»Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.«: Zur Kooperationspraxis zwischen Theater und Schule im Berliner Modellprojekt ›JUMP & RUN‹ [1. Aufl.] 9783839427385

What does theater want in school and what does school want from theater? What does it mean to regard artistic processes

145 78 24MB

German Pages 360 [364] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Bildstrecke: Sitzen
Zu diesem Buch
Jump & Run. Ein Schul-Theater-Projekt zwischen Verweigerung und Transformation
Konzeptpapier (2010) zum Projekt JUMP & RUN
Bildstrecke: Probenprozess- Fotos (September 2011 – Mai 2012)
Alles entsteht aus einem Interesse heraus. Beteiligung und Nachhaltigkeit in Programmen Kultureller Bildung
→ Kapital, symbolisches
→ Nomos / Illusio
Darüber, hinaus. Mehrwert mit Marx: den über den Wert der Arbeitskraft hinausgehenden Teil der Wertschöpfung
→ Subjekt (aus der Sicht ›klassischer‹ Subjektphilosophie)
→ Subjekt (aus poststrukturalistischer Sicht)
→ Diskurs und Dispositiv
Springend und rennend die Schule verändern? Zum Entwicklungspotenzial von Kooperationsprojekten zwischen Theatern und Schulen
→ Habitus
Theatermachen gegen den Takt der Klingel. Analytische Betrachtungen zweier Projekte im Rahmen von Jump & Run
Bildstrecke: Festivalprogrammheft & Fotos aus den Projektpräsentationen (Mai 2012)
→ Dezentrierung
→ Subjektposition
Der geschulte Blick. Bericht aus der Begleitforschung zum Projekt Jump & Run
→ Anrufung (Interpellation)
→ Subalternität
Andere Wege der Bildung? Subjektanalytische und bildungswissenschaftliche Einsätze zu Jump & Run
→ Performativität
→ Anerkennung
Jump & Run? Sitzen und Seinlassen! Skizze eines Forschungsprojekts zum Potenzial aktiven Nichttuns
Programm zur Tagung Inszenierung zwischen Verweigerung und Transformation, November 2012
ABC für Aussteiger
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»Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.«: Zur Kooperationspraxis zwischen Theater und Schule im Berliner Modellprojekt ›JUMP & RUN‹ [1. Aufl.]
 9783839427385

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Camilla Schlie / Sascha Willenbacher (Hg.) »Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.«

Theater | Band 64

Camilla Schlie ist Hildesheimer Kulturwissenschaftlerin und arbeitet derzeit am Theater Erlangen als Theaterpädagogin und Dramaturgin. Von 2011 bis 2014 war sie Dramaturgin und Theaterpädagogin am Theater an der Parkaue Berlin und dabei Teil der Künstlerischen Leitung von JUMP  &  RUN – Schule als System.

Sascha Willenbacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for Art Education und im Bachelor of Arts in Theater an der Zürcher Hochschule der Künste. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Frage nach den Bildungspotenzialen der Künste im Kontext Schule. Bis Sommer 2011 war er Dramaturg und Theater­pädagoge am Theater an der Parkaue Berlin und unter anderem an der Konzeption von JUMP  &  RUN – Schule als System beteiligt.

Camilla Schlie / Sascha Willenbacher (Hg.)

» Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke. « Zur Kooperationspraxis zwischen Theater und Schule im Berliner Modellprojekt › JUMP  &  RUN ‹

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

JUMP  &  RUN – Schule als System ist ein Projekt von

© 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheber­ rechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Redaktion und Lektorat: Camilla Schlie, Erlangen Sascha Willenbacher (IAE), Zürich Lektorat Begriffserklärungen: Prof. Thomas Sieber, Zürich Redaktionelle Mitarbeit: Kristina Stang, Berlin

Gefördert durch Mittel der PwC-Stiftung Jugend - Bildung - Kultur und des Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung

Konzeption: Mijke Harmsen, Düsseldorf  / Camilla Schlie / Kristina Stang  / Sascha Willenbacher Korrektorat: Anne Paffenholz, Berlin Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Erik-Jan Ouwerkerk, Berlin Innenlayout / Satz: Katja Gusovius, Berlin Gestaltung der Projektmedien: Kerstin Finger, Berlin, fotografiert von Moira Fischer (Festivalprogrammheft: S. 134, 139, 143, 148, 152, 156, 161, 166, 171, 176, 180, 184; Ereigniskarten: S. 190; Programm zur Tagung; als abgedruckte PDF: S. 356 / 357)

Diese Publikation enstand im Auftrag der beteiligten Theater unter wissenschaftlicher Begleitung des Institute for Art Education (IAE) der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK.

Illustrationen: Stefanie Klekamp, Zürich Fotos: Erik-Jan Ouwerkerk / Kristina Stang (S. 30) / Sascha Willenbacher (S. 20) Projektverlaufsskizzen (S. 243/244, S. 265/266): abfotografierte Originale, anonymisiert Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2738-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2738-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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hdk Zürcher Hochschule der Künste Institute for Art Education

inhalt

Bildstrecke: Sitzen | 8 Zu diesem Buch von Camilla Schlie und Sascha Willenbacher | 22 JUMP & RUN Ein Schul-Theater-Projekt zwischen Verweigerung und Transformation Editorial von Mijke Harmsen, Camilla Schlie und Kristina Stang | 31 konzeptpapier (2010) zum Projekt JUMP & RUN Mijke Harmsen, Kristina Stang und Sascha Willenbacher | 42 Bildstrecke: Probenprozess-Fotos (September 2011 – Mai 2012) | 50 Alles entsteht aus einem Interesse heraus Beteiligung und Nachhaltigkeit in Programmen Kultureller Bildung Heike Riesling-Schärfe | 69 → Kapital, symbolisches | 78 → Nomos / Illusio | 83 Darüber, hinaus Mehrwert mit Marx: den über den Wert der Arbeitskraft hinausgehenden Teil der Wertschöpfung Carmen Mörsch | 85 → Subjekt (aus der Sicht ›klassischer‹ Subjektphilosophie) | 88 → Subjekt (aus poststrukturalistischer Sicht) | 94 → Diskurs und Dispositiv | 100 Springend und rennend die Schule verändern? Zum Entwicklungspotenzial von Kooperationsprojekten zwischen Theatern und Schulen Dorothea Hilliger | 107

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→ Habitus | 118 Theatermachen gegen den Takt der Klingel Analytische Betrachtungen zweier Projekte im Rahmen von JUMP & RUN Anne Hartmann | 127 Bildstrecke: Festivalprogrammheft & Fotos aus den Projektpräsentationen (Mai 2012) | 134 → Dezentrierung | 188 → Subjektposition | 189 Der geschulte Blick Bericht aus der Begleitforschung zum Projekt JUMP & RUN Sascha Willenbacher | 191 → Anrufung (Interpellation) | 316 → Subalternität | 317 Andere Wege der Bildung? Subjektanalytische und bildungswissenschaftliche Einsätze zu JUMP & RUN Elisabeth Sattler | 319 → Performativität | 338 → Anerkennung  | 343 JUMP & RUN? Sitzen und Seinlassen! Skizze eines Forschungsprojekts zum Potenzial aktiven Nichttuns Alice Lagaay | 345 Programm zur Tagung Inszenierung zwischen Verweigerung und Transformation, November 2012  |  356 / 357 ABC für Aussteiger Klasse 7.2 der Lina-Morgenstern-Schule, Udo Kesy, Antje Siehler & Marcio Carvalho | 358 / 359

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Danke an Katja Gusovius, Anne Hartmann, Dorothea Hilliger, Stefanie Klekamp, Alice Lagaay, Carmen Mörsch, Erik-Jan Ouwerkerk, Heike Riesling-Schärfe, Elisabeth Sattler und Thomas Sieber. Und an alle, die auf diese Publikation gewartet haben.

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[...] dann sitzt du da drin und kuckst aus dem Fenster und du siehst auch irgendwie Asphalt und Bäume und du kuckst nach vorne und siehst 'ne Tafel und ein Gesicht, das redet. Um dich herum siehst du Schüler in unterschiedlichen Haltungen und auf einmal nimmst du das total an und dann kamen bei mir unglaublich viele Erinnerungen hoch: wie ich frühs aufgestanden bin, wann ich aufgestanden bin, wie ich zur Schule gegangen bin, wie mein Gefühl zur Schule war […]. Zitat einer projektbeteiligten Künstlerin im Rahmen der Begleitforschung (erste Interviewserie, September / Oktober 2011)

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+ Zu diesem Buch von Camilla Schlie und Sascha Willenbacher, Mai 2015

Seit dem ersten informellen Konzeptgespräch zum Modellprojekt JUMP & RUN – Schule als System (am Fahrradständer nach einer Premiere) sind sechs Jahre vergangen. Mit der vorliegenden Publikation findet es seinen Abschluss, so dass die darin versammelten Beiträge helfen sollen, einige Reflexionen zu diesem Projekt dem Feld Kulturelle Bildung zur Verfügung zu stellen. Dabei nimmt die Publikation das Modellprojekt JUMP  &  RUN – Schule als System als institutionell gerahmte Vermittlungspraxis in den Blick. Diese Verortung vorzunehmen, ist relevant, weil die am Projekt beteiligten Theater und Schulen als Institutionen des öffentlichen Rechts verfasst sind, aber unterschiedlichen sozialen Feldern – nämlich Kunst und Bildung – angehören. Die Theater und Schulen sehen sich daher mit unterschiedlichen Erwartungen und Anforderungen konfrontiert. Zudem wird das institutionelle Handeln von feldintern unterschiedlichen Wertungshorizonten strukturiert. Das hat zur Folge, dass Theater und Schulen teils differierenden kultur- beziehungsweise bildungspolitischen Zielvorgaben unterliegen und für die beteiligten Akteur_innen je nach Feld sehr unterschiedliche Dinge erstrebenswert sind. Das Projekt und dessen Reflexion bewegen sich daher im Spannungsfeld zwischen den Interessen der am Projekt beteiligten Institutionen sowie den Interessen und Perspektiven der am Projekt beteiligten Künstler_innen, Lehrer_innen, Dramaturg_innen, Theaterpädagog_innen und Schüler_innen, die aber ihrerseits den Institutionen angehören und in einem wechselseitigen Verhältnis zu ihnen stehen. Das angesprochene Spannungsfeld ist insofern gegeben, weshalb es in jedem Kooperationsprojekt zwischen Theater und Schule zum Tragen kommen kann. Im Fall von JUMP  &  RUN – Schule als System trat das Spannungsfeld punktuell jedoch besonders deutlich zutage; möglicherweise deshalb, weil das Projekt als Kunstprojekt im Kontext Schule gerahmt wurde. Diese auf

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Konzeptebene vorgenommene programmatische Setzung der Projektleitung birgt hinsichtlich der Schüler_innen einerseits emanzipatorisches Potenzial, sie kann aber zugleich in Verwertungslogiken und Sichtbarkeitszwänge sowohl künstlerischer Produktion an Theatern als auch des Bildungsbereichs hineinführen. Die Publikation versammelt vor diesem Hintergrund Text- und Bildmaterial sowie quer verlaufende Bezüge zu unterschiedlichen Diskursen, um die Praxis des Projekts mit Theorieansätzen zu durchkreuzen. Die Anordnung der Textbeiträge, Dokumente und Bilder im vorliegenden Band möchte die Institution ›Schule‹ als ein Wechsel- und Zusammenspiel von Personen, Objekten, Räumen, Normen und Regeln erkennbar machen, was sich nicht zuletzt in den Bildern des Fotografen Erik-Jan Ouwerkerk spiegelt und den am Projekt beteiligten Schüler_innen verdankt. Letztere trugen in den Probenprozessen und den Projektpräsentationen ihren Anteil zu den abgebildeten Fotografien bei, verfassten Texte, aus denen in einigen Beiträgen zitiert wird und die im Falle des Texts ›ABC für Aussteiger‹ in Gänze abgedruckt sind (s. Seite 358/359). Auch der Titel der Publikation ›Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.‹ stammt aus einer der insgesamt zwölf Theater-Performances, die im Rahmen von JUMP  &  RUN – Schule als System erarbeitet wurden. ›Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.‹ richtet sich an künstlerisch Verantwortliche in den Theatern, an Theaterkünstler_innen, die im Kontext Schule arbeiten, sowie an Lehrer_innen, die sich in Kooperationen mit Theatern engagieren. Und zwar mit dem Ziel, die Praxis der Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen im Rahmen von Kooperationsprojekten dahingehend entwickeln zu helfen, dass Kunst und Schule nicht mehr als oppositionelle, hierarchische Gegensätze vorgestellt werden. Studierende der Theaterpädagogik und der Dramaturgie können unter anderem von der Publikation profitieren, weil die pädagogisch-künstlerische Praxis von JUMP  &  RUN – Schule als System mit Konzepten aus den Kultur-, Sozial- und Erziehungswissenschaften in Beziehung gesetzt wird. Dies geschieht in den Beiträgen der Autor_innen, aber auch anhand der Erläuterung (Sascha Willenbacher, lektoriert von Thomas Sieber) und Illustration (Stefanie Klekamp) von insgesamt zwölf (macht- und hegemoniekritischen) Begriffen, die über das Buch verteilt sind. Die rekapitulierende, kontextualisierende Darstellung der Begriffe ↘ Subjekt, ↘ symbolisches Kapital, ↘ Nomos / Illusio, ↘ Diskurs / Dispositiv, ↘ Habitus, ↘ Dezentrierung, ↘ Subjektposition, ↘ Anrufung, ↘ Subalternität, ↘ Performativität und ↘ Anerkennung soll die Nachvollziehbarkeit

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einzelner Textbeiträge erleichtern sowie deren Analysepotenzial für Kooperationsprojekte außerhalb von JUMP  &  RUN – Schule als System greif bar machen. Sie sind so ausgewählt, dass sie Anschlüsse untereinander ermöglichen, weil sie den Fokus sowohl auf die wechselseitige Hervorbringung von ↘ Subjekten und sozialen Strukturen im Sinne einer aneignenden Unterwerfung als auch auf die Relation des Subjekts zum Anderen legen. Dreh- und Angelpunkt für das Zustandekommen der vorliegenden Publikation ist die zu Beginn des Projekts in Auftrag gegebene Begleitforschung (der Bericht findet sich ab Seite 191) sowie die Tagung ›JUMP  &  RUN – Schule als System: Inszenierung zwischen Verweigerung und Transformation‹, die am 8. und 9. November 2012 im Theater an der Parkaue stattfand. Diese hatte zum Ziel, anhand der gemachten Erfahrungen im Projekt darüber nachzudenken, welche Schlüsse für künftige Kooperationsprojekte gezogen werden können. Hierzu waren die am Projekt beteiligten Künstler_innen und Lehr­er_ in­nen sowie Kolleg_innen aus dem theaterpädagogischen, schulischen und theaterbetrieblichen Kontext eingeladen. In den Vorträgen wurde das Projekt von unterschiedlichen Positionen und Perspektiven aus befragt, während in parallelen Tischgesprächen projektbezogene Fragestellungen formuliert und diskutiert wurden (das Programm der Tagung findet sich auf den Seiten 356/357 dokumentiert). Das vorliegende Buch versteht sich aber nicht als Tagungsdokumentation, sondern als eine Projektreflexion, deren Inhalte mit den ausschnitthaften Einblicken in die Arbeitsprozesse an den Schulen sowie den Einblicken in die Abschlusspräsentationen auf der Bühne in Beziehung treten sollen. Mit ›Einblicken‹ sind auf visueller Ebene die Bildstrecken zu den Themen ›Sitzen‹, ›Probenprozess‹ und ›Projektpräsentation‹ gemeint und auf Textebene die Dokumentation des Konzeptpapiers (s. Seite 42) sowie der beiden Programme (Festival und Tagung, s. Seiten 134 – 187 und 356/357). Das Thema der Bildstrecke ›Sitzen‹ bezieht sich assoziativ auf den Titel des Beitrags von Alice Lagaay: ›JUMP & RUN? Sitzen und Seinlassen !‹. Der vorliegende Band versammelt die teilweise neu auf bereiteten und/ oder redigierten Tagungsbeiträge von Anne Hartmann, Dorothea Hilliger, Carmen Mörsch und Heike Riesling-Schärfe sowie ›externe‹ Beiträge von Alice Lagaay und Elisabeth Sattler. Er wird eingeleitet von Mijke Harmsen, Kristina Stang und Camilla Schlie, die das Projekt künstlerisch geleitet haben und die in ihrem Editorial den Prozessverlauf aus ihrer Perspektive

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reflektierend darstellen. Sie benennen konzeptionelle Bausteine, die zum Gelingen der Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen, Lehrer_innen und Schüler_innen beitragen sollten, beschreiben ihre eigenen Intentionen, die mit dem Projekt verknüpft waren, und skizzieren anhand von Fragen aus dem Prozessverlauf die Auseinandersetzungen zwischen den am Projekt Beteiligten. Die im Editorial aufgeworfenen Fragen – zum Beispiel nach den gegenseitigen Rollenbildern- und Erwartungen – korrespondieren mit Fragen, die im Bericht der Begleitforschung auf Interviewbasis untersucht werden.

Heike Riesling-Schärfe stellt in ihrem Beitrag die Behauptung in Frage, dass durch Programme der Kulturellen Bildung an Schulen Kinder und Jugendliche ernsthaft beteiligt werden: »Wo lassen wir sie nur mitwirken, wo mitbestimmen und wo ist Platz, etwas selbst zu bestimmen?« Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen als Stiftungsvertreterin (zum damaligen Zeitpunkt PwC-Stiftung) stellt sie die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Beteiligung und Nachhaltigkeit heraus und macht ihn zum Ausgangspunkt für Projekte Kultureller Bildung an Schulen. Sie beschreibt unterschiedliche Grade der Schüler_innenorientierung mit ihren partizipativen Anteilen und verweist darauf, dass Schüler_innen bei der Gestaltung von außerunterrichtlichen Angeboten meist konsultiert, aber nicht wirklich einbezogen werden. Hier verortet sie eine große Chance für Kooperationsprojekte, neue Formen der Mitwirkung von Schüler_innen zur Gestaltung von ›Schule‹ zu entwickeln. Ausgangspunkt des Beitrags von Carmen Mörsch ist die von der Künstlerischen Leitung an sie gerichtete Frage nach den Mehrwerten für die am Projekt Beteiligten. Basierend auf eigenen Forschungs- und Praxiserfahrungen in der Zusammenarbeit von Kunst und Schule spekuliert sie – in Kenntnis unter anderem von Videomitschnitten aus dem Projekt – über Erwartungen und Interessen der verschiedenen ›Player‹, die an JUMP  &  RUN – Schule als System beteiligt waren. Von hier aus wirft sie die Frage nach Anerkennung des kulturellen, sozialen und ↘ symbolischen Kapitals in den ›Rucksäcken‹ der beteiligten Akteur_innen und Institutionen auf. Denn die Anerkennung der Gültigkeit der unterschiedlich verteilten Kapitalien ist ausschlaggebend dafür, ob die an einem Kooperationsprojekt Beteiligten eine Chance auf gute Tauschgeschäfte im Sinne einer Win-Win-Situation haben – oder eben nicht. Kunst- und Bildungsinstitutionen – so der Gedanke, den Carmen Mörsch in der Folge entwickelt –

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bestimmen einerseits darüber mit, welche Sprachregister und Ästhetiken gültig sind, stehen aber andererseits in einem Wettbewerb um ihre Position. Sie sehen sich vor eine paradoxe Aufgabe gestellt, sollte es ihnen im Rahmen von Kooperationsprojekten um eine ermächtigende Teilhabe im Sinne von ›empowerment‹ für all jene gehen, deren Rucksäcke aus ihrer Perspektive mit Kapitalien der falschen Währung gefüllt sind.

Dorothea Hilliger konstatiert zu Beginn ihres Beitrags, dass sich an Kooperationsprojekte zwischen Kunstinstitutionen und Schulen teilweise hohe Erwartungen knüpfen. Diese beziehen sich auf »die Entwicklung neuer Lern- und Arbeitsformen, positive Wirkungen hinein in andere Lernbereiche, die Entfaltung sozialer Verantwortung« sowie – in jüngerer Zeit – auch auf »die Entwicklung der Institution Schule« (s. Seite 107). Den Anspruch, sich an der Entwicklung der Institution Schule beteiligen zu können und zu wollen, macht Dorothea Hilliger als Novum ›zeitgenössischer Kooperationsprojekte‹ geltend, sofern diese die Individuen ebenso wie die Institution Schule herausfordern. Vor diesem Hintergrund treten Kunst und Pädagogik in ein anderes Verhältnis zueinander. Denn Projektbeteiligte wie Institutionen beabsichtigen, aus der Begegnung Impulse und Ideen zu beziehen, um Modelle des Gestaltens und Lernens zu entwickeln, die sie in der Realisierung eigener Aufgaben und Ziele stärken können. Im Zuge der Reflexion dieses Anspruchs am Beispiel des Projekts JUMP  &  RUN – Schule als System arbeitet die Autorin drei Handlungsbereiche heraus, »die für Schulentwicklungsprozesse relevant sind: das Handeln im Projekt, das Handeln in der Institution und das politische Handeln« (s. Seite 122). Der Text von Anne Hartmann ist in Verbindung mit dem Text von Dorothea Hilliger entstanden. Das Verhältnis der beiden Texte zueinander gestaltet sich dahingehend, dass Dorothea Hilligers Beitrag eine diskursive Reflexion des Gesamtprojekts leistet, während Anne Hartmann auf Grundlage von Probenbesuchen und Interviews die Praxis zweier Probenprozesse beleuchtet, die innerhalb des Gesamtprojekts stattgefunden haben. Der Redebeitrag von Anne Hartmann wurde im Rahmen der Tagung ›live‹ in den Vortrag von Dorothea Hilliger eingefügt, indem Frau Hilliger ihren Vortrag unterbrach und an Anne Hartmann übergab. In ihrem redigierten Text bespricht Anne Hartmann zwei Einzelprojekte, »in denen es den Akteur_innen in besonderer Weise gelungen ist, Chancen und Risiken der Zusammenarbeit im System Schule sichtbar zu machen«

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(s. Seite 127). Dabei handelt es sich um die Projekte ›Schüler als Gestalt‹ und ›ABC für Aussteiger‹.

Sascha Willenbacher war mit der Durchführung der Begleitforschung zum Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System beauftragt. Anhand von Leitfadeninterviews, Probenbesuchen und der Analyse von Dokumenten sollte die Frage untersucht werden, welche Vorannahmen und mentalen Konzepte vom Anderen in die Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen hineinspielen. Mit dem Begriff des ›Anderen‹ ist im Kontext der Fragestellung das jeweilige Gegenüber als Lehrer_in oder Künstler_in gemeint. So beschreibt der Bericht der Begleitforschung unter dem Titel ›Der geschulte Blick‹, welche impliziten (nicht-bewussten) und expliziten (bewussten) Vorstellungen und Vorannahmen über das Lehrer_in-Sein / Künstler_in-Sein in die Zusammenarbeit hineingetragen wurden und wie sie sich auf die Zusammenarbeit ausgewirkt haben. Ein weiterer wesentlicher Aspekt des Berichts, der im Zuge der Interviewauswertung hinzugekommen ist, betrifft den Anspruch des ›Künstlerischen‹, wie er im Konzeptpapier seitens der Theaterinstitutionen formuliert wurde. Im Bericht wird das Konzeptpapier analysiert und dahingehend befragt, inwieweit dieser Anspruch das Projekt strukturierte und ›Theater als Institution‹ auf die Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen einwirkte. Der Bericht mündet in Vorschläge für eine ›lernende‹ Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen und entwirft einen Ausblick, in dem kunstanaloges Arbeiten aus didaktisch-pädagogischem Denken heraus betrieben werden kann und umgekehrt. Entgegen der selbstverständlich gewordenen Einschätzung, dass Bildung auf das Wissen oder Können des Einzelnen abziele, macht Elisabeth Sattler das gesellschaftliche Moment von Bildung zum Ausgangspunkt ihres Beitrags ›JUMP & RUN – Andere Wege der Bildung?‹. Da Bildungsund Subjektivierungsprozesse miteinander verwoben sind, handele es sich bei Bildung immer auch um soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Für Elisabeth Sattler verweisen Bildungsprozesse daher immer auf soziale Formierungen; eine ↘ Subjektposition außerhalb der Sozialität ist undenkbar. Wenn sich nun ↘ Subjekte im Wechselspiel mit Strukturen des Sozialen bildend formen, hervorbringen, sich verändern – was trägt Kulturelle Bildung dann zu transformativen Bildungsprozessen bei? Wie kann das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System

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aus einem solchen Denkhorizont heraus verstanden und interpretiert werden? Elisabeth Sattler unternimmt aus bildungstheoretischer und subjektanalytischer Perspektive den Versuch, anhand der Analyse einiger ›Passagen‹ des Projekts JUMP  &  RUN – Schule als System die gestellten Fragen zu beantworten. Beim Bearbeiten des ihr zur Verfügung gestellten Materials (Konzeptpapier, Festivalprogramm, Videomitschnitte vom Festival), richtet sich ihr Blick auf Möglichkeitsräume für transformative Bildungsprozesse, wie sie im Rahmen von JUMP & RUN – Schule als System evoziert worden sein könnten.

Alice Lagaays Beitrag ›JUMP & RUN? – Sitzen und Seinlassen!‹ bildet neben dem ›ABC für Aussteiger‹, das von Schüler_innen der Lina-Morgenstern-Schule erstellt wurde, den Schlusspunkt dieses Bandes. In ihrem Text schlägt sie – ausgehend von ihrem Forschungsinteresse am Potenzial des Nichttuns, des Unterlassens und der Zurückhaltung – einen Bogen zum Sitzen und zum Seinlassen im Kontext Schule. Zu Beginn skizziert sie, dass die kultur- und sozialwissenschaftlichen ↘ Diskurse zur ↘ Performativität von Sprache meist auf die Dimension des aktiven ›Handelns‹ fokussieren. Alice Lagaay will die Aufmerksamkeit auf die ›Kehrseite der Aktion‹ richten, um das phänomenale Spektrum der Performanztheorie in den Bereich des Nichttuns, Unterlassens und der Zurückhaltung zu erweitern. Phänomene und Begriffe wie ›Absenz‹, ›Schweigen‹, ›Unterlassen‹ und ›Scheitern‹ verlieren dabei etwas von ihrer meist negativen Konnotation. Den Verbindungspunkt zu Lehr-Lern-Situationen in der Schule sieht Lagaay in der Praxis des Sehens. Denn das Wahrnehmen von etwas durch den eigenen Blick hindurch – beispielsweise das Tun oder Nicht-Tun eines_r Schülers_in – ist durchzogen von Wertungen und Kategorisierungen, die aufgrund ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit als solche nicht bewusst sind. Im Sinne einer ›negativen Performanz‹ schlägt Lagaay vor, von Zuweisungen und Wertungen loszulassen, um der Logik binärer Entgegensetzungen zu entkommen und zwar in Richtung eines Nicht-Wertens und Nicht-Bedeutens. Zürich/Berlin, Mai 2015

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Anzeigetafel vor dem Berliner Theater HAU Hebbel am Ufer

(Mai 2012)

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+ JUMP & RUN Ein Schul-Theater-Projekt zwischen Verweigerung und Transformation

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Editorial von Mijke Harmsen, Camilla Schlie und Kristina Stang, März 2014

Es geht um die Auseinandersetzung mit der Institution Schule, mit ihren offiziellen und inoffiziellen Regelwerken, mit ihrer Funktion für die Gesellschaft, mit ihrer Aufgabe zur Disziplin­ ierung des Einzelnen, der Vermittlung von Inhalten und Fähigkeiten; um die Frage, wie die Institution Schule auf das Individuum wirkt und umgekehrt. (Harmsen et al. 2010: Seite 44 in diesem Band)

Gott im Himmel wie hältst du das nur aus 1

JUMP  &  RUN – Schule als System war ein gemeinsames Projekt von drei Berliner Theaterhäusern und elf Oberschulen aus acht Berliner Bezirken. 2009 begannen die Theaterpädagog_innen und Dramaturg_innen der beiden Theater HAU Hebbel am Ufer und Theater an der Parkaue, Junges Staatstheater Berlin, ihre Erfahrungen mit Kooperationsprojekten zwischen Theater und Schule, zum  Beispiel im Rahmen von TUSCH 2,  1 | Aus einem SMS-Wechsel zwischen dem Künstler Tobias Yves Zintel und der Lehrerin Benita Bandow am 21. März 2012. Tobias befindet sich mit vier Schüler_innen ihrer Klasse 8A2 in seinem Atelier.

 2 | TUSCH (Abkürzung für ›Theater und Schule‹) vermittelt dreijährige Partnerschaften zwischen Berliner Schulen und Theatern und unterstützt diese prozessbegleitend or­ ganisatorisch, finanziell und inhaltlich. Das Kooperationsmodell TUSCH  wurde 1998

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auszutauschen. Daraus entstand der Wunsch, ein eigenes Modellprojekt ins Leben zu rufen, das die Kooperationskultur zwischen Schulen und Theatern ins Zentrum rücken und die Gelingensbedingungen solcher Projekte untersuchen wollte. Mit Beginn des Schuljahres 2011 / 12 ging JUMP  &  RUN – Schule als System an den Start. Als Partner traten gemeinsam an: mittlerweile drei Theater – neben HAU und Theater an der Park­ aue das Junge DT des Deutschen Theaters – und elf Schulen. Das Institute for Art Education (IAE) der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) übernahm die Begleitforschung 3, die PwC-Stiftung sowie der Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung waren die Haupt-Geldgeber und Partner in der Projektentwicklung. Die drei Theaterhäuser sind einigermaßen repräsentativ für die Vielfalt der Berliner Theaterszene – ein Kinder- und Jugendtheater mit dem Theater an der Parkaue, eine etablierte Spiel- und Produktionsstätte der Freien Szene mit dem HAU und eines der großen deutschen Schauspielhäuser mit dem DT. Ähnlich repräsentativ verhielt es sich mit den Schulen: Im Projekt vertreten waren neun Integrierte Sekundarschulen (ISS) 4, ein Gymnasium und eine Förderschule.

von Renate Breitig, der damaligen Referentin für Theater und Ästhetische Bildung im Berliner Bildungssenat, ins Leben gerufen.  3 | Unter ›Begleitforschung‹ versteht man einen angewandten Forschungstyp, der Modellprojekte während der Durchführung begleitet und anhand qualitativer empiri­ scher Untersuchungen zur Wissensgenerierung in den beforschten Projekten beiträgt. Besonders im Bildungsbereich ist der Ansatz verbreitet. Die Ergebnisse der Begleitfor­ schung zu JUMP & RUN – Schule als System sind Kernstück dieser Publikation. Ihr Autor Sascha Willenbacher war zunächst als Mit-Initiator des Projekts in seiner Eigenschaft als Dramaturg und Theaterpädagoge am Theater an der Parkaue beschäftigt, bevor er im Sommer 2011 an das IAE wechselte. Das IAE verortet sich an der Schnittstelle von Kulturtheorien, künstlerischen Verfahren und fachdidaktischer Theoriebildung. Es befragt das Verhältnis von Kunst und Bildung und bezieht sich dabei auf das Arbeits­ feld der Kulturellen Bildung sowohl im Schulbereich als auch in Kulturinstitutionen. (Vgl.: https://www.zhdk.ch/index.php?id=96152)  4 | Mit der Schulreform 2010 / 1 1 wurde in Berlin das zweigliedrige System weiterführen­ der Schulen eingeführt: Neben dem Gymnasium gibt es seither nur noch die Integrierte Sekundarschule (ISS) mit und ohne gymnasiale Oberstufe.

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Die Zielgruppe waren die Klassenstufen 7 bis 9, da uns als Künstlerischer Leitung diese ›schwierige‹ Altersgruppe in unserer bisherigen Projekterfahrung deutlich unterrepräsentiert schien. Für unser Forschungsinteresse, das Projektemachen von Theaterleuten mit Schüler_innen zu untersuchen, war sie aber gerade aufgrund des ihr unterstellten pubertären Abgrenzungs- und Individualisierungspotenzials durchaus interessant. Außerdem handelte es sich um Schüler_innen, die nicht gerade mit einem anstehenden Schulwechsel oder -abschluss beschäftigt sind, sondern einfach mitten drin sind im System Schule – und vielleicht am ehesten Beispiel geben für dessen soziale und erzieherische Funktionsweisen und Wirkungsmechanismen. Wir sprachen Lehrer_innen an, die wir aus früheren Projekten bereits kannten, um auf bereits gemachte Erfahrungen auf bauen zu können, ebenso Künstler_innen, die bereits mit Jugendlichen an einem der drei Theater, häufig auch schon an Schulen, gearbeitet hatten. Als Künstlerische Leitung konzipierten wir eine Anzahl von zwölf Projekten, zehn davon mit Schulklassen, eines mit einem Lehrer_innenkollegium und eines mit einer Gruppe von Lehrer_innen verschiedener Schulen. Die Voraussetzungen waren gut: Ein sorgfältig zusammengestelltes Team aus erfahrenen Menschen, die seit mehreren Jahren für Theaterhäuser Theaterprojekte an Schulen und mit Künstler_innen an Schulen durchführen und betreuen; ebenso erfahrene und motivierte Künstler_innen und Lehrer_innen. Aber auch mit all diesen Erfahrungen und entsprechendem Vorwissen gestaltete sich die Praxis im Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System nicht immer einfach. Künstler_innen schafften es nicht, die Verweigerungshaltung der Schüler_innen zu durchbrechen, Stundenpläne machten Proben unmöglich, Künstler_innen vermissten ihre Probebühnen, Schüler_innen kamen nicht aus ihrer Schüler_innenrolle, Lehrer_innen nicht aus ihrer Lehrer_innenrolle, Regisseur_innen nicht aus dem Regieführen heraus. Zudem hatten Schüler_innen, Lehrer_innen und Künstler_innen oft völlig unterschiedliche Theaterbegriffe. Nicht alle althergebrachten Probleme der Kooperationskultur konnten also gelöst werden. Dennoch lohnt sich der Blick zurück: Wie war das Projekt angelegt?

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Konzeptionelle Bausteine, die zum Gelingen des Kooperationsprojekts führen sollten, waren: 1. die Zusammenstellung von künstlerischen Teams aus Lehrer_innen, Künstler_innen, Theaterpädagog_innen /  Dramaturg_innen und Schüler_innen; 2. die Setzung eines gemeinsamen Themas, für das die Schüler_innen selbst Experten sind: Schule als System; 3. eine langfristige Zeitplanung, von den Teams nach Bedarf einzuteilen in wöchentliche Proben, Probenblocks oder andere Formate; 4. vorbereitende und begleitende Dramaturgie- / A rbeitstreffen für alle Beteiligten.

Beim ersten Arbeitstreffen im August 2011 galt es für Lehrer_innen (teilweise begleitet von ihren Schüler_innen), Künstler_innen und Dramaturg_innen / T heaterpädagog_innen, sich gegenseitig kennenzulernen und in Teams zusammenzufinden. Auch gab es Vorträge und Gespräche, um eine gemeinsame thematische Arbeitsgrundlage zu schaffen. Elisabeth von Stechow hielt einen Vortrag unter dem Titel ›Normalisierung und Disziplinierung in der Zeit und im Raum der Schule‹ 5 und gab darin einen Überblick über die historische Entwicklung des Systems Schule vor allem im Hinblick auf die Optimierung von Disziplin und Effizienz. Alice Lagaay warf in ihrem anschließenden Vortrag einen positiven Blick auf ›Strategien des Verweigerns‹ 6 von Schüler_innen. Gegenstand aller Projekte sollte die Untersuchung von Strategien des Lernens und der Anpassung, des Zusammenlebens, des Vorankommens und des Scheiterns von Schüler_innen, Lehrer_innen und anderen Mitgliedern des Systems Schule sein. Zu diesem System gehören auch das  5 | Prof. Dr. Elisabeth von Stechow, Institut für Sprachheilpädagogik der Universität Gießen: ›Wir hatten die Zeit in den Adern wie Blut – Normalisierung und Disziplinie­ rung in der Zeit und im Raum der Schule‹, Vortrag im Rahmen einer nicht-öffentlichen Arbeitstagung im Theater an der Parkaue Berlin, 23. August 2011.  6 | Dr. Alice Lagaay, Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin (heute Uni­ versität Bremen): ›SIT & FALL – Strategien des Verweigerns‹, Vortrag im Rahmen einer nicht-öffentlichen Arbeitstagung im Theater an der Parkaue Berlin, 23. August 2011.

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nähere örtliche Umfeld der Schule sowie die Architektur des Gebäudes, die Farben der Wände, die Anordnung der Tische in den Klassenräumen, die Form und das Material, aus dem die Stühle gemacht sind, etc. Innerhalb eines jeden Projekts sollten die Wechselwirkungen von Gesellschaft und Schule sowie Strategien der Schüler_innen im Umgang mit ihrem Umfeld sichtbar gemacht und zum Spielmaterial für die Bühne werden (vgl. Harmsen et al. 2010: Seite 46 in diesem Band). ›Jump 'n' Run‹ ist eine Genrebezeichnung für Computerspiele, bei denen eine Figur springend und rennend durch verschiedene Level bewegt werden muss. Dabei gilt es, möglichst viele Gegenstände einzusammeln, für die es Bonuspunkte oder Extra-Leben gibt, Hindernisse zu überwinden und Gegner zu besiegen, die sich in den Weg stellen. Je weniger Zeit zum Punktesammeln benötigt wird, umso besser. Das Ziel ist stets, in eine neue Ebene beziehungsweise in das nächste Level zu gelangen. Wer es nicht schafft, dem bleibt der Zugang verwehrt. Wer geheime Tricks und Abkürzungen kennt (›Cheats‹), kommt schneller ans Ziel. Wer Pech hat, verzweifelt schließlich am Endgegner. Und wer Glück hat, kommt sogar in ein Bonuslevel. Der Projekt-Titel JUMP & RUN – Schule als System spielt auf die Analogien zwischen der beschriebenen Spielstruktur und dem System Schule an, das ebenfalls als ein Hindernisparcours mit Belohnungsanreizen gesehen werden kann. Die Teilnahme von Lehrer_innen, Künstler_innen und Dramaturg_innen / T heaterpädagog_innen an den Expert_innenvorträgen des Arbeitstreffens und den anschließenden vertiefenden Workshops bildete eine wichtige konzeptionelle Setzung des Gesamtprojekts ab: die gemeinsame Projektentwicklung in den jeweiligen Teams aus Lehrer_innen und Künstler_innen. Diese sollten auf Augenhöhe und unter Einbeziehung ihrer jeweiligen fachlichen, künstlerischen oder methodischen Expertise miteinander arbeiten. So sollte die jeweilige Themenfindung nicht, wie so häufig in Kooperationsprojekten, von dem Vorschlag eines Einzelnen ausgehen, sondern im gemeinsamen Prozess entstehen. Auch die Teamfindung sollte von gegenseitigem Interesse geleitet sein: Sowohl die Künstler_innen als auch die Lehrer_innen mit ihren Schüler_innen stellten im Rahmen des Arbeitstreffens sich und ihre Arbeits- und Interessensschwerpunkte sowie ihre jeweiligen Wünsche an das Projekt vor. Moderiert durch das Leitungsteam, fanden sich auf diese Weise die folgenden zwölf Teams:

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• Der Bildende Künstler Marcio Carvalho, die Klassenlehrer_ in­­­nen Udo Kesy und Antje Siehler und 24 Schüler_innen der Klasse 7.2 der Lina-Morgenstern-Schule Kreuzberg • Der Tänzer und Performer Martin Clausen, die DS-Lehrerin Christiane Schulze und 17 Schüler_innen des DS-Kurses der Klassenstufe 8 der Carlo-Schmid-Oberschule Spandau • Die Regisseurin Susanne Chrudina , die Lehrerinnen Gesine Ripper und Monika Schuch und 22 Schüler_innen der Klasse 9d der Sophie-Brahe-Schule Treptow-Köpenick • Der Tänzer und Choreograf Dennis Deter, die Lehrerinnen Adina Jelen, Ulrike Kramme und Ellen Szymanski und 24 Schüler_innen der Kulturwerkstatt 9 des LEONARDO-DA VINCI-GYNMASIUMS Neukölln • Der Regisseur Andreas Kebelmann, die Musiklehrerin Birgit Markuse und 26 Schüler_innen der 7. Klassen der Schule am Zille-Park Mitte • Die Regisseurin und Performerin Tanja Krone, die Lehrer_in­- nen Jutta Bars und Andreas Wegener und 21 Schüler_innen der Klasse 9a der Hedwig-Dohm-Oberschule Moabit • Das Computerspieltheaterkollektiv Machina Ex , die Klassen­ lehrerin Jaqueline Beier und 25 Schüler_innen der Klasse 8.2 der Thomas-Mann-Oberschule Reinickendorf • Die Performerin Eva Plischke, die DS-Lehrerin Alexandra Kersten und 16 Schüler_innen des DS-Kurses der Jahrgangsstufe 7 der Heinz-Brandt-Schule Weissensee • Die Puppenspielerin und Regisseurin Ivana Sajevic , die Lehrer­in Bärbel Schnaars-Koch und 8 Schüler_innen der DS-Kurse der Jahrgangsstufen 7 und 8 der Schule am Rathaus Lichtenberg • Der konzeptuelle Filmemacher Tobias Yves Zintel , die Lehrer_ in­­nen Benita Bandow und Ertan Kömür und 24 Schüler_in-­ nen der Klasse 8A2 der Hector-Peterson-Schule Kreuzberg • Die Regisseurin Gudrun Herrbold und vier Lehrerinnen verschiedener Schulen

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• Der Regisseur Carlos Manuel mit der Lehrerin Jane Natz und 12 Kolleg_innen der Herbert-Hoover-Schule Wedding Die nächsten Schritte bestanden darin, dass die Künstler_innen und Dramaturg_innen / T heaterpädagog_innen einzeln in der Partnerschule hospitierten, um die Schule und den Schulalltag kennenzulernen. Des Weiteren ging es darum, die gemeinsame Projektidee in einem Workshop in der betreffenden Klasse zum Thema ›Schule als System‹ zu entwickeln. An einem zweiten ganztägigen Arbeitstreffen im September 2011 wurde der im Workshop gefasste Grundgedanke allen Projektbeteiligten vorgestellt und weiter präzisiert, so dass im Anschluss jedes Einzelprojekt mit allen beteiligten Schüler_innen eine szenische 3-Minuten-Präsentation ihrer Idee erarbeiteten konnte. Am folgenden Tag stellten sich das Leitungsteam mit dem Gesamtkonzept und alle Teams mit ihren Mini-Präsentationen auf der Bühne der Kammerspiele des Deutschen Theaters erstmals der Öffentlichkeit vor – der offizielle Startschuss war gefallen. Ab diesem Zeitpunkt – Anfang Oktober 2011 – waren die einzelnen Projektteams frei in der Entscheidung, wie sie in der verbleibenden Zeit bis zur Aufführung im Mai 2012 arbeiteten. Abhängig von der Schul­ organisation, den gewählten Inhalten und den Bedürfnissen der einzelnen Gruppen konnten Lehrer_innen und Künstler_innen gemeinsam entscheiden, ob die Zusammenarbeit in Projektwochen, regelmäßigen AG-Stunden, durch Integration in den regulären Stundenplan oder anders organisiert werden sollte. Die Zeit bis Weihnachten verbrachten manche Künstler_innen kontinuierlich in den Klassen, andere begaben sich erst einmal in eine Recherchephase und stiegen im neuen Jahr ›richtig‹ in die Arbeit ein; an manchen Schulen fanden erste Projekttage statt. Die einzelnen Projekte standen in engem Kontakt zu jeweils einem der drei beteiligten Theater und damit zur Künstlerischen Leitung des Gesamtprojekts, erfuhren von dort Unterstützung in Hinblick auf Proberäume, Material und Supervision und tauschten sich teilweise auch untereinander aus. An einem Stammtisch-Termin im Januar gelang es, viele der beteiligten Teams an einen Tisch und in einen Austausch untereinander zu bringen, generell aber konzentrierte sich jedes Team auf sein eigenes Projekt. In jedem Projekt fand eine intensive, manchmal aufreibende, manchmal auch produktive Auseinandersetzung mit dem Thema ›Rollenbilder‹ statt: Was ist meine Rolle als Lehrer_in, Künstler_in, Schüler_in in der Zusammenarbeit, wer hat welche inhaltlichen Vorstellungen, wie geht

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man mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen, Motivationsleveln, Kunst- und Bildungsbegriffen um? Solche Aspekte mussten in allen Projekten ausgehandelt und manchmal ausgefochten werden. Die Intention der Projektleitung zielte genau auf diese Auseinandersetzung. Die Absicht war es, durch die thematische Setzung diese noch zu bestärken: Was ist das System Schule, wie funktioniert es in der Außensicht der Theaterleute, wie in der Innensicht, was daran ist es wert, thematisiert zu werden, und welche Form ist dafür angemessen? Vielen der beteiligten Schüler_innen schien der ganz konkrete Schulalltag erst einmal wenig interessant, die Schule wurde häufig als ›notwendiges Übel‹, das man nicht weiter hinterfragt und das keiner genaueren Betrachtung bedarf, wahrgenommen. Ihnen gegenüber standen oft reformwillige oder -bedürftige Lehrer_innen und Künstler_innen, die immer wieder Gefahr liefen, ihre eigenen mehr oder weniger weit zurückliegenden Schulerfahrungen auf die heutige Schulrealität und damit das Erleben der Schüler_innen und Lehrer_innen zu projizieren. »Wer mit dem Auge auf dem Gegenstand liegt, sieht ihn nicht« (Müller zitiert nach Goebbels 2013). Diese Erfahrung machten nur allzu oft die Beteiligten an JUMP  &  RUN – Schule als System, und die Suche nach der Distanz, nach der anderen Perspektive, dem ungewohnten Blick, war die große verbindende Aufgabe. An sich ist das natürlich eine ganz grundsätzliche ästhetische Erfahrung. Sie ist allerdings auch eine große Hürde für die häufig mit ihrer Motivation kämpfenden 12- bis 16-Jährigen Schüler_innen und die an derselben Baustelle mal streng disziplinierend, mal verzweifelnd um Interesse werbenden, immer wieder aber auch durch ihre künstlerische Arbeit begeisternden Lehrer_innen und Künstler_innen. Nicht alle Beteiligten waren begeistert von diesem oft mühsamen Abarbeiten, aber in allen Fällen kann das Ergebnis dieser Arbeit als produktiv gewertet werden, selbst dort, wo die Verweigerung eine bestimmende Rolle im Projektverlauf einnahm (vgl. Mörsch in diesem Band ab Seite 85). Das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System ging unweigerlich im ganz normalen Schulrhythmus auf, und das hieß auch: Kaum hatte das zweite Halbjahr begonnen, nahte auch schon der Abschluss, und als erst die Osterferien vorbei waren, wurde es immer enger. Im Mai 2012 waren für eine Woche die Bühnen und Probebühnen im HAU2 und 3 reserviert; der Fotograf kam in die Proben; die Produktionsleitung brauchte Technikangaben; Plakat, Postkarte und Programmheft wurden fertiggestellt; Werbemaßnahmen eingeleitet. So gingen die zwölf Gruppen im ganz

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normalen Theaterwahnsinn auf: Kaum hat man einigermaßen den Prozess ins Laufen gebracht, muss man auch schon an die Premiere denken. Gemäß der aktuell häufig geführten Debatte um Prozess- versus Produkt-orientierung in partizipativer Kunstproduktion stellt sich die Frage, ob das Format eines abschließenden Festivals mit Bühnenpräsentationen und dem dadurch entstehenden Druck auf die einzelnen Projekte für ein Modellprojekt wie JUMP  &  RUN – Schule als System richtig gewählt war (vgl. Hilliger in diesem Band ab Seite 107). Ein zentraler Gedanke dieser Konzeption resultiert aus der Wahrnehmung, dass im Rahmen von Kooperationsprojekten zwischen Theater und Schule die Theater eine_n mit ihnen mehr oder weniger fest verbundene_n, freischaffende_n Künstler_in in eine Schule schicken. Dort arbeitet er_sie dann mit einer Gruppe. Das Ergebnis dieser Arbeit wird in der Schule oder, wie beispielsweise im Zuge der TUSCH-Festwoche, im Austausch mit ähnlichen Projekten gezeigt. Wir wollten als Gegenentwurf dazu die Aufführungen zum Abschluss zurück ins Theater holen. Nachdem das Theater an der Parkaue der Veranstaltungsort des ersten Arbeitstreffens gewesen war und im Deutschen Theater der öffentliche Auftakt stattgefunden hatte, war das HAU nun Gastgeber für die Projektpräsentationen im Mai 2012. Geplant wurde die Veranstaltung – dem Ort entsprechend – als ein Themenwochenende, wie sie am HAU unter der Intendanz Matthias Lilienthals üblich waren und auch heute noch regelmäßig stattfinden. So sollte nicht nur Interesse bei Angehörigen und Kolleg_innen der Beteiligten geweckt werden, sondern auch beim Stammpublikum des Hauses sowie beim Lauf- und Fachpublikum. Es schien uns wichtig im Sinne der Wertschätzung der Arbeit der Schüler_innen und der künstlerischen Teams, ein Präsentationsformat zu finden, das Teil des normalen Spielplans eines renommierten Festival-Veranstalters wie des HAU ist. So wurde ein Themenwochenende konzipiert, das neben den zwölf Inszenierungen, die auf unterschiedliche Räume verteilt gleich mehrfach gespielt wurden, auch ein Rahmenprogramm (performative Arbeiten 7, professionelles Feedback von Nachsprecher_innen

 7 | ›Archiv der Schulerinnerungen‹, Hör-Installation von Lisa Lucassen (She She Pop) / ›Archiv für Tipps, Tricks und Techniken‹ in sieben interaktiven Stationen, ent­ wickelt von Studierenden des Instituts für Performative Künste und Bildung der HBK Braunschweig.

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im Nachtprogramm 8, ein kultursoziologischer Vortrag 9, Party und Konzert) umfasste. In den Vorstellungen wurde aus zwölf Perspektiven das System Schule reflektiert und auf die Bühne gebracht. Da ging es unter anderem um Schüler_innen, die sich dem Publikum verweigerten und sich in eine Box einschlossen (›Abschlussknall‹), Förderschüler_innen, die endlich machten, was sie wollten (›Ich bin nicht da‹), die Schulklasse als Zelle und selbstregulierendes System (›Action unites – words divide‹), eine Darbietung des Unterrichts im Fach Darstellendes Spiel (›Schüler als Gestalt‹), eine Führung durch und über das System Theater aus der Perspektive der Schüler_innen (›Ersosieso. Ein Schulausflug‹), Schulutopien (›13 × zusammengestellte freie Zeit‹) und um tagträumende Schüler_innen (›Next level Pause‹ und ›ABC für Aussteiger‹). Im vorliegenden Band werden anhand einiger dieser Theatervorstellungen zentrale Gedanken des Modells JUMP  &  RUN – Schule als System weitergeführt. Als Modellprojekt bietet JUMP  &  RUN – Schule als System in der kritischen Auseinandersetzung Interessierten die Möglichkeit, die (guten) Ideen, Fallstricke, Bonuspunkte und (End-)Gegner kennenzulernen und damit die Kooperationskultur und deren Projekte auf ein nächstes Level zu bringen.

 8 | Im Nachgespräch diskutierten am 11. Mai 2012 die Schirmherrin Adrienne Goehler und Sascha Willenbacher vom IAE der ZHdK und am 12. Mai 2012 Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters und Kay Wuschek, Intendant des Theaters an der Parkaue, über die Inszenierungen des Tages.  9 | Der 12. Mai 2012 wurde eingeleitet mit einem Vortrag des Soziologen Dr. Thomas Köhler vom ISP Eduard Pestel Institut für Systemforschung e.  V. zum Thema ›Schule als Aquarium‹.

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Mijke Harmsen war von 2007 bis 2014 Dramaturgin für das Jugend- und Begleitprogramm am HAU Hebbel am Ufer. Seit Februar 2014 ist sie Dramaturgin am Jungen Tanzhaus des tanzhaus nrw. Camilla Schlie war von 2011 bis 2014 Dramaturgin und Theaterpädagogin am Theater an der Parkaue, Junges Staatstheater Berlin. Seit September 2015 arbeitet sie in dieser Position am Theater Erlangen. Kristina Stang war von 2005 bis 2011 Dramaturgin und Theaterpädagogin am Theater an der Parkaue und von 2011 bis 2015 am Jungen DT des Deutschen Theaters Berlin. Seit August 2015 arbeitet sie als freischaffende Dramaturgin und Theaterpädagogin in Berlin. literatur Harmsen, Mijke / Stang, Kristina / Willenbacher, Sascha (2010): Konzeptpapier zum Projekt JUMP & RUN – Schule als System. Abgedruckt in diesem Band ab Seite 42. Hilliger, Dorothea: Springend und rennend die Schule verändern? Zum Entwicklungspotenzial von Kooperationsprojekten zwischen Theatern und Schulen. Vortrag im Rahmen der Tagung ›Inszenierung zwischen Verweigerung und Transformation‹ am 8. / 9. November 2012 im Theater an der Parkaue Berlin. Der Vortrag findet sich in einer redigierten Fassung im vorliegenden Band ab Seite 107. Mörsch, Carmen (2012): Darüber, hinaus. Mehrwert mit Marx: den über den Wert der Arbeitskraft hinausgehenden Teil der Wertschöpfung. Vortrag im Rahmen der Tagung ›Inszenierung zwischen Verweigerung und Transformation‹ am 8. / 9. November 2012 im Theater an der Parkaue Berlin. Das Vortragsskript findet sich redaktionell bearbeitet in vorliegendem Band ab Seite 85. Müller, Heiner zitiert nach Goebbels, Heiner (o. J.): http://www.labkultur.tv/blog/speaking-tongues-die-tumbletalks-der-ruhrtriennale [23.02.2014]

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+ Konzeptpapier (2010) zum Projekt JUMP & RUN von Mijke Harmsen, Kristina Stang und Sascha Willenbacher

Redaktionelle Notiz Beim folgenden Text handelt es sich um das Konzept zu JUMP  &  RUN – Schule als System, das ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedacht war. Da sich aber mehrere Autor_innen dieses Bandes darauf beziehen, haben wir uns als Herausgeber_innen für einen redaktionell nicht bearbeiteten Abdruck des Dokuments an dieser Stelle entschieden. Das Papier wurde im September 2010 von dem damaligen Künstlerischen Leitungsteam Mijke Harmsen, Kristina Stang und Sascha Willenbacher zur Beantragung von Fördermitteln verfasst. Die genannten Zahlen und Zeiträume weichen mitunter vom tatsächlichen Projektverlauf ab. Außerdem wurde von einer nachträglich angepassten gendergerechten Schreibweise abgesehen.

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Ausführliche Projektbeschreibung (Stand: September 2010)

JUMP AND RUN – Schule als System Ein Modell zur Entwicklung partizipatorischer Kunstprojekte an Schulen projektbeteiligte 12 Künstler (aus den Bereichen Theater, Tanz, Performance, Szenografie) 20 Lehrer 12 Dramaturgen /  T heaterpädagogen 250 Schüler der Klassenstufen 7 bis 9

projektpartner THEATER AN DER PARKAUE, Junges Staatstheater Berlin HAU Hebbel am Ufer Deutsches Theater / Junges DT 10 Berliner Sekundarschulen

ziel des projekts Im Verlauf eines Schuljahres entwickeln zwölf Dreier-Teams, bestehend aus Künstlern, Lehrern und Theaterpädagogen / Dramaturgen, an zehn Berliner Sekundarschulen ein partizipatorisches Kunstprojekt, das sich mit ›Schule‹ als System auseinandersetzt und diese Auseinandersetzung in eine theatrale Form übersetzt. Gezeigt werden die Arbeiten im Rahmen eines Themenwochenendes im Theater HAU Hebbel am Ufer. Bei zwei der insgesamt zwölf Projekte stehen ausschließlich Lehrer auf der Bühne, um im Rahmen des Themenwochenendes auch aus der Perspektive von Lehrern das System Schule abbilden zu können.

anliegen und idee des projekts

Lehrer als Mitkünstler Der ZOOM-Foschungsbericht, der Anfang kommenden Jahres der Öffentlichkeit vorgestellt werden wird, misst dem Funktionieren der Zusammenarbeit von

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Künstlern und Lehrern überragende Bedeutung für das Gelingen eines Pro­ jekts an einer Schule bei. Was aber sind die Bedingungen für das Funktionieren dieses Projektteams? Gibt es die Möglichkeit, Künstlern und Lehrern eine Art methodischer Intuition für das künstlerische und partizipatorische Potenzial von Ideen zu vermitteln? Für das Verständnis der Strukturen, in denen sich der Partner bewegt und aus denen heraus Inhalte für die künstlerische Aus­ einandersetzung gewonnen werden können? – Claudia Hummel, Leiterin der ZOOM-Evaluierung, hat mit maßgeblicher Unterstützung durch Dr. Angelika Tischer eine ›KontextSchule‹ ins Leben gerufen, die gerade in die zweite Runde geht. In dieser ›KontextSchule‹ begegnen sich Lehrer und Künstler, um sich für eine gemeinsame künstlerische Arbeit ›teamfähig‹ zu machen. Unser Projektvorschlag resultiert aus eigenen Erfahrungen in der Zusam­ menarbeit mit Schulen sowie dem Bedürfnis, nach Möglichkeiten zu suchen, Theater als Kunst im Sinne von gesellschaftlicher Irritation und der Artikulation eigener Positionen auch im Schulkontext möglich zu machen. Der vorliegende Projektvorschlag formuliert daher erstmalig einen praktischen Rahmen zur Entwicklung und Realisierung partizipatorischer Projekte an Berliner Sekundar­ schulen. Das Besondere dieses Projekts besteht in der Gestaltung des Wegs zur Findung von Projektideen und deren Realisierung. So werden sich im Laufe von zwei Vorbereitungstreffen Lehrer und Künstler kennenlernen, Teams auf Grundlage eines gegenseitigen Interesses bilden und eine gemeinsame Idee formulieren, die wiederum von der Gesamtgruppe hinterfragt, überprüft und daraufhin weiterqualifiziert wird (an diesem Entwicklungsschritt werden auch Schülervertreter beteiligt sein). Eine weitere Besonderheit ist die gemeinsame thematische Grundlage, auf der die Projektideen der Lehrer / Künstler-Teams entstehen. Es geht um die Aus­ einandersetzung mit der Institution Schule, mit ihren offiziellen und inoffizi­ ellen Regelwerken, mit ihrer Funktion für die Gesellschaft, mit ihrer Aufgabe zur Disziplinierung des Einzelnen, der Vermittlung von Fähigkeiten. Es geht an verschiedenen Berliner Schulen in unterschiedlichen Bezirken und vor dem Hintergrund der aktuell durchgeführten Schulreform um die Frage, wie die Institution Schule auf das Individuum wirkt und umgekehrt. Am Ende steht ein Themenwochenende im Theater HAU HEBBEL AM UFER, in dessen Verlauf das System Schule befragt und auf die Probe gestellt wird. Im Rahmen die­ ses Wochenendes werden die entstandenen Projekte präsentiert, gibt es eine berlin­weite Schülerkonferenz in Zusammenarbeit mit der Landesschülerkon­ ferenz und sprechen eingeladene Dozenten: Kunst als Aneignung von Lebens­ wirklichkeiten und gesellschaftlicher Diskurse. Dies gilt es in actu den Lehrern und Jugendlichen zu vermitteln. Im besten Fall führt dies zu einem künstlerisch inspirierten Unterricht, da sowohl den Künstler als auch den Lehrer und Schüler

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eine ähnliche Haltung verbinden sollte: nämlich die des Suchenden / Lernenden. Hinsichtlich der Künstler wollen wir erreichen, dass die Projekte aus der eige­ nen künstlerischen Arbeit heraus gedacht werden und es keine Aufspaltung in künstlerische beziehungsweise ernsthafte Projekte und in ›Schulprojekte‹ gibt. Wir suchen nach einer echten Zusammenarbeit und schaffen hierfür den Rahmen, der modellhaft in andere Kontexte übertragen werden kann. Daher ist eine begleitende Evaluation, die nach Abschluss vorgelegt werden soll, un­ abdingbar. Denkbar ist, dass die Präsentation dieser Publikation den Rahmen für eine theaterpädagogisch  / didaktische Fachkonferenz bildet: Reframe your work – künstlerisch inspirierter Unterricht und Performanz des Experiments. Eingeladen werden alle an TUSCH partizipierenden Theater und Schulen sowie interessierte Kollegen aus anderen Bundesländern. JUMP AND RUN könnte als Impuls wirken, der regelmäßig wiederholt werden kann, um kontinuierlich in andere Systeme und Kreisläufe einzuwirken.

Wie soll die Zusammenarbeit von Lehrern und Künstlern bei diesem Projekt gestaltet werden? JUMP AND RUN ist ein Initiativprojekt des THEATER AN DER PARKAUE, des HAU HEBBEL AM UFER und des Jungen DT (Deutsches Theater). In der Vorbereitungs­ phase kuratieren die Partner zum Teil namhafte Künstler und sprechen Leh­ rer verschiedener Sekundarschulen an (in Absprache mit den Schulleitern). Zielgruppe sind die Schüler der Klassenstufen 7 – 9. Eine Altersgruppe, die in entwicklungspsychologischer und in gruppendynamischer Hinsicht die Ausei­ nandersetzung mit dem Außen sucht und dabei immer wieder in Konflikt mit dem Normierungsapparat Schule gerät beziehungsweise Strategien entwickelt, um sich scheinbar oder tatsächlich konform zu verhalten. Die Schulen werden nach sozialem Profil der Schülerschaft sowie aufgrund bestehender Arbeits­ kontakte ausgesucht. Ziel ist es, bestehende Kontakte zu vertiefen und lokale Netzwerke entstehen zu lassen. Damit ist einerseits die stabile Partnerschaft der jeweiligen Teams in der Interaktion mit dem schulischen Umfeld gemeint sowie andererseits das Bilden eines großen, schulübergreifenden Projektteams. Um die Institution Schule auszuloten und um den Künstlern, Lehrern und Dramaturgen / T heaterpädagogen neue Perspektiven aus unterschiedlichen Dis­ ziplinen auf das System Schule zu eröffnen, werden im Zuge von sogenannten Projektentwicklungstreffen Experten eingeladen. Deren Inputbeiträge sollen die Diskussion zwischen den eingeladenen Projektbeteiligten bereichern und das Finden einer Projektidee unterstützen. Dabei geht es darum, dass Lehrer und Künstler gemeinsam einen Projektrahmen für die jeweilige Schule und die

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jeweiligen Schüler entwickeln. Dieser Rahmen ist so anzulegen, dass er nur durch die Partizipation der Schüler realisiert werden kann. Der Projektrahmen macht deren Perspektive nötig, um Material zu generieren und in eine Form zu übersetzen. Um dies zu erreichen, werden alle Projektideen von der Skizze bis zum de­ taillierten Projektplan mehrfach im Dialog auf künstlerische Konsistenz und dramaturgisch-methodische Kohärenz überprüft sowie ins Plenum (während des zweiten Vorbereitungstreffens) rückgekoppelt. An diesem Prozessschritt sind eingeladene Schülervertreter beteiligt, um an der Diskussion der Projekt­ skizzen teilzunehmen. Für diesen komprimiert dargestellten Qualifizierungs­ prozess von Projektideen gibt es eine eigene, bereits mehrfach erprobte Me­ thode unter der Moderation der Dramaturgen / T heaterpädagogen des THEATER AN DER PARKAUE, des HAU HEBBEL AM UFER und des Deutschen Theater. Be­ standteile des Entwicklungsprozesses sind die beiden Teamtreffen im Plenum (alle Beteiligte) sowie mehrere individuelle Treffen zwischen dem Lehrer  / Künst­ ler-Team und dem begleitenden Dramaturgen / T heaterpädagogen. Durch Letz­ teren wird ein Monitoring geleistet, das in der bisherigen Praxis (vgl. TUSCH) in dieser engen Anbindung nicht stattfindet.

Was ist die gemeinsame thematische Grundlage für die zu entwickelnden Projekte? Gegenstand aller Projekte ist die Untersuchung von Strategien des Lernens und der Anpassung, des Zusammenlebens, des Vorankommens und des Scheiterns von Schülern, Lehrern und anderen Mitgliedern im System Schule. Zu diesem System gehören auch das nähere örtliche Umfeld der Schule sowie die Archi­ tektur des Gebäudes, die Farben der Wände, die Anordnung der Tische in den Klassensälen, die Beschaffenheit des Bodens, die Form und das Material, aus dem die Stühle gemacht sind etc. Ausgehend von zwölf Schulfächern (Physik, Sport, Deutsch, Ethik, Erdkunde, Geschichte, Politikwissenschaft, Sprachunter­ richt etc.) entwickeln die Lehrer  / Künstler-Teams den Projektrahmen im Hinblick auf und im Austausch mit den teilnehmenden Jugendlichen. Innerhalb eines jeden Projekts sollen die Wechselwirkungen von Gesellschaft und Schule sowie die Strategien der SchülerInnen im Umgang mit ihrem Umfeld sichtbar gemacht und zum Spielmaterial für die Bühne werden. In zwei der insgesamt zwölf Pro­ jekte werden Lehrer das System Schule aus ihrer Perspektive bearbeiten und schließlich auch auf der Bühne stehen.

