no one will need to be good.” (v) Executive remuneration has been developed on the back of the agency theory. Significant short- and long term incentives seek to align the interests of executives with the interests of shareholders. They produce their own crowding-out effect: executives start to believe they are working hard for the extrinsic motivation of financial reward, rather than an intrinsic motivation to contribute or act pro-socially. It is no longer in the personal interests of executives to consider any other interests than the shareholders’ as relevant for their decision-making.
These factors combined, and in various ways mutually reinforcing, may have devastating results, as we see in the numerous cases of environmental degradation and neglect of employees, customers and wider communities by corporations. A common theme through these factors is an excess of ration5
Mayer Firm Commitment, 2013.
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alization and system building, in an attempt to control reality, with a view to ensuring one particular outcome, value for shareholders. Such formal rationalization through bureaucracies, systems and processes comes at the cost of human values, as Max Weber already explained 100 years ago.6 Weber, one of the founding fathers of sociology, points at one specific factor that I think is crucial. In a formally rational economy “decisive are the need for competitive survival and the conditions of labor, money and commodity markets; hence matter-of-fact considerations that are simply nonethical determine individual behavior and impose impersonal forces between the persons involved.” Weber believed this formal rationality would come to overtake substantive rationality, which involves a choice of means to an ends guided by some larger system of human values. As a result, we were to be left in the modern world with people who simply followed the rules without regard to larger human values.7 Later Erich Fromm would describe the process in different words. Fromm was a German psychoanalyst who moved to the United States in the 1930s. In 1956 he described modern American society from a psychoanalytical perspective in his book The Sane Society. Fromm writes about alienation and conformity. Alienation for Fromm is related to idolatry, man building an idol that he then worships as if it is outside of him. The idol typically is a projection of one partial quality in man himself, which then stands over and above him. Man becomes a servant of a Golem, which his own hands have built. “… the very fact that we are governed by laws [of the market] which we do not control, and do not even want to control, is one of the most outstanding manifestations of alienation. We are the producers of our economic and social arrangements, and at the same time we decline responsibility.” Authority is no longer overt, but anonymous, invisible, alienated authority. “The mechanism through which anonymous authority operates is conformity. I ought to do what everybody does, hence, I must conform, not be different. I must not ask whether I am right or wrong, but whether I am adjusted, whether I am not peculiar, not different.”8 In the process described by Weber and Fromm we conform to a corporate context created by us as if this is beyond us, for which we bear no responsibility and which cannot be contested. In this corporate context the sole objective is to generate value for shareholders, other considerations are not relevant. As academics we theorize, research and teach about aspects of the corporate context from this perspective. Within corporations we steer and organize to maximize efficiency towards this objective, through formally rational mechanisms that create impersonal forces between the persons involved. Through executive remuneration with substantial short and long 6
Mayer Firm Commitment, 2013. Weber Economy and society (3 vols) (original work published in 1921). 8 Fromm The Sane Society, 2nd ed. 1956. 7
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term incentives executives have a personal interest in maintaining this system. Thus we have made the financial value-maximization corporate context and idol, something to cherish and worship that we benefit from by worshiping it. In the process we have started to conform to a corporate context created by ourselves as if this is beyond us, for which we bear no responsibility and which cannot be contested. We have thus successfully alienated ourselves (in the sense of worshiping and not taking responsibility) from the corporate context we have created ourselves. The corporation has no responsibility beyond its objective to generate value for shareholders, and neither do we, who can only live with this matter-of-fact, anonymous law of the market. And so the corporation and its inhabitants become amoral. Moral responsibility, in the sense of having responsibility for the consequences of one’s behavior towards others, has become an externality itself: it only is meaningful and relevant for and within the corporation to the extent the external world imposes it on the corporation and its inhabitants through laws or other moral codes, as Friedman’s quote in the introduction shows.9
III. Proposals for change and some reflections Various proposals and attempts in practice are made to address the corporate context that I have presented above. I see these attempts and proposals all as positive signs that we start to wrestle ourselves loose from the impersonal forces that hold us, that make us conform to a corporate reality that we no longer want. Signs that we actually start to take responsibility for the corporate context that we have created ourselves. This is all the more so when proposals come from those who inhabit the corporate context themselves, business leaders and others who work with and within corporations and also academics who theorize, research and teach about this context. If I see it correctly, proposals generally take three directions: (1) reduction of shareholder rights, (2) formulation of a wider corporate purpose, and (3) involvement of other stakeholders than shareholders. Sometimes combinations of these directions are proposed. I will discuss these below and provide some initial reflections. 9 Hess The Unrecognized Consensus about Firm Moral Responsibility in Orts/Smith (ed.) The Moral Responsibility of Firms, 169–187, notes, referring to this quote, that Friedman never suggested that the business arena is a morality-free zone. That may be so, but the morality to which the corporation and its inhabitants are to be subject needs to come from outside of the corporation. Within these external confines, the corporation and its inhabitants do not (have to) produce any morality, any responsibility beyond the responsibility to generate value for shareholders.
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1. Reduction of Shareholder Rights This strategy is applied in order to make the shareholders less dominant principals of the corporation. The Dutch corporate governance regulatory context is rife with proposals along these lines. An early example of this strategy was the proposal of the Dutch Maas Committee that was set up immediately after the financial crisis to advise on how to respond to the financial crisis. In its report of 2009 the Maas Committee suggested that for banks listed on a stock exchange investors should receive depository receipts of shares with reduced voting rights to avoid that a small number of shareholders could dictate the outcome in the General Meeting (recommendation 2.18).10 The proposal was not formalized in the Corporate Governance Codes for Banks. A true reduction of shareholder rights came about in response to various attempts by shareholder activists to force corporations to sell-off parts of their business and pay-out the returns to shareholders. In these attempts shareholders often reverted to corporate litigation to force boards into the desired outcome. In response, Dutch law was amended to make it harder for shareholders with relatively small stakes to initiate inquiry proceedings to this end.11 And finally, in response to a takeover attempt of a US company targeted at AkzoNobel, a proposal was made to Parliament that listed companies subject to the threat of a hostile takeover attempt will enjoy a waiting period of 250 days, during which shareholders cannot have a general meeting convened in which they vote to dismiss executive or supervisory directors. The proposal is still pending in Parliament. At a European level, a similar approach was taken by the introduction of article 12 in the 13th Directive on Takeover Bids. Article 12 allows Member States to opt-out of the provisions of article 9 and 11 of the Directive, which seek to facilitate takeover bids by prohibiting that boards frustrate a takeover bid once it is announced and by allowing for breakthrough of pre-bid existing defensive measures. The opt-out regime effectively has resulted in Member States continuing with, or sometimes even adding to the defensive mechanisms that are available in their corporate laws, making it harder for shareholders to benefit from takeover bids. This strategy touches upon a core weakness of corporate governance of the corporation that is listed on the stock exchange. Managers of firms that are 10 Report of the Maas Committee Naar Herstel van Vertrouwen (2009), available at https://www.dekamer.be/kvvcr/pdf_sections/comm/common/asset.pdf. 11 In inquiry procedure the Enterprise Chamber of the Court of Appeal in Amsterdam can order immediate measures. The bar for initiating this procedure was raised in 2013 for listed corporations in order to make it harder for activist investors to start inquiry proceedings, see art. 2: 346 par 1 (c) Dutch Civil Code. The discussion whether this really has been effective or not continues, see Minister of Legal Protection Letter to Parliament 20 December 2018, TK 29 752, 12, available at https://zoek.officielebekendmakingen/nl/kst29752-12.html.
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not effectively controlled by shareholders (or others) have wide discretion to act in their own interests and are accountable to none. This is partly what the Friedman paradigm and the agency theory sought to address. Taking away shareholder discipline and not replacing it with something else, leaves corporations with effectively non-accountable directors. And paradoxically, these managers may still act primarily in the interests of shareholders, also due to how they are incentivized. In the AkzoNobel case, the board and management decided to resist the offer, to sell-off a substantial part of its business and to return most of the proceeds to shareholders, in order to placate shareholders who missed out on the takeover premium. A pattern that is seen more often and only confirms the shareholder primacy dogma. 2. Defining a Wider Purpose A second strategy is in one way or another to define a wider purpose the fulfillment of which corporations need to work towards. A ‘strong’ purpose orientation may contain the following elements.12 The wider purpose is framed in the context of the contribution that the corporation makes, through its products or services, to wider society, to people and to our planet. Profit is not the objective of the corporation as such but is one outcome of this process in which the corporation seeks to be valuable to society. Profit is the reward for the contribution of financial capital to the achievement of the corporation’s purpose. Performance of the corporation should be measured in relationship to how the corporation delivers on its purpose, not only or primarily on whether it is profitable in doing so and provides rewards for financial capital used. Performance in relation to such wider purpose involves understanding and at least to some extent measuring the way that human and social capital as well as natural capital are used, maintained and rewarded besides financial capital. These impacts are accounted for in performance accounting which is radically different from the current financial annual accounts. A core notion in such a purpose-oriented context is sustainability. Taking a broad view of this concept, not only focused on the environment and the use of natural capital, sustainability brings into view our responsibility for the consequences of current decisions and conduct for future generations. The development of so called Benefit Corporations in the US offers an example of generating such a strong corporate purpose related to society. Many US States now allow for the incorporation of Benefit Corporations that pursue some form of social impact or other public benefit. This specifically allows boards to not maximize returns to shareholders. The Benefit Corporations movement has grown over the last years and has spread out to 12
See also Mayer Prosperity, 2018.
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other countries. Corporations anywhere can receive ‘B corp’ certification if they meet certain criteria that indicate that the corporation is focused on addressing society’s problems.13 The development of B corps is still early days, its future expansion and success remains to be seen.14 The Benefit Corporation movement is a reaction against the shareholder primacy orientation of ‘normal’ corporations. Many normal corporations in recent years have formulated some sort of broader purpose to which they claim to work. Some, and critics would say many, of these purpose statements are pretty hollow, boilerplate, motherhood and apple pie like, with little discernable effect on the corporation’s conduct and orientation. They offer only a ‘weak’ version of purpose orientation. Making a purpose statement in itself does not guarantee that the corporation will indeed orient its decision-making and conduct towards the purpose it has defined. Critics blame corporations for ‘green washing’ of their unchanged business practices by purpose statements that remain without consequences and that only dilute the accountability of directors. This is also part of the critique against the Statement on the Purpose of the Corporation of the US Business Roundtable of September 2019. A number of CEOs of large US corporations as co-signatories to the statement have stated that they have a responsibility not only to shareholders but also to employees, customers, suppliers and wider communities in which they operate.15 Another form of critique is that corporate governance, including redefining the purpose of individual corporations, is not best suited to deal with the problems of society. Tax laws and social regulation designed and imposed by the government can better address concerns of for example inequality and economic insecurity.16 Even if it is true that some form of external regulation can more effectively deal with specific societal concerns, it does not follow that the corporation as such should have no responsibility for such societal concerns. Other ‘weak’ versions of purpose orientation deal with two ways in which the shareholder primacy of Friedman’s doctrine has been taken as an absolute in practice and business schools. The first is that shareholders’ financial interests immediately and at every moment take priority over other interests. This leads to an excessive focus on delivering financial value to shareholders on the 13
See https://benefitcorp.net and www.bcorporation.net. Dorff/Hicks/Solomon The Future or Fancy? An Empirical Study of Public Benefit Corporations, available at https://ssrn.com/abstract=3433772. 15 See https://opportunity.businessroundtable.org/wp-content/uploads/2020/03/BRTStatement-on-the-Purpose-of-a-Corporation-with-Signatures.pdf. For the critique, see Bebchuk/Tallarita The Illusory Promise of Stakeholder Governance, available at https:// ssrn.com/abstract=3544978. 16 Gordon Addressing Economic Insecurity: Why Social Insurance Is Better Than Corporate Governance Reform, the Columbia Law School Blog on Corporations and Capital Markets, available at https://clsbluesky.law.columbia.edu/2019/08/21/addressing-econo mic-insecurity-why-social-insurance-is-better-than-corporate-governance-reform/. 14
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short term. The second is that the shareholder primacy theory has been understood and practiced as a need to maximize shareholder value. Only the maximum possible financial outcome for shareholders is the right outcome of corporate decision-making. Both effects, short-termism and shareholder value maximization, often go hand in hand, they are two aspects of the same underlying problem: shareholder primacy is understood as an absolute maxim. Various forms of regulation seek to address this, with either more emphasis on short-termism or on shareholder value maximization. The short termism effect is addressed for example in the Dutch Corporate Governance Code. Principle 1.1 of the Code describes the key role of corporations to create long-term value, within a context that suggests that interests of various stakeholders are to be balanced.17 The shareholder value maximization effect is addressed by introducing an enlightened shareholder value approach in UK company law. Section 172 of the UK Companies Act 2006 requires directors to promote the success of the company and its members and in doing so have regard to, among others, interests of company’s employees, the need to foster business relationships with suppliers and customers and the impact of the community and the environment. Similarly French law now prescribes that corporations should be managed in furtherance of its corporate interests while taking into consideration the social and environmental issues arising from its activity, art. 1833 French Civil Code as amended by the Pacte Statute.18 I would call these approaches weak versions of purpose orientation. They address the problem of taking shareholder primacy as an absolute, but do not alter the underlying assumptions of the ultimate objective of the corporation to generate value for shareholders. Taking a longer term view and having regard for the interests of others all serve the ultimate purpose of generating value for shareholders. For 17 See https://www.mccg.nl/?page=4738. The Dutch corporate governance context requires boards to balance the interests of all stakeholders. In practice however many listed companies engage in governance practices that are primarily geared to generating shareholder value, among other through substantial variable executive remuneration schemes. Substantive variable pay geared to align the interest of executives exclusively with the interest of shareholders is perfectly possible in the Dutch stakeholder context, see Lokin Het in Kemp/Koster/Schwarz (eds.) De Betekenis en Functies van het Vennootschappelijk Belang, Instituut voor Ondernemingsrecht series nr. 115, 2019, 225–255; The stakeholder approach is often only championed opportunistically when the corporation would come under threat of a takeover bid, see Winter ESB 2017, 4751, 334. The Dutch version of the stakeholder approach in fact never has given any guidance to corporations on the sort of purpose they would need to work towards, as corporations responsible in society. In practice, the applicability is often limited to having regard to interests of employees. Social and natural capital hardly feature in any analysis of the stakeholder approach. Whatever emerges out of the process of balancing interests is what can be done. The neutral instruction to simply balance interests, allows for truly purposeful orientation and conduct as well as for shareholder primacy conduct and orientation to the extent that interests of other stakeholders are not overly trampled. 18 Robé/Delaunay/Fleury French Legislation on Corporate Purpose, available at https:// corpgov.law.harvard.edu/2019/06/08/french-legislation-on-corporate-purpose/.
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some that is already enough.19 However, human, social and natural capital can still be treated as only marginally relevant for the corporation, that seeks ultimately to generate value for shareholders. The Dutch long-term oriented stakeholder approach in practice often at best compares with this enlightened shareholder value approach. The French Pacte Statute also allows for the introduction of the pursuit of a raison d’être in the articles of association, which has some elements of a stronger purpose orientation, art. 1835 French Civil Code. 3. Stakeholder Involvement The third strategy is to actually involve different stakeholders in the governance of the corporation. Some countries have decades of experience in particular with involving employees in the governance of companies. Codetermination was developed in the context of the classic conflict between capital and labour. Works councils receive information on business matters, may advise on certain matters and may sometimes even contest business decisions that they do not deem to be reasonable.20 Often the involvement of works councils is only marginal, not fundamentally changing the course of the corporation. In some jurisdictions various forms of co-determination of the board (typically the supervisory board in a two-tier model) by employees exist. The results are mixed. In the Netherlands the co-determination regime allows works councils to nominate 1/3 of the members of the supervisory board, who may not be employees or trade union representatives. The regime is often seen as a mechanism that more than anything increases the power of the supervisory and executive boards to the detriment of the power of shareholders and gives little real power to employees. In Germany employees can appoint 1/3 or half of the members of the supervisory board, who may be and in practice are employees and trade union representatives. In some comments the engagement of employees in the core decisionmaking is seen as a positive form of engagement. In other comments it is pointed out that the resulting regime leads to a split board and a more complex, antagonistic governance reality. The EU has ventured in this field by introducing the European works council, Directive 2009/38/EC, and by supplementing the Statute of the European Company (SE) with a complex arrangements on co-determination of SE employees, Directive 2001/86/EC. Whatever may be the value of these forms of co-determination, it is clear that they only provide for a partial governance solution, i.e. for employees 19 Ferrarini An Alternative View of Corporate Purpose: Colin Mayer on Prosperity, available at https://ssrn.com/abstract=3552156. 20 Article 26 of the Dutch Works Council Act allows works councils to challenge in court certain important decisions taken by management on the grounds that management in balancing the various interests involved could not reasonably have taken such decision.
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who provide human capital. Employee co-determination does not address concerns relating to the use of social capital, the communities in which the corporation operates, and of natural capital, the use of natural resources and the effects on environment and climate. Co-determination is at best a partial solution to the problem of the modern corporation. A more comprehensive and more radical approach is the development of the multi-stakeholder co-operative as an alternative legal form for conducting business. In many countries co-operatives have a long history of community based economic co-operation.21 The core of the co-operative economic approach is that various members contribute to a joint effort, the value of which is not extracted from the co-operation by one type of participant but is shared among the various members and surplus value is reinvested in the co-operative. This co-operation requires establishing longer term relationships instead of one-off transactions. Co-operative law typically allows for a great level of flexibility in the governance of the cooperative. Co-operatives are now more and more being used as a legal form in which different classes of members join forces, towards a common purpose that connects them. A multi-stakeholder co-operative may have investor members who provide financial capital, working members who provide human capital, community members who provide social capital, and representative members who represent various ngo-type of organizations, including organizations focused on environmental and climate matters. The various classes of members can have different voting rights, on different matters. In some multi-stakeholder co-operatives the different classes of members are also represented at the level of the board, in others the board may be an independent body and members participate primarily in the general meeting. In both cases the board needs to balance the interests of all classes of members in view of the co-operative’s purpose. The province of Quebec in Canada, several US States, France and Italy have issued specific regulation that facilitates multi-stakeholder co-operatives.22 Multi-stakeholder cooperatives may become particularly relevant in the digital platform economy. Modern digital information and communication technology, artificial intelligence, 3-D printing and the internet of things allow many to connect to many others, to produce and provide service at ever lower costs and to share assets and resources with others. An economy of collaborative commons may to a large extent replace social-economic activity that is now organized through classic market economy.23 In an economy of the commons 21
Restakis Humanizing the Economy, Co-operatives in the Age of Capital, 2010. See Solidarity as a Business Model, A Multi-stakeholder Cooperatives Manual, published by the cooperative development center @Kent State University, available at https:// community-wealth.org/content/solidarity-business-model-multi-stakeholder-coopera tives-manual. 23 Rifkin The Zero Marginal Cost Society, 2015. 22
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the multi-stakeholder co-operative is a natural legal form to organize and govern the co-operation between multiple parties involved. As a collaborative legal from the co-operative has always had to deal with a challenge to align the interests of different members (e.g. large producers vs small producers) and the interests of members vs the collective. This difficulty is only aggravated in a multi-stakeholder setting. The governance can easily become complex, cumbersome and time consuming. The multi-stakeholder co-operative requires a very clear purpose that is relevant to all stakeholders involved and that can guide how the various interests are to be balanced.
IV. The Board and the Duty of Societal Responsibility In each of these approaches to address the problem of the responsibility of the corporation the role of the board24 is crucial. In the reduction of shareholder rights approach, the discretion of the board only increases to take any course of action it sees fit. If remuneration incentives for executives and underlying believes and orientations remain as they are, the corporation will not act very differently and will in all likelihood continue to focus on creating value for shareholders. The only thing that will have changed is that shareholders have a reduced ability to discipline directors. Whether the corporation really adjusts its conduct in a more responsible way will completely depend on the extent to which the board really directs the orientation and conduct of the corporation towards what is beneficial to society at large and takes into account all forms of capital it uses in order to achieve that purpose. Even when such a purpose for the corporation is explicitly formulated, this is not a guarantee that the board and others who act on behalf of the corporation actually are guided by that purpose in all of their actions. Again, when remuneration incentives for executives and underlying believes and orientations remain as they are, no change will happen. Purpose can be a shield behind which corporate conduct continues as before. Finally, also when stakeholders are involved in the governance of the corporation, through some form of co-determination, or in the more radical form of a multi-stakeholder co-operative, it is still up to the board to direct the corporation or co-operative towards achieving the purpose that connects the various stakeholders and to balance their interests in the process. Therefore, in any of these approaches, without commitment of the board to direct the corporation towards achieving a purpose that benefits society and our planet and to take into account the various sources of capital the corporation uses to achieve this, it is unlikely that the corporation will indeed do so. 24 I refer to the board in this article as to include both the singular board in the one-tier model as well as both boards in a two-tier model.
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This brings us to the core question: how do we ensure that the board is indeed committed to a broader responsibility of the corporation beyond merely serving the financial interests of shareholders? Colin Mayer stresses the need for commitment in Prosperity: “By articulating clearly in whose interest the corporation is run, making the corporation explicitly liable to those parties, accounting for those liabilities in a transparent way, and making someone specifically responsible for ensuring that the corporation does not deviate from its stated purpose, it is able to offer credible commitments to other parties.”25 Mayer then goes on to describe how certain large, longterm owners of European corporations have transferred their ownership to foundations, exercising control over these corporations. The board of such a foundation is responsible for ensuring that the corporation abides by the principles and value of the foundation, often linked to a charitable purpose. This may offer an avenue to create commitment to responsible corporate conduct for corporations who have large, long-term shareholders. Many and in some jurisdictions, most corporations do not have such shareholders, but only have short-term shareholders, who are unable to generate any such commitment. Mayer’s conclusion is that the “United Kingdom, in particular, with its dispersed ownership, is dominated by short-term shareholders rather than long-term shareowners, and is therefore a low commitment economy… Where corporations do not or are unable to offer the level of commitments that society demands of them, then it resorts to prescriptive regulation in place of permissive enabling legislation.”26 But why stop there? Why accept that when a corporation only has uncommitted shareholders, external, prescriptive regulation will have to bring about the level of responsibility that society expects of corporations? In such a view, societal responsibility of the corporation with dispersed owners remains an externality: it only exists to the extent external regulation imposes it on the corporation and its board. This remains within the confines of the Friedman doctrine. We can do better, if we want to. There is a way in which even a corporation with short-term shareholders who cannot generate a societal commitment for the corporation, can generate from within itself such a commitment. The core of the problem of the amoral corporation is a human failure of succumbing to self-made formal rationalization and alienation. This human failure can only be overcome by addressing who we as humans are in the corporate context. We have to turn to the board of the corporation, to the people who make up boards, as its prime agent. It is people who act on behalf of the corporation, who allow for it to participate in economic activity.27 Without people the cor25
Mayer Prosperity, 2018, 161. Mayer Prosperity, 2018, 164–165. 27 Rönnegard/Velasquez in Orts/Smith (eds.) The Moral Responsibility of Firms, 2017, 123–142. 26
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poration cannot participate in society. 28 The quality of taking moral responsibility, i.e. responsibility for the consequences of one’s acts, is a human quality.29 It requires empathy, the ability to imagine what others would experience, and more broadly human emotions such as remorse or guilt. In order for societal responsibility to come from within the corporation, the responsibility of the people who are its agents needs to be activated. The board is legally responsible for the actions of the corporation.30 It takes its core decisions and directs the people and organization of the corporation. The board is the key body that should consider interests of different stakeholders and the uses of different forms of capital. In the board also rests the authority within the corporation to ensure that others who act on its behalf are guided by the principles and values determined by the board. Corporate law could formulate a duty of the board and the directors to ensure that the corporation acts responsibly with a view to the interests of society and the way it uses investor, human, social and natural capital. I would call this the duty of societal responsibility, a duty to ensure that the corporation acts as a responsible corporate citizen, in the words used by the King IV Corporate Governance Report of South Africa (2016), principle 3. A duty of societal responsibility of the board and directors would generate a commitment from within the corporation to drive the corporation towards fulfilling the needs of society. In an approach that focuses on the formulation of a strong wider purpose of serving society, the duty of societal responsibility could be formulated as a duty to further this wider purpose. This could also be the case for the multi-stakeholder co-operative where various stakeholders co-operate towards a common purpose. In approaches that shy away from the formulation of a wider purpose of the corporation (like the approach to reduce shareholder rights and the co-determination approach involving employees in the governance) a duty of societal responsibility of the board would have to be formulated to explicitly include the concerns of society and the usages of the various forms of capital by the corporation. This duty of societal responsibility would go further than the enlightened shareholder approach in 28
More and more corporations’ actions can be generated by computers and artificial intelligence. This leads to the human challenge of how to equip computers and artificial intelligence with a sense of human morality, of other-regard, see Tegmark Life 3.0. Being Human in the age of Artificial Intelligence, 2017 and Russell Human Compatible, 2019. This should press us to pro-actively ensure that corporations assume human responsibility. If we cannot have human morality determine what corporations do when and as long as they still require human agency, we are even worse off when corporate conduct starts to depend more and more on computers and artificial intelligence. 29 Comte-Sponville Le Capitalisme est-il Moral?, 2009. 30 I do not mean to say that board members therefore have personal liability for everything the corporation is doing. Liability may follow from such responsibility, but typically follows only if certain threshold conditions have been met.
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that the board does not only have to regard other interests to the extent doing so would further the interest of the corporation and its shareholders. The various interests and forms of capital in a sense are at par and it would be for the board to determine in every instance how they should be treated. It would also go further than the approach to focus on long-term value creation, seeking to avoid short-termism. A duty of societal responsibility would entail that also in the long term not only or primarily financial capital would be rewarded but that human capital, social capital and natural capital are rewarded and maintained appropriately as well.
V. Elaborations of the Duty of Societal Responsibility in Corporate Law and Corporate Governance A duty of societal responsibility of the board of directors would complement the duty of loyalty and duty of care that are generally recognized as core director duties, in different ways in different jurisdictions. Such a duty should be elaborated upon in corporate law and corporate governance practices. Law and governance regulation cannot prescribe in detail what this responsibility would entail in the vast variety of corporate practice and reality. We will have to rely on the people that lead corporations as directors to make judgements. But core principles of fair decision-making could be applied to give the duty of societal responsibility solid ground. One such principle is that in executing their duty of societal responsibility directors should act as can reasonably be expected of directors in the relevant circumstances. This is a standard of behavior often used by courts when conduct of directors is assessed. It allows for a marginal review of the decision-making or conduct in light of what is reasonable in the circumstances. The standard presumes that judgement and reason are indeed applied.31 A second principle is that in balancing the various interests, no relevant interest may be disproportionately harmed. Unnecessary harm is always disproportionate and therefore to be avoided. A third principle is that the board needs to apply procedural fairness. The concepts of reasonability, proportionality and procedural fairness will help courts who ultimately have to assess the conduct and decisions of boards and directors. Such a judicial assessment may lead to declaring decisions taken by the board null and void or that a decision to dismiss a director who breached the duty is upheld. It may under circumstances also lead to liability of individual directors. Consequences of breaches of the duty of societal responsibility need to be thought through and standards need to be developed. But a duty of societal responsibility will remain ineffective if such consequences do not follow. 31
Van Schilfgaarde Law and Life, why Law? 2019.
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If a duty of societal responsibility of the board is introduced in corporate law, this should be further elaborated in corporate governance practices. I see at least five corporate governance elaborations. a) Corporate decision-making: boards should develop a decision-making practice to explicitly review how the decision furthers the purpose of the corporation or otherwise in a responsible way addresses societal concerns, in particular how financial, human, social and natural capital are used and affected. This will fundamentally change the deliberation and decisionmaking practices in boards. It will require very different information that is discussed in the board, information that not only sets out the financial aspects of the decision, but also clarifies the impact of the decision on the well-being of employees, the impact on the wider community in which the corporation operates and the impact on environment and climate. Corporations will have to learn to gather this information and therefore at least in part to measure the use of human, social and natural capital, making them internalities that need to be included in decision-making. Boards will have to learn how to make sense of all of this information and how to take decisions that best further the purpose of the corporation, given the various interests and uses of different forms of capital. The very same principles of fair decision-making (reasonability, proportionality and fair process) should guide boards to their decisions. It is likely that deliberations of this kind will also provide insights into heretofore unknown uncertainties. The shareholder primacy theory has led to a dominant corporate practice of simplification of reality by reducing it to measurable, predictable financial outcomes.32 This creates an illusion of control that ignores the role that unpredictability and chance play in a reality that consists of historical combinations of factors, interdependence of individual actors, feedback patterns and emerging knock-on effects that make it impossible to predict any future trajectory.33 I would not be surprised if the new way of deliberating and decision-making, taking into account a much wider set of societal factors and challenges, would bring us closer to the reality we are actually faced with. b) Board composition: because of the very different nature of board deliberation and decision-making and of understanding and assessing different aspects of the reality in which the corporation operates, the composition of 32 Ritzer The Weberian Theory of Rationalization and the McDonaldization of Contemporary Society, available at https://www.corwin.com/sites/default/files/upm-binaries/ 16567_Chapter_.pdf, who calls this aspect of the rationalization process McDonaldization. 33 Winter The Human Experience of Being-in-the-Board. A Phenomenological Approach in Levrau/Gobert (eds.) Governance: the Art of Aligning Interests, Liber Amicorum Lutgart van den Berghe, 2019, 131–148, also available at https://ssrn.com/ab stract=3319392.
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the board must adapt as well. In the dot.com and financial crises of 2002 and 2008–9 the (regulatory) emphasis was put on directors that should have a thorough understanding of financial reporting, control and risk. In recent years understanding and experience of the digital world and opportunities is in vogue. A board that is to seriously consider wider societal concerns, in particular how human capital, social capital and natural capital are used and should be rewarded, needs to have the capabilities to understand and assess these wider aspects of the corporate reality. A concern may arise that boards may become too large to allow for effective deliberation and decision-making if all relevant forms of expertise have to be included in its composition. To avoid this, a new form of distributed leadership at board level could be developed. In the concept of X-teams leadership is distributed in teams rather than exercised by a single person. Team members each connect to other teams inside the organization and to expertise outside of the organization, making flexible use of all relevant internal and external information and expertise.34 In a similar way, an X-board could consist of a core group of members and could be extended with additional members that can advise on specific matters. Such additional members can help the board to make sense of specific areas of societal relevance in which the corporation has to navigate. In its most simple form, not requiring any change in corporate law, in an X-board the core group of board members would constitute the formal board, carrying a collective responsibility. The additional members could be advisory members, who participate in board meetings when their specific expertise or knowledge is required. Advisory members would not share in the collective responsibility of the board. Over time new concepts of roles and responsibilities may be developed adapting to possible new realities in board leadership, board dynamics and decision-making that the X-board could create. c) Executive remuneration: a duty of societal responsibility must have consequences for the way in which executives are remunerated. The current practice of substantial short term and long term variable remuneration has been developed since the early 1990s in order to align the interests of executives with the interests of shareholders. It is a cornerstone of the shareholder primacy corporate practice. This practice must change if a duty of societal responsibility is to have any real effect. There is a widespread belief that variable remuneration based on target-setting in advance generates effective incentives for executives. I do not share that belief, substantial variable pay with target setting in advance puts a complicated behavioral strain on people that is not effective and poten34 Ancona/Backman/Bresman X-Teams: New Ways of Leading in a New World, Ivey Business Journal 2008, available at https://iveybusinessjournal.com/publication/x-teamsnew-ways-of-leading-in-a-new-world/.
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tially very damaging.35 However, if variable pay is to continue, than targets for short and long term remuneration must be set very differently, not only dealing with the financial interests that shareholders have but focusing instead on the achievement of the corporation’s purpose in society and how the various sources of capital are used and affected by the corporation. That undoubtedly is going to be a complex affair, given how complicated remuneration schemes and target setting and measuring achievement already have become in the current context in which the incentives only seek to align with financial capital. There is a good case to be made for simplification of executive remuneration to just fixed pay and to not use remuneration as a tool to stimulate responsible corporate behavior. d) Governance of the organization: boards are ultimately responsible for the conduct of the corporation. In reality most corporate conduct arises through the acts of many employees in different roles throughout the organization. The board has the ultimate responsibility and authority to guide the actions of all employees towards the objectives of the corporation, whatever they may be. Over the last two decades we see that this responsibility has been strengthened in two different ways. The dot.com crisis led to detailed regulation focused on internal control in order to avoid mistakes and fraudulent behavior in financial reporting. Boards were made ultimately responsible that the corporation is in control and complies with the reporting requirements. The financial crisis added a stronger focus on risk management and compliance, in particular for the regulated financial industry. Again, boards are ultimately responsible for ensuring the corporation and its people comply with the rules, processes and standards. In practice this is typically done by building large compliance bureaucracies that seek to control people, which come at the cost of human inspiration, human morality and human judgement.36 A duty of societal responsibility would entail that the board ensures that the corporation and its people work towards the purpose of the corporation or otherwise act responsibly with regard to the interests of society. Building new compliance type of bureaucracies to secure this will fail. If anything, societal responsibility requires human judgement at all levels of the organization. The board’s role is to ensure that this judgement is not random but adheres to general principles and values it has determined. This may lead to actions and commitments that were never explicitly formulated by the board itself and can start to influence the general interpretation of these principles and values, guiding the actions of the corporation 35
Winter Corporate Governance Going Astray: Executive Remuneration Built to Fail in FS Hopt, 2010, 1521–1535, also available at https://ssrn.com/abstract =1652137. 36 Winter The Dehumanisation of the Large Corporation, Dutch in Ondernemingsrecht 2019/2, in English available at https://ssrn.com/abstract=3517492.
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going forward.37 The way for the board to ensure that the organizational conduct is in line with the stated principles and values is to install both inspiration, discipline and psychological safety in the organization and the people.38 This requires different forms of leadership, at executive and nonexecutive level and often radically different ways of organizing.39 This may require a strong focus on the collective, on collaboration. Trade-offs and negotiations at all levels of the organization will have to be made explicit in order to generate a deliberative corporate culture.40 Rather than avoiding and externalizing multiple dimensions and considerations in order to achieve one-sided effectiveness in the shareholder primacy model, true governance innovation requires becoming good at inclusive, multidimensional reflection, deliberation and decision-making. e) Transparency: living up to a duty of societal responsibility entails transparency on how the purpose of the corporation in society is served and how various sources of capital are used and affected by the corporation. Corporations should report on the impact in society they have and on the various sources of capital they use and affect. This will require new ways of measuring impact in society and on sources of capital beyond financial capital. It will take integrated reporting to a next level. The International Integrated Reporting Council (IIRC), a broad coalition of regulators, investors, corporations, standard setters and the accounting professionals and NGOs, already includes accountability and stewardship for various sources of capital as an explicit aim of integrated reporting.41 Reporting on societal impact and use of various sources of capital still is early days. So far, where it is practiced it is often an add-on to financial accounts geared to accounting for investor capital. Over time, when we learn more, one should expect this to become part of the regulated accounting process geared to account for the impact of corporations in society. Gathering and truly understanding information on the wider impact of the corporation in society will also be crucial for the board itself to be able to further the purpose of the corporation in society. To fulfill its duty of societal responsibility a board should be able to show how it has come to certain 37 Hess The Unrecognized Consensus about Firm Moral Responsibility in Orts/Smith (ed.) The Moral Responsibility of Firms, 169–187. 38 On the difference between control and compliance on the one hand, and stretch and discipline on the other, the brilliant talk of Sumantra Goshal on the Smell of the Place at the World Economic Forum, https://youtu.be/UUddgE8rl0E. 39 Laloux Re-inventing Organizations, 2014. 40 Battilana, Muerstein, Lee, New Prospects of Organizational Democracy? In Rangan (ed.) Capitalism Beyond Mutuality, 2018. 41 IIRC, The International Framework, available at https://integratedreporting. org/wp-content/uploads/2013/13-12-08-THE-INTERNATIONAL-IR-FRAMEWORK _2_1.pdf.
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decisions, given the corporation’s purpose in society and use of and impact on various sources of capital.
VI. Conclusion, an Emerging Duty of Societal Responsibility The problem of the lack of moral responsibility of the corporation can be solved by introducing a duty of societal responsibility of the board and the directors. This duty would generate the human commitment that is needed for us to escape the impersonal forces of a corporate context that we have created ourselves, that has become amoral and that we conform to as a matter-of-fact, as Weber and Fromm have described. A human commitment that is generated from within the corporation. Corporate law and corporate governance can and must provide for the necessary elaborations. Whether or not we introduce an explicit duty of societal responsibility of boards and directors of corporations is not a question of law, but a societal, if you wish a political question.42 I would support the introduction of such a responsibility in corporate law. In the midst of all the crises we find ourselves in today (climate change, economic inequality, precarious work, deteriorating bio-diversity, corona-crisis) we need a corporate context that actively contributes to solving them and refrains from aggravating them. This is a human, a societal need that should guide us in determining what corporate context we desire and design. I do not mean to say that all way of business, that profit making itself is inherently bad, not at all. Corporations can, through their ability to raise financial capital that is rewarded through profit making, muster a capacity that is forceful and often cannot be matched by governments or individuals. We need to decide that such forcefulness should be turned to the good, to what society needs. Only imposing responsibility externally, through regulation, on an otherwise amoral corporate context will not suffice.43 The commitment to further societal needs must also come from within the corporation. It should start with the duty of societal responsibility of the board and the directors. Finally, I would argue that a duty of societal responsibility under circumstances may also emerge from law itself. When the Dutch Corporate Governance Code was first adopted and imposed on listed companies on a comply-or-explain-basis, a discussion arose on the legal status of this new phenomenon. In various court cases activist shareholders sought to enforce application of elements of the Corporate Governance Code. The Supreme Court held that a generally held view of what the law involves (which in Dutch law is a potential source of law) can be expressed in the Corporate 42 43
Van Schilfgaarde Law and Life, why Law? 2019. Mayer Prosperity, 2018.
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Governance Code. Such a generally held view may give substance to (i) the requirements of reasonability and fairness according to which those who are involved in the corporation are to conduct themselves towards each other on the basis of article 2: 8 Dutch Civil Code and to (ii) the requirements that follow from a proper fulfillment of duties by directors on the basis of article 2: 9 Dutch Civil Code.44 In another decision the Supreme Court allowed for the possibility that the manner in which the corporation has understood and endorsed principles of corporate governance, for example by statements of the board in the annual accounts, may lead to specific obligations of the board towards its shareholders.45 A similar reasoning could be applied to voluntary statements made by the board on the purpose of the corporation within society and specific societal needs the corporations should address. Such statements could at least within the corporation create obligations for the board to live up to them, which can be enforced by shareholders and possibly the works council as parties who by law and articles of association are involved with the corporation. Outside the corporation, such statements may be construed as unilateral obligations towards third parties, or alternatively breaches of such statements may constitute an act of tort towards third parties. In different jurisdictions different legal techniques will have to be applied to achieve this. Also, the conditions under which such obligations and acts of tort may arise and can be enforced, can be debated at length. But the principle stands: law can ensure that a voluntary statement of a board endorsing a form of societal responsibility does not remain weak, with little or no consequences, but constitute an enforceable obligation, generating a commitment to assume this responsibility.
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HR 13 July 2007, NJ 2007, 434 (ABN AMRO). HR 21 February 2003, JOR 2003, 57 (HBG); Van Schilfgaarde/Winter/Wezeman/ Schoonbrood Van de BV en de NV, 2017. 45
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IV. Bilanzrecht
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Der Anspruch des stillen Gesellschafters gegen den Inhaber des Handelsg. Joachim Schulze-Osterloh
Der Anspruch des stillen Gesellschafters gegen den Inhaber des Handelsgewerbes, den Jahresabschluss aufzustellen JOACHIM SCHULZE-OSTERLOH
I. Einleitung Nach § 233 Abs. 1 HGB ist der stille Gesellschafter berechtigt, die abschriftliche Mitteilung des Jahresabschlusses zu verlangen und dessen Richtigkeit unter Einsicht der Bücher und Papiere zu prüfen. Umstritten ist, ob sich aus dieser Vorschrift ein Anspruch des stillen Gesellschafters gegen den Inhaber des Handelsgewerbes ergibt, dass dieser einen solchen Jahresabschluss aufstelle. Das OLG Hamburg1 meint unter Beifall eines Teils des Schrifttums,2 dass § 233 Abs. 1 HGB nur einen tatsächlich aufgestellten Jahresabschluss betreffe und daher einen solchen Anspruch nicht gewähre. Andere3 bejahen aber diesen Anspruch, wenn auch ohne Begründung. Um diesen Streit zu entscheiden, muss geklärt werden, welche Bedeutung der Jahresabschluss des Inhabers des Handelsgewerbes für den stillen Gesellschafter hat und welche Zusammenhänge mit der Ermittlung des Gewinns oder des Verlustes und der Verteilung des Ergebnisses nach § 232 Abs. 1 HGB bestehen.
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OLG Hamburg vom 4.3.2004 – 11 U 200/03, NZG 2004, 715 = ZIP 2004, 1099, 1100. Harbarth in Staub HGB, Band 4, 5. Aufl. 2015, § 233 HGB Rn. 7; Roth in Baumbach/Hopt HGB, 39. Aufl. 2020, § 233 HGB Rn. 3; Seffer/Erhardt in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 2, 5. Aufl. 2019, § 81 Rn. 14; Wedemann in Oetker HGB, 6. Auflage 2019, § 233 HGB Rn. 8; so auch, falls vertraglich nichts anderes vereinbart Mock in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas, HGB, 5. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 3; K. Schmidt in MünchKomm HGB, Band 3, 4. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 9, doch soll ein solcher Anspruch aus § 232 HGB folgen (dazu unten II. 3). 3 Lamprecht in Blaurock Handbuch Stille Gesellschaft, 9. Aufl. 2020, § 12.47; Kindler in Koller/Kindler/Roth/Drüen HGB, 9. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 1. 2
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II. Das Kontrollrecht nach § 233 Abs. 1 HGB 1. Zweck des Kontrollrechts Der Inhalt des Anspruchs des stillen Gesellschafters aus § 233 Abs. 1 HGB erschließt sich aus dem Zweck dieser Vorschrift. Bei der Beurteilung der Regelung fällt auf, dass der Anspruch auf Mitteilung des Jahresabschlusses nicht von der Ergebnisverteilung in der stillen Gesellschaft abhängt. Er besteht auch dann, wenn – wie überwiegend,4 aber unrichtig5 für die typische stille Gesellschaft angenommen wird – nicht das aus dem Jahresabschluss abgeleitete Jahresergebnis Gegenstand der Ergebnisbeteiligung des stillen Gesellschafters ist, sondern ein davon zu unterscheidendes sog. „Betriebsergebnis“ oder ein anderer vom bilanziellen Jahresergebnis abweichender Gewinn.6 Der Jahresabschluss i.S.d. § 233 Abs. 1 HGB ist der nach den Regeln des Dritten Buches des HGB aufgestellte Jahresabschluss des Inhabers des Handelsgewerbes, an dem sich der stille Gesellschafter gemäß § 230 HGB mit einer Vermögenseinlage beteiligt hat.7 Er besteht nach § 242 Abs. 3 4 Flechtheim in Düringer/Hachenburg HGB, Band II/2, 3. Aufl, 1932, § 337 HGB Anm. 6 (Beteiligung an dem durch den Betrieb des Handelsgewerbes erzielten Gewinn und Verlust); Gehrlein in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn HGB, 4. Auflage 2020, § 232 HGB Rn. 9 (Betriebsergebnis); Harbarth in Staub HGB, Band 4, 5. Aufl. 2015, § 232 HGB Rn. 4 (Betriebsergebnis i.S.v. operativen Gewinnen und Verlusten aus dem Geschäftsbetrieb); Mock in Röricht/Graf von Westphalen/Haas HGB, 5. Aufl. 2019, § 232 HGB Rn. 2 (Ergebnis der Betriebstätigkeit); Roth in Baumbach/Hopt HGB, 39. Auflage 2020, § 232 HGB Rn. 1 (nicht am Geschäftsergebnis schlechthin beteiligt); Schlitt Die Informationsrechte des stillen Gesellschafters in der typischen und in der stillen Publikumspersonengesellschaft, 1996, 86 (nicht am Geschäftsvermögen, sondern nur am Betriebsgewinn bzw. verlust beteiligt); K. Schmidt in MünchKomm HGB, Band 3, 4. Aufl. 2019, § 232 HGB Rn. 6 (Betriebsergebnis iSv erwirtschafteten Gewinnen); Wedemann in Oetker HGB, 6. Auflage 2019, § 232 HGB Rn. 8 (Betriebsergebnis). 5 Schulze-Osterloh in FS Kruse, 2001, 377, 378 ff. Ebenso Aulinger Die atypische stille Gesellschaft, o.J. [1955], 22 f.; Keul in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 2, 5. Auflage 2019, § 86 Rn. 11; Sudhoff NJW 1960, 2121 f.; Wachter Die Gewinnermittlung und Gewinnverteilung in der stillen Gesellschaft, 1996, 72 f., 82 ff.; Westermann Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften, 1970, 311 f.; Zinkeisen Der Umfang der Gewinnbeteiligung und des Auseinandersetzungsguthabens des stillen Gesellschafters, 1972, 35 ff. 6 Schlitt Die Informationsrechte des stillen Gesellschafters in der typischen und in der stillen Publikumspersonengesellschaft, 1996, 86. 7 Gehrlein in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn HGB, 4. Auflage 2020, § 233 HGB Rn. 7; Harbarth in Staub, HGB, Band 4, 5. Aufl. 2015, § 233 HGB Rn. 5; Keul in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 2, 5. Auflage 2019, § 85 Rn. 10; Kindler in Koller/Kindler/Roth/Drüen HGB, 9. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 1 iVm § 166 HGB Rn. 1b; Mock in Röricht/Graf von Westphalen/Haas HGB, 5. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 2; Roth in Baumbach/Hopt HGB, 39. Auflage 2020, § 233 HGB Rn. 3; K. Schmidt in MünchKomm HGB, Band 3, 4. Aufl. 2019, § 233 Rn. 9.
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HGB aus Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung. Ist der Inhaber des Handelsgewerbes eine Kapitalgesellschaft i.S.d. § 264 HGB oder eine OHG oder KG nach §§ 264a ff. HGB, umfasst der Jahresabschluss nach § 264 Abs. 1 Satz 1 HGB zusätzlich einen Anhang, dessen Inhalt in den §§ 284 ff. HGB geregelt ist. Wegen dieser Bezugnahme des Kontrollrechts auf den handelsrechtlichen Jahresabschluss ist der Zweck des Kontrollrechts aus den Zwecken des Jahresabschlusses abzuleiten. Dieser dient zum einen der Selbstinformation des Kaufmanns,8 im Falle einer stillen Gesellschaft, der Selbstinformation des Inhabers des Handelsgewerbes. In einer Gesellschaft soll der Jahresabschluss darüber hinaus die nicht an der Geschäftsführung beteiligten Gesellschafter über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens informieren.9 Dabei handelt es sich für den Jahresabschluss einer Kapitalgesellschaft um die in § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB umschriebene Vermögens-, Finanz- und Ertragslage. Für den Einzelkaufmann und für die Personenhandelsgesellschaft außerhalb des Bereichs des § 264a HGB spricht § 238 Abs. 1 Satz 2 HGB nur allgemein von der Lage des Unternehmens. Diese ist aber ebenfalls in die genannten drei Elemente aufzufächern:10 Die Vermögenslage ergibt sich aus der Bilanz als der Gegenüberstellung der Aktivposten und der Verbindlichkeiten, die Ertragslage lässt sich aus der Gewinn- und Verlustrechnung ableiten und beide Rechenwerke zusammen informieren auch über Finanzlage.11 Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass sich die Aussagefähigkeit des Jahresabschlusses erhöht, wenn man nicht nur punktuell einen einzelnen Jahresabschluss betrachtet, sondern die Jahresabschlüsse in ihrer zeitlichen Abfolge. Hieraus lassen sich im Hinblick auf die Lage des Unternehmens
8 Hinz in Beck’sches Handbuch Rechnungslegung, B 100 Rn. 14 ff. (EL 50, 7/2016); Leffson Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 7. Aufl. 1987, 311.130, 55 f.; Pfitzer/Oser/Lauer in Küting/Weber Handbuch der Rechnungslegung. Einzelabschluss, Kap. 2 Rn. 7 ff. (EL 26, 11/2017). 9 Hinz in Beck’sches Handbuch Rechnungslegung, B 100 Rn. 17 ff. (EL 50, 7/2016); Leffson Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 7. Aufl. 1987, 311.131, 56 ff.; Pfitzer/Oser/Lauer in Küting/Weber Handbuch der Rechnungslegung. Einzelabschluss, Kap. 2 Rn. 10 ff. (EL 26, 11/2017). 10 Nähere Begründung Schulze-Osterloh DStZ 1997, 281, 284 f. 11 Baetge/Zülch in Handbuch des Jahresabschlusses, Beitrag I/2 Rn. 97 (EL 50, 9/2010); Pfitzer/Oser in Küting/Weber Handbuch der Rechnungslegung. Einzelabschluss, § 238 HGB Rn. 15 (EL 11, 4/2011); Schulze-Osterloh in Handbuch des Jahresabschlusses, Beitrag I/1 Rn. 83, 95 (EL 65, 9/2016); Zwirner/Busch in Kirsch Rechnungslegung, § 238 HGB Rn. 32 (EL 63, 2/2013); ferner („Lage des Unternehmens in einem umfassenden Sinn“) Adler/Düring/Schmaltz Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Teilband 6, 6. Aufl. 1998, § 238 HGB Rn. 39. – A.M. (nur Vermögenslage) Drüen in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen Bilanzrecht Kommentar, 2018, § 238 HGB Rn. 21; Pöschke in Staub HGB, Band 5, 5. Aufl. 2014, § 238 HGB Rn. 57; Quick/Volz in Baetge/Kirsch/Thiele Bilanzrecht. Kommentar, § 238 HGB Rn. 26 (EL 80, 6/2018).
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Tendenzen ableiten,12 die vor allem eine zuverlässigere Prognose der Zukunft ermöglichen. Voraussetzung ist dafür, dass die einzelnen Jahresabschlüsse nach übereinstimmenden Regeln aufgestellt werden. Dem dienen vor allem das bilanzielle Fortführungsprinzip nach § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB13 und der Stetigkeitsgrundsatz nach §§ 246 Abs. 3, 252 Abs. 1 Nr. 6 HGB.14 Auf diese Weise ist der Jahresabschluss ein wesentliches Hilfsmittel, mit dem sich die nicht an der Geschäftsführung mitwirkenden Gesellschafter über die Lage des Unternehmens und dessen wirtschaftliche Aussichten informieren können.15 Das gilt auch für den stillen Gesellschafter.16 Dabei spielt keine Rolle, ob die Vermögenseinlage des stillen Gesellschafters bilanzrechtlich als Eigen- oder Fremdkapital des Inhabers des Handelsgewerbes anzusehen ist.17 Weitere anerkannte Zwecke des Jahresabschlusses, wie vor allem die Kapitalerhaltungsfunktion,18 haben für die Auslegung des § 233 Abs. 1 HGB keine Bedeutung. 2. Folgerungen aus dem Zweck des Jahresabschlusses Soll hiernach der der stille Gesellschafter durch den abschriftlich auszuhändigenden Jahresabschluss des Inhabers des Handelsgewerbes in die Lage versetzt werden, die aktuelle und künftige Werthaltigkeit seiner Beteiligung zu beurteilen, können seine Befugnisse nicht davon abhängen, ob der Inhaber tatsächlich einen Jahresabschluss aufgestellt hat. Gerade weil die Aufeinanderfolge der einzelnen Jahresabschlüsse, wie oben unter II 1 ausgeführt, 12
Leffson Bilanzanalyse, 3. Aufl. 1984, Rn. 235 ff.; Schulze-Osterloh, DStR 2007, 1006 f. 13 Leffson WPg 1984, 604; Hennrichs/Schulze-Osterloh DStR 2018, 1731, 1732; SchulzeOsterloh DStR 2007, 1006; Tiedchen in BeckOGK HGB, 1.11.2019, § 252 Rn. 19. 14 Schulze-Osterloh DStR 2007, 1006 f.; Tiedchen in BeckOGK HGB, 1.11.2019, § 252 Rn. 19. 15 Hinz in Beck’sches Handbuch Rechnungslegung, B 100 Rn. 18 f. (EL 50, 7/2016); Leffson Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 7. Aufl. 1987, 311.131, 57; Pfitzer/Oser/Lauer in Küting/Weber Handbuch der Rechnungslegung. Einzelabschluss, Kap. 2 Rn. 11 (EL 26, 11/2017). 16 So ausdrücklich Hinz in Beck’sches Handbuch Rechnungslegung, B 100 Rn. 18 (EL 50, 7/2016); Leffson Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 7. Aufl. 1987, 311.131, 57; Pfitzer/Oser/Lauer in Küting/Weber Handbuch der Rechnungslegung. Einzelabschluss, Kap. 2 Rn. 10 (EL 26, 11/2017); ferner Schlitt Die Informationsrechte des stillen Gesellschafters in der typischen und in der stillen Publikumspersonengesellschaft, 1996, S. 86. 17 Zu dieser Unterscheidung: Schulze-Osterloh in FS Hommelhoff, 2012, 1075 ff. 18 Zu dieser Hinz in Beck’sches Handbuch Rechnungslegung, B 100 Rn. 35 ff. (EL 50, 7/2016); Pfitzer/Oser/Lauer in Küting/Weber Handbuch der Rechnungslegung. Einzelabschluss, Kap. 2 Rn. 16 ff. (EL 26, 11/2017).
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zusätzliche wichtige Erkenntnisse vermitteln kann, darf die Informationskette nicht willkürlich abgebrochen werden. Daher ist anzuerkennen, dass sich aus § 233 HGB trotz des nicht eindeutigen Wortlauts ein Anspruch auf Aufstellung fehlender Jahresabschlüsse ergibt. Das OLG Hamburg stützt sich in seiner ablehnenden Entscheidung im Wesentlichen auf den Wortlaut der Vorschrift, ohne ihren Zweck zu bedenken. Zusätzlich verweist es darauf, dass die handelsrechtlichen Buchführungspflichten öffentlich-rechtliche Pflichten seien. Diese Feststellung ist zutreffend.19 Ihr hat allerdings in jüngerer Zeit Merkt20 widersprochen. Er stützt sich dafür auf die überkommene Interessentheorie, die wegen der Beliebigkeit ihrer Ergebnisse aber inzwischen durch die sog. materielle Subjektstheorie ersetzt ist.21 Diese stellt darauf ab, ob die Durchsetzung der zu beurteilenden Vorschriften Trägern der Staatsgewalt zugeordnet ist. Diese Voraussetzung ist für die Rechnungslegungsvorschriften des Handelsrechts – wenn auch in unterschiedlicher Weise – vor allem durch Strafvorschriften erfüllt.22 Daher ist zu prüfen, ob die öffentlich-rechtliche Qualifikation der Verpflichtung, einen Jahresabschluss aufzustellen, einen privatrechtlichen Anspruch ausschließt, der auf die Erfüllung dieser Verpflichtung gerichtet ist, wie das OLG Hamburg anzunehmen scheint. Ein solcher Zusammenhang besteht jedoch nicht. So ist beispielsweise anerkannt, dass verwaltungsrechtliche Vorschriften, die öffentlich-rechtlichen Schutz Dritter bewirken, zugleich Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB sind,23 sodass deren Verletzung zivilrechtliche Schadensersatzansprüche begründen kann. Für den hier interessierenden Bereich eines Verstoßes gegen Rechnungslegungsvorschriften gilt dasselbe. Der Geschäftsführer einer GmbH ist nach § 41 GmbHG verpflichtet, für die ordnungsmäßige Buchführung der Gesellschaft zu sorgen. Die Buchführungspflicht ist zwar eine öffentlich-rechtliche, doch schuldet sie der Geschäftsführer der Gesellschaft auf Grund des Anstellungsvertrages und des Bestellungsaktes, also auf privatrechtlicher Grundlage. Das bestätigt die in § 43 Abs. 2 GmbHG zugunsten der Gesellschaft angeordnete Schadensersatzpflicht im Falle von Pflichtverletzungen, die auch bei Verletzung der Buchführungspflicht besteht.24 Diese Haftung schließt als 19 Schulze-Osterloh in Handbuch des Jahresabschlusses, Beitrag I/1, Rn. 28 ff. (EL 65, 9/2016). 20 Merkt ZGR 2017, 460, 464 ff. 21 Schulze-Osterloh in Handbuch des Jahresabschlusses, Beitrag I/1, Rn. 28 (EL 65, 9/2016) m.w.N. 22 Einzelheiten Schulze-Osterloh in Handbuch des Jahresabschlusses, Beitrag I/1, Rn. 28 ff. (EL 65, 9/2016). 23 Wagner in MünchKomm BGB, Band 6, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 501. 24 BGH v. 9.5.1974 – II ZR 50/72, NJW 1974, 1468; BGH v. 14.11.2005 – II ZR 178/03, BGHZ 165, 85, 92; André Meyer in Scholz GmbHG. Band 2, 12. Aufl. 2020, § 41 GmbHG Rn. 23 (Stand: April 2020); Fleischer in MünchKomm GmbHG, Band 2, 3. Aufl. 2019, § 41
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Naturalrestitution ein, dass der Geschäftsführer auf Verlangen der Gesellschaft unterlassene Buchführungsarbeiten nachholt. 3. Das Verhältnis des Jahresabschlusses zur Gewinn- und Verlustberechnung nach § 232 Abs. 1 HGB Karsten Schmidt vergleicht die Pflicht des Inhabers des Handelsgewerbes, nach § 233 Abs. 1 HGB jeweils einen Jahresabschluss vorzulegen, mit der sich aus § 232 Abs. 1 HGB ergebenden Pflicht, jeweils am Schluss des Geschäftsjahrs Gewinn oder Verlust zu berechnen.25 Er bezeichnet sie als Pflicht zur Aufstellung des Jahresabschlusses. Diese Gleichsetzung ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn der Ergebnisermittlung und der Ergebnisverteilung tatsächlich der handelsrechtliche Jahresabschluss zugrunde zu legen ist.26 Für die typische stille Gesellschaft lehnt dies Karsten Schmidt mit der ganz überwiegenden Meinung27 ab, so dass ausgehend von diesem Standpunkt § 232 Abs. 1 HGB keinen Anspruch begründen kann, den Jahresabschluss aufzustellen. Im Übrigen dient der Jahresabschluss nicht nur der Ergebnisermittlung, sondern ganz wesentlich der Information über die wirtschaftliche Lage des Handelsgewerbes. Diese wichtige Erkenntnisquelle würde dem stillen Gesellschafter genommen werden, enthielte man ihm den Jahresabschluss nur deshalb vor, weil ihn der Inhaber des Handelsgewerbes – pflichtwidrig – nicht aufgestellt hat. 4. Ergebnis Nach § 233 Abs. 1 HGB erstreckt sich der Anspruch des stillen Gesellschafters „auf die abschriftliche Mitteilung des Jahresabschlusses“ auch auf die Vorlage eines noch nicht aufgestellten Jahresabschlusses. Er enthält damit auch den Anspruch gegen den Inhaber des Handelsgewerbes, einen solchen Jahresabschluss aufzustellen. III. Besonderheiten bei Einzelkaufleuten i.S.d. § 241a HGB Nach § 241a HGB sind Einzelkaufleute nicht zur kaufmännischen Buchführung nach den §§ 238 ff. HGB verpflichtet, wenn an den AbschlussstichGmbHG Rn. 26; Haas in Baumbach/Hueck GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 41 GmbHG Rn. 18; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 41 GmbHG Rn. 4; Paefgen in Ulmer/Habersack/Löbbe GmbHG, Band 2, 2. Aufl. 2014, § 41 GmbHG Rn. 26; Tiedchen in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 41 GmbHG Rn. 12. 25 K. Schmidt in MünchKomm HGB, Band 3, 4. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 9. 26 Mock in Röricht/Graf von Westphalen/Haas HGB, 5. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 3. 27 Oben Fn. 4.
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tagen von zwei aufeinander folgenden Geschäftsjahren ihre Umsatzerlöse nicht mehr als jeweils 600.000 Euro und ihr Jahresüberschluss nicht jeweils mehr als 60.000 Euro betragen. Sie müssen gemäß § 242 Abs. 4 HGB auch keinen Jahresabschluss aufstellen. Diese – rechtspolitisch zu missbilligende28 – Regelung ist mit der Vorschrift des § 233 Abs. 1 HGB nicht abgestimmt. Aus ihr wird geschlossen, dass sich das Kontrollrecht des stillen Gesellschafters auf Rechenwerke reduziert, die der Inhaber des Handelsgewerbes statt eines Jahresabschlusses erstellt hat.29 Dieser Auffassung ist zu folgen. § 233 Abs. 1 HGB gibt nur ein Recht, das aus der Pflicht zu Aufstellung eines Jahresabschlusses folgt. Allerdings kann der Vertrag über die stille Gesellschaft die Klausel enthalten, dass der Inhaber des Handelsgewerbe von dem Wahlrecht nach §§ 241a, 242 Abs. 4 HGB keinen Gebrauch machen darf.30
IV. Durchsetzung des Anspruchs auf Vorlage des Jahresabschlusses 1. Klageverfahren nach § 233 Abs. 1 HGB Zur Durchsetzung der Informationsrechte nach § 233 Abs. 1 HGB ist das Verfahren der Leistungsklage nach der ZPO gegeben.31 Der vorläufige Rechtsschutz richtet sich nach den §§ 935 ff., 940 ZPO.32 Soweit es sich um den hier interessierenden Anspruch auf Aufstellung des Jahresabschlusses handelt, ist zu bedenken, dass sich dieser ohne Mitwir28 Hinz in Beck’sches Handbuch Rechnungslegung, B 100 Rn. 12, 15 (EL 50, 7/2016); Kersting BB 2008, 790, 792; Schulze-Osterloh DStR 2008, 63, 71; gedanklich unabgestimmte Regelung: Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft BB 2008, 152, 155. Andere begrüßen diese Vorschrift: Hoffmann/Lüdenbach NWB Kommentar Bilanzierung, 10. Aufl. 2019, § 241a HGB Rn. 1 („ausgesprochen sinnvolle Lösung“); Fülbier/Gassen DB 2007, 2605, 2607; Herzig DB 2008, 1, 2; Marten/Maccari in FS Krawitz, 2010, 649, 657. 29 Harbarth in Staub HGB, Band 4, 5. Aufl. 2015, § 233 HGB Rn. 7. Ebenso für die stille Beteiligung an einem nichtkaufmännischen Unternehmen K. Schmidt in MünchKomm HGB, Band 3, 4. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 10. So auch für das frühere Recht des minderkaufmännischen Unternehmens Kort DStR 1997, 1372, 1373. Möglicherweise weitergehend Lamprecht in Blaurock Handbuch Stille Gesellschaft, 9. Aufl. 2020, § 12.47 a.E. 30 Allgemein zur vertraglichen Erweiterung der gesetzlichen Informationsrechte des stillen Gesellschafters im Gesellschaftsvertrag K. Schmidt in MünchKomm HGB, Band 3, 4. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 16. 31 Gehrlein in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn HGB, 4. Auflage 2020, § 233 HGB Rn. 18; Harbarth in Staub HGB, Band 4, 5. Aufl. 2015, § 233 HGB Rn. 40; Mock in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas HGB, 5. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 11; K. Schmidt in MünchKomm HGB, Band 3, 4. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 28; vgl. den Fall BGH v. 16.1.1984 – II ZR 36/83, NJW 1984, 2470 f. 32 Harbarth in Staub HGB, Band 4, 5. Aufl. 2015, § 233 HGB Rn. 41; Mock in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas HGB, 5. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 11.
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kung des Inhabers des Handelsgewerbes als Schuldner nicht durchsetzen lässt. Selbst wenn damit ein Sachverständiger betraut wird, hängt dieser von Unterlagen im Besitz des Schuldners und von dessen Auskünften ab. Insoweit ist eine unvertretbare Handlung geschuldet, die im Verfahren des § 888 ZPO vollstreckt wird.33 2. Antrag nach § 233 Abs. 3 HGB Weiterhin gewährt § 233 Abs. 3 HGB im unternehmensrechtlichen Verfahren nach § 375 Nr. 1 FamFG dem stillen Gesellschafter unter der Voraussetzung eines wichtigen Grundes die Möglichkeit, beim Registergericht zu beantragen, dass dieses u.a. die Mitteilung eines Jahresabschlusses anordne. Das Verhältnis dieser Regelung zum Verfahren nach § 233 Abs. 1 HGB ist umstritten. Die herrschende Meinung sieht in § 233 Abs. 3 HGB eine materiellrechtliche Ergänzung zu den Rechten aus § 233 Abs. 1 HGB.34 Demgegenüber vertritt vor allem Karsten Schmidt die Auffassung, § 233 Abs. 3 HGB sei nur eine besondere Verfahrensregelung zur Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes.35 Im Rahmen dieses Beitrages kann diese Frage dahingestellt bleiben.36 Ihre Entscheidung hätte keinen Einfluss auf das Kontrollrecht hinsichtlich des Jahresabschlusses. Anerkannt ist auch, dass sich die beiden möglichen Verfahren nicht gegenseitig ausschließen, vielmehr parallel geführt werden können.37
V. Ergebnisse Aus § 233 Abs. 1 HGB ergibt sich nicht nur ein Anspruch des stillen Gesellschafters gegen den Inhaber des Handelsgewerbes auf abschriftliche Mitteilung des aufgestellten Jahresabschlusses des Handelsgewerbes, sondern auch ein Anspruch auf Aufstellung eines noch nicht vorliegenden Jahresab33 OLG Köln v. 17.1.1997 – 3 W 52/96, NJW-RR 1998, 716; Lackmann in Musielak/ Voit ZPO, 16. Aufl. 2019, § 887 Rn. 10; Seibel in Zöller ZPO, 33. Aufl. 2020, § 888 ZPO Rn. 3.10. 34 Harbarth in Staub HGB, Band 4, 5. Aufl. 2015, § 233 HGB Rn. 31 f., 43 ff.; Mock in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas HGB, 5. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 11; Wedemann in Oetker HGB, 6. Auflage 2019, § 233 HGB Rn. 15. 35 K. Schmidt in MünchKomm HGB, Band 3, 4. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 14; ihm folgend Roth in Baumbach/Hopt HGB, 39. Aufl. 2020, § 233 HGB Rn. 6. 36 Generell ebenso Gehrlein in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn HGB, 4. Auflage 2020, § 233 HGB Rn. 14. 37 Harbarth in Staub HGB, Band 4, 5. Aufl. 2015, § 233 HGB Rn. 45; Mock in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas HGB, 5. Aufl. 2019, § 233 HGB Rn. 11; wohl auch Gehrlein in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn HGB, 4. Auflage 2020, § 233 HGB Rn. 19. Zu den gleichlautenden Vorschriften des § 166 Abs. 1 und 3 HGB: BGH v. 14.6.2016 – II ZB 10/15, BGHZ 210, 363 Rn. 13.
Der Anspruch des stillen Gesellschafters gegen den Inhaber des Handelsg.
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schlusses. Dieser Jahresabschluss ist von der Berechnung von Gewinn und Verlust nach § 232 Abs. 1 HGB und von der Ermittlung des Anteils des stillen Gesellschafters an diesem Ergebnis zu unterscheiden, sofern sich nicht der Anteil des stillen Gesellschafters nach dem zwischen den Beteiligten bestehendem Rechtsverhältnis unmittelbar aus dem Jahresabschluss ergibt. Der Anspruch auf Aufstellung des Jahresabschlusses ist im Wege der Leistungsklage nach der ZPO durchzusetzen.
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Die Entwicklung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz 1225 Die Entwicklung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz Thomas Stapperfend
Die Entwicklung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz THOMAS STAPPERFEND
I. Einleitung Über viele Jahre hat sich Christine Windbichler in der Lehre mit dem Handelsbilanzrecht beschäftigt. Die von ihr vermittelten Kenntnisse waren für die Studierenden nicht nur im Rahmen ihrer handels- und gesellschaftsrechtlichen Ausbildung von unschätzbarer Bedeutung, sondern bildeten auch eine hervorragende Grundlage für das im Rahmen des Unternehmenssteuerrechts zu behandelnde Steuerbilanzrecht. Dies beruhte auf dem über viele Jahrzehnte geltenden Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz. Die Idee, die diesem Grundsatz zugrunde lag, bestand darin, dass derjenige, der eine Handelsbilanz erstellt, diese grundsätzlich auch für Zwecke der steuerrechtlichen Gewinnermittlung nutzen können soll, um eine doppelte Gewinnermittlung, nämlich einerseits für handelsrechtliche und andererseits für steuerrechtliche Zwecke, entbehrlich zu machen. Da das Steuerrecht zum Teil von anderen Grundsätzen ausgeht, sollten für steuerrechtliche Zwecke lediglich Anpassungen vorgenommen werden. Diese durchzuführenden Anpassungen hat der Gesetzgeber im Laufe der Zeit allerdings so stark erweitert, dass der Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz in der Literatur zum Teil mit einem „durchlöcherten Schweizer Käse“ verglichen wurde.1 Handelsbilanz und Steuerbilanz drifteten dadurch immer weiter auseinander. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit dem Inkrafttreten des BilMoG v. 22.5.2009.2 Durch dieses Gesetz wurde die bislang in § 5 Abs. 1 EStG enthaltene Regelung, die die Normierung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes enthielt, geändert. Seitdem ist umstritten, ob und falls ja in welchem Umfang der Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz noch fort gilt.
1 Merkert in Steuerplanung zwischen Abkommens- und nationalem Außensteuerrecht, Köln 1998, 16. 2 BilMoG v. fn. 29, BGBl. I 2009, 1102.
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II. Entstehung und Entwicklung des Grundsatzes der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz 1. Die Entwicklung der kaufmännischen Rechnungslegung a) Erste Ansätze ab dem 14. Jahrhundert Die Grundsätze für die kaufmännische Rechnungslegung entwickelten sich zum Ende des Mittelalters. So existierte in den deutschen Hansestädten ab 1329 ein Rechnungswesen.3 Die auch heute noch üblichen Buchführungstechniken wurden in den italienischen Handelsstädten Genua, Florenz und Venedig ab dem Jahr 1340 entwickelt. Erstmals im Jahr 1494 verfasste der italienische Mathematiker Luca Pacioli eine Schrift über die Grundzüge der doppelten Buchführung.4 Die erste deutsche Schrift zur Buchhaltung verfasste Matthäus Schwarz im Jahr 1518 unter dem Titel „Musterbuchhaltung“.5 Zu einer ersten Kodifikation des kaufmännischen Rechnungswesens kam es in Frankreich im Jahr 1673 durch die von Jacques Savary verfasste Ordonnance de Commerce, die das Bilanzrecht in Europa nachhaltig beeinflusste.6 Der dritte Titel der Ordonnance de Commerce betraf die Bücher und Register der „Großhändler, Kleinhändler und Bankiers“ und legte unter anderem fest, dass − die Groß- und Kleinhändler ein Buch zu führen hatten, welches Aufschluss gab über ihre Geschäfte, Wechsel, Forderungen, Schulden und Entnahmen (Art. I), − die Geschäftsbriefe gebunden aufzubewahren waren (Art. VII) und − Kleinhändler ein Verzeichnis ihres Vermögens aufzustellen und innerhalb von zwei Jahren zu erneuern hatten. Der im Jahr 1807 erlassene Code de Commerce übernahm die Regelungen der Ordonnance de Commerce im Wesentlichen, sah in Art. 9 aber eine Erweiterung insofern vor, als nunmehr alle Kaufleute ein jährliches Vermögensverzeichnis aufzustellen hatten.7 3 Penndorf Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, 1913, 3 ff.; Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 88; Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 150. 4 Luca Pacioli Abhandlung über die Buchhaltung, 1494. 5 Penndorf Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, 1913, 46 ff. und 156 ff.; Penndorf Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis. Beiblatt Der Kaufmann und das Leben; 1912, Nr. 8, 114. 6 Penndorf Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, 1913, 245; Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 89. 7 Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 91.
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In Deutschland nahm das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 eine erste Kodifikation des kaufmännischen Rechnungswesens vor. Nach § 562 des 8. Titels des zweiten Teils konnte sich ein Kaufmann zum Beweis bei seinen streitig gewordenen Forderungen seiner Handlungsbücher bedienen, wenn diese gehörig geführt wurden. Dies erforderte nach § 566 des 8. Titels des zweiten Teils, dass der Kaufmann sie nach kaufmännischer Art führte. Anders als die Ordonnance de Commerce und der Code de Commerce sah das Preußische Allgemeine Landrecht indes keine fristgebundenen Verpflichtungen zur Aufstellung eines Vermögensverzeichnisses vor.8 Eine solche Verpflichtung ließ sich aber aus § 1468 des 20. Titels des zweiten Teils des Allgemeinen Preußischen Landrechts ableiten. Danach wurde ein Kaufmann bei „Ausbrechendem Zahlungsunvermögen“ als ein fahrlässiger „Bankerutierer“ (Bankrotteur) behandelt, wenn er entweder gar keine ordentlichen Bücher führte oder „die Balance seines Vermögens“ wenigstens alljährlich einmal zu ziehen unterließ und sich dadurch in Unwissenheit über die Lage seiner Umstände versetzte. Zur Vermeidung dieser Folge war der Kaufmann mithin zur kaufmännischen Buchführung und zur jährlichen Bilanzierung verpflichtet.9 b) Die Schaffung eines einheitlichen Handelsrechts für das Deutsche Reich Bereits kurze Zeit nach Inkrafttreten des Allgemeinen Preußischen Landrechts zeigte sich, dass die Regelungen nicht den Verkehrsbedürfnissen entsprachen. Angesichts dessen gab es mehrere Initiativen zur Vereinheitlichung des Handelsrechts, nicht zuletzt auch durch den zum 1.1.1834 gegründeten Deutschen Zollverein als Zusammenschluss von Staaten des Deutschen Bundes für den Bereich der Zoll- und Handelspolitik.10 Greifbare Erfolge waren zunächst allerdings nicht zu verzeichnen. Erst am 12.3.1861 legte die von der Bundesversammlung eingesetzte Handelsrechtskommission den Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches11 vor, der in den deutschen Staaten aber mangels Gesetzgebungskompetenz nicht in Kraft gesetzt werden konnte. Auf Empfehlung des Deutschen Bundes übernahmen aber die meisten deutschen Staaten den Entwurf als jeweiliges partikulares
8 S. zum bloßen Recht eines Gesellschafters einer „Handlungsgesellschaft“, zum Ende eines Jahres die Aufstellung eines Inventars zu verlangen § 642 des 8. Titels des zweiten Teils, woraus Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 92, allerdings eine generelle Verpflichtung zur Inventaraufstellung ableitet. 9 Mit dieser Schlussfolgerung auch Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 93. 10 S. insgesamt dazu Fleckner in Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Band I, 2009, „Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch“. 11 ADHGB.
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HGB.12 Erst im Jahr 1869 wurde das ADHGB Gesetz des Norddeutschen Bundes13 und 1871 Reichsrecht.14 Regelungen zu den Handelsbüchern enthielten die Art. 28 ff. ADHGB. So sah Art. 28 ADHGB die Verpflichtung für jeden Kaufmann vor, Bücher zu führen, aus welchen seine Handelsgeschäfte und die Lage seines Vermögens vollständig zu ersehen waren. Art. 29 ADHGB normierte für jeden Kaufmann die Pflicht, bei Beginn seines Gewerbes seine Grundstücke, seine Forderungen und Schulden, den Betrag seines baren Geldes und seine anderen Vermögensstücke genau zu verzeichnen, dabei den Wert der Vermögensstücke anzugeben und einen das Verhältnis des Vermögens und der Schulden darstellenden Abschluss zu machen. Ein solches Inventar und eine solche Bilanz seines Vermögens musste er fortan jährlich anfertigen. Diese Regelungen wurden später nahezu unverändert in den §§ 38 ff. des ab dem 1.1.1900 geltenden HGB v. 10.5.189715 übernommen. Im Vergleich zu Art. 28 ADHGB sah § 38 HGB aber insofern eine Erweiterung vor, als der Kaufmann verpflichtet war, seine Handelsgeschäfte und die Lage seines Vermögens in seinen Büchern „nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung“ ersichtlich zu machen. Damit erfuhr der Begriff der „Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ seine erste Kodifizierung. 2. Anknüpfung der Steuergesetze an die kaufmännische Rechnungslegung bis zum Jahr 1919 a) Untauglichkeit der ersten Regelungen für eine steuerrechtliche Anknüpfung Bis zum Jahr 1919 war die Einkommenbesteuerung in Deutschland Angelegenheit der einzelnen deutschen Staaten.16 Eine Anknüpfung der Gewinnermittlung an die kaufmännische Rechnungslegung kam dabei bis zum Inkrafttreten des ADHGB17 nicht in Betracht, weil die kaufmännische Rechnungslegung zunächst nur der Information des Kaufmanns und seiner Gläubiger und später der Beweisführung diente,18 während die Ermittlung eines kaufmännischen Gewinns seinerzeit noch nicht in ihrem Fokus stand.19 Zudem enthielt das Allgemeine Preußische Landrecht keine Vorschrift zur verpflichtenden periodischen Erstellung von Vermögensüber12 Fleckner in Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Band I, 2009, „Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch“; Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 93. 13 Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1869, 404. 14 RGBl. I 1871, 123. 15 RGBl. I 1897, 219. 16 Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 110. 17 S. dazu oben unter II.1.c). 18 Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 87 sowie oben unter II.1.b). 19 Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 87; Söffing in FS Budde, 1995, 635, 636.
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sichten und Bilanzen.20 Dies änderte sich erst mit dem Inkrafttreten des ADHGB. b) Erste Kodifikationen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes in Bremen und Sachsen Anknüpfend an die Regelungen des ADHGB sah das Bremische EStG v. 17.12.187421 als erstes eine Anknüpfung an die kaufmännische Rechnungslegung vor. So bestimmte die auf Betreiben der Bürgerschaft aufgenommene22 Anlage B zu § 5 Abs. 3, dass ein Gewerbetreibender, der kaufmännische, den Bestimmungen des HGB entsprechende Geschäftsbücher führte, das steuerpflichtige reine Einkommen nach der ordnungsmäßig aufgestellten Jahresbilanz zu berechnen hatte. Ferner gehörte zum reinen Einkommen der Gewinn aus Handelsgeschäften, so wie er sich aus dem nach den Bestimmungen des HGB aufgestellten Jahresabschluss ergab. Damit war die Grundlage für die formelle Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz geschaffen.23 § 22 des Sächsischen EStG v. 22.12.187424 ging einen anderen Weg. Danach war bei einem Handels- und Gewerbebetrieb der Reingewinn nach den Grundsätzen zu berechnen, die für die Inventur und Bilanz durch das HGB vorgeschrieben waren und „dem Gebrauch eines ordentlichen Kaufmanns“ entsprachen. Mit dieser Regelung begründete das Sächsische EStG die materielle Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz.25 c) Die Entwicklung in Preußen Preußen schuf erst 1891 im Rahmen der Miquel’schen Steuerreform eine Regelung zur Anknüpfung an die kaufmännische Rechnungslegung in § 14 Satz 2 des Preußischen EStG v. 24.6.1891.26 Dies beruhte auf einer Forderung der gewerblichen Wirtschaft, die keine zwei unterschiedlichen Jahres20 So auch Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 87; s. aber auch oben unter II.1.b). 21 Bremisches GBl. 1874, 121. 22 S. insgesamt zum Gesetzgebungsverfahren Barth Die Entwicklung des deutschen Bilanzrechts, Bd. II: Steuerrecht, 1955, 189 ff.; Pohl Die Entwicklung des ertragssteuerrechtlichen Maßgeblichkeitsprinzips, 1983, 24 f.; Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 117. 23 Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 152; zur Übernahme der Regelung in Hamburg im Jahr 1881 s. Pohl Die Entwicklung des ertragssteuerrechtlichen Maßgeblichkeitsprinzips, 1983, 194 ff. und Anhang, 53. 24 GVBl. für das Königreich Sachsen 1874, 471. 25 Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, S. 151; zum Hintergrund der Einführung der Norm s. Pohl Die Entwicklung des ertragssteuerrechtlichen Maßgeblichkeitsprinzips, 1983, Anhang,100; Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 115. 26 PrGS. 1891, 175.
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rechnungen aufstellen wollte.27 Den Konflikt zwischen dem handelsrechtlichen Vorsichtsprinzip einerseits und den Versuchen der Steuerverwaltung andererseits, eine Minderung der steuerlichen Bemessungsgrundlage zu verhindern28 löste § 14 Satz 3 PrEStG dahingehend, dass die regelmäßigen jährlichen Abschreibungen „einer angemessenen Berücksichtigung der Werthverminderung entsprechen“ mussten. Damit sah das Preußische EStG von 1891 bereits eine erste Ausnahme von der soeben geschaffenen Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz vor. Als problematisch erwies sich § 14 PrEStG insofern, als Satz 2 zwar an die Handelsbilanz anknüpfte der Geschäftsgewinn nach Satz 1 aber nach den allgemeinen Grundsätzen der §§ 6–11 ermittelt werden sollte, die aber eine Einnahmen-Ausgaben-Rechnung vorsahen. Nachdem das Preußische Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil v. 13.12.189529 die handelsrechtliche Gewinnermittlung als vorrangig angesehen hatte,30 wurde dieser Widerspruch durch das Gesetz betreffend die Abänderung des EStG und des ErgänzungsG v. 18.6.190631 beseitigt; maßgeblich war die handelsrechtliche Gewinnermittlung unter Berücksichtigung der einkommensteuerrechtlichen Sondervorschriften. d) Einordnung der Rechtsentwicklung bis 1919 Vergegenwärtigt man sich die Rechtsentwicklung bis zum Jahr 1919, so ist augenscheinlich, dass die Begründung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz eher zufällig erfolgte und nicht auf rechtlichen oder finanzwissenschaftlichen Überlegungen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit beruhte.32 Deutlich wird dies insbesondere dadurch, dass die Schaffung der Maßgeblichkeitsregelungen in Bremen, Sachsen und Preußen einerseits von der Bürgerschaft und andererseits von der gewerblichen Wirtschaft aus Vereinfachungsgründen gefordert wurde, um so die Erstellung eines zweiten (steuerrechtlichen) Jahresabschlusses zu verhindern.33 Dass damit ein gänzlich neues System zur Einkünfteermittlung geschaffen wurde und dass diese fortan nicht mehr auf 27
Barth Die Entwicklung des deutschen Bilanzrechts, Bd. II: Steuerrecht, 1955, 198; Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 120. 28 Ausführlich dazu Barth Die Entwicklung des deutschen Bilanzrechts, Bd. II: Steuerrecht, 1955, 200 ff. 29 Pr. OVG Urteil v. 13.12.1895 – Rep 5/95, Bd. IV, 241. 30 So auch Fuisting PrEStG, § 14 Anm. 13A; s. dazu ferner Pohl Die Entwicklung des ertragssteuerrechtlichen Maßgeblichkeitsprinzips, 1983, 31 ff.; Mathiak in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 122. 31 PrGS. 1906, 241. 32 Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, S. 152 f.; Zimmermann StuB 2001, 806, 807. 33 S. dazu oben unter II.2.b)-d).
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der Grundlage der Quellentheorie durch Einnahmen-Ausgaben-Rechnung erfolgen würde, war weder den die Gesetze beschließenden Abgeordneten noch den beteiligten Regierungen bewusst.34 Gleichwohl war damit der Übergang von der bislang herrschenden Quellentheorie zu der von Georg von Schanz entwickelten Reinvermögenszugangstheorie vollzogen.35 3. Regelungen zur Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz in den Einkommensteuergesetzen ab 1920 a) Einkommensteuergesetz vom 29.3.1920 nebst Änderungsgesetz vom 24.3.1921 Die erste reichseinheitliche Regelung zur Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz enthielt § 33 Abs. 2 des EStG v. 29.3.1920,36 wonach der Geschäftsgewinn bei Steuerpflichtigen, die Handelsbücher nach den Vorschriften des HGB führten, nach den Grundsätzen zu berechnen war, wie sie für die Inventur und Bilanz durch das HGB vorgeschrieben waren. Abweichungen davon sah das EStG aber für nach § 15 EStG 1920 nicht vom Gesamtbetrag der Einkünfte abziehbare Aufwendungen, für ein dem Steuerpflichtigen nach § 33a EStG37 eingeräumtes Bewertungswahlrecht und eine nach § 59a EStG38 für Zwecke der steuerlichen Wirtschaftsförderung zugelassene Rücklagenbildung zur Ersatzbeschaffung vor. b) Einkommensteuergesetz vom 10.8.1925 Das EStG v. 10.8.192539 enthielt mit § 12 Abs. 1 erstmals eine eigenständige steuerrechtliche Regelung zur Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich. Der Gewinn wurde zwar – nach wie vor – als Überschuss 34 Dazu Robisch/Treisch WPg., 1997, 156, 157 f.; Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, S. 149. 35 Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 154 unter Verweis auf Schneider in FS Rose, 2003, 175, 190, nach dessen Auffassung das Maßgeblichkeitsprinzip erst durch die Rechtsprechung begründet wurde; s. dazu Sächsisches OVG Urteil v. 30.12.1901 – Nr. 188 II S, Jahrbücher des Königlich Sächsischen OVG, Bd. 1, 343 und Preußisches OVG, Urteil v. 12.10.1912 – V. A. 3/12, Entscheidungen des Königlich Preußischen OVG in Staatssteuersachen, Bd. 16, 237, 241, die in den Entscheidungen erstmals auf die Bedeutung von Wertveränderungen hinwiesen. 36 RGBl. 1920, 359. 37 § 33a EStG idF des Ges. zur Änderung des EStG v. fn. 21, RGBl. 1921, 313: Ansatz der Gegenstände des Betriebsvermögens entweder mit den Anschaffung- oder Herstellungspreisen abzüglich der zulässigen Absetzungen für Abnutzung oder aber mit dem gemeinen Wert, der inflationsbedingt aber in der Regel höher war; dazu Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 155. 38 § 59a EStG idF. des G zur Änderung des EStG v. fn. 21, RGBl. 1921, 313. 39 RGBl. I 1925, 189
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der Einnahmen über die Ausgaben definiert, allerdings nunmehr zuzüglich des Mehrwerts oder abzüglich des Minderwerts der Erzeugnisse, Waren und Vorräte des Betriebs, der den Betriebe dienenden Gebäude nebst Zubehör sowie des beweglichen Anlagekapitals am Schluss des Steuerabschnitts gegenüber dem Stand am Schluss des vorangegangenen Steuerabschnitts. Die Gesetzesbegründung sprach insoweit erstmals von einer „Steuerbilanz“.40 Für Steuerpflichtige, die Handelsbücher nach den Vorschriften des HGB zu führen verpflichtet waren oder ohne eine solche Pflicht Handelsbücher nach diesen Vorschriften tatsächlich führten, war der Gewinn gemäß § 13 Satz 1 EStG 1925 der nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung für den Schluss des Steuerabschnitts ermittelte Überschuss des Betriebsvermögens über das Betriebsvermögen, das am Schluss des vorangegangenen Steuerabschnitts der Veranlagung zugrunde gelegen hatte. Sondervorschriften – und damit Ausnahmen vom Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz – sah das EStG 1925 allerdings für die Entnahmen aus dem eigenem Betrieb, die abzugsfähigen Ausgaben und die Bewertung vor.41 Da § 13 Satz 1 EStG 1925 an den nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ermittelten Gewinn anknüpfte, schrieb die Norm lediglich die materielle Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz vor.42 Eine Bindung an den in der Handelsbilanz konkret gebildeten Ansatz im Sinne einer formellen Maßgeblichkeit sah die Vorschrift indes nicht vor. Gleichwohl vertrat der Reichsfinanzhof die Auffassung, dass die Regelung zur Maßgeblichkeit in § 13 Satz 1 EStG 1925 so weit reiche, dass der konkrete Handelsbilanzwert auch der Steuerbilanz zugrunde gelegt werden müsse, soweit dieser mit dem Steuerrecht vereinbar sei.43 Dies beruhte auf der Annahme, dass die Steuerbilanz gerade keine selbstständige Bilanz sei, sondern eine lediglich von der Handelsbilanz abgeleitete Bilanz.44 Angesichts dessen verwundert es, dass der Reichsfinanzhof auf der anderen Seite die Selbstständigkeit der Steuerbilanz gegenüber der Handelsbilanz betonte und etwa für die Aktivierung in der Steuerbilanz den Begriff des Wirtschaftsgutes entwickelte,45 für den das EStG 1925 zum einen keine Rechtsgrundlage enthielt und der zum anderen vom handelsbilanzrechtlichen Begriff des Vermögensgegenstandes abwich.46 40 RT-Drucks. III. Wahlperiode 1924/25, Nr. 795, 46; zur Entwicklung dieses Begriffs im Schrifttum s. Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 129 mwN. 41 S. § 13 Satz 2 EStG 1925 und zur Bewertung § 19 Abs. 1 EStG 1925, der im Wesentlichen der heutigen Teilwertdefinition in § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG entspricht. 42 Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 156. 43 RFH, Urteil v. 9.12.1931 – I A 345/31, RStBl. 1932, 147, 148; Urteil v. 14.12.1937 – I 250/ 37, RFHE 43, 23. 44 RFH, Urteil v. 30.4.1930 – I A 856/29, RStBl. 1930, 354. 45 RFH, Urteil v. 27.3.1928 – I A 470/27, RStBl. 1928, 260. 46 So insbesondere auch Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 157, der zudem auf das Urteil des RFH v. 14.12.1926 – VI A 575/26, RFHE 20, 87
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c) Einkommensteuergesetz vom 16.10.1934 und vom 6.2.1938 Das EStG v. 16.10.193447 behielt die zuvor in § 12 Abs. 1 EStG 1925 enthaltene eigenständige steuerrechtliche Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich bei48 und regelte diese nunmehr in § 4 Abs. 1 EStG 1934, der vom Wortlaut her mit der heute noch geltenden Norm übereinstimmt. Die Regelung zur Maßgeblichkeit wurde in § 5 Abs. 1 EStG 1934 übernommen, erfasste allerdings im Unterschied zur Vorgängerregelung in § 13 EStG 1925 nur noch diejenigen Steuerpflichtigen, die nach den Vorschriften des HGB zur Buchführung verpflichtet waren. Die steuerrechtlichen Vorschriften zu den Entnahmen, Einlagen, Betriebsausgaben und zur Bewertung waren – als Durchbrechung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes – nach § 5 Abs. 1 Satz 2 EStG 1934 weiterhin zu beachten. Das EStG v. 6.2.193849 änderte die Regelung zur Maßgeblichkeit dahingehend, dass sie nur noch Gewerbetreibende erfasste, deren Firma im Handelsregister eingetragen war. Auf die Verpflichtung zur Buchführung stellte die Norm nicht mehr ausdrücklich ab. 4. Regelungen zur Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz in den Einkommensteuergesetzen der Bundesrepublik Deutschland a) Einkommensteuergesetz vom 16.12.1954 Die im EStG 1938 enthaltenen Regelungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 und des § 5 galten auch nach der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland zunächst fort.50 Eine erste Änderung erfuhr § 5 EStG erst durch das Gesetz zur Neuordnung von Steuern v. 16.12.1954.51 Zum einen erfasste die Regelung nunmehr alle Gewerbetreibenden, die aufgrund gesetzlicher Vorschriften verpflichtet waren, Bücher zu führen und regelmäßig Abschlüsse zu machen, oder die ohne eine solche Verpflichtung Bücher führten und regelmäßig Abschlüsse machten. Damit knüpfte die Norm an die Regelung in § 13 Satz 1 EStG 1925 an, allerdings mit dem Unterschied, dass sich die Buchführungspflicht nicht nur aus dem HGB ergeben musste. Zum anderen war nach § 5 Satz 1 EStG 1954 dasjenige Betriebsvermögen anzusetzen, das nach verweist, in dem der RFH den rein steuerrechtlichen Bewertungsmaßstab des Teilwerts im Gegensatz zum handelsrechtlichen Maßstab des gemeinen Werts geschaffen habe. Dabei ist aber zu beachten, dass der RFH in dieser Entscheidung lediglich das nachgezeichnet hat, was durch § 19 Abs. 1 EStG 1925 vorgegeben war. 47 RGBl. I 1934, 1005. 48 Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 132. 49 RGBl. 1938, 121. 50 S. dazu EStG i.d.F. v. fn. 13, BGBl. I 1953, 1355. 51 BGBl. I 1954, 373.
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den „handelsrechtlichen“ Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung auszuweisen war. Mit der Einfügung dieses Adjektivs wollte der Gesetzgeber nach der Auffassung von Schön52 der drohenden Auflösung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes begegnen, die durch die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs zur Entwicklung der eigenständigen steuerrechtlichen Begriffe des Wirtschaftsguts53 und des Teilwertes54 in Gang gesetzt worden sei. Aus der Gesetzesbegründung lassen sich für diese Annahme indes keine Anhaltspunkte entnehmen.55 Im Gegenteil: Nachdem der Gesetzgeber das Einkommensteuerrecht als Mittel der Wirtschaftslenkung entdeckte hatte,56 schuf er immer weitere steuerrechtliche Sonderregelungen, wie etwa in den §§ 7a ff. EStG57, und schränkte den Maßgeblichkeitsgrundsatz dadurch immer weiter ein. b) Bekenntnis zum Maßgeblichkeitsgrundsatz durch das Einkommensteuergesetz vom 16.5.1969 Ein klares Bekenntnis zum Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz nahm der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung des EStG v. 16.5.196958 vor,59 indem er in § 5 Abs. 2 und 3 EStG das Verbot des Ansatzes unentgeltlich erworbener immaterieller Wirtschaftsgüter und die Beschränkung der Rechnungsabgrenzung auf transitorische Schuldposten aufnahm; Regelungen, die zuvor nahezu wörtlich in § 153 Abs. 3 und § 152 Abs. 9 AktG 1965 enthalten waren, bei denen aber Streit bestand, ob es sich um steuerrechtlich beachtliche Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung handelte.60 Auslöser dafür war die Rechtsprechung des BFH, der – so die Gesetzesbegründung – „die Frage der steuerlichen Aktivierung und Passivierung einschließlich der Rechnungsabgrenzung grundsätzlich aus den §§ 6 und 7 EStG entschieden“ habe, sodass die Gefahr bestehe „daß Steuerbilanz und Handelsbilanz über die Unterschiede hinaus, die sich aus dem steuerrechtlichen Bewertungsvorbehalt ergeben, auch hinsichtlich der dem Grunde nach anzusetzenden Vermögenswerte auseinan52
Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 157. S. dazu unter II.3.b). 54 S. dazu Fn. 60. 55 Vgl. dazu BT-Drucks. 481, 1, 76. 56 Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 137. 57 IdF des Gesetzes v. fn. 29, Wirtschaftsgesetzblatt 1949, 69. 58 BGBl. I 1969, 421. 59 So auch Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 141; Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 158; dazu auch Döllerer BB 1969, 501, 507, nach dessen Auffassung die Eigenständigkeit der Steuerbilanz auf ein vernünftiges Maß zurückgeführt worden sei. 60 Bejahend z.B.: Döllerer BB 1965, 1405; verneinend z.B. Littmann DStR 1966, 233; s. insgesamt auch Krieger in FS Döllerer, 1988, 327, 332. 53
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derfallen“.61 Weiter stellte der Gesetzgeber klar: „Was zu bewerten ist, d. h., ob ein bilanzierungsfähiges Wirtschaftsgut vorhanden ist, bestimmen die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung; wie ein bilanzierungsfähiges Wirtschaftsgut zu bewerten ist, entscheidet sich nach Steuerrecht.“.62 Daran hielt er auch trotz diverser Reformvorschläge zur Schaffung eines unabhängigen Steuerbilanzrechts mit eigenen Bilanzierungsregelungen fest.63 c) Partielle Normierung der umgekehrten / formellen Maßgeblichkeit durch das Bilanzrichtliniengesetz vom 19.1.1985 Durch das BiRiLiG v. 19.1.198564 wurden in den §§ 238 ff. HGB die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung umfassend kodifiziert.65 Darüber hinaus wurde an § 6 EStG ein neuer Abs. 3 angehängt, wonach es Voraussetzung für unter anderem die Inanspruchnahme erhöhter Absetzungen, Sonderabschreibungen, Abschreibungen nach § 6 Abs. 2 EStG und den Abzug nach § 6b Abs. 1 oder Abs. 3 Satz 2 EStG war, dass die Wirtschaftsgüter in der handelsrechtlichen Jahresbilanz mit den sich danach ergebenden niedrigeren Werten ausgewiesen würden. Damit normierte der Gesetzgeber erstmals für die in § 6 Abs. 3 EStG 1985 konkret genannten Anwendungsfälle den Grundsatz der umgekehrten Maßgeblichkeit66 und damit die – von der Rechtsprechung bis dahin unmittelbar aus § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG abgeleitete67 – Bindung an den in der Handelsbilanz konkret gebildeten Ansatz im Rahmen einer formellen Maßgeblichkeit.68 Dies war eine Reaktion auf eine Divergenz in der Rechtsprechung des I. und des IV. Senats des BFH.69 Während der IV. Senat in einem Urteil v. 25.4.198570 davon ausging, dass das Bewertungswahlrecht des § 6b EStG in der Handelsbilanz ausgeübt werden müsse, um sodann in gleicher Weise für die steuer61 BT-Drucks. V/3187, 3; s. zur Rechtsprechung auch BFH, Beschluss v. 3.2.1969 – GrS 2/68, BStBl. II 1969, 291, 293, wonach es Sinn und Zweck der steuerrechtlichen Gewinnermittlung entspricht, den „vollen Gewinn“ zu erfassen. 62 BT-Drucks. V/3187, 3. 63 S. zu den Reformvorschlägen insbesondere das Gutachten der SteuerreformKommission, Abschn. V Rz. 17 ff. sowie Mathiak in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff EStG, § 5 Rz. A 144 ff. 64 BGBl. I 1985, 2355. 65 S. zu Art und Umfang ausführlich Mathiak in FS Beisse, 1997, 323. 66 Beschluss und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 10/4268, 146; Seeger in Schmidt EStG, 5.Aufl. München 1986, § 6 Anm. 111.a. 67 RFH Urteil v. fn. 30 – I A 856/29, RStBl. 1930, 354; Urteil v. 9.12.1931 – I A 345/31, RStBl. 1932, 147, 148; Urteil v. 14.12.1937 – I 250/37, RFHE 43, 23; BFH Urteil v. fn. 19 – I 189/65, BStBl. II 1970,107, 108, betreffend eine Teilwertabschreibung. 68 Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, S. 161; zur früheren Rechtslage bei Umwandlungen s. Robisch/Treitsch WPg., 1997, 156, 160. 69 Beschluss und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 10/4268, 146. 70 BFH, Urteil v. fn. 25 – IV R 83/83, BStBl. II 1986, 350.
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rechtliche Gewinnermittlung zu wirken, hatte der I. Senat in seinem Urteil v. 24.4.198571 eine Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz für den Fall verneint, dass der Steuerpflichtige in den Folgejahren in der Handelsbilanz Zuschreibungen vornimmt. d) Umfassende Normierung der umgekehrten Maßgeblichkeit durch § 5 Abs. 1 Satz 2 EStG 1990 Da § 6 Abs. 3 EStG 1985 die Fälle der umgekehrten Maßgeblichkeit nur partiell regelte, traten in der Folgezeit zahlreiche Unklarheiten auf.72 Dies veranlasste den Gesetzgeber, die umgekehrte Maßgeblichkeit umfassender zu regeln, indem er durch das WohnungsbauförderungsG v. 22.12.198973 einen Satz 2 an die bisherige Regelung des § 5 Abs. 1 EStG angehängte, wonach steuerrechtliche Wahlrechte bei der Gewinnermittlung in Übereinstimmung mit der handelsrechtlichen Jahresbilanz auszuüben waren. Diese Regelung war bereits im Entwurf eines SteuerreformG 1990 enthalten74 und sollte den allgemeinen Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz verdeutlichen.75 In der Literatur stieß die Neuregelung zum Teil auf erhebliche Kritik76, die in handelsrechtlicher Hinsicht darauf beruhte, dass die aus steuerlichen Gründen in der Handelsbilanz beizubehaltenden oder zu übernehmenden Werte zu einer Verfälschung der Handelsbilanz führen würden.77
III. Aufgabe des Grundsatzes der formellen Maßgeblichkeit durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz vom 25.5.2009? 1. Änderung des § 5 Abs. 1 EStG Die durch das WoBauFG v. 22.12.198978 eingefügte Regelung des § 5 Abs. 1 Satz 2 EStG 1989 wurde durch das BilMoG v. 25.5.200979 wieder 71
BFH, Urteil v. fn. 25 – I R 65/80, BStBl. II 1986, 324. S. etwa zu von § 6 Abs. 3 EStG 1985 nicht erfassten handelsrechtlichen Zuschreibungen BFH Urteil v. fn. 25 – I R 65/80, BStBl. II 1986, 324 sowie Knobbe-Keuk Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 30. 73 WoBauFG v. 22.12.1989, BGBl. I 1989, 505. 74 BT-Drucks. 11/2157. 75 S. zur Gesetzesbegründung der Vorschrift im Entwurf eines SteuerreformG 1990 BTDrucks. 11/2157. 76 So etwa Knobbe-Keuk Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 32 f.; dazu auch Schön Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 163. 77 Knobbe-Keuk Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. Köln 1993, 31; WeberGrellet BB 1999, 2659, 2661. 78 BGBl. I 1989, 505. 79 BGBl. I 2009, 1102. 72
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gestrichen und Satz 1 um einen einschränkenden 2. Hs. mit dem Wortlaut ergänzt: „es sei denn, im Rahmen der Ausübung eines steuerlichen Wahlrechts wird oder wurde ein anderer Ansatz gewählt“. Der Gesetzgeber betrachtete diese Gesetzesänderung als notwendige Folge des mit dem BilMoG verfolgten Ziels, den Unternehmen mit der Modernisierung des Handelsbilanzrechts eine im Verhältnis zu den International Financial Reporting Standards (IFRS) gleichwertige, aber einfachere und kostengünstigere Alternative zu bieten.80 Damit war der Grundsatz der umgekehrten Maßgeblichkeit, der aus handelsrechtlicher Sicht zu einer Deformierung der Handelsbilanz führte81, nicht mehr vereinbar.82 Gleichwohl betonte der Gesetzgeber, dass der handelsrechtliche Jahresabschluss weiterhin Grundlage für die steuerliche Gewinnermittlung bleibe.83 2. Bedeutung der Gesetzesänderung a) Meinungsstand Die Bedeutung der Gesetzesänderung ist umstritten.84 Weber-Grellet85 geht davon aus, dass die umgekehrte Maßgeblichkeit durch das BilMoG abgeschafft worden sei und insoweit eine konkrete, also formelle Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz nicht mehr bestehe.86 Die Finanzverwaltung folgert trotz der Gesetzesänderung aus § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG, dass Bewertungswahlrechte, die nur das Handelsrecht vorsieht, in der Handelsbilanz und in der Steuerbilanz einheitlich ausgeübt werden müssen.87 Lediglich solche Wahlrechte, die sich entweder nur aus steuerrechtlichen Vorschriften oder aber inhaltsgleich aus steuerrechtlichen Vorschriften und den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ergäben, dürften nunmehr nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG in der Handelsbilanz und in der Steuerbilanz unterschiedlich ausgeübt werden.88 Dem hat sich das 80
So die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks. 16/10067, 32. So Weber-Grellet BB 1999, 2659, 2661; Knobbe-Keuk Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 31. 82 BT-Drucks. 16/10067, 34. 83 BT-Drucks. 16/10067, 32. 84 S. dazu auch Anzinger in Herrmann/Heuer/Raupach EStG, § 5 Anm. 272 f. 85 Weber-Grellet in Schmidt EStG, 39. Aufl. 2020, § 5 Rz. 26; Weber-Grellet Bilanzsteuerrecht, 17. Aufl. 2019, § 6 Rz. 7. 86 Weber- Grellet in Schmidt EStG, 39. Aufl. 2020, § 5 Rz. 26 unter Hinweis auf die in § 5 Abs. 1a Satz 2 EStG als Ausnahmefall geregelte formelle Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz bei Bewertungseinheiten; Künkele/Zwirner DStR 2009, 1277, 1278. 87 BMF v. fn. 10 – IV C 6-S 2133/09/10001, BStBl. I 2010, 239 Rz. 6 ff. 88 BMF v. fn. 10 – IV C 6-S 2133/09/10001, BStBl. I 2010, 239 Rz. 13, 16 und 24; s. zur deswegen in § 6 Abs. 1 Nr. 1b Satz 2 EStG gesondert angeordneten einheitlichen Wahl81
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überwiegende Schrifttum angeschlossen,89 wenngleich die konkreten Auswirkungen unterschiedlich beurteilt werden.90 Nach einer anderen Ansicht darf der Steuerpflichtige auf der Grundlage des Wortlauts des § 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 EStG ein Wahlrecht in der Steuerbilanz nur dann abweichend von der Handelsbilanz ausüben, wenn es sich um ein steuerrechtliches Wahlrecht handelt, welches den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung widerspricht.91 Schließlich stellt eine weitere Meinung auf der Grundlage des BilMoG und der übergeordneten Maßstäbe und Wertungen der steuerlichen Gewinnermittlung auf den Zweck der Wahlrechte ab und lässt eine unterschiedliche Wahlrechtsausübung in der Steuerbilanz nur dann zu, wenn das steuerrechtliche Wahlrecht einen Subventionszweck verfolgt.92 b) Stellungnahme Der Wortlaut des § 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 EStG lässt eine unterschiedliche Wahlrechtsausübung in Handels- und Steuerbilanz zu. Fraglich ist allerdings, ob damit für die Steuerbilanz gar keine Bindung mehr an die Hanrechtsausübung Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. fn. 16, BT-Drucks. 18/ 8434, 116. 89 Krumm in Blümich EStG, § 5 Rz. 202; Dörfler/Adrian Ubg 2009, 385, 386 f.; Dörfler/ Adrian DB 2009, Beilage 5, 58; Ernsting FR 2010, 1067, 1068; Herzig DStR 2010, 1900, 1901; Herzig/Briesemeister DB 2009, 926, 929; Herzig/Briesemeister DB 2010, 917; Kahle/ Schulz/Vogel Ubg 2011, 178, 179 f.; Kahle StuB 2011, 163, 170; Künkele/Zwirner StuB 2013, 3, 4; Künkele/Zwirner DStR 2010, 2263, 2264; Mitschke FR 2010, 214, 218; Ortmann-Babel/Bolik/Gageur DStR 2009, 934, 935; Ott StuB 2009, 469, 470; Prinz DStJG 34 (2011), 135, 155; Prinz DB 2010, 2069, 2071; Theile/Hartmann DStR 2008, 2031, 2033 f.; Thiel in FS Meilicke, 2010, 733, 749; Werth DStZ 2009, 508. 90 Für die Möglichkeit der Wahl unterschiedlicher Abschreibungsmethoden in Handelsbilanz und Steuerbilanz und einen im Unterschied zur Handelsbilanz möglichen Verzicht auf eine Teilwertabschreibung in der Steuerbilanz: BMF v. fn. 10 – IV C 6-S 2133/09/10001, BStBl. I 2010, 239, Rz. 15 ff.; Ballwieser in FS Spindler, 2011, 577, 591; Herzig/Briesemeister DB 2009, 976, 978; Kaminski DStR 2010, 771; Prinz DStJG Bd. 34 (2011), 135, 155; Thiel in FS Meilicke, 2010, 733, 741 ff.; Werth DStZ 2009, 508; so auch BFH Urteil v. 9.12.2014 – X R 36/12, BFH/NV 2015, 821, Rz. 20; aA. unter Hinweis auf eine notwendige teleologische Reduktion der Norm: Anzinger/Schleiter DStR 2010, 395, 398; Barke DStZ 2015, 302, 309 f.; Freidank/Velte StuW 2010, 185, 189; Hennrichs Ubg 2009, 533, 538; Hüttemann JbFStR 2011/2012, S. 11, 14; Mayr DStJG 34 (2011), 327, 332; Schenke/Risse DB 2009, 1957; Schulze-Osterloh DStR 2011, 534, 536 ff.; Weber-Grellet DB 2009, 2402, 2403; Wehrheim/Fross StuW 2010, 195, 200 ff. 91 Förster/Schmidtmann BB 2009, 1342, 1343; Schenke/Risse DB 2009, 1957, 1959; Wehrheim/Fross StuW 2010, 195, 202; Wehrheim/Fross DStR 2010, 1348, 1350. 92 Reddig in Kirchhof EStG, 18. Aufl. Köln 2020, § 5 Rz. 69; Hennrichs in Tipke/Lang Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 9 Rz. 99; Hennrichs GmbHR 2010, 17, 21; Hennrichs Ubg. 2009, 533, 536, 543; Hoffmann StuB 2009, 515, 516; Mayr DStJG 34 (2011), 327, 331; Schulze-Osterloh DStR 2011, 534, 538; Weber-Grellet in Schmidt, 39. Aufl. 2020, § 5 Rz. 62.