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Was verbirgt sich hinter dem Titel JUMP AND RUN? Als ›Jump 'n' Run‹ - Spiel werden Computerspiele bezeichnet, bei denen klas­ sischerweise eine Figur springend und rennend durchs Spiel bewegt werden muss. Dabei sollen möglichst viele Dinge eingesammelt werden, für die es Bonus­punkte gibt. Und je weniger Zeit zum Einsammeln benötigt wird, desto besser. Das Ziel ist stets, in eine neue Ebene beziehungsweise in das nächste Level zu gelangen. Wer es nicht schafft, dem bleibt der Zugang verwehrt. Der Titel JUMP AND RUN spielt demnach auf die Analogien zwischen der beschrie­ benen Spielstruktur und dem System Schule an, das ebenfalls einen Hindernis­ parcours mit Belohnungsanreizen darstellt. Welche Strategien werden im Laufe der Schulzeit entwickelt, um sich in der Institution Schule zu bewegen und zu behaupten? Was steht auf den geheimen Lehrplänen? Inwieweit spiegeln sich in ihnen gesellschaftliche Mechanismen wie beispielsweise die soziale Auslese? Unter dem Titel JUMP AND RUN werden die Projektteams (Lehrer, Künstler und Schüler) untersuchen, wie man ins nächste Level, also in die Arbeitsgesellschaft, gelangen kann. JUMP AND RUN transferiert das System Schule ins Theater, um es dort als gesellschaftlich variabel und gestaltbar erfahrbar zu machen: Theater versteht sich als eine der radikalsten Formen der Erprobung des Sozialen. Das heißt, es gibt eine soziale Situation, in der das Theater sich befindet und in der die Neugier und die Urteilskraft mobilisiert werden muss und mobilisiert werden kann, sich anzuschauen, anzuhören und auszuhalten, was auf der Bühne passiert. (Dirk Baecker, ›Die Stadt, das Theater und die Naturwissenschaft der Gesellschaft‹, 2003)

Mit der aktuellen Schulreform in Berlin soll die soziale Integration vorange­ bracht und die Verteilung von Bildungschancen verbessert werden: Haupt- und Realschulen werden zu Sekundarschulen zusammengelegt. JUMP AND RUN nimmt für sich in Anspruch, den Rahmen für eine künstlerische Feldforschung abzustecken, mit der nach Hinweisen auf reale Veränderungen und die Verän­ derbarkeit von Schule gesucht wird. Fest steht nach wie vor, dass das System Schule die Vorstufe zum Arbeitsleben ist. Und das bedeutet heute: Karriere­ planung mit Eintritt in den Kindergarten oder Vorbereitung auf die Arbeitslo­ sigkeit.

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Projektverlauf  / geplante Schritte herbst 2010 Kuratierung der beteiligten Künstler und Auswahl der Schulen durch die Künstlerische Leitung. Die Kuratierung erfolgt unter finanziellem Vorbehalt. – Auswahl an Experten, die zu den Vorbereitungstreffen eingeladen werden.

mai 2011 Vorbereitende Gespräche der Künstlerischen Leitung mit Lehrern und Künstlern. Vorbereitung der Evaluation.

anfang september 2011 Erstes Arbeitswochenende für alle am Projekt beteiligten Künst­ ler, Lehrer, Dramaturgen / T heaterpädagogen. Das Treffen dient dem gegenseitigen Kennenlernen (Profile, inhaltliche wie künstlerische Interessensschwerpunkte, Arbeitsweisen) sowie der inhaltlichen Auseinandersetzung mit eingeladenen Experten aus der Wissen­ schaft. In Expertenvorträgen, Arbeitsgruppen und Tischgesprächen werden gemeinsam inhaltliche Ansatzpunkte zum System Schule erarbeitet. Als Ergebnis des ersten Wochenendes bilden sich zwölf Projekt­ gruppen, bestehend aus einem Lehrer, einem Künstler und einem Dramaturgen / T heaterpädagogen. Die Projektteams entwickeln in individuellen Arbeitstreffen eine Projektskizze, aus der heraus ein inhaltlicher und formaler Ansatz erkennbar wird. – Beginn der Evaluation zwecks Dokumentation des Prozesses / Materialsammlung.

mitte oktober 2011 Zweites Arbeitswochenende für alle Projektbeteiligten unter Teil­ nahme von Schülervertretern aus allen Schulen. In Tischgesprächen werden alle zwölf Projektideen vorgestellt, gemeinsam diskutiert und weiterentwickelt. Zudem werden in diesem Rahmen wieder Experten eingeladen sein, um weitere Anregungen für die Projekt­ entwicklung zu geben.

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mitte oktober 2011 – ende dezember 2011 Die einzelnen Teams entwickeln ihre Ideen weiter und treffen die Vorbereitungen zur Umsetzung.

januar 2012 – juni 2012 Umsetzung der jeweiligen künstlerischen Idee. Die Arbeitsform wird durch das Projektteam selbst gewählt: Abhängig von der Schulorga­ nisation, den gewählten Inhalten und den Vorlieben aller Beteiligten können Lehrer und Künstler gemeinsam entscheiden, ob Projekt­ wochen, regelmäßige AG-Stunden, eine Integration in den regulären Stundenplan oder anderes bevorzugt wird.

juni  / juli 2012 Abschlusswochenende von JUMP AND RUN – Experten, Elternvertre­ ter, Lehrer und Schüler treten in einen Austausch auf Grundlage der Projekt-Präsentationen und flankiert von moderierten Foren und Workshops. Das System Schule wird im Theater HAU HEBBEL AM UFER betrachtet, zerschlagen, neu erfahren, verworfen, diskutiert, wieder aufgebaut und auf Spieltauglichkeit überprüft.

oktober 2012 Veröffentlichung der Evaluation als Publikation und deren Versand

november 2012 Theaterpädagogische / didaktische Fachkonferenz: Reframe your work – künstlerisch inspirierter Unterricht und Performanz des Experiments. Eingeladen werden alle an TUSCH partizipierenden Theater und Schu­ len sowie interessierte Kollegen aus anderen Bundesländern (unter Finanzierungsvorbehalt.

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Probenprozess-Fotos, September 2011 – Mai 2012

LINA-MORGENSTERN-SCHULE, Berlin, Kreuzberg

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Probenprozess-Fotos, September 2011 – Mai 2012

SOPHIE-BRAHE-SCHULE, Berlin, Treptow-Köpenick

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Probenprozess-Fotos, September 2011 – Mai 2012

LEONARDO-DA-VINCI-GYMNASIUM, Berlin, Neukölln

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Probenprozess-Fotos, September 2011 – Mai 2012

SCHULE AM ZILLE-PARK, Berlin, Mitte

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Probenprozess-Fotos, September 2011 – Mai 2012

HEDWIG-DOHM-OBERSCHULE, Berlin, Moabit

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Probenprozess-Fotos, September 2011 – Mai 2012

THOMAS-MANN-OBERSCHULE, Berlin, Reinickendorf

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Fotos aus dem Deutschen Theater im Rahmen der Kickoff-Veranstaltung, September 2011 Lehrer_innen der HERBERT-HOOVER-SCHULE, Berlin, Wedding

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Probenprozess-Fotos, September 2011 – Mai 2012

HEINZ-BRANDT-SCHULE, Berlin, Weissensee

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Probenprozess-Fotos, September 2011 – Mai 2012

SCHULE AM RATHAUS, Berlin, Lichtenberg

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Alles entsteht aus einem Interesse heraus

Beteiligung und Nachhaltigkeit in Programmen Kultureller Bildung

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von Heike Riesling-Schärfe (redigierter Tagungsbeitrag, November 2012)

In meinem Vortrag gehe ich der Frage nach, ob wir nicht schlichtweg einem Trugschluss unterliegen, wenn wir behaupten, durch Programme der Kulturellen Bildung an Schulen junge Leute wirklich ernsthaft zu beteiligen. Das meine ich durchaus selbstkritisch in meiner Rolle als Stiftungs­ vertreterin. Fragen wir uns: Wo lassen wir sie nur mitwirken, wo mitbestimmen und wo ist Platz, etwas selbst zu bestimmen? Ich werde zweitens versuchen, nicht nur die Schwierigkeiten zu benennen, die Beteiligungsprozesse in Kulturprojekten mit Kindern und Jugendlichen aufwerfen, sondern auch einen Blick darauf wagen, wie es gelingen kann. Erfahrungsbasis bildet dabei unsere Förderpraxis als Stiftung. Warum sich schließlich diese Anstrengung lohnt, darauf verweist der Titel dieses Vortrags: Ohne Beteiligung keine anhaltende Wirkung.

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Heike Riesling-Schärfe

1. Der Bluff mit der Partizipation Warum sind wir in der Kulturellen Bildung so um Partizipation bemüht? Wir ziehen daraus Legitimation, wir erhalten Fördermittel, wir schaffen eine bessere Welt, wir wissen darum, wie wichtig es ist, die Bedürfnisse der Zielgruppe zu kennen: Jugendforscher_innen weisen uns immer wieder darauf hin, dass die Gestaltungsmöglichkeiten junger Leute für ihr eigenes Leben gewachsen und insgesamt vielfältiger geworden sind: zum Beispiel bei der Wahl des Berufs, des Wohnortes oder der Partner_innen. Das Deutsche Jugendinstitut spricht davon, dass Jugendliche zu ›Planungsbüros‹ ihrer eigenen Biografien geworden sind. Es heißt: Junge Menschen haben die Wahl. Sie sind beteiligt, müssen aber stärker als früher die Verantwortung für ihr eigenes Handeln tragen. ›Früher‹, da galt für Jugendliche das Konzept der sogenannten Entwicklungsaufgaben – quer durch alle Disziplinen. Der Übergang vom Jugendzum Erwachsenenalter galt als geglückt, wenn bestimmte Entwicklungsschritte, Anforderungen von außen, erfüllt wurden: Zum Beispiel einen Bildungsabschluss erwerben, sich von den Eltern ablösen oder eine feste Bindung zu einem Partner auf bauen. Und so weiter. Nun sieht die Forschung Jugend seit einiger Zeit anders, nämlich als ›Konstruktionsprozess‹, bei dem die Jugendlichen zum Produzenten ihrer eigenen Entwicklung werden. Neben dem Abschluss bestimmter Aufgaben treten bei diesem Konzept besonders grundlegende Kompetenzen ins Bild, die als zentral für die Bewältigung von Lebensaufgaben gesehen werden. Diese werden mit Begriffen – oder vielmehr Ungetümen – wie ›Selbstwirksamkeit‹ und ›Lebenskohärenz‹ beschrieben. An dieser Stelle kommt die Partizipation ins Spiel: Die Jugendforschung teilt uns nämlich auch mit, wie wichtig es für eine positive Entwicklung im Jugendalter ist, an der Gesellschaft teilzuhaben (vgl. Deutsches Jugendinstitut 2012: 6).

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Unser Bildungssystem, konkret Schule, reagiert seit vielen Jahren darauf, indem sie sich als Institution nach außen ›öffnet‹. Wir als Förderstiftung legen großen Wert darauf, möglichst viele Kinder und Jugendliche zu erreichen, und fördern deshalb häufig Vorhaben von Kultureinrichtungen, die in Kooperation mit Schule stattfinden. Generell gilt die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Schule jedoch als eher schwach ausgeprägt. Dies trifft auch auf die Ganztagsschule zu (vgl. Arnoldt et al. 2012 und Arnoldt / Steiner 2010). Zudem sind die Mitwirkungsmöglichkeiten der Schüler_innen unterschiedlich stark ausgeprägt: Älteren Kindern werden weitreichendere eingeräumt als jüngeren. Mitwirkungsmöglichkeiten im Unterricht gibt es in der Regel wenige, während es im außerunterrichtlichen Bereich etwas besser aussieht. Aber auch hier werden keine neuen Formen der Partizipation ausprobiert. Studien belegen, dass Kinder und Jugendliche in erster Linie konsultiert, aber kaum aktiv in die Angebotsgestaltung einbezogen werden. Das betrifft die Frage, was angeboten wird, und die Art und Weise, wie die Angebote pädagogisch gestaltet werden. Dies also ist Teil unseres Bluffs, oder sollte ich sagen: Teil der Selbstüberschätzung der Akteur_innen der Kulturellen Bildung: Trotz außerschulischer Partner_innen und vielfältiger kreativer Angebote sind sogar Ganztagsschulen meistens kein Ort, an denen Mit- und Selbstbestimmung von Schüler_innen Platz hat. So entsteht mit jeder Kooperation ein riesiges Spannungsfeld für partizipative Vermittlungsansätze. Und gleichzeitig sind Kooperationsprojekte eine große Chance, neue Formen der Mitwirkung zu entwickeln. Mit nicht weniger ist JUMP  &  RUN – Schule als System vor zwei Jahren ja angetreten, nämlich damit, »die Schulreform an Berliner Sekundarschulen künstlerisch zu begleiten und ein Modell zur Entwicklung und Realisierung partizipatorischer Projekte an diesen Schulen zu entwickeln« (Harmsen et al. 2010: s. Seite 42 in diesem Band).

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2. Einige Schwierigkeiten Seit die PwC-Stiftung vor zehn Jahren damit begonnen hat, innovative Ansätze der Kulturellen Bildung für junge Menschen zu fördern, haben wir rund 10 Millionen Euro investiert. Im Wesentlichen hat es sich dabei um Projektförderungen gehandelt, die mit fast 300 Projektträger_innen durchgeführt wurden. 300 Projekt­ träger_innen, das heißt gleichzeitig: Es gab eine ungleich höhere Zahl von Antragsteller_innen und Konzepten, die wir gesichtet haben. Das Schwierigste dabei war die Auswahl. Wie viele Stiftungen sind auch wir erst mal induktiv an unser Förderfeld herangegangen. Das heißt, wir haben Projekte gefördert, wenn wir das Konzept und die Idee überzeugend fanden und wir davon ausgehen konnten, dass engagierte Expert_innen jungen Menschen zeigen, was ihnen Kultur bringt. Wir haben auf Breitenwirkung gesetzt und darauf, dass Kulturelle Bildung wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung ist. 2006, nach fast 100 Förderprojekten, haben wir uns dann gefragt, was es an spezifischen Merkmalen gibt, die erfolgreiche Initiativen auszeichnen: • Was hat eine längere Zeit anhaltende Wirkung? • Was erzeugt einen Nachhall bei den Beteiligten – also ›Wirkung‹? • Was sind tragfähige Ansätze, die es anzuschieben lohnt? Wir haben uns gefragt, was besonders bei der Projektorganisation zu beachten ist oder was wir bei der Konzeption vermeiden müssen, damit ein Vorhaben auf den richtigen Weg kommt. Dies wurde dann in der sogenannten ›Potenzialstudie‹ analysiert. Heraus kam, dass es unabhängig von der Art der Projekte oder der künstlerischen Sparte einige Qualitätsmerkmale gibt, die für den Erfolg der

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Vorhaben besonders entscheidend sind. Und davon zielen zwei besonders auf das Feld der Beteiligung: Einen deutlich positiven Einfluss auf die Qualität eines Projekts hat die aktive Beteiligung, das ›Selbst tun‹ der Kinder und Jugendlichen. Die Begeisterung, die aus Mitwirkung und Selbstbestimmung entsteht, wirkt nachhaltig für die Ziele des Projekts und die Bildungserfahrung der jungen Leute. Partizipation heißt aber auch: Der regelmäßige Austausch zwischen allen Beteiligten ist maßgeblicher Garant für den Erfolg. Dazu wurden in den letzten Jahren viele Verfahren der Qualitätssicherung in Kulturkooperationen erprobt: Dialogveranstaltungen, Round Tables, Reflexionsrunden, Fragebögen und vieles mehr. Die Verfahren sind also bekannt. In der Praxis fehlen oft Zeit oder Geld, manchmal Vermittler_innen, ›Übersetzer_innen‹, Prozessbegleiter_innen. Manchmal stehen aber auch schlicht andere Dinge für die Kooperationspartner_innen im Vordergrund: Für die Schule: Die Anstrengung, ein Kulturprojekt zusätzlich zu dem zu stemmen, was Regelunterricht heißt. Der Zweistundentakt des Lernens, die Notenkonferenz, der Nachweis, dass die kulturellen Fächer ›nützlich‹ sind. Für die Kultureinrichtung: der Erfolg beim Publikum und bei Förderern, das künstlerische Produkt, das Sichtbarmachen von Engagement für die nachwachsende Generation. Kulturprojekte mit Kindern und Jugendlichen dienen ja auch diesem Zweck: Zwei Enden der Welt kommen auf der Bühne oder in einem Museum zusammen. Jugendliche inspirieren die Künste. Ein neues Modell für Kreation entsteht. Gesellschaftliche Themen werden authentisch auf die Bühne geholt. Karola Marsch schreibt in der Broschüre ›Sagen wir Wie. Der Theater­ pädagogische Salon‹ des Theaters an der Parkaue:

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»Wenn die einzelnen Beteiligten Entscheidungen über Auswahl, Inhalt, künstlerische Komposition treffen, findet eine Übertragung der künstlerischen Verantwortung am Gesamtprodukt statt, die das Projekt zu ihrem macht.« (Marsch 2012: 1) Das klingt gut und gelingt wohl manches Mal. Gerade die Theaterpädagogik hat eine Vielzahl solcher Ansätze erprobt. Ich muss aber zugeben: Bei einigen der Konzepte, die ich so im Jahr lese, beschleicht mich ein Gefühl des Unwohlseins. Dann frage ich mich, ob das aus Kinderperspektive funktioniert: Alltag und Realität als künstlerisches ›Material‹, das ungleich verteiltes Können, einseitige Definitionsmacht und Gestaltungsmöglichkeit irgendwie auszuklammern scheint. Wie sieht es da aus in unseren Förderprojekten? Mitwirken unbedingt, Mitbestimmen manchmal, Selbstbestimmen meistens Fehlanzeige. Wenn sich Pädagog_innen und Künstler_innen im Vorfeld über kulturelle Kooperationsprojekte verständigen, steht das Interesse der Kinder und Jugendlichen naturgemäß oftmals nicht an erster Stelle der Planungen. Nicht, dass sie beim Umsetzen nicht einbezogen würden, aber schon beim Planen? Und was ist mit dem Ergebnis? Was sind wir dort bereit auszuhalten? Ich erlebe in unserer täglichen Stiftungsarbeit, dass Kooperationsprojekte der Kulturellen Bildung mit Kindern und Jugendlichen oft lediglich der Teilhabe am künstlerischen Prozess eines anderen dienen: Die Erwachsenen, Lehrer_innen, Kulturpädagog_innen und Künstler_innen sind mit ihrem Kooperationsprozess mehr als ausreichend beschäftigt. Sie geben vor, die Kinder machen – im Idealfall mehr – oder eben weniger mit.

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Denn die haben für Beteiligungsprozesse ein sehr feines Sensorium. Schnell entsteht Unlust, Überforderung, Verweigerung. Darauf spielt ja auch der heutige Tagungstitel an: ›Inszenierung zwischen Verweigerung und Transformation‹.

3. Wie es gelingen kann Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe große Sympathien für Vorhaben, die Kinder und Jugendliche als ›Experten des Alltags‹ ernst nehmen. Da sind wir ja selbst als Stiftung aktiv mit unserem Kultur.Forscher!-Programm. Was, so haben wir uns bei Kultur.Forscher! gefragt, kommt dabei heraus, wenn die Fragen von Kindern und Jugendlichen konsequent im Mittelpunkt eines Programms stehen? So gehen wir mit dem Dilemma zwischen künstlerischem Herangehen, der Systemlogik von Schule und dem Selbstbestimmungsanspruch von Kindern und Jugendlichen um. Was sagen die jungen Leute dazu: »Am Anfang ist der Prozess schwierig: ein Thema finden, ins Thema reinkommen. Dafür ist es aber auch später mein Thema. Da bin ich selbst verantwortlich. Ich mache das nicht für irgendeinen Lehrer, sondern weil ich mir das ausgesucht habe.« – so eine Schülerin. 1 Die Schüler_innen in den Mittelpunkt stellen: Das hat manchmal etwas Radikales, wie zum Beispiel beim ›Children's Choice Award‹ der diesjährigen Ruhr-Triennale des Intendanten Heiner Goebbels. Über 70 Schüler_innen aus drei Schulen des Ruhrgebiets als Festivaljury, sozusagen die ›freiwillige Selbstkontrolle‹ von anspruchsvollen künstlerischen Produktionen. Die Schüler_innen radikal in den Mittelpunkt stellen: Das ist in der Praxis manchmal schwierig.  1 | Diese und folgende O-Töne von Schüler_innen und Lehrer_innen sind Gesprächen mit den Beteiligten entnommen, u. a. dem EDUCULT-Round-Table mit den Schüler_in­ nen (vgl. EDUCULT 2011).

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Ich wünsche mir aber mehr davon! Und sei es nur als konsequente Haltung. Denn sich klarzumachen, welche Möglichkeiten es gibt, die Beteiligung von Kindern zu stärken, das geht eigentlich immer. Mir hat es sehr geholfen, dass wir nach vielen Gesprächen im Programm Kultur.Forscher! nun relativ genau die Schüler_innen-Orientierung mit ihren partizipativen Anteilen beschreiben können. 2 Diese sind: 1. auf der Schüler_innen-Mitwirkungsebene: Rahmenthema setzen, Methodenwahl, Horizonte öffnen, For­ schungs­­­orte finden (Im Unterschied zu Schüler­mitbestim­mung sind hier die Vorgaben durch die Lernbegleiter_in­nen vorrangig; sie binden die Schüler_innen in das Finden von Ideen mit ein, aber entscheiden letztlich, welche Variante realisiert wird.) 2. auf der Schüler_innen-Mitbestimmungsebene: Rahmenthema mitentscheiden, Forschungsorte entscheiden, Selbsteinschätzung treffen 3. auf der Schüler_innen-Selbstbestimmungsebene: Forschungsfragen finden und entscheiden, Form entscheiden, Präsentationsform wählen (Dies als höchste Form der Partizipation; die Schüler_innen entscheiden weitestgehend allein den Lernprozess.)

›Zwischen Anleitung und Freiheit‹ wird so zum Leitmotiv der Arbeit der Lehrer_innen und Künstler_innen in Kulturkooperationen. Dadurch wandeln sich Rollen und Erwartungshaltungen – zum Beispiel die der Schüler_innen an die Lehrer_innen: »Ich finde, Lehrer sollten mehr als Moderator die Meinung der Schüler ein bisschen rauskitzeln. So sollte ein Lehrer drangehen. Nichts aufdrücken, aber sich auch nicht raushalten.«  2 | Ergebnisse der Projektgruppe ›Schülerorientierung und Partizipation oder: For­ schend entwerfen – entwerfend forschen‹. In: Materialien vom Netzwerktreffen Kultur. Forscher! 11. und 12. Mai 2012 in Kassel. Online unter: http://www.kultur-forscher.de/ aktuelles/detail/browse/10/artikel/wissen-und-e.html [20.07.2015]

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Es scheint selbstverständlich, wird aber bei vielen Kooperationsprojekten noch nicht konsequent umgesetzt: Gelegenheiten von Reflexion und Austausch für das Mitbestimmen der Schüler_innen: Gemeinsam über den Stand des Projekts nachdenken, über die eigene Motivation sprechen und das weitere Vorgehen planen. Je nach Grad des Vorwissens der Schüler_innen können die Partizipationsstufen variiert und weiterentwickelt werden. Hilfsmittel zur Mitbestimmung sind dabei zum Beispiel ein Klassenoder Projektrat oder ganz ›einfache‹ Dinge wie zum Beispiel eine Kiste, in der Ideen und Wünsche, Beschwerden und Verbesserungsvorschläge deponiert werden können. Unsere Erfahrung in Projekten Kultureller Bildung ergibt ganz klar die Forderung der Schüler_innen, dass ihre Mitbestimmung erhöht werden soll. Befragte Schüler_innen wünschen sich mehr Offenheit gegenüber Themen, die von ihnen selbst vorgeschlagen werden. Ein Thema würde vielleicht zunächst einmal banal wirken, sagt ein Schüler: [...] aber eigentlich steckt viel dahinter. Das würde ich mehr bevorzugen als zu sagen: Wir machen jetzt ein Theaterstück zu einem Buch, das ihr euch nicht selbst ausgesucht habt.

Die Schüler_innen wünschen sich klare Ziele, eine klare Kommunikation und Raum für Reflexion und Mitbestimmung. Wir sollten uns immer wieder klarmachen, wie wichtig das für den Erfolg eines Projekts ist! Ein Zweites kommt hinzu. In unseren Förderprojekten erlebe ich oft, dass besonders die Lehrer_innen, große Erwartungen an die Freiräume haben, die Kulturkooperationen ihnen für Bildungsprozesse eröffnen können: Als Physiklehrer habe ich gemerkt, dass ich viele Jugendliche emotional nicht erreiche. Ich bin nicht an sie rangekommen.

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+ Kapital, symbolisches Der Soziologe Pierre Bourdieu übernahm den Kapi­ talbegriff von Karl Marx und sieht in der Verfügung oder Nicht-Verfügung von Kapital ein zentrales Kriterium zur Bestimmung der Klassenstruktur einer Gesellschaft. Während ›Kapital‹ bei Marx vor allem auf den Bereich der Ökonomie und die dort herrschenden Produktions-, Besitz- und Tauschverhältnisse bezogen war, erweitert Bourdieu den Begriff substanziell: Klassen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Verfü­ gungsmöglichkeiten über die drei Kapitalsorten ökonomisches Kapital (materieller Besitz in Form von Geld oder konvertierbarer Sachwerte), soziales Kapital (Ressourcen in Form sozialer Beziehungen oder von Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen) und kulturelles Kapital in Form von inkorporiertem (z. B. Bildung), institutionalisiertem (z. B. Ausbildungstitel) oder objektiviertem kulturellen Kapital (z. B. Besitz von Büchern oder Gemälden). Alle drei Kapitalsorten wirken zusammen und bestimmen die Position des Einzelnen in dem durch unterschiedliche Felder (z. B. Politik, Kultur, Wirtschaft, Religion) gegliederten sozialen Raum. Das symbolische Kapital ist hingegen keine eigene Kapitalsorte, sondern der symbolische Effekt der genannten Kapitalsorten, der sich in Formen der Anerkennung wie beispielsweise soziales Ansehen, Erfolg oder Ehrungen ausdrückt. »Das symbolische Kapital steht nicht fest, sondern hängt von den Regeln der Gruppe ab, die es anerkennt oder ablehnt. Insofern gibt es auch einen ständigen Kampf um die symbolische Ordnung, in die man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird. Eine symbolische Ordnung beinhaltet immer Bewertungen, bringt also zum Ausdruck, was wichtiger oder weniger wichtig, richtig oder falsch, gut oder schlecht ist.« (Abels / König 2010: 207, Hervorhebung im Original) Ob jemand erfolgreich ist, also möglichst viel symbolisches Kapital akkumulieren kann, hängt daher nicht zuletzt von der Definitionsmacht derjenigen Akteur_innen innerhalb eines Fel­ des ab, die zu einem gegebenen Zeitpunkt bereits über besonders viel symbolisches Kapitel verfügen. Wer neu in ein Feld eintritt, muss sich an den darin gültigen Werten orientieren, um symbolisches Kapital zu erlangen. Bei wachsender Anerkennung ist es möglich, die Werte und Regeln innerhalb des jeweiligen Feldes mitbestimmen zu können. Voraussetzung für das Funktionieren dieses ›ernsten Spiels‹ (Pierre Bordieu) ist allerdings, dass die Beteiligten eine implizite Übereinkunft über die Bedeutung dessen verbindet, was innerhalb eines Feldes auf dem Spiel steht (vgl. ↘ Nomos /Illusio, s. Seite 83). Die Erläuterung folgt inhaltlich der im Text zitierten Quelle: Abels, Heinz/König, Alexandra (2010): Sozialisation: Soziologische Antworten auf die Frage, wie wir werden, was wir sind, wie gesellschaftliche Ordnung möglich ist und wie Theorien der Gesellschaft und der Identität ineinander spielen. Studientexte zur Soziologie. Springer VS: Wiesbaden.

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Dann habe ich die Fortbildung ›Darstellendes Spiel‹ gemacht. Jetzt machen wir Theater im Physikunterricht.

Oder, wie eine Lehrerin es bei einem Arbeitstreffen zu JUMP & RUN –  Schule als System ausgedrückt hat: Dass ich als Lehrerin den tollsten Beruf der Welt habe, aber gefangen bin in einem schrecklichen System.

Ich komme zum Schluss.

4. Warum sich diese Anstrengung lohnt oder: Was Partizipation mit Nachhaltigkeit zu tun hat Wenn Jugendliche selbst mitbestimmen und mitgestalten können, ist das nicht nur ein erster Schritt, ihnen Erfahrungen zu vermitteln, die gut für ihr Selbstwertgefühl sind, sondern es ist ein zentraler Erfolgsfaktor für die nachhaltige Wirkung eines Kulturvermittlungsprojekts: Ein möglichst hoher Grad von Mitbestimmung fördert die Motivation junger Zielgruppen und ist wichtig für das Gelingen! Und die Mitbestimmung wirkt noch weit über den Projektkontext hinaus! Wenn bei Schüler_innen die aktive Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur gelingt, entwickeln sie breit gefächerte Methoden- und Sozialkompetenz und lernen, ihren Lernprozess selbst zu organisieren (vgl. EDUCULT 2011). Das reklamiert die Kulturelle Bildung ja ohnehin schon seit langem für sich. Es passiert aber noch mehr: Die Schüler_innen werden zu Expert_innen in ihrem Thema und berichten von einem großen Wissenszuwachs! Und das ist besonders wichtig für Schule: Die Lehrer_innen sind begeistert, welche Motivation fürs Lernen sich hier Bahn bricht.

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Wir machen bei unseren Projektauswertungen immer wieder die Erfahrung, dass Schüler_innen, wenn sie sich in der Schule in einem eigenen ›kreativen Feld‹ bewegen, bei weitem leistungsfähiger sind als im normalen Schulalltag. Hier werden nicht nur Methoden und Inhalte gelernt, sondern ein ganzheitlicher Lernprozess wird ›verinnerlicht‹. Lehrerkollegien, wenn sie in die Projektarbeit miteinbezogen werden, wünschen sich danach oftmals eine stärkere Ausprägung der ›Kulturellen Praxis‹ an ihrer Schule. Noch ein weiterer Punkt wird oft aus dem Blick verloren: Das Ziel des Vorhabens bei Kooperationsprojekten fest im Blick zu haben. Das gilt für eigene Vorhaben und für Programme Dritter, wie sie zum Beispiel Stiftungen ausschreiben: Ein Projekt, das neue künstlerische Formate, neue Vermittlungsangebote oder Modelle für eine bestimmte Zielgruppe entwickeln will (JUMP  &  RUN – Schule als System), ist etwas anderes als ein Vorhaben zur Unterstützung von Schulentwicklung (Kultur.Forscher!) oder ein Förderprogramm zur regionalen Vernetzung von Schulen und Partnern der Kulturellen Bildung (Kulturagenten). Jedes dieser Vorhaben benötigt andere Rahmenbedingungen, wir sagen im Stiftungsdeutsch dazu ›Programmarchitektur‹. Ziele und Rahmenbedingungen von Anfang an deutlich zu machen, das ist Aufgabe derer, die sich Projekte und Programme ausdenken! Und bei allen Vorhaben macht nicht der Einsatz bestimmter Methoden und Medien die Vermittlung partizipativ, sondern die Einstellung derer, die mitmachen, und ein Umdenken der beteiligten Häuser. Nutzen Sie das Potenzial der Kulturellen Bildung, um neue Formen der Partizipation an Schule und der Partizipation am Theater, an der Oper, im Museum zu finden! Überraschen Sie die Schüler_innen!

alles entsteht aus einem interesse heraus

Lassen Sie, wie eine Schülerin es ausgedrückt hat, »im Dunkeln die Gedanken in Farbe sprühen.« 3 Neue Formen, das heißt auch, dass wir daran nicht vorbeikommen: An der Tendenz, bei der Entwicklung neuer Vermittlungsangebote diese stärker als bislang auf individuelle Interessenlagen und verschiedenartige Erfahrungshorizonte zu beziehen. Schulen sind vor Herausforderungen gestellt. Lehrkräfte gestalten ihre Rolle und ihren Unterricht neu. Sie erweitern ihr Methodenrepertoire, werden von Wissensvermittler_innen zu Lernbegleiter_innen und orientieren sich stärker am Prozess als am Ergebnis. Und Kultureinrichtungen sind dazu aufgerufen, in ihrer Vermittlungsarbeit darauf zu reagieren: in Bildungsprogrammen, in Ausstellungs­ konzepten, in Aufführungen. Dies scheint mir ein Schlüssel zum Erfolg von Kooperationsprogrammen zwischen Kultureinrichtungen und Schulen: Dass es ihnen gelingt, die Schulkultur zu verändern. Das ist die große Chance der Beteiligung: Neue Formen der Rhythmisierung, der Teamarbeit, des fächervernetzenden Unterrichts, der Bewertung und der Kooperation mit außerschulischen Partner_innen werden etabliert. Nachhaltigkeit zeigt sich dann ganz praktisch darin, dass sich die Ansätze und Methoden Kultureller Bildung einen festen Platz im Curriculum der Schulen erobern, über Fächergrenzen hinweg. Auch wenn eine Stiftung Ihr Projekt fördert: Rufen Sie sich immer wieder ins Gedächtnis, dass es um den Prozess beim Miteinander-Arbeiten geht! Vertrauen Sie ruhig darauf, dass das Produkt: die Aufführung, die Präsentation, das Stück, am Ende entsteht.  3 | Literaturhaus Hamburg (2012): Flyer zum Projekt ›Gedankenflieger‹.

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Denn die Produktorientierung ist sowieso bei allen da: bei Lehrer_innen, Eltern, Kindern, Künstler_innen! Wenn Sie sich jetzt noch fragen, warum er sich lohnt, der ganze Aufwand mit der Partizipation? Wie hat es ein Lehrer bei JUMP  &  RUN – Schule als System gesagt? […] alles, wirklich alles, entsteht aus einem Interesse heraus.

Dr. phil. Heike Riesling-Schärfe ist Kulturwissenschaftlerin und Vorständin der Denkwerkstatt der Montag Stiftungen, einer unabhängigen und gemeinnützigen Stiftungsgruppe mit Sitz in Bonn. Bis 2013 war sie im Stiftungsteam der PwC-Stiftung Jugend - Bildung – Kultur verantwortlich für das Förderprofil der Stiftung.

literatur Arnoldt, Bettina / Steiner, Christine (2010): Partizipation an Ganztagsschulen. In: Betz, Tanja / Gaiser, Wolfgang / Pluto, Liane (Hg.): Partizipation von Kindern und Jugendlichen – Akteure, Institutionen, Projekte. Forschungsergebnisse und gesellschaftliche Herausforderungen. Schwalbach/Taunus: Wochenschau Verlag. Seite 155 – 178. Arnoldt, Bettina / R auschenbach, Thomas / Steiner, Christine / Stolz, Heinz-Jürgen (2012): Ganztagsschule als Hoffnungsträger für die Zukunft? Ein Reformprojekt auf dem Prüfstand; herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung. Bielefeld. Deutsches Jugendinstitut (2012): DJI Impulse. Bulletin des Deutschen Jugendinstituts. Heftnummer 99. Jahrgang 3/2012. Online unter: http://www.dji.de/fileadmin/user_ upload/bulletin/d_bull_d/bull99_d/DJIB_99.pdf [20.07.2015] EDUCULT (2011): Abschlussbericht Programmevaluation Kultur.Forscher!. Wien. Online unter: http://www.kultur-forscher.de/index.php?id=240 [20.07.2015] Harmsen, Mijke / Stang, Kristina / Willenbacher, Sascha (2010): Konzeptpapier zum Projekt JUMP & RUN – Schule als System. In diesem Band ab Seite 42. Das Papier wurde bei der PwC-Stiftung als Projektförderantrag eingereicht und war auch die Basis für einen Antrag beim Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung. Marsch, Karola (2012): Editorial. Der Theaterpädagogische Salon. In: Theater an der Parkaue (Hg.): Sagen wir Wie. Der Theaterpädagogische Salon. Berlin. Seite 1.

Nomos / Illusio Der Soziologe Pierre Bourdieu vermied den Begriff ›Ge­ sellschaft‹ und sprach stattdessen von einem sozialen Raum, der sich in soziale Felder ausdifferenziert. Soziale Felder entsprechen gesellschaftlichen Teilbereichen wie Wirtschaft, Politik oder Kultur, die spezifische Kontexte in Form von Unterfeldern hervorbringen. So entfalten sich im Feld der Kultur die Unterfelder Kunst, Musik, Schule etc. Die Sozialstruktur eines jeden Feldes geht aus Positionen hervor, die in hierarchischer Beziehung zueinander stehen und die von den sozialen Akteur_innen besetzt werden. Grundsätzlich geht es für die Akteur_innen beim Eintritt in ein soziales Feld darum, dass sie zu Spieler_innen in einem ›ernsten Spiel‹ (Bourdieu) um Ressourcen und um ↘ symbolisches Kapital werden. Dabei dienen die sozialen Kämpfe zwischen den Akteur_innen der Verbesse­ rung der eigenen Position, wobei jedes Feld von spezifischen Regeln bezüglich dessen struk­ turiert wird, was im Sinne des jeweiligen Spiels als erfolgreich anerkannt wird. Diese ›Regeln‹ oder auch Logik nennt Bourdieu ›Nomos‹ (altgriech. für Gesetz, Brauch, Regel). Es handelt sich dabei um handlungsleitende Annahmen seitens der Spieler_innen darüber, was ›richtig‹, ist und stellt ein feldspezifisches ›Grundgesetz‹ dar (vgl. Barlösius 2011: 94). Der Nomos im ökonomischen Feld lautet in etwa ›Geschäft ist Geschäft‹ oder im Feld der Bildung ›jede_r ist bildungsfähig‹ (vgl. Barlösius 2011: 94). Mit Nomos wird also eine Übereinkunft bezeichnet, die zwar kein allgemeingültiges Gesetz darstellt, dafür aber den Schein von Objektivität erhält und nicht nur die feldinterne Sichtweise festlegt, sondern auch den grundsätzlichen Blickwinkel bestimmt, von dem aus die anderen Felder betrachtet werden (vgl. Barlösius 2011: 94). Zudem produziert jedes Feld eine bestimmte Art von Interesse, »welches vor allem darin besteht, den Nomos feldintern durchzusetzen und gegenüber Ansprüchen von anderen Feldern zu behaupten« (Barlösius 2011: 95). Die Spieler_innen eines Feldes unterwerfen sich darüber hinaus – in der Regel unbewusst – bis zu einem gewissen Grad einer Wirklichkeitsillusion, der sogenannten ›Illusio‹. Diese ver­ leiht den ›ernsten Spielen‹ ihren Sinn. So wie jedes Feld eine spezifische Form von Interesse voraussetzt, aktiviert es auch eine spezifische ›Illusio‹, die nötig ist, um daran glauben zu können, dass das Spiel den eigenen Einsatz lohnt. Im Feld der Bildung besteht die Illusio beispielsweise darin, dass es allen die gleichen Bildungschancen und damit die gleichen Zugangs­chancen zu den anderen Feldern eröffnet. Die Illusio bewirkt, dass die sozialen Kämpfe auf den Feldern meist unerkannt bleiben, so dass sie einzig der Durchsetzung der feldspezifischen Sichtweise zu dienen scheinen (vgl. Barlösius 2011: 101). »Auf diese Weise vollzieht sich die soziale Strukturierung der Felder quasi hinter dem Rücken der Akteure, weil sie von der Wirklichkeitsillusion übertüncht wird.« (Barlösius 2011: ebd.) Die Erläuterung folgt inhaltlich: Barlösius, Eva (2011): Pierre Bourdieu. Frankfurt/New York: Campus Verlag.

+

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+ Darüber, hinaus

Mehrwert mit Marx: den über den Wert der Arbeitskraft hinausgehenden Teil der Wertschöpfung

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von Carmen Mörsch (redigierter Tagungsbeitrag, November 2012)

Von den Veranstalter_innen des Projekts JUMP & RUN – Schule als  System wurde ich dazu eingeladen, einen Beitrag zu der Frage zu verfassen, welche Mehrwerte sich aus dem Projekt für die verschiedenen am Projekt Beteiligten ergäben. Als Material standen mir das Konzeptpapier zu JUMP & RUN – Schule als System vom September 2010, Videomitschnitte der Aufführungen vom Festival im Mai 2012, Fotos von den Proben, Erzählungen aus der Begleitforschung 1 und einige kurze Unterhaltungen mit Kolleg_innen, die das Projekt am Rande mitverfolgten, zur Verfügung. Bei der Vorbereitung des Beitrags merkte ich, dass dies nicht genügte, um die Frage nach den Mehrwerten auf eine interessante Weise, das heißt, über das schon Gewusste hinaus, zu beantworten. Stattdessen versuche ich in diesem Text zunächst – auf der Grundlage des genannten Materials und basierend auf meinen eigenen Erfahrungen aus der Forschung und aus der Praxis in der Zusammenarbeit von Kunst und Schule –, über einige Erwartungen und Interessen der zentralen Spieler_innen auf dem Feld von Kooperationsprojekten in der Kulturellen Bildung zu spekulieren. Dabei gehe ich, den Begriff des ›Mehrwerts‹ im Auge behaltend (der schon darauf hinweist, dass es in Projekten wie JUMP & RUN – Schule als System auch ums Geschäftemachen  1 | Das ›Institute for Art Education‹ (IAE), ein Forschungsinstitut für ästhetische Bildung und Kunstvermittlung, welches ich an der Zürcher Hochschule der Künste leite, hat­ te den Auftrag einer Begleitforschung für das Projekt JUMP & RUN – Schule als System übernommen. Die Ergebnisse finden sich im Text von Sascha Willenbacher in diesem Band (s. Seite 191 – 315).

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geht), vom Konzept der Kapitalsorten des Soziologen Pierre Bourdieu aus: dem uns bekannten ökonomischen Kapital (dem Geld), dem sozialen (Kontakte, Beziehungen, Anerkennung) und dem kulturellen Kapital (Bildung, Kennerschaft). Ökonomisches Kapital ist besonders hilfreich, um die anderen beiden zu akkumulieren. Bourdieu beschreibt gesellschaftliche Teilbereiche als Spielfelder, auf denen sich Spieler_innen, die unterschiedlich gut mit diesen Kapitalsorten ausgestattet sind, bewegen. Die Währungen können dabei je nach Spielfeld variieren, und sie sind im Prozess beständiger Aushandlung. Zweck des Spiels ist es, das nächste Level zu erreichen, Macht und Erfolg im Sinne des Spiels zu erlangen: auf die Position derer zu kommen, welche die Währung jeweils am stärksten definieren. Der Titel ›JUMP & RUN – Schule als  System‹ gewinnt aus dieser Perspektive eine zusätzliche Dimension: Das Leben und das Zusammenleben in der spätkapitalistischen Gesellschaft westlicher Prägung könnte insgesamt als Plattformspiel betrachtet werden. Die Schule ist darin ein mit anderen verbundenes Teilsystem, eine Plattform mit Unterplattformen – und das Theater, die Bildungs- und Kulturpolitik, die freiberufliche Szene der Kulturschaffenden sind weitere. Die Interessen, die Hoffnungen und Erwartungen der Spieler_innen dieser Felder werden durch die jeweils gültigen Währungen bestimmt und bringen diese Währungen gleichzeitig selbst hervor. Das macht die Spiele auf den Feldern im Sinne Bourdieus so schwer durchschaubar – Macher_innen und Gemachtes, Ursachen und Effekte sind nicht klar voneinander zu unterscheiden. Die Interessenslagen, die im Kooperationsprojekt JUMP & RUN –  Schule als System die Währungen bestimmten und die Tauschgeschäfte antrieben, stelle ich mir ungefähr so vor: Schüler_innen, die bereits mit einem gewissen kulturellen und sozialen Kapital ausgestattet sind, sich also zum Beispiel für talentiert und beliebt halten und für wert, anerkannt zu werden, und die dies auch gespiegelt bekommen, erwarten von dem Projekt, mit einem / einer Künstler_in zusammenzuarbeiten und so Kenntnisse darüber zu erlangen, wie Theater funktioniert; mit einem richtigen Theater der Stadt zu arbeiten, aufzutreten, sich darzustellen, öffentlich zu werden, um zu zeigen, was sie können. Möglicherweise erwarten sie sich auch einen Gewinn davon, einen gesellschaftlich als sinnvoll anerkannten Beitrag zu leisten und ihre persönlichen Fähigkeiten in der Zusammenarbeit im Prozess zu beweisen. Alle Schüler_innen, vor allem aber die, für die oben Genanntes nicht zutrifft, die also eher davon ausgehen, dass ihr Kapitalrucksack ziemlich

darüber, hinaus

dünn bestückt ist, machen sich wahrscheinlich die Hoffnung, dass sich das, was da kommt, von der Schule unterscheidet. Sie freuen sich möglicherweise darauf, einmal etwas anderes zu machen, vielleicht neue Freundschaften zu finden, Verhältnisse im Klassenverband neu zu definieren, sich anders zeigen zu können als sonst, eine andere Rolle zu spielen. Oder gerade: die gleiche Rolle wie sonst zu spielen, aber ausgefeilter, sie unter neuen Bedingungen zu testen. Die Lehrer_innen möchten ihrerseits den Schüler_innen etwas bieten und dadurch bei ihnen an Anerkennung gewinnen – sie möchten ihre Arbeit gut machen, und das Projekt soll ihnen dabei behilflich sein. Sie möchten ihre Schüler_innen beim Lernen unterstützen – einem Lernen, das mit der Perspektive geschieht, im Leben nach der Schule möglichst zu bestehen, nicht mit den geltenden Gesetzen in Konflikt zu kommen und trotzdem glücklich zu werden. Das Projekt soll die Lehrer_innen aus ihrer Sicht dabei unterstützen, den Schüler_innen Disziplin, Konzentrationsfähigkeit, sozial verträgliches Verhalten, Artikulationsfähigkeit, Lesen und Schreiben beizubringen. Sie möchten möglicherweise die Schule, an der sie arbeiten, und auch die eigene Person innerhalb des Kollegiums durch eine Zusammenarbeit mit renommierten Theatern profilieren. Sie hoffen, in der Zusammenarbeit mit den Künstler_innen neue positive Lehrerfahrungen zu machen, also eine Kraft- und Motivationsspritze zu erhalten. Mindestens jedoch erwarten möglicherweise auch sie, ähnlich wie ihre Schüler_innen, eine Unterbrechung des eigenen Schulalltags. Die am Projekt beteiligten Theater möchten, so lässt sich aus dem mir vorliegenden Material herauslesen, künstlerische Verfahren vermitteln und dadurch Verständnis und Kennerschaft im Sinne einer Lesefähigkeit für das zeitgenössische Theater erzeugen – es geht ihnen um eine ›Alphabetisierung‹ in Bezug auf das Theater der Gegenwart. Sie möchten Begeisterung für das Theater wecken. Gleichzeitig geht es auch um den Zugewinn von symbolischem Mehrwert im Sinne einer weiteren Profilierung als Speerspitze der Theatervermittlung. Davon zeugt die ehrgeizige Anlage des Projekts, welche aktuelle Diskussionen wie die um Partizipation, die Arbeit mit professionellen Künstler_innen, die Anwendung von ästhetischen Verfahren des Theaters in der Vermittlung, die Durchführung eines Langzeitprojekts unter einigermaßen guten ökonomischen Bedingungen aufgreift. Im Zuge eines gegenwärtig stark spürbaren Interesses des künstlerischen Feldes am pädagogischen möchten die Theater demonstrieren, dass ihr hoher künstlerischer, sozialer und politischer Anspruch sich auch in ihrer Vermittlungsarbeit spiegelt: Produktion und

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+ Subjekt (aus der Sicht ›klassischer‹ Subjektphilosophie) Der Begriff ›Subjekt‹ (griech. hypokeimenon: das ›Zugrundeliegende‹; lat. subiectum: ›Unterworfenes‹) bezeichnet eine sozio-historisch bedingte, wirklichkeitswirksame Selbstauslegung des Menschen, in der es um sein Verhältnis zur Welt und seiner Bedeutung darin geht. Das in diesem ↘ Diskurs entfaltete Selbstverständnis ist mit Blick auf Antike und Christentum eng an europäische Kontexte gekoppelt. Eine wichtige Bedingung für die Entstehung des modernen Subjekts war der Zerfall vormoderner Seinsordnungen sowie die Herausbildung eines entsprechenden Subjektbegriffs in der neuzeitlichen Philosophie seit René Descartes (1596 - 1650). Dies geschah unter anderem auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie. Dort machte Descartes das ›denkende Ich‹ zur nicht weiter bezweifelbaren Grundgewissheit der eigenen Existenz: »… das Denken des Ich, das allein als Bewusstsein seiner selbst verstanden wird, wird zum ›Zugrundeliegenden‹« (Ricken 1999: 48). Wäh­ rend sich vormoderne Menschen also noch als zufälliger, quasi-objekthafter Teil einer göttlichen Ordnung empfunden haben, deren gegebener Sinn es im ›Buch der Natur‹ zu enträtseln galt, begann sich dieses Selbstverständnis mit Descar­ tes geradezu umzukehren: Die Welt außerhalb des eigenen Denkens wurde zum Objekt, dessen sich der Verstand bemächtigte. Die folgenreiche Trennung in Subjekt und Objekt, die bei Descartes ihren Anfang nahm, lässt der vormodernen Einfügung in Gottes Ordnung die moderne Selbstermächtigung über die Welt (und den eigenen Körper) folgen sowie die Überzeugung, dass das Ich durch sich selbst konstituiert und darin allein auf sich selbst gestellt ist (vgl. Ricken 1999: 49). Der Philosoph Emmanuel Lévinas verweist auf die problematische Seite des daraus resultierenden Subjektverständnisses, wenn er schreibt: »›Ich denke‹ läuft auf ›ich kann‹ hinaus – auf eine Aneignung dessen, was ist, auf eine Ausbeutung der Wirklichkeit« (Lévinas zitiert nach Ricken 1999: 49). Das ›klassische‹, nach wie vor dominante Subjektverständnis, dessen Leitelemente sich zwischen 1600 und 1800 entwickelten (vgl. Reckwitz 2008: 12), beruht auf der Grund­ annahme einer Autonomie des Subjekts: Unabhängig von äußeren Bedingungen hat es seinen Grund in sich selbst, erscheint es als universale, allgemeingültige und überzeitliche Instanz der Reflexion, des Handelns und des Ausdrucks (vgl. Reckwitz 2008: 12). Innerhalb dieser Konzeption werden dem Subjekt bestimmte Eigenschaften wie Erkenntnisfähigkeit, Bewusstheit, Selbstbestimmung, Identität (Einheit) der Bewusstseinsakte, Autorschaft über das eigene Denken, Reden und Handeln sowie Rationalität zugeschrieben. Posselt, Gerald (2003): Glossareintrag zum Begriff ›Subjekt‹. Online unter: http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=28 [20.07.2015] Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt. Bielefeld: transcript. Ricken, Norbert (1999): Subjektivität und Kontingenz: Markierungen im pädagogischen Diskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann. Sattler, Elisabeth (2009): Die riskierte Souveränität. Erziehungswissenschaftliche Studien zur modernen Subjektivität. Bielefeld: transcript.

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Vermittlung sollen ineinander greifen, ohne dabei ihre produktive Reibung zu verlieren. Die Künstler_innen (oder, wenn sie sich selbst nicht gerne so bezeichnen, die Kulturschaffenden): Sie wollen, sie müssen Geld verdienen. Sie wollen mit renommierten Theatern arbeiten, kollegiale Vernetzung betreiben, Öffentlichkeit für ihre Arbeit gewinnen, künstlerisch hochwertige Produktionen erstellen, ihre inhaltlichen Interessen verfolgen. Sie möchten, ähnlich wie die guten Schüler_innen und ambitionierten Lehrer_innen, zeigen, was sie können. Manche von ihnen mögen auch das Interesse mitbringen, pädagogisches Wissen und Können unter vergleichsweise guten Arbeitsbedingungen auszubauen beziehungsweise zu vertiefen. Sie möchten vielleicht interessante Verknüpfungen zwischen künstlerischer und pädagogischer Arbeit entwickeln. Die Bildungspolitik: Sie möchte möglichst wenig Schulversager_innen, die dem Staat auf der Tasche liegen. Sie will zeigen, dass Kultur ein wichtiger Fokus der Bildungspolitik in der Hauptstadt ist. Und wir, als Forschungsinstitut, möchten unser Profil schärfen, denn wir stehen für die Erforschung und Entwicklung einer kunstorientierten, kritischen Vermittlungsarbeit; wir möchten unser Renommee und unseren Leistungsausweis durch die Zusammenarbeit mit profilierten Institutionen wie diesen Theatern steigern; unser Fachwissen erweitern durch neue Begegnungen und Lektüren; unser soziales Netz erweitern; und wir möchten einen Teil der jährlich von uns geforderten Drittmittel 2 umsetzen. Betrachtet man diese unterschiedlichen Interessenslagen, so wird deutlich, dass die Gelingensvoraussetzungen für Kooperationsprojekte wie JUMP & RUN – Schule als System gar nicht schlecht sind, wenn ein gewisses Minimum an Ressourcen zur Verfügung steht. Die meisten Interessenspakete und Kapitalrucksäcke in diesem Spiel eignen sich gut für Tauschgeschäfte, Interessen sind miteinander vereinbar, entsprechende Mehrwerte für die verschiedenen Beteiligten potenziell abschöpf bar.  2 | Ich verzichte an dieser Stelle auf Spekulationen über die Interessen der PwC-Stiftung, die zusammen mit dem ›Projektfonds Kulturelle Bildung‹ das Projekt JUMP & RUN –  Schule als System förderte. Im vorliegenden Band kommt die PwC-Stiftung, eine Ini­ tiative der Führungskräfte von PwC (PricewaterhouseCoopers) Deutschland, durch den Beitrag von Heike Riesling-Schärfe selbst zu Wort. Redaktionelle Anmerkung: Frau Riesling-Schärfe arbeitete zum Zeitpunkt der Fach­ tagung, zu der Carmen Mörsch den hier abgedruckten Vortrag hielt, für die PwC-Stif­ tung. Zwischenzeitlich hat sie den Vorstand der ›Denkwerkstatt der Montag Stiftungen‹ übernommen, eine unabhängige Stiftungsgruppe, die ebenfalls im Bereich Kulturelle Bildung engagiert ist.

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Solche ›Win-Win Situationen‹ sind Motoren, die die Maschine am Laufen halten. Es ist aus dieser Sicht nicht erstaunlich, dass Kooperationsprojekte der Kulturellen Bildung sich immer mehr etablieren. Fragen könnte man, warum das genau jetzt, in diesem historischen Moment geschieht, aber das ist nicht der Fokus dieses Beitrags. Stattdessen nähere ich mich nun dem Projekt JUMP & RUN – Schule als System einen Schritt weiter an, ich komme zur Sichtung der Mittschnitte von Aufführungen des Festivals. Zu sehen waren vor allem Klassenzimmer und Lehrerzimmer auf der Bühne. Ich sah das Nachspielen von konfliktuösen und ritualisierten Schulsituationen, häufig als Ausgangspunkt für mediale Übersetzungen. Es gab viele Projektionen (selbst gemachte Videos / Fotos), es wurde mit Licht gearbeitet, mit Puppen, mit Masken, mit sparsamen, nichtsdestoweniger ausgefeilten Szenografien, mit sehr genauen, teilweise atemraubenden Textpassagen. In aller Regel waren die Aufführungen ästhetisch up-to-date, die entstehenden Bilder entsprechend stark, sie verwiesen auf die Intensität der Erarbeitungsprozesse. Öfter sah ich Schüler_innen und Lehrer_innen zusammen auf der Bühne, sie übten Rollenunterbrechungen, führten Schule als System ex negativo auf, machten Schule als System auf berührende Weise sichtbar. Das war der Mehrwert für das Publikum und auch ein Mehrwert für die Beteiligten – Anerkennung, Erinnerungen, Erfahrungen, von denen man zehrt. Am Ende der Vorführung fast immer: Verbeugungen, Applaus. Die Sichtung der Videomitschnitte machte mir meine disziplinäre Perspektive bewusst. Aus der bildenden Kunst kommend, fachlich sozialisiert in den 1990er Jahren, bin ich geprägt von der sogenannten Institutional Critique oder Institutionskritik. Darin kritisiert die Kunst ihr eigenes System, legt dessen Machtmechanismen, dessen Hierarchien, dessen versteckte, normalisierte Wertesysteme offen und reagiert darauf wiederum mit Kunst. Systeme werden nicht nur aufgeführt, sondern auch gestört, es wird in sie interveniert. So Andrea Fraser, die als eine der frühen Vertreterinnen der Institutional Critique zum Beispiel Museumsführungen als Performances inszenierte und mit dem dabei gesprochenen, immer wieder aus der Kontrolle geratenden und von zahlreichen Registerwechseln durchzogenen Text die Machtverhältnisse, die eine solche Situation strukturieren, zur Anschauung brachte (Yilmaz 2003). Beeinflusst von der künstlerischen Institutionskritik, von der Partizipationskunst und von der kritischen Museologie entstanden in den 1990er Jahren auch in der Kunstvermittlung vermehrt dekonstruktive Ansätze. Dekonstruktive Kunstvermittlung will nicht in erster Linie vom

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künstlerischen Feld autorisierte Inhalte affirmieren (also die Währung eins zu eins wechseln) oder Begeisterung für die Kunst wecken und damit ein Publikum reproduzieren (also den Habenichtsen die Taschen mit einer ihnen unbekannten Währung vollstopfen), sondern sie will gemeinsam mit dem Publikum einen kritischen Blick auf Kunst und ihre Institutionen werfen und, von dieser Kritik ausgehend, mitunter in eine eigene kulturelle Produktion kommen (also selbst Geld drucken). Ende der 1990er Jahre gehörte ich in Berlin zu den Mitbegründerinnen von Kunstcoop©, einer Gruppe von Künstlerinnen, die ›Künstlerische Kunstvermittlung‹ initiierte. Wir arbeiteten zwei Jahre lang in der ›Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst‹ (NGBK). Künstlerische Kunstvermittlung hieß für uns immer auch Bezug zu den Verfahren der Institutionskritik. 2001 organisierten wir während der Berliner Kunstmesse ›Artforum‹ einen Limousinen-Shuttle vom Messegelände zur NGBK in Kreuzberg, wo eine Ausstellung über die Geschichte autonomer Videokollektive gezeigt wurde (siehe NGBK 2002). In der Limousine informierten Audioguides die Besucher_innen über personelle, politische und ökonomische Hintergründe des Artforum sowie über die NGBK. Anschließend wurden die Besucher_innen durch aufgezeichnete Interviews mit den thematischen Schwerpunkten Video, Politik, Körper, Ökonomie und Kontrolle auf den Besuch der Ausstellung in der NGBK vorbereitet. Dort erwarteten sie die Personen, deren Stimmen sie auf den Audioguides gehört hatten, zur Diskussion und zur gemeinsamen Arbeit mit dem Medium Video. Ein aktuelles Beispiel, das (zumindest auf den ersten Blick) weniger in Kunst sondern in Schule als Institution interveniert, stammt aus der Unterrichtspraxis einer meiner Kolleginnen vom IAE, Danja Erni, die neben ihrer Forschungstätigkeit und ihrer Produktion als Animationsfilmerin auch in einer Kantonsschule als Kunstlehrerin arbeitet. Gemeinsam mit einem Lehrerkollegen, der einen Ausbildungshintergrund in der Architektur hat, erarbeitete sie mit ihren Schüler_innen Verfahrensweisen und Strategien der institutionskritischen Interventionskunst. Diese wendeten die Schüler_innen auf den Schulraum (als physischen und als Handlungsraum) an. Es entstanden zum Beispiel Sicherheitsschleusen zwischen dem sowieso schon räumlich getrennten Lehrer_innen- und Schüler_innenbereich des Gebäudes. Diese luden damit die Trennung zwischen den beiden Personengruppen assoziativ auf, machten die Trennung als solche bemerkbar. Ein anderer Zugang führte zu einer irritierenden Sound­ installation, deren akustisches Material die notorisch tropfenden Wasserhähne des Schulgebäudes darstellten. Die restriktive Behandlung von

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rauchenden Schüler_innen, offenbar kopiert von diversen internationalen Bahnunternehmen, diente einer Schülerin zur Eröffnung weiterer, über das Schulgelände verteilter, markierter Zonen mit je einer Handlungsanweisung. Eine weitere Schülerin legte ein Spielfeld in einem Bereich des Schulgeländes an, der im Grunde unzugänglich ist. Ich sehe in dem Projekt meiner Kollegin und ihrer Schüler_innen nicht nur eine Intervention in das System Schule, sondern auch eine indirekte Intervention in das System Kunst insofern, als dass künstlerische Verfahren als lernbare und übersetzbare an die Schüler_innen vermittelt werden. Damit werden (implizit, vielleicht auch explizit) Mythen von künstlerischer Begabung und Genialität hinterfragt. Es handelt sich um das, was Pierre Bourdieu als »rationale Pädagogik« (Bourdieu 2001: 24) bezeichnet: die Vermittlung nicht nur von explizitem Wissen des Kunstfeldes (die Werke, die Institutionskritik als künstlerische Richtung), sondern das In-denBlick-Nehmen von impliziten Wissensbeständen, die sonst als ›Neigung‹ oder ›Begabung‹ wahrgenommen würden. Diese Transparenz teilen die gerade genannten Arbeiten, die im Unterrichtskontext entstanden sind, mit dem Anspruch der ›ästhetischen Alphabetisierung‹ im Rahmen von JUMP & RUN – Schule als System. Aufgrund dieser disziplinären Prägung erwartete ich von den Produktionen bei JUMP  &  RUN – Schule als System im Vorfeld meiner Sichtung reflexhaft, dass ›Schule als System‹ in ihnen weniger als ein Thema behandelt wird, das dann im Rahmen eines Festivals auf Bühnen zur Aufführung kommt, sondern dass die Kooperationen im Rahmen von JUMP  &  RUN – Schule als System zu performativ-künstlerischen Eingriffen in das System Schule selbst führen würden. Vielleicht bezog sich meine Erwartungshaltung zusätzlich auch auf Theaterprojekte, die mir aus der Theaterwelt bekannt sind – wie zum Beispiel die Projekte des Kölner Duos Hofmann & Lindholm. Als Motto ihrer inversiven Arbeiten verweisen sie auf einen Satz, der in ihrer ersten gemeinsamen Theaterarbeit zur Sprache kam: »Ich beschäftige mich mit dem System, indem ich es beschäftige.« (Hofmann / Lindholm 2011: 148) Stattdessen kam es bei JUMP  &  RUN – Schule als System also zur Produktion von Aufführungen vor einem Publikum in Festivalerwartung, in einem gerade bei jungen Erwachsenen angesagten Theater. Dies allein ist nicht kritikwürdig. Solange die oben skizzierten Tauschgeschäfte im Großen und Ganzen funktionieren und der Win-Win-Motor läuft, gibt es keinen Grund, diese Praxis in Frage zu stellen. Im Gegenteil, könnte man zu Recht behaupten, dass die Aufführung in einem Theater als Ziel,

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als Produkt, das zentrale Schmiermittel für den Win-Win-Motor ist: Sie setzt einen attraktiven Horizont, auf den zuzuarbeiten sich nicht nur lohnt (das ist Teil der Übereinkunft über das Währungssystem), sondern auf die auch zugearbeitet werden muss, wenn es gerade mal an intrinsischer Motivation mangelt: ›Vergesst nicht, wir haben am Ende eine Aufführung, also strengt euch ein bisschen an.‹ Oder: ›Wenn du jetzt nicht mitmachst, schadest du allen Beteiligten, die Interesse haben, dass eine tolle Aufführung entsteht.‹ Ob ähnliche Sätze wohl hin und wieder während der Erarbeitungs- und Probenphasen von JUMP  &  RUN – Schule als System gefallen sind? Diese Spekulationen führen mich zu dem Haken an der Sache. Meine Vermutung ist, dass die oben kurz erwähnten Jugendlichen mit sehr wenig kulturellem und sozialem Kapital ausgestattet sind beziehungsweise mit Kapitalien in der falschen Währung, in einer anderen Währung als die, welche auf dem Spielfeld der bürgerlichen Gesellschaft gehandelt wird (und sowohl Schulen als auch Theater sind, mit Louis Althusser gesprochen, ideologische Staatsapparate der bürgerlichen Gesellschaft, also Orte, an denen sich die Werte und Normen dieser Gesellschaft manifestieren und an denen sie exekutiert und gleichzeitig ausgehandelt und potenziell verschoben werden (vgl. Althusser 1977)), dass diese Jugendlichen also im Spiel des Kooperationsprojektes der Kulturellen Bildung nicht viel zum Tausch anzubieten haben. Ihre Erwartung / Hoffnung, das Projekt werde weniger schwierig und nervig als Schule, erfüllt sich nur zum Teil und nicht in jedem Fall. Im Gegenteil, es ist in gewisser Weise schlimmer als Schule, denn in der Schule erwartet inzwischen kaum mehr jemand von ihnen, dass sie ihnen Spaß machen soll. Die in solchen Projekten hauptsächlich zur Anwendung kommenden Lern- und Erarbeitungs­formen, Sprachen und Ästhetiken gehören nicht zu den Registern, in die sie schon von Haus aus eingeübt sind und in denen sie elegant und souverän spielen. Für sie ist es daher unwahrscheinlich, ins nächste Level aufzusteigen und irgendwann einmal diejenigen zu sein, die mitbestimmen, was die Währung ist. Auch verspricht das Einüben dieser Register und das Anerkennen der Währung zunächst einmal vor allem eine Teilisolation von der angestammten Peergroup, von dem Feld also, in dem das Kapital aus ihrem Rucksack zählt. Wozu sollten sie das wollen? Sie wollen ja eben meistens lieber nicht. Das sind dann die (in der Wahrnehmung der beteiligten Künstler_innen) richtig schwierigen Schulen, bei denen fast jede_r Kulturarbeiter_in überfordert ist, wo fast oder auch gar kein Durchkommen ist mit guten Ideen

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und guten Absichten. »Die lassen sich kaum beschulen, und jetzt sollen sie auch noch betheatert werden«, ungefähr so drückte es ein Akteur von JUMP  &  RUN – Schule als System bei Gelegenheit aus. Gleichzeitig bringen diese Schüler_innen etwas ein, das unverzichtbar für das Funktionieren der Tauschgeschäfte aller anderen im Spielfeld der Kooperationsprojekte Kultureller Bildung ist: Sie besorgen mit ihrer spezifischen Präsenz als ›Bildungsverlierer_innen‹, als ›Bildungsferne‹ 3, das Sujet für die Defiziterzählung, die auch ich im vorangegangenen Abschnitt produziert habe. Damit stellen sie die Legitimation her, aus der heraus die Tauschgeschäfte im Rahmen von Kooperationsprojekten  3 | Zur Problematisierung des Begriffs ›Bildungsferne‹ siehe Ribolits (2008).

+ Subjekt (aus poststrukturalistischer Sicht) Das ↘ ›klassische‹ Subjektverständnis beruht auf der Idee einer Autonomie des Subjekts, als deren Urheber René Descartes (1596 – 1650) gilt. Dieser erkannte im ›denkenden Ich‹ eine nicht weiter reduzierbare Instanz der Reflexion, die in der weiteren Entwicklung zwischen 1600 und 1800 auch zur Instanz des Handelns und des Ausdrucks wurde (vgl. Reckwitz 2008: 12). Die Leitelemente dieses Verständnisses durchziehen »große Teile des intellektuellen Denkens des 19. und 20. Jahrhunderts« und prägen den »westlichen Common Sense bezüglich dessen, was es heißt, ein ›Individuum‹ oder ein ›Selbst‹ zu sein« (Reckwitz 2008: 12). Zudem wird das autonome Subjektverständnis eng mit den Zielen der gesellschaftlichen Moderne assoziiert – also mit Fortschritt, Emanzipation und Freiheit (vgl. Reckwitz 2008: 12). Die durch das neuzeitliche Fanal der Emanzipation in Gang gesetzten Modernisierungsprozesse vermoch­ ten zwar bestehende soziale, politische und kulturelle Verhältnisse zu verändern, brachten aber zugleich neue Techniken des Zwangs und der Unterdrückung sowie neue Formen von Unfreiheit hervor. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Widersprüche, Ausgrenzungen, Krisen und Katastrophen insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts sowie aufgrund wis­ senschaftlicher Erkenntnisse beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts die kritische Befragung des autonomen Subjektverständnisses (vgl. dazu ↘ Dezentrierung des Subjekts). Der poststrukturalistische Beitrag an dieser Kritik besteht unter anderem im Heraus­ arbeiten der Historizität und Kontingenz dieses Subjektverständnisses sowie im Hinweis auf die Verwobenheit von Subjekt und sozialen Strukturen. In poststrukturalistischer Perspektive wird das ›Subjekt‹ nicht als autonome Instanz des Inneren gedacht, die von einem Außen getrennt ist, sondern als ein Effekt sozialer Strukturen. Das Subjekt internalisiert im Zuge seiner Sozialisierung übergeordnete Strukturen (z. B. Symbolsysteme wie die Sprache), die es sich aneignet und denen es sich in der Aneignung unterwirft. Dabei ist das ›Unterwerfen‹ nicht als ein bewusster Akt zu verstehen, sondern vollzieht sich per Eintritt in eine Sprachge­

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Kultureller Bildung überhaupt erst stattfinden, dass also der Marktplatz mit Ständen bestückt und das Spiel eröffnet werden kann. Der Vorrat an sogenannten Bildungsverlierer_innen wird niemals zu Ende sein. Er füllt sich immer wieder neu auf. So also auch der Bedarf an Kooperationsprojekten Kultureller Bildung. »Warum willst du, dass ich gebildet bin? Warum soll ich keine Hartz-IV-Empfängerin werden?«, fragte eine Schülerin in einer der Aufführungen beim Festival JUMP  &  RUN – Schule als System. Das ist eine sehr berechtigte Frage. ›Weil dann der Beweis erbracht ist, dass unsere Arbeit sinnvoll ist. Weil wir dann weiter Arbeit haben.‹, wäre eine im mehrfachen Sinn naheliegende Antwort, die der

meinschaft respektive in eine symbolische Ordnung. Die ›eigene‹ Rede, das ›eigene‹ Denken und Begehren sind daher immer schon vom ›Anderen‹, der sozialen Welt, strukturiert. Die folgenreiche neuzeitliche Trennung in Subjekt und Objekt sowie Innen und Außen wird daher zurückgewiesen. Das Subjekt erscheint als eines, das bis in seine intimsten Winkel hinein vom Sozialen durchwirkt ist. Insofern verab­ schiedet die poststrukturalistische Kritik des (autonomen) Subjekts »nicht die Kategorie des Subjekts, sondern stellt es als vorgegebene und auf normativen Grundlagen beruhende Prämisse in Frage und interessiert sich statt dessen für die Art und Weise, in der Subjekte durch sprachliche, gesellschaftliche, politische, kulturelle Faktoren und Machtverhältnisse konstituiert und konstruiert werden. […]« (Posselt 2003). Auf dieser Grundlage arbeiten poststrukturalistisch informierte Autor_innen heraus, inwieweit die Moderne in ihren Ins­ titutionen und ↘ Diskursen »eine machtvolle Formierung ihrer Individuen zu Subjekten der Selbst- und Affektkontrolle [betreibt], selbst dort wo freie Entscheidungen am Werk zu sein scheinen« (Reckwitz 2010: 13). Posselt, Gerald (2003): Glossareintrag zum Begriff ›Subjekt‹. Abrufbar auf der Website http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=28 [20.07.2015] Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt. Bielefeld: transcript. Reckwitz, Andreas (2010): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Sattler, Elisabeth (2009): Die riskierte Souveränität. Erziehungswissenschaftliche Studien zur modernen Subjektivität. Bielefeld: transcript.

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Chor der Kulturarbeiter_innen vor dem Vorhang sprechen könnte, die aber natürlich nur einen Teil der Wahrheit wiedergibt. Selten, äußerst selten gelingt im Rahmen eines Kooperationsprojekts Kultureller Bildung eine Um- und Aufwertung der Register (der Formen, der Sprachen), die diese Schüler_innen mitbringen, und zwar in einer Weise, die diese nicht nur in künstlerisches Material für ein sozialkritisches Drama konvertiert. Sondern so, dass diese Umwertung für die Schüler_innen selbst ein Akt wird: nachvollziehbar, wiederholbar und nutzbar, taktisch einsetzbar. 4 Also, und das wiederhole ich an dieser Stelle: Wollen viele von ihnen eben lieber nicht ins Spiel kommen, und das ist im Grunde eine sehr vernünftige Reaktion. Ein Zeichen der Anerkennung der Tatsache, dass in ihrem Fall völlig ungeklärt ist, in welchem Maße tatsächlich sie die Nutznießer_innen der Kulturellen Bildung sind oder nicht vielmehr die Kulturelle Bildung die Nutznießerin von ihnen ist, wäre es von Seiten der Initiator_innen, den ökonomischen Mehrwert mit ihnen zu teilen. Das hieße also, ihnen für die Bereitstellung oder für die Darstellerleistung der unverzichtbaren Figur des Defizitärsubjekts als Antriebskraft für den Win-Win-Motor in diesem Spiel zumindest eine Aufwandsentschädigung zu zahlen. Das ist aber, wie wir wissen, schon allein aus juristischen Gründen zumindest offiziell nicht möglich. Des Weiteren fehlt dazu der pädagogische und politische Wille. Dass Jugendliche mit wenig ↘ symbolischem Kapital für ihre Teilnahme an Projekten Kultureller Bildung nicht angemessen bezahlt werden können, ist ein ordnungspolitisches Problem. Insofern wäre eine solche Umverteilung eine ziemlich radikale Intervention in ›Kulturelle Bildung als System‹. Ein Theaterstück, das heute versucht, die systemischen Verwerfungen des formalen Bildungsgeschehens als Thema auf die Bühne zu bringen, könnte demgegenüber aus meiner Sicht vor allem aus der Performanz von Verweigerung bestehen – einem »I'd prefer not to«, ich möchte lieber nicht, wie der Schreiber Bartleby in Melvilles Kurzgeschichte von 1853 mit dem Untertitel: A Story of Wall Street (sic!) bis zu seinem Tod nicht müde wird zu wiederholen (Melville 1853).

 4 | Als ein Beispiel, wo eine solche Um- und Aufwertung mitunter gelingen mag, betrachte ich das Projekt ›Schulhausroman‹, zumindest in den Momenten, in denen versucht wird, die Sprechweisen der Schüler_innen nicht als defizitär, sondern als äs­ thetische Praktiken zu begreifen. http://www.schulhausroman.ch. [20.07.2015]

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MISSION STATEMENT Wir sind nicht die Kinder die Ihr casten würdet. Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke. Und unsere Sprache werdet ihr nie verstehen. Zitat aus: ›Abschlussknall‹ (Hedwig Dohm Oberschule / Tanja Krone + Thomas Blum), Durchstreichung im Original

Im mir zur Verfügung stehenden Videomaterial fand sich auch der Mitschnitt einer Aufführung, von der mir unterschiedliche Seiten als gescheitert erzählten, die aber aus meiner Sicht vielleicht das Potenzial zu einer solchen performativen Verweigerung beinhaltete. Es handelt sich um die Arbeit ›Abschlussknall‹, die unter der Leitung von Tanja Krone und Thomas Blum an der Hedwig-Dohm-Oberschule entstand. Bezeichnenderweise enthielt gerade dieser Mitschnitt in der mir vorliegenden Version – wie auch zwei andere – keine Tonspur. Sicherlich wird es sich dabei nicht um Absicht gehandelt haben, aber trotzdem: ausgerechnet die Aufzeichnung dieser Aufführung bleibt stumm. Man könnte rückblickend das Auslassen der Tonspur für die kongeniale Übersetzung dieser Theater-Performance in ein anderes Medium halten, denn die Aufführungssituation war durchzogen von Strategien der Verweigerung. Verweigerung als partizipatives Moment für das Publikum miterlebbar aufzuführen, ist zwar möglicherweise konsequent, wenn es um die Frage nach einer zeitgemäß-adäquaten Bearbeitung der Thematik für die Bühne geht. Insofern scheint mir das Projekt durchaus nicht gescheitert, im Gegenteil. Aber kaum jemand war im vorliegenden Fall damit glücklich. Das Stück war angefüllt mit Taktiken des »I'd prefer not to« von Jugendlichen in einem theaterpädagogischen Projekt, wie ich beim Beobachten der stummen Aufnahme erahnen konnte – zum Beispiel das provokative, absichtsvolle Langweilen des Theaterpublikums mit Monotonie und knapp verfehlender Selbstdarstellung, das schonungslose Enaktieren der Redundanz allgegenwärtiger Casting-, Game und Realityshows, der impulsive Verstoß gegen Absprachen mit der Künstlerin, die Verweigerung einer öffentlichen Diskussionssituation (die eine Form klassischer, bürgerlicher

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Öffentlichkeit reinszeniert hätte) auf der Bühne im Anschluss an das Stück. All diese freiwilligen und unfreiwilligen Stilelemente entfalteten für mich beim Zuschauen angesichts der oben beschriebenen Schieflage etwas Heroisches. Aber sie wiesen nicht über die Misere und über die Gewaltverhältnisse hinaus, sondern schrieben die Akteur_innen tendenziell in ihren jeweils angestammten Positionen auf dem Spielfeld fest. Diese nicht nur sichtbar zu machen, sondern zumindest temporär in der Spielsituation zu verschieben, wäre aber ein Anspruch von Kultureller Bildung. Zumindest, wenn sie sich als kritische Praxis versteht und sie sich als Bildungsgeschehen von Kunst unterscheiden möchte. Auch die Institutional Critique ist an Grenzen gestoßen. Irgendwann (und zwar ziemlich schnell) avancierte sie zu einer Erfolgsstrategie und wurde vom System, das sie kritisierte, im Sinne eines »neuen Geists des Kapitalismus« (Boltanski / Chiapello 2003) inkorporiert. Diese Frustration der Institutional Critique führt zum Entwurf der ›Institutions of Critique‹. Andrea Fraser formulierte etwa 15 Jahre nach ihren ›Gallerytalks‹: »It’s not a question of being against the institution: We are the institution. It's a question of what kind of institution we are, what kind of values we institutionalise, what forms of practice we reward, and what kinds of rewards we aspire to. Because the institution of art is internalised, embodied, and performed by individuals, these are the questions that institutional critique demands we ask, above all, of ourselves.« (Fraser 2005: 283) Hier artikuliert sich die Forderung nach Veränderungen des Systems, nicht nur – beziehungsweise nicht ausschließlich – nach dessen Darstellung und Störung. Die Forderung ist verbunden mit dem Wunsch nach einer Arbeit in anderen, besseren, gerechteren Bedingungen und Verhältnissen. Damit bin ich bei der transformativen Funktion von Kultureller Bildung, die darin besteht, die Institutionen nicht unverändert zu lassen, sondern sie in einem handlungspolitischen Sinne (und nicht nur in einem repräsentationspolitischen Sinne) in eine Mitgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse zu involvieren und bestenfalls ihre eigenen Strukturen und Bedingungen in ein kohärentes Verhältnis zu ihren Inhalten zu setzen. Die an JUMP  &  RUN – Schule als System beteiligten Theater sind, wie alle Theater, Produktionsmaschinen. Lese ich das Programm des Theaters an der Parkaue von dieser Spielzeit, dann zähle ich allein 13 Premieren. Theater sind, ähnlich wie Schulen, hierarchisch strukturiert und an Output orientiert – mit den Schulen verbindet sie zudem, wie vorhin

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mit Althusser angedeutet, eine Komplizenschaft nicht nur in Bezug auf ihre Leistungsorientierung, sondern auch auf ihre gesellschaftliche Erziehungs- und Distinktionsfunktion. Mein Kollege Sascha Willenbacher 5 schrieb mir im Nachklapp zu einem Gespräch, das wir über JUMP & RUN – Schule als System führten: […] im weiteren Bearbeiten der Interviews und im Nachdenken über unser Gespräch wegen der Interessen der Theater in diesem Projekt bin ich gerade zu folgender kleinen Skizze gekommen: Schule: hierarchisch: Lehrer_in – Schüler_in; Direktorium – Lehrerschaft; Fachhierarchien etc. Belohnungs- und Bestrafungsmechanismen Disziplinierungen des Körpers frontale Ausrichtung Aktionsraum der Lehrperson vor der Tafel / Raum der Schüler_innen Lehrer_in als Steuerungs- und Handlungszentrum … Theater als Institution und Apparat: hierarchisch: Regie / Autor / Schöpfer – Schauspieler_innen / Ausführende, Berufshierarchien etc. Belohnungs- und Bestrafungsmechanismen Disziplinierungen des Körpers Frontale Ausrichtung Bühnenraum und Zuschauerraum Schauspieler_in als Steuerungs- und Handlungszentrum […] Die Liste enthält Merkmale von Schule und Theater als Institutionen, die – im Sinne der Analogie zwischen Theaterinszenierung und Unterricht als Inszenierung 6 […] – etliche Übereinstimmungen bietet. Gleichzeitig gibt es von Seiten einer aus der bildenden respektive freien Kunst informierten Theaterkunst die

 5 | Zusammen mit Carmen Mörsch konzipierte Sascha Willenbacher die Begleitfor­ schung zu JUMP & RUN – Schule als System, aus der sein Bericht ab Seite 191 resultiert.  6 | Der Ansatz von Unterricht als Inszenierung wurde bereits vor einigen Jahren u. a. in der Religionsdidaktik reflektiert (vgl. Collmar 2004: 263 ff.).

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Selbstzuschreibung einer Art ›Anti-Struktur‹ – durchaus im Sinne der Performance- und Ritualtheorie noch zurückgehend auf Turner (1969 und 1982) oder Schechner (1977). Dieser Widerspruch besteht in den sogenannten festen Theatern, wo er aber selten thematisiert und noch weniger wirksam bearbeitet wird. Wenn überhaupt, bleibt es ein ›Thema‹ (wobei mit der relativ neuen

+ Diskurs und Dispositiv Seit den 1970er Jahren entwickelt sich das Wort ›Diskurs‹ (von lat. discursus für ›Ausein­ anderlaufen‹, ›Hin- und Herfahren‹ und von frz. für ›Rede‹, ›Ansprache‹, ›Abhandlung‹) in den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften zu einem Theoriebegriff, der auch in die informierte Alltagssprache eingegangen ist. Der Begriff wird mittlerweile sehr breit und in unterschiedlichen Kontexten verwendet. Orientiert man sich an Michel Foucault, lassen sich Diskurse als wirklichkeitsformierende Zusammenhänge von Äußerungen und Aussagen ver­ stehen. Wie in der Redensart ›ein Wort ergibt das andere‹ setzen sich Diskurse nach Foucault aus Äußerungen und Aussagen von Sprecher_innen zusammen – beispielsweise in Lexika, Vorträgen, Abhandlungen, Studien, Zeitschriften, Blogs, Bildern etc. – und formieren sich zu ›Gegenständen‹, über die immer neue oder weitere Äußerungen und Aussagen gemacht werden (Wissensproduktion). Der ›Diskurs‹ ist dabei lediglich die sprachliche Dimension verschiedener Praktiken, aus denen heraus ›Wissen über‹ produziert wird. Dieses ›Wissen über‹ entsteht im Zusammenspiel zwischen »Institutionen, Verfahren der Wissenssammlung und -verarbeitung, autoritativen Sprechern bzw. Autoren.« (Link zitiert nach Jäger 2012: 23) Diskurse folgen – analog zu Sprachspielen – impliziten Logiken, die mitbedingen, was zu einem konkreten historischen Zeitpunkt überhaupt gedacht und gesagt werden kann. Ganz so, wie auch eine implizite ›Logik‹ in erwähnter Redensart dafür sorgt, dass ein Wort zum anderen führt. Foucault analysiert in seinen Arbeiten daher unter anderem die Korrelation zwischen ›Wörtern‹ und ›Dingen‹ beziehungsweise zwischen Diskursen und den von ihnen hervorgebrachten ›Gegenständen‹. In Foucaults Perspektive werden alle historisch-sozia­ len Gegenstände (wie z. B. Normalität, Wahnsinn, Sexualität) erst im Akt des ›Redens über‹ hergestellt und eben nicht als etwas bereits Bestehendes ›nur sprachlich abgebildet‹. Genau diesen Zusammenhang analysiert Foucault anhand historischer Quellen für verschiedene gesellschaftliche Bereiche der Wissensproduktion (z. B. Medizin, Militär und Justiz). Die diskursiven Praktiken werden durch nicht-diskursive Praktiken um eine materielle, sinnlich-ästhetische Dimension erweitert. Sie beziehen sich beispielsweise auf die spezifische Gestaltung eines Gebäudes und die Anordnung seiner Räume, die Gestaltung und Anordnung von Möbeln oder die Gestaltung von Formularen. Foucault geht es um »die machtstrate­ gische Beziehung zwischen diskursiven, nicht-diskursiven Praktiken, Wissen und Macht« (Moebius 2009: 432), die er als ›Dispositiv‹ (frz. dispositif für ›Vor- oder Einrichtung‹; frz.

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Förderung der Zusammenarbeit von Theatern mit Off-Künstler_innenkollektiven entsprechende Lernprozesse insbesondere mit Blick auf Flexibilisierung anvisiert werden). Tatsache ist jedoch, dass im Rahmen von JUMP & RUN eher von einer Gegensetzung im Sinne ›Theater / Anti-Struktur‹ und ›Schule / Struktur‹ ausgegangen wurde. […]

disposition für ›Anordnung‹) bezeichnet. In einem Dispositiv wird demnach durch das Zusammenspiel heterogener Elemente eine Anordnung erzeugt, die aus den Beziehungen zwischen den Elementen (z. B. Schulgebäude, gesetzliche Schulpflicht, Hausaufgaben, Sitzordnung, Schultafel etc.) besteht. Die Beziehungen ergeben einen Sinnzusammenhang, der Individuen eine ↘ Subjekt­ position zuweist und sie dadurch als Subjekte hervorbringt oder sie aus der Sinnordnung ausschließt. Unter anderem darin liegt die Macht von Dispositiven, die Subjekte sowohl hervorbringen als auch umgekehrt in sozialen Praktiken durch Subjekte hervorgebracht oder fortgeschrieben werden (vgl. Butler 2001: 18). Dispositive generieren überindividuell geteilte Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata. Demgegenüber findet sich beispielsweise bei Jürgen Habermas ein Diskursbegriff, der »Diskurs als eine möglichst herrschaftsfreie, rational argumentierende, öffentliche Debatte über bestimmte Gegenstände fasst, also einen rationalen und machtneutralen Diskursbegriff propagiert« (Jäger 2012: 25). Als Teil einer Kommunikationstheorie, in der es um das Motiv einer ›idealen Kommunikation‹ geht, unterscheidet sich dieser Diskursbegriff grundlegend von jenem Foucaults. Der ›ideale Diskurs‹ ist nach Habermas ein »Verfahren der argumenta­ tiv-dialogischen Prüfung strittiger Geltungsansprüche von Behauptungen oder Aufforderun­ gen, mit dem Ziel, einen universalen Konsens herbeizuführen« (Müller 2008). Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Jäger, Siegfried (2012): Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung (6. vollständig überarbeitete Auflage). Münster: Unrast. Moebius, Stephan (2009): Strukturalismus/Poststrukturalismus. In: Kneer, Georg/Schroer, Markus (Hg.): Handbuch Soziologische Theorien. Wiesbaden: Springer VS. Seite 419 – 444. Müller, Frederik (2008): Diskurs. In: MedienKulturWiki. Online unter: http://www.leuphana.de/ medienkulturwiki/medienkulturwiki2/index.php?oldid=636 [23.05.2014; nicht mehr abrufbar]

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Was wäre also, wenn Theater strukturell nicht das ›Andere‹ zur Schule ist? Und wie würde sich der Umstand einer ›heimlichen‹ Symmetrie auswirken, wenn Theater über Schule als System nachdenkt? Wenn quasi eine Bildungsinstitution, die sich selbst gar nicht als Bildungsinstitution sehen mag, über eine andere Institution der Bildung arbeitet? Wie sehr verkennt Theater noch ganz im Geiste der westlichen Institutionenrevolte der späten 60er Jahre sich selbst als Anti-Bildungsanstalt und lässt strukturelle Analogien hinsichtlich Bildung und Erziehung in seiner Zusammenarbeit mit Schulen als eigenen blinden Fleck unreflektiert?« 7

Anders als die Schulen ist aber das Theater nicht vom Auftrag strukturiert, auch die aus der hegemonialen Perspektive schwächsten Glieder der Kette möglichst auf die Reise mitzunehmen und sie zum Mitspielen zu ermächtigen. Theater strukturiert sich über den Auftrag, künstlerische Exzellenz zu produzieren. Kulturelle Bildung der avancierten Sorte befindet sich im Spannungsfeld dieser beiden Aufträge. Daher muss sie sich die Frage stellen (und sich diese Frage auch gefallen lassen), wie sie ästhetisch auf dem Stand der Dinge informiert agiert und gleichzeitig ihren Ermächtigungsauftrag erfüllt. Eine Chance auf Erfüllung bietet sich aus meiner Sicht nur, wenn mit den Beteiligten nicht nur Schule als System, sondern auch Theater als System kritisch durchleuchtet würde, wenn auch das Theater / d ie Kunst aus ihrer Funktion als Retterin der Bildung, der Schule, entlassen und selbst genau wie die Schule zur Disposition gestellt würde. Wenn man von dort aus zusammen mit den (mit diesen) Schüler_innen und Lehrer_innen zu weiterführenden Fragen käme, die sowohl sie als auch die Institutionen gleichermaßen stark betreffen. Fragen, wie jenen nach dem Zwang zur Produktivität, zur Selbstdarstellung in einem ganz bestimmten Sinne, nach dem Wesen von Erfolg und Anerkennung, nach dem Bemessen von Leistungen. Fragen, von deren Bearbeitung aus man transformative Interventionen in Schule und in Theater als System planen könnte. Mit Blick auf JUMP  &  RUN – Schule als System stellt sich daher die Frage, ob durch den bewussten Verzicht auf das Hinarbeiten auf die Aufführungen in einem profilierten Theater sich Möglichkeiten eröffnet hätten, entsprechenden Prozessen (noch) mehr Raum zu geben.  7 | E-Mail von Sascha Willenbacher an die Autorin vom 17.10.2012

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Welches transformatorische Potenzial zeigte sich in dieser Hinsicht während der Erarbeitungsphasen in all den einzelnen Arbeitsprozessen, die im Rahmen von JUMP  &  RUN – Schule als System an den verschieden Schulen stattfanden, und das aufgrund von Produktionszwängen ungenutzt oder unbemerkt blieb? In welchem Verhältnis steht das, was sich an den Schulen – zusammen mit den Schüler_innen und Lehrer_innen – ereignen konnte, zur jeweiligen Aufführung? Die DVD-Sichtung der Aufführungen und der Probenfotos, vor allem – aber nicht nur – die Sichtung der von mir kurz angeführten Arbeit ›Abschlussknall‹ lässt bei mir die Ahnung entstehen, dass das Wichtigste in diesem Projekt (wie in vielen anderen Projekten) während der Erarbeitung stattgefunden hat und dass das Potenzial, das in diesen Prozessen steckt, noch auf andere Weise hätte entfaltet werden können, wenn Theater als System nicht stets unhinterfragt die Produktionslogik bestimmt hätte. Zum Schluss eine weitere Komplikation. Ermächtigen kann man immer nur von einer machtvollen Position aus. Die Perspektive, die ich hier versucht habe anzudeuten, sich zusammen mit den ›I'd prefer not to‹ - Teilnehmenden das System durch eine Art »militanter Recherche« (Bookchin et al. 2013) anzueignen und zu reflektieren, kann schnell zu nichts anderem werden als einer noch clevereren Optimierungsstrategie, kann in eine pädagogische Arbeit münden bei der, wie bereits Walter Benjamin (1969) formulierte, List an die Stelle von Gewalt tritt. Die Schwarze 8 Aktivistin und Theoretikern Araba Evelyn Johnston-Arthur schreibt dazu: […] das Wort ›Ermächtigung‹ enthält eine transitive Komponente (so als könnte Macht von A auf B übertragen werden), die dem englischen Wort ›empowerment‹ eben fehlt. Mit dieser transitiven Komponente schleicht sich Paternalismus in das Verständnis von empowerment. In seiner abzulehnenden paternalistischen Form bemäntelt der Empowermentbegriff die Vorstellung, dass Mächtigere ihre Macht an Ohnmächtige weitergeben. Damit bestimmen also die Mächtigeren, welche Ressourcen sie weitergeben und was gut für die in dieser Vorstellung Ohnmächtigen ist, die in dieser Form Entmündigte sind und bleiben. […]

 8 | ›Schwarz‹ schreibe ich in diesem Kontext groß, um auf die gleichlautende Selbst­ bezeichnung von afro-britischen und afro-amerikanischen Emanzipationsbewegungen zu verweisen (siehe hierzu instruktiv: andrax 2009).

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Die Vision von ›empowerment‹ ist allerdings nie einfach nur ein sozialer Plätzetausch, sondern die einer allumfassenden Befreiung und erfordert daher auch eine kritische Auseinandersetzung mit der angesichts der systematischen Entmachtung erträumten Macht und Ermächtigung. »Dieser Prozess (empowerment) setzt ein, wenn wir beginnen zu verstehen, auf welche Weise Herrschaftsstrukturen das eigene Leben bestimmen, wenn wir ein kritisches Bewusstsein und die Fähigkeit zum kritischen Denken entwickeln, wenn wir neue alternative Lebensgewohnheiten ersinnen und aufgrund dieses marginalen Raums von Differenz in uns Widerstand leisten (bell hooks: In Yearning – Sehnsucht und Widerstand. Kultur, Ethnie, Geschlecht. Berlin. 1996.).« (Johnston-Arthur o. J.)

Wie kann Kulturelle Bildung eine Arbeit ermöglichen, die auch ihre eigene Ermöglichungsfunktion problematisiert? Wie in diesem Widerspruch arbeiten, in einem trotzdem? Ermächtigung kann, folgen wir dem letzten Zitat, immer nur Selbstermächtigung sein, und dabei vor allem Selbstermächtigung gegen: Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke. Schulen und Kunstinstitutionen beziehungsweise Lehrpersonen und Kulturschaffende können aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position dabei allenfalls temporäre Allianzpartner_innen sein – vorausgesetzt, sie wollen das. Solche Allianzen einzugehen ist, das ist meine Vermutung, für diese Institutionen und Akteur_innen nur realisierbar, wenn sie sich selbst dabei transformieren. Das ist die radikale Dimension der Idee einer Institution of Critique, wie sie Andrea Fraser in ihrem Text von 2005 entwirft (auch wenn sie selbst es vielleicht gar nicht so gemeint hat).

Carmen Mörsch ist Künstlerin, Vermittlerin und Kulturwissenschaftlerin. Seit 2008 leitet sie das Institute for Art Education am Departement Kulturanalysen und Vermittlung der Zürcher Hochschule der Künste. Sie forscht zu Kunstvermittlung und Kultureller Bildung als kritischer und künstlerisch informierter Praxis. literatur Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin. Darin u. a. der Aufsatz: Ideologie und ideologische Staatsapparate aus dem Jahr 1970. Online unter: http://www.b-books.de/texteprojekte/althusser/#t1 [20.07.2015]

darüber, hinaus andrax (2009): Wie vermeide ich es, rassistische Artikel zu schreiben?. In: Edition Assemblage – Begleiterscheinungen emanzipatorischer Theorie und Praxis. Internet­artikel vom 23.07.2009. Online unter: http://www.edition-assemblage. de/wie-vermeide-ich-es-rassistische-artikel-zu-schreiben/ [26.8.2015] bell hooks (1996): In Yearning – Sehnsucht und Widerstand: Kultur, Ethnie, Geschlecht. Berlin: Orlanda. Benjamin, Walter (1969): Eine kommunistische Pädagogik. Publiziert vom Zentralrat d. Sozialist. Kinderläden Westberlin. Online unter: http://www.textlog.de/benjaminkritik-eine-kommunistische-paedagogik.html [10.08.2015] Boltanski, Luc / Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Bookchin, Natalie / Brown, Pamela / Ebrahimian, Suzahn / colectivo Enmedio / Juhasz, Alexandra / Martin, Leónidas / M TL / Mirzoeff, Nicholas / Ross, Andrew / Saab, A. Joan  / Sitrin, Marina (2013): Militant Research Handbook. New York University. Online unter: http://www.visualculturenow.org/wp-content/uploads/2013/09/MRH_ Web.pdf [20.07.2015] Bourdieu, Pierre (2001): Wie die Kultur zum Bauern kommt. Hamburg: VSA Verlag. Collmar, Norbert (2004): Schulpädagogik und Religionspädagogik: handlungs­ theoretische Analysen von Schule und Religionsunterricht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dziewior, Yilmaz (Hg.) (2003): Andrea Fraser – Works: 1984 to 2003. Köln: DuMont. Fraser, Andrea (2005): From the Critique of Institutions to the Institution of Critique. In: Artforum, Jg. 44. Heft 1. September 2005. Seite 278 – 283. Hofmann, Hannah / L indholm, Sven (2011): Von Komplizen und Eigensinn. In: Deck, Jan / Sieburg, Angelika (Hg.): Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten. Bielefeld: transcript. Johnston-Arthur, Araba Evelyn (o. J.): Glossareintrag zum Begriff ›empowerment‹. Online unter: http://www.no-racism.net/antirassismus/glossar/empowerment.htm [20.07.2015] Melville, Herman (1853): Bartleby, the Scrivener: A Story of Wall Street. Originalausgabe: Bartleby the Scrivener. Putnam's Monthly Magazine. New York. Der Erstabdruck wurde anonym publiziert. Deutsche Ausgabe: Melville, Herman (2004): Bartleby, der Schreiber. Neuübersetzung: Jürgen Krug. Frankfurt/Main: Insel. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.) (2002): Kunstcoop. Berlin. Online unter: www.kunstcoop.de [20.07.2015] Ribolits, Erich (2008): Wer bitte sind hier die Bildungsfernen?. In: Christof, Eveline /  Doberer-Bey, Antje / R ibolits, Erich / Zuber, Johannes (Hg.): schriftlos = sprachlos?. Alphabetisierung und Basisbildung in der marktorientierten Gesellschaft. Schulheft 131 / 2008. Innsbruck/Wien/Bozen. Seite 113 – 121. Das gesamte Buch findet sich als PDF online unter: http://www.schulheft.at/fileadmin/1PDF/schulheft-131.pdf [20.07.2015] Schechner, Richard (1977): Essays on Performance Theory. Neuauflage 2003. London/New York: Routledge. Turner, Victor (1969): The Ritual Process: Structure and Anti-Structure. Chicago: Aldine Publishing Co. Turner, Victor (1982): From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play. University of Michigan: Performing Arts Journal Publications.

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+ Springend und rennend die Schule verändern? Zum Entwicklungspotenzial von Kooperationsprojekten zwischen Theatern und Schulen

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von Dorothea Hilliger (redigierter Tagungsbeitrag, November 2012)

In der bundesrepublikanischen Bildungslandschaft findet sich eine Vielzahl von Kooperationsprojekten zwischen Kunstinstitutionen und Schulen, an die sich bisweilen hohe Erwartungen knüpfen. Diese betreffen etwa die Entwicklung neuer Lern- und Arbeitsformen, positive Wirkungen hinein in andere Lernbereiche, die Entfaltung sozialer Verantwortung – und in jüngster Zeit auch die Entwicklung der Institution Schule. Am Beispiel des Kooperationsprojekts JUMP  &  RUN – Schule als System soll diese Möglichkeit reflektiert werden mit dem Ziel, Handlungsvorschläge zur Realisierung eines solchen Anliegens zu gewinnen.

Die Laufrichtung. Ziele des Kooperationsprojekts JUMP  &  RUN – Schule als System Die Künstlerischen Leiterinnen des Kooperationsprojekts JUMP & RUN –  Schule als System bezeichnen sich im Editorial zum gleichnamigen Festivalprogrammheft als »kulturelle Dinosaurier« (Harmsen et al. 2012: 4). Sie beziehen sich damit auf ihre Affinität zu den in »die Frühzeit der Computerspielkultur« (Harmsen et al. 2012: 4) gehörenden ›Jump 'n' Run‹Spielen. Von außen betrachtet kann die ironische Selbstzuschreibung auch als Bezeichnung für die Ablagerung von Wissen und Erfahrung im

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Umgang mit den Institutionen Schule und Theater in Bildungskontexten gedeutet werden. Mijke Harmsen, Camilla Schlie und Kristina Stang sind durchweg junge Dramaturginnen und Theaterpädagoginnen der Berliner Häuser HAU Hebbel am Ufer, Theater an der Parkaue und Junges DT (Deutsches Theater), aber solche, die Erfahrung haben in der Suche nach neuen Wegen für die Begegnung von Menschen beider großer Bildungsinstitutionen. Sie scheuen sich nicht, unbequeme und ungesicherte Pfade zu betreten, und suchen im Rahmen der Institution Theater nach Gestaltungsmöglichkeiten, welche die Kunstform wie die Pädagogik in verschiedenen Facetten ausleuchten und die beteiligten Institutionen immer neu herausfordern können. Das Kooperationsprojekt JUMP  &  RUN – Schule als System zwischen den drei genannten Theatern und elf Berliner Schulen zeichnet sich dadurch aus, dass die künstlerische Thematisierung von ›Schule als System‹ im Zentrum steht. Es geht um die Auseinandersetzung mit der Institution Schule, ihren bekannten Gesetzen und geheimen Mechanismen, mit ihrer Funktion für die Gesellschaft, mit ihrer Aufgabe zur Disziplinierung des Einzelnen, der Vermittlung von Inhalten und Fähigkeiten. Um die Frage, wie die Institution Schule auf den Einzelnen wirkt, und umgekehrt. Um Strategien des Lernens und der Anpassung, des Zusammenlebens, des Vorankommens und des Scheiterns von Schülern, Lehrern und anderen Mitgliedern des Systems Schule. (Harmsen et al. 2012: 6)

Die Ergebnisse dieser künstlerischen wie pädagogischen Auseinandersetzung wurden in Form von zwölf Präsentationen auf einem zweitägigen Festival im HAU öffentlich gezeigt. Ziel des Projekts ist zudem die Entwicklung und Verstetigung einer Kooperationskultur, die Lernprozesse bei allen Beteiligten in Gang setzt, bei Schüler_innen, (Theater-)Lehrer_innen, Künstler_innen und den Verantwortlichen in den beiden Institutionen, die es also ernst meint mit der (spielerischen) Begegnung. So lud Matthias Lilienthal, damaliger Intendant des HAU Hebbel am Ufer, bei der Kick-Off-Veranstaltung die teilnehmenden Schüler_innen dazu ein, die Theaterhäuser zu übernehmen, zu bespielen, mit ihnen zu machen, was immer sie wollen. Im Einladungsflyer zu einer Tagung im November 2012, in deren Rahmen das Projekt

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JUMP  &  RUN – Schule als System aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert und ausgewertet wurde, zog das Leitungsteam Resümee: Das Projekt hat […] einige neue Ansätze ausprobieren, aber nicht alle althergebrachten Probleme der Kooperationskultur lösen können. Denn: »Künstler schafften es nicht, die Verweigerungs­ haltung der Schüler zu durchbrechen, Schulleiter machten Proben unmöglich, Künstler vermissten ihre Probebühne, Schüler kamen nicht aus ihrer Schülerrolle, Lehrer nicht aus ihrer Lehrerrolle, Regisseure nicht aus dem Regieführen heraus.« 1 (Harmsen et al. 2012a)

Dieses eher pessimistische Fazit ist zugleich eine der Erfolgsmeldungen des Projekts: Das tendenzielle, punktuelle, manchmal auch weitgehende Scheitern, das in Kooperationsprojekten zwischen ›Kunst und Bildung‹ immer mit angelegt ist, konnte sichtbar und diskutierbar werden. Aspekte von Gelingen und Scheitern und Schattierungen dazwischen sollen im Folgenden in Bezug auf die formulierten Ziele und im Sinne der von den Künstlerischen Leiterinnen intendierten Lernprozesse reflektiert und beschrieben werden.

Der Startpunkt. Lernen in Kooperationsprojekten Kooperationen zwischen Theatern und Schulen haben Konjunktur. Schulen öffnen sich gegenüber Einzelkünstler_innen, Theater stocken ihre theaterpädagogischen Abteilungen auf. Kunst und Pädagogik treten sichtbar in ein neues Verhältnis zueinander. Hier geht es nicht länger um Publikumswerbung auf Seiten der Theater, um Aufgabendelegation auf Seiten der Schulen. Projektbeteiligte wie Institutionen wollen aus der Begegnung Impulse und Ideen beziehen und Modelle des Gestaltens und  1 | Das Zitat ist dem Einladungsflyer zur Tagung ›Inszenierung zwischen Verweige­ rung und Transformation‹ entnommen. Sie fand am 8. / 9. November 2012 im Theater an der Parkaue in Berlin statt und wurde zur Reflexion des Gesamtprojekts ›umge­ nutzt‹. Denn eine Tagung war zwar von Beginn an konzeptioneller Bestandteil von JUMP & RUN – Schule als System, wie sich dem Konzeptpapier (s. Seite 42 in diesem Band) entnehmen lässt, sollte aber eigentlich zu einer anderen Fragestellung durch­ geführt werden.

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Lernens entwickeln, die sie in ihrer Arbeits- und Funktionsweise erneuern und in der Realisierung ihrer Aufgaben und Ziele stärken können. Nicht zuletzt, indem gesellschaftliche wie soziale Bezüge hergestellt und sichtbar gemacht werden (vgl. hierzu beispielsweise Hilliger 2010). Als eine zentrale Veränderung gegenüber den Anfängen des inzwischen vielfach exportierten und variierten Kooperationsmodells TUSCH (›Theater und Schule‹) in Berlin im Jahre 1998 ist ein neues Beharren auf Gegenseitigkeit zu beobachten. Das Denkmodell, dass Schulen und Schüler_innen beglückt werden können durch Künstler_innen, deren pädagogische Besonderheit darin bestehen soll, dass sie gerade nicht pädagogisch denken und handeln, hat in der Praxis eine Ausdifferenzierung erfahren: Künstler_innen stellen sich einer von Theatern und Schulen gewollten Begegnung, in der sie zwar pädagogisches Handeln lernen (müssen), in der sie aber die Möglichkeiten ihrer Kunst in all ihrer Besonderheit und Komplexität noch immer breit vermessen wollen. 2 In der mal beglückenden, mal nervenaufreibenden, mal leichtfüßigen, mal mühevollen Begegnung mit Schüler_innen geht es im besten Fall auch um ein eigenes Anliegen: Sich im fremden Terrain auf die Suche nach neuen Themen und Ausdrucksformen zu machen, die die eigene künstlerische Arbeit bereichern können. Lehrer_innen wiederum suchen nach fremden Haltungen und Arbeitsweisen im eigenen Terrain. Und Schüler_innen erleben hautnah, was diese Erwachsenen, Pädagog_innen wie Künstler_innen antreibt, nämlich das Becket'sche »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail better« (Beckett zitiert nach Gaßner / Kölle 2013: 5). Kein Lernen, keine Entwicklung, kein Forschungsprozess ist ohne temporäres Scheitern zu denken. Erwachsene, die sich in ihrem Gestaltungswillen von Niederlagen nicht abhalten lassen, zeigen exemplarisch, was forschendes Lernen zu leisten vermag. Und Schüler_innen vermögen sich oftmals auf solche Arbeitsprozesse gerade deshalb einzulassen, weil es in der Begegnung tatsächlich um sie selbst geht, weil ihre Meinung, ihre biografischen Besonderheiten, ihre Ausdrucksformen und ihre Gedanken zum Tragen kommen können, wenn sie dies wollen.

 2 | Insofern geht der Anspruch in Kooperationsprojekten über ein enges Unterrichtsver­ ständnis hinaus, wie es in der Didaktik von Klepacki und Zirfas vertreten wird. Dieser Ansatz fällt allerdings auch hinter schon Erreichtes im regulären Theaterunterricht zu­ rück, insofern hier einer »Didaktisierung der theatralen Kunst« (Klepacki / Zirfas 2013: 81) das Wort geredet wird, die die Komplexität der Kunstform nicht für Lernprozesse nutzt, sondern zu reduzieren sucht.

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Das Anliegen ›zeitgenössischer Kooperationsprojekte‹ fordert die Individuen wie die Institution Schule heraus. 3 Die nachfolgende Reflexion des Projekts JUMP  &  RUN – Schule als System legt den Fokus denn auch auf die Akteur_innen im System und auf deren Chancen, in die Schule zurückzuwirken. Hier rücken Akteur_innen als handelnde Subjekte in den Mittelpunkt, deren Potenzial zur Selbstermächtigung und zur (Mit-)Gestaltung ihres Lebensumfeldes ausgelotet werden soll.

JUMP & RUN. Der Sprung der Subjekte ins System Schule Der Projekttitel JUMP  &  RUN – Schule als System ist gekennzeichnet von einem Widerspruch zwischen lustvoller, bewegter Handlung im Hier und Jetzt und einer systemischen Ebene, die eher Zähigkeit und Langwierigkeit erwarten lässt. Das Projekt selbst ist als eine einmalige Angelegenheit gedacht, die vom Nimbus der Besonderheit lebt. Institutionelle Veränderungen und eine Kooperationskultur hingegen entstehen erst in der variierenden Wiederholung. Ist nun das leitmotivisch gedachte Spannungsfeld JUMP & RUN –  Schule als System dazu angetan, situatives Risiko und längerfristige Qualitätssicherung produktiv miteinander zu verbinden? Der Bezug auf Jump 'n' Run-Computerspiele bietet die Chance, die Plagen und kleinen Siege des Weiterkommens im Hürdenlauf einer Institution als ein leichtfüßiges Hüpfen und Springen von Level zu Level künstlerisch zu verhandeln. JUMP & RUN bezieht sich auf die Akteur_innen im Projekt – vor dem Hintergrund der sie alle vereinenden Schul­ erfahrung. Der Zusatz ›Schule als System‹ enthält die weitergehende Aufforderung, eigene Erfahrungen und Erlebnisse auf den strukturellen Hintergrund der Institution zu beziehen. Liegt hierin eine Aufforderung zur Selbstermächtigung und die Erwartung, dass die Institution Schule sich auf diesem Wege von innen heraus zu erneuern vermöge?  3 | Zeitgenössisch meint hier, dass die Möglichkeiten des Theaters als Ort der Verhand­ lung von Geschichten und Geschichte, Gesellschaft und Politik künstlerisch erforscht werden. Dies geschieht auch in der Arbeit mit jugendlichen Amateur_innen. Beispiel­ haft seien hier allein für das Land Berlin der Houseclub im Theater HAU Hebbel am Ufer, das Format der Winterakademie am Theater an der Parkaue und das Junge DT am Deutschen Theater Berlin genannt.

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Das Konzeptpapier zum Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System stellt die handelnden Subjekte ins Zentrum. Es sollen Möglichkeiten einer »echten Zusammenarbeit« von Lehrern und Künstlern (Harmsen et al. 2010: s. Seite 45 in diesem Band) gesucht werden, die sich aus der Kenntnis des institutionellen Hintergrunds ableiten: Wodurch entsteht »ein Verständnis der Strukturen, in denen sich der Partner bewegt, und können daraus Inhalte für die künstlerische Arbeit gewonnen werden?« (Harmsen et al. 2010: s. Seite 44 in diesem Band). Der Fokus wird auf das System Schule – nicht auf das System Theater gelegt. Dies hat mit der dritten Gruppe von Handelnden, hat mit den Schüler_innen zu tun: Es sollen »die Strategien der Schüler im Umgang mit ihrem Umfeld sichtbar gemacht und zum Spielmaterial für die Bühne werden.« (Harmsen et al. 2010: s. Seite 46 in diesem Band). Die Erwachsenen stellen sich der künstlerischen Thematisierung ihres gegenwärtigen (oder in der Vergangenheit liegenden) institutionellen Lebensumfeldes und forcieren diese Auseinandersetzung auch bei den Kindern und Jugendlichen (beteiligt waren 7. bis 9. Klassen). Es geht um die Frage, wie mit der täglichen Herausforderung durch die Institution umgegangen wird, wozu sie provoziert, was sie aus und mit den Subjekten macht. Thematisiert wird also, inwiefern die Institution gestaltend auf die Individuen einwirkt. Ist dies möglicherweise eine Voraussetzung zur Gestaltbarkeit der Institution Schule durch die, die hier arbeiten und leben? Wenn auch beileibe nicht realisiert, so kann doch als Konsens in einer demokratisch verfassten Gesellschaft vorausgesetzt werden, dass Institutionen nach gesellschaftlichen Anforderungen und nach den Bedürfnissen und Anliegen der sie tragenden Subjekte, im besten Falle unter deren Mitwirkung, gestaltet werden sollten. Als Chance wie Schwierigkeit erweist sich dabei, dass die Subjekte nicht außerhalb der Strukturen stehen, die zu gestalten sind. In welchem Maße gerade die Schule subjektbildend ist, zeigte sich im Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System insbesondere an den Punkten des ›Scheiterns‹: Künstler schafften es nicht, die Verweigerungshaltung der Schüler zu durchbrechen, Schulleiter machten Proben unmöglich, […], Schüler kamen nicht aus ihrer Schülerrolle, Lehrer nicht aus ihrer Lehrerrolle, […]. (Harmsen et al. 2012a)

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Diese Prägungen wurden künstlerisch zum Thema gemacht. Die abschließenden Präsentationen variierten und modifizierten vielfach die ihnen zuzuordnenden Verhaltensweisen. Es wurden Möglichkeiten thematisiert, dem Unterricht zu entkommen, starre Abläufe nach dem Ton der Klingel ironisiert, Theaterunterricht auf der Bühne vorgeführt, biografische Schulerfahrungen künstlerisch gestaltet … (vgl. hierzu Hartmann in diesem Band: Seite 127). Hier wurden Subjektbildungsprozesse in all ihrer Ambivalenz zwischen Abhängigkeit von vorgefundenen Strukturen und Gestaltungsspielräumen ›durchgespielt‹. Können solche theatralen Verhandlungen eine über den Moment der Aufführung hinausgehende, die Individuen oder die Institution berührende Bedeutung haben? Die handelnde Auseinandersetzung in und mit den Strukturen einer Institution und insbesondere mit strukturbildenden Haltungen und daraus resultierendem Verhalten hat ganz sicher das Potenzial, Entwicklungsprozesse in Gang zu setzen. In der handlungsorientierten, Strukturen der Macht variierenden Wiederholung liegt das Potenzial zur Selbstermächtigung. Die Philosophin Judith Butler sagt treffend: »Das Hinausgehen ist kein Entkommen, und das Subjekt geht genau über das hinaus, an was es gebunden ist.« (Butler 2001: 22) Vermag die im vorliegenden Fall künstlerisch-handelnde Thematisierung eine solche Entwicklungsdimension zu gewinnen? Kann sie zurückwirken in Strukturen, die wesentlich bestimmt werden von außerhalb des Projekts stehenden Kolleg_innen und Schüler_innen, von Schulleitungen und nicht zuletzt von der Politik? Schon ob der Spielraum Theater subjektive Ermächtigungsprozesse auszulösen vermag, ist in der wissenschaftlichen Debatte umstritten. Geht man jedoch von einem ↘ Diskursverständnis aus, das »über sprachliche Praktiken hinausgehende Handlungs- und Verhaltensweisen, Alltagspraktiken, Rituale und Konventionen, Wissens-, Wahrheits- und Problematisierungsformen und institutionelle Praktiken« (Lorey 1996: 146) einschließt, und legt man ein Theaterverständnis zugrunde, das Proben und Aufführungen als realitätskonstituierende Handlungen der beteiligten Subjekte begreift, besteht an dem modifizierenden Gestaltungspotenzial dieser Kunstform kein Zweifel. Im vorliegenden Fall bezieht es sich auf das Erforschen, Erproben, Zeigen, die Verhandlung, Ironisierung, Brechung, Übertreibung oder andere Formen der künstlerischen Bearbeitung von Handlungen und Prägungen,

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die durch die Institution provoziert sind. Diese gedankliche und körperlich-sinnliche Erfahrung kann ohne Zweifel einen neuen Aspekt in das die Subjekte konstituierende Diskursgeflecht hineintragen (vgl. zum Begriff ›Diskursgeflecht‹ Lorey 1996: 146 – 152). Das verändert keine Schule, macht jedoch – auch auf dem Weg einer veränderten Selbst-Erfahrung im Kontext der Institution – deren Funktionsweise und Veränderbarkeit sichtbar. Trotz dieses positiven Potenzials bleibt das Thema ›Schule als System‹ als ein von den Erwachsenen vorgegebenes fragwürdig und das künstlerische Scheitern mancher Arbeiten kann damit in Verbindung stehen. Das Thema enthält eine Aufforderung an Schüler_innen, die sich – zugespitzt formuliert – so anhört: ›Setzt euch künstlerisch mit dem auseinander, was die Bedingung eurer Existenz wesentlich bestimmt.‹ Es scheint so, als ob die Selbstermächtigung hier von außen an die Schüler_innen herangetragen werden soll, ein Widerspruch in sich, abgesehen davon, dass es sich um eine Aufforderung an 13-Jährige handelt, zum Teil mit Lernschwierigkeiten und weit davon entfernt, eine Vorstellung von zeitgenössischer Theaterkunst zu haben, in der diese Auseinandersetzung stattfinden soll. Das heißt nicht, dass eine solche ↘ ›Anrufung‹ in einem gut gestalteten Probenprozess nicht zu einem eigenen Anliegen der Kinder und Jugendlichen werden kann 4, sie kann aber ebenso gut als Zumutung erscheinen, der man sich bis zum Schluss widersetzen möchte. Sie ist insofern auch völlig unnötig, weil es der Anspruch jeder theaterkünstlerischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sein muss, an deren Lebenswelt anzusetzen. Bei einem die Arbeiten im Projekt herausfordernden wie vereinenden Titel wie JUMP & RUN wäre die Thematisierung der Lebenswelt Schule mit Sicherheit nicht außen vor geblieben.

 4 | Die pädagogischen Möglichkeiten entscheiden sich (nicht nur im vorliegenden Fall) wesentlich an der Arbeitsweise während der Proben und Aufführungen und an der Art der künstlerischen Thematisierung. Dies wird in der beispielhaften Besprechung zweier künstlerischer Einzelprojekte im Rahmen von JUMP & RUN – Schule als System durch Anne Hartmann in diesem Band deutlich. Frau Hartmann war zum Zeitpunkt des Projekts Studierende des Studiengangs Darstellendes Spiel im Institut für Performative Künste und Bildung der HBK Braunschweig; jetzt arbeitet sie als Theaterpädagogin am Staatstheater Braunschweig.

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Die Herausforderung. Gestaltung der Institution Schule Heutzutage werden zahlreiche Anforderungen von außen an die Schulen herangetragen. Sei es die Abschaffung oder Umwandlung der Hauptschule, die Umstellung auf G8, die Inklusion, die Ganztagsschule. Schulen sehen sich zudem beständig neuen Herausforderungen gegenüber, die mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu tun haben. Alex Rühle beschreibt in der Süddeutschen Zeitung journalistisch zugespitzt die Situation: Viele Schulen gleichen heutzutage pädagogischen Notfall­ ambulanzen. In Zeiten zerfallender Familien, interkultureller Probleme und wachsender Armut müssen sie gleichzeitig kulturelle Integrationsmaschinen sein und Lerninhalte ver­ mitteln. Wenn die Sprache das Haus des Menschen ist, dann leben viele der hier beschulten Jugendlichen in windschiefen Hütten. Wie aber soll man, um im Bild zu bleiben, eine gemeinsame Herausforderung finden, wenn die Kinder nicht mal Wörter wie Verantwortung kennen? (Rühle 2013: V2 / 1)

Angesichts dieser Entwicklungen macht es Sinn, analog zu zeitgenössischem Theater von zeitgenössischen Schulen zu sprechen, die sehr unterschiedliche Gesichter haben können und müssen. Um Notwendigkeiten und Chancen vor Ort gerecht zu werden, muss das Entwicklungspotenzial auch aus den Aktivitäten der in der Institution Handelnden gewonnen werden. Tatsächlich verweisen die zahlreichen Kooperationen zwischen Schulen und Theatern genau auf das Anliegen, Impulse von außen zu gewinnen, die sich in Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit in den Institutionen selbst niederschlagen können. In Bildungskontexten kommt dabei der Theaterkunst eine besondere Bedeutung zu, vereint sie doch künstlerischen Ausdruck und Reflexion, Wissensgenerierung und Strukturierung, Erforschen und Erfinden, Selbstbildung und kollektives Gestalten und fördert subjektive Ermächtigung ebenso wie soziales Lernen. 5 In diesem Sinne können Theaterarbeiten als Inseln in Bildungsinstitutionen  5 | In diesem Kontext sind Untersuchungen zur Bedeutung und Funktionsweise von Probenprozessen besonders wichtig (vgl. hierzu beispielsweise Matzke 2012, Kurzen­ berger 2009, Hilliger 2009a, Sack 2011).

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verstanden werden, auf denen Neues entdeckt, erfahren, aktiv entwickelt und gestaltet wird, was die Subjekte und ihr soziales Umfeld berührt, kurzum Bedeutung generiert. Diese Inseln sind keineswegs abseitig, sondern Kern und Zentrum des Lernens in der Schule, insofern hier Fähigkeiten entwickelt und erprobt werden, die eine funktionierende Demokratie benötigt. Die Insel ›Theaterprojekt‹ muss aber, um wirksam werden zu können, im Rahmen von Schule kontextualisiert werden – ebenso wie die Insel ›Schule‹ in gesellschaftliche Kontexte eingebunden werden muss. (Genau dies passiert in und mit den hier diskutierten Kooperationsprojekten.) Ohne eine begleitende Entwicklung, vielleicht sogar Umgestaltung der Institution Schule, die sich an den Projekterfahrungen und dem dort generierten Wissen orientiert, dieses zumindest mit aufnimmt, bekommen Projekte einen bitteren Beigeschmack. Denn hier werden unter oftmals schwierigen Bedingungen neue Formen des Lernens, des Umgangs miteinander, der Entscheidungsstrukturen und der Übernahme von Verantwortung für andere und eine Gemeinschaft erprobt. Künstler_innen, Pädagog_innen und Schüler_innen, die mit je verteilten Aufgaben und Rollen darum ringen, sich mit Ernsthaftigkeit und Lust, mit Respekt vor dem anderen bei gleichzeitiger Orientierung an eigenen Zielen und Interessen zu begegnen, kurzum, um Gegenseitigkeit bemüht sind, brauchen die Aufmerksamkeit, die Beobachtung, Auswertung und das gleichberechtigte Gespräch mit denen, die auf der institutionellen und politischen Ebene die Entscheidungsträger sind. War eine solche Ebene im Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System angelegt? Welche Möglichkeiten des Austauschs auf verschiedenen Ebenen bot das Projekt? Hier sind insbesondere Bedingungen und Umstände der Abschlusspräsentationen von Interesse, die zum Ort des Austausches der Akteur_innen untereinander wie mit einer darüber hinausgehenden Öffentlichkeit werden sollten. Am 11. und 12. Mai 2012 wurden die aus den elf Kooperationen hervorgegangenen zwölf Arbeiten am HAU1 und HAU2 im Rahmen eines Festivals gezeigt. Zehn Arbeiten waren mit Schüler_innen, zwei mit Lehrer_innen realisiert worden. Für die Zuschauer_innen eröffnete sich eine Vielzahl an Perspektiven. Die künstlerischen Ergebnisse boten ein breites und schier unerschöpfliches Reflexionspotenzial. Um den Festivalcharakter zu unterstützen, haben Studierende des grundständigen Studiengangs für Theaterlehrer_innen an der

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Kunsthochschule Braunschweig 6 zudem einen eigenen Hürdenlauf für Besucher_innen und Akteur_innen des Festivals entwickelt. Thema war die Erforschung des subversiven Umgangs der Festivalteilnehmer_innen mit dem System Schule unter dem Titel ›Archiv von Tricks, Tipps und Techniken in 7 Stationen‹. So wurde beispielsweise im Theaterfoyer ein ›Schulamt. Dezernat Taktisches Handeln‹ aufgebaut, in dem eine Kartei­ kartensammlung darüber entstand, wer gegen wen welche Taktik anwenden kann, um das System erfolgreich zu durchlaufen (Lehrer_innen gegen Schüler_innen und umgekehrt, Schüler_innen gegen Eltern und umgekehrt …). Oder es gab ein Labor zur Erfindung der besten Spickzettel, eine ›Verbrecherkartei‹, für die sich Festivalteilnehmer_innen ablichten ließen, einem Aufnahmegerät ein in der Schulzeit begangenes ›Verbrechen‹ und die dafür verhängte Strafe anvertrauten. Die Fotos wurden ausgestellt, die Aussagen anonymisiert in einem Loop wiedergegeben. Es gab auch Stationen, wo Visionen artikuliert werden konnten: Im Foyer wuchs neben dem Schulamt eine ›Traumschulordnung‹, anderswo konnte en miniature der ideale Klassenraum gestaltet werden. Es gab also die Möglichkeit, sich vor Ort auf spielerische Weise mit dem System Schule und eigenen Erfahrungen dort zu beschäftigen. Traumhafte Bedingungen also, um mit anderen Akteuren und Verantwortlichen für die Gestaltung des Systems Schule ins Gespräch zu kommen? Nicht ganz. Der intensive Austausch der Akteur_innen untereinander holperte. Die Schüler_innen waren mit sich, der neuen Umgebung und ihrer Präsentation beschäftigt, die Lehrer_innen und Künstler_innen mit der Verantwortung für die Präsentation und ihre Schüler_innen. Selbst für nicht beteiligte Zuschauer_innen stellte sich das Programm als sehr dicht heraus, für alle, die noch zusätzlich in eine Verantwortung eingebunden waren, war das Rennen von einer Präsentation zur nächsten schwierig. Nicht alle konnten die Arbeiten der anderen zum gleichen Thema sehen. Zudem fand die Präsentation im anderen ›System‹ statt, im Theater. Eine Festivalatmosphäre konnte vielleicht nur das Theater bieten, die benötigte Technik stand nur hier bereit. Zwar sind einige der Arbeiten auch noch an den ›heimischen‹ Schulen gezeigt worden, aber wie viel haben die Schulen von dem Gesamtprojekt wirklich erfahren?  6 | Der Studiengang wird unter dem Namen Darstellendes Spiel am Institut für Per­ formative Künste und Bildung der HBK geführt und beherbergt zur Zeit ca. 100 Stu­ dierende, die auf Lehramt studieren oder theaterpädagogische Arbeiten in anderen Institutionen anstreben.

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Während des Festivals war die Anwesenheit von Entscheidungsträger_innen im und für das System Schule die Ausnahme. An der nachfolgenden Tagung zur Reflexion und Diskussion des Projekts JUMP  &  RUN – Schule als System im November 2012 haben Kolleg_in­­nen aus den Schulen kaum teilnehmen können. Die Tagung war zwar als Fortbildung anerkannt, doch dürfen Fortbildungen in Berlin nicht während der Schulzeit stattfinden. Die Tagung sollte jedoch auch nicht auf einem Wochenende liegen. Schüler_innen haben an der Auswertung gar nicht teilgenommen, sie waren hier nicht eingeplant. Die Künstlerischen Leiterinnen haben das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System von vornherein als einmalig angesehen und der Anspruch, in das System Schule zurückzuwirken, war von ihrer Seite aus nicht explizit

+ Habitus Für den Soziologen Pierre Bourdieu, der das zur Analyse sozialer Interaktion verwendete Habituskonzept entwickelte, stellt der Begriff des Habitus eine Hilfskonstruktion dar. Mit ihr soll anschaulich werden, wie es zu dem grundsätzlichen Einklang zwischen Individuen und ihrer sozialen Welt kommt respektive zu einer ›unabgestimmten Abgestimmtheit‹ (Bourdieu) zwischen individuellen Praktiken und sozialer Struktur. Um das Bild einer ›unabgestimmten Abgestimmtheit‹ mit einer Frage konkret zu machen: »Wie kommt es, dass Menschen mit höherem Bildungsstatus mit einer wesentlich größeren Wahrscheinlichkeit Museen besuchen als Menschen mit niedrigem Abschluss?« (Barlösius 2011: 29). Ohne Zwang oder Absprache und ohne einen direkten Vorteil kommen die einen so zuverlässig, wie sich die anderen meist fernhalten. Der Begriff des Habitus beschreibt die – auch durch den Körper sich artikulierenden – Wertvorstellungen und Handlungsparameter, die unsere soziale Praxis anleiten und struk­ turieren. Er ist die Leib gewordene Sozialisierung eines Individuums und bildet sich durch Faktoren wie soziale Zugehörigkeit, ökonomischer Status, Berufsgruppe und Fachkultur, Ge­ schlecht und Ethnizität und durch das Agieren in der von Institutionen wie Schule, Sprache oder Familie reproduzierten symbolischen Ordnung, in die jedes Individuum von Geburt an eingeübt wird. Wichtig an diesem Konzept ist, dass Gesellschaft und Individuum hier nicht getrennt gedacht werden: Der/die Einzelne ist nicht der Zurichtung durch die Gesellschaft unterworfen. Stattdessen bringt sich der Habitus des Einzelnen in sozialen Interaktionen selbst hervor und ist daher nicht als starre, unveränderliche Zusammenstellung von Merk­ malen oder als festgeschriebenes Handlungsprogramm zu denken: »In ihrer vom Habitus hervorgebrachten Praxis beziehen sich die Individuen auf die vorgefundenen gesellschaft­ lichen Strukturen und Institutionen, eignen sich diese an, verändern sie, schaffen sie neu.

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damit verbunden. Weil aber das System berührt ist, im Titel wie auch in den künstlerischen Arbeiten, macht es Sinn zu reflektieren, wie sich subjektive und institutionelle Ebene zueinander verhalten haben. Dabei bietet die Beschreibung der zum Teil nicht eingelösten Möglichkeiten des in seiner Dimension einmaligen Projekts eine hervorragende Möglichkeit, Notwendigkeiten und Gelingensbedingungen für Kooperationsprojekte herauszuarbeiten. »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail better.« Im Hinblick auf diese Möglichkeit sollen abschließend einige wesentliche Qualitätskriterien für Kooperationsprojekte benannt werden, wie sie sich aus der Analyse und Reflexion von JUMP  &  RUN – Schule als System ergeben haben.