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delsbilanz besteht oder ob diese nach wie vor Geltung entfaltet und dies zu einer Begrenzung der abweichenden Wahlrechtsausübung führt. Zieht man zur Beantwortung die Entstehung der Norm und ihren Zweck zu Rate, so bleibt festzustellen, dass der Gesetzgeber durch das BilMoG keine Änderung an den Regeln der steuerlichen Gewinnermittlung vornehmen wollte, sondern dass es ihm darum ging, den Informationsgehalt der Handelsbilanz zu stärken. Das bedeutet, dass es dem Gesetzgeber gerade nicht darum ging, mit der Gesetzesänderung den Grundsatz der formellen Maßgeblichkeit vollständig zu beseitigen.93 Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Rechtsprechung diesen Grundsatz vor der Kodifizierung in § 5 Abs. 1 Satz 2 EStG idF des WoBauFG v. 22.12.198994 grundsätzlich unmittelbar aus § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG und dem dort enthaltenen Hinweis auf die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung abgeleitet und darauf hingewiesen hatte, dass der Ansatz in der Handelsbilanz für die Steuerbilanz verbindlich sei, sofern die steuerrechtlichen Vorschriften nichts anderes gebieten würden.95 Dem steht auch nicht entgegen, dass der Gesetzgeber durch das WoBauFG der Gefahr entgegenwirken wollte, dass sich die Rechtsprechung von diesem Grundsatz abwenden könnte, zumal der I. Senat des BFH in seinem Urteil v. 24.4.198596 eine Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz für den Fall verneint hatte, dass der Steuerpflichtige in Bezug auf das sich aus § 6b EStG ergebende Bewertungswahlrecht in den Folgejahren in der Handelsbilanz Zuschreibungen vornimmt. Der I. Senat des BFH hatte mit dieser Entscheidung die Maßgeblichkeit des Ansatzes in der Handelsbilanz nämlich gar nicht grundlegend in Frage gestellt, sondern lediglich darauf verwiesen, dass das Handelsrecht derartige Zuschreibungen erlauben würde, nicht aber das Steuerrecht.97 Da insoweit eine steuerrechtliche Sonderregelung bestand, war diese in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung anzuwenden. Berücksichtigt man dies bei der Auslegung des § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG idF des BilMoG v. 25.5.200998, so muss der Steuerpflichtige – in Übereinstimmung mit der Auffassung der Finanzverwaltung und des überwiegenden Schrifttums99 – Wahlrechte, die nur das Handelsrecht vorsieht, in der Handelsbilanz und in der Steuerbilanz einheitlich ausüben, während er solche Wahlrechte, die sich entweder nur aus steuerrechtlichen Vorschriften oder 93
Thiel in FS Meilicke, 2010, 733, 749. BGBl. I 1989, 505. 95 So schon RFH Urteil v. fn. 30 – I A 856/29, RStBl. 1930, 354; Urteil v. 9.12.1931 – I A 345/31, RStBl. 1932, 147, 148; Urteil v. 14.12.1937 – I 250/37, RFHE 43, 23; BFH Urteil v. fn. 19 – I 189/65, BStBl. II 1970, 107, 108, betreffend eine Teilwertabschreibung. 96 BFH Urteil v. fn. 25 – I R 65/80, BStBl. II 1986, 324. 97 So ausdrücklich BFH Urteil v. fn. 25 – I R 65/80, BStBl. II 1986, 324, 326. 98 BGBl. I 2009, 1102. 99 S. dazu oben unter II.2.a). 94
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aber inhaltsgleich aus steuerrechtlichen Vorschriften und den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ergeben, in der Handelsbilanz und in der Steuerbilanz unterschiedlich ausüben darf. Dabei ist mE kein Raum, die abweichende Wahlrechtsausübung nur auf solche Wahlrechte zu beschränken, die den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung widersprechen.100 Denn sofern das Steuerrecht eigenständige Regelungen zur Wahlrechtsausübung enthält, sind diese bei der Erstellung der Steuerbilanz anzuwenden, und zwar unabhängig davon, ob die dem Steuerpflichtigen dadurch eingeräumten Wahlrechte den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung entsprechen oder nicht. Ebenso hatte dies bereits der I. Senat des BFH in seinem Urteil v. 24.4.1985101 gesehen. Ausgeschlossen ist mE auch eine Differenzierung nach dem Zweck des steuerrechtlichen Wahlrechts dergestalt, dass nur steuerrechtliche Wahlrechte mit Subventionszweck in Handelsbilanz und Steuerbilanz unterschiedlich ausgeübt werden dürfen.102 Es trifft zwar zu, dass die Fälle der früher in § 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 EStG normierten umgekehrten Maßgeblichkeit in erster Linie steuerlicheWahlrechte betrafen, die einen Subventionszweck hatten.103 Dafür, dass eine unterschiedliche Wahlrechtsausübung in Handels- und Steuerbilanz aber ausschließlich auf diese Wahlrechte beschränkt sein soll, findet sich allerdings weder im Wortlaut der Norm ein Anhaltspunkt noch lässt sich aus der Gesetzesbegründung ein solcher gesetzgeberischer Wille eindeutig entnehmen.104
IV. Fazit Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass der Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz eine wechselvolle Geschichte hinter sich hat. Entsprachen die Anforderungen an die handelsrechtlichen Aufzeichnungen zunächst noch nicht den Anforderungen, die an eine steuerrechtliche Gewinnermittlung zu stellen waren, so änderte sich 100 So auch Theile/Hartmann DStR 2008, 2031, 2034; aA. Förster/Schmidtmann BB 2009, 1342, 1343; Schenke/Risse DB 2009, 1957, 1959; Wehrheim/Fross StuW 2010, 195, 202; Wehrheim/Fross DStR 2010, 1348, 1350. 101 BFH Urteil v. fn. 25 – I R 65/80, BStBl. II 1986, 324. 102 So aber Crezelius in Kirchhof EStG, 16. Aufl. 2017, § 5 Rz. 54; Fischer/KalinaKerschbaum DStR 2010, 399, 400; Hennrichs in Tipke/Lang Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 9 Rz. 106; Hennrichs GmbHR 2010, 17, 21; Hennrichs Ubg 2009, 533, 536, 543; Hoffmann in LBP, §§ 4, 5 Rz. 329 (8/2010); Hoffmann StuB 2009, 515, 516; Schulze-Osterloh DStR 2011, 534, 538; Weber-Grellet in Schmidt EStG, 39. Aufl. 2020, § 5 Rz. 62. 103 Anzinger in Herrmann/Heuer/Raupach EStG, § 5 Anm. 273; Plewka/Schmidt in Lademann EStG, § 5 Rz. 479. 104 Prinz DStJG 34 (2011), 135, 155; aA. Anzinger in Herrmann/Heuer/Raupach EStG, § 5, Anm. 273, wonach der den Wortlaut für eine Auslegung untauglich sein soll.
Die Entwicklung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz 1241
dies Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Schaffung des ADHGB. Handelsund Steuerbilanz wuchsen zusammen; der Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz gewann zunehmend an Bedeutung und erreichte seinen Höhepunkt mit der Kodifizierung der umgekehrten, formellen Maßgeblichkeit durch das BiRiLiG v. 19.1.1985105 und das WoBauFG v. 22.12.1989.106 Mit der Änderung des § 5 Abs. 1 EStG durch das BilMoG v. 25.5.2009107 hat der Gesetzgeber in Abkehr von der zuvor geltenden strikten formellen Maßgeblichkeit die unterschiedliche Ausübung von Wahlrechten in der Handelsbilanz und in der Steuerbilanz zugelassen. Entgegen einzelner Stimmen in der Literatur war dies allerdings noch nicht der Todesstoß für den Grundsatz der formellen Maßgeblichkeit. Dieser lebt fort, wenn auch mit erheblichen Einschränkungen. Gleichwohl bleibt abzuwarten, ob die Neuregelung auf der Grundlage des BilMoG nur ein erster Schritt war, um das einstige Modell der Einheitsbilanz aufzugeben und zu völlig separat voneinander durchzuführenden Gewinnermittlungen in Handels- und Steuerbilanz zu gelangen.
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BGBl. I 1985, 2355. BGBl. I 1989, 505. 107 BGBl. I 2009, 1102. 106
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Zoologisches Bilanzrecht
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Zoologisches Bilanzrecht Jan Thiessen
Zoologisches Bilanzrecht JAN THIESSEN
I. Wie bucht man das? Mit dem Bilanzrecht ist es wie mit dem Prozessrecht. Manch hochfliegender materiell-rechtlicher Gedanke landet unsanft angesichts der Frage „wie bucht man das?“ respektive „wie tenoriert man das?“ oder „wie vollstreckt man das?“. Das Bilanzrecht hat deshalb ebenso wie das Prozessrecht eine disziplinierende, die Argumentation kontrollierende Wirkung. Nicht umsonst spielt deshalb das Bilanzrecht in den Vorlesungen von Christine Windbichler eine wichtige Rolle; ungeachtet des Umstands, dass Rechnungslegung jedenfalls in Berlin nicht zum Pflichtstoff der ersten juristischen Prüfung gehört. Das Bilanzrecht, das in den Vorlesungen von Christine Windbichler gelehrt wird, ist mitten aus dem Leben gegriffen, genauer gesagt aus der Fauna der einheimischen zoologischen Gärten. So illustriert Christine Windbichler den Unterschied zwischen Anlagevermögen und Umlaufvermögen anhand von Bären im Zoo. In Kurzfassung: Ausgewachsene Bären, die langfristig auf der Anlage des Bärengeheges verbleiben, gehören zum Anlagevermögen. Junge Bären, die den Zoo bald wieder verlassen, etwa weil sie verkauft werden, gehören zum Umlaufvermögen, was deshalb leicht zu merken ist, weil sie in stärkerem Maße als die älteren Bären im Gehege herumlaufen. Das Beispiel wird erweitert um Futtervorräte bzw. Bärenschinken, je nachdem, ob man sich am Anfang oder am Ende der Nahrungskette befindet. Ging es zu Studienzeiten des Verfassers dieses Beitrags noch um nicht näher spezifizierte Bären, mutmaßlich also um Braunbären, Schwarzbären oder Kragenbären, kamen in späteren Jahren prominente Eisbären zum Zuge, namentlich Knut im Berliner Zoo und Flocke in Tiergarten Nürnberg. Neuerdings wäre an Hertha im Tierpark Berlin zu denken. Bilanzrechtlich sollte die Unterscheidung zwischen ursus arctos und ursus maritimus freilich keine allzu spitzfindigen Differenzierungen erfordern, ebensowenig wie diejenige zum ailuropoda melanoleuca, dem in Berlin derzeit besonders verbreiteten und sich verbreitenden großen Panda, oder dem phascolarctos cinereus, dem Koala, mögen die zoologischen Ähnlichkeiten dieser ‚Bären‘ auch sehr gering sein. Es bleibt die Frage: Wie bucht man das wirklich? Um dies zu beantworten, wurden hier alle zoologischen Gärten, Tierparks, Wildparks, Vogel-
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parks, Aquarien und ähnliche Einrichtungen in Deutschland untersucht, deren Jahresabschlüsse im elektronischen Bundesanzeiger zugänglich sind.1
II. Einige Brachendaten Die hier untersuchten Einrichtungen sehen sich als Teil eines großen Wirtschaftszweigs, der indes ausgesprochen heterogen organisiert ist: „In Deutschland sind über 200 Zoos, Tier- und Wildparks im Verband der Zoologischen Gärten (VdZ), der Deutschen Tierpark-Gesellschaft (DTG) und dem Deutschen Wildgehege-Verband (DWV) organisiert. Daneben gibt es schätzungsweise noch über 500 öffentlich zugängliche Wildtierhaltungen, wie Kleinzoos, Tiergehege, Vogelparks, Volieren, Reptilienzoos, Schauaquarien und ähnliche Einrichtungen, von denen etwa 400 als ‚Zoos‘ im Sinne der Zoo-Richtlinie der EU gelten. Bei den übrigen handelt es sich im Wesentlichen um Wildparks, in denen nicht mehr als fünf einheimische Schalenwildarten gehalten werden.“2 Allein die grenzüberschreitend im Verband der Zoologischen Gärten (VdZ) organisierten Zoos beschäftigen selbst insgesamt etwa 6.000 Beschäftigte, insbesondere Tierpfleger, Tierärzte, Gärtner, Zoopädagogen und viele mehr. Außerdem sind indirekt mehr als 2.400 Personen im Gastronomieund Service-Bereich beschäftigt, zuzüglich 780 Saisonkräften. Die VdZZoos zählen 40 Millionen Zoobesuche jährlich. Damit „werden Zoos häufiger besucht […] als die Stadien der 1. und 2. Fußball Bundesliga (rund 18,8 Millionen Saison 2017/2018)“.3 Hinsichtlich der Rechtsform und der Anteilseignerschaft ergeben sich erhebliche Unterschiede, die sich auf die wirtschaftliche Tätigkeit auswirken: „Weil die meisten Zoos Eintrittsgelder erheben, wird ihnen häufig unterstellt, sie seien kommerzielle Einrichtungen. Dies trifft aber für die große Mehrheit der im VdZ organisierten Zoos nicht zu, denn diese werden vom Land (z.B. Herberstein, Stuttgart) oder von Kommunen (z.B. Bern, Chem1 Die Recherche wurde im Dezember 2019 abgeschlossen; nur vereinzelt wurden später veröffentlichte Jahresabschlüsse abgerufen, um laufende Entwicklungen zu prüfen. Deshalb betreffen die meisten hier zitierten Jahresabschlüsse noch das Geschäftsjahr 2017. Die Jahreszahlen in den Fußnoten beziehen sich demgemäß auf das Geschäftsjahr, das durchweg dem Kalenderjahr entspricht. 2 Zoo Duisburg AG 2017 nach einem hier nicht ermittelbaren Internetzitat auf www.zoodirektoren.de aus Petzold/Sorge, Abenteuer Zoo. 600 Tierparks, Aquarien und Reptilienhäuser. Der Zooführer für Deutschland, Österreich und Schweiz, 2. Auflage 2012. Gemeint ist die Richtlinie 1999/22/EG des Rates vom 29. März 1999 über die Haltung von Wildtieren in Zoos. 3 Zoo Duisburg gGmbH 2018 nach noch aktuellen Internetquellen auf https://www. vdz-zoos.org/de/verband/faktenblatt/ und https://www.dfb.de/bundesliga/statistik/zu schauerzahlen/ (29.3.2020).
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nitz, Düsseldorf, Frankfurt, Karlsruhe, Köln, Landau, Nürnberg, Saarbrücken) betrieben, sind gemeinnützige Aktiengesellschaften (z.B. Basel, Berlin-Zoo, München, Zürich) oder gemeinnützige Gesellschaften mbH (z.B. Berlin-Tierpark, Hagenbeck, Bernburg, Krefeld, Rostock, Salzburg) und als solche oft im Besitz der öffentlichen Hand (z.B. Halle, Leipzig, Münster, Schönbrunn), oder sie gehören Stiftungen oder Vereinen (z.B. Goldau, Görlitz, Innsbruck, Opel-Zoo, Osnabrück). Relativ wenige könnten von ihrer Rechtsform her Profit machen (z.B. Hannover), fahren aber oft Defizite ein oder reinvestieren den Profit in das Unternehmen.“4
III. Bilanzrechtliche Grundlagen Mit den genannten Rechtsformen verbindet sich eine bilanzrechtliche Weichenstellung. Denn die Einrichtungen sind je nach Rechtsform in sehr unterschiedlichem Maße rechnungslegungspflichtig. Mögen Einzelunternehmen und typische Personengesellschaften sich auch freiwillig an den Vorschriften für Kapitalgesellschaften orientieren, so eröffnet der elektronische Bundesanzeiger (§§ 325 ff. HGB) Einblick nur in die Jahresabschlüsse solcher unternehmenstragender Gesellschaften, die als Aktiengesellschaft, GmbH oder Kapitalgesellschaft & Co. organisiert sind (§§ 264, 264a HGB). Immerhin kommen auf diese Weise etwa achtzig Gesellschaften zusammen, die uns sagen könnten, wie sie Bären und anderes Getier verbuchen. Insbesondere die beiden gesellschaftsrechtlich verbundenen Berliner Einrichtungen, Zoo und Tierpark, sind in ihren Jahresberichten einigermaßen aussagekräftig. Für unternehmenstragende Gesellschaften mit zoologischem Unternehmensgegenstand gilt bilanzrechtlich eigentlich nichts besonderes. Die hier untersuchten Gesellschaften bilanzieren sämtlich nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (§ 238 Abs. 1 Satz 1 HGB). Kapitalmarktorientierte Muttergesellschaften mit IFRS-Abschluss (§ 315e HGB) sind nicht ersichtlich. Die Gesellschaften unterliegen also den in Deutschland tradierten Vorschriften und Prinzipien des Bilanzrechts (§§ 252 ff. HGB). Gegenstände des Anlage- oder des Umlaufvermögens werden zu Anschaffungs- und Herstellungskosten aktiviert, vermindert um gewisse Abschreibungen (§ 253 Abs. 1, 3 und 4 HGB). Es bleibt stetig beim vorsichtig ermittelten Niederstwert (§ 252 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 6 HGB). Bei marktbedingten Abschreibungen sind allerdings Wertaufholungen durch Zuschreibungen abzubilden (§ 253 Abs. 5 Satz 1 HGB). Die Frage ist nun, was die Zoo-Gesellschaften daraus machen. Ein Ergebnis sei vorweggenommen: Die Gestaltungsspielräume sind offenbar sehr groß. 4 Zoo Duisburg AG 2017 nach einem hier nicht ermittelbaren Internetzitat auf www. zoodirektoren.de.
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IV. Tierisches in der Bilanz Sucht man nach tierischen Bestandteilen in den Bilanzen, erlebt man eine Überraschung. Nicht selten enthalten die Jahresabschlüsse im elektronischen Bundesanzeiger keinerlei Hinweis auf die Bewertung der Tiere. So ist etwa bei der Aachener Tierpark Aktiengesellschaft der einzige Hinweis auf Tiere, abgesehen von der Firma, im Gegenstand der Gesellschaft „Betrieb eines Tierparks“ enthalten.5 Die Wild- und Freizeitpark Allensbach GmbH verzichtet selbst auf diese Angabe, abgesehen vom Bestimmungswort „Wild-“ in der Firma.6 Gibt es also ein Rechnungslegungsprivileg, dass es Zoologischen Gärten erlaubt, ihre Tiere zu verschweigen? Dieser Eindruck trügt. Er beruht darauf, dass nicht alle Gesellschaften einen detaillierten Anlagenspiegel mit Angaben zu Veränderungen des Anlage- und Umlaufvermögens (§ 284 Abs. 3 HGB) zum elektronischen Bundesanzeiger einreichen müssen. Zum Teil nehmen die Gesellschaften größenabhängige Erleichterungen als kleine Kapitalgesellschaften (§ 288 Abs. 1 HGB) in Anspruch,7 zum Teil auch nicht.8 Deshalb findet man nicht allzu oft so detaillierte Angaben zum Tierbestand wie im Lagebericht der Westfälischer Zoologischer Garten Münster GmbH: „Der Allwetterzoo präsentiert Tiere in artgerechten und besucherattraktiven Anlagen und erhebt dafür Eintrittsgelder. Das Sachanlagevermögen stellt den eigentlichen Wert des Zoos dar. Dazu gehört auch der Tierbestand. Im Geschäftsjahr entwickelte sich der Tierbestand wie folgt: 2017 570 1.096 57 119 446 431 2.719
2016 740 1.822 50 103 519 426 3.660
Wirbellose Fische Amphibien Reptilien Vögel Säugetiere Tiere
in in in in in in in
2017 65 79 6 34 59 68 311
2016 77 83 6 32 61 67 326
Arten Arten Arten Arten Arten Arten Arten“.9
Andere Zoos beschreiben ihren Tierbestand in Lagebericht und Anhang, um Investitionen und vorhandene Besucherattraktionen darzustellen – dazu später mehr.10 5
Aachener Tierpark Aktiengesellschaft 2017. Wild- und Freizeitpark Allensbach GmbH 2017. 7 Beispiele: Aachener Tierpark Aktiengesellschaft 2017; Wild- und Freizeitpark Allensbach GmbH 2017. 8 Beispiele für große Kapitalgesellschaften: FreizeitObjekte Gesellschaft Alsdorf mbH 2018. 9 Westfälischer Zoologischer Garten Münster GmbH 2017. 10 Dazu unten V.2. 6
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1. Anschaffungskosten und Abschreibungen Selbst wenn ein artenspezischer Ausweis nicht vorgeschrieben ist, enttäuscht der Befund der Recherche doch etwas. Fast keine der hier untersuchten Gesellschaften aktiviert den Tierbestand nach den oben11 dargestellten Grundsätzen. Eine mustergültige Ausnahme bildet die Zoo Hannover GmbH: „Die Bewertung des Tierbestands erfolgte zu Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten, vermindert um planmäßige Abschreibungen auf der Grundlage der Lebenserwartung der Tiere.“ So betrug der entsprechende Wert zum Jahresende 2017 noch 153.997,94 gegenüber 165.259,44 Euro zum Jahresende 2016.12 Die Natur- und Umweltpark Güstrow gGmbH übersetzt die Lebenserwartung in bilanzrechtliche Kategorien: „Der Tierbestand wird mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von fünf bis zehn Jahren bewertet.“13 Etwa kürzer rechnet man bei der Serengeti-Park Hodenhagen GmbH: „Zugänge zum Tierbestand werden pro rata temporis über drei Jahre auf einen fixierten Sockelbetrag abgeschrieben.“14 Der Zoologischer Garten Rostock gGmbH ist es immerhin wichtig, dass der Tierbestand gesondert ausgewiesen wird: „Gemäß § 265 Abs. 5 Satz 2 HGB wurde die Bilanz innerhalb des Anlagevermögens um den Posten Tiere erweitert.“ Mit dem gesonderten Ausweis verfährt Rostock wie Hannover, ausgedrückt allerdings mit einem wohl unvollständigen Satz: „Tiere werden mit Anschaffungskosten entsprechend ihrer individuellen Lebenserwartung abgeschrieben.“ Die Abschreibungen sind hoch, die Nettobuchwerte entsprechend niedrig.15 Soweit ein solcher eigener Posten für den Tierbestand nicht gebildet wird, erfolgt der Bilanzausweis als „andere Anlagen, Betriebs- und Geschäftsausstattung“ (§ 266 Abs. 2 A.II.3. HGB). 2. Festwert Der Aquarienbetreiber Sea Life Deutschland GmbH ist exemplarisch für dasjenige Verfahren, das von den meisten der hier ermittelten Gesellschaften praktiziert wird: „Seit dem Geschäftsjahr 2014 werden Zugänge für Fische als Bestandteil des Anlagevermögens zu Anschaffungskosten, bis zum Erreichen ihres Versicherungswertes, mit einem Festwert bilanziert.“16 Damit bezieht sich Sea Life systematisch nicht auf die Ansatz- und Bewertungsvorschriften der §§ 246 ff., 252 ff. HGB, sondern auf eine Vorschrift zur Inven11
IV.1. Zoo Hannover GmbH 2017. 13 Natur- und Umweltpark Güstrow gGmbH 2017. 14 Serengeti-Park Hodenhagen GmbH 2017. 15 Zoologischer Garten Rostock gGmbH 2018. 16 Sea Life Deutschland GmbH 2017. 12
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tarerrichtung, die das Gesetz jedoch auch auf den Jahresabschluss für anwendbar erklärt. Nach §§ 256 Satz 2, 240 Abs. 3 HGB können „mit einer gleichbleibenden Menge und einem gleichbleibenden Wert“ solche „Vermögensgegenstände des Sachanlagevermögens sowie Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe“ angesetzt werden, „wenn sie regelmäßig ersetzt werden und ihr Gesamtwert für das Unternehmen von nachrangiger Bedeutung“, jedoch nur, „sofern ihr Bestand in seiner Größe, seinem Wert und seiner Zusammensetzung nur geringen Veränderungen unterliegt“. Allerdings ist „in der Regel alle drei Jahre eine körperliche Bestandsaufnahme durchzuführen“. Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass Fische für ein Aquarium „von nachrangiger Bedeutung“ sein sollen. Es geht nach § 240 Abs. 3 HGB freilich nicht um die Fische als solche, sondern um deren „Gesamtwert für das Unternehmen“. Natürlich gibt es – im ökonomischen Sinne – wertvolle Fische, wie es auch sonst wertvolle Tiere gibt. Die Anwendung der Inventarvorschrift über den Festwert verdeutlicht jedoch, dass Aquarien ebenso wie Zoologische Gärten Gesamtkunstwerke sind, die um die Tiere herum arrangiert werden. Zwar verändern sich Größe und Zusammensetzung des Tierbestands und damit dessen Wert durchaus, und Tiere müssen regelmäßig ersetzt werden. Abgesehen von Unglücksfällen wie etwa Silvester 2019 im Affenhaus des Krefelder Zoos oder einer Seuche, die wie die Geflügelpest im Schweriner Zoo „das Keulen des Wasservogelbestands erforderlich“ machte,17 bleibt der Bestand über lange Zeit weitgehend konstant. Die Tiere oder auch Tierarten werden kontinuierlich ersetzt; Veränderungen erfolgen nicht abrupt; es sei denn, die regelmäßig erforderliche körperliche Bestandsaufnahme erfordert einen Neuansatz wie etwa im Fall der Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH: „Die Gesellschaft hat – nach Fertigstellung und Inbetriebnahme der Raubtieranlage – eine neue Bewertung im Jahr 2015 durchgeführt.“18 Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass der Festwertansatz stark verbreitet ist, und zwar nicht nur im Tierbestand.19 Wonach aber die einzelnen Gesellschaften die Festwerte bemessen, ist sehr unterschiedlich. Einzelne Kriterien wurden bereits genannt. Wird ein Tier gekauft, sind die Anschaffungskosten bekannt. Der Ansatz des Versicherungswerts stellt eine Größenordnung dar, die externer Prüfung standhalten muss. Die abnehmende Lebenserwartung der Tiere entspricht der Abnutzung des (sonstigen) Sachanlagevermögens. Legt man hier eine durchschnittliche Lebenserwartung zugrunde, mag dies dem Zeitraum entsprechen, nach dessen Ablauf 17
Zoologischer Garten Schwerin gGmbH 2017. Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH 2017. 19 Westfälischer Zoologischer Garten Münster GmbH: „Die im Geschäftsjahr 2016 gebildeten Festwerte für Futtermittel, Betriebsstoffe sowie für Verbrauchsmaterialen in Höhe von EUR 226.600,00 blieben 2017 unverändert.“ Ebenso Zoo Leipzig GmbH 2017 „für Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe“. 18
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eine körperliche Bestandsaufnahme und (auf dieser Grundlage) eine Neubewertung stattzufinden hat. 3. Erinnerungswert Einen besonderen Weg der Festwertbestimmung gehen die Einrichtungen, die der Jubilarin seit ihrem Dienstantritt in Berlin das meiste Anschauungsmaterial geboten haben. So berichtet die Zoologischer Garten Berlin Aktiengesellschaft: „Die Tiere des Zoologischen Gartens und des Aquariums werden mit einem Erinnerungswert in Höhe von 1,00 € unter Andere Anlagen, Betriebs- und Geschäftsausstattung ausgewiesen.“20 Ebenso hält es die Tierpark Berlin-Friedrichsfelde GmbH, „eine Tochtergesellschaft der Zoologischer Garten Berlin AG“ mit interlocking directorates.21 Nun ist es zwar richtig, dass Eisbär Knut für viele Gäste des Berliner Zoos nur noch Erinnerungswert hat. Dieser kann in ausgestopfter Form aufgefrischt werden im „Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung“, einem integrierten Forschungsmuseum der Leibniz-Gemeinschaft, wodurch eine Verbindung hergestellt wird zwischen der Gesellschaftsrechtsvorlesung an der Humboldt-Universität und der außeruniversitären Berliner Wissenschaftslandschaft. Aber was ist mit Eisbärin Hertha im Berliner Tierpark? Bleibt von ihr ein bloßer Erinnerungswert, noch bevor sie den Tierpark verlassen hat? Der Erinnerungswert ist indes keine Berliner Besonderheit. Das Beispiel der Münchener Tierpark Hellabrunn AG lehrt, dass der Erinnerungswert von einem Euro nicht für den Tierbestand im ganzen, sondern für jedes aktivierte Tier einzeln berechnet, wenngleich zusammenfassend22 angesetzt wird: „Die Tiere haben zum 31. Dezember 2018 einen Erinnerungswert von 37.610,00 Euro.“23 Umgekehrt muss der Erinnerungswert nicht gleichermaßen für alle Tiere angesetzt werden. So bewertet die Zoo am Meer Bremerhaven GmbH die „immateriellen Vermögensgegenstände und das Sachanlagevermögen […] zu Anschaffungskosten vermindert um planmäßige lineare Abschreibungen entsprechend der voraussichtlichen Nutzungsdauer“, mit der Ausnahme, dass für „unentgeltlich zugegangene Tiere […] jeweils ein Erinnerungswert von Euro 1,00 bilanziert“ wird.24 Möglicherweise werden 20
Zoologischer Garten Berlin Aktiengesellschaft 2017. Tierpark Berlin-Friedrichsfelde GmbH 2017: „Der Vorstand der Zoologischer Garten Berlin AG nimmt die Geschäftsführung der Tierpark Berlin-Friedrichsfelde GmbH in Personalunion wahr. Vereinbarungen über die Vergütungsregelungen erfolgen durch den Aufsichtsrat der Zoologischer Garten Berlin AG.“ 22 Zur Zulässigkeit der Zusammenfassung mehrerer abgeschriebener Vermögenswerte eines Bilanzpostens unter einem Merkposten (Erinnerungswert) Kleindiek in Staub HGB, 5. Aufl. 2014, § 253 Rn. 86. 23 Münchener Tierpark Hellabrunn AG 2018. 24 Zoo am Meer Bremerhaven GmbH 2017. 21
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die übrigen Tiere regulär im Sachanlagevermögen angesetzt und abgeschrieben – über einen Festwertansatz sagt Bremerhaven nichts. Tiere, die mit Erinnerungswert angesetzt werden, können tatsächlich einen höheren Wert haben. Sie sind nur entweder so lange im Zoo, dass sie bereits abgeschrieben sind25 (oder bei ursprünglichem Ansatz zu Anschaffungskosten wären), oder sie haben keine messbaren Anschaffungs- und Herstellungskosten verursacht, oder aber ihr Wert lässt sich angesichts der unvorhersehbaren Sterblichkeit nicht belastbar ermitteln, zumal es nicht für alle Tierarten einen aussagekräftigen Markt gibt. 4. Keine Aktivierung Gewisse Bewertungsschwierigkeiten haben ihren Grund im tierischen Substrat der Geschäftstätigkeit: Wie bemisst man etwa die Herstellungskosten eines im Zoo gezeugten Nashorns? Man bemisst sie zumeist gar nicht, so etwa in der Zoo Hannover GmbH: „Für die im Zoo aufgezogenen Tiere wurden keine Herstellungskosten aktiviert, da eine sachgerechte Trennung der Aufwendungen für die Pflege und Betreuung der Muttertiere von den Kosten für die Nachzuchten nicht möglich ist.“26 Auch für die Natur- und Umweltpark Güstrow gGmbH gilt: „[…] Eigenaufzuchten bleiben unbewertet.“27 ‚Herstellungskosten‘ werden also gern vernachlässigt, auch wenn etwa die Tierpark Nordhorn gGmbH in ihr Projekt zur „Weitererforschung der künstlichen Besamung nordpersischer Leoparden“ nachhaltig investiert (im betreffenden Geschäftsjahr befand sich „der Neubau eines Geheges für die Leoparden in Planung“).28 Im übrigen verlässt man sich – mit Einschränkungen – auf den Lauf der Natur, wie etwa bei der Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln: „Wir erwarten […] noch eine Reihe von Tiergeburten. Allerdings müssen wir manchmal auch auf Geburtenkontrolle setzen. Das zeigt aber, dass sich unsere Tiere in ihren Gehegen und Anlagen wohlfühlen und sich überaus erfolgreich reproduzieren.“29 Bei Tieren, bei denen der Aufwand für die Eigenaufzucht nicht quantifizierbar ist, werden auch nicht durchweg Erinnerungswerte angesetzt. Dies gilt indes nicht nur für Tiere aus Eigenaufzucht, sondern – ungeachtet des Bremerhavener Gegenbeispiels30 – auch für unentgeltlich erworbene Tiere.31 25
Vgl. Kleindiek in Staub HGB, 5. Aufl. 2014, § 253 Rn. 86. Zoo Hannover GmbH 2017. Zur Abgrenzung von Herstellungskosten und Erhaltungsaufwendungen vgl. Drüen in Staub HGB, 5. Aufl. 2014, § 255 Rn. 9, 19. 27 Natur- und Umweltpark Güstrow gGmbH 2017. 28 Tierpark Nordhorn gGmbH 2017. 29 Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln 2018. 30 Oben bei Fn. 24. 31 Das Ansatzwahlrecht für unentgeltlich erworbene Vermögensgegenstände ist allerdings umstritten, da es mit dem Vollständigkeitsgebot kollidiert und die hypothetischen 26
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So berichtet die Zoo Dresden GmbH: „Es werden […] Tauschgeschäfte mit Tieren getätigt, ohne dass diese Bewegungen aufgrund der angewandten Bewertungsmethodik Eingang in das betriebliche Rechnungswesen finden.“32 In gleichem Sinne liest man bei der Zoo Leipzig GmbH: „Da die Tiere des Zoos in den überwiegenden Fällen nicht entgeltlich erworben werden, findet keine Aktivierung im Anlagevermögen statt. Die meisten Tiere werden im Rahmen internationaler Zuchtprogramme mit anderen Zoos getauscht.“33 Aktiviert werden entsprechend einer verbreiteten Ansicht nur solche Vermögensgegenstände, die im wirtschaftlichen Eigentum der jeweiligen Gesellschaft stehen.34 So werden bei der Zoo Dresden GmbH „Tiere aus anderen Einrichtungen zum Zweck der Zucht und zum Zweck der Zurschaustellung sowie deren Nachwuchs […] nicht einbezogen. Hier handelt es sich um Leihgaben und ein wirtschaftliches Eigentum ist ausgeschlossen.“ Die berühmten Pandas im Berliner Zoo schlagen ebenfalls nicht mit Aktivwerten, sondern als „finanzielle Verpflichtungen aus dem Zucht-Leih-Vertrag für die Pandas in Höhe von 1,0 Mio. US-Dollar pro Jahr über die gesamte Laufzeit des Vertrages von 15 Jahren“ zu Buche, die „dem Giant Panda Conservation Fund zur Verfügung gestellt“ werden.35 Nicht aktiviert werden außerdem Tiere, die von den wirtschaftlichen Eigentümern in den jeweiligen Zoos nur „eingestellt“ sind.36
V. Was wirklich zählt – Chancen und Risiken Wenn der verbreitete Festwertansatz darauf beruht, dass der „Gesamtwert“ der Tiere „für das Unternehmen von nachrangiger Bedeutung“ ist (§ 240 Abs. 3 HGB), dann lohnt es sich, nach denjenigen Vermögensgegenständen und sonstigen Umständen zu fragen, die für die Zoo-Unternehmen und deren Wert von vorrangiger Bedeutung sind. Natürlich sind dies zuallererst die Tiere, wie die Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln betont: „Als Dienstleistungsunternehmen produziert der Zoo keine Güter, sondern präsentiert Tiere in artgerechten und besucherattraktiven Anlagen. InAnschaffungskosten für einen entsprechenden Vermögensgegenstand nicht abbildet, Kleindiek in Staub HGB, 5. Aufl. 2014, § 246 Rn. 73. 32 Zoo Dresden GmbH 2017. 33 Zoo Leipzig GmbH 2017. Ähnlich Natur- und Umweltpark Güstrow gGmbH 2017. 34 Kritisch zur Kategorie des „wirtschaftlichen Eigentums“ Kleindiek in Staub HGB, 5. Aufl. 2014, § 246 Rn. 42 ff. 35 Zoologischer Garten Berlin Aktiengesellschaft 2017. 36 Zoo Dresden GmbH 2017; Natur- und Umweltpark Güstrow gGmbH 2017.
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sofern stellt das Sachanlagevermögen, neben dem Tierbestand, den eigentlichen ‚Wert‘ des Zoos dar.“37 Die Tiere müssen danach nicht lediglich angeschafft, ‚hergestellt‘ und am Leben erhalten werden. Sie müssen dem Publikum – ein weiterer wertbildender Faktor der Zoos und Aquarien – möglichst ansprechend präsentiert werden. Nur dann kommt das Publikum. Das Publikum will aber mehr vorfinden als Tiere. So ist der neugestaltete Spielplatz im Berliner Zoo für das Publikum im Kindesalter kaum weniger wichtig als Pandas oder Seehunde, die oft gerade dann nicht futtern oder gefüttert werden, wenn man dies gern hätte. Hier gilt, was auch für andere Branchen relevant ist: In Familien treffen die Kinder Konsumentscheidungen, obwohl sie diese nicht bezahlen.38 Viele Zoos bieten deshalb etwa an, Kindergeburtstage auszurichten. Freilich konkurrieren sie – auch abseits von Geburtstagen – mit anderen Freizeitbeschäftigungen. Anders als bei Aquarien ist der Zoobesuch ein „Schön-Wetter-Erlebnis“.39 Deshalb fürchten Zoo-Geschäftsleitungen nichts so sehr wie lange Winter und nasse Sommer. Hinzu kommt die Sorge vor Tierseuchen, die – wie nun jeder weiß – auch auf Menschen überspringen können. Ist das Wetter zu schlecht oder zu gut, bleibt das Publikum von sich aus weg. Muss der Zoo wegen einer Seuche geschlossen werden, darf es nicht kommen. Ist der Zoo geschlossen, nimmt er nichts ein. Nimmt er nicht genug ein, muss das Geld aus anderer Quelle kommen. Zoologische Gärten und ähnliche Einrichtungen sind allein auf der Grundlage von Eintrittsgeldern zumeist nicht allzu profitabel, sondern werden im Gegenteil durch öffentliche Subventionen40 und private Spenden (z.B. in Form von Tierpatenschaften) oder Zuwendungen von Todes wegen41 solvent erhalten. Der Tierpark Hagenbeck in Hamburg ist „der einzige im Privatbesitz befindliche Großzoo Deutschlands“.42 Im übrigen handelt es sich um Gesellschaften mit öffentlichen Anteilseignern. Dass willkürlich 37
Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln 2018. Dazu Fichter/Ryf/Basel in Fichter (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie für Bachelor, 2018, 42 mit Webexkurs „Konsumentscheidungen im Haushalt“, abrufbar unter http:// lehrbuchpsychologie.springer.com/sites/default/files/atoms/files/webexkurs_fichter_kon sumentscheidungen_im_haushalt.pdf (29.3.2020). 39 Zoo Duisburg gGmbH 2018. 40 Beispiel: FreizeitObjekte Gesellschaft Alsdorf mbH 2018 „Das Anlagevermögen wurde zum Teil aus Zuschüssen der öffentlichen Hand finanziert.“ 41 Zoo Dresden GmbH 2017: „Ergebniswirksame sonstige betriebliche Erträge sind um 17,8% gesunken. Dies ist hauptsächlich auf fehlende Erbschaften und zurückhaltender Spendenbereitschaft im Jahr 2017 zurückzuführen.“ „Schenkungen und Erbschaften von Vermögensgegenständen (z.B. Grundstücke und Gebäude) werden entsprechend der gesetzlichen Vorstellung des erfolgsneutralen Anschaffungsvorgangs mit einem Ansatz von Null Euro bilanziert.“ 42 Tierpark Hagenbeck gGmbH 2012 [sic]. 38
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stille Reserven gebildet werden, um die Anteilseigner oder das Finanzamt kurz zu halten, ist nicht zu erwarten. Oft ist einfach kaum etwas auszuschütten.43 Gerade die von der öffentlichen Hand getragenenen Einrichtungen unterliegen vielfältigen Anforderungen, die kommerzielle Aspekte fast in den Hintergrund drängen. Die nötige Quadratur des Kreises umschreibt in knapper Form die Zoo Hannover GmbH: „Auch heute wie auch im Gründungsjahr 1865 sind die satzungsmäßigen Aufgaben immer noch gleich – der Betrieb eines Zoologischen Gartens als Bildungs- und Erholungsstätte, die Erhaltung von Tierarten, die Erweiterung von Kenntnissen über die Tiere und ihre Lebensräume und all dies immer unter Berücksichtigung eines wirtschaftlichen und nachhaltigen Geschäftsbetriebs.“44 Die mit dem Zoobetrieb verbundenen Chancen und Risiken werden von vielen Gesellschaften in großer Detailtiefe erläutert. Bilanzrechtliche Orte hierfür sind der Anhang (§§ 284 ff. HGB) und der Lagebericht (§§ 289 ff. HGB). 1. Wettbewerb Die hier untersuchten Gesellschaften stehen miteinander im Wettbewerb, wobei deren Marktposition sehr stark variiert. Nach den in Alpennähe gewohnheitsrechtlich anerkannten Verfassungsgrundsätzen „mia san mia“ und „höher geht’s nimmer“ stellt die Münchener Tierpark Hellabrunn AG selbstbewusst fest: „Im Ranking der deutschen Zoos und Tierparks nach Besucherzahlen bleibt die Münchener Tierpark Hellabrunn AG eine der führenden zoologischen Einrichtungen und eine der Top-Sehenswürdigkeiten in Deutschland. Im Raum München sieht sich der Münchner Tierpark aufgrund seiner einzigartigen Lage und Artenvielfalt keinem brancheninternen Wettbewerb gegenüber.“45 Andere Zoos geben sich weitaus bescheidener. Neben der Konkurrenz durch zahlreiche andere Freizeitangeboten sieht die AG Zoologischer Garten Köln „auch einen ‚tierischen Wettbewerb‘, und so gibt es allein in Köln eine Reihe größerer und kleinerer Wild- bzw. Tierparks wie bspw. ‚Wildgehege Brück‘, ‚Wildpark Dünnwald‘, ‚Lindenthaler Tierpark‘, oder ‚Gut Leidenhausen‘, die sich alle nicht über Eintritte, sondern allein über Spenden finanzieren und kostenlos besucht werden können. 43
Vgl. Aachener Tierpark Aktiengesellschaft 2017: Rücklagenbildung und Gewinnvortrag; FreizeitObjekte Gesellschaft Alsdorf mbH 2018: Verlustvortrag. 44 Zoo Hannover GmbH 2017. 45 Münchener Tierpark Hellabrunn AG 2018.
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Genannt werden muss in diesem Zusammenhang auch die Region bzw. nähere Umgebung. Neben Arnheim und Kerkrade in Holland verfügen Städte wie Gelsenkirchen, Wuppertal oder Duisburg ebenfalls über namhafte zoologische Gärten. Insgesamt ist die Zoodichte mit zwölf wissenschaftlich geführten ‚VDZ-Zoos‘ (Verband der Zoologischen Gärten), nirgends höher als in Nordrhein-Westfalen. Mit allen diesen und vielen weiteren Einrichtungen und Veranstaltungen steht die AG Zoologischer Garten Köln jeden Tag im Wettbewerb.“46 Geht es um die unterschiedliche Finanzierungsgrundlage der Einrichtungen, ist zuallererst die öffentliche Hand als Marktakteur angesprochen, die durch Subventionen in den Wettbewerb eingreift. So kritisiert die Zoo Osnabrück gGmbH: „Zoologische Gärten sind Zuschussbetriebe. Wie Theater oder Museen sind sie in der Regel nicht ohne öffentliche Zuschüsse zu betreiben. Der Zoo Osnabrück erhält im Vergleich zu anderen Zoologischen Gärten in Deutschland deutlich geringere Zuschüsse. Dies birgt die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen. […] Im überregionalen Umfeld steht der Zoo in Konkurrenz mit den Zoologischen Gärten in Münster, Hannover und Emmen, die sich insbesondere auch mit Hilfe massiver öffentlicher Bezuschussung weiterentwickelt haben bzw. weiter entwickeln werden. Um im überregionalen Wettbewerb bestehen zu können, muss der Zoo Osnabrück im Rahmen seiner Masterplanung weitere Investitionen tätigen und signifikante Schwachstellen durch für Besucher attraktive Themenwelten ersetzen. Dies fällt dem Zoo Osnabrück aufgrund seiner schwachen Zuschusskulisse im Vergleich zu den benachbarten Zoos viel schwerer.“ Vor diesem Hintergrund freut man sich in Osnabrück außer über einen großen überregionalen Besucheranteil besonders über einen „positiven einfachen Cash-Flow“, was „in der Zoobranche eine Ausnahme“ sei, „da sich Zoologische Gärten in der Regel nicht aus sich heraus finanziell tragen […]. Trotz des positiven Cashflows“ gelinge es dem Zoo aber „nur in absoluten Ausnahmejahren, die Abschreibungen zu erwirtschaften und ein ausgeglichenes oder positives Jahresergebnis zu erzielen“.47 Der Vergleich mit Hannover ist allerdings zweifelhaft, ist man dort doch gerade stolz darauf, dass „[s]eit dem Jahr 2011 […] der Erlebnis-Zoo Hannover für den laufenden Geschäftsbetrieb keine Zuschüsse mehr durch seinen Gesellschafter, die Region Hannover“ erhalte, sondern […] sich in sich selbst tragen“ müsse. Lediglich „[i]m Rahmen von Projekten, die den Umbau einzelner Tieranlagen nach den jeweils neusten [sic] zoobiologischen Erkenntnissen zum Ziel ha46
AG Zoologischer Garten Köln 2018. Ähnlich Zoo Duisburg gGmbH 2018. Zoo Osnabrück gGmbH 2017. Die Reihenfolge der Absätze ist im Original umgekehrt. 47
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ben, erfolgt in Einzelfällen eine teilweise Bezuschussung im Bereich des Anlagevermögens“.48 Wurde in den oben zitierten Branchendaten hervorgehoben, dass nur wenige Zoos wie Hannover von der „Rechtsform her Profit machen“ dürfen,49 so ist Profit unabhängig von der Rechtsform für die meisten Zoos ohnehin unrealistisch. Exemplarisch führt die Zoo am Meer Bremerhaven GmbH im Lagebericht aus, „dass der Fortbestand der Gesellschaft davon abhängt, dass die zukünftigen strukturellen Jahresfehlbeträge – so wie bisher erfolgt – durch die institutionelle Förderung der Stadt Bremerhaven abgedeckt werden“.50 Weitere Zoos stimmen ein: „Trotz eines sehr umsichtigen wirtschaftlichen Einsatzes der personellen und finanziellen Ressourcen wird die Gesellschaft in ihrer Situation weiterhin dauerhaft auf Zuschüsse der Stadt angewiesen sein.“51 „Der Zoo ist zur Vermeidung eines bestandsgefährdeten Risikos […] aufgrund seines hohen Fixkostenanteils und aufgrund nicht kostendeckender Umsatzerlöse, die sich je nach Besucheraufkommen negativ oder positiv auf die jeweilige Liquiditätssituation auswirken kann, auf den Betriebskostenzuschuss der Stadt Köln angewiesen.“52 „Trotz des positiven Geschäftsverlaufs im Geschäftsjahr 2017 ist die Gesellschaft in ihrer derzeitigen Situation weiterhin dauerhaft auf die finanziellen Zuwendungen ihrer Gesellschafterin angewiesen.“53 Bei ihrem Subventionsverhalten unterliegen die Städte und Gemeinden als öffentlich-rechtliche Träger der Zoos dem europäischen Wettbewerbs- und Beihilfenrecht: „Die EU-beihilfenrechtlichen Vorgaben haben sich in den vergangenen Jahren immer weiter verschärft. Vor diesem Hintergrund wurde die Zoo Dresden GmbH weiterhin mit dem Betrieb und der Unterhaltung des Dresdner Zoos durch die Landeshauptstadt Dresden [gemäß Art. 106 Abs. 2 AEUV] betraut.“ Deshalb darf ein Verlustausgleich durch die Stadt Dresden im Vermögen der dortigen Zoogesellschaft nicht zu einer „Überkompensation“ führen – „entsprechend den Bestimmungen des Betrauungsaktes in Form eines Zuwendungsbescheides der Landeshauptstadt Dresden […] gemäß des Freistellungsbeschlusses [sic] der Europäischen Kommission“. Erstaunlich ist daran eigentlich nur, dass andere Zoos sich zum Beihilfenproblem und einer Betrauung durch ihre öffentlich-rechtlichen Träger nicht äußern. Die Zoos befinden sich freilich nicht allein im „tierischen Wettbewerb“, der für die AG Zoologischer Garten Köln nur die brancheninternen Konkurrenten abbildet: 48
Zoo Hannover GmbH 2017. Oben bei Fn. 4. 50 Zoo am Meer Bremerhaven GmbH 2017. 51 Zoo Duisburg gGmbH 2018. 52 AG Zoologischer Garten Köln 2018. 53 Zoo Dresden GmbH 2017. 49
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„Nicht zu unterschätzen ist […] ein immer stärker werdender Wettbewerb mit anderen Freizeitangeboten an den für den Zoo wichtigen Tagen (insbesondere Wochenenden, Feiertagen und Schulferien). Neben Sportund Konzertveranstaltungen, beeinflussen auch verlängerte Ladenöffnungszeiten an Sonntagen, Flohmärkte, Straßenfesten oder sonstige Events und Festivals die Zoobesucherzahlen. Daneben befinden wir uns mit einer Vielzahl von anderen Freizeiteinrichtungen im Wettbewerb. Hierzu zählen neben klassischen Freizeitparks wie bspw. dem ‚Phantasialand‘ auch IndoorHallen (bspw. sog. ‚Escape-rooms‘, ‚Jump-Häuser‘, etc.), oder Schwimmund Spaßbäder sowie Saunen mit ihren vielfältigen Wellnessangeboten. Einen neuen Trend stellen zudem die Online-Spiele dar, bei denen sich vor allem jüngere Jugendliche zum gemeinsamen Spielen am Bildschirm verabreden und dadurch ihr Zimmer gar nicht mehr verlassen müssen. Ob sich dieser Trend negativ auf die weitere Entwicklung der Besucherzahlen auswirken wird, bleibt abzuwarten. In jedem Fall wird es zukünftig schwieriger werden, diese Jugendlichen werblich zu erreichen und sie für einen Zoobesuch zu interessieren.“54 Die Zoologischer Garten Magdeburg gGmbH hat daraus als einziger Zoo in Deutschland die Konsequenz zogen, Kindern bis zu einem Alter von fünfzehn Jahren freien Eintritt zu gewähren. Der Zoo begründet dies mit dem „demografischen Wandel der Gesellschaft“: „Die klassische Familie aus zwei verheirateten Elternteilen und ihren eigenen Kindern wird mehr und mehr durch eheähnliche Gemeinschaft ersetzt. Die Zuordnung von eigenen Kindern verschwimmt in unterschiedlichen Gruppenstrukturen. […] Zudem war besonders auffällig, dass die Höhe des Gruppenpreises für Kinder (damals 2,50 EUR pro Kind) bereits entscheidend für die Abwägung zwischen einem kostenpflichtigen Zoobesuch oder einer kostenfreien Alternative war.“55 2. Investitionen und Attraktionen Die Schlussfolgerung aus dieser Konkurrenzsituation ist klar: „Nur durch massive Investitionen in bestehende und neue Tieranlagen sowie in das weitere Angebot für die Besucher kann es gelingen, sich im Wettbewerb im Freizeitmarkt zu behaupten.“56 Etwaige ‚Grenzen des Wachstums‘ möchte man jedoch nicht hinnehmen. „In den letzten zehn Jahren war in Deutschland ein mittleres Wachstum der Besucherzahlen von gegen 2% pro Jahr zu verzeichnen. Grundsätzlich gilt: Je mehr ein Zoo in Neuanlagen investiert, umso höher ist das Besucherwachstum.57 Liebevoll wird deshalb jede neue 54
AG Zoologischer Garten Köln 2018. Zoologischer Garten Magdeburg gGmbH 2017. 56 Zoologischer Garten Halle GmbH 2018. 57 Zoo Duisburg AG 2017. 55
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oder auch nur geplante Attraktion als Investitionsgeschehen in den Jahresabschlüssen gefeiert, wie die folgende, ermüdend redundant wirkende, aber bei weitem unvollständige Auswahl zeigt: – in München „die noch im Bau befindliche Ameisenanlage und der Unterstand für die Bisons“ oder „die ab 2020 geplante Löwenanlage“, der „Durchgang bei der Welt der kleinen Affen, die Umbaumaßnahmen an der Außenanlage der Orang-Utans und der Elchanlage“,58 – in Dresden der „Neubau der Löwen- und Karakalanlage, der neuen Futtermeisterei sowie […] der Giraffen- und Zebraanlage“, eine „begehbare Kattaanlage“, „eine als Regenwaldhaus konzipierte Tieranlage für Affen, Krokodile und Faultiere“ die „Schneeleopardenanlage“ sowie „Anlagen für die Roten Pandas und die Erdmännchen“, das „Bauvorhaben eines Winterhauses für Pelikane“, der „Umbau des Afrikahauses“, die geplante „Winterunterkunft“ für die „Riesenschildkröten“ und „das angrenzende Antilopenhaus“, „die Umstellung der Elefantenhaltung auf den geschützten Kontakt“ sowie die „Realisierung des neuen Orang-Utans-Hauses“,59 – im Zoo Berlin die „Nacharbeiten an der Panda-Anlage“ und der „Umbau des Raubtierhauses“,60 – in Duisburg der Investitionsplan, der Ausgaben von „ca. 76 Mio EUR für die nächsten 25 Jahre“ vorsieht für Neu- und Umbauten unter anderem für Afrikanum, Seelöwen und Seehunde, Koala und Tapir, Fasanerie, Adler, Eulen und Bärengebäude, Chinagarten und Affenhaus,61 – in Hamburg die „Eismeeranlage“, die „durch die naturgetreue Nachbildung der Landschaft von Nord- und Südpol sowie den Über- und Unterwasseransichten einen einzigartigen Einblick in die Tierwelt der Polarregion ermöglicht“,62 – in Hannover „das Masterplanprojekt ‚Afi Mountain‘ (Afrika-Voliere und Drill-Wald)“, das „[m]itten im Erlebnis-Zoo Hannover […] ein neues Schutzgebiet für die bedrohten Drills und für Brazza-Meerkatzen“ geschaffen hat, die „einem echten Nationalpark im Südosten Nigerias nachempfunden“ ist und „den Besucher durch verschiedene Klimazonen von der Feuchtsavanne bis zum Regenwald“ führt,63 – in Heidelberg „das neue Außengehege für Halbaffen (Kattas und Sifakas)“, der „Neubau des Streichelzoos“, „das neue Löwengehege“ und das Gorillagehege,64 58
Münchener Tierpark Hellabrunn AG 2018. Zoo Dresden GmbH 2017. 60 Zoologischer Garten Berlin Aktiengesellschaft 2017. 61 Zoo Duisburg gGmbH 2018. 62 Tierpark Hagenbeck gGmbH 2012 [sic]. 63 Zoo Hannover GmbH 2017. 64 Tiergarten Heidelberg gGmbH 2017. 59
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– in Köln als „bauliches Highlight“ der „Umzug der Kleinen Pandas auf eine insgesamt rd. 400 m2 große Anlage, die geographisch passend zwischen dem Elefantenpark und den Asiatischen Löwen liegt“, die „Sanierung des 1899 errichteten sog. ‚Südamerikahauses‘ (bzw. ‚alten Vogelhauses‘)“, eines „einmaligen historischen Denkmals auf dem Zoogelände“, die „Sanierung der alten Direktorenvilla sowie die vollständige Neugestaltung eines Teiles der alten Bärenanlage und deren Umbau zu einer neuen Anlage für Jaguare“, „Maßnahmen an der Filteranlage im Hippodom durch, wodurch die Wasserklarheit nochmals deutlich verbessert werden konnte“, die „Sanierung und Erweiterung der Tigeranlage“,65 – in Krefeld die „Fertigstellung der neuen Erdmännchen-Lodge“, „eine zusätzliche Attraktion […], die in Verbindung mit dem Imagegewinn aus den Erfolgen der Vorjahre zu einem Besucheranstieg auf Rekordniveau und damit zu Mehreinnahmen führte“, die „Entwurfsplanung für den Bau der Pelikan-Lagune (gekoppelt mit der zentralen Versickerungsanlage ‚Zebragraben‘)“, die „grundlegende tierhalterische und technische Sanierung des Vogeltropenhauses“ und die „Vorplanung für die neue Außenanlage der Schimpansen“,66 – in Leipzig als „Hauptattraktionen“ die Themenwelten „Gondwanaland“ und „Pongoland“ und die neue Themenwelt „Pampa, Patagonien, Pantanal“,67 – in Magdeburg „die Eröffnung der neuen Anlage für Afrikanische Elefanten“,68 – in Münster „die neue Tiger- und Leopardenanlage“,69 – im Wildpark Schorfheide „das im Bau befindliche Wolfsinformationszentrum“,70 – in Neunkirchen „die sehr natürlich gestaltete, vergrößerte und für Besucher begehbare Storchenvoliere“, „[b]is Ende des Jahres war auch das Storchenpaar als Kernbestand der Voliere komplett“, „ein Meeresaquarium mit 1.000 l Inhalt im Affenhaus“, darin die „Unterwasserwelt eines tropischen Korallenriffs […] in Zusammenhang mit den tropischen Landbewohnern im Affenhaus, insbesondere den benachbarten Schopfmakaken aus Sulawesi“, die „Umgestaltung der ehemaligen Wolfsanlage, in der zwischenzeitlich Rothunde, Dingos und Waldhunde gehalten wurden, […] zu einem Gehege für Streifenhyänen“, eine Paviananlage, „deren Wände und damit die Optik der gesamten […] Anlage mit einer GraffitiLandschaftsmalerei versehen wurden“, die „Kolonie Blattschneideramei65
Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln 2018. Zoo Krefeld gGmbH 2017. 67 Zoo Leipzig GmbH 2017. 68 Zoologischer Garten Magdeburg gGmbH 2017. 69 Westfälischer Zoologischer Garten Münster GmbH 2017. 70 Wildpark Schorfheide GmbH 2017. 66
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sen“, die „nun nach einer längeren Entwicklungsphase endlich in einem sehr ansprechenden System mit Plexiglasröhren und einsehbaren Boxen im Affenhaus präsentiert werden“, „eine erste Giftschlangenart, die seltene und sehr beeindruckende Mang-Shan-Viper, […] in einem extra abgesicherten Terrarium“, als „weitere, große Seltenheit unter den Reptilien […] der Taubwaran aus Borneo […] in einer Gemeinschaftshaltung mit den bereits vorhandenen Fidschi-Leguanen“, „die spektakulären Jungtiere des Vorjahres, d.h. die Schneeleopardenzwillinge und das Orang-UtanBaby“, die „zu einem verstärkten Zoobesuch animierten“, dazu „die Geburt eines Albino-Kängurus, das im ersten Halbjahr einen regelrechten Hype auslöste“, so dass „die Besucherzahlen im Jahr 2017 zeitweise ca. 20.000 vor denen des Jahres 2016“ lagen, wobei dieser „erfreuliche Vorsprung […] leider im Verlaufe des zweiten Halbjahres mehr und mehr ab[schmolz,] so dass wie oben bereits dargestellt das Endergebnis praktisch identisch mit dem Vorjahr ist“,71 in Neustrelitz „ein neues, wesentlich komfortableres Gehege“ für Lamas und Nandus, „Zaunerneuerungen und Neustrukturierungen zur Begehbarkeit des Schafsgeheges sowie des Kaninchengeheges“ und die „Umzäunung des Mähnenspringergeheges“,72 in Nordhorn der Neubau einer Hirschanlage, eines „Geheges für die Leoparden“ und „begehbare Tiergehege“,73 in Osnabrück „Vergrößerungen der Seelöwen- und Seehundanlage sowie des Giraffenbullenstalles“, die „Themenwelten ‚Angkor Wat‘ und ‚Nordamerika‘“ sowie die „Themenwelt ‚Mapungupwe‘ (Löwen und Nahörner)“, „Umbaumaßnahmen in den Bereichen ‚Seelöwen‘, ‚Seehunde‘ und ‚Giraffen‘“,74 in Rostock „[s]pezielle Großanlagen“ wie das „Darwineum“, in welchem „der dritte und vierte Orang-Utan Nachwuchs begrüßt werden“ konnte, und das „Polarium“, das „den Besucher in die Eisweltregionen“ führt und „den Süd- mit dem Nordpol“ verbindet und dessen Bewohner, darunter „drei Eisbären, 21 Humboldtpinguine sowie […] eine Vielzahl von Meeresbewohnern (Quallen, Fische, Krebse[…])“ für einen „Nachwendebesucherrekord“ sorgten, dazu die umgestaltete Elchanlage, die „für die Rückkehr der Elche umgestaltet wird“, welche „den Zoo aufgrund der Baustelle für das Polarium vorübergehend verlassen“ mussten, und „[n]eue Vogelarten […] in der ca. 600 Quadratmeter großen Südamerikavoliere“, „neben den bereits gehaltenen Roten Ibissen als neue Arten mehrere Rosalöffler, Herbstpfeifgänse, Kahnschnabel und Rotschulteren71
Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH 2017. Stadtwerke Neustrelitz GmbH 2017. 73 Tierpark Nordhorn gGmbH 2017. 74 Zoo Osnabrück gGmbH 2017. 72
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ten“, „[a]ußerdem wird bei der Erdmännchen Anlage [sic] kräftig renoviert und modernisiert“,75 – in Schwerin über den „Neubau des Flamingohauses“.76 Wohlgemerkt: Das ist nicht Brehms „Illustrirtes Thierleben“77, sondern das sind die Jahresabschlüsse unternehmenstragender Gesellschaften. Es gibt freilich auch eine umfassende nichttierische Berichterstattung, in der die Gesellschaften darstellen, wie sie ihrer corporate social responsibility für das Freizeitverhalten ihres Publikums gerecht werden (§ 289c Abs. 2 Nr. 3 HGB). Dies sind – in Bernburg der „Um- und Ausbau der ‚Tiergartenschenke‘“,78 – in Dresden der Umbau des „Pinguincafés“,79 – in Duisburg die „Familiennachtsafari“80 sowie „die Umsetzung des Lichtkonzeptes“, aufgrund dessen nach dem „Motto ‚Licht lockt Leute‘ […] das Zoogelände (Haupteingangsbereich, Tiere, Botanik, Tieranlagen, Gebäude, Wege) zu festgelegten Abendstunden in den Wintermonaten illuminiert werden“ soll, um „insbesondere in der dunklen und besucherschwachen Jahreszeit […] dem Zoo zusätzliche Besucher [zu] bringen“,81 – in Halle die „sechswöchige[…] Dauerausstellung ‚Magische Lichterwelten‘“, in der „insgesamt mehr als 350 lebens- und überlebensgroße Laternen, die Tiere, Fabelwesen und Pflanzen darstellten, im abendlich beleuchteten Bergzoo präsentiert“ wurden, die „in der sonst so besucherschwachen Winterzeit“ einen „Ansturm[…]“ brachte, der „trotz der großen Hitze und Trockenheit während des Sommers 2018“ wie in Rostock82 dazu beitrug, „im dritten Jahr in Folge einen Besucherrekord für die Nachwendezeit aufzustellen“,83 – in Hannover der gesamte „Erlebnis-Zoo“ als „eine stark nachgefragte Veranstaltungs-Location, sei es für Hochzeiten, Geburtstage oder Firmenveranstaltungen“, die „Zooschule“, welche als „anerkannter außerschulischer Lernort […] vielen tausend Schülern aller Jahrgangsstufen Kenntnisse über die Tierwelt, deren Lebensräume und Umweltschutzmaßnahmen vermittelt“, die „Stofftierklinik“, die „Markttage[…]“,die „tierische[…] Olympiade“, das „Zoo-Familienfest“ und die abendlichen 75
Zoologischer Garten Rostock gGmbH 2018. Zoologischer Garten Schwerin gGmbH 2017. 77 http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit37862 (29.3.2020). 78 BFG-Bernburger Freizeit GmbH 2017. 79 Zoo Dresden GmbH 2017. 80 Zoo Duisburg gGmbH 2018. 81 Zoo Duisburg AG 2017. 82 Oben bei Fn. 75. 83 Zoologischer Garten Halle GmbH 2018. 76
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„neuen Blicke hinter die Kulissen im Rahmen des LateZoo“ sowie ein „besonderer Fokus […] auf den Edutainmentsegmenten“,84 in Heidelberg „Umbaumaßnahmen an der Reithalle zur Aufnahme des Explo“ (d.h. zur „räumlichen Integration der Bereiche ‚Ausstellung‘ und ‚Techniklabor‘ der Stiftung Jugend und Wissenschaft Heidelberg gGmbH (Explo) auf dem Zoogelände“),85 in Köln ein „zusätzlicher fest in die Gebäudestruktur integrierter Imbiss[,] der die alte mobile ‚Zebrasserie‘-Hütte ersetzen wird“, und die „Zoo Gastronomie GmbH“, der es „im Rahmen ihres Eventgeschäfts […] über die Jahre gelungen ist, sich ein Stück weit unabhängig vom Tagesgeschäft des Zoos zu entwickeln und trotz rückläufiger Besucherzahlen ein gutes Ergebnis zu erzielen“, das „China Light Festival“, „das Osterferienprogramm, die Zoo-Zeltlager, ‚Halloween‘, ‚Bauernmarkt‘, „Zoolauf‘ oder auch der ‚Klimatag‘ sowie „für interessierte Erwachsene regelmäßig wissenschaftliche Fachvorträge“,86 in Magdeburg (wie bereits erwähnt) freier Eintritt für Kinder im Alter bis 15 Jahre, „einmalig für einen Zoo in Deutschland“,87 in München „zusätzliche Spielbereiche und -plätze, informative und edukative Beschilderungen“, der „Umbau des Hauptrestaurants“ und die „Tierparkschule“,88 in Münster „zusätzliche Highlights, wie z.B. ein Tag als Tierpfleger oder Kindergeburtstage“,89 in Neunkirchen das „Landaufschwung-Projekt unter dem Titel ‚Tierisch bewegen durch den Neunkircher Zoo‘, das einen zweiten großen Spielplatz beinhaltet“,90 in Neustrelitz „ein Wirtschaftsgebäude mit angegliederter Erlebnisfarm“, „die Vergabe von entgeltpflichtigen Tierpatenschaften“, „Veranstaltungen wie Ostereiersuchen, Halloween und auch der jährliche Weihnachtsmarkt“, die „Errichtung des Wirtschaftsbauernhofes ‚Jettes Erlebnisfarm‘“, ein „Naschgarten und Erlebnisstationen, wozu unter anderem zwei Telefonzellen gehören“; zudem wurde „in Kooperation mit der Neubrandenburger Philharmonie die musikalische Geschichte ‚Der Elefantenpups – Rettet den Zoo!‘ aufgeführt“,91
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Zoo Hannover GmbH 2017. Tiergarten Heidelberg gGmbH 2017. 86 Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln 2018. 87 Zoologischer Garten Magdeburg gGmbH 2017. Zur Begründung siehe oben bei Fn. 55. 88 Münchener Tierpark Hellabrunn AG 2018. 89 Westfälischer Zoologischer Garten Münster GmbH 2017. 90 Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH 2017. 91 Stadtwerke Neustrelitz GmbH 2017. 85
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– in Nordhorn der Neubau eines „Weltgartens“, die „Indoor-Spielanlage zur Angebotserweiterung bei schlechter Witterung“ und ein „ErlebnisBauernhof“,92 – in Rostock „Spielstationen mit dem Segelschiff ‚Fram‘ und mehreren Spiel- und Lernstationen“.93 3. Das Wetter und andere Katastrophen Ausgestattet mit so zahlreichen animalischen Investments und „tierischen Attraktionen“,94 sollte in Zoos und Aquarien eigentlich nichts schiefgehen können. Dennoch haben die Gesellschaften viele ernste Sorgen. Ein bekannter DDR-Witz besagte, die vier größten Feinde des Sozialismus seien Frühling, Sommer, Herbst und Winter. In diesem Sinne sind die zoo- und aquarienbetreibenden Gesellschaften gute Sozialisten. Fast jede Risikoanalyse äußert sich zu meteorologischen Unwägbarkeiten: „Maßgeblich für die Entwicklung und den Erfolg eines jeden Geschäftsjahres ist das Wetter, welches in den vergangenen Jahren erkennbar wechselhafter wurde.“95 Das Wetter ist aber nur einer von vielen Risikofaktoren: „Neben den üblichen Risiken unternehmerischen Handelns bestehen für die Tierpark Berlin-Friedrichsfelde GmbH aufgrund ihrer Struktur und des Geschäftsmodells stärker als bei anderen Unternehmen Risiken, die durch die Abhängigkeit von externen und nur sehr begrenzt oder nicht beeinflussbaren Faktoren entstehen. Die Veränderungen dieser Faktoren können jedoch erhebliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung haben. Dies sind vor allem besondere Tiergeburten, das Wetter und das Freizeitverhalten der Menschen sowie die infrastrukturelle und demographische Entwicklung der den Tierpark Berlin umgebenden Stadtteile.“96 Eine ähnliche Risikobewertung nimmt die Sea Life Deutschland GmbH vor. So seien „[a]ufgrund der schwankenden sowie gesunkenen Besucherzahlen […] Marketingmaßnahmen am Markt [sic] platziert“ worden, die „vor allem aufgrund der herrschenden Witterungsverhältnisse erforderlich“ 92
Tierpark Nordhorn gGmbH 2017. Zoologischer Garten Rostock gGmbH 2018. 94 Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH 2017. 95 Zoologischer Garten Rostock gGmbH 2018. 96 Tierpark Berlin-Friedrichsfelde GmbH 2017. Ebenso Zoologischer Garten Magdeburg gGmbH 2017: „Die Geschäftstätigkeit des Zoos wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Zu nennen sind hier vorwiegend besondere Tiergeburten, das Wetter, der Tourismus und das Freizeitverhalten der Menschen.“ Ähnlich Zoologischer Garten Rostock gGmbH 2018: „Die Gesellschaft ist in besonderem Maße von externen Einflüssen und Faktoren abhängig, die nicht bis kaum von ihr beeinflussbar sind. Dazu gehören der mögliche Ausbruch von Tierseuchen, Änderungen im Freizeitverhalten der Menschen, die wachsende Anzahl von Mitbewerbern auf dem Freizeitmarkt (Veranstaltungen, Volksfeste), die Entwicklung des Tourismus und die Kaufkraftentwicklung.“ 93
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gewesen seien: „Sobald es das Wetter zuließ, zog es viele Menschen zu Aktivitäten, die im Freien stattfinden, und weniger zu Freizeitaktivitäten, die nicht im Freien stattfinden.“ Diese ausgesprochen feinsinnige Beobachtung bedeutet: Was den Zoos hilft, ist für Sea Life als Aquarienbetreiber schlecht. Verallgemeinerungsfähig ergeben sich Risiken für Sea Life wie für andere Gesellschaften „in erster Linie aus der Veränderung des Freizeitverhaltens der Besucher und des Wetters sowie in der Notwendigkeit, auch in Zukunft durch Innovationen und einzigartige Ausstellungen die Bevölkerung zu einem Besuch der Centre zu animieren“.97 Die Zoologischer Garten Rostock gGmbH bestätigt die Erfahrung, dass jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann: „Die gemeinnützige GmbH ist bezüglich ihrer Einnahmen, soweit es sich nicht um Einnahmen aus öffentlichen Mitteln handelt, abhängig von der Neigung potentieller Besucher und Verbraucher, von ihren verfügbaren Einkommen Ausgaben für Freizeit, Unterhaltung und Kultur zu tätigen.“ Deshalb werde der Zoo „[a]uch zukünftig […] von der allgemeinen Entwicklung der Kaufkraft der Besucher abhängig sein“. Freilich ändert sich für die Zoos auch dann nichts zum Besseren, wenn die Kaufkraft steigt: „Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte stiegen im Jahr 2018 real um 1,3 Prozent, seit 2008 kumuliert um etwa 11,3 Prozent.“ Dennoch betrugen die „Kulturausgaben privater Haushalte für Besuche von Museen, Bibliotheken, zoologischen und botanischen Gärten […] in den vergangenen sieben Jahren gleichbleibend etwa EUR 36 pro Haushalt und Jahr“.98 Über abnehmende Kaufkraft war im Untersuchungszeitraum offenbar nicht zu berichten. Für die benachbarte Zoologischer Garten Schwerin gGmbH sind die genannten Einflüsse von Wetter und Freizeitverhalten auf die Besucherentwicklung „nicht kalkulierbar und können sich auf die wirtschaftliche Entwicklung kurzfristig negativ oder positiv auswirken. Aus diesen Gründen gibt es keine Planungssicherheit für den Zoo.“99 Angesichts einer solchen Resignation ist man dankbar, von der AG Zoologischer Garten Köln beruhigt zu werden: „Risiken, die den Bestand des Unternehmens gefährden, bestehen nicht.“100 Dies gilt auch in Köln wie gesehen aber nur unter der Voraussetzung, dass die Stadt Köln den Zuschussbedarf des Zoos deckt.101 Im
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Sea Life Deutschland GmbH 2017. Zoologischer Garten Rostock gGmbH 2018. 99 Zoologischer Garten Schwerin gGmbH 2017. Ähnlich Münchener Tierpark Hellabrunn AG 2018: „Das Unternehmen ist durch Struktur und Geschäftszweck mehr als andere Unternehmen von externen Faktoren abhängig, die nur sehr begrenzt oder gar nicht beeinflussbar sind, deren Veränderungen aber die wirtschaftliche Entwicklung kurzfristig negativ bzw. positiv beeinflussen können.“ 100 Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln 2018. Ähnlich Zoo Duisburg gGmbH 2018. 101 Oben bei Fn. 52. 98
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übrigen fühlt sich die Gesellschaft „von Branchenrisiken und konjunkturellen Risiken weitgehend unabhängig“. Auch Köln schränkt dieses „weitgehend“ aber ein, dass selbst wenn „Tierbestandsrisiken bspw. in Hinblick auf Seuchen und Gesundheit außen vor“ blieben,102 dennoch allzu bekannte Branchenrisiken zu berücksichtigen seien, „wie sie für die Freizeitbranche bestehen“. Dies wird verschärft durch den Umstand, dass man nicht immer Freizeit hat. Einflussreich ist daher „in erster Linie die Wettersituation […] an Wochenenden, an Feiertagen und in den Ferien […]. Anders ausgedrückt: Schlechtes Wetter an einem Feiertag kann in Hinblick auf die Besucherzahlen durch gutes Wetter an einem Arbeitstag nicht wieder kompensiert werden. Insofern korreliert die Besucherzahl sehr stark mit dem Wetter, wie man an der rückläufigen Besucherzahl während der heißen Sommermonate ablesen kann.“103 Das Wetter kann also auch zu gut sein für einen Zoobesuch, jedenfalls in Köln oder auch in Duisburg: „ein verregneter Frühling oder Herbst oder ein zu heißer Sommer haben tiefere Besucherzahlen zur Folge.“104 Hannover gibt zu bedenken: „Da der Besuch in der Regel kurzfristig geplant wird, wirken sich die Witterungseinflüsse stark aus. Kurzfristige Reaktionsmöglichkeiten sind hier sehr begrenzt, mittelfristig ist dem nur durch hohe Flexibilität und Effizienz auf der Kostenseite zu begegnen.“105 Unter diesen Umständen wird der Lagebericht in Hannover und Duisburg zu einem Jahreswetterbericht: „Nach drei guten Monaten, kam ab April über die wichtigen OsterFerienzeiten und Wochenenden eine kalte und unbeständige Wetterlage. Auch die Sommersaison war entweder zu heiß oder zu feucht. So wurden ab Mitte Juni tropische Temperaturen gemessen, die dann in flutartigen Regen übergingen. Erstmals musste der Erlebnis-Zoo Hannover an einem Sommertag wegen Sturm gesperrt werden. Der komplette Juli bis Mitte August wurden durch Nässe beherrscht. Erst zum Ende der Sommerferien wurde das Wetter etwas beständiger. Allerdings blieb nur eine kleine Ruhephase vor weiteren großen Regengüssen – im Oktober kamen dann wieder starke Stürme hinzu. Aufgrund von orkanähnlichen Böen musste der Erlebnis-Zoo Hannover erneut geschlossen werden. Insgesamt war das Jahr 2017 in Hannover, meteorologisch betrachtet, im Vergleich zum langjährigen Mittel zu nass und zu wenig sonnig.“106 „Im März war die erste Woche der Osterferien überwiegend regnerisch und wechselhaft. Im Berichtsmonat Juni waren besonders die Sonntage schlecht besucht. Hierzu könnten diverse Gegenangebote im unmittelbaren 102
Dazu unten bei Fn. 123. Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln 2018. 104 Zoo Duisburg AG 2017. 105 Zoo Hannover GmbH 2017. 106 Zoo Hannover GmbH 2017. 103
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Einzugsgebiet wie das Duisburger Matjesfest und die Drachenboot-FunRegatta geführt haben. Der Berichtsmonat August war durch eine langanhaltende Hitze geprägt. Im letzten Quartal fand dagegen eine leichte Erholung bei den Tageskarten statt; begünstigt durch eine lang anhaltende Schön-Wetter-Periode im Oktober.“107 Schlechter erging es der Natur- und Umweltpark Güstrow gGmbH: „Durch den starken Schneefall Ostern 2018 wurden zwei Volieren zerstört.“108 Nicht weit entfernt berichtet man aus Rostock: „Starker Schneefall zu Ostern verursachte erhebliche Schäden an Tieranlagen und Bäumen und führte zur Schließung des Zoos.“109 Die BFG-Bernburger Freizeit GmbH baute „mit Fluthilfegeldern eine neuen Futterküche“ aus und setzte konsequent eine Priorität bei „Maßnahmen des präventiven Hochwasserschutzes“.110 In Nordhorn ist „der verheerende Gewittersturm 2010 […] mit allen Konsequenzen für den Park noch im Gedächtnis“.111 In Magdeburg hatten die „Schäden nach dem Unwetter vom 22. Juni 2017 […] den Zoo dazu gezwungen, den Besucherverkehr für insgesamt 8 Tage einzustellen. […] Insbesondere die drohende Häufigkeit von außergewöhnlichen Wetterereignissen lässt das Risiko für den Zoo steigen.“112 Im Einklang mit solchen Hiobsbotschaften hat – anders als die grundsätzlich optimistischen Kölner mit ihrem Motto „et hätt noch immer jot jejange“113 – die Zoo Leipzig GmbH gleich „sieben Risiken als bestandsgefährdend (Schaden größer TEUR 5.000) eingestuft. Hierzu zählen die Risiken aus Elementarschäden, aus Rückforderungen von Fördermitteln oder Zuschüssen, aus einer (teilweisen) Schließung des Zoos aufgrund von Tierseuchen, aus Einschränkungen bei der Betriebsgenehmigung des Zoos oder des Parkhauses [!], aus Wegfall von Steuererleichterungen bei einem Verlust der Gemeinnützigkeit, aus einer am Besucherinteresse vorbei gehenden Umsetzung des strategischen Unternehmenskonzeptes ‚Zoo der Zukunft‘ sowie aus der Streichung oder Kürzung von Zuschüssen der Stadt Leipzig.“ Letztlich kommen dem Leser zoologischer Abschlüsse alle diese Risiken bekannt vor, weil sie eben doch überall bestehen und immer wieder erwähnt werden. Sie werden nur nicht überall gleich gewichtet. So erkennt die Stadtpark Mannheim gGmbH „bestandsgefährdende Risiken weder aus den Einzelrisiken (Wetter, Parkattraktivität, Tierseuchen, Sanierung des Fernmelde-
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Zoo Duisburg gGmbH 2018. Natur- und Umweltpark Güstrow gGmbH 2017. 109 Zoologischer Garten Rostock gGmbH 2018. 110 BFG-Bernburger Freizeit GmbH 2017. 111 Tierpark Nordhorn gGmbH 2017. 112 Zoologischer Garten Magdeburg gGmbH 2017. 113 Dazu oben bei Fn. 100. 108
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turms, Hackerangriffe, Terror) noch aus der Gesamtrisikosituation“.114 Die Münchener Tierpark Hellabrunn AG nennt „Tiererkrankungen und Tierseuchen (v.a. aviäre Influenza), das Wetter, de[n] Tourismus, das Freizeitverhalten der Menschen, Terrorismus und die konjunkturelle Entwicklung“. Immerhin hat sie, um „finanzielle Folgen durch Terrorismusrisiken abzusichern, […] eine sogenannte ‚Terrorversicherung‘ abgeschlossen“.115 Als einzige Gesellschaft im hier untersuchten Kreis hat die Zoologischer Garten Rostock gGmbH eine „Richtlinie für das Risikomanagement“, nach welcher „die Geschäftsführung frühzeitig wesentliche Risiken erkennt und gegensteuernde Maßnahmen einleiten kann“. Neben „Tierseuchen, welche den Tierbestand gefährden“, nennt Rostock „Naturkatastrophen wie Wirbelstürme, Hochwasser, Erdbeben u. ä. sein, welche schwere Schäden an Gebäuden, Anlagen und im Tierbestand anrichten können“. Nachdem Rostock die Risiken „nach ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit und möglichen Schadenshöhe bewertet“ hatte, wurden „die Risiken ‚Tierseuchen‘ und ‚Naturereignisse‘ höher eingestuft“ als andere Risiken. Neben diesen zoospezifischen Risiken können als „allgemeine Risiken […] negative Entwicklungen im wirtschaftlichen Umfeld identifiziert werden, wie Preissteigerungen bei Energie, Futter und auf dem Bausektor“ sowie „die steigenden Personalkosten als Folge von Tariferhöhung“.116 Unter den gestiegenen Aufwendungen bekümmern die Zoo Dresden GmbH „die Kosten für Futtermittel und Transport […] vor allem durch den Kauf von Eukalyptus für die Koalas“.117 Für den Kölner Zoo wirkte sich hier einmal mehr das Wetter aus: „Der Bezug von Futtermitteln hat sich durch Preissteigerungen aufgrund der trockenen Sommermonate und den damit verbundenen Ernteausfällen mit 708 T€ um 9,4% über dem Vorjahreswert entwickelt.“118 Aus juristischer Sicht bemerkenswert gehört zu den Risiken des Zoobetriebs das Recht: „Weitere Risiken ergeben sich durch die ständig wachsende und nicht vorhersehbare Regelungsdichte, durch die der Münchner Tierpark Hellabrunn mit immer weiteren Auflagen und Verpflichtungen belastet wird.“119 Der Zoo Köln adressiert neben dem Tier- und Artenschutz zahlreiche weitere Rechtsvorschriften, die für den Zoo ein „weiteres nicht unerhebliches [Kosten-]Risiko“ darstellen, nämlich „die ständig steigenden Anforderungen an die Arbeitssicherheit, die Personalintensität und bei den Bauvorschriften, insbesondere in Hinblick auf Brandschutz und Energieeffizienz […]. Hier wird seit vielen Jahren von der Politik ein Bürokratie-Abbau versprochen. Geändert hat sich indes nichts. 114
Stadtpark Mannheim gGmbH 2017. Münchener Tierpark Hellabrunn AG 2018. 116 Zoologischer Garten Rostock gGmbH 2018. 117 Zoo Dresden GmbH 2017. 118 Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln 2018. 119 Münchener Tierpark Hellabrunn AG 2018. 115
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Vielmehr nimmt diese weiter zu, wenn man allein an den im letzten Jahr entstandenen Aufwand im Rahmen der Umsetzung der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) denkt. Vielfach wäre es zudem schon hilfreich, wenn zu den bestehenden Regelungen lediglich keinen neuen hinzukämen.“120 Juristische Probleme beschäftigen die Zoo Krefeld gGmbH im Rahmen einer „gerichtlichen Auseinandersetzung im abgeschlossenen Bauprojekt Gorilla-Garten“, die aber dadurch gemildert werden, dass „[n]ach Einschätzung des Rechtsanwalts […] weiterhin nicht damit zu rechnen“ sei, „dass nennenswerte Zahlungen seitens des Zoos zu leisten sein werden“.121 Eine ebenso knappe wie fatalistische Zusammenfassung der allgemeinen Risiken bietet die Westfälischer Zoologischer Garten Münster GmbH: „Der Verlauf eines Geschäftsjahres des Allwetterzoos wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst, wie z.B. Wetter, Tiererkrankungen und Tierseuche, Konsum- und Freizeitverhalten der Bevölkerung, Politik und Gesetzgebung, auf die die Westfälischer Zoologischer Garten Münster GmbH keinen Einfluss hat.“ Deshalb seien Aussagen zur künftigen Geschäftsentwicklung mit großen Unsicherheiten behaftet: „Hinsichtlich der zukunftsbezogenen Aussagen weisen wir darauf hin, dass die tatsächlichen Ergebnisse wesentlich von Erwartungen über die voraussichtliche Entwicklung abweichen können, falls sich die zugrundeliegenden Annahmen als unzutreffend erweisen.“122 So ist das mit der Zukunft. Aus gegebenem Anlass lohnt es sich, den in vielen Jahresabschlüssen angesprochenen Tierseuchen Aufmerksamkeit zu widmen. Vergleichsweise begrenzte Verluste hatte die Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH zu beklagen: „Nachdem im vergangenen Jahr die beiden Trampeltiere an einer bei Kamelen bisher nicht bekannten Krankheit, der Atypischen Myopathie, verstorben waren, wurden 2017 drei Yaks angeschafft, die im nächsten Jahr weiter mit Trampeltieren vergesellschaftet werden sollten.“123 Bereits vor den durch das neuartige Coronavirus im Frühjahr 2020 erfolgten flächendeckenden Schließungen waren aber die Gesellschaften mit seuchenbedingten Einschränkungen konfrontiert: − in Heidelberg: „Die Tierseuchenstrategie der Landesregierung bezüglich der Vogelgrippe tangiert den Zoo Heidelberg besonders, da er in den Sperrzonen entlang der großen Fließgewässer des Landes liegt.“124 − in München: „Im Falle einer aviären Influenza oder anderer Tierseuchen gibt es bei der Münchener Tierpark Hellabrunn AG umfangreiche mit
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Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln 2018. Zoo Krefeld gGmbH 2017. 122 Westfälischer Zoologischer Garten Münster GmbH 2017. 123 Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH 2017. 124 Tiergarten Heidelberg gGmbH 2017. 121
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den Amtstierärzten abgestimmte Notfallpläne, um den Tierbestand zu schützen.“125 − in Schwerin: „Das Geschäftsjahr 2017 wurde durch das Auftreten der Geflügelpest im eigenen Bestand sowie durch eine insgesamt ungünstige Wetterlage geprägt. Der Ausbruch der Geflügelpest machte eine Schließung des Zoos über einen Zeitraum von 3 Wochen und [wie gesehen] das Keulen des Wasservogelbestands erforderlich.“126 − in Nordhorn: „Die Erfahrung hat gezeigt, dass […] Risiken“ wie die „Tierparkschließung auf Grund einer Tierseuche […] nach wie vor nicht ausgeschlossen werden können. Dies zeigt auch die aktuelle Vogelgrippeverordnung mit der Quarantänepflicht für sämtliche Geflügelarten des Tierparks.127 Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um in den Jahresabschlüssen für das Geschäftsjahr 2020 umfangreiche Ausführungen über seuchenbedingte Schließungen zu erwarten. 4. Insbesondere: Tier- und Artenschutz Zu den juristisch relevanten Risiken gehört die Notwendigkeit, rechtlichen Anforderungen an den Tier- und Artenschutz gerecht zu werden (und darüber zu berichten, § 289c Abs. 2 Nr. 1 HGB), ebenso wie der Umstand, dass diese Bemühungen militanten Tierschützern nicht genügen. Nicht nur bei der BFG-Bernburger Freizeit GmbH „sollen die Haltungsbedingungen der Tiere weiter verbessert“ werden.128 Viele Gesellschaften haben den Anspruch, die Zoos in der Weise naturnah auszubauen, dass sie die Tiere in „in überwiegend nach zoogeografischen Gesichtspunkten gestalteten“ Anlagen halten. So hat sich die Zoologischer Garten Halle GmbH „vorgenommen, seine Anlagen nach Lebensräumen zu gliedern“, so etwa „für die Gemeinschaftshaltung von Bergzebras und Blessböcken oder Roten Pandabären und Schopfhirschen“. Für die Zoos ist dies eine Frage der Existenzberechtigung: „Zur Zukunftssicherung des Zoos als öffentliche, für ein breites Publikum zugängliche Bildungs- und Freizeiteinrichtung, die Wildtiere pflegt, ist es zwingend erforderlich, seine Einrichtungen und Tieranlagen immer wieder zu überprüfen und zu optimieren. Diese Verpflichtung ergibt sich nicht nur durch verschärfte Haltungsanforderungen, sondern ist vor allem auch neuen Erkenntnissen in der Tiergartenbiologie und der sich verändernden Sicht-
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Münchener Tierpark Hellabrunn AG 2018. Zoologischer Garten Schwerin gGmbH 2017. 127 Tierpark Nordhorn gGmbH 2017. 128 BFG-Bernburger Freizeit GmbH 2017. 126
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weise in der Öffentlichkeit für eine zeitgemäße Zootierhaltung geschuldet.“129 Anders formuliert: Die Zoos stehen unter Beobachtung. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, „die Artenvielfalt als Teil der globalen oder regionalen Biodiversität sichtbar und erlebbar zu machen“. Nicht zuletzt „das Bestreben, die Haltung möglichst tiergerecht zu gestalten, haben […] dazu geführt, dass die meisten Zoos ihre Tierbestände reduziert haben. Es besteht heute kein Wettbewerb mehr, wer die größte Tierkollektion hat. Vielmehr streben die Zoos an, einen für sie optimalen Tierbestand in einer natürlich wirkenden Umgebung zu halten.“130 Dies wirkt sich aus auf den Investitionsbedarf: „So ergeben sich bspw. aus dem Gutachten über die Mindestanforderungen zur Haltung von Säugetieren des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (sogenanntes ‚Säugetiergutachten‘) u.a. Vorschriften für größere Gehege zur Haltung bestimmter Tierarten. Würden keine Investitionen vorgenommen, um Maßnahmen zur Einhaltung dieser Vorgaben zu treffen, könnten bestimmte Tiere (wie Elefanten oder Menschenaffen) mittelfristig nicht mehr im Zoo gehalten werden.“131 Welche Konsequenzen das „Säugetiergutachten“ hat, illustriert die Tierpark Heidelberg gGmbH: „Den meisten Änderungen der Mindestanforderungen (Löwen, Gorillas) trägt die Investitionsplanung der Gesellschaft für die Jahre 2017–2020 Rechnung. Die Orang-Utans wurden im Jahr 2017 abgegeben, da eine neue Anlage nicht finanzierbar war. Damit verliert der Zoo erneut eine der besonders attraktiven Arten. Diese Entwicklung birgt ein erhebliches Risiko, dass die sinkenden Zahlen attraktiver Tiere zu sinkenden Besucherzahlen und damit in eine Abwärtsspirale führen können.“132 Die Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH wollte eine Anlage für Sibirische Tiger aufbauen, musste von diesem Projekt aber Abstand nehmen: „Mit der Tiger-Anlage war eine Tiger-Vorführung wesentlicher Bestandteil des Vorhabens. Das allerdings wird von der EAZA [Europäischer Verband der Zoos und Aquarienals] als zirkusähnlich und nicht tolerierbar für den Verband gewertet, was unmittelbar zu einem Ausschluss aus der EAZA und damit der Beendigung aller Zuchtprogramme sowie der Abgabe all der darin enthaltenen Tiere verknüpft gewesen wäre. Das Vorhaben wurde folglich aufgegeben, nachdem die Konsequenzen dem Zoo unmissverständlich dargelegt worden waren.“133
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Zoologischer Garten Halle GmbH 2018. Zoo Duisburg AG 2017. 131 Zoo Duisburg gGmbH 2018. 132 Tiergarten Heidelberg gGmbH 2017. 133 Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH 2017. 130
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Hält die Tiergarten Heidelberg gGmbH die „Rechtslage bezüglich des Flugunfähigmachens von Vögeln“ noch für „unklar“, so dass „die Geschäftsführung […] sich darauf vor[bereitet], dass Anpassungen mit erheblichen Investitionen notwendig werden könnten“,134 so nimmt die Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln bereits von bestimmten Arten Abschied: „[D]as schon bestehende Verbot des ‚Flugunfähigmachens‘ von Vögeln führt spätestens ab dem Jahr 2022 dazu, dass vor allem sog. ‚Großvogelarten‘ von uns nicht mehr gehalten werden können. Ob das angesichts des weltweiten Artensterbens der richtige Weg ist, muss an dieser Stelle ausdrücklich bezweifelt werden, da der Druck gerade auf diese Vogelarten in freier Natur in der Regel besonders groß ist und Zoos hier oftmals einen sicheren Zufluchtsort bieten können. Um derartige Vogelarten zukünftig halten zu können, müssen entsprechende Anlagen neu gebaut, bzw. umgebaut und dazu noch komplett übernetzt werden. Die Kosten hierfür sind immens, der Nutzen derartiger Anlagen dagegen nur sehr begrenzt. […] Klar ist, dass auch unsere Vogelhaltung stets höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen muss. Ob hierfür allein die Einhaltung einer definierten Größe einer Anlage als wichtigstes Haltungsmerkmal ausreicht, erscheint uns mehr als fraglich.“135 Viele Zoos versuchen, verbreitete tierschutzrechtliche Bedenken dadurch zu entkräften, dass sie sich an Artenschutzprojekten in den Zoos selbst, aber auch in den natürlichen Lebensräumen der Tiere engagieren, so etwa die Zoo Leipzig GmbH in einem „erfolgreiche[n] Kooperationsprojekt mit dem WWF Deutschland für Amur- und Schneeleoparden“136 oder die Zoologischer Garten Rostock gGmbH beim „Erhalt der Lebensräume bedrohter Tierarten, insbesondere der Berggorillas, der Orang-Utans, der Eisbären und der Baumkängurus.“137 Auch wenn die Mitgliederzoos im Verband der Zoologischen Gärten (VdZ) „wissenschaftlich geleitet“ sind und „ihre Tiere nach den neuesten Erkenntnissen der Tiergartenbiologie“ halten, dabei „ethische Leitlinien und Standards“ beachten, die das Ziel haben, „dem Wohlergehen der ihnen anvertrauten Tiere jederzeit höchste Priorität einzuräumen“ und „den Tieren bestmögliche Lebensbedingungen zu bieten“,138 gibt sich etwa die Zoo Duisburg gGmbH keinen Illusionen hin: „Tierrechtsorganisationen werden auch künftig die Haltung von Wildtieren in Menschenhand anfeinden und versuchen, die Haltung von gewissen 134
Tiergarten Heidelberg gGmbH 2017. Aktiengesellschaft Zoologischer Garten Köln 2018. 136 Zoo Leipzig GmbH 2017. 137 Zoologischer Garten Rostock gGmbH 2018. 138 Zoo Duisburg gGmbH 2018 nach noch aktuellen Internetquellen auf https://www. vdz-zoos.org/de/themen/tierhaltung-und-tierschutz/ (29.3.2020). 135
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Tierarten in Zoos zu erschweren oder ein Auslaufen der Haltung zu erreichen. Insbesondere steht der Zoo Duisburg immer wieder im Ziel von Delfinaktivisten, welche durch tendenziöse Anfeindungen Stimmung gegen die Haltung dieser Tierart machen. Zudem gibt es Parteien im Bundestag, die die Haltung von Delfinen in Menschenhand beenden möchten: sowohl Bündnis 90/Die Grünen als auch Die Linke haben eine entsprechende Passage in ihren Wahlprogrammen festgeschrieben. Die AFD lehnt die Zootierhaltung grundsätzlich ab.“139 Duisburg steht nicht allein vor diesem Problem, wie in aller – auch juristischer – Ausführlichkeit die Zoo Hannover GmbH belegt: „So startete […] eine Tierrechtsorganisation mit hohem medialen Aufwand eine Kampagne gegen die Haltung von Tieren in Zoos im Allgemeinen und speziell die Elefantenhaltung im Erlebnis-Zoo Hannover. Begleitet wurde diese, mit zusammengesetzten Videosequenzen öffentlich inszenierte Kampagne, durch eine Strafanzeige wegen mutmaßlichem Verstoß gegen das Tierschutzgesetz. Die Staatsanwaltschaft Hannover nahm die Ermittlungen auf, während die Tierrechtsorganisation unablässig mediale Kampagnen mit nicht nachvollziehbaren Vorwürfen und Anschuldigungen wiederholte, während der Erlebnis-Zoo Hannover sich bemühte, mit sachlicher Argumentation und voller Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit dagegen zu halten. Das Verfahren wurde nach umfangreichen Ermittlungen eingestellt. Die Einstellung des Verfahrens durch die Ermittlungsbehörde beruhte auf fachlichen Gutachten international anerkannter Experten, teilweise verknüpft mit unangemeldeten, persönlichen Besuchen vor Ort und Sichtung des vollständigen Videomaterials sowie behördlicher Stellungnahmen. Gestützt auf die Gutachten kam die Staatsanwaltschaft Hannover zu dem Ergebnis, dass keine Verstöße gegen das Tierschutzgesetz vorliegen. Das Verfahren bei der Staatsanwaltschaft wurde eingestellt. Aufgrund einer Beschwerde der Tierrechtsorganisation wurde die Einstellung des Verfahrens seitens der Generalstaatsanwaltschaft Celle nochmals geprüft, aber auch die Generalstaatsanwaltschaft bestätigte die Einstellung.“140 Nicht besser erging es der Neunkircher Zoologischer Garten GmbH. Diese sah sich einer Tierrechtskampagne ausgesetzt, „bei der[…] vermeintliche Missstände bei der Pavianhaltung zunächst einen sog. Shitstorm über Facebook auslösten und dann immer wieder insbesondere in der Saarbrücker Zeitung thematisiert wurden. Auch der Landestierschutzbeauftragte beteiligte sich in scharfer Form an den Vorwürfen gegenüber dem Zoo und ebenso den zuständigen Veterinärbehörden. Daraufhin gab der Umweltminister einen Auftrag an einen Primatenforscher des 139 Zoo Duisburg gGmbH 2018. Die betreffenden Parteiprogramme wurden hier nicht geprüft. 140 Zoo Hannover GmbH 2017.
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Deutschen Primatenzentrums, um ein neutrales Gutachten zur Pavianhaltung im Neunkircher Zoo zu erhalten. Die Ergebnisse sollen voraussichtlich Ende Oktober bzw. Anfang November vorgestellt werden. Diese Diskussion und die Berichterstattung belasteten den Zoo während der gesamten anschließenden Zeit […] phasenweise sehr stark.“141 Ein Jahr später konnte die Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH über einen für den Zoo erfreulichen Ausgang berichten: „Das Ergebnis des Gutachtens, das erst Ende Oktober 2018 vorgestellt wurde, entlastete den Zoo und die Behörden von den Vorwürfen. Die Betroffenen standen zuvor jedoch monatelang massiv öffentlich in der Kritik und diese Kampagne dürfte nicht ohne Auswirkungen auf das Image und die Besucherfrequenz des Zoos geblieben sein. Wie hoch der Einfluss war, lässt sich leider nur schwer abschätzen, nicht anders als das Wetter auch.“142
VI. Bären im Umlaufvermögen? Was ist nun aber mit den jungen Bären im Umlaufvermögen? Inwieweit überhaupt Zootiere im Umlaufvermögen aktiviert werden, konnte den hier ermittelten Jahresabschlüssen nicht entnommen werden. Wenige Andeutungen sagen über den betreffenden Posten nichts. Die Zoo Hannover GmbH blickt zurück: „In seiner wechselvollen Geschichte war der Zoo Hannover in unterschiedlichen Rechtsformen organisiert, so auch über viele Jahre als eine Handelsstätte für Wildtiere.“143 Die BFG-Bernburger Freizeit GmbH berichtet: „Weitere Erträge betreffen Tierverkäufe […]“.144 Und die ZGK Zoo-Gesellschaft Kaiserslautern mbH erwähnt „Erlöse aus dem Tierverkauf sowie dem Verkauf von Tierfutter und Futtertieren“.145 Dass junge Bären dazu zählen, darf füglich bezweifelt werden. Das weiß die Jubilarin dieser Festschrift natürlich. Den didaktischen Wert der alten und jungen Zoobären für das Verständnis des Bilanzrechts schmälert das nicht, ebensowenig wie den über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg stabilen Erinnerungswert einer Vorlesung, der freilich höher zu beziffern ist als derjenige von Knut und Hertha.
neue rechte Seite! 141
Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH 2017. Neunkirchner Zoologischer Garten GmbH 2018. 143 Zoo Hannover GmbH 2017. 144 BFG-Bernburger Freizeit GmbH 2017. 145 ZGK Zoo-Gesellschaft Kaiserslautern mbH 2017. 142
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V. Wirtschaftsrecht und Marktordnung
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The Solvency II System of Governance – Minimum Requirements for Key Functions1 CHRISTOPH BRÖMMELMEYER
I. Introduction In European insurance law, pillar 2 of the Framework Directive (FD)2 Solvency II establishes the supervisory regime, the supervisory review process, and the governance regime.3 The FD assumes that some risks for the financial health of (re)insurance undertakings may only be properly addressed through governance requirements.4 Therefore, Member States have to require all insurance undertakings to have in place an effective system of governance, which provides for sound and prudent management of the business.5 It is important to bear in mind, though, that the overall objective of Solvency II is not the soundness, the stability, or the prosperity of the insurance undertaking as such; it is the protection of the policyholder. The FD explicitly recognizes “the adequate protection of the policyholders and beneficiaries” as “[t]he main objective of insurance and insurance regulation and supervision”.6 The Directive also identifies “financial stability and fair and stable markets” as legitimate objectives of insurance regulation and supervision,7 but stresses at the same time that these objectives should be taken into account but should not undermine the main objective. Gabriel Bernardino continues to stress these priorities: “I firmly believe”, he recently said about the Solvency review process, “that we should not abandon the main values of market stability and policyholder protection” and that we should not forget “that the post-crisis regulatory agenda was put in place to restore 1 This essay corresponds to the lecture I gave at the European Law Institute’s SIG Insurance Law Inaugural Conference on Systems of Governance in the European Insurance Industry on 10 October 2019 in Vienna. 2 Directive 2009/138/EC of the European Parliament and of the Council of 25 November 2009 on the taking-up and pursuit of the business of Insurance and Reinsurance (Solvency II) (Text with EEA relevance), OJ L 335, 17.12.2009, p. 1. 3 van Hulle Solvency II, Solvency Requirements for EU Insurers, 2019, Chapter 7. 4 Recital 29 FD. 5 Art. 41 (1), Recital 30 FD. 6 Recital 16 FD. 7 See van Hulle ibid, Part II, 1.1. (Financial stability was added after the financial crisis).
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citizens’ confidence in the financial sector.”8 The financial health of an insurance undertaking remains (in other words) a means to an end – i.e. the protection of the policyholder – and not an end in itself. Admittedly, sound and prosperous insurance undertakings usually are in the best interest of the policyholder. However, in some cases conflicts of interest may arise. 1. Regulatory regime The Solvency II regime consists of multiple layers: The FD has established the system of governance (Level 1) and the Delegated Regulation (EU) 2015/ 35 (DA) goes into more detail (Level 2).9 EIOPA has published guidelines – and explanatory texts – on the system of governance going into even more detail (Level 3). EIOPA has also set up a number of best practice rules for national competent authorities (NCAs) – for instance in the event that a key function holder10 is, at the same time, a member of the administrative, management or supervisory body (AMSB).11 Member States have transposed the FD into national law12 and subsequently NCAs issued guidelines (Level 4): The German BaFin for example issued the MaGo (2017)- a comprehensive circular on “Minimum Requirements on the System of Governance”.13 Consequently, insurance undertakings have to observe a slew of rules, regulations and requirements when implementing or reviewing their system of governance. Furthermore, they have to cope with regulatory inconsistencies due to imperfectly aligned regulations, and they have to submit to external evaluation: The FD calls on the Member States to ensure that the supervisory authorities have the powers necessary to require that the system be improved and strengthened to ensure compliance with the requirements set out in the Directive.14 It is obvious then that the implementation of a system of governance in line with all relevant rules and regulations creates significant compliance and regulatory costs for (re)insurance undertakings.15 8 Bernardino Solvency II – The way ahead, Insurance Europe’s Solvency II Conference: Two years on and two reviews, Brussels, 26 June 2018, available at eiopa.eu. 9 Commission Delegated Regulation (EU) 2015/35 of 10 October 2014 supplementing Directive 2009/138/EC of the European Parliament and of the Council on the taking-up and pursuit of the business of Insurance and Reinsurance (Solvency II), OJ L 12, 17.1.2015, 1. 10 Key function holders are the persons responsible for a key function as opposed to persons having, carrying out or performing a key function; see EIOPA, Guidelines, 1.21. 11 EIOPA, Peer Review of Key Functions (2018), 7. 12 For Germany: Gesetz zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen v. 1.4.2015, BGBl. I 434. 13 Rundschreiben 02/2017, Aufsichtsrechtliche Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Versicherungsunternehmen; available in English at: bafin.de. 14 Art. 41.5 FD. 15 EIOPA Stakeholder Group, Informal Advice on S II Guidelines on System of Governance, 9 October 2018, EIP-ISRG-18-25, 1.
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2. General Governance Requirements The FD requires the system of governance to include at least (1.) an adequate transparent organisational structure with a clear allocation and appropriate segregation of responsibilities and (2.) an effective system for ensuring the transmission of information.16 It shall include compliance with the requirements laid down in the Directive, and it shall be subject to regular internal review. Insurance undertakings shall have to take reasonable steps to ensure continuity and regularity in the performance of their activities, including the development of contingency plans. To that end, the undertaking shall employ appropriate and proportionate systems, resources, and procedures.17 Considering the risk of bureaucratic costs without any apparent benefits, the FD repeatedly calls for flexibility and proportionality: The system of governance shall be proportionate to the nature, scale and complexity of the operations of the insurance undertaking18 in order to avoid unduly burdensome requirements. 3. Pertinent questions It is not surprising that a comprehensive European regulatory system of governance for almost all (re-)insurance undertakings raises an abundance of questions: Does the FD really eliminate the most serious differences between the laws of the Member States, thus establishing a level playing field without regulatory arbitrage within the European Union? Does the system of governance ensure “an appropriate segregation of responsibilities” and “an effective … transmission of information” (Art. 41 (2) FD)? How do you adapt the regulatory regime to the needs of completely different insurers ranging from small independent insurance companies to large insurance groups?19 How do AMSBs, sub-systems and key functions interact? How exactly do you split responsibilities across risk-management, internal control, internal audit and actuarial functions? How do you resolve conflicts of interest? How do corporate officers like the Responsible Actuary and key functions interact? It is obvious that this article cannot answer all these questions, and so focuses on just one of them. Does Solvency II call for separate and independent key functions and, if so, to what extent? Christine Windbichler, one of the most renowned European scholars in the field of business and commercial law, has published frequently on Corporate Governance.20 Therefore, I trust she 16
Art. 41 (2) FD. Art. 41 (4) FD. 18 Art. 41 (2) FD. 19 Art. 246 FD. 20 See: Windbichler Corporate Governance internationaler Konzerne unter dem Einfluss kapitalmarktrechtlicher Anforderungen, in: Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), 17
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might be interested in this question even though it is predominantly a question of insurance supervisory law.
II. The system of governance From a legal point of view, both corporate and supervisory law determine the system of governance of an insurance undertaking. Corporate law generally requires insurance undertakings to install administrative, management and/or supervisory bodies to run the undertaking and safeguard the interests of shareholders, stakeholders, or both. The FD recognizes that the AMSB has to bear “the ultimate responsibility for the compliance, by the undertaking concerned, with the laws, regulations and administrative provisions adopted pursuant to this directive.”21 The definition of the AMSB must be very flexible as there is no uniform corporate structure in the European Union. “In some Member States there is a unitary (one-tier) board structure whereby the board of directors includes executive (internal) and non-executive (external or independent) directors, whilst in other Member States there is a dualistic (two-tier) board structure where the administrative or management board (comprised of internal or executive directors) is supervised by a supervisory board comprised of external independent or non-executive directors.”22 Therefore, the term AMSB in the DA shall mean, where a two-tier board system … is provided for under national law, the management body or the supervisory body or both of those bodies, as specified in the relevant national legislation, or where nobody is specified in the relevant national legislation, the management body (Art. 1 No. 43 DA).23 The FD calls for one system of governance, for two subsystems, namely, (1.) the risk-management system and the (2) internal control system, and for four key functions: (1.) the risk-management function as part of the risk-management system, (2.) the compliance function as part of the internal control system, (3.) the internal audit function and (4.) the actuarial function:24
Handbuch Corporate Governance. Leitung und Überwachung börsennotierter Unternehmen in der Rechts- und Wirtschaftspraxis, 2. Ed.2009, 825–848; Corporate Governance in Emergence of Globalization and Blocs: Lawyers’ Perspectives, Kyongsaewon, Seoul, 2008, 236–251. 21 Art. 40 FD. 22 van Hulle ibid. 23 EIOPA expects each Member State, when transposing Solvency II, to consider its own specificities and to attribute responsibilities and duties to the appropriate board, if necessary; see: Explanatory Text. 24 EIOPA-BoS-14/253 EN, Guidelines on System of Governance, 2015; recital 31 FD.
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The FD defines a function as “an administrative capacity to undertake practical tasks” (Art. 13 No. 29), whereas the recitals refer to “particular governance tasks”.25 The FD considers these functions to be key functions and consequently to also be important and critical functions.26 The main feature of these key functions seems to be the exercise of risk-related control – the internal audit function being an obvious case in point. That is the reason why some authors also refer to the key functions as “independent control functions.”27 1. The Risk-Management System According to Art. 44 (1) FD, “insurance … undertakings shall have in place an effective risk-management system comprising strategies, processes and reporting procedures necessary to identify, measure, monitor, manage and report, on a continuous basis the risks, at an individual and at an aggregated level, to which they are or could be exposed, and their interdependencies.” This risk-management system must be “effective and well integrated into the organisational structure and in the decision-making processes of the insurance … undertaking with proper consideration of the persons who effectively run the undertaking or have other key functions.” The riskmanagement system shall cover the risks to be included in the calculation of capital requirements, and it shall cover underwriting and reserving, assetliability management, investment, in particular derivatives and similar commitments, liquidity and concentration risk management, operational risk management, reinsurance and other risk-mitigation techniques. In addition, every insurance undertaking must conduct its own risk and solvency as25
Recital 32 FD. Recital 33 FD. 27 van Hulle ibid. 3.2 (my emphasis). 26
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sessment (ORSA).28 Furthermore, the risk-management function must facilitate the implementation of the risk-management system. 2. The Internal Control System Insurance undertakings must have an effective internal control system in place, including at least administrative and accounting procedures, an internal control framework, appropriate reporting arrangements at all levels of the undertaking, and a compliance function.29 The DA requires the internal control system to ensure compliance with applicable laws, regulations and administrative provisions, the effectiveness and the efficiency of the undertaking’s operations in light of its objectives, and the availability and reliability of financial and non-financial information. These tasks appear to be rather heterogeneous, the first being legal, the second economic and the third administrative. The compliance function is concerned with the first task. It shall include advising the AMSB on compliance with the laws, regulations and administrative provisions adopted pursuant to the FD30 and it shall also include an assessment of the possible impact of any changes in the legal environment on the operations of the undertaking concerned and the identification and assessment of compliance risk.31 The DA demands a compliance policy and a compliance plan, which takes into account all relevant areas of the activities of the insurance undertakings and their exposure to compliance risks.32 The duties of the compliance function shall also include assessing the adequacy of the measures adopted by the insurance undertaking to prevent non-compliance.33 3. The Internal Audit Function The internal audit function shall include an evaluation of the adequacy and effectiveness of the internal control system and of other elements of the system of governance.34 It shall be objective and independent from the operational functions. Any findings and recommendations of the internal audit 28
Art. 45 (1) FD. Art. 46 (1) FD. 30 Art. 46 (2) FD. 31 Art. 46 (2) FD; see: Sawatzki VersR 2018, 1410; Bürkle VersR 2014, 529, VersR 2016, 2, and VersR 2016, 1096. 32 Art. 270 (1) DA. 33 Art. 270 (1) DA. Section 29 (2) German ISA goes well beyond the FD, requiring the compliance function to advise the board of management “in relation to compliance with the laws and administrative regulations which apply to the pursuit of insurance business”; see: Pohlmann in Kaulbach/Bähr/Pohlmann VAG, 6 ed. 2019, § 29 (32). 34 It remains unclear – at least at Level 1 of the regulation – which other tasks the audit function is supposed to perform; see: Heukamp, § 3 Rn. 75. 29
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shall be reported to the AMSB which shall determine what actions are to be taken with respect to each of the internal audit findings and recommendations and shall ensure that those actions are carried out.35 It is important to understand that the audit function must evaluate the system of governance itself. It is responsible for a review of the organisational design -not for the validation of individual decisions by the AMSB or by individual units or administrative capacities.36 However, the audit function cannot evaluate the adequacy and the effectiveness of the system of governance and the internal control system in particular without taking into account decisions made in the past. The internal audit function will have to scrutinize these decisions in order to establish whether the internal control system has been set up in a manner which reliably prevents or at least identifies inadequate behaviour of the insurance undertaking, or not. 4. The Actuarial Function The purpose of the actuarial function is to provide a measure of quality assurance through expert technical actuarial advice.37 There must be an effective actuarial function (1.) to coordinate the calculation of technical provisions, (2.) to ensure the appropriateness of the methodologies and underlying models used as well as the assumptions made in the calculation of technical provisions, and to (3.) assess the sufficiency and quality of the data used in the calculation of technical provisions. Furthermore, the actuarial function must (4.) compare best estimates against experience, (5.) inform the AMSB of the reliability and adequacy of the calculation of technical provisions, and (6.) oversee the calculation of technical provisions in specific cases. Finally, the actuarial function is expected to (7.) express an opinion on the overall underwriting policy and on the adequacy of reinsurance arrangements, and (8.) to contribute to the effective implementation of the risk-management system.38
35 Pursuant to Art. 271 (3) DA, the internal audit function shall (a) establish, implement and maintain an audit plan, (b) take a risk-based approach in deciding its priorities, (c) report the audit plan to the AMSB, (d) issue recommendations, submitting a written report on its findings and recommendations to the AMSB, and (e) verify compliance with the decisions taken by the AMSB on the basis of those recommendations. 36 Kaufmann in Krimphove/Kruse MaGo, 9.4, Rn. 5. 37 EIOPA, Guidelines, 1.12. 38 Art. 48 (1) FD.
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III. The segregation of responsibilities Ever since the 18th century, when Montesquieu (1689–1755) called for the separation of powers and John Adams (1735–1826) pushed for their balancing,39 there seems to have been a growing consensus that political systems of governance require checks and balances. This might to some extent be true for systems of governance in the insurance sector as well: according to the FD, the system of governance shall include an adequate transparent organisational structure with a clear allocation and appropriate segregation of responsibilities.40 The DA accepts “the assignment of multiple tasks to individuals and organisational units”, but only if the insurance undertaking ensures that this “does not or is not likely to prevent the person concerned from carrying out any particular function in a sound, honest and objective manner.”41 The DA also calls on insurance undertakings to “incorporate the functions … into the organisational structure in a way which ensures that each function is free from influence that may compromise the function’s ability to undertake its duties in an objective, fair and independent manner.”42 Nevertheless, the call for the principle segregation of responsibilities should be put into perspective on account of the (potentially) conflicting principle of proportionality:43 Member States must ensure that Solvency II requirements are applied in a manner which is proportionate to the nature, scale, and complexity of the risks inherent in the business of an insurance undertaking.44 Thus, Member States should be aware that the more sophisticated the system of governance necessary, the higher the administrative costs will be, and that the stricter the rules for the segregation of responsibilities are, the more employees or external consultants undertakings will need – this applies to small insurance undertakings too. This must be considered when answering the questions of whether someone may be an AMSB-member and simultaneously a key function holder, and whether someone may hold more than one key function at any one time. 39 John Adams Letter to Richard Henry Lee, 15 November 1775: “It is by balancing each of these powers against the other two that the efforts in human nature toward tyranny can alone be checked and restrained, and any degree of freedom preserved in the constitution”. 40 Art. 41 (2) FD; Section 23 (1) 3 German ISA; see: Dreher in Prölss/Dreher, § 29 Rn. 70 (Grundsatz der Funktionstrennung). 41 Art. 258 (1) (g) DA (my italics). 42 Art. 268 (1) 1 DA (my emphasis). 43 Schaaf § 23 Rn. 7 (“[…] dass ein Vorstand eines kleinen oder mittleren Versicherungsunternehmens selbst Schlüsselfunktionen wie z.B. die versicherungsmathematische Funktion oder die interne Revision [!] innehat und sich dadurch die Kosten für ein Outsourcing erspart.“. 44 See: Art. 271 (2) DA.
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1. Segregation of AMSB-membership and key function? a) Regulatory framework Despite the lack of any general rule on the combination of board membership and key function, the FD seems to support such combinations given that key functions are supposed to “operate under the ultimate responsibility of … the administrative, management or supervisory body”.45 If the AMSB is ultimately responsible, it seems perfectly legitimate for AMSBmembers to assume responsibility for a key function personally, especially since the tasks of AMSB-members and key function holders appear to be compatible. Take the compliance function holder as an example: he may advise the AMSB (see Art. 46 (2) 1 FD) even if he is a member. If he were a member of the management committee in a one-tier system, a viable system of governance could oblige him to advise the other members of the management committee and to report to both the management and the supervisory boards. This would be in line with his statutory duty of advice. Accordingly, EIOPA accepted current or future combinations of key function holders with AMSB members in the past, as long as this combination was considered proportionate. Recently however, EIOPA has concluded that it would be best practice for the NCA, “to publicly disclose expectations that control key functions should generally not be combined with operational functions, for example with the membership in the executive AMSB.”46 By contrast, the German ISA explicitly permits the combination of board membership and key functions, providing that “[a]ppointment as a member of the senior management does not preclude the exercise of a function.”47 The BaFin, however, takes a narrower approach and asserts that “an appropriate segregation of responsibilities … up to and including the management board level forms part of an appropriate organisational structure”48 and that “a member of the management board can at the same time be the person internally responsible for a key function only on a case-by-case basis”. This highlights BaFin’s unease in situations where operational responsibility and key function control rest in the same hands. However, BaFin’s position has 45
Art. 268 (1) 2 DA. EIOPA, Peer review of key functions: Supervisory practices and application in assessing key functions, p. 7 (my emphasis). If EIOPA believes all key functions to be control key functions or refers to particular key functions, which are also control key functions, remains unclear. 47 Section 24 (3) 3 German Insurance Supervisory Act; Grote in MüKo, Vol. 3, AufsichtsR, Rn. 264. 48 MaGo, ibid. (my emphasis); critical of this: Schaaf in Brand/Baroch Castellvi, VAG, 2018, § 23 Rn. 341, who believes that the segregation of responsibilities at the board level is incompatible with the joint responsibility of the board of directors for the overall management of the insurance in a German public limited company. 46
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also sparked criticism, as the statutory provision plainly does not encourage a narrow approach.49 A possible general rule of incompatibility apart, there are specific rules for the internal audit function: Art. 47 (2) FD and Section 30 (2) German ISA provide that the audit function be independent from the operational functions.50 The EIOPA Guidelines add that “[t]he undertaking should ensure that the internal audit function does not perform any operational function and is free from undue influence by any other functions including key functions”.51 van Hulle concludes that “the audit function can never be combined with any operational function, such as the role of chief executive officer or chief financial officer”.52 b) Partial incompatibility The answer to the question of general (in-)compatibility should reflect common sense: no one is able to supervise one’s own performance “in an objective, fair and independent manner” (see Art. 268 (1) 1 DA).53 Therefore, key function holders should not monitor, assess, evaluate, and comment upon themselves. Independent control and (past or present) operational functions to be controlled must be separated. Thus, Art. 41 (2) FD – requiring an appropriate segregation of responsibilities – and Art. 268 (1) DA amount to a partial incompatibility rule. EIOPA apparently agrees in principle: “An adequate segregation of responsibilities ensures that persons performing tasks are not simultaneously also responsible for monitoring and controlling the adequacy of this performance.”54 According to EIOPA, this separation needs to be observed on all levels of the undertaking, including the AMSB to the extent that certain tasks may be allocated to specific members.55 Consequently, a combination of key function and board membership is inadmissible where control and operational function, i.e. operational activity and/or responsibility, coincide. In contrast, subject to the particularities of national corporate law, in a one-tier system there might be no objec49 Pohlmann in Kaulbach/Bähr/Pohlmann, 6. ed. 2019, § 23 Rn. 54 criticizes the MaGo as being more restrictive than Section 24 (3) 3 German ISA. 50 MaGo, 141 provides that proportionality aspects are irrelevant to this extent and adds that “the internal audit is not permitted to carry out any operational functions or activities”. 51 EIOPA, Guideline 40 (Independence of the internal audit function), 1.84. Besides, the undertaking has to ensure that internally recruited auditors do not audit activities or functions they previously performed during the timeframe covered by the audit. EIOPA, Guideline 41 (Conflict of interest within the internal audit function), 1.86. and 1.87. 52 See van Hulle ibid., 443. 53 Also See: Winkler Der Aufsichtsrat im Versicherungsunternehmen nach Solvency II, 125. 54 EIOPA Final Report on Public Consultation No.14/017, 28 January 2015, 2.11. (46). 55 EIOPA ibid.
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tions if a key function holder is a member of the supervisory board, or, a member of the executive committee as long as they are controlling someone else’s operational function. Similarly, in a two-tier system, a key function holder may be a member of the supervisory board, or a member of the board of directors, again, with the proviso that they are controlling another person’s operational function, Art. 47 (2) FD confirms the partial incompatibility rule, providing that the audit function be independent from the operational functions. At first glance, Art. 47 (2) FD may be construed expressio unius – concluding that other key functions need not be independent from the operational functions.56 However, that would be epistemologically wrong: Art. 47 (2) FD is an expression of the general rule, i.e. no one should supervise his own operational activities; since the internal audit function must control all operational activities, audit function holders must not be members of the management board and/or committee at all; otherwise, they would inevitably control their own performance. That is not necessarily the case when it comes to other key functions. First, the actuarial function is not a genuine control function. The FD assigns a number of management tasks to the actuarial function – namely, to coordinate the calculation of premiums, to ensure the use of appropriate methods, models and assumptions, etc. –, requiring the key function holder to take on (or to assume responsibility for) operational activities. Thus, the actuarial function cannot be separated from the operational functions. Indeed, the key function holder may well be the chief actuary of the undertaking. By contrast, the risk-management function is a typical control function. The key function holder is responsible for identifying, measuring, monitoring, and reporting (on a continuous basis) the risks the board members responsible for underwriting, finance, and investment run. Therefore, the tasks and responsibilities must be separated along these lines. The key function holder can be a member of the management committee or body, but only if he is not responsible for or carrying out any risk-generating activities. The risk manager has to be well integrated into the decision-making processes of the insurance undertaking (see Art. 44 (1) FD) – but he cannot oversee his own underwriting, finance or investment choices. The compliance function is expected to advise the AMSB on compliance with the laws, regulations, and administrative provisions adopted pursuant to the FD. Accordingly, members of the management committee or body responsible for operational activities generating compliance risks may not 56 See: Ruth Sullivan in Sullivan and Driedger on the Construction of Statutes, 4th ed. (Butterworths Canada Ltd., 2002), at pp. 186–87: An implied exclusion argument lies whenever there is reason to believe that if the legislature had meant to include a particular thing within its legislation, it would have referred to that thing expressly. Because of this expectation, the legislature’s failure to mention the thing becomes grounds for inferring that it was deliberately excluded.
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hold the compliance function. Nevertheless, this observation does not imply strict incompatibility. Instead, the key function holder may be a member of the management body or committee providing his executive portfolio does not include any compliance-risk generating activities. Looking at German law, the notion of partial incompatibility is not reflected in Section 24 (3) German ISA,57 which allows for the combination of AMSB-membership and key function without exceptions or limitations. However, German law does call for independent audit and risk-management functions, so there is a lex specialis rule overriding the general compatibility provision. Moreover, according to settled case law of the European Court of Justice, the Treaties and the law based on the Treaties adopted by the European Union have primacy over the law of Member States.58 Thus, in the case of a conflict, the BaFin would have to apply the partial incompatibility rule enshrined in Art. 268 (1) DA, which (as a regulation) is not only directly applicable (Art. 288 (3) TFEU) but also supersedes Section 24 (3) of the German ISA. 2. Segregation of key functions? EIOPA’s peer review of key functions shows that the combination of key functions is the norm rather than the exception: most frequent are combinations between risk-management and actuarial functions, as well as between risk-management and compliance functions.59 Smaller insurers use combinations more frequently, but they occur in large insurance groups too.60 This means that at least some NCAs accept the combination of key functions, even if the principle of proportionality does not necessarily call for combinations. In fact, there is no general rule of incompatibility and – at least in my view – no general conflict of interest which render all combinations impermissible. By contrast, Art. 271 (1) DA provides that “[t]he persons carrying out the internal audit function shall not assume any responsibility for any other function”.61 There is an exception to this rule, though, reflecting the principle of proportionality: according to Art. 271 (2) DA the persons carrying out the internal audit function may also carry out other key functions, where all of the following conditions are met: (a) this is appropriate with respect to the nature, scale and complexity of the risks inherent in the undertaking’s business, 57
See Section 24 (3) German ISA. ECJ, Costa/ENEL, 15 July 1964, Case 6/641; also see: Declaration 17, Annex to the final act of the intergovernmental conference which adopted the Treaty of Lisbon, signed on 13 December 2007, OJEU, C 326/1. 59 EIOPA, Peer Review, ibid., 25. 60 EIOPA, ibid., 27. 61 Art. 271 (1) DA (my emphasis). 58
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(b) no conflict of interest arises for the persons carrying out the internal audit function and (c) the costs of maintaining persons for the internal audit function that do not carry out other key functions would impose costs on the undertaking that would be disproportionate with respect to the total administrative expenses.62 According to van Hulle, this exception was the result of strong pressure during the negotiations of the DA.63 EIOPA’s Explanatory Text asserts that the performance of the internal audit function “by the same person or persons which perform the compliance, risk management or actuarial function is only possible where the undertaking has a risk profile that does not entail large or complex risks, i.e. where the undertaking only writes standard lines of business on a limited scale and where the undertaking is not invested in complex investment products.”64 EIOPA has also asserted that, as a general rule, “the internal audit function cannot be performed by the same person or persons who perform the other key function because this gives rise to conflicts of interest since the other key functions are subject to the scrutiny of the internal audit function. However, in those exceptional cases where combining other key functions with the internal audit function is allowed, the undertaking needs to be able to demonstrate to the supervisory authority, on request, that such conflicts of interest are properly dealt with and no concerns remain that the objectivity and independence of the internal audit function is compromised.”65 Even if the combination of key functions is generally possible, there are implicit incompatibility rules: key function holders must be fit and proper; they need adequate professional qualifications, knowledge, and experience.66 For example, the holder of the compliance function must be a lawyer;67 the holder of the actuarial function requires “knowledge of actuarial and financial mathematics”.68 To find somebody who is a professional expert in both areas is quite unlikely.69 Therefore, the combination of the two key functions can normally be excluded. The combination of key functions may also be ruled out if one individual could not be realistically expected to have the time to meet the challenges of two or even more offices.70 62
Art. 271 (1) DA. van Hulle ibid., 443. 64 Explanatory Text, 2.186. 65 Explanatory Text, 2.187. 66 Art. 42 (1) (a) FD. 67 Dreher in Prölss/Dreher, § 24 Rn. 71. 68 Art. 46 (2) FD. 69 See: EIOPA, Peer Review, ibid. p. 25 (the combination of the actuarial and the compliance function is the least frequent). 70 See: BaFin, MaGo (82): […] „sufficient time for the relevant task“. 63
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IV. The standing of key functions EIOPA and the NCA stress that key functions need an appropriate standing within the insurance company.71 They have to control, to monitor or oversee operational activities and therefore need a certain amount of operational independence; otherwise, they will not be able to fulfill their duties effectively.72 Therefore, van Hulle expects the four key functions to be “operationally independent, i.e. each function should retain responsibility … for the proper performance of its duties without interference from others.”73 1. Partial independence It is clear from the outset that key functions, as part of the internal system of governance of an insurance undertaking, cannot be completely independent. In the case of independent external experts74 or auditors,75 one may ask for independence from the insurance undertaking – meaning that senior management has no authority over or influence on the expert opinion or audit whatsoever. Key function holders, however, are usually employees of the undertaking. They are part of the hierarchical structure of an insurance company, and so being are subject to the right of instruction of (more) senior managers (in Germany: § 106 (1) Trade Regulations).76 Consequently, key function holders will be at best partially independent when carrying out their statutory duties. They must have the right to monitor, advise, and report on operational activities without undue influence from within or above. This does not mean that the AMSB being ultimately responsible has no right of instruction at all. The AMSB may issue organizational instructions since the identification of a particular function does not prevent the undertaking from deciding freely how to organize that function save where otherwise specified in the FD.77 In contrast, the AMSB may not issue performance-related instructions which interfere with the “sound, honest and 71 EIOPA, Explanatory Text, 2.5; also see Explanatory Text 2.183: Pohlmann in Kaulbach/Bähr/ Pohlmann, § 30 Rn. 15. 72 Art. 268 (1) DA; see also: Recital 99 DA: […] to ensure independence, a person or organisational unit carrying out a function should be able to carry out the related duties objectively and free from influence and to report relevant findings directly to the AMSB. 73 van Hulle ibid., 3.2. EIOPA expects insurance undertakings to particularly “ensure that the internal audit function is not subject to influence from the AMSB that can impair its operational independence and impartiality”; see: EIOPA, Guideline 40 (Independence of the internal audit function), 1.85. 74 See Art. 267 (4) (b) (ii) DA, Guideline 58 (Independence of the external expert), 1.11. 75 Section 9 (4) No. 2 (c) German ISA. 76 Gewerbeordnung, 2/22/1999 (BGBl. I S. 202). 77 Recital 31 FD.
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objective” (Art. 258 (1) g DA) and “fair and independent” (Art. 268 (1) DA) execution of the key functions statutory duties. For example, it is forbidden for a senior manager responsible for underwriting to instruct the compliance function not to investigate certain underwriting practices or not to report to other members of the board(s) on underwriting. Accordingly, EIOPA expects the AMSB to refrain from exerting influence to suppress or tone down key function results in order to avoid any discrepancy between the findings of key functions and the AMSB’s actions.78 2. Rank An appropriate standing within the insurance undertaking also requires a certain rank. The German MaGo are very clear on this: “Persons internally responsible for a key function who are not members of the management board are only subject to instructions from the management board in terms of exercising the key function. This also applies if the key function is not directly subordinate to the management board level from an organisational point of view. The full management board represents the escalation level in the event of disputes between key functions that cannot be solved between the relevant management board members answerable.”79 The BaFin also requires key functions to have equal ranking within the undertaking. None of the key function holders may instruct another holder on how to perform their statutory duties.80 Key functions must have unrestricted access to the AMSB. According to EIOPA, organizational independence implies that the key functions are able to report their results and any concerns and suggestions for addressing these they may have directly to the AMSB without restriction as to their scope or content from anybody else.81 In addition, the key function holder must have unrestricted access to all relevant information necessary to carry out his or her responsibilities.82 Therefore, EIOPA requires each policy of an insurance undertaking to set out clearly “the obligation of the relevant organisational units to inform the risk management, internal audit, compliance and actuarial functions of any facts relevant to the performance of their duties.”83 Finally, an appropriate standing implies that every key function must have adequate resources; if a key function does not have sufficient means to fulfil its obligatory duties, it will not be able to act effectively and independently.
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EIOPA, Explanatory Text, 2.17. MaGo, ibid. 80 MaGo, ibid. 81 EIOPA, Explanatory Text, 2.15. 82 van Hulle ibid., 3.2. 83 Guideline 7 – Policies, 1.23. d). 79
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V. Findings and concluding remarks Insurance undertakings are required to have in place an effective system of governance, which provides for sound and prudent management while protecting the policyholders and beneficiaries. The FD calls for two subsystems, i.e. the risk-management system and the internal control system, and for four key (or independent control) functions, namely, the risk-management function, the compliance function, the internal audit function, and the actuarial function. The FD also calls for a clear allocation and appropriate segregation of responsibilities (Art. 41 (2) FD). Accordingly, insurance undertakings must ensure that key function holders are able to carry out their particular function in a sound, honest and objective (Art. 258 (1) g DA), and, fair and independent manner (Art. 268 (1) 1 DA). This amounts to a partial incompatibility rule: no one is able to monitor one’s self objectively. Accordingly, an AMSB member cannot be in charge of the internal audit function (Art. 47 (2) FD) and cannot be in charge of any other key function which would require the control of their own operational responsibilities or activities. The combination of key functions is possible, but in the case of the internal audit function only – if the conditions set out in Art. 271 (2) DA are met. Nevertheless, there are some implicit incompatibility rules such as the fit and proper requirements. Key functions must control, monitor or oversee operational activities. Consequently, they require a certain amount of operational independence and authority. The AMSB may issue organisational instructions but may not issue performance-related instructions, which would interfere with the key function’s sound, honest and objective, fair and independent execution of their statutory duties. Key functions need an appropriate standing – including an equal ranking – within the insurance company. They must have unrestricted access to the AMSB and to all relevant information; in addition, they must be furnished with adequate equipment and sufficient resources.
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Der Berliner Kairos Kreis, die religiösen Sozialisten
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Der Berliner Kairos Kreis, die religiösen Sozialisten Matthias Casper
Der Berliner Kairos Kreis, die religiösen Sozialisten und ihr möglicher Einfluss auf unsere Wirtschaftsordnung – eine Skizze MATTHIAS CASPER
I. Prolog 1. Religiöse Sozialisten zu Ehren von Christine Windbichler – Erklärungsbedarf Charlottesville, VA, August 2016. Da ist man kaum dem deutschen Alltagstrott entflohen und hat für ein Jahr seine Zelte im beschaulichen Charlottesville aufgeschlagen, schon kündigt sich Besuch aus Deutschland in Gestalt der Jubilarin an, die auf der Durchreise in ihre Sommerfrische auf den Outer Banks in North Carolina war. Ein im Vorfeld übersandter Sonderdruck aus dem Buch Casper/Gabriel/Reuter, Kapitalismuskritik im Christentum, 2016, in dem sich auch ein Beitrag über den Berliner Kairos Kreis aus der Feder von Erdmann Sturm findet, brachte die Diskussion auf den Begriff Kairos, da besagtes Ferienhaus, das die Jubilarin mit ihrem viel zu früh verstorbenen Mann in den 1990ern erworben hatte, ebenfalls den Namen Kairos trägt. Die These der Jubilarin lautete, dass hier keine Verbindung bestehen könne, da der Begriff Kairos zwei Bedeutungen habe, eine theologische und eine eher weltläufige dergestalt, dass die Umstände günstig seien. Letztere Bedeutung hätte bei der Benennung des Hauses Pate gestanden. Als jemand, der des Altgriechischen nicht mächtig ist, zog ich es vor, diese These nicht zu hinterfragen. Am Ende des Mittagessens im Sedona Taphouse (1035 Millmont St, bei langjährigen Charlottesville-Kennern wie der Jubilarin auch noch als Millmont Grill bekannt) geschah etwas Erstaunliches. Nachdem ich um ein Stück Papier gebeten worden war und in meiner Not die Quittung des Wirts hingereicht hatte, schrieb die Jubilarin die Adresse in Nags Head sowie eine Telefonnummer in Baltimore auf und zeichnete eine enorm hilfreiche Wegbeschreibung auf das Stück Papier. Dieses schob sie zusammen mit einem Schlüssel über den Tisch und verband dies mit folgender Bemerkung: Herr Casper, wann immer das Haus frei ist, fahren Sie hin und genießen die Outer Banks. Es gibt nur zwei Dinge zu beachten: Wenn Sie wieder abfahren, müssen Sie einen ausreichenden Vorrat an
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Matthias Casper
Kaffee und Klopapier hinterlassen. Ich war weniger ob dieser klaren Handlungsanweisung, denn angesichts dieser Großzügigkeit perplex. 2. Die Konkretisierung einer Idee Nags Head, NC, März 2017. Endlich haben wir es nach Nags Head geschafft. Was für eine Landschaft, was für ein Haus mit Blick auf die Düne und das Meer. Da das Wetter im März selbst in Nags Head nicht immer perfekt ist, saßen wir an einem Samstag bei Sturm im Wohnzimmer der Jubilarin mit diesem architektonischen Charme der frühen 1990er, tranken Kaffee und hingen unseren Gedanken nach. Spätestens hier muss die Idee geboren worden sein, dem Kairos Kreis und diesem Begriff irgendwann einmal näher nachzuspüren. Ach was, keine Zeit. Wichtigere Projekte. Aber irgendwann wirst Du vielleicht eingeladen, einen Beitrag für die Festschrift Windbichler beizusteuern. Das wäre doch eine gute Gelegenheit. Ist schließlich noch etwas hin. Forschungsfrage: Was verbirgt sich hinter diesem Kairos Kreis im Berlin der frühen 1920er? Was hat diese – aus heutiger Perspektive – etwas verspinnerte Gruppe von religiösen Sozialisten eigentlich umgetrieben? Haben ihre Ideen eventuell sogar Spuren in unserer heutigen Wirtschaftsverfassung oder gar in unserem Wirtschaftsrecht hinterlassen? Selbstkritische Anfrage: Nun gut, wir wissen, dass die katholische Soziallehre und die Solidaristen einen gewissen, wenn auch nicht überbordenden Einfluss auf unsere Wirtschaftsordnung hatten, aber bald durch den Rhenish Capitalism absorbiert wurden. Auch bei Nell-Breunings 1930 veröffentlichter Schrift „Aktienreform und Moral“ musstest Du doch schon feststellen, dass die Fernwirkung auf das Wirtschaftsrecht eher marginal war.1 Kann das bei den religiösen Sozialisten anders gewesen sein? Indes, der Ort, der Name des Hauses genügten, die Idee reifen zu lassen. Schließlich ist die Jubilarin jemand, die immer selbst über den sprichwörtlichen Tellerrand schaut. Selbst die bescheidene Handbibliothek in Nags Head legt davon ein beredtes Zeugnis ab. 3. Oh mein Gott, was hast Du Dir da nur angetan… Münster, Altjahresabend 2019. Die Zusage, an der Festschrift Windbichler mitzuwirken, ist längst erteilt, die Abgabefrist steht kurz bevor. Vollmundig hat man den Herausgebern gegenüber erklärt, keinen klassischen, gesellschaftsrechtlich-dogmatischen Beitrag beisteuern zu wollen. Die Zusage lautete auszugsweise: „Es gibt einen anspruchsvollen Arbeitstitel, der da 1 Casper Die Aktienreform und Moral (1930) – ein kapitalismuskritischer Zwischenruf eines juristischen Außenseiters?, in Casper/Gabriel/Reuter, Kapitalismuskritik im Christentum, 2016, 142 (161 ff.).
Der Berliner Kairos Kreis, die religiösen Sozialisten
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lautet: Der Kairos Kreis, religiöse Sozialisten und ihre Anstöße für eine neue Wirtschaftsordnung (in Anspielung auf das Haus in NC). Sollte ich das nicht schaffen, was nicht unwahrscheinlich ist, werde ich ….“.2 Seit einiger Zeit liegt da ein Stapel von Kopien und Büchern auf meinem Seitentisch. Eine summarische Prüfung war bisher – wenig ergiebig. Der Kairos Kreis war ein bunter Haufen, hat nur wenige Jahre existiert, gemeinsame Ziele – Fehlanzeige, Fernwirkungen auf unsere heutige Wirtschaftsordnung wohl kaum auszumachen. Dem geschäftsführenden Herausgeber der Festschrift hatte man schon im Vorfeld avisiert, dass es wohl doch auf den Ersatzbeitrag „Sinnhaftigkeit und Reformbedarf bei § 43 WpHG“ hinauslaufen könnte. Das angedachte Thema sei viel zu weit, wohl auch nicht ergiebig und bedürfe zudem monatelanger Forschung. Entwaffnende Antwort: Eine Skizze für ein Forschungsprojekt wäre doch auch eine Möglichkeit. Doch die Zweifel wurden durch ein Treffen mit der Jubilarin noch verstärkt. 4. Alles umsonst? Glashütten, Taunus, Januar 2020. Jährliches Klassentreffen der Gesellschaftsrechtler im Taunus, diesmal ausnahmsweise ohne Schnee. Alles, was Rang und Namen hat, ist versammelt und tauscht sich in anderthalb Tagen aus. Natürlich ist auch die Jubilarin zugegen und ruft einem an der Bar zu: Herr Casper, habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich das Haus in Nags Head verkaufen will? Die Gründe werden ausgeführt. Spontaner Gedanke: also doch § 43 WpHG. Oder doch nicht? Aber eine Skizze, wie soll das gehen? Irgendwann kehre ich in meinen Gedanken nach Nags Head zurück. Der Sturm braust wieder um meine Ohren und lässt den Sand am Strand aufpeitschen. Nun gut, einen Versuch ist es wert.
II. Der Kairos Kreis im Zeitraffer 1. Das Urerlebnis Die Schlachtfelder von Verdun, irgendwann zwischen 1916–1918. Zwei junge, noch nicht allzu lange examinierte evangelische Theologen sind an die Westfront entsandt worden. Einer von ihnen hat sich 1914 freiwillig als Militärgeistlicher zum Kriegsdienst gemeldet. Dort soll er Trost spenden, Feldgottesdienste abhalten, Halt geben, Gesprächspartner sein. Der andere wird als Sanitätssoldat eingezogen und schließlich wegen Pazifismus zur Infanterie strafversetzt. Beide erleben den Abgrund, das Chaos, die materialistische Abnutzungsschlacht, tausendfachen Tod, Verstümmelungen und un2
Email des Verf. an Gregor Bachmann vom 3.4.2019.
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endliches Leid. Folgen eines mit den Mitteln der industriellen Revolution und einer zutiefst kapitalistischen Wirtschaftsordnung geführten Krieges. Diese Erfahrung wird für sie zum Urerlebnis, das nach Konsequenzen ruft. Einer von ihnen war Paul Tillich (1886–1965), der andere Carl Mennicke (1887–1958). Beide fordern grundlegende Konsequenzen, insbesondere einer von ihnen wird an dieser Stelle glühender Verfechter einer noch relativ neuen Idee, des Sozialismus. Lässt sich dieser doch ganz weitgehend atheistischer Ansatz mit seiner religiösen Überzeugung in Einklang bringen? 2. Die Protagonisten Berlin, 1919–1920. Eduard Heimann (1889–1967) hat gut 40 Jahre später davon gesprochen, dass Carl Mennicke das Herz und Paul Tillich der Kopf des Kairos Kreises gewesen sei, der häufig auch schlicht als Tillich Kreis bezeichnet worden ist.3 Damit sind bereits die drei wichtigsten Protagonisten des Kairos Kreises genannt. Der Kreis entstand Anfang 1919 und traf sich zunächst wöchentlich in der Wohnung des Berliner Pastors Friedrich Rittelmeyer (1872–1938), der zusammen mit Carl Mennicke und dem Pastor Günther Dehn (1882–1970) zu Gründungsvätern des Gesprächskreises zählen dürfen.4 Er firmierte alsbald als Kreis der „Blätter für religiösen Sozialismus“, die von Carl Mennicke ab 1920 in kleiner Zahl herausgegeben wurden. Tillich kam in der zweiten Jahreshälfte 1919 hinzu.5 Die Gruppe hatte zunächst einen wechselnden Teilnehmerkreis, bevor er sich Anfang 1920 auf etwa zehn Personen beschränkte.6 Doch wer waren diese Personen? Paul Tillich wurde am 20.08.1886 in Starzeddel in der Lausitz, 15 Kilometer östlich von Guben geboren. Der Ort gehört heute zu Polen. Sein Vater war dort evangelischer Pfarrer. Tillich studierte ab dem Sommersemester 1904 Evangelische Theologie und Philosophie in Berlin, Tübingen und Halle. Die Promotion erfolgte 1910 in Breslau über das philosophische Spätwerk von Schelling. Ab 1911 war Tillich Vikar im brandenburgischen Nauen, im Mai 1912 folgte das zweite theologische Examen, im August desselben Jahres die Ordination in Berlin, wo er sodann an der Erlöserkirche in Berlin-Moabit, einem der traditionellen Arbeiterviertel, als Hilfsprediger tätig war. Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er 3 Heimann in Amelung, Die Gestalt der Liebe, 1972, 215 (Abdruck eines Briefs von Heimann an Eberhand Amelung, in dem er die Mitglieder des Kairos Kreises beschreibt). 4 Ausführlich zur Entstehung des Kreises vgl. Christophersen Kairos – Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, 2008, 15 f. 5 Seinen ersten Vortrag im Kreis hielt er am 10. November 1919, vgl. Christophersen (Fn. 4) S. 35; Schüßler/Sturm Paul Tillich – Leben – Wirken – Werk, 2007, 12. 6 Der Name Kairos Kreis dürfte sich erst um 1922 etabliert haben, als Mennicke und Tillich erste Aufsätze zum Kairos Begriff veröffentlichten. Die Bezeichnung Tillich Kreis dürfte ihm erst in späterer Zeit von dessen Bewunderern zuerkannt worden sein.
Der Berliner Kairos Kreis, die religiösen Sozialisten
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sich freiwillig als Militärpfarrer und wurde sowohl mit dem Eisernen Kreuz II. wie I. Klasse ausgezeichnet. Nach dem Ende des Krieges lehrte er als Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, also der heutigen Humboldt-Universität, der alma mater unserer Jubilarin, an der sie seit 1992 lehrt. Die erste Vorlesung, die Tillich im Sommersemester 1919 abhielt, trug den Titel „Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart“.7 Wilhelm und Marion Pauck haben in ihrer Biografie diese Phase von Tillichs Leben unter die Überschrift „schöpferisches Chaos“ gestellt.8 Die 1921 vollzogene Scheidung von seiner ersten Frau Gerti (Margarethe Tillich, geb. Wever, 1888–1968) ermöglichte ihm „die Freiheit, in ein Leben zu tauchen, das er euphemistisch Bohème nannte.“9 Tillich war zu diesem Zeitpunkt etwa 34 Jahre alt. Ebenfalls zu den Theologen zählt Carl Mennicke, der nur ein gutes Jahr jünger als Tillich war und aus einer reformierten, religiösen, kleinbürgerlichen Familie stammte. Das Abitur machte er, wie man heute sagen würde, auf dem zweiten Bildungsweg. Sodann studierte er mit Unterstützung der reformierten Kirche an den Universitäten Bonn, Halle und Berlin Evangelische Theologie. Während des Studiums sind sich Tillich und Mennicke begegnet und es wird vermutet, dass bereits zu dieser Zeit eine Freundschaft entstand.10 Ein Auslandssemester führte ihn 1912 nach Utrecht. 1914 trat er eine Stelle als Hilfsprediger in Godesberg bei Bonn an. Sodann war er wie Tillich während des Ersten Weltkriegs Soldat (zunächst im Sanitätsdienst, dann bei der Infanterie),11 diente jedoch nicht bis zum Schluss des Krieges, sondern war ab 1917 wiederum Hilfsprediger in Holten im Ruhrgebiet, wo er die teilweise doch sehr bescheidenen Lebensverhältnisse von Arbeitern kennenlernte. 1918 ging er nach Berlin und schloss sich dort der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost“ an.12 Mennicke gründete 1923 das „Seminar für Jugendwohlfahrt“ an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin, dessen Leitung er sodann für einige Jahre innehatte. Der dritte, auch heute noch bekannte Protagonist des Kairos Kreises war Eduard Heimann. Heimann wurde als Sohn einer wohlsituierten jüdischen Kaufmannsfamilie am 11. Juli 1989 in Berlin geboren. Sein Vater, Hugo Heimann (1859–1951), der als Verleger tätig war, hatte sich bereits früh der SPD angeschlossen.13 Nach dem Abitur 1908 studierte Heimann in Heidel7
Schüßler/Sturm, Paul Tillich – Leben – Wirken – Werk, 2007, 10. W. u. M. Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Bd. 1, 1978, 90. 9 Pauck (Fn. 8), 91; ähnlich Christophersen (Fn. 4), 101. 10 Heimann in Amelung (Fn. 3), 215. 11 Christophersen (Fn. 4), 24 f. auch zur Strafversetzung wegen pazifistischer Umtriebe. 12 Lebensdaten nach https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Mennicke (zuletzt aufgerufen am 9.4.2020). 13 Es wird berichtet, dass im Hause Heimann führende Sozialdemokraten wie August Bebel und Klara Zetkin ein- und ausgingen, vgl. Ortlieb in seinem Nachruf auf Eduard 8
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berg,14 Wien und Berlin Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.15 1912 promovierte er bei Alfred Weber, nach dem in Heidelberg noch heute das volkswirtschaftliche Seminar benannt ist, mit einer Arbeit zur Kritik der Sozialmethode.16 Anschließend arbeitete Heimann in verschiedenen Positionen in der Privatwirtschaft, unter anderem bei der halbstaatlichen Zentralen Einkaufsgenossenschaft. Wegen gesundheitlicher Probleme wurde Heimann während des Ersten Weltkriegs nicht zum Kriegsdienst eingezogen.17 1919 übertrug man ihm das Amt des Generalsekretärs der ersten Sozialisierungskommission, einer vom Rat der Volksbeauftragten eingesetzten Expertengruppe, die Wege zu einer teilweisen Verstaatlichung der deutschen Wirtschaft entwickeln sollte.18 Die Kommission sprach sich insbesondere für eine Sozialisierung der Montanindustrie aus. Auch in der zweiten Sozialisierungskommission, die beim Reichswirtschaftsministerium angesiedelt war, wirkte Heimann mit. Im Rahmen dieser Tätigkeit arbeitete er eng mit Walther Rathenau (1867–1922) zusammen. Seine dort gesammelten praktischen Erfahrungen überführte er in eine Studie mit dem Titel „Mehrwert und Gemeinwirtschaft“, die er sodann an der Universität zu Köln als Habilitationsschrift einreichte. Noch im selben Jahr wurde er in Freiburg umhabilitiert und erhielt dort einen Lehrauftrag, weshalb er ab Winter 1922 nicht mehr regelmäßig in Berlin gelebt haben dürfte.19 Heimann war zunächst Mitglied der USPD , später dann der SPD. Zu den aktiven Mitgliedern des Kreises gehörten zwei weitere Nationalökonomen, Adolph Löwe (später Lowe, 1893–1995) und Alexander Rüstow (1885–1963). Rüstow, im April 1885 in Wiesbaden geboren, entstammte einer preußischen Offiziersfamilie. Er studierte zwischen 1903 bis 1908 in Göttingen, München und Berlin Mathematik, Physik, Philosophie, Altphilologie, Rechtswissenschaft sowie Volkswirtschaftslehre. 1908 wurde er in Erlangen mit einer philosophischen Arbeit zu dem sogenannten Lügner Paradoxon promoviert.20 Danach arbeitete er für drei Jahre als wissenschaftlicher Abteilungsleiter bei einem Verlag in Leipzig, bevor er sich seiner HabiHeimann in: Ortlieb (Hrsg.), Eduard Heimann, Sozialismus im Wandel der modernen Gesellschaft, 1975, 3. Hugo Heimann war später für die SPD Mitglied in der Weimarer Nationalversammlung und anschließend von 1920 bis 1932 Abgeordneter im Reichstag. 14 In Heidelberg gehörte er der aus dem Wandervogel hervorgegangenen freideutschen Jugend an und lernte dort seine spätere Frau, eine Medizinstudentin, kennen; vgl. Ortlieb (Fn. 13), 4. 15 In Berlin studierte er u.a. bei Franz Oppenheimer (1864–1943) Soziologie. 16 Heimann, Zur Kritik der Sozial-Methode, 1913, 33 Seiten. 17 Vgl. Rathmann, Eduard Heimann (1889–1967), in: Lösche/Scholing/Walter (Hrsg.), Vor dem Vergessen bewahren – Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten, 1988, 121 (122). 18 Rathmann (Fn. 17), 122. 19 Rathmann (Fn. 17), 122 f. 20 Rüstow, Der Lügner. Theorie, Geschichte und Auflösung. Diss. phil. Erlangen, 1910, veröffentlich bei Teubner, Leipzig 1910.
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litationsschrift zuwandte. Diese brach er jedoch 1914 ab, um sich in die Familientradition einzureihen und als Soldat im Ersten Weltkrieg zu dienen. Wie Paul Tillich wurde er mit dem Eisernen Kreuz II. und I. Klasse ausgezeichnet, kämpfte dafür jedoch an der Front, was zu einem endgültigen Bruch mit dem wilhelminischen Militarismus führte. Er begrüßte deshalb die Novemberrevolution von 1918 und arbeitete von 1919–1924 als Referent für allgemeine Wirtschaftsfragen im Reichswirtschaftsministerium.21 Er gilt als einer der Väter der Kartellverordnung von 1923, die erstmals versuchte, die Macht von Monopolen und Kartellen zu brechen.22 In dieser Zeit wurde seine erste Ehe mit der Malerin Mathilde Herberger, einer engen Freundin von Käthe Kollwitz, geschieden. Heimann erinnert sich an ihn wie folgt: „Eine Zeitlang hatte T. [gemeint ist Paul Tillich, M.C.] einen Rivalen in Alexander Rüstow, von dem er u. a. den Begriff ‚Gestalt‘ übernahm. … R. ging aber bei uns durch und wurde dann liberal-demokratisch in einem ziemlich radikalen Sinn.“23 Christophersen berichtet, dass Rüstow den Kreis bereits 1922 verließ, dann aber kurzeitig wieder hinzukam, 1925 aber endgültig mit Tillich und somit mit dem Kreis brach. Er stand aber weiterhin in Kontakt mit den Mitgliedern und wurde von Tillich vergeblich um einen Beitrag für das Kairos-Buch 1926 gebeten.24 Adolph Löwe (später im Exil Lowe), der im Mai 1893 geboren wurde, war jünger als die übrigen Mitglieder und wie Heimann jüdischen Bekenntnisses. Er hatte sich zunächst in München und sodann in Berlin neben der Nationalökonomie auch der damals noch jungen Soziologie zugewandt und unter anderem bei dem Nestor der modernen Soziologie Franz Oppenheimer (1864–1943) studiert. Ab 1922 arbeitete auch Löwe im Reichswirtschaftsministerium.25 Auch er verließ den Kreis zusammen mit Rüstow 1922, wirkte aber später am Kairos-Buch von 1926 mit.26 Ebenfalls zu den Nationalökonomen im weiteren Sinne zählte Arnold Wolfers, der 1892 in St. Gallen geboren wurde. Wolfers‘ Vater war USAmerikaner, seine Mutter Schweizerin, die Familie war wohlhabend.27 Er diente zwar in der schweizerischen Armee, musste folglich jedoch nicht am Ersten Weltkrieg teilnehmen. Wolfers hatte zunächst an verschiedenen Universitäten in der Schweiz und in Deutschland Rechtswissenschaften studiert 21 Lebensdaten nach https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Rüstow (zuletzt aufgerufen am 9.4.2020). 22 Vgl. die 1925 erschienenen Schriften Rüstow, Schutzzoll oder Freihandel? 1925; sowie ders., Das Für und Wider der Schutzzollpolitik, 1925. 23 Heimann in Amelung (Fn. 3), 215; vgl. auch Christophersen (Fn. 4), 102. 24 Christophersen (Fn. 4), 102 f., 105 f. 25 Vgl. die Laudatio in Hagemann/Kurz (Hrsg.), Beschäftigung, Verteilung und Konjunktur. Zur Politischen Ökonomik der modernen Gesellschaft. Festschrift für Adolph Lowe, 1984. 26 Christophersen (Fn. 4), 103. 27 Heimann in Amelung (Fn. 3), 216.
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und wurde 1917 auch zum Dr. iur. promoviert, wandte sich ab 1919 jedoch zunehmend der Nationalökonomie und den Politikwissenschaften zu. Ab 1922 war er Mitarbeiter von Paul Tillich an der Deutschen Hochschule für Politik, die 1920 als private Hochschule in Berlin gegründet worden war. Eduard Heimann hat später berichtet, dass Wolfers in der Frühphase der Weimarer Republik für die Kommunistische Partei gearbeitet hatte, mit der er jedoch alsbald brach.28 Wolfers war später Direktor der Deutschen Hochschule für Politik. Mit Günther Dehn und Karl Ludwig Schmidt gehörten dem Kreis in seiner Frühphase zwei weitere evangelische Theologen an. Günther Dehn wurde am 18. April 1882 in Schwerin geboren. Er war damit das älteste Mitglied der Gruppe. Dehn hatte in Berlin, Halle und Bonn zunächst Germanistik, Geschichtswissenschaften und Philosophie, ab dem 4. Semester dann auch Evangelische Theologie studiert. 1906 legte er das erste theologische Examen ab, wurde sodann Vikar und arbeitete anschließend in verschiedenen anderen Positionen innerhalb der evangelischen Kirche. 1911 trat er seine erste Pfarrstelle an der Reformationskirche in Berlin-Moabit an.29 Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern des Kairos Kreises war Dehn also bereits beruflich etabliert und strebte als einziger keine akademische Karriere an.30 Als sogenannter Arbeiterpastor hatte er nach der Novemberrevolution vielmehr gehofft, die Kluft zwischen Proletariat und Kirche zu verringern. 1919 gründete er den Bund sozialistischer Kirchenfreunde, der sich alsbald mit dem Bund religiöser Sozialisten vereinigte.31 Von 1920–1922 war er Mitglied der SPD. Dehn verließ den Kreis allerdings bereits kurz nach Gründung.32 Auch über Friedrich Rittelmeyer, einen etablierten Pastor, der den Kreis mit initiiert hatte, liest man nach 1919 nichts mehr, sodass auch er nur in der Gründungsphase dazugehört haben dürfte. Karl Ludwig Schmidt, am 5. Februar 1891 in Frankfurt am Main als Sohn eines Handwerkers geboren, war fast zehn Jahre jünger als Dehn. Er studierte in Marburg und Berlin zunächst klassische Philologie, sodann Evangelische Theologie, worin er 1913 promoviert wurde. Er nahm am Ersten Weltkrieg als Soldat teil und wurde schwer verwundet. 1918 habilitierte er mit der Schrift „Der Rahmen der Geschichte Jesu“, die viel Aufmerksamkeit erregte.33 Auch er kann dem Kairos Kreis nicht lange angehört haben,34 da er 28
Heimann in Amelung (Fn. 3), 216. Vgl. die Gedenktafel in Berlin-Moabit (an der Reformationskirche, Beusselstraße 35/ Ecke Wiclefstraße). 30 Heimann in Amelung (Fn. 3), 216, der despektierlich anmerkt, dass Dehn dem akademischen Schicksal doch nicht entging. 31 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Günther_Dehn (zuletzt aufgerufen am 9.4.2020). 32 Christophersen (Fn. 4), 20, 101. 33 Vgl. näher zu ihm: Cullmann, Karl Ludwig Schmidt, in: Schmidt, Vorträge und Aufsätze 1925–1962, 1966; sowie Vielhauer, Karl Ludwig Schmidt, in: 150 Jahre Rheinische 29
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bereits 1921 auf eine Professur für neues Testament an der Universität Gießen berufen wurde und somit Berlin verließ. Später folgte er einem Ruf nach Basel, „nachdem auch er“, wie Heimann es ausdrückt, „zu Barth gegangen war.“35 Karl Barth (1886–1968) hatte zwar 1919 in dem Kreis einen Vortrag gehalten, war aber nicht dessen Mitglied. Seine theologische Ausrichtung wurde insbesondere von Tillich scharf abgelehnt. Außerdem sollen zwei weitere Pastoren, Wilhelm Gustav Loew (1887– 1977) und Hans Hartmann (1888–1976), die mit Günther Dehn in Kontakt standen, dem Kreis kurzzeitig angehört haben.36 In der Anfangszeit des Kreises gehörte auch Trude Mennicke, geb. Bez, Tochter eines Pastors aus Thüringen, dem Kreis an. Sie entstammte der Wandervogelbewegung und wurde Jahre später von Heimann als „eine schwerblütige, bedeutende Frau und Dichterin“ beschrieben.37 Nach der Trennung von Carl Mennicke zog sie sich aber aus dem Kreis zurück. Die Mehrzahl der Mitglieder waren also Teilnehmer des Ersten Weltkrieges, die nach der Umbruchsituation dem Sozialismus zugeneigt waren, eine neue Orientierung suchten und ganz überwiegend eine akademische Karriere anstrebten. Ein festes Programm oder gar Protokolle für die Nachwelt hat es nicht gegeben. Will man heute etwas über die Diskussionen in dem Kreis erfahren, ist man auf die briefliche Korrespondenz seiner Mitglieder angewiesen, die Alf Christophersen umfassend ausgewertet hat.38 Außenwirkung hat der Kreis vor allem durch die Blätter für religiösen Sozialismus (1920– 1927),39 deren Herausgeber Mennicke war, durch eine Ringvorlesung im Wintersemester 1922/23, durch zwei Bücher in den Jahren 1926 und 1929 sowie durch die Neuen Blätter für Sozialismus (1930–1933) entfaltet. 3. Eine Ringvorlesung Berlin, Deutsche Hochschule für Politik, WS 1922/23. Die Deutsche Hochschule für Politik war im Oktober 1920 gegründet worden. Sie war aus der 1918 von Friedrich Naumann (1860–1919) gegründeten Staatsbürgerschule hervorgegangen. Aufgabe dieser privaten HochFriedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818–1968, Bonner Gelehrte, Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn, Evangelische Theologie, 1968, S. 190 ff. 34 Christophersen (Fn. 4), 179 berichtet über die Mitgliedschaft von Schmidt nur am Rande. 35 Heimann in Amelung (Fn. 3), 216. 36 Heimann in Amelung (Fn. 3), 215. 37 Heimann in Amelung (Fn. 3), 215. 38 Christophersen (Fn. 4), 100 ff. 39 Auflage und Verbreitungsgrad waren allerdings sehr gering, Christophersen (Fn. 4), 18 f. spricht davon, dass die Blätter „den Eindruck des Unorganisierten“ vermitteln. „Es wurde sehr schnell gearbeitet, für einen kleinen Kreis, mit einer Fülle von Rechtschreibund Satzfehlern.“.
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schule war es, die Grundsätze eines demokratischen Gemeinwesens in Deutschland zu etablieren. Die ca. 120 Studenten studierten nebenberuflich in den frühen Abendstunden, einen Abschluss konnten sie erst ab Mitte der 1920er Jahre erwerben, nachdem die Hochschule – wie wir es heute ausdrücken würden – erfolgreich akkreditiert worden war.40 Im WS 1922/23 wurde unter Leitung von Paul Tillich eine „politische Arbeitsgemeinschaft“ angeboten, die man sich als eine Mischung aus Seminar und Ringvorlesung vorstellen muss. Der Titel war Programm: Erneuerung des Sozialismus. Die Referenten waren führende Vertreter des religiösen Sozialismus und mit den Mitgliedern des Kairos Kreises weitgehend deckungsgleich.41 Die Veranstaltung wurde in den Blättern für Religiösen Sozialismus wie folgt beworben: es soll „eine geschlossene Gruppe mit einheitlicher Grundausrichtung sich darstellen und eine Grundanschauung allseitig durchführen.“42 Die Grundanschauung bestand darin, dass der „auf das rein Ökonomische verengte […], zur Orthodoxie erstarrte, bürokratische Sozialismus“ zu überwinden sei.43 Tillich referierte über die „Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte“; Mennicke stellte seinen Vortrag unter den Titel „Sozialismus in der religiösen Bewegung der Gegenwart“, Rüstow sprach über „Marxismus und Gemeinschaft“ sowie in einem zweiten Vortrag über „Gestalterkenntnis als philosophische Grundlegung des Sozialismus“, Adolph Löwe über die „Soziologie der deutschen Geschichte“ und über die „Soziologie der Kunst“, Arnold Wolfers über „Macht und Gemeinschaft in der Weltpolitik“, Eduard Heimann schließlich über den „Rang der Wirtschaft“. Den Abschluss bildete ein gemeinschaftlicher Auftritt von Tillich und Mennicke. Ihr Co-Referat trug den Titel „Der Sozialismus als Wirklichkeit und Aufgabe“. 4. Der Kairos Kreis: kein Programm, kein Konzept? Berlin, erste Hälfte der 1920er Jahre. Für den Kairos Kreis lassen sich aus dieser Ankündigung zwei Schlüsse ziehen: Erstens lässt bereits die Band40 Dies war maßgeblich das Verdienst des Orientalisten Carl Heinrich Becker (1876– 1933), der 1921 und sodann wieder von 1925–1930 als Parteiloser das Amt des preußischen Kultusministers innehatte und bereits seit 1919 und in der Interimsphase von 1922–1925 als Staatssekretär im preußischen Kultusministerium tätig war. Näher zur Geschichte der DHfP: Korenblat A School for the Republic? Cosmopolitans and Their Enemies at the Deutsche Hochschule für Politik, 1920–1933, Central European History 39 (2006), 394 ff.; sowie monographisch Missiroli Die Deutsche Hochschule für Politik, 1988; Mielke (Hrsg.) Einzigartig – Dozenten, Studierende und Repräsentanten der Deutschen Hochschule für Politik (1920−1933) im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, 2008. 41 Sturm Die Kapitalismuskritik Paul Tillichs und des Kairos Kreises, in Casper/Gabriel/Reuter (Hrsg.), Die Kapitalismuskritik im Christentum, 2016, 13 f. 42 Mennicke Blätter für den religiösen Sozialismus, Bd. 3, 44. 43 So die Interpretation bei Sturm (Fn. 41), 13.
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breite der Themen erahnen, dass der Kairos Kreis kein einheitliches Konzept verfolgte, auch wenn die Ankündigung Gegenteiliges suggeriert.44 Allein der Glaube an eine Reform des Sozialismus durch Übernahme von Elementen aus dem Christentum dürfte die Mitglieder des Kreises geeint haben. Dies zeigt auch die teilweise ganz unterschiedliche Stoßrichtung der Veröffentlichungen der einzelnen Mitglieder in den Blättern für den Religiösen Sozialismus bzw. an anderer Stelle. Auffällig ist zudem, dass es keine gemeinschaftlichen Positionspapiere des Kreises gibt. Zweitens lässt sich den Referatstiteln entnehmen, dass die Mitglieder des Kreises einen hohen theoretischen Anspruch an sich und ihre Hörer stellten. Konkrete, pragmatische, wirtschaftspolitische Forderungen finden sich nicht; eine gewisse Ausnahme gilt allein für die späteren Schriften von Eduard Heimann. Sturm hat den Kreis deshalb als „kleine[n], elitäre[n] Zirkel von Intellektuellen ohne Verbindung zur Kirche oder zum organisieren Sozialismus“ beschrieben.45 Noch deutlicher wird Christophersen: „Der Berliner Kairos-Kreis war … alles andere als homogen und kein Hort konsensorientierter Gelassenheit. Stets aufs neue kam es zu harten positionellen Auseinandersetzungen, Eifersüchteleien, Kränkungen, Animositäten, wechselseitigen Überbietungsszenarien, Trennungen und Versöhnungen.“46 Für diese Interpretation eines selbstzentrierten Kreises junger Intellektueller streitet auch der geringe Verbreitungsgrad der „Blätter für Religiösen Sozialismus“, die Carl Mennicke von 1920 bis 1927 herausgab und in denen vor allem er selbst wiederholt und fortlaufend publizierte. Anderes gilt erst für die von 1930 bis 1933 von Tillich und Heimann herausgegebene Zeitschrift Neue Blätter für Sozialismus – Zeitschrift für politische und geistige Gestaltung, dessen letztes Heft im Juni 1933 immerhin eine Auflage von 10.000 Exemplaren erreichte.47 Aber diese Zeitschrift weist keinen unmittelbaren Bezug mehr zum Kairos Kreis auf, der 1930, wie noch sogleich zu zeigen sein wird, allenfalls noch sporadisch zusammenkam. Zudem zählten mit Tillich und Heimann nur zwei, wenn auch prominente Mitglieder des Kairos Kreises zu den Herausgebern der Neuen Blätter. Mennicke, das „Herz des Kreises“ fehlte. „Wir hatten ihn“, so schreibt Heimann später, „etwas aus dem Auge verloren, als wir die ‚Neuen Blätter‘ gründeten.“48 Eine wesentliche Ursache für die geringe Wirkungskraft des Kreises liegt neben seiner fehlenden institutionellen Verfestigung, in dem Umstand, dass die Mitglieder keine organisatorische Beziehung mehr zur evangelischen 44 Deutlich in diese Richtung argumentierend Sturm (Fn. 41), 14; Christophersen (Fn. 4), 101 f. 45 Sturm in Casper/Gabriel/Reuter (Fn. 41), 14. 46 Christophersen (Fn. 4), 100. 47 Sturm (Fn. 41), 14. 48 Heimann in Amelung (Fn. 3), 215.
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Kirche hatten. Mennicke war sogar 1922 aus der Kirche ausgetreten,49 Heimann und Wolfers waren zumindest ursprünglich jüdischen Bekenntnisses. Die wenigen Amtsträger wie Dehn haben der Gruppe nicht lange angehört. Dieser Befund bestätigt sich auch, wenn man das 1926 von Paul Tillich herausgegebene Buch „Kairos – Zur Geisteslage und Geisteswendung“ durchmustert. Zwar finden sich in diesem Sammelband einige Mitglieder des Kreises wieder (neben Tillich verfassten Löwe, Heimann und Mennicke jeweils einen Beitrag). Doch auch hier ist auffällig, dass die Themen sehr disparat sind. Einen gewissen roten Faden bieten die beiden Beiträge von Tillich „Kairos – Ideen zur Geisteslage der Gegenwart“ und „Kairos und Logos – Eine Untersuchung zur Metaphysik des Erkennens“ sowie der ebenfalls philosophisch angelegte Beitrag von Löwe mit dem Titel „Idealität und Realität“. Heimann druckte hingegen seine Hamburger Antrittsvorlesung „Sozialismus und Sozialpolitik“ ab, während Mennicke zum „sozialpädagogische[m] Problem der gegenwärtigen Gesellschaft“ publizierte. Die weiteren Beiträge der Autoren, die nicht dem Kairos Kreis angehört haben, weisen eine noch deutlich weitere Spannbreite auf – bis hin zur „Baukunst am Scheideweg“ von Walter Riezler (1878–1965). Auch ist auffällig, dass Tillich in dem im Februar 1926 verfassten Vorwort den Kairos Kreis mit keinem Wort erwähnt, sondern vielmehr hervorhebt, dass der Kreis der Mitarbeiter nicht begrenzt ist, sondern ein weiteres Buch geplant sei, wenn „eine Anzahl weiterer Abhandlungen vorliegt, die mit wissenschaftlichem Charakter die angedeutete Grundhaltung verbinden“.50 Dieses Unterfangen wurde allerdings erst 1929 mit dem zweiten Kairos-Buch verwirklicht. Es trägt den Titel „Protestantismus als Kritik und Gestaltung“ und weist im Untertitel immerhin die Bezeichnung „Zweites Buch des Kairos-Kreises“ auf, was darauf hindeutet, dass Tillich bereits die Schrift von 1926 als erstes Buch des Kairos Kreises verstanden hat.51 Allerdings ist auch das 1929 erschienene Buch keine programmatische Schrift des Kairos Kreises. Wenn man also nach einer Fernwirkung des Kairos Kreises suchen will, müsste man die Schriften der einzelnen Mitglieder und ihren Einfluss auf die Entwicklung insbesondere der evangelischen Wirtschaftsethik im Detail untersuchen. Dies kann in diesem Beitrag jedoch nicht geleistet werden. Die Darstellung wird sich (sub III.) auf wenige Schlaglichter beschränken müssen. 5. Die Zerstreuung des Kairos Kreises Marburg/Hamburg/Frankfurt am Main, 2. Hälfte der Weimarer Republik. Die Wirkungsmacht des Kreises wurde abgesehen von den Austritten 49
Sturm (Fn. 41) S. 14; Heimann in Amelung (Fn. 3), 215. Tillich in ders. (Hrsg.), Kairos – Zur Geisteslage und Geisteswendung“, 1926, XI. 51 Christophersen (Fn. 4), 107 berichtet, dass Kairos ursprünglich als Jahrbuch geplant war. 50
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(Rüstow, Löwe) weiterhin dadurch geschmälert, dass einige ihrer führenden Mitglieder ab Mitte der 1920er Jahre nicht mehr in Berlin lebten, sondern ihre Zelte an anderen Orten in Deutschland aufgeschlagen hatten, um eine etablierte akademische Karriere zu beginnen. Eduard Heimann wurde 1925 als Professor für Volkswirtschaftslehre an die damals noch sehr junge Universität Hamburg berufen. Dort befasste er sich schwerpunktmäßig mit der Sozialökonomie. Er gilt als einer der Begründer der modernen theoretischen Sozialpolitik.52 Tillich lehrte bereits seit 1924 als außerplanmäßiger Professor für systematische Theologie an der Universität Marburg. Daneben unterrichtete er auch in dem kulturell lebendigeren Dresden an der dortigen technischen Hochschule. Diese hatte ihm eine Honorarprofessur angetragen. Sein Biograf Erdmann Sturm berichtet, dass ihm Marburg zu provinziell war.53 In Berlin war Tillich jedoch nur noch gelegentlich anzutreffen, da eine von ihm erhoffte Berufung auf eine freigewordene Professur in Berlin 1928 nicht erfolgt war.54 Von 1929–1933 war er Ordinarius an der Universität Frankfurt am Main. In dieser Zeit legte er den Grundstein dafür, dass er heute als einer der einflussreichsten deutschsprachigen Theologen und Philosophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt. Alexander Rüstow verließ Berlin bereits 1924 ebenfalls in Richtung Frankfurt am Main, wo er als Syndikus und Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung beim Verein deutscher Maschinenbau-Anstalten (VdMA) fungierte. Rüstow wurde in dieser Zeit also nicht nur Verbandsfunktionär, sondern änderte auch seine politische Grundausrichtung und war nunmehr eher dem liberalen Flügel zuzuordnen. Später hatte er mit Walter Eucken Kontakt und gilt heute zusammen mit anderen als einer der Vordenker des ORDO-Liberalismus. Er hat dem Kairos Kreis in seiner Zeit der Zerstreuung nicht mehr angehört. Wie bereits erwähnt fasste Heimann dies später wie folgt zusammen: er „wurde dann liberal-demokratisch in einem ziemlich radikalen Sinn“,55 womit er sich von der gemeinsamen Grundlage des Kairos Kreises verabschiedet hatte. Auch Adolph Löwe verließ Mitte der 1920er Berlin, nachdem er sich an der Universität Kiel mit einer konjunkturtheoretischen Arbeit habilitiert hatte. 1926 wurde er Leiter der Konjunkturabteilung des Kieler Weltwirtschaftsinstituts, später lehrte auch er in Frankfurt am Main.56 Karl Ludwig Schmidt wechselt 1925 von Gießen an die Universität Jena, wo er eine Professur für neues Testament bekleidete, bevor er 1929 an die Universität 52
Ortlieb (Fn. 13), 5 ff.; Rathmann (Fn. 17), 122 ff. Schüßler/Sturm (Fn. 7), 12. 54 Schüßler/Sturm (Fn. 7), 14; Christophersen (Fn. 4), 121 f., der berichtet, dass auch ein weiterer Versuch 1932 scheiterte. 55 Heimann in Amelung (Fn. 3), 215. 56 Heimann in Amelung (Fn. 3), 216. 53
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Bonn weiterzog. Ob er nach 1925 noch Kontakt zum Kairos Kreis hatte, ist zu bezweifeln. Carl Mennicke war zwar bis 1929 weiterhin in Berlin tätig, wandte sich jedoch zunehmend der Wohlfahrtspflege zu, und gilt heute als einer der Begründer der modernen Sozialpädagogik. Ab 1929 lehrte er in Frankfurt am Main.57 Arnold Wolfers blieb ebenfalls in Berlin. Dort war er zunächst an der Deutschen Hochschule für Politik tätig, ab 1930 sodann als Privatdozent an der heutigen Humboldt-Universität.58 In der zweiten Hälfte der Weimarer Republik soll er mit dem Nationalsozialismus wegen dessen sozialistischer Komponente geliebäugelt haben.59 Diese Zerstreuung führte dazu, dass sich der verbliebene Rest des Kreises nur noch unregelmäßig anlässlich von Tagungen treffen konnte. So berichtet Sturm, dass der Kreis bei der sogenannten Heppenheim Konferenz zu Pfingsten 1928 wieder zusammenkam, auf der Eduard Heimann zu dem Thema „die Begründung des Sozialismus“ sprach.60 Heimann erinnert sich in den 1960er Jahren an ein weiteres Treffen bei einer philosophischen Eranos Tagung in Ascona am Lago Maggiore. Wann dies genau der Fall gewesen sein soll, bleibt offen. Der heute noch existierende Verein zur Förderung der wissenschaftlichen Tagungen von ERANOS gibt auf seiner Homepage freilich an, dass die erste Tagung erst im August 1933 stattgefunden habe,61 als die Zerstreuung des Kairos Kreises bereits im vollen Gange war. 6. Das endgültige Ende, Vertreibung Überall in Deutschland ab Januar 1933, New York/New Haven/Amersfoort und Basel in den 1930er und 1940er Jahren. Der Kairos Kreis hat als regelmäßiger Gesprächskreis nur in frühen 1920er Jahren existiert, seit ca. 1924 war er nur noch ein Netzwerk von aufstrebenden Wissenschaftlern. Sein endgültiges Ende fand er spätestens mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Januar 1933. Diese vertrieben in kürzester Zeit fast alle seine Mitglieder aus Deutschland. Paul Tillich veröffentlichte Anfang 1933 noch seine Schrift „die sozialistische Entscheidung“, in der er sich dezidiert gegen den Nationalsozialismus aussprach. Er wurde deshalb Mitte April in Frankfurt beurlaubt, zog sich im 57 Lebensdaten nach https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Mennicke (zuletzt aufgerufen am 9.4.2020). 58 Heimann in Amelung (Fn. 3), 216. 59 So zumindest der Eintrag im Personenlexikon von Menzel (Hrsg.), Personenlexikon Internationale Beziehungen, Eintrag zu Arnold Wolfers (https://web.archive.org/web/ 20161120150051/http://rzv039.rz.tu-bs.de/isw/sandra/lexikon/cmsimpleplus/?U-Z:Wol fers%2C_Arnold). Ob er in dieser Zeit noch dem Kairos Kreis angehört hat, ließ sich nicht ermitteln. 60 Sturm (Fn. 41), 14; Rathmann (Fn. 17), 128 f. 61 Vgl. http://www.eranos-ascona.ch/ (zuletzt aufgerufen am 9.4. 2020).
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Sommer 1933 zunächst auf die Inseln Rügen und Spiekeroog zurück, bevor er nach vergeblichen Gesprächen über eine Wiedereinstellung in den Staatsdienst im Herbst 1933 in die USA emigrierte.62 Er fand eine Anstellung als Professor für systematische Theologie am Union Theological Seminary in New York, ab 1940 wieder als Ordinarius. In den USA fasste er schnell Fuß und wurde dort alsbald zu einer angesehenen Persönlichkeit. 1955 wurde ihm der Titel eines „University Professor“ der Harvard University verliehen, der ihn berechtigte, an allen Fakultäten zu lehren, wovon er ausgiebig Gebrauch machte. 1959 war er so populär, dass das Time Magazine ihm eine Titelstory samt Titelbild widmete, das mit den Worten „A Theology for Protestants“ beschriftet war.63 Nach Deutschland ist er nicht mehr zurückgekehrt.64 Er starb nach einem Vortrag am 22.10.1965 in Chicago. Eduard Heimann emigrierte bereits im Frühsommer über die Niederlande in die USA und fand in New York an der New School for Social Research eine neue Bleibe, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1959 Wirtschaftswissenschaften und Soziologie unterrichtete.65 Die New School for Social Research beherbergte viele deutsche Emigranten, da sie innerhalb der eigentlichen Universität eine University in Exile gründete, an der 180 Emigranten eine neue Heimstätte fanden, unter anderem auch Hannah Arendt (1906–1975).66 Heimann wandte sich zunehmend auch der evangelischen Theologie zu und stand weiter im engen Kontakt mit Tillich. Im Alter von 74 Jahren kehrte Heimann mit seiner Frau nach Hamburg zurück und hielt noch gelegentlich an seiner früheren alma mater Vorträge, wobei er sich insbesondere auf die Suche nach dem dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus machte.67 Er starb am 31.05.1967 in Hamburg. Adolph Löwe emigrierte 1933 zunächst nach England, wo er als Rockefeller Stipendiat an der University of Manchester tätig war. 1941 übersiedelte auch er in die USA, wo er ebenfalls Aufnahme an der New School for Social Research fand. Er lehrte bis 1978 in New York und starb hochbetagt am 3.6.1995 in Wolfenbüttel.68 Carl Mennicke emigrierte 1933 in die Niederlande und war dort in Amersfoort an der „International School voor Wijsbegeerte“ (Internationale Schule für Philosophie), einer in der Erwachsenenbildung tätigen Einrich-
62 Christophersen (Fn. 4) S. 246 f., 249; Schüßler/Sturm (Fn. 7), 16 f. Ein Umstand, der dagegen spricht, dass er sich noch im August am Lago Maggiore aufgehalten hat. 63 Time Magazin, 19.3.1959, Cover; vgl. ferner Schüßler/Sturm (Fn. 7), 23 f. 64 Zum Wirken Tillichs ab 1945 vgl. Christophersen (Fn. 4), 267 ff., der darauf hinweist, dass Tillich aber häufiger in Deutschland zu Besuch war. 65 Ortlieb (Fn. 13), 12 ff.; Rathmann (Fn. 17), 133 ff. 66 Vgl. Probst, Hochschulen als Wirkungsstätten von Exilanten, in: Spalek/Strelka (Hrsg.), Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 2/1, 1989. 67 Ortlieb (Fn. 13), 16 ff.; Rathmann (Fn. 17), 133. 68 Vgl. den Nachw. oben in Fn. 25 und Heimann in Amelung (Fn. 3), 216.
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tung, beschäftigt. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1940 wurde er von den Nationalsozialisten verhaftet und kam nach mehreren Lageraufenthalten schließlich in das Konzentrationslager Sachsenhausen, wo er schwer erkrankte.69 Nach dem Krieg blieb er zunächst in den Niederlanden und war abermals in Amersfoort tätig. Erst 1952 kehrte er nach Frankfurt zurück und lehrte dort als Honorarprofessor Soziologie, er starb bereits 1958.70 Alexander Rüstow, der den Kairos Kreis bereits Mitte der 1920er verlassen hatte, machte 1933 ebenfalls Bekanntschaft mit der Gestapo, die sein Haus durchsuchte, was ihn dazu veranlasste, in die Türkei zu emigrieren. Dort bekleidete er sodann an der Universität Istanbul eine Professur für Wirtschaftsgeschichte und -geographie. Von Istanbul aus hatte er Kontakt zum Kreisauer Kreis. Er kehre 1949 nach Deutschland zurück, wurde ein Jahr später in Heidelberg Ordinarius für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und fungierte als Direktor des Alfred-Weber-Instituts. Er starb 1963 in Heidelberg.71 Auch wenn Arnold Wolfers mit den Ideen des Nationalsozialismus in den frühen 1930er Jahren geliebäugelt haben soll, emigrierte er ebenfalls 1933 in die USA, da er aus Sicht der neuen Machthaber als sogenannter Halbjude unerwünscht war. In den USA wandte er sich von seinen bisherigen politischen Überzeugungen ab und lehrte von 1935–1957 an der Yale University internationale Politik. Nach seiner Emeritierung hatte er noch zahlreiche Beraterfunktionen für die US-Regierung in Washington inne. Er starb 1968 in Maine. Karl Ludwig Schmidt emigrierte 1933 in die Schweiz und lebte in Basel, wo er ab 1935 eine Professur für neues Testament an der Universität Basel bekleidete. 1956 verstarb er ebenda. Damit waren alle Mitglieder des Kairos Kreises 1933 aus Deutschland vertrieben worden. Einzig der Pastor Günther Dehn, der dem Kreis nur in den ersten beiden Jahren angehört hatte, blieb in Deutschland. Dehn hatte ab 1923 die sogenannte neue Werkbewegung, eine Art genossenschaftliche Sammlungsbewegung, gegründet, die sich den Geboten der Bergpredigt und der Wirtschaftsgemeinschaft der christlichen Urgemeinden in Jerusalem verpflichtet fühlte. 1928 war er durch eine klar antimilitärische Rede deutschlandweit als der „rote Pastor“ bekannt geworden, in der er angeblich Soldaten als Mörder bezeichnet hatte. Die Bemühungen, eine andere Gemeinde außerhalb von Berlin zu erhalten, scheiterten. 1930 wurde Dehn überraschend zum Professor für praktische Theologie an der Universität Heidelberg berufen. Wegen der Affäre von 1928 scheiterte die Ernennung 69
Christophersen (Fn. 4), 248. Vgl. den Nachw. oben in Fn. 12. 71 Vgl. den Nachw. oben in Fn. 21. 70
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jedoch ebenso wie diejenige nach einem weiteren Ruf nach Halle.72 Dehn, der sich während der auch seine Werke umfassenden Bücherverbrennungen in England aufhielt, kehrte 1933 gleichwohl nach Deutschland zurück, wurde Mitglied der bekennenden Kirche und beteiligte sich an deren im Untergrund stattfindenden Pastorenausbildung. In diesem Zusammenhang wurde er 1941 von der Gestapo verhaftet, jedoch im Juli 1942 wieder freigelassen. Er vertrat sodann in Tübingen einen zum Kriegsdienst eingezogenen Pastor. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er 1946 Professor für praktische Theologie an der Universität Bonn, wo er 1970 betagt starb.73 Auch wenn sich einige Protagonisten des Kairos Kreises ab 1933 in New York aufhielten, fand der alte Kreis nicht wieder zusammen. Dies dürfte in erster Line damit zusammenhängen, dass er bereits in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik nur noch eine lose Verbindung früherer Freunde aus Berliner Zeiten war. Zudem hatten sich die Zeiten geändert und das Ideal eines besseren, demokratischen Sozialismus war in den USA auch schon vor der McCarthy-Ära wenig hoffähig,74 ein religiös fundierter Sozialismus allemal.
III. Der religiöse Sozialismus bei Tillich und Heimann im Kaleidoskop 1. Disclaimer Münster, Karfreitag 2020. Will man also einer Fernwirkung der religiösen Sozialisten im Kairos Kreis auf unsere heutige Wirtschaftsordnung oder gar unser Wirtschaftsrecht nachspüren, könnte – wie bereits gezeigt – allenfalls eine Detailanalyse der Werke einzelner prominenter Vertreter des Kairos Kreises und deren mögliche Rezeption in der ab 1945 geführten Diskussion um eine gerechtere Wirtschaftsordnung bzw. -verfassung Aussicht auf Erfolg versprechen. Insoweit liegt es nahe, sich auf die beiden wirkmächtigsten Protagonisten, Paul Tillich und Eduard Heimann, zu fokussieren. Tillich hat jedoch – anderes als Heimann – nie konkrete wirtschaftspolitische Vorschläge unterbreitet. Er war Theologe und Philosoph und blieb meist auf der Ebene des Abstrakten. Man müsste bei ihm einen Zwischenschritt über die protestantische Sozial- und Wirtschaftsethik gehen und analysieren, in72 Christophersen (Fn. 4), 255 ff.; ausführlich zum „Fall Dehn“ vgl. auch Hoenen Günther Dehn (1882–1970) – Außenseiter für Frieden, in Arno Sames (Hrsg.), 500 Jahre Theologie in Wittenberg und Halle 1502–2002, 2003, 161–180. 73 Bautz Dehn, Günther, in Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1, 2. Aufl. 1990, Sp. 1242–1248. 74 Dazu, dass in der McCarthy-Ära auch über Tillich eine Akte angelegt wurde, die aber folgenlos blieb, vgl. Christophersen (Fn. 4), 272.
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wieweit er diese beeinflusst hat, um sodann zu untersuchen, inwiefern die protestantische Wirtschaftsethik wiederum die Wirtschaftsordnung der frühen Bundesrepublik beeinflusst hat. Dies sprengt nicht nur endgültig den in einem Festschriftbeitrag zur Verfügung stehenden Raum, sondern übersteigt auch die Kompetenz des Verfassers dieser Zeilen. Ein Blick in das von Wolfgang Huber herausgegebene Handbuch der Evangelischen Ethik zeigt zudem, dass Tillich in dem Abschnitt über Wirtschaftsethik nicht einmal erwähnt und Heimann dort nur einmal und zudem nicht zentral zitiert wird. Allein Alexander Rüstow wird etwa zehnmal zitiert, indes jeweils mit Schriften ab 1945, also zu einem Zeitpunkt, als er sich vom religiösen Sozialismus schon vollständig distanziert hatte.75 Ein weiteres kommt hinzu: Nicht nur, dass inzwischen auch der Ablauf der zweiten und wohl letzten Nachfrist für Säumige der FS Windbichler unmittelbar bevorsteht. Vielmehr ist die Welt seit dem Altjahresabend 2019, als erste Notizen für diesen Beitrag gefertigt wurden, eine andere geworden. Bibliotheken, insbesondere auch die fachfremden, sind seit Mitte März geschlossen. Was jetzt noch an Literatur gebraucht wird, muss antiquarisch bestellt werden.76 Im Münsteraner Dekanat haben wir seit Wochen zunächst an COVID-19-Notfallplänen, dann an einem tragfähigen Konzept virtuelle Lehre im SS 2020 gearbeitet, hunderte, wenn nicht tausende Emails beantwortet und eine Petition gegen ein Hochschulermächtigungsgesetz verfasst. Die Arbeit an dem Festschriftbeitrag musste deshalb auf Tagesrandzeiten verschoben werden. Folglich kann im Folgenden nur noch ein schemenhafter Blick wie durch ein Kaleidoskop auf den Kairos Begriff bei Tillich (III. 2.) und die Grundkonzeption des Sozialismusbegriffs bei Heimann geworfen werden. Die unter IV. zu skizzierende, wohl fehlende Fernwirkung des Kairos Kreises wird nur eine skizzenhafte Entwicklung von Hypothesen sein, die weiterer Vertiefung bedürften. 2. Das Kairos- und Sozialismus-Verständnis bei Paul Tillich Berlin, Marburg, Dresden und Frankfurt, 1920er Jahre. Tillich verwendet in seinen Schriften immer wieder den Begriff Kairos, der damals mehr in Mode war als heute.77 Sturm vertritt die These, dass Carl Mennicke den Begriff in den Kreis eingeführt habe, der ihn in der Tat im theologischen Sinne als Fülle der Zeit verstand und damit zum Ausdruck bringen wollte, dass der Sozialismus alle Lebensbereiche und nicht nur Politik und Ökonomie 75 Vgl. Jähnichen Wirtschaftsethik, in Huber/Meireis/Reuter, Handbuch der Evangelischen Ethik, 2015, 331 (359, 364 ff.) 76 Und einer der Gegenstände, die im Kairos-Haus der Jubilarin nie ausgehen durfte (vgl. oben I. 1.), ist seit Wochen ausverkauft. Nur noch Unmengen an Kaffee haben die letzten Tage gerettet. 77 Sturm (Fn. 41), 15.
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erfassen müsse.78 Auch wenn Tillich den Begriff des Kairos in seiner ersten Veröffentlichung aus dem Jahre 1919 mit dem Titel „Der Sozialismus als Kirchenfrage“, die er zusammen mit dem Berliner Jungendpastor Carl Richard Wegener (1883–1967) verfasst hat, noch nicht verwendet, klingt die Idee des Kairos Kreises zumindest in weltlicher Hinsicht doch auch hier bereits an: „ein neues Zeitalter der Einheit [habe] begonnen“, in der Sozialismus und Christentum vereint werden.79 Noch deutlicher wird Tillich 1919 in einem Brief an seine Freunde in der Wingolfs-Verbindung: „Was ich will, ist eine neue aus dem Geist der christlichen Liebe und des Sozialismus geborene Gesellschaftsordnung, in der der Kapitalismus und der Nationalismus überwunden sind“.80 Hierfür sind nach Auffassung Tillichs die Umstände seit der Novemberrevolution von 1918 günstig, es besteht also ein Kairos. Verwendet Tillich den Begriff Kairos also doch eher im landläufigen Sinne wie unsere Jubilarin bei Benennung ihres Hauses – also entsprechend dem griechischen Verständnis als günstigen Umstand bzw. entscheidenden Moment – oder allein theologisch? Nach meiner Interpretation geht Tillich bei der Verwendung des Begriffs von dieser eher weltlichen Bedeutung aus und lädt ihn dann theologisch auf.81 1926 heißt es in dem ersten Kairos-Buch: „Kairos heißt ‚erfüllte Zeit‘, konkreter geschichtlicher Augenblick und im prophetischen Sinne „Zeitfülle“, Hereinbrechen des Ewigen in die Zeit. Kairos ist also nicht der irgendwie gefüllte Augenblick, … , sondern es ist die Zeit, insofern sich in ihr das schlechthin Bedeutungsvolle erfüllt, …“82 Diese theologische Konnotierung wird an anderer Stelle noch deutlicher, wenn Tillich schreibt: „Kairos ist die erfüllte Zeit, …. bedeutet den Augenblick, in dem die Ewigkeit in das Zeitliche einbricht und das Zeitliche vorbereitet ist, das Ewige zu empfangen.“83 Das war für den Theologen Paul Tillich zuvörderst „das Erscheinen von Jesus Christus als zentrales Ereignis der Geschichte“. Tillich betont aber, dass das Eintauchen der Ewigkeit in das Zeitlich „im veränderten Lauf der Zeit wieder und wieder passieren [kann], im dem Ereignisse von einer großen Bedeutung auftreten, von denen der Ablauf der Geschichte … abhängt.“84 Einen derartigen Moment sah Tillich 1919 gekommen. Die Zeit war seines Erachtens reif dafür, dass der freiheitliche, religiöse Sozialismus die bisherige kapitalistische Wirtschaftsordnung ablöst. Für Tillich war klar, dass dies nur durch eine Beseitigung des bisherigen Wirtschaftssystems geschehen könne, nicht hingegen durch dessen Re78
Sturm (Fn. 41), 15; ebenso Christophersen (Fn. 4), 67 f. Tillich/Wegener Der Sozialismus als Kirchenfrage, 1919, 15 f. zitiert nach Albrecht (Hrsg.), Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 2, 1962, 139–158. 80 Zitiert nach Sturm (Fn. 41), 19. 81 Ähnlich Christophersen (Fn. 4), 5: gerade auch mit religiöser Konnotierung. 82 Tillich Kairos – Ideen zur Geisteslage der Zeit, in Tillich (Hrsg.), Kairos, 1926, 8. 83 Zitiert nach Ortlieb (Fn. 13), 6. 84 Zitiert nach Ortlieb (Fn. 13), 6. 79
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form. Dies unterschied ihn, wie wir noch sogleich sehen werden, zumindest ab Ende der 1920er Jahre von Eduard Heimann, auch wenn beide immer wieder betonten, voneinander profitiert zu haben. Mit diesem Kairos Verständnis wendet sich Tillich – wie Heimann – gegen den historischen Materialismus im Marxismus und widerspricht dessen dialektischen und deterministischen Verständnis, wonach der Ablauf der Geschichte in vorherbestimmten Phasen abläuft, um in der utopischen Vorstellung vom Kommunismus zu enden. Der Übergang zwischen diesen Stufen vollziehe sich in der Auffindung und Aufhebung von Gegensätzen wie Kapitalismus und Sozialismus (zunächst als Diktatur des Proletariats).85 Eine Diktatur des Proletariats war nicht das Ziel des religiösen Sozialismus bei Tillich. Er wollte das Kairos für eine Theonomie nutzen. Die sozialistische Gesellschaft sollte nach seiner Vorstellung also ihre Regeln aus christlichen Werten (einer protestantischen Ethik) beziehen. Das erinnert ein wenig an den Rückgriff auf ein christlich geprägtes Naturrecht nach 1945, bleibt in seiner konkreten Ausgestaltung aber mindestens so vage. In den Worten Tillichs klingt das wie folgt: Während Autonomie ein ‚inhaltsleeres kritisches Denken‘ sei und Heteronomie als ‚Unterwerfung unter Autorität und Versklavung‘ beschrieben wird, ziele die Theonomie darauf ab, ‚eine ganzheitliche Gesellschaft zu etablieren, die von einer geistigen Substanz getragen ist, aber die Freiheit als Autonomie beibehält und die große Tradition fortsetzt, in der der göttliche Geist sich verkörpert hat‘.86 Tillich verweist zur Ausgestaltung auf das Denken im europäischen Mittelalter des 12. Jahrhunderts. Auch wenn damit kein mittelalterlicher Gottesstaat gemeint ist, sondern eine vermutete Hochkultur des christlichen Denkens, wird einem ob der Naivität und dem, was man aus dieser unbestimmten Formel alles ableiten könnte, doch genauso Angst und Bange wie bei den Utopien des orthodoxen Marxismus. 3. Religiöser Sozialismus bei Heimann als Mittelweg zwischen Marx‘ Sozialismus und Marktwirtschaft Bergedorf bei Hamburg, 1925–193387. Auch Heimann differenziert wiederholt zwischen Sozialismus und Kommunismus. An die Utopie einer kommunistischen Gesellschaft glaubt er ebenso wenig wie sein Freund Tillich. Heimann propagierte indes klarer als Tillich die Idee eines freiheitlichen, demokratischen Sozialismus. Mit dem, was man später als den real85
Sturm (Fn. 41), 15. Tillich Vorlesung über die Geschichte christlichen Denkens, S. 198 – zitiert nach Christophersen (Fn. 4), 11. 87 Ausweislich des Vorworts von Heimann Soziale Theorie des Kapitalismus, 1929, hat die Familie Heimann in den 1920ern in Bergedorf gelebt, das erst in der Gebietsreform von 1937 nach Hamburg eingemeindet wurde. 86
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existierenden Sozialismus bezeichnet hat und was aus unserer heutigen Perspektive so grandios gescheitert ist, setzt sich Heimann kaum auseinander. Heimann entwickelt seine wesentlichen Thesen ab 1922. Die ihm damals bekannte sozialistische Wirtschaftsordnung in der UdSSR lehnt er dezidiert ab und brandmarkt sie in seiner 1930 erschienenen Schrift deutlich als „Stalinistische Gewaltherrschaft über die russischen Arbeiter und Bauern“, die nichts „mit Sozialismus zu tun [habe], insofern Sozialismus auf der freien Ordnung des Arbeitslebens durch die Gemeinschaft der Arbeitenden beruht.“88 Hier zeigt sich bereits seine Suche nach einem idealen, freiheitlichen Sozialismus. Bolschewisten waren die Mitglieder des Kairos Kreises also nicht, weshalb es auch nicht wundernimmt, dass keiner von ihnen 1933 in die UdSSR emigriert ist, sondern ihre Wege letztlich fast alle in die USA führten. Soweit sich Heimann mit einer sozialistischen Wirtschaftsordnung auseinandersetzt, arbeitet er sich in der Regel an Marx ab, mit dem er oft über Kreuz liegt. Hans Ritschl (1897–1993) hat das 1965 wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wenn Marx sich rühmen kann, Hegel auf den Kopf gestellt zu haben, so können wir Heimann nachrühmen, daß er Marx auf den Kopf gestellt hat – womit denn vieles wieder richtiggestellt ist!“ Bedeutsam ist hier vor allem die Absage an einen unbedingten Determinismus. „Die deterministische Wirtschaftslehre“, so schreibt Heimann, „und die marxistischen Theorien sind ontologisch falsch, weil sie die Freiheit des Menschen leugnen, aber – sie werden sich als richtig erweisen – wenn der Mensch von seiner Freiheit keinen Gebrauch macht.“89 Ähnlich wie Tillich lehnt also auch Heimann die Marxsche Dialektik im Grundsatz ab. Startschuss für Heimanns sozialistisches Wirtschaftsverständnis war seine Schrift „Mehrwert und Gemeinwirtschaft“ aus dem Jahr 1922. Sein Schüler Heinz-Dietrich Ortlieb (1910–2001) charakterisiert Heimanns Habilitationsschrift, in der er sich klar von der Marxschen Mehrwertlehre distanzierte, gut 50 Jahre später wie folgt: „Er war der erste, der mit dieser Pionierarbeit über die Wirtschaftsrechnung in einer sozialistischen Gesellschaft für eine sozialistische Marktwirtschaft ein Modell schuf.“90 Man höre und staune: nicht für eine sozialistische Planwirtschaft, sondern für eine sozialistische Marktwirtschaft. Dafür, dass diese Aussage nicht die späte Verklärung eines Schülers ist, spricht ein abermaliger Blick in Heimanns Aufsatz über Sozialisierung. Dort lesen wir: „Sozialisierung ist bekanntlich nicht Verstaatlichung, sondern ausdrücklich Vergesellschaftung der Produktionsmit88 Heimann Sozialisierung, Neue Blätter für den Sozialismus, 1930, Heft 1, hier zitiert nach dem Abdruck in Ortlieb (Hrsg.), Eduard Heimann, Sozialismus im Wandel der modernen Gesellschaft, 1975, 30 (40). 89 Ritschl Bemerkungen zu einer sozialen Theorie des Kapitalismus, Kyklos 18 (1965), 705. 90 Ortlieb (Fn. 13), 5.
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tel. … Vergesellschaftung als das deutsche Wort für Sozialisierung ist daher bei Marx ganz deutlich die Übernahme des Eigentumsrechts und der damit zusammenhängenden Verfügungsmacht und Verantwortung nicht auf eine Beamtenkaste, bei der er von Verstaatlichung sprechen würde, sondern auf das freie Volk.“91 In einem derartigen fast schon genossenschaftlich anmutenden Modell, wie es bisweilen in skandinavischen Ländern in den 1970ern versucht wurde, indes ein Indiz zu sehen, dass Heimann ein Vordenker einer sozialen Marktwirtschaft war, wäre sicherlich verfehlt. Aber Heimann lehnt die Marktwirtschaft nicht per se ab, sondern hat sie zumindest ab 1929 – anders als Tillich – für reformierbar erachtet. „Markt und Kapitalismus“, so erklärt uns Heimann, „sind durchaus nicht dasselbe. So wenig man dem Acker Vorwürfe machen kann, wenn das Unkraut die Früchte erstickt, weil man nicht ordnend eingegriffen hat, so wenig ist das Marktprinzip als solches dafür verantwortlich, daß einen sich selbst überlassenen Markt der Kapitalismus überwuchert.“92 Auch das Privateigentum an Produktionsmitteln, insbesondere in der Landwirtschaft, lehnt Heimann nicht per se ab. Wegweisend ist sein ebenfalls in den Neuen Blättern für Sozialismus 1932 erschienener Beitrag „Sozialismus und Mittelstand“. Dort schreibt er: „Der Bauer ist nicht Kapitalist, sondern ein Arbeiter, wiederum nicht ein proletarischer, sondern ein selbständiger Arbeiter“.93 Fast in Vorwegnahme der Berufung auf das Naturrecht in der protestantischen Wirtschaftsethik in den späten 1940ern94 schreibt Heimann weiter: „Der Mensch hat einen naturrechtlichen Anspruch nicht nur auf persönliche Freiheit, sondern eben deswegen auch auf persönliches Eigentum. D. h. offenbar nicht, daß derjenige, der zufällig größeres oder geringeres Eigentum hat, einen naturrechtlichen Anspruch darauf erheben kann, es zu behalten; es heißt im Gegenteil, daß jeder einzelne im Interesse seiner Freiheit und der allgemeinen Harmonie mit Eigentum ausgestattet werden muß.“ Hier scheint erneut die Idee auf, dass ein selbstbestimmtes Kollektiv von Arbeitern ihre Produktionsmittel besitzen soll, um in ökonomischer Eigenverantwortlichkeit zu wirtschaften. Dieses Eigentum ist folglich kein Volkseigentum im Sinne des realexistierenden Sozialismus (vgl. etwa § 19 ZGB DDR), aber auch kein Privateigentum. „Eigentum und Privateigentum sind also zweierlei, ja sie sind Gegensätze.“,95 lehrt uns 91
Heimann (Fn. 88), 39. Heimann (Fn. 88), 43. 93 Heimann Sozialismus und Mittelstand, Neue Blätter für Sozialismus, 1932, 356 ff. – zitiert nach Ortlieb (Hrsg.), Heimann (Fn. 88), 78. 94 Weiterführend zum Ganzen Foljanty Recht oder Gesetz – Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit, 2013, passim, dies. Ein eigenständiger Beitrag? Wirtschafts- und Sozialethik in der juristischen Naturrechtsliteratur nach 1945, in Casper/Gabriel/Reuter (Fn. 1), 277 (281 ff.). 95 Heimann (Fn. 93), 79. 92
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Heimann wenige Sätze später und fährt fort: „Allgemeines Eigentum ist aber offenbar nur so möglich, daß jeder Eigentum an seinem eigenen Arbeitsbereich hat und niemand Eigentum an den Arbeitsbereichen anderer, die eben deswegen eigentumslos sein müssten.“96 Privateigentum von kleineren Handwerkern und Bauern hält Heimann mit seinem Bild von Sozialismus für durchaus kompatibel. Heimann fasst das in die Worte: „Wo Arbeit und Eigentum vereinigt sind, hat der Sozialismus die vorgefundene Verfassung nur zu bestätigen und zu stärken. Das gilt nicht nur vom bäuerlichen Kleinbetrieb, sondern ebenso in weiten Bereichen des städtischen Gewerbes und Handels“. Wo die Grenze zum Eigentum des Kollektivs der Arbeiter liegt, bleibt allerdings offen. Ob dieses Modell also ein oder zwei oder gar mehr Angestellte im bäuerlichen oder handwerklichen Betrieb zulässt, ohne dass der Bauer bzw. der Handwerker zum Kapitalisten wird, bleibt unklar. Wäre man konsequent, dürften Landwirt und Kleingewerbetreibender wohl nur alleine ohne Einsatz von Angestellten wirtschaften. Beide Aufsätze in den Neuen Sozialistischen Blättern sind Früchte der großen programmatischen Monographie Heimanns aus dem Jahre 1929: „Soziale Theorie des Kapitalismus – Theorie der Sozialpolitik“. Auch wenn in dieser Schrift zunächst abermals eine Auseinandersetzung mit Marx – aber auch mit dem Liberalismus – erfolgt, ist das Neue an ihr eine fundierte Theorie der Sozialpolitik. Heimann entwickelt ein System, um die Lage der Arbeiter in einer marktwirtschaftlich verfassten Wirtschaftsordnung zu verbessern, ohne dass es zu einer Revolution kommen muss.97 Auch wenn Heimann nicht das Ziel verfolgt, den Kapitalismus, den es aus seiner Sicht zu überwinden gilt, sozialer zu machen, entwickelt er doch eine Theorie für viele Instrumente der Sozialpolitik, die wir heute als typischen Bestandteil, wenn nicht gar als Markenkern einer sozialen Marktwirtschaft begreifen. Auch nach Lektüre dieser Schrift würde ich nicht so weit gehen, Heimann als Vordenker der sozialen Marktwirtschaft zu feiern. Aber in vielen der 1929 entwickelten Gedanken liegt schon ein Hauch von Bad Godesberg, auf das die Sozialdemokratie freilich noch 30 Jahre warten musste. In den Worten Heimanns liest sich das so: „Wenn also die Arbeiterbewegung durch Sozialpolitik sich schrittweise der sozialen Freiheit nähert, statt die Sozialisierung mit einem Schlage zu erzwingen, so einfach deswegen, weil sie die Kraft zur Leistung für jenes, nicht aber für dieses in sich weiß“.98 96
Heimann (Fn. 93), 79. Ansatzweise zuvor auch bereits in Heimann Sozialismus und Sozialpolitik, in Tillich, Kairos, 1926, 289, 307 ff. Dies lehnt Tillich hingegen auch 1930 noch ab, vgl. Sturm (Fn. 41), 32. 98 Heimann Soziale Theorie des Kapitalismus, Nachdruck 1980, S. 310 (im Original von 1929: 227); ähnlich bereits Heimann Sozialismus und Sozialpolitik, in Tillich, Kairos, 1926, 289. Dafür erntet er bei Tillich, der Heimanns Buch von 1929 zwar als das „Hauptwerk 97
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Was das spezifisch Religiöse an Heimanns Sozialismuskonzept ist, bleibt für mich auch nach der Lektüre seines Aufsatzes „Religion und Sozialismus“ weitgehend unklar, sofern man sich auf die Plattitüde zurückziehen will, dass der Kampf für einen freiheitlichen Sozialismus auf dem Gedanken der Freiheit des Christenmenschen (Gal 5,1+13) basiert. Aber vielleicht ist der Verweis auf Paulus in seinem Brief an die Galater gar nicht so fernliegend.99 Das dort betonte Joch der Knechtschaft ist für Heimann das Joch des Kapitalismus,100 den es durch den freiheitlichen Sozialismus zu überwinden gilt. Die wenig später folgende Aussage wirkt dann aber auch auf den protestantisch sozialisierten Leser wenig weiterführend bis leicht verstörend: „Der Kapitalismus lebte und lebt heute noch vielfach in einem wahren Rausch von Freiheit und Gestaltungsdrang, er sprengt die alten zur Fessel gewordenen Bindungen und brachte eine märchenhafte Entfaltung der persönlichen Kräfte und sachlichen Leistungen im Bürgertum; er hat die Leibeigenschaft aufgehoben – ist das gering? Es gibt keinen Teufel, auch im Kapitalismus nicht. Es gibt nur Luzifer, den gefallen Engel, aber auch er ist aus Gottes Hand. Aber freilich, er ist gefallen.“101 Aber auch ein gefallener Engel lässt sich auf den rechten Weg zurückführen, wenn er nur umkehrt. Mit anderen Worten: die Marktwirtschaft lässt sich durch Sozialpolitik und Reformen gestalten. Insoweit unterscheiden sich Heimann und Tillich. Positiv gewendet könnte man formulieren, auch die Marktwirtschaft ist von Gott gestiftet. Wir, die zur Freiheit berufen sind, müssen sie nur positiv gestalten. Aber würde das nicht auch für jede andere Wirtschaftsordnung gelten? Erklären lässt sich die Aussage nur durch einen Vergleich mit Mennicke und Tillich, die den Kapitalismus stets als etwas Dämonisches qualifizierten.102 Darin und in der These, dass die Marktwirtschaft zum Wohl der Arbeiter fortentwickelbar ist, liegt der Hauptunterschied zwischen Heimann und Tillich. Vielleicht liegt das Verdienst der religiösen Sozialisten aber auch einfach darin, dass sie versucht haben, zwei damals wie heute für gegensätzlich erachtete Konzepte, das Christentum und den Sozialismus, miteinander zu vereinen. Zusammen mit den wenigen katholischen religiösen Sozialisten, aber vor allem mit den Solidaristen, haben sie manche positiven Ideen des Sozialismus, wie die Sozialbindung des Eigentums, auch in konservativen und die wichtigste Darstellung des Berliner Kreises religiöser Sozialisten“ bezeichnet, dann im Ergebnis doch deutliche Kritik, vgl. Sturm (Fn. 41), 28 m. Nachw. 99 Gal 5, 1 in der Fassung der Luther Bibel 2017 lautet: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 100 Heimann Religion und Sozialismus, Die Tat 1927 (Juli-Heft) – zitiert nach Ortlieb (Hrsg.), Heimann (Fn. 88), 25. 101 Heimann (Fn. 100), 25. 102 Vgl. ausführlich dazu bei Christophersen (Fn. 4), 65 (zu Mennicke) und 107 ff. (zu Tillich) sowie Tillich Kairos, 1926, 17.
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Kreisen nach 1945 salonfähig gemacht. Aber auch diese Hypothese bedürfte der Vertiefung. Sie kann im Folgenden nur noch mit einigen Schlaglichtern skizziert werden.
IV. Gibt es eine Fernwirkung? 1. Das Ahlener Programm der CDU Ahlen (Westf.), Februar 1947. Würde die vorstehend aufgestellte Hypothese zutreffen, könnte man sie ggf. am ehesten im sog. Ahlener „Parteiprogramm“ der CDU für die britische Zone dingfest machen, das bekanntlich einen klar antikapitalistischen Einschlag aufwies und Überlegungen aus der katholischen Soziallehre, aber auch aus der evangelischen Wirtschaftsethik aufgriff.103 Bereits zu Beginn des Programms heißt es: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“104 Anschließend wurde die Entflechtung eines großen Teils der Schlüsselindustrie und eine weitreichende Mitbestimmung der Arbeitnehmer gefordert.105 Teile in der CDU unter Führung von Karl Arnold (1901–1958), dem ersten frei gewählten Ministerpräsidenten in NRW, und von Jakob Kaiser (1888–1961) plädierten gar für einen Sozialismus aus christlicher Verantwortung. Ob und inwieweit auch die Vertreter des Kairos Kreises für derartige Forderungen Pate standen, wäre näher zu ergründen. Wahrscheinlicher ist aber wohl, einen Einfluss der wenigen religiösen Sozialisten innerhalb der katholischen Kirche und vor allem der mo103 Das Ahlener Programm ist allerdings weniger ein vollumfängliches Parteiprogramm, sondern eine „programmatische Erklärung zur Wirtschafts- und Sozialverfassung“, um sich für die im April 1947 anstehenden Wahlen im 1946 neugegründeten Bundesland Nordrhein-Westfalen von der SPD abzusetzen, vgl. Biermann Konrad Adenauer – ein Jahrhundertleben, 2017, 279. 104 Volltext des Ahlener Programms ist verfügbar unter https://www.kas.de (zuletzt besucht am 11.4.2020). 105 Vgl. näher zum Ganzen John Ahlener Programm und Bonner Republik, 1999; Biermann (Fn. 103), 278 ff.
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derateren und wirkungsmächtigeren Solidaristen als Speerspitze der katholischen Soziallehre zu Tage zu fördern.106 Doch bekanntlich ist vom Ahlener Programm wenig geblieben. Aus Sicht des damaligen Vorsitzenden der CDU in der britischen Zone, Konrad Adenauer (1876–1967), der auch bereits Fraktionsvorsitzender der CDU im ersten, von der britischen Besatzungsmacht ernannten Landtag NordrheinWestfalens war, handelte es sich auch eher um einen Betriebsunfall einer im Werden begriffenen Partei.107 Adenauer, für den Sozialismus und Freiheit in einem unauflöslichen Widerspruch standen, hatte bereits im Vorfeld den Begriff Sozialismus wegverhandelt. Er war durch Floskeln wie „gemeinwirtschaftliche Ordnung“ oder „praktische Solidarität“ ersetzt worden.108 Bereits zwei Jahre später war das Ahlener Programm Geschichte und wurde durch die Düsseldorfer Leitsätze vom 15. Juli 1949 abgelöst, die das wirtschaftliche und sozialpolitische Programm der CDU für die erste Bundestagswahl mit einem klaren Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft enthielten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war die Idee eines religiösen Sozialismus in der CDU ganz weitgehend zu den Akten gelegt. 2. Das Grundgesetz und seine Wirtschaftsverfassung Bonn sowie Herrenchiemsee, irgendwann zwischen September 1948 und Mai 1949. Versteht man den Begriff der Wirtschaftsverfassung eng im Sinne von Normen mit Verfassungsrang, die Wirtschaft in ihrer Gesamtheit ordnen, lässt sich die These aufstellen, dass das Grundgesetz – anders als noch die Weimarer Reichsverfassung (Art. 151–166 WRV) – keine Wirtschaftsverfassung kennt und somit auch keine bestimmte Wirtschaftsordnung vorgibt.109 Analysieren müsste man also, ob es eine atomisierte Fernwirkung in der Gemeinwohlklausel des Art. 14 Abs. 2 GG oder bei dem weitgehend bedeutungslosen Sozialisierungsvorbehalt in Art. 15 GG gegeben hat. Zu106 Zu ihnen vgl. etwa Hagedorn Kapitalismuskritische Richtungen im deutschen Katholizismus der Zwischenkriegszeit, in Casper/Gabriel/Reuter (Fn. 1), 111 (115 ff.) m. weit. Nachw. 107 Biermann (Fn. 103), 279 f. 108 Zum maßgeblichen Einfluss Adenauers auf das Ahlener Programm in Abwehr gegen noch weitergehende sozialistische Forderungen des linken Parteiflügels der CDU vgl. erstmals Hüttenberger Nordrhein-Westfalen und die Entstehung seiner parlamentarischen Demokratie, 1973, insbes. 79. 109 Die Auseinandersetzung mit der These von Nipperdey (Wirtschaftsverfassung und Bundesverfassungsgericht, 1960), dass aus Art. 2 Abs. 1, 14 GG und dem in Art. 20 GG verankerten Sozialstaatsprinzip ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft folge, soll hier nicht erneut geführt werden; vgl. dazu nur Durner in Maunz/Dürig GG, 87. Erg.Lief. 03/2019, Art. 15 Rn. 19 m. weit. Nachw. in Fn. 3 sowie Huber DÖV 1956, 172 (173); Schünemann, „Wirtschaftspolitische Neutralität“ des Grundgesetzes, FS Stober, 2008, S. 147 ff.