[…] Der Habitus ist kreativ, er variiert, geht mit neuen Situationen anders um als mit alten.« (Krais / Gebauer 2002: 78 ff.). Aus diesem Grund gleicht der Habitus einer sich selbst hervorbringenden (generativen) Gramma­ tik, die zu erklären vermag, inwieweit konkret situierte Praktiken (also individuelle, situative Handlungen) eine überindividuell geteilte Tiefenstruktur aufweisen. Als Konstrukt vermittelt der Habitus zwischen innerer und äußerer Struktur und hebt dadurch den entsprechenden Gegensatz auf. Er bringt aufeinander abgestimmte Praxis­ formen hervor und generiert »Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Denkschemata, die ga­ rantieren, dass die Umgebung ähnlich wahrgenommen und bewertet wird, und bildet damit ein Klassifizierungsprinzip. […] Der Habitus ist ein ›modus operandi‹, weil er Praxisformen und Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Denkschemata produziert, die als fertige Produkte – ›opus operatum‹ – vorliegen und empirisch analysiert werden können. So lassen sich bei­ spielsweise Begrüßungsweisen, mimische und sprachliche Ausdrucksart oder Musikpraktiken empirisch beobachten.« (Barlösius 2011: 57) Die hier abgedruckte Erläuterung des Habitusbegriffs folgt – mit einigen Ergänzungen – weitgehend: Mörsch, Carmen (2005): .(lacht). Perspektiven von KünstlerInnen im Projekt Kinder machen Kunst mit Medien 2004. In: Lüth, Nanna/Mörsch, Carmen (Hg.): Kinder machen Kunst mit Medien. Ein/e Arbeits-BDuVchD (dt./engl.). München: kopaed. Seite 64 – 79. Barlösius, Eva (2011): Pierre Bourdieu. Frankfurt/New York: Campus. Krais, Beate / Gebauer, Gunter (2002): Habitus. Bielefeld: transcript.

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Die Laufstrecke. Wechselspiel zwischen Projekt und Institution Kooperationsprojekte zwischen Schulen und Theatern realisieren sich immer gleichzeitig auf der subjektiven wie auf der institutionellen Ebene. Ihr Gelingen hängt wesentlich davon ab, wie beide Ebenen aufeinander wirken können und sich gegenseitig zu beeinflussen vermögen. Wie oben ausgeführt, wird von einem Subjektverständnis ausgegangen, das sich in Abhängigkeit von vorgefundenen Strukturen und Machtverhältnissen bildet. Und von Institutionen, deren Strukturen und Machtverhältnisse durch die Handlungen von Subjekten hergestellt wie auch verändert werden können. Dabei finden, wie sattsam bekannt, auch positive Erfahrungen und weiterführende Erkenntnisse aus Kooperationsprojekten nicht automatisch Eingang in die Strukturen der Institution, sondern Veränderungen müssen verhandelt, erstritten, diskursiv um- und gegebenenfalls durchgesetzt werden. Finden Kooperationsprojekte mit ihrem Ausnahmestatus doch in eher schwerfälligen Institutionen statt, die sich zudem in großer Abhängigkeit von politischen Entscheidungen befinden. Als Teil einer Kooperationskultur müssen deshalb Diskursstrukturen aufgebaut werden, die in die Schule zurückwirken können und Einfluss nehmen auf politische Entscheidungen. In diesen ↘ Diskurs müssen Erfahrungsberichte ebenso Eingang finden wie eine wissenschaftliche Wirkungsforschung, deren Konsequenzen im Rahmen eines breit angelegten demokratischen Diskurses ausgehandelt werden müssen. Denn eine liberale Demokratie ist vor allem eine pluralistische Demokratie. Ihre Neuheit rührt von der Auffassung her, die Diversität der Konzepte des Guten nicht als einen Missstand anzusehen, der auszuräumen sei, sondern als etwas, das man als wertvoll erachten sollte und auf das man stolz sein kann. Dies verlangt nach Institutionen, die eine besondere Dynamik zwischen Konsens und Zwist zu etablieren vermögen. (Mouffe 1999: 26f.)

Selbstverständlich tragen künstlerische Projekte Zwist in Schulen hinein. Dabei geht es nicht nur um die Störung gewohnter Zeitabläufe und Raumzuteilungen, sondern sie provozieren durch zugespitzte Positionierung, konfrontieren mit fremden Weltverständnissen, ungewohnten

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Gestaltungs-, Seh- und Erfahrungsweisen und außergewöhnlichen Lernwegen. Genau deshalb können sie zum Motor für individuelle Entwicklungsprozesse in Richtung auf Selbstermächtigung werden und für Veränderungsprozesse der Institution Schule im Hinblick auf eine verbesserte Funktionsfähigkeit. Dabei kommt der Institution Schule die schwierige Aufgabe zu, mit Kooperationen Kontinuität abzusichern und in der je einzelnen Realisierung von Projekten immer wieder Wagnisse zuzulassen. Auch wenn die Projektkultur heute durchaus kritisch gesehen wird 7, birgt sie ohne Zweifel ein Entwicklungspotenzial, das Strukturen nicht nur auflöst, sondern auch zu gestalten vermag. Hier lohnt sich ein Rückblick auf die historische Figur des Projektemachers, der als Forschertypus in Zeiten von Erkenntnisumbrüchen auf den Plan tritt. Er agiert in der Kreisform von Entwerfen, Erproben, also dem Überführen des Plans in eine Praxis, dem Gelingen oder Scheitern, anschließendem Neuentwurf usw. Krajewski nennt das die »Produktion von Wissen, und zwar in der Vorform des Scheiterns« (Krajewski 2006: 22). Hier wird außerhalb schon anerkannter Wege gedacht und agiert und eine Realisierung gewagt. Hieraus werden Erkenntnisse generiert, die das nächste Projekt zu beeinflussen vermögen. Die Projektemacherfigur ist also eine Figur, die sich mit den Gegebenheiten wie auch mit dem Entwurf von Welt gleichermaßen auseinandersetzt. Sie tut dies immer im Wagnis, nicht in der Bestätigung oder Absicherung. Der Begriff Projekt verweist denn auch auf das Französische projeter, ›entwerfen‹. Das lateinische Herkunftswort proicere wiederum konnotiert ›vorwärtswerfen‹. Dem Begriff wohnt ein Zukunftsbezug inne. Das 18. Jahrhundert, ein Jahrhundert der Hochkonjunktur von Projekten, verbindet mit der Zukunftszugewandtheit den Gedanken von Gemeinwohl. Demnach zeichnet ein Projekt, anders als ein bloßer Plan, aus, dass »das prinzipielle Ziel eines solchen ›Geschäffts‹ oder Unternehmens […] in der allgemeinen Wohlfahrt oder Vermehrung menschlicher Glückseligkeit liegt […]« (Krajewski 2006: 12). Diese optimistische Zukunftszugewandtheit ist in ihrer Verwirklichung in einem Projekt immer bedroht. Die Konnotation von proicere  7 | Der Projekt- wie auch der Kreativitätsbegriff stehen heute im Verdacht, sich be­ sonders gut in ökonomische Verwertungszusammenhänge einzuordnen und im Zu­ sammenklang mit Begriffen wie ›Ich-AG‹ zu stehen. Dies bedeutet aber nicht, dass sie nicht auch anders gedacht werden können (vgl. hierzu beispielsweise Reckwitz 2012: 355 – 368).

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umfasst neben ›entwerfen‹ auch ›hin- und niederwerfen‹ (vgl. Krajewski 2006: 11), das Scheitern liegt also nahe. Genau wegen dieses Wagemutes haben Projekte Konjunktur in Krisenzeiten. Von ihnen wird eine Antwort erwartet, ein Vorschlag zur Bewältigung einer Krise aus einer Außen- und gegebenenfalls auch Außenseiterposition heraus. Wird in der Bildungslandschaft auf die heilende Wirkung von Projekten mit Künstler_innen gesetzt, steckt hierin noch ein Stück des alten Kerns der Projektidee: Sie tragen in ihrem visionären Entwurf von Lernen und Gestalten ein Risiko in sich, welches das Potenzial hat, für die an dem Experiment Beteiligten und die Institution neue Erfahrungen und Erkenntnisse zu generieren. 8 Das Experiment braucht aber zwingend einen Rahmen, um in diesem visionären Sinne wirksam werden zu können.

Spielregeln. Einige Handlungsvorschläge An dieser Stelle können nicht alle Aspekte, die eine gelingende Kooperationskultur ausmachen, reflektiert werden, zumal diese zwischen den jeweiligen Kooperationspartnern ausgehandelt und entwickelt werden muss. In der vorausgegangenen Ref lexion des Projekts JUMP & RUN –  Schule als System haben sich aber drei Handlungsbereiche herauskristallisiert, die für Schulentwicklungsprozesse relevant sind: das Handeln im Projekt, das Handeln in der Institution und das politische Handeln. Für diese drei Ebenen sollen abschließend verallgemeinerbare Handlungsvorschläge zur Entwicklung einer Kooperationskultur vorgestellt werden. Handeln im Projekt: Das Entwicklungspotenzial (theater-)künstlerischer Arbeiten resultiert insbesondere aus ihrem radikalen Subjektbezug. Es geht hier immer um den (zugespitzten) subjektiven Ausdruck. 9 Ziel ist es, Kindern und Jugendlichen eine entsprechende Positionierung zu Lebenswelt, zu sozialen und politischen Prozessen, Geschichte  8 | Allerdings darf das Risiko nicht zu unsicheren und prekären Arbeitsverhältnissen für Künstler_innen führen. Auch hier ist Kontinuität sowie Angemessenheit in der Ho­ norierung der künstlerisch-pädagogisch forschenden Arbeit gefragt.  9 | Dies gilt auch für die Kunstform Theater, die ja immer im Kollektiv entwickelt wird (vgl. hierzu beispielsweise Hartmann 2009).

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und Literatur, dem Selbst, anderen Menschen und anderes mehr zu ermöglichen. Das heißt, dass die Spezifik künstlerischen Arbeitens, die einen hohen Grad an Komplexität aufweist, auch in pädagogisch akzentuierten Arbeiten erhalten bleiben muss. Die Komplexität ergibt sich aus der gleichzeitigen Begegnung und Kommunikation mit fremdem Material, sich selbst in einem fremden Handlungs- und Bedeutungsraum, neuen Haltungen, fremden Menschen sowie bekannten Menschen in ungewohntem Ausdruck. Komplexität kennzeichnet aber auch den Arbeitsprozess von recherchieren, erfinden, verwerfen, neu finden, strukturieren, wiederholen etc. Damit dieser Prozess gewinnbringend sowohl für die Beteiligten als auch für die Institution verlaufen kann, muss eine große Offenheit bestehen für die Themen und Ausdrucksformen der Kinder und Jugendlichen – und die der beteiligten Erwachsenen. Selbstverständlich muss es eine Freiheit in der künstlerischen Gestaltung geben, die vielleicht mit traditionellen Sehgewohnheiten bricht. Das Risiko, das künstlerisches Arbeiten kennzeichnet, muss erhalten bleiben. Das schließt keineswegs aus, dass Schüler_innen in (theater-)pädagogischen Kontexten geschützt werden. Sie wollen zeigen können, was sie gelernt und entwickelt haben, sie einem totalen Scheitern auszuliefern, wäre verantwortungslos. Das Risiko muss durch die Institution abgesichert werden. Diese Absicherung kann beispielsweise darin bestehen, dass es eine Akzeptanz gegenüber Ergebnissen gibt, die mit konventionellen Erwartungen an Theater brechen. Es kann sich um eine Intervention handeln, eine Installation, einen Audio-Walk, eine Fotoausstellung, eine Lesung, einen Parcours, einen Bericht auf der Gesamtkonferenz usw. Alle am Projekt Beteiligten müssen in einen kontinuierlichen Austauschprozess treten. Dabei macht es Sinn, dass Künstler_innen wie Lehrer_innen ganz deutlich in ihrem jeweiligen Selbstverständnis verbleiben, dieses aber neu denken, erfahren und entwickeln oder modifizieren können durch die Begegnung mit Fremdem im je eigenen Feld. Handeln in der Institution: Kooperationsprojekte fordern Schulen in ihrer Routine in hohem Maße heraus. Sie erscheinen nicht selten als Störung des alltäglichen Ablaufs. Damit die Chance besteht, diese Störung als produktiv wahrzunehmen, muss eine kontinuierliche Vermittlung dessen stattfinden, was im Projekt passiert. Hierfür lassen sich verschiedene Formen finden: in der Gesamtkonferenz das Projekt mit den Beteiligten vorstellen, im laufenden Schuljahr Zwischenergebnisse präsentieren in

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Form kleiner Pausenperformances, eine Dokumentationspinnwand im Schulflur mit Fotos, ein Projektblog etc. Notwendig ist ein Interesse der Kolleg_innen wie der Schulleitung an Prozessverläufen, Lernformen, Ergebnissen. Diese Form von engagierter Begleitung kann man zu fordern versuchen. Ist das Interesse an einer Schule nicht zu wecken, sollte man auf Projekte eher verzichten und die Versetzung an eine andere Schule anstreben. Die Ergebnisse von Kooperationen sollten nie nur im Theater, sondern immer auch in den Schulen gezeigt werden. Das kann in einer abgespeckten Variante geschehen, ist aber zur Entwicklung einer entsprechend geprägten Schulkultur notwendig und erreicht in manchen Schulen nur so die Eltern, die in Schulentwicklungsprozesse so weit als möglich eingebunden werden müssen. Für jedes Kooperationsprojekt einer Schule sollte ein über das Projekt hinausgehendes, damit verbundenes Entwicklungsziel formuliert und angestrebt werden, das diskursiv zu verhandeln ist. Politisches Handeln: Schulentwicklungsprozesse sind immer auf die politischen Rahmenbedingungen angewiesen, auch wenn die zunehmende Schulautonomie Handlungsspielräume eröffnet. Aus den Erfahrungen in Projekten und begleitend zu Schritten der Schulentwicklung können und müssen von allen Beteiligten auf verschiedenen Ebenen bildungspolitische Forderungen erhoben werden. Diese beziehen sich auf die Ermöglichung von Kontinuität in Kooperationsprojekten und auf Schulpolitik. Aber auch auf die Finanzierung von Forschungsprojekten, die das hier umrissene Bildungs- und Entwicklungspotenzial aus den Projekten heraus mit Methoden der qualitativen Sozialforschung detailliert zu beschreiben vermögen.

Prof. Dr. Dorothea Hilliger leitet das Institut für Performative Künste und Bildung der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, das den einzigen grundständigen Studiengang für Theaterlehrer_innen an Schulen beherbergt. Sie studierte Germanistik, Politik- und Theaterwissenschaft und Theaterpädagogik und arbeitete an Theatern wie an Schulen. Einer ihrer Schwerpunkte in Lehre und Forschung ist die Institutionenentwicklung auf Basis der künstlerischen Fächer.

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literatur Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Gaßner, Hubertus / Kölle, Brigitte (Hg.) (2013): Besser scheitern. Film + Video. Ausstellungskatalog der Kunsthalle Hamburg. Köln: Walther König. Harmsen, Mijke / Stang, Kristina / Willenbacher, Sascha (2010): Konzeptpapier zum Projekt JUMP & RUN – Schule als System. S. Seite 42 in diesem Band. Harmsen, Mijke / Schlie, Camilla / Stang, Kristina (Hg.) (2012): Festivalprogrammheft. JUMP & RUN – Schule als System, 11. + 12. Mai 2012, HAU2 – HAU3. Online unter: https://www.zhdk.ch/index.php?id=38657 [20.07.2015] Harmsen, Mijke / Schlie, Camilla / Stang, Kristina (Hg.) (2012a): Programm zur Tagung ›Inszenierung zwischen Verweigerung und Transformation‹. Online unter: https://www.zhdk.ch/index.php?id=38657 [20.07.2015] Hartmann, Anne (2009): Die ›devising performance‹ als theaterpädagogische Arbeitsmethode. In: Hilliger, Dorothea (Hg.): Freiräume der Enge. Künstlerische Findungsprozesse der Theaterpädagogik. Berlin: Schibri. Seite 111 – 139. Hilliger, Dorothea (2009a): Intimität und ›Wildes Denken‹ in der Theaterprobe. In: dies. (Hg.): Freiräume der Enge. Künstlerische Findungsprozesse der Theater­ pädagogik. Berlin: Schibri. Seite 252 – 259. Hilliger, Dorothea (Hg.) (2009b): Freiräume der Enge. Künstlerische Findungsprozesse der Theaterpädagogik. Berlin: Schibri. Hilliger, Dorothea (2010): Perspektivenwechsel. Das X-Schulen-Projekt des Berliner Theaters Hebbel am Ufer. In: Schneider, Wolfgang / Fechner, Meike (Hg.): Theater und Schule. Grimm & Grips 24. Frankfurt: ASSITEJ. Seite 82 – 96. Klepacki, Leopold / Zirfas, Jörg (2013): Theatrale Didaktik. Ein pädagogischer Grundriss des schulischen Theaterunterrichts. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Krajewski, Markus (Hg.) (2006): Projektemacher. Berlin: Kadmos. Kurzenberger, Hajo (2009): Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper, Proben­ gemeinschaften, theatrale Kreativität. Bielefeld: transcript. Lorey, Isabell (1996): Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines juridischen Machtmodells: Judith Butler. Tübingen: edition diskord. Matzke, Annemarie (2012): Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld: transcript. Mouffe, Chantal (1999): Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft. Wien: Passagen. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Berlin: Suhrkamp. Rühle, Alex (2013): Ich sehe dich. In: Süddeutsche Zeitung, Nummer 40, SZ Wochen­ ende, vom 16.2.2013. Seite V2/1. Sack, Mira (2011): spielend denken. Theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens. Bielefeld: transcript. Schneider, Wolfgang / Fechner, Meike (Hg.) (2010): Theater und Schule. Grimm & Grips 24. Frankfurt: ASSITEJ.

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+ Theatermachen gegen den Takt der Klingel

Analytische Betrachtungen zweier Projekte im Rahmen von JUMP & RUN

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von Anne Hartmann (redigierter Tagungsbeitrag, November 2012)

Eine Stunde ist keine Stunde, sondern 45 Minuten. Im 45-MinutenRhythmus aneinandergereiht, unterbrochen von Pausen, findet im Takt der Schulklingel das pralle Leben der Schule statt. Hier herrschen Regeln, Normen und Konventionen, gibt es Verstöße dagegen, folgen möglicherweise Sanktionen. Ein Schulleben im Zyklus von Klassenstufen, im Modus Lehrer_innen versus Schüler_innen? Im Rahmen des Gesamtprojekts JUMP  &  RUN – Schule als System hatten Lehrer_innen, Schüler_innen und Künstler_innen Gelegenheit, das System Schule auf den Prüfstand zu stellen und dabei gegen den Takt der Klingel zu arbeiten. Im Folgenden werden zwei Einzelprojekte besprochen, in denen es den Akteur_innen in besonderer Weise gelungen ist, Chancen und Risiken der Zusammenarbeit im System Schule sichtbar zu machen.

Schüler als Gestalt

carlo-schmid-oberschule, wpk ds 1 / 8. klasse, martin clausen und christiane schulze Zwei Spieler_innen betreten die Bühne und halten ein Pappschild, auf das eine Videosequenz projiziert wird. Die Zuschauer_innen sehen eine Frau und einen Mann bei einem gemeinsamen Essen in der Schulmensa. Sie essen Suppe mit Würstchen, trinken Saft aus kleinen Plastikflaschen im Neonlicht der Mensa. Die Videosequenz ist geloopt, zu sehen sind  1 | Die Abkürzung ›WPK DS‹ steht für Wahlpflichtkurs Darstellendes Spiel.

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aneinandergereihte Momentaufnahmen des gemeinsamen Essens. Die Bildrate wird im Verlauf des Videos langsamer, die Bilder abgehackter. Ein Stop-Motion-Film in stetiger Entschleunigung, der die Figuren wie Roboter erscheinen lässt. In diesem Eingangsvideo tauschen sich der Künstler (Martin Clausen) und die Lehrerin 2 (Christiane Schulze) über ihre subjektiven Erfahrungen in der Zusammenarbeit, die Interaktionen mit den Schüler_innen sowie über erste Erfahrungen des Künstlers beim Betreten der Schule aus. Aussagen wie »es war jetzt nicht immer einfach« und »es müssen aber auch nicht immer alle auf Gedeih und Verderb zusammenarbeiten« lassen etwas erahnen von den Schwierigkeiten der Zusammenarbeit, den institutionellen Bedingungen und Projektkonstellationen und verweisen als ein (selbst-)ironischer Kommentar zugleich auf die nachfolgende Präsentation und die Erfahrungen in der Zusammenarbeit. In der nächsten Szene betreten alle Spieler_innen in schwarzer Kleidung die Bühne. Eine Spielerin tritt an den vorderen linken Bühnenrand an ein Mikrofon und gibt von dort aus Anweisungen, wie sich die anderen Spieler_innen durch den Raum bewegen sollen, ob tanzend, als Schlange oder hüpfend. Die Gruppe folgt den Anweisungen oder verweigert sich, bis sie wieder neue Anweisungen bekommen. Die Spielerin am Mikrofon kommentiert den Unterricht im Fach Darstellendes Spiel (DS), in dem die Schüler_innen Aufgaben zu bewältigen haben und in dem Normen und Regeln herrschen, wie zum Beispiel immer schwarze Kleidung zu tragen, und wo Missachtung oder Fehlverhalten schlechte Noten oder Einträge im Klassenbuch zur Folge haben. Oder aber die Spielerin erklärt in ironischer Weise, wozu das Fach gut sein könnte, zum Beispiel als Vorbereitung auf das Schauspielstudium oder zur Förderung sozialer Kompetenzen. Im Verlauf der Aufführung schlüpfen einzelne Spieler_innen immer wieder in die Rolle eines Lehrers und thematisieren wohlbekannte Schüler-Lehrer-Situationen. Sie verkleiden sich mit Kostümen und Perücken und es werden neben Szenen, in denen alle Spieler_innen mitspielen, auch einzelne Szenen von Mädchen- und Jungengruppen zu alltäglichen Vorgängen im Unterricht gezeigt, Erinnerungen an Schule, aber auch Zukunftsvorstellungen werden erzählt. Die Präsentation besticht durch die parallele Thematisierung dessen, was sie zeigt, nicht unbedingt durch ein besonderes künstlerisches  2 | Die Bezeichnungen der Professionen (Künstler, Lehrerin) werden im Nachfolgenden beibehalten, da der Fokus und die Perspektive vielmehr auf den jeweiligen Professio­ nen der beiden Akteur_innen liegt als auf den konkreten Personen.

Theatermachen gegen den Takt der Klingel

Format. Denn dem Künstler, der Lehrerin und den Schüler_innen ist es gelungen, ihre eigene Arbeit im Fach DS zum Thema des Unterrichts und ihrer Zusammenarbeit zu machen, somit auch Strukturen und Prozesse von Unterricht sichtbar zu machen und künstlerisch umzusetzen. Sie reformulieren subjektives Verhalten, Erfahrungen und Zuschreibungen mit ironischen Verdrehungen des normalen Unterrichts. Was ist dem vorausgegangen, dass solch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Unterricht, und wie man darin handelt und miteinander umgeht, stattfinden konnte 3: In den Interviews zeigt sich, dass die Lehrerin und der Künstler sich in ihrer Zusammenarbeit auf einen intensiven Austausch eingelassen haben, der sich vor allem durch Beschreibungen des gegenseitigen Beobachtens auszeichnete. So beschrieb der Künstler als Erstes, eine für ihn absurd-paradoxe Situation im DS-Unterricht vorgefunden zu haben: Er hat Schüler_innen beobachtet, die nicht unbedingt miteinander arbeiten möchten, aber aufgrund der Regeln und Konventionen von Unterricht zusammenarbeiten müssen, und das im Fach Theater, das als kollektive Kunstform von einer gruppenorientierten Arbeitsweise lebt! Des Weiteren beobachtet er, dass der Unterricht von der Lehrerin über klare Regeln und Disziplinierungsmaßnahmen gesteuert wird, die zur Norm geworden sind, wie zum Beispiel schwarze Kleidung zu tragen. Aber deren Missachtung, vor allem bei Abwesenheit der Lehrerin, provoziert immer wieder Schwierigkeiten und ›Unfälle‹. Dieses Potenzial der Unfälle und Kollisionen nutzen Künstler und Lehrerin als Spielmaterial: Da ist zum Beispiel das Spiel mit Kostümen, das daraus entstanden ist, dass es den Schüler_innen eigentlich verboten ist, an die Kostümschränke einer anderen Lehrerin zu gehen und sich zu verkleiden. Sie haben es trotzdem immer wieder getan und der Künstler hat darin ein besonderes Spielmaterial erkannt: Die Schüler_innen hatten Lust, sich zu verkleiden, also brachte er immer wieder andere Kostüme zum Unterricht mit und hat diese als Gestaltungselement in die Aufführung integriert. In der Aufführung bewegen sich die Schüler_innen, wie eingangs beschrieben, durch den Raum und führen die Anweisungen der Spielerin am Mikrofon aus. Von ihr unbemerkt, laufen sie dann zu einer Kleiderstange mit Kostümen und Perücken, probieren alles an und spielen damit  3 | Die folgende Analyse nimmt Bezug auf Interviews, die die Autorin mit Christiane Schulze und Martin Clausen über ihre Zusammenarbeit geführt hat.

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herum. Sobald die Spielerin am Mikrofon sich umdreht, verstecken alle anderen ihre Kostümteile wieder und tun so, als würden sie ihr zuhören. Im Verlauf der Aufführung behalten die Spieler_innen die Kostüme wie selbstverständlich an. Des Weiteren wird das Verhalten der Lehrerin im Umgang mit den Schüler_innen und den Konventionen des DS-Unterrichts thematisiert, die sich in den Spielanweisungen der Spielerin am Mikrofon widerspiegeln. Die Schüler_innen erkennen durch die Zusammenarbeit mit dem Künstler, dass dort jemand ist, der nicht nur sie beobachtet, sondern auch das Verhalten der Lehrerin. Er bringt andere Arbeits- und Umgangsweisen, Erfahrungen und Haltungen mit, denen die Schüler_innen bisher in der Institution Schule vielleicht gar nicht oder nur selten begegnet sind. Veränderungen im gewohnten DS-Unterricht, die durch die Zusammenarbeit mit dem Künstler initiiert wurden, werden so beispielhaft in der Aufführung gezeigt: im Spiel mit den Kostümen als auch in den Spielanweisungen und Kommentaren der Spielerin am Mikrofon in der Rolle der Lehrerin. Zusätzlich zu der konkreten Arbeit mit den Schüler_innen im Unterricht tauschen sich Künstler und Lehrerin intensiv über ihre Zusammenarbeit aus. Der Austausch vollzieht sich in regelmäßigen Treffen und persönlichen Gesprächen, durch gemeinsames Fahren zur Schule und dadurch, dass sich beide in die Zusammenarbeit hineinwerfen und das Interesse daran teilen, fremden Haltungen und Arbeitsweisen zu begegnen und diese auszuloten. Sie entwickeln beide die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, sich der Beobachtung und ironischen Thematisierung auszusetzen. Das hat vor allem auch die Lehrerin in bemerkenswerter Weise möglich gemacht. Sie hat es zugelassen, dass ihr eigenes Verhalten thematisiert und künstlerisch verhandelt wird. Sie hat sich darauf eingelassen, ihr eigenes Verhalten zum Gegenstand gemeinsamer Reflexion zu machen. Diese Arbeitsweise und die Art der künstlerischen (Selbst-)Thematisierung birgt ein hohes Maß an Risiko und damit auch das Potenzial des Scheiterns: Sie zeichnet sich dadurch aus, mit dem, was man in der Gruppe vorfindet, und von den Handlungen, die im Unterricht passieren, aus- und umzugehen. Prozesse der kontinuierlichen (Selbst-)Beobachtung werden so zum Ausgangspunkt und der Unterricht selbst zum Material der szenischen Erarbeitung. Die daraus resultierenden unvorhersehbaren dynamischen Prozesse und Entwicklungen künstlerisch umzusetzen, setzt die Bereitschaft bei Lehrerin und Schüler_innen voraus, sich auf eine

Theatermachen gegen den Takt der Klingel

solche (Selbst-)Beobachtung einzulassen, einhergehende Ironisierungen zuzulassen und dabei möglicherweise auch zu scheitern. Im Rahmen der öffentlichen Präsentation zum Projektabschluss ist es gelungen, Prozesse und Bedingungen des Unterrichts und der Zusammenarbeit sichtbar zu machen und diesen Perspektivenwechsel künstlerisch zu gestalten. Dies wurde vor allem durch das gegenseitige Beobachten und Befragen von Verhaltensweisen der Akteur_innen im System Schule möglich. Prozesse der Verhandlung und Verschiebung von Verhaltensweisen und Verhaltensnormen wurden angestoßen, das Veränderungspotenzial von Schule durch Mitgestaltung aller Beteiligten sichtbar.

ABC für Aussteiger

lina-morgenstern-oberschule , 7. klasse, Udo Kesy, Antje Siehler & Marcio Carvalho Während der Arbeit am ›ABC für Aussteiger‹ sind Lehrer (Udo Kesy) und Künstler (Marcio Carvalho) in einer klassischen Rollenverteilung und einem klassischen Kooperationsverhältnis geblieben: Der Lehrer ist Lehrer, der Künstler ist Künstler. Der Künstler ist zuständig für den künstlerischen Prozess und der Lehrer für den pädagogischen Prozess, im Sinne der Leitung und Führung einer Lerngruppe, der auch Disziplinierungsvorgänge beinhaltet. Das Projekt ist im Kontext des Themas ›Schule als System‹ aber insofern bemerkenswert, als dass die Gruppe einen Aspekt gefunden hat, der sich mit Bedingungen des Unterrichts und dem Umgang damit befasst, nämlich mit dem Phänomen des Aussteigens. Ein Phänomen, an das jeder, der einmal Schule durchlaufen hat, anknüpfen kann. Aussteigen ist eben eine Sache, die Schüler immer machen oder gemacht haben, und das war ein Punkt, wo wir gesagt haben, das Thema ›Schule als System‹ heißt für uns, wir steigen aus dem System aus und wie machen wir das? Schüler sind in der Sache Experten. (vgl. Interview mit Udo Kesy in Hartmann 2012: 47)

Die Schüler_innen wurden also als Expert_innen in Sachen subversiven Umgangs mit dem Aussteigen aus dem Unterricht wahr- und ernstgenommen. Sie recherchierten im eigenen Umfeld: Ihr Wissen und ihre Strategien wurden zum Gegenstand des gemeinsamen Erarbeitungsprozesses

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gemacht und so in verschiedenen Formen in einem ›ABC für Aussteiger‹ künstlerisch umgesetzt. Auf der Bühne sitzt die Klasse auf Schulbänken, dem Lehrer (Udo Kesy) gegenüber. Eine klassische Unterrichtssituation, auf die das Publikum mit Blickrichtung des Lehrers schaut. Es klingelt diverse Male, aber der Lehrer beendet den Unterricht nicht. Die Schüler_innen müssen also andere Wege und Strategien finden, aus dem Unterricht auszusteigen. Das gelingt ihnen durch Tricks wie dem Vortäuschen körperlicher Leiden (beispielsweise Nasenbluten, Kopf- und Bauchschmerzen), aber auch dadurch, dass sie sich aus dem Schulalltag und der konkreten Unterrichtssituation wegträumen. Die Traumsequenzen werden in selbstgedrehten Videos eingespielt, sie zeigen Verfolgungsjagden und Dinosaurier im Klassenzimmer. Doch auch aus ihren Tagträumen werden die Schüler_innen immer wieder zurück ins Unterrichtsgeschehen geholt, bis sie schließlich alle in einem unverständlichen Stimmengewirr aus Ausreden und Aussteigersprüchen auf ihren Lehrer einreden. Licht aus. Jetzt kommt Udo Kesy (der Lehrer) als Udo Kesy selbst zu Wort und berichtet aus seiner Zeit als Schüler. Anhand projizierter Fotos, die ihn als jungen Menschen zeigen, erzählt er von seinen Erinnerungen an die Schulzeit und seinem jetzigen Schulleben im Takt der Klingel. Die unterschiedlichen Perspektiven der Schüler_innen und des Lehrers erfahren durch diese dramaturgische Setzung eine gelungene Integration und Verschränkung. Wie wurde das möglich? Indem auch der Lehrer ausgestiegen ist! Er hat sich rausgeschlichen aus der Lehrerposition und hineinbegeben in die Als-ob-Situation als Mitspieler der Schüler_innen. Er hat seine eigene Position und seine Aufgabe als Erzieher und Disziplinierungsinstanz aufgegeben und konnte als Mitspieler in der Inszenierung die Gruppe in dieser Funktion dann nicht mehr leiten. Dies birgt ein Risiko und erfordert Mut auf Seiten des Lehrers sowie Vertrauen gegenüber den Schüler_innen, Verhaltensweisen und Zuschreibungen zumindest partiell und temporär abzulegen und eine gleiche Ebene einzunehmen. Der Lehrer äußert sich in der Aufführung: »konnte ich damals ahnen, dass ich aus dieser Institution nicht mehr entkomme… «. In der Aufführung und in dem Projekt hat er es aber getan – er hat die Rolle des Lehrers verlassen, im Beisein der Schüler_innen! 4  4 | An dieser Stelle sei erwähnt, dass eine zweite Lehrerin im Erarbeitungsprozess dabei war und unter anderem in ihrer Rolle als Lehrerin von außen die Gruppe zusam­ menhalten konnte, was nach eigenen Angaben von Udo Kesy den Erarbeitungs- und Probenprozess erleichtert hat.

Theatermachen gegen den Takt der Klingel

Über den Lehrer als Mitspieler und eine dadurch hergestellte Gleichberechtigung im Spiel und innerhalb der Inszenierung konnte ein neues Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler_innen geschaffen werden, welches wiederum Rückwirkungen auf das ›alltägliche‹ Verhältnis im Unterricht und Schule haben kann, wie sich nachfolgend zeigt. Dieses neue Verhältnis wurde durch eine Form der künstlerischen Bearbeitung und nicht durch die Zusammenarbeit im Prozess mit dem Künstler möglich. Des Weiteren lässt sich sagen, dass die Schüler_innen die Möglichkeit bekommen haben, das Aussteigen zu spielen, ihre Tricks und Taktiken offenzulegen, aber auch welche zu erfinden oder theatral zu überspitzen. Und dies hatte Effekte auf den regulären Unterricht: Udo Kesy nannte im Interview, dass sich das Aussteige- und Störverhalten der Schüler_innen nach dem Projekt nicht gebessert, aber verfeinert habe, indem sie nun mit diesem Aussteigen weiterhin in der ›realen Unterrichtssituation‹ spielen und es vor dem Lehrer mit einem Augenzwinkern quasi theatral wieder aufführen (vgl. Interview mit Udo Kesy in Hartmann 2012: 47). Auch in diesem zweiten Projekt wurden Prozesse der Verschiebungen und Modifizierung von Verhaltensweisen auf der subjektiven Ebene der Akteur_innen im System Schule, konkret bei Lehrer und Schüler_innen, sichtbar. An beiden Produktionen lässt sich exemplarisch zeigen, wie Lehrer_innen, Schüler_innen und Künstler gemeinsam Prozesse der Zusammenarbeit, Verhaltensweisen und Haltungen der einzelnen Akteur_innen offenlegen und die Schule als System künstlerisch reflektieren können. Formen und Facetten des Gelingens und Scheiterns in der Begegnung zwischen Kunst und Bildung, Chancen und Herausforderungen in der Gestaltung der Institution Schule zeigen sich in den beiden Projekten so in besonderer Weise.

Anne Hartmann ist seit der Spielzeit 2012/13 als Theaterpädagogin am Staatstheater Braunschweig für das Kooperationsprojekt ›Theater in die Schule‹ tätig. Darüber hinaus leitet sie das interkulturelle Schreibprojekt ›#LoewenMaul‹ in Zusammenarbeit mit dem britischen Poeten-Kollektiv ›Mouthy Poets‹. Sie studierte Darstellendes Spiel und English Studies an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und der TU Braunschweig. Literatur Hartmann, Anne (2012): Dynamische Verwicklungen – Herausforderungen einer künstlerisch-pädagogischen Ausbildung. Eine exemplarische Analyse von Arbeitsformen und Formaten für die Begegnung zwischen Kunst und Bildung, HBK Braunschweig. Unveröffentlichte Masterarbeit.

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

LINA-MORGENSTERN-SCHULE, Berlin, Kreuzberg

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

CARLO-SCHMID-OBERSCHULE, Berlin, Spandau

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

SOPHIE-BRAHE-SCHULE, Berlin, Treptow-Köpenick

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

LEONARDO-DA-VINCI-GYMNASIUM, Berlin, Neukölln

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

VIER LEHRERINNEN (verschiedene Schulen)

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

SCHULE AM ZILLE-PARK, Berlin, Mitte

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

HEDWIG-DOHM-OBERSCHULE, Berlin, Moabit

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

THOMAS-MANN-OBERSCHULE, Berlin, Reinickendorf

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

Lehrer_innen der HERBERT-HOOVER-SCHULE, Berlin, Wedding

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

HEINZ-BRANDT-SCHULE, Berlin, Weissensee

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

SCHULE AM RATHAUS, Berlin, Lichtenberg

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Festivalprogrammheft + Fotos aus den Projektpräsentationen, Mai 2012

HECTOR-PETERSON-SCHULE, Berlin, Kreuzberg

+ Dezentrierung Das Selbstverständnis des Menschen von sich selbst als ›auto­ nomem ↘ Subjekt‹ wurzelt in der europäischen Renaissance und Aufklärung; es ist tief verankert im alltäglichen Denken, Sprechen und Handeln. Als ›autonom‹ wird es deshalb bezeichnet, weil in diesem Verständnis das Subjekt in sich selber gründet. Mit ihm verknüpft sich eine ›Identitätslogik‹, die in einem vorgestellten Inneren (›in der Tiefe‹) des Subjekts einen ›wahren‹, ›unverfälschten‹ oder ›echten Kern‹ annimmt. Die Rede von der ›Dezentrierung des Subjekts‹ bezieht sich nun auf Zäsuren in den Künsten und Wissenschaften, die dieses kulturell tief verankerte Selbstverständnis ›un­ terbrechen‹. Der Kulturtheoretiker und Soziologe Stuart Hall (1999: 83 ff.) nennt in diesem Zusammenhang vier Dezentrierungen. Die erste weist er Karl Marx zu und dessen Hinweis darauf, dass Männer und Frauen ›Geschichte‹ nicht zu ihren eigenen Bedingungen machen, sondern selbst immer schon ›Produkte‹ ihrer Zeit respektive ihrer eigenen Geschichte sind. Die zweite umfassende Dezentrierung resultiert aus Sigmund Freuds Entdeckung des Unbe­ wussten: Obwohl sich das Unbewusste einerseits dem willentlichen Zugriff entzieht, können andererseits soziale und kulturelle Prozesse nur in Beziehung zu den Strukturen des Un­ bewussten verstanden werden. Die dritte tiefgreifende Dezentrierung geht zurück auf den Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure. Dieser unterscheidet zwischen dem Akt des individuellen Sprechens (›parole‹) und der Sprache als einem kollektiven, zeitlich relativ sta­ bilen Zeichen- und Regelsystem (›langue‹), welches das individuelle Sprechen erst möglich macht (vgl. Reckwitz 2008: 19). Aus Saussures Unterscheidung folgt, dass sich Sprache als überindividuelles System durch den oder die Sprecher_in ›hindurchspricht‹: »Etwas Neues zu sagen, bedeutet zuallererst, erneut die Spuren der Vergangenheit zu bestätigen, die in den von uns benutzten Wörtern eingeschrieben sind« (Hall 1999: 86). Als vierte Dezentrierung bezeichnet Hall die Dezentrierung der Identität. Diese sieht er als »eine Folge der Relativie­ rung der westlichen Welt« (Hall 1999: 87) durch die »Entdeckung anderer Welten, anderer Völker, anderer Kulturen und anderer Sprachen« (Hall 1999: ebd.). Denn das westliche ra­ tionale Denken erscheine, so Hall, »trotz seiner imperialisierenden Behauptung, die Form universalen Wissens schlechthin zu sein, plötzlich […] nur als eine weitere bestimmte Form von Wissen, die an bestimmte Formen von historischer Macht gefesselt ist« (Hall 1999: ebd. ; beide Hervorhebung im Original). Das autonome Subjekt wird also »›dezentriert‹, indem es seinen Ort als Null- und Fixpunkt des philosophischen und humanwissenschaftlichen Voka­ bulars verliert, es erweist sich selbst in seiner Form als abhängig von gesellschaftlich-kultu­ rellen Strukturen, die ihm nicht äußerlich sind und in deren Rahmen es seine Gestalt jeweils wechselt […]« (Reckwitz 2008: 13). Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt. Bielefeld: transcript. Hall, Stuart (1999): Ethnizität: Identität und Differenzen. In: Engelmann, Jan (Hg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural-Studies-Reader. Frankfurt a. M. / New York: Campus. Seite 83 – 98.

Subjektposition Niemand ist nichts, neutral ›gegeben‹ oder einfach ›da‹. Jedes Individuum nimmt in jedem Moment seiner Existenz innerhalb einer spezifischen Ordnung – verstanden als variables Ensemble von Beziehungen – eine ebenso spezifische Position ein. Diese Position ist mit kulturell hergestellten Sinnbedeutungen verknüpft. Individuen werden insofern erst als ↘ Subjekte hervorgebracht, indem sie die zugewiesenen Positionen an- und einnehmen. Dabei stellen Subjektpositionen auch eine Art überindividuell geteiltes ›Handlungsregime‹ dar, welches das individuelle Reden, Denken und Handeln strukturiert. Insofern ›leiten‹ Sub­ jektpositionen eine bestimmte Identifizierung an und ermöglichen dadurch Identität. Dieses überindividuell geteilte ›Regime‹ kommt zustande, indem Institutionen der Wissenschaft, der Politik, der Kunst oder der Massenmedien Aussagen über Geschlechter, Sexualität, Fami­ lienleben, Gesundheit, Rasse, Klasse, Nation und vieles mehr treffen und damit (bestimmte) Subjektpositionen beziehungsweise Identifizierungs- und Identifikationsmöglichkeiten er­ zeugen. So wird es möglich zu sagen: ›es ist ein Mädchen‹, ›ich bin schwul‹, ›er ist alt‹, ›du bist krank‹, ›sie ist eine Deutsche‹, ›ich bin Künstlerin‹ oder ›ich bin Lehrer‹. Darüber hinaus werden Subjektpositionen in einem spezifischen Zusammenspiel diskur­ siver und nicht-diskursiver Praktiken erzeugt. Letztere erweitern die diskursiven Praktiken um eine materielle, sinnlich-ästhetische Dimension – zum Beispiel anhand der spezifischen Gestaltung eines Gebäudes, der Anordnung und Ausstattung seiner Räume (siehe dazu ↘ Dis­ kurs und Dispositiv, Seite 100). Nicht-diskursive Praktiken setzen an den Körpern an und erfordern eine körperliche Ein­ übung, so dass sie sich in die Körper ein- und als soziale Praxis fortschreiben. Die Gestaltung von Tischen und Stühlen erfordert beispielsweise in Schulen eine Disziplinierung des Körpers zur Einnahme einer bestimmten Körperhaltung, die wiederum mit der Selbstidentifizierung als ›Schüler_in‹ zusammenspielt. Hier ließe sich mit Bourdieus Begriff des ↘ Habitus als ›Leib gewordene Geschichte‹ anschließen. Der Prozess der Subjektivierung (Subjektwerdung) bildet in der Denktradition des Philosophen Michel Foucaults eine Verschränkung von Macht (im Sinne von Definitionshoheit) und Wissen (die Identifizierung von etwas als etwas). Er geht einher mit einer Unterwerfung unter spezifische, diskursiv erzeugte Regeln, die die Subjektpositionen – also FrauSein, Hetero-Sein, Alt-Sein, Deutsch-Sein – mit bestimmen. Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt. Bielefeld: transcript.

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+ Der geschulte Blick

Bericht aus der Begleitforschung zum Projekt JUMP & RUN

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von Sascha Willenbacher, Mai 2015

1. Einleitung zum Forschungsbericht 1.1

Worin besteht das Erkenntnisinteresse und wozu sollen die Erkenntnisse dienen?

1.2

Aufbau des Berichts

1.3 Zwei begriffliche Klärungen 1.3.1 Zur Verwendung des Begriffs ›Künstler_in‹ 1.3.2 Zur Verwendung des Begriffs ›mentale Konzepte‹

2. Analyse des Konzeptpapiers zu JUMP & RUN 2.1

Hierarchisierende Distinktionen zwischen ›Kunst‹ und ›Schule‹

2.2 JUMP & RUN als kunstfeldinterne Positionierung der am Projekt beteiligten Theater

3. Ergebnisse der Interviewauswertung 3.1 Datenlage 3.2 Vorgehensweise bei der Auswertung

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sascha willenbacher

3.3 Darstellung der Auswertungskategorien 3.3.1 ›Haltungen zu Schule als Institution‹ 3.3.2 ›Bildungsverständnis / Bilder von Bildung‹ 3.3.3 ›Anerkennungspraktiken‹ 3.3.4 ›Theater- / Professionsverständnisse‹ 3.4 ›Theater- / Professions­verständnisse‹ in der Gruppe der Künstler_innen 3.4.1 Professionsverständnisse (I): handwerkliches Wissen und Können als professionelle Basis, um Theater zu machen 3.4.2 Professionsverständnisse (II): Theater als Praxis strategischen Dilettierens 3.4.3 Professionsverständnisse (III): der_die Performer_in 3.5 (Schul-) T heater-Konzepte in der Gruppe der Lehrer_innen 3.5.1 (Schul-) T heater als Umsetzung von Inhalten (Stücktexten, Ideen, Gefühlen etc.) 3.5.2 (Schul-) T heater als offen-iterative Suchbewegung vor dem Hintergrund zeitgenössischer Theaterpluralität 3.5.3 (Schul-) T heater als Soziokultur in Abgrenzung zu ›richtigem Theater‹

4. Case Studies 4.1 Case Study 1 4.1.1 Zusammenfassende Darstellung 4.1.2 Ausgangssituation der Lehrerin 4.1.3 Ausgangssituation der Künstlerin 4.1.4 Zusammenspiel und Auswirkungen mentaler Konzepte auf den Probenprozess im ersten Fallbeispiel 4.2 Case Study 2 4.2.1 Zusammenfassende Darstellung 4.2.2 Ausgangssituation der Künstlerin 4.2.3 Ausgangssituation der Lehrerin 4.2.4 Zusammenspiel und Auswirkungen mentaler Konzepte auf den Probenprozess im zweiten Fallbeispiel

Der geschulte Blick

5. Schlussfolgerungen aus der Interviewauswertung und den Case Studies 5.1

Die Feldperspektive bestimmt den Blick auf das Gegenüber als Andere_n

5.2 Ausklammerung des Pädagogischen oder andere Wege der Bildung? 5.3 Mentale Konzepte von Bildung in Bezug auf das Theatermachen an Schule im Projekt JUMP & RUN 5.3.1 Theatermachen als ›musischer‹ Ausgleich 5.3.2 Theatermachen als Raum für eine ›ästhetische Bildung der Differenz‹ 5.3.3 Theatermachen als Raum für Selbstwirksamkeitserfahrungen 5.4 Strategisches Dilettieren als zentrales Moment im postdramatischen Theaterdispositiv 5.5 Primärmuster, die die künstlerische Produktion strukturieren

6. Hypothesen zum Einfluss mentaler Konzepte auf die Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen im Projekt JUMP & RUN

7. Vorschläge für die Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen

8. Ausblick: Kunstanaloge Prozesse und didaktisch-pädagogisches Denken

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1. Einleitung zum Forschungsbericht Der hier vorgelegte Bericht resultiert aus einer Begleitforschung, die ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institute for Art Education 1 (IAE) der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) im Auftrag der Künstlerischen Leitung des Projekts JUMP  &  RUN – Schule als System von September 2011 bis Juli 2012 durchgeführt habe. Die Auswertung des im genannten Zeitraum erhobenen Materials und das Verfassen des vorliegenden Berichts erstreckten sich bis April 2015. Die Dauer erklärt sich zum einen daraus, dass etliche Unterbrechungen durch den laufenden Lehr- und Forschungsbetrieb immer wieder einen Neuanlauf erforderlich machten und dass die zur Verfügung stehende Zeit für die Herausgabe der vorliegenden Publikation eingesetzt werden wollte. Zum anderen, weil es sich um meine erste forschungsbasierte Arbeit handelte und daher Erfahrungswissen fehlte. 2 Zur Einordnung des vorliegenden Texts ist es wichtig, zwischen Begleitforschung und Evaluation zu unterscheiden. Während Letzere zum Ziel hat, ein Projekt anhand von Kriterien zu bewerten, zielt Begleit­ forschung auf einen Erkenntnisgewinn in Bezug auf eine Forschungsfrage, die im Rahmen eines Projekts durch das Erheben und Auswerten von Daten untersucht wird. Die Frage, die ich 3 an JUMP  &  RUN – Schule  1 |  Das Institute for Art Education (IAE) ist eines von mehreren Forschungsinstitu­ ten der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Es ist angesiedelt am Departement für Kulturanalysen und Vermittlung und wird seit April 2008 von Prof. Carmen Mörsch geleitet. Die Forschung des IAE entwickelt sich an der Schnittstelle von aktuellen Kul­ turtheorien, künstlerischen Verfahren und fachdidaktischer Theoriebildung.  2 | Der Umgang mit qualitativen Methoden erfordert Erfahrungswissen, das nur durch Forschungspraxis gewonnen werden kann: »Die Aneignung methodologischer Refle­ xion, methodischer Regeln, Anweisungen oder Richtlinien allein ermöglicht noch kei­ ne Forschungspraxis und auch kein adäquates Verständnis einer Methode. Zwischen methodischen Regeln einerseits und Forschungspraxis andererseits besteht keine de­ duktive, sondern eine reflexive Beziehung.« (Bohnsack 1999: 9; Hervorhebung im Origi­ nal) – Um fehlendes Erfahrungswissen meinerseits auszugleichen, bin ich von Carmen Mörsch bei der Konzeption und Durchführung der Begleitforschung betreut worden.  3 | Bei der Konzeption der Begleitforschung und damit auch bei der Entwicklung der Fragestellung wurde ich von Carmen Mörsch unterstützt. Von ihr kam der Vorschlag, die Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen in den Blick zu neh­ men und dabei nach den mentalen Konzepten zu fragen. Damit knüpft die Konzeption der vorliegenden Begleitforschung inhaltlich an das Projekt ›Kinder machen Kunst mit Medien‹ (2005) an, in dem Carmen Mörsch die Arbeit von Künstler_innen an Schulen forschend begleitete. Für die Abschlusspublikation verfasste sie u. a. ihren Text ›.(lacht) – Perspektiven von KünstlerInnen im Projekt Kinder machen Kunst mit Medien 2004‹.

Der geschulte Blick

als System herangetragen habe, lautete: Welche Vorannahmen und mentalen Konzepte vom Anderen spielen in die Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen hinein? Mit dem Begriff des ›Anderen‹ ist im Kontext der Fragestellung das jeweilige Gegenüber als Lehrer_in oder Künstler_in gemeint. Welche impliziten (nicht-bewussten) und expliziten (bewussten) Vorstellungen und Vorannahmen über das Lehrer_inSein / Künstler_in-Sein wurden in die Zusammenarbeit hineingetragen? Und wie haben sie sich auf die Zusammenarbeit ausgewirkt? Darüber hinaus sind mit dem Begriff des ›Anderen‹ im Kontext der Fragestellung auch Vorannahmen und Vorstellungen bezüglich Kunst, Theater, Bildung und von Schule als Institution gemeint. Wie spielten beispielsweise Vorannahmen hinsichtlich der Institution Schule seitens der Künstler_innen in die Zusammenarbeit mit den Lehrer_innen hinein? Wie beeinflussten umgekehrt Annahmen über das Proben seitens der Lehrer_innen die Zusammenarbeit?

1.1

Worin besteht das Erkenntnisinteresse und wozu sollen die Erkenntnisse dienen?

Die gestellten Fragen fokussieren im Rahmen des Projekts JUMP &  RUN – Schule als System auf die Situation der Zusammenarbeit von Künstler_innen und Lehrer_innen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf diese Arbeitskonstellation, weil ihr eine zentrale Bedeutung für das Gelingen von Projekten der Kulturellen Bildung an Schulen zukommt – auch und gerade im Rahmen institutioneller Partnerschaften zwischen Kultur- und Bildungsinstitutionen (siehe Fehr / Hummel 2011: 45 ff.). So hängt von der Qualität der Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen unter anderem ab, ob das Bildungspotenzial, das mit künstlerischen Projekten einhergehen kann, für die Schüler_innen zum Tragen kommt.

In ihm fokussiert sie darauf, »wie Künstler_innen, die im Bildungsbereich arbeiten, ihre Rolle selbst verstehen« (Mörsch 2005: 64) und arbeitet heraus, inwiefern die bei ›Kinder machen Kunst mit Medien‹ beteiligten Künstler_innen sowohl die Kunst als auch sich selbst gegenüber Schule als das ›Andere‹ begreifen. Die Vorstellung von sich selbst als das Andere der Schule, die Lehrer_innen ihrerseits durch entsprechende Zuschreibungen an die Künstler_innen mit hervorbringen, kann der Zusammenarbeit sowohl Spielräume öffnen als auch Hierarchien unbefragt reproduzieren (vgl. Mörsch 2005).

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Sowohl Mörsch (2005) als auch Fehr / Hummel (2010) verweisen mit Blick auf das professionelle Handeln von Künstler_innen und Lehrer_innen auf die Bedeutung von subjektiven Theorien (Mörsch 2005: 64 f.) und von Rollenverständnissen (Fehr / Hummel 2010: 47 ff.), die in eine pädagogische Situation hineingebracht werden: Eine wichtige und im deutschsprachigen Raum bisher kaum untersuchte Frage ist, wie KünstlerInnen, die im Bildungsbereich arbeiten, ihre Rolle selbst verstehen. Denn während die bei den AkteurInnen in der Schule vorhandenen subjektiven Theorien von dem, was das besondere Vermögen von KünstlerInnen sei – möglicherweise aufgrund der großen Distanz zum künstlerischen Feld – in den konkreten Projektsituationen pragmatisch variierbar erscheinen, gehören sie bei den KünstlerInnen jeweils zu einem über lange Zeit und viele Erfahrungen hinweg ausgebildeten Selbstverständnis und damit zu den Faktoren, die auch ihr Handeln in der Schule bestimmen. Sowohl das Habituskonzept 4 aus der Soziologie als auch der Ansatz der didaktischen Rekonstruktion in der Lehr-Lernforschung sprechen den subjektiven Theorien und Vorstellungen, die von den verschiedenen Beteiligten in eine pädagogische Situation hineingebracht werden, eine wichtige Funktion für den Verlauf von Lernprozessen zu. (Mörsch 2005: 64 f.)

In Analogie dazu basiert die vorliegende Begleitforschung auf der These, dass subjektiven Theorien und Rollenverständnissen nicht nur eine wichtige Funktion für den Verlauf von Lernprozessen zukommt, sondern auch für den Verlauf von Zusammenarbeiten zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen (und den darin sich vollziehenden Lernprozessen). Mit dem vorliegenden Bericht soll daher die Aufmerksamkeit auf das Vorhandensein mentaler Konzepte vom Anderen als auch vom Gegenstand der Vermittlung – nämlich ›Theater‹ als Kunstform – im Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System gerichtet werden. Dabei geht es darum, mentale Konzepte zu beschreiben und deren Einfluss auf die Zusammenarbeit zu reflektieren.

 4 | Carmen Mörsch erläutert in ihrem Text den Habitusbegriff in einer Fußnote, die hier nicht zitiert wird. Stattdessen findet sich eine ausführliche Erläuterung auf Seite 118.

Der geschulte Blick

Die in dieser Ausrichtung entwickelten Erkenntnisse haben vorläufigen Charakter und können insbesondere dann eine Wirkung entfalten, wenn sie im Rahmen von Weiterbildungen mit Lehrer_innen und/oder Künstler_innen befragt, überprüft und diskutiert werden. Damit verbunden ist die Annahme, dass die Sensibilisierung für die je eigenen mentalen Konzepte und subjektiven Theorien die Qualität der Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen dahingehend zu entwickeln hilft, das Wissen und Können des Gegenübers für die angestrebten Lehr-Lernprozesse im Medium der Künste nutzbar zu machen. Hierzu ist es erforderlich, dass voneinander abweichende Perspektiven, unterschiedliche ästhetische Vorstellungen und institutionelle Logiken von Künstler_innen und Lehrer_innen als solche wahrgenommen und benannt werden, um sie gemeinsam bearbeiten zu können. Eine solche Reflexivität kann die Entstehung gemeinsamer künstlerischer und/oder künstlerisch-edukativer 5 Projekte zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen in unvorhergesehener Weise anregen.

 5 | Künstlerisch-edukativ: »Der Begriff wurde von Eva Sturm eingeführt: ›Künstle­ risch-edukativ meint Projekte, die entweder im Kunstfeld angesiedelt oder kunstnah angelegt sind und die in irgendeiner Form Ansprüche oder Effekte Richtung Bildung haben.‹ Es sind Vorhaben, in denen künstlerische Praktiken die Arbeitspraxis struktu­ rieren und ›in denen verschiedene Öffentlichkeiten mit KünstlerInnen bzw. Kunstver­ mittlerInnen bzw. Cultural Workers kooperieren, indem Letzere einen Raum herstellen, in dem gesprochen bzw. in dem sich die Beteiligten auf irgendeiner symbolischen Ebene artikulieren können. Gemeinsam ist solchen Projekten in der Regel, dass die Ergebnisse – welcher Form / Gestalt auch immer – wieder in den öffentlichen Raum zurückgespielt werden. Projekte dieser Art existieren seit Beginn des 20. Jahrhun­ derts, haben in den sechziger und siebziger Jahren im Zuge einer Politisierung von Kunst und Gesellschaft international Aufwind bekommen, erstarkten v. a. im Amerika der Reagonomics unter dem Logo ›Art as Activism‹ und erfreuen sich seit Mitte der neunzehnhundertneunziger Jahre eines neuerlichen Aufschwungs‹ (Sturm 1999: 13 f.). Im angelsächsischen Raum und in den USA sind Kooperationsprojekte von Künstle­ rInnen und Bildungseinrichtungen jeder Art schon seit Jahrzehnten eine etablierte und geförderte Praxis der Kunstvermittlung, im deutschsprachigen Raum eine immer noch mehr punktuelle Initiative. In künstlerisch-edukativen Projekten geht es darum, sich künstlerischer Formen und Verfahren nicht bloß zu bedienen, sondern eigene Praktiken und Prozesse zu entwickeln, in denen Kunst und Bildung genuin zusammen­ gedacht und -gebracht werden. Dazu gehört auch, die kursierenden Vorstellungen von Kunst und Pädagogik, KünstlerInnen und LehrerInnen und die dahinterliegenden his­ torischen Diskurse sowie die Effekte auf das Handeln der AkteurInnen zu reflektieren.« [Online-Glossar des Institute for Art Education o. J.: o. S.]

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1.2 Aufbau des Berichts Der vorliegende Bericht gliedert sich in acht Kapitel. Im 1. Kapitel, der Einleitung zum Forschungsbericht, finden sich Kontextinformationen, die die Voraussetzungen des vorliegenden Berichts benennen, um die darin formulierten Analysen und Hypothesen besser nachvollziehen und einordnen zu können. Im 2. Kapitel untersuche ich das Konzeptpapier, um die Rahmungen des Projekts seitens der damaligen Künstlerischen Leitung in den Blick zu nehmen. Im 3. Kapitel – als ein Ergebnis der Interviewauswertung – stelle ich mentale Konzepte von Theater und vom Theatermachen vor, welche die befragten Künstler_innen und Lehrer_innen in die Zusammenarbeit eingebracht haben. Im 4. Kapitel wird anhand zweier Case Studies nachvollzogen, wie sich einige der herausgearbeiteten mentalen Konzepte von Theater mit feldinternen Perspektiven der Felder Theater / Kunst und Schule / Pädagogik im Arbeitsprozess verschränkten und wirksam wurden. Im 5. Kapitel ziehe ich Schlussfolgerungen aus der Interviewauswertung und den beiden Case Studies. Darauf folgen im Kapitel 6 Hypothesen zur Zusammenarbeit zwischen den befragten Künstler_innen und Lehrer_innen im Rahmen von JUMP  &  RUN – Schule als System, aus denen dann im 7. Kapitel verallgemeinernde Vorschläge für die Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen resultieren. Im 8. Kapitel schließe ich den Bericht mit einem knappen Ausblick.

1.3 Zwei begriffliche Klärungen 1.3.1 Zur Verwendung des Begriffs ›Künstler_in‹

Am Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System waren Künstler_innen aus den Bereichen Tanz, Theater und Video / Performance beteiligt. Einige hatten sich sehr klar als Theaterregisseur_in profiliert, andere als Video-Künstler_in oder als Performer_in und wurden von der Künstlerischen Leitung des Projekts mit Blick auf ihre bisherigen Arbeiten und ihre Arbeitsweise für JUMP  &  RUN – Schule als System angefragt. Insofern wurde der Begriff ›Künstler_in‹ im Rahmen des Projekts als Sammelbezeichnung für alle daran beteiligten Künstler_innen verwendet – unabhängig von ihrer spezifischen Ausrichtung, was ich in diesem Bericht ebenso handhabe. Ein solcher Gebrauch des Begriffs ›Künstler_in‹ spiegelt die Tendenz der hybridisierenden Entgrenzung in und zwischen

Der geschulte Blick

den Künsten wider, wie sie – mit Bezug auf Deutschland – an renommierten Theaterhäusern (u. a. Volksbühne Berlin, Schauspielhaus Hamburg, Schauspiel Köln) und an Häusern der Freien Szene (u. a. HAU Hebbel am Ufer Berlin, Forum Freies Theater Düsseldorf, Kampnagel Hamburg und Mousonturm Frankfurt) praktiziert wird. Gleichwohl identifizierte sich kaum jemand von den befragten Künstler_innen mit dieser Bezeichnung. Manche deshalb nicht, weil der Begriff zu stark mit der Profession des_der Bildenden Künstlers_in verknüpft ist, und andere, weil mit ihm tradierte Vorstellungen von Kunst und vom Künstler_in-Sein einhergehen, die von ihnen nicht geteilt werden. So wurden Konnotationen zurückgewiesen, die mit den Begriffen Kunst und Künstler_in einhergehen, wie beispielsweise Pathos, Genie, Anders-Sein. 1.3.2 Zur Verwendung des Begriffs ›mentale Konzepte‹

Bereits im Titel des vorliegenden Berichts verwende ich den Begriff ›mentale Konzepte‹. Er zählt zu den Schlüsselbegriffen der Kognitionswissenschaften, wozu Teilbereiche der Psychologie, der Informatik, der Linguistik und der Neurowissenschaften zählen. ›Mentale Konzepte‹ nehmen dort eine zentrale Stellung ein, wo es um die Frage nach der internen oder inneren Repräsentation und Organisation unseres Wissens über die Welt geht und um die Frage, wie dieses Wissen zustande kommt. Dabei geht das symboltheoretische Paradigma der Kognitionswissenschaften »davon aus, dass kognitive Prozesse wie Wahrnehmen, Denken und Sprechen als Berechnungen über Symbole 6, das heißt mental gespeicherte Informationseinheiten beschrieben werden können. Diese Symbole stehen für Etwas, sie sind interne Repräsentationen entweder für Gegebenheiten der Außenwelt, wie zum Beispiel Dinge, Menschen, Situationen, Orte oder für innere Zustände.« (Reblin 2014: 155) Wahrnehmen wird nicht als ein »passives Abbilden der Außenwelt« verstanden, »sondern als ein konstruktiver Prozess« (Reblin 2014: 155). So werden beim Wahrnehmen sensorische Informationen nach Relevanz gefiltert und unvollständige Reize zu einem vollständigen ›Objektbild‹ ergänzt (vgl. Reblin 2014: 155). ›Konzepte‹ gelten dabei als elementare Einheiten der Repräsentation von Wissen. Sie sind Wissensbausteine und basieren auf Erfahrungen, die im Umgang mit der Welt gemacht werden. Viele Konzepte (z. B. für  6 | Die zitierte Autorin weist an dieser Stelle in einer Fußnote darauf hin, dass ›Symbol‹ im weiten Sinne zu verstehen sei und nicht allein als konventionelles Zeichen wie bei Charles Sanders Pierce.

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Stimmungen, Gesichtsausdrücke, Physiognomien, Melodien etc.) sind nur durch syntaktisch komplexe Ausdrücke oder überhaupt nicht verbalisierbar. Insofern können mentale Konzepte über Wortbedeutungen hinausgehen. Die Strukturierung von Informationen erfolgt entlang der beiden grundlegenden Prinzipien ›Identität‹ und ›Äquivalenz‹. »Mit Hilfe des Identitätsprinzips kann ein Objekt zu unterschiedlichen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten als ein und dieselbe Entität erkannt werden. Das Äquivalenzprinzip macht es möglich, zwei Entitäten auf Grund gemeinsamer Eigenschaften als Exemplare einer Klasse zu erkennen« (Reblin 2014: 156). Um beispielsweise das professionelle Handeln einer Person als künstlerisch erkennen zu können, wird ein mentales Konzept von ›künstlerisch‹ benötigt, das sich unter anderem durch Erfahrungen im Laufe einer Ausbildung und/oder anhand der Rezeption medialer Repräsentationen herausbildet (vgl. Reblin 2014: 156).

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2. Analyse des Konzeptpapiers zu JUMP & RUN Das folgende Kapitel fokussiert auf das Konzeptpapier (s. Seite 42 – 49), das im Vorfeld von JUMP  &  RUN – Schule als System verfasst wurde. An dessen Formulierung war ich in meiner Funktion als Dramaturg und Theaterpädagoge am Theater an der Parkaue Berlin maßgeblich beteiligt. Es wurde im September 2010 in der Absicht verfasst, die unterschiedlichen Ideen in eine kohärente, nachvollziehbare Form zu bringen. 7 Darüber hinaus sollte das Papier die Grundlage sein, um bei der PwC-Stiftung und beim Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung die zur Durchführung des Projekts benötigten Drittmittel zu akquirieren. Die Textform ›Antrag‹ bringt es mit sich, dass Antragsteller_innen das eigene Vorhaben positionieren. Und zwar in denjenigen Bezugsfeldern, die für das Projekt relevant sind. Das Konzeptpapier zu JUMP  &  RUN – Schule als System ist daher als programmatische, mit Intentionen versehene Positionierung 8 dreier renommierter Theater lesbar, die – in Abstufungen und auf unterschiedliche Publika gerichtet – eine künstlerisch-ästhetische Vorreiterrolle in der deutschsprachigen Theaterlandschaft beanspruchen. Eine solche Lektüre nehme ich im Folgenden vor, weil das Konzeptpapier die Durchführung des Projekts maßgeblich rahmte und die Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen beeinflusste. So spiegelte sich beispiels 7 | Das Projekt JUMP & RUN – Schule als System entstand 2010 im Zusammenspiel meh­ rerer Personen. Maßgeblich daran beteiligt waren Mijke Harmsen (bis 2014 HAU Hebbel am Ufer, ab 2014 tanzhaus nrw / junges tanzhaus), Kristina Stang (bis Juli 2011 Theater an der Parkaue, von August 2011 – Juli 2015 Junges DT) und Sascha Willenbacher (bis Juli 2011 Theater an der Parkaue, ab August 2011 Institute for Art Education). Das Konzeptpa­ pier resultierte aus Gesprächen zwischen diesen drei Personen und wurde maßgeblich von mir in Abstimmung mit Mijke Harmsen und Kristina Stang formuliert.  8 | Theater positionieren sich u. a. durch das Verhältnis von ›Selbst-Proklamationen‹ (bspw. in Bezug auf Theaterästhetiken und/oder Inhalte) und deren Realisierung. Sie versuchen, von anderen Theatern unterscheidbar zu sein, um sowohl Aufmerksamkeit als auch Reputation zu erlangen. Wenn es gelingt, die eigene Position im Feld ›Thea­ ter‹ als künstlerisch relevant durchsetzen zu können, entsteht dadurch ↘ symbolisches Kapital, das für die Erlangung öffentlicher Mittel eingesetzt werden kann. Das Theater an der Parkaue positionierte sich zum damaligen Zeitpunkt mit dem Anspruch, die ge­ samte Palette zeitgenössischer Theaterformen im Kinder- und Jugendtheater abbilden zu wollen. Es behauptete in seiner Programmatik einen dezidiert künstlerischen An­ spruch, der sich im Konzeptpapier zu JUMP & RUN – Schule als System fortschreibt. Der Kunstanspruch sollte auch im Feld Kulturelle Bildung an Schulen die Erkennbarkeit des Theaters gewährleisten. Gleichzeitig wurde der Kunstanspruch mit Bildungsprozessen in Verbindung gebracht, so dass das Konzeptpapier das Projekt im Feld Kulturelle Bil­ dung positionierte und zugleich legitimierte.

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weise das Konzeptpapier in der Auswahl der Künstler_innen und in der Art und Weise, wie die Künstler_innen und Lehrer_innen für das Projekt angesprochen wurden. Es wirkte sich auch auf die inhaltliche Gestaltung der sogenannten Arbeitstreffen während der Startphase des Projekts aus, und dementsprechend auch auf die Auswahl der Expert_innen, die dazu eingeladen wurden. Zur Verortung des Projekts im Feld Kulturelle Bildung werden im Konzeptpapier drei Punkte benannt: a) die Fokussierung auf die Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen, b) das Irritationspotenzial von Kunst im Kontext Schule, c) die Markierung der Institution Schule als ortsspezifischer Kontext für künstlerisch-partizipatorisch angelegte Untersuchungen durch Künstler_innen, Lehrer_innen und Schüler_innen. Mit diesen drei Punkten wurde das Projekt als eines ausgewiesen, das über die damals aktuellen Entwicklungen und Diskurse informiert war und an diese anschließen wollte. 9 Zudem adressierte das Konzeptpapier sprachlich Personen mit geisteswissenschaftlich-akademischer Ausbildung, die ihrerseits am ↘ Diskurs über Kulturelle Bildung beteiligt sind. Das Konzeptpapier wurde weder mit Lehrer_innen und Schüler_innen verfasst, noch war es für Lehrer_innen und Schüler_innen geschrieben.

2.1 Hierarchisierende Distinktionen zwischen ›Kunst‹ und ›Schule‹ Die im Konzeptpapier vorgenommene Positionierung von JUMP & RUN –  Schule als System ist durch den Versuch strukturiert, Alleinstellungsmerkmale mittels Distinktionen 10 hervor- und zur Darstellung zu bringen. Als zentrales Distinktionsmoment wird im Text das Adjektiv ›künstlerisch‹ in Anschlag gebracht und in folgenden Kombinationen verwendet: ›künstlerisches Arbeiten‹, ›künstlerische Strategien‹, ›künstlerische Aus 9 | Damit meine ich beispielsweise den Einfluss von ›socially engaged art‹ auf die The­ aterpraxis. Der Einfluss zeigte sich u. a. in dem von der Kulturstiftung des Bundes von 2005 – 2013 aufgelegten Heimspiel-Programm und in der damit einhergehenden Aus­ einandersetzung zur Frage nach dem Verhältnis von Partizipation und Kunstanspruch (vgl. dazu Lehmann 2011).  10 | In der Soziologie wird der Begriff ›Distinktion‹ seit Pierre Bourdieus wegweisender Studie ›Die feinen Unterschiede‹ (1979; frz. ›La distinction‹) für Formen der hierarchi­ sierenden Abgrenzung zwischen Angehörigen sozialer Gruppen verwendet (z. B. durch die Anwendung spezifischer Sprachcodes, die Wahl der Kleidung etc.).

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einandersetzung‹, ›künstlerisch inspirierter Unterricht‹, ›künstlerische Projekte‹, ›künstlerische Konsistenz‹, ›künstlerische Feldforschung‹, ›Künstlerische Leitung‹, ›künstlerische Interessensschwerpunkte‹, ›künstlerische Ideen‹. Eine nähere Bestimmung der Begriffe ›künstlerisch‹ und ›Kunst‹ findet sich im Konzeptpapier an folgender Stelle: Unser Projektvorschlag resultiert aus eigenen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Schulen sowie dem Bedürfnis, nach Möglichkeiten zu suchen, Theater als Kunst im Sinne von gesellschaftlicher Irritation und der Artikulation eigener Positionen auch im Schulkontext möglich zu machen. (Harmsen et al. 2010: s. Seite 44 in diesem Band)

Mit ›künstlerisch‹ und ›Kunst‹ werden im Zitat weder ein spezifisches Medium noch handwerkliche Qualitäten oder Fertigkeiten angesprochen, sondern Wirkungsabsichten wie »gesellschaftliche Irritation« und die Ermächtigung von Schüler_innen zur »Artikulation eigener Positionen«. Mit dem Zusatz »auch im Schulkontext« verweisen die beteiligten Theater auf ein Defizit, das sie an der Theaterarbeit an Schulen »aus eigenen Erfahrungen« wahrgenommenen hatten. Als Ziel formulieren sie, nach Möglichkeiten suchen zu wollen, um dem von ihnen ausgemachten Defizit im Rahmen des Projekts entgegenzuwirken. Im Konzeptpapier, so lässt sich daraus ableiten, gehen die beteiligten Theater implizit davon aus, dass die von ihnen mit Kunst verknüpften Wirkungsabsichten (›gesellschaftliche Irritation und Ermächtigung zur Artikulation eigener Positionen‹) im Kontext Schule bislang nicht oder zumindest nicht ausreichend zum Zuge kommen. Die Theater treten via Konzeptpapier mit der Forderung nach selbstreflexiver Auseinandersetzung an die Schulen und damit an die Schüler_innen heran: Eine weitere Besonderheit ist die gemeinsame thematische Grundlage, auf der die Projektideen der Lehrer / Künstler-Teams entstehen. Es geht um die Auseinandersetzung mit der Institution Schule, mit ihren offiziellen und inoffiziellen Regelwerken, mit ihrer Funktion für die Gesellschaft, mit ihrer Aufgabe zur Disziplinierung des Einzelnen, der Vermittlung von Fähigkeiten. […] um die Frage, wie die Institution Schule auf das Individuum wirkt und umgekehrt. […] Kunst als Aneignung von Lebenswirk-

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lichkeiten und gesellschaftlicher Diskurse. Dies gilt es, in actu den Lehrern und Jugendlichen zu vermitteln. (Harmsen et al. 2010: s. Seite 44 in diesem Band)

Dabei schreiben die Theater den Künsten – und damit sich selbst – eine positiv-progressive Rolle zu, während die Schüler_innen und Lehrer_innen als diejenigen fixiert werden, die von den Künstler_innen lernen sollen, Kunst als Aneignung von Lebenswirklichkeiten zu begreifen. 11 Direkt im Anschluss an diese Stelle heißt es dann zwar, dass sowohl den Künstler als auch den Lehrer und Schüler eine ähnliche Haltung verbinden sollte: nämlich die des Suchenden / Lernenden. (Harmsen et al. 2010: s. Seite 45 in diesem Band)

Aber das im Konzeptpapier formulierte Kunstverständnis unterstellt, dass Kunst und Künstler_innen bereits von einer solchen Haltung aus agieren. Insofern wird der ↘ Subjektposition ›Künstler_in‹ zugeschrieben, den anderen Subjektpositionen (Schüler_in, Lehrer_in) voraus zu sein. Im Zitat spiegelt sich somit das Motiv der gesellschaftlichen Avantgarde-Rolle der Kunst und des ›Künstlers‹ wider. Von einer solchen Vorreiterrolle ausgehend, verweist die Zeile »Kunst als Aneignung von Lebenswirklichkeiten und gesellschaftlicher Diskurse« auf ein implizites Vermittlungsanliegen von JUMP & RUN –  Schule als System. Das Anliegen besteht darin, ein spezifisches Verständnis von ›Kunst‹ zu vermitteln und ihm dadurch zugleich Akzeptanz und Geltung zu verschaffen. Der Blick aus der Vorreiter-Perspektive auf das Potenzial der Künste zur »Aneignung von Lebenswirklichkeiten und gesellschaftlicher Diskurse« verdeckt (möglicherweise), dass auch Schulen an einer solchen Befähigung arbeiten (können) beziehungsweise dies ebenfalls zum Ziel haben (können). Insofern handelt es sich um eine vorausgesetzte, hierarchisierende Unterscheidung, die Schule in essentialisierender Weise fixiert. Die im Konzeptpapier angelegte Distinktion zwischen künstlerisch und nicht-künstlerisch zeigte sich punktuell in Konflikten zwischen Künstler_innen und Schüler_innen. So sagte eine Schülerin gegen Ende des Projekts: »Okay, ich verstehe, dass das auch Theater ist, aber es ist  11 | Auf den Aspekt, dass die Lehrer_innen und Schüler_innen auf die Position von Ler­ nenden fixiert werden, verweist auch Elisabeth Sattler in ihrem Beitrag (s. Seite 319).

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schlechtes Theater.« 12 Vorausgegangen waren diesem sinngemäß zitierten Ausspruch wiederkehrende, starke Konflikte mit der Künstlerin, in denen es unter anderem darum ging, dass die beteiligten Schüler_innen andere Erwartungen an das Theaterprojekt hatten und sie sich in der (postdramatischen) Probenpraxis der Künstlerin weder orientieren noch spiegeln konnten. Den Schüler_innen in diesem Teil-Projekt von JUMP  &  RUN – Schule als System schwebte zu Beginn des Theaterprojekts vor, dass sie Rollen verkörpern und eine Handlung darstellen würden, um auf diese Weise ›ihre Geschichten‹ zu erzählen. 13

2.2 JUMP & RUN als kunstfeldinterne Positionierung der am Projekt beteiligten Theater Die Distribution von Geldern für die Arbeit im Feld Kulturelle Bildung erfolgt im Land Berlin maßgeblich über den Projektfonds Kulturelle Bildung, der seit seiner Einrichtung im Jahr 2008 die bei ihm beantragten Fördermittel für projektbezogene Zusammenarbeiten zwischen Kulturinstitutionen / freien Kunstschaffenden und Bildungsinstitutionen vergibt. Auf der Website von Kulturprojekte Berlin heißt es, dass der Projektfonds Kulturelle Bildung durch das Abgeordnetenhaus »als zentrales Instrument zur Realisierung von wegweisenden Projekten zur Kulturellen Bildung begründet« 14 wurde. Die Förderrichtlinien 15 sind zwar so gefasst, dass ein breites Spektrum an Projekten gefördert werden kann. Aber dennoch fungiert der Vergabeprozess wie ein Wettbewerb mit Gewinner_innen und Verlierer_innen. Da sich die Theater mit ihren Aktivitäten im Feld Kulturelle Bildung immer auch innerhalb einer affirmativen und reproduktiven Funktion 16  12 | Das Zitat stammt von einer Schülerin und wurde im Rahmen eines Interviews (zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012) mit einer_m Theaterpädagog _in sinngemäß übermittelt.  13 | Die Schilderung des Konflikts entnehme ich dem retrospektiven Interview, das ich mit einem Theaterpädagogen geführt habe, der an dem betreffenden Teil-Projekt beteiligt war.  14 | Online unter: http://www.kulturprojekte-berlin.de/kulturelle-bildung.html [10.01.2015]  15 | http://projektfonds.kulturprojekte-berlin.de/login/ [20.07.2015]  16 | Vgl. hierzu die vier Diskursfunktionen der Kunstvermittlung, wie sie Carmen Mörsch (2009) zur Analyse von Projekten im Feld Kulturelle Bildung vorschlägt.

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von Theatervermittlung bewegen, spiegeln Anträge für Projekte Kultureller Bildung die Definitionsansprüche eines Theaters wider, die es im Kunstfeld erhebt. Sie dienen damit implizit der Durchsetzung eigener Definitionsansprüche auch im Bereich Kultureller Bildung, um von dort aus die künstlerische Ausrichtung eines Theaters zu unterstützen. Denn davon, wie sich ein Theater im feldinternen Wettbewerb um ›künstlerische‹ Anerkennung behauptet, hängt ab, ob und in welchem Umfang die Finanzierung durch öffentliche Mittel legitimierbar bleibt. In dieser Perspektive kann es sich ein Theater kaum ›leisten‹, kulturelle Bildungsprojekte durchzuführen, die nicht auch die Arbeit an der Positionierung des ›eigenen‹ Theaters affirmativ stützen (was nicht per se negativ sein muss). Wenn nun ein treibendes Moment des theaterfeldinternen Wettbewerbs in der Überwindung überkommener künstlerischer Positionen und der Entwicklung ›neuer‹ Formen (vgl. Hänzi 2014: 39, 81f., 165ff.) liegt, kann diese Wettbewerbsdynamik dazu führen, dass sich die im Theater konzipierten Projekte Kultureller Bildung von pädagogischen, bildenden Anliegen abkoppeln und/oder Zielkonflikte hervorrufen, sobald sich diese nicht in das Narrativ einer künstlerisch-progressiven Entwicklung einbinden lassen. Wenn sich Theaterhäuser in einem feldinternen Wettstreit um die künstlerisch-progressive Führungsrolle befinden, so liegt es nahe, dass auch die jeweiligen Vermittlungsprojekte ›künstlerisch-progressiv‹ ausgerichtet werden. Eine entsprechende Markierung setzt voraus, dass unterschieden wird. Und zwar zwischen ›künstlerisch-progressiv‹ und ›nicht künstlerisch-progressiv‹. Das von den Theatern im Konzeptpapier festgestellte Defizit hinsichtlich der Theaterarbeit an Schulen – es mangelte an ›künstlerischer Arbeit‹ im Sinne von ›gesellschaftlicher Irritation‹ und der ›Artikulation eigener Positionen‹ – wirkt sich in diesem Sinne aus. Es (re-)produziert eine Unterscheidung zwischen ›Theater als Kunst‹ einerseits und Theater, das keine »Kunst im Sinne von gesellschaftlicher Irritation und der Artikulation eigener Positionen« darstellt, andererseits. Im Konzeptpapier entfaltet sich entlang der Verwendung der Begriffe ›Kunst‹ und ›künstlerisch‹ einerseits die auf Teilhabe und Emanzipation zielende Wunschprojektion, dass sich während der Projektdurchführung von JUMP  &  RUN – Schule als System – im Zuge der Auseinandersetzung mit ›Schule‹ – ein kritisches Moment für selbstbestimmte Bildungsprozesse (»die Artikulation eigener Positionen«) herstellen möge und in den Projektpräsentationen sichtbar werde. Zugleich wird damit aber andererseits eine Distinktion fortgesetzt (im Sinne von ›künstlerisch-progressiv‹

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versus nicht ›künstlerisch-progressiv‹), die der feldinternen Wettbewerbslogik zwischen den Theatern um ↘ Anerkennung und Legitimation folgt. Mit Blick auf den feldinternen Wettbewerb wird im Konzeptpapier die ›Abkehr‹ vom tradierten, dramatischen Theater bestätigt und postdramatisches Theater affirmiert. 17 Erkennbar ist dies daran, dass das Konzeptpapier das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System als Rahmen für künstlerische Rechercheprozesse im Feld Schule aufspannt und dadurch eine prozessorientierte Materialentwicklung sowohl voraussetzt als auch auf eine solche abzielt. Zudem bewegten sich viele der Künstler_innen, die für JUMP  &  RUN – Schule als System angesprochen wurden, mit ihren Arbeiten in den Grenzbereichen verschiedener Künste und ›außerhalb‹ dramatisch-narrativer Handlungslogiken und/oder sie tendierten zu Theaterformen, die sich durch Selbstreferentialität auszeichnen. Die Betonung des Künstlerischen im Feld ›Theater‹ verweist auf eine Abgrenzung von einem als ›tradiert‹ und/oder ›konventionell‹ markierten Theater, das eng mit szenisch-mimetischen Darstellungsformen und der Vorherrschaft des dramatischen Texts verknüpft ist. Vor diesem Hintergrund bildet der Kontext Schule – zugespitzt – für die beteiligten Theater eine Art erweiterte Wettbewerbszone, wo es im Sinne von Aufmerksamkeitsökonomie (Sichtbarkeit) um öffentliche und  17 | ›Dramatisch‹ / ›postdramatisch‹: Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann prägte in seinem Buch ›Postdramatisches Theater‹ (1999) diese Unterscheidung und bezog sich im Rahmen seiner Studie auf ›das Theater‹ zwischen 1970 und 1990, für das sich zum damaligen Zeitpunkt »weithin der Begriff postmodernes Theater eingebür­ gert« (Lehmann 1999: 27; Hervorhebung im Original) hatte. Lehmann wendet sich in seiner Studie gegen die Bezeichnung ›postmodernes Theater‹, weil die Merkmale, die daran geknüpft wurden (z. B. Ambiguität und Mehrdeutigkeit), mehr oder weniger auch auf andere Theaterformen zutreffen (vgl. Lehmann: ebd.). Stattdessen rückt er die Veränderungen im Verhältnis von Theater zum Drama und zu dessen (philosophischen) Implikationen ins Zentrum. Als ›postdramatisch‹ kennzeichnet Lehmann dasjenige Theater, das sich von der logozentristischen Logik des Dramas entfernt bzw. sich von dieser emanzipiert. Die ›Logik des Dramas‹ und mit ihm das dramatische Theater zielen laut Lehmann auf Illusionsbildung: »Zu einer solchen Illusion ist nicht Vollständigkeit, nicht einmal Kontinuität der Repräsentation vonnöten, wohl aber das Prinzip, dass das im Theater Wahrgenommene auf eine ›Welt‹, und das heißt auf eine Totalität bezogen werden kann. Ganzheit, Illusion, Repräsentation von Welt sind dem Modell ›Drama‹ unterlegt, umgekehrt behauptet dramatisches Theater durch seine Form Ganzheit als Modell des Realen. Dramatisches Theater endet, wenn diese Elemente nicht mehr das regulierende Prinzip, sondern nurmehr eine mögliche Variante der Theaterkunst darstellen.« (Lehmann 1999: 21f.; Hervorhebung im Original). Das bedeutet: Im dra­ matischen Theater spiegelt sich eine historisch kontingente Form der Wahrnehmung von Wirklichkeit wider. Wirklichkeitsverständnis und Theaterverständnis bedingen einander.

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private Gelder geht und um die Durchsetzung dessen, was von den beteiligten Playern (Theaterkritik, Festivals, Theaterhäuser, Theaterkünstler_ innen) als ›gutes‹ Theater im Sinne von ›State of the Art‹ anerkannt wird. Gelingt es den Theaterpädagog_innen / Dramaturg_innen eines Theaters – wie im Fall von JUMP  &  RUN – Schule als System –, die eigene Arbeit nach außen hin als ›künstlerisch-progressiv‹ zu markieren, unterstützen sie zum einen das ›eigene‹ Theater im ↘ Anerkennungswettbewerb und stellen aus der Binnenperspektive der Institution kein ›Risiko‹ – im Sinne von ›Verwässerung‹ oder ›Verunreinigung‹ der künstlerischen Position – dar 18. Zum anderen wirken sich Projektanträge, deren Bewilligung und ihre praktische Durchführung performativ auf das Feld Kulturelle Bildung aus, indem sie das Handeln aller Beteiligten strukturieren, also ›anleiten‹ (so orientieren sich beispielsweise die Theater an Förderkriterien, aber auch an den mit öffentlicher Anerkennung versehenen Formaten anderer Häuser). In diesem Sinne können das Konzeptpapier zu JUMP  &  RUN – Schule als System und die Durchführung des Projekts als Versuch der beteiligten Theater aufgefasst werden, eine performativ  18 | Aufgrund der Konzeption von JUMP & RUN – Schule als System kuratierten die The­ ater die Künstler_innen und bestimmten dadurch einige Parameter hinsichtlich der Arbeitsweise und Ästhetiken, die zum Einsatz kamen (siehe Editorial ab Seite 31). Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die Künstler_innen auch als Leitende der Teil-Projekte adressiert wurden. Allerdings gab es neben Künstler_in und Lehrer_in noch eine dritte Position, nämlich die der_des Dramaturg_in / T heaterpädagog_in. Die­ se sollten die Teil-Projekte begleiten, was einigen Spielraum ließ für die jeweilige Aus­ legung in der Praxis der einzelnen Projekte. Aus Perspektive der Künstlerischen Leitung war nicht vorgesehen, dass die Dramaturg_innen / T heaterpädagog_innen in konzepti­ onell-leitender und gestaltender Weise Mit-Verantwortung übernehmen, sondern dass sie unter anderem als ›Übersetzer_innen‹ zwischen künstlerischen und pädagogischen Perspektiven agieren würden. Ich selbst imaginierte während der Arbeit am Konzept­ papier diese Position als eine beratend-unterstützende, ideengebende und wechsel­ seitig vermittelnde dritte Instanz. Die dafür benötigte Expertise fand allerdings weder materielle und/oder ideelle Anerkennung noch eine explizite inhaltliche Aufmerksam­ keit (so war bspw. die Arbeit als Theaterpädagog_in und/oder Dramaturg_in kein ex­ plizites Thema, das gemeinsam bearbeitet wurde). Insofern konnte bei den Beteiligten der Eindruck einer nachgeordneten Position entstehen, die hinsichtlich ihrer Funktion mehr oder weniger diffus blieb. Dabei zeigt sich für mich im Rückblick, dass im Sinne einer reflexiven Praxis die Kenntnisse der Dynamiken, Wertungshorizonte und Binnen­ perspektiven beider Felder – Kunst und Pädagogik – ein Wissen darstellen, das zum Gelingen von Kooperationsprojekten in hohem Maße beitragen kann. Nicht nur, aber auch aus diesem Grund agieren Dramaturg_innen / T heaterpädagog_innen als Projekt­ begleiter_innen von einer Position aus, die gegenüber der Position der Künstler_in oder Lehrer_in in allen Belangen als gleichwertig angesehen und daher mit einem entsprechenden Stellenwert versehen werden müsste. Dies widerspricht allerdings der bestehenden Hierarchisierung zwischen den Feldern ›Kunst‹ und ›Pädagogik‹.

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wirksame Positionierung im Feld Kulturelle Bildung zu lancieren – unabhängig davon, ob dies bewusst gewollt war.

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3. Ergebnisse der Interviewauswertung Im folgenden Kapitel stelle ich dar, was ich auf Grundlage der Datenlage hinsichtlich der Frage nach dem Einfluss mentaler Konzepte über den/ das Andere auf die Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen im Rahmen von JUMP  &  RUN – Schule als System herausarbeiten konnte. Dazu folgt nun zur besseren Nachvollziehbarkeit die Darstellung der Datenlage sowie die Erläuterung meiner Vorgehensweise bei der Datenauswertung (3.1 und 3.2). Die Darstellung der Ergebnisse der Interview­ auswertung beginnt ab 3.3. Dabei zähle ich die entlang des Interviewmaterials gebildeten Auswertungskategorien ebenfalls zu den Ergebnissen – auch wenn ich aus Kapazitätsgründen nur eine der Kategorien (Theater- / Professionsverständnisse) in den beiden Case Studies habe zur Anwendung bringen können.

3.1 Datenlage • 10 prospektive Interviews à 45 – 80 Minuten, September / Oktober 2011 • 8 Stapel Ereigniskarten 19 aus dem Zeitraum September 2011 – Juni 2012 • 10 retrospektive Skizzen zum Verlauf des Probenprozesses • 10 retrospektive Interviews à 70 – 100 Minuten, Mai / Juli 2012 • eigene Notizen zu Eindrücken aus Probenbesuchen und Gesprächen Zu Beginn des Projekts – im September und Oktober 2011 – habe ich mit fünf Künstler_innen und fünf Lehrer_innen prospektive Einzelinterviews geführt. Innerhalb dieses Personenkreises gab es vier Zweier-Team-Konstellationen, bestehend aus je einem_r Künstler_in und einem_r

 19 | Die Künstler_innen und Lehrer_innen, mit denen ich im Rahmen der Begleit­ forschung Interviews geführt habe, erhielten von mir je einen Stapel ›Ereigniskarten‹. Darauf konnten sie Notizen zu ›Ereignissen‹ wie Arbeitstreffen, Proben etc. festhalten. S. Abb. Seite 190.

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Lehrer_in, die in einem der insgesamt zwölf Teilprojekte 20 zusammengearbeitet haben. Die Interviews führte ich entlang eines Leitfadens. Gefragt habe ich nach: • den bisherigen Erfahrungen bezüglich der Zusammenarbeit mit Lehrer_innen respektive Künstler_innen • den Erwartungen und etwaigen Befürchtungen / Bedenken hinsichtlich der beginnenden Projektarbeit • den eigenen Vorstellungen hinsichtlich Kunst und/oder Theater • den eigenen Vorstellungen hinsichtlich Schule, des Unterrichtens, Bildung • den eigenen Vorstellungen hinsichtlich dessen, was einen künstlerischen Prozess ausmacht • den eigenen Schulerfahrungen • dem eigenen professionellen Selbstverständnis als Künstler_in / Lehrer_in Die Interviews dauerten zwischen 45 und 80 Minuten und wurden wortwörtlich transkribiert (inklusive Sprechpausen und Verlegenheitslauten, aber ohne eine Abbildung der Betonung einzelner Wörter, der Satzmelodie oder der Lautstärkendynamik). Nach dem Abschluss des Projekts – markiert durch den Zeitpunkt der Präsentation aller Einzelprojekte im Rahmen eines Festivals im Berliner Theater HAU Hebbel am Ufer im Mai 2012 21 – habe ich ein retrospektives, auf den Prozess der Zusammenarbeit bezogenes Abschlussinterview (Dauer je Interview 70 – 100 Minuten) geführt. Da auch diese Interview­ reihe vollständig transkribiert wurde, lagen mir von vier Zweier-Teams je eine Künstler_in- und eine Lehrer_in-Perspektive auf die Zusammen­ arbeit ›davor‹ und ›danach‹ zur Auswertung vor. Darüber hinaus lagen vor: a) zwei prospektive Einzelinterviews aus der Phase vor dem Projektstart, die ich mit einem Künstler und einem  20 | Zur Struktur des Projekts JUMP & RUN – Schule als System siehe Harms / Schlie / Stang ab Seite 31 in diesem Buch.  21 | Das Festival fand am 11. und 12. Mai 2012 statt. In dessen Verlauf präsentierten sich alle zwölf Arbeiten, die von den projektbeteiligten Schüler_innen, Lehrer_innen und Künstler_innen erarbeitet wurden. Fotos von den Projektpräsentationen finden sich in diesem Buch auf den Seiten 134 bis 187.

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Lehrer geführt hatte und b) zwei retrospektive Einzelinterviews mit einer Künstlerin und einem Theaterpädagogen. Das ›davor‹-Interview mit dem Lehrer und die beiden ›danach‹-Interviews mit der Künstlerin und dem Theaterpädagogen bezogen sich auf die gleiche Arbeitskonstellation. Aufgrund der stark differierenden Sicht- und Arbeitsweisen sowie der teilweise sehr unterschiedlichen Verständnisse und Ansprüche an ein Theaterprojekt (im Kontext Schule), wie sie während der Zusammen­ arbeitsphase innerhalb dieser Konstellation hervortraten, erschien es mir sinnvoll, die Stimme der Künstlerin und des Theaterpädagogen retrospektiv hinzuzunehmen. Als Einstieg in das Abschlussinterview bat ich meine Interviewpartner_innen, den Verlauf des Arbeitsprozesses mittels einer frei gestaltbaren Zeichnung zu skizzieren. Entlang dieser Skizze berichteten die befragten Künstler_innen und Lehrer_innen aus ihrer Perspektive über den jeweiligen Arbeitsprozess und sprachen entlang einzelner Wegmarkierungen über konkrete Situationen und Eindrücke (s. Abb. Seite 243/244 und 265/266.). Das eigene Erinnern wurde durch handschriftliche Notizen / Skizzen auf so genannten Ereigniskarten unterstützt (s. Abb. Seite 190). Diese hatte ich von der damaligen Grafikerin des Projekts, Kerstin Finger, anfertigen lassen und nach dem ersten Interview meinen Gesprächspartner_innen überreicht. Die befragten Lehrer_innen und Künstler_innen konnten auf diesen Karten ein Ereignis (z. B. Kick-Off-Termin, Arbeitstreffen, Probe) markieren, das Datum notieren und ihre Gedanken /  Eindrücke schriftlich oder zeichnerisch festhalten. Der von mir ausgehändigte Stapel an Ereigniskarten stellte eine reduzierte Form des Projekttagebuchs dar, um den Berufspraktiker_innen bezüglich ihrer aus vielfältigen Arbeitsbelastungen entstehenden Zeitnot entgegenzukommen und so deren Akzeptanz zu erlangen. 22 In meiner Rolle als Interviewer fokussierte ich mich während der retrospektiven Interviews auf Situationen der konkreten Zusammenarbeit (z. B. die Rollen- und Aufgabenverteilung, wer hat mit den Schüler_innen warum und wie gearbeitet, gab es eine Verständigung  22 | Hinsichtlich Umfang und Ausrichtung der Notizen gab es Unterschiede. Waren die Eintragungen in einem Fall selbstreflexiv und selbstbeobachtend, waren sie in an­ deren Fällen eher nach außen gerichtet und allgemein gehalten. Daran zeigte sich, inwiefern die Ereigniskarten als Reflexionsinstrument für die eigene Arbeit im Prozess genutzt werden konnten. Eine der Künstlerinnen nutzte die Karten intensiv, da sie es ohnehin aus ihren anderen Projekten gewohnt war, ein Projekttagebuch zu führen. Die Akzeptanz der Ereigniskarten hing daher nicht zuletzt davon ab, welche Formen der Praxisreflexion bereits eingeübt waren.

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über die Gestaltung der Proben, gab es Differenzen und wenn ja worüber und zwischen wem etc.). Die beiden Interviewreihen, die retrospektiven Skizzen zum Arbeitsprozess sowie die Notizen auf den Ereigniskarten bilden die Datenbasis meiner Auswertung. Hinzu kommt mein Kontextwissen, das sich aus Probenbesuchen vor Ort speiste sowie aus Gesprächen im Umfeld dieser Besuche mit den beteiligten Künstler_innen, Lehrer_innen und Schüler_innen. Keine Berücksichtigung im Zuge der Auswertung fanden eine von mir im Februar 2012 angeleitete Gruppendiskussion sowie das Material, das während der Tagung zum Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System im November 2012 entstand. Es zeigte sich, dass die zusätzliche Menge an Material im bestehenden Rahmen nicht sinnvoll bewältigt werden konnte.

3.2 Vorgehensweise bei der Auswertung Bei der Auswertung der Interviews habe ich mich an einem inhaltsanalytischen Verfahren orientiert, wie es Christiane Schmidt (2010) für qualitatives Forschen in der Erziehungswissenschaft vorschlägt. Das Verfahren besteht zusammengefasst aus der Verschränkung einer offenen Fragetechnik im Zuge der Interviewführung und einer offenen Vorgehensweise bei der Bildung sogenannter Kategorien im Zuge der Auswertung. Grundsätzlich geht es in der Phase der Befragung darum, »die Befragten mit offenen Fragen und Diskussionsanreizen in der Interviewsituation dazu anzuregen, sich in selbstgewählten, eigenen, alltagssprachlichen Formulierungen zu bestimmten Themen zu äußern« (Schmidt 2010: 474). Bei der Auswertung kommt es dementsprechend darauf an, »die Formulierungen der Befragten aufzugreifen und herauszufinden, welchen Sinngehalt sie damit verbinden« (Schmidt 2010: 474). Die hierzu von Schmidt geforderte ›theoretische Offenheit‹ seitens des/der Forscher_ in besteht darin, eigene Konzepte im Umgang mit dem Textmaterial als solche wahrzunehmen und sie bewusst in einen Bezug zum Textmaterial treten zu lassen. Dies ist deshalb notwendig, um überhaupt neue und unvorhergesehene Themen und Aspekte im Material entdecken zu können (vgl. Schmidt 2010: 474). 23  23 | Bei der Kategorienbildung wurde ich im Sinne einer Forschendentriangulation von Carmen Mörsch unterstützt. Dies bedeutet, dass wir Interviews getrennt voneinander gelesen haben, um individuell Kategorien zu bilden und diese dann untereinander

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Um nun »die Formulierungen, die die Befragten verwenden, zu verstehen und unter ›Überschriften‹ zusammenzufassen« (Schmidt 2010: 475), habe ich das gesamte Interviewmaterial in mehreren Durchgängen gelesen. Dabei habe ich Ausdrücke und Phrasen markiert, die mir in Bezug auf die Forschungsfrage auffällig, interessant oder bemerkenswert erschienen. Die markierten Stellen ließen sich entlang struktureller Ähnlichkeiten zu den folgenden interviewübergreifenden Themen, Aspekten oder Motiven – den Auswertungskategorien – zusammenfassen: ›Haltungen zu Schule als Institution‹ ›Bildungsverständnis / Bilder von Bildung‹ ›Anerkennungspraktiken‹ ›Theater- / Professionsverständnisse‹

Mein nächster Schritt bestand darin, alle Interviews entlang der Kategorie ›Theater- / Professionsverständnisse‹ erneut durchzugehen, um in sämtlichen Interviews deren jeweilige Ausdifferenzierung zu erfassen. Bei diesem Durchgang fielen mir auch Stellen im Text auf, an denen nicht explizit, sondern implizit das eigene Theater- und Professionsverständnis eine Rolle spielte. Durch das Herausdestillieren von Überschneidungen und Differenzen zwischen den Äußerungen (in Bezug auf Theater- und Professionsverständnisse) konnte ich interviewübergreifende mentale Konzepte zu Theaterpraktiken, Probenprozessen, Kunst, Bildung, Lehrer_in-Sein und Künstler_in-Sein (re)konstruieren. Allerdings habe ich aus Kapazitätsgründen nur die vierte Auswertungskategorie für diesen Auswertungsschritt genutzt. Da aber mein Blick auf das Material durch das Entwickeln auch der ersten drei Kategorien informiert wurde, habe ich sie entsprechend angeführt. Der vorliegende Forschungsbericht fokussiert also ausschließlich auf mentale Konzepte zu Theater- und Professionsverständnissen, wie sie von den befragten Künstler_innen und Lehrer_innen in das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System hineingetragen wurden. Anhand von zwei Case Studies (re)konstruiere ich die Einwirkung der Konzepte zu Theater- und Professionsverständnissen auf die Zusammenarbeit. abzugleichen (vgl. Schmidt 2010). Dadurch war es möglich, eigene Vorannahmen in den Blick zu bekommen und auf gegenläufige Textstellen und Sinndimensionen aufmerk­ sam zu werden.

Der geschulte Blick

Neben der gerade beschriebenen inhaltsanalytischen Bearbeitung der Interviews habe ich auch das Konzeptpapier zum Projekt JUMP & RUN –  Schule als System (s. Seite 42) im Sinne einer Dokumentenanalyse bearbeitet. Dies erschien mir notwendig, weil dieses Papier die Zusammenarbeit zwischen den Künstler_innen und Lehrer_innen rahmte. Die Betrachtung des Konzeptpapiers erfolgt in diskursanalytischer Perspektive, so dass es darum geht, die der verwendeten Sprache inhärente Logik herauszuarbeiten und dabei den Blick auf Ein- und Ausschlüsse zu richten. Zur Einordnung der bei der diskursanalytischen Betrachtung des Konzeptpapiers gemachten Schlüsse als auch zur Einordnung der Erkenntnisse aus der inhaltsanalytischen Bearbeitung der Interviews stütze ich mich auf Begriffe aus der Gesellschaftstheorie von Pierre Bourdieu. Dabei sind für mich Bourdieus Feldbegriff  24 sowie sein ↘ Habitus-Konzept (s. Seite 118) leitend.

3.3 Darstellung der Auswertungskategorien 3.3.1 ›Haltungen zu Schule als Institution‹

Die befragten Künstler_innen und Lehrer_innen äußerten sich in unterschiedlichem Umfang explizit und implizit zu Schule als Institution. Explizit bei entsprechend formulierten Fragen (z. B. nach den eigenen Schulerfahrungen) und implizit, wenn die Befragten beispielsweise darüber gesprochen haben, warum sie Theater an Schule machen beziehungsweise warum sie Lehrer_in geworden sind. Oder wenn sie sich zu Unterrichtsformen geäußert sowie Unterrichtssituationen oder Situationen aus der Theaterarbeit geschildert und das Verhalten von Schüler_innen beschrieben haben. Die hierzu gemachten Äußerungen lassen sich typisierend zu vier ›Haltungen zu Schule als Institution‹ bündeln: negativ-kritisch bis ablehnend, sympathisierend-zurückhaltend, konstruktiv-kritisch und defensiv-resignativ. Diese vier Haltungen prägen sich in unterschiedlichen

 24 | Für Pierre Bourdieu besteht ein soziales Feld (bspw. Bildung, Kunst etc.) aus einem Netz objektiver Relationen, das sich zwischen den sozialen Positionen (bspw. in Form von Institutionen und ↘ Subjektpositionen) aufspannt. Der Feldbegriff setzt damit im Unterschied zu seinem Pendant – dem ↘ Habitus – bei den sozialen Strukturen an und soll die Positionierung der Akteur_innen im sozialen Raum erklären helfen. Als Hilfs­ konstruktion soll das Feldkonzept die Macht- und Positionskämpfe sichtbar machen (vgl. Barlösius 2011: 92).

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Mischverhältnissen in den Interviews sowohl mit den Künstler_innen als auch mit den Lehrer_innen aus. 3.3.2 ›Bildungsverständnis / Bilder von Bildung‹

Sowohl Künstler_innen als auch Lehrer_innen äußerten sich explizit oder implizit über eigene Vorstellungen von Bildung und Lernen. Explizit, wenn ich sie nach ihren eigenen Schulerfahrungen gefragt habe und danach, was in ihren Augen einen ›guten‹ und was einen ›schlechten‹ Lehrer kennzeichne. Implizit, wenn die Befragten im Interview beispielsweise darüber nachgedacht haben, warum es Sinn machen könnte, Theater an Schulen anzubieten und dafür eine_n externe_n Künstler_in einzuladen. Oder wenn in einem prospektiven Interview mit einer Künstlerin ›der typische Mathelehrer‹ aufgerufen wurde, um zum Ausdruck zu bringen, dass Schule normierend wirke, während sich die Künste für das interessieren, das neben oder zwischen den Normen und dem Gewohnten liegt. In einem anderen Interview beschreibt eine Lehrerin, wie eine Gruppe Schülerinnen im Flur des Schulgebäudes eine Theater­übung macht und währenddessen zufällig »drei sehr gut aussehende Jungs« vorbeikommen, die sich vor ihnen auf bauen und ›blöde Sprüche‹ machen. Die Schülerinnen reagierten situativ und gewitzt, indem sie die Theaterübung / Situation ›drehten‹ und anfingen, die Jungs anzubeten, die sich daraufhin ›geschlagen‹ geben mussten und abzogen. 25 In beiden Fällen geht es um ein Bild oder eine Vorstellung von Bildung, die auf der Ebene von Persönlichkeitsentwicklung angesiedelt ist und der ein emanzipatorisches, weil selbstbestimmendes Moment innewohnt. Der Unterschied besteht darin, dass die Vorstellung von Bildung im ersten Beispiel ex negativo zum Ausdruck gebracht wird, indem die befragte Künstlerin beim Mathematikunterricht (den sie im Interview stellvertretend für das Einüben von Schule in ein rational-technizistisch-kausal ausgerichtetes Denken aufruft) dieses Potenzial ausblendet.  25 | Lehrerin: »Also zum Beispiel sich reinquetschen oder anbeten, und dann haben die Schüler das, eiskalt wie sie sind, im Flur gemacht. Haben sich in Türrahmen rein­ gequetscht, mit 15 Leuten in einen Türrahmen, so viele, wie es geht. […] Sie haben dann auch – im Schulflur – den Fußboden, die Türen und Papierkörbe angebetet, so eine Mädchengruppe von fünf, sechs Mädchen. Und in dem Augenblick kamen dann drei sehr gut aussehende Jungs aus dem 11. Jahrgang vorbei, haben sich vor ihnen auf­ gebaut und ein paar blöde Sprüche gemacht. Den Mädchen war es erst total peinlich, dann haben sie ganz kurz gewispert und dann haben sie die Jungs angebetet und sie damit komplett ausgeknockt. Die konnten es echt nicht fassen und sind abgezogen und die Mädchen hatten gewonnen. Das war für mich fast die schönste Situation in dem ganzen Probenprozess.« [Zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Der geschulte Blick

Beide Beispiele mögen zeigen, dass die Äußerungen in der Auswertungskategorie ›Bildungsverständnis / Bilder von Bildung‹ es zulassen würden, interviewübergreifende Typisierungen respektive Konstruktionen von Bildungsverständnissen vorzunehmen. Mit ihnen könnte fallweise untersucht werden, inwieweit ›das Bildende‹ für die eigene Arbeit mit Schüler_ innen reklamiert wird. Dies konnte aber für die vorliegende Publikation nicht geleistet werden. Allerdings fasse ich ab Seite 288 zusammen, welche Bildungsvorstellungen sich in den Interviews mit Bezug auf künstlerische Projektarbeit an Schulen finden ließen. 3.3.3 ›Anerkennungspraktiken‹

Diese Auswertungskategorie erfasst Beschreibungen von Situationen, in denen sich Künstler_innen, Lehrer_innen und Schüler_innen während der Probenarbeit wechselseitig ›Angebote‹ in Form von Vorschlägen, Anregungen oder auch mitgebrachten Songs, Kostümelementen etc. gemacht haben. Eine Künstlerin schilderte beispielsweise im rückblickenden Interview, wie sie gegenüber der Lehrerin in ihrem Team eine noch vage Idee kommunizierte, an der es galt, weiterzudenken. Sie tat dies in ihrer gewohnten Art des ›Ideenspinnens‹ und unter der Annahme, dass ihre assoziativ-offene Beschreibung der Lehrerin einen Impuls zum Weiter­denken geben würde. Allerdings zeigte sich, dass der Ball nicht zurückkam: Künstlerin: Also ich kam über Trommelfell drauf. Beim Schlagzeug gibt es ja Trommelfelle und ich hatte das übersetzt in Stickrahmen. Ich dachte, man könnte da vielleicht Worte drauf sticken und dass das vielleicht Teil der Dekoration oder eines Bühnenbilds werden könnte. Und dann hatte ich die Lehrerin gebeten, dass sie mal überlegt, was ihr assoziativ dazu einfällt. Das war zu einem Zeitpunkt, da war noch alles möglich, und da kam halt nichts. Und das würde ich auch Probenbeteiligung nennen […]. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

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Umgekehrt wusste die Künstlerin nicht auf Vorschläge der Lehrerin einzugehen: Künstlerin: […] Ihre Vorschläge gingen oft in so eine Richtung wie: ›Wir könnten ja Plakate machen‹. Also das war immer so der Vorschlag. Ich meine, Plakate kann man ja machen, aber ich wusste nicht, wofür wir jetzt Plakate machen sollten […]. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Dieses Beispiel mag andeuten, dass es in Probenprozessen (auch) um das Herausbilden von Anerkennungspraktiken geht. Um Praktiken, in denen ›ausgehandelt‹ wird, was von wem und auf welcher Basis hinsichtlich der künstlerischen Produktion als Äußerung akzeptiert und als ›gültig‹ anerkannt wird. Dabei wird der/die Künstler_in als Instanz angerufen, die ↘ Anerkennung zu autorisieren. Allerdings nur, sofern dessen/deren ↘ symbolisches Kapital und/oder Expertise als Künstler_in von den Beteiligten ihrerseits begehrend (an-)erkannt wird. 3.3.4 ›Theater- / Professionsverständnisse‹

Unter dieser Kategorie habe ich explizite und implizite Beschreibungen, Selbstproklamationen und Reflexionen zum Theater und zum Theatermachen gesammelt, die sowohl von den Künstler_innen als auch von den Lehrer_innen geäußert wurden. Explizit haben sich die Lehrer_innen und Künstler_innen zu ihrem Theater- / Professionsverständnis beispielsweise auf die Frage nach ihren Vorstellungen hinsichtlich Kunst und/oder Theater geäußert. Implizit, wenn sie in prospektiven Interviews davon sprachen, was sie sich als Ziel des vor ihnen liegenden Theaterprobenprozesses vorstellen können, oder wenn sie in retrospektiven Interviews Situationen aus der Probenarbeit schilderten.

3.4 ›Theater- / Professionsverständnisse‹ in der Gruppe der Künstler_innen Entlang der individuellen Ausprägungen dieser Kategorie in den Einzelinterviews habe ich mentale Konzepte von Theater und vom Theatermachen (re-)konstruiert. Dabei sind die einzelnen Konzepte nicht so zu verstehen, dass sie sich gegenseitig ausschließen. Tatsächlich kommen sie in den einzelnen Interviews in unterschiedlichen Mischverhältnissen vor, so

Der geschulte Blick

dass mehrere Konzepte im Bewusstsein einer Person vorhanden sein können – zumal mentale Konzepte ›Wissensbausteine‹ innerhalb subjektiver Theorien darstellen (s. Seite 199) und kein kohärentes ›Ganzes‹. Zudem sind mentale Konzepte und subjektive Theorien der selbstreflexiven Bearbeitung zugänglich und/oder können sich im Laufe der Zeit verändern. Die Auswertungskategorie ›Theater- / Professionsverständnis‹ rückt das explizite und implizite Wissen und Können der Künstler_innen in den Vordergrund. Wenn Künstler_innen über das sprechen, was sie tagtäglich tun, oder darüber, aus welchem Kontext sie kommen und worin ihr Selbstverständnis besteht, dann äußern sie sich über und zu etwas, das ihnen nahe und vertraut ist. Analog dazu äußern sich die Lehrer_innen umfangreich und differenziert, wenn es um Fragen geht, die das eigene Bildungsverständnis, die Arbeit mit Schüler_innen, didaktisches Wissen und Können oder auch die Institution Schule tangieren. Da im Folgenden aber die Auslegung der Ergebnisse zur Auswertungskategorie ›Theater- / Professionsverständnisse‹ im Fokus steht, erfährt das Wissen und Können der Künstler_innen eine höhere Aufmerksamkeit als das der Lehrer_innen. Zudem können die befragten Lehrer_innen zum Teil weniger differenziert und informiert über ihre Vorstellungen von Theater und vom Theatermachen sprechen als die Künstler_innen. Im Verlauf meines Auswertungsprozesses zeigte sich für mich, dass sich Theaterverständnisse und mentale Konzepte des Probens wechselseitig bedingen. Aus diesem Grund erscheint es mir sinnvoll, zunächst die Professions- und Theaterverständnisse in der vorhandenen Breite abzubilden, um sie dann im nächsten Kapitel auf die beiden Fallbeispiele anzuwenden und nachzuvollziehen, inwiefern sich die vorhandenen mentalen Konzepte zu Theater und zur Probenarbeit in Kombination mit der jeweiligen Feldperspektive auf die Zusammenarbeit auswirkten. 3.4.1 Professionsverständnisse (I): handwerkliches Wissen und Können als professionelle Basis, um Theater zu machen

Zwei der insgesamt sechs interviewten Künstler_innen hatten profilierte Theaterberufe (z. B. Regie) studiert, während die anderen über Studiengänge zum Theater gekommen sind, die nicht auf ein spezifisches Berufsbild am Theater ausgerichtet waren (darunter: Theaterwissenschaft, Kulturwissenschaft & Ästhetische Praxis, Germanistik, Philosophie). Die beiden Künstler_innen, die an einer Kunsthochschule einen profilierten künstlerischen Beruf erlernt hatten, bewegten sich während der Arbeit mit den Schüler_innen auf der Grundlage des von ihnen erlernten

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künstlerischen Berufs. Ihr während der Ausbildung erworbenes Wissen und Können bildete im Interview einen Bezugspunkt für das professionelle Selbstverständnis und stellte etwas dar, über das sie verfügen und das sie einsetzen konnten, um Theater zu machen: Als [Berufsbezeichnung der Künstlerin, SW] denke ich über das Material in der Schule nach oder versuche zu überlegen, wie sich Gegenstände verselbständigen und lebendig werden. […] ich finde es eigentlich ganz gut zu sagen ›ich bin [Berufs­ bezeichnung der Künstlerin, SW]‹. Das schließt andere Formen mit ein, aber das ist mein Beruf, den habe ich gelernt […]. Ich arbeite künstlerisch, damit bin ich wahrscheinlich auch ein Künstler. Aber ich stehe jetzt auch nicht darauf, dass man mich als Künstler betitelt. Was ich bin? … – Ich bin [Berufsbezeichnung des Künstlers, SW]. Das ist mein Beruf, den ich gelernt habe. […] ich mache diesen Beruf gerne, das ist etwas, worin ich aufgehe, wofür ich eine Faszination habe, und das kann ich vermitteln. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Das sich hier abzeichnende Professionsverständnis von Theater bezieht sich auf eine handwerkliche Grundlage. Es müssen zuerst Mittel erlernt werden, die dann in spezifischer und individueller Weise eingesetzt werden (Mittelbeherrschung). Die Mittel selbst – und damit auch Theater als Theater – stehen in der Regel nicht zur Disposition, da sie die Handlungsgrundlage bilden. Sie können verbessert und ausgebaut werden, sie können gut oder weniger gut eingesetzt und beherrscht werden – aber sie werden nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Der künstlerisch-kreative Prozess fokussiert sich auf das Finden und Bearbeiten von ›Material‹ mit den vorhandenen Mitteln sowie auf die Darstellung von abstrakten oder konkreten Inhalten: Künstlerin: Kunst […] ist mein Denksystem. Es muss mich interessieren und dann finde ich einen Zugang, wie ich mich ausdrücken will, und der Ausdruck dessen, der ist dann eben

Der geschulte Blick

das, was man als Kunst oder […] als Stück auf der Bühne, als Endergebnis bezeichnen könnte. […] es ist die Art und Weise, wie man und welche Ausdrucksmöglichkeiten man findet, um etwas darzustellen, was einen interessiert. […] Also wenn es mich interessiert, interessiert es auch andere. Und da Wege zu finden und sich zu überlegen, wie stellt man das dar. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

3.4.2 Professionsverständnisse (II): Theater als Praxis strategischen Dilettierens

Diejenigen der befragten Künstler_innen, die über ein universitäres Studium zum Theater gekommen sind, haben im Interview die Benennung einer Profession tendenziell gemieden beziehungsweise suchend umkreist – teilweise mit dem Hinweis darauf, dass sie keinen definierten künstlerischen Beruf (z. B. Regisseur_in) erlernt haben. Ihr professionelles Selbstverständnis beruhte stattdessen auf dem Bild einer Suchbewegung, die nicht abschließbar ist – abschließbar im Sinne von ›Professionalität haben‹ oder ›über ein Können verfügen‹. Besonders deutlich tritt dieses Professionsverständnis in einem der prospektiven Künstler_innen-Interviews hervor: Künstler: […] ich denke Tanz und Theater sehr oft unterschiedlich, obwohl ich eigentlich der Meinung bin, dass es das Gleiche ist. […] Deshalb finde ich es auch schwierig, mich als Choreografen zu bezeichnen. Ich würde mich auch nicht als Tänzer begreifen, schon allein deshalb, weil ich keine Tanzausbildung habe. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

An die Stelle eines benennbaren künstlerischen Berufs tritt etwas, das sich nicht auf einen begrifflichen Nenner bringen lässt: Künstler: […] wenn ich Leuten erzähle, was ich mache – gerade, wenn sie keinen Kunstbackground haben –, dann denken sie an Fernsehballett oder Ballett oder Standardtanz oder eben an tänzerische Bewegungen zu Musik. Und das, was wir machen, ist aber etwas sehr anderes. Ich finde ›Tanz‹ letztlich keinen guten

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Ausdruck dafür. Bei uns ist es vielmehr so, dass der Ausgangspunkt der Körper auf der Bühne ist. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Im Zitat spricht der Künstler davon, dass der ›Körper auf der Bühne‹ den Ausgangspunkt darstellt, so dass zu Beginn einer Arbeit noch unklar ist, ob überhaupt Tanz / T heater entstehen beziehungsweise in welcher Form es als Tanz / T heater in Erscheinung treten wird: Künstler: Und dann vom Thema ausgehend die Frage: Was kann da jetzt eine Ausdrucksform auf der Bühne sein? Es kann eine Textperformance werden oder eben eine Performance, bei der letztendlich kein Mensch auf der Bühne ist, oder etwas, das an ein Konzert erinnert, oder ein menschlicher Körper, der sich bewegt oder auch nicht bewegt. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

›Theater‹ / ›Tanz‹ wird im Zitat nicht primär als ein Medium verstanden, das durch den Einsatz spezifischer Techniken und handwerklich-ästhetischer Fertigkeiten zur Visualisierung mentaler und/oder emotionaler Gehalte angewendet wird. Vielmehr spielt ›Tanz‹ als ›Tanz‹ und ›Theater‹ als ›Theater‹ in die inhaltlich-thematische Auseinandersetzung hinein – Tanz / T heater wird zum selbstreflexiven Gegenstand. Daraus ergibt sich eine Affinität zu Recherche- und Suchprozessen, die strukturiert werden von Praktiken des strategischen Dilettierens 26 (s. Seite 295). Künstler: Ich wüsste nicht, was Kunst ist. Finde aber spannend, dass das so ist. Gerade die Ränder finde ich spannend. Ich kenne mich leider zu wenig aus, was die Bildenden Künste angeht […] und finde, dass da viele Sachen gemacht werden, die für mich vom Tanz oder Theater aus nicht extrem wirken, auf andere Leute aber vielleicht schon. Wenn sich zum Beispiel in einem Tanzstück nicht bewegt, sondern geredet wird, dann empfinde ich das

 26 | Den Begriff ›dilettieren‹ verwende ich im Sinne von Uwe Wirth (2014) als auto­ didaktisches Aneignen. Diese Praxis setzt auf ästhetischer Ebene bewusst auf eine Differenz zur geschulten ›Mittelbeherrschung‹, um Theater als Theater sicht- und lesbar zu machen. Ein_e Besucher_in, der_die diese Ebene mitlesen möchte, muss die (zeit­ gebundenen) ästhetischen Normen kennen, um die Abweichung als solche erkennen zu können.

Der geschulte Blick

nicht als extrem. Andere Leute aber, die sich sagen ›Heute sehen wir uns mal ein Tanzstück an, haben wir lange nicht gemacht‹, die empfinden das vielleicht als extreme Verweigerung oder die fragen sich ›Ist das überhaupt noch Tanz?‹ oder ›Ist das überhaupt noch Kunst?‹ Für mich gibt es diverse Bereiche, wo ich nicht sagen könnte, wo Kunst anfängt oder aufhört. Also ist das schon Kunst, wenn ich eine Postkarte schreibe oder ein Bild male? Auch weil ich die Idee des Amateurs extrem spannend finde und auch für mich nutze, wenn ich arbeite. Dass ›Kunst‹ eben nicht von ›Können‹ kommt. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Das strategische Dilettieren setzt die Kenntnis tradierter und aktueller Theaterformen, ↘ Diskurse und Kunstpraktiken voraus, um auf Produktionsebene selbstreflexiv und eben dadurch auf Rezeptionsebene diskursiv wirksam werden zu können. Diese Fertigkeit tritt an die Stelle handwerklich orientierter Theater-Könnerschaft (vgl. Wirth 2014). 27 Unter dem Vorzeichen strategischen Dilettierens können neben einer Vielzahl an künstlerischen Medien auch soziale Alltagspraktiken zum inszenatorisch-selbstreflexiven Gegenstand des Arbeits- und Suchprozesses werden – wenn beispielsweise Kommunikationssituationen (Führungen, Vorträge, Vereinsversammlungen etc.) oder Rituale imitiert, zweckentfremdet, unterlaufen etc. werden. Die als strategisches Dilettieren charakterisierte Arbeitsweise bringt Theaterformen hervor, die der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann als ein ›Theater der Situationen‹ bezeichnet. Darunter versteht er, dass […] weniger das Produkt der Inszenierungskunst im Zentrum steht (die deswegen natürlich nicht einfach verschwindet), sondern vielmehr die in der Aufführung gemeinsam von allen Teilnehmern – Partizipierenden – hervorgebrachte Wirklichkeit. (Lehmann 2011: o.S.)  27 | Wirth (2014) schreibt, der strategische Dilettantismus fordere »ein reflexives Wis­ sen über die Standards der Kunstbeurteilung und der Kunstausübung heraus«, das im Zuge der Moderne zum Pendant jener ›notwendigen Kenntnisse‹ wurde, die Goethe und Schiller noch vom wahren Künstler forderten. Die ›notwendigen Kenntnisse‹ be­ ziehen sich auf das von Goethe und Schiller vom ›Künstler‹ eingeforderte, ernsthafte Studium zwecks der Vervollkommnung naturgegebener Talente sowie zur Perfektio­ nierung der Könnerschaft.

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Der von Lehmann vorgeschlagenen Differenzierung möchte ich hinzufügen, dass in diesem Theaterverständnis (›Theater der Situationen‹) die Suche nach künstlerischen Mitteln dazu führt, dass diese selbst zum Gegenstand werden. Insofern entsteht neben der Bearbeitung von Inhalten immer auch Theater über Theater. Die Sichtbarmachung eingesetzter Theatermittel und der Medialität als solcher sowie die ›anwesende Abwesenheit‹ normativer Könnerschaft lassen Konstruiertheit und Kontingenz sowohl sozialer als auch medialer Wirklichkeit hervortreten. Ein weiteres Merkmal dieses Theaterverständnisses kann darin gesehen werden, dass sich das Verhältnis von Subjekt und Objekt verschiebt. So implizieren Ästhetiken einer ›relationalen Dramaturgie‹ die Reformulierung dieses Verhältnisses, da sie die Relationen zwischen Objekten, Medien und Subjekten in den Vordergrund treten lassen: Die Situation des Theaters stellt eine exzeptionelle Möglichkeit anderer Weisen der Kommunikation dar. Im Theater sind Relationen (Publikum – Bühne, Akteure unter sich, Zuschauer untereinander) nicht nur Bedingung, sondern Gegenstand der künstlerischen Arbeit. Ich schlage vor, bei solchem Theater, das oft in der Nähe zu Performance, Installation oder Dokumentation steht, von einer ›relationalen Dramaturgie‹ zu sprechen, in Analogie zur ›relationalen Ästhetik‹ (Nicolas Bourriaud) in der Kunst. 28 (Lehmann 2011: o.S.)

 28 | Lehmann bezieht sich mit dem Begriff ›relationale Ästhetik‹ auf den Kurator, Kunstkritiker und Kunsttheoretiker Nicolas Bourriaud. Dieser verwendete ihn zum ersten Mal im Katalog einer von ihm kuratierten Ausstellung (Titel der Ausstellung: ›Traffic‹, 1996, CAPC, Bordeaux). Angesprochen war damit eine Tendenz in der Bildenden Kunst zur Immaterialisierung des Werks, weg vom Ding-Charakter eines Ausstellungs­ objekts hin zum Arbeiten mit Relationen zwischen Personen, Objekten, Apparaten, sozialen Strukturen, Orten etc. Kunst, so Bourriaud, verstehe sich mehr und mehr als »eine Importstelle von Methoden und Konzepten: als eine Hybridisierungszone« (Bourriaud zitiert nach Maset 1998: 201). Vor dem Hintergrund ›relationaler Ästhetik‹ wird der_die Künstler_in zum_r Katalysator_in von Prozessen, was ihn_sie tendenziell vom Zentrum an den Rand treten lässt. (↘ Dezentrierung, s. Seite 188)

Der geschulte Blick

3.4.3 Professionsverständnisse (III): der_die Performer_in

Zwei der befragten Künstler_innen beziehen sich und ihre eigene künstlerische Praxis nicht auf einen definierten künstlerischen Theaterberuf (z. B. Schauspieler_in, Regisseur_in etc.), sondern wählen stattdessen den Begriff ›Performer_in‹: Künstlerin: Ich bezeichne mich selber eigentlich nicht als Künstlerin, denn da schwingt so etwas Elitäres mit, zumal ich vor allem in Kollektiven oder Gruppen arbeite […]. Dann habe ich mich mal zeitweise als Theatermacherin bezeichnet oder als Projektemacherin … ,in letzter Zeit als Künstlerin, Performerin … ich bin da eigentlich so reingerutscht. Ich habe nie gesagt ›ich werde Künstlerin‹. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Künstler: Ich begreife mich als Performer, auch wenn der Kontext, in dem ich auftrete, eigentlich immer zeitgenössischer Tanz ist. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Dass der Begriff Performer_in bevorzugt verwendet wird, verweist auf ein Theaterverständnis, das von der bürgerlich-europäischen Schauspiel­ tradition abweicht. Diese beruht auf einem Theaterverständnis, dessen Ziel seit Aristoteles in der ›Nachahmung handelnder Menschen‹ besteht (vgl. Roselt 2009: 12). Im Zuge interdisziplinärer Entwicklungen in den Künsten seit den 1950er Jahren (Happenings, Konzeptkunst und Performance Art) sowie der Auseinandersetzung mit außereuropäischen Theaterformen (exemplarisch: Schechner 1990 und 1994) wurde ein Theaterverständnis vital, das nicht auf Repräsentation und Illusion abzielte, sondern auf die Sichtbarmachung von Transformationsprozessen im Hier und Jetzt der Zuschauersituation. Der Begriff ›Performer‹ erlaubt verschiedene Auslegungen und Aneignungen. Laut Richard Schechner zeichnet sich der_die Performer_in unter anderem dadurch aus, stets im Kontakt mit sich selbst und dem eigenen Körper zu sein. Der Körper des_r Performers_in dient bei Schechner zur Sichtbarmachung von Prozessen in Beziehung zu ›Anderem‹ (in Form von Texten, aber auch anderen Performer_innen) und nicht als Instrument zur Verkörperung einer anderen Person. »Der orthodoxe Schauspieler verschwindet in seiner Rolle. Der Performer des Environmental

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Theater befindet sich in einer erkennbaren Beziehung zu seiner Rolle. Was das Publikum wahrnimmt, ist weder der Performer noch die Rolle, sondern die Beziehung zwischen beiden. […] Der Performer versucht nicht, seine Schwierigkeiten zu verbergen; die Art und Weise, wie er mit der Rolle umgeht, ist ein Hauptinteresse der Performance. Der Performer und die Rolle sind füreinander offen […]« (Schechner 1973 zitiert nach Roselt 2009: 356f.). Hinzu kommt Schechners Forderung, dass das ›eigene, persönliche Sein‹ des_r Performers_in im Dargestellten zur Erscheinung kommen soll (vgl. Schechner 1973 zitiert nach Roselt 2009: 355). Die Beschreibungen der beiden Künstler_innen, die sich als Performer_innen bezeichnet hatten, gleichen in Teilen den Vorstellungen zum_r Performer_in in Schechners Konzeption. Aus meiner Sicht ist dies ein Beleg dafür, dass die Verwendung des Begriffs ›Performer_in‹ zwecks professioneller Selbstbezeichnung auf ein spezifisches Theater- und Darstellungsverständnis hinweist. Dieses Verständnis besteht parallel zu dem nach wie vor bei Theaterpraktiker_innen wie Publikum dominanten Verständnis von Schauspiel, das auf Nachahmung von ›Wirklichkeit‹ abzielt (womit nicht nur illusionistisch-naturalistische Darstellungen gemeint sind, sondern auch abstrakte und/oder stilisiert-zeichenhafte Theaterästhetiken). Das im Konzept ›Performer_in‹ angelegte Theater- und Darstellungsverständnis haben beide Künstler_innen in die Zusammenarbeit mit den am Projekt beteiligten Lehrer_innen und Schüler_innen eingebracht.