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mindest ein flüchtiges Screening einiger Kommentierungen zum GG legt den Befund nahe, dass einem derartigen Vorhaben wenig Erfolg beschieden sein würde, zumal Art. 14 Abs. 2 GG bereits einen Vorläufer in Art. 153 Abs. 1 S. 2 WRV hatte. Allenfalls die Vergesellschaftungsklausel in Art. 15 GG könnte einen Ansatz bieten, denn diese Vorschrift wird von vielen auch heute noch als Ausfluss der sozialistischen Idee zur Überwindung des Kapitalismus gesehen.110 Insoweit ließe sich ggf. eine Brücke zu Art. 155, 156 WRV ziehen, auf deren Grundlage die zweite Sozialisierungskommission eingesetzt wurde,111 in der auch einige Protagonisten unseres Kairos Kreises mitgewirkt hatten (vgl. oben II. 2.). Auch wenn man Art. 15 GG nicht als obsolet bezeichnen kann, so ist seine Funktion doch eher darauf begrenzt, den legislatorischen Rahmen aufzuzeigen, innerhalb dessen sich die praktizierte Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik bewegen könnte.112 Fabian Wittreck hat es noch deutlicher zum Ausdruck gebracht und Art. 15 GG als „Endmoräne der überparteilichen Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsphantasien von Sozial- und Teilen der Christdemokraten“ bezeichnet.113 Folglich dürfte eine Spurensuche nach einem atomisierten Einfluss der religiösen Sozialisten in den Wirtschaftsverfassungen der Länder vielversprechender sein, auch wenn man sich insoweit keiner übertriebenen Hoffnung hingegeben sollte. Aber immerhin enthalten die vorkonstitutionellen Landesverfassungen aus den Jahren 1946/47 teilweise detaillierte Vorgaben für eine Wirtschaftsverfassung, die heute freilich in ein kompetenzrechtliches Nirwana gefallen sind. Es handelt sich um die Landesverfassungen von Bayern, Baden, Württemberg-Hohenzollern, Rheinland-Pfalz und des Saarlandes. In einigen Vorschriften dieser Landesverfassungen ist der religiössozialistische oder sozialromantische Geist eines christlich geprägten Naturrechts noch häufiger zu spüren.114 So heißt es etwa in Art. 151 Abs. 1 BayVerf. bis zum heutigen Tage: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebhaltung aller Volksschichten.“ Noch deutlicher wird Art. 151 Abs. 2 S. 3 BayVerf.: „Die 110
Dreier/Wieland, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 15 Rn. 1; Ridder Enteignung und Sozialisierung, VVDStRL 10 (1952), 124 (134); ähnlich Papier/Shirvani in Maunz/Dürig GG, 83. Erg.-Lief. 04/2018, Art. 14 Rn. 57 f. 111 Ausführlicher dazu Wieland in Dreier GG, 3. Aufl. 2013, Art. 15 Rn. 3 ff. m. weit. Nachw. auch zur kontroversen Diskussion im parlamentarischen Rat, hier sowie Durner in Maunz/Dürig (Fn. 109), Art. 15 Rn. 5 f. 112 Ähnlich Wieland in Dreier GG, 3. Aufl. 2013, Art. 15 Rn. 1; Durner in Maunz/Dürig (Fn. 109), Art. 15 Rn. 18 ff., Axer in BeckOK GG, (Stand 1.12.2019) Art. 15 Rn. 5; Ridder VVDStRL 10 (1952), 124 (146 f.). 113 Wittreck Naturrecht in den deutschen Nachkriegsverfassungen, in Casper/Gabriel/Reuter (Fn. 1), 300 (320). 114 Weiterführend Wittreck (Fn. 113), 302 ff.
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wirtschaftliche Freiheit des einzelnen findet ihre Grenze in der Rücksicht auf den Nächsten und die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls.“ Doch hier nach Spurenelementen der Überlegungen der Protagonisten des Kairos Kreises zu suchen, ist aus zwei Gründen wenig vielversprechend. Zum einen sind mit Ausnahme der Verfassung von Württemberg-Hohenzollern alle Landesverfassungen in klar katholisch geprägten Bundesländern zu verorten. Insoweit lässt sich zwar eine klare Handschrift von Entwurfsverfassern mit einer Prägung in der katholischen Soziallehre ausmachen. Prominentes Beispiel ist die Vorarbeit des rheinland-pfälzischen Justizministers Adolf Süsterhenn (1905–1974), der ganz offen seine auf ein katholisch geprägtes Naturrecht zurückgehendes und um Elemente aus der katholischen Soziallehre erweitertes Vorverständnis in die Landesverfassung Rheinland-Pfalz hat einfließen lassen.115 Zum anderen basiert die katholische Soziallehre maßgeblich auf Vorarbeiten von Solidaristen wie Oswald v. Nell-Breuning (1890–1991) und seines Königswinterer Kreises.116 Die wenigen katholischen Sozialisten aus den Tagen der Weimarer Republik,117 die sich z.T. auch auf ihre evangelischen Brüder wie Heimann beriefen,118 haben insoweit allenfalls eine ganz untergeordnete Rolle gespielt. Nell-Breuning, der heute als einer der wichtigsten Väter der katholischen Soziallehre gilt, bescheinigte den religiösen Sozialisten sogar die „absolute politische Einflusslosigkeit“.119 3. Absorption der Katholischen Soziallehre und des Solidarismus durch den Rheinisch Capitalism bzw. die Soziale Marktwirtschaft Bonn, frühe 1950er Jahre. Der Nachweis von Spuren der katholischen Soziallehre und gar anderer Einflüsse wie der der religiösen Sozialisten endet, wenn auch nicht abrupt, so doch zügig in den frühen 1950er Jahren. Deren Einfluss gilt mit Beginn des Wirtschaftswunders spätestens ab Mitte der 1950er als überwunden. Wittreck hat dies wie folgt auf den Punkt gebracht: die „in dieser frühen Nachkriegsphase noch wirkmächtige Orientierung an neuthomistischem Naturrecht bzw. der sich damit überlappenden katholischen Soziallehre“ war „schon 1949 in dieser Dichte nicht mehr zu be115
Zum Einfluss Süsterhenns auf die Landesverfassung Rheinland-Pfalz vgl. weiterführend Foljanty Recht oder Gesetz – Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit, 2013, 116 ff.; Wittreck (Fn. 113), 300 (323, 325 f.) jew. m. weit. Nachw. auch zur Person Süsterhenns. 116 Zum nachhaltigen Einfluss der Solidaristen vgl. Hagedorn Kapitalismuskritische Richtungen im deutschen Katholizismus der Zwischenkriegszeit, in Casper/Gabriel/Reuter (Fn. 1), 111 (118 ff.) m. weit. Nachw. 117 Zu ihnen vgl. Hagedorn (Fn. 116), 115 ff. 118 Casper Was bleibt von der christlichen Kapitalismuskritik – Eine Spurenlese, in Casper/Gabriel/Reuter (Fn. 1), 412 f. 119 Nell-Breuning [Besprechung von] Volk und Reich der Deutschen, Deutsche Arbeit 15 (1930), 278 (280) – zitiert nach Hagedorn (Fn. 116), 116.
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obachten …. bzw. [ist] dem Modell der sozialen Marktwirtschaft (mit Betonung auf letzterer)“ gewichen.120 Die Richtigkeit dieses Befundes lässt sich besonders deutlich am Beispiel der unternehmerischen Mitbestimmung zeigen, die vielen als Ersatz für die nach 1945 nicht erfolgte Sozialisierung der Montanindustrie sowie anderer Schlüsselindustrien galt. In einer Gemengelage von betrieblicher, unternehmerischer und gesamtwirtschaftlicher Mitbestimmung setzte der 73. Katholikentag vom 31. August bis zum 4. September 1949, zwei Wochen nach der ersten Bundestagswahl, insoweit ein wichtiges Zeichen.121 Der Katholikentag war sorgfältig vorbereitet worden. Nach ausführlichen Beratungen122 lautete das Ergebnis: „Nach eingehender und freimütiger Aussprache wurde folgender Beschluss einstimmig gefasst: Der Mensch steht im Mittelpunkt jeglicher volkswirtschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Betrachtung. Das Mitbestimmungsrecht in sozialen, personalen und wirtschaftlichen Fragen für alle Mitarbeitenden wird anerkannt. Das Mitbestimmungsrecht gehört zu dem natürlichen Recht in gottgewollter Ordnung und ist zu bejahen wie das Recht auf Eigentum.“123 Auch wenn dieser Beschluss eine erhebliche mediale Breitenwirkung entfaltete und auch vom DGB aufgegriffen wurde,124 verlor dieser Schwung ab 1950 doch alsbald seine Dynamik. Das Montanmitbestimmungsgesetz von 1951 und die Drittelparität des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 (heute Drittelbeteiligungsgesetz) als Standard für den Rest der Wirtschaft war alles, was dem „Alten aus Röhndorf“ und dem zunehmend stärker werdenden konservativen Flügel der CDU mühsam abgerungen werden konnte. Bis zum Mitbestimmungsgesetz von 1976 war der Weg bekanntlich noch weit und setzte einen Regierungswechsel voraus. Im Bundeswirtschaftsministerium der 1950er bestand ein guter Draht zur Freiburger Schule, die die Ausgestaltung der sozialen Marktwirtschaft Erhard‘scher Prägung maßgeblich prägte. In dieser Phase noch auf Spuren der Diskussionen im Kairos Kreis bzw. der Schriften ihrer Mitglieder zu stoßen, dürfte als aussichtslos gelten. Eine Ausnahme mag allenfalls Alexander Rüstow darstellen, der inzwischen gute Kontakte zur Freiburger Schule unterhielt. Rüstow stand zudem der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirt120
Wittreck (Fn. 113), 300 (327). Zum Ablauf und den Wirkungen der Mitbestimmungsdiskussion auf dem 73. Katholikentag vgl. Krämer Die Mitbestimmungsinitiative des Bochumer Katholikentages 1949 für eine Wirtschaftsordnung aus christlicher Überzeugung, in Casper/Gabriel/Reuter (Fn. 1), 337 sowie Lauschke Die Mitbestimmungsdiskussion im DGB und Bochumer Katholikentag, in Casper/Gabriel/Reuter (Fn. 1), 367 und ferner Casper Einflüsse der katholischen Soziallehre auf das Aktienrecht am Beispiel von zwei Schlaglichtern, FS Baums, 2017, 193 (206 ff.) 122 Zu den Details vgl. Krämer (Fn. 121), 351 ff. 123 Krämer (Fn. 121) S. 356. 124 Dazu eingehend Lauschke (Fn. 121), 378 ff. 121
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schaft vor, die wir heute als Thinktank bezeichnen würden. Mit ihr wurde er zum Sprachrohr vieler Vertreter des Ordoliberalismus. Dieser Einfluss basierte indes auf seinen Schriften ab Mitte der 1920er Jahre, also nach dem Bruch mit den im Kairos Kreis vertretenen Positionen oder – um nochmals Eduard Heimann zu zitieren – als er eine „liberal-demokratisch[e Position] in einem ziemlich radikalen Sinn“125 eingenommen hatte. Den wenigen (neuen) religiösen Sozialisten, die in den 1950er und 1960/70er Jahren wohl ausschließlich im protestantischen Lager anzutreffen waren, war eine vergleichbare Außenwirkung wie dem Kairos Kreis nicht mehr beschieden.126 Ihnen kann mit Fug und Recht ohne weitere Analyse die „absolute politische Einflusslosigkeit“127 attestiert werden. Letztendlich dürfte sich aber auch bei noch näherer Untersuchung der Schriften der Mitglieder des Kairos Kreises kein signifikant anderer Befund ergeben.
V. Epilog Münster, Ostermontag 2020. Das Papier, das Gäste im Kairos-Haus der Jubilarin aufzufüllen hatten, wird immer mehr zur Mangelware, aber immerhin, der Beitrag ist doch noch fertig geworden. Der Berliner Kairos Kreis der frühen 1920er Jahre war ein loser Gesprächskreis ohne einheitliches Programm oder klares Konzept. Es handelte sich um einen bunten, disparaten Haufen junger aufstrebender Intellektueller mit reichlich Ego, die eine Sturm- und Drang-Phase durchliefen. Gleichwohl hat der Kreis auch heute noch lesenswerte Beiträge zu der Debatte der 1920er um die Ausgestaltung eines gerechten Wirtschaftssystems im Allgemeinen und des Sozialismus im Besonderen beigetragen. Eine Fernwirkung könnte allerdings allenfalls dann konstatiert werden, wenn man die Schriften einzelner Protagonisten wie Tillich, Wolfers, Mennicke oder Heimann noch näher analysiert und der Frage nachspürt, ob diese Überlegungen nach 1945 rezipiert worden sind. Die hier vorgelegte Skizze konnte nur mit wenigen Pinselstrichen andeuten, dass dies auch bei einer näheren Analyse nicht wirklich zu erwarten ist. Nach 1945 haben die aus Deutschland vertriebenen Mitglieder des Kairos Kreises ihre Stimme nicht mehr einbringen können – oder wollten dies auch nicht mehr. Überwiegend hatten sie sich aber auch längst vom religiösen Sozialismus gelöst.
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Heimann in Amelung (Fn. 3), 215. Zu ihnen vgl. ausführlich Brunner Vom reichen Christen und dem armen Lazarus – Auseinandersetzungen über Marxismus und Sozialismus in der evangelischen Sozialethik nach 1945, in Casper/Gabriel/Reuter (Fn. 1), 237 ff. 127 Vgl. oben Nell-Breuning (Fn. 119) zum Einfluss der katholischen religiösen Sozialisten in der Weimarer Zeit. 126
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Berlin, 11.12.2020 (hoffentlich, und wenn möglich ohne Abstand). Auch wenn der Kairos Kreis bei der Namenswahl des Hauses der Jubilarin auf den Outer Banks nicht Pate gestanden hat, gingen seine Mitglieder doch davon aus, dass auch nach dem Umbruch im November 1918 die Umstände für eine Neuordnung des Wirtschaftssystems günstig standen. Auch wenn sich viele ihrer Ideen gottlob nicht verwirklicht haben, hat sich dieser Blick über den Tellerrand doch gelohnt. Er hat uns gezeigt, welche Kraft im wissenschaftlichen Diskurs liegen kann. Es ist zwar nicht verbrieft, dass der Kairos Kreis gerade am 11.12.1920 getagt hat, aber ungefähr 100 Jahre vor der Übergabe dieser Festschrift haben seine Mitglieder in Berlin um ihre Positionen gerungen und gestritten. Der Jubilarin bleibt deshalb nur noch zu wünschen, dass ihr noch manche Kairos Momente vergönnt sein mögen, sie aber in jedem Fall noch viele Jahre mit uns um den richtigen Weg im Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht ringen und unsere Debatten durch ihre klugen Beiträge bereichern möge. Ad multos annos, liebe Frau Windbichler.
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Danger Mouse im Kraftwerk
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Danger Mouse im Kraftwerk – Grauzonen zwischen Kunstfreiheit und Urheberrecht KATHARINA DE LA DURANTAYE
I. The Mouse That Remixed Es ist wohl bekannt: Christine Windbichler ist die Maus, und die Maus liebt Musik. Diese Leidenschaft teilt sie mit einem Artgenossen aus ihrer zweiten Heimat, den U.S.A. 2004 veröffentlichte DJ Danger Mouse dort sein „The Grey Album“ – ein Mashup aus Samples von dem üblicherweise „The White Album“ genannten Album „The Beatles“ der Beatles und einer a cappella-Version von „The Black Album“ des Rappers Jay-Z. Eigentlich hatte Danger Mouse nur 3.000 Exemplare produzieren wollen. Die Freunde, die „The Grey Album“ vorab gehört hatten, teilten es aber digital mit immer mehr Menschen. Nachdem der New Yorker über das Album berichtet hatte („The Mouse That Remixed“),1 wurden auch Jay-Z und die Beatles darauf aufmerksam. Jay-Z war begeistert: “I think it was a really strong album. I champion any form of creativity, and that was a genius idea – to do it. … I was honored to be on, you know – quote-unquote – the same song with the Beatles.“2 Er hatte seine a cappella-Version produziert und veröffentlicht, um Mashups und andere Remixes zu ermöglichen. Auch Ringo Starr und Paul McCartney sahen die Sache gelassen. Letzterer würde später sagen: „It was really cool when hip-hop started, you would hear references in lyrics, you always felt honored. It’s exactly what we did in the beginning – introducing black soul music to a mass white audience. It’s come full circle. It’s – well – cool. When you hear a riff similar to your own, your first feeling is ‘rip-off.’ After you’ve got over it you think, ‘Look at that, someone’s noticed that riff.’ … I didn’t mind when something like that happened with ‘The Grey Album’.”3 1 Abrufbar unter https://www.newyorker.com/magazine/2004/02/09/the-mouse-thatremixed. 2 National Public Radio, Jay-Z: The Fresh Air Interview, 16. November 2010, abrufbar unter https://www.npr.org/transcripts/131334322?storyId=131334322&t=1585232700003 ?storyId=131334322&t=1585232700003. 3 BBC, The Beatles and Black Music, 31. Oktober 31, 2010, abrufbar unter https:// www.bbc.co.uk/programmes/b00vfgvw.
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EMI sah die Sache anders. Weil Danger Mouse sie nicht um Zustimmung gebeten hatte, forderte EMI ihn und die Händler, die das Album anboten, zur Unterlassung auf. Musikaktivisten organisierten daraufhin einen „Grey Tuesday“.4 Am Dienstag, den 24. Februar 2004, boten rund 170 Webseiten das Album 24 Stunden lang zum kostenlosen Download an; es wurde über 100.000 Mal heruntergeladen. Wegen des großen öffentlichen Gegenwinds entschied sich EMI letztlich, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Entertainment Weekly krönte „The Grey Album“ später zum Album des Jahres 2004.5 Nach wie vor ist die Danger Mouse ein fester Bestandteil US-amerikanischer Urheberrechtsvorlesungen. Der Fall zeigt anschaulich, dass zwischen urheberrechtlichen Normen auf der einen und sozialen, vor allem künstlerischen, Normen auf der anderen Seite bisweilen große Unterschiede bestehen. Und er bietet Anlass darüber nachzudenken, wie sehr das Urheberrecht sozialen Normen Rechnung tragen und ob es für unterschiedliche künstlerische Ausdrucksformen unterschiedliche Regeln bereithalten sollte.
II. Der Trans Europa Express In Deutschland werden diese Fragen anhand eines Falles diskutiert, der die Gerichte seit Ende der 90er Jahre beschäftigt. Kläger sind die beiden Gründer der Düsseldorfer Elektroband Kraftwerk; 2014 erhielt Kraftwerk gemeinsam mit den Beatles einen Grammy Award für ihr Lebenswerk.6 Ihre Stücke gehören zu den meistgesampelten der Welt.7 Auch Jay-Z hat sich bei Kraftwerk bedient.8 Beklagter ist mit Moses Pelham ein ehemaliges Mitglied des Rödelheim Hartreim Projekt. Für die Produktion von Sabrina Setlurs Lied „Nur mir“ verwendete er ein zwei Sekunden langes Sample einer Rhythmussequenz von Kraftwerks „Metall auf Metall“. Das Stück war 1977 auf dem Album „Trans Europa Express“ erschienen. Das Sample unterlegte Pelham „Nur mir“ als Loop (Endlosschleife). Weil die Sequenz wegen ihrer Kürze höchstwahrscheinlich keinen urheberrechtlichen Schutz genoss,9 entschieden sich die Gründer von Kraftwerk, vorrangig eine Verletzung ihres Tonträgerherstellerrechts (§ 85 UrhG) gel4
http://downhillbattle.org/greytuesday/. Aktuell ist das Album abrufbar unter https://archive.org/details/DjDangerMouseTheGreyAlbum/01PublicServiceAnnouncement.mp3. 6 https://www.grammy.com/grammys/news/lifetime-achievement-award-beatles. 7 Eine Übersicht findet sich unter https://www.whosampled.com/Kraftwerk/. 8 https://www.whosampled.com/Kraftwerk/. Vgl. dazu auch Thonemann/Farkas ZUM 2019, 748, 749. 9 Dazu im Verfahren auch LG Hamburg BeckRS 2013, 7726. 5
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tend zu machen.10 Dieser Weg stand ihnen offen, denn Pelham hatte die Sequenz nicht nachgebaut, sondern den Originaltonträger verwendet. Pelham war der Ansicht, dass die Übernahme kleinster Teile eines Tonträgers nicht das Ausschließlichkeitsrecht des Tonträgerherstellers verletze. In jedem Fall sei seine Verwertung der Sequenz aber gerechtfertigt, weil sie in freier Benutzung (§ 24 Abs. 1 UrhG) des gesampelten Werkes erfolgt sei. Nachdem der BGH zweimal über den Fall geurteilt hatte,11 kam das BVerfG zum Zug. Es verwies den Fall an den BGH zurück und garnierte sein Urteil mit Vorgaben für eine mögliche Vorlage an den EuGH.12 Dieser Einladung folgend, legte der BGH dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor.13 Mitte 2019 fällte die Große Kammer des EuGH – zeitgleich mit zwei anderen Urteilen, die verwandte Fragen betrafen14 – ihr mit Spannung erwartetes Urteil.15 Der EuGH nahm den Fall zum Anlass für grundlegende Aussagen zum Zusammenspiel von europäischen und nationalen Grundrechten, ihrer Einwirkung auf das einfache Recht und der Reichweite von Verwertungsrechten sowie gesetzlichen Erlaubnistatbeständen. 1. Radio-Aktivität16 Für den Ausgleich widerstreitender Grundrechtspositionen verfügt das materielle Urheberrecht über drei mögliche Stellschrauben – die Bestimmung des Schutzgegenstands, des Umfangs der Ausschließlichkeitsrechte und der Reichweite der Schrankenregelungen.17 Schutzgegenstand und Ausschließlichkeitsrechte betrachtet der EuGH gemeinsam. Ob ein Teil eines Tonträgers – etwa eine Rhythmussequenz von zwei Sekunden Länge – Schutz genieße, hänge von dem betroffenen Ausschließlichkeitsrecht ab. Die Vervielfältigung sehr kurzer Audiosegmente stelle, so das Gericht, eine teilweise Vervielfältigung des Tonträgers im Sinne des Art. 2 lit. c) InfoSoc-Richtlinie dar. Die Entnahme eines solchen Tonfragments sei aber ausnahmsweise ohne Zustimmung des Tonträgerherstel10
BGH GRUR 2013, 614 Rn. 8 f. – Metall auf Metall II. BGH GRUR 2009, 403 – Metall auf Metall I; BGH GRUR 2013, 614 – Metall auf Metall II. 12 BVerfG GRUR 2016, 690 – Metall auf Metall. 13 BGH GRUR 2017, 895 – Metall auf Metall III. 14 EuGH GRUR 2019, 934 – Funke Medien NRW/Deutschland; EuGH GRUR 2019, 940 – Spiegel Online/Volker Beck. Vgl. dazu nur Dreier GRUR 2019, 1003 ff. 15 EuGH GRUR 2019, 929 – Pelham/Hütter. 16 Radio-Aktivität ist der Titel eines Albums, das Kraftwerk 1975 veröffentlicht hat und das den Übergang der Band von Krautrock zu Elektropop markiert. Die Vorderseite besteht aus einer stilisierten Zeichnung des Volksempfänger-Modells „Deutscher Kleinempfänger“. Viele der Lieder beschäftigen sich denn auch mit Rundfunk und also mit der Verwertung bzw. dem Empfang von Werken. 17 Dazu in diesem Zusammenhang auch Grünberger ZUM 2020, 175, 195. 11
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lers zulässig, wenn sie in Ausübung der Kunstfreiheit (Art. 13 S. 1 GRCh) erfolge, „um es in geänderter und beim Hören nicht wiedererkennbarer Form in einem neuen Werk zu nutzen“.18 Sampling sei von der Kunstfreiheit erfasst.19 Das Verbreitungsrecht des Tonträgerherstellers nach Art. 9 Abs. 1 lit. b) Vermiet- und Verleihrechts-RL hingegen sei nur dann betroffen, wenn alle oder ein quantitativ wesentlicher Teil der in einem Tonträger festgelegten Töne übernommen würden; nur dann würden die rechtmäßigen Exemplare des Tonträgers ersetzt, so dass eine Kopie des Tonträgers vorliege.20 Im Ergebnis bedeutet dies: Sampling verstößt nicht gegen das Verbreitungsrecht des Tonträgerherstellers. Gegen sein Vervielfältigungsrecht verstößt es dann, wenn das Sample wiedererkennbar ist.21 Wann ein Tonfragment wiedererkennbar ist, ob etwa auf das feine Ohr einer Liebhaberin der bestimmten Musikrichtung abzustellen ist, auf einen durchschnittlichen Hörer eben dieser Richtung oder auf einen durchschnittlichen Hörer von Musik allgemein, erörtert das Gericht nicht explizit. Der EuGH gibt aber ökonomische Grundpfeiler vor, aus denen sich mittelbar ergibt, welches Publikum relevant ist: Die Entnahme eines kurzen Fragments stelle keinen Eingriff in das Vervielfältigungsrecht des Tonträgerherstellers dar, weil es ihm nicht die Möglichkeit nehme, einen zufriedenstellenden Ertrag aus seinen Investitionen zu erzielen.22 Hier greift der EuGH die Erwägungen des BVerfG auf. Es hatte geurteilt, dass Sampling erst dann in das Tonträgerherstellerrecht eingreife, wenn die wirtschaftlichen Interessen des Herstellers in erheblichem Maße betroffen seien.23 Ein Absatzrückgang sei nur zu befürchten, wenn das neu geschaffene Werk dem gesampelten Tonträger so ähnlich sei, dass es mit diesem in Konkurrenz trete.24 Maßgeblich ist nach beiden Gerichten mithin, ob das Sample den gesampelten Tonträger substituiert.25 Ohly spricht insofern von 18
EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 31 ff. – Pelham/Hütter. EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 35 – Pelham/Hütter. Das entspricht der Wertung des BVerfG zu Art. 5 Abs. 3 GG in BVerfG GRUR 2016, 690 Rn. 89 f. – Metall auf Metall. 20 EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 46 – Pelham/Hütter. 21 Leistner GRUR 2019, 1008, 1009 weist zutreffend darauf hin, dass das Kriterium der Erkennbarkeit des Samples für die Reichweite des Schutzes des Tonträgerherstellerrechts sachfremd ist, weil nur die musikalische Gestaltung durch den Urheber oder ausübenden Künstler, nicht aber die Investition des Tonträgerherstellers erkennbar sein kann. Vgl. auch Stumpf GRUR Int. 2019, 1092, 1093 f. 22 EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 38 – Pelham/Hütter. 23 BVerfG GRUR 2016, 690 Rn. 101 f. – Metall auf Metall. 24 BVerfG GRUR 2016, 690 Rn. 102 – Metall auf Metall. 25 Korrekt verstanden, stellt damit die Voraussetzung, nach der das Sample „in geänderter … Form“ genutzt worden sein muss, kein zusätzliches Tatbestandsmerkmal dar: Ein Sample, das nicht wiedererkennbar ist, kann das gesampelte Werk auch dann nicht substituieren, wenn es nicht verändert wurde. Vgl. auch Apel MMR 2019, 601, 602; Stumpf GRUR Int. 2019, 1092, 1094; Thonemann/Farkas ZUM 2019, 748, 750. 19
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einer „marktfunktionale[n] Mindestschwelle“.26 Ein Sample ist also nicht bereits dann wiedererkennbar, wenn ein Musikwissenschaftler die Übernahme bemerkt, womöglich sogar erst nach mehrfachem Hören, sondern nur, wenn der durchschnittliche Hörer der betreffenden Musikrichtung das Sample wiedererkennt, ohne vorher auf die Übernahme hingewiesen worden zu sein.27 Die Argumentation der Gerichte erinnert an den besonders einflussreichen vierten Faktor der US-amerikanischen fair use defense (section 107 U.S. Copyright Act).28 Danach ist bei der Frage, ob die zustimmungsfreie Nutzung eines geschützten Werkes rechtmäßig ist, insbesondere auf den „effect of the use upon the potential market for or value of the copyrighted work“ abzustellen. Generalanwalt Szpunar hatte in seinem Schlussantrag noch festgestellt, dass derartige Überlegungen im europäischen Recht keine Anwendung fänden.29 Er hatte dabei auf VMG Salsoul, LLC v. Ciccone verwiesen.30 Darin hatte der U.S. Court of Appeals for the 9th Circuit geurteilt, Madonna habe keine Urheberrechtsverletzung begangen, als sie ihr Lied „Vogue“ mit einem Hornsegment aus dem Lied „Love Break“ eines anderen Urhebers unterlegt habe. Die Nutzung sei de minimis;31 der durchschnittliche Hörer („general audience“) könne das Segment nicht wiedererkennen. 2. Kling Klang Machine Das US-amerikanische Recht verfügt mit der fair use defense über eine zentrale, sehr offen gehaltene und also flexible Beschränkung des Urheberrechts, innerhalb derer die Grundrechtsabwägung im Wesentlichen erfolgt. Wie soeben gesehen, lässt der EuGH bereits bei der Bestimmung der Reichweite der Ausschließlichkeitsrechte Faktoren in die rechtliche Bewertung einfließen, die Gerichte in den USA üblicherweise erst bei der Untersuchung der Rechtfertigung eines etwaigen Eingriffs für relevant erachten. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Abwägung zwischen den Interessen und Rechten der Inhaber von Urheber- bzw. Leis26
Ohly GRUR 2017, 964, 966. Vgl. auch Apel MMR 2019, 601, 602; Grünberger ZUM 2020, 175, 182. A.A. Leistner GRUR 2019, 1008, 1010: Der EuGH schaffe lediglich eine „Art ‚Totalverblassens‘Formel“; für den Ausgleich der widerstreitenden Interessen dienten laut Gericht alleine die Schranken. 28 Dazu auch Thonemann/Farkas ZUM 2019, 748, 749 f. 29 GA Szpunar ZUM 2019, 237 Rn. 31 – Pelham/Hütter. Vgl. auch Grünberger ZUM 2019, 281, 284 f. 30 VMG Sasoul, LLC v. Ciccone, No. 13-57104 (9th Cir. 2016). 31 Für einen Überblick der Rechtsprechung unterschiedlicher Gerichte zu diesem Kriterium Apel ZGE 2010, 331. Dass der EuGH in Pelham/Hütter keine de minimis-Regel aufstellt, beklagt zurecht Leistner GRUR 2019, 1008, 1009. A.A. Apel MMR 2019, 601, 602. Vgl. auch Ohly GRUR 2017, 964, 966. 27
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tungsschutzrechten auf der einen und den Interessen und Rechten der Nutzer sowie dem Interesse der Allgemeinheit auf der anderen Seite32 auch im Urheberrecht Deutschlands und der EU vor allem auf Ebene der gesetzlichen Erlaubnistatbestände stattfindet. Ökonomische Erwägungen spielen dabei klassischerweise eine deutlich geringere Rolle als in den USA. Das Urteil des EuGH stellt keine Ausnahme dar. Bei der Erörterung der Schranken argumentiert das Gericht nicht ökonomisch. Dabei hätte nahegelegen, dass das Gericht, nach dessen Ansicht die Vervielfältigung eines nicht wiedererkennbaren Tonfragments nicht in das Recht des Tonträgerherstellers eingreift, weil sie für ihn ökonomisch irrelevant ist, auch für relevant erachtet, ob die Nutzung eines Fragments, das wiedererkennbar ist, tatsächlich zu wirtschaftlichen Einbußen beim Rechteinhaber geführt hat. In diesem Zusammenhang hätte sich der EuGH mit einer aktuellen Studie aus den USA auseinandersetzen können, nach der (wiedererkennbare) Samples die Nachfrage nach dem Originalwerk nicht schmälern, sondern signifikant steigern.33 In der Logik des EuGH unterliegen Nutzer von Samples mithin einer Art Gefährdungshaftung. Sie können sich nur exkulpieren, wenn ein ökonomischer Nachteil bereits abstrakt nicht denkbar ist. Der Nachweis, dass eine Nutzung die Einnahmen des Rechteinhabers im konkreten Fall nicht verringert, sondern womöglich sogar erhöht hat, vermag sie hingegen nicht zu entlasten. In den USA ist dies anders; dort trägt der Rechteinhaber des genutzten Werks die Beweislast dafür, dass die Vervielfältigung den Wert seines Werkes geschmälert hat. Pelham und Co. haben denn auch vor allem nicht ökonomische Argumente ins Feld geführt. Im vorliegenden Fall war insbesondere fraglich, ob sie sich auf eine Grundrechtsabwägung außerhalb der in der InfoSoc-Richtlinie genannten Schrankenregelungen stützen durften. Für das deutsche Recht ist dies insbesondere deswegen relevant, weil es mit § 24 Abs. 1 UrhG über eine Norm verfügt, die sich entweder als immanente Begrenzung des Schutzbereichs des Urheberrechts oder aber als Schrankenregelung lesen lässt, und die kein Pendant in der InfoSoc-Richtlinie hat. Danach darf ein selbständiges Werk, das in freier Benutzung eines anderen geschaffen worden ist, ohne Zustimmung des Urhebers des benutzten Werkes veröffentlicht und verwertet werden. Frei ist eine Benutzung dann, wenn „angesichts der Eigenart des neuen Werkes die entlehnten eigenpersönlichen Züge des geschützten Werkes verblassen“.34 Dafür muss das benutzte Werk nicht unbedingt verändert werden. Auch eine unveränderte Übernahme kann die Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 UrhG erfüllen, wenn das neue, selbständige Werk einen inneren Abstand zum bearbei32
EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 32 – Pelham/Hütter. Schuster/Mitchell/Brown 56 Am. Bus. L.J. 177, 201 ff. (2019). 34 BGH GRUR 1994, 206 – „Alcolix“. 33
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teten Werk aufweist.35 Je nach Fallgestaltung können die Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 UrhG beim Sampling mithin erfüllt sein.36 Der EuGH wertet § 24 Abs. 1 UrhG als Schranke37 und urteilt, dass die Schranken der InfoSoc-Richtlinie abschließend seien.38 Sonst sei das Binnenmarktziel gefährdet.39 Mitgliedstaaten müssten Art. 5 InfoSoc-RL zwar nicht umsetzen, sie dürften aber die Ausschließlichkeitsrechte nicht auf andere als die dort genannte Weise beschränken.40 Entschieden sie sich, eine der Schranken ins nationale Recht zu übernehmen, müssten sie sicherstellen, dass das nationale Recht alle Tatbestandselemente der betreffenden Schranke enthielte.41 Eine Nutzung, die eine Vervielfältigung darstellt und nicht unter eine der enumerierten Schrankenregelungen der InfoSoc-Richtlinie fällt, lässt sich also nicht durch eine Grundrechtsabwägung außerhalb der Schranken rechtfertigen. Damit ist § 24 Abs. 1 UrhG in seiner jetzigen Form europarechtswidrig.42 Ob bei der Abwägung die Grundrechte des Grundgesetzes oder jene der Grundrechtecharta zur Anwendung kommen, hängt nach der Rechtsprechung des BVerfG davon ab, wie weit der betreffende Bereich europarechtlich harmonisiert ist.43 Soweit eine Richtlinie keinen Umsetzungsspielraum belässt, ist die Grundrechtskonformität am Maßstab der Grundrechtecharta zu prüfen.44 Bestehen hingegen Umsetzungsspielräume, ist das Grundgesetz primärer Prüfungsmaßstab.45 Diese Unterscheidung sanktioniert der EuGH, sofern die Anwendung der nationalen Grundrechte das Schutzniveau der Charta, wie der EuGH sie auslegt, nicht unterschreitet, und Vorrang, Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt.46 Im Übrigen führt er aus, dass das Vervielfältigungsrecht vollharmonisiert sei,47 während 35
BGH MMR 2000, 695, 696. Zur Anwendbarkeit des § 24 Abs. 1 UrhG auf Fan Fiction Stieper AfP 2015, 301. 37 Zur Frage, ob der EuGH den Charakter der Norm damit korrekt erfasst hat, etwa Stumpf GRUR Int. 2019, 1092, 1093. 38 EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 58 – Pelham/Hütter. Vgl. dazu BGH GRUR-RS 2020, 12924 Rn. 32 ff. – Metall auf Metall IV. 39 EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 63 – Pelham/Hütter. 40 Dazu EuGH GRUR 2019, 934 Rn. 64 – Funke Medien NRW/Deutschland; EuGH GRUR 2019, 940 Rn. 49 – Spiegel Online/Volker Beck. 41 Dazu EuGH GRUR 2019, 934 Rn. 63 – Funke Medien NRW/Deutschland; EuGH GRUR 2019, 940 Rn. 48 – Spiegel Online/Volker Beck. 42 Vgl. nur Leistner GRUR 2019, 1008, 1111; Grünberger ZUM 2020, 175, 183 f. Einen möglichen Weg aus diesem Dilemma zeigt Schulze GRUR 2020, 128 auf. 43 Vgl. dazu Grünberger ZUM 2020, 175, 195 ff. 44 BVerfG GRUR 2016, 690 Rn. 115 – Metall auf Metall. Zur Prüfungskompetenz des BVerfG im vollharmonisierten Bereich BVerfG GRUR 2020, 88 Rn. 52 ff. – Recht auf Vergessen II. 45 Vgl. dazu auch BVerfG ZUM 2020, 74 Rn. 43 f., 49 ff. – Recht auf Vergessen I. 46 EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 80 – Pelham/Hütter. 47 EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 83 f. – Pelham/Hütter. 36
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bei den Schranken gewisse Umsetzungsspielräume bestünden.48 Bei der Auslegung der Schranken müssten die Mitgliedstaaten die praktische Wirksamkeit der Schranken wahren und ihre Zielsetzung beachten.49 Weil die Schranken die subjektiven Rechte der Unionsbürger aus der GRCh konkretisieren, sind sie mithin grundsätzlich weit auszulegen.50 Für die traditionelle deutsche Urheberrechtsdogmatik stellt dies einen grundstürzenden Wandel dar. Darüber hinaus macht der EuGH inhaltliche Vorgaben insbesondere zur Zitatschranke im Sinne des Art. 5 Abs. 3 lit. d) InfoSoc-Richtlinie.51 Ein Zitat erfordere, dass der Nutzer das urheberrechtlich geschützte Werk oder Teile davon verwende, um eigene Aussagen zu erläutern, eine Meinung zu verteidigen oder eine geistige Auseinandersetzung zwischen dem Werk und seinen eigenen Aussagen zu ermöglichen.52 Der Schranke unterfallen könne ein Zitat nur dann, wenn das zitierte Werk der Öffentlichkeit rechtmäßig zugänglich gemacht wurde, das Zitat nur so weit gehe, wie es für den verfolgten Zweck erforderlich sei, sich innerhalb der „anständigen Gepflogenheiten“ halte und die normale Verwertung nicht ungebührlich beeinträchtige.53 Laut EuGH kann auch ein Sample ein Zitat darstellen.54 Die Bedeutung des Begriffs „Zitat“ sei abhängig von dem Kontext, in dem das Werk genutzt werde.55 Beim Textzitat etwa verlangt das Gericht eine direkte und enge Verknüpfung zwischen dem zitierten Werk und den eigenen Überlegungen des Zitierenden.56 Bei Sampling hingegen erfordert der Zitatzweck laut EuGH (nur) eine Interaktion des Nutzers mit dem zitierten Schutzgegenstand.57 Eine solche Interaktion hält das Gericht, anders als der Generalanwalt, mithin grundsätzlich für möglich. Szpunar hatte in seinen Schlussanträgen vertreten, jemand, der ein Lied sampele, habe nicht das Ziel, mit dem benutzten Werk in einen Dialog zu treten, sondern eigne sich die verwendeten Teile an.58 Er verwende sie als Rohmaterial, indem er sie als nicht 48 Zu Recht betont Stieper ZUM 2019, 713, 716, dass diese Spielräume in der Praxis nicht allzu groß sein werden. 49 EuGH GRUR 2019, 934 Rn. 51 – Funke Medien NRW/Deutschland. 50 Vgl. EuGH GRUR 2019, 934 Rn. 75 – Funke Medien NRW/Deutschland: Mit Blick auf Art. 11 GRCh misst das Gericht Art. 5 Abs. 3 lit. c) InfoSoc-Richtlinie einen deutlich weiteren Anwendungsbereich bei, als der BGH dies bei § 50 UrhG getan hatte. Vgl. auch Dreier GRUR 2019, 1003, 1005; Stieper ZUM 2019, 713, 715. 51 Stieper ZUM 2019, 713, 719 beklagt berechtigterweise, dass der EuGH keine Aussagen zu Art. 5 Abs. 3 lit. k) InfoSoc-Richtlinie getroffen hat. 52 EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 71 – Pelham/Hütter. Vgl. auch EuGH GRUR 2019, 940 Rn. 78 – Spiegel Online/Volker Beck. 53 EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 67 ff. – Pelham/Hütter. 54 EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 72 – Pelham/Hütter. 55 Dazu Grünberger ZUM 2018, 321, 323 f. 56 EuGH GRUR 2019, 940 Rn. 79 – Spiegel Online/Volker Beck. 57 EuGH GRUR 2019, 929 Rn. 71 – Pelham/Hütter. 58 GA Szpunar ZUM 2019, 237 Rn. 67.
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erkennbare wesentliche Bestandteile in das neue Werk einfüge und dabei häufig so verändere und vermische, dass sie ihre ursprüngliche Integrität verlören. Die Kunstfreiheit gem. Art. 13 GRCh gebietet es nach EuGH mithin, den Eigenarten der betreffenden Kunstgattung bei der Auslegung von Art. 5 Abs. 3 lit. d) InfoSoc-Richtlinie Rechnung zu tragen. Bei den allermeisten Textgattungen lässt sich eine Auseinandersetzung explizit ausbuchstabieren, ohne die Regeln der Gattung zu verletzen.59 Bei vielen Stilen der Musik ist eine derartige direkte Verknüpfung hingegen nicht möglich.60 Damit sind das Schutzniveau des Unionsrechts und jenes der Grundrechte des Grundgesetzes gleich.61 Das BVerfG hatte geurteilt, dass Art. 5 Abs. 3 GG eine „kunstspezifische Betrachtung“ erfordere.62 Für den Hip-Hop seien Samples stilprägend: Der „direkte Zugriff auf das Originaltondokument ist – ähnlich wie bei der Kunstform der Collage – Mittel zur ‚ästhetischen Reformulierung des kollektiven Gedächtnisses kultureller Gemeinschaften‘63 und wesentliches Element eines experimentell synthetisierenden Gestaltungsprozesses.“64 Wo Samples stilprägend seien, dürfe ihr Einsatz nicht unzumutbar erschwert werden. Würde das Recht Hip-Hop-Künstler verpflichten, Tondokumente nachzubauen, könne dies eine abschreckende Wirkung entfalten.65 Interessanterweise werden also die Grundrechte sowohl beim EuGH als auch beim BVerfG zu einem Werkzeug, um das Urheberrecht auf eine Weise auszudifferenzieren, dass es den Bedürfnissen und Eigengesetzlichkeiten unterschiedlicher Kunstformen in gewissem Umfang Rechnung tragen kann. Damit setzen die Gerichte eine Forderung um, die in den letzten beiden Jahrzehnten zu Recht immer lauter vorgetragen wird: Das Urheberrecht muss umweltsensibler werden. Im analogen Zeitalter fristete das Fach ein Nischendasein, weil es im Wesentlichen die Vertreter einer überschaubar großen Unterhaltungsbranche betraf. Heute ist Urheberrecht Alltagsrecht. Digitale Informationstechnologien ermöglichen nicht nur massenhafte Vervielfältigung und Verbreitung urheberrechtlich geschützter Werke, sondern schaffen – wie das BVerfG betont – zugleich zusätzliche Möglichkeiten, das kulturelle Gedächtnis ästhetisch umzuarbeiten. Diese Formen künstlerischen Ausdrucks genießen auch dann Schutz, wenn sich ihre Gesetzmäßig59
Eine Ausnahme mag etwa für bestimmte lyrische Formen gelten. Zum Musikzitat grundsätzlich Hertin GRUR 1989, 159. 61 Zur widerleglichen Vermutung, dass die Grundrechte des GG das Schutzniveau des Unionsrechts mitgewährleisten, zuletzt BVerfG ZUM 2020, 74 Rn. 55 ff. – Recht auf Vergessen I. 62 BVerfG GRUR 2016, 690 Rn. 99 – Metall auf Metall. 63 Großmann in Bielefeldt/Dahmen/Großmann (Hrsg.), PopMusicology, 2008, 119, 127. 64 BVerfG GRUR 2016, 690 Rn. 99 – Metall auf Metall. 65 BVerfG GRUR 2016, 690 Rn. 100 – Metall auf Metall. 60
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keiten von denen klassischer literarischer Textgattungen unterscheiden, die den archetypischen Schutzgegenstand des Urheberrechts darstellen.
III. What More Can I Say Nach EuGH (und BVerfG) kann Sampling aus unterschiedlichen Gründen zulässig sein. Ist das Sample nicht erkennbar, greift dessen Nutzung bereits nicht in das Vervielfältigungsrecht ein. Wenn es erkennbar ist, kann die Nutzung ein zulässiges Zitat darstellen, solange eine Interaktion mit dem zitierten Werk erfolgt und der Pflicht zur Quellenangabe Genüge getan ist. In Anwendung der EuGH-Rechtsprechung urteilte der BGH im April 2020, die dem Musikstück „Nur mir“ unterlegte Rhythmussequenz sei zwar wiedererkennbar. Der durchschnittliche Hörer könne aber nicht erkennen, dass sie einem fremden Werk oder Tonträger entnommen worden sei; das Zitatrecht vermöge das Sample mithin nicht zu rechtfertigen.66 Ob Moses Pelham wenigstens auf dem CD-Cover hätte angeben müssen, dass er für „Nur mir“ Teile von Kraftwerks Tonträger verwendet hat, musste das Gericht daher nicht entscheiden. Danger Mouse würde diese Hürde mit seinem „The Grey Album“ vermutlich überspringen können. Das Albumcover ist eine Zeichnung. In der Mitte findet sich ein Portrait von Jay-Z, in tief schwarz gehalten. Rechts und links davon sind jeweils zwei der Beatles portraitiert – in weiß. Auch der Albumtitel stellt, wenngleich keinen wörtlichen, aber doch einen deutlichen Verweis auf die verwendeten Quellen dar. Die erforderliche Interaktion ist ebenfalls gegeben. Ziel des Albums war es gerade, zwei paradigmatische Vertreter ihrer jeweiligen Musikrichtung zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei lässt Danger Mouse Ton- und Musikspur nicht einfach übereinander laufen, sondern schneidet sie so zusammen, dass sie rhythmisch ineinandergreifen und einander inhaltlich kommentieren. Sowohl das Werk der Beatles als auch jenes von Jay-Z erscheinen dadurch in einem neuen Licht. Allerdings hat Danger Mouse nicht nur einen winzigen Ausschnitt, sondern große Teile der beiden Alben genutzt. Von „The White Album“ hat er vor allem stark erkennbare Melodiepassagen rausgeschnitten und sie dem Text von Jay-Z in einem Loop unterlegt. Für das Album der Beatles hat er damit sicher kein Substitut produziert. Allenfalls könnte er eine Konkurrenz für Jay-Zs Album geschaffen haben: „The Grey Album“ ist im Kern ein Rap-Album. Dass die Musik teilweise einer anderen Stilrichtung entstammt, entspricht dem Musikstil. Fraglich ist aber, ob ein Gericht urteilen 66 BGH GRUR-RS 2020, 12924 Rn. 55 – Metall auf Metall IV. Vgl. auch Apel MMR 2019, 601, 603; Schulze NJW 2019, 2918; Stieper ZUM 2019, 713, 719.
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würde, dass die Nutzung der Beatles-Tonspuren in dem Umfang für den verfolgten Zweck erforderlich war und sich innerhalb der „anständigen Gepflogenheiten“ hielt. Wenn auch diesbezüglich eine kunstspezifische Betrachtung erfolgen muss, könnten Herstellung und Vertrieb des Albums von Danger Mouse, die US-amerikanische Kollegen seinerzeit für klar rechtswidrig hielten,67 nach europäischem Recht sogar rechtmäßig sein. Ein Mashup ist eine Musikcollage, für die kennzeichnend ist, dass die Gesangsspuren eines Titels mit den Instrumentalspuren eines anderen Titels zusammengemischt werden („A vs. B“), der einer anderen musikalischen Stilrichtung oder einem anderen Genre entstammt.68 Von Jay-Z hat Danger Mouse bereits aus einem anderen Grund nichts zu befürchten. Jay-Z hat die a cappella-Version seines Albums produziert, um kreative Nachnutzungen zu ermöglichen. Dies hat er auch öffentlich kommuniziert und so Nutzern wie Danger Mouse konkludent ein einfaches Nutzungsrecht erteilt. Damit ist Jay-Zs Verhalten Beleg für die Aussage des BVerfG, nach der das Sampling ein wesentliches Stilelement des Hip-Hop darstellt. Dass andere Künstler Passagen des eigenen Werks verwenden, gilt als Zeichen der Anerkennung und steigert den Wert des eigenen Schaffens oder dokumentiert ihn doch jedenfalls – zumindest dann, wenn das neue Werk in den Augen der Community qualitativ hochwertig ist. Diesem Gedanken verleiht Jay-Z in seinem Lied „What More Can I Say“ Ausdruck, das Danger Mouse mit „When My Guitar Gently Weeps“ der Beatles vermischt. Unter Verwendung von Samples eines Russell Crowe-Monologs aus dem Film „Gladiator“ und MFSBs „Something for Nothing“ thematisiert Jay-Z darin die Schwierigkeit, originell zu sein, und lädt andere ein, sein Werk auf anspruchsvolle Weise zu sampeln; wer dazu nicht in der Lage sei, möge ihm bitte fernbleiben.69 Auch Kraftwerk verbietet den kreativen Umgang mit ihren Werken nicht grundsätzlich. So hält es auf seiner Webseite seit 2018 die „Kling Klang Machine“ bereit, einen „Interaktive[n] 24 Stunden Musik Generator“.70 Ver67 Vgl. dazu nur die Aussage von Jonathan Zittrain bei Rimmer Digital Copyright and the Consumer Revolution, 2007, 134: „As a matter of pure legal doctrine, the Grey Tuesday protest is breaking the law, end of story.“. 68 Grundlegend zum Mashup Döhl Mashup in der Musik, 2016, v.a. 142 ff. Vgl. auch Adams Composition, performance, and mashups, July 11, 2015, https://blog.oup.com/ 2015/06/grey-album-composition-performance-mashups/. Er versteht Danger Mouse als ausübenden Künstler des Werkes von Jay-Z und nicht als Komponisten eines neuen Werks. 69 Als Aufforderung zur Nachahmung lässt sich auch Jay-Zs Song „Encore“ verstehen. Ihn hat Danger Mouse mit „Glass Onion“ und „Savoy Truffle“ der Beatles zu seinem eigenen „Encore“ vermischt. 70 http://www.kraftwerk.com/de/KKM/kkm.html. Die Band hat sie 2011 als App geschaffen und zunächst für neun US Dollars im App-Store von Apple angeboten.
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mutlich wenden sich die Bandmitglieder auch deswegen gegen die Verwendung ihrer Rhythmussequenz durch Moses Pelham, weil sie nicht mit „Nur mir“ assoziiert werden wollen.71 Das Lied ist kein großer Wurf der Musikgeschichte. Auch „The Grey Album“ wäre bei den Beatles und Jay-Z höchstwahrscheinlich auf weniger Begeisterung gestoßen, wenn sich Danger Mouse nicht so meisterhaft mit dem verwendeten Material auseinandergesetzt hätte. Für Gerichte wird es eine Herausforderung darstellen, sich bei der gebotenen kunstspezifischen Betrachtung ästhetischer Wertungen zu enthalten, wie es ihnen das Urheberrecht grundsätzlich vorgibt. Dass ein Zitat „anständigen Gepflogenheiten“ entsprechen muss, um zulässig zu sein, lädt geradezu ein, wenigstens verdeckt künstlerische Qualitätsmaßstäbe anzulegen. Rechtsstreitigkeiten über Samples könnten allerdings in absehbarere Zeit ohnehin der Vergangenheit angehören. Anfang 2020 haben zwei Musiker gut 68,7 Milliarden algorithmisch erzeugte Pop-Melodien ins Internet geladen und unter der Public Domain Mark von Creative Commons gemeinfrei gestellt.72 Als Grund gaben sie an: Die urheber- und leistungsschutzrechtlichen Rechtsstreitigkeiten um die Zulässigkeit der Nutzung kurzer Tonfolgen hätten sie dazu animiert, alle bislang noch nicht genutzten Mehrtonfolgen der in der Popmusik häufigsten Grundtöne freizugeben, um Musiker, denen allmählich die gängigen unbesetzten Tonfolgen ausgingen, künftig vor Ärger zu bewahren.73
neue rechte Seite! 71 Wenn dies stimmt, bedient sich Kraftwerk des ausschließlich dem Investitionsschutz dienenden Tonträgerherstellerrechts, um persönlichkeitsrechtliche Ansprüche durchzusetzen, die eigentlich nur das Urheberrecht gewährt. 72 www.allthemusic.info. 73 https://www.youtube.com/watch?time_continue=2&v=sJtm0MoOgiU&feature=em b_logo. Als Beispiel führen sie die Klage des christlichen Rappers Flame gegen Katy Perry an; im August 2019 wurden Perry und ihr Plattenlabel Capitol Records zur Zahlung von 2.780.000 US Dollars verurteilt. Vgl. dazu nur https://variety.com/2019/music/news/katyperry-and-collaborators-must-pay-christian-rapper-1203289030/.
„Law in the Making“ – am Beispiel von Sustainable Finance
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„Law in the Making“ – am Beispiel von Sustainable Finance Heribert Hirte und Inga Frohmann
„Law in the Making“ – am Beispiel von Sustainable Finance HERIBERT HIRTE UND INGA FROHMANN
Das Thema „Sustainable Finance“, die Einbeziehung von nachhaltigen Faktoren in das Finanzsystem, war vermutlich bis zum Ausbruch der weltweiten COVID-19-Pandemie eines der drängendsten Themen, das die Politik auf vielen Ebenen aufmischte und auch in der Zeit nach der ersten Bewältigung der Krise in den wirtschafts- und finanzpolitischen Debatten eine große Rolle spielen wird; denn schon seit einigen Jahren beschäftigt es viele Unternehmen, insbesondere natürlich die Finanzindustrie. Vor dem Hintergrund der UN-Agenda 2030, des Pariser Klimaschutzabkommens und auch der gesellschaftspolitischen Debatten der letzten Jahre über die Eindämmung des Klimawandels und über die Anpassung an seine Folgen ist das Thema zunehmend in den Fokus gerückt. Der politische Betrieb, auf internationaler, europäischer wie auch auf der Ebene der EU-Mitgliedstaaten stellt daher schon seit geraumer Zeit die Weichen, um Nachhaltigkeitsrisiken, inklusive Klimarisiken und Risiken aus dem Übergang in eine nachhaltige Wirtschaft, in angemessener Weise zu berücksichtigen. Zahlreiche Initiativen richten sich daher darauf aus, die Zukunft nachhaltig zu gestalten. Gerade aus dem Bereich des Gesellschaftsrechts sei hier die Verankerung von Nachhaltigkeitszielen im Bereich der Vorstandsvergütung im „ARUG II“ erwähnt: In dem die Vorstandsvergütung regelnden § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG wurden durch dieses Gesetz die Wörter „nachhaltige Unternehmensentwicklung“ durch die Wörter „nachhaltige und langfristige Entwicklung der Gesellschaft“ ersetzt.1 Das geht über den Regierungsentwurf2 insoweit hinaus, also dieser „nur“ die Wörter „langfristige Entwicklung der Gesellschaft“ hatte einfügen wollen.3 In der Begründung der Beschlussempfehlung zum ARUG II4 heißt es dazu: 1 „Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II)“ vom 12. Dezember 2019, BGBl. I, 2637. 2 Begr RegE, BT-Drucks. 19/9739, 72. 3 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zum ARUG II, BT-Drucks. 19/15153, 11. 4 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zum ARUG II, BT-Drucks. 19/15153, 55.
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„Die bisherige Verpflichtung des Aufsichtsrats, bei der Festsetzung der Vorstandsvergütung auf eine „nachhaltige Entwicklung“ der Gesellschaft zu achten, ist von der Praxis und Literatur ganz überwiegend im Sinne einer „langfristigen Entwicklung“ verstanden worden. Mit der Dopplung der Begriffe „nachhaltig“ und „langfristig“ möchte der Ausschuss deutlich machen, dass der Aufsichtsrat bei der Festsetzung der Vergütung, insbesondere der Wahl der Vergütungsanreize auch soziale und ökologische Gesichtspunkte in den Blick zu nehmen hat.“
Aber schon der ursprüngliche Entwurf war nach Vorstellung der Entwurfsverfasser den Zielen der Nachhaltigkeit verpflichtet. In der Begründung5 heißt es dazu: „2. Nachhaltigkeitsaspekte Der Entwurf steht im Einklang mit den Leitgedanken der Bundesregierung zur nachhaltigen Entwicklung im Sinne der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Die beabsichtigten Regelungen ermöglichen eine höhere Transparenz der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung. Sie tragen somit dazu bei, unverhältnismäßig hohe Vorstandsvergütungen zu verhindern. Darüber hinaus werden die Aktionäre durch erweiterte Handlungsmöglichkeiten in die Lage versetzt, eine partizipativere Rolle im Unternehmen einzunehmen. Umgekehrt wird es Unternehmen erleichtert, ihre Aktionäre zu identifizieren und sie gegebenenfalls besser in wichtige Entscheidungen einzubeziehen. Auch die Regelungen über Geschäfte der Gesellschaft mit nahestehenden Personen zielen auf ethisch verantwortliches Handeln und den Schutz von Minderheitsaktionären ab. Insoweit entsprechen die Ziele dem Prinzip nachhaltiger Entwicklung Nummer 4, indem sie nachhaltiges Wirtschaften stärken.“
Neben (solchen) konkreten Maßnahmen im Bereich der Umwelt-, Energie- oder Wirtschaftspolitik, auch vor dem Hintergrund sozialer Faktoren, kommt aber der Finanzpolitik eine ganz besondere Rolle zu. Am Beispiel dieser grundlegend neuen Herangehensweise möchte sich dieser Beitrag den verschiedenen Mechanismen und politischen Interaktionen auf verschiedenen Ebenen und Felder nähern, die hier, wie an kaum einer anderen Stelle, wie Zahnräder ineinander greifen. Ob Vereinte Nationen, Europäische Union, Bundesregierung oder Bundestag – zahlreiche Initiativen wollen die Zukunft nachhaltiger ausrichten:
I. Der entscheidende Wendepunkt Im September 2015 wurde auf dem Gipfel der Vereinten Nationen die „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ von allen Mitgliedstaaten verabschiedet – ein Meilenstein in der jüngeren Geschichte der Organisation. Mit ihr drücken die Vereinten Nationen ihre Überzeugung aus, dass sich 5
Begr RegE, BT-Drucks. 19/9739, 37.
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die globalen Herausforderungen nur gemeinsam lösen lassen. Mit der Agenda schaffte die internationale Staatengemeinschaft so die Grundlage dafür, weltweiten wirtschaftlichen Fortschritt im Einklang mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischen Faktoren zu gestalten. Dabei ist zentral, dass alle Länder ihren Beitrag leisten müssen, Entwicklungs-, Schwellen- und Industriestaaten. Kernstück der Agenda bildet ein ehrgeiziger Katalog mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung („Sustainable Development Goals“ oder „SDGs“). Diese SDGs beinhalten Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftsfaktoren, sind unteilbar und bedingen einander. Ihnen immanent sind fünf Kernbotschaften als handlungsleitende Prinzipien vorangestellt: Mensch, Planet, Wohlstand, Frieden und Partnerschaft. Die Umsetzung der Agenda soll, insbesondere im Zusammenhang mit dem Pariser Klima-Abkommen (Dezember 2015), die Chance bieten, den Wandel hin zu einer nachhaltigen und emissionsarmen Lebens- und Wirtschaftsweise zu schaffen. Alle Mitgliedsländer sind daher angehalten, regelmäßig über die Anstrengungen und Fortschritte innerhalb des eingerichteten Hochrangigen Politischen Forums für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen zu berichten.6 Auch der Einigung über ein allgemeines, rechtsverbindliches und weltweites Klimaschutzabkommen im Rahmen der Pariser Klimaschutzkonferenz (COP21) kommt hier im internationalen Kontext eine bedeutende Rolle zu. Auch wenn in der Öffentlichkeit vornehmlich das Hauptziel, die Abschwächung des Klimawandels, insbesondere durch die Minderung von Emissionen, eine Rolle spielt, so fordert das Abkommen auch konkrete Maßnahmen von den beteiligten Staaten. Neben einer regelmäßigen, öffentlichen Berichterstattung werden auch Fortschritte bei der Verwirklichung des Langzeitziels über ein robustes Transparenz- und Rechenschaftspflichtsystem verlangt. Ein solcher Weg verpflichtet die beteiligten Staaten zu einer aktiven Verfolgung des Klimaschutzes. Mit der Zustimmung zu diesen Abkommen sind daher neben der Europäischen Union insgesamt auch die Mitgliedstaaten selbst angehalten, Maßnahmen zu ergreifen. Es wurde also ein konkreter Mechanismus geschaffen, der Mitgliedstaaten zur Rechenschaft verpflichtet. Auch wenn kein konkreter Sanktionsmechanismus damit verbunden ist, so stehen die Staaten gegenüber den anderen Beteiligten und ihrer eigenen Bevölkerung unter einem erheblichen Druck. Beispielhaft sei hier auf die (zwischenzeitlich umgesetzte) Ankündigung des US-Präsidenten Donald Trump nach seiner Wahl verwiesen, aus dem Klimaschutzabkommen von Paris auszutreten. Mit seiner Ankündigung wurde innerhalb der Vereinigten Staaten eine starke Bewegung für einen ehrgeizigen Klimaschutz geschaffen. Darüber hinaus haben sich bislang – entgegen allen Be6 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung „Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“, Berlin, 2017 (http://www.bmz.de/de/themen/ 2030_agenda/index.html), 7. April 2020.
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fürchtungen – noch keine anderen Staaten dem Schritt der USA angeschlossen. Die USA scheinen daher derzeit isoliert in dem Feld. Nachdem eine Kündigung des Abkommens formal erst drei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens möglich war, also ab dem 4. November 2019, reichten die Vereinigten Staaten ihr Austrittsgesuch genau an diesem Tag ein, wie Secretary of State, Michael R. Pompeo, in einer offiziellen Pressemitteilung mitteilte.7 Seit diesem Zeitpunkt gilt eine Übergangsfrist von einem Jahr, die erst nach den nächsten US-Präsidentschaftswahlen am 3. November 2020 enden wird.8 Auch wenn bisher also lediglich das Verfahren zum Austritt der USA angestoßen wurde, dieser aber noch nicht vollzogen ist, so scheinen die Reaktionen aus der Staatengemeinschaft und der Bevölkerung eher einen Effekt der Disziplinierung gegenüber anderen Staaten zu erzeugen.
II. Die Europäische Union treibt die Entwicklung voran Die Verabschiedung beider Abkommen trägt Konsequenzen mit sich, die sich nachverfolgen lassen. Denn die vereinbarten Leitlinien wurden auch in die Arbeit der Europäischen Union übertragen. Mit dem EU-Aktionsplan „Financing Sustainable Growth“9 arbeitet die EU-Kommission seit einigen Jahren daran, erste konkrete Maßnahmen zur Ausgestaltung einer nachhaltigen Finanzwirtschaft umzusetzen. In diesem Aktionsplan unterstreicht die Kommission die Notwendigkeit für einen Paradigmenwechsel hin zu einer nachhaltigeren Realwirtschaft mit Unterstützung durch die Finanzwirtschaft deutlich und verweist darauf, dass das derzeitige Investitionsniveau der Realwirtschaft bei Weitem nicht ausreicht, um ein ökologisch und sozial nachhaltiges Wirtschaftssystem zu unterstützen. Allein um die EU-Klimaund Energieziele bis 2030 zu verwirklichen, muss Europa einen jährlichen Investitionsstand von fast 180 Milliarden Euro aufholen. Dem Finanzsektor kommt hier eine besondere Aufmerksamkeit zu, wird den Banken doch explizit die Rolle als wichtiger Katalysator für den Übergang in eine ressourcenschonende Realwirtschaft zugetraut. Ausgehend von diesem EU-Aktionsplan hat der Ausschuss der Ständigen Vertreter im Rat am 18. Dezember 2019 die Einigung im Trilog zwischen Kommission, Rat und Parlament zur Taxonomie-Verordnung bestätigt, ei7 United States of America – Department of State „Press Statement: On the U.S. Withdrawal from the Paris Agreements“, Washington, D.C., 4. November 2019 (https://www. state.gov/on-the-u-s-withdrawal-from-the-paris-agreement/), 7. April 2020. 8 United Nations „Paris Agreement“, 25 (https://unfccc.int/sites/default/files/english_ paris_agreement.pdf), 7. April 2020. 9 European Commission „Action Plan: Financing Sustainable Growth“, COM(2018) 97 final; Brüssel, 8. März 2018 (https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CE LEX:52018DC0097), 7. April 2020.
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nem zentralen Element des Plans.10 Hiermit wird, vorbehaltlich der noch ausstehenden formalen Annahme durch das Europäische Parlament, ein Klassifizierungssystem für umweltverträgliche wirtschaftliche Aktivitäten eingeführt - ein wichtiger Meilenstein. Denn dieses Klassifizierungssystem hat das Potenzial, als Dreh- und Angelpunkt für eine (erfolgreiche) Umsetzung der Strategie zu fungieren. Es soll ein gemeinsames Grundverständnis unter den Mitgliedstaaten bilden, was unter Nachhaltigkeit zu verstehen ist. Allerdings gibt es schon jetzt massive Kritik an diesem lange verhandelten Kriterienkatalog. Neben Detailmangel und bürokratischen Hürden kritisiert der Bundesverband deutscher Banken e.V. insbesondere die vorgesehene Verpflichtung aller CSR-Richtlinien-berichtspflichtigen Unternehmen zu einer taxonomiebasierten Berichterstattung.11 Darüber hinaus gilt es nun für die einzelnen Wirtschaftsaktivitäten genaue Kriterien und Messwerte zu definieren. Eine zentrale Rolle werden hier die üblicherweise von der EUKommission eingesetzten Technischen Expertengruppen („High-Level Expert Group on Sustainable Finance“) bilden. Diese die Kommission beratenden Gremien sind Teil des gesetzgeberischen Prozesses innerhalb der EU und bestehen aus externen Sachverständigen, welche sich aus Vertretern des öffentlichen und/oder privaten Sektors zusammensetzen.12 Der zuständige Exekutiv-Vizepräsident Valdis Dombrovskis kommentierte die Einigung wie folgt: „Dieser Rechtsakt ist bahnbrechend in unserem Kampf gegen den Klimawandel, da er nachhaltige Investitionen in Milliardenhöhe möglich macht. Anleger und Finanzbranche werden dank der grünen Liste oder Taxonomie erstmals auf eine Definition des Begriffs „grün“ zurückgreifen können, wodurch nachhaltige Investitionen einen kräftigen Schub erhalten werden.“ 13
Diese politische Einigung soll daher dem Ziel dienen, Anlegern zu ermöglichen, sich ein Urteil zu bilden, ob eine Investition tatsächlich umwelt10 Rat der Europäischen Union „Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on the Establishment of a Framework to Facilitate Sustainable Investment – Approval of the final compromise text“, COM (2019) 353 final, Brüssel, 17. Dezember 2019 (https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-14970-2019-ADD-1/en/ pdf), 7. April 2020. 11 Bundesverband deutscher Banken e.V. „Pressemitteilung: Einigung bei EU-Taxonomie wichtiger Meilenstein – praxisnahe Umsetzung auf Level 2 dringend notwendig“, Berlin, 18. Dezember 2019 (https://bankenverband.de/newsroom/presse-infos/einigungbei-eu-taxonomie-wichtiger-meilenstein-praxisnahe-umsetzung-auf-level-2-dringend-not wendig/), 7. April 2020. 12 Europäische Kommission „Wissenswertes zu Expertengruppen“, Brüssel (https:// ec.europa.eu/transparency/regexpert/index.cfm?do=faq.faq&aide=2&Lang=DE), 7. April 2020. 13 Europäische Kommission „Pressemitteilung: Nachhaltiges Finanzwesen: Kommission begrüßt Einigung auf EU-weites Klassifikationssystem für nachhaltige Investitionen (Taxonomie)“, Brüssel, 18. Dezember 2019 (https://ec.europa.eu/commission/presscor ner/detail/de/ip_19_6793), 7. April 2020.
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freundlich ist. Das ist eine wichtige Grundlage, um zukünftig private Investitionen für die Umstellung auf eine nachhaltige Wirtschaft zu mobilisieren. Weitere Maßnahmen stehen aber an: Neben Verhandlungen über EU Green Bond Standards werden die Einführung eines „Sustainable Finance“-Labels für Finanzprodukte debattiert. Parallel zu diesen schon länger angestellten Überlegungen auf Kommissionsebene haben die hohen Gewinne der Fraktion der Grünen/Europäische Freie Allianz bei der Europawahl im Mai 2019, insbesondere aus Deutschland, eine neue Dynamik für den Einsatz für den Klimaschutz gebracht. Nicht ohne Grund hat die heutige Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen deshalb bereits in ihrer Antrittsrede einen großen Fokus auf „nachhaltige Themen“ gelegt. Das spiegelt sich auch im aktuellen Arbeitsprogramm der EU-Kommission 2020 wider, dessen zentrales Projekt der „European Green Deal“14 darstellt. Einen wichtigen Teilbereich beschreibt die Kommission hier unter Ziffer 2.2.1, nämlich die Maßnahmen, mit denen sie „grüne“ Finanzierungen und Investitionen fördern will, um einen Übergang zu mehr Klimaschutz zu gewährleisten. In Aussicht stellt sie hier eine neue Strategie für Herbst 2020 mit dem Titel „Grundlagen für nachhaltige Investitionen stärken“. Dafür ist es aus Sicht der Kommission aber zunächst erforderlich, dass das Europäische Parlament und der Europäische Rat die oben beschriebene Taxonomie-Verordnung für die Klassifizierung ökologisch nachhaltiger Tätigkeiten final annehmen. Insbesondere soll erreicht werden, Nachhaltigkeit noch stärker in den Corporate-Governance-Rahmen zu integrieren, da sich zahlreiche Unternehmen, aus Sicht der Kommission, zu wenig auf langfristige Entwicklungen und Nachhaltigkeitsaspekte konzentrieren. All diese Maßnahmen und Entwicklungen greifen also bereits ineinander und bedingen eine Grundlinie mit dem Ziel einer grundlegenden Veränderung unseres wirtschaftlichen Handelns. Sie greifen wie Zahnräder ineinander, aber enden noch nicht an dieser Stelle. Denn auch die Mitgliedstaaten sind ihrerseits nicht untätig. Insbesondere der Bundesregierung kommt hier eine wichtige Rolle zu, die nicht nur durch die Kontrollfunktion des Deutschen Bundestages ergänzt wird:
III. Die Umsetzung auf nationaler Ebene – am Beispiel Deutschlands 1. Die Bundesregierung als Initiator erster Leitlinien Seitens der Bundesregierung entwickelt das Bundesministerium der Finanzen (BMF) gemeinsam mit dem Bundesministerium für Umwelt, Natur-
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KOM(2019) 640 final.
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schutz und nukleare Sicherheit (BMU) und in enger Abstimmung mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) eine Sustainable Finance-Strategie. Ein zentrales Element in der Erarbeitung dieser nationalen Strategie kommt dabei dem Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung zu, der sich am 6. Juni 2019 konstituiert hat. Wichtigstes Ziel ist nach eigenem Bekunden, die Bundesregierung zu beraten und konkrete Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Dabei sollen internationale und europäische Initiativen ebenso berücksichtigt werden wie die laufenden Arbeiten in der Bundesregierung zur Anlagestrategie des Bundes. Mitglieder des Beirats stammen aus vielfältigen Bereichen der Finanzwirtschaft und Unternehmen, aber auch aus der sogenannten Zivilgesellschaft und Gewerkschaften. Lediglich Beobachterstatus haben die deutsche Finanzaufsicht, die Deutsche Bundesbank und Finanzverbände. Abgeordnete sind gar kein Teil dieses Gremiums, was seitens des Deutschen Bundestages, zum Beispiel von der FDP-Fraktion,15 kritisiert wurde. Inzwischen (am 5. März 2020) hat der Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung seinen ursprünglich für den Herbst 2019 angekündigten ersten Zwischenbericht vorgestellt,16 der sehr umfassende und ambitionierte Maßnahmen einfordert. So soll unter anderem im Gesellschaftsrecht eine Erweiterung und Standardisierung der nachhaltigkeitsbezogenen Unternehmensberichterstattung erwogen werden, die schrittweise auch eine Ausweitung auf alle Unternehmen, auch kapitalmarktferne und zunehmend kleine und mittlere Unternehmen umfassen soll. Diese Forderungen – nach stärkerer Standardisierung wie nach Einbeziehung kleiner und mittlerer Unternehmen – wurden zum Teil bereits im Rahmen der Umsetzung der CSR-Richtlinie durch das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz17 im Jahr 2017 von verschiedenen Akteuren aufgestellt, aber damals vom Gesetzgeber verworfen. Der Erstverfasser hat dazu in seiner Rede anlässlich der 2./3. Lesung des Gesetzes deutlich gemacht, dass es ihm und seiner Fraktion bei dieser Entscheidung nicht um die Sachfrage der Offenlegung ging, sondern um den erheblichen Kosten- und Beratungsaufwand, den eine solche Offen-
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Antrag der Fraktion der FDP „Transparenz ist keine Einbahnstraße – Offenlegungsstandards für Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung“, BT-Drucks. 19/15769. 16 Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung „Zwischenbericht: Für die Bedeutung einer nachhaltigen Finanzwirtschaft für die große Transformation“, Berlin, 5. März 2020 (https://sustainable-finance-beirat.de/wp-content/uploads/2020/03/200306_SFB-Zwi schenbericht_DE.pdf), 7. April 2020. 17 Vom 11.4.2017 (BGBl. I, 802); BT-Drucks. 18/9982 (Regierungsentwurf); setzt die Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen“ (sog. Corporate-Social-Responsibility- bzw. CSR-Richtlinie, ABl. EU Nr. L 330 v. 15.11.2014, 1), um.
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legung gerade bei kleinen und mittelständischen Unternehmen auslösen würde.18 Darüber hinaus fordert der Beirat auch eine Erhebung und Offenlegung von Nachhaltigkeitsdaten im Rahmen von Kreditvergaben, eine Erarbeitung von Leitlinien für die Stimmrechtsausübung zu Nachhaltigkeitsthemen sowie eine Offenlegung des Abstimmungsverhaltens in Hauptversammlungen und eine regelmäßige Durchführung von Klima-Stresstests.19 Manche der Punkte konnten zwischenzeitlich im bereits angesprochenen ARUG II schon verwirklicht werden. Zu erwähnen ist insoweit insbesondere § 134b AktG n.F., nach dem „Institutionelle Anleger und Vermögensverwalter [.] eine Politik, in der sie ihre Mitwirkung in den Portfoliogesellschaften beschreiben (Mitwirkungspolitik), und in der insbesondere folgende Punkte behandelt werden, zu veröffentlichen [haben]: 1. die Ausübung von Aktionärsrechten, insbesondere im Rahmen ihrer Anlagestrategie […]“.
Zu den zu beschreibenden Politikzielen gehören dabei insbesondere, zurückgehend auf die zugrundeliegende EU-Richtlinie, solche „in Bezug auf Strategie, finanzielle und nicht finanzielle Leistung und Risiko, Kapitalstruktur, soziale und ökologische Auswirkungen und Corporate-Governance“.20 Darüber hinaus soll nach der Vorstellung des Beirats die Rolle der Zivilgesellschaft eine Aufwertung im Kontext der Sustainable Finance erhalten, indem sie als „Frühwarnsystem“ für Lücken im Berichtswesen und im Management dienen soll, um die öffentliche Akzeptanz einer solchen „sozial-ökologischen Transformation“ zu forcieren21 – wobei diese Sprache den umfangreichen, auch gesellschaftspolitischen Anspruch des Beirats verdeutlicht. Dies wird unterstrichen mit der Forderung, dass die Besetzung von operativen Schlüsselfunktionen, auch unterhalb der Geschäftsleitung, zukünftig an Mindestqualifikationen im Bereich Nachhaltigkeit geknüpft werden soll22, sowie der Einführung eines zusätzlichen Bildungsangebots für Privatanleger an Schulen und Universitäten in diesem Bereich23 und der Forderung nach einer Verknüpfung von Klima-Nachhaltigkeitszielen mit
18 Deutscher Bundestag, Plen.-Prot. 18/221, 22258 (B), 22258 (D) (in Auseinandersetzung vor allem mit Renate Künast). 19 Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung „Zwischenbericht: Für die Bedeutung einer nachhaltigen Finanzwirtschaft für die große Transformation“, Berlin, 5. März 2020, 40 (https://sustainable-finance-beirat.de/wp-content/uploads/2020/03/200306_SFBZwischenbericht_DE.pdf), 7. April 2020. 20 Begr RegE, BT-Drucks. 19/9739, 101. 21 A.a.O. (Fn. 19), 20. 22 A.a.O. (Fn. 19), 29. 23 A.a.O. (Fn. 19), 30.
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der Entwicklungshilfe.24 Eine Umsetzung dieser Forderungen impliziert allerdings an verschiedenen Stellen eine zunehmende Politisierung des Finanzwesens. Das erscheint – nicht nur auf den ersten Blick – geschickt, steht doch das Finanzwesen nicht erst seit den verschiedenen Finanzkrisen der letzten Jahre in besonderer Kritik – und in der Folge Verantwortung. Vor allem erlaubt der indirekte Weg über die (Unternehmens-)Finanzierung auch eine erhebliche und einfache Hebelwirkung. Andererseits werden aber auch die eigentlich notwendigen gesellschaftlichen Debatten gerade über die Frage, was Nachhaltigkeit ist und wie verschiedene Nachhaltigkeitsziele gegeneinander abzuwägen sind, auf diese Weise eher versteckt und verschleiert. Weiter soll die öffentliche Hand nicht nur als gesetzgeberischer Gestalter wirken, sondern auch selbst eine aktive Rolle als Nachfrager, Finanzier und Finanzmarktakteur spielen: So könnte zukünftig die Mittelverwendung mit Politikzielen verknüpft werden25, Kapitalanlagen an Politikzielen ausgerichtet26, bestimmte Anlageprodukte gefördert oder auch nachhaltige Bundesanleihen eingeführt werden.27 Über die Frage, welche dieser Forderungen auch in den finalen Bericht des Beirats übernommen werden, lässt sich an dieser Stelle nur spekulieren. Der Zwischenbericht wird nun konsultiert. Alle Akteure hatten bis zum 4. April 2020 Zeit, in einer vierwöchigen Onlinekonsultation zu den Inhalten des Papiers Stellung zu nehmen und Empfehlungen einzubringen. Der Abschlussbericht soll voraussichtlich im September 2020 veröffentlicht werden. Eng verknüpft mit der Arbeit des Beirates ist der Green and Sustainable Finance Cluster Germany (GSFC), ein Zusammenschluss der Accelerating Sustainable Finance Initiative der Deutschen Börse und des Green Finance Cluster Frankfurt des Hessischen Wirtschaftsministeriums. Diese Gruppierung hat sich das Ziel gesetzt, Aktivitäten im Feld Sustainable Finance zu bündeln und möchte mit der „Formulierung und Umsetzung konkreter Handlungsansätze die Zukunftsfähigkeit nationaler und internationaler Finanzmärkte“ erreichen.28 Geschäftsführer des Clusters sind Karsten Löffler (Frankfurt School of Finance & Management gGmbH) und Kristina Jeromin (Deutsche Börse), die auch Vorsitz und Co-Vorsitz des Beirates übernommen haben. Das Cluster richtete auch zuletzt am 16. Oktober 2019 den Sustainable Finance Gipfel Deutschland aus, auf den bereits das BMF in ei-
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A.a.O. (Fn. 19), 45. A.a.O. (Fn. 19), 43. 26 A.a.O. (Fn. 19), 44. 27 A.a.O. (Fn. 19), 44. 28 Green Sustainable Finance Cluster Germany „Mission“, Frankfurt am Main, 9. Juli 2018 (https://gsfc-germany.com/wp-content/uploads/2018/08/Mission-Statement-9.7.18. pdf), 7. April 2020. 25
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ner Pressemitteilung vom 19. Juni 2019, anlässlich der Gründung des Beirates, hingewiesen hatte.29 Darüber hinaus beschäftigt sich auch der Rat für Nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung (RNE) im Rahmen seiner Tätigkeit zur Umsetzung der UN-Agenda 2030 und der Sustainable Development Goals mit dem Thema Sustainable Finance und nachhaltiges Wirtschaften. Zwar arbeitet der RNE insbesondere der EU-Kommission und der High-Level Expert Group on Sustainable Finance zu, jedoch stellt er mit Alexander Bassen ein Mitglied des Beirats. Viele der im Zwischenbericht genannten Forderungen nimmt der RNE aber bereits in seiner Stellungnahme vom 15. Oktober 2019 vorweg: So soll u.a. Nachhaltigkeit zum Haushaltsprinzip des Bundeshaushalts gemacht werden, Bundesanleihen sollen dem Nachhaltigkeitsprinzip unterliegen, und dieses soll auch in die Entwicklungsfinanzierung aufgenommen werden. Darüber hinaus fordert der RNE, dass staatliches Vermögen auf bundes-, länder- und kommunaler Ebene zukünftig nachhaltig angelegt werden und die Europäische Zentralbank an das Nachhaltigkeitsprinzip gebunden werden solle.30 Neben diesen extern besetzten Gremien bestehen innerhalb der Bundesministerien Fachreferate, die deren Arbeiten begleiten und in die Arbeit der Bundesregierung einfließen lassen. Gleichzeitig wird das Thema natürlich auch seitens des Deutschen Bundestages in verschiedenen Formen begleitet. Auch werden hier durchaus eigene Akzente gesetzt; denn neben den Regierungsfraktionen begleiten und kontrollieren auch die Oppositionsfraktionen die Arbeit der Bundesregierung. 2. Der Deutsche Bundestag als Gesetzgeber mit dem entscheidenden Mitspracherecht für eine nationale Umsetzung Bereits am 7. November 2018 beschäftigte sich der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung des Deutschen Bundestages, zusammen mit Experten, mit nachhaltigen Finanzen und den Plänen der EU-Kommission für die Einführung einer Nachhaltigkeits-Taxonomie.31 Schon an dieser Stel29
Bundesministerium der Finanzen „Pressemitteilung: Beirat für „Sustainable Finance“ nimmt seine Arbeit auf“, Berlin, 19. Juni 2019 (https://www.bundesfinanzministerium.de/ Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2019/06/2019-06-06-SustainableFinance.html), 7. April 2020. 30 Rat für Nachhaltige Entwicklung „Stellungnahme: Die Sustainable Finance Strategie der Bundesregierung muss Neuland betreten“, Berlin, 15. Oktober 2019 (https://www. nachhaltigkeitsrat.de/wp-content/uploads/2019/10/2019-10-15_Stellungnahme_Sustain able_Finance_Strategie_der_Bundesregierung.pdf), 7. April 2020. 31 Deutscher Bundestag – Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Entwicklung „Experten beurteilen Pläne für nachhaltiges Finanzsystem“, Berlin, 2018 (https://www.bun destag.de/dokumente/textarchiv/2018/kw45-pa-parlamentarischer-beirat-575416), 7. April 2020.
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le betonte Kristina Jeromin in ihrer Funktion als Vertreterin der Deutschen Börse, dass das heutige Finanzsystem in seiner Form nicht die heutigen Herausforderungen wie den Klimawandel oder demographische Veränderungen adäquat darstellen könne. Heutige Ratingsysteme würden solche Risiken nicht miteinbeziehen, insbesondere da Standards für die Bewertung ökologischer und sozialer Aspekte sowie für gute Unternehmensführung fehlen. Bert Flossbach, Vertreter der Vermögensverwaltung Flossbach von Storch, warnte hingegen vor kaum überprüfbaren ESG-Ratings, da sie äußerst kompliziert sind und leicht missbraucht werden könnten. Von einem „Greenwashing“ und dem Missbrauch eines grünen „Labels“ könnten außerdem verschiedene Gefahren für die Wirtschaft ausgehen. Gleichzeitig berge eine auf Langfristigkeit angelegte nachhaltige Wirtschaft große Potenziale, die er befürwortet. Für die Lenkung von Finanzströmen in nachhaltige Projekte spielt der Finanzsektor aber eine entscheidende Rolle, wie Andreas K. Gruber als Vertreter der Deutschen Kreditbank im Austausch betonte. Gleichzeitig forderte er, dass „politische Entscheidungen […] dazu beitragen, dass es mehr nachhaltige Projekte gibt und vorliegende Vorschläge auf EU-Ebene konsequent umgesetzt werden.“ Jenseits der Arbeit des Parlamentarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung des Deutschen Bundestages findet die eigentliche Gesetzgebungsarbeit im Ausschuss für Finanzen statt, der das Thema federführend gesetzgeberisch betreut. So fand sich das Thema auf Antrag der FDP-Fraktion am 6. November 2019 auf der Tagesordnung der 59. Sitzung. Neben der formalen Befassung in der Sitzung ist die Öffentliche Anhörung des Ausschusses am 25. November 2019 zum Thema „Sustainable Finance“ ein zentrales Element gewesen. Grundlage der Anhörung waren drei Anträge von Oppositionsparteien: Der Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Marktwirtschaft und Subsidiarität erhalten statt Sustainable Finance“,32 der Antrag der Fraktion der FDP „Sustainable Finance – Transparenz und Vielfalt schaffen – Einheitliche EU-Taxonomie ablehnen“33 und der Antrag der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN „Stabil und zukunftsfest – Den Finanzplatz Europa zum Leitmarkt für Nachhaltigkeit machen“.34 In der Anhörung wurden 14 Sachverständige aus Verbänden, Interessengruppen, Unternehmen, Finanzbranche und Finanzaufsicht befragt. Das Meinungsspektrum bildete hier in weiten Teilen die Überzeugungen der verschiedenen politischen Parteien, aber auch die gesamtpolitische Diskussion ab. So bestätigte die Deutsche Bundesbank einen starken Trend hin zu „grünen“ Anleihen als Refinanzierungsquelle, deren Volumen seit 2015 von 16,3 auf 198 Milliarden Euro gestiegen sei. Aus Sicht der Deutschen Börse begibt 32
BT-Drucks. 19/14684. BT-Drucks. 19/14785. 34 BT-Drucks. 19/14219. 33
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sich die Europäische Union in eine Vorreiterrolle im Bereich Sustainable Finance. Laut Christian Klein (Universität Kassel) sei mehr Transparenz gut für den Kapitalmarkt und Verbraucher. Trotzdem gab es auch kritische Stimmen: S&P Global Ratings Europe ergänzte, dass schon heute Risikofaktoren, auch aus dem Umweltbereich, in seriöse Ratings einbezogen würden. Auch ohne Einführung neuer Labels würden Ratings somit Risikofaktoren für Verbraucher und Investoren abbilden. Nach Angaben des Centrums für Europäische Politik (CEP) sind konkrete Bewertungskriterien nach wie vor unklar; denn nach wie vor gibt es selbst in der Europäischen Union noch kein einheitliches Verständnis von Nachhaltigkeit. Trotzdem habe die EU das Recht zu definieren, was nachhaltig ist. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hingegen sieht Deutschland schon jetzt einer Überregulierung ausgesetzt und fürchtet zukünftig nicht nur eine Verknappung der Finanzierungsvolumen, sondern auch Nachteile im internationalen Markt für europäische Produkte. Ähnlich argumentierte auch das Deutsche Aktieninstitut, das für die stärkere Einbindung der Realwirtschaft plädierte. Für den Verband der Chemischen Industrie hingegen ist eine Gleichbehandlung aller SDGs von großer Bedeutung. Neben ökologischen müssten auch soziale und ökonomische Aspekte berücksichtigt werden. Auch müsse man vorsichtig sein, ganze Branchen negativ zu klassifizieren, denn auch Produkte wie Solarpanels, Windkraftanlagen oder Elektroautos könnten betroffen sein.35 Die Aussagen verdeutlichen, dass die Debatte in der Öffentlichen Anhörung umfassend geführt und zentrale Argumente ausgetauscht wurden, die im nächsten Schritt durch die Abgeordneten und Fraktionen in den Gesetzgebungsprozess eingearbeitet werden. In diesem Zusammenhang sind auch die eingereichten parlamentarischen Anträge und Kleinen Anfragen an die Bundesregierung zu sehen: In der Kleinen Anfrage „Aktuelle Entwicklungen im Bereich Sustainable Finance“36 und dem Antrag „Transparenz ist keine Einbahnstraße – Offenlegungsstandards für Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung“ vom 6. November 201937 beschäftigt sich die Fraktion der FDP mit den Sitzungen des Beirates der Bundesregierung und kritisiert eine fehlende Beteiligung des Bundestages an dessen Arbeit. In ihrer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung „Verbindlichkeit und Parameter der Sustainable-FinanceNachhaltigkeitstaxonomie“ vom 10. Dezember 201938 erkundigt sich die AfD-Fraktion darüber hinaus über die Verhandlungen zur Taxonomie auf EU-Ebene, insbesondere in Bezug auf die viel debattierte Einstufung der 35 Deutscher Bundestag, Finanzausschuss, Kurzprotokoll der 64. Sitzung, ProtokollNr. 19/64, 25. November 2019 (https://www.bundestag.de/resource/blob/674472/faf1eb 7da3ccc558e3db6bcf4e7de52b/Protokoll-data.pdf), 10. April 2020. 36 BT-Drucks. 19/9813. 37 BT-Drucks. 19/15759. 38 BT-Drucks. 19/15756.
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Kernenergie als nachhaltig, die von Frankreich gefordert, von Deutschland bislang aber abgelehnt wurde. Genauere Details erfragt die AfD-Fraktion auch in ihrer Kleinen Anfrage vom 10. Januar 2020 mit dem Titel „Verbindlichkeit und Parameter der Sustainable-Finance-Nachhaltigkeitstaxonomie39 bei der Bundesregierung. Eine insgesamt intensive Auseinandersetzung mit Sustainable Finance im Deutschen Bundestag wird hier an vielen Stellen deutlich, auch wenn noch keine Befassung im Plenum des Parlaments stattgefunden hat. Die Anträge der AfD- und der FDP-Fraktion40 wurden am 7. November 2019 ohne Aussprache zur weiteren Beratung an die Ausschüsse überwiesen – ein durchaus übliches Verfahren. Darüber hinaus stellt die Bundestagsverwaltung in verschiedenen hausinternen, wissenschaftlichen Ausarbeitungen den aktuellen Stand der politischen Prozesse, auch auf EU-Ebene, zusammen. Seitens der Regierungsfraktionen gibt es derzeit noch keine offiziellen Anträge auf Bundestagsebene. Gleichwohl wird das Thema natürlich auch dort begleitet, zum Beispiel durch die Vorbereitungen der Sitzungen in ihren Arbeitsgruppen, die analog zu den Ausschüssen bestehen. Darüber hinaus richtete die SPD-Bundestagsfraktion am 7. Juni 2019 eine Veranstaltung mit dem Titel „Nachhaltige Finanzen – wie machen wir Deutschland zu einem führenden Sustainable-Finance-Standort“ aus. Inhaltlich positioniert hat sich demgegenüber die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einem Positionspapier, das bereits am 7. Mai 2019 unter dem Titel „Nachhaltigkeit im Finanzsektor“41 beschlossen wurde – und an dem seitens der mitberatenden Arbeitsgruppe Recht und Verbraucherschutz auch der Erstverfasser beteiligt war. In neun Punkten fordert die Fraktion insbesondere die Gewährleistung von Finanzstabilität, die Entwicklung verantwortungsvoller Regeln, die Wahrung demokratischer Legitimation und die Vermeidung überflüssiger Bürokratie. Darüber hinaus hat die Fraktion am 12. Mai 2020 ein Positionspapier zum „Green Deal“ der EU verabschiedet, das eine aktualisierte Positionierung zum Thema beinhaltet.41a Aufgrund der COVID-19-Pandemie war die Beschlussfassung hierüber zunächst verschoben worden. Neben der Positionierung der Fraktionen spielen aber auch einzelne Abgeordnete, insbesondere die zuständigen Berichterstatter ihrer Fraktion42 im 39
BT-Drucks. 19/16443. BT-Drucks. 19/14684 und BT-Drucks. 19/14785. 41 CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag „Beschluss: Nachhaltigkeit im Finanzsektor“, Berlin, 7. Mai 2019 (https://www.cducsu.de/sites/default/files/2019-05/Posi tionspapier%20Nachhaltigkeit%20im%20Finanzsektor.pdf), 7. April 2020. 41a CDU/DSU-Fraktion im Deutschen Bundestag „Beschluss: Für einen „Green Deal“ – Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung mit wirtschaftlicher Erholung, Wettbewerbsfähigkeit, sozialer Ausgewogenheit und Stabilität verbinden“, Berlin, 12. Mai 2020 (https:// www.cducsu.desites/default/files/2020-05/Positionspapier_greendeal%20200512_pdf), 14. Juli 2020. 42 Zur Bedeutung des Berichterstatters Hirte in FS Seibert, 2019, 345 ff. 40
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federführenden Finanzausschuss, eine zentrale Rolle im Gesetzgebungsprozess. Ein besonderes Augenmerk sollten daher alle politischen Akteure auf deren Meinungsäußerungen legen, insbesondere, wenn sie den Regierungsfraktionen angehören – auch außerhalb der offiziellen Gremien des Deutschen Bundestages. Momentan sind dies Alexander Radwan, für die Unionsfraktion, sowie Metin Hakverdi, für die SPD-Bundestagsfraktion. Dazu können Äußerungen bei Veranstaltungen, in der Presse, aber auch in sozialen Netzwerken zählen. So äußerte sich der Berichterstatter der CDU/CSUBundestagsfraktion Alexander Radwan erst am 31. Januar 2020 in seinem Gastkommentar „So hätte Ludwig Erhard das Klima gerettet“ in der Wirtschaftswoche mit kritischen Tönen zum Thema Sustainable Finance und warnte vor erheblichen Risiken und Verwerfungen. Er fürchtet eine Politisierung und Instrumentalisierung der Zentralbanken im Kampf gegen den Klimawandel. Entwicklung, die dem bisherigen Mandat der Geldwertstabilität und Marktneutralität entgegenstehen würde. Er warnt, dass die Unabhängigkeit der Zentralbanken mit der notwendigen Trennung von Politik und Geldpolitik aufgegeben würde. In diesem Zusammenhang würden auch wichtige Marken wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt weiter ausgehöhlt werden. Wichtige gesellschafspolitische Entscheidungen würden darüber hinaus aus den Parlamenten in intransparente Expertengruppen verlagert, in welchen zivilgesellschaftliche, nicht demokratisch legitimierte Vereinigungen vermehrt Einfluss nähmen. Aus seiner Sicht würde daher die richtige Intention einer nachhaltigen Entwicklung mit schlechten Mitteln verfolgt. Vielmehr wäre es die Aufgabe der Politik, Ziele und Rahmen zu definieren und für Transparenz zu sorgen. Marktmechanismen müssen sinnvoll genutzt und gefördert werden, insbesondere in einem internationalen Rahmen, um nicht einseitig europäische Unternehmen zu belasten.43 Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Positionierung auch von großen Teilen seiner Fraktion geteilt wird – denn der Berichterstatter hat grundsätzlich den Mehrheitswillen der Fraktion zu vertreten.
IV. Zusammenspiel der Institutionen Zuletzt sollte aber eine zentrale Kammer des bundesrepublikanischen Föderalstaates nicht übergangen werden, denn auch der Bundesrat hat sich bereits in einem Beschluss geäußert. So hat er in seiner Stellungnahme „Reflexionspapier der Kommission: Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030“44 unter anderem seine Unterstützung für die Einführung eines EU-weit einheitlichen Klassifikationssystems bekundet und tritt für die 43 44
Wirtschaftswoche, 31.1.2020, 10. BT-Drucks. 63/19.
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Einführung eines einheitlichen Kennzeichnungssystems für nachhaltige Finanzprodukte („Green Label“) ein. Darüber hinaus spricht sich der Bundesrat weiterhin für entsprechende Transparenz- und Offenlegungspflichten aus, macht aber deutlich, dass Nachhaltigkeit nicht mit wirtschaftlicher Risikofreiheit gleichzusetzen ist.
V. Fazit Es wird deutlich, dass eine Vielzahl politischer Akteure auf internationaler und nationaler Ebene das Thema „Nachhaltige Finanzwirtschaft“ vorantreibt. Ähnlich einem engen Netz oder Zahnrädern greifen die Akteure und Gremien ineinander ein und über. Eine Einigung auf allgemeingültige Leitsätze wie die Förderung von Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftsfaktoren scheint allen Beteiligten als Ziel gemein. Eine intensive Beschäftigung mit den Zielen, insbesondere auf nationaler Ebene, und die Umsetzung in konkrete Gesetze eröffnen aber die Konfliktlinien. Einerseits werden unterschiedliche Interessen in den Zielsetzungen deutlich, andererseits besteht auch kein Konsens über die Herangehensweise. Deutlich wird aber in jedem Fall, warum demokratische Legitimationsprozesse und Gesetzgebung so kleinteilig und schwierig sind, und es zeigt sich andererseits, warum sich der oft auf Demonstrationen zum Klimaschutz formulierte Wunsch nach schnellem Handeln als zu kurz gedacht erweist. Insbesondere die Vorschläge des Sustainable Finance-Beirates der Bundesregierung sind im Übrigen breiter inhaltlich zu debattieren. Im Zwischenbericht wird sich zwar an verschiedenen Stellen auf die Sustainable Development Goals der UN berufen; diese sind aber, wie beschrieben, viel umfassender und nachhaltiger angelegt als die Arbeit des deutschen Gremiums, das sich, auch laut seiner Satzung,45 lediglich auf Umweltaspekte fokussiert. Spätestens angesichts der derzeit alles beherrschenden Covid-19Pandemie scheint diese Sichtweise unzureichend: Nicht ohne Grund steht laut Sustainable Development Goals als erste Grundbotschaft der Mensch im Mittelpunkt. Auch ist fraglich, ob der Ansatz des Beirates, in den Preisbildungsmechanismus einzugreifen, nicht zu einer neuen Blasenbildung an den Anlagemärkten führt. Denn eine explizite Bewerbung von „grünen“ Investitionsmöglichkeiten in Anlagegesprächen und eine staatliche Förderung ausschließlich von „grünen“ Geldanlagen und Produkten birgt ein großes Risiko für Fehleinschätzungen und Falschbewertungen zum Nachteil von 45 Satzung des Sustainable Finance-Beirates der deutschen Bundesregierung, Berlin, Stand: 28.10.2019, (https://sustainable-finance-beirat.de/wp-content/uploads/2020/03/200 303_SFB_Satzung.pdf), 10. April 2020.
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Investoren, insbesondere von Kleinaktionären. Darüber hinaus sind auch massive Nachteile für kleine und mittelständische Unternehmen, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, zu erwarten, da diese üblicherweise von neuen bürokratischen Hürden massiver betroffen sind als Großunternehmen. Auch berücksichtigen insbesondere Fonds schon jetzt verstärkt Nachhaltigkeitsaspekte in ihrem Portfolio. Und die Deutsche Börse hat am 4. März 2020 ihren neuen DAX 50 ESG Index gestartet: Dieser Index, bestehend aus TOP-50-Werten des deutschen Aktienmarktes, berücksichtigt Kriterien aus den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (Environmental, Social, Governance; kurz: ESG). Auch wenn sich die Attraktivität des Indexes derzeit noch nicht umfassend bewerten lässt, scheint es schon jetzt gute Gründe zu geben, diese Instrumente am Markt zu platzieren, ohne dass bislang dafür staatliche Anreize geschaffen wurden. Zuletzt und vor allem sollte auch die demokratische Legitimierung „ethischer“ Investments diskutiert werden. Zur demokratischen Legitimation ist die Befassung durch die gesetzgebenden Institutionen, allen voran durch den Deutschen Bundestag und das Europäische Parlament, unerlässlich, da nur so eine transparente Debatte gewährleistet werden kann.
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Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsvergleichs in der Praxis
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Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsvergleichs in der Praxis Kaspar Krolop
Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsvergleichs in der Praxis beim No Creditor Worse Off-Vergleich im Abwicklungsregime für Banken KASPAR KROLOP
I. Einleitung Der Jubilarin hat die Rechtsvergleichung stets ganz besonders am Herzen gelegen. Davon zeugt nicht nur ihr publizistisches Wirken, sondern auch ihre Lehrtätigkeit. Hervorheben möchte ich hier insbesondere die Vorlesungen Vorlesungen „Comparative Corporate Governance“ und „Financial Reporting“. Neben Rechtsvergleichung im Hinblick auf die Bewertung und Fortentwicklung gesetzlicher Regelungen hatte und hat die Jubilarin auch die Rechtsvergleichung als wichtigen Aspekt bei der Auslegung und Anwendung rechtlicher Regelungen im Auge. In einem mit dem Verfasser gemeinsam erstellten Beitrag für die Europäische Methodenlehre hat sie etwa die Rechtsvergleichung als wichtigen Baustein für die Methode der Auslegung des Europäischen Gesellschaftsrechts identifiziert.1 Im etwas unzugänglich und sperrig anmutenden Bereich des Regimes für die Abwicklung von Banken2 als Sonderinsolvenzrecht ist eine unter dem Schlagwort No Creditor Worse Off-Vergleich (NCWO-Vergleich) geführte Problematik versteckt, die Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsvergleichung im Wechselspiel mit Konvergenzen und „persistente“ Divergenzen3 in den Insolvenzrechten der Mitgliedstaaten plastisch illustriert. Da Banken in der Regel als Unternehmensgruppe oft auch als grenzüberschreitende Unternehmensgruppe – vorkommen, wirft dieser Vergleich auch ein Schlaglicht auf ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch das wissenschaftliche Wirken der Jubilarin zieht: Die rechtliche Behandlung des Konzerns bzw. der Unternehmensgruppe. 1 Krolop/Windbichler in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. 2010, § 20 Rn. 21 ff. 2 Der Verfasser ist in der Abteilung Finanzmarktpolitik beim Bundesministerium der Finanzen tätig. Die Ausführungen in diesem Beitrag geben ausschließlich die persönlichen Ansichten und Einschätzungen des Autors wieder. 3 Vgl. Gordon/Roe (Hrsg.) Convergence and Persistence in Corporate Governance (2004); zur Rechtsvergleichung im Insolvenzrecht allgemein siehe Paulus in FS R. Geimer, 2002, 795 ff.
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Zunächst soll herausgearbeitet werden, was der NCWO-Vergleich genau ist und an welcher Stelle der Rechtsvergleich, konkret der Vergleich nationaler Insolvenzrechte, in der Rechtsanwendung relevant wird (II.). Dann gilt es, den Ertrag von Rechtsvergleichung und Rechtsangleichung auszuwerten (III.), um anschließend die Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsvergleichung bei der Handhabung des NCWO-Vergleich im Allgemeinen und bei der grenzüberschreitenden Unternehmensgruppe im Besonderen zu bewerten (IV.), bevor abschließend Thesen und Folgerungen für weiterführende Fragestellungen formuliert werden (V.).
II. Ausgangslage und Problemstellung 1. Die Europarechtlichen Vorgaben zur Abwicklung von Banken Als Lehre aus der Bankenkrise wurde ein europäisches Abwicklungsrecht für Banken geschaffen. Für alle Banken der EU gelten die Vorgaben der RiLi 2014/59/EU betreffend die Abwicklung von Banken (nachfolgend: BRRD4); für Deutschland umgesetzt durch das SAG.5 Die Durchführung des SAG obliegt der BaFin als nationale Abwicklungsbehörde (NAB). Für die Mitgliedstaaten des Euroraums wurde neben dem Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism – SSM) als zweite Säule der einheitliche Abwicklungsmechanismus (Single Resolition Mechanism – SRM) errichtet. Komplementär zur Ausübung der Aufsicht durch die EZB ist für die Abwicklung primär der Europäische Abwicklungsausschuss (Single Resolution Board – SRB) zuständig. Die Vorgaben für die Abwicklung ergeben sich primär aus der SRM-VO.6 Ergänzend finden auch die nationalen Abwicklungsvorschriften, in Deutschland also das SAG Anwendung. Da der SRB aber keine vollwertige Behörde ist, werden dessen Anordnungen über die nationale Abwicklungsbehörde (in Deutschland ist das die BaFin) vollzogen. Wenn sonstige Institute abzuwickeln sind, sind die nationalen Abwicklungsbehörden zuständig.7 Hier richtet sich die Abwicklung (im engeren Sinne)8 – nach dem SAG.9 4 Das Kürzel rekurriert auf die englische Bezeichnung Bank Recovery and Resolution Directive. 5 Sanierungs- und Abwicklungsgesetz v. 10.12.2014, BGBl. I, 2091. 6 Verordnung (EU) Nr. 806/2014 v. 15.7. 2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds. 7 Zu Einzelheiten dieser Architektur aus verfassungsrechtlicher Sicht siehe BVerfG Urt. v. 30.7.2019 – 2 BvR 1685/14 = NJW 2019, 3204 (Bankenunion), Rn. 115 ff. 8 Zur Abgrenzung zur Abwicklung nach allgemeinem Insolvenzrecht sogleich in diesem Abschnitt.
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Das Abwicklungsrecht will das Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit der Rettung von Banken mit Steuergeldern einerseits und der Gefahr für die Stabilität des Finanz- und Wirtschaftssystem bei einem plötzlichen Zusammenbruch systemrelevanter Banken andererseits durch ein spezielles Abwicklungsinstrumentarium bewältigen. Eine Abwicklung setzt demnach vor allem zweierlei voraus: eine Bestandsgefährdung (to fail or likely to fail – abgekürzt FOLF)10 und die Feststellung eines öffentlichen Interesse an Maßnahmen zur Reorganisation und geordneten Abwicklung nach dem Abwicklungsregime (sogenanntes Public Interest Assessment – abgekürzt PIA)11 Die Bestandsgefährdung ist ein eigener von den klassischen Insolvenzeröffnungsgründen unabhängiger Tatbestand. Eine Bestandsgefährdung kann sich nicht nur aus einer Überschuldung oder (drohenden) Zahlungsunfähigkeit ergeben12, sondern auch bereits aus der Nichteinhaltung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen, insbesondere der Vorgaben zu den vorzuhaltenden Eigenmitteln. Auch die Notwendigkeit der Unterstützung aus öffentlichen Mitteln begründet grundsätzlich eine Bestandsgefährdung.13 Abwicklung nach dem Abwicklungsregime bedeutet – anders als die Bezeichnung suggerieren mag – gerade nicht, dass im herkömmlichen Sinne das Unternehmen im Sinne einer Auflösung abgewickelt oder vollständig zerschlagen wird. Das öffentliche Interesse an einer Abwicklung ist nur dann zu bejahen, wenn die Abwicklung für die Erreichung eines oder mehrerer in Art. 14 Abs. 2 SRM-VO genannten Abwicklungsziele erforderlich ist, insbesondere für die Sicherstellung der Kontinuität der kritischen Funktionen und die Vermeidung erheblicher negativer Auswirkungen auf die Finanzstabilität.14 Vor diesem Hintergrund hat die Abwicklung im Sinne des Abwicklungsrechts in aller Regeln den Erhalt von systemrelevanten Teilen der Bank zum Gegenstand. Die Finanzierung dieses Erhalts bzw. der notwendigen Rekapitalisierung erfolgt im ersten Schritt durch das Instrument der Beteiligung von Anteilseignern und Gläubigern (sog. Bail-in).15 Soweit hierdurch 9 In dem Beitrag werden überwiegend die jeweils einschlägigen Vorschriften der SRMVO und im SAG genannt; manchmal wird anstatt auf das SAG auf die dem SAG zugrundeliegende BRRD Bezug genommen. 10 Art. 18 Abs. 1 Bst a) SRM-VO/§ 63 SAG. 11 Art. 18 Abs. 1 Bst. c); Abs. 5 SRM-VO/§ 62 Abs. 1 Nr. 2 SAG. Das Abwicklungsinteresse ist zu bejahen, wenn die Abwicklung für die Erreichung eines oder mehrerer der in Art. 14 Abs. 2 SRM-VO genannten Abwicklungsziele erforderlich ist. 12 Art. 18 Abs. 4 Bst. b) und Bst. c) SRM-VO/§ 63 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 SAG. 13 Art. 18 Abs. 4 Bst. a) und Bst. d) SRM-VO/§ 63 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 SAG. 14 Art. 14 Abs. 2 Bst. a) und Bst. b). Weitere Ziele sind der Schutz vor der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel und der Schutz von Einlegern, Kleinanlegern und der Schutz der Gelder und Vermögenswerte der Kunden (Art. 14 Abs. 2 Bst. c) bis d), die aber vom SRB vergleichsweise gering gewichtet werden. 15 Art. 27 SRM-VO/§ 90 SAG; näher dazu sogleich im nächsten Abschnitt.