3.5 (Schul-) Theater-Konzepte in der Gruppe der Lehrer_innen Wurden im vorigen Abschnitt bestehende Konzepte von Theater und vom Theatermachen in der Gruppe der Künstler_innen vorgestellt, richtet sich der Blick nun auf die Gruppe der befragten Lehrer_innen. Beide Gruppen unterscheiden sich unter anderem darin, dass die Künstler_innen (bis auf eine Ausnahme) eine auf den ›Theaterbetrieb / Kunstmarkt‹ hinführende künstlerische beziehungsweise eine auf künstlerisch-kulturelle Produktion fokussierte Ausbildung absolvierten und die Lehrer_innen eine fachdidaktisch-pädagogische Ausbildung für das Lehramt an Schulen. Einige der Lehrer_innen hatten sich zusätzlich auf unterschiedlichen Wegen zum_r Spielleiter_in / T heaterpädagog_in qualifiziert. Die mentalen Konzepte der Lehrer_innen beziehen im Unterschied zu denen der Künstler_innen den schulischen Kontext mit ein. Um diesen

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Unterschied zu markieren, findet sich das Wort ›(Schul-)Theater‹ im Titel des vorliegenden Abschnitts. Die mentalen Konzepte der Lehrer_innen weisen untereinander als auch in Bezug auf die mentalen Konzepte der Künstler_innen Ähnlichkeiten und Unterschiede auf. Die relative Nähe oder Ferne zwischen den mentalen Konzepten der Lehrer_innen korrespondiert mit dem Umstand – analog zur Gruppe der Künstler_innen – der Verschiedenheit ihrer Ausbildungs- und Berufsbiografien. So gibt es beispielsweise unterschiedlich intensive Vorerfahrungen mit der Arbeit an Theatern sowie in der Zusammenarbeit mit Künstler_innen im Rahmen von Schulprojekten. Eine der beteiligten Lehrer_innen hat unter anderem das auch heute noch bestehende ›Theater Thikwa‹ (Berlin) mitgegründet, das eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen behinderten und nichtbehinderten Künstler_innen praktiziert. 29 Sie engagierte sich in diesem Theater drei Jahre lang als Sonderpädagogin und Regieassistentin. Eine andere Lehrerin reduzierte ihren Stundenumfang an der Schule, um in Teilzeit an einem Hamburger Theater als Theaterpädagogin arbeiten zu können. Im Anschluss an diese Zeit entschied sie sich neu und aktiv für ihren Beruf als Lehrerin und kehrte ›ganz‹ zurück. Diese und andere konkrete Erfahrungen brachten beide Lehrerinnen in die Zusammenarbeit mit ihren Partner-Künstler_innen im Rahmen von JUMP  &  RUN – Schule als System ein. Eine weitere Akteurin aus der Gruppe der Lehrer_innen verfügte über eine kunstpädagogische Ausbildung und hatte bislang sehr heterogene Arbeitserfahrungen mit schulexternen Künstler_innen gemacht: von einem niedrigen Grad der künstlerischen Mitbestimmung bis zu einer dialogisch geprägten Zusammenarbeit, in der es ein wechselseitiges Interesse an den Ideen und Vorstellungen gab und künstlerische Entscheidungen gemeinsam getroffen wurden. Dann gab es Akteur_innen in der Gruppe der Lehrer_innen ohne kunstaffine oder kunstnahe Ausbildung. Deren Rolle in der Zusammenarbeit mit Künstler_innen war vor dem Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System auf Teilaspekte wie das Organisieren und – falls nötig – das punktuelle Disziplinieren der Schüler_innen begrenzt. In den drei mentalen Konzepten von (Schul-)Theater, die ich im Folgenden darstellen möchte, spiegelt sich die Bandbreite der Ausbildungsund Arbeitsbiografien wider. Im ersten mentalen (Schul-)Theater-Konzept wird Theater als ein Medium zur Umsetzung von Inhalten verstanden.  29 | Das Theater Thikwa wurde 1990 gegründet.

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Dieses Verständnis stelle ich in drei Teilaspekten dar. Im Anschluss daran beschreibe ich die mentalen Konzepte ›(Schul-)Theater als offen-iterative Suchbewegung‹ sowie ›(Schul-)Theater als Soziokultur‹. 3.5.1 (Schul-)Theater als Umsetzung von Inhalten (Stücktexten, Ideen, Gefühlen etc.)

Eines der mentalen Theater-Konzepte, das sich in den Gesprächen mit den Lehrer_innen gezeigt hat, besteht darin, Theater als räumlich-visuelle ›Umsetzung‹ von Inhalten zu begreifen. Gemeint ist eine (Schul-) Theaterpraxis, die darauf abzielt, dass ein Stücktext, aber auch Ideen (z. B.: ›wir zeigen eine romantische Szene‹; ›wir machen etwas zu Kapitalismus‹ etc.) und Gefühle räumlich-visuell so dargestellt werden, dass das Dargestellte der intendierten Vorlage möglichst genau ›entspricht‹. Dieses mentale Konzept beschreibe ich im Folgenden anhand dreier Aspekte. 3.5.1.1 Aspekt 1: (Schul-)Theater als technisch-künstlerisches, ›neutrales‹ Medium

Medien weisen aufgrund ihrer technisch-materialen Beschaffenheit eine spezifische Medialität auf, die im alltäglichen Gebrauch des Mediums nicht weiter auffallen mag. Als das Übertragungssignal von Radiosendern noch per Antenne empfangen werden musste, wurden Radiohörer_innen daran erinnert, dass sie Radio hörten, wenn es rauschte oder der Empfang ›knackte‹. Heute, beim digitalen Radio, macht sich das Internet als Medium dadurch bemerkbar, wenn das Gerät keine Internetverbindung herstellen kann und stumm bleibt. Der binäre Code kennt lediglich ›aus‹ (0) oder ›ein‹ ( 1 ), aber keinen ›schlechten‹ Empfang. Solange die Beschaffenheit eines Mediums im Bewusstsein des_r Nutzers_in nicht zur Wahrnehmung gelangt – sei es wegen erlernter Wahrnehmungsgewohnheiten (das Knackgeräusch wird beim Hören ›überhört‹) oder wegen dessen technischer Perfektion –, erscheint das Medium neutral im Sinne von durchsichtig oder geschmacklos. Es ist zwar da, fällt aber als solches nicht auf. Die Entwicklungsgeschichte beispielsweise von Papier, Telefon oder Schallplatte weist die generelle Tendenz auf, dass die Materialität des Mediums beziehungsweise des Informationsträgers mittels Perfektionierung idealiter zum ›Verschwinden‹ gebracht werden soll: Das Papier wurde glatter, das Telefon rauschfreier und das Knacken der Schallplatte vom digitalen Klang abgelöst. Das Streben nach der Nicht-Wahrnehmung der Medialität / Materialität eines Mediums findet sich auch in Bezug auf das Theater, wo es unter

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anderem – im Sinne der Positiv-Erzählung technischen Entwicklungsfortschritts – darum geht, Theatertexte so auf einer Bühne ›umzusetzen‹, dass das Publikum idealiter vergisst, im Theater zu sein. Das ›Umsetzen‹ steht dabei in einem ausführenden Verhältnis zu einer Vorlage, so dass der Einsatz der Mittel sowie das künstlerisch-kreative Moment dieses mentalen Konzepts von Theater darin liegt, innere Repräsentationen zu visualisieren. Die Probenarbeit richtet sich daran aus, wie man innere Repräsentationen beispielsweise von einem Stücktext oder von Alltagshandlungen etc. so darstellen kann, dass sie vom Publikum ›wiedererkannt‹ werden. Um das ›Wiedererkennen‹ dessen, was der darstellenden Abbildung vorausgeht (ihr als Vorlage diente) seitens Publikum zu erreichen, werden konventionalisierte Repräsentationen eingesetzt. Ein Beispiel: In einem Stück von Bertolt Brecht soll ein Fabrikbesitzer auftreten. Damit das Publikum ihn als Kapitalist erkennt, tritt ein männlicher Schauspieler mit Theaterbauch und Zigarre auf. Eine auf ›Neutralität‹ oder Durchsichtigkeit des Mediums zielende Schultheater-Inszenierung wird die erwähnten Theaterzeichen nicht als solche bewusst ausstellen. Denn das bewusste Herausstellen der Zeichenhaftigkeit von Bauch und Zigarre würde dazu führen, dass das Medium Theater im Moment der Rezeption als Medium erkennbar ist, was aber dem mentalen Konzept ›Theater als Umsetzung‹ zuwiderliefe. Denn nach diesem Verständnis muss die Zeichenhaftigkeit ausgeblendet bleiben, um die Medialität von Theater ebenfalls ausgeblendet zu lassen. Der theatrale Pakt mit dem Publikum sorgt dafür, dass das Publikum die Zeichenhaftigkeit ausblendet oder es zumindest versucht, eben weil die Inszenierung ›behauptet‹ – so tut als ob –, nicht zu wissen, dass gerade Theatermittel eingesetzt werden. Dem mentalen Konzept von ›Theater als Umsetzung‹ liegt die Unterscheidung in primäre Wirklichkeit (›Natur‹) und sekundäre Wirklichkeit (›Kultur‹) zugrunde. Dabei wird ›Natur‹ respektive die erste Wirklichkeit in kulturell erzeugten Bildern nachgeahmt oder abgebildet. Von dieser grundlegenden erkenntnistheoretischen Prämisse leiten sich weitere, ebenso tradierte Entgegensetzungen wie Sein und Schein, Innen und Außen oder auch Original und Kopie ab. Ein Stücktext ist in dieser Logik das Original, zu der sich die Umsetzung wie eine möglichst perfekte, dreidimensionale ›Live-Kopie‹ verhalten soll. Dies impliziert, dass die Kopie nicht als Gemachtes oder Hergestelltes auffällig werden darf. Beim Konzept ›Theater als Umsetzung‹ geht es nicht zwangsläufig um die Herstellung einer naturalistisch-illusionistischen Ästhetik, sondern vielmehr darum, dass innerhalb dieses Theater-Konzepts das Medium Theater als solches

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verdeckt bleibt und auch bleiben soll. Einfach deshalb, weil das Medium Theater in der Logik der Unterscheidungen gewissermaßen nicht zur Vorlage (zum Original) ›gehört‹, sondern als künstlerisch-technisches Hilfsmittel zu deren Abbildung (=Umsetzung) dient und daher als ›neutral‹ im Sinne von nicht-wahrnehmbar immer schon vorausgesetzt wird. In diesem – von mir (re-)konstruierten – mentalen Theater-Konzept wird die Medialität / Materialität von Theater als Theater bewusst oder nicht-bewusst ausgeblendet und möglicherweise als ›falsches‹, verkopftes, künstliches Theater wahrgenommen. Als ›Kunst-Theater‹, das man nicht versteht. Sollte in der Probenarbeit mit Schüler_innen das Medium Theater als Medium in Erscheinung treten – beispielsweise durch ein ›aus der Rolle fallen‹, durch Versprecher oder das Wackeln der Kulisse –, wird dies als Fehlleistung aufgefasst, die es zu beheben gilt, und nicht etwa als ästhetisch-künstlerisches Potenzial. 3.5.1.2 Aspekt 2: (Schul-)Theater als Kommunikationsmedium Ist für die Schüler schon günstig, wenn sie über so etwas auch mal nachdenken oder mal bewusst wahrnehmen, wie sie auf andere wirken, wie andere auf sie wirken … eben dieses Sender-Empfänger-Verhältnis. Also nicht nur über die Sprache, sondern auch über den Körper. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Das mentale Konzept ›Theater als Umsetzung‹ fokussiert auf die Darstellung innerer Repräsentationen mittels sinnlich wahrnehmbarer Formen, damit diese gewissermaßen im Sinne des Sender-Empfänger-Kommunikationsmodells an ein Publikum ›übertragen‹ werden können. Das Bild vom Senden und Empfangen folgt einem klassischen Kommunikationsmodell (vgl. Röhner / Schütz 2012: 15), nämlich dem der Enkodierung und Dekodierung. Kommunikation wird dabei als ein Prozess verstanden, bei dem eine innere Repräsentation mit Hilfe eines Codes (z. B. Sprache) verschlüsselt / encodiert wird. Der verschlüsselte Code wird in diesem Modell dann über den Kommunikationskanal zu den Adressaten der Botschaft geleitet und muss von ihnen wieder entschlüsselt werden, was als Dekodierung bezeichnet wird (vgl. Röhner / Schütz 2012: 15 ff.). Übertragen auf das mentale Konzept von ›Theater als Umsetzung‹, bedeutet dies, dass die ›Umsetzung‹ von Text – im Sinne einer Materialisierung innerer Repräsentationen – der Enkodierung entspricht. Das Publikum wird

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als Adressat gedacht, welchem die Aufgabe der Dekodierung zukommt. Aufschlussreich ist nun, dass Encoder- / Decoder-Modelle eine gelingende Kommunikation abbilden wollen. So zielen Encoder- / Decoder-Modelle »auf ein umfassendes Verständnis bezüglich der Verschlüsselung (Enkodierung), Übertragung und Entschlüsselung (Dekodierung) von Botschaften« ab und »versuchen eine Antwort auf die Frage zu geben, wie eine Botschaft optimal übermittelt werden kann«. Daher werden »in diesem Zusammenhang auch mögliche Störquellen und Probleme thematisiert, die einen reibungslosen Kommunikationsablauf beeinträchtigen können« (Röhner / Schütz 2012: 16). Wenn das mentale Konzept von ›Theater als Umsetzung‹ auf der Vorstellung einer ›Materialisierung‹ innerer Repräsentationen beruht und Theater damit als ein Medium zu deren Übertragung aufgefasst wird, so spiegelt sich dies in der Gestaltung der Probenprozesse und den ästhetischen Entscheidungen. Denn in der Logik dieses mentalen Konzepts von Theater liegt es auf der Hand und erscheint es als erstrebenswert, wenn beim Theatermachen (als ›Umsetzung‹ eines Textes) die künstlerischen Mittel so gewählt werden, dass sie zur Reduzierung dessen beitragen, was das Verständnis (die Dekodierung) seitens Publikum stören könnte. Dabei geht es weniger um eine naturalistische Ästhetik im eigentlichen Sinn, sondern um den Grad der Verständlichkeit des zu Dekodierenden. Ein Beispiel: Ein Baum aus Karton hat durchaus wenig mit einem Baum in der Natur zu tun. Entscheidend ist, dass der zugeschnittene Karton die Zeichen-Attribute für ›Baum‹ aufweist und im Spiel als solcher behandelt wird. Eine aufgestellte Dachlatte hat genauso viel oder wenig mit einem realen Baum zu tun, dürfte sich aber aufgrund des Abstraktionsgrades einer direkten Dekodierung im Sinne einer eindeutigen Bedeutungszuweisung widersetzen. Im Encoder / Decoder-Kommunikationsmodell soll das Medium unbemerkt bleiben, da es sonst die angestrebte reibungslose Kommunikation stört. Das Medium soll idealiter gar nicht erst bemerkt werden. Nicht umsonst haben die Entwickler dieses Modells – Claude Shannon und Warren Weaver – bei einer Telefongesellschaft gearbeitet und sich unter anderem mit der Frage beschäftigt, wie eine rauschfreie Kommunikation erreicht werden kann. Denn im Rauschen – der Störung – macht sich das Medium als solches bemerkbar. Das Sender / Empfänger-Kommunikationsmodell auf Theater zu übertragen, bedeutet, dass Theater dann ›gut‹ gelingt, wenn es ›rauschfrei‹ ist – also wenn die Übertragung nicht gestört respektive wenn Theater

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nicht als Medium bemerkt wird. Korrespondierend dazu verhält sich der im vorigen Teilabschnitt beschriebene Aspekt, wenn Theater als ein technisch-künstlerisches, durchsichtig-neutrales Medium zur Umsetzung von Inhalten aufgefasst wird. Dann gelten die real schwitzenden Körper von Darsteller_innen, die wackelnde Kulisse oder der Texthänger als ›Fehlleistungen‹ (bzw. als ›Störgeräusche‹), die vermieden werden müssen und die das Publikum als nicht-intendiert ausblendet – sofern sie nicht als etwas gerahmt sind, das zum abzubildenden Inhalt dazu gehört. 3.5.1.3 Aspekt 3: (Schul-)Theater als hierarchisches Verhältnis von Text (= Vorlage) und Inszenierung (= Abbildung)

Das mentale Konzept ›Theater als Umsetzung‹ zeigte sich in den Gesprächen mit zwei Lehrer_innen verknüpft mit der Idee eines textbasierten, szenisch-mimetischen Rollenspiels und mit der Erwartung, dass die Bühnenrealisation eines Stücks in einem erkennbaren Verhältnis zur Textgrundlage steht (s. Seite 229). Dadurch entsteht ein hierarchisches Verhältnis zwischen dem Text, der als Original, und der Inszenierung, die als Abbild des Originals betrachtet wird. Im folgenden Zitat spricht eine Lehrerin über ihre ersten Schritte in der Theaterarbeit mit Schüler_innen. Ihre Beschreibung veranschaulicht das hierarchische Verhältnis zwischen Text und Inszenierung: […] Dann habe ich ihnen das Stück vorgestellt und sie gefragt, ob sie sich das vorstellen können [,das zu machen; SW]. Und dann haben wir es lesend erschlossen: Worum geht es überhaupt? Welche Personen kommen vor? Bei einem anderen Stück habe ich dann gesagt, überlegt euch mal ein Bühnenbild: Was bräuchte man für Requisiten? Was können wir mit einfachen Mitteln machen? Und es [das Stück; SW] wird auf Stimmungen, Gefühle gelesen, die mit drinstecken, und die besprochen werden, bevor es dann auf die Bühne geht. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Der Entwicklung des bürgerlichen Literaturtheaters und dessen phasenweiser Dominanz ist eine Vorherrschaft des Textes eingeschrieben (genauer: eine Vorherrschaft dramatischer Literatur). Auch im mentalen Konzept von ›Theater als Umsetzung‹ nimmt der Text eine dominierende Position ein, so dass alle anderen Zeichenebenen wie Figurendarstellung, Kostüm, Bühnenbild, Musik, Requisiten etc. dazu dienen, den Text

Der geschulte Blick

›darzustellen‹ respektive ihn ›umzusetzen‹ oder zu ›animieren / beleben‹. Die Hierarchisierung zeigt sich im Zitat darin, dass die genannten Fragen nicht auf eine individuell-inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Text zielen respektive den Text befragen. Vielmehr wird dem Text ein Sinn unterstellt, der außerhalb der beteiligten Individuen (und von diesen unabhängig) existiert und den es ›treffend‹ darzustellen gilt, so dass die Fragen der Lehrerin an die Schüler_innen auf einer rein technischen Ebene der Realisierung beziehungsweise Umsetzung ansetzen. Der Text fungiert als fixe und orientierende Größe im Zentrum des Produktionsprozesses. Als Leitbild dient das ›Lebendig machen‹ von geschriebenem Text. 3.5.2 (Schul-)Theater als offen-iterative Suchbewegung vor dem Hintergrund zeitgenössischer Theaterpluralität

In Interviews, bei denen die befragten Lehrer_innen eine persönlich motivierte, teilweise professionelle Anbindung an das Feld künstlerischer Produktion hatten, stellte dieses einen orientierenden Horizont für ihr mentales Konzept von (Schul-)Theater dar. Dabei wurde die Heterogenität der unterschiedlichen Theaterformen und Ästhetiken im Zeichen zeitgenössischer Theaterpluralität als solche benannt und als besondere Qualität von ›Theater‹ beschrieben: Lehrerin A: Ich mag es auch, mich in ein ganz traditionelles Theater zu setzen. Das vermisse ich manchmal. Das gab es natürlich zu Ostzeiten sehr viel, also wenn ich mir eine Langhoff-Inszenierung anschaue oder einen Tschechow-Abend […]. Da geht es dann darum, sich wieder mit Texten zu beschäftigen. Das ist dann ein anderer Abend und den finde ich auch ganz wichtig. Insofern, wenn man das auf Schule überträgt, finde ich es auch in Ordnung, mal frontalen Unterricht zu machen. […] Und dann bin ich aber auch ein großer Freund von Schlingensief zum Beispiel. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Lehrerin B: Ich mag ein körperbetontes Spiel. Ich mag eine hohe Präsenz von Spielern auf der Bühne. Ich mag das, was bewusst gearbeitet ist. Ich mag auch eine bewusste Textauswahl, verschiedene Textebenen, die sich berühren und gegenseitig brechen, ich mag auch Ironisierung, das wiederholte Heraus­treten aus einer behaupteten Welt. Also das Ganze, was man unter

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›performativ‹ zusammenfasst. Ich mag das sehr. Einen Ansatz für das Schultheater, der zeitgemäß ist. Sowohl Reibungsflächen zu alten Stoffen herzustellen als auch zu den Lebenswelten der Schüler, mit denen wir ja sehr viel zu tun haben. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Im mentalen Konzept von (Schul-)Theater, das sich in den Äußerungen der beiden Lehrerinnen spiegelt, bilden Vorstellungen von ›Offenheit‹ und ›Suche‹ zwei zentrale Kategorien: Offenheit für heterogene Theaterästhetiken und für eine Abkehr von abbildenden Darstellungsformen zugunsten ästhetischer Abstraktion sowie für die Suche nach einer am Gegenstand der Auseinandersetzung orientierten Entwicklung ästhetischer Formen. So unterstreicht etwa eine der beiden Lehrerinnen ihre Bereitschaft, sich im Rahmen von JUMP  &  RUN – Schule als System auf das einzulassen, was sich aus dem Probenprozess heraus im Zusammenspiel mit dem Künstler entwickelt: Lehrerin: Wir sagen dieses Mal ja nicht, wir spielen irgend ein Märchen trallala und der Text ist schon da und wir holen uns vom Henschel-Verlag das Buch und fertig, wird gelernt – machen wir ja alles gar nicht. Mal gucken. Auch was da entsteht. Ich kann mir alles vorstellen. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Auch das folgende Zitat betont den positiven Wert von Unwägbarkeit in künstlerischen Prozessen mit Schüler_innen, die von der befragten Lehrerin als Sammlungsphasen betrachtet werden und als solche potenziell krisenhafte Momente aufweisen können. Lehrerin: Es wird ja nicht immer gleich viel ›weggeschafft‹, sondern es gibt ja manchmal Sitzungen [gemeint sind Proben im Rahmen ihres Theaterunterrichts, SW], an denen ganz viel passiert, und dann gibt es solche, in denen alles stagniert und man denkt, da hätte man besser zwei Wochen Ferien gemacht, aber die Offenheit, um die muss man auch immer wieder ringen und um die muss man kämpfen und die muss unbedingt erhalten bleiben. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

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In der als spannungsgeladen empfundenen ›Offenheit‹, die die befragte Lehrerin im Rahmen von (Schul-)Theater-Probenprozessen bereit ist, auszuhalten, sieht sie einen Unterschied zu stärker strukturierten Unterrichtssettings. Lehrerin: Viele Lehrer, vor allen Dingen in Berlin, haben eine ganz stark strukturierte Unterrichtsform vor Augen, wenn sie mit Schülern die Stunde beginnen. Die Stunde ist zielorientiert, die wird auch ganz sicher zu einer Ergebnissammlung führen. Und diese Struktur wird für jede Stunde über 45 oder 90 Minuten erarbeitet und bleibt dann fix. Die ist quasi der Haltepunkt für Schüler und Lehrer. Der Inhalt wird in diese Struktur reingegeben […]. Im künstlerischen Arbeiten [mit Schüler_innen; SW] ist es aber so, dass ganz oft Stunden da sind, die überhaupt nicht auf eine Ergebnisfixierung rauslaufen. Wo man noch nicht mal so etwas wie ein Zwischenergebnis oder eine Wiederholung starten kann, wo man nur ein Gefühl mitnimmt aus einer Probe und denkt ›Ja, das hab ich jetzt gemerkt, aber vielleicht geht's wieder weg, was muss ich tun, um das zu sichern?‹ Und dann muss ich gucken, ob das nur mein Spielleiter-Gefühl ist oder ob es auch bei den Schülern da ist. Dann die Frage, ob das mit dem Thema zu tun hat … Also, ich will damit sagen, das sind ganz vage Zustände, die ich manchmal aus den Proben mitnehme und mit denen ich arbeite, aber ich finde das absolut produktiv. Also, dass ich lange Sammlungsphasen mache, in denen ich erst mal das Material der Schüler ranhole und noch mal und noch mal und noch mal und dann erst anfange zu strukturieren. Manchmal mit ihnen zusammen, aber manchmal auch alleine. Manchmal finde ich erst kurz vor der Aufführung eine Arbeitsform, die alle befriedigt. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Im Zitat wird unterschieden zwischen einer auf kontrollierbare Ergebnisse angelegten Unterrichtsstruktur einerseits und der Vagheit von Probenprozessen im (Schul-)Theater andererseits, die sich als offen-iterative Suche gestalten und auf Emergenz 30 zielen.  30 | Emergenz: Der Begriff leitet sich vom lateinischen Verb emergere für ›auf­ tauchen, herauskommen, emporsteigen‹ ab. Er wird verwendet, wenn spontan und unvorhersehbar neue Eigenschaften aus dem Zusammenspiel der Elemente

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Der Unterschied besteht darin, dass ein stark strukturierter Unterricht Lernergebnisse zu erreichen versucht, die im Voraus definiert wurden. Um zu den Lernergebnissen respektive dem Unterrichtsziel zu gelangen, wird in der Vorbereitung der Weg (die Unterrichtsdramaturgie) dorthin von seinem Ende her gedacht, so dass ihn die Schüler_innen im Unterrichtsverlauf nachvollziehen können. Eine Strukturierung der Arbeitsund Zeiteinheiten, die sich dabei bewährt, wird dann seitens Lehrer_in möglichst beibehalten. Auch im mentalen Konzept von ›(Schul-)Theater als offen-iterativer Suchbewegung‹ geht es darum, dass am Ende ein Produkt steht. Der Weg zu diesem Produkt entwickelt sich jedoch im Unterschied zum mentalen Konzept ›Theater als Umsetzung‹ entlang der inhaltlichen und gruppeninternen Auseinandersetzungen mit einem Gegenstand. Angestrebt wird eine persönliche Haltung der Schüler_innen, die im entstehenden szenisch-performativen Material sichtbar werden soll. Das Iterative besteht im Kontext offener Probenprozesse darin – und das ist ein zentraler Unterschied zu ergebnisorientierten (Theater-)Unterrichtsverläufen –, dass das zu erreichende Ziel einer öffentlichen Präsentation / Vorstellung erst aus den Auseinandersetzungen mit den Schüler_innen heraus entwickelt werden kann. Lehrerin: Also, ich weiß, dass es irgendwann ein Produkt geben muss. Ansonsten weiß ich da nicht besonders viel und dann lerne ich erst mal die Menschen kennen und schaue, was auf der Beziehungsebene los ist. Und dann purzeln wir ins Thema rein. Und dann gibt's ja auch ganz große Diskontinuitäten. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Der Probenprozess rückt im mentalen Konzept ›(Schul-)Theater als offen-iterative Suchbewegung‹ als diskursiver Raum des Wahrnehmens, Sprechens und Reflektierens in den Vordergrund. ›Offenheit‹ wird dabei verstanden als ein Sich-Einlassen auf das, was sich in der Beziehung untereinander und in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ergibt, um es wahrzunehmen, zu reflektieren und wieder zurückzuspielen: eines Systems hervortreten. Ein Beispiel für ›Emergenz‹, das immer wieder ge­ nannt wird, ist das menschliche Gehirn. »Emergenz betont den Sachverhalt, dass das Gesamtverhalten komplexer Systeme nicht aus einer vollständigen Information über seine Elemente und ihre Wechselwirkungen abgeleitet werden kann.« [Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik; Hervorhebungen im Original]

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Lehrerin: […] das Moment der vorbehaltlosen Offenheit, sich dem Prozess überantworten und offen bleiben, bleiben, bleiben, bleiben, bleiben, bleiben, bleiben und zum Schluss erst verdichten. Und das heißt nicht nur einfach passiv offen sein, sondern das heißt ja immer wieder reflektierend offen sein, miteinander darüber sprechen, was man beobachtet hat, sehr genau beobachten, miteinander sprechen, sprechen, sprechen, neue Fragen formulieren, Impulse daraus ableiten, wieder in die Probe reingehen und wieder gucken, gucken, gucken, gucken und dann wieder weiter […]. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

3.5.3 (Schul-)Theater als Soziokultur in Abgrenzung zu ›richtigem Theater‹

In diesem Teilabschnitt skizziere ich das Konzept ›(Schul-)Theater als Soziokultur‹, das in zwei prospektiven Interviews – jeweils mit einer Lehrerin und einem Lehrer – vom sogenannten ›richtigen Theater‹ (erste Interviewserie September / Oktober 2011) abgegrenzt wurde. ›Richtiges Theater‹, das von ihnen den Sprechbühnen zugeschrieben wird, zeichnet sich in den Beschreibungen der Lehrerin dadurch aus, dass es schwer zugänglich beziehungsweise nicht immer zu verstehen sei. Lehrerin: […] schwere Stücke oder es gibt richtiges Theater, Sprechbühne […]. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Ich war jetzt mit einer Freundin in einem Theaterstück – ›Shakespeares gesammelte Werke‹ –, wo ich danach gesagt habe, das müsste man wieder öfter machen. Mal etwas schwerere Kost, wo man nicht nur da sitzt und die Bühne, die Stimmen und die Musik genießt, sondern wo man auch mal etwas zum Nach­denken oder zum Anregen bekommt. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Individuelles Nicht-Verstehen-Können gilt als Beleg, dass es sich um (Theater-) Kunst handelt – sofern sie im Vorhinein als anerkannte (Theater-)Kunst institutionell gerahmt und dadurch als solche legitimiert wurde.

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Lehrerin: Mein letzter Theaterbesuch [mit den Schüler_innen, SW], der schwierig war, dieses Tanztheater, war auch für mich schon schwierig zu verstehen. […] Aber man muss da eben offen sein, mir gefällt auch nicht alles. Man muss sich das aber mal angucken, damit man weiß, was ist das überhaupt. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Die offen proklamierte Anerkennung des Nicht-Verstehen-Könnens bestätigt in dieser Logik den eigenen Kunstsinn und reproduziert unter der Hand zugleich den Abstand zur Kunst. In Anlehnung an den Philosophen Louis Althusser (1977) bedeutet dies: Der Kniefall vor der Kunst – also die anerkennende Proklamation des Nicht-Verstehen-Könnens – erzeugt den Glauben, dass es sich um Kunst handelt. Daher besitzt, wer keinen Respekt vor der Kunst zeigt, in dieser Logik auch keinen Sinn für sie – weshalb das ›richtige Theater‹ vor den Schüler_innen und umgekehrt die Schüler_innen vor dem ›richtigen Theater‹ geschützt werden müssen, was bestehende soziale Ausschlüsse reproduziert: […] wir haben jetzt wieder damit angefangen, dass wir mit den Schulklassen regelmäßig ins Theater gehen. Mit den Hauptschulklassen haben wir das irgendwann sein gelassen. Denn das war kein Vergnügen. Also, wenn ich ins Theater gehe, will ich auch etwas davon haben. Ich will nicht nur die ganze Zeit sitzen und schauen, dass die Schüler ruhig sind, und hinterher höre ich mir an: ›Das war scheiße‹ oder sie hätten es nicht verstanden. Da haben wir es dann eigentlich kaum noch gemacht. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Aus der Perspektive der Lehrerin, so meine interpretierende Zusammenfassung, hat ›richtiges Theater‹ den Status von Hochkultur, die es zu bewahren und zu schützen gilt, ohne aber sie für sich nutzen zu wollen oder für sich zu reklamieren beziehungsweise – im übertragenen Sinne – ohne sie anzufassen. Das ›richtige Theater‹ steht auf einem Sockel und gilt als etwas, dem man sich eigentlich (mehr) widmen oder zuwenden sollte. ›Richtiges Theater‹ geht für die Lehrerin mit einem als bildungsbürgerlich konnotierten und empfundenen Pflichtgefühl (»mal etwas schwerere Kost«) einher, das aus einem unterstellten Kunst- und Bildungsanspruch resultiert.

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Das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System wurde von drei renommierten Theatern getragen, die für ›richtiges Theater‹ stehen. Mit Blick auf seine ersten Eindrücke äußerte ein Lehrer zu Beginn des Projekts die Befürchtung, die Künstler_innen könnten zu abstrakt (=unverständlich) vorgehen: […] die Dramaturgen zum Beispiel, die ich jetzt dort kennen gelernt habe, die versuchen ja irgendwie ihre Sache, also ihr Vorhaben, durchzusetzen … […] Und für uns ist wichtig, dass ein Künstler Aktionen macht, die er auch zeigen kann, damit die Schüler irgendetwas Greifbares sehen. Er muss versuchen zu zeigen, was wir gemeinsam tun werden. Dass das etwas ist, was die verstehen können. Das muss verständlich sein. Das darf jetzt nichts sein, was man denen lange erklärt, sondern am besten man sagt: Wir machen es jetzt! […] Dass sich das aus dem Tun heraus entwickelt. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Im Zitat bezieht sich der befragte Lehrer auf Begegnungen im Rahmen von Arbeitstreffen, die von den Theatern organisiert wurden. Seine Äußerung lese ich als Hinweis darauf, dass der von den Theatern im Konzeptpapier signalisierte Kunstanspruch (s. Seite 202 ff.) von den am Projekt Beteiligten wahrgenommen wurde (»die Dramaturgen wollen ihr Vorhaben durchsetzen«). Die Perspektive auf ›richtiges Theater‹ als Bestandteil von Hochkultur und als eine aus respektvoller Distanz zu würdigende Sphäre findet bei diesem Lehrer durch seine Wahrnehmung des von den Theatern formulierten Kunstanspruchs eine Bestätigung. Damit einher ging zu Beginn des Projekts die Befürchtung eines ›culture clash‹ und zwar dergestalt, dass die Schüler_innen im Verlauf des Projekts vor den Kopf gestoßen werden und sich infolgedessen vom Projekt sowie von schulischen Theaterangeboten überhaupt abwenden könnten. Aber auch, dass sie ablehnend reagieren, sich ›daneben‹ benehmen, den unterstellten und/oder realen Anforderungen nicht genügen würden. Es wurde die Sorge geäußert, […] dass es in die Hose geht. Dass sich die Schüler nicht darauf einlassen und sie dann auch nicht zu einem Ergebnis kommen.

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Das wäre schlecht, weil sie sich dann beim nächsten Mal erst recht sperren werden. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Die Befürchtungen in dieser Richtung könnten daher rühren, dass sich die beiden Lehrer_innen hinsichtlich der anstehenden Theaterprojekte im Vergleich zu den soziokulturellen Angeboten, die sie mit ihren Schüler_innen in der Vergangenheit in Anspruch genommen hatten, auf ungesichertem Terrain bewegten. Bei den soziokulturellen Projekten handelte es sich um themenbezogenes Arbeiten unter Einsatz von Theatermitteln, Graffiti, Rap-Musik etc., wo die ›Übersetzung‹ von Inhalten / Vorstellungen die Vorgehensweise bestimmte, was den beiden befragten Lehrer_innen wiederum vertraut war. Das Positive dieser Erfahrungen war für die jeweiligen Lehrer_innen daran geknüpft, dass ihre Schüler_innen sichtbaren Spaß hatten, dass sie etwas von sich zeigten und dass sie etwas ›Greif bares‹ mit nach Hause nahmen. Im prospektiven Interview mit der Lehrerin ist auffällig, dass sie den Diminutiv verwendet, wenn sie von soziokulturellen Formen spricht: »so ein bisschen Theater eben und Rap oder Hip Hop« oder »da hatten sie die Möglichkeit, Siebdruck zu machen oder auch ein bisschen Schlagzeug zu spielen«. Die Verkleinerungsform könnte ein Hinweis darauf sein, dass es ihrerseits im Vorfeld des Projekts eine größere Nähe zu ›Theater als Soziokultur‹ gab, weil dieses im Unterschied zu ›richtigem Theater‹ keine schwer durchschaubaren Ansprüche stellt, sondern vertraut erscheint und nahe bei dem liegt, was die Einzelnen an Wissen und Können mitbringen. Die Furcht, die Schüler_innen für die Theaterarbeit an der Schule zu ›verlieren‹ und das daran geknüpfte Bedürfnis, sie relativ schnell zu ›handfesten‹ Ergebnissen 31 zu führen, bildete in der Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Lehrer_innen und ihren Partner-Künstler_innen ein potenzielles Konfliktfeld. Dies war nicht der Fall, wenn die Lehrer_innen ein offen-iteratives Konzept von Theater in die Zusammenarbeit einbrachten.

 31 | Lehrerin: »Wenn ich irgendetwas mache, will ich es irgendwann mal zeigen. Und wenn ich es nur zu Hause der Familie zeige. Sonst macht es keinen Spaß.« [Erste Inter­ viewserie, September / Oktober 2011]

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4. Case Studies Die Beschreibungen der bislang dargestellten mentalen Konzepte von (Schul-)Theater sind das Resultat interviewübergreifender Schnittmengen zum Theater- und Professionsverständnis. Die beiden folgenden Case Studies dienen nun dazu, fallspezifisch in die Tiefe zu gehen. Der Fokus liegt dabei auf den mentalen Konzepten des Probens. Denn die ›Probe‹ ist der ›Ort‹ oder ›Raum‹ im Theater, an dem sich die künstlerische Zusammenarbeit mit Blick auf die Inszenierung vollzieht, ganz gleich in welchem Kontext Theater gemacht wird. Wie sich allerdings das Proben gestaltet, ist nicht festgelegt und variiert je nach Theater- und Professionsverständnis, das die Beteiligten mitbringen. Zudem wird die Praxis des Probens – also die Summe der Verfahrens- und Arbeitsweisen, mitunter auch die Abfolge von Arbeitsschritten – durch institutionelle Gegebenheiten und Bedingungen strukturiert, die sich dementsprechend im Ergebnis (der Inszenierung) widerspiegeln (gibt es einen Probenraum, arbeitet man im Klassenzimmer, in der Aula, in einer Black-Box, im Fahrradkeller der Schule etc.). In den beiden Case Studies soll nachvollziehbar werden, in welcher Weise sich Differenzen und Übereinstimmungen zwischen den mentalen Konzepten des Probens auf die Zusammenarbeit auswirkten und inwieweit sich die feldspezifische Positioniertheit als Künstler_in respektive Lehrer_in bemerkbar macht. Die Untersuchung bewegt sich damit allerdings wiederholt auf dem Feld künstlerischer Produktion, weshalb das Wissen und Können der Lehrer_innen erneut in geringerem Umfang zur Darstellung gelangt als das der Künstler_innen.

4.1 Case Study 1 4.1.1 Zusammenfassende Darstellung

Im ersten Fallbeispiel arbeiteten eine Lehrerin (Katharina 32) und eine Künstlerin (Anna) mit Schüler_innen der 7. und 8. Jahrgangsstufe zusammen. Die Schule wurde im Zuge der Berliner Schulreform 2010 / 1 1 von einer kombinierten Haupt- und Realschule in eine integrierte Sekundarschule umgewandelt. In die Zusammenarbeit waren zu unterschiedlichen Graden und Zeitpunkten zudem eine Dramaturgin (Martina)  32 | Die realen Namen wurden durch fiktive Namen ersetzt.

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und eine Projektassistentin (Marion) eingebunden. Letztere hatte neben organisatorischen vor allem auch theaterpädagogische Aufgaben wahrgenommen. Denn ihr Know-how im Anleiten von Spielen / Übungen wurde sowohl von der Lehrerin als auch von der Künstlerin als Gewinn gesehen und daher zu einem Bestandteil ihrer Mitarbeit (was nicht von vornherein so angedacht war). Die Zusammenarbeit zwischen Künstlerin, Lehrerin und den Schüler_innen begann im September 2011. Der Stundenplan der Schüler_innen enthielt zwar die Möglichkeit, sich wöchentlich zu treffen, aber aufgrund anderer Projekte der Künstlerin wurde nicht in diesem Rhythmus gearbeitet, sondern es wurden Termine vereinbart, an denen sie in die Schule kam. Teilweise wurden Termine auch eigens eingerichtet (in Form von Projekttagen und einer Projektwoche), um mehr Zeit als zwei Schulstunden zu haben. Die Dramaturgin war in verschiedenen Phasen ab September 2011 präsent und übernahm mitunter einen aktiv-gestaltenden Part. So zum Beispiel als es darum ging, mit einem Schüler das Storyboard für einen Kurzfilm zu entwickeln und mit den anderen Schüler_innen aus der Gruppe zu realisieren. Die Projektassistentin kam dann in der letzten Phase ab Mitte April 2012 dazu (ca. vier Wochen vor der öffentlichen Präsentation im Theater HAU Hebbel am Ufer am 11. und 12. Mai 2012). Die Künstlerin stellte sich zu Beginn der Zusammenarbeit vor, dass sie mit den Schüler_innen eine Stückentwicklung 33 machen wird. Diese Form des Inszenierungsprozesses beschrieb sie im Interview als offen für das, was die Schüler_innen interessiert und was sie bewegt. Zugleich entspricht diese Form ihrer eigenen Theater-Praxis und ihrem Regie­ verständnis. Im Unterschied zu ihren bisherigen Schul-Projekten wollte sie dieses Mal die Schüler_innen bereits in die konzeptionell-gedankliche Vorarbeit einbinden und an der Definierung der inhaltlichen und ästhetischen Ausrichtung des Stückentwicklungsprozesses beteiligen. Sie ging  33 | Mit Stückentwicklung ist hier die Entwicklung einer Inszenierung oder eines the­ atralen Anlasses im Sinne des englischen Begriffs ›devising theatre‹ gemeint. Im Un­ terschied zur interpretierenden Auseinandersetzung mit dramatischen Texten zwecks deren Inszenierung versteht sich ›devising theatre‹ als Entwicklung einer Theater-Per­ formance aus dem Probenprozess heraus: »A devised theatrical performance originates with the group while making the performance, rather than starting from a play text that someone else has written to be interpreted. A devised theatre product is work that has emerged from and been generated by a group of people working in collabo­ ration. Devising is a process of making theatre that enables a group of performers to be physically and practically creative in the sharing and shaping of an original product that directly emanates from assembling, editing, and re-shaping individuals' contra­ dictory experiences of the world.« (Oddey 1994: 1)

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Skizze zum Verlauf des Arbeitsprozesses von September 2011 bis Mai 2012 aus der Perspektive der Künstlerin (Mai 2012)

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Skizze zum Verlauf des Arbeitsprozesses von September 2011 bis Mai 2012 aus der Perspektive der Lehrerin (Juni 2012)

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dabei analog zur ihrer eigenen Theaterpraxis davon aus, dass sie dies mit der Form des Gesprächs oder der Diskussion würde erreichen können. Insofern dachte sie nicht über andere Formen nach, die weniger stark auf Verbalisierung beruhen, und suchte auch nicht im Gespräch mit der Lehrerin danach. 34 Im Unterschied zu dem von der Künstlerin formulierten Interesse an den Perspektiven der Schüler_innen hatte sie zu Beginn kein explizites Interesse an den Perspektiven und Interessen der Lehrerin. Zwar konnte sich die Künstlerin zu Beginn der Zusammenarbeit vorstellen, die Lehrerin in die Theaterarbeit einzubinden, bezog sich dabei aber auf die Ebene der Darstellung (»dass ich sogar überlege, ob man sie [die Lehrerin; SW] auch in die Schulgruppe als Bestandteil involviert und sie auf der Bühne zu sehen ist« [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]). Die Künstlerin betonte demgegenüber, dass sie sich auf die Schüler_innen einlassen und sie kennenlernen will (»erst mal interessiert mich, zu gucken, wie sind die Schüler. Ich will die wirklich erst mal kennen lernen […]« [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]) und dass sie den Schüler_innen keine Konzepte überstülpen möchte, weshalb sie im Vorfeld darauf verzichtete, mit der Lehrerin einen Projektrahmen zu konzipieren, wie es das Konzeptpapier zu JUMP  &  RUN – Schule als System nahelegt (s. Seite 42). Darüber hinaus finden sich in den beiden Interviews mit der Künstlerin keine Äußerungen, die darauf schließen lassen, dass sie aktiv das pädagogisch-didaktische Wissen und Können der Lehrerin erfragte, um daraus (gemeinsam) Ideen für das weitere Vorgehen zu entwickeln. Zudem gab es während der Zusammenarbeit keine eingeplanten Zeitfenster, in denen die Probenarbeit gemeinsam vor- und/oder nachbereitet wurde und solche Gespräche hätten geführt werden können.

 34 | Dass es hätte fruchtbar sein können, gemeinsam über verschiedene, weniger sprachbasierte Formen des Einstiegs in die Konzeptionsarbeit nachzudenken, zeigt eine Interviewpassage mit der Lehrerin. Darin stellt sie dar, wie sie die Schüler_innen im Rahmen eines Methodentrainings zum Lesen animiert, indem sie ihnen einen Berg von Zeitschriften zur freien Verfügung stellt und ihnen sagt: »›Jeder sucht sich eine Zeitschrift aus. Ihr habt eine Stunde, guckt einfach.‹ Wenn drei Viertel der Klasse dann vertieft da sitzen, schauen auch die, die sonst nie lesen, in die Hefte. Auch wenn die sich vielleicht nur ein Bild anschauen und dabei denken ›Ist ja jetzt interessant.‹, kommen sie dadurch in einen Austausch untereinander.« [Erste Interviewserie, Sep­ tember / Oktober 2011] Analog dazu nutzt die Performancegruppe She She Pop in einem auf DVD publizierten Workshop das Blättern / L esen von Magazinen als Einstieg in die inhaltlich-szenische Probenarbeit (Gob Squad: Do It Yourself – Step-by-step dvd, for 3 – 6hr workshop).

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Die Entscheidung zur Teilnahme der Schule am Projekt JUMP & RUN –  Schule als System wurde in diesem Fallbeispiel von der Lehrerin getroffen, nicht von den Schüler_innen (Lehrerin: »grade zu Anfang ist es ja keine freiwillige Sache der Schüler gewesen« [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]). Eine Schülerin verweigerte ihre Teilnahme und blieb – sofern schulorganisatorisch nicht anders möglich – am Rand sitzen. Innerhalb der Schüler_innengruppe gab es demgegenüber drei Schülerinnen, die auf das Angebot der Lehrerin zur Projektteilnahme positiv reagierten und die sich aktiv entschieden hatten, daran teilzunehmen. Der Spagat zwischen dem Projekt als Angebot und Möglichkeitsraum einerseits und verpflichtender Schulveranstaltung andererseits durchzog die Zusammenarbeit von Beginn. Der Umgang mit diesem Spannungsfeld wurde möglicherweise dadurch erschwert, dass die Künstlerin bis dato nur Erfahrungen mit jüngeren Schüler_innen hatte, die zudem keine Schwierigkeiten hatten, viel von sich aus einzubringen. Die in diesem Fallbeispiel zu Beginn auftretenden Blockaden waren für die Künstlerin frustrierend, zumal sie auf kein methodisches Wissen im Umgang damit zurückgreifen konnte. In dem Maße, wie es ihr im Laufe des Probenprozesses gelang, bei den Schüler_innen eine Akzeptanz zu erreichen und Reaktionen einordnen zu können, in dem Maße verbesserte sich das gemeinsame Arbeiten mit den Schüler_innen. Dabei veränderte sich die Perspektive der Künstlerin auf die Schüler_innen, die sie zu Beginn defizitär wahrnahm: […] mich interessiert, was bei denen ist. Und deswegen hat mich das so beschäftigt, dass ich hier am Anfang das Gefühl hatte, ganz ehrlich, wie oft bin ich nach Hause gekommen und hab meinem Freund oder Freunden erzählt ›da ist nix im Kopf‹. […] am Anfang waren für mich die Kinder der Grund, warum das nicht funktioniert: deren mangelnde Grundmotivation, die ich ihnen nicht beibringen kann, dass sie nichts im Kopf haben, dass man mit denen eigentlich überhaupt nicht arbeiten kann. Und das ging immer weiter weg. Es hatte für mich am Ende nichts mehr mit den Kindern zu tun, sondern mehr mit dem Drumherum. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Bereits der erste Workshop mit den Schüler_innen war für die Künstlerin insofern verstörend, als dass kein konstruktives Arbeiten möglich war –

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im Sinne von: sich gegenseitig zuhören, Vorschläge aufgreifen, besprechen, diskutieren, etwas ausprobieren. Ideen und Äußerungen gingen nach Darstellung der Künstlerin in einem Geflecht gegenseitiger Blockaden und destruktiver Kommunikation unter. Es ist zur Einordnung noch wichtig zu wissen, dass in diesem Fallbeispiel der erste Workshop-Termin mit der Kick-Off-Veranstaltung (23. 9. 2011) des Gesamtprojekts am Deutschen Theater (Berlin) zusammenfiel. An diesem Tag waren alle Projektbeteiligten sowie Förderer, Eltern und Kolleg_innen ins Deutsche Theater eingeladen, um einen gemeinsamen Start zu setzen. Während der Veranstaltung sollten die Schüler_innen jeder Schule den Ausgangspunkt ihres Projekts auf großer Bühne kurz präsentieren: Worum soll es bei ihnen gehen? Was wollen sie zusammen mit den Künstler_innen und Lehrer_innen verfolgen? Was interessiert sie an ›Schule als System‹? Dies hatte zur Folge, dass der erste Workshop nicht ausschließlich dem Kennenlernen dienen konnte, sondern mit der Erwartung verknüpft war, am späten Nachmittag etwas zu zeigen. Die Zusammenlegung von Workshop und Kick-Off war unter anderem dem Umstand geschuldet, dass die Projektleitung die Startphase sehr dicht geplant hatte, wobei der Kick-Off-Termin vor allem aus repräsentativen Gründen ebenfalls noch im September stattfinden sollte und nicht mit Blick auf die Bedürfnisse der Projektbeteiligten terminiert wurde. Der Zeitdruck der ersten Wochen wirkte sich in diesem Fallbeispiel nachteilig auf den Projektverlauf aus, was sich rückblickend daraus ableiten lässt, dass immer deutlicher wurde, wie wichtig seitens der Künstlerin die Arbeit auf der Beziehungsebene war, um eine gemeinsam geteilte Probensituation ohne Sanktionierungskorsett und Hackordnung herstellen zu können. Der von der Künstlerin präferierte Inszenierungsprozess (›Stückentwicklung‹) beruht auf Voraussetzungen, die danach verlangen, transparent gemacht zu werden, und/oder die einen didaktisch-pädagogischen Umgang erfordern, der das kunstanaloge Vorgehen unterstützt und der die Differenzen zum Wissen und Können der Schüler_innen produktiv zu machen weiß. Allerdings fanden, wie weiter oben bereits erwähnt, weder vor noch nach den Proben reflektierende Gespräche statt, in denen die Künstlerin und die Lehrerin ihre Wahrnehmungen hätten abgleichen können – beispielsweise mit dem Ziel, über einen Umgang mit dem unterschiedlich verteilten Wissen, Können und Interesse in der Gruppe nachzudenken. Die Lehrerin übernahm innerhalb der Zusammenarbeit überwiegend organisatorische und unterstützende Aufgaben. Sie sorgte für Absprachen

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mit Kolleg_innen und Eltern und sah sich in der Situation, die Anforderungen der Institution Schule mit denen des Projekts beziehungsweise der Künstlerin auszutarieren. Die Projektarbeit verlangte von ihr eine erhöhte Kommunikationsleistung und die Bereitschaft, sich teilweise auch dem Unmut von Kolleg_innen auszusetzen. Zum Teil wurde die Arbeitssituation dadurch verkompliziert, dass Schüler_innen von Mal zu Mal fehlten oder anderen Unterricht besuchen sollten. Denn dies brachte die Künstlerin in Bedrängnis, da bei Stückentwicklungsprozessen (insbesondere in der Entwicklungsphase) konstant die Beteiligung aller Spieler_innen erforderlich ist, was aber wiederum der Lehrerin aufgrund des eigenen Theaterverständnisses ›(Schul-)Theater als Umsetzung von Inhalten‹ nicht bewusst war (s. Seite 228). Umgekehrt entschied sich die Künstlerin des Öfteren für die Arbeit mit nur ein oder zwei Schüler_innen, was bei der Lehrerin immer dann zu Unzufriedenheit führte, wenn nicht klar zu sein schien, was die anderen in dieser Zeit machen sollten. Die Orientierung innerhalb des Probenprozesses – in welcher Phase machen wir was und warum, woran arbeiten wir gerade und wie – war sowohl für die Lehrerin als auch für die Schüler_innen bis in die letzte Probenwoche kaum oder zumindest nur schwer möglich. Nachfragen in dieser Richtung wertete die Künstlerin als kontraproduktiv für Stückentwicklungsprozesse, da diese offen sein sollen. Diese Sicht verdeckt jedoch, dass ›offenen‹ Such­bewegungen – zumindest implizit – spezifische ›Primärmuster‹ zugrunde liegen (s. Seite 298), die jedes künstlerisch-prozesshafte Handeln orientieren und den künstlerisch Agierenden einen Halt geben. Daran zeigt sich, dass eine fiktive Gleichheit im Umgang mit gegebener Ungleichheit hinsichtlich der Verteilung von Wissen und Können – nach dem Motto: ›Wir begeben uns alle auf eine Reise und wissen nicht, wohin sie uns führt‹ – dazu führen kann, Ungleichheit fortzuschreiben. Die Arbeit der Gruppe bestand am Ende des Prozesses in einer bildhaften Szenen-Collage mit einer darin integrierten Filmsequenz, in der bekannte Kommunikationsmuster und Situationen aus dem Schulalltag in einer seltsam ver- und überdrehten (Alp-)Traumlogik miteinander verknüpft waren. Die beteiligten Schüler_innen haben die Inszenierung im Rahmen des Abschlussfestivals im Mai 2012 öffentlich präsentiert. 4.1.2 Ausgangssituation der Lehrerin

Die an diesem Teilprojekt beteiligte Lehrerin war zum Zeitpunkt des Projekts gerade dabei, sich autodidaktisch mit Theaterarbeit an Schulen auseinanderzusetzen. Die Schulleitung hatte ihr die Verantwortung dafür

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übertragen, das Theaterprofil der Schule zu entwickeln. Sie recherchierte nach entsprechender Literatur, eignete sich lesend ein Repertoire an theaterpädagogischen Spielen und Übungen an, probierte sie aus und war auf der Suche nach entsprechenden Anregungen, was eine der Motivationen für sie war, am Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System teilzunehmen. Bereits vor diesem Projekt hatte sie aktiv den Kontakt zu einem Kinderund Jugendtheater gesucht, um dort für ihre Arbeit in der Schule eine begleitende Unterstützung zu erlangen. Die Lehrerin näherte sich ausgehend von ihrer Profession als Lehrerin dem ›Theatermachen‹. In ihrer Lehramtsausbildung hatte sie keine Erfahrungen mit zeitgenössischen Ästhetiken gemacht und orientierte sich sowohl vor als auch während des Projektzeitraums hinsichtlich ihrer Vorstellungen von (Schul-)Theater und des damit einhergehenden Probenprozesses am mentalen Konzept› Theater als Umsetzung von Inhalten‹ (s. Seite 228 ff.). Korrespondierend hierzu verfügte die Lehrerin über wenig Erfahrungen als Theaterbesucherin – bezogen auf die etablierten Berliner Sprechtheaterbühnen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich in manchen Passagen des prospektiven Interviews eine Unsicherheit hinsichtlich des von ihr sogenannten ›richtigen Theaters‹ im Unterschied zu soziokulturellen Angeboten. So befürchtete sie, dass die Schüler_innen von den proklamierten und/oder unterstellten Ansprüchen der beteiligten Theater überfordert sein könnten und sie das Interesse an der Theaterarbeit in dem von ihr angeleiteten WPU-Kurs 35 verlieren (dass also die Auf bauarbeit der Lehrerin einen Rückschlag erfährt, weil sich die für die Theaterarbeit gewonnenen Schüler_innen durch eine Negativerfahrung im Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System wieder abwenden). 4.1.3 Ausgangssituation der Künstlerin

Die Künstlerin hat ihre Ausbildung an einer Kunsthochschule für Regieund Schauspiel absolviert und hatte zum Zeitpunkt des Projekts als freischaffende Künstlerin in unterschiedlichen Konstellationen Theaterinszenierungen erarbeitet. Sie führte mit und ohne Textbasis selbst Regie oder entwickelte als Spielerin unter einer_m Regisseur_in szenisches Material.  35 | WPU-Kurs: WPU steht für Wahlpflichtunterricht. Laut Schulgesetz des Lan­ des Berlin erweitert und vertieft der Wahlpflichtunterricht den Pflichtunterricht. Er umfasst ein neigungsdifferenziertes Angebot, das sich auf das jeweilige Schul­ profil bezieht (z. B. ein naturwissenschaftliches und/oder Kunst / T heaterprofil). (Online unter: http://www.schulgesetz-berlin.de) [20.07.2015]

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Darüber hinaus arbeitete sie auch in kollaborativen Konstellationen, in denen die Inhalte und das szenische Material gemeinsam erarbeitet wurden und es keine Aufteilung in Regie und Spieler_innen gab. Insofern kannte die Künstlerin aufgrund von Ausbildung und Berufspraxis verschiedene Theaterentwicklungsprozesse und war es gewohnt, zwischen ihnen zu wechseln. Zu Beginn des Projekts verfügte die Künstlerin bereits über Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Schüler_innen. So arbeitete sie zum Beispiel im Rahmen von TUSCH 36 mehrmals mit einer Grundschulklasse. Im prospektiven Interview hob die Künstlerin die reglementierend-disziplinierenden Aspekte von Schule hervor und verwendete Sprachbilder, in denen Schule als Institution figuriert, die die Schüler_innen auf ein instrumentelles, kausal-logisches Denken hin konditioniert. In ihrer Perspektive entindividualisiert Schule und trägt zu einer Konformität der Schüler_innen bei und/oder wirke dieser nicht entgegen: Künstlerin: Es geht zu einer bestimmten Uhrzeit los und meistens beginnt der Unterricht mit dem Klingelton. Jede Schule hat diesen Klingelton. Und dann bewegen sich, wenn man sich das von weitem betrachtet, Massen. Das ist dann gar nicht mehr so individuell. Das sind dann Massenbewegungen von Schülern in den Klassenraum. Die eine Masse geht nach da und die andere geht nach da. Und man hat das Gefühl, es handelt sich um vorgefertigte Linien. Wie in der Mathematik, wenn der Mathe-Lehrer 37 vorne an der Tafel steht, ein grafisches Diagramm hinmalt und Linien zeigt. Und die Punkte dazwischen, die werden einfach nicht berücksichtigt. Und das interessiert mich, weil ich mich frage, was ist mit diesem ›Dazwischen‹? [erste Interviewserie, September / Oktober 2012]

 36 | TUSCH steht als Abkürzung für ein 1998 in Berlin gestartetes Kooperationsmodell zwischen Theater und Schulen, das auch auf andere Bundesländer ausstrahlte. Im Zen­ trum steht die Gestaltung einer aktiven, gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen Theatern und Schulen des Landes Berlin. Jährlicher Höhepunkt ist die TUSCH-Festival­ woche, in deren Verlauf Projekte aus den Zusammenarbeiten präsentiert werden.  37 | Der typisierte Mathematik-Lehrer wird im prospektiven Interview der befragten Künstlerin noch ein weiteres Mal angeführt: »Und man merkt, sie [die am Projekt be­ teiligte Lehrerin; SW] hat eine andere Sensibilität als jetzt vielleicht ein Mathe-Lehrer […].« Dabei bezieht sich die Künstlerin zwar darauf, dass sich die am Projekt beteiligte Lehrerin methodische Hinweise für die eigene Arbeit verspricht und – so die Vermutung

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Indem sich die Künstlerin als Anwältin für das ›Dazwischen‹ sieht, spannt sie den Gegensatz zwischen Konformität / Uniformierung (»Massen­ bewegungen«) sowie Entfremdung (»vorgefertigte Linien«) einerseits und dem Abweichend-Heterogenen andererseits, das »dazwischen« liegt, auf. Da sie im Interview von ihrer Künstlerin-Subjektposition aus spricht, spiegelt sich darin ihre kunstfeldinterne Perspektive, in der ›Theater‹ für individuellen Ausdruck und non-konformistisches Handeln steht, während Schule auf die Gegenposition fixiert wird. Theater respektive die Kunst werden von ihr als gesellschaftliche Bereiche aufgefasst, in denen Raum für das von ihr angesprochene ›Dazwischen‹ ist, während Schule – im Zeichen einer technizistisch aufgefassten (Natur)Wissenschaft – das ↘ Subjekt auf Berechenbarkeit, Ordnung und fremdbestimmte Konformität reduziert. Das von ihr verwendete Bild von der entindividualisierten Masse lädt das Wort ›dazwischen‹ ethisch-normativ auf. In Kombination mit dem kultursoziologisch und psychologisch geprägten, ideologisch ambivalenten Begriff ›Masse‹ 38 erinnert es an ↘ Diskurse, in denen ›Masse‹ in abwertender Weise (inhuman, ideologisch verblendet) verwendet wird und metaphorisch für eine zunehmende Entfremdung ›des Menschen‹ im Zuge der Industrialisierung steht (Kulturindustrie, Massenunterhaltung). – anders beteiligt sein wird als der_die Lehrer_in eines beliebigen anderen Fachs. Aber es ist eben wieder ›der Mathe-Lehrer‹der als Gegenbild herangezogen wird.  38 | Als historische, für das Alltagsverständnis des Begriffs ›Masse‹ bis in die Gegen­ wart hinein einflussreiche Quelle kann das Hauptwerk von Gustave Le Bon ›Psychologie des foules‹ (dt.: Psychologie der Massen«) von 1895 gelten. In seiner breit rezipierten Studie prägte Le Bon u. a. die Sichtweise, dass das Individuum seine spezifischen Be­ sonderheiten und seine kritikfähige Vernunft im Zuge seines Aufgehens in einer Masse verliert. Le Bon verlieh dem Begriff der Masse aus bildungsbürgerlich-elitärer Pers­ pektive eine tendenziell kulturpessimistische Bedeutung. In ihrem Soziologie-Hand­ buch zur historischen Kontextualisierung einschlägiger Begriffe schreibt Gertraude Mikl-Horke: »So richtig manche Erkenntnisse Le Bons in Bezug auf kollektives Verhalten auch später im Lichte sozialpsychologischer und soziologischer Erkenntnisse waren, so sehr war der Begriff ›Masse‹ mystifizierend und ideologisch gefärbt. Masse – das war das Anathema für den Individualismus und Rationalismus des 19. Jahrhunderts, das war aber auch unvereinbar mit den Idealen des Liberalismus und der liberalen Demokratie […].« (Mikl-Horke 2011: 65) Dass die Künstlerin den Begriff ›Masse‹ mit den vorgefertigten Linien aus dem Ma­ thematikunterricht als Sinnbild für kausal-logisches, rationales und dadurch auch im Voraus berechenbares Denken / Handeln in Zusammenhang bringt, könnte auf das Bild einer zerstörerischen Vernunft / Rationalität hinweisen; also eine Rationalität, die sich gegen das Individuum wendet, indem sie durch Kontrolle die bestehende Kontingenz sozialer Wirklichkeit ›in den Griff‹ bekommen möchte.

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4.1.4 Zusammenspiel und Auswirkungen mentaler Konzepte auf den Probenprozess im ersten Fallbeispiel

Im Folgenden (re)konstruiere ich die Auswirkungen des Zusammenspiels vorhandener mentaler Konzepte von (Schul-)Theater und vom Proben (hier synonym für ›Theatermachen‹) auf den Probenprozess am konkreten ›Fall‹. In den Blick rücken dabei: die Gestaltung des Probenprozesses, eine unterschiedliche Einschätzung zum Umgang mit ›Zeit‹ sowie Deutungsroutinen im Umgang miteinander. 4.1.4.1 Unterschiedliche mentale Konzepte vom Theatermachen: Wer orientiert sich woran und auf welcher Grundlage?