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keine ausreichende Rekapitalisierung erreicht wurde und mindestens 8% der Forderungen der Gläubiger in den Bail-in einbezogen wurden (vgl. Art. 27 Abs. 7 SRM-VO), kann der aus Beiträgen aller Banken mit Aktivitäten in der Bankenunion gespeiste Einheitliche Abwicklungsfonds (Single Resolution Fund) in Anspruch genommen werden.16 Wenn das öffentliche Interesse an einer Abwicklung nach dem Abwicklungsregime verneint wird17, dann findet das jeweilige allgemeine Insolvenzrecht Anwendung. Wenn die Abwicklung nach dem allgemeinen nationalen Insolvenzrecht erfolgt, sind die in der SRM-VO bzw. die im SAG vorgesehenen Abwicklungsinstrumente nicht anwendbar. Auch die Inanspruchnahme des Single Resolution Fonds (SRF) ist dann ausgeschlossen. Daraus ergibt sich, dass die Banken sich bezüglich der abwicklungsrechtlichen Behandlung in drei Gruppen aufteilen lassen: – Die Institute von größerer Bedeutung (Significant Institutions – SiIs), für die die EZB Aufsichtsbehörde und der SRB Abwicklungsbehörde ist (SRB-Institute)18 – Sonstige bedeutende Institute, für die der SRB nicht bzw. nicht primär zuständig ist19, die aber so bedeutend sind, dass im Fall einer Bestandsgefährdung mit der Bejahung eines öffentlichen Interesses an der Abwicklung zu rechnen ist (sonstige Abwicklungsinstitute) – Sonstige „Less Significant Institutions (LSi – das ist in Deutschland die übergroße Mehrzahl), die nicht nach SRM-VO oder SAG, sondern in einem ordentlichen Insolvenzverfahren abzuwickeln sind; auch Insolvenzbanken. Das Recht der Bankenabwicklung im technischen Sinne betrifft nur die ersten beiden Gruppen. Wie zu zeigen sein wird, muss aber auch bei der Anwendung des Abwicklungsrechts das allgemeine Insolvenzrecht berücksichtigt werden. 2. Das Bail-in-Abwicklungsinstrument Eines der wichtigsten und das wohl prominenteste Abwicklungsinstrument ist der sogenannte Bail-in. Der „Bail-in“ oder in der deutschen Fach16
Art. 67 ff. SRM-VO Im Fachjargon wird das als negativer PIA (negative Public Interest Assessment) bezeichnet. 18 Hier unterscheidet man noch zwischen global systemrelevanten Institute (G-SIIs) und anderen systemrelevanten Institute (A-SIIs); zu den von der EZB bei der Beurteilung nach Art. 6 Abs. 6 Unterabs. 1; Unterabs. 2 SSM-VO angewandten Kriterien siehe https:// www.bankingsupervision.europa.eu/banking/list/criteria/html/index.de.html. 19 Das Verhältnis von EZB bzw. SRB zur BaFin in diesem Bereich ist nicht abschließend geklärt vgl. EuGH Urt. v. 8.5.2019, C-450/P – Landeskreditbank Baden-Württemberg/EZB und BVerfG (Fn. 7), Rn. 176 ff. 17
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terminologie das Instrument der Gläubigerbeteiligung (Art. 27 SRM-VO/ § 90 SAG) steht zunächst für das Prinzip, dass die Verluste – im Gegensatz zum Bail-out mit Steuergeldern – zunächst von den Anteilseignern und von den Gläubigern. Erst wenn im Wege des Bail-in keine ausreichende Rekapitalisierung erreicht werden kann, und mindestens 8% der Forderungen der Gläubiger in den Bail-in einbezogen wurden,20 kommt die Inanspruchnahme des Europäischen Abwicklungsfonds (Single Resolution Fond – SRF) in Betracht. 21 Letztlich ist der Bail-in ein durch Verwaltungsakt angeordneter Kapitalschnitt mit einem debt-equity-swap: Durch Allgemeinverfügung (vgl. § 137 S. 1 SAG)22 wird das Eigenkapital zunächst auf Null heruntergeschrieben.23 Anschließend werden Instrumente des Ergänzungskapitals und sowie sonstiges nachrangiges Kapital24 und schließlich sämtliche Verbindlichkeiten, die nicht ausdrücklich vom Bail-in ausgenommen sind, eingebailt.25 Hierbei wird noch einmal nach verschiedenen Unterkategorien abgestuft, beginnend bei den bei der MREL-Festsetzung berücksichtigungsfähigen Verbindlichkeiten und endend bei Einlagen, die nicht durch ein Einlagenssicherungssystem gedeckt sind.26 Die Kategorie der sogenannten-MREL Verbindlichkeiten wurde durch das sogenannte Bankenpaket der EU, teilweise auch Risikoreduzierungspaket genannt eingeführt.27 Jüngst hat das Bundesministerium der Finanzen einen Referentenentwurf für ein Risikoreduzierungsgesetz, das der Umset20
Vgl. Art. 44 Abs. 5 Bst. a) BRRD. Der Bail-in von systemrelevanten Instituten ist in Art. 27, 21, 3 Abs. 1 Nr. 33 der SRM-VO geregelt. Der Bail-in nicht systemrelevanter Institute richtet sich nach den §§ 89 ff. SAG, die auf den Art. 43, 2 Abs. 1 Nr. 57 der BRRD beruhen. 22 Im Hinblick auf das besondere Interesse der Jubilarin am kollektiven Arbeitsrecht sei angemerkt, dass gemäß § 137 S. 2 SAG die Bekanntgabe nicht nur gegenüber den Beteiligungen i.S.d. VwVfG entbehrlich ist, sondern auch ausdrücklich geregelt ist, dass eine Bekanntgabe gegenüber dem Betriebsrat nicht erforderlich ist. 23 In den Kategorien der Eigenmittelanforderungen Common Equity Tier 1 (CET1)/ Kernkapital und Additional Tier 1 (AT1)-Instrumente; vgl. Art. 50 und Art. 51 ff. VO (EU) 575/2013 (Bankaufsichts-VO/Capital Requirement Regulation – CRR). 24 Tier 2 (T2) Instruments (Ergänzungskapital), vgl. Art. 62 ff. CRR bzw. nachrangiges Kapital, das weder ergänzendes Kernkapital, noch Ergänzungskapital ist. 25 Vgl. Art. 27 SRM-VO/§ 90 SAG sowie Art. 48, 60, 108 BRRD. Zu den vom Bail-in ausgenommenen Verbindlichkeiten gehören insbesondere durch ein Einlagensicherungssystem gedeckte Einlagen und besicherte Verbindlichkeiten (Art. 27 Abs. 3 Bst. a) und b) SRM-VO/§ 90 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SAG). 26 Zu Einzelheiten der Haftungskaskade unten III.2. 27 Amtsblatt der EU vom 7. Juni 2019: D, L 150. Dieses Paket sieht – auch in Umsetzung von internationalen Übereinkommen (Stichwort Basel III und IV) – umfangreiche Änderungen bei der CRR, SRM-VO und BRRD vor; instruktiver Überblick im Monatsbericht der Bundesbank von Juni 2019, im Internet unter https://www.bundesbank.de/ resource/blob/799102/5d6274b2b4d2a561a54f9611cbaaed48/mL/2019-06-bankenpaketdata.pdf. 21
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zung dieses Pakets dient vorgelegt (nachfolgend: RefE-RiG).28 Die Jubilarin hat in einem anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Begriffe in Gesetzesbezeichnungen allein keine Risiken reduzieren.29 Zur Reduzierung von Risiken soll hier konkret u.a. eine neue Kapitalanforderung, das sogenannte MREL,30 beitragen. Institute, bei denen ein öffentliches Abwicklungsinteresse in Betracht kommt, müssen zusätzlich zu den Eigenmitteln für die Verlustabsorption auch Kapital für den Refinanzierungsbedarf für Restrukturierungsmaßnahmen in der Abwicklung vorhalten. Diese Kapitalanforderung muss aber nicht zwingend mit Eigenmitteln bedient werden, sondern kann auch dadurch erfüllt werden, dass die Bank Verbindlichkeiten gegenüber Gläubigern vorweisen kann, die bestimmte Merkmale aufweisen. Diese zielen darauf ab, dass ein Bail-in gut umsetzbar ist (eligible for Bail-in) ist.31 Entsprechend unterscheidet der RefE-RiG zwischen (als MREL) berücksichtigungsfähigen und (sonstigen) bail-in-fähigen Verbindlichkeiten.32 Bezüglich des Umfangs des Bail-ins hat die Abwicklungsbehörde ein recht weites Ermessen; vor allem bei der Beuerteilung, wie weit der Bail-in reichen soll, insbesondere ob er auch gewöhnliche bail-infähige Verbindlichkeiten oder sogar bestimmte Einlageforderungen erfasst werden sollen. Im Einzelfall können sogar besicherte Forderungen einbezogen werden.33 Umgekehrt kann die Abwicklungsbehörde bestimmte Forderungen im Einzelfall vom Bail-in ausnehmen. Dies hängt von der wirtschaftlichen Situation des betroffenen Instituts und von den gewählten Abwicklungsmaßnahmen ab.34
28 Entwurf eines Gesetzes zur Reduzierung von Risiken und zur Stärkung der Proportionalität im Bankensektor (Risikoreduzierungsgesetz – RiG); im Internet unter: https://www. bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Gesetzestexte/Gesetze_Gesetzesvorhaben/ Abteilungen/Abteilung_VII/19_Legislaturperiode/2020-04-22-Risikoreduzierungsgesetz/ 0-Gesetz.html. 29 Anlass für diese Bemerkung war das Gesetz zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken (Risikobegrenzungsgesetz) v. 12.8.2008, BGBl. 2008-I, 1666; siehe Windbicher Kapitalmärkte als Vorsorgeinstrument: „Risikobegrenzung“ durch Rechtsnormen? in: Münkler/Bohlender/Meurer (Hrsg.) Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge, 2010, 199 ff. 30 MREL steht für Mininum Requirement for Own Funds and Eligible Liabilities. 31 Unbesichert, Laufzeit nicht kürzer als ein Jahr, keine Verbindlichkeit aus Derivaten, Kenntnisnahme der Gläubiger von der gegenüber sonstigen Verbindlichkeiten vorrangigen Haftung (siehe § 46f Abs. 6 KWG). 32 Vgl. § 92 SAG in der Fassung des RefE-RiG (oben Fn. 28). Bail-in fähige Verbindlichkeiten sind grob gesagt alle gewöhnlichen Insolvenzforderungen, die weder vorrangig, noch nachrangig sind (man spricht auch von senior claims), die keine MREL-Verbindlichkeit sind. 33 Art. 27 Abs. 4 SRM-VO: Die Abwicklungsbehörde darf Forderungen erfassen soweit sie den Wert der Sicherheit übersteigen. 34 Vgl. 27Abs. 5 SRM-VO/§ 92 SAG.
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Die Abwicklungsbehörde trifft vorliegend eine Ermessensentscheidung von großer Tragweite, die unmittelbar tief in Rechtspositionen der Eigentümer und Gläubiger eingreift. Der Bail-in läuft im Regelfall darauf hinaus, dass die Anteilseigner ihrer Beteiligung entschädigungslos verlustig gehen und die Gläubiger ihrer Forderungen teilweise oder sogar vollständig verlieren, und im Gegenzug allenfalls eine Beteiligung an einer Bank von zweifelhaften Wert erhalten. 3. Praktische Relevanz des NCWO-Vergleichs Zu den das Ermessenen der Abwicklungsbehörde begrenzenden, auch die Gläubiger schützenden Vorgaben, gehören die 15 SRM-VO niedergelegten Grundsätze.35 Gemäß Art. 15 Abs. 1 Bst. g) SRM-VO gehört zu diesen Grundsätzen, die die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Abwicklungsinstrumente und Ausübung der Abwicklungsinstrumente sicherstellen sollen, dass kein Gläubiger größere Verluste zu tragen hat, als er im Fall der Liquidation im Wege eines regulären Insolvenzverfahrens zu tragen gehabt hätte. Dies wird als das No Creditor Worse Off-Prinzip (NCWO) bezeichnet.36 a) Kompensationsansprüche von Gläubigern aufgrund des NCWO-Vergleichs Gemäß Art. 74 BRRD/§ 146 SAG hat ein Sachverständiger eine vergleichende Bewertung im Hinblick auf die Beachtung des NCWO-Prinzips vorzunehmen. Dabei vergleicht er die Folgen für die Gläubiger der Abwicklung mit den hypothetischen Folgen einer regulären Insolvenz. Wenn der Sachverständige bei diesem NCWO-Test zu dem Ergebnis kommt, dass dem Gläubiger ein größerer Verlust entstanden ist als ihm in einem regulären Insolvenzverfahren entstanden wäre, dann ist dieser gemäß Art. 75 SRM-VO/§ 147 S. 1 SAG zu entschädigen. Dieser Haftungsanspruch ist auch im Hinblick auf das internationale Investitionsrecht insbesondere im Hinblick auf Gläubiger aus Drittstaaten geschaffen worden, da angesichts des mit dem Bail-in verbundenen Eingriff in bestehende Verträge auch völkerrechtlich ein Mindestmaß an Investitionsschutz geboten ist.37 Zu nennen sind hier insbesondere Freihandelsab35
Für Nicht-SRB-Institute siehe § 68 SAG/Art. 34 Abs. 1 BRRD. Für Nicht-SRB-Institute ergibt sich das aus § 68 Abs. 1 Nr. 1 SAG/Art. 34 Abs. 1 Bst. g) BRRD. 37 Tröger Too complex to work: A critical assessment of the bail-in tool under the European bank recovery and resolution regime, SAFE Working Paper, No. 179, August 2017, 1, 24; im Internet unter https://www.econstor.eu/bitstream/10419/168036/1/89 6643980.pdf. Zur drohenden Erosion des Grundsatzes Pacta sunt servanda im modernen Insolvenzrecht allgemein Paulus in FS Bonell, 2016, 740 ff. 36
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kommen und sonstige multilaterale Abkommen zum Investitionsschutz,38 Völkergewohnheitsrecht39 sowie bilaterale Investitionsschutzabkommen.40 Dieser Haftungsanspruch ist auch deshalb von großer Bedeutung, da der individuelle Rechtsschutz von Investoren, insbesondere von Gläubigern, im Übrigen stark eingeschränkt ist. Stellvertretend seien hier die Rechtsschutzmöglichkeiten nach dem SAG bei einer Abwicklung einer Bank in Deutschland geschildert. Widerspruchsverfahren und Anfechtungsklage gegen die Anordnung des Bail-in und von anderen Abwicklungsmaßnahmen haben keine aufschiebende Wirkung (§ 150 Abs. 1 SAG). Selbst wenn die Rechtswidrigkeit gerichtlich festgestellt wird, bleibt die Wirksamkeit der die Rechtslage umgestaltenden Abwicklungsmaßnahmen unberührt, und kann die Beseitigung der Vollzugsfolgen nicht verlangt werden (§ 150 Abs. 3 SAG).41 Der dem Gesellschaftsrechtler bekannte, insbesondere im Hinblick auf § 20 Abs. 2 UmwG gebrauchte Ausspruch „you cannot unscramble the egg“ gilt also auch hier. Wie im Umwandlungsrecht ist hier der Kläger auf einen Anspruch auf den Ausgleich der durch die Abwicklung entstandenen Nachteile verwiesen.42 Der Rechtsschutz ist sogar noch stärker als im Umwandlungsrecht auf die Ebene sekundärer Haftungsansprüche verlagert.43 Soweit die Kläger „Bail-in-Opfer“ sind, kann man bei der Quantifizierung des Nachteils nicht unterstellen, dass die Bank nicht abgewickelt worden wäre. Der Kläger müsste also darlegen, dass die Wahl eines anderen Abwicklungsinstruments gleich effektiv gewesen wäre und bei ihm geringere Schäden bzw. Nachteile verursacht hätte. Angesichts des weiten Ermessens der Abwicklungsbehörde bezüglich Abwicklungsplanung und Erstellung des Abwick-
38 Z.B. WTO-Übereinkommen über handelsbezogenen Investitionsmaßnahmen (Agreement on Trade-Related Investment Measures v.15.4.1994 – TRIMS); WTO-Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade and Services v.15.4.1994 – GATS), zur Relevanz für den Internationalen Investitionsschutz Reinisch in: Tietje (Hrsg.) Internationales Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2015, § 8 Rn. 15. 39 Verbot der Diskriminierung; Gebot des fair and equitable treatment, näher dazu Reinisch (Fn. 38), Rn. 42 ff. 40 Sogenannte BITs. Eine Zwitterstellung zwischen bilateralen und multilateralen Abkommen nehmen die von der EU mit Drittstaaten auf der Grundlage von Art. 207 Abs. 1 und Abs. 4 AEUV abgeschlossenen Investitionsschutzabkommen ein; siehe dazu Reinisch (Fn. 38), Rn. 16. 41 Dies gilt gemäß § 150 Abs. 3 S. 2 SAG nur dann nicht, wenn die Beseitigung nicht unmöglich ist, die Abwicklungsziele nicht gefährdet sind und schutzwürdige Interessen Dritter nicht bedroht würden. Diese sehr eng formulierte Ausnahme dürfte kaum von nennenswerten Praxisrelevanz sein. 42 § 150 Abs. 4 SAG; zum Umwandlungsrecht vgl. insbesondere § 16 Abs. 3 S. 6; §§ 25 ff. UmwG. 43 Bei Umwandlungen kann der Gesellschafter zumindest gegen den Beschluss Klagen und damit zumindest vorläufig eine Registersperre nach § 16 Abs. 1 UmwG bewirken, die das Unternehmen erst durch einen Antrag auf einstweilige Verfügung nach § 16 Abs. 3 UmwG überwinden muss.
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lungskonzepts44 sowie der besonderen Vertraulichkeit eines bedeutenden Teils der hierbei verwendeten Daten und Informationen,45 ist die Geltendmachung einer aussichtsreichen Klage ein sehr ambitioniertes Unterfangen. Die Konstruktion von Amtshaftungsansprüchen sieht sich vergleichbaren Herausforderungen und noch weiteren Schwierigkeiten gegenüber.46 Im Vergleich zu den vorgenannten Rechtsbehelfen ist der an die Verletzung des NCWO-Grundsatzes anknüpfende Anspruch aus § 147 S. 1 SAG deutlich griffiger. Es gibt – zumindest vordergründig – einen eindeutigen Haftungsmaßstab, nämlich den von einem neutralen Sachverständigen durchgeführten NCWO-Test.47 b) Der Fall Banco Popular Die große praktische Relevanz der Kompensationsansprüche wegen Verletzung des NCWO-Grundsatzes lässt sich gut anhand des bisher einzigen großen Abwicklungsfalls innerhalb der Bankenunion veranschaulichen. Die Banko Popular (BP), ein spanisches systemrelevantes Institut im Verantwortungsbereich des SRB war bestandsgefährdet. Der SRB bejahte das Abwicklungsinteresse, führte einen Bail-in durch, der nicht nur die Anteilseigner sondern auch viele Gläubiger bis hin zu Gläubigern von senior loans umfasste. Anschließend wurde die Bank an den Konkurrenten Santander für den symbolischen Preis von einem Euro veräußert und so eine Abwicklung (im engeren Sinne) verhindert, ohne dass Steuergelder beansprucht werden mussten.48 Allerdings wurden von „Bail-in-Opfern“ insgesamt 95 Klagen gegen den SRB und die Kommission erhoben. 49 Der Kernvorwurf lautet, dass Santander BP auch übernommen hätte, wenn der Bail-In weniger umfassend gewesen wäre. Der wohl wichtigste rechtliche Ansatzpunkt ist der Kompensationsanspruch wegen Verletzung des NCWO-Prinzips: In einem regulären Insolvenzverfahren, hätte Santander die BP zu einem höheren Preis übernommen und entsprechend wäre die Gläubiger in deutlich geringerem Umfang ausgefallen.
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Näher dazu sogleich übernächsten Abschnitt II.3.c). Vgl. stellvertretend Vertraulichkeitspflichten nach §§ 4 f. SAG; vgl. auch Art. 84 BRRD. 46 Da die BaFin hier als Abwicklungsbehörde tätig ist, ist müsste man zunächst begründen, warum eine Ausnahme vom Ausschluss des Drittschutzes nach § 4 Abs. 4 FinDAG gelten soll, wonach die BaFin ihre Befugnisse nur im öffentlichen Interesse ausübt. 47 Das Gutachten des Sachverständigen ist nicht bindend und gerichtlich voll nachprüfbar. 48 Siehe Darstellung bei De Charette The Banco Popular Resolution Case: A Tainted Success for the SRM?, 1, 2 ff.; Financial Risk and Stability Network, 2018; im Internet http:// financial-stability.org/the-banco-popular-resolution-case-a-tainted-success-for-the-srm/. 49 Zu den prozessualen Rechtsbehelfen siehe Art. 85 und 86 SRM-VO und vor allem Art. 263 AEUV, siehe auch De Charette (Fn. 48). 45
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Der Ausgleichsanspruch wegen Verletzung des NCWO-Prinzips wird verbreitet als der Eckpfeiler angesehen, um das Gebot der angemessenen Lastenverteilung mit dem Gebot des Schutzes der Rechte der Anteilseigner und Gläubiger zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen50 und ist damit Hauptansatzpunkt für Klagen von durch einen Bail-in betroffenen Gesellschaftern und Gläubigern. c) Vorfeldwirkung im Bereich der Abwicklungsplanung Aufgrund der erheblichen Haftungsträchtigkeit der Verletzung des NCWO-Grundsatzes entfaltet dieser Grundsatz eine starke Vorfeldwirkung im Bereich der Abwicklungsplanung, die nicht erst im Krisenfall erfolgt. Vielmehr erarbeiten BaFin und SRB für jedes Institut in ihrem Zuständigkeitsbereich einen Abwicklungsplan, der für diverse antizipierte Szenarien Strategien für die Wahl und die Durchführung von Abwicklungsinstrumenten entwickelt. Damit stehen der SRB und die nationalen Abwicklungsbehörden zur Vermeidung einer Verletzung des NCWO-Prinzips vor der Aufgabe, in ihrer Abwicklungsplanung stets den Vergleich mit einer Abwicklung nach regulärem Insolvenzrecht vor Augen zu haben. Besonders groß ist die sich daraus ergebende Herausforderung, wenn bei der Notwendigkeit einer Abwicklung im öffentlichen Interesse51 innerhalb von kurzer Zeit auf der Basis der Abwicklungsplanung das konkrete Abwicklungskonzept erstellt werden muss. Um Marktpanik und „creditors‘ flight“52 zu verhindern sieht das Konzept des SRB vor, dass zwischen Feststellung des Abwicklungsfalls und der verbindlichen Festlegung des Abwicklungskonzepts und Beginn der Implementierung der Abwicklungsinstrumente maximal 48 Stunden vergehen. Zunächst wird auf der Basis der Abwicklungsplanung das Abwicklungskonzept erarbeitet und der Europäischen Kommission zur Billigung vorgelegt. Gemäß Art. 18 Abs. 7 SRM-VO muss die Kommission dieses Konzept innerhalb von 24 Stunden nach dessen Übermittlung billigen. Wenn sie es nicht billigt, muss sie das Konzept innerhalb von 12 Stunden dem Europäischen Rat, konkret dem Rat der Finanzminister vorlegen.53
50 De Charette (Fn. 48), 9; Nach dem EuGH darf das Anliegen, für ein angemessenen „burdensharing“ zu sorgen, den Investorenschutz nicht komplett aushebeln, EuGH, Urt. v. 19.7.2016, Rs. C-256/14 – Kotnic. 51 Zum positiven PIA als Abwicklungsvoraussetzung siehe oben I.1. 52 De Charette (Fn. 48), 1, 3. 53 Wenn weder Kommission, noch der Rat innerhalb von 24 Stunden nach Vorlage des Abwicklungskonzepts widersprechen, gilt das Konzept als gebilligt, Art. 18 Abs. 7 Unterabs. 5 SRM-VO.
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Innerhalb eines sehr engen Zeitfensters müssen schwerwiegende Entscheidungen gefällt und die komplexe Überlegungen angestellt werden.54 Bei grenzüberschreitenden Bankengruppen muss die Abwicklungsbehörde das Insolvenzrecht mehrerer Mitgliedstaaten berücksichtigen. Der SRB als für alle systemrelevanten Banken zuständige Abwicklungsbehörde muss dabei das Insolvenzrecht aller Mitglieder der Bankenunion im Blick haben. Das ist der Punkt, an dem Rechtsvergleich unmittelbare Rechtsanwendungsrelevanz erlangt.
III. Rechtsvergleichung und Rechtsangleichung im Insolvenzrecht Die Aufgabe, dem NCWO-Grundsatz gerecht zu werden, wird dadurch besonders komplex, dass weder das allgemeine Insolvenzrecht noch das für Banken geltende Insolvenzrecht jenseits des Abwicklungsrechts harmonisiert sind. An diesem Befund ändert auch die EuInsVO55 schon deshalb nichts, da sie auf Kreditinstitute keine Anwendung findet.56 Auch wenn die Abwicklung der Bank sich nach der SRM-VO bzw. dem SAG richtet, muss wegen des NCWO-Grundsatzes betrachtet werden, wie die Gläubiger bei einer Liquidation nach dem allgemeinen Insolvenzrecht befriedigt worden wären. Damit muss der SRB, wenn er die Abwicklungsplanung für ein Institut, dass in mehreren Mitgliedstaaten Tochtergesellschaften hat, mehrere Insolvenzrechte im Blick haben. Damit lag es nahe, durch rechtsvergleichende Untersuchungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszufiltern und so Komplexität zu reduzieren. 1. Rechtsvergleichende Untersuchungen auf EU-Ebene Die Kommission (Generaldirektion für Finanzstabilität und Kapitalmärkte FISMA) hatte für eine Untersuchung des Bankeninsolvenzrechts ein Konsortium von Rechtsanwaltskanzleien unter der Führung einer italienischen Kanzlei beauftragt.57 Der Final Report wurde am 28. November 2019 auf der 54
Möglichst soll das Zeitfenster zwischen dem Börsenschluss in Europa am Freitag und der Öffnung der Börsen in Asien am Montag genutzt werden. Daher spricht man auch vom „Abwicklungswochenende“. 55 Verordnung (EU) 2015/848 v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren. 56 Art. 1 Abs. 2 Bst. b) EuInsVO. Abgesehen davon beschränkt sich die EuInsVO ganz vorwiegend auf die kollisionsrechtliche Anknüpfung und bestimmte Verfahrensfragen. Zu den von ihr ausgehenden mittelbaren Wirkungen auf die Konvergenz der Insolvenzrechte siehe Paulus in FS R. Geimer, 2017, 481 ff. 57 Eine Nebenbemerkung sei erlaubt: Hierin kann man ein Signal sehen, dass im Bereich des Bankaufsichtsrechts verstärkt darauf geachtet werden sollte, dass der Gesprächsfaden zwischen Regulierer und Praxis einerseits und der Wissenschaft andererseits nicht abreißt.
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Homepage der Europäischen Kommission veröffentlicht (nachfolgend bezeichnet als KOM-Report).58 In diesem Report wurden bereits bezüglich der institutionellen Rahmenbedingungen ganz erhebliche Unterschiede festgestellt. Die Unterschiede, die generell bestehen, werden im Bankenbereich dadurch verstärkt, dass eine Reihe von Mitgliedstaaten ein „free-standing“ Sonderinsolvenzrecht für Banken haben59, während bei der Mehrzahl der Staaten grundsätzlich das allgemeine Insolvenzrecht gilt, das gegebenenfalls von einzelnen Bestimmungen überlagert wird.60 Bei Ersteren sind für die Durchführung oft nicht die Insolvenzgerichte zuständig, sondern eine Behörde („administrative proceedings“).61 Zu diesen Ländern zählen Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Slowenien, Zypern, ferner – außerhalb der Bankenunion – Bulgarien, Polen, Schweiz und USA. In allen anderen Mitgliedstaaten der EU erfolgt die Steuerung dagegen durch Insolvenzgerichte.62 Wer wie die Jubilarin hinter die Legal-Origin-Theorie63 ein Fragezeichen gesetzt hat,64 wird sich hier bestätigt finden. Die Bildung zweier derart bunt gemischter Lager dürfte man mit den Kategorien der „persistent effects of legal origins“ der Legal Origin-Theorie kaum erklären können. Schon die skizzierten Unterschiede hinsichtlich der institutionellen Rahmenbedingungen machen deutlich, dass man hier nicht einfach bestimme Gesetzestexte miteinander vergleichen kann. Entsprechend arbeitet der Bericht nicht nur mit ausführlichen Berichten zu ausgewählten Ländern65, sondern gibt einen Überblick, wie bestimmte für die Abwicklung von Banken relevante Fragen des Insolvenzrechts in den Mitgliedstaaten behandelt werden.66 Damit ist dieser Report eine Art Hybrid von Länderbericht und funktionalem Ländervergleich, der eine ideale Arbeitsgrundlage für eine 58 Im Internet unter: https://ec.europa.eu/info/publications/191106-study-bank-insol vency_en. 59 Innerhalb der Bankenunion: Griechenland, Italien, Luxemburg, Niederland, Österreich, Slowenien; Zypern; Außerhalb der Bankenunion: Bulgarien, Polen, ebenso Schweiz und USA. 60 Vgl. Definition im Kom-Report, 13: „general corporate law applies to banks, but they are complemented or amended by specific provisions to address bank specifities“: im das deutschen Recht finden sich diese Überlagerungen vor allem in den §§ 46a ff. KWG. 61 KOM-Report, 13 f. Auch die Kombinationen Sonderinsolvenzrecht und Zuständigkeit der Insolvenzgerichte gibt es (Bulgarien und Zypern). 62 KOM-Report, 13 ff. 63 LaPorta/Shleifer/Vishny Investor Protection and Corporate Governance, Journal of Financial Economics, 58 (200), 1 ff.; siehe dazu auch Deakin/Pistor/Sovern, Legal Origin Theory, 2012. 64 Zu Rezeption und Kritik siehe stellvertretend Deakin/Pistor/Sovern Legal Origin Theory, 2012. 65 Deutschland, Italien, Deutschland, Spanien, Portugal und USA; erstaunlicherweise gab es keinen Länderbericht zu Frankreich. 66 Vgl. auch Erläuterungen zur Methodik im KOM-Report, 8.
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„Anatomy of Insolvency Law“ nach dem methodischen Vorbild des von der Jubilarin geschätzten, nunmehr in dritter Auflage erschienenen Werks „The Anatomy of Corporate Law“67 sein könnte. 2. Rechtsvergleichung und Rechtsangleichung bei der Insolvenzrangfolge Die Rangfolge der Befriedigung von Forderungen in der Insolvenz ist der Bereich, der für den NCWO-Vergleich von entscheidender Relevanz ist. In der Grundstruktur sind das Abwicklungsrecht und die nationalen Insolvenzrechte miteinander vergleichbar: Verluste sind primär von Anteilseignern und Gläubigern von nachrangigem Kapital zu tragen. Entsprechend werden sie typischerweise vollständig vom Bail-in erfasst bzw. gehen in der Insolvenz leer aus. Besicherte Gläubiger sind besonders geschützt. In der Insolvenz haben sie das Recht zur Aussonderung (§ 47 Abs. 1 InsO) oder zur abgesonderten Befriedigung (§§ 50 ff. InsO). In der Abwicklung sind besicherte Gläubiger vom Bail-in ausgenommen.68 Gläubiger von Fremdkapitalinstrumenten erhalten abhängig vom Verlauf des Insolvenzverfahrens und der wirtschaftlichen Situation eine Insolvenzquote. Auch beim Bail-in ist es von der konkreten Situation abhängig, wie hoch die von Fremdkapitalgebern zu tragenden Verluste letztlich sind,69 wobei allerdings neuerdings die Unterscheidung zwischen sogenannten MREL-Verbindlichkeiten und sonstigen Bail-in-fähigen Verbindlichkeiten zu beachten ist.70 a) Konvergenz und Divergenz bei der Insolvenzrangfolge Aber diese Konvergenz im Grundsätzlichen gilt nur für die gewöhnlichen Insolvenzforderungen (vgl. § 38 InsO). Bunt und unübersichtlich wird es, wenn man betrachtet, welche Forderungen privilegiert sind und welche Forderungen hinter den gewöhnlichen Insolvenzforderungen stehen. Als gemeinsamen Nenner aller Mitgliedstaaten kann man festhalten, dass die Vergütung des Insolvenzverwalters sowie Ansprüche des Fiskus und der Sozialkassen besonders privilegiert sind.71 Aber hier endet bereits die umfassende Konvergenz. Die Frage, inwieweit besicherte Verbindlichkeiten und Guthaben von nicht gedeckten Einlagen oder Ansprüche der Arbeitnehmer gegenüber gewöhnlichen Insolvenzgläubigern privilegiert sind, wird 67 Kraakman/Ringe/Rock/Armour/Davies/Enriques/Hansmann/Hertig/Hopt/Kanda/ Pargendler The Anatomy of Corporate Law, A Comparative and Functional Approach, 3. Aufl. 2017. 68 Art. 27 Abs. 3 Bst. b) SRM-VO/§ 91 Abs. 2 Nr. 2 SAG. 69 Siehe dazu oben II.2. 70 Siehe dazu oben II.2.; zu den Implikationen im Hinblick auf das NCWO-Prinzip siehe unten III.2.c) aE. 71 KOM-Report, 30 f.
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etwa nicht einheitlich beantwortet.72 Selbst dort, wo Konvergenz bezüglich des „ob“ der Privilegierung besteht, gibt es große Divergenzen zwischen dem „wie“ der Privilegierung. Ergibt sich die Privilegierung daraus, dass die Ansprüche den Masseverbindlichkeiten zugeordnet werden; wenn ja, gibt es einen besonderen Rang innerhalb der Masseverbindlichkeiten? Oder handelt es sich um eine vorrangige Insolvenzforderung und wenn ja, welchem Ranking genau ist sie zugeordnet? Hier ist das Bild sehr unübersichtlich und heterogen.73 Zwei Beispiele seien genannt: In Spanien macht man sich offenbar große Sorgen um die Vergütung des Insolvenzverwalters. Dieser ist in regelmäßigen Abständen aus der Masse des laufenden Verfahrens zu befriedigen.74 In Deutschland summieren sich die Sonderegelungen zum Arbeitsrecht fast zu einem Sonderarbeitsrecht in der Insolvenz75, das gerade auch Ansprüche aus Kollektivvereinbarungen besonders schützt.76 Die Jubilarin und der Verfasser sind in einem gemeinsamen Beitrag der Rechtsprechung zur verdeckten Sacheinlage im deutschen Recht als Local Hill Phänomen77 nachgegangen.78 Damit bezeichnet man sich hartnäckig haltende „persistente“ Besonderheiten, die sich aus Pfadabhängigkeiten und Netzwerkeffekten ergeben.79 Auch bei der Nachrangigkeit bestimmter Forderungen gibt es viele Divergenzen und teilweise exotische Besonderheiten. So heißt es im Bericht der Kommission, dass in Spanien ein gewillkürter Rangrücktritt dazu führen kann, dass der Gläubiger im Rang noch hinter die Gesellschafter zurücktreten muss.80 In diesem Zusammenhang darf die Behandlung von Gesellschafterdarlehen im deutschen Recht als ein veritabler „lokaler Berg“ nicht unerwähnt bleiben.81 Aber auch andere Mitgliedstaaten sehen durchaus eine Sonderbehandlung von Gesellschafterdarlehen und/oder von gruppeninternen Verbindlichkeiten vor, wobei sich 72
Siehe zum Ganzen KOM-Report, 30 ff. Besonders groß ist die Bandbreite des „wie“ der Privilegierung bei der Behandlung von Verfahrenskosten und der Vergütung des Insolvenzverwalters, siehe dazu KOMReport, 32. 74 KOM-Report, 32. 75 Vgl. Zwanziger Arbeitsrecht in der Insolvenzordnung, 5. Aufl., 2015; Krolop ZfA 2015, 287, 297 ff. 76 Siehe § 124 InsO zur Behandlung von Sozialplänen im Insolvenzplanverfahren Krolop 287, 297 ff. vgl. auch § 148 SAG, der für derartige Ansprüche eine Ausnahme vom Bailin vorsieht. 77 R.H.Schmidt/Spindler in Gordon/Roe (Fn. 3), 114 ff. 78 Windbichler/Krolop (Fn. 1), § 20 Rn. 26. 79 Bebchuk/Roe in Gordon/Roe (Fn. 3), 69 ff.; vgl. auch von Hein Die Rezeption USamerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, 2008, 364 f. 80 KOM-Report, 33. 81 Vgl. §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 InsO; zur Betrachtung dieses Sonderwegs im Rechtsvergleich Haas Reform des gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutzes: Gutachten E für den 66. Deutschen Juristentag, 2006; vgl. auch Krolop GmbHR 2009, 398, 399 f. 73
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auch hier erneut nicht nur das „ob“, sondern auch das „wie“ stark unterscheidet.82 Die hier kursorisch vorgestellte rechtsvergleichende Untersuchung hat nicht die Erkenntnis gebracht, dass es im Wesentlichen keine substantiellen Unterschiede in der Rangfolge in der Insolvenz zwischen den Insolvenzrechten der Mitgliedstaaten gibt, was im Hinblick auf die Durchführung des NCWO-Vergleichs in der Praxis von Vorteil gewesen wäre. Vielmehr hat der Rechtsvergleich bezüglich einer Reihe von Einzelfragen einen Wildwuchs von nationalen Sonderregelungen zutage gefördert, der es dem SRB sehr erschwert, auf der Ebene der Rechtsanwendung einheitlich für alle Länder geltende Standards für den NCWO-Vergleich in der Abwicklungsplanung zu entwickeln. b) Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsangleichung Das galt auch in dem für Banken besonders wichtigen Bereich der Behandlung von Einlagen. Hier waren Mitgliedstaaten sehr gespalten, ob Einlagen, die nicht von einem Einlagensicherungssystem nach der Einlagensicherungsrichtlinie83 gedeckt sind (nicht gedeckte Einlagen), wie gewöhnliche Insolvenzforderungen behandelt werden sollen oder ob sie besonders zu privilegieren sind.84 Um bei der Behandlung der Einlagen, die Divergenzen zwischen Abwicklungs- und Insolvenzrecht zu minimieren, sieht Art. 108 BRRD vor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, auch im regulären Insolvenzverfahren zu gewährleisten, dass die Einlagen von natürlichen Personen und kleineren Unternehmen gegenüber gewöhnlichen Fremdkapitalforderungen vorrangig befriedigt werden. Damit sollte zwecks Vermeidung von NCWO-Problemen eine Angleichung an das Abwicklungsregime erreicht werden. Dort werden spiegelbildlich von der Abwicklungsbehörde Einlagen von natürlichen Personen und kleinen Unternehmen nur dann in den Bail-in einbezogen, wenn eine ausreichende Rekapitalisierung durch einen vollständigen Bail-in der Eigenkapitalinstrumente und der sonstigen nicht vom Bail-in ausgenommen Forderungen nicht erreicht werden kann.85 Es erscheint naheliegend, nach Vorbild der Regelung in Art. 108 BRRD die sich aus der Divergenz der Insolvenzrechte im Hinblick auf den NCWO-Test ergebenden Probleme dadurch zu bewältigen, dass man die für Banken geltende Rangfolge der Gläubiger in der Insolvenz auf europäischer Ebene dergestalt vereinheitlicht, dass man sie an die Haftungskaskade 82 KOM-Report, 33 f. In Portugal etwa stehen Gesellschafterdarlehen im Rang vor den Forderungen von Dritten mit gewillwürtem Nachrang; siehe dazu KOM-Report, 34. 83 RiLi (EU) 2014/49 vom 16.4.2014 über Einlagensicherungssysteme. 84 KOM-Report, 31; 35 f. 85 Vgl. KOM-Report, S. 35 f.; siehe auch § 97 SAG Abs. 1 S. 3 i.V.m. § 46 f. Abs. 4 Nr. 2 KWG.
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im Bail-in angleicht. Der deutsche Gesetzgeber hat mit der das allgemeine Insolvenzrecht überlagernden Regelung des § 46f KWG versucht, diesen Weg zu gehen und die Rangfolge bei der Befriedigung der Forderungen in der Insolvenz der Banken an das Bankenabwicklungsrecht anzugleichen.86 Aber wie so oft zeigen sich im Detail dann doch wieder die „Persistenz“ von Divergenzen. Diese sind auch durch Art. 108 BRRD nicht vollständig beseitigt worden. Zum einen sehen einige Staaten vor, dass alle Einlagen privilegiert sind.87 Ferner gibt es Unterschiede bezüglich des Grades des Vorrangs innerhalb der privilegierten Insolvenzforderungen.88 Darüber hinaus gibt es konzeptionelle Unterschiede zwischen der Rangfolge der Befriedigung von Gläubigern in der Insolvenz und der Reihenfolge der Einbeziehung ins Bail-in, wo es nicht um Befriedigung, sondern Haftung geht.89 Das zeigt sich insbesondere bei der Privilegierung bestimmter Forderungen. Während im Insolvenzrecht, eine vorrangige Befriedigung vorgesehen ist, listet das Abwicklungsrecht einen Katalog von Forderungen auf, die vom Bail-in ausgenommen sind. Der in Art. 27 Abs. 3 SRM-VO bzw. § 92 Abs. 2 SAG enthaltene umfangreiche Katalog dieser geschützten Forderungen liest sich zwar wie das Who is Who von privilegierten Forderungen und gesicherten Forderungen in den Insolvenzrechten der Mitgliedstaaten. Dennoch sind der Rechtsangleichung Grenzen gesetzt. Das lässt sich gut anhand der Behandlung besicherter Verbindlichkeiten veranschaulichen: Im Abwicklungsrecht sind diese grundsätzlich vom Bail-in ausgenommen.90 Im deutschen Insolvenzrecht ist die besicherte Forderung dagegen grundsätzlich eine gewöhnliche Insolvenzforderung. Im Gegenzug hat der Gläubiger das Recht auf Aussonderung nach § 47 InsO bzw. abgesonderte Befriedigung gemäß §§ 50 ff. InsO. Damit konnte mit § 46f KWG nur ein Teil der 86 § 46 f. KWG eingeführt durch das Gesetz zur Anpassung des nationalen Bankenabwicklungsrechts an den Einheitlichen Abwicklungsmechanismus und die europäischen Vorgaben zur Bankenabgabe (Abwicklungsmechanismusgesetz) v. 2.11.2015, BGBl. I, 1864; Art. 2/Änderungsbefehl Nr. 23; vgl. auch Ref-RiG (Fn. 28) Art. 1/Änderungsbefehl Nr. 57. Dies wird flankiert durch eine Berücksichtigung der insolvenzrechtlichen Rangfolge beim Bail-in von Verbindlichkeiten nach § 97 Abs. 1 S. 3 SAG. 87 Mit Italien, Zypern, Griechenland und Portugal sind das durchgängig Staaten, die mit einer Staatsfinanz- und/oder nationalen Bankenkrise konfrontiert waren; vgl. KOMReport, 31. 88 Es sind diverse Abstufungen vertreten, die von besonders großer Priorität (Lettland/Kroatien) bis hin zu niedrigst möglicher Priorität reichen (Dänemark/Frankreich); vgl. KOM-Report, 31. 89 Das beginnt damit, dass die Haftungskaskade gegenüber der Rangfolge in der Insolvenzfolge spielverkehrt ist (Prioritär bedeutet in der Insolvenz vorrangige Befriedigung; im Abwicklungsrecht dagegen vorrangige Heranziehung zur Deckung von Verlusten). 90 Art. 27 Abs. 3 Bst. b) SRM-VO. Im Einzelfall kann die Forderung gemäß Art. 27 Abs. 4 SRM-VO soweit in den Bail-in einbezogen werden, wie die Forderung den Wert der Sicherheit übersteigt.
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Divergenzen zwischen Abwicklungs- und Insolvenzrecht überwunden werden. c) Punktuelle Angleichung von Rangfolge in der Insolvenz und Haftungskaskade Auch die Kommission befürwortet in ihrem Bericht zwar die Rangfolge in der Insolvenz möglichst weitgehend anzugleichen, konstatiert aber selbst, dass dies eine besondere Herausforderung darstellen dürfte und verweist dazu auch insbesondere auf „strong national specifities“, womit auch das Problem der Pfadabhängigkeit angesprochen sein dürfte.91 Sie schreckt daher vor einer umfassenden Harmonisierung zurück und spricht sich eher für einen evolutionären Prozess aus, in dem bestimmte Eckpunkte harmonisiert werden, und zwar spezifisch für die Insolvenz von Banken. So wurde mit dem Bankenpaket92 Art. 48 Abs. 7 BRRD eingeführt, der vorsieht, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass Eigenmittel nach ihrem nationalen Recht über das reguläre Insolvenzverfahren einen schlechteren Rang als andere Instrumente haben, um so einen Gleichlauf der Behandlung der Eigenmittelinstrumente im Abwicklungs- und Insolvenzverfahren sicherzustellen.93 Eine neue Herausforderung für den NCWO-Vergleich stellen die sogenannten MREL-Verbindlichkeiten dar, die vorrangig vor allen anderen Bailin fähigen Verbindlichkeiten, aber erst nach Eigenmittelinstrumenten und herkömmlichen Nachrangverbindlichkeiten haften.94 Sie nehmen damit einen Zwischenrang ein, der im Insolvenzrecht der nationalen Mitgliedstaaten nicht abgebildet ist. Im Hinblick auf die Vermeidung von Problemen beim NCWO-Vergleich sieht der deutsche Gesetzgeber in § 46f Abs. 6 KWG vor, dass als MREL berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten in der Insolvenz erst nach gewöhnlichen Insolvenzforderungen zu befriedigen sind und so einen Sonderrang zwischen klassischem Nachrangkapital und gewöhnlichen Fremdkapitalforderungen einnehmen. Aber das ist bisher ein deutscher Sonderweg. Eine derartige Angleichung vom Abwicklungsregime und Rangfolge in der Insolvenz wird in der BRRD nicht verlangt.
91 KOM-Report, S. 58: „The further harmonisation of the insolvency ranking may present particular challenges due to strong national specificities and the need to addresss specific instances in different member states.“ 92 Siehe oben F. 28. 93 So sollen NCWO-Probleme bei Mitgliedstaaten wie Spanien vermieden werden, wo Gläubiger von gewillkürten Nachrangkapital den gleichen oder sogar einen schlechteren Rang einnehmen als Anteilsinhaber; siehe KOM-Report, 33. 94 Siehe oben II.2.
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IV. Folgerungen für die Bewertung des NCWO-Tests aus der Perspektive der Methodik der Rechtsvergleichung Die soeben genannte Regelung zum insolvenzrechtlichen Sonderrang von MREL-Verbindlichkeiten zeigt, welch merkwürdige Blüten die Notwendigkeit des NCWO-Vergleichs treibt: Da MREL nur festgesetzt wird, wenn die Bejahung des Abwicklungsinteresses wahrscheinlich ist und damit das Insolvenzrecht gerade nicht zur Anwendung kommt, stellt sich die Frage der Einordnung von MREL-Verbindlichkeiten in die Insolvenzrangfolge eigentlich gar nicht. Da man aber den NCWO-Vergleich mit einem Insolvenzverfahren anstellen muss, will der deutsche Gesetzgeber gleichwohl eine gesetzliche Regelung schaffen, deren Funktion sich weitgehend darin erschöpft, Referenz für eine hypothetische Vergleichsoperation zu sein. 1. Grenzen der Rechtsvergleichung bei der praktischen Anwendung Die skizzierten Rechtsangleichungsbemühungen vermögen nichts daran zu ändern, dass der SRB bei der Abwicklungsplanung und der Festlegung des Abwicklungskonzepts die Feinheiten des Insolvenzrechts der betroffenen Länder, insbesondere der Insolvenzrangfolge berücksichtigen muss. Bei dieser schwierigen Kalibrierung ist er gezwungen im großen Umfang Rechtsvergleich mit unmittelbarem Anwendungsbezug zu betreiben. Da die Rechtsangleichung die konstatierte komplexe Vielfalt in diesem Bereich nur teilweise reduzieren konnte, stellt sich die Frage, ob nicht selbst eine Institution wie der SRB, der über große Sachkompetenz und umfangreiche Ressourcen verfügt, mit der Aufgabe, alle Insolvenzrechte der Mitgliedstaaten und deren „hypothetische“ Anwendung zu überblicken, sehr stark gefordert, wenn nicht überfordert ist. Das gilt insbesondere, wenn man bedenkt, dass auf der Basis der Abwicklungsplanung das Abwicklungskonzept im konkreten Krisenfall innerhalb einer sehr kurzen Frist erstellt werden muss. Eine umfassende hypothetische (rechts)vergleichende Betrachtung der insolvenzrechtlichen Abwicklung im konkreten Einzelfall scheint vor diesem Hintergrund in der Kürze der Zeit trotz der breit angelegten rechtsvergleichenden Untersuchungen und den erfolgten Rechtsangleichungsbemühungen kaum durchführbar. Die Rechtsharmonisierung mag Regeln teilweise vereinheitlichen. Die Spuren von pfadabhängig aufgeschichteten Local Hills in der Rechtslandschaft können aber nicht so einfach mit einem Federstrich des Europäischen Gesetzgebers beseitigt werden. Mentalitäten, Usancen, institutionelle sowie sozioökonomische Rahmenbedingungen, die zu einem Locall Hill geführt
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haben, verschwinden nicht über Nacht.95 Es ist mittlerweile ein Allgemeinplatz, dass die Rechtsvergleichung sich nicht auf die Betrachtung der abstrakten Rechtstexte und der Rechtsprechung („Law in the Books“) beschränken sollte, sondern auch die genannten Aspekte des („Law in Action“) mit einbeziehen sollte. Dieses Postulat ist beim NCWO-Test besonders relevant. Der NCWOVergleich beinhaltet eine hypothetische Betrachtung, die von hypothetischen Entscheidungen einer Vielzahl von Personen (vom Insolvenzverwalter über Insolvenzgerichte bis hin zu Gläubigern) bzw. von Beschlüssen der Gläubigerversammlung abhängt.96 Diese Aufgabe ist, wie vorstehend aufgezeigt, schon bezüglich der Rechtsnormen schwierig genug. Aber letztlich hängen diese Entscheidungen sehr stark vom sozioökonomischen Kontext, Gewohnheiten, Mentalitäten und Pfadabhängigkeiten ab. All diese Faktoren einzuberechnen ist praktisch unmöglich, selbst bei umfassenden Kenntnissen der Feinheiten der verschiedenen nationalen Insolvenzrechte. Das gilt insbesondere auch im Hinblick darauf, dass man den NCWO-Test in der Regel nicht nur auf ein einzelnes Unternehmen, sondern oft auf eine grenzüberschreitende Unternehmensgruppe anwenden muss. 2. Besondere Schwierigkeiten bei der Betrachtung einer Unternehmensgruppe Zum NCWO-Test kommt man nur, wenn ein öffentliches Interesse an der Abwicklung erfüllt ist. Das kommt grundsätzlich nur bei systemrelevanten Banken und sonstigen besonders bedeutenden Banken in Betracht. Derartige Banken bilden aber in aller Regel eine Unternehmensgruppe, oft eine grenzüberschreitende Unternehmensgruppe, so dass man im Rahmen des NCWO-Test ermitteln muss, zu welchen Ergebnisse die Durchführung des bzw. der Insolvenzverfahren für alle Unternehmen der Unternehmensgruppe geführt hätte. a) Konzerninsolvenz im allgemeinen Insolvenzrecht Von den EU-Staaten sieht bei Banken lediglich Spanien auf nationaler Ebene ein zentrales Insolvenzverfahren für die gesamte Unternehmensgruppe vor.97 Allerdings sieht die Europäische-InsVO seit ihrer Neufassung im Jahr 2015 in den Art. 63 ff. EuInVO ein sogenanntes Gruppen-Koordinierungsverfahren vor. Wie der Name andeutet, ist dieses Verfahren weniger 95
Bebchuk/Roe (Fn. 79), S. 69 ff.; vgl. auch von Hein (Fn. 79), S. 364 f. Windbichler/Krolop (Fn. 1), § 20 Rn. 26 m.w.N. 96 Tröger (Fn. 37), 1, 24. 97 In Irland und mit Abstrichen auch in Frankreich gibt es Ansätze in diese Richtung.
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auf Zentrierung des gesamten Verfahrens bei einem Insolvenzverwalter ausgerichtet als auf die Koordinierung des Handelns der Insolvenzverwalter der verschiedenen Gesellschaften der Gruppe mit dem „Koordinator“ primus inter partes. Der Koordinator hat Informationsrechte (Art. 74 EuInsVO), kann Empfehlungen aussprechen und einen Gruppen-Koordinationsplan aufstellen (Art. 70 EuInsVO). Die Insolvenzverwalter sind jedoch nicht verpflichtet, den Empfehlungen oder dem Plan Folge zu leisten (Art. 70 Abs. 2 EuInsVO).98 Jüngst hat der deutsche Gesetzgeber für reine Inlandssachverhalte in die InsO Regelungen eingefügt, die eine ähnliche Zielrichtung verfolgen.99 Ein zentrales grenzüberschreitendes Konzerninsolvenzverfahren mit echten Durchgriffsrechten des Insolvenzverwalters der „Hauptgesellschaft“ auf die Verfahren der anderen Gesellschaften der Gruppe ist trotz intensiver Diskussion und Forderungen de lege ferenda derzeit noch Zukunftsmusik.100 In Anknüpfung an eine zum Arbeitsrecht entwickelte Unterscheidung aus einer Habilitationsschrift101, die den Autorinnen und Autoren dieser Festschrift bekannt sein dürfte, könnte man sagen, dass der Schritt vom Insolvenzrecht im Konzern zu einem speziellen Konzerninsolvenzrecht im Sinne eines Sonderrechtsgebiets noch aussteht. Ob man diesen Schritt gehen kann bzw. soll ist lebhaft umstritten.102 Neben der Verknotung von vielen gesellschaftsrechtlichen, insolvenzrechtlichen, kollisionsrechtlichen und arbeitsrechtlichen Fragestellungen ist bei grenzüberschreitenden Sachverhalten vor allem die Krux, ob und wie man einem nationalen Insolvenzgericht in einem Mitgliedstaat erlauben soll, hoheitliche Befugnisse in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben. b) Behandlung des Bankenkonzerns im Abwicklungsrecht Im Bereich der Bankenabwicklung wird – zumindest für systemrelevante Institute im Euro-Raum – die Zukunftsmusik bereits intoniert. Die Zuständigkeit des SRB für alle Teile einer Gruppe im Euro-Raum sowie die Möglichkeit durch Verwaltungsakt ein Abwicklungskonzept festzusetzen und zu exekutieren103 bilden das Schwert, mit dem der vorstehend andeutungsweise beschriebene gordische Knoten zerschlagen werden soll. Über die 98
Flöther Konzerninsolvenzrecht, 2. Aufl., 2018, § 8 III. Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen (KIG) v. 13.4.2017, BGBl. I Nr. 22, S. 866; zum Verhältnis zur EuInsVO Altmeppen in MünchKommAktG, 4. Aufl., Bd. 5 (2020), Einleitung Rn. 43. 100 Zum Diskussionsstand siehe Flöther (Fn. 98), § 8 I.; Zusammenfassung der Bewertung des KIG bei Altmeppen (Fn. 99), Rn. 38 ff. 101 Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, 1976, 612: „Der Schutz des Arbeitnehmers, der durch Konzernfestigkeit der Vertragsbeziehung, der betriebsverfassungsrechtlichen und tariflichen Rechte gewährleistet ist, beruht darauf, dass es insoweit kein spezielles Konzernrecht gibt.“ 102 Zu dieser Diskussion siehe Flöther (Fn. 98), § 8 I. 103 Siehe oben II.1. 99
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Schärfe dieses Schwerts sind die Meinungen allerdings geteilt.104 Denn die Jurisdiktion des SRB reicht nicht über die Bankenunion hinaus. Für die Steuerung von Abwicklungen von Bankengruppen, die auch bedeutende Aktivitäten außerhalb der Bankenunion bzw. außerhalb der EU erfasst, ist man auf die Koordinierung des Handelns der Abwicklungsbehörden der beteiligten Länder angewiesen, die in sogenannten Abwicklungskollegien institutionalisiert ist.105 Aber zumindest für eine Bankengruppe innerhalb der Bankenunion kann der SRB die Abwicklung einer Bankengruppe zentral steuern. Dabei unterscheidet man die Einzelabwicklung einzelner Gruppenmitglieder (sog. Multiple Point of Entry-Ansatz – MPE) und den in der Abwicklungsplanung deutlich dominanten Ansatz, die Abwicklung einer Unternehmensgruppe über einen „Single Point of Entry“ (SPE) zu steuern. Während im Abwicklungsrecht der SPE-Ansatz die dominierende Strategie ist, läuft eine Gruppenabwicklung nach allgemeinen Insolvenzrecht auf einen MPE-Ansatz hinaus, da der SPE-Ansatz im Insolvenzrecht der meisten Mitgliedstaaten gar nicht zulässig ist. Selbst wenn es – wie z.B. in Spanien – ein speziellen Gruppeninsolvenzverfahren für Banken gibt, stößt dies bei grenzüberschreitenden Sachverhalten an Grenzen. Aufgrund dieses ganz grundlegenden konzeptionellen Unterschieds – SPE im Abwicklungsrecht versus MPE im Insolvenzrecht – sind Schwierigkeiten hinsichtlich der Wahrung des NCWO-Prinzips vorprogrammiert. Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: Art. 21 SRM-VO regelt für die Forderungen der Tochter gegen die Mutter, dass diese nur dann herabgeschrieben werden dürfen, wenn in gleichem Umfang Forderungen der Muttergesellschaft gegen die Tochtergesellschaft herabgeschrieben werden (Art. 21 Abs. 6 SRM-VO). In der umgekehrten Konstellation greift diese Begrenzung nicht. Das bedeutet, wenn und soweit die Muttergesellschaft gegen die Tochtergesellschaft mehr Forderungen hat als umgekehrt, werden diese herabgeschrieben, d.h. sie gehen unter und helfen bei der Rekapitalisierung der Tochtergesellschaft.106 Im normalen Insolvenzverfahren kann man aber nicht gegen den Willen der Mutter die Forderungen einfach zum Erlöschen bringen. Damit ist mittelbar eine strukturelle Schlechterstellung der Gläubiger der Muttergesellschaft in der Abwicklung gegenüber den Befriedigungsaussichten in einem regulären Insolvenzverfahren angelegt.107 Die Abwick104
Vgl. Kritik bei Tröger (Fn. 37), 25 f. Vgl. Art. 88 ff. BRRD/§§ 156 ff. SAG. 106 Hintergrund dieser Unwucht zu Gunsten der Tochtergesellschaft soll negative Effekte ausgleichen, die sich daraus ergeben, dass Muttergesellschaften bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten dazu tendieren, ihren Tochtergesellschaften den Geldhahn zuzudrehen. 107 Das genaue Ausmaß der Schlechterstellung hängt dann wiederum davon ab, wie das jeweils einschlägige nationale Insolvenz- bzw. Gesellschaftsrecht konzerninterne Verbindlichkeiten behandelt. 105
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lungsbehörde wird hier vor ein Dilemma – man könnte vielleicht sogar sagen vor einen Normenkonflikt – gestellt: Durch die konsequente Anwendung von § 21 SRM-VO droht sie in Konflikt mit dem NCWO-Prinzip zu geraten. Spätestens an diesem Punkt sieht man, dass man das NCWO-Prinzip einhegen muss. Es gilt der Gefahr entgegen zu wirken, dass das Bemühen um Haftungsvermeidung im Hinblick auf das NCWO-Prinzip die eigentlichen Abwicklungsziele, insbesondere die Gewährleistung der Finanzstabilität und den Erhalt systemrelevanter Funktionen bei angemessener Beteiligung der Anteilsinhaber und Gläubiger, überlagert.
V. Fazit, Folgerungen und Ausblick Es ist deutlich geworden, dass aufgrund des NCWO-Vergleichs die Rechtsvergleichung in der Abwicklungsplanung im Abwicklungsregime der Banken, insbesondere bei grenzüberschreitenden Unternehmensgruppen, unmittelbare Praxisrelevanz erlangt. Die rechtsvergleichenden Untersuchungen haben die Erkenntnis gebracht, dass es im Grundsätzlichen durchaus eine gewisse Konvergenz bei der für den NCWO-Test so wichtigen Rangfolge in der Insolvenz gibt. Jedoch sind bei Einzelfragen viele Divergenzen zu Tage getreten, die trotz des vom Abwicklungsrecht ausgehenden Konvergenzdrucks nicht behoben sind und sich auch kurzfristig nicht ohne Weiteres durch punktuelle Rechtsangleichungen beheben lassen. Der SRB ist daher genötigt, die Folgen der zu ergreifenden Abwicklungsmaßnahmen individuell mit den Folgen eines hypothetischen Insolvenzverfahrens nach den Insolvenzrechten der Staaten, wo die abzuwickelnde Bank aktiv ist, abzugleichen. Das ist eine sehr komplexe Operation, die unter großem Zeitdruck finalisiert werden muss. 1. Folgerungen für Einordnung und Bedeutung des NCWO-Grundsatzes Legt man die Elle der Methodenkritik der Rechtsvergleichung an, dann verlangt hier der Gesetzgeber vom SRB Unmögliches. Das Motto „Den lieb ich, der Unmögliches begehrt,108 mag für Revolutionäre und vielleicht auch für die Wissenschaft Ansporn sein, es ist aber wenig ermutigend für Jemanden, der in der Praxis unter dem Damoklesschwert von Entschädigungsansprüchen in Millionen- vielleicht sogar Milliardenhöhe eine konkrete Aufgabe bewältigen soll. 108 Goethe Faust. Der Tragödie zweiter Teil, 1832. 2. Akt, Klassische Walpurgisnacht, Am unteren Peneios, Manto.
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In einem Aufsatz zum Bail-in von Tobias Tröger heißt es schon im Titel „Too complex to work109“. In der Pauschalität würde ich das nicht unterschreiben wollen. Aber dieses Verdikt würde für den NCWO-Vergleich dann gelten, wenn man diesen als Rechtssatz auffassen würde, wonach für die Gläubiger eine auf den Cent genaue Vergleichsrechnung aufgestellt werden muss. Wer verlangt, dass jedwede Schlechterstellung der Gläubiger bei Anwendung des Abwicklungsregimes im Vergleich zur insolvenzrechtlichen Abwicklung vermieden werden muss, begehrt Unmögliches und kann bzw. sollte nicht damit rechnen, dafür geliebt zu werden. Nicht ohne Grund spricht das Gesetz von bei der Abwicklung zu beachtenden „Grundsätzen“. Ein klassisches Analyseinstrument in Normentheorie und Rechtsvergleichung ist die Unterscheidung zwischen Rechtssätzen, die detaillierte Vorgaben machen („Rules“), und konkretisierungsbedürftigen Prinzipien („Standards“).110 Vor diesem Hintergrund sollte man den NCWO-Grundsatz nicht als „Rule“, sondern als Rechtsprinzip im Sinne eines „Standard“ auffassen, das gewährleisten soll, dass es zu keiner willkürlichen Schlechterstellung kommt; also eine Art Ausprägung des Willkürverbots. Auch der im internationalen Investitionsrecht gebräuchliche Standard der gerechten und billigen Behandlung (Fair and equitable treatment) verbietet lediglich ein staatliches Handeln, das willkürlich oder schwerwiegend unfair ist.111 Das ist insoweit relevant als eine wichtige Funktion des NCWO-Prinzips darin besteht, diesen Anforderungen gerecht zu werden.112 Das Fehlen eines fairen Verfahrens und ein Verstoß gegen das Prinzip des fair and equitable treatment kann sich auch aus einer Intransparenz ergeben, die den „grundlegenden legitimen Erwartungen“ 113 der Investoren nicht genügt. Im Hinblick auf die gebotene Transparenz sollte vermieden werden, dass der NCWO-Test etwas verspricht, was in der Praxis nicht eingelöst werden kann. Es droht ansonsten das aus dem Bereich der Abschlussprüfung bekannte Phänomen der Er109
Tröger (Fn. 37). Siehe Enriques/Hansmann/Kraakman/Pargendler in An Anatomy of Cororate Law (oben Fn. 67), Abschn. 2.2.1. 111 Reinisch (Fn. 38), § 8 Rn. 50; siehe auch Entscheidung des International Center of Settlement of Investment Disputes (ICSID), Waste Management v. Mexico II ICSID No ARB(ASF)/00/3, Additional Facility v.30.4.2004, ILM 43 (2004), 967, Rz. 98: … If the conduct is abitrary, grossly unfair, unjust or ideosyncratic, or discriminatroy (…) or involves a lack of due process leading to an outcome which offend judicial property“. 112 Siehe oben II.3. 113 Reinisch (Fn. 38), § 8 Rn. 52; siehe auch Technicas Medioambientales Tecmed S.A. v. Mexico ICSID Case No ARB(AF)/00/2, Additional Facility v.29.5.2003, ILM 43 (2004), 133 Rn. 54: „The foreign investor expects the host State to act in a consistent manner, free from ambiquity and totally transparently in its relation with the foreigm investor so that it may know beforehand (…) the goals oft he relevant policies and administrative practices (…)“. 110
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wartungslücke114; ein Thema das Jubilarin insbesondere in der Lehre und im Zusammenhang ihrer Tätigkeit in der Abschlussprüferaufsichtskommission stark beschäftigt hat. Entsprechend gilt es auch hier, der Erwartung entgegen zu wirken, dass jedwede Schlechterstellung von Gläubigern gegenüber dem Insolvenzverfahren verhindert werden kann. Das Bail-in-Instrument ist ein gewaltiger Hobel, bei dem es unvermeidbar ist, das in erheblichem Umfang Späne fallen. Die Rechtsvergleichung hilft dabei, zu beurteilen, welche Späne notwendiger, hinzunehmender Verschnitt sind, und wo das Werkstück unangemessen gestutzt wurde, sprich das NCWO-Prinzip grob verletzt wurde. Letzteres ist insbesondere der Fall, wenn allgemein anerkannte Grundsätze verletzt worden sind. Wenn sich dagegen die Schlechterstellung des Gläubigers gegenüber der Insolvenz aus einer relativ exotischen, nationalen Sonderregelung ergibt – wie etwa die Privilegierung von Forderungen aus einem Sozialplan nach deutschem Recht – und diese quantitativ überschaubar ist, dann ist die sich daraus ergebende Schlechterstellung hinzunehmen. Gleiches gilt, wenn eine Ungleichbehandlung strukturell im Abwicklungsrecht angelegt ist und notwendige Folge von dessen Anwendung ist. Daran anknüpfend kann das oben bei IV.2. beschriebene Spannungsverhältnis von Art. 21 Abs. 6 SRM-VO zum NCWO-Grundsatz dadurch entschärft und der Gefahr entgegengewirkt werden, dass die Verfolgung der eigentlichen Abwicklungsziele von der Haftungsvermeidung im Hinblick auf den NCWO-Test überlagert werden. Fasst man das NCWO als Standard auf, dann werden die Reichweite dieses Prinzips auch durch die konkreten Vorgaben in der SRM-VO und BRRD determiniert, so dass eine Norm, der unmittelbar und notwendig die Schlechterstellung von Gläubigern im Vergleich zur Insolvenz inhärent ist, ihre Rechtfertigung im Hinblick auf das NCWO-Prinzip in sich trägt. 2. Zu weiterer Rechtsangleichung führender Konvergenzdruck? Im Europäischen Gesellschaftsrecht haben wir erlebt, dass sich aus der Kapitalrichtlinie auch die Notwendigkeit der Harmonisierung des Bilanzrechts und der Vorgaben zur Abschlussprüfung ergeben hat.115 Obwohl das Bankabwicklungsrecht ein in sich geschlossenes Verfahren regelt, auf das das Insolvenzrecht keine Anwendung findet, geht nicht zuletzt wegen des 114 Der Begriff der Erwartungslücke (Expectation Gap) beschreibt das Phänomen, dass die Erwartung der Öffentlichkeit bezüglich der Leistungen des Prüfers von dessen tatsächlichem gesetzlichem Auftrag und dessen Leistungsfähigkeit abweichen kann; eingehend Orth Abschlussprüfung und Corporate Governance, Vom Financial Audit zum Business Audit vor dem Hintergrund der Erwartungslücke, 2000. 115 Nunmehr zusammengefasst in der RiLi (EU) 2017/1132 v. 30.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts.
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NCWO-Vergleichs vom Abwicklungsrecht ein Konvergenzdruck auf das Insolvenzrecht aus. Es ist im Ausgangspunkt richtig, dass man eine vom Bankenabwicklungsrecht getriebene Harmonisierung darauf beschränkt, punktuelle, das allgemeine Insolvenzrecht überlagernde Vorgaben zu machen. Nicht zuletzt aufgrund der identifizierten hartnäckigen pfandabhängigen Divergenzen sind diesem Konzept einer evolutionären punktuellen Angleichung des bankspezifischen Insolvenzrechts aber Grenzen gesetzt. Diese werden spätestens dann erreicht, wenn man die grenzüberschreitende Unternehmensgruppe in den Blick nimmt, die besondere Probleme aufwirft; nicht nur im Hinblick auf den NCWO-Vergleich. Das Europäisches Parlament verlangt schon seit Längerem ein „Integrated treatment for corporate groups“ (im Bankensektor).116 Aber das lässt sich auf der Ebene des allgemeinen Insolvenzrechts kaum realisieren; jedenfalls wenn Insolvenzgerichte für die Steuerung des Verfahrens zuständig sind. Nicht ohne Grund hat die Diskussion über das Konzerninsolvenzrecht trotz großer Bemühungen über mittlerweile Jahrzehnte kaum greifbare Ergebnisse gebracht, die über die Koordinierung der Einzelverfahren von Konzerngesellschaften wie sie in Art. 63 ff. EuInVO und §§ 269a ff. InsO vorgesehen sind, hinausgehen. Daher ist ein Verfahren zur Abwicklung einer Bankengruppe, die nicht systemrelevant ist und bei der kein öffentliches Interesse an einer Abwicklung nach der SRM-VO bzw. nach dem SAG besteht, über den Single Point of Entry Ansatz nur realistisch, wenn das Verfahren als ein administratives Verfahren ausgestaltet wird. Dies liefe bei Banken auf ein weiteres administratives Verfahren, gewissermaßen ein „Abwicklungsrecht light“117 hinaus, wie es ja mehrere Staaten in ihrem nationalen Recht bereits vorsehen.118 Hierdurch würde ein schon seit längerer Zeit zu beobachtender Trend weiter verstärkt: Obwohl Banken – mit Ausnahme der Sparkassen – im Ausgangspunkt privatrechtliche Personenvereinigungen sind, ist das Bankunternehmensrecht zunehmend durch öffentlich-rechtliche Regulierung geprägt, die das allgemeine Unternehmensrecht immer weiter zurückdrängt. 3. Schlusswort in Zeiten von „Corona“ Die Jubilarin zitiert gern den Aphorismus „Hard Cases make Bad Law“. Die Finanzkrise 2008 war zweifellos ein „Hard Case“. Für ein Urteil wie 116 Papier der Economic Governance Support Unit des Europäischen Parlaments, von April 2018, 1, 6; im Internet unter https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/ BRIE/2018/614514/IPOL_BRI(2018)614514_EN.pdf. 117 Dazu tendiert auch die Europäische Kommission in dem rechtsvergleichenden Bericht, siehe KOM-Report, 62. 118 U.a. Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Schweiz und USA; siehe oben III.1.
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gut oder „Bad“ die anlässlich dieser Krise errichtete Architektur der Bankaufsicht und der Bankenabwicklung ist, ist es zu früh, da ein echter Härtetest noch aussteht. Angesichts der durch die Covid 19-Pandemie ausgelösten Krise werden Erleichterungen bei den aufsichtsrechtlichen Anforderungen diskutiert, teilweise bereits realisiert. Ferner könnte sich die Frage stellen, ob staatliche Beihilfen ausnahmsweise keine Bestandsgefährdung auslösen119, da die Beihilfe zur Abwehr einer (pandemiebedingten) Störung der Volkswirtschaft eines Mitgliedstaats oder für die Gewährleistung der Finanzstabilität erforderlich ist (vgl. Art. 18 Abs. 4 Bst. d) SRM-VO). Hier gilt es, das richtige Maß zu finden und abzuwägen: Einerseits ist es nachvollziehbar, dass man den Besonderheiten der Situation, die – anders als 2008 – die Banken selbst nicht herbeigeführt haben, Rechnung tragen will. Andererseits sollte vermieden werden, das Vertrauen in den einheitlichen Aufsichts- und Abwicklungsmechanismus zu beschädigen, der mit hohem Aufwand errichtet wurde und dafür Sorge tragen soll, dass die Abwicklung einer systemrelevanten Bank eine echte Option ist, die dem „Too big to fail“-Dilemma entgegengesetzt werden kann. Der Präsident der BaFin, Herr Hufeld, mahnt in diesem Zusammenhang, dass man deutlich zwischen Banken, die durch die Corona-Krise in Nöte geraten sind und solchen, die bereits zuvor in Schwierigkeiten waren, differenzieren müsse.120 An dieser Stelle sei auf den im März durch das WStFG121 errichteten Wirtschaftsstabilisierungsfonds hingewiesen, der nach dem Vorbild des 2008 geschaffenen Finanzmarktstabilisierungsfonds geschaffen wurde. Größere Unternehmen der Realwirtschaft,122 können nicht nur die Abgabe von Garantien für Kredite beantragen123, sondern es besteht auch die Möglichkeit der Gewährung von Rekapitalisierungsmaßnahmen (beginnend bei hybriden Nachranginstrumenten über stille Beteiligungen bis hin zur direkten Beteiligung durch den Fonds).124 Hierdurch kann die Kapitalstruktur der Unternehmen und damit deren Rating verbessert werden. Auf diese Weise 119 Zur Gewährung öffentlicher Unterstützung als Auslöser einer Bestandsgefährdung nach Art. 18 Abs. 4 Bst. d) SRM-VO/§ 63 Abs. 2 SAG siehe oben I.1. 120 Im Internet unter https://www.faz.net/aktuell/finanzen/bafin-chef-hufeld-zur-coro na-krise-das-wird-schmerzhaft-16712142.html. 121 Gesetz zur Errichtung eines Wirtschaftsstabilisierungsfonds (Wirtschaftsstabilisierungsfondsgesetz – WStFG) v. 27.März 2020, BGBl. 2020-I, S. 543. Hierdurch sind jetzt Finanzmarktstabilisierungsfonds und Wirtschaftsstabilisierungsfonds im StabilisierungsfondsG (StFG) zusammengefasst. 122 Die Unternehmen müssen gemäß § 16 Abs. 2 StFG grundsätzlich zwei der drei folgenden Merkmale erfüllen: Bilanzsumme von mehr als 43 Mio. Euro, Umsatzerlöse in Höhe mehr als 50 Mio., mehr als 249 Beschäftigte. 123 Grundlage ist eine Gewährleistungsermächtigung in Höhe von 400 Mrd. Euro, § 21 StFG. 124 Ermächtigung für Rekapitalisierungsmaßnahmen in einem Gesamtvolumen von 100 Mrd. Euro, § 22 StFG.
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kann das Risiko eines Übergreifens der Schwierigkeiten in der Realwirtschaft auf den Bankensektor gesenkt werden, ohne die für den Krisenfall geschaffene Aufsichts- und Restrukturierungsarchitektur angesichts der ersten möglichen größeren Bewährungsprobe gleich zu unterminieren oder gar in Frage zu stellen.
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Financial Rewards for Whistleblowing and Motivation Crowding Theory Katja Langenbucher
Financial Rewards for Whistleblowing and Motivation Crowding Theory – A Lesson from Psychology for Transposing EU Directive 2019/1937 KATJA LANGENBUCHER*
Making sure that the law is being followed is an evergreen of legal research, involving areas as diverse as corporate and criminal law, banking supervisory regulation or the law and economics of compliance. Whenever corporate scandals such as the Volkswagen “diesel affair” or the “cum-ex” tax scheme surface, there is renewed interest in the relevant players, their incentives and motivations to follow – or break – the law. A natural first thought involves supervisory board members, shareholders and financial markets regulators, a second thought may go to short sellers, auditors and analysts. But the contribution of these actors has been shown to be less significant than what regulators outside of financial markets, the media and, importantly, employees deliver.1 However, while employees often incur the lowest costs of all actors to discover wrongdoing, they also face considerable risks. These include retaliating measures, loss of career opportunities, income, membership in social groups as well as stress-related health symptoms or marital strain.2 Additionally, U.S. employee-whistleblowers report spending “thousands of hours” on helping authorities with evidence on the cases they report on.3 Legal costs add to the expense since whistleblowers will often seek the help of an attorney.4
* Katja Langenbucher Goethe University/House of Finance, affiliated at SciencesPo, Paris, and Fordham Law School, NYC. 1 See Dyck/Morse/Zingales 65 Journal of Finance 6 (2010), 2213, 2214, 2225 and below III.2a). 2 Dyck/Morse/Zingales note 1, 2216; Kesselheim/Studdert/Mello New England Journal of Medicine (2010), 1832, 1836. 3 See id. 1836. 4 This seems to be especially prominent in the U.S. and if bounties are promised, see the UK FCA Report of 2014 available at https://www.fca.org.uk/publication/financial-in centives-for-whistleblowers.pdf (last accessed 6 July 2020).
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I. Whistleblowing Regulation and Financial Rewards Whistleblower regulation has to strike a delicate balance. There is the whistleblower, willing to step forward but at the same time afraid of retaliation in both, his professional and his private environment. There are regulators and prosecutors, hoping that those in the best position to notice wrongdoing will furnish important information. At the same time, they face the challenge of correctly gauging the content of the report and the personality of the whistleblower. Then, there is the corporation, possibly torn between discovering misbehavior and avoiding reputational damage. The public image of a whistleblower seems to reflect all this. Some whistleblowers are hailed as heroes, helping to uncover corporate or political scandals.5 Others are scorned as “snitches”, seeking revenge against co-workers or being out for a bounty.6 It is against this background that EU Directive 2019/1937 has recently provided a general framework for whistleblowing,7 reaching beyond more insular solutions to be found in financial markets law.8 The Directive outlines the areas of Union law where regulators/prosecutors can now hope to profit from information which whistleblowers provide. Whistleblowers will be shielded against retaliation. Corporations are encouraged to insist on the use of internal reporting channels as the first choice, rather than external channels or going public. The Directive focuses on protection for whistleblowers, not on setting incentives to report. The most obvious incentive, promising a financial reward, is not addressed. This is in line with the hesitant approach of EU Member States,9 if compared to the more embracing U.S. culture towards bounties.10 Similarly, Art. 71 para. 3 CRD IV has required internal procedures 5
Dungan/Waytz/Young 6 Current Opinion in Psychology (2015), 129. But see Dyck/Morse/Zingales note 1, 2246 reporting that in their sample the percentage of frivolous suits is lower where very high monetary incentives were offered. 7 Directive 2019/1937 of 23 October 2019 on the protection of persons who report breaches of Union law (in what follows abbreviated as: “The Directive”). The Directive entered into force on 23 October 2019. Member States have to transpose its rules until 17 December 2021. 8 On these insular solutions see: Art. 71 of Directive 2013/36/EU of 26 June 2013 on access to the activity of credit institutions and the prudential supervision of credit institutions and investment firms (“CRD IV”); Art. 32 of Regulation 596/2014 of 16 April 2014 (Market Abuse Regulation) and Implementing Directive 2015/2392 of 17 December 2015 (“MAR”); Art. 41 of Regulation 2017/1129 of 14 June 2017 on the prospectus to be published when securities are offered to the public or admitted to trading on a regulated market, and repealing Directive 2003/71/EC. On some additional further measures see Directive, recital (9) on aviation and maritime transport, recital (10) on environmental law. 9 See the UK FCA Report of 2014 note 4. 10 On being generally more open towards whistleblowing Dungan/Waytz/Young note 5, 131. 6
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for financial institutions to allow for whistleblowing, but has not addressed financial rewards.11 Somewhat more boldly, Art. 32 para. 4 MAR and Art. 41 para. 3 Prospectus Regulation allow Member States to offer financial incentives to whistleblowers (“may provide”). However, both Regulations tie them to a number of requirements. The bounty can only be offered for “relevant information” and presupposes that the whistleblower does not have a legal or contractual duty to report. “New” information is required and the bounty is tied to success in the form of an administrative or a criminal sanction.12 While not encouraging financial rewards, the Directive does not block them either, Art. 25 para. 1.13 Member States transposing the Directive are faced with the question to what extent a bounty should be introduced to encourage whistleblowing and, if so, whether the regime of the MAR and the Prospectus Regulation can be a model for this. A cost-benefit computation suggests that offering a financial reward provides an insurance for the whistleblower against the risks he faces. Should a whistleblower be motivated by moral, rather than financial concerns, he will be considered to “add up” the bounty and any intrinsic moral benefits he may care about. Hence, a financial reward is described as offering a potential upside and no downside.14 Social psychology research, by contrast, offers a more nuanced picture.15 Not only are whistleblowers typically motivated by a very diverse array of reasons. Worryingly, some researchers suggest that linking reporting to a payment will bring down willingness to step forward. In what follows, I will give a short overview of the Directive (II.), provide some background on motives for whistleblowing (III.) and consider suggestions for transposing the Directive (IV.).
II. The Directive – Overview16 The Directive’s recital (1) notes that whistleblowers are “often discouraged from reporting their concerns or suspicion for fear of retaliation”. Against this background, recital (3) promises “effective, confidential and se11 Transposed into German law in § 25a para. 1 s. 6 no. 3 KWG; see also § 4d FinDAG for external reporting channels to BaFin. 12 Comparing the MAR whistleblowing rules on bounties to the US regime under Dodd-Frank: Fleischer/Schmolke NZG 2012, 361. 13 Schmolke NZG 2020, 5, 8. 14 Dyck/Morse/Zingales note 1, 2245. 15 Sieber 4 Science and Engineering Ethics 1 (1998), 7, 8. 16 A prior version of this part has been published on https://wp.nyu.edu/compliance_ enforcement/2019/08/15/european-parliament-adopts-new-whistleblower-directive/ (last accessed 6 July 2020).
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cure reporting channels and (ensures) that whistleblowers are protected effectively against retaliation”. At the same time, protection hinges upon whistleblowers having “reasonable grounds to believe, in light of the circumstances and the information available to them at the time of reporting, that the matters reported by them are true”. Whistleblowers “deliberately and knowingly” reporting “wrong or misleading information”, are not protected, unless “honest mistakes” occur (recital 32). The whistleblower’s motives “should be irrelevant”, which recital (32) confirms. 1. Scope: Area of the Law The Directive’s focus is on encouraging whistleblowing specifically in areas of the law where there is a need to strengthen enforcement, where under-reporting is perceived as a key factor and where breaches of EU law cause serious harm to the public.17 The Directive’s Art. 2 para. 1 contains a list of ten such areas, comprising public procurement, financial services (including products and markets, prevention of money laundering and terrorist financing), product safety, transport safety, protection of the environment, radiation protection/nuclear safety, food safety (including feed safety, animal health and welfare), public health, consumer protection and data protection (including protection of privacy, security of network and information systems). In all of these, a breach of EU law only is addressed. According to Art. 2 para. 2, Member States are free to extend the regime to a breach of their national law. „Breach“ of the law includes abusive practices, which do not appear to be unlawful in formal terms but defeat the purpose of the law. Blowing the whistle is not to harm national security interests, hence the Directive’s Art. 3 excludes reporting a breach of procurement rules involving defense or security aspects. For a number of other areas of the law, it is made clear that the Directive shall not affect the application of the laws protecting classified information, legal and medical professional privilege, the secrecy of judicial deliberation and the rules on criminal procedure. 2. Scope: Personal The Directive’s scope on who qualifies is broad. Art. 4 covers any person working in the private or public sector, who acquired information on a breach of the law in a current, former, or imminent work-related context. Facilitators, private or legal persons, which are connected to the whistleblower, are protected as well. 17
Recital (5).
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The reporting person must reasonably believe that the matters reported are true, Art. 6 para. 1(a). While an honest mistake does not hurt, penalties against knowingly disclosing false information have to be in place under national law. 3. Scope: Type of Information Whatever is necessary to reveal past or imminent breaches of the law may be reported, this includes trade secrets if necessary, Art. 21 para. 7. The information provided does not need to be conclusive evidence, raising reasonable concerns or suspicion will be sufficient. If, however, the information is already fully available in the public domain or unsubstantiated rumor, the Directive’s regime is not available, recital (43). 4. Reporting channels The Directive favors internal reporting to ensure that relevant information swiftly gets to the source of the problem, Art. 7.18 According to Art. 8, legal entities with 50 or more employees have to establish channels to facilitate internal reporting. This can be an entity within the corporation or a third party, if the latter offers appropriate guarantees of independence, confidentiality and data protection. However, if the person has valid reason to believe that it will suffer retaliation and that the competent authorities would be better placed to take effective action, he may opt for an external reporting channel, Art. 10. „External reporting“ for those cases refers to disclosing information to national authorities, competent to receive reports. Blowing the whistle publicly is reserved for exceptional cases, Art. 15. If no appropriate action was taken in response to the initial report, the public may be alerted. The same is permitted if the whistleblower believes there is an imminent danger to the public or a risk of retaliation. 5. Protection offered The Directive states a clear prohibition of any type of retaliation, listing a number of measures in Art. 19, e.g. being suspended, demoted or intimidated. This is to be further strengthened by imposing penalties and personal liability for perpetrators under national law. Art. 21 asks Member States to give the whistleblower access to legal remedies, including interim relief and allow for him to be compensated for any damage suffered. They have to 18 On the preferability of internal reporting: Fleischer/Schmolke note 12, 364; on empirical evidence that most employees prefer internal channels: Kesselheim/Studdert/ Mello note 2, 1834.
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designate the authorities, which are competent to receive reports. These can be judicial, regulatory, more general State agencies, law enforcement agencies, anticorruption bodies, or ombudsmen. As a guiding principle, they should have the appropriate capacities and powers to ensure follow-up, e.g. by launching an internal enquiry, by prosecuting or by referring the matter to another competent authority. If the whistleblower broke his duties of confidentiality or loyalty in the process of reporting, he will not be liable for damages on these grounds. This protection is intended to compensate for the economic vulnerability of the whistleblower, resulting from the work-related power imbalance between him and the entity on which he intends to report, recital (37). Hence, as long as access to information was lawfully acquired, even if this raises an issue of civil, administrative or labor law, the whistleblower does not incur liability. However, (mostly national) criminal liability remains in place. Should the whistleblower work as a supplier, measures such as denial of provision of services, blacklisting or boycotting qualify as prohibited retaliation as well.
III. What motivates whistleblowers? 1. Diversity of Motivators Whistleblowing has in both, psychology and economics, been traditionally conceived as the result of a rational process weighing costs and benefits.19 The offer of a financial incentive insures him against some of the risks he is facing.20 Newer research cautions against over emphasizing the role of cost-benefit analysis.21 There does not seem to be a typical whistleblower personality.22 Neither the employee with particularly high moral standards nor the “chronically dissatisfied malcontent” 23 exhibit a propensity to report. In-
19
I refer here to traditional cost-benefit analysis and the relative price effect. This is not to suggest that motivators based on intrinsic considerations (moral, altruistic etc.) are incommensurable with a cost-benefit/rational choice framework, see Frey/Jegen 15 Journal of Economic Surveys 5 (2001), 589, 590; Frey/Oberholzer-Gee 87 American Economic Review 4 (1997), 746, 753; see also Arrow 1 Philosophy & Public & Affairs 4 (1972), 343, 345 (“virtues”). 20 Id., 351; Solow 80 Yale Law Journal 8 (1971), 1696, 1703, 1706; on the example of selling data proving tax evasion see Eufinger WM 2016, 2336, 2340. 21 Watts/Buckley 146 Journal of Business Ethics (2017), 669, 671. 22 Henik 68 Journal of Business Research (2015), 442. 23 Wortley in Andresen/Farrell, The Criminal Act: The Role and Influence of Routine Activity Theory, 2015, 196.
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stead, we find very different motives covering moral concern,24 authenticity,25 shame,26 guilt,27 role-prescribed duties28 or even revenge,29 but also financial rewards or the risk that without reporting the whistleblower would be considered aiding and abetting the wrongdoer30. Intuitive elements and automatic decisions seem to play an important role31 as do individual differences in the trade-off between loyalty and fairness32. There is mixed evidence on a connection between gender and reporting. Some studies found a higher likelihood of men than women to blow the whistle,33 others found the contrary.34 Older people seem to be more willing to blow the whistle, the same has been found for speakers (of that countries native tongue).35 Other factors have to do with the hierarchical standing of the individual whistleblower, both professionally and judged from a more general sociological viewpoint.36 Group context plays an important role, too.37 Propensity increased with higher salaries and those with a formal role in the organizational structure around reporting were more likely to blow the whistle. One study found that people higher up in the hierarchy of their organization and/or working in large work groups were more likely to step forward.38 Others suggest that the level of identification with a group, costs of exiting the group and the perceived power to bring about change in the group explain the likelihood of blowing the whistle. Employees who identify 24
Flagged as one primary concern at Watts/Buckley note 21, 671. Knoll/van Dick The Journal of Positive Psychology (2013), 346, 347. 26 Kesselheim/Studdert/Mello note 2, 1834. 27 Feldman/Lobel 88 Texas Law Review 6 (2010), 1151, 1158; Schmolke ZGR 2019, 876, 885. 28 Kesselheim/Studdert/Mello note 2, 1135. 29 Watts/Buckley note 21, 671. 30 Kesselheim/Studdert/Mello note 2, 1835. 31 See the social-intuitionist model of Haidt 108 Psychological Review 4 (2001), 814; and generally on moral decisions: Kish-Gephart/Harrison/Treviño 95 Journal of Applied Psychology 1 (2010), 1, 17; Sonenshein 32 Academy of Management Review 4 (2007), 1022, 1027; introduction on self-control in the context of compliance see Langenbucher in FS K. Schmidt, 2019, 783, 785 et seq. 32 Waytz/Dungan/Young 49 Journal of Experimental Social Psychology 6 (2013), 1027. 33 Dungan/Waytz/Young Note 5, 130; Feldman/Lobel note 27, 1196 (significantly higher number of women and lower propensity to change behavior if financial rewards were introduced); Miceli/Near 27 Academy of Management Journal 4 (1984), 687. 34 Wortley note 23, 203. 35 Wortley note 23, 204. 36 Dungan/Waytz/Young note 5, 130. 37 Anvari/Wenzel/Woodyatt/Haslam 9 Organizational Psychology Review 1 (2019), 41, 42. 38 Dungan/Waytz/Young note 5, 131; Miceli/Near 41 Personnel Psychology 2 (1988), 267, 268; Miceli/Near note 33. 25
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weakly with their group will, when faced with wrongdoing, tend to disengage and leave the group. Only if exit costs are too high, we are more likely to see silence and conformity.39 By contrast, those who identify strongly with the relevant group exhibit a number of different behavioral reactions. Some may initially conform, but try to change group behavior if the wrongdoing is perceived as serious. Willingness to report may be triggered, for instance, if they perceive a violation of group values or feel “group-based shame”.40 However, even strongly identified group members may opt for “uneasy conformity”41 if they think they have little capacity to change group behavior. Rationalization, neutralization or moral disengagement are potential consequences.42 2. Financial Rewards and the Challenge of Motivation Crowding Theory Most research clearly points to considerable reluctance vis-à-vis whistleblowing. Even as to wrongdoing which was considered “extremely serious”, an Australian study found that 51% went unreported.43 A U.S. study shows that 45% of whistleblowers concealed their identity and 82% of those who had their identity revealed faced retaliation including being fired, having to move to another industry and/or to another town for fear of personal harassment.44 a) The Cost-Benefit Calculation Under a cost-benefit framework, such reluctance to report is unsurprising. The high (financial, reputational and moral) costs whistleblowers face are outweighed by few benefits. Interestingly, these may look very different comparing innocent bystander-whistleblowers to whistleblowers who are in one way or another complicit in the wrongdoing.45 A potential benefit of reporting misconduct in one’s immediate work environment has to do with complicit employees who have participated in the wrongdoing. 46 These may feel exposed to civil or criminal sanctions in the context they are reporting on. Blowing the whistle could offer them a chance to escape criminal sanctions if they qualify for a cooperation pro39
Anvari/Wenzel/Woodyatt/Haslam note 37, 51. Id., 47. 41 Id., 47, 50; similarly, Wortley note 23, 204. 42 Anvari/Wenzel/Woodyatt/Haslam note 37, 50. 43 Wortley note 23. 44 Dyck/Morse/Zingales note 1, 2240. 45 See in more detail at Baer 50 University of California, Davis (2017), 2215. 46 Baer note 45, 2243. 40
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gram.47 But it is far from clear how this strategy will play out. The whistleblower has to gauge the relevance of his own contribution in the grander scheme of what happened and whether he would be eligible for either a broad amnesty or rather for a more limited criminal cooperation program.48 Ironically, a strict compliance regime, requiring prompt and immediate reporting, may inflate the risk of being considered complicit in the wrongdoing or cause some to inaccurately perceive themselves as guilty.49 This can in turn lead to the whistleblower underestimating any benefit he may derive from reporting. From the viewpoint of the regulator/prosecutor, the complicit is anyway a less attractive whistleblower. Even if he is ready to report, he will wish to limit his own – and possibly his group’s50 – exposure to liability, hence very carefully consider which information to hand out.51 Another obvious benefit is a financial reward linked to whistleblowing. This is evident for the innocent bystander-whistleblower who would like to insure against the costs he faces, financial and personal, when reporting.52 The complicit whistleblower, by contrast, might be motivated to a lesser degree by a bounty, being more concerned about limiting his exposure altogether. However, a financial reward might also offer him the needed comfort to step forward.53 Empirical evidence underscores the intuition that (at least the very large) financial rewards play a significant role. A study on which actors help uncovering corporate fraud illustrates this.54 The sample involved 216 U.S. cases of corporate fraud in companies with more than $750 Mio. in assets between 1996 and 2004 and looked at a variety of potential players. The authors found that equity holders accounted for 3% of detected fraud cases, the SEC for 7%, auditors for 10%, non-financial market regulators and the media each for 13% and analysts for 14%. The biggest single group were employees, accounting for 17%. Pondering what might have motivated them, the authors highlighted that 29% of the cases where employees reported qualified under the U.S. Federal Claims Act, involving a false claim against the government. If successful, the bounty payed out is awarded on the basis of 10 to 30% of the money recovered. In the study sample the rewards reached $35 and $70 Mio. Looking only at the health care indus-
47 Dyck/Morse/Zingales note 1, 2245 estimate this motivator to have played a role in 35% of the cases. 48 Baer note 45, 2271. 49 Baer note 45, 2266–67. 50 See from a game theory perspective: McAdams 82 Southern California Law Review 2 (2009), 209, 233, on the role of corporate culture. 51 Baer note 45, 2246. 52 See above, before I. 53 Baer note 45, 2246 seems to rule out this motivation altogether. 54 Dyck/Morse/Zingales note 1.
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try, where the Act often triggers bounties due to government procurement, as many as 41% of fraud cases were reported by employees.55 By contrast, in industries where the False Claims Act regime was not available, the number was considerably lower (14%).56 The authors concluded that the expectation of a high monetary reward (even if delayed between 5 and 10 years and highly uncertain) was an important motivator for the whistleblowers.57 b) Motivation Crowding Theory On the basis of what has been said so far, we might conclude that offering a financial reward is a compelling element of any efficient whistleblower regime. However, a number of studies by psychologists and economists claim that a bounty will lower the number of reports. This is to be understood against the background of motivation crowding theory. It suggests that an extrinsic intervention, such as offering a reward, can cancel out existing intrinsic motivators for the same behavior.58 These effects have been shown for examples as diverse as donating blood, motivation to work59 or site selection for a nuclear power plant.60 Applied to whistleblowing, promising a bounty would potentially change the frame of the choice to report. 61 Instead of facing a decision involving ethical questions (should I blow the whistle on offensive behavior?), one is exposed to financial considerations (can I profit financially?).62 aa) Experiments One experimental study was interested in reporting intentions using external (the SEC) as opposed to internal channels and whether these changed 55 According to Kesselheim/Studdert/Mello note 2, 90% of health cases brought are qui tam actions. 56 Id., 2215, also on controlling for differences in industry characteristics. 57 There is conflicting evidence on this point. Kesselheim/Studdert/Mello note 2, 1834 report on the basis of 26 qualitative interviews that each whistleblower in their study claimed that the bounty offered had not motivated them. However, Feldman/Lobel note 27, 1156 find that “respondents tend to overestimate their internal moral motivation and underestimate the extent to which monetary rewards dictate their behavior”, on this response bias in their study see Kesselheim/Studdert/Mello note 2, 1839. Additionally, see Haidt note 31 on post-hoc rationalization. 58 Deci/Ryan in Deci/Ryan, Intrinsic Motivation and Self-Determination in Human Behavior, 1985, 43, 46; Frey/Jegen note 19; Frey/Oberholzer-Gee note 19; Oakley/Ashton/ Titmuss The gift relationship: from human blood to social policy, 1997 (2nd edition of the 1970 classic). 59 Deci/Ryan note 58, 293 et seq. 60 Frey/Oberholzer-Gee note 19, 749 see below at bb. 61 Brink/Lowe/Victoravich 32 Auditing 3 (2013), 87, 99. 62 Id., 99.
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if the company offered a reward.63 They found that in general, employees have a preference for reporting internally.64 Offering an internal reward increased the intention to report internally only slightly and only if the evidence supporting the wrongdoing was weak.65 By contrast, the same promise of an internal reward had considerable impact on the decision to report externally, in two different ways. Faced with strong evidence, the probability of reporting to the SEC was higher than if no internal reward was offered. Somewhat surprisingly, if there was weak evidence, the probability to report externally decreased if the company had offered a financial reward.66 The authors of the study suggest that this is in line with motivation crowding theory. Different motivators – moral and financial – are not “added up”. Instead, if the company offers a financial reward, the frame of the choice changes. It is not any more a moral decision, but one driven exclusively by economic considerations.67 Another experimental study testing motivation crowding considers one element of financial reward programs, namely minimum value thresholds for reward eligibility, such as the SEC threshold of $ 1 Mio. The authors find that if a minimum threshold is set, this may lead to less or to strategically delayed reporting than if no bounty had been offered at all. 68 bb) Fieldwork Fieldwork has triggered a somewhat mixed picture on motivation crowding theory. One study underscores motivation crowding in finding that financial rewards can act as a disincentive. The authors investigated the Swiss government intending to build repositories to store nuclear waste. Interviews in two communities were conducted to find out about resident’s attitude towards having the waste facility close by. 50.8% had agreed to accept the facility without a financial reward. When they were asked whether they were willing to accept the repository after the Swiss Parliament had decided to offer a compensation, acceptance rate dropped to 24.6%.69 Offering a higher reward did not affect the answers given which seems to rule out strategic behavior.70 A competing explanation could have been that citizens now believed the site was more hazardous than they thought. Researchers ruled that out by asking the respondents whether they believed there was a link 63
Id. Id., 97. 65 Id., 98. 66 Id., panel B, increase of 0.95 on a scale of 1 to 7. 67 Id., 99. 68 Berger/Perreault/Wainberg 36 Auditing 3 (2017), 1, 10. 69 Frey/Oberholzer-Gee note 19, 749. 70 Frey/Oberholzer-Gee note 19, 750. 64
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between the size of the compensation and the level of risk caused by the nuclear waste. Only 6.3% believed there was a link. The researchers interpreted their findings as follows: The compensation offered was understood as crowding out an eventual “civic spirit” of those respondents, who had been willing to accept a nuclear waste facility close by even without a monetary incentive.71 In another study researchers conducted web-based interviews with 2081 participants.72 These were given a factual scenario of corporate wrongdoing (leading up to the government overpaying $10 Mio. to the corporation) and asked to predict their own as well as actions of workplace peers and of “most other people” in this situation. The researchers formed eight different groups, sending out questionnaires which differentiated along the type of incentive to blow the whistle, such as high/low financial rewards, antiretaliation protection, reporting duties and combinations of these. Group mechanisms were clearly visible when participants tended to believe that they themselves were most likely to report, followed by their work peers, and that “most other people” were least likely to report. This finding was quite consistent across treatments, irrespective of the incentive. However, pronounced effects in the prediction of “most other people” stepping forward occurred if high rewards were promised. While in the absence of high rewards, participants tended to predict a low propensity to report for “most other people”, under the high rewards condition, the likelihood of “most other people” to blow the whistle approached or equaled that of work peers. The authors of the study interpreted this as the widely held belief that “other people” are motivated more externally than oneself or immediate work peers.73 Additionally, this points to a form of moral ordering: blowing the whistle was perceived as the right thing to do, evidenced by the fact that most people predicted they would step forward if faced with the situation. Put differently: under the conditions of the factual scenario chosen, loyalty with the wrongdoers or the fear of being perceived as “snitching” seems to have been low. As to crowding out, the study is more difficult to read.74 If a high reward was on offer, this tended to raise the predicted probability that people would report. The effect can be observed across all populations, it is especially pronounced for “most others”. While at first glance this suggests that no crowding out happens, this seems less clear considering the results of the subgroup where low rewards were offered. The promise of a low reward triggers the lowest willingness of participants to report, hence, in line with 71
Id., 753. Feldman/Lobel note 27. 73 Id., 1191. 74 Id., 1192 Figure 1, 1202. 72
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motivation crowding theory, offering a reward “hurts”. As to participant’s prediction about their work peers’ willingness, the promise of a low reward still accounts for the second lowest probability. Only when asked for a prediction on how “most other people” would behave did the low reward seem somewhat attractive. If we combine the results obtained under the high and the low rewards condition, there are compelling arguments for motivation crowding changing the frame of the decision from a moral to a financial choice. The tradeoff seems least attractive if the disadvantages of receiving a reward at all (e.g. being perceived as a “snitcher” who does it for the money) are traded off against a small sum of money (“low reward”), to the extent that it may be better to forego the offer of a low reward. By contrast, a high reward seems to tip the balance towards reporting.75 However, a note of caution has to be added: When the researchers checked responses across conditions and perceived severity of the wrongdoing, offering a high reward (exclusively, without an accompanying duty to report) raised the propensity of those who perceived the misconduct as minor, but lowered it for those who felt more moral outrage.76 Put differently: the higher the intrinsic motivation to report, the riskier the offer of a financial reward – even a high one.
IV. Transposing the Directive and the Model of the MAR/ Prospectus Regulation What can we learn from research into the motivations underlying whistleblowing for the introduction of financial rewards? Employees have surfaced as a crucial player in detecting fraud.77 At the same time, an overwhelming majority chooses not to step forward due to the financial and social risks whistleblowers face. For those who do decide to report wrongdoing, it seems impossible to pinpoint what exactly motivated them. A mix is probably at work, including intrinsic and extrinsic, financial and moral motivators. 1. Financial Rewards – “Yes, But” From a cost-benefit perspective, not offering a bounty is a surprising move. Given the evidence that a financial reward can at least sometimes mo75
Instead, Feldman/Lobel note 27, 1202 interpret this as crowding out effects disappearing. 76 Id., 1194 Figure 2. 77 See above III.2.a) and Dyck/Morse/Zingales note 1.
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tivate whistleblowing,78 there seems to be a potential upside and no downside in promising a bounty. While this would point towards installing a financial rewards scheme at European Member State’s level, a cultural and a psychological concern have to be addressed. Society will sometimes perceive whistleblowers as “snitching” and bounties as encouraging reporting “just for the money” instead of more honorable reasons.79 Similarly, friends and work peers might view the whistleblower as someone receiving a payment at the expense of “loyal”80 colleagues who opt for in-group strategies or even for “uneasy conformity”81. Further concerns have to do with the costs involved, not necessarily offset by the number and quality of disclosures,82 and with worries about adverse selection, encouraging “malicious reporting”.83 Similarly, against the background of motivation crowding theory outlined further above,84 the whistleblower himself may feel his self-determination reduced and his selfesteem impaired if he is offered a financial reward for what he was going to do “for different reasons”.85 Of course, even motivation crowding theorists do not suggest to get rid of financial rewards altogether.86 The way in which external interventions potentially undermine internal motivation is determined by context, by the relevant external event and its psychological meaning for the individual. Its potential to inform, control or motivate depends on the receiver’s back78
Summary at Brink/Lowe/Victoravich note 61, 89 et seq. There is considerable reluctance among EU Member States as to introducing bounties, see: Renz/Leibold in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch zum Marktmissbrauchsrecht, § 35 m.n. 19 et seq.; Rohregger/Pechhacker in Kalss/Opitz/U. Torggler/Winner, BörseG/ MAR, Art. 32 MAR m.n. 11; Thüsing/Forst in Thüsing/Forst, Whistleblowing – A Comparative Study, 3, 27; the French Loi Sapin II asks the whistleblower to act “selflessly”, see Querenet-Hahn/Renard Cahiers de Droit 2018, 25, 31; German culture with both, a Nazi and a Communist surveillance past, has been especially susceptible to this worry, see Eufinger note 20, 2341. For a comparative experiment involving U.S. and German accountants, see Lee/Pittroff/Turner 153 Journal of Business Ethics 1 (2018), 1. An OECD study on foreign bribery shows that only Korea and the U.S. provide financial rewards, OECD, The detection of foreign bribery, the role of whistleblowers and whistleblower protection, 2017, 11; see Stolowy/Paulan/Londero Journal of Business Law (2019), 167, 176 on the French Constitutional Court ruling out financial rewards to be granted by the French public “Defender of Rights”. 80 On the trade-off between fairness and loyalty see Waytz/Dungan/Young note 32; Dungan/Waytz/Young note 5. 81 Anvari/Wenzel/Woodyatt/Haslam note 37, 47, 50. 82 UK FCA Report of 2014 note 4, 2. 83 Id., 2; see below IV.2. 84 See above III.2.b). 85 Frey/Jegen note 19, 594. 86 See Feldman/Lobel note 27, 1202: “lower level of moral outrage, the introduction of small bounties may actually decrease the rate at which it is reported (…) the effect largely disappears with the introduction of sufficiently high monetary rewards”; agreeing: Fleischer/Schmolke note 12. 79
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ground, agenda and sensitivities.87 Perceived effects are often not linear.88 Put differently: Financial rewards will work for some, but not for all and may work in some situations, but not in all.89 The most important lesson to be drawn from these cultural and psychological insights is probably that the way a whistleblowing regime works deserves special care. Against this background, the last section of this paper considers different models on how a financial reward could be introduced.
2. Financial Rewards – “How?” The Directive leaves the introduction of a bounty regime entirely up to the Member States. By contrast, the MAR and the Prospectus Regulation offer a model on how to reconcile the benefits of a financial reward with its perceived financial and societal costs. Bounties can be promised only if three requirements are met. Firstly, there may be no preexisting legal or contractual duty to report, secondly, the information has to be new and thirdly, it has to lead to the imposition of a sanction. The U.S. model for the European rule is § 240.21F-3. § 240.21F-3 (1) asks for voluntarily provided information. According to § 240.21F-4(3), this rules out a pre-existing legal or contractual duty owed to the Securities and Exchange Commission (SEC). The information has to be “original” (§ 240.21F-3 (2)) and lead to successful enforcement of a federal court or administrative action (§ 240.21F-3 (3)).90 There are two important benefits of restricting financial rewards in this way. The first one is a cost-benefit computation from the viewpoint of the relevant public authority. It has to balance the costs of whistleblower programs against the added value individual whistleblowers provide. Concerns about adverse selection and the hope to prevent free-riders suggest limits for financial rewards. The second one concerns culture. Restricting financial rewards might contribute to better societal acceptance, adding a feeling of “not everyone gets the bounty”.91 87 Deci/Ryan note 58, 87; similarly Feldman/Lobel note 27, 1176 (it is, however, unclear how their hope to identify ex ante what motivates whistleblowers will play out in practice). 88 Id., 1181. 89 Taking a strong position against the crowding out effect Eisenberger/Cameron 51 American Psychologist 11 (1996), 1153, 1154; see also Beretti/Figuières/Grolleau 48 European Journal of Law and Economics 3 (2019), 417. 90 In addition, § 240.21F-3 (4) sets a threshold for monetary sanctions obtained by the SEC. Unless they total more than $1 Mio., the whistleblower is not eligible for a reward. 91 Preference for not using the discretion to introduce financial rewards which MAR offers is clearly prevalent, see Eufinger note 20, 2340; Spoerr in Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 2019, Art. 32 MAR m.n. 27 (but sceptical as to crowding out); more open: Kumpan/Misterek in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechtskommentar, 2020, Art. 32 MAR m.n. 20.
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However, through the eyes of a potential whistleblower, the MAR/Prospectus Regulation regime does not look like a very attractive package. The important psychological as well as financial reasons keeping a whistleblower from reporting have been listed further above.92 For those who are motivated (at least partially) by a reward, the threshold is high. The whistleblower does not necessarily know whether the information he reports will be considered “new” nor can he predict or influence whether the information will lead to an imposition of sanctions. The exclusion of a bounty if there is a contractual or legal requirement to report is especially doubtful in its MAR/Prospectus Regulation format. While the U.S. equivalent clarifies that this requirement refers to a duty owed to the SEC, the European rule seems to include general criminal law obligations to report and, more importantly, employment contracts requiring reporting, for instance to compliance departments. The motivational consequences of this rule are doubtful. Firstly, it reinforces the irony of strong compliance regimes producing complicits.93 Under German law, employees in compliance departments as well as employees with management functions are required to report wrongdoing, hence many will be shy to report for fear of violating their reporting duty.94 Secondly, in sheer numbers there is not much leeway left for this incentive, if – due to the open wording of the MAR/Prospectus Regulation – any routine clause in an employment contract rules out the possibility to offer a financial reward. Thirdly, the underlying assumption, namely that a potential whistleblower under a duty to report will do so anyway, is not evident. He will probably already have calculated both, the odds of the wrongdoing surfacing and of him being held liable under a reporting duty. He might well have decided that the probability of adverse consequences for him is low, hence the duty to report will not act as an incentive.95 Lastly, the MAR/Prospectus Directive not only seems to significantly weaken the incentive to report due to the its three requirements. It fails to address the motivation crowding problem altogether. Under the assumption that (at least some) potential whistleblowers are held back from reporting precisely because a financial reward has been offered, the regime does nothing to alleviate this concern.
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See above III.1. See above III.2.a); the same concern is raised by Eufinger note 20, 2341. 94 Schmolke note 27, 893. 95 While Feldman/Lobel note 27, 1192 include a “duty” condition, they don’t include a “no incentive” condition, hence their study doesn’t speak to this question. 93
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V. Concluding with a Suggestion for Further Research We have so far established that whistleblowing is not only subject to a hugely complex array of motivations for individual whistleblowers but also to complicated cost-benefit computations by public authorities as well as more general cultural reservations. The focus of this paper has been on financial rewards where only a mixed message seemed realistic. Some whistleblowers will understand a bounty as a needed insurance against financial and private risks they face. For others, their decision to report will lose its moral framework and become about money. This can either lead to not stepping forward at all or to reporting only if there is an especially large bounty to be had. Against this background, this paper concludes with a suggestion for further research. Accepting that bounties are understood (and needed) as an insurance while motivation crowding effects are – sometimes – possible and accepting also that cultural reservations loom large especially in the EU, framing may offer a way forward. Social psychology research has long shown that the way in which a financial advantage is framed impacts how it is perceived. This holds true, for instance, for calling a benefit a “price reduction” as opposed to a “bonus” or for taxing emissions as opposed to selling emission rights.96 As to whistleblowing, it might be worthwhile to investigate whether framing a reward as a compensation for loss incurred rather than as a bounty could impact motivation crowding.97 The OECD reports that the Korean Anti-Corruption Act allows whistleblowers to request compensation for expenses such as medical or psychological treatment, costs of job transfer, legal fees or police protection in case of threats to physical safety.98 Similarly, the UK Public Interest Disclosure Act provides for full, uncapped compensation for financial losses of those unfairly dismissed.99 Bulgaria has a similar civil right of action.100 The Directive has taken some steps, as far as the relationship between the whistleblower and his employer (or whoever else has been retaliating against him) is concerned. Art. 21 para. 5 requires a reversal of the burden of proof for establishing causality between “a detriment suffered by the reporting person” and the act of reporting in court proceedings. According to para. 8, full compensation for damage suffered by the whistleblower has to be ensured. 96
Overview at Feldman/Lobel note 27, 1180. For a similar approach see Beretti/Figuières/Grolleau note 89, 434 (suggesting to add and publicize the possibility for the whistleblower to divert the payment to a charitable cause). 98 OECD note 79, 11, 17 (the Korean law also offers a regular bounty, see 17). 99 Id., 17. 100 Id., 17. 97
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Building on these elements, an attractive regime might combine elements of a bounty, paid out by public authorities, with elements of a compensation, calculated on the basis of foreseeable losses. One could imagine, for instance, a preliminary payment on the basis of reasonable damages suffered by the whistleblower. A multiple of his yearly earnings might be a base to start from and paid out up front, temporary resources or benefits in cases of a drawn-out procedure following the reporting,101 and a generous payment to be awarded along pain and suffering jurisprudence might be added. Discretion on the side of the awarding public agency could allow for a trade-off between the costs (both, financial and personal) incurred by the individual whistleblower and the impact his information had in discovering a wrongdoing. Subject to psychological review, framing the financial benefit as compensation rather than as an award might lower motivation crowding effects of the whistleblower as well as societal unease. Rather than “snitching” and “being out for the money”, the payment might be understood as compensating costs incurred as well as harm suffered. Instead of tying the possibility of a payment to requirements which are unattractive for the whistleblower and address neither motivation crowding nor cultural reservations directly, a compensation-based scheme might contribute to a better selection of whistleblowers and more societal acceptance.
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IP durch KI? – Maschine vs. Mensch im Urheberrecht
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IP durch KI? – Maschine vs. Mensch im Urheberrecht Eva Inés Obergfell
IP durch KI? – Maschine vs. Mensch im Urheberrecht EVA INÉS OBERGFELL
I. Urheberkreativität im Wandel Wenn mittels Künstlicher Intelligenz Beethovens zehnte Symphonie geschaffen werden soll,1 scheint die Vormachtstellung des Menschen auf dem Feld der Kreativität vollends durchbrochen. Mehr und mehr drängen Maschinen in den Bereich der Kunst vor. Kaum eine Kunstform bleibt von dieser Entwicklung unberührt. Allenthalben wird mit algorithmenbasierten, lernenden Systemen kreativ und auch künstlerisch experimentiert. Zur Verdeutlichung dieses Befundes genügen wenige Referenzen. Gerade in der Literatur scheint sich der Einsatz von Künstlicher Intelligenz zu etablieren. Bekannt sind zum einen die Verwendung von automatisierten Systemen zum Zwecke literarischer Übersetzungen2 wie auch in bestimmten Bereichen des Journalismus. Zum anderen – und dies ist möglicherweise weniger bekannt – erobern Bots, also Textbausteine wie auch einzelne Worte generierende und kombinierende Algorithmen, nach und nach auch das Feld der Lyrik. Die Anwendung des Prinzips der WortfolgenWahrscheinlichkeit (sog. „Markow-Ketten“) ermöglicht verblüffende maschinelle Imitationsleistungen.3 Speist man Textbruchstücke in einen Zufallsgenerator ein, so entstehen Textsequenzen, die durchaus lyrische Interpretationsspielräume eröffnen können. Mitten in der Debatte um das an der Fassade der Berliner Alice Salomon-Hochschule prangende (und inzwischen entfernte) Gedicht „Avenidas“ von Eugen Gomringer ließ sich die Schriftstellerin Kathrin Passig Anfang 2016 dazu anregen, einen „Gomringador“Bot zu programmieren, der bis heute unablässig Gedichte im Stil von „Avenidas“ produziert, wobei der maschinelle Output allerdings nach Meinung
1 So der Bericht in der F.A.Z. vom 26.3.2020, 12, über ein Projekt von Computer- und Musikspezialisten mit dem Ziel, aus den rudimentären Skizzen Beethovens ein viersätziges Werk zu generieren. 2 Zu Google Translate im Vergleich zu menschlichen Übersetzungen siehe Passig Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik. Literatur. Kritik, 2019, 53 ff. 3 Dazu Passig Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik. Literatur. Kritik, 2019, 49 ff.
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der Programmiererin nicht von besonders hoher literarischer Qualität sei.4 Fabian Navarro erfand den „Eloquentron 3000“, der tiefsinnig anmutende Lyrik auf seinem Instagram-Kanal veröffentlicht; insgesamt 1.940 Follower bilden das ständige Publikum dieses lyrischen Automatisierungsprozesses.5 Die Ergebnisse sind manches Mal irisierend. Mit dem Wissen um ihre maschinelle Herkunft mag der Leser sie als skurrile Belege der Unzulänglichkeit Künstlicher Intelligenz abtun. Ohne dieses Wissen dürften viele autonom geschaffenen Lyrikstücke ohne Weiteres als (durch den Menschen absichtlich geschaffene) experimentelle Poesie bewertet werden, wenn auch der unterschiedlichsten Qualität. Als Beispiel aus der Bildenden Kunst sei an Rauminstallationen wie „Human Traits #2, 5RNP“ des französischen Künstlers Patrick Tresset erinnert, die in der Berliner Galerie „Dixit Algorizmi Gallery“ zu bestaunen waren.6 Dort bot sich den Besuchern ein besonderes Spektakel: In einem minimalistisch gestalteten Raum sitzt eine junge Frau ruhig auf einem Stuhl Modell. Ans Ohr dringt das ununterbrochene Kratzen von mehreren Kugelschreibern auf sich immer schneller füllenden Skizzenblättern. Doch die Porträts werden nicht von Künstlern aus Fleisch und Blut mit geübtem, flinkem Zeichenstrich aufs Blatt geworfen, sondern es sind fünf Roboter, die als einarmige Maschinen mit einer Schaltzentrale in Form eines Laptops unter der Zeichentischplatte und einer beweglichen Kamera als künstlerischem Auge, die ständig zwischen Modell und Skizze hin- und herwandert, ihr Kunstwerk anfertigen. Diese Roboter kreieren von einem und demselben Vorbild erstaunlich unterschiedliche, mal eher abstrakte und reduzierte, mal elaboriertere Porträts. Selbst wann man die erhöhende Aura des die Robotergestaltungen präsentierenden Künstlers unbeachtet ließe, bliebe es bei durchaus erkennbaren Abbildern der portraitierten Menschen. Maschinen können heute auch Kurzfilme und Musik produzieren. Für das Filmmuseum Amsterdam schneidet „Jan Bot“ mittels Künstlicher Intelligenz (u.a. in Form von metadatengenerierenden Open Source Tools mit Crawlerfunktion) aus dem Medientraffic gewonnene aktuelle Trends mit Digitalisaten aus Archivmaterial zu kurzen Filmsequenzen zusammen. Durch Streaming der so entstandenen 30-Sekunden-Clips kämpft „Jan Bot“ im Dienste des Filmmuseums unermüdlich gegen das Vergessen verwaister 4 Abrufbar unter http://www.twitter.com/gomringador (zuletzt abgerufen am 3.4.2020). Siehe dazu Passig Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik. Literatur. Kritik, 2019, 76 ff., die mit ihrem Twitterbot „Der Wanderfelsen“ auch Lyrik aus Schnipseln automatisierter Übersetzungen zusammensetzen lässt. 5 Abrufbar unter https://www.instagram.com/eloquentron3000/?hl=de; Stand: 3.4. 2020. 6 Siehe zum Künstler und seinem Werk http://patricktresset.com/new/ (zuletzt abgerufen am 3.4.2020).
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Werke an.7 Sein Künstlerkollege „Endel“ steht bei einem Plattenlabel „unter Vertrag“, welches sonst mit Superstars wie Madonna kontrahiert. Er macht sich die Erkenntnisse zur Reaktion des menschlichen Körpers auf unterschiedliche Töne und Klangkombinationen zunutze, um auf Basis von Daten etwa zum Wetter und zur Tageszeit eine konzentrationsfördernde, schlaffördernde etc. Musik zu erzeugen.8 Derartige maschinelle Produktionsprozesse mit Begriffen wie „Kreativität“, „Schaffensprozess“ und „künstlerisch“ in Verbindung zu bringen, befremdet zunächst. Waren diese Bezeichnungen doch bisher untrennbar mit dem menschlichen Geist, menschlicher Empfindsamkeit und Befähigung zu Innovation verknüpft. Auf die Frage, ob Künstliche Intelligenz jenseits einer menschenähnlichen Empfindung und einer Einsichtsfähigkeit in eigenes Produzieren von Artefakten in der Lage ist, selbst eine (neue) Form der Kreativität zu schaffen, gibt es keine einfachen Antworten. Dies ist die philosophisch, psychologisch und kunstwissenschaftlich zu klärende Vorfrage, an die sich unmittelbar die Frage nach den rechtlichen Konsequenzen, namentlich für den urheberrechtlichen Werkbegriff, anschließt. Wenn eine maschinelle neue Form von Kreativität existiert und diese Kreativität als ebenbürtig zum menschlichen schöpferischen Schaffen betrachtet würde,9 dann träte die Maschine in direkte Konkurrenz zum mit Urheberrechten für seine Werke ausgestatteten menschlichen Schöpfer. Selbst wenn dieser gedankliche Pfad weniger weit verfolgt wird, resultieren aus dem Einzug Künstlicher Intelligenz in den Bereich der Kreativität erhebliche Herausforderungen für das Urheberrecht. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dieser urheberrechtlichen Perspektive und insbesondere der Frage, ob Erzeugnisse Künstlicher Intelligenz urheberrechtlich schutzfähig sein können oder sollten. Er ist der kunstsinnigen und musikliebenden Jubilarin Christine Windbichler mit den besten Wünschen gewidmet.
II. Merkmale Künstlicher Intelligenz Es überrascht kaum, dass ein einheitliches Verständnis von Künstlicher Intelligenz fehlt.10 Genau genommen ist der Begriff bereits missverständlich. 7 Siehe unter https://www.jan.bot (zuletzt abgerufen am 3.4.2020); dazu auch F.A.Z. vom 15.7.2019, 11. 8 Dazu Bovermann Algorithm and Blues, SZ vom 25.3.2019, abrufbar unter: https:// www.sueddeutsche.de/kultur/kuenstliche-intelligenz-algorithmus-kunst-1.4382055 (zuletzt abgerufen am 3.4.2020). Ein Vertragsschluss im juristischen Sinne mit der Maschine als Vertragspartner ist freilich ausgeschlossen. 9 Zu Recht ablehnend Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244 (251 f.). 10 Siehe Herberger NJW 2018, 2825 (2826 ff.). Siehe zum technischen Hintergrund insgesamt näher Zech ZfPW 2019, 198 (199 ff.).
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Denn „Künstliche“ Intelligenz meint nicht etwa eine in der Realität nicht existierende,11 sondern vielmehr eine nicht-menschliche, computergestützte Intelligenz. Allerdings bereitet auch dieser Abgrenzungsversuch Schwierigkeiten, die mit der semantischen Ausfüllung des Begriffs der Intelligenz zusammenhängen. Als Anhaltspunkt für die Bejahung von maschineller „Intelligenz“ wird häufig der von Alan Turing entwickelte Imitationsansatz, der sog. „Turing-Test“, herangezogen. Danach ist von einer Intelligenz der Maschine zu sprechen, sobald ein Mensch aufgrund einer perfekten maschinellen Imitation davon ausgeht, dass es sich bei dem Interaktionspartner tatsächlich um einen Menschen handelt und nicht um eine Maschine.12 Die Imitation eines menschlichen Gehirns wird durch die Entwicklung neuronaler Netze (sog. Neural Networks) ermöglicht und dadurch, dass die Maschine selbst lernen kann (sog. Deep Learning). Beim maschinellen Lernen wird ein maschinelles System durch die Vorgabe bestimmter Entscheidungsmuster und das Einspeisen einer Vielzahl von Datentrainingssätzen (Input) in die Lage versetzt, selbstständig Kategorien zu bilden und anhand dieser autonom zu entscheiden (Output).13 So können beispielsweise unterschiedliche Fotos in ein System eingegeben werden, wobei durch die Programmierer festgelegt wird, ob es sich bei dem abgebildeten Objekt um eine Birne oder einen Apfel handelt (sog. Überwachtes Lernen).14 Anhand dieses Inputs kann das System eine eigene Entscheidungsstrategie entwerfen (z.B. Birnen = grün und kegelförmig; Äpfel = rot und kugelförmig). Erfolgt dieses „Erlernen“ über das menschliche Gehirn simulierende Künstliche Neuronale Netze, spricht man von Deep Learning.15 Als selbstlernendes System ist die Maschine in der Lage, aufgrund autonomer Entscheidungen mit dem Menschen zu interagieren oder kreative Prozesse ablaufen zu lassen. Diese Nachahmungsfähigkeit mag die Grenzen zwischen „menschlicher“ und „künstlicher“ Intelligenz zunehmend verschwimmen lassen.16 Bislang wurde jedoch lediglich das Niveau einer „schwachen“ Künstlichen Intelligenz erreicht, welche auf bestimmte Anwendungsbereiche (z.B. Bilderkennung, Spracherkennung etc.) bezogen ist und diese mit Mitteln der Mathematik oder Informatik beherrscht, der aber ein tieferes Verständnis der eigenen Interaktionsprozesse oder gar ein Be11
So auch Hauck/Cevc ZGE 11 (2019) 135 (138 f.). Zum Turing-Test und weiteren Indizien für das Vorliegen einer Intelligenz Barthelmeß/Furbach Künstliche Intelligenz aus ungewohnten Perspektiven. Ein Rundgang mit Bergson, Proust und Nabokov, 2019, 10 ff. 13 Buxmann/Schmidt Künstliche Intelligenz, Mit Algorithmen zum wirtschaftlichen Erfolg, 2019, 9 f. 14 Zu den unterschiedlichen Arten des Maschinellen Lernens auch Buxmann/Schmidt a.a.O. 15 Zu den Einzelheiten des Deep Learnings auch Söbbing K&R 2019, 164 (165). Siehe auch Hauck/Cevc ZGE 11 (2019) 135 (143 f.). 16 Siehe auch Dornis GRUR 2019, 1252 (1255). 12
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wusstsein fehlt. Eine „starke“ Künstliche Intelligenz, die allgemein wie ein Mensch agieren oder diesen gar übertreffen und sich gänzlich neue Aktionsfelder ohne menschliche Hilfe erschließen könnte, bleibt hingegen noch eine Zukunftsvision.17
III. Schutzfähigkeit von Erzeugnissen Künstlicher Intelligenz nach geltendem Urheberrecht 1. Urheberrechtlicher Werkbegriff als Ausgangspunkt Unterstellt man, dass durch Künstliche Intelligenz erzielte Rechen- und Entscheidungsergebnisse, die für den Betrachter oder sonstigen Rezipienten den Eindruck kreativer Schöpfungen erwecken, geeignet sind, echte künstlerische Kreativität zu entfalten, so ist damit keineswegs die Frage nach einem Urheberrechtsschutz beantwortet. Denn aus urheberrechtlicher Perspektive ist allein maßgeblich, ob die ausschließlich durch Algorithmen gesteuerten Produktionsprozesse und ihre Ergebnisse die Voraussetzungen des Werkbegriffs gemäß § 2 UrhG erfüllen. Werk ist nicht gleich Werk. Der kunsthistorische und der urheberrechtliche Werkbegriff sind streng auseinanderzuhalten.18 Nur „persönliche geistige Schöpfungen“ sind gemäß § 2 Abs. 2 UrhG als Werke zu qualifizieren, für die der Urheber durch das Urheberrecht Schutz im Sinne von § 11 UrhG erhält. Der EuGH spricht vom Werk als „Original“, das eine „eigene geistige Schöpfung seines Urhebers“ darstellen und „eine solche geistige Schöpfung zum Ausdruck bringen“ müsse.19 Diese Voraussetzung der „eigenen geistigen Schöpfung“ bejaht der EuGH, wenn der Urheber „kreative Entscheidungen“ treffen konnte und das Werk dadurch eine „persönliche Note“ erhalten habe.20 Inhaltlich ist von einer Kongruenz des europäischen Werkbegriffs mit dem Werkbegriff des UrhG auszugehen. Anerkanntermaßen erfordert der urheberrechtliche Werkbegriff neben der Individualität der Schöpfung, ihrem geistigen Gehalt und ihrer wahrnehmbaren Formgestaltung zunächst, dass diese Schöpfung überhaupt auf einer menschlich-gestalterischen Tätigkeit beruht, also durch den persönlichen Beitrag eines Menschen zustande gekommen ist.21 Selbst wenn er bei 17 Hauck/Cevc ZGE 11 (2019) 135 (140); Söbbing Fundamentale Rechtsfragen zur künstlichen Intelligenz (AI Law), 2019, 3 f. 18 Siehe dazu auch Schaefer/A. Nordemann in FS Schulze, 2017, 39 (40 ff.). 19 EuGH GRUR 2019, 73, 74 Rn. 35 ff. – Levola/Smilde. 20 Siehe EuGH GRUR 2012, 166, 168 Rn. 88 f. – Painer/Standard; EuGH GRUR 2012, 386, 388 Rn. 37 ff. – Football Dataco u.a./Yahoo! UK u.a. 21 Bullinger in Wandtke/Bullinger UrhG, 5. Aufl., 2019, § 2 Rn. 15; Loewenheim/ Leistner in Schricker/Loewenheim Urheberrecht, 6. Aufl., 2020, § 2 Rn. 38; A. Nordemann
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seinem Schöpfungsprozess Apparate, Software, Künstliche Intelligenz, kurz: Maschinen, als Werkzeug oder auch schlicht den Zufall zu Hilfe nimmt, muss das Schöpfungsergebnis zumindest auf eine steuernde kreative Entscheidung des Menschen zurückzuführen sein, um urheberrechtlichen Schutz beanspruchen zu können.22 Bei reinen Maschinenerzeugnissen, bloßen Zufallsfunden wie einer interessant geformten Föhrenwurzel oder Erzeugnissen von Tieren wie dem Selfie eines Schimpansen sowie generell bei Erzeugnissen, die ohne jegliche gestalterische Mitwirkung des Menschen entstanden sind, liegt hingegen keine persönliche geistige Schöpfung im Sinne von § 2 Abs. 2 UrhG vor.23 Es ist demnach fein zu differenzieren zwischen lediglich computer-assistierten Werken, die mit maschineller Hilfe geschaffen werden, und computer-generierten Erzeugnissen, die bereits keine „persönlichen“ Schöpfungen darstellen.24 Grenzfälle entscheiden sich im Rahmen einer Gesamtwürdigung nach dem Anteil menschlicher Gestaltungstätigkeit im Schaffensprozess.25 Die nähere Prüfung anhand des Werkbegriffs zeigt damit bereits, dass Künstliche Intelligenz die Hürde der „persönlichen Schöpfung“ autonom nicht überwinden kann. Auch von einer „geistigen Schöpfung“ i.S.d. § 2 Abs. 2 UrhG wird sich schwerlich sprechen lassen, wenn der „Gomringador“ Gedichte absondert oder „Jan Bot“ Kurzfilme streamt. Beide sind sich wie Tressets Roboter ihrer selbst und ihrer Tätigkeit nicht bewusst und können daher keine geistige Botschaft übermitteln. Ihre Entscheidungen und Interaktionen bleiben letztlich Rechenleistungen auf Basis von Trainingsdatensätzen. Eine Frucht einer eigenen menschlichen Kommunikation lässt sich nicht generieren und Übermittlerin von eigenen Gedanken- und Gefühlsinhalten, wie es die Bejahung einer geistigen Schöpfung erfordern würde,26 kann Künstliche Intelligenz denklogisch nicht sein, solange ihr die Befähigung zu Emotionen und Bewusstsein fehlt.
in Fromm/Nordemann Urheberrecht, 12. Aufl., 2018, § 2 Rn. 21; Obergfell in Büscher/ Dittmer/Schiwy Gewerblicher Rechtsschutz Urheberrecht Medienrecht, 3. Aufl., 2015, § 2 UrhG Rn. 3; Schack Urheber- und Urhebervertragsrecht, 9. Aufl., 2019, Rn. 183; Schulze in Dreier/Schulze UrhG, 6. Aufl., 2018, § 2 Rn. 8. 22 Obergfell in Büscher/Dittmer/Schiwy (o. Fn. 21), § 2 UrhG Rn. 3; Schack Urheberund Urhebervertragsrecht, (o. Fn. 21), Rn. 184; Schulze in Dreier/Schulze (o. Fn. 21), § 2 Rn. 8. 23 So die h.M.; siehe etwa Ahlberg in BeckOK UrhG, 27. Edition, 2020, § 2 Rn. 55; Bullinger in Wandtke/Bullinger (o. Fn. 21), § 2 Rn. 15; Hertin/Wagner Urheberrecht, 3. Aufl., 2019, Rn. 100; Loewenheim/Leistner in Schricker/Loewenheim Urheberrecht, (o. Fn. 21), § 2 Rn. 38 f.; Schack Urheber- und Urhebervertragsrecht, (o. Fn. 21), Rn. 183 f. 24 Hetmank/Lauber-Rönsberg GRUR 2018, 574 (577). 25 So zutreffend Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244 (247). 26 Loewenheim/Leistner in Schricker/Loewenheim (o. Fn. 21), § 2 Rn. 45; Obergfell in Büscher/Dittmer/Schiwy (o. Fn. 21), § 2 UrhG Rn. 5.
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Die Entfaltung von Individualität durch Künstliche Intelligenz kommt ebenso wenig in Betracht. Ein urheberrechtlicher Werkschutz verlangt nämlich nicht bloß eine sich im Werk ausdrückende Individualität im Sinne einer Unterscheidbarkeit. Erforderlich ist vielmehr, dass darüber hinaus in dem Artefakt die individuellen Züge der Schöpferpersönlichkeit sichtbar werden.27 In Ermangelung einer Persönlichkeit bleibt auch diese Hürde für automatisierte Systeme Künstlicher Intelligenz unüberwindbar. 2. Einsatz von Künstlicher Intelligenz als „Zufallsschöpfungen“ Bei dem Versuch der urheberrechtlichen Subsumtion von Sachverhalten, in denen Erzeugnisse automatisiert und infolge autonomer Entscheidungen Künstlicher Intelligenz entstehen, zeigen sich jedoch einige Anknüpfungspunkte in der herkömmlichen Diskussion um den Werkbegriff. Die Problematik der urheberrechtlichen Einordnung von durch Künstliche Intelligenz generierten oder lediglich durch automatisierte Systeme assistierten Werken erinnert vor allem an die alte Debatte um die Zuerkennung von Urheberrechtsschutz für aleatorisch entstandene Kunstwerke.28 Zufallsmomente werden in der Musik, im Tanz, in der Grafik, Fotografie und Literatur seit Langem als gestalterische Momente genutzt. Hierzu hat sich überwiegend die Meinung herausgebildet, dass eine menschliche Steuerung des Einsatzes von Zufallsgeneratoren und eine Auswahl von Zufallserzeugnissen durch den Menschen genügen, um eine persönliche Schöpfung zu bejahen, soweit diese hinreichend individuell ist.29 So wird beispielsweise zu Recht konzediert, dass experimentelle Musik, bei der aleatorische Elemente im Sinne eines „gelenkten Zufalls“ menschlich gesteuert werden, urheberrechtlichen Schutz genießen können.30 Das bedeutet, dass der Mensch seinen individuellen Schöpfungsbeitrag vor dem Ingangsetzen eines maschinellen Werkzeugs erbringen kann, nämlich durch dessen planvollen Einsatz, und im Anschluss an diesen Einsatz durch eine individuelle Auswahl der Maschinenerzeugnisse. Gerade auch in der eigenschöpferischen Kombination der ausgewählten Ergebnisse liegt der vom Urheberrecht als schutzwürdig 27
Bullinger in Wandtke/Bullinger (o. Fn. 21), § 2 Rn. 21; Loewenheim/Leistner in Schricker/Loewenheim (o. Fn. 21), § 2 Rn. 50; Obergfell in Büscher/Dittmer/Schiwy (o. Fn. 21), § 2 UrhG Rn. 7. 28 Parallelen zum Zufallsgenerator ziehen auch Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244 (247); Gomille JZ 2019, 969 (971 f.). 29 Bullinger in Wandtke/Bullinger (o. Fn. 21), § 2 Rn. 17; Loewenheim/Leistner in Schricker/Loewenheim (o. Fn. 21), § 2 Rn. 41; Obergfell in Büscher/Dittmer/Schiwy (o. Fn. 21), § 2 UrhG Rn. 3; Schulze in Dreier/Schulze (o. Fn. 21), § 2 Rn. 8. Siehe zu „Zufallsfotografien“ Ferchland Fotografieschutz im Wandel, 2018, 185–192. 30 Hartmann UFITA 122 (1993) 57 (81 ff.); Obergfell in Büscher/Dittmer/Schiwy (o. Fn. 21), § 2 UrhG Rn. 33; Weissthanner Urheberrechtliche Probleme neuer Musik, 1974, 73 ff.
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anerkannte Schöpfungsakt.31 Die subjektive Entscheidung zum Einsatz der Künstlichen Intelligenz als Stilmittel genügt allein allerdings nicht.32 Es muss vielmehr ein menschlicher kreativer Auswahlakt hinzutreten. Fehlt indessen jegliche, auf einer kreativen Urheberentscheidung beruhende Auswahl, fände also lediglich ein menschlicher Präsentationsakt statt, so handelte es sich letztlich um die seit jeher diskutierte Situation der Aufladung von Industrieprodukten als Kunst, also um sog. Ready Mades wie Duchamps Flaschenhalter. Die bloße Präsentation als Kunst ersetzt hingegen nicht – wie es jedoch Kummer mit seiner Präsentationslehre propagierte33 – die Erfordernisse des Werkbegriffs gemäß § 2 Abs. 2 UrhG.34 Die Portraits der von Patrick Tresset an die Zeichentische installierten Roboter müssten in diese Kategorie schutzunfähiger Ready Mades eingeordnet werden. Denn es finden keinerlei menschlich-kreative Auswahlentscheidungen statt. Der Künstler erbringt eine Programmierleistung, die einem urheberrechtlichen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 UrhG zugänglich ist, doch ist das Computerprogramm mit den von den Robotern angefertigten Bildern nicht identisch. Angesichts der vollkommen unvorhersehbaren Ergebnisse der Roboterkunst fehlt eine von den individuellen Entscheidungen des Programmierers noch getragene Verbindung zu den im Ergebnis präsentierten Robotererzeugnissen.35 Auch die Auswahl der Trainingsdatensätze kann nicht als im urheberrechtlichen Sinne relevante schöpferische Leistung des Menschen bewertet werden. Ebenso wenig wie die Eltern und Lehrer Mozarts, Beethovens oder Goethes als „Miturheber“ der später geschaffenen Meisterwerke ihrer Söhne und Schüler gelten, lässt sich derjenige zum schöpferisch mitgestaltenden „Urheber“ stilisieren, der den Computer mit Bild-, Ton- und Textdatensätzen füttert. Hier mag auch als herkömmlicher urheberrechtlicher Grundsatz hinzukommen: Wer lediglich zu einer kreativen Idee anregt oder als Gehilfe agiert, ist regelmäßig nicht als Miturheber anzusehen.36 Gewagt wirkt die 31
So auch Schack Urheber- und Urhebervertragsrecht, (o. Fn. 21), Rn. 183. Gegen eine Reduktion auf ein solches subjektives Merkmal auch Bullinger in Wandtke/Bullinger (o. Fn. 21), § 2 Rn. 17. 33 Kummer Das urheberrechtlich schützbare Werk, 1968, 75 ff. Ebenso Schulze in Dreier/Schulze (o. Fn. 21), § 2 Rn. 9. 34 So die h.M., siehe nur Loewenheim/Leistner in Schricker/Loewenheim (o. Fn. 21), § 2 Rn. 44; A. Nordemann in Fromm/Nordemann (o. Fn. 21), § 2 Rn. 16; Obergfell in Büscher/Dittmer/Schiwy (o. Fn. 21), § 2 UrhG Rn. 45; Schack Urheber- und Urhebervertragsrecht, (o. Fn. 21), Rn. 183. Grundsätzlich ebenso Rehbinder/Peukert Urheberrecht und verwandte Schutzrechte, 18. Aufl., 2018, Rn. 242, die aber einen geringstmöglichen Urheberrechtsschutz des konkreten „künstlerischen Gesamteindrucks“ annehmen. 35 Ebenfalls auf die hinreichende Bestimmbarkeit des Ergebnisses ex ante abstellend Ehinger/Grünberg K&R 2019, 232 (234 f.). Ähnlich Legner ZUM 2019, 807 (808). 36 Thum in Wandtke/Bullinger (o. Fn. 21), § 8 Rn. 20 ff.; Schulze in Dreier/Schulze (o. Fn. 21), § 8 Rn. 8; BGH Urt. v. 14.11.2002 – I ZR 199/00 = GRUR 2003, 231 (233) – Staatsbibliothek; BGH Urt. v. 19.10.1994 – I ZR 156/92 = GRUR 1995, 47 – Rosaroter 32
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Überlegung, die individuelle Handschrift des Künstlers könnte sich gewissermaßen im Robotererzeugnis fortsetzen, wenn sich die Künstliche Intelligenz ausschließlich aus Inhalten speist, die ein einziger Künstler selbst gestalterisch geschaffen hat.37 Abgesehen davon, dass ein geschlossenes Szenario eines derart begrenzten Trainingsrohmaterials gerade der Grundidee selbstlernender Systeme entgegenläuft und praktisch selten sein dürfte, bliebe auch in dieser Versuchsanordnung das von der Künstlichen Intelligenz neu Geschaffene genau genommen ein Produkt nicht des menschlichen Urhebers der Trainingsdaten, sondern der Maschine. In Big Data-Fallgestaltungen, also der Einspeisung einer Flut frei zugänglicher Daten, kann ohnehin nicht von einer Vorauswahl gesprochen werden.38 Schwer vorstellbar, aber durchaus denkbar sind Konstellationen, bei denen der menschliche Gestaltungsbeitrag in die autonome Entscheidungsstrategie der Künstlichen Intelligenz „integriert“ wird.39 Letztlich wird es aber darauf ankommen, die Blackbox der Entscheidungsstrategien Künstlicher Intelligenz zu öffnen, um festzustellen, inwiefern die anfänglich menschlich gesetzten Kategorien und kreativen Entscheidungen fortwirken.40 PAIR (People + AI Research initiative), eine Initiative von Google, hat hierzu bereits das sog. „What-If Tool“ auf den Markt gebracht.41 Mit dieser Anwendung lassen sich die einzelnen Entscheidungen Künstlicher Intelligenz zumindest teilweise aufschlüsseln. Noch bleibt es allerdings bei der Black Box. 3. Abgrenzungsergebnis Nach Würdigung der verschiedenen Anlehnungen an bislang diskutierte Grenzbereiche des Werkbegriffs zeigt sich damit im Ergebnis folgendes Bild: Anknüpfungspunkte für eine mögliche Schutzfähigkeit von mittels Künstlicher Intelligenz erzeugten Gestaltungen sind erstens das Maß der kreativen menschlichen Steuerung und damit der Grad der Vorhersehbarkeit der Gestaltungsergebnisse, zweitens die schöpferische Auswahl und drittens die individuelle Kombination der ausgewählten maschinellen Erzeugnisse. Zumeist wird der erste Anknüpfungspunkt beim Einsatz Künstlicher Intelligenz ausscheiden. Liegt der dritte Anknüpfungspunkt in hinreichendem Maße vor, ist zugleich eine Auswahlentscheidung gegeben. Verzichtet der Künstler aber bewusst auf eine Kombination der algorithElefant; LG Düsseldorf Urt. v. 8.9.2010 – 12 O 430/09 = ZUM-RD 2010, 696 – Kaugummi Bilder. 37 Gomille JZ 2019, 969 (972 f.). 38 Mit ähnlicher Begründung abgelehnt in Ehinger/Grünberg K&R 2019, 232 (235). 39 Hierzu auch Ehinger/Grünberg K&R 2019, 232 (236). 40 Zu den verschiedenen Erklärungsansätzen Käde/von Matzan CR 2020, 66 (68 ff.). 41 Abrufbar unter: https://pair-code.github.io/what-if-tool/ (zuletzt abgerufen am 3.4. 2020).
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mengenerierten Erzeugnisse, so bleibt das entscheidende Kriterium die menschliche Auswahl der Maschinenergebnisse.42 Das urheberrechtliche Schrifttum begegnet dem Gedanken, die urheberrechtliche Schutzfähigkeit maschinengenerierter Kunst allein an einer subjektiven Auswahlentscheidung des Künstlers festzumachen,43 bisher jedoch eher mit Skepsis.44 Vor dem Hintergrund einer immer weiter nach unten gezogenen urheberrechtlichen Schutzschwelle, ist dieser skeptischen Haltung grundsätzlich zuzustimmen, obgleich im Einzelfall hinreichend individuelle und damit schutzbegründende Auswahlentscheidungen auch beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz denkbar sind.
IV. Immaterialgüterrechtliche Schutzbedürftigkeit von maschinengenerierten Erzeugnissen Selbst wenn eine Schutzfähigkeit von gänzlich ohne Urheberbeitrag generierten Erzeugnissen Künstlicher Intelligenz nach geltendem anthropozentrischen Urheberrecht zu verneinen ist, ließe sich allerdings zum einen fragen, ob dieses in § 2 Abs. 2 UrhG zum Ausdruck kommende und im internationalen wie europäischen Recht verankerte anthropozentrische Urheberrechtsverständnis als überholt betrachtet werden muss und anzupassen ist, und zum anderen (wenn diese Frage verneint wird), ob es alternative Schutzmechanismen zugunsten selbstlernender, maschineller Systeme geben sollte. 1. Legitimation eines anthropozentrischen Urheberrechtsverständnisses a) Individualistische Wurzel des Urheberrechts und Vergleichbarkeit von menschlichen Schöpfungen und Gestaltungen Künstlicher Intelligenz Der anthropozentrische Charakter des kontinentaleuropäischen Urheberrechts zeigt sich in vielfältiger Weise. Die Orientierung an einer menschlichen Schöpferpersönlichkeit belegt im deutschen Urheberrecht nicht nur die personalistische Bestimmung des Schutzgegenstands in §§ 2 bis 4 UrhG und des Schutzinhalts in § 11 S. 1 UrhG, der den Urheber „in seinen geistigen und persönlichen Beziehungen zum Werk“ schützt, sondern sie zeigt sich insbesondere auch in den Urheberpersönlichkeitsrechten (§§ 12 bis 14 UrhG), dem 42 Nach Passig handelt es sich häufig um einen Vorschlag durch die Maschine, aber eine Auswahl durch den Menschen. Siehe näher und mit vielen Beispielen Passig Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik. Literatur. Kritik, 2019, 61 ff. 43 So beispielsweise Schulze in Dreier/Schulze (o. Fn. 21), § 2 Rn. 8. Bullinger in Wandtke/Bullinger (o. Fn. 21), § 2 Rn. 17. 44 Kritisch dagegen Ehinger/Grünberg K&R 2019, 232 (235 f.); Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244 (247).
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Grundsatz der Unübertragbarkeit des Urheberrechts (§ 29 Abs. 1 UrhG) und der über den Tod des Urhebers hinausreichenden Schutzdauer (§ 64 UrhG). Im Geniekult des 18. und 19. Jahrhundert fußend, der dem Menschen eine hohe schöpferische Begabung zuschrieb,45 billigt das Urheberrecht sein Schutzinstrumentarium zu, sobald eine Gestaltung dem Einsatz dieser schöpferischen Fähigkeit des Menschen entspringt. Soweit Künstliche Intelligenz eine mit der menschlichen Fähigkeit zu schöpferischem Gestalten vergleichbare Qualität aufwiese, würde die kategoriale Unterscheidung des Urheberrechts zwischen menschlicher Gestaltungsentscheidung und automatisierten Entscheidungen Künstlicher Intelligenz begründungsbedürftig. Hinsichtlich der Vergleichbarkeitsfrage ist indessen zu berücksichtigen, dass den Menschen neben seiner Intelligenz die grundsätzliche Befähigung zu Emotionen und Empfindungen auszeichnet wie auch seine Fähigkeit, zur Verfolgung ideeller Interessen imstande zu sein.46 Derartiges gelingt bis dato unabhängig vom Menschen keiner Maschine. Zudem imitiert die Maschine lediglich eine menschliche Verstandestätigkeit. Dabei bleibt es bei einer Nachbildung der menschlichen Intelligenz und mangels eines „Maschinenbewusstseins“ bedeutet die Herstellung von Erzeugnissen der eingangs beschriebenen Art lediglich das Ergebnis einer Rechenoperation. Auch wenn man eine sog. „Superintelligenz“47 von Maschinen bereits in greifbarer Nähe sehen möchte, lässt sich gegenwärtig noch von einer kreativen Überlegenheit des Menschen ausgehen.48 Schon deshalb besteht kein Anlass, das anthropozentrische Grundverständnis des Urheberrechts heute als überholt zu betrachten.49 Auch Überlegungen zur Schaffung eines neuen, auf Künstliche Intelligenz zugeschnittenen Rechtssubjekts führen aus urheberrechtlicher Perspektive nicht weiter. Denn weder könnte ein solcher Status die Voraussetzungen des Werkbegriffs außer Kraft setzen, noch würde die Verknüpfung zu einem jenseits der Maschine haftbar zu machenden und etwaige Rechte durchsetzenden Menschen obsolet. Die Anregung des Europäischen Parlaments50 45 Peifer in FS Walter, 2018, 225; Schischkoff Philosophisches Wörterbuch, 22. Aufl., 1991, 240. 46 Legner ZUM 2019, 807 (809 f.); Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244 (251 f.). 47 Ein solches angebliches Ende der menschlichen Überlegenheit prognostiziert beispielsweise Bostrom Superintelligenz – Szenarien einer kommenden Revolution, 2016. Zu der Entwicklung einer sog. Superintelligenz vergleiche auch Mainzer Künstliche Intelligenz – Wann übernehmen die Maschinen?, 2. Aufl. 2019, 185 ff. 48 Eine Ebenbürtigkeit menschlicher Schöpfungen und Gestaltungen Künstlicher Intelligenz ebenfalls ablehnend Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244 (251 f.). 49 So im Ergebnis auch Wandtke Urheberrecht, 7. Aufl. 2019, 2. Kapitel § 1 Rn. 1. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244 (252), die allerdings bezweifelt, dass die Abgrenzung weiterhin auch für Werke der kleinen Münze, die durch Künstliche Intelligenz geschaffen wurden, aufrechtzuerhalten sein kann. 50 Europäisches Parlament, Entschließung des Europäisches Parlaments vom 16.2.2017 mit Empfehlungen an die Kommission zu zivilrechtlichen Regelungen im Bereich Robotik (2015/2103(INL)).
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zur Schaffung eines einheitlichen rechtlichen Status für sog. Elektronische Personen („E-Personen“) und eines verbindlichen Rechtsrahmens für Roboter, insbesondere mit Blick auf Haftungsfragen51, wurde von der Kommission bisher nicht hinsichtlich der Statusfrage aufgegriffen. Vielmehr konzentrieren sich die Arbeiten der Kommission auf die Eindämmung der Risiken, die von Künstlicher Intelligenz für Menschen ausgehen.52 Der Zuerkennung einer E-Person für selbstlernende Systeme Künstlicher Intelligenz müsste jedenfalls die Klärung einer Reihe von schwierigen rechtsdogmatischen Fragen (der Begründung von Rechtsfähigkeit, der zivilrechtlichen Rechtsfolgen etc.) vorausgehen.53 Ein Festhalten am anthropozentrischen Urheberrechtsverständnis ist auch keineswegs eine kontinentaleuropäische Eigenheit des sog. „Droit d’auteurSystems“, die dem anglo-amerikanischen „Copyright-System“ vollkommen fremd wäre. Zwar werden personalistische Begründungsansätze hier stark zurückgedrängt, doch kommen auch das britische und US-amerikanische Recht nicht ohne den Menschen und eine Rückbindung an ihn aus. Im britischen Recht werden zwar gemäß s. 9 (3), s. 178 CDPA 1988 „computergenerated works“ als schutzfähig angesehen. Inhaber des Copyrights wird gemäß s. 9 (3) CDPA 1988 jedoch „the person by whom the arrangements necessary for the creation of the work are undertaken”. Es bleibt auch hier eine gewisse menschliche Mitwirkung und Originalität notwendig.54 Zudem bestehen Unsicherheiten, wer letztlich die notwendigen Vorleistungen erbringt und damit Rechtsinhaber ist.55 Das US-amerikanische Recht spricht im US Copyright Act von 1976 nur von einem „Author“ und weist diesem gemäß 17 U.S. Code § 201 die Schutzrechtsinhaberschaft zu. Da sich keine näheren Angaben im Gesetz finden, müsste dies nicht zwingend ein menschlicher Autor sein. Allerdings nimmt auch das vom US Copyright Office veröffentlichte Kompendium, sowohl in seiner geltenden Fassung als auch in seinem aktuellen Entwurf, nicht-menschliche Arbeiten vom Schutz ausdrücklich aus.56
51
Zu den offenen Haftungsfragen vgl. Zech ZfPW 2019, 198 ff. Siehe das “White Paper” der Kommission „On Artificial Intelligence – A European approach to excellence and trust“, COM(2020) 65 final; siehe auch den “Report on the safety and liability implications of Artificial Intelligence, the Internet of Things and robotics”, COM(2020) 64 final. 53 Siehe zur Diskussion etwa Matthias Automaten als Träger von Rechten, 2008, 45 ff.; Schirmer JZ 2016, 660 (662). 54 Dornis GRUR 2019, 1252 (1256). 55 Ihalainen JIPLP 2018, 724 (725). 56 Vgl. zum aktuellen Entwurf U.S. Copyright Office, Compendium of U.S. Copyright Office Practices, Chapter 300 (306) vom 15.3.2019. 52
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b) Urheberrechtliche Anreizfunktion Der urheberrechtliche Werkbegriff ist auch nicht vor dem Hintergrund einer zugunsten der Hersteller von Künstlicher Intelligenz zu entfaltenden Anreizfunktion des Urheberrechts anzupassen. Für einen urheberrechtlichen Schutz könnte zwar angeführt werden, dass der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in kreativen Bereichen trotz der durchaus vorhandenen Vorteile (Zeitersparnis, Popularitätssteigerung etc.) unattraktiv sein könnte. Auch birgt ein fehlender urheberrechtlicher Werkschutz die Gefahr, dass der Einsatz von künstlicher Intelligenz verschleiert wird.57 So könnte nicht mehr genau bestimmt werden, welchen Entwicklungsstand die Künstliche Intelligenz aufweist, und das Urheberrecht könnte hier seine Funktion als Innovationsmotor verfehlen.58 Allerdings müssen Anreize nicht zwingend über einen urheberrechtlichen Werkschutz erreicht werden. Ein Anreiz könnte auch dadurch gegeben werden, dass ein schwächeres (aufgrund eines geringeren Schutzumfangs weniger stark Monopolwirkung entfaltendes) Immaterialgüterrecht in Form eines Leistungsschutzrechts eingreift. Die Gewährung eines Werkschutzes zur Erfüllung der Anreizfunktion erscheint jedenfalls zu weitgehend. Denn es spricht wiederum die mangelnde Ebenbürtigkeit von automatisierten Entscheidungen Künstlicher Intelligenz mit schöpferischen Gestaltungsleistungen des Menschen gegen einen vergleichbar starken Schutz. Auch wenn man einen erheblichen Aufwand in der Beschaffung der Rohdaten sowie der Programmierung rechtlich anerkennen wollte (und damit von einer Gleichwertigkeit der notwendigen Arbeitsschritte ausgehen würde), so dürften die mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz verbundenen Vorleistungen bereits über andere Schutzrechte (z.B. das Datenbankherstellerrecht oder aber Urheberrechte an den der Künstlichen Intelligenz zugrundliegenden Computerprogrammen) abgedeckt sein. Die Frage nach einer Anpassungsbedürftigkeit des anthropozentrischen Urheberrechts ist damit im Ergebnis zu verneinen. 2. Schutzalternativen a) Schutz durch bestehende Leistungsschutzrechte Mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz sind erhebliche Investitionen verbunden. Für die grundlegende Programmierleistung sind Investitionen ebenso nötig wie für die Einspeisung von Trainingsdatensätzen. Immaterialgüterrechtlich anerkannte Investitionen werden gemeinhin über ein Leis57
Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244 (249). Dornis GRUR 2019, 1252 (1258). Zur Innovationsfunktion des Urheberrechts Wandtke (o. Fn. 49), 1. Kapitel § 5 Rn. 49. 58
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tungsschutzrecht kompensiert. Nach dem geltenden Recht kommt insbesondere ein Schutz über das Leistungsschutzrecht des Datenbankherstellers gemäß § 87a Abs. 1 S. 1 UrhG in Betracht. Allerdings schützt dieses nur die von der Künstlichen Intelligenz geschaffene Datenbank.59 Ob Erzeugnisse Künstlicher Intelligenz in der Rechtsprechung selbst als Datenbank qualifiziert werden, bleibt nach der Entscheidung des EuGH im Fall „Esterbauer“ abzuwarten. Dort hatte der EuGH das Vorliegen einer Datenbank an die Voraussetzung geknüpft, dass die einzelnen Elemente als unabhängige Teile der Sammlung anzusehen sein müssen. Dies sei der Fall, wenn der Wert ihres informativen, literarischen, künstlerischen, musikalischen oder sonstigen Inhalts durch eine Trennung nicht beeinträchtigt werde.60 In bestimmten Sachverhaltskonstellationen wie bei den Portraits der Roboter von Tresset oder im Fall des „Gomringador“ fällt es schwer, eine derartige Unabhängigkeit zu erkennen. Aber auch wenn man einen Datenbankherstellerschutz annehmen wollte, bliebe zu klären, wer die wesentlichen Investitionen tätigt und demzufolge Schutzrechtsinhaber wird. Im Falle der Kurzfilme des „Jan Bot“ ist ein Laufbildschutz gemäß §§ 95, 94 UrhG denkbar. b) Einführung eines eigenen Leistungsschutzrechts für Erzeugnisse Künstlicher Intelligenz Angesichts des nach geltendem Recht fehlenden immaterialgüterrechtlichen Schutzes wird in der Literatur vermehrt die Einführung eines eigenen Leistungsschutzrechts gefordert.61 Allerdings bleiben zahlreiche Fragen einer konkreten Ausgestaltung häufig unbeantwortet. Bereits eine Aufstellung der Schutzvoraussetzungen bereitet Schwierigkeiten. Dornis schlägt vor, hier insofern auf die zu § 2 Abs. 2 UrhG anerkannten Grundsätze zurückzugreifen und lediglich auf die Komponenten zu verzichten, die speziell auf den Menschen und seine Fähigkeiten zugeschnitten sind.62 Auch die Frage, wer Schutzrechtsinhaber sein soll, birgt Herausforderungen. In Betracht kämen sowohl die einzelnen Programmierer, der Hersteller, der Eigentümer der Maschine als auch der Nutzer der Künstlichen Intelligenz. Ausschlagge59
Zu den schutzfähigen Investitionen, dem Erfordernis der Unabhängigkeit, dem Schutzrechtsinhaber und der Reichweite des Schutzbereichs Hetmank/Lauber-Rönsberg GRUR 2018, 574 (578 f.). 60 So lässt sich eine entsprechende Tendenz in der Entscheidung EuGH, GRUR 2015, 1187 Rn. 17 – Freistaat Bayern/Verlag Esterbauer erkennen. Hierzu auch LauberRönsberg GRUR 2019, 244 (248); Söbbing Fundamentale Rechtsfragen zur künstlichen Intelligenz (AI Law), Frankfurt a.M. 2019, 38 f. 61 Dornis GRUR 2019, 1252 (1260 ff.); Hetmank/Lauber-Rönsberg GRUR 2018, 574 (580); Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244 (253). Differenzierend Hacker in Festschrift Hopt, 2020 [im Erscheinen], B III 2 c, der nur für „wissensvermittelnde Werke“ ein Leistungsschutzrecht fordert. 62 Dornis GRUR 2019, 1252 (1261).
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bend könnte dabei sein, wer die Investitionslast schwerpunktmäßig trägt. Dornis schlägt jedoch im Sinne der Vermeidung eines Auseinanderfallens von Rechtsinhaberschaft und Sachherrschaft vor, dass die Rechte bei dem Verfügungsbefugten über die Künstliche Intelligenz (z.B. dem Arbeitgeber des Endnutzers) liegen sollen.63 Eine starre Zuordnung hält Legner dagegen für fast unmöglich und auch ein gemeinschaftliches Schutzrecht würde ihrer Ansicht nach erhebliche praktische Schwierigkeiten hervorrufen, weshalb sie (auch unter Berücksichtigung der Verkehrsinteressen) für die Schaffung eines Nutzerrechts plädiert: Danach soll der Endnutzer das Erzeugnis Künstlicher Intelligenz ausschließlich nutzen dürfen oder aber anderen die Nutzung hieran gestatten können; der Schutzumfang und die Schutzdauer sollen dagegen weitaus knapper gefasst sein als bei einem Leistungsschutzrecht.64 Bevor die konkrete Ausgestaltung eines möglichen Leistungsschutzrechts zugunsten von Gestaltungen Künstlicher Intelligenz in den Blick genommen wird, ist jedoch die grundsätzliche Frage zu klären, ob überhaupt eine diesbezügliche Schutzlücke existiert. Hieran bestehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt Zweifel. Jedenfalls erscheint zunächst eine umfassende Bedarfsanalyse geboten.
V. Schlussbemerkung Musik, künstlerische Artefakte, Literatur und Filme, die im Wege der Künstlichen Intelligenz geschaffen werden, stellen eine Herausforderung für den urheberrechtlichen Werkbegriff und das anthropozentrische Urheberrechtsverständnis dar. Wenn selbst das geneigte Kennerauge und kunsthistorische Expertise nicht mehr in der Lage sind, ein maschinell erzeugtes Gemälde eindeutig vom menschlich geschaffenen Pendant zu unterscheiden, wenn also phänotypische Differenzen zwischen Maschinenkunst und Urheberkunst gänzlich verschwinden, dann bringt dies auch die personalistische Legitimation des Urheberrechts in Bedrängnis. Das Urheberrecht gründet sich gerade auf den Umstand, dass schöpferisch-gestalterische Handlungen eines Menschen, dem nach dem Menschenbild des Grundgesetzes per se Individualität und Persönlichkeit (wie auch Persönlichkeitsrechte) zugeschrieben werden, Erscheinungsformen außerhalb seiner selbst hervorbringen können, die idealiter einen Nutzen für die Gesellschaft stiften und für die das Recht eigentumsartigen Schutz gewährt. Erzeugnisse Künstlicher Intelligenz entbehren in der Regel einer menschlichen Gestaltungstätigkeit und beruhen stattdessen auf selbstlernenden Al63 64
Dornis GRUR 2019, 1252 (1262). Legner ZUM 2019, 807 (811 f.).
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gorithmen, die ohne Zutun des Menschen Artefakte hervorbringen. Ein urheberrechtlicher Werkschutz scheidet daher grundsätzlich aus. Diese personalistische Begründung des Urheberrechts ist richtig und sie bleibt auch in Zeiten zunehmender Konkurrenz durch Künstliche Intelligenz richtig. Der durch einen Urheberrechtsschutz gewürdigte und durch die Möglichkeit, Vergütungen zu erzielen, honorierte menschliche Schöpfungsakt bleibt von der rechtlichen Konkurrenz durch künstliche Intelligenz selbst unberührt. Zu klären ist allein die Frage, ob für Erzeugnisse Künstlicher Intelligenz künftig ein Investitionsschutz zuerkannt werden sollte. Fällt die Antwort positiv aus, so wäre das probate Mittel die Schaffung eines neuen Leistungsschutzrechts.65 Um diese Frage mit der gebotenen Umsicht beantworten zu können, bedarf es – wie zu Recht auch im Schrifttum angemerkt wird66 – einer sorgsamen rechtlichen Bedarfsanalyse, die neben der Notwendigkeit von rechtlichen Anreizen auch vorhandene Schutzmechanismen (etwa des Datenbankherstellerrechts, Softwareurheberrechts, aber auch des Patentrechts67) in den Blick nimmt.
neue rechte Seite! 65 Hierzu tendieren auch Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244 (253); Hetmank/LauberRönsberg GRUR 2018, 574 (580). Differenzierend Hacker in Festschrift Hopt, 2020 [im Erscheinen], B III 2 c, der nur für „wissensvermittelnde Werke“ ein Leistungsschutzrecht fordert. 66 Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244 (252). 67 Ein Patentschutz für Künstliche Intelligenz erfordert anders als ein Urheberrechtsschutz allerdings nicht eine schöpferische Leistung, sondern eine technische Handlungsanweisung. Dazu näher Hauck/Cevc ZGE 11 (2019) 135 (146 ff.).
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Die Haftung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen Giesela Rühl
Die Haftung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen: Die französische Loi de vigilance als Vorbild für ein deutsches Wertschöpfungskettengesetz? GIESELA RÜHL
I. Globale Wertschöpfungsketten und unternehmerische Verantwortung Die zunehmende Vernetzung der Welt hat in den letzten Jahrzehnten globale Wertschöpfungsketten entstehen lassen, die Produktionsstätten im Globalen Süden mit Konsumenten im Globalen Norden verbinden. Im Idealfall gereichen diese Wertschöpfungsketten allen Beteiligten zum Vorteil: Im Globalen Norden profitieren Unternehmen von niedrigen Produktionskosten und Konsumenten von niedrigeren Preisen. Und im Globalen Süden entstehen Arbeitsplätze, die Motor für wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftlichen Aufstieg sind. Die Wirklichkeit sieht allerdings häufig anders aus. Denn nicht selten ist es um den Schutz von Mensch und Umwelt in den Ländern des Globalen Südens nicht gut bestellt. Katastrophen wie der Einsturz des Rana Plaza Fabrikgebäudes in Bangladesch1 oder der Brand in der Ali Enterprises Fabrik in Pakistan2 haben uns dies in den letzten Jahren eindrücklich vor Augen geführt. Bereits seit einiger Zeit wird deshalb darüber diskutiert, ob Unternehmen aus dem Globalen Norden auf die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards in ihren Wertschöpfungsketten achten müssen und ob sie bei einer Verletzung zur Verantwortung gezogen werden können. Machen sich europäische Unternehmen vielleicht sogar schadensersatzpflichtig, wenn ihre ausländischen Töchter, Zulieferer oder Vertragspartner Menschenrechts- und Umweltverletzungen begehen? Im Hinblick auf das deutsche Recht wird diese Frage de lege lata ganz überwiegend verneint: Weder das deutsche Gesellschaftsrecht noch das 1
Siehe dazu unter https://www.business-humanrights.org/de und https://www.ecchr.
eu. 2
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Siehe dazu unter https://www.business-humanrights.org/de und https://www.ecchr.
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deutsche Deliktsrecht kenne eine schadensersatzbewehrte, menschenrechtliche Sorgfaltspflicht für das Handeln Dritter.3 Aufgrund des Rechtsträgerprinzips sei die deliktische Verantwortung von Unternehmen grundsätzlich auf den eigenen Rechtsträger beschränkt.4 Allerdings wird bereits seit einiger Zeit über eine Reform des deutschen Rechts und insbesondere über eine Auflockerung des Rechtsträgerprinzips diskutiert.5 Seit Februar 2019 zirkuliert dazu sogar ein Gesetzesentwurf des Bundesministeriums für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit.6 Er beruht auf einem Vorschlag verschiedener Nichtregierungsorganisationen und sieht die Einführung einer international zwingenden, rechtsträgerübergreifenden menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht vor, deren Verletzung Schadensersatzansprüche der Opfer nach sich ziehen soll.7 Freilich: Welche Realisierungschancen dieser Entwurf hat, lässt sich – auch im Lichte der wirtschaftlichen Einschnitte durch die Corona-Krise des Jahres 2020 – nicht sagen. Feststeht jedoch, dass sich die Überlegungen zur Reform des deutschen Rechts in einen internationalen Trend einreihen. Denn auch in anderen Ländern steht der bessere Schutz von Mensch und 3 Siehe dazu ausführlich Buck-Heeb in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Corporate Social Responsibility, 2018, 91, 108 ff.; Fleischer/Korch ZIP 2019, 2181, 2182 f. und 2185 f., 2188 ff.; Rühl in Kieninger/Reinisch/Peters (Hrsg.), Unternehmensverantwortung und Internationales Recht, 2020, 89, 106 ff.; Weller/Kaller/Schulz AcP 216 (2016) 387 ff.; Wagner RabelsZ 80 (2016) 717, 757 ff., 761. Siehe außerdem ausführlich zum deutschen Recht Güngör, Sorgfaltspflichten für Unternehmen in transnationalen Menschenrechtsfällen, 2016, 129 ff.; Heinen in Krajewski/Saage-Maaß (Hrsg.), Die Durchsetzung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen, 2018, 87 ff.; Hübner in Krajewski/Oehm/ Saage-Maaß (Hrsg.), Zivil- und strafrechtliche Unternehmensverantwortung für Menschenrechtsverletzungen, 2017, 13 ff.; Hübner in Krajewski/Saage-Maaß (Hrsg.), Die Durchsetzung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen, 2018, 61 ff.; Osieka, Zivilrechtliche Haftung deutscher Unternehmen für menschenrechtsbeeinträchtigende Handlungen ihrer Zulieferer, 2014, 113 ff.; Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern, 2019, 35 ff. 4 So deutlich Wagner RabelsZ 80 (2016) 717, 757 ff., 761. Ebenso Habersack/Ehrl AcP 219 (2019) 155, 202 f.; Marx/Bright/Wouters et al, Access to legal remedies for victims of corporate human rights abuses in third countries. Study for the Policy Department for External Relations of the European Parliament, PE 603.475, 2019, 14 f. 5 Siehe dazu nur die Initiative Lieferkettengesetz sowie das von ihr in Auftrag gegebene Rechtsgutachten zur Ausgestaltung eines Lieferkettengesetzes, Februar 2020, abrufbar unter https://lieferkettengesetz.de/wp-content/uploads/2020/02/Initiative-Lieferkettengesetz_Rechtsgutachten_final.pdf. 6 Gestaltungsmöglichkeiten eines Mantelgesetzes zur nachhaltigen Gestaltung globaler Wertschöpfungsketten und zur Änderung wirtschaftsrechtlicher Vorschriften (Nachhaltige Wertschöpfungskettengesetz – NaWKG) einschließlich eines Stammgesetzes zur Regelung menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten in globalen Wertschöpfungsketten (Sorgfaltspflichtengesetz – SorgfaltspflichtenG), Entwurf vom 1. Februar 2019. Siehe dazu Wiedmann CB-Editorial 6/2019. 7 Klinger/Krajewski/Krebs/Hartmann, Verankerung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen im deutschen Recht. Gutachten erstellt im Auftrag von Amnesty International, Brot für die Welt, Germanwatch und Oxfam Deutschland, 2016.
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Umwelt in globalen Wertschöpfungsketten und insbesondere die Einführung von Schadensersatzpflichten auf der Agenda.8 So wird zum Beispiel in der Schweiz auf Druck der Volksinitiative „Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt“, besser bekannt als „Konzernverantwortungsinitiative“, über die Einführung einer schadensersatzbewehrten menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht diskutiert.9 Und in England hat der Supreme Court im Jahr 2019 in einer aufsehenerregenden Entscheidung festgestellt, dass englische Muttergesellschaften nach englischem Recht unter bestimmten Voraussetzungen für Menschenrechtsverletzungen ihrer ausländischen Töchter zum Schadensersatz verpflichtet sein können.10 Einen Schritt weiter ist man demgegenüber bereits in Frankreich. Hier hat der Gesetzgeber im Jahr 2017 das international viel beachtete Gesetz über die Überwachungspflichten von Muttergesellschaften und auftraggebenden Unternehmen,11 die sogenannte Loi de vigilance, erlassen. Es erlegt großen französischen Unternehmen menschenrechtliche Sorgfaltspflichten auf und ahndet ihre Verletzung mit Schadensersatzansprüchen der Opfer. Der folgende Beitrag zu Ehren von Christine Windbichler nimmt die derzeitige Diskussion über die Reform des deutschen Rechts zum Anlass, um einen etwas genaueren Blick auf die französische Loi de vigilance zu werfen und zu fragen, ob sie als Vorbild für den deutschen Gesetzgeber dienen könnte. Dies liegt gleich aus mehreren Gründen nahe: Zum einen hat sich Christine Windbichler intensiv mit der gesellschaftlichen Rolle und der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen beschäftigt. Und zum anderen ist der Blick über die Grenze für die Jubilarin bis zum heutigen Tag eine 8
Siehe dazu nur den Überblick bei Business & Human Rights Resource Center Modern Slavery in Company Operation and Supply Chains: Mandatory transparency, mandatory due diligence, and public procurement due diligence, 2017; Conseil général de l’économie (CGE), Evaluation de la mise en oeuvre de la loi n° 2017-399 du 27 mars 2017 relative au devoir de vigilance des sociétés mères et des entreprises donneuses d’ordre, 28. Februar 2020, 48 ff.; Marx/Bright/Wouters et al, Access to legal remedies for victims of corporate human rights abuses in third countries (Fn. 4), 132 f. (Annex 2). 9 Siehe dazu Bohrer in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Corporate Social Responsibility, 2018, 195 ff.; Fleischer in Müller/Forrer/Zurr (Hrsg.), Das Aktienrecht im Wandel. Zum 50. Geburtstag von Hans-Ueli Vogt (2020), 145, 147 ff.; Handschin AJP 2017, 1000 ff.; Kaufmann SZW 2016, 45 ff.; Palombo Bus. & Human. R. J. 5 (2019) 1, 12 ff.; Weber/Baisch EBLR 2016, 669, 694; Werro JETL 10 (2019) 166 ff. Siehe außerdem Schweizerisches Instituts für Rechtsvergleichung (ISDC), Gutachten zur Geschäftsherrenhaftung für kontrollierte Unternehmen, 30. Juli 2019. 10 Lungowe v Vedanta [2019] UKSC 20. Siehe dazu Kieninger IPRax 2019, 60 ff.; Marx/Bright/Wouters et al, Access to legal remedies for victims of corporate human rights abuses in third countries (Fn. 4), 91 ff.; Rühl in Kieninger/Reinisch/Peters (Hrsg.), Unternehmensverantwortung und Internationales Recht (Fn. 3), 121 f. 11 Loi No. 399/2017 du 23 mars 2017 relative au devoir de vigilance des sociétés mères et des entreprises donneuses d’ordre, JO du 28 mars 2017.
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Selbstverständlichkeit. Es ist deshalb zu hoffen, dass die nachfolgenden Überlegungen auf ihr Interesse stoßen werden. II. Menschenrechtliche Sorgfaltspflichten von Unternehmen Ob und inwiefern Unternehmen auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet werden können und sollen, ist seit einigen Jahren Thema intensiver rechtswissenschaftlicher Debatten. Referenzpunkt sind dabei die UNLeitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die sogenannten RuggiePrinzipien.12 Sie schreiben zum einen vor, dass Unternehmen die Menschenrechte entlang der gesamten Wertschöpfungskette achten sollen.13 Und zum anderen legen sie ausführlich dar, welche Maßnahmen Unternehmen zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen treffen und wie sie reagieren sollen, wenn eine Menschenrechtsverletzung eingetreten ist.14 Freilich: Als völkerrechtliches soft law entfalten die UN-Leitprinzipien keine Bindungswirkung, und zwar weder für Unternehmen noch für Staaten.15 Sie können deshalb nur wirken, wenn und soweit sie von Staaten freiwillig in ihr innerstaatliches Recht überführt werden. Genau dies ist bislang allerdings nicht geschehen. Tatsächlich sehen die zahlreichen Nationalen Aktionspläne, die Regierungen in den letzten Jahren zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien verabschiedet haben,16 regelmäßig davon ab, Unternehmen konkrete Pflichten aufzuerlegen. Es gilt vielmehr das Prinzip der Freiwilligkeit. Trotzdem sind die UN-Leitprinzipien nicht ohne Wirkung geblieben. Denn zumindest indirekt haben sie den Erlass zahlreicher Regelungen bewirkt, die menschenrechtsbezogene Pflichten von Unternehmen begründen.17 So gibt es mittlerweile eine Reihe von Regelwerken, die Unternehmen 12 UN Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechtem 2011, abrufbar unter https://www.auswaertiges-amt.de/blob/266624/b51c16faf1b3424d7efa060e8aaa8130/unleitprinzipien-de-data.pdf. 13 UN Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrecht (Fn. 12), 1 („Allgemeine Prinzipien“) und 15, Leitprinzip 11. 14 UN Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrecht (Fn. 12), 18 ff., Leitprinzipien 15–24 („Operative Prinzipien“). 15 UN Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrecht (Fn. 12), 2. 16 Siehe dazu die Übersicht auf den Seiten des UNHCR, abrufbar unter https:// www.ohchr.org/EN/Issues/Business/Pages/NationalActionPlans.aspx. 17 Siehe dazu die Übersichten von Business & Human Rights Resource Center, Modern Slavery in Company Operation and Supply Chains: Mandatory transparency, mandatory due diligence, and public procurement due diligence, 2017; Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et e l’Éthique des Affaires 2017, Études 91 (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/frenchcorporatedutylaw_articles.pdf); Marx/ Bright/Wouters et al, Access to legal remedies for victims of corporate human rights abuses in third countries (Fn. 4), 132 f. (Annex 2); Scherf/Gailhofer/Hilbert et al, Umweltbezogene und menschenrechtliche Sorgfaltspflichten als Ansatz zur Stärkung einer nachhaltigen Unternehmensführung. Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes, 2019, 26 ff.
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menschenrechtsbezogene Berichtspflichten auferlegen.18 Zu ihnen gehört beispielsweise die CSR-Richtlinie der Europäischen Union,19 die bestimmte Unternehmen zur Abgabe einer nichtfinanziellen Erklärung verpflichtet, und der englische Modern Slavery Act,20 nach dem Unternehmen darlegen müssen, welche Maßnahmen sie zur Vermeidung von Sklaverei und Menschenhandel in der Lieferkette ergreifen. Hinzukommen Regelwerke, die echte menschenrechtliche Sorgfaltspflichten begründen. Aus europäischer Sicht ist hier insbesondere die Konfliktmineralienverordnung21 zu nennen. Sie führt nicht nur Berichtspflichten ein, sondern verlangt von Unternehmen, die bestimmte Minerale oder Metalle zur Überführung in den EUZollverkehr anmelden oder eine solche Anmeldung in Auftrag geben, ihre Lieferanten vertraglich auf die Einhaltung der OECD-Leitsätze über Konfliktmineralien22 zu verpflichten. Außerdem müssen Unionseinführer menschenrechtliche Risiken in ihrer Lieferkette identifizieren und Gegenmaßnahmen entwickeln, die ein unabhängiger Dritter prüfen muss. Eine letzte Gruppe von Regelwerken etabliert schließlich nicht nur menschenrechtliche Sorgfaltspflichten, sondern ahndet ihre Verletzung außerdem mit Schadensersatzansprüchen der Opfer. Zu ihr gehört bislang nur die französische Loi de vigilance vom 23. März 2017. Sie stellt sich als jüngstes Glied in einer beeindruckenden Kette französischer Gesetze dar, die sich den besseren Schutz von Menschenrechten durch global agierende französische Unternehmen auf die Fahnen geschrieben haben.23
III. Die französische Loi de vigilance vom 23. März 2017 Im April 2013 kamen beim Einsturz des 8-stöckigen Rana Plaza Fabrikgebäudes in Bangladesch mehr als 1000 Menschen ums Leben.24 Die Kata18
Siehe dazu den Überblick bei Fleischer/Hahn RIW 2018, 397, 398 ff. Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, Abl. EU 2014, L 330/1. 20 Modern Slavery Act 2015, ch. 30. 21 Verordnung (EU) 2017/821 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 17. Mai 2017 zur Festlegung von Pflichten zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette für Unionseinführer von Zinn, Tantal, Wolfram, deren Erzen und Gold aus Konflikt- und Hochrisikogebieten, Abl. EU 2017, L 330/1. Siehe dazu Fleischer/Hahn RIW 2018, 397, 400; Habersack/Ehrl AcP 219 (2019) 155, 178 f. 22 OECD Due Diligence Guidance for Responsible Supply Chains of Minerals from Conflict-Affected and High-Risk Areas (2016), abrufbar auf Englisch und Deutsch unter http://www.oecd.org/corporate/mne/mining.html. 23 Siehe dazu den Überblick bei Fleischer/Danninger DB 2017, 2849 f. 24 Informationen dazu erhältlich unter https://www.business-humanrights.org/de und https://www.ecchr.eu. 19
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strophe löste weltweit nicht nur Entsetzen, sondern außerdem eine Debatte über die Haftung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen in globalen Wertschöpfungsketten aus. Denn die in dem Rana Plaza Fabrikgebäude untergebrachten Textilfabriken hatten überwiegend Kleidung für Unternehmen aus dem Globalen Norden produziert. In Frankreich gab diese Diskussion den Ausschlag für die Einleitung eines – im Detail kontroversen – Gesetzgebungsverfahrens,25 das am 23. März 2017 in die Verabschiedung der Loi de vigilance mündete. Diese ergänzt den französische Code de Commerce um zwei Vorschriften (Art. L. 225-102-4 und Art. L. 225-102-5 CCom)26 und verpflichtet bestimmte Unternehmen zur Aufstellung, Veröffentlichung und Umsetzung eines Überwachungsplans (plan de vigilance), der angemessene Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte sowie zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Menschen und der Umwelt enthalten muss. Bei fehlender oder unzureichender Aufstellung, Veröffentlichung oder Umsetzung des Überwachungsplans drohen den verpflichteten Unternehmen Sanktionen. Insbesondere können Opfer nach den Vorschriften des Code Civil Schadensersatz verlangen. Im Einzelnen werfen die neuen französischen Vorschriften freilich viele Fragen auf. Zudem gehen sie sowohl in ihrem Anwendungsbereich als auch in ihrer inhaltlichen Reichweite keineswegs so weit wie vielfach angenommen wird. 1. Anwendungsbereich a) Persönlicher Anwendungsbereich Der persönliche Anwendungsbereich der Loi de vigilance wird durch Art. L. 225-102-4 I CCom bestimmt. Danach trifft die Pflicht zur Aufstellung, Veröffentlichung und Umsetzung eines Überwachungsplans grundsätzlich alle Aktiengesellschaften (sociétés anonymes), die ihren satzungsmäßigen Sitz (siège social) in Frankreich haben.27 Über die in Art. L. 226-1 25 Siehe dazu ausführlich Petitjean, Devoir de vigilance. Une victoire contre l’impunité des multinationales, 2019, sowie Conseil général de l’économie (CGE), Evaluation de la mise en oeuvre de la loi n° 2017-399 du 27 (Fn. 8), 12 ff. 26 Text abrufbar unter www.legifrance.gouv.fr. Eine deutsche Übersetzung der einschlägigen Vorschriften findet sich bei Fleischer/Danninger DB 2017, 2849, 2851 f. 27 Dass nur Gesellschaften mit Sitz in Frankreich erfasst werden, ergibt sich nicht eindeutig aus dem Wortlaut von Art. L. 225-102-4 I CCom, wurde aber direkt nach Verabschiedung der Loi de vigilance vom französischen Verfassungsgerichtshof klarstellt. Siehe dazu Conseil constitutionnel, Décision no 2017-750 DC du 23 mars 2017, para. 3, abrufbar auf Französisch und Englisch unter https://www.conseil-constitutionnel.fr/decision/2017/ 2017750DC.htm, sowie Nasse ZEuP 2019, 774, 789; Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 302; Parance/Groulx JDI (Clunet) 2018, 21, 30 f.; Schiller Actes Pratiques et Ingénierie Sociétaire Nr. 157, Januar 2018, Dossier 1, para. 18.
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Abs. 2 CCom und Art. L. 229-1 Abs. 2 CCom enthaltenen Verweisungen wird die Pflicht außerdem auf alle in Frankreich ansässigen Kommanditgesellschaften auf Aktien (sociétés en commandite par actions) sowie auf alle in Frankreich registrierten Europäischen Aktiengesellschaften (sociétés européennes) ausgedehnt. Nach überwiegender, wenn auch nicht unbestrittener Ansicht erfasst die Loi de vigilance zudem alle in Frankreich ansässigen vereinfachten Aktiengesellschaften (societés par actions simplifiées).28 Andere Gesellschaften des privaten und des öffentlichen Rechts, namentlich Gesellschaften mit beschränkter Haftung (societés à responsibilité limitée) sind demgegenüber von der Anwendung ausgenommen. Der persönliche Anwendungsbereich der Loi de vigilance ist damit schon vom Ansatz her beschränkt. Aber selbst Unternehmen, die von ihrer Rechtsform her erfasst werden, sind nach Art. L. 225-102-4 I CCom nur dann zur Aufstellung, Veröffentlichung und Umsetzung eines Überwachungsplans verpflichtet, wenn sie – allein oder unter Berücksichtigung ihrer Tochtergesellschaften (filiales) – in zwei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren 1) mehr als 5.000 Arbeitnehmer in Frankreich oder 2) mehr als 10.000 Arbeitnehmer weltweit beschäftigen.29 Die Loi de vigilance trifft damit insgesamt nur Gesellschaften, die 1) ihren satzungsmäßigen Sitz in Frankreich haben und 2) von einer gewissen Größe sind, während Gesellschaften, die keinen Sitz in Frankreich haben, sowie Gesellschaften, die zwar in Frankreich ihren Sitz haben, aber dort weniger als 5.000 Arbeitnehmer beschäftigen, ohne weltweit auf mehr als 10.000 Arbeitnehmer zu
28 Daoud/Sfoggia Revue des Juristes de Sciences Po 2019, 95, 96; Hannoun Droit social 2017, 806, 811; Malecki BJS 2017, 298, unter I.; Périn RTD com. 2015, 215, 218 (zum insofern gleichlautenden Entwurf von 2015); Schiller JCP E 2017, 1193, unter (1); Schiller Actes Pratiques et Ingénierie Sociétaire Nr. 157, Januar 2018, Dossier 1, para. 17. Ebenso Fleischer/Chatard Audit Committee Quarterly 2019/III, 2, 3; Fleischer/Danninger DB 2017, 2849, 2850 Fn. 17; Fleischer/Korch ZIP 2019, 2181, 2187; Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 305. A.A. Association Nationale des Sociétés par Actions, Champ d’application de la loi no. 2017-399 du 27 mars 2017 relative au devoir de vigilance des sociétés mères et des entreprises donneuses d’ordre: les SAS sont-elles tenues de mettre en place un tel plan de vigilance?, Stellungnahme des Comité Juridique Nr. 17-028 vom 3. Mai 2017, 2; Métais/ Valette Revue Lamy Droit des Affaires 2019, 49, 50. Siehe zum Ganzen die ausführliche Darstellung bei Hannoun Droit social 2017, 806, 811 ff.; Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires, Étude 92 (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/frenchcorporatedutylaw_articles.pdf). 29 Siehe zu den Unklarheiten, die mit den Begriffen „Tochtergesellschaft“ sowie „Arbeitnehmer“ einhergehen, Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires, Étude 92 (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw. org/frenchcorporatedutylaw_articles.pdf); Hannoun Droit social 2017, 806, 812 f.; Nasse ZEuP 2019, 774, 789 f.; Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 302 ff.; Schiller JCP E 2017, 1193, unter (1).
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kommen, vom Anwendungsbereich ausgenommen sind.30 Wie viele Unternehmen danach tatsächlich von der Loi de vigilance erfasst werden, ist unbekannt.31 Einschlägige Schätzungen nennen Zahlen zwischen 150 und 300.32 Dies entspricht den Ergebnissen einer jüngeren Studie, die nach Auswertung öffentlich zugänglicher Daten zu dem Ergebnis kommt, dass (mindestens) 237 Unternehmen in den persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes fallen.33 b) Räumlicher Anwendungsbereich Keine ausdrückliche Regelung findet sich in der Loi de vigilance zu ihrem räumlichen Anwendungsbereich. Die Art. L. 225-102-4 und Art. L. 225-1025 CCom kommen deshalb nur dann zum Zuge, wenn französisches Recht nach den Vorschriften des Internationalen Privatrechts Anwendung findet. In den meisten Fällen, die der französische Gesetzgeber vor Augen hatte, dürfte genau dies aber nicht der Fall sein. Die Loi de vigilance begründet nämlich Pflichten, die die Gesellschaft gegenüber Dritten – und damit im Außenverhältnis gegenüber jedermann – zu erfüllen hat.34 Sie ist deshalb nach überwiegender Auffassung deliktisch zu qualifizieren, so dass französisches Recht nach Art. 4 Abs. 1 der insofern einschlägigen Rom II-VO35 30 Eine weitere Einschränkung findet sich zudem in Art. L. 225-102-4 I Abs. 2 CCom. Danach müssen Tochtergesellschaften oder beherrschte Gesellschaften keinen Überwachungsplan aufstellen, wenn die Muttergesellschaft oder die beherrschende Gesellschaft i.S.v. Art. L. 233-3 CCom einen Überwachungsplan aufgestellt hat, der auch die Geschäftstätigkeit der Tochter- oder der beherrschten Gesellschaft erfasst. Siehe zu dieser Ausnahme Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires, Étude 92 (englische Version, abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/frenchcorporatedutylaw_ articles.pdf); Nasse ZEuP 2019, 774, 790; Schiller JCP E 2017, 1193, unter (1). 31 Conseil général de l’économie (CGE), Evaluation de la mise en oeuvre de la loi n° 2017-399 du 27 mars 2017 (Fn. 8), 18 ff. Siehe dazu auch die ausführliche Studie von CCFD-Terre Solidaire/Sherpa, Le radar du devoir de vigilance. Identifier les entreprises soumises à la loi, 2019, abrufbar unter https://plan-vigilance.org/wp-content/uploads/ 2019/06/2019-06-26-Radar-DDV-16-pages-Web.pdf. 32 Fleischer/Danninger DB 2017, 2849, 2850: 150 Unternehmen; Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, Étude 92: 150 bis 200 Unternehmen (englische Version, abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/french corporatedutylaw_articles.pdf); Malecki BJS 2017, 298: 150 bis 200 Unternehmen; Renaud/Quairel/Bommier et al, Loi sur de devoir de vigilance des sociétés mères et entreprises donneuses d‘ordres, Année 1: Les entreprises doivent mieux faire, 2019, 7: 300 Unternehmen. 33 CCFD-Terre Solidaire/Sherpa, Le radar du devoir de vigilance. Identifier les entreprises soumises à la loi (Fn. 31), 10. 34 Mansel ZGR 2018, 439, 445; Nasse ZEuP 2019, 774, 798 f. A.A. d’Avout D. 2017, 2060, 2061, der die in Art. L. 225-102-4 CCom etablierte Pflicht zur Aufstellung und Einhaltung des Überwachungsplans gesellschaftsrechtlich qualifizieren und nur die Haftungsregel des Art. L. 225-102-5 CCom i.V.m. Art. 1240, 1241 CCiv dem Deliktsrecht zuschlagen möchte. 35 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl. EU 2007, L 199/40.
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nur dann zur Anwendung kommt, wenn sich der Schadensort in Frankreich befindet.36 In allen Fällen, in denen der Schadensort in einem anderen Land liegt – und damit eigentlich in allen Fällen, die der französische Gesetzgeber regeln wollte – bliebe sie demgegenüber ohne Wirkung, was offensichtlich kein sinnvolles Ergebnis wäre. Die Literatur geht deshalb überwiegend davon aus, dass die Art. L. 225102-4 und Art. L. 225-102-5 CCom als Eingriffsnormen (overriding mandatory provisions, loi impérative) i.S.v. Art. 16 Rom II-VO einzuordnen sind.37 Zwar wurde ein Vorschlag, die Loi de vigilance ausdrücklich als international zwingend auszuweisen, während des Gesetzgebungsverfahrens zurückgewiesen.38 Dies geschah aber nur, weil eine ausdrückliche Anordnung für überflüssig gehalten wurde.39 Die Art. L. 225-102-4 und Art. L. 225-102-5 CCom setzen sich deshalb – zumindest vor französischen Gerichten – gegen das nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO zur Anwendung berufene Recht durch. Ob und inwiefern die Gerichte anderer Ländern die Loi de vigilance anwenden müssen, hängt demgegenüber von der – höchst umstrittenen – Frage ab, ob und inwiefern Gerichte die Eingriffsnormen anderer (Mitglied-) Staaten anwenden müssen.40 Die besseren Argumente sprechen gegen eine entsprechende 36
Siehe dazu ausführlich zu dem auf Menschenrechtsverletzungen anwendbaren Recht Mansel ZGR 2018, 439, 453 f.; Rühl in Kieninger/Reinisch/Peters (Hrsg.), Unternehmensverantwortung und Internationales Recht (Fn. 3), 95 ff.; Wagner RabelsZ 80 (2016) 717, 739 ff. 37 Mansel ZGR 2018, 439, 445 i.V.m. 454; Muir Watt Revue Internationale de la Compliance et de l‘Éthique des Affaires 2017, Étude 95; Nasse ZEuP 2019, 774, 799 f.; Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 317 f.; Palombo Bus. & Human. R. J. 5 (2019) 1, 15; Pataut Droit social 2017, 833, 838. Ebenso zum Entwurf von 2015 Boskovic D. 2016, 385, 387. Zweifelnd demgegenüber Barsan ECFR 14 (2017) 399, 432; Danis-Fatôme/Viney D. 2017, 1610, 1618; Parance/Groulx JDI (Clunet) 2018, 21, 47 f.; Spitzer JETL 10 (2019) 95, 106 f.; Weller/Pato Unif. L. Rev. 23 (2018) 397, 414. Hoffberger AVR 55 (2017) 465, 482 f. will das französische Recht demgegenüber über Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO zur Anwendung bringen, während d’Avout D. 2017, 2060, 2062 Art. 17 Rom II-V in Stellung bringt. Die Anwendung dieser Vorschriften begegnet allerdings schwerwiegenden Bedenken. Siehe dazu ausführlich Nasse ZEuP 2019, 774, 798 f.; Rühl in Kieninger/Reinisch/ Peters (Hrsg.), Unternehmensverantwortung und Internationales Recht (Fn. 3), 101 ff. 38 Siehe dazu Assemblée nationale XIVe législature, Session ordinaire de 2014–2015, Première séance du lundi 30 mars 2015, Diskussion zu Amendement No. 18, abrufbar unter http://www.assemblee-nationale.fr/14/cri/2014-2015/20150193.asp#P490680, sowie Muir Watt Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, Étude 95, Fn. 36. 39 Vgl. die Antwort des Berichterstatters zu Amendement No. 18 (Fn. 37): „ … ils sont satisfaits car ce qu’ils proposent est inclus non seulement dans l’esprit mais dans le texte de la proposition de loi.“ 40 Siehe dazu statt vieler Junker in Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage, 2018, Rom II-VO Art. 16 Rn. 23 ff.; Maultzsch in BeckOGK, 1.2.2020, Rom II-VO Art. 16 Rn. 35 ff.; von Hein in Calliess (Hrsg.), Rome Regulations, 2. Auflage, 2015, Article 16 Rome II Rn. 20 f.
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Pflicht.41 Soweit ein Verfahren außerhalb Frankreichs anhängig gemacht wird, steht es deshalb im Ermessen des angerufenen Gerichts, ob es die Loi de vigilance – im Rahmen des nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO anwendbaren Rechts – berücksichtigen möchte oder nicht.42 2. Pflichten und Anforderungen Die von der Loi de vigilance adressierten Unternehmen treffen nach Art. L. 225-102-4 I Abs. 3 CCom drei Pflichten:43 Sie müssen, erstens, einen Überwachungsplan aufstellen. Sie müssen den Überwachungsplan, zweitens, veröffentlichen. Und sie müssen den Überwachungsplan, drittens, umsetzen und die Umsetzung im Geschäftsbericht protokollieren. Alle drei Pflichten sind in ihrer Reichweite bemerkenswert. Denn sie zeigen, dass die Loi de vigilance echte menschenrechtliche Handlungspflichten begründet, die den meisten anderen Regelwerken, namentlich der CSR-Richtlinie fremd sind.44 Letztere verlangt von den erfassten Unternehmen nämlich lediglich, dass sie in ihre Lageberichte eine sogenannte „nichtfinanzielle Erklärung“ aufnehmen, die neben einer Erläuterung des allgemeinen Geschäftsmodells Hinweise zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der unternehmerischen Tätigkeit enthalten und sich mindestens auf Umwelt, Arbeitnehmer- und Sozialbelange, auf die Achtung der Menschenrechte und auf die Bekämpfung von Korruption und Bestechung beziehen muss.45 Der Regelungsanspruch der CSR-Richtlinie beschränkt sich folglich auf die Of41 So für das Verhältnis zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten EuGH, C-135/15 – Nikiforidis ECLI:EU:C:2016:774, Rn. 55. 42 Siehe dazu statt vieler Junker in Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage, 2018, Rom II-VO Art. 16 Rn. 26; Maultzsch in BeckOGK, 1.2.2020, Rom II-VO Art. 16 Rn. 44 ff.; von Hein in Calliess (Hrsg.), Rome Regulations (Fn. 39), Article 16 Rome II Rn. 20, 21. 43 Siehe dazu ausführlich Brabant/Michon/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, Étude 93 (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/frenchcorporatedutylaw_articles.pdf). 44 Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, Abl. EU 2014, L 330/1. 45 Siehe zu den Einzelheiten Art. 19a CSR-Richtlinie und §§ 289b ff. und §§ 315b ff. HGB sowie aus der mittlerweile reichhaltigen Literatur Bachmann ZGR 2018, 231 ff.; Böcking/Althoff Der Konzern 2017, 246 ff.; Fleischer in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Corporate Social Responsibility, 2018, 1, 28 ff.; Brunk in Krajewski/Saage-Maaß (Hrsg.), Die Durchsetzung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen, 2018, 165 ff., 171 ff.; Hommelhoff in FS Kübler, 2015, 291 ff.; Mock in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Corporate Social Responsibility, 2018, 125, 138 ff.; Rehbinder in FS Baums, Band 2, 2017, 959 ff.; Roth-Mingram NZG 2015, 1341 ff.; Segger in Krajewski/Saage-Maaß (Hrsg.), Die Durchsetzung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen, 2018, 21 ff.
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fenlegung von Informationen und damit auf die Herstellung von Transparenz.46 a) Inhaltliche Reichweite In inhaltlicher Hinsicht muss der Überwachungsplan, der von den adressierten Unternehmen in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten (parties prenantes), namentlich Arbeitnehmervertretern zu erarbeiten ist,47 nach Art. L. 225-102-4 I Abs. 3 CCom zwei grundsätzliche Anforderungen erfüllen: 48 Er muss zum einen vernünftige Überwachungsmaßnahmen (mesures de vigilance raisonnable)49 enthalten, die geeignet sind, Risiken für die Einhaltung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten sowie zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Menschen sowie der Umwelt zu identifizieren. Und er muss zum anderen vernünftige Überwachungsmaßnahmen auflisten, die geeignet sind, schwerwiegende Verletzungen“ (atteintes graves) dieser Schutzgüter zu verhindern. Was das im Einzelnen bedeutet, bleibt freilich weitgehend im Unklaren. Denn zum einen verzichtet der französische Gesetzgeber darauf, die in den Blick genommenen Schutzgüter – Menschenrechte, Grundfreiheiten, Gesundheit, Sicherheit, Umwelt – einer begrifflichen Klärung zuzuführen. Und zum anderen gibt er keine Hinweise dazu, wie zu bestimmen ist, wann zu erwartende Verletzungen als „schwerwiegend“ und damit als regulierungsbedürftig anzusehen sind. In der Literatur wird deshalb vorgeschlagen, auf einschlägige nationale und völkerrechtliche Regel46 Bachmann ZGR 2018, 231, 233 ff.; Brunk in Krajewski/Saage-Maaß (Hrsg.), Die Durchsetzung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen (Fn. 44) 65, 168 ff.; Habersack/Ehrl AcP 219 (2019) 155, 178, 196 ff. Ebenso Fleischer in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Corporate Social Responsibility (Fn. 44), 1, 31; Mock ZIP 2017, 1195, 1196; Segger in Krajewski/Saage-Maaß (Hrsg.), Die Durchsetzung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen (Fn. 44), 21, 39. 47 Siehe zu diesem Erfordernis und insbesondere dem offenen Begriff der „Beteiligten“ Beau de Lomenie/Cossart Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, Études 94 ((englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/french corporatedutylaw_articles.pdf); Malecki BJS 2017, 298, unter II.; Schiller JCP E 2017, 1193, unter (2). 48 Siehe dazu ausführlich Brabant/Michon/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, Étude 93, unter 1.B. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/frenchcorporatedutylaw_articles.pdf); Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 305 ff.; Schiller JCP E 2017, 1193, unter (2) sowie den Bericht des Conseil général de l’économie (CGE), Evaluation de la mise en oeuvre de la loi n° 2017-399 du 27 mars 2017 (Fn. 8), 37 f. 49 Im französischen Original bezieht sich das Adjektiv „raisonnable“ auf das Maß der Überwachung bzw. der anzuwendenden Sorgfalt. In der deutschen Literatur wird das Adjektiv demgegenüber zumeist auf die Maßnahmen an sich bezogen. Zumindest vom Ergebnis her sollte es keinen Unterschied machen, ob die Maßnahme angemessen sein muss oder die geforderte Sorgfalt: In beiden Fällen schränkt die Angemessenheit die Reichweite der Sorgfaltspflicht ein.
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werke, namentlich die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Menschenrechtscharta zurückzugreifen und die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte als Auslegungshilfen heranzuziehen.50 Allerdings sind auch diese Regelwerke so weit gefasst, dass sich operationalisierbare Erkenntnisse aus ihnen kaum ableiten lassen. Klarheit werden hier langfristig die französischen Gerichte von Fall zu Fall schaffen müssen. Etwas besser stellt sich die Situation im Hinblick auf die Art der Überwachungsmaßnahmen dar, die Unternehmen ergreifen müssen. Hier werden die allgemein gehaltenen Anforderungen des Art. L. 225-102-4 I Abs. 3 CCom durch Art. L. 225-102-4 I Abs. 4 Nr. 1 bis 5 CCom zumindest etwas konkretisiert.51 Risiken für die genannten Schutzgüter müssen danach, erstens, identifiziert, analysiert und priorisiert werden (Nr. 1.). Zweitens müssen Verfahren beschrieben werden, mit deren Hilfe die identifizierten Risiken einer regelmäßigen Bewertung unterzogen werden (Nr. 2). Drittens müssen Maßnahmen zur Risikominderung und zur Verhinderung ernsthafter Schäden getroffen werden (Nr. 3). Viertens muss in Absprache mit Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretern ein System eingerichtet werden, das die Meldung und die Sammlung von Hinweisen zu Risiken für die genannten Schutzgüter ermöglicht (Nr. 4). Und schließlich muss der Überwachungsplan, fünftens, ein System einführen, mit dessen Hilfe alle geplanten Maßnahmen überwacht und bewertet werden können (Nr. 5). Eine Ergänzung dieser Liste kann der Staatsrat nach Art. L. 225-102-4 Abs. 6 CCom per Dekret vornehmen. Zudem kann er weitere Vorgaben für die Erarbeitung und die Umsetzung des Überwachungsplans machen.52 b) Persönliche Reichweite In persönlicher Hinsicht muss der nach Art. L. 225-102-4 I Abs. 3 CCom geforderte Überwachungsplan zunächst einmal die eigene unternehmerische Tätigkeit der adressierten Gesellschaft sowie die Tätigkeit von Gesellschaften erfassen, die sie i.S.v. Art. L. 233-16 II CCom unmittelbar oder mittelbar beherrscht (sociétés directement ou indirectement controllées). Das ist keine große Überraschung. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich der Plan nach Art. L. 225-102-4 I Abs. 3 CCom außerdem auf die Tätigkeit von Subunter50 Brabant/Michon/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, Étude 93, unter 1.B.1. und 2. (englische Version abrufbar unter http://www. bhrinlaw.org/frenchcorporatedutylaw_articles.pdf); Malecki BJS 2017, 298, unter II.; Schiller JCP E 2017, 1193, unter (2). Ebenso wohl Parance/Groulx JDI (Clunet) 2018, 21, 32 f. 51 Siehe dazu Malecki BJS 2017, 298, unter II.; Parance/Groulx JDI (Clunet) 2018, 21, 33 f.; Schiller JCP E 2017, 1193, unter (2) sowie Conseil général de l’économie (CGE), Evaluation de la mise en oeuvre de la loi n° 2017-399 du 27 mars 2017 (Fn. 8), 21 ff. 52 Siehe dazu ausführlich Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 307.
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nehmern (sous-traitants) und Zulieferern (fournisseurs) beziehen muss, soweit zu ihnen eine gefestigte Geschäftsbeziehung besteht (relation commerciale établie) und die Tätigkeit der Subunternehmer und Zulieferer in einem Zusammenhang zu dieser Geschäftsbeziehung steht. Die Loi de vigilance etabliert damit nicht mehr und nicht weniger als eine echte rechtsträgerübergreifende menschenrechtliche Sorgfaltspflicht, die in dieser Form einzigartig ist. Freilich: Im Einzelnen wirft die Vorschrift viele Frage auf. So ist in der französischen Literatur zum einen umstritten, ob die adressierten Unternehmen nur die Tätigkeit ihrer eigenen Subunternehmer und Zulieferer mit berücksichtigen müssen oder ob außerdem auch deren Subunternehmer und Zulieferer sowie die Subunternehmer und Zulieferer der von ihnen beherrschten Unternehmen einzubeziehen sind.53 Und zum anderen ist umstritten, welche Anforderungen an eine gefestigte Geschäftsbeziehung zu stellen sind.54 Zwar ist der Begriff aus dem allgemeinen Handelsrecht bekannt, wo nach Art. L. 442-1 II CCom55 der unerwartete Abbruch (rupture brutal) einer gefestigten Geschäftsbeziehung Schadensersatzansprüche auslösen kann, wenn diese von einer gewissen Dauer und Intensität war.56 Allerdings gibt es nicht wenige Stimmen in der Literatur, die den Begriff unter Hinweis auf die anderen Zwecke der Loi de vigilance weiter verstehen und auch die wirtschaftliche Bedeutung der Geschäftsbeziehung einbeziehen wollen.57 Danach könnten auch einmalige Geschäftsbeziehungen im Überwachungsplan zu berücksichtigen sein. Unabhängig von diesen Fragen, die am Ende des Tages gerichtlich geklärt werden müssen, steht aber fest, dass die Loi de vigilance eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht etabliert, die 53
Siehe zu diesem Problem Brabant/Michon/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, Étude 93, unter 1.A.3. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/frenchcorporatedutylaw_articles.pdf). 54 Siehe dazu Daoud/Sfoggia Revue des Juristes de Sciences Po 2019, 95, 97 f.; Jazottes Revue Lamy Droit des Affaires 2018, 28 ff. 55 Art. 442-1 II CCom lautet: „Engage la responsabilité de son auteur et l’oblige à réparer le préjudice causé le fait, par toute personne exerçant des activités de production, de distribution ou de services de rompre brutalement, même partiellement, une relation commerciale établie, en l’absence d’un préavis écrit qui tienne compte notamment de la durée de la relation commerciale, en référence aux usages du commerce ou aux accords interprofessionnels.“. 56 Siehe dazu Daoud/Sfoggia Revue des Juristes de Sciences Po 2019, 95, 97 f.; Jazottes Revue Lamy Droit des Affaires 2018, 28 ff.; Nasse ZEuP 2019, 774, 793 f.; Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 310 ff.; Schiller JCP E 2017, 1193, unter (2). 57 Hannoun Droit social 2017, 806, 810 f. Ähnlich Brabant/Michon/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, Étude 93, unter 1.A.3. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/frenchcorporatedutylaw_ articles.pdf); Jazottes Revue Lamy Droit des Affaires 2018, 28, 31; Métais/Valette Revue Lamy Droit des Affaires 49, 50 f.; Parance/Groulx JDI (Clunet) 2018, 21, 31 f. und 44 ff.
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über den eigenen Rechtsträger hinausreicht. Anders als vielfach angenommen und insbesondere in Deutschland gefordert58 erfasst diese allerdings nicht die gesamte Wertschöpfungskette. 3. Sanktionierung von Pflichtverstößen Für den Fall, dass ein von der Loi de vigilance erfasstes Unternehmer seiner Pflicht, einen Überwachungsplan aufzustellen und zu veröffentlichen, nicht nachkommt oder für den Fall, dass es den Überwachungsplan nicht wirksam umsetzt, sieht das Gesetz zwei verschiedene Sanktionen vor:59 das Rügeverfahren nach Art. L. 225-102-4 II Abs. 1 CCom und die Haftungsklage nach Art. L. 225-102-5 CCom i.V.m. Art. 1240, 1241 CCiv. Daneben hatte das Gesetz ursprünglich die Möglichkeit vorgesehen, empfindliche Geldbußen (amende civile) zu verhängen. Diese Möglichkeit wurde allerdings vom französischen Verfassungsgerichtshof unmittelbar nach Verabschiedung des Gesetzes im März 2017 für verfassungswidrig erklärt.60 a) Rügeverfahren nach Art. L. 225-102-4 II Abs. 1 CCom Im Rügeverfahren nach Art. L. 225-102-4 II Abs. 1 CCom können Unternehmen zur Erfüllung ihrer Pflichten nach Art. L. 225-102-4 I CCom aufgefordert werden.61 Aufforderungsberechtigt sind nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift alle Personen, die ein berechtigtes Interesse geltend machen können (personne justifiant d’un intérêt à agir). Dazu gehören insbesondere Nichtregierungsorganisationen, die sich den Schutz der Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben haben.62 Machen sie von ihrem Recht zur Rüge Gebrauch, haben die adressierten Unternehmen drei Monate Zeit, um ihren Pflichten nachzukommen, insbesondere den Überwa58 Siehe § 5 Abs. 4 Nr. 1 i.V.m. § 3 Nr. 2 SorgfaltspflichtenG-E. Ähnlich § 6 Abs. 4 Nr. 1 des Entwurfs von Klinger/Krajewski/Krebs/Hartmann, Verankerung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen im deutschen Recht (Fn. 7). 59 Siehe zu den Sanktionen ausführlich Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, 44 ff. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/frenchcorporatedutylaw_articles.pdf); Malecki BJS 2017, 298, unter III.; Parance/Groulx JDI (Clunet) 2018, 21, 41 ff.; Schiller JCP E 2017, 1193, unter (3). 60 Conseil constitutionnel, Décision no 2017-750 DC du 23 mars 2017 (Fn. 27). Siehe dazu Hoffberger AVR 55 (2017) 465, 472 ff.; Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 297 ff. und 312 f. 61 Siehe dazu Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, 44 ff. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/french corporatedutylaw_articles.pdf); Daoud/Sfoggia Revue des Juristes de Sciences Po 2019, 95; Malecki BJS 2017, 298, unter III.; Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 316 f. 62 Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, 44 ff., unter 2.A. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/french corporatedutylaw_articles.pdf).
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chungsplan nachzubessern. Tun sie dies nicht, können die aufforderungsberechtigten Personen das zuständige Gericht anrufen. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Vorwürfe berechtigt sind, wird das Unternehmen zur ordnungsgemäßen Aufstellung, Überarbeitung oder Umsetzung des Überwachungsplans verurteilt. Zudem kann das Gericht nach Art. L. 225102-4 II Abs. 1 CCom a.E. für den Fall der Zuwiderhandlung – unabhängig vom Vorliegen eines Schadens63 – ein Zwangsgeld androhen und festsetzen. Die Stärke des Rügeverfahrens liegt vor diesem Hintergrund in seiner potentiell präventiven Wirkung.64 Es erfreut sich deshalb auch in der Praxis großer Beliebtheit.65 Tatsächlich haben verschiedene Nichtregierungsorganisationen die ersten Überwachungspläne verschiedener französischer Unternehmen, darunter Total, Teleperformance, EDF und XPO Logistics Europe, bereits gerügt. Verfahren zur Änderung der Pläne sind zum Teil gerichtlich anhängig. Entscheidungen, die zumindest einige der bislang ungeklärten Fragen zu den Anforderungen der Loi de vigilance beantworten würden, liegen demgegenüber noch nicht vor, werden aber für 2020 erwartet. b) Haftungsklagen nach Art. L. 225-102-5 CCom i.V.m. Art. 1240, 1241 CCiv Das Rügeverfahren nach Art. L. 225-102-4 II CCom wird ergänzt durch die Möglichkeit einer auf Schadensersatz gerichteten Haftungsklage, die die Loi de vigilance von anderen Regelwerken, namentlich von der CSR-Richtlinie unterscheidet. Sie steht nach Art. L. 225-102-5 Abs. 2 Abs. 1 CCom – wie das Rügeverfahren – allen Personen offen, die ein berechtigtes Interesse geltend machen können (personne justifiant d’un intérêt à agir). Umstritten ist allerdings, ob damit – wie beim Rügeverfahren – auch Dritte wie beispielsweise Nichtregierungsorganisationen gemeint sind, die nicht selbst einen Schaden erlitten haben. In der Literatur wird dies häufig bejaht.66 Allerdings hat der französische Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung 63 Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, 44 ff., unter 2.A. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/french corporatedutylaw_articles.pdf); Daoud/Sfoggia Revue des Juristes de Sciences Po 2019, 95. 64 Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, 44 ff., unter 2.A. und B. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/ frenchcorporatedutylaw_articles.pdf); Daoud/Sfoggia Revue des Juristes de Sciences Po 2019, 95. 65 Siehe dazu Brabant/Savourey, All Eyes on France – French Vigilance Law First Enforcement Cases: The Challenges Ahead, 24. Januar 2020, Cambridge Core blog, abrufbar unter https://www.cambridge.org/core/blog/2020/01/24/all-eyes-on-france-french-vigil ancelaw-first-enforcement-cases-1-2-current-cases-and-trends/#_edn13. Siehe außerdem die Informationen unter https://www.business-humanrights.org/en/france-analysis-onfirst-legal-cases-filed-under-enforcement-mechanism-set-out-in-duty-of-vigilance-law. 66 Danis-Fatôme/Viney D. 2017, 1610, 1617; Malecki BJS 2017, 298, unter III.