Während die Lehrerin zumindest zu Beginn der gemeinsamen Proben­ arbeit vom Konzept ›(Schul-)Theater als Umsetzung von Inhalten‹ (s. Seite 228 ff.) ausging, verfolgte die Künstlerin einen Stückentwicklungsprozess im Sinne von ›devising theatre‹ (s. Fußnote 33). An das mentale Konzept ›(Schul-)Theater als Umsetzung von Inhalten‹ knüpfen sich jedoch andere Vorstellungen darüber an, wie sich ein Probenprozess gestaltet, als an Stückentwicklungsprozesse. Insofern gab es zu Beginn der Zusammenarbeit – unausgesprochen – unterschiedliche mentale Konzepte vom Theatermachen. Da die Lehrerin im Unterschied zur Künstlerin über wenig Wissen / Erfahrung sowohl hinsichtlich der Pluralität bestehender Theaterformen als auch hinsichtlich des Theatermachens verfügte, kannte sie weder Stück­ entwicklungsprozesse noch Theater-Performances. Sie konnte dadurch die Arbeitsschritte der Künstlerin nicht antizipieren, da ihr die offen-iterative Suchbewegung in der Erarbeitung von Material nicht bekannt war. Sie war zudem nicht geübt darin, aus einer Probensituation heraus auf mögliche Weiterentwicklungen zu schließen: Lehrerin: […] wo vielleicht auch für die Schüler manchmal nicht so klar war, wo soll es überhaupt hingehen? So diese Nachvollziehbarkeit für Nichtkünstler, für Laien: Wo soll es hingehen? Warum machen wir das jetzt? (lacht) Ja, im Nachhinein ist mir das schon klar. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Die Frage nach dem ›Wohin?‹ und nach dem, was am Ende zu sehen sein wird, wird von Lehrer_innen häufig zu Beginn von Theaterprojekten gestellt und seitens Künstler_innen ebenso häufig als ›typisch Lehrer_in‹

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oder ›typisch Schule‹ aufgefasst, sofern es dem eigenen Bild von Schule entspricht. Dabei entspringt diese Frage eher dem Bedürfnis, sich innerhalb eines Probenprozesses orientieren zu können. Denn aufgrund der Unterschiede in den Konzepten von Theater / T heatermachen sowie des ungleich verteilten impliziten Praxiswissens bezüglich der Pluralität von Theater fehlten der Lehrerin die Anknüpfungspunkte, um sich selbst und die Schüler_innen im Stückentwicklungsprozess verorten zu können. Ebenso wenig war es ihr möglich, sich sinnvoll einzubringen. Mit ›sich einbringen‹ meine ich anschlussfähige Vorschläge machen zu können, die von der Künstlerin anerkannt werden. Oder auch Überlegungen anstellen zu können, welches Potenzial in Spiel-Anlagen, szenischen Improvisationen etc. liegt und wohin dieses Potenzial geführt werden kann. Lehrerin: Wir haben dann im Nachhinein [nach den Proben; SW] immer noch mal gesprochen, dass man vielleicht Spiele einbaut, um die Konzentration mal wieder zu fördern. Aber eigentlich war doch Anna diejenige, die so ihren Plan hatte, weil sie wusste, wo sie hinwill mit den Schülern. Auch mit den Ideen von dem aus, was sie gesehen hat, was daraus entstehen soll. Und das ist eben doch eine andere Denkweise, als ich sie habe. [zweites Interview, Mai / Juli 2012]

Das Potenzial von (performativ-szenischem) Material ›sehen‹ zu können, gehört zum impliziten Praxiswissen von Theaterkünstler_innen, das im Sinne einer ›generativen Grammatik‹ 39 ebenso handlungsleitend wie  39 | Generative Grammatik: Konzept und Begriff wurden durch den Sprachwissen­ schaftler Noam Chomsky geprägt und beruhen unter anderem auf der Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz. ›Kompetenz‹ bezieht sich auf die potenzielle Fähigkeit von Sprecher_innen, sinnvolle Sätze zu bilden. ›Performanz‹ bezieht sich auf den tatsächlichen Gebrauch, also die Aktualisierung der Kompetenz, die mitun­ ter regelabweichend sein kann (wenn man z. B. aus Müdigkeit Wörter weglässt oder sie falsch ausspricht). Der Begriff ›generative Grammatik‹ bringt zum Ausdruck, dass nicht-bewusste Strukturen (mental verankerte Prinzipien über die Art und Weise, wie Sätze gebildet werden können) die (Re)Produktion von Neuem (jede_r ist in der Lage, Sätze zu sprechen, die sie/er vorher noch nicht gehört hat) ermöglichen. Chomskys Grundannahme besteht darin, dass sich – bspw. durch Sozialisierung – mental veran­ kerte ›Prinzipien‹ (Kompetenz) in der Performanz zeigen. Analog dazu schlage ich vor, dass mit Blick auf Probenprozesse ebenfalls generative, also erzeugende (aber meist nicht-bewusste) ›Regeln‹ dafür sorgen, in kontingentem Material ›künstlerisches‹ Potenzial zu erkennen und entlang von Entscheidungen (Performanz) etwas Neues daraus entstehen zu lassen, das im Wertungshorizont des Kunstfeldes ›Gültigkeit‹ be­ anspruchen kann. Künstlerische Artikulation erscheint in dieser Perspektive wie das

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innovierend wirkt (siehe dazu auch das Unterkapitel zu den ›Primärmustern‹ auf Seite 298). Wird dieses Praxiswissen nicht durch gemeinsame Ausbildungs- und/oder Arbeitserfahrungen miteinander geteilt oder im Sinne einer reflexiven Praxis bewusst gemacht, ist es der Lehrerin kaum möglich, die nächsten Schritte im Probenprozess zu antizipieren. Neben der mangelnden Möglichkeit, sich innerhalb des Probenprozesses verorten zu können, zeigt die zitierte Passage zudem, dass die Lehrerin davon ausgeht, dass die Künstlerin die ganze Zeit »ihren Plan hatte«. Demgegenüber fand aus Sicht der Künstlerin eine ›offene‹ Suchbewegung statt, bei der sie auf das reagierte, was ihr in Improvisationen etc. ›entgegenkam‹ und es mitnichten einen Bogen oder Plan gab. Künstlerin: […] von Marion [Theaterpädagogin und Projektassistentin, SW] kam ziemlich schnell die Frage: Was ist das Konzept, was ist der Bogen, wie wird das Stück aussehen? Eine Frage, die sowohl die Lehrerin am Anfang – sofort – als auch die Schüler gestellt haben. Nachdem ich gemerkt habe, es wird mit den Schülern kein gemeinsames konzeptionelles Arbeiten möglich sein, hat es gedauert, bis ich denen begreifbar machen konnte, dass sie jetzt wirklich ein Stück entwickeln. Und wenn man eine Stückentwicklung macht und erst mal Material sammelt, gibt es keinen Bogen. Es ist einfach so. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Auf die Lehrerin machte die Probenarbeit jedoch den Eindruck, als hätte die Künstlerin einen Plan, weil sie in der Lage war, Dinge von den Schüler_innen aufzugreifen und fortzuführen (»weil sie wusste, wo sie hinwill mit den Schülern«). Aus der Perspektive der Künstlerin erschien die eigene Vorgehensweise hingegen als ungeplant, suchend und nicht-vorauswissend. Beides ist wahr, wenn man davon ausgeht, dass eine Suche (als Metapher für Probenprozesse) einerseits unbestimmt sein kann, andererseits etwas vorhanden sein muss, das die Suche anleitet (im Sinne von: Man weiß, was man gesucht hat, nachdem man es gefunden hat). Was muss man ›wissen‹, um in einem Probenprozess, der als Stückentwicklung angelegt ist, (mit)suchen zu können? Was leitet die Suche an?

Sprechen einer Sprache. Vgl.: http://universal_lexikon.deacademic.com/242359/gene­ rative_Grammatik [20.07.2015]

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Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Suchbewegung der Künstlerin nicht richtungs- beziehungsweise voraussetzungslos ›offen‹ ist, sondern durch implizite ästhetische Kategorien strukturiert wird: Künstlerin: Katharina hat die Schüler_innen immer wieder etwas schreiben lassen und ich habe mir das durchgelesen und dachte: ›Okay, zuständlich, ne, lassen wir raus‹ oder ›mmh, ja da, steckt etwas Interessantes drin‹. Also insofern triffst du natürlich Entscheidungen – ästhetische, künstlerische; aber es interessiert mich nicht, denen etwas überzustülpen. Mein Ansatz ist wirklich, deswegen bin ich da auch so abhängig: Was kommt aus denen? [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Begriffe wie ›zuständlich‹ oder auch Umschreibungen wie ›da steckt etwas Interessantes drin‹ verweisen auf kunstfeldintern geteilte Vorstellungen und Primärmuster (s. Seite 298), anhand derer die Künstlerin entscheidungsfähig ist, weil diese ihre Suchbewegung zu orientieren helfen. Dabei ist festzuhalten, dass auch die Lehrerin auf Grundlage ihres mentalen Konzepts von Theater (›Theater als Umsetzung von Inhalten‹) ebenfalls in der Lage gewesen wäre Entscheidungen zu treffen und handlungsfähig zu sein. Nur dass es eben eine andere Grundlage in einem anderen Wertungshorizont gewesen wäre, als diejenige der Künstlerin, deren Perspektive und Handeln entlang impliziter Primärmuster vom Feld künstlerischer Produktion informiert ist. Zweifelsohne führen verschiedene Informiertheiten und mentale Konzepte zu unterschiedlichen Probenprozessverläufen und dadurch auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Allerdings ist mit dieser Feststellung nichts über die Lernprozesse der Schüler_innen gesagt. Denn auch wenn das ästhetische Ergebnis ein anderes sein mag, können die Schüler_innen auf beiden Wegen durchaus ähnliche, persönlichkeitsbildende Dinge erfahren und lernen. 4.1.4.2 Unterschiedliche Bewertungen des Umgangs mit Zeit: »wo ich für mich manchmal denke ›oahh, unproduktiv‹.«

Das unterschiedlich verteilte Praxiswissen über Stückentwicklungsprozesse und dessen Logiken und Bedarfe sorgte auch für eine unterschiedliche Bewertung des Umgangs mit Zeit. Denn der Umgang mit Zeit ist in Stückentwicklungsprozessen ein anderer als in Prozessen, in denen Inhalte szenisch-darstellend ›umgesetzt‹ werden. So setzt ein

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Stückentwicklungsprozess voraus, dass alle Beteiligten anwesend sein müssen, damit das Material, aus dem die Inszenierung am Ende bestehen wird, sich sukzessive durch die Beteiligung aller entwickeln kann. Der Probenprozess ist zugleich der Inszenierungsentwicklungsprozess und das entstehende Material ein Aufzeichnungsmedium für all die Auseinandersetzungen (im weitesten Sinne), die sich während dieser Zeit in, mit und zwischen den Beteiligten ereignen (vgl. Matzke 2012: 100 ff.). Wenn man von einem Stückentwicklungsprozess ausgeht, dann erscheint es als selbstverständliche Notwendigkeit, dass alle beteiligten Schüler_innen an den vereinbarten Probenterminen teilnehmen können müssen und nicht kurzfristig durch anderweitige Schulveranstaltungen ›verplant‹ werden. Es geht in Stückentwicklungprozessen darum, mit Potenzialen – also dem Möglichen – zu arbeiten. Fehlen Schüler_innen, verändert sich das Potenzial dessen, was möglich ist, da sich die Abwesenden nicht zu dem, was entsteht, in Beziehung setzen können (durch eine Aktion, einen Satz, aber auch durch Nicht-Tun etc.). Da das ›Proben‹ in einem Stückentwicklungsprozess mehr umfasst als die Arbeit an einer Szene, gibt es keine ›unproduktive‹ Zeit. Viel mehr verhält es sich so – zumindest für diejenigen, die Stückentwicklung als Prozessverlauf kennen und praktizieren –, dass auch Leerlauf oder scheinbar fruchtlose Versuche als dazugehörig akzeptiert werden, da sich gerade aus Unlustmomenten interessante Situationen entwickeln können, die Impulse für die weitere Arbeit geben (vgl. dazu auch Punkt 4.2.4.3 auf Seite 279). Wenn daher Schüler_innen nicht zu den Proben kommen können, kann kein Inszenierungsmaterial entstehen beziehungsweise der Prozess stockt so sehr, dass aus Sicht von Künstler_innen das Arbeitsmodell ›Stückentwicklung‹ und damit der gesamte Prozess gefährdet sind. So auch in diesem Fallbeispiel, in dem die Künstlerin häufiger damit konfrontiert war, dass einzelne Schüler_innen kurzfristig nicht zum Proben kommen konnten, was aus Sicht der Lehrer_in wiederum zu Schule dazugehört (zumal sie von ihrem Standpunkt aus schon sehr viel an Schulzeit für das Projekt ›herausgeschlagen‹ hat). Diese unterschiedliche Wertung – ›ohne verlässliche Teilnahme keine Stückentwicklung‹ einerseits und ›man muss immer einen Plan B haben‹ andererseits – bildete einen neuralgischen Punkt in der Zusammenarbeit. Aus der Perspektive der Lehrerin ist die Sichtweise der Künstlerin mangels Nähe zum künstlerischen Feld nicht nachvollziehbar und wird von ihr teilweise als überzogen empfunden. Da sie von einem (Schul-) Theater- und Probenverständnis ausgeht, bei dem ein Text oder eine Idee

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szenisch-darstellend ›umgesetzt‹ wird, erscheint ihr die Aufteilung in einzelne Prozessschritte auf dem Weg zur Umsetzung als zwingend und evident: Lehrerin: […] es ist eben doch eine andere Arbeitsweise, wie ein Künstler arbeitet oder wie man als Lehrer arbeitet. Selbst wenn ich hier meine Theater-AG habe. Da geht es ›zack-zack-zack‹, da muss ich eben wissen, wo ich hinwill. Ich meine, ich bin noch nicht dabei, Sachen selber zu entwickeln – sondern ich übernehme und arbeite dann mit den Schülern darauf zu und da muss ich eben sehr zielorientiert sein und meine Zeit, die ich habe, eben so eintakten und schauen, dass es dann auch hinhaut. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Die Empfindlichkeit der Künstlerin, wenn zu vereinbarten Terminen aus schulorganisatorischen oder privaten Gründen kurzfristig dann doch nicht alle Schüler_innen da sein konnten, kann aus einer solchen Perspektive nicht nachvollzogen werden und erscheint als Anspruchsdenken. Verstärkt wurden die unterschiedlichen Wahrnehmungen noch dadurch, dass die Lehrerin das offene, tentative Suchen der Künstlerin in manchen Phasen als unproduktiv empfand. Im Rückblick, nachdem es entlang der Arbeitsweise der Künstlerin gelungen war, ein ›Stück-Ganzes‹ zu formen – relativiert sie diese Einschätzung: Na ja, es ist dann dieser Zeitfaktor. Also dass teilweise – aber das ist vielleicht eben auch ein Unterschied, wenn es dann künstlerisch ist – wo ich für mich manchmal denke ›oahh, unproduktiv‹. Was es aber, denke ich, im Nachhinein, gar nicht war. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Umgekehrt kann die Künstlerin den Bedarf der Lehrerin und der Schüler_innen nach Planbarkeit und Orientierung hinsichtlich des Arbeitsprozesses nicht als sinnvoll anerkennen und daher auch nicht aktiv Sorge dafür tragen. Beides konnotiert sie im Kontext Schule als didaktisch-ergebnisorientiert und damit nach ihrem Verständnis als kunstfern. Zudem würden Poster mit einer darauf abgebildeten Abfolge von Arbeitsschritten bei der aktuellen Probe deren Status als Lehr-Lern-Situation unterstreichen und damit der Informalisierungsstrategie der Künstlerin

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entgegenwirken. Denn diese zielt darauf ab, das Theaterprojekt von Schule abzugrenzen. Mit Informalisierungsstrategie meine ich verallgemeinernd Praktiken, die innerhalb einer kollaborativen Arbeitssituation zum Ziel haben, formelle Umgangsformen durch informelle zu ersetzen. Dazu gehört beispielsweise das informelle ›Du‹, das Schüler_innen gegenüber den Künstler_innen gebrauchen können, häufig aber nicht gegenüber den Lehrer_innen. Ähnliches gilt für die Äußerung von Schimpfwörtern im Rahmen von szenischen Improvisationen, die als authentisch (als ›echte‹ Äußerung) erscheinen, weil sie ›unzensiert aus den Schüler_innen kommen‹. Dabei entspricht die Informalisierung den Notwendigkeiten professioneller Theaterpraxis, da sie das Einbringen von Persönlichem und von Persönlichkeit unterstützen soll, was nicht gleichbedeutend ist mit ›Privatem‹ oder ›Privatheit‹. Denn angestrebt wird ein hoher Grad der intellektuellen, psychischen, mentalen, emotionalen und physischen Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten, die als die Personen gefragt sind, die sie sind. Formalisierte Umgangsformen (bspw. das Siezen) stehen diesem Anliegen aufgrund ihrer Nähe zu Konventionen und sozial erwünschtem Verhalten entgegen. In der Tendenz heißt dies für Theaterprobenprozesse an Schulen, die als Stückentwicklungsprozesse durchgeführt werden, dass der Kontext Schule von Seiten der Künstler_innen ausgeblendet und dadurch punktuell herausgefordert wird (bspw. im Hinblick auf die Sozialstruktur und auf die Strukturierung von Zeit: Wer kann und darf welche Zeitansprüche an wen stellen? Wer bestimmt über die Verteilung von Zeit auf welcher Grundlage?) Mit Blick auf schulische Zeitstrukturen kann Informalisierung bedeuten, dass Künstler_innen Pausen situationsabhängig vereinbaren möchten oder dass situationsabhängig gemeinsam überlegt werden soll, was als Nächstes sinnvoll zu tun wäre. Der Abstand zwischen einer solch wenig strukturierten Form der Zusammenarbeit und einer stark strukturierten Form kann die Beteiligten überfordern, wenn es keinen aktiven Umgang damit gibt, dass die gewohnte Ordnung zumindest partiell zugunsten einer anderen Ordnung aufgehoben wird (indem bspw. nicht das Pausensignal von außen die Struktur vorgibt, sondern eigene Bedürfnisse mit denen einer Gruppe abgeglichen werden müssen). Dies ist insbesondere dann herausfordernd, wenn wenig strukturierte Arbeitsformen weitgehend ungewohnt sind und/oder nicht ›erlernt‹ wurden.

Der geschulte Blick

Arbeitet die Künstlerin mit einzelnen Schüler_innen, ohne dass für die anderen eine im Vorfeld abgesprochene und vorbereitete Alternative vorgesehen ist, stellt dies eine Infragestellung gewohnter, institutionalisierter Arbeitsstrukturen dar – die immer auch mit Professionsverständnissen verknüpft sind – und kann darüber hinaus für die Lehrerin auch schulrechtlich problematisch sein: […] es ist eben schwierig, wenn man mit einzelnen Schülern arbeiten will. Was macht man mit den anderen? […] zwischendurch gab es Leerlaufphasen, weil nur mit Einzelnen gearbeitet wurde. Und da hätte man vielleicht noch einen gebraucht, der das in der Hand hat und dann koordiniert. Auch bei uns im Team: Wie machen wir das jetzt? Mit dem muss das gemacht werden, mit dem muss das gemacht werden. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Aus Sicht der Lehrerin wäre es wichtig gewesen, sich im Vorfeld auf Eventualitäten einstellen zu können und zu wissen, wer mit wem und zu welchem Zweck arbeitet. Insofern fehlte der Künstlerin an dieser Stelle eine Vermittlungskompetenz hinsichtlich ihrer eigenen Arbeitsweise, die sie – vermutlich – als ›State of the Art‹ (im Sinne von: aktuelle, gemeinhin bekannte Verfahrensweise) voraussetzte. 4.1.4.3 Deutungsroutinen: »[...] es ist eben doch eine andere Arbeitsweise, wie ein Künstler arbeitet oder wie man als Lehrer arbeitet«

Die Unterschiede in den Konzepten vom Theater und vom Theatermachen zwischen Lehrerin und Künstlerin machten sich im Arbeitsprozess zwar bemerkbar, wurden als solche aber nicht bewusst angesprochen und reflektiert. Vielmehr wurden die durch die Unterschiede erzeugten ›Irritationen‹ mittels vorhandener Konzepte vom Anders-Sein des Anderen ›weg-plausibilisiert‹. So ›bestätigte‹ beispielsweise die von der Lehrerin an die Künstlerin gerichtete Frage nach dem Bogen oder dem Ziel der Theaterproben deren Bild eines ergebnisfixierten Unterrichts. Die Lehrerin hingegen erklärte sich die Undurchsichtigkeit des Arbeitsprozesses der Künstlerin damit, dass Künstler_innen eben anders arbeiten würden als Lehrer_innen, dass sie ›anders‹ wahrnehmen, schauen, denken:

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Lehrerin: […] es ist eine andere Denkweise. Man kuckt anders auf Sachen, glaube ich, wenn man künstlerisch … man schaut von vornherein bestimmte Sachen anders an […]. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Lehrerin: […] es ist eben doch eine andere Arbeitsweise, wie ein Künstler arbeitet oder wie man als Lehrer arbeitet. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Aber eigentlich war doch Anna diejenige, die so ihren Plan hatte, weil sie wusste, wo sie hinwill mit den Schülern. Auch mit den Ideen von dem aus, was sie gesehen hat, was daraus entstehen soll. Und das ist eben doch eine andere Denkweise, als ich sie habe. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Das von der Lehrerin im retrospektiven Interview als ›anders‹ markierte Wahrnehmen und Denken von Künstler_innen fand in den mentalen Konzepten der Künstlerin eine komplementäre Entsprechung – und zwar in der von ihr reproduzierten Differenz zwischen Schule / Lehrer_insein einerseits sowie Theater / Künstler_insein andererseits. Theater repräsentiert für sie das ›Andere‹ zur Schule und bezieht seine Bedeutung aus der Relation zum Kontext Schule. Die Relation entspannt sich entlang der folgenden, fixierenden Entgegensetzungen seitens der Künstlerin: •

Während Schule für die Künstlerin eine Institution zur Re­produktion von Denk- und Verhaltensmustern (»vorgezeichnete Linien«) darstellt, besteht die Rolle von Kunst / T heater aus Sicht der Künstlerin darin, diese zu durchkreuzen (= die vorgezeich­neten Linien verlassen, hinter verschlossene Türen schauen).

• Kunst folgt in der Perspektive der Künstlerin keinen ›sturen Regeln‹, während Schule zur Einhaltung von Regeln disziplinieren will. • Schule beruht auf ›richtig‹ und ›falsch‹. Die Künstlerin fragt demgegenüber: »Was ist mit dem Dazwischen?« (sinngemäßes Zitat aus dem ersten Interview mit der Künstlerin)

Der geschulte Blick

• Kunst / T heater lässt sich nicht planen. – Schule beruht auf Planung und auf Zielen. • Schule bedeutet für die Künstlerin Anpassung, während Theater für unangepasste Individualität steht. • Kunst bedeutet für die Künstlerin Individualität, Schule steht für Fremdbestimmtheit. In diesen von mir aus dem Interviewmaterial mit der Künstlerin paraphrasierten Entgegensetzungen spiegeln sich die Vorstellungen der Künstlerin vom Anderssein des Theaters (und ihrer selbst als Künstlerin) in Bezug auf Schule. Gleichwohl finden sich in den ex-negativo-Abgrenzungen implizite Bildungsvorstellungen, die dem Theater zugeschrieben werden: unangepasstes Denken und Handeln, Individualität, ein Blick für Grautöne und für das, was ausserhalb des Gewohnten und Normativen liegt. Der ›Horizont‹ solcher Vorstellungen liegt insbesondere im Eintreten für individuelle Selbstbestimmtheit gegenüber gesellschaftlichen Ansprüchen begründet. Wenn nun – so legen es Äußerungen dieser und anderer Künstler_innen nahe – das Theater Raum für das Singuläre (d. h. das konkrete Einzelne, das Spezifisch-Besondere) bietet, während Schule ausschließlich mit dem Allgemeinen (d. h. Identität, soziale Ordnung, System, Arbeitsmarkt) assoziiert wird, so unterliegt dieser Differenz eine ethisch-symbolische Aufladung, die einen wesentlichen Anteil der ↘ Illusio (s. Seite 83) des Kunstfeldes ausmacht. Theater bezieht sein ↘ symbolisches Kapital (s. Seite 78) mitunter aus der feldspezifischen Illusio, das Andere der Ordnung zu sein beziehungsweise dieses Andere zu repräsentieren und zu einem Umgang mit diesem Anderen herauszufordern. Sofern nicht bewusst dagegen gearbeitet wird, agiert Theaterarbeit an einer Schule – insbesondere wenn sie im Auftrag einer Theaterinstitution durchgeführt wird – im Sinne dieser Illusio und reproduziert dadurch die ihr eingeschriebene Differenz zur Schule. Die Theaterarbeit kann auf diese Weise nicht dazu beitragen, die gewohnten Deutungsmuster hinsichtlich Schule und Theater zu verschieben. Denn in der binären Konstellation – Schule = das Allgemeine / die Ordnung versus Kunst = das Andere / Singuläre – wird Schule auf diese Position fixiert, um dadurch die Identität der Künste als das ›Andere‹ zu bestätigen. Die Kritik an der Institution Schule sorgt dann dafür, dass die bestehenden Bilder vom Anderen in ihrer binären Entgegensetzung nicht verflüssigt, sondern fixiert und bestätigt werden.

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Diese Art strukturell verankerter Verkennung des Anderen führt in letzter Konsequenz dazu, dass alle Beteiligten (Lehrer_innen, Künstler_innen, Schüler_innen, Künstlerische Leitung etc.) die ihnen zugewiesenen ↘ Subjektpositionen beibehalten und individuelle Bildungsprozesse im Sinne von Veränderungen der eigenen mentalen Konzepte und subjektiven Theorien ausbleiben.

4.2 Case Study 2 4.2.1 Zusammenfassende Darstellung

Im zweiten Fallbeispiel arbeiteten eine Lehrerin (Kathrin) und eine Künstlerin (Milena) mit Schüler_innen eines DS-Kurses der 7. Jahrgangsstufe zusammen. Die ehemalige Hauptschule ist seit der Schulreform 2010 / 1 1 als Integrierte Sekundarschule verfasst. Bereits zuvor gab es seitens der Lehrer_innenschaft und der Schulleitung Initiativen, um die Schule zu einem inkludierenden Lern- und Lebensort zu entwickeln. Die Bemühungen resultierten unter anderem darin, dass die Schule 2010 einen Erweiterungsbau (mit Mensa und Bibliothek) erhielt, um den Schüler_innen als gebundene Ganztagsschule attraktive Freizeit- und Nachmittagsangebote machen zu können. Zum Schulprofil zählt auch, dass Unterrichtsformen praktiziert werden, die eine Individualisierung des Lernens und eine Binnendifferenzierung ermöglichen und die im Teamteaching durchgeführt werden. An der Zusammenarbeit zwischen Künstlerin und Lehrerin waren zu unterschiedlichen Graden und Zeitpunkten eine Dramaturgin (Johanna) und eine Projektassistentin (Claudia) beteiligt. Die Zusammenarbeit zwischen Künstlerin, Lehrerin und den Schüler_innen begann im September 2011, wurde dann aber von einer mehrmonatigen Abwesenheit der Künstlerin unterbrochen. Ab Ende Januar 2012 kam sie wieder regelmäßig einmal pro Woche für 1,5 Stunden in die Schule. Zusätzlich wurden Projekttage und eine Projektwoche vereinbart. Die begleitende Dramaturgin war in probenvorbereitende Gespräche zwischen Künstlerin und Lehrerin eingebunden und je nach Projektphase auch bei den Proben vor Ort präsent. Die Projektassistentin kam ab Mitte April 2012 hinzu, um das Projektteam ca. vier Wochen vor der öffentlichen Präsentation im Theater HAU Hebbel am Ufer (11. + 12. Mai 2012) bei den vermehrt anfallenden organisatorischen Aufgaben sowie bei der Kommunikation mit den Theatern zu entlasten.

Der geschulte Blick

Der Probenprozess enthielt folgende Elemente, die zeitlich ineinander verschränkt waren: Themenfindung, Recherche / Materialentwicklung anhand von Improvisationen und Aufgaben, Bearbeitung des entwickelten Materials, Montage. In diesem Fallbeispiel wurde bereits während der Startphase des Projekts im September 2011 ein Thema gefunden und zwar im Rahmen eines Gesprächs zwischen Künstlerin, Lehrerin und zwei Schüler_innen des beteiligten DS-Kurses, die als Delegation ins Deutsche Theater kamen. 40 Bei diesem Treffen gelang es, ein Thema zu finden, das für alle Beteiligten aus je unterschiedlichen Gründen von Interesse war und das auch bei den anderen Schüler_innen des DS-Kurses auf positive Resonanz traf. Während der Phase der Abwesenheit der Künstlerin ab Mitte Oktober 2011 verfolgte die Lehrerin mit dem DS-Kurs wie vereinbart das gefundene Thema weiter. Gegen Ende dieser Phase (Dezember / Januar) wurden die Kontakte zwischen Lehrerin und Künstlerin via E-Mail und/oder Telefon unregelmäßig. Als die Künstlerin dann ab Ende Januar wieder in die Schule kam, entstand bei ihr ein Moment der Irritation. Die Irritation bestand darin, dass die Lehrerin auf sie zukam und andeutete, dass es vielleicht gut wäre, sich ein neues Thema zu suchen. Es stellte sich heraus, dass Lehrerin und Schüler_innen das Gefühl hatten, sie seien nun mit dem anfänglich gefundenen Thema ›durch‹. Die Künstlerin, gerade erst wieder angekommen, war an einem anderen Punkt und hatte mit Blick auf das bis dahin erarbeitete Material nicht den Eindruck, dass das Thema ausgereizt sei. Die Künstlerin setzte sich dafür ein, beim gefundenen Thema zu bleiben, und sah sich verstärkt in der Verantwortung, den Suchprozess zu gestalten. Die Lehrerin übernahm in der Folge hinsichtlich der künstlerischen Arbeit eher eine beratende und organisatorische Funktion. So entwarf und leitete beispielsweise die Künstlerin jene ›Probenabschnitte‹, in denen es darum ging, Material zu generieren. Die Zusammenarbeit entzweite sich dadurch jedoch nicht, sondern gestaltete sich durch und in den Vor- und Nachbereitungsgesprächen zu den Proben weiterhin partnerschaftlich. Auch wurden ab dem Zeitpunkt, ab dem das Grundsetting der Inszenierung gefunden war, die Besprechungen zunehmend häufiger:

 40 | Der Anlass war das sogenannte zweite Arbeitstreffen, zu dem Künstler_innen, Lehrer_innen und Schüler_innen-Delegationen eingeladen waren, um über die ers­ ten Projektideen zu sprechen und diese im Gespräch weiterzuentwickeln (siehe dazu Harmsen / Schlie / Stang auf Seite 31).

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Lehrerin: Ab da haben wir uns relativ oft getroffen, um zu schauen, wie wir daran weiterarbeiten können. Und dann war es so, dass Milena das sehr gut vorbereitet hatte […]. Und mein Teil war eher Zuarbeit oder Ideen zu hinterfragen, meine Meinung dazu zu sagen. Da haben wir oft lange gesessen […]. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Zudem erkannte die Künstlerin im didaktisch-pädagogischen Wissen und Können der Lehrerin einen Gewinn für die Zusammenarbeit mit den Schüler_innen. Dieses Wissen besteht unter anderem darin, dass die Lehrerin mit den unterschiedlichen Dynamiken, die das individuell­-selbstorganisierte und gruppenbasierte Arbeiten kennzeichnen, umzugehen weiß. So wurde beispielsweise die Künstlerin durch die Lehrerin auf das Potenzial von Ritualen im Schulkontext aufmerksam: Künstlerin: Wir haben zum Beispiel – das war auch so ein Ritual, und in der Probenwoche hätte ich sicher nicht daran gedacht morgens zu sagen, wie der Tag aussieht, wie ungefähr die Zeiten sind, wann wir Pause machen (das ist ganz wichtig) – also so einen Überblick zu geben, wie der Tag ungefähr geplant ist. Kathrin hat das dann richtig aufgeschrieben und an die Wand gehängt, so dass jeder noch mal gucken konnte … Ich habe kurz gedacht: Aber ich weiß nicht, was wir dann und dann machen, das hängt davon ab, was in der Zeit vorher passiert. Andererseits fand ich es gut, offenzulegen, wie wir hier mit der Zeit umgehen. Und zwar nicht nur, damit die Schüler wissen, wann Pause ist […]. Die Frage nach der nächsten Pause, mit der ist man ja auch in einem Theaterprobenprozess ständig konfrontiert, nicht nur im Unterricht […]. Ich bin irgendwann darauf gekommen, dass das nicht immer was damit zu tun hat, ob das, was man gerade macht, jetzt interessant ist oder nicht oder ob man gelangweilt ist oder nicht, sondern damit, dass man einbezogen sein möchte in die zeitliche Planung. Es wird über deren Zeit verfügt. Sie haben die Zeit nicht in der Hand. Die zeitliche Struktur ist etwas, was ihnen von außen aufgedrückt wird. Deswegen diese Frage nach der Pause. Man möchte über die Verfügung von Zeit mitbestimmen oder man will zumindest wissen, wie jetzt hier mit der Zeit umgegangen wird. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Der geschulte Blick

Skizze zum Verlauf des Arbeitsprozesses von September 2011 bis Mai 2012 aus der Perspektive der Künstlerin (Mai 2012)

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Skizze zum Verlauf des Arbeitsprozesses von September 2011 bis Mai 2012 aus der Perspektive der Lehrerin (Juni 2012)

Der geschulte Blick

Die Künstlerin ließ sich mit ihrer Arbeitsweise auf die an der Schule gewohnte Unterrichtsstruktur ein, was möglicherweise dadurch erleichtert wurde, dass die ihr vertraute künstlerische Arbeitsweise (Stück­ entwicklung /devising theatre) Kompetenzen voraussetzte, welche die Schüler_innen in den offenen und auf Individualisierung zielenden Unterrichtsformen bereits schulen oder zumindest kennenlernen konnten. Da die Schule aktiv über ihre Unterrichtsformen (z. B. Lernbüros, Lerntagebücher etc.) informiert, ist davon auszugehen, dass zumindest ein Teil der Eltern ihre Kinder gezielt an dieser Schule anmeldet, weil sie den Eindruck haben, dass ihre Kinder mit der dort praktizierten Lernkultur gut zurechtkommen. Insofern lässt sich annehmen, dass die kognitiven und habituellen Dispositionen der Schüler_innen des DS-Kurses positiv mit der Arbeitsweise eines ›Stückentwicklungsprozesses‹ – die offen-iterative Erarbeitung einer Inszenierung – korrespondiert haben; unterstützt durch strukturgebende Elemente (bspw. im Sinne von kleinen, alltäglichen Ritualen), die die Lehrerin im Laufe ihrer Berufspraxis entwickelt hat, um Schüler_innen in einem wenig strukturierten Lernsetting Orientierung und dadurch Teilhabe zu ermöglichen. Nach einer Projektwoche im März 2012 hatte die Künstlerin das bis dahin mit den Schüler_innen generierte Textmaterial leicht bearbeitet und daraus ein Skript (aber keinen dramatischen Text bzw. kein ›Stück‹) montiert. Auf dessen Grundlage arbeitete die Gruppe nach den Osterferien weiter und zeigte im Theater HAU Hebbel am Ufer am 11. und 12. Mai 2012 eine Theater-Performance. 4.2.2 Ausgangssituation der Künstlerin

Nach ihrem Professionsverständnis befragt, identifizierte sich die Künstlerin am ehesten mit der Bezeichnung ›Performerin‹ (s. Seite 225). Als Performerin arbeitet sie themen- und projektbezogen in kollaborativen Konstellationen mit anderen Künstler_innen und/oder Nicht-Künstler_innen zusammen. Der Begriff ›kollaborativ‹ verweist darauf, dass in der Zusammenarbeit gleichberechtigte Kommunikations- und Entscheidungsprozesse angestrebt werden, die sich durch eine Sensibilität für die Unterschiedlichkeit von Perspektiven auszeichnet, weil Differenzen als Movens des (künstlerischen) Reflexionsprozesses genutzt werden können. Das Verständnis von Probenprozessen, wie es die Künstlerin im prospektiven Interview umschrieb, beruht unter anderem darauf, dass sich alle am Probenprozess Beteiligten mit ihrer Persönlichkeit – also mit ihren Erfahrungen, Hintergründen, Sprachen, Wissensformen etc. – in

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die inhaltliche Auseinandersetzung einbringen und mit einem eigenen Gestaltungswillen zu Mit-Autor_innen der Inszenierung werden. Die kollaborativ geführte Auseinandersetzung kann dabei als Raum beschrieben werden, in welchem der_die Einzelne als Singuläres in Erscheinung treten kann, indem er_sie sich zum Allgemeinen (im Sinne sozialer und symbolischer Ordnungen) in Beziehung setzt. Künstlerin: Beim Performen oder bei den Sachen, die ich mache, habe ich mir gedacht, dass ich eigentlich eher eine Art Moderatorin bin. SW: Was beinhaltet für dich das Wort ›Moderatorin‹? Künstlerin: Dass ich Menschen oder Dinge zusammenbringen kann, die vielleicht in der Wirklichkeit nicht aufeinandertreffen würden. Und zwischen diesen Dingen, Themen oder Menschen kann ich moderieren oder einen Rahmen schaffen, in dem sie aufeinander treffen. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Die an die Unterschiedlichkeit zwischen den Lebenswirklichkeiten der beteiligten Akteur_innen geknüpften Perspektiven gelten im Theaterverständnis der Künstlerin als positive Voraussetzung und als Potenzial, das im Rahmen von Recherche- und Probenprozessen genutzt werden kann. Insofern wird das ›Andere der Anderen‹ in kollaborativen Probenprozessen stets (auch) als eine notwendige Herausforderung des Eigenen anerkannt. Dieses ›Eigene‹ ist nicht gleichzusetzen mit dem Privaten oder einem essentialistisch Authentischem, sondern bezieht sich kategorial auf ›Persönlichkeit‹ (z. B. Sichtweisen, Kategorien, Selbst- und Weltverhältnisse). Die von der Künstlerin in die Zusammenarbeit mit der Lehrerin eingebrachte Arbeitsweise war im Sinne des mentalen Konzepts ›Theater als Praxis strategischen Dilettierens‹ so angelegt, dass der Arbeits- und Probenprozess nicht mit einer konkret mitteilbaren Zielvorstellung 41 begonnen wurde. Vielmehr kann das ›Ziel‹ des Probenprozesses – also das, was am Ende des Prozesses als Theater zu sehen sein wird – in diesem The 41 |  ›Zielvorstellung‹ verwende ich im Sinne von ›wir werden einen Sketch zeigen‹ oder ›wir inszenieren ein Theaterstück‹.

Der geschulte Blick

aterkonzept erst in dessen Verlauf durch ein ›aushandelndes‹ Versuchen entwickelt werden (s. Seite 221), weshalb die Suchbewegung immer auch selbstreferentielle und/oder selbstbeobachtende Momente aufweist. 42 4.2.3 Ausgangssituation der Lehrerin

Die Lehrerin unterrichtete neben Kunst noch andere Fächer (Deutsch und Ethik) und bot an ihrer Schule den WPU-Kurs ›Darstellendes Spiel‹ auf Basis eines Spielleiterscheins an. Sie hatte sich für die Stelle an ihrer Schule unter anderem wegen der weiter oben beschriebenen Entwicklungsprozesse entschieden. Dieser Aspekt ist insofern relevant, als dass die vollzogenen und angestrebten Veränderungen in der Schulstruktur mit Veränderungen im Verständnis des Unterrichtens und des Lehrberufs einhergingen und -gehen. 43 Ein Beispiel für den proklamierten Wandel ist die von der Schule angestrebte Individualisierung des Lernens. So hatte sich die Schule vorgenommen, eine Lernumgebung zu schaffen, innerhalb derer die Schüler_innen selbstorganisiert lernen können. Im Schulprofil heißt es, dass man von einem belehrenden hin zu einem beratenden Unterricht kommen wolle: »In den Kernfächern Mathematik, Deutsch und Englisch lernen die Schülerinnen und Schüler in Lernbüros selbstständig und eigenverantwortlich […].« Ein weiterer Hinweis auf das  42 |  Auch die Arbeit an einer Stückinszenierung vollzieht sich potenziell als Suchpro­ zess. In welcher Weise sich die Suche vollzieht und welchen Rahmungen sie unterliegt, unterscheidet sich jedoch anhand des ↘ Dispositivs (s. Seite 100). Einer ›Stückinsze­ nierung‹ im Dispositiv des ›dramatischen Theaters‹ geht u. a. voraus: das Verständnis von Inszenierung als mimetischer Annäherung an ›Wirklichkeit‹; das Verständnis, dass die Schauspieler_innen eine Figur darstellen; dass der Raum unterteilt ist in Bühnenund Zuschauer_innenraum; die Aufteilung in Produzent_innen (Spieler_innen) und Rezipient_innen (Publikum) etc. Das Zusammenspiel der aufgezählten Elemente bringt eine Ordnung hervor, die die Beteiligten anzurufen vermag und innerhalb derer sich die Suche dann bewegt und sie ermöglicht. Vorausgesetzt die Anrufung gelingt (zum Begriff ↘›Anrufung‹ s. Seite 316). Gelingt sie nicht, weil die Akteur_innen bspw. nicht die Voraussetzungen teilen, können sie sich nicht an der Suche im vorausgesetzten Dis­ positiv beteiligen (was nicht heißt, dass man kein Theater machen kann). Damit will ich zum Ausdruck bringen, dass sich Suchprozesse innerhalb des Dispositivs ›dramatisches Theater‹ anders gestalten als im Dispositiv ›postdramatisches Theater‹.  43 | Die Schulleiterin der Schule beschreibt in einem Fachartikel zum Entwicklungs­ prozess ihrer Schule, dass der Ausbau zur gebundenen Ganztagsschule nicht nur neue Anforderungen an die Qualifikation, sondern auch an das Berufsverständnis nach sich zieht. So sei der/die Lehrer_in nicht mehr ›nur‹ das Fachpersonal für organisierte und vertiefende Lernanregungen und Lernorganisationen. Das Lehrer_innen-Sein muss als Lebensform begriffen werden, was bedeute, das gesamte Berufsleben ganztägig gern mit Kindern und Jugendlichen verbringen zu wollen. – Um die Anonymität der befrag­ ten Lehrerin zu wahren, kann ich die Quelle nicht ausweisen.

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didaktisch-programmatische Selbstbild der Schule ist der ›fächerübergreifende Unterricht‹. Daneben wird im Schulprofil Wert auf die Lernatmosphäre gelegt, wozu auch die Bereitschaft aller gehöre, »sich ›auf Augenhöhe‹ zu begegnen«. 44 Das Unterrichtsverständnis solle sich demnach von einer hierarchischen Inhaltsvermittlung hin zu einer eher egalitären Lernbegleitung wandeln, wofür der_die Lernberater_in als Leitbild fungiert. Das Leitbild sieht vor, dass der_die Lehrer_in die Lernenden bei ihren individuellen Lernprozessen unterstützt und begleitet. 4.2.4 Zusammenspiel und Auswirkungen mentaler Konzepte auf den Probenprozess im zweiten Fallbeispiel

Im folgenden Unterkapitel geht es darum, aufzuzeigen, inwieweit in diesem Beispiel mentale Konzepte von Theater und vom Theatermachen seitens Künstlerin und Lehrerin auf die Zusammenarbeit eingewirkt haben. In den Blick genommen werden hierfür eine unterschiedliche Haltung gegenüber dem Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung innerhalb des Teil-Projekts, die Bedeutung eines ›geschulten‹ Blicks beim Anleiten von Probenprozessen und eine Aufmerksamkeit an den Rändern der Aufmerksamkeit. Aufgrund der Arbeitsweise der Künstlerin möchte ich an dieser Stelle auf den Unterschied zwischen ›proben‹ und ›inszenieren‹ hinweisen: »Während der erste Begriff alle Teilnehmenden umfasst, bezieht sich der zweite Begriff auf eine Außenposition mit der Funktion, die verschiedenen szenischen Elemente in ein Verhältnis zu setzen und Darstellungsstrategien zu erarbeiten. Die Inszenierung als ›Erzeugungsstrategie‹ 45 zielt immer auf die Aufführung, während der Begriff des Probens weiter gefasst ist. Er umschließt alle Formen von Interaktion, Techniken wie auch Herangehensweisen des Vorbereitungsprozesses.« (Matzke 2012: 102) Der Begriff ›Probe‹ ist insbesondere in diesem Fallbeispiel weit zu verstehen, da im Verständnis der Künstlerin aus jeder Situation Material entstehen kann. Aus ihrer Sicht gilt eine Frage- oder Diskussionsrunde ebenso als Probe wie das Gespräch am Rande einer Pause. Dies korrespondiert mit ihrer künstlerischen Praxis außerhalb des Kontexts Schule.

 44 | Um die Anonymität der befragten Lehrerin zu wahren, kann ich die Quelle nicht ausweisen.  45 | Die Autorin weist darauf hin, dass sie den Begriff ›Erzeugungsstrategie‹ von Erika Fischer-Lichte übernommen hat (Fischer-Lichte 2004: 327).

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4.2.4.1 Lehrerin und Künstlerin treten hinsichtlich des Gegenstands der künstlerischen Auseinandersetzung in unterschiedlicher Weise mit den Schüler_innen in Beziehung

Die sowohl in kollaborativen Probenprozessen als auch in konstruktivistisch informierten Unterrichtsformen (z. B. Lernbüros, das Führen von Lerntagebüchern) praktizierte Egalität könnte dazu beigetragen haben, dass Künstlerin und Lehrerin zu Beginn des Projekts im September 2011 den Eindruck hatten, hinsichtlich ihrer Vorstellungen über die Zusammenarbeit mit Schüler_innen weitgehend übereinzustimmen. Künstlerin: Am Anfang hatte ich den Wunsch, und ich glaube sie [die Lehrerin; SW] auch, dass wir das gemeinsam machen. Wir hatten gedacht, dass das geht, dass wir das gemeinsam machen, weil wir uns am Anfang als sehr ähnlich empfunden haben. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Die Künstlerin hatte zu Beginn der Zusammenarbeit die Absicht und die Erwartung, auch beim Anleiten der Proben sehr eng mit der Lehrerin zusammenzuarbeiten 46, was sich aber in der Folge nicht einlöste. Vielmehr gestaltete sich im Verlauf der Probenzeit eine arbeitsteilige Zusammen­ arbeit entlang der ›Professionsgrenzen‹: Künstlerin: […] am Anfang war es so, dass wir beide die Führung hatten und sie aus pragmatischen Gründen aufteilten. […] wir haben grob besprochen, was wir beim nächsten Mal machen werden, und jede hatte die Führung für einen bestimmten Teil der Probe. Aber in den meisten Fällen war es so oder es hat sich so eingeschliffen, dass Kathrin Rituale mitgebracht hatte oder Spiele zum Aufwärmen. Ich habe die für mich wichtigen künstlerischen Impros oder Aufgabenstellungen mitgebracht und habe ihr meist vorher gesagt, was man machen könnte oder was wir  46 | Die Absicht der Künstlerin korrespondierte mit dem im Konzeptpapier und in bi­ lateralen Gesprächen formulierten Anspruch, dass Künstler_innen, Lehrer_innen und Schüler_innen im Rahmen von JUMP & RUN - Schule als System gleichberechtigt an der Konzeption und Durchführung des jeweiligen Teilprojekts beteiligt sein sollen. Was genau mit ›gleichberechtigt‹ gemeint ist, wird im Konzeptpapier nicht näher ausge­ führt. Nach meiner Erinnerung sollte der Begriff ›gleichberechtigt‹ den Anspruch an die Künstler_innen signalisieren, bereits bei der Konzeptentwicklung aktiv die Stimmen aller Beteiligten einzuholen, ohne jedoch das eigene Interesse auszublenden.

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machen könnten. Ich weiß tatsächlich nicht genau, ob ich das irgendwie an mich gerissen habe oder ob das auch ein bisschen von mir erwartet wurde. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Die Lehrerin bestätigt im Rückblick die Wahrnehmung der Künstlerin: Lehrerin: Ich sehe Milena und mich als Projektleitung, wobei Milena ganz klar die künstlerische Leitung hatte. In Absprache mit mir, würde ich sagen. Sie wollte meine Meinung wissen, hat sich klar positioniert und wir haben Dinge gemeinsam entwickelt. Es war am Ende so, dass sie Dinge geleitet hat und ich mich ein Stück rausgenommen habe, weil die Arbeit im Theater ihr Profibereich ist. In der Schule war es so, dass Milena in der Zeit, in der sie Texte überarbeitete und verteilte und sich überlegte, wer welchen Text in welcher Reihenfolge bekommen könnte und wie wir den einen Übergang zum anderen schaffen, dass ich in dieser Zeit den Organisationskram […] übernommen hatte. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Die Künstlerin wurde von der Lehrerin und den Schüler_innen als Künstlerin angerufen und fühlte sich für das Setzen von Impulsen und das Anleiten des künstlerischen Arbeitsprozesses verantwortlich. Demgegenüber gestaltete die Lehrerin ihre Rolle dahingehend, dass sie sich konstruktiv zu Arbeitsständen äußerte, sich mit ihrer pädagogischen Expertise 47 in die Gestaltung des Probenprozesses einbrachte und sich innerhalb der Schule um organisatorische Belange kümmerte. Die Arbeitsteilung hatte im Verlauf des Projekts keine erkennbar negativen Auswirkungen. Dennoch stellt sich die Frage, warum sich die anfänglich angestrebte gleichberechtigte Zusammenarbeit hinsichtlich eines gemeinsamen Anleitens nicht herstellte. Neben pragmatischen Gründen (wenig Zeit, als Team nicht eingespielt genug etc.) wäre ein anderer Erklärungsansatz die jeweilige, teils habituell ausgeformte professionelle ›Haltung‹, die die Lehrerin und die Künstlerin  47 | Beispiele für die pädagogische Expertise der Lehrerin: die Arbeit auf der Bezie­ hungsebene, die es der Lehrerin ermöglichte, ›schwierige‹ Situationen mit Blick auf die Schüler_innen genau einschätzen zu können; das Strukturieren von Zeit; das Wissen darum, was den Schüler_innen wichtig ist; selbst entwickelte Rituale zur Strukturie­ rung des Schulalltags in der Klasse.

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gegenüber den Schüler_innen anhand oder mit Bezug auf den Gegenstand der Auseinandersetzung einnahmen. Während sich die Künstlerin in eine Beziehung zum Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung (›dem Thema‹) setzte, indem sie ihrerseits ›etwas‹ herausfinden wollte, trat die Lehrerin mit der Haltung auf, dass sie die Schüler_innen bei deren Auseinandersetzung mit dem Gegenstand lediglich begleitet. Dass hier möglicherweise ein Unterschied hinsichtlich künstlerisch-pädagogischer Verständnisse bestand, hat auch die Künstlerin registriert, wenn sie im rückblickenden Interview sagt: Künstlerin: […] andererseits hieß es auch: ›Milena begleitet uns jetzt weiter in unserem Prozess‹. So hat es Kathrin am Anfang manchmal formuliert, wo ich dann anhand von so kleinen Formulierungen nicht genau wusste, wie wird das jetzt hier eigentlich … wie sieht das wer. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012; Hervorhebung SW]

Während die Lehrerin das Verhältnis der Künstlerin zum Arbeitsprozess der Schüler_innen als ein ›begleitendes‹ bezeichnete, wusste die Künstlerin mit dieser Zuschreibung wenig anzufangen. Die Diskrepanz, die sich hier zeigt, macht sich auch an anderen Stellen bemerkbar. So zum Beispiel, wenn Lehrerin und Künstlerin von der Situation erzählen, in der das gemeinsame Thema gefunden wurde: Lehrerin: […] an diesem Workshop-Tag, wo wir im DT waren, waren ja Paul und Sandra mit und die haben beide für sich entschieden, dass [Thema] eigentlich das ist, was sie am spannendsten finden, und das haben wir halt ernst genommen […]. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Künstlerin: […] Arbeitstreffen im DT hatten wir ein sehr schönes […] dieser eigentlich sehr gute Start und dieses schnelle … die haben Interesse am [Thema], ich habe auch ein totales Interesse am [Thema], es gibt noch mal verschiedene Ebenen daran, was mich daran interessiert, was die interessiert, aber man findet sich so in diesem gemeinsamen Interesse am [Thema]. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

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Während die Künstlerin in der zitierten Passage geltend macht, dass sowohl die Schüler_innen als auch sie selbst das Thema interessant fanden, stellt die Lehrerin heraus, dass es sich um eine Entscheidung der beiden Schüler_innen handelte. Für die Lehrerin ist es zum gewählten Thema gekommen, weil sie und die Künstlerin die Äußerungen der Schüler_innen auf- und ernst genommen haben. Die Lehrerin äußerte sich – im Unterschied zur Künstlerin – nicht dazu, was sie am Thema interessierte. Damit will ich nicht den Schluss nahelegen, dass die Lehrerin das Thema nicht interessant fand. Aber schon, dass es einen Unterschied macht, ob Prozessanleitende sich selbst als Teil einer gemeinsamen Arbeit begreifen und eigene Fantasien entwickeln (oder auch ein eigenes Begehren, etwas herausfinden zu wollen), oder nicht. Im Fallbeispiel setzte die Künstlerin Impulse, die sich aus ihrem Interesse am Gegenstand der Auseinandersetzung ergaben. So brachte sie beispielsweise eine Reihe von Objekten mit, die in einem assoziativen Bezug zum Thema standen: Künstlerin: […] ich hatte ziemlich früh schon gedacht, dass ich irgendwann mal einfach so ein paar Sachen mit in eine Probe bringe, die etwas mit [Thema] zu tun haben. Also Objekte und Requisiten aus dem Wellness-Erwachsenen-Bereich. […] Einfach nur so als Spielmaterial, um mal etwas dazuhaben. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Durch das beiläufige Mitbringen von Gegenständen (»um mal etwas dazuhaben«) ermöglichte es die Künstlerin, dass die Schüler_innen die Objekte in unvorhersehbarer Weise (z. B. in den Pausen) für sich entdecken, sie mitunter zweckentfremdend nutzen und damit zunächst absichtslos ›spielen‹ konnten. In diesem Sinne gestaltete die Künstlerin aktiv – zum Beispiel durch Improvisationsaufgaben, Rechercheaufgaben, das Durchführen von Interviews etc. – den Suchprozess, um Material zu generieren, mit dem ›weitergearbeitet‹ werden konnte. Dabei rührten die von der Künstlerin gesetzten Impulse von einem forschend-suchenden Interesse, das sie dem Gegenstand der Auseinandersetzung entgegenbrachte. Dass das Interesse der Künstlerin für die Dynamik beziehungsweise den Movens des Arbeitsprozesses wichtig war, zeigte sich während der Phase, in der sie für längere Zeit nicht in die Schule kommen konnte. Bei den Schüler_innen und der Lehrerin, die diese Zeit überbrücken und am Projekt dranbleiben

Der geschulte Blick

wollten, entstand nach einiger Zeit das Gefühl, dass die Luft aus dem Thema ›raus‹ sei: Künstlerin: Als ich wiederkam, war ich ein bisschen enttäuscht oder überrascht. Ich war überrascht, weil es vor meinem ›Wiedereinstieg‹ am Ende des ersten Halbjahres eine kleine Zwischenpräsentation hätte geben sollen […]. Das ist aber nicht passiert. Sie hatten zwar viel rumprobiert und geforscht, aber es war sehr schwer, mir das zu vermitteln und da ranzukommen. Und dann meinte Kathrin einmal zu mir, sie habe den Schülern gesagt, es könne sein, dass noch mal etwas Neues losgeht, wenn ich wiederkomme. Das hatte mich ein bisschen gewundert, weil ich dachte, dass wir doch schon etwas Gemeinsames vorgehabt haben. Ich glaube, die waren zu diesem Zeitpunkt ein bisschen genervt, auch Kathrin. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Im Unterschied zur Lehrerin sieht die Künstlerin das Problem allerdings nicht in der Themenwahl: Künstlerin: […] das Problem war tatsächlich, dass sie es nie so gemacht haben, dass daraus [den Rechercheaufgaben, SW] Material entstanden wäre, das ich hätte kennenlernen können oder mit dem eine Fortführung betrieben wurde. Die Sachen, die sie mir gezeigt haben, als ich zurückkam, waren eher so Sketche, in denen man den Moment spielt, wenn der Unterricht endet, es klingelt und alle rausgehen. […] so Sketche […] mit theaterästhetischen Mitteln wie Freeze und Zeitlupe. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Der Unterschied, der sich im Anleiten der Proben bemerkbar machte und der mit mentalen Konzepten von Theater / T heatermachen einhergeht, liegt im Verständnis des Probenprozesses als Such- und Reflexions­ bewegung hin zu etwas, das Anderes als das legitimierte Sprechen und/ oder die gewohnten Perspektiven zum Erscheinen bringt. Dies ist auch anhand von Sketchen möglich, sofern sich an ihnen Fragen entzünden lassen, die die Schüler_innen angehen und die sie in eine Differenz zu sich selbst versetzen.

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Während die begleitende Probenanleitung der Lehrerin tendenziell zu einer additiven Sammlung von Material im Sinne von Theater als Umsetzung (s. Seite 228) führte, zielte die Künstlerin darauf, etwas zu finden, das sie selbst – beispielsweise aufgrund der Gegenläufigkeit zu bestehenden Annahmen oder Erwartungen ihrerseits – ›überraschte‹. Künstlerin: Und dann gab es zwischen Kathrin und mir unterschiedliche Interessen, was das Festlegen anbelangt. Wo ich eben gemerkt habe, dass Kathrin schon viel früher und viel schneller bei Sachen gesagt hatte: ›ja, das ist doch gut‹ und ›das ist doch bestimmt auch wiederholbar als Szene‹, ›das können wir doch nehmen‹, ›wir haben doch jetzt genug Material‹ – und ich wollte immer noch weitersuchen, meine Ansprüche waren sozusagen noch nicht erfüllt. Da waren wir unterschiedlich gewesen. Sie wollte Sachen früher festlegen, damit die Kinder sicher werden können beziehungsweise damit sie Zeit haben, darin sicher zu werden. […] bei mir war stärker das Bedürfnis vorhanden, noch weiterzusuchen, noch etwas finden zu wollen. […]

Die unterschiedlichen Haltungen zum Gegenstand der Auseinandersetzung – begleitend die Lehrerin, forschend-fordernd die Künstlerin – können ein Grund dafür gewesen sein, warum sich die anfänglich gewünschte gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Künstlerin und Lehrerin (bezogen auf das Anleiten von Proben und auf künstlerische Entscheidungen) nicht einstellen wollte. 4.2.4.2 Das ›Sehen als Praxis 48‹ in künstlerischen Prozessen

Im Interview äußerte die Lehrerin, dass die Künstlerin einen ›bestimmten‹ Blick hatte und »andere Dinge« als sie selbst sah: Lehrerin: […] was sie an künstlerischer Qualität mitbringt, also auch von dem, was sie sieht … damit meine ich einen Künstlerblick und Theaterblick und Schauspielerblick. Und von dem, was sie an Erfahrung mitbringt und das Wissen, was funktioniert im Theater, dass sie einfach andere Dinge sieht […]. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

 48 | In Anspielung auf den Titel von Prinz, Sophia (2014): Die Praxis des Sehens. Bielefeld: transcript.

Der geschulte Blick

Die Umschreibung des Blicks als ›Künstlerblick‹ erinnert im ersten Moment an das Bild der männlich strukturierten ↘ Subjektposition des schöpferischen, genialischen Künstlers (im Sinne eines naturgegebenen Talents, das jemand hat oder nicht). Die naturalisierende Tendenz dieser Umschreibung mag daher rühren, dass das ›Sehen‹ im Alltagshandeln als ›natürlicher‹ Vorgang gilt und nicht als eine der Sozialisierung unterworfene Tätigkeit. Denn der Blick wird in der Regel nicht als Medium wahrgenommen, mit dem sozial konstruierte Wirklichkeit als solche hergestellt wird. Metaphorisch könnte man sagen, dass der Blick im Sehen ›verschwindet‹ wie die Leinwand hinter der Projektion. Im zweiten Moment eröffnet die Suche nach dem treffenden Wort – Künstlerblick, Theaterblick, Schauspielerblick – eine andere, nicht-naturalisierende Deutungsmöglichkeit von ›Künstlerblick‹: nämlich dass in der Tätigkeit des ›Sehens‹ selbst das erfahrungsbasierte Wissen und Können der Künstlerin liegen und zwar im Sinne eines ›geschulten Blicks‹. Die Redewendung vom ›geschulten Blick‹ legt nahe, dass das ›Sehen‹ und der ›Blick‹ eben nicht als neutrales Medium respektive als eine neutrale Tätigkeit zur Aufnahme von Sinnesreizen aufzufassen sind, sondern als eine Tätigkeit, die sozial strukturiert ist: Der Blick bringt das Gesehene mit hervor und ist daher als ein produktiver Akt zu verstehen. Die Umschreibung ›Künstlerblick‹ ließe sich so auch als eine Wahrnehmungssensibilisierung (eingebettet in Subjektivierungsprozesse) im Zuge von Ausbildung und künstlerischer Berufspraxis verstehen. Studien aus dem Bereich ›Visual Culture‹ (Schaffer 2008) und der Kultursoziologie (Prinz 2014) zeigen auf, dass im Moment des Sehens dasjenige konstruiert wird, was als faktisch-evident (Natur-)Gegebenes in den Blick fällt. Es stellt sich daher die Frage, wie der Blick vorstrukturiert sein muss, damit ›etwas‹ überhaupt als ›etwas‹ ›in den Blick rücken‹ kann – um das Gesehene als dasjenige zu konstruieren, was dem Blick als So-Gegebenes erscheint. Die enge, assoziative Kopplung zwischen Sehen und Objektivität liegt in der europäisch-antiken Wissenschaftstradition begründet und beruht auf der »Konzeption von Welt als einer dem Geist äußerlichen, distanzierten Sphäre« (Prinz 2014: 14). Weil diese Konzeption derart selbstverständlich und ›natürlich‹ erscheint, bedarf der ›Blick auf den Blick‹ einer bewussten Anstrengung. Wie aber machte sich nun der Unterschied zwischen Lehrerin und Künstlerin bezüglich des Sehens respektive Wahrnehmens bemerkbar? Die Künstlerin spricht auf der Grundlage ihrer Notizen zum Probenprozess ein paar Unterschiede an:

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Künstlerin: […] Ein großer Teil meiner Arbeit bestand darin, mir Aufgaben auszudenken. Also ich habe Aufgaben mitgebracht, die eine bestimmte Form voraussetzen, und sei es nur so etwas Blödes wie einen Diavortrag; etwas, bei dem die Form bekannt ist. Und dann gebe ich einen Redeauftrag rein oder eine Improvisationsaufgabe, wie zum Beispiel die Bilder aus der Diashow zu beschreiben oder über sie zu sprechen. Ich nehme die Texte auf, höre sie mir zu Hause an und schreibe da etwas raus. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

In diesem Zitat zeigt sich, dass die Künstlerin szenisch-performatives Material in ihrer Vorstellung antizipiert. Sie beschreibt, dass sie über ›Aufgaben‹ nachdenkt und bezieht dies auf (bekannte) performativ-inszenatorische Formate, die sich die Schüler_innen improvisierend aneignen können. In ihrem Beispiel nehmen die Schüler_innen die Sprecher_innenhaltung eines_r Vortragenden ein, die sie im Moment des Aufführens (während einer Probe) individuell nachahmend erzeugen. Das Format ›Dia-Vortrag‹ eignet sich als Handlungsmatrix für die Schüler_innen, da die Grundsituation einfach ist und je nach Kontext als bekannt vorausgesetzt werden kann. In ihr verbinden sich Gesten des Zeigens, Informierens oder Erläuterns, so dass das Format den_die einzelne_n Schüler_in darin unterstützt, sich auf das Improvisieren verbaler Äußerungen mit Bezug auf die projizierten Bilder zu fokussieren – im vorliegenden Beispiel waren es Fotos aus der eigenen Schule und vom Schulgelände. Die Künstlerin kennt den Wahrnehmungseffekt, der in der Aufgabenstellung ›Dia-Vortrag‹ angelegt ist und antizipiert ihn, wenn sie sich auf eine Probe vorbereitet. Der Wahrnehmungseffekt besteht darin, dass das Singuläre (hier das Persönlich-Individuelle des_der vortragenden Schüler_in) im Wechselspiel mit der Strenge einer Form (des Dia-Vortrags) als Differenz wahrnehmbar wird. Darüber hinaus spiegelt sich im Format des Dia-Vortrags die bekannte Lehr-Lern-Situation, in der Inhalte frontal vermittelt werden. Damit einher geht ein gewisses Komikpotenzial, da frontale Vermittlungssituationen auf einem unausgesprochenen (Macht)Gefälle zwischen Wissenden und Noch-Nicht-Wissenden beruhen. In ihrer Imagination antizipiert die Künstlerin eine Umkehrsituation, die entsteht, wenn Schüler_innen im Teenager-Alter dem zu erwartenden Erwachsenenpublikum im ›gesetzten‹ Format ›Dia-Vortrag‹ Fotos aus der Schule zeigen und beim Erläutern der Bilder eine ironisierende, ethnografische Perspektive einnehmen. Auf der Grundlage ihres Erfahrungswissens

Der geschulte Blick

imaginiert sich die Künstlerin als Zuschauerin und richtet einen ›inneren‹ Blick auf die imaginierte ›Szene‹, in der ein_e Schüler_in über projizierte Schulfotos im Stile eines Dia-Vortrags spricht. Der imaginative, ›innere‹ Blick der Künstlerin beruht auf wirkungsästhetischen Erfahrungen, Konzepten und implizitem Wissen bezüglich Rezeptionsästhetik und ästhetischen Codes. Er ist an künstlerischästhetischen Konstellationen geschult und folgt Primärkonzepten wie beispielsweise ›Bruch‹ oder ›Reibung‹ (s. Seite 298). Dies gilt auch für Probensituationen, in denen die Künstlerin ›etwas‹ erkannte, um es dann – korrespondierend zu eigenen und vom Kunstfeld geteilten Konzepten – weiterzuentwickeln. Wer über einen solcherart geschulten Blick nicht verfügt, kann manche ›Dinge‹ dementsprechend auch nicht sehen. Umgekehrt kann man gerade auch wegen eines solch geschulten Blicks etwas übersehen – indem oder weil man etwas als dieses oder jenes wahrzunehmen und dadurch auch zu werten gelernt hat. ›Etwas‹ zu sehen bedeutet demnach stets, anderes nicht zu sehen. 4.2.4.3 Aufmerksamkeit an den Rändern der Aufmerksamkeit

Probenprozesse im Sinne von ›Devising Theatre‹ (s. Fußnote 33) erfordern eine spezifische Aufmerksamkeit, da das szenisch-performative Material in iterativen Reflexions- und Suchbewegungen entsteht. Wenn die Künstlerin im Interview davon spricht »Sachen aufzugreifen, sie weiterzudenken und weiterzuentwickeln« [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012], verweist dies auf die Suchbewegung im Probenprozess. Diese ›zielt‹ auf einen nicht gänzlich kalkulierbaren, emergenten und daher kontingenten Punkt, der eher angelegt und erwischt als auf ›geradem Weg‹ erreicht werden kann. Das ›Anlegen‹ und ›Erwischen-Wollen‹ verweist auf eine spezifische Aufmerksamkeit, die die Künstlerin im rückblickenden Interview anspricht. Dabei geht es um eine Aufmerksamkeit für das am Rande liegende, Zufällige und Abseitige. Eine Aufmerksamkeit, die sie aus ihrer kollaborativen Probenpraxis kennt: Künstlerin: […] dieses ›off record‹ kommt bei mir aus der Arbeit in einem Kollektiv, wo letztendlich jedes Gespräch, Nebenbei­ gespräch, wichtig oder zum Material werden kann. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

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Mit ›off record‹ ist eine intuitive, in der Handlung stattfindende selektierende Markierung gemeint, eine spezifische Aufmerksamkeit »auf Sachen, die gesagt werden oder die jemand raushaut, oder wo irgendwie was drinsteckt, irgendein Leben oder eine Aussage« [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012], so dass diese Momente seitens der Künstlerin erinnert und als ›Material‹ in den Probenprozess zurückgespielt werden können. Auch dieser Aufmerksamkeit müssen jedoch mentale Konzepte voraus­ gehen, die die Künstlerin auf etwas aufmerksam werden lassen. Ein Beispiel für ein solches mentales Konzept, das die Suchbewegung im Fallbeispiel strukturiert hatte, war das Interesse der Künstlerin an der Differenz zwischen einem ›offiziellen Sprechen / Handeln‹ (das, was erlaubt und sozial erwünscht ist) und einem ›inoffiziellen Sprechen / Handeln‹ (das, was ›rausrutscht, sich Bahn bricht‹ und auf Vor- oder Unbewusstes, auf sozial Unerwünschtes verweist). Diese Differenz erscheint als »[…] etwas Echtes oder wo plötzlich die Person eben authentischer ist oder was Echtes von sich erzählt« [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012], wenn Äußerungen oder Handlungen aus dem Rahmen des Erwartbaren einer gestellten Aufgabe fallen. Im ›Verfehlen‹ einer gestellten Aufgabe (bzw. dem Abweichen vom Erwarteten) kann sich die Besonderheit eines Individuums in seinem Verhältnis zum Allgemeinen (also bspw. der sozialen Ordnung, der symbolischen Ordnung, dem sozial Erwünschten etc.) zeigen, weil im Moment des Verfehlens das Verfehlen des Erwarteten wahrnehmbar wird. Die Differenz, die sich zwischen dem Erwarteten und der Abweichung zeigt, ist nicht etwas, das abgebildet oder dargestellt werden kann. Sie entsteht performativ, sie wird hervorgebracht im Spiel zwischen Singulärem und Allgemeinem. Der Künstlerin geht es in ihren Suchbewegungen nach ›geeignetem‹ Material um Momente, die ›außerhalb‹ der eingeübten Wahrnehmungsund Denkmuster liegen, was zur Folge hat, dass solche Momente nicht auf direktem Weg erreicht werden können: Künstlerin: […] weil ich weiß, dass ich mit Aufgaben nicht immer da hinkomme, wohin ich will oder was ich mir vorher gedacht habe, wohin die Aufgabe führt und dass es für künstlerische Prozesse interessant sein kann, wenn eine Aufgabe falsch verstanden wird oder scheitert und dass das, was dann passiert, dass das eigentlich das Interessante ist. Also viel interessanter als das, was man dachte, was bei der Aufgabe rauskommt. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Der geschulte Blick

In dieser Äußerung zeigt sich ein methodisches Gespür für die Ermöglichung dessen, was die Künstlerin als ›das Interessante‹, als ›geeignetes‹ Material erachtet. Gleichzeitig muss sie sich in Situationen, in denen eine von ihr gestellte Aufgabe nicht ›aufzugehen‹ scheint, selbst disziplinieren: Künstlerin: […] da gibt es auch die Momente, wo ich selber denke: Scheiße, jetzt hat meine Aufgabe nicht funktioniert. Bis ich dann schnell umschalte und sage, ach so, nein, das kann man ja … stimmt, jetzt geht es einfach in etwas ganz anderes, das viel besser ist. – Aber innerlich so zu reagieren, ist etwas, an das ich mich selber erinnern muss. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Die Herausforderung für das Zustandekommen von ›Material‹, das die Künstlerin als ›geeignet‹ ansieht, besteht darin, dass dieses ›Material‹ nicht generiert werden kann, indem eine Aufgabe entlang des Erwarteten erfüllt wird. Vielmehr entsteht ›geeignetes‹ Material in ihrem Sinn, wenn das, was ihr entgegenkommt, in eine Differenz zu dem von ihr Erwarteten tritt. Künstlerin: […] ich habe zum Beispiel am Anfang ein Interview mit den Schülern gemacht, wo ich gedacht habe, ich mache jetzt eine Fragerunde. Es gab die Regel, dass alle einfach wild reinrufen können und dass man immer zwei Minuten pro Frage hat. Und dann habe ich inhaltliche Fragen gestellt, sehr offiziell legitimierte Fragen zum Thema. Das Format wurde zwar nicht boykottiert, aber sie haben natürlich etwas ganz anderes damit gemacht […]. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

In der im Interviewzitat beschriebenen Situation gehen die Schüler_innen mit dem Format ›Fragerunde‹ in einer Art und Weise um, dass Differentes gegenüber den Erwartungen der Künstlerin entsteht. Manche der reingerufenen Antworten erschienen ihr aufgrund der Differenz zu dem, was sie erwartete (nämlich reflektierte und/oder routinierte Antworten auf offiziell legitimierte Fragen zum Thema ›Schule‹), als etwas ›Echtes‹, ›Lebendiges‹. In diesem Beispiel erlangen die verbalen und/oder physischen Akte der Schüler_innen im Wahrnehmungsbereich der Künstlerin eine Relevanz, weil sie von ihren bestehenden Erwartungen abweichen.