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vom März 2017 festgestellt, dass nur die Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein Interesse an der Haftungsklage habe.67 Dritte können deshalb nicht nach Art. L. 225-102-4 II CCom vorgehen. Allerdings könne sie die Opfer nach den allgemeinen Regeln vertreten oder Ansprüche für sie im Rahmen der geltenden Vorschriften zur Prozessstandschaft geltend machen. In ihren Voraussetzungen richtet sich die Haftungsklage nach der deliktischen Generalklausel des Code Civil (Art. 1240, 1241 CCiv).68 Ein Anspruch auf Schadensersatz setzt danach dreierlei voraus: Erstens, ein Fehlverhalten (faute), zweitens, einen Schaden (dommage) und drittens, Kausalität zwischen Fehlverhalten und Schaden (lien de causalité).69 Die Beweislast für alle drei Voraussetzungen trägt der Kläger.70 Beweiserleichterungen sieht das Gesetz – anders als der Vorschlag der schweizer Konzernverantwortungsinitiative71 – nicht vor. Von den drei Voraussetzungen dürfte sich das Vorliegen eines Schadens für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen regelmäßig unproblematisch nachweisen lassen. Dies gilt auch deswegen, weil der Begriff des Schadens im französischen Recht weit gefasst ist und insbesondere keine Rechtsgutsverletzung voraussetzt. Schwierigkeiten dürfte allerdings der Nachweis des Fehlverhaltens bereiten, wenn Unternehmen ihrer Pflicht zur Aufstellung und Veröffentlichung eines Überwachungsplans grundsätzlich nachgekommen sind. Zwar soll ein Fehlverhalten i.S.v. Art. 1240 CCiv nach dem Wil67 Conseil constitutionelle, Décision no 2017-750 DC du 23 mars 2017 (Fn. 27), para. 28: „… les dispositions contestées ne sauraient permettre à une personne d’introduire une action pour le compte de la victime, qui a seule intérêt à agir.“. Ebenso Métais/Valette Revue Lamy Droit des Affaires 2019, 49, 51.; Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 316. 68 Art. 1240 CCiv lautet: „Tout fait quelconque de l’homme, qui cause à autrui un dommage, oblige celui par la faute duquel il est arrivé à le réparer.“ Art. 1241 CCiv lautet: „Chacun est responsable du dommage qu’il a causé non seulement par son fait, mais encore par sa négligence ou par son imprudence.“. 69 Siehe dazu nur Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, 44 ff., unter 1.A. (englische Version abrufbar unter http:// www.bhrinlaw.org/frenchcorporatedutylaw_articles.pdf); Métais/Valette Revue Lamy Droit des Affaires 2019, 49, 51 f.; Périn RTD com. 2015, 215, 218, 223 f. (zum insofern gleichlautenden Entwurf von 2015). Siehe außerdem Fleischer/Chatard Audit Committee Quarterly 2019/III, 2, 3 f. 70 Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, 44 ff., unter 1.A. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/french corporatedutylaw_articles.pdf); Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 313; Périn RTD com. 2015, 215, 218, 223 (zum insofern gleichlautenden Entwurf von 2015). Siehe außerdem Fleischer/Chatard, Audit Committee Quarterly 2019/III, 2, 3 f. 71 Art. 101a Abs. 2 c) des Vorschlags für eine Änderung der Bundesverfassung: „Die Unternehmen haften …; sie haften dann nicht …, wenn sie beweisen, dass sie alle gebotenen Sorgfalt … angewendet haben, um den Schaden zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.“
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len des französischen Gesetzgebers auch dann vorliegen, wenn der Überwachungsplan inhaltlich unzureichend ist oder nicht wirksam umgesetzt wurde. Wie oben gesehen sind allerdings die Anforderungen an den Überwachungsplan so wenig präzise gefasst, dass es den Opfern schwer fallen wird, nachzuweisen, dass die gesetzlichen Anforderungen nicht eingehalten wurden.72 Hinzukommt, dass der Überwachungsplan nach allgemeiner Meinung auch keine Pflicht begründet, schwerwiegende Verletzungen tatsächlich zu verhindern (obligation de résultat).73 Gefordert wird lediglich, dass Maßnahmen ergriffen werden, die dazu geeignet sind (obligation de moyen).74 Allein die Tatsache, dass ein Schaden eingetreten ist, lässt somit nicht auf ein Fehlverhalten schließen. Insbesondere weist der Eintritt eines Schadens nicht schon für sich genommen auf einen unzureichenden Überwachungsplan oder eine unzureichende Umsetzung hin. Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen müssen deshalb in jedem Einzelfall positiv nachweisen, dass der in Rede stehende Überwachungsplan keine angemessenen Überwachungsmaßnahmen enthielt oder die grundsätzlich angemessenen Überwachungsmaßnahmen im Einzelfall nicht wirksam umgesetzt wurden. Sowohl das eine als auch das andere dürfte für die Opfer, die keinen Einblick in den Organisationsbereich der adressierten Unternehmen haben, regelmäßig schwer fallen. Schwer fallen dürfte außerdem der Nachweis der Kausalität zwischen Fehlverhalten und Schaden.75 Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen müssen nämlich darlegen und im Zweifel beweisen, dass der konkret eingetretene Schaden durch die unzureichende Planaufstellung oder Planumsetzung zumindest mitverursacht wurde oder zumindest nicht so oder nicht in dem gleichen Umfang eingetreten wäre. Angesichts der Länge und der Komplexität von Lieferketten dürfte dies in vielen Fällen ein Ding der Un72 Ebenso Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, 44 ff., unter 1.A. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrin law.org/frenchcorporatedutylaw_articles.pdf); Périn RTD com. 2015, 215, 218, 223 (zum Entwurf von 2015). 73 Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, 44 ff., unter 1.A. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/french corporatedutylaw_articles.pdf); Cossart/Chaplier/Beau de Lomenie Business and Human Rights Journal 2 (2017) 317, 321; Parance/Groulx JDI (Clunet) 2018, 21, 46. 74 Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, 44 ff., unter 1.A. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/ frenchcorporatedutylaw_articles.pdf); Cossart/Chaplier/Beau de Lomenie Business and Human Rights Journal 2 (2017) 317, 321; Parance/Groulx JDI (Clunet) 2018, 21, 46. 75 Ebenso die Einschätzung von Brabant/Savourey Revue Internationale de la Compliance et de l’Éthique des Affaires 2017, 44 ff., unter 1.A. und B. (englische Version abrufbar unter http://www.bhrinlaw.org/frenchcorporatedutylaw_articles.pdf); Hannoun Droit social 2017, 806, 816; Métais/Valette Revue Lamy Droit des Affaires 2019, 49, 52; Périn RTD com. 2015, 215, 218, 224 (zum insofern gleichlautenden Entwurf von 2015); Schiller JCP E 2017, 1193, unter (3). Ähnlich skeptisch Hoffberger AVR 55 (2017) 465, 474.
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möglichkeit sein. In der Literatur wird deshalb zuweilen gefordert, zu Gunsten der Opfer mit Beweiserleichterungen zu arbeiten.76 Ob und inwiefern französische Gerichte geneigt sein werden, diesen Vorschlägen zu folgen, bleibt freilich abzuwarten.
IV. Ein europäisches Wertschöpfungskettengesetz! Die französische Loi de vigilance vom 23. März 2017 ist fraglos ein revolutionäres Gesetz. Als erstes Regelwerk überhaupt verpflichtet es Unternehmen, zum Schutz von Mensch und Umwelt auf das Handeln anderer, selbständiger Unternehmen Einfluss zu nehmen, und ahndet Verletzungen dieser Pflicht mit Schadensersatzansprüchen der Opfer. Allerdings reicht das Gesetz lange nicht so weit, wie insbesondere im Ausland häufig angenommen wird. So ist, erstens, der Anwendungsbereich der Loi de vigilance beschränkt, da nur Unternehmen, die in einer bestimmten Rechtsform organisiert sind und eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern beschäftigen, in den Blick genommen werden. Zudem findet das Gesetz bei grenzüberschreitenden Sachverhalten nur dann Anwendung, wenn vor französischen Gerichten geklagt wird. Zweitens, ist auch die inhaltliche Reichweite des Gesetzes begrenzt. Unternehmen wird durch die Loi de vigilance nämlich keine umfassende menschenrechtliche Sorgfaltspflicht entlang der gesamten Wertschöpfungskette auferlegt. Vielmehr wird die Überwachungspflicht auf beherrschte Unternehmen sowie Subunternehmen und Zulieferer begrenzt, zu denen eine gefestigte Geschäftsbeziehen besteht. Zudem müssen lediglich „schwerwiegende“ Menschenrechtsverletzungen verhindert werden. Und schließlich ist es, drittens, keinesfalls so, dass die Loi de vigilance den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine einfache Möglichkeit bieten würde, von den erfassten Unternehmen Schadensersatz für Menschenrechtsverletzungen zu verlangen. Da sie alle Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs, namentlich das Fehlverhalten und die Kausalität zwischen Fehlverhalten und Schaden beweisen müssen, sind die Erfolgsaussichten von Schadensersatzklagen alles andere als groß. Die tatsächlichen Wirkungen der Loi de vigilance dürften deshalb im Ergebnis überschaubar bleiben.77 Insbesondere erscheint es unwahrscheinlich, 76 Périn RTD com. 2015, 215, 224 (zum insofern gleichlautenden Entwurf von 2015). Siehe dazu außerdem Fleischer/Chatard Audit Committee Quarterly 2019/III, 2, 4.; Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 314 f. 77 Siehe dazu auch die ersten Studien zur Anwendung der Loi de vigilance in der Praxis Renaud/Quairel/Bommier et al, Loi sur de devoir de vigilance des sociétés mères et entreprises donneuses d‘ordres, Année 1: Les entreprises doivent mieux faire (Fn. 32) sowie den offiziellen Bericht des Conseil général de l’économie (CGE), Evaluation de la mise en
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dass sich die Menschenrechtssituation in den Ländern des Globalen Südens kurz- oder mittelfristig verbessert. Allerdings würde es zu kurz greifen, den französischen Gesetzgeber für die Ausgestaltung der einschlägigen Vorschriften zu kritisieren und dem deutschen Gesetzgeber aufzugeben, bei seinen Bemühungen zur Verbesserung des zivilrechtlichen Menschenrechtsschutzes auf einen größeren Anwendungsbereich und eine größere inhaltliche Reichweite zu achten.78 Die Loi de vigilance wurde nämlich nicht deshalb beschränkt, weil der französische Gesetzgeber die Nachteile der Beschränkungen nicht erkannt hätte, sondern weil sich weiterreichende Vorschläge – insbesondere solche, die die Überwachungspflicht auf alle Gesellschaften und die gesamte Wertschöpfungskette erstreckt, das Fehlverhalten der adressierten Unternehmen vermutet und die Beweislast zu Gunsten der Opfer umgekehrt hätten79 – nicht durchsetzen ließen. Der Grund: Das französische Parlament befürchtete eine Benachteiligung französischer Unternehmen im Vergleich zu konkurrierenden Unternehmen aus anderen Ländern.80 Die Loi de vigilance zeigt damit das Dilemma auf, in dem sich nationale Gesetzgeber befinden, die sich um mehr Verantwortung in globalen Wertschöpfungsketten bemühen und ihre Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen wollen: Erlegen sie ihren Unternehmen strenge und weitreichende Pflichten auf und machen sie es den Opfern von Menschenrechtsverletzungen leicht, Schadensersatz einzuklagen, dann laufen sie Gefahr, ihre eigenen Unternehmen auf den Weltmärkten ins Abseits zu stellen. Schwächen sie demgegenüber die Pflichten im Interesse der heimischen Wirtschaft ab, sinkt oeuvre de la loi n° 2017-399 du 27 mars 2017 (Fn. 8), der zudem anmerkt, dass die meisten Unternehmen bei der Erfüllung ihrer Pflichten an sich selbst und ihren Ruf denken und nicht ernsthaft an einer Verbesserung der Menschenrechte interessiert sind (S. 34): „Trop d’entreprises comprennent encore la vigilance comme un outil de protection de leur intérêt et de leur réputation. Leurs démarches sont donc tournées vers elles-mêmes et non pas vers l’extérieur.“ Siehe zu diesem Problem auch schon Rühl in Kieninger/Reinisch/ Peters (Hrsg.), Unternehmensverantwortung und Internationales Recht (Fn. 3), 123 f. 78 So aber im Ergebnis Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstands für Menschenrechtsverletzungen im Konzern (Fn. 3), 319 ff. 79 Siehe dazu Artikel 1 und 2 der Proposition de loi Nr. 1519 v. 6. November 2013, Proposition de loi Nr. 1777 v. 11. Februar 2014 und Proposition de loi Nr. 1897 v. 29. April 2014, alle abrufbar unter http://www.assemblee-nationale.fr. 80 Conseil général de l’économie (CGE), Evaluation de la mise en oeuvre de la loi n° 2017-399 du 27 mars 2017 (Fn. 8), 13; Cossart/Chaplier/Beau de Lomenie Business and Human Rights Journal 2 (2017) 317 f.; Petitjean, Devoir de vigilance (Fn. 25), 109 ff. Siehe außerdem die Stellungnahmen einschlägiger Interessenvertreter der französischen Wirtschaft, Mouvement des entreprises de France (MEDEF), Devoir de vigilance: une loi inefficace qui menace notre économie, 1. Dezember 2016; Chambre de commerce et d’industrie de région Paris Ile-de-France (CCI), Proposition de loi instaurant une obligation de vigilance à l’encontre de certaines sociétés, 11. Juni 2015; Association Française des Entreprises Privées (AFEP), Proposition de loi sur la responsabilité des sociétés mères et entreprises donneuses d’ordre, 31. März 2015.
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die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Menschenrechtssituation in den Ländern des Globalen Südens tatsächlich verbessert. Was also ist dem deutschen Gesetzgeber vor diesem Hintergrund zu raten? Die Antwort liegt auf der Hand: Im Interesse eines effektiven Schutzes von Mensch und Umwelt in globalen Wertschöpfungsketten und im Interesse deutscher Unternehmen sollte er auf einen nationalen Alleingang verzichten und sich stattdessen um eine Regelung auf internationaler Ebene bemühen. Ansätze dazu gibt es bereits in Gestalt einer vom Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationalen im Jahr 2014 eingesetzte Arbeitsgruppe, deren Aufgabe die Ausarbeitung eines verbindlichen völkerrechtlichen Vertrags über Wirtschaft und Menschenrechte (Business and Human Rights Treaty) ist81. Da allerdings kaum davon auszugehen ist, dass sich alle Staaten – oder auch nur alle Industriestaaten – dieser Welt an diesem Vertrag beteiligen und in ihr nationales Recht umsetzen werden, sollte ergänzend über eine Verankerung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten im europäischen Recht nachgedacht werden.82 Die Zeit dafür scheint reif zu sein. Denn nachdem bereits eine informelle Green Card Initiative von acht nationalen Parlamentskammern zum besseren Schutz von Menschenrechten in globalen Wertschöpfungsketten aus dem Jahr 201683 vom Europäischen Parlament in zwei Entschließungen in den Jahren 2016 und 2017 unterstützt wurde,84 hat ein parteiübergreifender Zusammenschluss von europäischen Abgeordneten85 im Frühjahr 2019 einen Schattenaktionsplan zur Umsetzung der UNLeitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte in der EU vorgelegt.86 81 Human Rights Council, Elaboration of an international legally binding instrument on transnational corporations and other business enterprises with respect to human rights, A/HRC/26/L.22/Rev. 1 (20. Juni 2014), abrufbar unter https://documents-dds-ny.un. org/doc/UNDOC/LTD/G14/058/99/PDF/G1405899.pdf?OpenElement. Siehe dazu De Schutter Bus. & Human. R. J. 1 (2015) 41 ff. 82 Ebenso die Forderung von Hannoun Droit social 2017, 806, 818; Rühl in Kieninger/Reinisch/Peters (Hrsg.), Unternehmensverantwortung und Internationales Recht (Fn. 3), 125 f.; Wiedmann CB-Editorial 6/2019. Ebenfalls gegen nationale Alleingänge Wagner RabelsZ 80 (2016) 717, 781. 83 Siehe dazu http://corporatejustice.org/news/132-members-of-8-european-parlia mentssupport-duty-of-care-legislation-for-eu-corporations. Siehe zur Antwort der Europäischen Kommission den Jahresbericht 2016 über die Beziehungen zwischen der Europäischen Kommission und den Nationalen Parlamenten, COM(2017) 601 final, 11 f. 84 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 25. Oktober 2016 zur Verantwortlichkeit von Unternehmen für schwere Menschenrechtsverletzungen in Drittstaaten (2015/2315(INI)), P8_TA(2016)0405; Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. September 2017 zu den Auswirkungen des internationalen Handels und der Handelspolitik der EU auf globale Wertschöpfungsketten (2016/2301(INI)), P8_TA (2017)0330. 85 Mehr dazu unter https://responsiblebusinessconduct.eu. 86 Shadow EU Action Plan on the Implementation of the UN Guiding Principles on Business and Human Rights within the EU, abrufbar unter https://responsiblebusiness conduct.eu/wp/wp-content/uploads/2019/03/SHADOW-EU-Action-Plan-on-Businessand-Human-Rights.pdf.
Die Haftung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen
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Dieser sieht sowohl die Begründung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten als auch die Einführung von Haftungsvorschriften vor und hat die finnische Ratspräsidentschaft Ende 2019 veranlasst zur Aufstellung eines EU Aktionsplans für Wirtschaft und Menschenrechte aufzurufen.87 Die deutsche Ratspräsidentschaft könnte diesen Faden in der zweiten Jahreshälfte 2020 aufnehmen und die Arbeiten an einem europäischen Wertschöpfungskettengesetz vorantreiben.88 Die Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen wäre ihr sicher.89 Und auch die Europäische Kommission steht nach jüngsten Verlautbarungen einer gemeinsamen europäischen Initiative aufgeschlossen gegenüber. So hat der Justizkommission Didier Reynders im Mai 2020 im Anschluss an die Veröffentlichung einer von der Kommission in Auftrag gegebenen Studie90 die Einleitung eines öffentlichen Konsultationsverfahrens in Aussicht gestellt, das schon im Jahr 2021 in einen Gesetzesvorschlag einmünden könnte.91 Allerdings: Um wirklich effektiv zu sein, müsste ein europäisches Regelwerk sicherstellen, dass alle Unternehmen, die auf dem europäischen Markt tätig sind, nach gleichen Spielregeln spielen.92 Anders als die französische Loi de vigilance, die ausschließlich Gesellschaften mit Sitz in Frankreich adressiert, müssten deshalb alle Unternehmen – auch solche aus Drittstaaten – in den Anwendungsbereich der entsprechenden Vorschriften einbezogen werden, die in der Europäischen Union tätig sind. Insbesondere dürfte die Anwendbarkeit nicht vom Gesellschaftssitz, sondern von der Ausübung einer geschäftlichen Tätigkeit in der Europäischen Union abhängen. Zudem dürfte ein europäisches Regelwerk nicht auf das Zivilrecht beschränkt sein, sondern müsste durch Maßnahmen flankiert werden, die die Einhaltung der verein87 Finnish Government, Agenda for Action on Business and Human Rights. Outcome Paper for the Business and Human Rights Converence organized by Finland’s Presidency of the Council of the European Union, 2019, 3, para. 6. 88 Ebenso der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Kinder weltweit schützen – Ausbeuterischen Kinderarbeit verhindern, BT-Drs.19/15062 v. 12. November 2019, 4: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf … sich im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft 2020 auf europäischer Ebene für eine einheitliche, branchenübergreifende und verbindliche Regelung zur Ausgestaltung unternehmerischer Sorgfaltspflichten einsetzt und das Thema auch im Rahmen der Ratspräsidentschaften der EUPartner auf die Agenda kommt.“. 89 Siehe dazu den von mehr als 100 europäischen Nichtregierungsorganisation unterzeichneten Aufruf A call for EU human rights and environmental due diligence legislation, 2 Dezember 2019, abrufbar unter https://corporatejustice.org/news/final_cso_eu_due_ diligence_statement_2.12.19.pdf. 90 Smit/Bright/McCorquodale et al, Study on due diligence requirements through the supply chains, 2020, abrufbar unter https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/ publication/8ba0a8fd-4c83-11ea-b8b7-01aa75ed71a1/language-en. 91 Siehe dazu https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/mex_20_323. 92 Siehe ausführlich zu den Problemen und Funktionsbedingungen eines menschenrechtlichen Haftungsregimes Rühl in Kieninger/Reinisch/Peters (Hrsg.), Unternehmensverantwortung und Internationales Recht (Fn. 3), 122 ff.
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barten Regeln sicherstellen. Zu denken wäre hier beispielsweise an die Einführung von Importregelungen oder Zertifizierungssystemen. Und schließlich müsste – last but not least – offen kommuniziert werden, dass das Zusammenspiel all dieser Maßnahmen für viele Unternehmen eine gehörige Belastung darstellen und viele Produkte, die in Europa verkauft werden, verteuern würde. In einem offenen Diskussionsprozess würde sich Europa dann hoffentlich dazu durchringen, auch in Zeiten von Corona und wirtschaftlicher Rezession in die Einhaltung der Menschenrechte in globalen Wertschöpfungsketten zu investieren.
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Solo-Selbständige und Wettbewerbsrecht
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Solo-Selbständige und Wettbewerbsrecht Franz Jürgen Säcker
Solo-Selbständige und Wettbewerbsrecht – Überlegungen zur Anwendung von Art. 101 Abs. 3 AEUV – FRANZ JÜRGEN SÄCKER
I. Einleitung Der Schutz kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) ist seit der Gründung der EU ein Thema, das vor allem die Beihilfenrechtler beschäftigt.1 Staatliche Hilfe ist gut, sofern sie zur Sicherung unverfälschten Wettbewerbs erfolgt (Art. 106 AEUV). Marktwirtschaftskonformer allerdings wäre es, wenn KMU durch Selbsthilfe ohne staatliche Beihilfen aus eigener Kraft allein oder im Zusammenwirken mit anderen gedeihen könnten. Das legt die Frage nahe, ob sie nicht ex lege die Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV für sich in Anspruch nehmen können, um ihre Existenz auf den Märkten, auf denen sie tätig sind, zu behaupten. Vor allem für Solo-Unternehmer könnte ein selbstverantworteter Weg attraktiver sein als das Warten auf den mal nach apokryphen Kriterien helfenden, mal passiv abwartenden Staat. Die Literatur lehnt bislang die Anwendung des Art. 101 Abs. 3 AEUV kurz und knapp ab.2 Arbeitsrechtlich orientierte Autoren zerbrechen sich stattdessen den Kopf, ob man Solo-Unternehmer nicht besser unter dem Schutzschirm des Arbeitsrechts aufnehmen sollte, und sprechen wegen der angeblichen Arbeitnehmerähnlichkeit dieser Personen lieber von Solo-Arbeitnehmern oder Solo-Beschäftigten.3 Kartellrechtler ihrerseits beschäftigten sich gerne mit Bagatell- und Mittelstandsunternehmen, lassen aber die besondere schützwür1
Vgl. dazu Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, Bd. 5, Beihilfenrecht, 2. Aufl. 2018, Finanzielle Transfers und Transaktionen, Rn. 274 ff. (Nuñez Müller); R&U Leitlinien Einl. 240 ff. (Schütte/Werner); KMU-Beihilfen VO (EU) 651/2014 Vor Art. 17 Rn. 1 ff. (Werner). 2 Vgl. etwa Bourazeri NZA 2019, 741 ff.; Mohr, EuZA 2018, 436 ff. 3 Vgl. etwa Mohr EuZA 2018, 436, 461; Reichold in Giesen/Junker/Rieble, Ordnungsfragen des Tarifvertragsrechts, 2017, 37 ff.; Mohr/Wolf JZ 2011, 1091 f.; Bayreuther Sicherung der Leistungsbedingungen von (Solo-)Selbständigen, 2018, 66 ff.; Däubler/Klebe NZA 2015, 1032 ff.; Preis, RdA 2019, S. 76 f.; Deinert, Soloselbstständige zwischen Arbeits- und Wirtschaftsrecht, 2015, S. 27 ff.; Kretzschmar, Die Rolle der Koalitionsfreiheit für Beschäftigungsverhältnisse jenseits des Arbeitnehmerbegriffs, 2003, S. 160 ff.; Klappericht, NZKart 2020, 125, 126.
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Franz Jürgen Säcker
dige Lage von Solo-Unternehmen außer Betracht, obwohl in Deutschland mehr als 2 Mio. Menschen zu dieser Kategorie zählen.4
II. Die Zuordnung zum Arbeitsrecht? Bei der Frage nach den Grenzen, die das Kartellrecht (Art. 101 AEUV, § 1 GWB) Tarifverträgen setzt, wird in der Literatur häufig ohne Klärung der personellen Reichweite der Normen geprüft, ob und inwieweit das Kartellrecht auf Tarifverträge anwendbar ist. Tarifverträge enthalten Normen für Arbeitnehmer. Sind Arbeitnehmer oder deren Kollektivvertretungen (Gewerkschaften, Betriebsräte) die Adressaten einer Vereinbarung, so ist Art. 101 AEUV tatbestandlich nicht betroffen. Die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden geschlossene Vereinbarung mag aus anderen Gründen, z. B. wegen Verstoßes gegen Grundrechtsnormen, unwirksam sein; ein Verstoß gegen Art. 101 AEUV ist aber bei Beschränkung auf Arbeitnehmer nicht gegeben.5 Es gibt keine Kollisionslage zwischen Tarifverträgen auf der einen und Kooperationsvereinbarungen zwischen Unternehmen auf der anderen Seite. Eine in einen Verbandstarifvertrag aufgenommene Vereinbarung über die Schließung von Ladenlokalen ist daher, da sie sich nicht an Arbeitnehmer wendet, ein unzulässiges Kartell.6 Der Begriff des Arbeitnehmers ist durch das EU-Recht, insbesondere durch Art. 27 GRC einheitlich und autonom festgelegt, auch wenn manche Autoren immer noch von normspezifischen Arbeitnehmerbegriffen sprechen.7 Vor allem Mankowski8 hat in seiner Analyse der Rechtsprechung des EuGH herausgearbeitet, dass es keine Vielzahl von EU-Arbeitnehmerbegriffen mehr gibt, sondern den EU-Vorschriften ein einheitlicher Begriff zugrunde liegt (dazu näher unter III). Das gilt auch für das deutsche Arbeitsrecht. Wenn Personen, die Dienstleistungen für Dritte in einem team- oder gefügeartigen Produktions- oder Dienstleistungsprozess gegen Entgelt erbringen und dabei dem Weisungsrecht ihres Vertragspartners unterworfen sind, sind sie Arbeitnehmer und 4 Vgl. Monopolkommission, 21. Hauptgutachten, 2016, Rn. 1225 ff.; Krause Gutachten für den 71. Deutschen Juristentag, 2016 B 102 ff.; Leimeister/Zogaj/Blohm in Crowdwork – zurück in die Zukunft?, 2015, 14 ff. 5 Schließen Arbeitgeber und Gewerkschaften für Nicht-Arbeitnehmer Kollektivverträge, so handeln sie nicht mehr in ihrer angestammten Funktion als Arbeitsrechtsakteure, sondern als Unternehmen und fallen damit unter Art. 101 AEUV; vgl. EuGH, Urt. v. 21.9.1999, Slg. 1999, I-5751 (Albany-Doktrin); ebenso Mohr EuZA 2018, 436; Fleischer, DB 2000, 821, 824 f.; Bechtold in FS Bauer, 2010, 109, 117; Bourazeri NZA 2019, 745. 6 Vgl. Säcker/Oetker Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, 1992, 206 f. 7 Vgl. dazu die Nachweise bei Schubert, in: Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum Europäischen Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2020, GRC Art. 27 Rn. 19 ff. 8 Mankowski RIW 2004, 167 ff.; RIW 2015, 821 ff.; RIW 2019, 505 ff.; früher bereits Ziegler, Arbeitnehmerbegriff im Europäischen Arbeitsrecht, 2011, S. 170 ff.
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keine Unternehmer. Wenn jemand dagegen i. S. v. Art. 101 AEUV in keinem Unterordnungsverhältnis steht und daher keinen Weisungen unterliegt, so ist er bei wirtschaftlicher Betätigung mit Marktbezug Unternehmer und zwingend dieser Vorschrift unterworfen. Bei wettbewerbsbeschränkenden Absprachen mit anderen kann er nur dann dem Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV entrinnen, wenn die Vereinbarung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV alle Voraussetzungen für eine Freistellung von der Anwendung des Art. 101 Abs. 1 erfüllt (dazu näher unter IV). Aus der tradierten Sicht des Arbeitsrechts ist das freiheitsschützende Kartellverbot ein Hindernis für einen wirksamen Schutz namentlich der SoloBeschäftigten durch das Arbeitsrecht. Aus der Sicht des Wettbewerbsrechts ist das kollektive Arbeitsrecht, da es seinen Erfolg wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen der Arbeitnehmer mit den Arbeitgebern verdankt, ein Fremdkörper in einer individualistisch-liberalen Marktwirtschaft.9 Die Jubilarin, Christine Windbichler, ist wie der Verfasser dieses Beitrags durch beide „Welten“ gewandert. Für die einen ist Arbeitsrecht Verteilungsrecht, für die anderen ist Wettbewerbsrecht das Recht, das effizient die Güter schafft, die das Arbeitsrecht großzügig verteilt. Bereits diese Schlagworte zeigen: Arbeitsrecht und Wettbewerbsrecht haben in ihrer reinen Form keinen grauen Bereich der Überschneidung, sondern sind klassifikatorisch im Sinne eines Entweder – Oder gegeneinander abgegrenzt.10 Zwischen ihnen besteht dogmatisch eine tiefe Schlucht, die durch keine Brücke überspannt wird. Das kollektive Arbeitsrecht passt nicht zu der Freiheit des Individuums, die mit der französischen Revolution 1789 triumphierte und Zünfte und ständische Ordnungen abschaffte.11 Die Wirklichkeit des Industriezeitalters im 19. Jahrhundert zeigte jedoch, dass der Begriff der individuellen 9 Vgl. dazu Bien NZKart 2019, 185 ff.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, Rn. 660 ff. 10 Dabei handelt es sich nicht, wie von einigen Autoren argumentiert wird, um eine teleologisch induzierte Geltungsreduktion des § 1 GWB für Tarifverträge (so Schubert ZfA 2013, 1, 20 ff.; dies. in FS Klebe, 2018, 351, 355; Mohr EuZA 2018, 436, 439). Art. 101 AEUV und § 1 GWB - siehe den Wortlaut von § 1 GWB bei Schaffung des GWB – waren vielmehr seit ihrer Entstehung auf Warenmärkte und gewerbliche Leistungen (s. auch § 18 Abs. 1 GWB) beschränkt. Die Art. 101 Abs. 1 AEUV übernehmende Neufassung des § 1 GWB sollte den Adressatenkreis der Vorschrift nicht erweitern. Der EuGH hat Art. 101 AEUV von Anfang an auf funktional selbständige Leistungen beschränkt und im Unterordnungsverhältnis erbrachte Leistungen im arbeitsteiligen Unternehmen wegen fehlenden Marktbezugs dieser unternehmensinternen Leistungen dem Arbeitsrecht und nicht dem Kartellrecht zugeordnet. Art. 28 AEUV setzt dem Kartellrecht keine Grenzen (so auch Schubert aaO (Fn. 7) Rn. 88), weil beide Normen sich nicht überschneiden und unterschiedliche personelle Schutzbereiche haben, s. auch Fn. 5. 11 Vgl. zur dogmengeschichtlichen Entwicklung Säcker Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, 1972, 8 ff., 205 ff.; eingehend Schröder Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, 1988; Krause JuS 1970, 318 ff.
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Freiheit für die Arbeitnehmer zu Vogelfreiheit führte. Sie hatten zwar alle Freiheit in formaler Hinsicht, waren materiell aber nicht in der Lage, diese Freiheit gegenüber ihren Vertragspartnern, den Unternehmen, auf gleicher Augenhöhe auszuüben. Sie mussten ihre kollektive Handlungsfreiheit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem mühselig über Jahrzehnte hinweg abtrotzen. Die an Unternehmen adressierten Kartellverbote mussten daher auf die Märkte für Waren und gewerbliche Dienstleistungen beschränkt werden. Die Märkte für Arbeitsleistungen wurden durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit vom Kartellrecht abgeschottet (Art. 9 Abs. 3 GG; Art. 28 GRC). Da, wo Dienstleistungen im Unterordnungsverhältnis im Unternehmen nach Weisung erbracht werden, hat das Kartellrecht nichts zu suchen. Der Europäische Gerichtshof hat vor diesem geschichtlich gewachsenen Hintergrund den Arbeitnehmerbegriff in den Art. 27, 28 GRC, 45, 153 AEUV zutreffend so abgegrenzt, dass Überschneidungen mit dem Kartellverbot grundsätzlich vermieden werden. Das europäische Recht kennt keine arbeitnehmerähnlichen Solo-Beschäftigten.12 Der nationale Gesetzgeber ist daher nicht befugt, Art. 101 AEUV einzuschränken und von der Arbeitsrechtswissenschaft generell als schutzbedürftig definierte Solo-Selbständige dem Verbotsbereich des Art. 101 AEUV zu entziehen und stattdessen dem Schutz des Arbeitsrechts (ganz oder teilweise) zu unterstellen. Die nationale Einordnung etwa von Solo-Unternehmern als arbeitnehmerähnliche Personen kann daher nicht zu Einschnitten in den Anwendungsbereich des Art. 101 AEUV führen. Das Tarifvertragsrecht ist keine lex specialis gegenüber dem Verbot unzulässiger Absprachen i.S.v. Art. 101 AEUV, sondern ein durch den unterschiedlichen Adressaten- und Gegenstandsbereich abgegrenztes aliud. Es kann den funktionalen Begriff des Unternehmens i. S. v. Art. 101 AEUV, so wie er vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung festgelegt ist, nicht einschränken.13 Es gibt keine Befugnis des Gesetzgebers, nach Art einer Abwägung, wie sie in Deutschland zwischen kollidierenden Grundrechtsnormen vorgenommen wird, nach praktischer Konkordanz zu entscheiden, welcher Sachverhalt dem Arbeitsrecht und welcher dem Kartellrecht unterfällt. Das Wettbewerbsrecht seinerseits kann nicht arbeitnehmerbezogene Absprachen zwischen Unternehmen und Gewerkschaften dem Art. 101 AEUV unterstellen. Die §§ 1–3 GWB sind an die Auslegung des europäischen Arbeitnehmerbegriffs insoweit gebunden, als sie keine Sachverhalte erfassen können, die – als Folge des über Art. 3 Abs. 1 EU-VO Nr. 1 hergestellten Gleichklangs des deutschen Rechts mit dem EU-Recht – durch Art. 101 12 Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Schubert aaO (Fn. 7) Rn. 20; dies., Der Schutz der arbeitnehmerähnlichen Personen, 2004, S. 156 ff. 13 Zum funktionalen Unternehmensbegriff im europäischen und deutschen Wettbewerbsrecht vgl. Säcker/Steffens in Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 2020, Art. 101 Rn. 26 ff. m.w.N.
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AEUV nicht erfasst sind. Dies gilt nach der Anpassung des Wortlauts des deutschen Rechts an das europäische Recht durch die 8. Kartellgesetznovelle im Jahre 2005 auch für rein innerdeutsche Sachverhalte, da die vollständige Übernahme des Art. 101 AEUV in das deutsche Recht eine einheitliche Interpretation der Norm für nationale und transnationale Sachverhalte gebietet.14 Zwischen dem Unternehmensbegriff in Art. 101 AEUV und dem Begriff des Arbeitnehmers im europäischen Recht gibt es also keine legislativer Gestaltung zugängliche „Grauzone“; denn jede teleologische Erweiterung des Wortlauts der einen Vorschrift ist notwendig eine Verkürzung des Anwendungsbereichs der anderen Vorschrift. Es bestehen keine sich überschneidenden, nach konkurrenzlösenden Vorschriften rufenden Normbereiche,15 es sei denn, der nationale Gesetzgeber schafft in Durchbrechung des selbst gesetzten Gleichklangprinzips für rein inländische Sachverhalte Sondervorschriften (Beispiel: § 12a TVG). Der Arbeitnehmer- bzw. der Unternehmerbegriff sind also nicht mehr normzweckspezifisch anhand des deutschen Gesetzestextes, in dem sie positiviert sind, auszulegen, sondern müssen in Übereinstimmung mit dem primären EU-Recht konkretisiert werden. Dem EuGH ist es mit seiner Interpretation des Arbeitnehmerbegriffs im AEUV gelungen, eine einheitliche und überzeugende Abgrenzung des Begriffs für alle Mitgliedstaaten der EU zu erreichen. Beispielhaft sei das Urteil des EuGH Bosworth/Arcadia Petroleum Ltd. vom 11.04.201916 genannt. Der EuGH hatte zu prüfen, ob eine Organperson ohne Gesellschafterstellung Arbeitnehmer ist. Das Gericht lehnt jede pauschalisierende Betrachtung wie im deutschen Recht ab, sondern verlangte eine umfassende Untersuchung eines eventuellen Unterstellungsverhältnisses und der daraus resultierenden Weisungsabhängigkeit. Dazu prüfte er detailliert die Gestaltungsfreiheit des Geschäftsführers in Bezug auf das Tagesgeschäft und das Ausmaß der effektiven Kontrolle seiner Geschäftsführung: „Zum Begriff „Arbeitnehmer“ ist ferner darauf hinzuweisen, dass er nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs anhand objektiver Kriterien zu definieren ist, die das Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht aber darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. u. a. Urteil vom 20. September 2007, Kiiski, C‑116/06, EU:C:2007:536, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich setzt ein Arbeitsverhältnis voraus, dass zwischen dem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber ein Unterordnungsver14 Näher EuGH, Urt. v. 11.12.2007, WuW/E EU-R 1353 (Autorità Garante della Concorrenza/ETI); Säcker in Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2020, Bd. 2, § 1 Rn. 2 ff. 15 s. Fn. 10. 16 EuGH, Urt. v. 11.4.2019, RIW 2019, 503 (Bosworth/Arcadia Petroleum Ltd.), Rn. 25 f.
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hältnis besteht. Ob es vorliegt, muss in jedem Einzelfall anhand aller Gesichtspunkte und aller Umstände geprüft werden, die die Beziehungen zwischen den Beteiligten kennzeichnen (Urteile vom 10. September 2015, Holterman Ferho Exploitatie u.a., C-47/14, EU:C:2015:574, Rn. 46, und vom 20. November 2018, Sindicatul Familia Constanţa u.a., C-147/17, EU:C:2018: 926, Rn. 42).“
Erkennbar geht es dem EuGH in seiner neueren Judikatur um die Entwicklung eines einheitlichen, EU-autonomen Begriffs des Arbeitnehmers, der in den Mitgliedstaaten nicht unterschiedlich ausgelegt werden darf.17 Der Bundesgerichtshof18 hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen. Bei der Frage, ob bei einer Kündigung des mehrfach verlängerten Dienstvertrages eines GmbH-Fremdgeschäftsführers § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AGG bzw. § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG anzuwenden seien, stellte der Bundesgerichtshof entsprechend den vom EuGH verwandten individuellen Prüfungsvorgaben fest, dass, wer am Markt im eigenen Namen, für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung auftrete (wie es etwa beim direkten externen Crowdworking der Fall ist), in keinem vertraglichen Unterordnungsverhältnis arbeite. Er sei deshalb kein Arbeitnehmer. In der Entscheidung heißt es: „Bei der Auslegung nationaler Bestimmungen, die der Umsetzung von EURichtlinien dienen, ist stets diejenige Auslegung zu wählen, die die Ziele der Richtlinie am besten verwirklicht (effet utile …). Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ergibt sich sowohl aus dem Titel und den Erwägungsgründen als auch aus dem Inhalt und der Zielsetzung der Richtlinie 2000/78/EG, dass diese einen allgemeinen Rahmen schaffen soll, der gewährleistet, dass jeder „in Beschäftigung und Beruf“ gleich behandelt wird“.
Die in der Literatur verbreitete Kennzeichnung des Art. 28 GRC als „Bereichsausnahme“ (s. Schubert, aaO, Rn. 85) gegenüber Art. 101 AEUV ist dogmatisch unpräzise; denn beide Grundrechte haben tatbestandlich keine sich überschneidenden persönlichen Schutzbereiche. Zwischen beiden Normen kann daher auch nicht mittels des Merkmals einer „vergleichsweise niedrigen Qualifikationshöhe“, bedingt durch einen „geringen Bildungsstand“ (dann Koalitionsrecht), bzw. mittels des Merkmals einer „Hochqualifikation“ (dann Wettbewerbsrecht) ein Brückenschlag hergestellt werden.19 Eine solche Aufteilung der Solo-Selbständigen in zwei Gruppen könnte faktisch von keinem Gericht rechtssicher vorgenommen werden, da es keinen typischen Zusammenhang zwischen dem individuellen, an viele Faktoren an17 Vgl. bereits EuGH, Urt. v. 19.6.2014, NZA 2014, 765 (Saint Prix), NJW 1992, 1493 Rn. 10 (Raulin); EuGH, 10.9.2015 – Rs C-47/14, ECLI:EU:C:2015, 574 (Holterman Ferho Exploitatie); EuGH, Urt. v. 11.11.2010, NZA 2011, 143 Rn. 39 (Danosa); Rieble ZWeR 2016, 165, 170; Mohr EuZA 2018, 436, 440; Mankowski RIW 2019, S. 505 ff.; anders noch Ackermann in Giesen/Junker/Rieble, Kartellrecht und Arbeitsmarkt, 2010, 17 ff., 33; näher Raab, GK-BetrVG, 11. Aufl. 2018, § 5 Rn. 18 ff. 18 BGH, Urt. v. 26.3.2019, RIW 2019, 525. 19 So aber Klapperich, NZKart 2020, 125, 127 f.
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knüpfenden Arbeitseinkommen und dem berufsbezogenen Bildungsgrad gibt. Juristisch würde eine auf diese Kriterien gestützte Abgrenzung den Inhalt der klar definierten Begriffe „Arbeitnehmer“ in Art. 27, 28 GRC, 45, 153 AEUV und „Unternehmer“ in Art. 101, 102 AEUV aufsprengen und das Ziel der Rechtsprechung, über den Arbeitnehmerbegriff einen an weisungsabhängige Arbeit im Unterordnungsverhältnis geknüpften wirksamen Diskriminierungsschutz in Beschäftigung und Betrieb zu erreichen, erschweren. Der Solo-Selbständige genießt daher – ob reich, ob arm – nicht den Schutz des Arbeitsrechts, wohl aber den Schutz des Wettbewerbsrechts vor Diskriminierung und unbilligen Behinderungen, der durch die 10. Kartellgesetznovelle erneut weiter ausgebaut wird (vgl. §§ 18–20 GWB).
III. Folgerungen für Art. 101 Abs. 1 AEUV Zieht man aus der m. E. überzeugenden EU-Rechtsprechung zum Arbeitnehmer- und zum Unternehmerbegriff die Konsequenzen, so ergibt sich: 1. Der Begriff „Arbeitnehmer“ ist durch das primäre, vom EuGH interpretativ klar ausgeformte EU-Recht heute einheitlich festgelegt. Er kann durch mitgliedstaatliche Regelungen nicht eingeschränkt werden. Nur bei rein innerstaatlicher Wirkung kann er durch Erstreckung auf weitere schutzbedürftige arbeitnehmerähnliche Personen erweitert werden, soweit dadurch keine materiellen Vorschriften des primären oder sekundären EU-Rechts verletzt werden. 2. Der Begriff „Unternehmen“ ist im primären EU-Wettbewerbsrecht durch die Rechtsprechung des EuGH klar definiert. Er kann ebenfalls durch mitgliedstaatliche Reglungen nicht eingeschränkt werden, wenn diese zwischenstaatliche Auswirkungen haben (VO Nr. 1/2003 Art. 3 Abs. 1); denn der Schutzzweck des Wettbewerbsrechts ist neben dem Individualschutz auch der Schutz des funktionsfähigen unverfälschten Wettbewerbs im Interesse aller Marktteilnehmer in der Europäischen Union. Wer Unternehmer ist, fällt daher unter Art. 101 Abs. 1 AEUV, wenn er gemeinsam mit anderen Unternehmen Absprachen trifft, die durch Beschränkung des Wettbewerbs höhere Entgelte bzw. bessere Leistungsbedingungen für die am Vertrag Beteiligten am Markt durchsetzen sollen. 3. Solo-Selbständige sind auch bei wirtschaftlicher Abhängigkeit von Unternehmen der Marktgegenseite keine Arbeitnehmer i. S. d. EU-Rechts; sie genießen aber den Schutz der Art. 101 ff. AEUV. Das EU-Recht lässt angesichts der klassifikatorischen Abgrenzung der Begriffe „Unternehmer“ und „Arbeitnehmer“ keine Erweiterung des Arbeitnehmerbegriffs auf arbeitnehmerähnliche Personen zu. Daher fallen alle wettbewerbsbe-
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schränkenden Absprachen zwischen Solo-Selbständigen unter Art. 101 Abs. 1 AEUV. Auch § 1 GWB verbietet solche Absprachen, sofern sie nicht durch spezialgesetzliche Regelungen bei reiner Inlandsauswirkung zugelassen sind (z. B. § 12a TVG). Da das mit der 8. GWBNovelle 2005 eingeführte Gleichklangsgebot mit Art. 101 AEUV auch für rein inlandsbezogene Wettbewerbsbeschränkungen nicht zwingend ist, kann der Gesetzgeber durch Sonderregelungen § 1 GWB einschränken. Eine richterliche Statuierung von Sondernormen ist genau so wie eine gesetzliche Sondervorschrift an Art. 101 AEUV gebunden; d. h. sie darf keine spürbaren Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Verkehr haben. 4. Solo-Selbständige haben in der Realität allerdings in vielen Fällen das gleiche Schutzbedürfnis, das Arbeitnehmer vor Anerkennung der Koalitionsfreiheit in der Weimarer Verfassung hatten. Auch sie benötigen die Möglichkeit, marktspezifische Absprachen über angemessene Entgelte und Konditionen gegenüber marktstarken oder gar marktbeherrschenden Unternehmen der Gegenseite z. B. auf digitalen Plattformmärkten zu erreichen. Daher stellt sich die Frage, ob solche Absprachen u. U. gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV gerechtfertigt werden können.
IV. Die Anwendung von Art. 101 Abs. 3 AEUV auf Solo-Selbständige In vielfältiger Hinsicht fördert die EU kleine und mittlere Unternehmen (KMU); dazu gehören auch Solo-Unternehmer. Soweit diese aus eigener Kraft in der Lage sind, ihre Marktposition zu behaupten oder zu verbessern, ist dies eine vom EU-Recht zu stützende Zielsetzung. Trotz der bislang ablehnenden Stimmen in der Literatur soll näher untersucht werden, ob Absprachen von Solo-Unternehmen gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV vom Kartellrecht unter bestimmten Umständen freigestellt sind. Art. 101 Abs. 1 AEUV knüpft die vom Unternehmen selber zu prüfenden Freistellungsvoraussetzungen an vier Tatbestandsmerkmale: (1) Die Vereinbarung muss der Verbesserung der Warenerzeugung oder Warenverteilung oder dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt dienen. (2) Die Vereinbarung muss die Verbraucher an dem entstehenden Gewinn angemessen beteiligen. (3) Die Vereinbarung darf keine Beschränkungen enthalten, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind. (4) Die Vereinbarung darf keine Möglichkeit eröffnen, für einen wesentlichen Teil des Marktes den Wettbewerb auszuschalten.
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Art. 101 Abs. 3 AEUV ist keine Durchbrechung des Wettbewerbsschutzes in Abs. 1 der Norm, sondern konkretisiert „einen Raum wirtschaftlicher Freiheit, zu der auch die Freiheit zur Kooperation mit anderen Unternehmen gehört“.20 Die Anwendung des Befreiungstatbestands verlangt, um dem Verhältnis von Abs. 1 und Abs. 3 gerecht zu werden, daher eine umfassende Würdigung der positiven und negativen Freistellungsvoraussetzungen unter Berücksichtigung der tatsächlichen Struktur und der konkreten Phase des Marktes in dem die Unternehmen tätig sind, sowie der von der Vereinbarung erfassten Dienstleistungen. Alle vier Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Dabei sind im Rahmen des Grundgedankens der Vorschrift auch Erweiterungen eines zu eng gefassten Wortlauts möglich und notwendig. Eine Freistellung ist daher z. B. nicht nur bei Verbesserung der Warenerzeugung, sondern in analoger Anwendung von Punkt (1) auch bei Verbesserung des Dienstleistungsangebots geboten.21 Die Erfüllung der ersten Freistellungsvoraussetzung verlangt die Förderung wirtschaftlichen Fortschritts. Während bei der Verbesserung der Warenerzeugung der Nachweis einer Produktverbesserung oder Produktinnovation z. B. durch Effizienzgewinne bei der Erzeugung notwendig ist, sind bei Dienstleistungen auch soziale Verbesserungen bei der Erbringung dieser Leistungen zu berücksichtigen, soweit diese einen wirtschaftlichen Bezug auf die Leistung haben.22 Dies kann bei der Sicherung eines angemessenen, wettbewerbsanalogen, in diesem Sinne sozialen Werklohns bejaht werden. Die zweite Freistellungsvoraussetzung: angemessene Beteiligung der Verbraucher am Gewinn verlangt, dass die Verbraucher an den durch die Vereinbarung entstehenden Effizienzgewinnen teilhaben. Damit ist ein gesamtwirtschaftlicher Verbraucherwohlfahrtsstandard als Bewertungskriterium festgelegt.23 Zu diesem Standard gehört auch die Sicherung des Wettbe20 M. Wolf in Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2020, Art. 101 Rn. 216: „Dem Schutz wirtschaftlicher Freiheit ist die Ermöglichung kooperativer Strategien immanent“; EuGH, Urt. v. 2.4.2020, NZKart 2020, 246, 248: „Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Koordinierung zwischen Unternehmen schon ihrer Natur nach schädlich für das gute Funktionieren des Wettbewerbs ist, ist unter Berücksichtigung u. a. der Art der fraglichen Dienstleistung sowie der Struktur der betreffenden Märkte und der auf diesen bestehenden tatsächlichen Bedingungen jeder relevante Anhaltspunkt bezüglich des wirtschaftlichen oder juristischen Zusammenhangs, in den sich diese Koordinierung einfügt, zu berücksichtigen ...“. 21 EuG, Urt. v. 2.5.2006, Slg 2006, II-1231 Rn. 67 ff. (O2/Kommission); M. Wolf in Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2020, Art. 101 Rn. 822 m.w.N.; Kaeding Ungeschriebene Ausnahmen vom Verbot wettbewerbsbeschränkender Verhaltenskoordinierungen?, 2017, 89 ff. 22 EuGH, Urt. v. 27.1.1987, Slg. 1987, 405 Rn. 52 ff.; ebenso Leitlinien der Kommission zu Art. 81 Abs. 3 EG Rn. 48. 23 Vgl. EU-Kommission, 24.2.1993, IV/34.494 ABl. 1993 Nr. L 73/38 Rn. 36 ff., 50 ff. (Angleichung der Verkaufspreise zur Qualitätsverbesserung bei Beförderungsleistungen);
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werbs.24 Solo-Selbständige, die ihre fachspezifischen Leistungen anderen Unternehmen anbieten und dabei zum Zweck der Durchsetzung wettbewerbsanaloger Entgelte zusammenwirken, sind keine Verbraucher. Vom Schutzzweck der Norm her gehört es aber ebenfalls zu einem gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsstandard, wenn Solo-Selbständige und vergleichbare KMU, die als Folge individuell unentrinnbarer Unterlegenheit am Markt keine angemessene Gegenleistung für ihre individuellen Werke erlangen, durch Koordinierung ihrer Angebote am Gewinn, der aus ihrer Tätigkeit bei ihren Vertragspartnern entsteht, in Form wettbewerbsanaloger Vergütungen teilhaben können. Hier ist eine analoge Anwendung der Freistellungsvoraussetzung durch Erweiterung ihres Inhalts auf Kollektivvereinbarungen geboten, durch die eine angemessene Beteiligung der Solo-Selbständigen an dem mit ihrer Hilfe erzielten Gewinn der Marktgegenseite angestrebt wird. Das Schutzinteresse dieser Personengruppe, ausgewogene Dienst- und Werkverträge zu erreichen, ist aufgrund ihrer faktischen Inferiorität gegenüber der Marktgegenseite genauso beachtlich wie das Schutzinteresse der durch ein modernes Verbraucherschutzrecht behüteten Konsumenten. Es ist zurecht anerkannt, dass zu den in den Schutzbereich der zweiten Freistellungsvoraussetzung einbezogenen Personen nicht nur Endverbraucher, sondern auch Unternehmen gehören können(z. B. Produzenten, die die Dienstleistung als Vorprodukt benötigen).25 Der Weg zur Analogie zugunsten von Solo-Selbständigen scheint mir bei einer nicht formalen Betrachtung vorgezeichnet.26 Die den Wettbewerb auf einem Markt beschränkende Kooperationsvereinbarung zur Verbesserung der Leistungsbedingungen der Solo-Selbständigen muss aber unerlässlich i.S. der dritten Freistellungsvereinbarung sein, d.h. es dürfen nur solche Beschränkungen des Wettbewerbs vereinbart werden, die zur Realisierung der mit der Kooperation angestrebten Effizienzgewinne unbedingt notwendig sind;27 zumutbare Alternativen zur Erreichung des Ziels angemessener Vergütung dürfen nicht bestehen. Diese Verhältnismäßigkeitsprüfung dürfte vor dem Hintergrund der realen Gegebenheiten in M. Wolf in Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2020, Art. 101 Rn. 938; kritisch Pohlmann in FK Art. 81 Abs. 3 EG Rn. 248; Ellger in Immenga/ Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. Bd. 1, 2019, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 324. 24 Vgl. dazu Farrell/Shapiro AER 80 (1990), S. 107, 114; M. Wolf in Münchener Kommentar aaO Art. 101 Rn. 947; Ellger in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. Bd. 1, 2019, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 211. 25 Vgl. EuG, Urteil v. 27.9.2006, T-168/01 Slg. 2006 II-2969 Rn. 118 (GlaxoSmithKline Services); EuGH, Urteil v. 20.6.1978, 28/77, Slg. 1978, 1391 Rn. 56. 26 Vgl. M. Wolf in Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, aaO Art. 101 Rn. 948 mit umfangreichen Nachweisen über die Kommissionspraxis; ablehnend Ellger in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. Bd. 1, 2019, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 232. 27 Anderer Ansicht wohl Pohlmann FK aaO Art. 101 Abs. 3 EG Rn. 265; Bien/Doganoglu NZKart 2009, 185 f. fordern dagegen zutreffend, nicht nur Verbraucher „in den Schutzbereich des Kartellrechts einzubeziehen“.
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den Branchen der Solo-Selbständigen in nicht wenigen Fällen mit einer positiven Feststellung der Unerlässlichkeit der Kooperation enden.28 Die vierte Freistellungsvoraussetzung: keine Beschränkung wesentlichen Wettbewerbs gebietet neben der Ermittlung der Marktanteile der kooperierenden Unternehmen eine qualitative und quantitative Untersuchung der Stärke des äußeren Wettbewerbsdrucks, um zu klären, ob dieser eine Marktabschottung für Newcomer bzw. für potenzielle Wettbewerber verhindern kann. Praktiken des Kartellzwangs gegenüber Außenseitern müssen ausgeschlossen sein.
V. Rechtliche Würdigung Anders als eine pauschale, keiner Begrenzungskontrolle zugängliche Einordnung der Solo-Selbständigen in das Arbeitsrecht erlaubt eine wettbewerbsrechtliche Lösung über Art. 101 Abs. 3 AEUV differenzierte berufsund branchenbezogene Koordinierungen, wenn und solange alle vier Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV vorliegen. Die an der Absprache beteiligten Unternehmen müssen dies bei einer Überprüfung durch die Kartellbehörden nachweisen, sodass angesichts der möglichen Sanktionen eine missbräuchliche Inanspruchnahme von Art. 101 Abs. 3 AEUV in der Praxis wohl ausgeschlossen sein dürfte. Auch dies ist gegenüber der pauschalen arbeitsrechtlichen Lösung ein nicht zu unterschätzender Vorteil der an Kriterien gebundenen wettbewerbsrechtlichen Lösung.
28 Siehe die Kommissionsleitlinien zu Art. 81 Abs. 3 EG Rn. 73; Ellger in Immenga/ Mestmäcker, aaO, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 269 ff.
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Marktdisziplin gegen Klimawandel
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Marktdisziplin gegen Klimawandel Tobias Tröger
Marktdisziplin gegen Klimawandel – Veröffentlichungspflichten von Finanzmarktteilnehmern als Baustein der europäischen Strategie zur nachhaltigen Finanzierung TOBIAS TRÖGER*
I. Klimawandel und Finanzsystem Christine Windbichler hat das Unternehmensrecht stets mit Blick auf seine gesellschaftliche Funktion betrachtet und sich in ihrer Bewertung von Regelungs- und Auslegungsalternativen nicht selten von sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Einsichten informieren lassen. Vor diesem Hintergrund hofft der Autor dieses Beitrags das Interesse der geschätzten Jubilarin zu finden, wenn im Folgenden eine unternehmensrechtliche Facette der europäischen Anstrengungen gegen den Klimawandel mit Hilfe ökonomischer Einsichten untersucht wird. Der anthropogene Klimawandel stellt einen Fakt dar, der sich auf sämtliche Bereiche menschlichen Lebens auswirken und folglich auch die von wirtschaftlicher Aktivität abhängende gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt beeinflussen wird.1 Das maßgeblich von Nobelpreisträger William D. Nordhaus entwickelte, sowohl wissenschaftlich als auch politisch einflussreiche Dynamic Integrated Climate-Economymodel (DICE Modell) belegt, dass die durch die Verwendung fossiler Energieträger bedingte globale Erwärmung den Anteil klimabedingter Schäden im Verhältnis zum gesamtwirtschaftlichen Ausstoß vor dem Schadenseintritt ansteigen und damit die Nettoleistung der Volkswirtschaft sinken lässt.2 Die erhöhte Durchschnitts* Dr. iur., LL.M. (Harvard), Universitätsprofessor an der Johann Wolfgang-GoetheUniversität und Leiter des Clusters Law and Finance am Leibniz Institut für Finanzmarktforschung Sustainable Architecture for Finance in Europe (LIF SAFE). 1 Hier nur Scheffers/De Meester/Bridge/Hoffmann/Pandol/Corlett/Butchart/PearceKelly/Kovacs/Dudgeon/Pacifici/Rondinini/Foden/Martin/Mora/Bickford/Watson (2019), 354 Science, 719. 2 Nordhaus (2017) 114 Proceedings of the National Academy of Sciences 1518; grundlegend für das DICE Modell Nordhaus (1992), 258 Science 1315. Zum signifikanten Anstieg der wirtschaftlichen Einbußen aus extremen Wetterereignissen zwischen 2007 und 2016 nur Lancet Report 2017, (2018) 391 Lancet 581.
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temperatur verlangsamt zudem die Wachstumsrate des Kapitalstocks der Volkswirtschaft.3 Sie führt schließlich zu einer Erhöhung des – im sog. Poisson-Prozess stochastisch ermittelten4 – Risikos für den Eintritt klimabedingter Naturkatastrophen.5 Betrachtet man die – durch die Finanzkrise von 2007 und 2008 wieder verstärkt eingeforderte, an sich aber selbstverständliche – Rolle des Finanzsystems in kapitalistischen Volkswirtschaften, Kapitalströme dorthin zu lenken, wo sie den größten gesellschaftlichen Nutzen stiften,6 liegt es in der Tat nahe, den potentiell wohlfahrts- und sogar existenzbedrohenden Auswirkungen des Klimawandels, auch durch gesetzgeberische Interventionen mit dem Ziel einer wünschenswerten Ausrichtung der Allokationsfunktion zu begegnen. Dabei zeigen makroökonomische Modelle, dass der unbeeinflusste Marktmechanismus die angestrebten Ziele nicht notwendig von sich aus erreichen wird, obwohl mit Blick auf die soeben skizzierten negativen Auswirkungen des Klimawandels auf die Volkswirtschaften durchaus erhebliche Anreize für Investoren bestehen, Anlagekapital von „braun“ nach „grün“ umzuschichten.7 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass weltweit Anstrengungen unternommen werden, die kapitalistischen Volkswirtschaften im Sinne einer auf ökologische (und soziale) Nachhaltigkeit ausgerichteten Wirtschaftspolitik umzubauen. Die wichtigsten globalen Absichtserklärungen in diese Richtung sind das im Jahr 2016 in Kraft getretene Übereinkommen von Paris8 und die zuvor verabschiedete UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung.9 Diese Dokumente bilden Hintergrund und Referenzpunkt der im Folgenden zu beleuchtenden europäischen Initiativen, die dezidiert darauf abzielen den Marktmechanismus im Interesse der Klimaschutzziele zu beeinflussen. Dieser Ansatz wirft jedenfalls die Frage auf, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen die eingesetzten Mittel eine Zielerreichung tatsächlich versprechen. 3
Dell/Jones/Olken (2009) AER 99, 198; dies. (2012) AEJ: Macroeconomics 4, 66. Zu diesem in der Versicherungswirtschaft gebräuchlichen Verfahren allgemein Ross Stochastic Processes, 2. Aufl. 1996, 59 ff. 5 Bansal/Kiku/Ochoa (2019), NBER Working Paper 23009 ; Karydas/Xepapadeas (2019), CER-ETH Economics Working Paper 19/327 . 6 Vgl. hier nur Shiller Finance and the Good Society, 2012, 7; Kay Other People’s Money, 2016, 5 f.; Stiglitz/UN Commission of Financial Experts The Stiglitz Report, 2010, 57; vgl. auch mit Fokus auf die Ermittlung funktionaler Aberrationen, Cochrane JEP (2013), 27, 29 f., 48. 7 Hier nur Hambel/Kraft/van der Ploeg (2020), Working Paper , die zeigen, dass die Anreize zur Investition in nachhaltige Unternehmen, dem Interesse an einer optimalen Portfoliodiversifikation zuwiderlaufen. 8 Deutsche Übersetzung abgedruckt in ABl. (L 282) vom 19.10.2016, 4. 9 Resolution der UN Generalversammlung, verabschiedet am 25.9.2015 . 4
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II. Der europäische Ansatz: Aktionsplan zur nachhaltigen Finanzierung und konkrete Regulierungsinitiativen 1. Notwendigkeit privater Investitionen Die europäischen Legislativorgane haben die internationalen Entwicklungen umgehend aufgegriffen und die in der UN-Agenda 2030 formulierten Ziele für eine nachhaltige Entwicklung in die Unionspolitiken überführt.10 Dabei sind die Klimaschutzziele, wie schon zuvor in den politischen Leitlinien der Juncker-Kommission,11 als Querschnittsaufgabe konzipiert, die bei der Verfolgung sämtlicher relevanter Politikziele mitberücksichtigt werden soll.12 Die als unausweichlich erkannte Reorientierung der Volkswirtschaften erfordert nach den Projektionen der Kommission auch private Investitionen in Höhe von ca. EUR 1,8 Billionen,13 um die ausgelobten Nachhaltigkeitsziele bis 2030 zu erreichen. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass anlagesuchendes Kapital in entsprechendem Umfang „grün“ investiert, d.h. in den verfolgten Nachhaltigkeitszielen entsprechende Projekte umgeleitet werden muss (und kann). 2. Der Aktionsplan und die finanzmarktspezifischen Regelungsinitiativen Um eine erfolgversprechende Strategie zur Bewältigung dieser ehrgeizigen Aufgabe zu entwickeln, setzte die Kommission eine va mit Vertretern der Finanzindustrie besetzte Expertengruppe ein, die in ihrem Anfang 2018 vorgelegten Abschlussbericht verschiedene konkrete Initiativen forderte, um in ihrer Allgemeinheit kaum kontroverse Ziele zu erreichen.14 Um den 10 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft Europäische Nachhaltigkeitspolitik, COM(2016), 739 final. 11 Juncker Ein neuer Start für Europa: Meine Agenda für Jobs, Wachstum, Fairness und demokratischen Wandel, Politische Leitlinien für die nächste Europäische Kommission, 6, 21 f. . 12 Zuletzt wieder Mitteilung der Kommission, Der europäische Grüne Deal, COM (2019), 640 final. 13 Die gigantische Summe ergibt sich aus einer Schätzung der Kommission und entspricht einer „Investitionslücke“ zwischen den insgesamt erforderlichen und den staatlichen Investitionen, derer es Bedarf um die mit dem Vorschlag der Energieeffizienzrichtlinie verfolgten Ziele zu realisieren, vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank, Saubere Energie für alle Europäer, COM(2016), 860 final, 2: EUR 177 Milliarden jährlich ab 2021. 14 EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance, Final Report: Financing a Sustainable European Economy, 31.1.2018 . Dazu Lanfermann BB 2018, 490; Cullen (2018) 20 C.Y.E.L.S. 66. 15 Zumindest für Klimarisiken ist deren hohe Relevanz für die Finanzstabilität weitgehend anerkannt. Im Global Risk Report 2020 des World Economic Forum (WEF) sind fünf der zehn langfristigen Risiken für die Finanzstabilität bedingt durch den Klimawandel, vgl. WEF, Global Risk Report 2020, 2020, 12 . 16 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums, COM(2018), 97 final. Dazu z.B. Lanfermann BB 2018, 1643; Bueren ZGR 2019, 813, 854 ff.; Möslein/Mittwoch WM 2019, 481; Möslein/Sørensen (2018), 15 ECL 221; Busch/Ferrarini/van den Hurk (2018), Working Paper ; zum Umsetzungsfortschritt Lanfermann BB 2019, 2219. 17 Ibid. unter 3.2., 10 f. 18 Ibid. unter 2.4., 8. 19 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen vom 24.5.2018, COM(2018), 353 final; speziell hierzu Stumpp ZBB 2019, 71.
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zierte Investitionen20 verrechtlicht, aber va auch die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen in der kollektiven Kapitalanlage und Beratung befördert werden soll.21 3. Nachhaltigkeitsbezogene Veröffentlichungspflichten von Finanzmarktteilnehmern nach VO (EU) 2019/2088 Mit der jüngst verabschiedeten VO (EU) 2019/208822 setzt die europäische Legislative auf ein Informationsmodell, das durch gezielte Transparenzpflichten Marktdisziplin in Richtung nachhaltiger Geschäftsmodelle und Angebote der Finanzbranche aktivieren will.23 Dieser Ansatz einer regulatorisch koordinierten Verstärkung marktförmiger Sanktionen dient sicher auch dazu, den gegenüber dem Aktionsplan geäußerten, wohlfeilen Vorwurf des Einsatzes planwirtschaftlicher Methoden zur Erreichung ökologischer Ziele zu entkräften.24 Während die Kommission eine Beschränkung des subjektiven Anwendungsbereichs auf institutionelle Anleger und Vermögensverwalter bevorzugte, drang das Parlament letztlich erfolgreich auf eine breite Einbeziehung von Banken und anderen Finanzdienstleistern, die im Investmentgeschäft tätig sind.25 Erfasste Finanzmarktteilnehmer sind – vorbehaltlich einer zur Disposition der Mitgliedstaaten stehenden Ausnahme für Kleinstunternehmen mit weniger als drei Angestellten26 – nach der Definition des Art. 2 Nr. 1 VO (EU) 2019/2088 Versicherungsunternehmen, Wertpapierfirmen, Einrichtungen der betrieblichen Altersvorsorge (EbAV), Hersteller von Altersvorsorgeprodukten, Verwalter alternativer Investmentfonds (AIFM), Anbieter Paneuropäischen Privater Pensionsprodukte (PEPP-Anbieter), Verwalter eines qualifizierten Risikokapitalfonds (EuVECA), Verwalter eines qualifizierten Fonds für soziales Unternehmertum (EuSEF), Verwal20 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/1011 in Bezug auf Referenzwerte für CO2-arme Investitionen und Referenzwerte für Investitionen mit günstiger CO2-Bilanz, COM(2018), 355 final. 21 Vorschlag für eine für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Offenlegung von Informationen über nachhaltige Investitionen und Nachhaltigkeitsrisiken sowie zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/2341, COM(2018), 354 final. Hierzu eingehend Eberius WM 2019, 2143; Bueren ZGR 2019, 813, 864 ff. 22 Verordnung (EU) 2019/2088 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2019 über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor, ABl. (L 317) 1. 23 Die VO enthält keine direkte Verpflichtung der Regelungsadressaten, Nachhaltigkeitsbelange im Investmentprozess zu berücksichtigen, Bueren ZGR 2019, 813, 866; aA Möslein/Sørensen (2018), 15 ECL 221, 228. 24 Z.B. Möslein/Sørensen (2018),15 ECL 221, 224. 25 Vgl. hierzu Bremer NZG 2019, 343. 26 Art. 17 Abs. 1 und Abs. 2 VO (EU) 2019/2088.
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tungsgesellschaft für Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW-Verwaltungsgesellschaft) und Kreditinstitute. Die Verordnung verpflichtet die genannten Finanzmarktteilnehmer dazu, gegenüber den Endanlegern offen zu legen, wie sie mit Nachhaltigkeitsbelangen im Investmentprozess umgehen und Nachhaltigkeitsrisiken in diesem – insbesondere bei der Vergütungsgestaltung – berücksichtigen. Als Instrumente dienen zum einen unternehmens- und produktspezifische, auf den Internetseiten des Finanzmarktteilnehmers zu erfüllende Veröffentlichungs-,27 vorvertragliche Informations-28 sowie periodische Berichtspflichten.29 Die Intensität der zu beachtenden Pflichten steigt je prononcierter Nachhaltigkeitsbelange mit dem jeweiligen Finanzprodukt verknüpft sind;30 die stärksten Pflichtenbindung besteht daher bei als solchen ausgeflaggten nachhaltigen Investitionen. Bei solchen handelt es sich um Investitionen, die Umweltziele oder soziale Ziele fördern.31 Ein ausschließlicher Fokus of gute Unternehmensführung und -kontrolle reicht explizit nicht mehr aus.32 Das „G“ in der Trias der ESG-Belange ist vielmehr nur noch essenzielle Nebenbedingung für die Qualifikation als nachhaltige Investition. Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Transparenzpflichten lässt die Verordnung offen, was die harmonisierten Regeln letztlich auf nationale aufsichts- und privatrechtliche Sanktionsregime zurückwirft, die für die erfolgreiche Umsetzung der Regelungsziele unverzichtbar sind.33
III. Regulierungstheoretischer Hintergrund des Verordnungsentwurfs Die erhöhte Transparenz in Bezug auf die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsbelangen im Investmentprozess und den Umgang mit Nachhal27 Art. 4 VO (EU) 2019/2088 (Transparenz von Nachhaltigkeitsrisiken auf Unternehmensebene); Art. 5 (Transparenz der Vergütungspolitik im Zusammenhang mit der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsrisiken). 28 Art. 6 VO (EU) 2019/2088 (vorvertragliche Informationen über die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsrisiken im Investmentprozess); Art. 7 VO (EU) 2019/2088 (vorvertragliche Informationen über Nachhaltigkeitsrisiken auf Produktebene); Art. 8 VO (EU) 2019/2088 (gesteigerte vorvertragliche Informationspflichten bei Produktwerbung mit ökologischen und sozialen Merkmalen); Art. 9 VO (EU) 2019/2088 (gesteigerte vorvertragliche Informationspflichten bei nachhaltigen Investitionen). 29 Art. 11 VO (EU) 2019/2088. 30 Vgl. Fn. 27. 31 Art. 2 Nr. 17 VO (EU) 2019/2088. 32 So noch Art. 2 Buchst. o) Ziff. i.-iii des Kommissionsvorschlags. 33 Allgemein zur Bedeutung der Rechtsdurchsetzung für die Effektivität kapitalmarktbezogener Berichtspflichten Djankov/Glaeser/La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer (2003), 31 J. Comp. Econ. 595; Daske/Hail/Leuz/Verdi (2008) 46 J. Acct. Res. 1085; Holthausen 47 J. Acct. Res. 447; Christensen/Hail/Leuz (2013) 55 J. Acct. Res. 147; mit spezifischem Blick auf die Compliance bei CSR-Berichtspflichten Peters/Romi (2013), 32 J. Acct. & Pub. Pol‘y 213.
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tigkeitsrisiken kann eine Verhaltensänderung bei den adressierten Finanzmarktteilnehmern nur unter der Prämisse bewirken, dass diese Aspekte eine relevante Entscheidungsdeterminante für die Endanleger darstellen. Nur wenn und soweit diese ceteris paribus lieber in „grüne“ statt in „braune“ Anlagen investieren, wird eine verbesserte diesbezügliche Informationsgrundlage zusätzliche private Mittel für die erforderliche Rekonfiguration der Volkswirtschaften und die Bekämpfung des Klimawandels generieren. Insoweit trifft sich die Gretchenfrage für den verfolgten Regelungsansatz34 mit der breiteren Debatte um die Effektivität nicht-finanzieller Berichterstattung als Lenkungsinstrument, wie sie vor allem in der Forschung zur Rechnungslegung geführt wird.35 1. Investmentmotive im Zeitalter von Greta Thunberg Das Augenmerk richtet sich auf die Grundsatzfrage, welche Motive Anleger mit ihrem Investment verfolgen, weil davon abhängt, welche Bedeutung sie den Informationen beimessen, die sie infolge einer höheren Nachhaltigkeitstransparenz erhalten. Geht es um rein finanzielle Zielsetzungen, d.h. die Maximierung des Ertrags oder spielen auch nicht-finanzielle Präferenzen wie insbesondere die Verwirklichung renditemindernder Klimaschutzziele36 eine, vielleicht sogar dominierende Rolle bei der Anlageentscheidung? Die Problematik ist eng mit der jüngst wieder intensiver diskutierten Ewigkeitsfrage nach den normativ „richtigen“ Unternehmenszielen verwandt, die in den letzten Jahren medienwirksame, zumindest einen geänderten Zeitgeist aufgreifende Impulse va aus angelsächsischen Ländern erfuhr. Zum einen befürwortete Larry Fink, der CEO des weltweit größten Vermögensverwalters BlackRock, in seiner Neujahrsbotschaft vom 12. Januar 2018 ein auch an den Stakeholder Interessen ausgerichtetes Modell der Corporate Governance,37 zum anderen stieß auch die Business Roundtable, eine einflussreiche Vereinigung der CEOs der wichtigsten U.S.-amerikanischen Unternehmen, mit einer am 19. August 2019 veröffentlichten Stellungnahme in dasselbe Horn, als sie einer Abkehr von einer allein den finanziellen Aktionärsinteressen verpflichteten Unternehmensführung das Wort redete.38 In 34 Detailkritik am – insoweit nicht veränderten – Kommissionsentwurf bei Bueren ZGR 2019, 813, 867. 35 Literaturüberblick bei Christensen/Hail/Leuz (2019), European Corporate Governance Institute – Finance Working Paper 623/2019, 32 ff. . 36 Zur Kompatibilität von Renditestreben und der Verwirklichung bestimmter Klimaschutzziele auch unten III.2. 37 . 38 . Dazu im deutschsprachigen Schrifttum z.B. Hopt WM 2019, 1771, 1773.
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der Wissenschaft schlägt ua Colin Mayer in einer tiefschürfenden Monografie eine eingehend begründete Abkehr vom monistisch auf die Steigerung des Unternehmenswerts im Aktionärsinteresse (shareholder wealth maximization) ausgerichteten Modell vor,39 was aus deutscher Sicht mit Blick auf die vielschichtige Kontroverse um die Konkretisierung des Unternehmensinteresses und die in dieser ausgetauschten Argumente weit weniger revolutionär erscheinen mag als im U.S.-amerikanischen oder britischen Kontext.40 Die jeweiligen Beiträge setzen zumindest auch bei den Motiven der Investoren (Eigenkapitalgeber) an. Sie teilen damit den Ausgangspunkt der bei oberflächlicher Betrachtung als Antithese erscheinenden, berühmten Sentenz Milton Friedmans,41 die für eine Ausrichtung der Unternehmensführung allein am finanziellen Interesse der Investoren steht. Friedman stellt dabei nicht-finanzielle Präferenzen der Anleger keinesfalls in Abrede, sondern begründet lediglich, warum Investoren gleichwohl bevorzugen, diese Präferenzen durch steuer- und abgabenfinanziertes staatliches Handeln oder gemeinnützige Verwendung erzielter Gewinne und nicht durch entsprechende Aktivitäten der Unternehmen zu befriedigen. Folgerichtig können linker Umverteilungsfantasien unverdächtige Ökonomen auf den Prämissen Friedmans aufbauen und gleichwohl Konstellationen identifizieren, in denen die Verfolgung nicht-finanzieller Ziele unmittelbar durch das Unternehmen im Interesse der Aktionäre liegt, nämlich wenn staatliches Handeln nicht zu erwarten und private gemeinnützige Initiativen nicht erfolgversprechend erscheinen.42 Potentiell ergibt sich hieraus ein theoretisch plausibler Ansatz, dass Endinvestoren doch für eine über die eingangs erwähnten Modelle hinausweisende Transformation der Volkswirtschaft in Richtung ökologische Nachhaltigkeit sorgen können – vorausgesetzt ihre diesbezüglichen Präferenzen finden durch die Investmentkette hindurch Beachtung (dazu noch unten III.3). Entscheidend bleibt bei alledem aber die Frage, wie stark die nichtfinanziellen Präferenzen, insbesondere für ökologische Nachhaltigkeitsziele ausfallen. Einerseits kann aus heutiger Sicht nicht mehr in Abrede gestellt werden, dass nicht-finanzielle Präferenzen z.B. für uneigennütziges oder gerechtes Verhalten, die Entscheidungsfindung von Individuen und ihr kooperatives Verhalten zur Erreichung entsprechender sozialer Ziele mitbestimmen.43 Gleichzeitig zeigt aber der Umgang mit dem Klimawandel auch, dass 39
Mayer Prosperity: Better Business Makes the Greater Good, 2018. Kontextualisierter Überblick bei Harenberg KritV 2019, (Heft 4) 393. 41 Die als Friedman Doktrin berühmte Stellungnahme wurde in einem Magazin unter dem Titel „The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits“ publiziert, vgl. Friedman The N.Y. Times Magazine (New York, 13. September 1970), 122. 42 Hart/Zingales J. L. Fin. & Acct. 2 (2017), 247. 43 Vgl. z.B. Fehr/Gächter (2002) 415 Nature 137; Fehr/Fischbacher (2003), 425 Nature 785. 40
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kooperative Ziele bei langen Zeithorizonten der möglichen kollektiven (und individuellen) Nutzengewinne eine untergeordnete Rolle bei der individuellen Entscheidungsfindung spielen,44 insbesondere wenn sie zu einem Wohlstandstransfer zwischen den Generationen führen.45 Die Effizienz der von der europäischen Legislative verfolgten Strategie hängt also davon ab, wie unter diesen besonderen Bedingungen46 inkompatible finanzielle und nicht-finanzielle Motive ausbalanciert sind.47 Hierzu lassen sich letztlich keine empirisch gesicherten Aussagen treffen, weil schon die Wirkmächtigkeit altruistischer, kooperativer Präferenzen unabhängig von den zusätzlichen Komplikationen des Klimafolgenkontexts hochkomplex erscheint48 und auch in Experimenten nicht in einer ohne Weiteres auf große Gruppen übertragbaren Weise49 getestet wurde. Die Regelungsstrategie der europäischen Legislative steht somit zumindest nicht auf einem theoretisch, experimentell oder empirisch vollständig abgesicherten Fundament. Zu warnen ist jedenfalls davor, Anekdoten als politiktragende Evidenz für eine massive Präferenzverschiebung zu sehen. Auch wenn immer mehr Menschen mit dem Mehrweg-Jutebeutel auf dem Erzeugermarkt einkaufen, ist noch nicht klar, ob sie dorthin mit dem Fahrrad oder dem 500 PS SUV gelangen. Greta Thunberg mag das Lebensgefühl der Millenials repräsentieren, doch zeigt die in „Corona-Partys“ teilweise zum Ausdruck kommende, hedonistische Ignoranz gegenüber den va die ältere Generation treffenden, schweren Gesundheitrisiken von Sars-CoV-2 auch, dass die Aufgabe individueller Nutzengewinne zugunsten einer anderen Generation nicht jedem, der an den „Fridays for Future“ Demonstrationen teilnimmt, so konsequent gelingt, wie der Schwedin. Davon unabhängig, stellen ihre Altersgenossen (noch) nicht die Hauptkunden der BlackRocks, Man Groups etc. dieser Welt dar, weshalb ihre Präferenzen die 44 Der damalige Gouverneur der Bank von England Marc Carney hat hierfür in Anspielung auf ein bekanntes, gerade auch in der Umweltökonomie bedeutendes Kollektivhandlungsproblem den Begriff der „Tragödie des Horizonts“ (tragedy of the horizon) geprägt, Carney Breaking the Tragedy of the Horizon, 2015, . 45 Arrow/Cline/Mäler/Munasinghe/Squitieri/Stiglitz in Bruce/Lee/Haites Climate Change 1995: Economic and Social Dimensions of Climate Change, 1996, 25 ff. 46 Schon das Stern Review verdeutlichte, dass heute vorgenommene bzw. unterlassene klimarelevante Handlungen häufig Auswirkungen über mehr als ein Jahrhundert haben, vgl. Stern Stern Review on the Economics of Climate Change, 2007, x, 16, 55, 76 und passim. 47 Modelltheoretische Betrachtung z.B. bei Bénabou/Tirole (2006), 96 AER 1652. 48 Vgl. z.B. das berühmte Experiment von Dana/Kuang/Weber 33 Econ Theory 67 (2007), in dem sich zeigt, dass Individuen es bewusst vermeiden, den altruistischen Charakter einer Handlungsoption zu erfahren, möglicherweise um sich auch eine eigennützige Handlungsoption (in einem Diktatorenspiel) zu erhalten. 49 Zum Problem der Übertragbarkeit der Ergebnisse von Kleingruppenexperimente auf größere soziale Systeme, Schumacher/Kesternich/Kosfeld/Winter (2017), 84 Rev. Econ. Stud. 1346.
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ökologische Transformation der Volkswirtschaft über die Kapitalmärkte kurz- und mittelfristig kaum tragen werden. 2. Förderung von Nachhaltigkeitsbelangen und Minimierung von Nachhaltigkeitsrisiken Soweit die europäische Transparenzinitiative allerdings auf die Identifikation von in den Portfolios der Intermediäre schlummernden ökologischen Nachhaltigkeitsrisiken und den Umgang der institutionellen Investoren und Vermögensverwalter mit diesen abzielt (oben II.3), unterstützt selbst die rein finanzielle Motivation von Investoren die klimapolitische Zielsetzung. Die bereits eingangs genannten Kanäle, über die sich Klimafolgen ökonomisch signifikant nachteilig auf wirtschaftliche Aktivitäten auswirken (oben I.), werden auch allein nach Rendite strebende Investoren dazu anhalten, ceteris paribus diejenigen Anlageoptionen zu bevorzugen, die entsprechende Risiken minimieren. Die bei Endanlegern durchaus plausible Risikoaversion verstärkt den Effekt. Natürlich bleibt das Problem der Messbarkeit, doch trägt ein Mehr an Information immerhin grundsätzlich zu einer Verbesserung der Situation bei. Zu beachten ist jedoch, dass bei rein finanzieller Motivation die in den ökonomischen Modellen aufgezeigten Grenzen einer allein dem Markt überlassenen ökologischen Transformation nicht überwunden werden können, weil die gegenläufigen Motive uneingeschränkt fortwirken (vgl. oben I.). Richtig „Bums“ kriegt die allein transparenzbasierte Strategie der EU eben doch erst, wenn nicht-finanzielle Motive bei der Anlageentscheidung eine nennenswerte Rolle spielen. 3. Lehren aus der Stewardship Debatte Selbst wenn man starke Präferenzen der Endanleger für ökologische Nachhaltigkeitsziele und deren kapitalmarktvermitteltes Transformationspotential unterstellt, sind die Besonderheiten des heutigen Investorenkapitalismus zu bedenken. In diesem dominieren unterschiedliche Formen der kollektiven Kapitalanlage50 im Verhältnis zur Direktinvestition in Unter50 Neben gewinnorientierte Vermögensverwalter, die zum Teil selbst börsennotiert sind (z.B. DWS in Deutschland, Blackrock, Fidelity und State Street in den USA) und zu denen prinzipiell auch Versicherungsunternehmen und Kreditinstitute gerechnet werden können, treten Vermögensverwalter, die von den Investmentvermögen und Kapitalanlagegesellschaften selbst gehalten werden (so z.B. bei Deka oder Union Investment in Deutschland, in den U.S.A. bei Vanguard, aber auch dem College Retirement Equity Fund, CREF)), sowie Pensionskassen, Versorgungswerke etc., aber auch gewerkschaftsnahe oder kirchliche Einrichtungen, vgl. hier nur § 67 Abs. 2 S. 2 WpHG und dazu Koch in Schwark/ Zimmer, § 31a WpHG Rn. 9.
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nehmensbeteiligungen,51 woran ja auch die EU Strategie der Nachhaltigkeitstransparenz anknüpft. Die Aktionärsstellung und damit die mitgliedschaftlichen Kontrollrechte liegen bei den unmittelbar beteiligten institutionellen Anlegern und Vermögensverwaltern, während die Ergebnisse der Verbandstätigkeit letztlich bei den Kapitalgebern anfallen, die ihre Ziele im Rahmen der kollektiven Vermögensanlage verfolgen. Der durch diese Struktur begründete, prototypische Prinzipal-Agenten-Konflikt52 im Verhältnis der Endanleger zu den institutionellen Investoren und Vermögensverwaltern erlaubt diesen, die bestehende Informationsasymmetrien zu verstecktem Handeln im eigenen Interesse auszunutzen.53 Diese Bedingungen erschweren eine transparenzinduzierte engere Rückbindung der Agententätigkeit an die ökologischen Nachhaltigkeitsinteressen der Endbegünstigten als Prinzipale. In der Debatte um den potentiellen Beitrag institutioneller Investoren und Vermögensverwalter zur Unternehmensführung und -kontrolle ist bereits früh darauf hingewiesen worden, dass va die Markt- und Wettbewerbsstruktur der Branche Anreize zu einem aktiven Engagement in der Corporate Governance verhindert.54 In der hochkompetitiven Industrie, in der Vergütungen va auch als Prozentsatz der verwalteten Vermögenswerte bemessen sind, werden die Anbieter auf der Basis relativer Maßstäbe beurteilt. Sie können daher ihre Mitbewerber um Kundengelder nicht dadurch über51 Im DAX 30 wurden 2017 61,8% der Aktien von institutionellen Investoren gehalten, vgl. Ipreo/DIRK, Investoren der Deutschland AG 5.0, 2018, 17, https://www. dirk.org/dirk_webseite/static/uploads/Investoren_der_Deutschland_AG_5-0_DAXStudie-2018_Ipreo_DIRK.pdf. Die historisch verlässlichsten, den Trend erkennbar machenden Zahlen sind nach wie vor für die Vereinigten Staaten von Amerika erhoben, vgl. z.B. Tonello/Rabinow The 2010 Institutional Investment Report: Trends in Asset Allocation and Portfolio Composition, 2010, 22 (Tabelle 10), wonach 1950 nur 6,1%, 1980 bereits 18% und 2009 insgesamt 40,4% aller ausgegebenen Aktien in den Vereinigten Staaten von institutionellen Investoren gehalten wurden; vgl. auch ibid. 27 (Tabelle 13, Grafik 14) und 29 (Tabelle 16) wonach der durchschnittliche Anteil institutioneller Investoren im Aktionariat der 1.000 größten U.S.-amerikanischen Unternehmen zwischen 1987 und 2009 von 46,6% auf 73% anwuchs und 2010 in den 25 größten Unternehmen bei 61,3% bzw. 62,5% lag, sofern Berkshire Hathaway mit Blick auf seine besondere Aktionärsstruktur (80% des Anteilsbesitzes konzentrieren sich in den Händen von Blockaktionären und Insidern) ausgeschieden wird. 52 Vgl. bereits die (optimistische) Beschreibung der mehrstufigen Prinzipal-AgentenBeziehung bei Black 39 UCLA L. Rev. 811, 850 ff. (1992), der aufzeigt, dass die Endbegünstigten als Prinzipale auf der ersten Stufe die institutionellen Investoren und Vermögensverwalter als Agenten mit der Wahrung ihrer Interessen betrauen, die auf der zweiten Stufe die Unternehmensleitung als weitere Agenten beaufsichtigen müssen, um die Ziele der Prinzipale zu verwirklichen. 53 Allgemein zur formalen Prinzipal-Agenten-Theorie, Erlei/Leschke/Sauerland Neue Institutionenökonomik, 3. Aufl. 2016, 95 ff. 54 Vgl. in diesem Sinne va die Beiträge von Coffee Jr. 91 Colum. L. Rev. 1277, 1318 ff. (1991); Rock 79 Geo. L. J. 445, 468 ff. (1991); Fisch 55 Ohio St. L. J. 1009, 1019 ff. (1994); vgl. auch, Fleischer ZGR 2011, 155, 164 ff.
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flügeln, dass sie die Effizienz großer börsennotierter Gesellschaften verbessern, weil deren Aktien in den breit diversifizierten Portfolien der Konkurrenz ebenfalls vorhanden sind. Vielmehr würden sie durch die Verfolgung entsprechender Strategien sogar Wettbewerbsnachteile erleiden, da sie die vollen Kosten ihrer Kontrollaktivitäten tragen müssten, während sie die (wahrscheinlichkeitsgewichteten) Vorteile solcher Interventionen mit allen passiven Rivalen teilen müssten, die als Trittbrettfahrer profitieren.55 Soweit die Akteure Indizes folgen – und dies ist selbst bei aktiv gemanagten Fonds weitgehend der Fall – kann eine Verbesserung der relativen Performance daher va über Kostensenkungen erreicht werden. Was für „G“ gilt, kann mutatis mutandis auf „E“ und „S“ übertragen werden, d.h. mit einem aktiven Engagement institutioneller Investoren in ökologischen und sozialen Belangen ist grundsätzlich nicht zu rechnen. Dies bedeutet allerdings nur, dass Regelungsstrategien, die auf ein Engagement auf der Ebene des einzelnen Emittenten setzen, wenig erfolgversprechend sind, während Interventionen, die Anreize va über die Investitionsentscheidung vermitteln wollen, also darauf abzielen, dass Emittenten auf eine spürbare Verkleinerung des Universums potentieller Investoren reagieren, durchaus plausibel erscheinen.56 Insofern kommt man erneut auf die Frage zurück, ob Endanleger über die Erfüllung von Nachhaltigkeitszielen als Nebenbedingung der Renditemaximierung hinausgehende Präferenzen für ökologische Zielsetzungen haben und – mit Blick auf die Prinzipal-Agenten-Beziehung in der Investmentkette – ob diese gegenüber den institutionellen Investoren und Vermögensverwaltern durchgesetzt werden können. Gelingt es dem Endanleger nämlich nicht, bei seiner Investitionsentscheidung diejenigen Produkte zu identifizieren, die tatsächlich nachhaltig sind, verpufft selbst bei Bestehen entsprechender nicht-finanzieller Präferenzen der mögliche Anreizeffekt. Neben relevanten Informationen – die durch VO (EU) 2019/2088 erzwungen werden – bedarf es dabei allerdings auch der Sachkompetenz zur vergleichenden Bewertung, die zumindest bei Endanlegern nicht zu erwarten ist. Entscheidend ist daher, dass zum einen die – freilich nur eine grobe 55
Instruktiv hierzu Gilson/Gordon 113 Colum. L. Rev. 863, 889 ff. (2013); zusammenfassender Überblick zu den theoretischen Argumentationssträngen und empirischen Evidenzen bei Bebchuk/Cohen/Hirst (2017) JEP, 89; Bebchuk/Hirst 99 (2019), B. U. L. Rev. 721; Rock in Gordon/Ringe The Oxford Handbook of Corporate Law and Governance, 2018, 363. 56 Vgl. hier nur das Modell bei Edmans/Manso (2011), 24 RFS 2395; zu den Determinanten Edmans/Fang/Zur (2013) 26 RFS 1443; empirische Belege für eine starke Reaktion bestimmter Emittenten auf die Ankündigung des norwegische Staatsfonds, Norges Bank Investment Management (NBIM), in Zukunft Investitionen von der Erfüllung bestimmter Governance-Kriterien abhängig zu machen bei Aguilera/Bermejo/Capapé/Cuñat (2019), Working Paper, .
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Kategorisierung, aber eben keine Binnendifferenzierung gestattende – Taxonomie (oben II.2) aussagekräftig ist und zum anderen auch die einschlägigen Pflichten bei der Anlageberatung (oben II.2) tatsächlich scharfgestellt werden. Erneut ist insoweit eine gesunde Skepsis gegenüber dem ambitionierten, auf eine weitere Ebene von Intermediären angewiesenen Informationsmodell angezeigt, wenn man die Forschung zum Finanzverhalten privater Haushalte (household finance) betrachtet, die zum einen eine störrische Beratungsresistenz von Endanlegern belegt,57 zum anderen auch die vielfältigen, nicht zuletzt durch die Vergütungsgestaltung bedingten Anreize von Anlageberatern zum Ausnutzen von Informationsasymmetrien zum Nachteil der Kunden aufzeigt.58
IV. Bewertung der europäischen Regelungsstrategie Die budgetneutrale Gestaltung des europäischen Green Deals durch Aktivierung privaten Kapitals allein über ein regulatorisch verstärktes Informationsmodell kann u.U. nicht ausreichend sein. Dies ist besorgniserregend, weil ein trial and error-Ansatz beim Klimaschutz aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht mehr in Betracht kommt.59 Ohnehin ist fraglich, ob private Unternehmen und ihre Investoren die Akteure sind, auf die man für fundamentale (disruptive) Transformationen setzen sollte. Vielleicht ist eine Makroperspektive zielführend, die große, mit massiven Risiken verbundene Innovationen primär als Staatsaufgabe versteht und erst die (profitmaximierende) Implementierung in Einzelanwendungen dem Privatsektor zuweist.60 Mit Blick auf die EU Strategie im Bereich Green Finance heißt dies jenseits der hier va beleuchteten systemimmanenten Fragen auch, dass sie ohne eine u.U. weit großvolumigere staatsfinanzierte, technologische Innovationsoffensive in der Luft zu hängen droht.
57 Vgl. den Feldversuch von Bhattacharya/Hackethal/Kaesler/Loos/Meyer (2012), 24 RFS 975. 58 Spieltheoretisches Modell bei Honda/Inderst (2017), Working Paper, https://ssrn. com/abstract=3088484. 59 Von einem unumkehrbaren Kipppunkt (climate tipping point bzw. point of no return) bei einer Erderwärmung von etwa zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter spricht z.B. die Studie von Steffen/Rockström/Richardson/Lenton/Folke/Liverman/Summerhayes/Barnosky/Cornell/Crucifix/Donges/Fetzer/Lade/Scheffer/Winkelmann/Schellnhuber (2018), 115 Proc. Nat‘l Acad. Sci. U.S.A. 8252; zu den wachsenden Bedrohungen durch abrupte und unumkehrbare Klimaveränderungen jüngst auch Lenton/ Rockström/Gaffney (2019), 575 Nature 592. 60 Vgl. zu dieser historisch zu beobachtenden Aufgabenteilung Mazzucato The Entrepreneurial State, 2013.
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EU-Fusionskontrolle und außerwettbewerbliche Ziele Gabriela v. Wallenberg
EU-Fusionskontrolle und außerwettbewerbliche Ziele GABRIELA V. WALLENBERG
I. Einleitung Die Jubilarin hat sich in ihrer langen akademischen Karriere immer wieder mit dem Kartellrecht befasst.1 Zur Lösung von Fragen, die sich ihr in anderen Rechtsgebieten stellten, hat sie es herangezogen. Als Beispiel sei das Konzernrecht genannt.2 Die Frage, ob und ggf. inwieweit außerwettbewerbliche Ziele in der Fusionskontrolle zu berücksichtigen sind, schien geklärt und stand deshalb lange Zeit nicht zur Diskussion.3 Dies gilt vor allem für die deutsche Fusionskontrolle (§§ 35 ff. GWB), die mit dem zweistufigen Verfahren eine saubere Trennung zwischen wettbewerblichen und außerwettbewerblichen Zielen von vornherein vorsieht. Das BKartA prüft, ob der Zusammenschluss zur erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs führt, insbesondere ob von ihm zu erwarten ist, dass er eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt. Führt diese rein wettbewerbliche Prüfung zur Untersagung des Zusammenschlusses (§ 36 Abs. 1 GWB), können die an dem Zusammenschluss beteiligten Unternehmen einen Antrag bei/m Bundesminister/in für Wirtschaft und Energie auf Erlaubnis stellen. Dem Antrag kann 1 S. nur Unternehmensverträge und Zusammenschlußkontrolle, 1977; Informelles Verfahren bei der Fusionskontrolle, 1981; Über die Passion des Wettbewerbs in Deutschland – Kartellrechtliche Probleme im Rahmen der Oberammergauer Passionsfestspiele, in FS Rittner, 1991, 793; AG 1981, 169; WuW 1982, 845. 2 Windbichler in Großkommentar AktG, 5. Aufl. 2017, § 18 Rn. 17. 3 Gegenstand dieses Artikels ist nur die Frage, ob außerwettbewerbliche Ziele in der EU-Fusionskontrolle Berücksichtigung finden sollen, nicht beim EU-Kartellverbot (Art. 101 AEUV); dazu s. Könen ZHR 2018, 684, 708; ablehnend zu Art. 101 Abs. 1 AEUV Grave/Nyberg in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann Kartellrecht, 4. Aufl. 2020, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 288 ff.; zu Art. 101 Abs. 3 s. Pohlmann in Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Stand: April 2008, Art. 81 Abs. 3 Grundfragen Rn. 37 ff.; Schuhmacher in Grabitz/Hilf/Nettesheim Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Stand: Oktober 2019, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 269 f.; Ellger in Immenga/Mestmäcker Wettbewerbsrecht, Band 1, 6. Aufl. 2019, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 321 ff.; Nordemann/Nyberg in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/MeyerLindemann Kartellrecht, 4. Aufl. 2020, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 55 ff.
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stattgegeben werden, wenn im Einzelfall die Wettbewerbsbeschränkung von gesamtwirtschaftlichen Vorteilen des Zusammenschlusses aufgewogen wird oder der Zusammenschluss durch ein überragendes Interesse der Allgemeinheit gerechtfertigt ist (§ 42 Abs. 1 GWB). Ein solches zweistufiges, nacheinander geschaltetes FusionskontrollVerfahren kennt die EU nicht. Die EU-Kommission hat einen von der EUFKVO erfassten Zusammenschluss zu untersagen, wenn durch ihn wirksamer Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert würde, insbesondere durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung (Art. 2 Abs. 3 FKVO). Insbesondere aus Kreisen, die der traditionellen Landwirtschaft kritisch gegenüberstehen, wurde nach der Anmeldung des Zusammenschlussvorhabens zwischen den Unternehmen Bayer und Monsanto im Juni 2017 die Forderung auch gegenüber der Kommission erhoben, ihn nicht zu genehmigen. Sie wurde damit begründet, dass nur so die Marktkonzentration im Agrarmarkt gestoppt und die Artenvielfalt und Ernährungssouveränität erhalten werden könne.4 Ausgelöst durch das genannte Zusammenschlussvorhaben fand am 27. Juni 2018 eine Anhörung des „Ausschusses für Wirtschaft und Energie“ des Deutschen Bundestages zum Thema „Marktkonzentration im Agrarmarkt“ statt. Dabei ging es auch um die Frage der Berücksichtigung außerwettbewerblicher Ziele in der Fusionskontrolle. Im Folgenden sollen die Freistellungsentscheidungen der EU-Kommission zu den Zusammenschlüssen im Agrarchemiesektor aus der letzten Zeit (II.) sowie die Initiativen zur Berücksichtigung außerwettbewerblicher Ziele in der EU-Fusionskontrolle (III.) dargestellt werden, bevor zu der Frage der Berücksichtigungsfähigkeit außerwettbewerblicher Ziele ausführlich Stellung genommen wird (IV.). Der Beitrag endet mit einer Empfehlung (V.).
II. Zusammenschlüsse im Agrarchemiesektor Der Freigabe der Fusion Bayer/Monsanto durch die Kommission am 21. März 20185 waren die Zusammenschlüsse Dow/DuPont und ChemChina/Syngenta vorausgegangen. Auch diese Zusammenschlüsse betrafen die Agrarchemiebranche und wurden von der EU-Kommission nach von den Beteiligten vorgelegten Verpflichtungszusagen, die im Wesentlichen die Veräußerung von Vermögenswerten betrafen, freigestellt (Art. 2 Abs. 2, 8 Abs. 2 FKVO). 4
S. Brief der Wettbewerbskommissarin Vestager vom 22.8.2017 an Petenten im Zusammenhang mit der Anmeldung des Zusammenschlussvorhabens Bayer/Monsanto, https://ec.europa.eu/competition/mergers/cases/additional_data/m8084_4718_7.pdf. 5 Zusammenfassung des Beschlusses, ABl. 2018 C 459, 10.
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In ihrem Beschluss zur Freigabe der Fusion Bayer/Monsanto vom 21. März 2018 äußerte die Kommission wettbewerbliche Bedenken für die Märkte Saatgut, agronomische Merkmale, Pflanzenschutzmittel und digitale Landwirtschaft; die beteiligten Unternehmen konnten die Freigabe des Zusammenschlusses durch Veräußerungszusagen ausräumen. Anders als bei den zuvor freigegebenen Zusammenschlüssen nahm die Kommission in diesen Beschluss auf, dass ihr Bedenken Dritter gegen den Zusammenschluss zugetragen wurden, die nicht wettbewerblicher Natur waren. Es ging um die Bereiche Umwelt, nachhaltige Entwicklung, öffentliche Gesundheit und Landwirtschaft. In der veröffentlichten Zusammenfassung des Beschlusses heißt es seitens der Kommission, sie „nimmt diese Vorbringen ernst“. Sie weist aber auf Art. 2 Abs. 2 FKVO hin, wonach „wettbewerbsfremde Gesichtspunkte … nur im Hinblick auf sich aus ihnen ergebende etwaige Wettbewerbsfolgen mitberücksichtigt“ werden, „soweit es nach dem AEUV und der Fusionskontrollverordnung zulässig und erforderlich ist“. Ausdrücklich erwähnt wird die „Bewertung des Innovationswettbewerbs“.6 Nach der Anmeldung des Zusammenschlussvorhabens Bayer/Monsanto und vor der abschließenden Entscheidung veranlassten die vielen Eingaben die Wettbewerbskommissarin Vestager am 22. August 2017, dem Tag der Eröffnung des Hauptverfahrens (Art. 6 Abs. 1 Buchstabe c FKVO),7 sich mit einem öffentlichen Brief an die Petenten zu wenden, die vor einer Freigabe der Fusion wegen möglicher negativer Auswirkungen der von Bayer und Monsanto vertriebenen Produkte auf die menschliche Gesundheit, Lebensmittelsicherheit, Umwelt, den Verbraucherschutz und das Klima warnten. Vestager erklärte in ihrem Brief den rein wettbewerblich angelegten Maßstab der EU-Fusionskontrolle. Dabei sprach sie auch schon den Innovationswettbewerb an, der bei der Prüfung des Zusammenschlusses Berücksichtigung finden würde. Sie verwies aber auch darauf, dass für den Schutz der genannten Güter andere Stellen der Kommission und die nationalen Behörden zuständig sind.8
III. Initiativen zur Berücksichtigung außerwettbewerblicher Ziele in der EU-Fusionskontrolle Insbesondere die Anmeldung der Fusion Bayer/Monsanto hat wohl bei den einschlägigen Kreisen „das Fass zum Überlaufen“ gebracht. Bayer meldete den Zusammenschluss am 30. Juni 2017 nach den von der Kommission unter Auflagen freigegebenen Zusammenschlüssen Dow/DuPont (27. März 6
Zusammenfassung des Beschlusses Rn. 139 f. ABl. 2017 C 286, 1. 8 https://ec.europa.eu/competition/mergers/cases/additional_data/m8084_4718_7.pdf. 7
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2017)9 und ChemChina/Syngenta (5. April 2017)10 an. Man befürchtete, dass auch die Fusion Bayer/Monsanto von der Kommission freigegeben würde. Daher formierte sich Widerstand, um die Freigabe zu verhindern. Dabei spielte sicher eine Rolle, dass das Unternehmen Monsanto Glyphosat – dies ist weltweit der am meisten verwendete Pflanzenschutzwirkstoff – vertreibt.11 Ihm wird krebserregende Wirkung zugesprochen. 1. Initiative „Konzernmacht beschränken“ Nach Freistellung der Zusammenschlüsse Dow/DuPont und Chem China/Syngenta durch die EU-Kommission und Anmeldung des Zusammenschlussvorhabens Bayer/Monsanto gründete sich am 9. Januar 2018 die Initiative „Konzernmacht beschränken“, der 28 NGO-Organisationen aus den Bereichen Entwicklung, Umwelt, Landwirtschaft, Pharma, Finanzen und Netzpolitik angehören,12 u.a. Oxfam, Deutsche Umwelthilfe, GERMANWATCH und ChaosComputerClub. Die Initiative richtet sich nicht nur gegen die Freistellung von Fusionen im Agrarchemiebereich, sondern prangert eine insgesamt zu schwache Fusionskontrolle an, die Marktkonzentration befördert, was u.a. darin gesehen wird, dass bisher nur wenige beim BKartA angemeldete Zusammenschlussvorhaben untersagt wurden. Eine Verschärfung der Fusions- und Missbrauchskontrolle könne u.a. zu „lebendigen ländlichen Räumen“ führen. Die Trennung des Saatgut- und Pestizidgeschäfts sollte im Rahmen einer Entflechtung möglich gemacht werden.13 Die Kommission befürchtete ursprünglich, dass das aus dem Zusammenschluss Bayer/Monsanto hervorgehende Unternehmen in der Lage sein könnte, durch die Bündelung von Saatgut- und Pflanzenschutzmittel-Produkten auf Ebene der Erzeuger oder der Händler Wettbewerber vom Markt auszuschließen; diese Bedenken haben sich dann nicht bestätigt.14 Am Tag der Freistellung des Zusammenschlussvorhabens Bayer/Monsanto durch die EU-Kommission beklagte die Initiative die Entscheidung der EU-Kommission als einen „schlechten Tag für Landwirte und Verbraucher*innen“. Kritisiert wird, dass das neue Unternehmen Bayer/Monsanto in Zukunft „integrierte Lösungen“ in Form von Kombipaketen von Saatgut 9
Zusammenfassung des Beschlusses, ABl. 2017 C 353, 9. Zusammenfassung des Beschlusses, ABl. 2017 C 186, 8. 11 Zusammenfassung des Beschlusses Rn. 9, 86. 12 https://www.forumue.de/pm-bruesseler-entscheidung-zu-bayer-monsanto-einschlechter-tag-fuer-landwirte-und-verbraucherinnen/. 13 S. http://www.forumue.de/wp-content/uploads/2018/02/plattformpapier_initiative_ konzernmacht_beschraenken.pdf. 14 Zusammenfassung des Beschlusses Rn. 133. 10
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und Pestizide anbieten kann, die über digitale Plattformen verkauft werden. Neben der Wiederholung der Verschärfung der Fusionskontrolle fordert die Initiative auch eine „Politisierung des Wettbewerbsrechts“.15 2. Der Antrag der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN forderte im Frühjahr 2018 die Bundesregierung auf, „sich dafür einzusetzen, dass Umweltschutzaspekte wie Biodiversität, Ernährungssouveränität, Gesundheitsschutz und Versorgungssicherheit grundsätzlich im Rahmen von Fusionskontrollverfahren berücksichtigt werden“.16 Der Antrag mit dem Titel „Marktkonzentration im Agrarmarkt stoppen – Artenvielfalt und Ernährungssouveränität erhalten“ wurde damit begründet, dass die FKVO im Kontext des Unionsrechts angewandt werden müsse. Unter Berufung auf ein Gutachten von Boris Paal heißt es in der Begründung, dass Umweltschutz und Wettbewerbsfreiheit gleichrangig im EU-Primärrecht verankert seien. Die beiden Ziele Wettbewerbsfreiheit und Umweltschutz müssten im Rahmen der Fusionsprüfung zwingend miteinander abgewogen werden. Ggf. müsse durch Anpassung der FKVO sichergestellt werden, dass Umweltschutzaspekte bei Fusionskontrollverfahren zukünftig Berücksichtigung finden.17 Dem Antrag war eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorausgegangen. Dort wird unter Nr. 26 gefragt, ob die Bundesregierung eine Klarstellung der Fusionskontrolle dahingehend anzustoßen erwägt, dass bei künftigen Unternehmenszusammenschlüssen auch außerökonomische Effekte wie Umweltschutzziele berücksichtigt werden müssen.18 Zu den Umweltschutzzielen wurden Artenvielfalt und Ernährungssicherheit gezählt.19 In ihrer Antwort hat die Bundesregierung die Möglichkeit der Berücksichtigung außerwettbewerblicher Ziele zurückgewiesen, da Zweck der Fusionskontrolle die Verhinderung erheblicher Behinderungen wirksamen Wettbewerbs ist. Schützenswerte nicht-wettbewerbliche Ziele müssten mit anderen Instrumenten als denen der Wettbewerbsbehörden verfolgt werden.20
15 https://www.forumue.de/pm-bruesseler-entscheidung-zu-bayer-monsanto-einschlechter-tag-fuer-landwirte-und-verbraucherinnen/. 16 Die Forderung bezog sich primär auf die EU-Fusionskontrolle, wie sich insbesondere aus den Gründen ergibt. 17 BT-Drs. 19/1654 Nr. 5. 18 BT-Drs. 19/2399. Anders als beim Antrag wurde in der Kleinen Anfrage die Berücksichtigung außerwettbewerblicher Forderungen auch bei der deutschen Fusionskontrolle verlangt. 19 S. Fragen 22 und 23. 20 S. Antwort auf die Fragen 22 bis 26, BT- Drs. 19/2891.
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Am 27. Juni 2018 fand im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN statt. Der Bundestag folgte in seiner Sitzung am 26. September 2019 der mehrheitlich getroffenen Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Wirtschaft und Energie vom 25. September 201921 und lehnte den Antrag ab.22 Neben weiteren Vorschlägen wurde damit auch die Aufforderung an die Bundesregierung zurückgewiesen, sie solle sich dafür einsetzen, dass Umweltschutzaspekte wie Biodiversität, Ernährungssouveränität, Gesundheitsschutz und Versorgungssicherheit zukünftig grds. im Rahmen von Fusionskontrollverfahren berücksichtigt werden.
IV. Stellungnahme 1. Begriffliche Klärung Die Bundestagfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wie auch die Initiative „Konzernmacht begrenzen“ stützen sich auf ein Gutachten zur „Berücksichtigung(sfähigkeit) von außer-ökonomischen Zielen auf der Grundlage und am Maßstab der europäischen Fusionskontrollverordnung“, das noch vor Anmeldung der Fusion Bayer/Monsanto im April 2017 von Boris Paal erstellt wurde. Paal spricht von „außer-ökonomischen“ Zielen und meint damit solche, die außerhalb der Schutzgüter des Wettbewerbsrechts wie z. B. ökonomischer Effizienz und Verbraucherwohlfahrt liegen.23 Auch im Antrag der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird von außerökonomischen Zielen gesprochen, zu denen Biodiversität, Ernährungssouveränität, Gesundheitsschutz und Versorgungssicherheit gezählt werden.24 Der Begriff „außerökonomisch“ ist sehr unscharf, sind doch z. B. Gesundheitsschutz und Versorgungssicherheit ohne Bereitstellung wirtschaftlicher Güter gar nicht zu erreichen. Zutreffender ist es, von „wettbewerbsfremden Gesichtspunkten“ zu sprechen, wie es die Kommission in ihrem Beschluss zum Zusammenschluss Bayer/Monsanto tut.25 Damit wird der Gegensatz zu 21 So auch die Ausschüsse für Ernährung und Landwirtschaft, Umwelt, Naturschutz und Nukleare Sicherheit sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, BTDrs. 19/13573. 22 Plenarprotokoll 19/115. 23 Gutachten, 6. 24 S. Begründung in BT-Drs. 19/1654. 25 Rn. 140. S.a. Rn. 139, wo von „Auswirkungen des Zusammenschlusses, die nicht mit dem Schutz eines wirksamen Wettbewerbs zusammenhängen, z. B. in den Bereichen Umwelt, nachhaltige Entwicklung und öffentliche Gesundheit sowie Landwirtschaft“ gesprochen wird.
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den in Art. 2 FKVO genannten Kriterien für die Prüfung eines Zusammenschlusses auf seine Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt, die rein wettbewerblicher Natur sind, besser herausgestellt. In der kartellrechtlichen Literatur wird daher von nicht-/außerwettbewerblichen Zielen gesprochen.26 2. Bedeutung der Frage Man könnte annehmen, dass die Frage, ob außerwettbewerbliche Ziele bei der Fusionskontrolle27 Berücksichtigung finden (sollen), sich mit der Ablehnung des Antrags der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der Sitzung des Bundestags am 26. September 2019 erledigt hat. Davon auszugehen, ist ziemlich kurz gedacht. Ein Antrag mit gleichlautender Zielrichtung kann jederzeit wieder gestellt werden, zumal wenn man berücksichtigt, dass die Beteiligung der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an einer zukünftigen Bundesregierung durchaus realistisch erscheint.28 Die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die Initiative „Konzernmacht beschränken“ sowie die hinter ihr stehenden NGOs greifen wichtige Fragen wie Artenvielfalt, Ernährungssouveränität, Lebensmittelsicherheit und Klimaschutz auf, die, da sie existentiell sind, viele Menschen interessieren und beschäftigen. Die Gefahr besteht, dass im politischen Raum eine Bewegung entsteht, die sich für die genannten grundlegenden Menschheitsfragen einsetzt und diese auch vehement vertritt, dabei aber übersieht, dass das in Deutschland und in der EU verfolgte Wettbewerbsprinzip, das Ausdruck u.a. in den Vorschriften zur Fusionskontrolle gefunden hat, unterminiert wird. Die Verfolgung außerwettbewerblicher Ziele kann leicht ein Eigenleben führen, wenn wichtige freiheitssichernde Prinzipien, zu denen der Wettbewerb gehört, außer Acht gelassen werden. Es tut sich hier ein Zielkonflikt zwischen dem Schutz des Wettbewerbs und anderen – gesellschaftlich akzeptierten – Zielen auf. Wie stark der Druck ist, zeigen nicht nur die vielen Eingaben und Petitionen bei der Kommission zu dem Zusammenschlussfall Bayer/Monsanto und 26 Pohlmann in Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, (Stand: April 2008) Art. 81 Abs. 3 Grundfragen Rn. 37; Stellungnahme von Podszun zu der Anhörung im Ausschuss für Wirtschaft und Energie am 27.6.2018, https://www.bundestag.de/resource/blob/ 561540/4fb0a2bc17eae8c20094475764b60269/sv-podszun-data.pdf S. 7; ebenso Künstner https://www.bundestag.de/resource/blob/561544/2f906f6326db51dde1546be48e28aedb/sv -kuenstner-data.pdf, 2; bei Mundt heißt es in seiner Stellungnahme:„außerhalb der wettbewerblichen Betrachtung liegende Parameter“, https://www.bundestag.de/resource/blob/ 561526/297fb2369a141c759a29aa2e3b83f673/sv-mundt-data.pdf, 4. 27 Gleichgültig, ob für die deutsche oder EU-Fusionskontrolle. 28 S. den Koalitionsvertrag der österreichischen Regierung 2020 bis 2024, 32, in dem Überprüfung und Anpassung des Kartellrechts auf europäischer und nationaler Ebene in Bezug auf das moderne Wirtschaftsleben gefordert werden, https://www.dieneuevolks partei.at/Download/Regierungsprogramm_2020.pdf.
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die Tatsache, dass sich die Wettbewerbskommissarin Vestager bei der Eröffnung des Hauptverfahrens und damit vor der Freigabeentscheidung der Kommission in einem Schreiben an die Petenten gewandt hat.29 Anders als bei den Zusammenschlussfällen Dow/DuPont und ChemChina/Syngenta hat die Kommission in dem Beschluss zur Freigabe der Fusion Bayer/Monsanto auf die zahlreichen Bedenken gegen den Zusammenschluss insbesondere aus verbraucher-, umwelt- und klimapolitischer Sicht hingewiesen, die bei der wettbewerblichen Prüfung des Zusammenschlusses aber nicht berücksichtigt werden konnten. Auch die EU wird zukünftig in noch stärkerem Maße als bisher Nachhaltigkeit bei wirtschaftlichem Handeln fordern. Dem Klimawandel will die EUKommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen mit einem „Green Deal“-Programm begegnen.30 Die Forderung nach Gemeinwohlorientierung geht dabei am Kartellrecht nicht vorbei. Eine Auseinandersetzung mit der Frage der Berücksichtigung außerwettbewerblicher Ziele in der EU-Fusionskontrolle drängt sich damit auf. Fusionskontrollrechtliche Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden werden dann wohl nicht nur angegriffen, wenn wie in den Zusammenschlüssen aus der Agrarchemiebranche eine Fusion von der Kommission freigegeben wird. Kritik an ihren Entscheidungen ist auch im umgekehrten Fall denkbar, wenn Zusammenschlüsse zwar für den Wettbewerb schädlich sind, aber andere – außerwettbewerbliche – Schutzgüter durch sie gefördert werden. 3. Bedeutung des Wettbewerbs in der EU Die Bedeutung des Wettbewerbs in der EU heben die folgenden Bestimmungen hervor: – Art. 3 EUV spricht in seinem Abs. 3 von einem Hinwirken der EU auf eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft. Zu der Zielbestimmung gehört das als integraler Bestandteil der Verträge (Art. 51 EUV) beigefügte Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb. Danach umfasst „der Binnenmarkt ein System …, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Diese Protokollaussage war vor Inkrafttreten der Lissabonner Verträge gleichlautend in Art. 3 Abs. 1 Buchstabe g EGV zu finden, wurde auf Betreiben Frankreichs dann aber in das Protokoll aufgenommen,31 ohne dass dadurch eine inhaltliche Änderung eingetreten ist.32 29
https://ec.europa.eu/competition/mergers/cases/additional_data/m8084_4718_7.pdf. https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-deal_de. 31 Terhechte in Grabitz/Hilf/Nettesheim Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Stand: Oktober 2019, Art. 3 EUV Rn. 41. 32 Roth ZHR 2008, 670, 712 f.; Dreher/Lange in 50 Jahre FIW, 2010, 161, 171 f.; auf die Stärkung der sozialen Komponente verweist Calliess in Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), Band 1, 2. Aufl. 2015, Einl Rn. 680 hin. 30
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– Die Präambel zum AEUV verlangt die Gewährleistung redlichen Wettbewerbs. – Die Art. 119, 120 AEUV nennen den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. Die Instrumente Verbot wettbewerbsbeschränkender Verbote (Art. 101 AEUV), Missbrauchsverbot (Art. 102 AEUV), Verbot staatlicher Beihilfen (Art. 107 ff. AEUV) sowie die im Sekundärrecht verankerte FKVO sollen den in den Primärverträgen angelegten Schutz des Wettbewerbs sichern. Dies heißt keineswegs, dass die mit der Initiative „Konzernmacht beschränken“ sowie dem Antrag der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verfolgten außerwettbewerblichen Ziele keine oder weniger Bedeutung als die Sicherung eines wettbewerblichen Systems haben. 4. Keine Berücksichtigung außerwettbewerblicher Ziele in Art. 2 FKVO Hatten die Initiatoren des Aufrufs „Konzernmacht beschränken“ noch mehr aus einem emotionalen Unbehagen heraus agiert, weil sie dem amerikanischen Unternehmen Monsanto, das Glyphosat-Herbizide herstellt und vertreibt, kritisch gegenüber stehen, war das Anliegen der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der Kleinen Anfrage und dem Antrag konkret auf die Änderung der FKVO und der fusionskontrollrechtlichen Vorschriften des GWB ausgerichtet. In dem im Auftrag der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erstellten Gutachten vertritt Paal die Auffassung, dass die EU-Kommission bei Prüfung von Zusammenschlüssen nach Art. 2 FKVO außerwettbewerbliche Ziele berücksichtigen müsse; dies habe im Wege einer modifizierenden Auslegung des offenen Tatbestandsmerkmals „wirksamer Wettbewerb“ zu erfolgen.33 Berücksichtigt werden müssten die außerwettbewerblichen Ziele, die im EU-Primärrecht verankert sind.34 Dazu zählt Paal ausdrücklich den Umweltschutz (Art. 11 AEUV), den er als einziges außerwettbewerbliches Ziel in seinem Gutachten nennt.35 Im Antrag der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden die Umweltschutzaspekte mit Biodiversität, Ernährungssouveränität, Gesundheitsschutz und Versorgungssicherheit konkretisiert.36 Außerwettbewerbliche Ziele haben bei der Beurteilung eines bei der EUKommission angemeldeten Zusammenschlusses keine Berücksichtigung zu 33
Gutachten, 20. Gutachten, 13. 35 Gutachten, 7. Der Antrag der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betrifft allgemein die Berücksichtigung außerwettbewerblicher Ziele in der EU-Fusionskontrolle. 36 S. auch Paal Gutachten, 2. 34
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finden.37 Die in Art. 2 Abs. 1 FKVO genannten Kriterien, die für seine Prüfung maßgeblich sind, sind rein wettbewerblicher Natur. Dieser Befund ergibt sich auch aus den Erwägungsgründen zur FKVO. So heißt es in Erwägungsgrund 23, dass wirksamer Wettbewerb aufrechtzuerhalten und zu entwickeln ist. In Erwägungsgrund 24 geht es um den „unverfälschten Wettbewerb“ und den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Würde man sich entschließen, außerwettbewerbliche Ziele in die Beurteilung eines Zusammenschlusses nach der FKVO aufzunehmen, bestände die Gefahr der Ausuferung der fusionskontrollrechtlichen Prüfkriterien und der EU-Fusionskontrolle würde jegliche Kontur fehlen. Nimmt man nur mal das Ziel „Umweltschutz“, so stellt sich die Frage, was von ihm umfasst ist. Im Laufe der letzten Jahrzehnte war der Umweltschutz weitreichenden Änderungen unterworfen. So war z.B. die Forderung nach dem Erhalt der Biodiversität früher unbekannt. Die einschlägigen im EU-Primärrecht angesiedelten Vorschriften zur Umwelt (Art. 191 ff. AEUV) helfen bei der Konkretisierung nicht, sodass sie bei der Prüfung eines Unternehmenszusammenschlusses nicht herangezogen werden können. Über den Umweltschutz hinaus würde zudem dann die Berücksichtigung weiterer, nicht wettbewerblicher Ziele in der EU-Fusionskontrolle gefordert werden. Zu denken ist an die Gleichstellung von Mann und Frau, Minderheitenschutz, Soziale Sicherheit, Sicherstellung der Energieversorgung, Arbeitsschutz etc. Die Aufnahme derartiger Ziele in die Prüfung eines Unternehmenszusammenschlusses hätte zur Folge, dass es für die unmittelbar beteiligten Unternehmen, aber auch die von der Fusion nur mittelbar betroffenen Unternehmen schwer vorhersehbar wird, wie die Prüfung des angemeldeten Zusammenschlusses bei der Kommission voraussichtlich ausfällt. Der Kartellbehörde würde eine Aufgabe übertragen, die sie wegen der Vielzahl und Vielschichtigkeit der zu berücksichtigenden Aspekte kaum bewältigen könnte. 5. Außerwettbewerbliche Ziele abschließend in Art. 21 FKVO berücksichtigt Dass die Forderung, bei der Prüfung eines Unternehmenszusammenschlusses auf die Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt im Rahmen des Art. 2 FKVO außerwettbewerbliche Ziele zu berücksichtigen, möglicherweise nicht durchsetzbar ist, hat auch Paal gesehen, weshalb er in seinem Gutachten vorschlug, Deutschland solle prüfen, ob es sich nicht auf Art. 21 Abs. 4 FKVO beruft.38 Nach Art. 21 Abs. 4 UAbs. 1 FKVO können die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen zum Schutz berechtigter Interessen treffen, die nicht von der 37 38
Basedow EuZW 2003, 44. Gutachten, 23.
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FKVO abgedeckt sind. Eine Einschränkung erfährt dieses Recht der Mitgliedstaaten insofern, als die Maßnahmen mit den allgemeinen Grundsätzen und den übrigen Bestimmungen des Unionsrechts vereinbar sein müssen. Die von den Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen müssen den Grundsätzen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit entsprechen.39 Ausdrücklich werden in UAbs. 2 des Art. 21 Abs. 4 FKVO als berechtigte Interessen die öffentliche Sicherheit,40 die Medienvielfalt41 und die Aufsichtsregeln genannt; dies sind außerwettbewerbliche Ziele. Den Umweltschutz in Gänze kann man nicht als berechtigtes Interesse i.S.d. öffentlichen Sicherheit einordnen. Es heißt wohl in der Protokollerklärung zu Art. 21 Abs. 4 FKVO, zur öffentlichen Sicherheit gehöre, dass „ein Land mit einer Ware oder Dienstleistung versorgt wird, die im Hinblick auf den Gesundheitsschutz der Bevölkerung als wesentlich oder lebenswichtig betrachtet wird“.42 Eventuell könnte man hier die Versorgungssicherheit unterbringen, aber nicht die anderen im Antrag der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genannten Umweltaspekte Biodiversität, Ernährungssouveränität und Gesundheitsschutz. Für alle anderen berechtigten Interessen, die nicht in Art. 21 Abs. 4 UAbs. 2 genannt sind, gilt, dass sie von der Kommission ausdrücklich anerkannt werden müssen (Art. 21 Abs. 4 UAbs. 3 FKVO).43 Paal schlägt vor, hier den Umweltschutz wohl in seiner Gesamtheit anzusiedeln.44 Diese Ausweitung des berechtigten Interesses iSd Art. 21 Abs. 4 FKVO könnte aber dazu führen, dass das Gefüge der EU-Fusionskontrolle, die beim Prüfungsmaßstab nach Art. 2 Abs. 1 FKVO rein wettbewerblich ausgerichtet ist, durcheinandergerät. Die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, über die in Art. 21 Abs. 4 UAbs. 2 FKVO genannten berechtigten Interessen weitere bei der Kommission vorzutragen, dient nicht dazu, eine Entscheidung der Kommission zu verändern. Die Vorschrift soll kein Einfallstor für außerwettbewerbliche Ziele sein, die wie der Umweltschutz ziemlich konturlos sind. Art. 21 Abs. 4 FKVO muss daher eng ausgelegt werden.45
39 Erklärung für das Ratsprotokoll v. 19.12.1989 (damals Art. 21 Abs. 3 FKVO), abgedruckt in WuW 1990, 240, 243. 40 Zur Geltendmachung eines berechtigten Interesses durch Großbritannien – Regulierung der nationalen Wasserversorgung s. 25. Wettbewerbsbericht, Rn. 145. 41 von Wallenberg WuW 1993, 910, 912. 42 Protokoll WuW 1990, 240, 243.; Paal sieht hier die Ernährungssouveränität abgedeckt (Gutachten, 23). 43 Käseberg in Langen/Bunte Kartellrecht, Band 2, 13. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 23. 44 Gutachten, 24. 45 S. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frage 21 (BT-Drs. 19/2399).
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V. Empfehlung Außerwettbewerbliche Ziele wie Umweltschutz (Biodiversität, Ernährungssouveränität, Gesundheitsschutz und Versorgungssicherheit), Gleichstellung von Mann und Frau, Minderheitenschutz, Soziale Sicherheit, Sicherstellung der Energieversorgung, Arbeitsschutz etc. sind unstrittig wichtige politische Ziele, die von der ganz überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert und unterstützt werden. Dies zeigen die zahlreichen Initiativen nicht nur im Umweltbereich, die viele Menschen ansprechen und von ihnen auch aktiv aufgegriffen werden. Sich zu Interessengruppen zusammenzuschließen, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, ist in Zeiten sozialer Medien viel leichter und effektiver möglich als früher. Dass die Initiativen der NGOs die Menschen ansprechen, zeigen ihre Erfolge. Die Verfolgung der oben genannten außerwettbewerblichen Ziele ist allerdings am wirkungsvollsten, wenn diese allein im Mittelpunkt stehen und nicht in ein Fusionskontrollverfahren eingebettet werden, dessen Durchführung rein wettbewerbsrechtlichen Vorschriften unterliegt. So ist Umweltschutzgruppen zu empfehlen, ihr Engagement fokussiert auf ein Thema zu richten, z. B. Darstellung, wie sehr Herstellungsverfahren oder Produkte die Umwelt beeinträchtigen. Alle Unternehmen, die das Thema betrifft, werden dann angesprochen und einbezogen, nicht nur die, die konkret an dem Zusammenschluss beteiligt sind. Je mehr die Bevölkerung diese Initiativen unterstützt und sich mit ihnen verbindet, desto größer wird der Erfolg der Interessengruppen sein. Vor allem lässt sich das Ziel möglicherweise viel genauer und schneller durch andere Maßnahmen wie Verbote, Steuern oder Abgaben erreichen.46 Der gleiche Gedanke gilt natürlich auch für andere außerwettbewerbliche Ziele. Den Anhängern der Verfolgung außerwettbewerblicher Ziele ist daher anzuraten, sich außerhalb eines Fusionskontrollverfahrens zu engagieren und sich ausschließlich auf das von ihnen verfolgte Anliegen zu konzentrieren. Wenn die Aktion gut vorbereitet ist, wird ihnen mehr Aufmerksamkeit gewidmet, als wenn sie ihre Position im Rahmen eines Zusammenschlussverfahrens vertreten, zu dem viele andere (Unternehmen, Verbraucherverbände, Unternehmensverbände, Gewerkschaften etc.) von der Kommission zu den wettbewerblichen Auswirkungen des Zusammenschlusses gehört werden. Ihr Aufruf wird nicht durch eine Unternehmensfusion „belastet“. Die Abkoppelung der außerwettbewerblichen Kriterien vermeidet einen Zielkonflikt, der sich bei ihrer Berücksichtigung im Fusionskontrollverfah46 Haucap Stellungnahme zu der Anhörung im Ausschuss für Wirtschaft und Energie am 27.6.2018, https://www.bundestag.de/resource/blob/561540/4fb0a2bc17eae8c200944 75764b60269/sv-haucap-data.pdf, 3.
EU-Fusionskontrolle und außerwettbewerbliche Ziele
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ren auftun würde. Das Kartellrecht darf nicht für außerwettbewerbliche Ziele instrumentalisiert werden, gar zur Allzweckwaffe werden. Tragen die NGOs ihre Gründe für den Schutz z.B. der Umwelt und des Klimas sowie der Förderung der menschlichen Gesundheit überzeugend vor, werden Unternehmen sich mit ihnen befassen und ihre Forschungsund Entwicklungs-Tätigkeiten auf Produkte und Verfahren lenken, die genau diesen Zielen dienen. Die Verbraucher werden ihre Nachfrage entsprechend ausrichten. Die außerwettbewerblichen Ziele werden dann in den Wettbewerb integriert und durch ihn erreicht. Insofern heizt ein Eintreten für die genannten außerwettbewerblichen Ziele den Innovationswettbewerb an, von dem die Kommission in der Bayer/Monsanto Entscheidung spricht und der bei Prüfung eines Zusammenschlusses bei der Frage, ob wesentlicher Wettbewerb erheblich behindert wird, Berücksichtigung findet.47 Es ist unbestritten, dass viele NGOs, zu denen auch die Initiative „Konzernmacht beschränken“ gehört, Fragen ansprechen und sie mit Forderungen verbinden, die von weiten Bereichen der Bevölkerung geteilt werden. Leider haben sie häufig dabei nicht das gewachsene Rechtssystem im Blick, das die Berücksichtigung ihrer Forderungen nur an genau bestimmten Stellen zulässt. Dieses Unverständnis in den Reihen der NGOs dürfte darauf zurückzuführen sein, dass bei ihnen der juristische und ökonomische Sachverstand nicht sehr ausgeprägt ist. Häufig wird von den NGOs auch gar nicht juristische oder ökonomische Beratung gesucht, bevor sie mit einer Initiative starten. Ihnen ist daher zu raten, das Rechtssystem anzuerkennen und ihre Initiativen entsprechend auszurichten.
47
Zusammenfassung des Beschlusses, Rn. 139 f.
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Rechtsrahmen zur Finanzierung der Energie-, Digital- und Nachhaltigkeitswende? – Zu Infrastruktur-Investments unter der AIFM-RL und dem KAGB DIRK ZETZSCHE & MIKO YEBOAH-SMITH
I. Einleitung Alternative Investment Funds (AIFs)1 mit dem Anlageschwerpunkt „Infrastruktur“ übernehmen zunehmend die private Finanzierung sozial und wirtschaftlich erheblicher Infrastrukturprojekte wie z.B. den Ausbau erneuerbarer Energieproduktion, von Strom- und Datennetzen, Serverfarmen und der Verkehrswege.2 Ohne derartige Investitionen sind Beeinträchtigungen der Wirtschaft zu befürchten und Arbeitsplätze gefährdet.3 Die EU-Kommission unternimmt daher Anstrengungen zur privatwirtschaftlichen Kompensation abnehmender öffentlicher InfrastrukturInvestitionen in den EU-Mitgliedstaaten. Die Inanspruchnahme der Privatwirtschaft für gesamtwirtschaftlich bedeutende Infrastrukturanliegen ist keine neue Idee, sondern findet sich bereits zu Zeiten der Industrialisierung, wo z.B. für die Errichtung von Eisenbahnverbindungen und den rapiden Ausbau des Schienennetzes in Ermangelung staatlicher Mittel auf privates Kapital zurückgegriffen wurde.4 Making Use of Private Money wurde zum Leitmotiv der politischen Initiativen der Europäischen Kommission5 und 1 Vgl. zum Begriff des AIF Zetzsche in Assmann/Wallach/Zetzsche KAGB, 1. Aufl. 2019, § 1 KAGB Rn. 112 ff. 2 Vgl. Dornseitfer/Zetzsche/Yeboah-Smith in Zetzsche AIFMD, 3. Aufl. 2020, Kapitel 26. 3 Klinz Europäisches Parlament, Bericht über die langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft, (2013/2175(INI)), https://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do? type=REPORT&reference=A7-2014-0065&language=DE (abgerufen am 6.3.2020). 4 Vgl. dazu, Zetzsche Prinzipien der kollektiven Vermögensanlage, 2015, 294, 300 ff.; Schulz/Kleine/Krautbauer in Kleine/Schulz/Krautbauer Infrastrukturinvestments, 2015, 109. 5 Am 25. März 2013 stellte der EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen Michel Barnier das Grünbuch „Langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft“ (COM(2013) 150 final) vor, das sich auf die langfristige Finanzierung von Infrastruktureinrichtungen aus verschiedenen Sektoren konzentriert.
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des Europäischen Parlaments6 zur Verringerung der traditionellen (75%) Abhängigkeit der EU-Wirtschaft von Bankfinanzierungen. Gezwungen wurde sie dazu nicht zuletzt durch eine nach der globalen Finanzkrise verschärfte Bankenregulierung, die nicht nur Kredite an mittelständische Unternehmen, sondern auch zugunsten von Infrastrukturprojekten häufig mit hohen Kapitalanforderungen belastete.7 Eine Wende gelingt im großen Stil nur, wenn Pensionsfonds, Versicherungen und Alterssicherungssysteme als langfristige Anleger ihre Kapitalia bereitstellen.8 Nukleus ist dabei der „Infrastruktur-AIF“ – ein Rechtsprodukt, das durch Ausrichtung auf diese Anlegergruppen Triebfeder zur Finanzierung der Energie-, Daten- und Nachhaltigkeitswende werden könnte. Angesichts der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung überrascht die Stille im Schrifttum zur Strukturierung von Infrastruktur-AIFs. Christine Windbichler hat ihr wissenschaftliches Schaffen stets auf die Schnittstellen aus Wirtschaft, Recht und gesellschaftlicher Ordnung ausgerichtet. Es ist daher zu hoffen, dass ein Beitrag, der die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen für Anlagen von Fonds in Infrastrukturinvestitionen untersucht, auf ihr Interesse stößt.
II. AIF als Lösungsansatz Kollektive Vermögensanlagen betreiben Finanzintermediation, um Kapital zum Ort des höchsten Nutzens (iSv Produktivität) zu leiten.9 Infrastruktur-AIFs, die privates Kapital von Institutionellen und Privatanlegern bündeln und nach Selektion guter Projekte in Infrastrukturanlagen leiten, könnten besagte Finanzierungslücke schließen. Fraglich ist jedoch, welche Form der Kollektivanlage sich anbietet. Dafür stehen neben Direktanlagen die zwei Grundtypen des Investmentrechts zur Verfügung: Der Organismus für gemeinsame Anlagen in Wertpapiere (OGAW) iSd § 1 Abs. 2 KAGB und der Alternative Investmentfonds (AIF) iSv § 1 Abs. 3 KAGB.
6 Klinz Europäisches Parlament, Bericht über die langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft, (2013/2175(INI)), https://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do? type=REPORT&reference=A7-2014-0065&language=DE (abgerufen am 6.3.2020). 7 Dornseifer/Fuchshofen in Kleine/Schulz/Krautbauer Infrastrukturinvestments, 2015, 127. 8 Zum Zusammenspiel von institutioneller Anlage und Alternativen Investmentfonds vgl. Weiser Cooperation of AIFMs with Pension Vehicles in Zetzsche AIFMD, 3. Aufl. 2020, Kapitel 29. 9 Vgl. Zetzsche/Preiner in Enzyklopädie EuR, § 7 B Rz. 5.
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1. Direktanlagen? Aktien, Zertifikate oder Schuldtitel können immer Anlagen im Infrastrukturbereich verbriefen; die Direktanlage könnte grds. zu Diversifikationszwecken für professionelle Anleger interessant sein. Tatsächlich verfügen nur wenige Anleger über das erforderliche Fachwissen und Investitionsvolumen für Direktanlagen. Daher bleibt das InfrastrukturEngagement über eine Fondslösung für viele professionelle Anleger die bevorzugte Option; Direktinvestitionen bilden die Ausnahme, namentlich für besonders große professionelle Anleger mit eigenen Spezialabteilungen.10 2. OGAW? Der OGAW ist der Archetyp des europäischen Publikumsfonds. Die von OGAW erwerbbaren Vermögensgegenstände sind begrenzt: Weil der OGAW den Anlegern zwingend ein Rückgaberecht dauernd und fortlaufend zu gewähren hat (vgl. § 1 Abs. 2 KAGB iVm Art. 1 Abs. 2 lit. b OGAW-RL), müssen dessen Anlagen zu 90% überwiegend liquide sein. Infrastrukturanlagen sind häufig illiquide Anlagen in Form von Realvermögen. Diese sind als Anlagegegenstand iSd §§ 192 ff. KAGB allenfalls iHv 10% des Fondsvermögens gem. § 196 Abs. 1 S. 2 KAGB zulässig. Dies macht den OGAW für die Direktinvestition in Infrastruktur untauglich. Sehr wohl dürfen OGAW indes in börsennotierte Infrastrukturunternehmen, Real Estate Investment Trusts (REITs) und – seit der Anpassung durch die OGAW-Eligible Assets Richtlinie 2007/16/EG11 – unter bestimmten Bedingungen auch in Anteile an geschlossenen Fonds investieren, vgl. Art. 1(2)(a) und (b) RL 2007/16/EG. 3. AIF! Die geschlossenen Zielfonds von OGAW wären ihrerseits sog. Alternative Investmentfonds (AIFs). Zudem dürfen AIFs gemäß der AIFM-RL12 mittels des europäischen Passes grenzüberschreitend an professionelle Investoren vertrieben werden. Dies macht den AIF zum Mittel der Wahl für großvolumige Anlagen dieser Investorengruppe und erklärt zugleich den Fokus dieses Beitrags: den Infrastruktur-AIF. 10 Vgl. dazu Fälle aus dem Real Estate, in denen große Volumina den Regelfall darstellen; ausf. s. Destrée The AIFMD and (Dutch) Real Estate Funds in Zetzsche AIFMD, 3. Aufl. 2020, Kapitel 27. 11 ABl. L 79/11 (2007). 12 Vgl. Richtlinie 2011/61/EU, ABl. L 174/1.
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Nach einer ökonomischen Kategorisierung von Infrastruktur-AIFs und Infrastruktur-Anlagen nebst Marktüberblick soll sodann die konkrete Gestaltung von Infrastruktur-AIFs behandelt werden.
III. Ökonomische Grundlagen 1. Definition Aus juristischer Sicht ist der Inhalt dessen, was Infrastruktur ausmacht, vage: Im juristischen Schrifttum liest man, Infrastrukturfonds seien Risikokapitalfonds, ähnlich den Schifffonds, Rohstofffonds, etc.13 Für diese sei prägend, dass – gleich Hedgefonds, Private Equity- und Immobilienfonds – das Prinzip der quantitativen Risikodiversifikation zugunsten einer Risikokonzentration negiert wird.14 Dies hat der deutsche KAGB-Gesetzgeber auf Ebene der Produktregulierung berücksichtigt; so gilt der Grundsatz der Risikomischung nicht für geschlossene Spezial-AIF, vgl. § 285 KAGB. Von Interesse ist, dass die ELTIF-VO, die AIFs in langfristig zu finanzierende Vermögensanlagen fördern soll, keine Definition von InfrastrukturAnlagen vorsieht. Sie geht von Anlagegenständen aus, die hohe Kapitalsummen für lange Zeit binden.15 Im Rahmen der „Sachwert“-Definition in Art. 2 Nr. 6 ELTIF-VO wird jedoch insbesondere auf „Infrastruktur und andere Vermögenswerte“ abgestellt, „die einen wirtschaftlichen oder sozialen Nutzen wie Bildung, Beratung, Forschung und Entwicklung ermöglichen“ und einen Wert von mehr als 10 Mio. EUR aufweisen.16 Soweit ersichtlich hat die delegierte Verordnung (EU) 2016/46717 zur Solvency II-RL erstmals die Infrastrukturanlage definiert. Gem. Art. 164a der VO (EU) 2016/467 gilt als qualifizierte Infrastrukturinvestition jede Investition in eine Infrastrukturprojektgesellschaft, die Anforderungen an die Kapitalplanung und das Risikomanagement erfüllt. Infrastrukturprojektgesellschaft ist eine Gesellschaft, deren Tätigkeiten sich auf Eigentum, Finanzierung, Entwicklung oder Betrieb von Infrastrukturvermögenswerten beschränken und die Zahlungen an Fremd- und Eigenkapitalgeber hauptsächlich aus den Einnahmen leisten, die aus den finanzierten Vermögenswerten erzielt werden. Infrastrukturvermögenswerte sind dann „physische 13
Vgl. Rath/Buzanich in Jesch/Klebeck/Dobrauz Investmentrecht, D. Rn. 15. Eckhold/Balzer in Assmann/Schütze/Buck-Heeb Handbuch des Kapitalanlagerechts, 5. Auflage 2020, § 22 Rn. 6. 15 Vgl. ErwGr. 19 ELTIF-VO mit exemplarischen Beispielen. 16 ErwGr. 18 ELTIF-VO. Vgl. zur Sachwert-Definition Zetzsche/Preiner in Assmann/ Wallach/Zetzsche KAGB, 2019, Anh. zu § 338a: Art. 2 ELTIF-VO Rn. 5 f. 17 ABl. L 85/6. 14
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Strukturen oder Anlagen, Systeme und Netze, die grundlegende öffentliche Dienste erbringen oder unterstützen.“18 Mehr Einsicht erhofft man sich von den Wirtschaftswissenschaften: Dort differenziert man zwischen gewinnorientierten und sozialen Infrastrukturanlagen.19 In die erste Kategorie fällt Infrastruktur im Zusammenhang mit Transport und Verkehr (zB Mautstraßen und Schienennetze, Bahnhöfe, (Flug-)Häfen, Parkhäuser, Lagerhäuser), Energie- und Wasserversorgung (Solar- und Windparks, Geothermie, etc.), Kommunikation (zB Mobilfunk oder Satelliten)20 sowie Abfallentsorgung und Recycling. Die soziale Infrastruktur umfasst Krankenhäuser, Bildungs- und kulturelle Einrichtungen.21 Charakteristisch ist die Anlage in sog. regulierte Assets. Diese unterstehen der Spezialaufsicht einer Regulierungsbehörde,22 um die Grundvoraussetzungen für das gesellschaftliche Zusammenleben vor dem Hintergrund der grundrechtlich verankerten Schutzpflichten des Staates zu gewährleisten.23 So hat die Bundesnetzagentur für die Bereiche Elektrizität und Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahn als selbständige Bundesoberbehörde24 den Auftrag, „durch Regulierung in den Zuständigkeitsbereichen den Wettbewerb zu fördern und einen diskriminierungsfreien Netzzugang zu fairen Bedingungen zu gewährleisten.“25 In der Praxis handelt es sich bei regulierten Assets vielfach um (ehemalige) Monopole, für die die jeweilige Regulierungsbehörde idR maximal erzielbare Preise für die Nutzung der Infrastruktur, alternativ für maximal zu erzielende Renditen durch die Eigentümer, festsetzt.26 Normalerweise werden die Preis- oder Renditevorgaben für einen Zeitraum von mehreren Jahren festgelegt, im Anschluss durch die Regulierungsbehörde überprüft und an das aktuelle Marktgeschehen angepasst. Aus Anlegersicht sind regulierte Assets gerade in Niedrigzinszeiten von Interesse: Erstens können Wettbewerber wegen der monopolistischen/ 18 19
Vgl. Art. 1 Nr. 55a Verordnung (EU) 2016/467. Dornseifer/Fuchshofen in Kleine/Schulz/Krautbauer Infrastrukturinvestments, 2015,
128. 20
Vgl. Jesch in Moritz/Jesch/Klebeck, § 338a KAGB Rn. 14. Vgl. Jesch in Moritz/Jesch/Klebeck, § 338a KAGB Rn. 14. 22 Vgl. Schulz/Kleine/Krautbauer in Kleine/Schulz/Krautbauer Infrastrukturinvestments, 2015, 15. 23 Dies entspricht auch Sinn und Zweck der Sektoren-VO, die die Vergabe von öffentlichen Aufträgen im Bereich des Verkehrs, der Trinkwasserversorgung und der Energieversorgung regelt; SektVO v. 18. April 2016, BGBl. I, 624, 657. 24 Vgl. § 1 S. 2, § 2 Abs. 1 Gesetz über die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen vom 7. Juli 2005, BGBl. I, 1970, 2009. 25 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Bundesnetzagentur, https://www. bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Ministerium/Geschaeftsbereich/bundesnetzagenturbnetza.html (zuletzt abgerufen am 6.3.2020). 26 Vgl. Schulz/Kleine/Krautbauer in Kleine/Schulz/Krautbauer Infrastrukturinvestments, 2015, 15 f. 21
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oligopolistischen Marktstruktur wenig Einfluss auf die Preisbildung ausüben. Zweitens stehen Ersatzgüter häufig nicht zur Verfügung. Drittens gehört es zu den staatlichen Schutzpflichten, die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter auch zu fördern, damit sie für den Einzelnen tatsächlich Wirkung entfalten; die öffentliche Gewalt muss sich daher „schützend und fördernd vor die Grundrechte“ stellen.27 Gerade im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge muss sich der Staat an der Fortentwicklung von Infrastrukturanlagen interessiert zeigen, diese also auch planerisch und finanziell unterstützen. 2. Eigenkapital versus Fremdkapital Anleger können via Infrastruktur-AIF Eigenkapital- und Fremdkapitalinvestitionen tätigen. Eine aktienbasierte Strategie könnte InfrastrukturAktienfonds und nicht-börsennotierte Infrastrukturfonds bzw. Dachfonds umfassen, während kreditorientierte Anleger in Investmentfonds investieren, die Infrastrukturdarlehen vergeben bzw. Anleihen halten. Erstrangige Darlehen (Senior Loans) finden derzeit als eine Form von Infrastrukturinvestitionen das besondere Anlgerinteresse. Diese Darlehen sind normalerweise als Finanzierungsinstrumente für größere Unternehmen mit einem Kreditrating im Non-Investment-Grade-Bereich (BB+ oder niedriger) anzutreffen.28 Zum Ausgleich des Emittentenrisikos werden Senior Loans zweckgebunden vergeben und innerhalb der Kapitalstruktur des Unternehmens – häufig durch Pfandrechte auf Unternehmensvermögen – besichert und im Falle einer Insolvenz als erste bedient. Im Verhältnis zu High Yield-Anleihen bieten Senior Loans den Gläubigern besondere Transparenzrechte, die einen besseren Einblick in die Geschäftsentwicklung des Unternehmens vermitteln.29 Können Senior Loans mit werthaltigen Infrastrukturanlagen besichert werden, stellen sie eine attraktive Investitionsmöglichkeit für (Dach-)Fonds dar. Besonders geeignet sind preisstabile Anlagen und Immobilien im Core-Bereich30: Dies mindert die Risikoexposition, beeinträchtigt aber die Fungibilität von Wertpapieren nicht.
27 Vgl. BVerfG Beschl. v. 14.1.1981 – 1 BvR 612/72; BVerfG Beschl. v. 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02. 28 Dornseifer/Zetzsche/Yeboah-Smith Infrastructure Investments under AIFMD in Zetzsche AIFMD, 3. Aufl. 2020, Kapitel 26. 29 Dornseifer/Zetzsche/Yeboah-Smith Infrastructure Investments under AIFMD in Zetzsche AIFMD, 3. Aufl. 2020, Kapitel 26. 30 Core beschreibt überwiegend gewerblich genutzte Bestandsobjekte in attraktivster Lage von Großständen.
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3. Risiko, Rendite und Liquidität a) Illiquidität, atypische Zahlungsströme und Risiken Bei jeglicher Anlage besteht ein Zusammenhang zwischen Risiko, Rendite und Liquidität. Infrastrukturanlagen unterscheiden sich von anderen Anlageformen insbesondere durch ihre Illiquidität und Rendite. Illiquidität ist immanentes Wesensmerkmal praktisch aller Liegenschaften,31 und begründet eine entsprechende Risikoprämie. Illiquidität steht im Gegensatz zur Liquidität, die man in Anlehnung an den „liquiden Markt“ im wertpapierrechtlichen Sinne gem. § 2 Abs. 23 Nr. 1 WpHG definieren kann. Danach gilt ein Markt als liquide, wenn für Finanzinstrumente kontinuierlich kaufoder verkaufsbereite vertragswillige Käufer oder Verkäufer zur Verfügung stehen. Der Immobilienmarkt belegt zudem, dass zwischen der Marktgröße und Liquidität kein Zusammenhang besteht. An die Stelle der Marktbewertung über die Anzahl der Transaktionen tritt eine anlagegutspezifische Due Dilligence des Anlagegegenstands. Die dadurch hohen Transaktionskosten schränken das Handelsvolumen ein. Des Weiteren erhofft man sich einen stabilen Zahlungsstrom, jedoch kommt es dazu erst nach der Errichtungsphase und nur dann, wenn die Infrastruktur ausgelastet ist. So hat z.B. die Energiewende die vorhandene Atominfrastruktur entwertet, damit verbundene Langfristinvestitionen mussten abgeschrieben werden. Illiquidität, nicht-periodische Cashflows und unkonventionelle Risikostrukturen sind relevante Wesensmerkmale eines jeden Alternative Investments. Infrastrukturanlagen als Alternative Investment sind daher ohne weitergehende Strukturierung für Privatanleger ungeeignet. b) Einfluss der Anlagestrategie Die für alternative Anlagen prägenden Aspekte können durch Auswahl des Anlageguts abgemildert oder noch gesteigert werden, wie anhand einiger Beispiele gezeigt werden soll: 32 Direktanlagen in Infrastruktur weisen ein im Vergleich zu anderen Alternative Investments geringes Handelsvolumen auf, so dass es zu einer den Wiederverkauf einschränkenden Marktenge kommen kann. Dies wird durch die höchste Rendite aller betrachteten Infrastrukturbeteiligungen belohnt (bis zu 15%). Zugleich kann die Volatilität (als Risikomaß) in manchen Projektphasen niedrig ausfallen. Anlagen in Infrastruktur-Aktiengesellschaften, 31 Vgl. Hartrott in Weitnauer/Boxberger/Anders KAGB, 2. Aufl. 2017, § 196 Rn. 21 f.; Kayser/Schlikker in Emde/Dornseifer/Dreibus KAGB, 2. Aufl. 2019, § 196 Rn. 14. 32 Vgl. Dornseifer/Fuchshofen in Kleine/Schulz/Krautbauer Infrastrukturinvestments, 2015, Abb. 9.1, 128; Kleine/Krautbauer/Schulz in Kleine/Schulz/Krautbauer Infrastrukturinvestments, 2015, 89.
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Infrastruktur-Aktienfonds und Dachfonds werden grds. börsentäglich gehandelt, was potenziell hohe Liquidität und Marktbreite nach sich zieht, die Anlage ist somit fungibel. Obwohl sich Transaktionskosten, Verwaltergebühren, etc. renditeschädigend auswirken, beträgt die Rendite abhängig von Objekt und Region noch immer bis zu 9%. Da sich Preise primär auf Basis von Angebot und Nachfrage bilden, sind diese einer gewissen Volatilität ausgesetzt. Wegen ihrer Fungibilität ist diese Infrastrukturanlage kein taugliches Kurzzeitinvestment. Unternehmensanleihen von Infrastrukturbetreibern und von Privaten emittierte, aber durch EU-Gelder besicherte europäische Projektanleihen33 stellen ein Nischensegment des Kapitalmarkts dar, das gleichwohl von einer hohen Liquidität geprägt ist. Dies erklärt sich mit den Renditen im oberen für Anleihen zu erwartenden Bereich. Bzgl. des Anlagehorizonts gilt das gleiche wie für Aktien: ein kurzfristiges Halten ist möglich, wegen der hohen Volatilität von Unternehmensanleihen indes nicht empfehlenswert. Infrastrukturdarlehen sind Kernfinanzierungsmittel für Infrastrukturprojekte in der EU, hier besteht ein vergleichsweise hohes Marktinteresse, was sich in fungiblen Anlagen niederschlägt. Nichtverbriefte Darlehen weisen schließlich eine deutlich geringere Liquidität auf, was wegen der regelmäßig gegebenen Anschlussfinanzierung und Kreditsicherung jedoch bei der Preisbildung nicht ins Gewicht fällt, so dass geringere effektive Renditen zu erwarten sind. c) Risiko-Rendite-Relation Infrastrukturanlagen können nach Art der Investition, Projektphase und Risiko-Rendite-Merkmalen kategorisiert werden. Selbstredend sind Eigenkapitalbeteiligungen risikoreicher als reine (besicherte) Fremdkapitalanlagen. Mit der Verlustbeteiligung korrespondiert indes regelmäßig auch eine renditeerhöhende Gewinnbeteiligung. Nach dem Lebenszyklus von Infrastrukturprojekten ist wiederum zu unterscheiden zwischen sog. Brownfield-Projekten, die bestehende Infrastruktur ergänzen oder modernisieren, und Greenfield-Projekten, die von Grund auf geplant, gebaut und betrieben werden. Die Inbetriebnahme markiert den Übergang vom Greenfield zum Brownfield. Beim Greenfield trägt der Anleger das Planungs-, Errichtungs- und Gewährleistungsrisiko, was sich in der Rendite widerspiegeln muss.34 33 Vgl. European Commission, The pilot phase of Europe 2020 Project Bond Initiative (reissue), 23.5.2012, MEMO/11/370; European Investment Bank, The Europe 2020 Project Bond Initiative - Innovative infrastructure financing: the Project Bond Initiative, 7.12.2012. 34 Vgl. zum Risiko/Rendite-Verhältnis von Core, Core plus, Value added und Opportunistic Strategien, ausf. Dornseifer/Fuchshofen in Kleine/Schulz/Krautbauer Infrastrukturinvestments, 2015, 143.
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d) Fondsstrukturierung Schließlich beeinflusst die Strukturierung des AIFs die Anlegererwartungen: Anteile an börsennotierten Infrastruktur-AIFs sind gegenüber solchen an börsenfernen AIFs wesentlich liquider. Insbesondere Exchange Traded Funds (ETFs) sind relativ kostengünstig zu haben, so dass eine Beteiligung auch bei einem kurzfristigen Anlagehorizont rentabel sein kann. Börsenferne Infrastruktur-AIFs sind dagegen eher mit einer Private-Equity-Anlage vergleichbar, bei der der Anleger als Kommanditist (Limited Partner – LP) agiert, während das Management, zumeist der Komplementär (General Partner – GP), für das Tagesgeschäft verantwortlich ist.35 Beteiligungen über börsenferne Dachfonds mit im Schnitt zwischen acht und zwölf Zielinvestitionen tragen positiv zur quantitativen Risikodiversifikation bei. Nachteil ist die verhältnismäßig geringe Fungibilität, zudem verzichten Anleger auf ein theoretisch mögliches Renditemaximum bei einer guten Auswahlentscheidung und tragen Kosten für die Verdoppelung der Fondsstruktur. Schließlich sind die Anleger aufgrund der oft lang gestreckten Planungsphasen von Infrastrukturprojekten einem relevanten BlindpoolRisiko ausgesetzt,36 i.e. sie wissen letztlich nicht, in welche Gegenstände die angelegten Gelder fließen. 4. Infrastruktur als Instrument des Risikomanagements Drei Kernmerkmale erklären die Relevanz von Infrastruktur-Anlagen als Risikomanagementinstrument innerhalb eines größeren Portfolios: Erstens: Anleger verbinden mit Investitionen in Infrastrukturfonds besonders planbare Cashflows. Ungeschriebene Voraussetzungen dieser Annahme sind eine langfristige Finanz- und Liquiditätsplanung und halbwegs stabile wirtschaftliche und politische Verhältnisse. Die lange Laufzeit (bis zu 50 Jahre) von Infrastrukturanlagen ist für Investoren vorteilhaft, die ihre Investitionsvolumina über einen bestimmten Zeitraum streuen wollen.37 Dafür bieten sich Anlagen in regulierte und weniger wettbewerbsfähige CoreObjekte an, die aufgrund der tendenziell geringen Preiselastizität auch in ungünstigeren Zeiten einen planbaren Cashflow generieren. Zweitens: Infrastrukturanlagen können Schutz vor Inflation bieten, sofern eine Indexierung der Nutzungsentgelte vertraglich festgelegt ist oder die Wettbewerbssituation eine gewisse Preiserhöhung zulässt. Insbesondere 35 Vgl. Dornseifer/Zetzsche/Yeboah-Smith Infrastructure Investments under AIFMD in Zetzsche AIFMD, 3. Aufl. 2020, Kapitel 26. 36 Vgl. zur Unzulässigkeit von ausschließlichen Blindpool-/Blackbox-Fonds, Zetzsche/Preiner Scope of the AIFMD in Zetzsche AIFMD, 3. Aufl. 2020, Kapitel 2. 37 Vgl. Dornseifer/Fuchshofen in Kleine/Schulz/Krautbauer Infrastrukturinvestments, 2015, 143.
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der Aspekt der Nutzungsentgelte ist ein Vorteil gegenüber Immobilien, da eine gewisse Infrastruktur in jeder Markt- und Wirtschaftslage nachgefragt wird (z.B. in Bezug auf Wasser, Energie). Zudem können Infrastrukturanlagen Zinsrisiken reduzieren. Regulatorische Anforderungen an die Expertise des Fondsverwalters wirken sich zudem wettbewerbsbeschränkend aus, so dass nur wenige neue von Fonds finanzierte Großprojekte die alte Infrastruktur verdrängen können. Drittens: Die Vielzahl der unterschiedlichen Projekttypen ermöglicht zusätzlich zu der quantitativen Diversifikation (durch Anzahl an Projekten) eine ausgeprägte qualitative Diversifikation innerhalb der gleichen Anlageklasse.38 5. Marktüberblick Der Markt wird dominiert von börsenfernen Infrastrukturfonds: Der bis 2008 zu bemerkende Anstieg börsennotierter Fonds endete mit der Finanzmarktkrise und stabilisierte sich auf einem niedrigen Niveau.39 Dagegen ist die Zahl der nicht börsennotierten Infrastrukturfonds auf dem Markt seit 2007 fast kontinuierlich gestiegen.40 Dies mag auch daran liegen, dass der europäische Infrastrukturmarkt derzeit fast ausschließlich von professionellen Anlegern dominiert wird.41 Im Jahr 2019 gab es 620 aktive Infrastruktur-Fondsverwalter, davon 167 in den USA, 243 in Europa, 96 in Asien und 114 in der restlichen Welt.42 Anlageschwerpunkte werden bei den Core Plus-Anlagen gesetzt, während Core-, Value Added- und Opportunistic-Strategien im gleichen Umfang vertreten sind.43 Fonds mit Anlagefokus Europa verfolgen vorwiegend Core-/Core PlusStrategien, wo die Anleger qualitativ hochwertige Infrastruktur suchen. So machte der Beitrag europäischer Fondsmanager in den Core-/Core PlusAnlagen im Jahr 2018 88% des in Europa investierten Infrastrukturkapitals 38 Vgl. dazu Credit Suisse Whitepaper (2010), Can Infrastructure Investing Enhance Portfolio Efficiency?, 2010, 4; Data from the year 2000 until 2010. Für weitere Details zur Portfoliokonstruktion und zum Diversifikationseffekt mit zugrunde liegender empirischer Analyse, vgl. Panayiotou/Medda Portfolio of Infrastructure Investments: An analysis of European Infrastructure, Journal of Infrastructure Systems, Volume 22 Issue 3 - September 2016; Thierie/De Moor The characteristics of infrastructure as an investment class, Financial Markets and Portfolio Management August 2016, Volume 30, Issue 3, 277–297. 39 Dornseifer/Fuchshofen in Kleine/Schulz/Krautbauer Infrastrukturinvestments, 2015, 130. 40 Vgl. Preqin 2019 Global Infrastructure Report, 22, Abb. 2.1. 41 Vgl. ESMA Annual Statistical Report, EU Alternative Investment Funds 2020, Abb. ASR-AIF.72, 27. 42 Preqin 2019 Global Infrastructure Report, 34, Abb. 3.6. 43 Preqin 2019 Global Infrastructure Report, 34, Abb. 3.7.
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aus. Der Anstieg geht auch auf neue Anbieter und einem verstärkten Wettbewerb um Infrastrukturkapital zurück. Während der globale Infrastrukturmarkt bereits Anfang 2018 ein Rekordvolumen von 491 Mrd. USD und das für Investitionen verfügbare Kapital (sog. Dry Powder) 179 Mrd. USD erreichte, stellte 2018 mit 90 Mrd. USD in Bezug auf die Kapitalsammlung ein Rekordjahr dar. Mit 62 Mrd. USD macht das Dry Powder für europäische Investments etwa 35% des weltweit für Investitionen verfügbaren Kapitals aus; in die soziale Infrastruktur fließt 44%, ein Drittel in den Energiesektor und der Rest in den Verkehrssektor. Die auf Europa fokussierten Fonds verzeichneten mit 48% Zuwachs im Jahr 2018 das größte Wachstum und sicherten sich 35 Mrd. USD bzw. 41% des weltweiten Jahresvolumens (zum Vergleich 2017: 24 Mrd. USD bzw. 32% Weltanteil).44 Dies überrascht: Zwar verfolgt Macquarie Infrastructure and Real Assets (MIRA), die mit Assets under Management von ca. 108 Mrd. USD weltweit größte Infrastrukturanlagegesellschaft, einen europäischen Anlageschwerpunkt. Dies gilt für die fünf nächstgrößten InfrastrukturFondsmanager aber nicht: Brookfield Asset Management (ca. 99 Mrd. USD), M&G Investments/Infracapital (ca. 51 Mrd. USD), Global Infrastructure Partners (ca. 50 Mrd. USD), IFM Investors (ca. 38 Mrd. USD) und Allianz Global Investors (ca. 29 Mrd. USD) investieren vorwiegend in Nordamerika.45
IV. Errichtung von Infrastruktur-AIFs Das Recht von Infrastruktur-AIFs wird auf europäischer Ebene durch die AIFM-RL harmonisiert. Die AIFM-RL ist eine reine Verwalterregulierung und adressiert als solche insoweit nur den AIF-Manager (AIFM). Die Produktregulierung, d.h. die Ausgestaltung der Anlageformen und -grenzen, ist grds. den Mitgliedstaaten überlassen (vgl. Art. 43, 43a AIFM-RL). 1. Professionelle Anleger oder Privatanleger Das zu wählende Fondsprodukt hängt von dem Zielinvestment und der Anleger-Zielgruppe ab. Geschlossene Fonds sind primär für langfristige Anlagen in einzelne oder einige wenige Infrastrukturprojekte geeignet. Erforderlich ist eine gewisse Expertise, die vorrangig bei professionellen Anlegern anzutreffen ist. Der geschlossene Infrastruktur-AIF kann aber auch in ein breit diversifiziertes Portfolio eines offenen (Umbrella-)Fonds eingebunden werden, das an Privatanleger vermarktet wird. Wird der AIF nur an profes44 45
Preqin 2019 Global Infrastructure Report, 20. IPE Real Assets Top 50 Infrastructure Investment Managers, 2019.
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sionelle Anleger und in Deutschland auch semi-professionelle Anleger (gem. § 1 Abs. 19 Nr. 32, 33 KAGB46) vermarktet, handelt es sich um einen sog. Spezial-AIF (gem. § 1 Abs. 6 KAGB47). Geschlossene Spezial-AIFs unterliegen in Deutschland nur einer geringfügigen Produktregulierung – im Kern beschränkt sich diese auf die Bewertbarkeit der Anlagegegenstände sowie eine Begrenzung des Leverage (§§ 285, 286 KAGB). So besteht zB für geschlossene inländische Spezial-AIFs im Wesentlichen nur die Vorgabe, dass der Verkehrswert der Anlagegenstände ermittelt werden kann, vgl. § 285 Abs. 1 KAGB.48 Demgegenüber sieht das KAGB zahlreiche Restriktionen für Publikumsinvestmentvermögen vor (vgl. §§ 261 bis 272 KAGB); diese Vorschriften sollen allesamt dem Anlegerschutz dienen, erweisen sich aber gerade für professionelle Anleger mit konkreten Vorstellungen als zu sperrig. So wird zB ein institutioneller Anleger, der auf Anlegerebene diversifiziert, für Zwangsvorgaben zur Risikomischung (§ 262 KAGB49) und zum Inhalt der Anlagebedingungen (§§ 266, 267 KAGB50) kein Verständnis haben. Sie werden dann entweder über ausländische, namentlich luxemburgische Vehikel (dazu IV.4.) oder gar nicht anlegen. Dies erklärt den Freiraum für, aber auch die Dominanz von Spezial-AIFs – und die geringe Verbreitung von Publikumsfonds im Infrastrukturbereich. 2. Offene und geschlossene AIF Infrastruktur-AIFs sind zumeist geschlossene AIFs mit von Anfang an fixiertem Investitionsvolumen. Geschlossene Fonds haben eine feste Laufzeit, die Beteiligung geht ohne oder mit sehr begrenzten und langfristig befristeten Kündigungs- oder Rückgaberechten einher. Die AIF-Anteile können nach der Emission dann nur auf dem Sekundärmarkt gehandelt werden. Offene Infrastruktur-AIFs sind dagegen aufgrund der Illiquidität der Anlagegenstände und der damit schwerlich zu realisierenden Anteilsrücknahme eher selten anzutreffen. Galt ursprünglich noch gem. § 1 Abs. 4 KAGB a.F., dass Anleger offener Fonds mindestens einmal jährlich das Recht zur Rückgabe gegen Auszahlung ihrer Anteile aus dem AIF hatten, ist die offene 46 Vgl. dazu Zetzsche in Assmann/Wallach/Zetzsche KAGB, 2019, § 1 KAGB Rn. 225 ff., 232 ff. 47 Vgl. dazu Zetzsche in Assmann/Wallach/Zetzsche KAGB, 2019, § 1 KAGB Rn. 123 ff. 48 Vgl. dazu Schmolke in Assmann/Wallach/Zetzsche KAGB, 2019, § 285 KAGB Rn. 8. 49 Vgl. dazu Schmolke in Assmann/Wallach/Zetzsche KAGB, 2019, § 262 KAGB Rn. 11. 50 Vgl. dazu Kloyer/Seidenschwann in Assmann/Wallach/Zetzsche KAGB, 2019, § 266 KAGB Rn. 10 ff.
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Form seit Inkrafttreten eines technischen Regulierungsstandards (RTS) in Form einer Durchführungsverordnung51 der EU-Kommission definiert als ein AIF, „dessen Anteile vor Beginn der Liquidations- oder Auslaufphase auf Ersuchen eines Anteilseigners direkt oder indirekt aus den Vermögenswerten des AIF […] zurückgekauft oder zurückgenommen werden“, vgl. Art. 1 Abs. 2 DVO (EU) Nr. 694/2014. Damit können ursprünglich als geschlossene Fonds strukturierte Vehikel auch bei längerfristigen bzw. anderweitigen Rückgabe- oder Kündigungsrechten nunmehr als offene Fonds betrieben werden. Diese Entwicklung könnte zur Erschließung des Markts für Privatanleger (in Form von ELTIFs – dazu sogleich) beitragen, weil diese Rückgaberechte idR schätzen. Ob ein Fonds offen oder geschlossen ist, wirkt sich auf das Risikomanagement aus. So ergeben sich für offene AIFs besondere Liquiditätsrisiken aus den Rückgaberechten der Anleger; diese sind auf lange Sicht nur durch den Ausschluss des Rückgaberechts und Teilliquidationen zu beherrschen. Liquiditätsrisiken für geschlossene AIFs resultieren aus instabilen Zahlungsströmen aus den Anlageobjekten und sich verändernde Finanzierungsbedingungen für die Kreditaufnahme auf Objektebene.52 3. ELTIF als Fondsform Infrastrukturfonds sind der Paradefall für einen Publikums-AIF gemäß § 338a KAGB iVm der ELTIF-VO.53 Die ELTIF-VO soll als besonders54 nützlich erachtete Finanztätigkeiten fördern,55 indem sie per Europäischen Pass neben dem Vertrieb an institutionelle Anleger, der für alle AIFs offensteht, auch den Vertrieb an bestimmte Privatanleger eröffnet und so neu51 Delegierte Verordnung (EU) Nr. 694/2014 der Kommission vom 17.12.2013 zur Ergänzung der Richtlinie 2011/61/EU des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf technische Regulierungsstandards zur Bestimmung der Arten von Verwaltern alternativer Investmentfonds, ABl. L 183/18. 52 Vgl. Zetzsche/Hanke in Assmann/Wallach/Zetzsche KAGB, 2019, § 30 KAGB Rn. 12 ff. 53 Verordnung (EU) Nr. 2015/76 des europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2015 über europäische langfristige Investmentfonds, Abl. L 123 v. 19.5.2015, S. 98. Vgl. dazu Zetzsche/Preiner in Assmann/Wallach/Zetzsche KAGB, 2019, Anh. zu § 338a: Art. 2 ELTIF-VO Rn. 5 f. 54 Der Theorie nach ist Finanzintermediation für die Wirtschaftsentwicklung per se nützlich. Vgl. dazu Schumpeter The Theory of Economic Development: An Inquiry into Profits, Capital, Credit, Interest, and The Business Cycle (1911); Goldsmith Financial Structure and Development (1969), 48; Greenwood/Jovanovic (1990) 98 J. Polit. Econ. 1076; Saint Paul (1992) 36 Europ. Econ. Rev. 763; Bencivengal/Smith (1991) 58 Rev. Econ. Stud. 195. 55 Vgl. dazu Strategie Europa 2020; Zetzsche/Preiner in Assmann/Wallach/Zetzsche KAGB, 1. Aufl. 2019, Vor § 338a KAGB, Rn. 1; Jesch in Moritz/Jesch/Klebeck, § 338a KAGB, Rn. 1 f.
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es Anlagekapital ermöglicht. Die Erwägungsgründe zur ELTIF-VO betonen die hohe Bedeutung von Infrastrukturprojekten;56 für entsprechende Fondsgestaltungen soll die Kapitalbeschaffung grenzüberschreitend erleichtert werden.57 ELTIFs dürfen indes auch Infrastrukturprojekte in Drittländern finanzieren, wodurch mittelbar die europäische Wirtschaft profitieren soll.58 Desungeachtet hat der ELTIF bislang keine größeren Anlagevolumina auf sich vereinen können – was nicht zuletzt auf den Umstand zurückzuführen sein dürfte, dass die großen Volumina von institutionellen Anlegern einzuwerben sind, die auf die vermeintlich anlegerschützenden diversen Einschränkungen der ELTIF-VO etwa zu den zulässigen Anlagen, dem Zeitraum der Veräußerung und Minimalanlegerrechten59 wenig Wert legen und daher einen „gewöhnlichen“ AIF bevorzugen. 4. Luxemburgische Fondsvehikel Gegenwärtig werden neue AIF-Strukturen häufig in Luxemburg aufgelegt, als SICAV-SIF/SICAF-SIF oder SIF-SCS/SCSp, wobei SIF für Specialised Investment Fund (SIF) steht. Als Anlagevehikel ist der SIF „sachkundigen Personen“ vorbehalten.60 Im Gegensatz zur Société d’Investissement en Capital à Risque (SICAR) unterliegt der SIF zum Schutz der Anleger dem Prinzip der Risikostreuung, weshalb nicht mehr als 30% des Fondsvermögens in Wertpapiere derselben Art und desselben Emittenten investiert werden dürfen. Als Spezialfonds ist der SIF von der Bankenregulierung ausgenommen und darf generell Kredite vergeben. Die Kreditvergabe des SIF an Kreditnehmer in Deutschland ist indes grenzüberschreitende und damit erlaubnispflichtige Kreditvergabe.61 Der SIF ist eine Fondsform, davon zu unterscheiden sind die Rechtsformen: Die KG-ähnliche Société en Commandite Simple (SCS) und GmbH&Co-ähnliche Société en Commandite Spéciale (SCSp) kommen insbesondere für Senior Loans zum Einsatz. Die SCSp basiert auf dem englischen Modell der Limited Partnership und unterscheidet sich von der SCS 56
ErwGr. 1 ELTIF-VO. Vgl. dazu Niedner/Städter EuZW 2019, 68; Zetzsche/Preiner ZBB 2015, 562; Bühler RdF 2015, 196; Weitnauer GWR 2019, 1; Eckhold/Balzer in Assmann/Schütze/BuckHeeb Handbuch des Kapitalanlagerechts, 5. Auflage 2020, § 22 Rn. 6; zum Entwurf vgl. Bremer NZG 2013, 813 f. 58 Vgl. ErwGr. 4 ELTIF-VO. 59 Vgl. dazu Zetzsche/Preiner in Assmann/Wallach/Zetzsche KAGB, 2019, Art. 8 bis 25 ELTIF-VO. 60 Vgl. Dornseitfer/Zetzsche/Yeboah-Smith Infrastructure Investments under AIFMD in Zetzsche AIFMD, 3. Aufl. 2020, Kapitel 26. 61 Vgl. § 32 Abs. 1 iVm § 1 Abs. 1 und 1a KWG sowie BaFin, Merkblatt Kreditgeschäft vom 8.1.2009, zuletzt geändert am 2.5.2016, Nr. 2. 57
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vor allem durch fehlende Rechtspersönlichkeit; sie kann dennoch klagen und verklagt werden.62 Der SIF in Form einer Aktiengesellschaft kann als offener Fonds in Form der Société d’Investissement à Capital Variable (SICAV) oder als geschlossener Fonds mit eigener Rechtspersönlichkeit (Société d’Investissement à Capital Fixe - SICAF) aufgesetzt werden. Sämtliche luxemburgischen Vehikel können auch als Umbrella-Fonds für mehrere unabhängige Teilfonds genutzt werden, wobei die Teilfonds jeweils eine separate Anlagestrategie bei vollständig separiertem Haftungsvermögen verfolgen können. Die SCS bietet sich für einen SICAV-SIF-Dachfonds an, der über seine Teilfonds Infrastrukturprojekte mittels Darlehen finanziert. Diese Teilfonds nehmen selbst zwar keine Kredite für Investitionszwecke auf, dürfen allerdings bis zu 10% des Teilfondsvermögens zu Liquiditätszwecken über Kredite finanzieren. Während der festen Laufzeit von regelmäßig 25 bis 30 Jahren mit der Möglichkeit einer Verlängerung besteht für die Anleger zwar kein Rückgaberecht, es steht ihnen jedoch frei, ihre Kommanditanteile unter Beachtung der gesellschaftsvertraglichen Vorgaben an Dritte zu übertragen. Eine Nachschusspflicht ist ausgeschlossen. 5. Steuerrecht Im Investmentsteuerrecht ist zwischen der Besteuerung auf Fonds- und Anlegerebene zu unterscheiden. Manche EU-Mitgliedstaaten haben mit der Besteuerung des AIFM eine dritte Steuerebene etabliert. Zudem behandeln einige Steuerbehörden Infrastrukturfonds wie operative Gesellschaften, die dann der inländischen Körperschaftssteuer unterliegen. Die Komplexität mag am Beispiel des deutschen InvStG aufgezeigt werden. a) Fondsebene Gem. § 6 Abs. 1 InvStG gelten Inländische Investmentfonds als Zweckvermögen iSv § 1 Abs. 1 Nr. 5 KStG und ausländische Investmentvermögen als Vermögensmassen iSv § 2 Nr. 1 KStG. Beide sind partiell körperschaftsteuerpflichtig (steuerliche Intransparenz).63 Partiell ist die Transparenz, weil gem. § 6 Abs. 2 InvStG nur inländische Beteiligungseinnahmen (Abs. 3), inländische Immobilienerträge (Abs. 4) und sonstige inländische Einkünfte besteuert werden (§ 49 Abs. 1 EstG). Dividenden unterliegen gem. § 7 Abs. 2 InvStG einer Kapitalertragssteuer von 15% zzgl. SolZ. Steu62 Zur (Teil-)Rechtsfähigkeit von Personengesellschaften im deutschen Recht, vgl. BGHZ 146, 341, NJW 2001, 1056; Ausf. K. Schmidt in MüKo HGB, 4. Aufl. 2016, § 105 Rn. 7; Kohler in MüKo BGB, 8. Aufl. 2020, § 873 Rn. 23 ff.; Lipp in MüKo BGB, 8. Aufl. 2020, Art. 7 EGBGB Rn. 16 f. 63 Vgl. Stadler/Bindl DStR 2016, 1953, 1955.
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erfrei sind ausländische Einkünfte, (mehrheitlich) Zinserträge, Veräußerungsgewinne und Investmenterträge aus in- oder ausländischen Ziel-Investmentfonds (speziell aus Dach-Fonds). Fonds können unter bestimmten Voraussetzungen von der Gewerbesteuer befreit werden (§ 15 Abs. 2 InvStG). Soweit an einem Fonds steuerbefreite Anleger beteiligt sind, kann der Fonds von der partiellen Steuerpflicht befreit werden (§ 8 InvStG).64 b) Anlegerebene Anleger müssen gem. § 16 Abs. 1 InvStG alle Investmenterträge versteuern, namentlich laufende Fonds-Ausschüttungen, Veräußerungsgewinne und die sog. Vorabpauschale. Für Privatpersonen gilt gem. § 20 Abs. 1 Nr. 3 EStG die Abgeltungssteuer iHv 25% zzgl. SolZ (§ 32d Abs. 1 EStG). Von betrieblichen Anlegern und steuerpflichtigen Körperschaften erzielte Investmenterträge unterliegen der vollen Körperschafts- und Gewerbesteuerpflicht. Durch die Vorabpauschale gem. § 18 InvStG soll bei Investmentfonds, die ihre Erträge (teilweise) thesaurieren, eine dauerhafte Thesaurierungsbegünstigung mit entsprechendem Stundungseffekt vermieden werden.65
V. Ausblick Der enorme Bedarf an Infrastrukturinvestitionen – zumal im Zusammenhang mit dem Ausbau der Energie-, Daten- und Nachhaltigkeitsinfrastruktur – hat den Markt für Infrastruktur-AIFs beflügelt. Weiterer Triebfaktor ist das Niedrigzinsumfeld, das die institutionelle Anlage in Infrastruktur zu Rendite- und Diversifikationszwecken sinnvoll erscheinen lässt. Als Konsequenz sind neue Anlagestrukturen und -konzepte insbesondere für institutionelle Anleger entstanden. Zu bemerken ist dies insbesondere im regulierten Fondsbereich. Seit Inkrafttreten des KAGB im Jahr 2013 ist der SpezialAIF gem. § 1 Abs. 6 KAGB zum vorherrschenden Anlagevehikel zur Initiierung und Finanzierung von Infrastrukturprojekten in Europa und darüber hinaus avanciert. Dieser Beitrag zu Ehren von Christine Windbichler hat den rechtlichen und ökonomischen Rahmen für Infrastrukturanlagen untersucht. Die Jubilarin weiß selbst am besten, wie schwierig es ist, an der Schnittstelle von Ökonomie und Recht – zumal in mehreren Sparten wie dem Wettbewerbsrecht, dem Gesellschafts- und Arbeitsrecht – über Jahre hinweg präsent und anerkannt zu sein. Die Vorhersage bedarf keines Propheten, dass die dafür 64
Bspw. gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Anleger, § 8 Abs. 1 Nr. 1 InvStG iVm § 44a Absatz 7 S. 1 EstG. 65 Vgl. Gesetzesbegründung InvStG, BR-Drs. 119/16, 98 f.; ausf. vgl. Stadler/Bindl DStR 2016, 1953, 1958 f.
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erforderliche Konstanz und Nüchternheit im politischen Tagesgeschäft selten anzutreffen sind. Fest steht: Die Inanspruchnahme der Privatwirtschaft bedarf der Berücksichtigung einer Vielzahl rechtlicher und steuerlicher, teils auch auf europäischer Ebene festgezurrter Details. Soll die Energie-, Datenund Nachhaltigkeitswende gelingen, muss solchen Details Aufmerksamkeit gewidmet werden.
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Schriftenverzeichnis
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Schriftenverzeichnis Schriftenverzeichnis
Schriftenverzeichnis Christine Windbichler Monographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Aufsätze und Buchbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Urteilsanmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V.
Mitherausgeberschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Sonstige Veröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
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Schriftenverzeichnis
I. Monographien Unternehmensverträge und Zusammenschlußkontrolle Carl Heymanns Verlag, Köln 1977, XXIV, 108 S. (Abhandlungen zum deutschen und europäischen Handels- und Wirtschaftsrecht Bd. 16) Informelles Verfahren bei der Zusammenschlußkontrolle. Überlegungen zu den sogenannten Zusagen mit besonderer Berücksichtigung der Praxis im amerikanischen Antitrust-Recht Verlagsgesellschaft Recht und Wirtschaft mbH, Heidelberg 1981, 71 S. (Abhandlungen aus dem gesamten Bürgerlichen Recht, Handelsrecht und Wirtschaftsrecht – Beihefte der ZHR – Heft 52) Arbeitsrecht im Konzern C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1989, LXXIV, 620 S. (Schriften des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln Bd. 56) Großkommentar zum Aktiengesetz 4. Aufl., herausgegeben von Klaus J. Hopt und Herbert Wiedemann, Walter de Gruyter Verlag, Berlin 1999, Vor. §§ 15 ff., §§ 15–22, 255 S.; 5. Aufl. 2017, 265 S. Gesellschaftsrecht. Ein Studienbuch von Götz Hueck, 20. Aufl., C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 2003, XXXVI, 570 S. 21. Aufl. 2008, XXX, 505 S. (mit elektronischer Aktualisierung); 2010 in chinesischer Sprache, China Law Press, Beijing 22. Aufl., 2009, XXXVI, 541 S. (nur noch unter Windbichler) 23. Aufl., 2013, XL, 549 S. 24. Aufl., 2017, XXXIX, 526 S.
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II. Aufsätze und Buchbeiträge Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Beschäftigung von Leiharbeitnehmern, DB 1975, S. 739–743 Der Übergang von Betriebsteilen i.S. von § 613a BGB, RdA 1977, S. 329– 336 (zusammen mit G. von Hoyningen-Huene) Informal Practices to Avoid Merger Control Litigation in the U.S. and West Germany: A Comparison, Antitrust Bulletin XXV (1980), S. 619–662 Die Rechte der Hauptversammlung bei Unternehmenszusammenschlüssen durch Vermögensübertragung, AG 1981, S. 169–175 Nochmals: Zusagen bei der Zusammenschlußkontrolle, WuW 1982, S. 845– 848 Zur Trennung von Geschäftsführung und Kontrolle bei amerikanischen Großgesellschaften. Eine „neue“ Entwicklung und europäische Regelungen im Vergleich, ZGR 1985, S. 50–73 Betriebsführungsverträge zur Bindung kleiner Unternehmen an große Ketten, ZIP 1987, S. 825–829 Arbeitnehmermobilität im Konzern, RdA 1988, S. 95–99 Handelsrechtliche Publizität durch private Datenverbreiter, CR 1988, S. 447– 452 Schadenersatzansprüche des stillen Gesellschafters, ZGR 1989, S. 434–444 Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im Jahre 1988, ZfA 1989, S. 379–478 Mißbräuchliche Aktionärsklagen einschließlich Abfindungsregelungen, in: Timm (Hrsg.), Mißbräuchliches Aktionärsverhalten, Köln 1990 (RWS-Forum 4), S. 35–50 Über die Passion des Wettbewerbs in Deutschland, in: Löwisch (Hrsg.), Festschrift für Fritz Rittner zum 70. Geburtstag, München 1991, S. 793–808 Grenzen der Mitbestimmung in einer marktwirtschaftlichen Ordnung, ZfA 1991, S. 35–52 Arbeitsrecht und Wettbewerb in der europäischen Wirtschaftsverfassung, RdA 1992, S. 74–84
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Arbeitsrechtler und andere Laien in der Baugrube des Gesellschaftsrechts – Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung, in: Heinze (Hrsg.), Arbeitsrecht in der Bewährung, Festschrift für Otto Rudolf Kissel, München 1994, S. 1287– 1303 Ist das Gruppenprinzip in der Betriebsverfassung noch aktuell?, RdA 1994, S. 268–272 Mobilität im Konzern, ZIAS 9 (1995), S. 640–645 Unternehmerisches Zusammenwirken von Arbeitgebern als arbeitsrechtliches Problem. Eine Skizze auch vor dem Hintergrund der EG-Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat in Unternehmensgruppen, ZfA 1996, S. 1–18 Dependent Independence From a Labor Law Perspective, JITE 152 (1996), S. 250–262 Treuepflichtwidrige Stimmrechtsausübung und ihre rechtlichen Folgen, in: Henze/Timm/Westermann (Hrsg.), Gesellschaftsrecht 1995 (RWS-Forum 8), Köln 1996, S. 23–42 Hybriden und Mosaiksteine im Zivilrecht, in: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Preußische Akademie der Wissenschaften), Bd. II, Berlin 1996, S. 107–123 Neue Vertriebsformen und ihr Einfluß auf das Kaufrecht, AcP 198 (1998), S. 261–286 Betriebliche Mitbestimmung als institutionalisierte Vertragshilfe, in: Lieb/ Noack/Westermann (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zöllner, Köln u.a. 1999, S. 999–1009 Arbeitsrecht und Konzernrecht, RdA 1999, S. 146–152 Corporate Governance und Mitbestimmung als „wirtschaftsrechtlicher ordre public“, in: Westermann/Mock (Hrsg.), Festschrift für Gerold Bezzenberger zum 70. Geburtstag, Berlin u.a. 2000, S. 797–805 (zusammen mit G. Bachmann) Alternative Dispute Resolution or Shareholders’ Litigation, in: Baums/Hopt/ Horn (Hrsg.), Liber Amicorum Richard M. Buxbaum, London u.a. 2000, S. 617–627 „Corporate Group Law for Europe“: Comments on the Forum Europaeum’s Principles and Proposals for a European Corporate Group Law, 1 EBOR (2000), S. 265–285 Auskunftspflichten in der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe nach der Richtlinie über Europäische Betriebsräte, in: Lutter/Scholz/ Sigle (Hrsg.), Festschrift für Martin Peltzer, Köln 2001, S. 629–643
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Unternehmensgrenzen als Sollbruchstelle. Aktuelle Konzernrechtsfragen in Europa, in: Albach (Hrsg.), Konzernmanagement. Corporate Governance und Kapitalmarkt, Wiesbaden 2001, S. 57–77 The Public Spirit of the Corporation, 2 EBOR (2001) S. 795–815; auch in: Einhorn (Hrsg.), Liber amicorum Ernst-Joachim Mestmäcker, Den Haag 2003, S. 367–387 Lex Mercatoria, in: Smelser/Baltes (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Amsterdam u.a. 2001, S. 8740–8743 Justifying European Employment Law – Comments, in: Grundmann/Kerber/Weatherill (Hrsg.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market, Berlin 2001, S. 225–229 Die juristischen Bücher des Jahres, NJW 2001, S. 3521–3525 (gemeinsam mit G. Dileher) Betriebs- und Tarifautonomie im internationalen Regimewettbewerb – Zur Funktion von Kollektivverträgen: eine juristische Analyse, in: Sadowski/ Walwei (Hrsg.), Die ökonomische Analyse des Arbeitsrechts, BeitrAB 259 (IAB/IAEEG), Nürnberg 2002, S. 237–255 Der Gemeinsinn der juristischen Person. Großunternehmen zwischen Shareholder Value, Mitbestimmung und Gemeinwohl, in: Münkler/Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, Berlin 2002, S. 165–178 Das Spannungsverhältnis von Kollektivautonomie und Privatautonomie im Arbeitsleben, in: Rüthers (Hrsg.), Der Konflikt zwischen Kollektivautonomie und Privatautonomie im Arbeitsleben, Baden-Baden 2002, S. 101–105 Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und „Geschenkverhältnis“, in: Wank/ Hirte/Frey/Fleischer/Thüsing (Hrsg.), Festschrift für Herbert Wiedemann, München 2002, S. 673–683 Die „kohärente und auf Dauer angelegte Gruppenpolitik“, in: Habersack/ Hommelhoff/Hüffer/K. Schmidt (Hrsg.), Festschrift für Peter Ulmer, Berlin 2003, S. 683–697 Comparative perspectives on Labor Law: Strikes as Conflict and as an Element of Conflict Solution, JITE 159 (2003), S. 117–125 Prozessspezifika unter besonderer Berücksichtigung des faktischen Konzerns, in: Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance. Leitung und Überwachung börsennotierter Unternehmen in der Rechts- und Wirtschaftspraxis, Köln und Stuttgart 2003, S. 605–621 Arbeitnehmerinteressen im Unternehmen und gegenüber dem Unternehmen – Eine Zwischenbilanz, AG 2004, S. 190–196
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Murmeln für Konzerne. Gesellschaftsrecht als Glasperlenspiel, in: Crezelius/Hirte/Vieweg (Hrsg.), Festschrift für Volker Röhricht, Köln 2005, S. 693–707 Cheers and Boos for Employee Involvement: Co-Determination as Corporate Governance Conundrum, 6 EBOR (2005), S. 507–537 Freistellung unternehmerischer Entscheidungen von persönlicher Haftung, in: Immenga/Schwintowski/Kollmorgen (Hrsg.), Wirtschaftliches Risiko und persönliche Verantwortung der Manager, Baden-Baden 2006, S. 42–53 Europäisches Gesellschaftsrecht, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre. Grundfragen der Methoden des Europäischen Privatrechts, Berlin 2006, S. 357–386 (gemeinsam mit K. Krolop) Europäisches Gesellschaftsrecht, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre. Handbuch für Ausbildung und Praxis, Berlin 2006, S. 448–491 (gemeinsam mit K. Krolop) Der gordische Mitbestimmungsknoten und das Vereinbarungsschwert – Regulierung durch Hilfe zur Selbstregulierung?, in: Jürgens/Sadowski/Schuppert/Weiss (Hrsg.), Perspektiven der Corporate Governance, Baden-Baden 2007, S. 282–304 Methodenfragen in einer gestuften Rechtsordnung. Mitbestimmung und körperschaftliche Organisationsautonomie in der Europäischen Gesellschaft, in: Heldrich/Prölss/Koller (Hrsg.), Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, München 2007, S. 1423–1434 Rechtsformen für Law Firms: Ein Blick nach New York, in: Singer (Hrsg.), Rechtsformen anwaltlicher Tätigkeit, Berufsrecht und Berufshaftung, BadenBaden 2007, S. 57–67 Empfehlen sich besondere Regeln für börsennotierte und für geschlossene Gesellschaften?, JZ 2008, S. 840–846 Corporate Governance, in: Emergence of Globalization and Blocs: Lawyers’ Perspectives, Kyongsaewon, Seoul, 2008, S. 236–251 (koreanische Übersetzung) Die Rolle von Amtsträgern der Betriebsverfassung im Aufsichtsrat, in: Grundmann/Kirchner/Raiser/Schwintowski/Weber/Windbichler (Hrsg.), Festschrift für Eberhard Schwark, München 2009, S. 805–821 Dieuthuntiká steléchi: Kaká kai akribá, in: Epitheorisi tou Emporikou Dikaiou, 2009, S. 1–22 (griechisch, übersetzt von Nikolaos Vervessos)
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Bindungswirkung von Standards im Bereich Corporate Governance, in: T. Möllers (Hrsg.), Geltung und Faktizität von Standards, Baden-Baden 2009, S. 19–35 Corporate Governance internationaler Konzerne unter dem Einfluss kapitalmarktrechtlicher Anforderungen, in: Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance. Leitung und Überwachung börsennotierter Unternehmen in der Rechts- und Wirtschaftspraxis, Köln und Stuttgart, 2. Aufl. 2009, S. 825–848 Europäisches Gesellschaftsrecht, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre. Handbuch für Ausbildung und Praxis, Berlin, 2. Aufl. 2010, S. 554–604 (gemeinsam mit K. Krolop) Kapitalmärkte als Vorsorgeinstrument: „Risikobegrenzung“ durch Rechtsnormen?, in: Münkler/Bohlender/Meurer (Hrsg.), Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge, Bielefeld 2010, S. 199– 220 Zukunft des Gesellschaftsrechts: Orientierungen für die kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaft, in: Grundmann/Kloepfer/Paulus/Schröder/Werle (Hrsg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Berlin 2010, S. 1079–1098 Sunlight For a Healthy Body Corporate, in: Grundmann/Haar/Merkt/ Mülbert/Wellenhofer/Baum/v. Hein/v. Hippel/Pistor/M. Roth/Schweitzer (Hrsg.), Festschrift für Klaus J. Hopt, Unternehmen, Markt und Verantwortung, Berlin 2010, Bd. I, S. 1505–1519 Die Sprachen (in) der Rechtswissenschaft, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Welche Sprache(n) spricht die Wissenschaft?, Debatte Heft 10, Berlin 2011, S. 93–96 How Assuring are Auditors’ Assurances? The External Audit as Corporate Governance Element, in: Antapassis/Perakis/Tzouganatos/Soufleros/Michalopoulos/Sotiropoulos (Hrsg.), Festschrift für Nikolaos Rokas, Athen 2012, S. 1389–1400 Das Bild der GmbH in Europa, in: R. Schröder/R. Kanzleiter (Hrsg.), 3 Jahre nach dem MoMiG. 6. Verleihung des Helmut-Schippel-Preises, Berlin 2012, S. 1–12 Dienen staatliche Eingriffe guter Unternehmensführung?, NJW 2012, S. 2625–2630 Die GmbH in anderen Umständen: Gesellschaftsrechtliche Erwägungen zur EuGH-Entscheidung „Danosa“, in: Lutter/Krieger/Schmidt (Hrsg.), Festschrift für Michael Hoffmann-Becking zum 70. Geburtstag, München 2013, S. 1413–1423
1500
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Schrödingers Katze in der Bilanz: Einfluss- und Beherrschungsmöglichkeiten und ihre Spiegelbilder, in: Kaal/Schwartze/Schmidt (Hrsg.), Festschrift für Christian Kirchner, Tübingen 2014, S. 441–451 Eine internationale Landkarte der Personengesellschaften (einschließlich juristische Personen und Gesamthand), ZGR 2014, S. 110–138 Lex Mercatoria, in: J. Wright (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Bd. 13, Amsterdam, 2. Aufl. 2015, S. 915–918 Forschungsmoden ohne Forschung, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Zuviel Mainstream oder: Wie kommt das Neue in die Wissenschaft), Debatte Heft 15, Berlin 2016, S. 93–97 Konzernrecht: Gibt es das?, NZG 2018, S. 1242–1246 Interdisziplinäre Konturen eines Verantwortungsbegriffs für das Recht, RW 2019, S. 34–49 The many Facets of „Group Law“, Católica Law Review Bd. 3 (2019), S. 11–29 Publifizierung und Corporate Governance, in: Bergmann/HoffmannBecking/Noack (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Seibert zum 65. Geburtstag, Köln 2019, S. 1131–1148 Die „menschliche“ juristische Person im Rechtsvergleich, in: Boele-Woelki/Faust/Jacobs/Kuntz/Röthel/Thorn/Weitemeyer (Hrsg.), Festschrift für Karsten Schmidt zum 80. Geburtstag, Bd. II, München 2019, S. 673–684 Objektive organbezogene Besetzungsregeln für den Aufsichtsrat, in: Grundmann/Merkt/Mülbert (Hrsg.), Festschrift für Klaus J. Hopt zum 80. Geburtstag, 2020 (demnächst)
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III. Rezensionen Overrath, Die Stimmrechtsbindung (Köln 1973), ZHR 140 (1976), S. 168– 170 Wieckmann, Das Auskunftsersuchen im System kartellbehördlicher Eingriffsbefugnisse (Frankfurt 1977), ZHR 142 (1978), S. 311–312 Dielmann, Die Beteiligung der öffentlichen Hand an Kapitalgesellschaften und die Anwendbarkeit des Rechts der verbundenen Unternehmen (Frankfurt 1977), ZHR 142 (1978), S. 404–406 Linder, Privatklage und Schadensersatz im Kartellrecht (Baden-Baden 1980), DB 1980, Heft 46, S. XII Lutter, Der Letter of Intent (Köln 1982), AG 1982, S. 139–140 Gromann, Die Gleichordnungskonzerne im Konzern- und Wettbewerbsrecht (Köln 1979), BB 1982, S. 1931 Wolter, Der Schutz des Arbeitnehmers vor betriebsbedingter Kündigung (Berlin 1980), RdA 1983, S. 64–65 Furter, Kollektives Arbeitsrecht und Wirtschaftsrecht (Bern 1982), RdA 1985, S. 49 Klippert, Die wettbewerbsrechtliche Beurteilung von Konzernen (Berlin 1984), ZHR 149 (1985), S. 496–497 Eypeltauer, Verzicht und Unabdingbarkeit im Arbeitsrecht (Wien 1985), RdA 1986, S. 264 Roth, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) mit Erläuterungen, 2. Aufl. (München 1987), JR 1989, S. 41 Siebert/Degen/Becker, Betriebsverfassungsgesetz, 6. Aufl. (Frankfurt 1987), RdA 1989, S. 61 Fabricius/Kraft/Thiele/Wiese/Kreutz, Betriebsverfassungsgesetz, Bd. I: §§ 1–73 mit Wahlordnungen, Gemeinschaftskommentar – GK-BetrVG, 4. Aufl. (Neuwied/Darmstadt 1987), RdA 1989, S. 193 Lupberger, Auskunfts- und Prüfungsverfahren der Kartellbehörden gegen Unternehmen und verfassungsrechtlicher Datenschutz (Köln/Berlin/Bonn/ München 1987), DVBl. 1989, S. 1021–1022 Wiedemann, Die Unternehmensgruppe im Privatrecht. Methodische und sachliche Probleme des deutschen Konzernrechts (Tübingen 1988), RdA 1989, S. 370
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Festschrift für Hans-Joachim Fleck zum 70. Geburtstag am 30. Januar 1988 (ZGR Sonderheft 7, Berlin/New York 1988), RdA 1990, S. 123 Wiedemann, Gesellschaftsrecht („Prüfe Dein Wissen“ Heft 8), 5. Aufl. (München 1988), JR 1991, S. 131 Probleme des Konzernrechts, Symposion zum 80. Geburtstag von Wolfgang Schilling (Beihefte der ZHR Heft 62, Heidelberg 1989), RdA 1991, S. 251 Helle, Konzernbedingte Kündigungsschranken bei Abhängigkeit und Beherrschung durch Kapitalgesellschaften (Berlin 1989), RdA 1991, S. 373–374 Fabricius/Kraft/Thiele/Wiese/Kreutz, Betriebsverfassungsgesetz, Bd. II: §§ 74–132 mit Kommentierung des BetrVG 1952 und des Sozialplangesetzes. Gemeinschaftskommentar (GK-BetrVG), 4. Aufl. (Neuwied 1990), RdA 1993, S. 114 Festschrift für Alfred Kellermann zum 70. Geburtstag am 29. November 1990 (ZGR Sonderheft 10, Berlin/New York 1991), RdA 1993, S. 371–372 Lüttmann, Kontrollwechsel in Kapitalgesellschaften. Eine vergleichende Untersuchung des englischen, US-amerikanischen und deutschen Rechts, BadenBaden 1992, ZWS 115 (1995), S. 141–142 Nick, Konzernbetriebsrat und Sozialplan im Konzern. Zugleich ein Beitrag zur Entwicklung einer interessendualistischen Konzernverfassung (Berlin 1992), RdA 1996, S. 316 Fabricius/Kraft/Thiele/Wiese/Kreutz, Betriebsverfassungsgesetz, Bd. I: §§ 1– 73 mit Wahlordnungen, Gemeinschaftskommentar, 5. Aufl. 1994; Bd. II: §§ 74–132 mit Kommentierung des BetrVG 1952 und des Sozialplangesetzes. Gemeinschaftskommentar (GK-BetrVG), 5. Aufl. 1995 (Neuwied/ Kriftel/Berlin), RdA 1997, S. 52–53 Silberberger, Weiterbeschäftigungsmöglichkeit und Kündigungsschutz im Konzern (Baden-Baden 1994), RdA 1997, S. 182 Sandmann, Die Haftung von Arbeitnehmern, Geschäftsführern und leitenden Angestellten (Tübingen 2001), ZHR 166 (2002), S. 140–144 Langenbucher, Economic Transplants. On Lawmaking for Corporations and Capital Markets (Cambridge 2017), ZHR 182 (2018), S. 721–727
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IV. Urteilsanmerkungen BAG Urt. vom 14.10.1982 – 2 AZR 568/80, SAE 1984, S. 139, 145–148 BAG Urt. vom 20.9.1984 – 2 AZR 73/83, SAE 1985, S. 313, 318–320 BAG Urt. vom 22.5.1986 – 2 AZR 612/85, SAE 1987, S. 129, 133–134 BAG Urt. vom 9.7.1985 – 3 AZR 546/82, SAE 1987, S. 195, 198–199 BAG Urt. vom 5.3.1987 – 2 AZR 623/85, SAE 1989, S. 46, 52–54 BAG Urt. vom 16.10.1987 – 7 AZR 519/86, AP Nr. 69 zu § 613a BGB OLG Karlsruhe Urt. vom 11.6.1991 – 8 U 192/90, EWiR 1991, S. 747 (§ 246 AktG 1/91) BAG Urt. vom 28.11.1989 – 3 AZR 118/88, SAE 1991, S. 294 BAG Urt. vom 27.11.1991 – 2 AZR 255/91, EWiR 1992, S. 499 (§ 1 KSchG 1/92) BGH Urt. vom 15.6.1992 – II ZR 18/91, EWiR 1992, S. 953 (§ 295 AktG 1/92) BAG Urt. vom 27.11.1991 – 2 AZR 255/91, AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Konzern BGH Urt. vom 28.9.1992 – II ZR 299/91, JR 1994, S. 60–61 BAG Urt. vom 28.4.1992 – 3 AZR 142/91 und 3 AZR 356/91, AR-Blattei ES 460 (Betriebliche Altersversorgung) Nr. 287a und b BAG Beschl. vom 11.8.1993 – 7 ABR 34/92, AR-Blattei ES 530.12.1 (Betriebsverfassung XII A) Nr. 5 BAG Urteil vom 16.3.1993 – 3 AZR 299/92 –, EzA § 7 BetrAVG Nr. 46 LAG Frankfurt vom 28.3.1994 – 10 Sa 595/93, EWiR § 611 BGB 5/94, S. 967 BAG Urt. vom 28.4.1992 – 3 AZR 244/91 und vom 6.10.1992 – 3 AZR 242/91, AR-Blattei ES 460 Nr. 297 und 298 BAG Urt. vom 4.10.1994 – 3 AZR 910/93, DZWir 1995, S. 327, 332–333 BAG Beschl. vom 23.8.1995 und vom 10.7.1996 – 10 AZR 908/94, AP Nr. 4 zu § 11 GmbHG BAG Beschl. vom 20.12.1995 – 7 ABR 8/95, SAE 1997, S. 139, 143–146 BayObLG vom 17.9.1998 – 3Z BR 37/98, EWiR § 179a AktG 1/98, S. 1057
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BAG Urt. vom 3.12.1997 – 7 AZR 764/96, SAE 1999, S. 84–85 BAG Urt. vom 8.9.1998 – 3 AZR 185/97, RdA 2000, S. 238–242 OLG Celle Urt. vom 7.3.2001 – 9 U 137/00, EWiR § 119 AktG 2/01, S. 651 BAG Beschl. vom 25.10.2000 – 7 ABR 18/00, SAE 2001, S. 207, 208–210
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V. Mitherausgeberschaften Zeitschrift für Arbeitsrecht Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Grundlagen und Schwerpunkte des Privatrechts in europäischer Perspektive Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden (Buchreihe ab 1999) Europäisches und Internationales Privat-, Bank- und Wirtschaftsrecht DeGruyter Recht, Berlin (Buchreihe ab 2004) The Journal of Corporate Law Studies Hart Publishing, Oxford (editorial advisory board) Nova Acta Leopoldina NAL-live Section editor für die Klasse IV: Geistes-, Sozial- und Verhaltenswissenschaften
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VI. Sonstige Veröffentlichungen DPI Graduate Student Interne Programme bei den Vereinten Nationen in New York, Jura 1980, S. 168 Ehegattensplitting und Familienlastenausgleich – Einige Arbeitsergebnisse der Steuerkommission des Deutschen Juristinnenbundes –, BlStSozArbR 1983, S. 158–160 Supreme Court Justice Sandra Day O’Connor in München, DAJV Newsletter 3/4, 1983, S. 33 Special Characteristics of American Labor Relations and Labor Law, DAJV Newsletter 2, 1985, S. 40 Arbeitsrecht im Konzern, Gießener Universitätsblätter 22 (1989), Heft 2 S. 75–78 Arbeitsrechtliche Vertragsgestaltung im Konzern, Verlag Kommunikationsforum Recht Wirtschaft Steuern, Köln 1990, VI, S. 64 (RWS-Skript 216) Götz Hueck zum 70. Geburtstag, NJW 1997, S. 2581 Der „Neue Mittelstand“ – Memorandum des Beirates für Fragen des gewerblichen Mittelstands und der freien Berufe des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, mit: Dietz/Geiler/Herrmann/Jaeggle/Kayser/ Knappe/Kuhnke/Links/Müller-Kästner/Sandbrink/Winkler; in: Jahrbuch für Mittelstandsforschung 2/2000, Wiesbaden 2000, S. 19–38 Götz Hueck zum 75. Geburtstag, NJW 2002, S. 2847 Symposion für Prof. Dr. Dr. h.c. Götz Hueck, Gesellschaftsrecht und Arbeitsrecht, AG 2003, S. 1–2 (gemeinsam mit K. Schmidt) Gesellschaftsrechtliche Umsetzung der Gruppenbesteuerung, 15. Berliner Steuergespräch 2005 (vgl. Welling/Richter, FR 2005, S. 857, 859) Whose Company Is It, Anyway? Employee representatives in the boardroom: a corporate governance model under fire, The Atlantic Times, February 2006 Rechtswissenschaft als intellektuelle Hochreck-Übung in einer erschütterten Gesellschaft, in: Alexander von Humboldt Stiftung, Wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Argentinien: Begrenzung und Zuversicht. Arbeitsund Diskussionspapier 5/2006, S. 20–23 Kausalität im Zivilrecht, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaft (Hrsg.), Kausalität, Debatte Heft 5, Berlin 2007, S. 65–73
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Frauenquote für Aufsichtsräte (börsennotierter) Unternehmen? Stellungnahme zum Antrag gem. BT-Drucks 16/5279 v. 9.7.2007 für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages, Sachverständigenanhörung am 7.5.2008 Die Finanzkrise und die Forschung, in: forschung (Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft) 4/2008, S. 2/3 The Financial Crisis and Academic Research, editorial in: german research (Magazine of the German Research Foundation) 3/2008, S. 2–3 Corporate Governance und Corporate Social Responsibility als Elemente der freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in: Gentz/Kirchner (Hrsg.), Der Preis der Freiheit. Wiedergewinnung von Vertrauen in eine freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, Berlin 2011, S. 83–100 Seien wir wählerisch – gehen wir wählen! in: forschung (Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft) 2/2011 Selectivity and Transparency in Research Funding, Editorial in: German Research (Magazine of the German Research Foundation) 2/2011 Rechtsvergleich als verbindende Disziplin in Wissenschaft und Praxis: Ein Erfahrungsbericht. Presentation at the XXI Meeting of the Alexander von Humboldt Association of Spain, Barcelona 14.9.2012, in: Relaciones Científico-Culturales Hispano-Alemanas, Documentos Humboldt 12, 2013, S. 77–92 Übersetzung – Interdisziplinarität – Öffentlichkeit, Podium im Rahmen des Leopoldina-Symposiums Sprache der Wissenschaft – Sprache der Politikberatung. Vermittlungsprozesse zwischen Wissenschaft und Politik, 15./ 16. Oktober 2014, Halle (Saale) (Dokumentation ISBN 978-3-8047-3446-3) Forschungsmoden ohne Forschung, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaft (Hrsg.), Zuviel Mainstream oder: Wie kommt das Neue in die Wissenschaft?, Debatte Heft 15, Berlin 2016, S. 93–97, 112–113 Realitätenbesitzerswitwe. Ein Grabstein für die Juristensprache, in: Fröhlich/Grötschel/Klein (Hrsg.), Abecedarium der Sprache, Berlin 2019, S. 189–192
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Autorenverzeichnis
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Autorenverzeichnis Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis CHRISTIAN ARMBRÜSTER, Dr. Universitätsprofessor an der Freien Universität Berlin GREGOR BACHMANN, Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der HumboldtUniversität zu Berlin THEODOR BAUMS, Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main WALTER BAYER, Dr., Universitätsprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena FRANK BAYREUTHER, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Passau BURKHARD BOEMKE, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Leipzig CHRISTOPH BRÖMMELMEYER, Dr., Universitätsprofessor an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) RICHARD M. BUXBAUM, A.B., LL.B., LL.M., Universitätsprofessor an der UC Berkeley School of Law MATTHIAS CASPER, Dr., Dipl.-Volkswirt, Universitätsprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster GERHARD DANNEMANN, Dr., M.A., Universitätsprofessor an der HumboldtUniversität zu Berlin KATHARINA DE LA DURANTAYE, Dr., LL.M., Universitätsprofessorin an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) MEINRAD DREHER, Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Richter des Verfassungsgerichtshofs RheinlandPfalz in Mainz JENS EKKENGA, Dr., Universitätsprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen CHRISTOPH ENGEL, Dr. Dr. h.c., Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn ANDREAS ENGERT, Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der Freien Universität Berlin LORENZ FASTRICH, Dr., Professor a.D. an der Ludwig-Maximilians-Universität München ANDREAS MARTIN FLECKNER, Dr., LL.M., M.P.A., Universitätsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin HOLGER FLEISCHER, Dr. Dr. h.c., LL.M., Dipl.-Kfm., Direktor am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg AXEL FLESSNER, Dr., Universitätsprofessor (em.) an der Humboldt-Universität zu Berlin TIM FLORSTEDT, Dr., Universitätsprofessor an der EBS in Wiesbaden MARTIN FRANZEN, Dr., Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München
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INGA FROHMANN, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Büroleiterin, Deutscher Bundestag, Büro Dr. Heribert Hirte, MdB Berlin CARSTEN GERNER-BEUERLE, Dr., LL.M., M.Sc., Universitätsprofessor am University College London STEFAN GRUNDMANN, Dr. Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der HumboldtUniversität zu Berlin BARBARA GRUNEWALD, Dr., Universitätsprofessorin a.D. an der Universität zu Köln MATHIAS HABERSACK, Dr., Universitätsprofessor an der Ludwig-MaximiliansUniversität München LUTZ HAERTLEIN, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Leipzig JOHANNES HAGER, Dr., Universitätsprofessor a.D. an der Ludwig-MaximiliansUniversität München SILVIO HÄNSENBERGER, Dr., Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen KRISTINA HARRER-KOULIEV, Fachanwältin für Arbeitsrecht in Berlin FELIX HARTMANN, Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der Freien Universität Berlin MARTIN HENSSLER, Dr., Universitätsprofessor an der Universität zu Köln HERIBERT HIRTE, Dr., LL.M., Mitglied des Deutschen Bundestages, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz und Vorsitzender des Unterausschusses Europarecht, Universitätsprofessor an der Universität Hamburg PETER HOMMELHOFF, Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor (em.) an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg KLAUS J. HOPT, Dr. Dr. Dr. h.c. mult., M.C.J. (NYU), Direktor em. am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg MATTHIAS JACOBS, Dr., Universitätsprofessor an der Bucerius Law School Hamburg ABBO JUNKER, Dr., Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München SUSANNE KALSS, Dr., LL.M., Universitätsprofessorin an der Wirtschaftsuniversität Wien JENS KOCH, Dr., Universitätsprofessor an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn MICHAEL KORT, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Augsburg RÜDIGER KRAUSE, Dr., Universitätsprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen GERD KRIEGER, Dr., Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Hengeler Mueller in Düsseldorf KASPER KROLOP, PD Dr., Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin, Bundesministerium der Finanzen Berlin KATJA LANGENBUCHER, Dr., Universitätsprofessorin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main THOMAS LOBINGER, Dr., Universitätsprofessor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
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LINA LUYKEN, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin ANJA MENGEL, Dr., LL.M., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht und Partnerin bei Schweibert Leßmann & Partner in Berlin, Honorarprofessorin an der Bucerius Law School in Hamburg HANNO MERKT, Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg RALF MICHAELS, Dr., LL.M., Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg SVEN MÖLLER, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena FLORIAN MÖSLEIN, Dr., LL.M., Dipl.-Kfm., Universitätsprofessor an der Philipps-Universität Marburg HANS-FRIEDRICH MÜLLER, Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der Universität Trier ANDREAS NELLE, Dr., MPA, Professor an der Humboldt-Universität und Rechtsanwalt und Partner bei Raue PartmbB in Berlin ULRICH NOACK, Dr., Universitätsprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf EVA INÉS OBERGFELL, Dr., Universitätsprofessorin und Vizepräsidentin der Humboldt-Universität zu Berlin HARTMUT OETKER, Dr., Universitätsprofessor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Richter am Thüringer Oberlandesgericht CHRISTOPH G. PAULUS, Dr., LL.M., Universitätsprofessor a.D. an der Humboldt-Universität zu Berlin HERMANN REICHOLD, Dr., Universitätsprofessor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen REINHARD RICHARDI, Dr., Universitätsprofessor (em.) an der Universität Regensburg KARL RIESENHUBER, Dr., M.C.J., Universitätsprofessor an der Ruhr-Universität Bochum und Richter am Oberlandesgericht Hamm MARKUS ROTH, Dr., Universitätsprofessor an der Philipps-Universität Marburg GIESELA RÜHL, Dr., LL.M., Universitätsprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin FRANZ JÜRGEN SÄCKER, Dr. iur. Dr. rer.pol. Dres. h.c., Universitätsprofessor (em.) an der Freien Universität Berlin CARSTEN SCHÄFER, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Mannheim JAN-ERIK SCHIRMER, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HumboldtUniversität zu Berlin KARSTEN SCHMIDT, Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor an der Bucerius Law School in Hamburg KLAUS ULRICH SCHMOLKE, Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg WOLFGANG SCHÖN, Dr. Dr. h.c., Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen und Honorarprofessor an der LudwigMaximilians-Universität München CLAUDIA SCHUBERT, Dr., Universitätsprofessorin an der Universität Hamburg
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JOACHIM SCHULZE-OSTERLOH, Dr., Universitätsprofessor (em.) an der Freien Universität Berlin PETER SCHÜREN, Dr., Universitätsprofessor an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster ULRICH SEIBERT, Dr., Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Berlin WOLFGANG SERVATIUS, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Regensburg REINHARD SINGER, Dr., Universitätsprofessor a.D. an der Humboldt-Universität zu Berlin GERALD SPINDLER, Dr., Dipl.-Volkswirt, Universitätsprofessor an der GeorgAugust-Universität Göttingen THOMAS STAPPERFEND, Dr., Präsident des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg und Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin GAABRIEL TAVITS, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Tartu CHRISTOPH TEICHMANN, Dr., Universitätsprofessor an der Julius-MaximiliansUniversität Würzburg JAN THIESSEN, Dr., Universitätsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin TOBIAS TRÖGER, Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main EBERHARD VETTER, Dr., Rechtsanwalt und Partner bei Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Köln GERHARD WAGNER, Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin GABRIELA V. WALLENBERG, Dr., Professorin i. R. an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg ARTUR WANDTKE, Dr., Universitätsprofessor a. D. an der Humboldt-Universität zu Berlin MARTIN WEBER, Dr., außerplanmäßiger Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin MANFRED WEISS, Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor (em.) an der GoetheUniversität Frankfurt am Main AXEL V. WERDER, Dr., Universitätsprofessor an der Technischen Universität Berlin HARM PETER WESTERMANN, Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor (em.) an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen HERBERT WIEDEMANN, Dr., Universitätsprofessor (em.) an der Universität zu Köln ISABELLE WILDHABER, Dr., Universitätsprofessorin an der Universität St. Gallen JAAP WINTER, Dr., Universitätsprofessor an der Vrije Universiteit Amsterdam, Phyleon Leadership & Governance Amsterdam ROLAND WOLF, Geschäftsführer bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Berlin JOACHIM WUTTE, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München
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MIKO YEBOAH-SMITH, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg DIRK ZETZSCHE, Dr., LL.M., Universitätsprofessor an der Universität Luxemburg
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