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Von hier aus verallgemeinernd: Verbale und/oder physische Akte der Schüler_innen erlangen im Wahrnehmungsbereich der Künstlerin eine Relevanz, wenn während des Probens eine theatrale Situation, ein Bild, ein Text etc. entsteht, das einen Rest oder auch einen ambivalent-mehrdeutigen Bedeutungsüberschuss 49 aufweist. Als relevant oder künstlerisch interessant erscheint das Abweichen von offiziell legitimierten Logiken und Sinnordnungen (während Schule häufig als Instanz zu deren Einübung gesehen wird).

 49 | Bedeutungsüberschuss: Grundsätzlich ist der Sinngebungsprozess von Zeichen in­ nerhalb eines Symbolsystems unabschließbar. Signifikant und Signifikat kommen nie­ mals vollständig zur Deckung, so dass stets ein Spalt bestehen bleibt. Im alltäglichen Umgang mit Sprache erscheint es uns allerdings, als würden wir mit unseren Symbolen (Sprache, Bilder etc.) eine präexistente Wirklichkeit abbilden können – im Sinne von ›so und so ist es‹. Es kommt uns so vor, als gäbe es diesen Spalt nicht. In spezifischen medialen Konstellationen, z. B. in Momenten der Rezeption von Kunst, wird gerade dieser Spalt zum treibenden Moment für die Suche nach immer neuen Begriffen, um das im Medium der Kunst Erfahrene zu symbolisieren, was aber nicht gelingen mag und ein ungeklärter, ungestillter Rest (der ›Überschuss‹) bestehen bleibt (es ist mehr da, als man begrifflich fassen kann). Ein bekanntes Filmbeispiel für ein Objekt mit Bedeutungsüberschuss ist der schwarze Monolith in Stanley Kubricks ›2001 – Odyssee im Weltall‹.

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5. Schlussfolgerungen aus der Interviewauswertung und den Case Studies 5.1 Die Feldperspektive bestimmt den Blick auf das Gegenüber als Andere_n Die befragten Künstler_innen und Lehrer_innen hatten teilweise voneinander abweichende Vorstellungen sowohl vom Künstler_innen-Sein als auch vom Lehrer_innen-Sein. Die Auswertung legt nahe, dass die je eigene Profession den Blick auf das Gegenüber als Lehrer_in oder Künstler_in strukturiert. Entscheidend dabei ist, dass es sich bei Künstler_innen und Lehrer_innen nicht nur um unterschiedliche Professionen, sondern um Professionen unterschiedlicher Felder handelt und die Felder in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. So existieren in beiden Feldern spezifische, feldinterne Sichtweisen und zwar entlang eines sozial etablierten Wertungshorizonts. Die Feldperspektive besteht in handlungsleitenden Annahmen darüber, welche Handlungen ›richtig‹ sind. Zwar stellen diese Übereinkünfte kein allgemeingültiges Gesetz dar, erzeugen dafür aber den Schein von Objektivität. Pierre Bourdieu bezeichnete die Summe handlungsleitender, als objektiv empfundener Annahmen als ↘ ›Nomos‹ (s. Seite 83). Beispielsweise wird in der kunstfeldinternen Sichtweise zeitgenössisches Theater als Sphäre produktiver Tätigkeit betrachtet, deren Wertungshorizont unter anderem von Begriffen wie Autonomie, Risiko, Innovation, Regelbruch, Provokation oder auch Singularität bestimmt wird. Das Feld Pädagogik (hier: Schule) gilt aus der Perspektive des Kunstfeldes als Sphäre reproduktiver Tätigkeiten, denen innerhalb der Hierarchie gesellschaftlich organisierter Arbeit weniger Wert beigemessen wird als den produktiven. Auch innerhalb des Kunstfeldes gibt es eine hierarchische Wertung entlang der Gegenüberstellung von produktiven Tätigkeiten (bspw. die Kreation neuer Werke) und reproduktiven (bspw. die Interpretation bestehender Werke) Tätigkeiten. Wenn nun im Feld Theater die Überzeugung besteht, dass Kunst (und damit auch die Künstler_innen) autonom ist, bestimmt diese feldinterne Sicht den Blick auf Schule. In einer solchen ›Autonomie-Perspektive‹ von Theater auf Schule treten die gesellschaftlichen Ansprüche, denen Schule (und damit auch die Lehrer_innen) unterliegt, sehr deutlich

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hervor, während die gesellschaftlichen Ansprüche an das Theater kaum oder gar nicht wahrgenommen werden. Das führt beispielsweise dazu, dass Künstler_innen im Interview von sich sagen, sie hätten sich selbstbestimmt für die Arbeit im Projekt entschieden, während Lehrer_innen ja per definitionem an einer Schule arbeiten müssten – sie seien dazu verpflichtet und können es sich nicht aussuchen. In der Kunst-Autonomie-Perspektive erscheinen Lehrer_innen und Schüler_innen tendenziell als fremdbestimmt, während man sich als Künstler_in als selbstbestimmt agierend wahrnimmt. Demgegenüber verdeckt diese Perspektive das ökonomische Interesse seitens der Künstler_innen, mit namhaften Häusern zusammenzuarbeiten, um beispielsweise ›im Gespräch zu bleiben‹ oder auch einfach, um Geld zu verdienen. In der Kunst-Autonomie-Perspektive bleibt der Druck (als Effekt feldinterner Machtverhältnisse) ausgeblendet, der bei den Künstler_innen entsteht, weil ihr Name ›unter‹ den Arbeiten der Schüler_innen steht: Künstlerin: […] Den Druck habe ich auch mitgebracht, so wie alle anderen Künstler, die ich in der Woche im HAU getroffen habe und die total aufgeregt waren. Also die Künstler waren vielleicht sogar am meisten unter Druck. Weil man plötzlich dachte: Jetzt stehe ich hier als Künstlerin mit irgendeinem künstlerischen Ergebnis. Ist das jetzt mein Ergebnis oder was ist das jetzt eigentlich? Für was steht das jetzt hier? [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Die Ausblendung eigener Abhängigkeiten und die Zuschreibung, dass Lehrer_innen weniger selbstbestimmt agieren können, erscheinen mir als ein Beleg dafür, dass der individuelle Blick auf die jeweils andere Profession von der feldinternen Sichtweise durchzogen ist. Dabei ist die Vor-Strukturierung dieses Blicks, der das Gegenüber als Anderen kon­ struiert, in einem performativen Sinne umso wirkmächtiger, je weniger die eigene Feldperspektive als solche bewusst ist.

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5.2 Ausklammerung des Pädagogischen oder andere Wege der Bildung 50? Die im Konzeptpapier (s. Seite 42) vorgenommene Betonung des ›Künstlerischen‹ lässt die Nicht-Verwendung des Adjektivs ›pädagogisch‹ auffällig werden, zumal es sich ja bei JUMP  &  RUN – Schule als System erklärtermaßen um Theaterarbeit an Schulen handelt. Denn Projektarbeiten im Kontext Schule gehen schon allein deshalb mit pädagogischen Prozessen einher, weil sie im Zeichen der Schulpflicht sowie der Schulgesetzgebung stattfinden und die Akteur_innen daher stets auch als Schüler_innen agieren. Zudem wird im Konzeptpapier ausgeklammert, dass das Wissen und Können zwischen Künstler_innen, Lehrer_innen und Schüler_innen ungleich verteilt ist und wie mit diesem vorhandenen Gefälle im Hinblick auf die angestrebte gleichberechtigte Zusammenarbeit umgegangen werden soll. Neben der Unterscheidung zwischen künstlerisch und nicht-künstlerisch (s. dazu Seite 202 ff.) ist im Konzeptpapier demnach auch die Entgegensetzung von ›künstlerisch‹ und ›pädagogisch‹ zumindest implizit angelegt. Aus kunstfeldinterner Perspektive heraus wird entlang dieser Entgegensetzung unterstellt, dass das Pädagogische die Kunst verhindere; dass das Pädagogische das Künstlerische verunreinige, verwässere, verwische, verfälsche. In dieser Perspektive erscheint es als geboten, dass das Künstlerische vor Schule geschützt und verteidigt werden muss. Der im Konzeptpapier auffällig häufige Gebrauch des Adjektivs ›künstlerisch‹ kann insofern als eine mit Ängsten oder zumindest Vorbehalten besetzte Abgrenzung vom Pädagogischen gelesen werden. Die im Konzeptpapier vollzogene Ausklammerung des Pädagogischen als Bestandteil künstlerischer Prozesse im Kontext Schule spiegelte sich in der Durchführung des Projekts an mehreren Stellen (siehe dazu auch Fußnote 18 auf Seite 208). So zum Beispiel, wenn Künstler_innen im Interview äußern, dass während der Projektzeit etwas anderes passiere als ›Schule‹, oder wenn sie ›Schule‹ und ›das Projekt‹ gedanklich als zwei von einander getrennte Dinge betrachten, obwohl das Projekt in der Schule und während der Schulzeit stattfindet. 51 Oder wenn hinsichtlich der Arbeit mit den Schüler_innen auf die Autonomie der Kunst verwiesen wird:  50 | In Anlehnung an den Titel des Beitrags von Elisabeth Sattler in diesem Band. (Seite 319)  51 | Mira Sack verdanke ich den Hinweis, dass man die Aktivitäten eines künstlerischen Projekts ebenfalls als ›Schule‹ begreifen kann. Im Sinne von ›auch das ist Schule‹.

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[…] ich habe keinen pädagogischen Katalog, keinen Bildungsauftrag, zumindest weiß ich keinen, ich habe keinen pädagogischen Auftrag in dem Sinne. [erste Interviewserie, September / Oktober 2011]

Dass hinter der impliziten Abgrenzung gegenüber dem Pädagogischen nicht einfach keine, sondern häufig nur andere Bildungsvorstellungen vorhanden sind, zeigt das folgende Beispiel einer Künstlerin. Diese wollte sich mit den beteiligten Schüler_innen außerhalb der Schulzeit in einem der Theater treffen, um herauszufinden, ob es möglich sei, die Zusammenarbeit auf einer mehr interessegeleiteten, freiwilligen Basis fortzusetzen. Versuche in dieser Richtung schienen der Künstlerin nötig, weil aus ihrer Wahrnehmung die Schüler_innen und die beiden am Projekt beteiligten Lehrer_innen in einer Dynamik verharrten, die den Bildungsvorstellungen der Künstlerin zuwiderliefen. Denn die beiden Lehrer_innen, so beschreibt es die Künstlerin im Rückblick, setzten sich zwar für ein gutes Verhältnis zu den Schüler_innen ein, es wurde ihr aber nicht ersichtlich, dass die beiden Lehrer_innen die Schüler_innen in ihrer Entwicklung ›noch irgendwo hinbringen‹ wollen: Die Frage, die ich oft – auch mehreren Leuten – gestellt habe, war: Was ist euer Anspruch? Was wollt ihr hier in dieser Schule lehren? Also, wollt ihr die Schüler irgendwo hinbringen und wenn ja, wie vereint ihr das damit, dass die das nicht wollen, zumindest scheinbar nicht wollen. Und wenn ihr diesen Anspruch nicht mehr habt oder nicht habt, wie macht ihr das dann? [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

An diesem Zitat wird deutlich, dass die Künstlerin ein pädagogisches Anliegen respektive ein Bildungsanliegen hatte, das bei der Persönlichkeit der beteiligten Schüler_innen ansetzt. Möglicherweise verweist die Tatsache, dass im Konzeptpapier keinerlei (fragender) Bezug auf pädagogisch-didaktisches Wissen zu finden ist, ebenfalls nicht auf die Negierung Schule ›ist‹ auch, wenn eine Klasse in einem außerschulischen Raum für ein Thea­ terprojekt probt; Schule ›ist‹ auch, wenn die Schulmöbel eines Klassenzimmers auf den Schulhof geräumt werden etc. Nicht selten aber wird Projektarbeit (insbesondere, wenn sie von Externen angeleitet wird) als etwas betrachtet, das ›anders‹ als Schule ist (vgl. dazu auch Mörsch 2005) und das als ein Extra, als nicht-dazugehörig verstanden wird.

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von Bildungsanliegen, sondern allenfalls darauf, dass im Kunstfeld andere Vorstellungen von Bildung und Bildungsprozessen bestehen. So formuliert das Konzeptpapier, dass die Schüler_innen im Rahmen eines künstlerischen Projekts wie JUMP  &  RUN – Schule als System lernen können, eigene Positionen im Sinne von Haltungen zu artikulieren, und dass soziale Wirklichkeit auch durch sie gestaltbar ist (s. Seite 42). Im Konzeptpapier wird demnach sehr wohl ein Bildungsanspruch artikuliert, aber ohne ihn als solchen auszuweisen oder zu benennen, wie er eingelöst werden soll. Der Verweis auf das Künstlerische gleicht einer Blackbox: Schüler_innen begeben sich in einen künstlerischen Prozess und kommen verändert wieder heraus. Aber auch Äußerungen aus der Gruppe der Lehrer_innen reproduzierten die gedankliche Trennung von Künstlerischem und Pädagogischem. So berichtet eine Lehrerin im Interview von Situationen, in denen sie der Künstlerin habe »klarmachen müssen, dass Schule eben vorgehe«. Die Arbeit am Theaterprojekt stellte für diese Lehrerin ein Extra dar, das nicht zum ›Normalbetrieb‹ der Schule und damit auch nicht zu ihrem Bild von ›Schule‹ gehörte. Die Ausblendung des Pädagogischen könnte den Theatern und teilweise auch den Künstler_innen eine fragende respektive lernende Haltung gegenüber den Lehrer_innen erschwert oder verunmöglicht haben. Eine Lehrerin spricht dies im Interview indirekt an, wenn sie die Frage stellt, warum zu Beginn des Projekts keine pädagogisch-methodischen Inputs angeboten wurden: Bei den Vorbereitungsveranstaltungen wäre es gar nicht so schlecht gewesen, die Künstler auf diese Thematik [Verweigerungshaltung; SW] einzustimmen. Ich hatte das Gefühl, dass Anna, die schon viel mit Schülern gearbeitet hatte, aber eben vor allem im Grundschulbereich, doch erst mal einen Schock gekriegt hat. Weil von den Schülern – anders als sie es gewohnt war – nicht so viel zurückkam und das wie eine Mauer war. […] Ich denke, dass eine Vorbereitung der Künstler in die Richtung gut gewesen wäre. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Die Ausklammerung des Pädagogischen zeigt sich im Konzeptpapier auch darin, dass ›Kunst‹ und ›Pubertät‹ eine ›heimliche‹, komplizenhafte Verbindung unterstellt wird. So heißt es dort:

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Zielgruppe sind die Schüler der Klassenstufen 7 – 9. Eine Altersgruppe, die in entwicklungspsychologischer und in gruppen­ dynamischer Hinsicht die Auseinandersetzung mit dem Außen sucht und dabei immer wieder in Konflikt mit dem Normierungs­ apparat Schule gerät bzw. Strategien entwickelt, um sich scheinbar oder tatsächlich konform zu verhalten. (Harmsen et al. 2010: s. Seite 45 in diesem Band)

Die Verweigerungshaltung, die die Lehrerin im vorigen Zitat anspricht, wird im Konzeptpapier – also im Vorfeld des Projekts – positiv gedeutet. Möglicherweise deshalb, weil unangepasstes / nicht-konformes Verhalten im Wertungshorizont des Kunstfeldes positiv belegt ist und davon ausgegangen wird, dass sie sich gegen Schule und nicht gegen Theater (das in der Kunstfeldperspektive ebenfalls als nicht-konform wahrgenommen wird) richtet. Analog zu dem im Konzeptpapier an anderer Stelle artikulierten Verständnis, dass Kunst ein Störmoment gesellschaftlicher Ordnung sei, wird den Schüler_innen zugeschrieben, aus »entwicklungspsychologischen und gruppendynamischen« Gründen die Auseinandersetzung mit der Institution Schule zu suchen und die Ordnung zu stören. 52 Sowohl Künstler_innen als auch Schüler_innen – so legt es das Konzeptpapier nahe – richten sich gegen gesellschaftliche Normierungen. Aus der Kunstfeldperspektive erscheinen die Schüler_innen daher als ›natürliche‹ Verbündete und werden entsprechend adressiert respektive vorausgesetzt.

5.3 Mentale Konzepte von Bildung in Bezug auf das Theatermachen an Schule im Projekt JUMP & RUN Wenngleich die Künstler_innen ihre Überlegungen zum Auf bau einer Probe aufgrund der Ausklammerung des Pädagogischen nicht als didaktisch oder pädagogisch bezeichneten, wirkten neben den Konzepten von Theater und vom Theatermachen auch mentale Konzepte von Bildung auf die Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen ein. Denn viele Überlegungen, die die Künstler_innen in Bezug auf ihre  52 | Wie Elisabeth Sattler in ihrem Beitrag zu diesem Band anmerkt (s. Seite 325), wer­ den die individuell unterschiedlichen Schüler_innen des Projekts durch die beiden Zuschreibungen als eine Altersgruppe positioniert, »die das einzelne ↘ Subjekt einer ontogenetischen Entwicklung […]« unterordnet.

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Arbeit mit den Schüler_innen anstellen, können als didaktisch-pädagogisch bezeichnet und bestehenden Konzepten von Bildung zugeordnet werden. Sowohl die Lehrer_innen als auch die Künstler_innen brachten mentale Konzepte von Bildung in die Zusammenarbeit ein. Darunter die Vorstellung, dass die Schüler_innen aufgrund von Transfereffekten (wie zum Beispiel einem selbstbewusstem Auftreten oder wachsendem Selbstvertrauen) vom Theaterprojekt profitieren würden, oder auch die Vorstellung, dass die Schüler_innen handwerklich etwas dazulernen, um selbstständiger arbeiten zu können, oder dass sie teamfähiger werden. In manchen Vorstellungen sollte es in künstlerischen Prozessen – als leitendem Bild – um die Erlangung einer selbstreflexiven Selbstbestimmung gehen. Bei den Konzepten, die ich im Folgenden skizziere, handelt es sich um übergeordnete Konzepte von Bildung, die im Bildungsdiskurs tradiert sind und die sich – in unterschiedlichen Mischverhältnissen – in den Interviewäußerungen aller Befragten widerspiegeln. Die im Bildungsdiskurs verankerten Konzepte bilden gewissermaßen die Horizontlinie, an der sich das individuelle Handeln orientiert und von dort her seine Legitimation bezieht. 5.3.1 Theatermachen als ›musischer‹ Ausgleich

Vor dem Hintergrund des Konzepts ›musischer Bildung‹ gilt Theater­ arbeit an Schulen als extra-curricularer Ausgleich zu den Anforderungen eines sogenannten ›regulären Schulalltags‹. Zum Begriff und Konzept musischer Bildung heißt es im Glossar zur Online-Publikation ›Zeit für Vermittlung‹: Begriff und Konzept wurden in der Reformpädagogik Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt. Aus kulturkritischer Perspektive auf die technokratische und rationalistische Moderne und eine in­s trumentelle Bildung wurde eine ganzheitlich gedachte Erziehung von Körper und Geist anvisiert, die Musik, Kunst, Sprache sowie Sport und Bewegung umfasste und sich sukzessive auch in den Lehrplänen der Schulen durchsetzte. Gerade in der Nachkriegszeit der 1950er Jahre fand musische Bildung als versöhnliches und vermeintlich apolitisches Konzept große Resonanz. In kritischen pädagogischen ↘ Diskursen wurde musische Bildung dann als tendenziell kulturkonservatives Konzept kritisiert und

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ist als Begriff desavouiert, findet aber nach wie vor Resonanz in aktuellen Positionen zur Kulturellen Bildung. (Seefranz o. J.: o.S.)

Die kulturkritische Ausrichtung des Konzepts ›musischer Bildung‹ wurzelt demnach in einer Kritik an der gesellschaftlichen Moderne als rationalistisch und inhuman. Die Kritik beruht auf dem Eindruck, dass der mit der Wissenschaftskonzeption des Rationalismus verknüpfte Aufstieg der Naturwissenschaften die Entfremdung zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ stetig vorantreibt. Des Weiteren wird geltend gemacht, dass die Logik kausal strukturierter Zweckrationalität in ihrer Einseitigkeit dazu führt, dass ›Denken‹ und ›Gefühl‹ oder auch ›Körper‹ und ›Geist‹ voneinander entkoppelt und in einen Gegensatz zueinander gebracht werden. Diese Entzweiungen sollen, so das Versprechen, durch ›musische Bildung‹ überbrückt oder im Sinne von Ganzheitlichkeit versöhnt werden. Damit geht einher, dass das Konzept ›musischer Bildung‹ das dominante Verständnis von ›Denken‹ als kausal strukturierter Zweckrationalität (von a über b nach c) sowie die Vorstellung eines akkumulierbaren ›Wissens‹ bestätigt. Und zwar dadurch, indem das Musische (die künstlerisch-kreative Tätigkeit) als dessen Gegenteil in Anschlag gebracht wird. In dieser Perspektive werden an künstlerisch-kulturellen Praxen die vermeintlich vorbegrifflich-sinnlichen Erfahrungen positiv hervorgehoben und als das Andere zum Begrifflich-Rationalen im Kontext Schule legitimiert. Unter dieser Prämisse werden dann Raum und Ressourcen für das vermeintlich voraussetzungslose Wahrnehmen, Spüren, So-Sein etc. im Kontext Schule gefordert, was mit einer theorie- und reflexionsfeindlichen Haltung einhergehen kann – steht doch das Reflektieren in dieser Perspektive im Verdacht, dem sinnlichen Erfahren entgegenzustehen. In keinem der Interviews sprechen die Lehrer_innen und Künstler_innen von ›musischer Bildung‹. Aber eine Resonanz lässt sich beispielsweise dort ausmachen, wo die Erwartung formuliert wird, dass Theater dem Körperlichen mehr Raum ließe als der sonstige Schulalltag, weil weniger geredet, sondern mehr ›gemacht‹ wird. Theatermachen, so die Erwartung, werde weniger abstrakt und daher auch weniger anstrengend sein als anderer Unterricht. Oder auch wenn aus Künstler_innenperspektive anklingt, dass beim Theatermachen Tabus gebrochen werden, wodurch das ›verschüttete‹ Innere freigelegt wird. Bei diesen Vorstellungen klingen die oben genannten Entgegensetzungen an, die sich in entsprechenden Zuweisungen fortschreiben. Dabei gilt die Kunst / das Theater als Bereich

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für das Wilde, Emotionale, Triebhafte, Ungehörige, Nicht-Rationale und die Schule als Bereich für das Rationale, Normale sowie die herrschende Ordnung aus Begriffen, Definitionen und Regeln etc. 5.3.2 Theatermachen als Raum für eine ›ästhetische Bildung der Differenz‹ 53

Eine in anderen Diskurstraditionen verankerte Bildungsvorstellung macht ↘ Dezentrierung und den Umgang mit Differenz zum Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit Kunst / T heater im Kontext von ›Bildung‹. 54 Zentral ist dabei der Gedanke, dass Prozesse ästhetischer Rezeption und/oder Produktion eine Begegnung mit Fremdem / A nderem ermöglichen und dadurch zu Differenzerfahrungen führen, die das Subjekt in unbestimmbarer Weise zu verändern vermögen. Die Arbeit an und mit der Wahrnehmung auf sich selbst und andere sowie die Reflexion der eigenen Wahrnehmung können zu Selbstbefremdungsmomenten oder auch zu Irritationen der eigenen mentalen Konzepte und dem eigenen Verhältnis zur Welt führen. Daraus resultieren nicht selten konfliktgeladene Situationen beziehungsweise Situationen, in denen sich ein widerständig Anderes formulieren und zeigen kann. In mentalen Konzepten von Kunst- / T heaterpädagogik, die sich an einer ›ästhetischen Bildung der Differenz‹ orientieren, werden künstlerische Arbeitsprozesse sowie die Rezeption von Kunst / T heater als Raum des  53 | Pierangelo Maset, Professor für Kunst und ihre Didaktik, veröffentlichte 1995 die Studie ›Ästhetische Bildung der Differenz. Kunst und Pädagogik im technischen Zeit­ alter.‹ Darin entwirft er eine Kunstpädagogik, die – poststrukturalistisch informiert – vom ›differentiellen Wesen der Subjekte‹ ausgeht. Vor dem Hintergrund fundamentaler, tradierter Selbsttäuschungen wie bspw. derjenigen von der Einheit des Subjekts oder auch der Vorstellung, dass Subjekte über das Sehen einen unmittelbaren Zugriff auf Wirklichkeit haben, eröffnet Maset für den Bereich der Kunstpädagogik eine Perspek­ tive auf disziplinäre Selbsttäuschungen, die mit verschiedenen, nicht-bewussten Vo­ raus-Setzungen einhergehen (z. B. die »Universalisierung eines nur sektoriell gültigen Kunstbegriffs«). Die Begegnung mit Fremdem / Differentem, wie sie der Umgang mit Kunst ermögliche, wird von Maset als Potenzial für Bildungs- und Subjektivierungspro­ zesse konzipiert, wobei es weder darum gehe, Differenz zu nivellieren noch zu essenti­ alisieren. Differentes, das nur in Relationen wahrgenommen werden kann, dient dazu, eigene Kategorien und Hierarchien zu dekonstruieren. »Die Differenz konstituiert das, was sowohl an der Fremdheit als fremd als auch an der Andersartigkeit als andersartig wahrgenommen werden kann und was diese erst hervorbringt. Sie bringt Fremdes und Anderes hervor, und das Ästhetische konstituiert sich aus der Mannigfaltigkeit des Differenten.« (Maset 2012: 131)  54 | Exemplarisch: Agnieszka Czejkowska, Pierangelo Maset, Carmen Mörsch, Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch, Eva Sturm, Ulrike Hentschel, Ute Pinkert und Mira Sack.

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lustvollen Widerstreits und potenziell anstrengender (Selbst-)Verunsicherung aufgefasst. So schlägt Carmen Mörsch (2011) in ihrem Text ›Watch this Space!: Position beziehen in der Kulturvermittlung‹ vor, Kulturelle Bildung als selbstreflexive und kritische Praxis zu betreiben. So verstanden, dient sie [die Kulturvermittlung, SW] der Förderung von gesellschaftlicher Emanzipation und Mitbestimmung und damit auch der permanenten (Selbst-)Befragung und Transformation von Kunst, von Kultur und ihren Institutionen. Sie dient der Ausbildung von Widerborstigkeit. Sie betont das Potenzial der Differenzerfahrung und setzt dem Effizienzdenken die Aufwertung von Scheitern, von Suchbewegungen, von offenen Prozessen und offensiver Nutzlosigkeit als Störmoment entgegen. Anstatt Individuen den Willen zur permanenten Selbstoptimierung als beste Survival-Option anzubieten, stellt sie Räume zur Verfügung, in denen – neben Spaß, Genuss, Lust am Machen und Herstellen, Schulung der Wahrnehmung, Vermittlung von Fachwissen – auch Probleme identifiziert, benannt und bearbeitet werden können. In denen gestritten werden kann. (Mörsch 2011: 19)

Die Bedeutung des Umgangs mit Differenz und Differenzerfahrung resultiert nicht zuletzt aus der Rezeption dekonstruktivistischer, poststrukturalistischer und feministischer Theorie in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften. Sofern Konzepte von Theater und vom Theatermachen ihrerseits von den gleichen Theorieansätzen – beispielsweise im Zuge der jeweiligen Ausbildungen – informiert waren, ließen sich in der Projektpraxis entsprechende Korrelationen erkennen. Vor diesem Hintergrund ist anzumerken, dass der Einfluss poststrukturalistischer Theoriebildung auf das ›postdramatische Theater‹ – beispielsweise hinsichtlich der Tendenz zur Auflösung eines sinn- und handlungsbestimmenden Zentrums sowie der Tendenz zur Selbstreferentialität – seinen Niederschlag findet. Eine Verbindung zwischen dekonstruktivistisch informierten Konzepten von Bildung einerseits und Theater / T heatermachen andererseits hat in den Interviews niemand gezogen. Allerdings finden sich in einigen der Interviews mentale Konzepte von Theater / T heatermachen, die Anknüpfungspunkte zu ›dekonstruktivistischen‹ und ›poststrukturalistischen‹

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Theorieansätzen bieten – so zum Beispiel, wenn eine Künstlerin über ihre Aufmerksamkeit an den Rändern der eigenen Aufmerksamkeit spricht (s. Seite 279; »off record«). Eine solcherart ›dezentrierte‹ und sich selbst de-zentrierende Aufmerksamkeit lässt sich – auf produktionsästhetischer Ebene – an die poststrukturalistische Kritik des autonomen ↘ Subjektverständnisses anbinden (s. Seite 94). 5.3.3 Theatermachen als Raum für Selbstwirksamkeitserfahrungen

Der Begriff ›Selbstwirksamkeit‹ 55 verweist im Kontext Schule auf das Ziel, dass Schüler_innen in der Lage sind, bei der Bewältigung anstehender Situationen zielorientierte Handlungen durchzuführen. Aus Interviewäußerungen zweier Lehrer_innen geht hervor, dass sie in Kunst / T heater die Möglichkeit sehen, innere Repräsentationen von Gedanken, Ideen oder Gefühlen auszudrücken. Dadurch könnten die Schüler_innen lernen, etwas Eigenes zu verfolgen und zu einem Ergebnis zu kommen, in welchem sie das von ihnen verfolgte Ziel wiedererkennen. Die Theaterarbeit an Schulen erscheint in ihrer Perspektive deshalb als sinnvoll, weil die Schüler_innen zur Bewältigung beziehungsweise Umsetzung eigener Ideen vom_von der Künstler_in die als erforderlich erachteten handwerklichen Mittel zur Verfügung gestellt bekommen. Dabei wird Theater als Erweiterung individueller Ausdrucksmöglichkeiten verstanden, so dass es für die Schüler_innen darum geht […] den eigenen Horizont zu erweitern, das Spektrum aufzumachen, um ganz viele Möglichkeiten zu haben, sich auszudrücken. Ich glaube, dass das Jugendlichen und Kindern fehlt: ein Spektrum, sich auszudrücken, egal in welche Richtung. Also nicht fehlt im Sinne von einem Defizit, sondern eher – positiv betrachtet – dass man ihnen Möglichkeiten an die Hand gibt, sich auszudrücken. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

 55 | Selbstwirksamkeit (engl. ›self-efficacy‹) ist ein Konzept aus dem Bereich der Pä­ dagogischen Psychologie. Es »[…] bezieht sich auf die Kompetenz zur Ausübung ziel­ orientierter Handlungen« (Rost 2010: 388). »Selbstwirksamkeit nach Bandura impliziert jedoch nicht nur, dass der Handelnde über das spezifizierte Mittel verfügt, sondern zusätzlich, dass dieses Mittel auch einen Effekt in Bezug auf das angestrebte Ergebnis hat.« (Rost 2010: 772)

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Es ist weniger entscheidend, in oder mit welchem künstlerischen Medium gearbeitet wird, als vielmehr die Erweiterung der Ausdrucksmöglich­ keiten an sich. […] wenn ich als Schüler in der Lage bin zu sagen ›ich kann vielleicht nicht gut zeichnen, dafür kann ich mich aber mit anderen Dingen viel besser ausdrücken, dann nehme ich eben diese Technik‹, dann ist das für mich völlig in Ordnung. Dann muss ich ihn nicht zwingen, seine zeichnerischen Fähigkeiten zu verbessern, wenn er sich in etwas anderem besser ausdrücken kann. Ich kann ihm die Möglichkeiten auf den Tisch legen […].

›Künstlerische Mittel‹ fungieren als Instrumente, die mehr oder weniger beherrscht werden können und deren man sich individuell bedient; die man wählen kann, um Inhalte von individuellem Interesse auszudrücken und dadurch Selbstwirksamkeit zu erfahren.

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5.4 Strategisches Dilettieren 56 als zentrales Moment im postdramatischen Theaterdispositiv Postdramatisches Theater wird mit emanzipatorischen Bestrebungen (bspw. enthierarchisierendes, kollaboratives Arbeiten, Nähe zu Alltagsund Popkulturen) und einer positiv belegten Entgrenzung auf künstlerisch-ästhetischem Gebiet (im Sinne von Neu- und Rekombination verschiedener Stile, Überschreitungen von Gattungs- und Genregrenzen etc.) konnotiert. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem strategischen Dilettieren zu. So strukturieren im postdramatischen Theaterdispositiv ›Bricolage‹ 57 und autodidaktisches Aneignen die Probenpraxis in wesentlich stärkerem Maße als das Streben nach handwerklicher Könnerschaft und Perfektion. Letzteres beansprucht(e) maßgebliche Gültigkeit im dramatischen Theaterdispositiv. Anhand des Bedeutungswandels, den das Dilettieren seit der Klassik erfahren hat, weist der Literaturwissenschaftler Uwe Wirth (2014) darauf hin, dass Dispositive in der Kunst als Aus- und Abgrenzungsgesten funktionieren, indem sie […] die Entscheidung, ob etwas Kunst oder Nicht-Kunst ist, determinieren. Dispositive der Kunst implizieren Machtspiele, in denen es um Fragen der begrifflichen Deutungshoheit und der institutionellen Zugangsbedingungen geht. Sie funktionieren als diskursive Aus- und Abgrenzungsgesten, durch die bestimmte

 56 | Strategisches Dilettieren: Der Literaturwissenschaftler Uwe Wirth befasst sich in mehreren Publikationen mit der Funktion und dem Funktionswandel der Figur des Dilettanten in der Kunst. Als strategisches Dilettieren bezeichnet Wirth den bewussten Verstoß »gegen das Regime der notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten«, mit dem »der Dilettant im modernen Kunstbetrieb zu einem agent provocateur« wird. Der Di­ lettant »begrüßt das Unfertige, Nicht-Perfekte als Form des Neuen. Unter dem Motto ›Gelerntes vergessen‹ entsteht so ein strategischer Dilettantismus, der anerkannte Kunstbegriffe in Frage stellt – und dadurch Kunst schafft.« (Wirth 2014: o.S.)  57 | Bricolage / Bricoleur: Der Ethnologe Claude Levi-Strauss arbeitet in seiner Studie ›Das wilde Denken‹ (1962, dt. 1968) die Funktionsweise mythischen Denkens heraus und zwar als eine Art des ›intellektuellen Bastelns‹ (frz. ›bricolage‹). Den Begriff leitet Levi-Strauss vom Verb ›bricoler‹ ab, das eine unbestimmte, »nicht vorgezeichnete Be­ wegung« (Levi-Strauss zitiert nach Seitz 2011: 67) betont und »damit den offenen Aus­ gang, die Unvorhersehbarkeit der Operation des Bastlers, der aus bereits gebrauchten Materialien etwas Neues formt [...].« (Seitz 2011: 67)

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Einstellungen respektive bestimmte Formen der Ausübung disqualifiziert werden […]. [Wirth 2014: o. S., Hervorhebung im Original]

So werde bei Goethe und Schiller der »Dilettant als bloß Spielender oder als peinlicher Pfuscher [ist] aus dem ›heiligen Bezirk‹ der wahren Kunst ausgeschlossen« (Wirth 2014: a. a. O.). Demgegenüber könne, so Wirth, in der modernen Kunstauffassung ein Wandel der konfigurierenden Konzepte beobachtet werden: Den Orientierungspunkt bildet nicht mehr ein dogmatisch gesetztes Konzept wie die Perfektion, sondern die Provokation: Es geht darum, Neues zu suchen, das nicht ins bestehende Kunstsystem passt. [Wirth 2014: a. a. O., Hervorhebungen im Original]

Der Künstler der Moderne ist »einer, der in Kenntnis aller bisher gültigen Kunstbegriffe, diese zu negieren und zu re-konfigurieren weiß« [Wirth 2014: a. a. O.]. Wirth konstatiert, dass der strategische Dilettantismus im modernen Kunstsystem eine zentrale Funktion einnimmt. Dieser fordere ein reflexives Wissen über die Standards der Kunstbeurteilung und der Kunstausübung heraus, das zum Pendant jener ›notwendigen Kenntnisse‹ wird, die Goethe und Schiller vom wahren Künstler forderten. [Wirth 2014: a. a. O., Hervorhebung im Original]

Die Entkopplung des Kunstanspruchs von einer handwerklichen Könnerschaft ist demnach einerseits vielversprechend und kann befreiend wirken. Andererseits bleibt verdeckt, dass es sich beim postdramatischen Theater nicht etwa um kein Dispositiv handelt, sondern lediglich um ein anderes, und insofern werden die darin agierenden Subjekte lediglich anders gouvernemental 58 diszipliniert. Es sind andere Fähigkeiten, Lern 58 | Gouvernementalität: Der durch den Philosophen Michel Foucault geprägte Be­ griff ist ein Kompositum, gebildet aus ›gouvernement‹ (Regierung) und ›mentalité‹ (Denkweise). Er nimmt eine Scharnierfunktion zwischen Herrschaft, Macht und Sub­ jektivierung ein. Foucault geht es um die Analyse von Punkten, »an denen die Herr­ schaftstechniken über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt. Und umgekehrt muss man jene Punkte betrachten, in denen die Selbsttechnologien in Zwangs- oder Herrschaftsstrukturen integriert werden. Der

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und Arbeitsformen und damit auch andere Voraussetzungen gefordert (sich z. B. eigenmotiviert und selbstorganisiert Wissen anzueignen). Korrespondierend zu Wirth sind auch innerhalb des postdramatischen Dispositivs die reflexiven Bezüge auf das bestehende Kunstsystem relevant. Dem Einzelnen muss das Kunstsystem als solches bewusst sein, damit er_sie sich sowohl auf Rezeptions- als auch auf Produktionsebene in eine Relation zu ihm setzen kann. Diese Fähigkeit ist deswegen so zentral, weil sie eben darüber entscheidet, ob die eigene Arbeit innerhalb des postdramatischen Dispositivs als künstlerisch anerkannt wird. Wer über das fragliche Können verfügt, dem gelingt es, die sich während des Probenprozesses entwickelnde Theaterform oder Spielweise aufgrund ihrer Relation zum Kunstsystem in ihrem Potenzial zu erkennen – unter Umständen gerade weil sie außerhalb dessen liegt, was im Theaterfeld als ›gutes‹ oder ›richtiges‹ Theater anerkannt wird und weil es dem gültigen Verständnis von ›Professionalität‹ entgegenläuft. Wer dieses reflexive Wissen über die Standards der Kunstbeurteilung und Kunstausübung nicht kennt und zudem in Bezug auf das, was er_sie an sozialem und kulturellem Kapital mitbringt, keine Anerkennung erfährt, für den_die wird das bewusste Verfehlen von Könnerschaft und Perfektion anders konnotiert sein als für jemanden, dessen Kapitalien in ›Währungen‹ vorliegen, die von der Mehrheitsgesellschaft anerkannt werden. Carmen Mörsch (s. Seite 86) schreibt, dass für diejenigen Jugend­ lichen bei JUMP  &  RUN – Schule als System, deren Rucksack mit Kapitalien in der ›falschen‹ Währung gefüllt war, das Einüben der Sprachen und Register der anerkannten Kunst (also der Erwerb ›gültiger‹ Währungen) zunächst einmal vor allem eine Teilisolation von ihrer angestammten Peergroup bedeute. Eine Isolation »von dem Feld also, in dem das Kapital aus ihrem Rucksack zählt.« Und sie fügt an: »Wozu sollten sie das wollen?« (s. Seite 93). Übertragen auf das Dilettieren formuliert: Warum sollten die Jugendlichen andere sehen lassen wollen, dass sie etwas nicht ›richtig‹ können? Diese Frage ist mit Bezug auf JUMP  &  RUN – Schule als System deswegen relevant, weil die am Projekt beteiligten Künstler_innen im postdramatischen Theaterdispositiv zu verorten sind und einige von ihnen sowohl die Bereitschaft zum bewussten Dilettieren als auch dessen Anerkennung als ästhetischem Wert seitens der Schüler_innen und Lehrer_innen vorausgesetzt haben. Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist […].« (Foucault zitiert nach Lemke 2001: 119f.)

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5.5 Primärmuster, die die künstlerische Produktion strukturieren Unabhängig vom Ausbildungshintergrund der Künstler_innen lassen sich in den Interviews mit ihnen mentale Konzepte ausfindig machen, die ihnen das Generieren neuer Muster ermöglichen. Diese Art mentaler Konzepte nenne ich heuristisch ›Primärmuster‹. Dabei handelt es sich um Konzepte wie ›Reibung‹, ›Risiko‹ oder ›Authentizität‹. Im Interviewmaterial ist häufig zu lesen, dass es sich bei den von den Künstler_innen gestalteten Probenprozessen um offen-intuitive Suchbewegungen handelt. Zugleich aber werden die Suchprozesse durch bestehende Primärmuster / mentale Konzepte strukturiert, die es den Künstler_innen ermöglichen sich zu orientieren und beispielsweise Entscheidungen darüber zu treffen, ob es sich um ›geeignetes‹ oder ›relevantes‹ Material handelt. Die Primärmuster werden im Zuge der Ausbildung – sowohl auf Ebene des formellen als auch des informellen Lernens – erlernt und stehen in Wechselbeziehung mit dem Feld künstlerischer Produktion. Denn von dort beziehen die Primärmuster aufgrund des aktuellen Wertungshorizonts ihre Gültigkeit. In den Interviews finden sich Umschreibungen, Begriffe und Metaphern, die implizit und/oder explizit im Feld künstlerischer Praxis zirkulieren und zugleich künstlerische Praxis hervorbringen. Zu diesen Begriffen bestehen mentale Konzepte, die die Wahrnehmung der Künstler_innen strukturieren und die es ihnen ermöglichen, ›neue Muster‹ herzustellen, weshalb ich sie als primäre Muster bezeichne: • Reibung • Konflikt • »wenn etwas Neues entsteht« • Risiko (etwas aufs Spiel setzen, sich riskieren, Grenzen überschreiten) • Provokation • Subversion (das Unterwandern / Umgehen von Normen und/oder Grenzen) • Zweckentfremdung durch Aneignung

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• Abstraktion • Distanz-Ästhetik (das Zeichen- und Modellhafte, Deixis, Allegorie etc.) • Brechung / Bruch • Fragment • Authentizität • Mehrdeutigkeit • Ambivalenz • positiver Bezug auf das Dilettieren als Aneignung »gegen das Regime der notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten« (Wirth 2014) • Kontrollverlust • positiver Umgang mit Nicht-Wissen • Ironisierung • das Ungeformte in Relation zum Geformten • Betonung performativer Qualitäten im ›Hier und Jetzt‹ der Zuschauersituation • Kontraste • Selbstreferentialität • Grenzüberschreitung / Spiel mit (normativen) Grenzen Die Professionalität als Künstler_in zeigt sich darin, dass die Künstler_innen intuitiv in der Lage sind, in den Probensituationen mit den Schüler_innen erlernte Primärmuster wahrzunehmen. Wenn man das Primärmuster ›Bruch‹ kennt und im Feld künstlerischer Produktion einzuordnen weiß, wird man in dem von Schüler_innen angebotenen szenischen Material gegebenenfalls ›Brüche‹ erkennen und es in diese Richtung weiterentwickeln können. Hierzu eine beispielhafte Interview­ passage: Künstlerin: Zum Beispiel habe ich sehr früh sowohl aus dem, was die Schüler mir gezeigt haben, als auch aus kleinen Interviews,

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die ich mit den Schülern geführt habe, Texte geschrieben. Ich habe die Interviews umgeschrieben in einen ›Text‹ und beim nächsten Mal mitgebracht. Manchmal waren es aber auch Sachen, die sie nur nebenbei gesagt haben, also nicht während eines Interviews. Da habe ich gesagt: ›Ralf, du hast neulich irgendwann mal von Faultieren erzählt, deswegen habe ich die …‹ Daran haben sie, glaube ich, gemerkt, dass ich ganz viel aufschnappe von ihnen, dass ich sowohl die Einzelnen im Blick habe als auch sage, ich schreibe daraus einen Text. Also ich bin auch eine Art Autor. Und ich glaube, dieses Autorsein, das macht Kathrin (die Lehrerin; SW) nicht. Interviewer: Was ist der Grund, warum du bestimmte Äußerungen aufnimmst und weiterverarbeitest und andere nicht? Künstlerin: […] es hat mich in dem Moment irgendwie gekriegt. Also das ist eine ziemlich intuitive Selektion. Interviewer: Aber würdest du darin einen spezifisch-künstlerischen Zugriff sehen oder eine künstlerische Kompetenz? Künstlerin: Das ist schwer zu sagen, was da genau die Kriterien sind. Das fällt mir jetzt selber auch nicht leicht. Aber ich würde es schon als eine künstlerische Kompetenz bezeichnen. Was aber auch nur mit einer Aufmerksamkeit zu tun hat. Also eine Aufmerksamkeit auf Sachen, die gesagt werden oder die jemand raushaut oder wo irgendwie ›Leben‹ oder eine Aussage drinsteckt. Oder wo man einen Text drin sieht. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

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6. Hypothesen zum Einfluss mentaler Konzepte auf die Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen im Projekt JUMP & RUN Im folgenden Teilkapitel stelle ich Hypothesen zum Einfluss mentaler Konzepte auf die Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen im Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System vor. Sie sind mit dem Anspruch formuliert, dass sie auch auf andere Projekte an Schulen übertragbar sind, in denen Theaterkünstler_innen und Lehrer_innen zusammenarbeiten.

6.1 These 1: Unterschiede, die zwischen mentalen Konzepten bestanden, wurden nicht als zu bearbeitende Unterschiede zwischen Konzepten erkannt, sondern mit der ↘ Subjektposition des Anderen plausibilisiert. Dies führte teilweise dazu, dass bestehende Potenziale zum wechselseitigen Lernen nicht gesehen wurden. Die am Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System beteiligten Lehrer_innen und Künstler_innen agierten auf der Grundlage unterschiedlicher mentaler Konzepte von Theater und von Theatermachen. Es gab Arbeitskonstellationen, in denen die Konzepte wechselseitig anschlussfähig waren oder sich knapp verfehlten oder aber weit auseinander lagen. Im Rahmen dieser Begleitforschung wurde mir deutlich, dass bestehende Unterschiede zwischen den mentalen Konzepten nicht als Unterschiede zwischen Konzepten erkannt wurden. Vielmehr wurden sie mit bereits bestehenden Bildern und Vorannahmen zur ↘ Subjektposition des Anderen (als Lehrer_in oder als Künstler_in) in einen kausalen Zusammenhang gebracht. Dabei wirkten feldspezifisch ausgeprägte mentale Konzepte von ›Kunst‹ und ›Bildung‹ respektive ›Schule‹ als orientierende Referenzrahmen. Potenziell diskursivierbare Unterschiede zwischen den mentalen Konzepten wurden in den retrospektiven Interviews tendenziell ›naturalisiert‹ oder zumindest in selbstbestätigender Weise plausibilisiert. Die Naturalisierung mache ich an Metaphern fest, die sich auf das Wahrnehmen beziehen und die insbesondere dann zum Tragen kamen, wenn es um

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Fragen der Ideenfindung und/oder des Aufgreifens von szenischen Angeboten ging. Zwei hierfür beispielhafte Äußerungen einer Lehrerin sind: Als Künstler_in »schaut man von vornherein bestimmte Sachen anders an« und »dass sie [die Künstlerin, SW] in bestimmten Sachen ein Potenzial sieht, wo ich überhaupt nicht sehe, was man daraus machen kann«. Ebenso beispielhaft ist die Aussage einer anderen Lehrerin: »[…] was sie an künstlerischer Qualität mitbringt, also auch von dem, was sie sieht … damit meine ich einen Künstlerblick und Theaterblick und Schauspielerblick.« Da das Sehen und der damit verbundene Blick als ›natürlich‹ gelten, werden in der Regel weder das Sehen noch der Blick als etwas wahrgenommen, das der Sozialisierung unterliegt. Daher wird in der Regel auch nicht bewusst, dass es sich um ›geschulte Blicke‹ respektive um eine in der Ausbildung und/oder im Feld künstlerischer Produktion an Theatern (bspw. durch Assistenzen) erlernte Wahrnehmung handelt. Stattdessen erklärten sich die Lehrer_innen die bemerkten Unterschiede mit tradierten ›Künstlermythen‹ von einer ›naturgegebenen‹ künstlerischen Gabe, Geschick und/oder Originalität (als Beispiel: Kreativität ›steckt in einem drin‹, während man ›Handwerk‹ erlernen kann). Die Künstler_innen wiederum plausibilisierten die von ihnen bemerkten Unterschiede entlang ihrer Vorannahmen hinsichtlich Schule und dem Lehrer_in-Sein. So zum Beispiel entlang der Vorannahme, dass Lehrer_innen auf Ergebnisse fixiert seien und dass Schule die ›natürliche‹, individuelle Kreativität einenge. So wurden beispielsweise die Nachfragen einer Lehrerin hinsichtlich der Probenplanung und des Umgangs mit Zeit von der Künstlerin nicht als Ausdruck eines anderen Theater- und Probenverständnisses seitens der Lehrerin aufgefasst, die sie stellt, um sich innerhalb des Probenprozesses orientieren und dadurch einbringen zu können. Stattdessen ordnete die Künstlerin die Nachfragen der Lehrerin als ›typisch Schule‹ und ›typisch Lehrerin‹ ein und als Eingriff in ihre ›künstlerische Autonomie‹. Durch die geschilderte Verkennung blieb das wechselseitige Lernpotenzial häufig verdeckt. Diese Art der Verkennung spielt zusammen mit einer ›Ausklammerung des Pädagogischen‹ (s. Seite 285), bei der die Möglichkeit, sich ausgehend von der eigenen künstlerischen Arbeit mit Lehrer_innen über Bildungsprozesse im Kontext Schule auseinanderzusetzen, nicht ›gesehen‹ wird.

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6.2 These 2: Gibt es eine wechselseitige Nähe zum pädagogischen Feld respektive zum Feld künstlerischer Produktion, erleichtert dies ›mentale Kompliz_innenschaften‹ und damit die Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen. Die mentalen Konzepte differenzierten sich entlang von Ausbildung und Vorerfahrungen bei den Akteur_innen individuell aus. Zwar sind ›Lehrer_in‹ und ›Künstler_in‹ sozial konstruierte ↘ Subjektpositionen, die das individuelle Handeln auf diesen Positionen vorstrukturieren. Gleichzeitig jedoch bieten sich Spielräume zu deren Veränderung und für Abweichungen. So kam es im Zuge der Zusammenarbeit auch über die Professionsgrenzen hinweg zu ›mentalen Kompliz_innenschaften‹ zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen. Insbesondere dann, wenn entweder seitens der Lehrer_innen eine biografische und/oder ausbildungsbedingte Nähe zum Feld künstlerischer Produktion vorhanden war, und/oder dann, wenn es seitens der Künstler_innen ein Interesse am Wissen und Können der Lehrer_innen gab sowie eine Bereitschaft zur Wahrnehmung der Spannungsfelder, in denen diese sich bewegen.

6.3 These 3: Inwieweit Theaterarbeiten im Kontext Kultureller Bildung vom Feld künstlerischer Produktion als ›künstlerisch‹ anerkannt werden, hängt unter anderem vom Wissen um die Relation theaterästhetischer Mittel / Techniken zum Status quo der vom Kunstfeld anerkannten zeitgenössischen Theaterpraxis ab. Entscheidend ist, inwieweit der individuelle Gebrauch ästhetischer Mittel entlang von Primärmustern neue Muster generieren kann. Das Praxiswissen der Künstler_innen zeigt sich unter anderem darin, die vom professionellen Bezugsfeld als gültig anerkannten Primärmuster (s. Seite 298) situativ erkennen zu können. Welche Primärmuster (bspw. ›Bruch‹, ›Klischee‹, ›Rahmenverschiebung‹, ›Provokation‹ etc.) von den Akteur_innen des Kunstfeldes (Künstler_innen, Kritiker_innen,

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Publikum, Institutionen etc.) zu welchem Zeitpunkt Anerkennung finden oder nicht, bildet ein dynamisches Spiel, in dem stets Um- und Neuwertungen stattfinden. Wenn Lehrer_innen nicht genügend Kontakt zu diesem ›Spiel‹ haben, können sie diese Bewegungen, die meist unterhalb des Verbal-Bewussten bleiben, nicht wahrnehmen (lernen) und in ihre Arbeit einfließen lassen. So sind beispielsweise die im Schultheater häufig verwendeten Stilmittel ›Freeze‹ und ›Slow Motion‹ für sich genommen weder schlecht noch gut. Es sind mögliche Gestaltungsmittel, die in einer bestimmten Beziehung zum Status Quo aktueller Theaterpraxis stehen. Wenn sie nun ohne Bewusstsein für diese Beziehung verwendet werden, können sie ähnlich unbeholfen wirken wie der Einsatz von Word-Art bei der Gestaltung eines Party-Posters. Die gleichen Mittel aber – und das ist der Clou – erfahren eine komplett andere Bewertung, wenn sie beispielsweise im Sinne einer De-Ästhetisierung eingesetzt und dadurch als bewusst gesetzte Geste des schlechten Geschmacks oder des Ungehobelten lesbar werden. Das Primärmuster (s. Seite 298), das in diesem Beispiel zum Tragen käme, wäre das Konzept des ›Umdeutens / Umwertens‹. ›Freeze‹ und ›Slow Motion‹ erlangen als erkennbare Theatermittel ihre Bedeutung – analog zur Sprache – durch ihre Relation und Differenz zu anderen ästhetischen Mitteln und kulturellen Praktiken. Sie haben – analog zu Wörtern – keine Bedeutung an sich. 59 Aus diesem Grund kommt dem Wissen um die Relation der gewählten theaterästhetischen Mittel / Techniken zum Status quo der vom Kunstfeld anerkannten zeitgenössischen Theaterpraxis eine entscheidende Bedeutung zu, wenn es darum geht, ob die Theaterarbeit von und/oder mit Schüler_innen im Sinne des Feldes künstlerischer Produktion als ›künstlerisch‹ anerkannt wird. Darüber hinaus ist entscheidend, inwieweit der individuelle Gebrauch ästhetischer Mittel als solcher – und zwar in Relation zu der vom Kunstfeld anerkannten Kunstproduktion – seinerseits neue Muster entlang von Primärmustern generiert. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn man mit dem Einsatz von ›Freeze‹ bewusst einen ›Bruch‹ der Erwartungshaltungen seitens des Publikums erzeugen würde (nach dem Motto: ›es ist völlig undenkbar und geradezu lächerlich, in der  59 | Die Entdeckung, dass Wörter keine Bedeutung ›an sich‹ oder aus sich selbst heraus haben, geht auf den Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure zurück. Seine Arbeit zählt zu den Grundsteinen des sogenannten Strukturalismus und damit des ›linguistic turn‹ in den Wissenschaften. Bedeutung entsteht nach Saussure durch Differenzen und Relationen zwischen den Zeichen eines Symbolsystems.

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Berliner Volksbühne ein Freeze zu setzen, das kennt man doch nur aus dem Schultheater‹) und die Inszenierung wiederum bewusst mit solchen Vorbehalten seitens des Publikums spielt (und es infolgedessen für das Publikum nicht auszumachen ist, ob das ›Freeze‹ nun ironisch gemeint ist oder nicht).

6.4 These 4: Mentale Konzepte von Theater und mentale Konzepte von Probenprozessen bedingen sich wechselseitig. Mentale Konzepte von Theater und von Theatermachen fließen in Probenprozesse ein und bedingen, was sich in dessen Verlauf als ›Theater‹ materialisiert. 60 Denn mentale Konzepte von Theater, welche die an einem Probenprozess Beteiligten in die Zusammenarbeit einbringen, wirken auf den Probenprozess und bedingen die Ideen, die entstehen. Zudem strukturieren die mentalen Konzepte von Theater die Art der Beteiligung an einem Probenprozess. Vorstellungen, die mit der Idee von Regietheater verknüpft sind, beinhalten eine hervorgehobene Position des_der Regisseur_in und rufen andere Formen der Mitarbeit auf, als dies bei Konzepten der Fall ist, die auf einer gleichberechtigten Kollaboration ohne Regieposition beruhen. Wenn im Sinne strategischen Dilettierens (s. Seite 295) eine prozesshaft-suchende Probenarbeit angestrebt wird, während der sich die Theaterform entwickeln können soll, wird von der Kontingenz des Mediums Theater ausgegangen. Was sich am Ende solcher Prozesse als Theater materialisiert, entsteht erst als emergente Hervorbringung im Verlauf der Probenarbeit. Künstler_innen können sich dabei an den Primärmustern (s. Seite 298) orientieren. Wer diese nicht ›erlernt‹ hat und intuitiv zu nutzen weiß, dem fehlt in der Probenarbeit die Handlungs- und Entscheidungsgrundlage. Dies bedeutet allerdings auch, dass die ›Offenheit‹ künstlerischer Prozesse, die in den Interviews häufig erwähnt wird, nicht beliebig ›offen‹ ist.

 60 | Matzke (2012: 100ff) weist auf das ambivalente Verhältnis von Probe, Inszenierung und Aufführung hin.

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7. Vorschläge für die Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen Aus den Erkenntnissen und Hypothesen resultieren im Folgenden drei Vorschläge für die Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen, die auf wechselseitige Lern- und Veränderungsprozesse zielen – und damit auf transformatorische Lernprozesse, wie sie sich für die beteiligten Künstler_innen und Lehrer_innen im Zuge der Zusammenarbeit potenziell vollziehen können. Mit ›transformatorisch‹ meine ich in diesem Kontext das Aufmerksamwerden auf eigene mentale Konzepte und blinde Flecke. Die reflexive Bearbeitung eigener mentaler Konzepte kann sich verändernd auf das eigene Handeln in künstlerisch-edukativen Lehr-Lern-Situationen auswirken.

7.1

Vorschlag 1: Projektentwickler_innen nehmen bei der Konzeption eines Kooperationsprojekts die Zusammenarbeit von Künstler_in­­nen und Lehrer_innen bewusst als eine Lehr-Lern-Situationen in den Blick und schaffen (Zeit) Räume und Anlässe, um sie als solche aktiv zu gestalten.

Damit Künstler_innen und Lehrer_innen im Rahmen künstlerischer Projektarbeit an Schulen aus ihrer Zusammenarbeit lernen können, müssen entsprechende Voraussetzungen gegeben sein. Eine dieser Voraussetzungen ist, dass die Situation der Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Künstler_innen von allen Beteiligten als potenzielle Lehr-LernSituation erkannt und angenommen wird, so dass allen transparent ist, dass es um die Entwicklung der eigenen Vermittlungspraxis geht. Das beginnt damit, dass bei der Planung von Kooperationsprojekten zwischen Theater und Schule diese Ebene bewusst in die Konzeption der Projektarchitektur einbezogen und dass zu einem frühen Zeitpunkt die Perspektiven von Künstler_innen und Lehrer_innen eingeholt werden (um bspw. ihre Bedarfe und Wünsche zu erfragen). Des Weiteren müssen für die Reflexionsarbeit im Sinne einer selbstreflexiven Praxis im Rahmen des Projektverlaufs in geeigneten Abständen entsprechende Anlässe (z. B. Werkstätten, Tischrunden etc.) gestaltet werden. Dabei ginge es darum, die in der Praxis der Zusammenarbeit auftretenden Gemeinsamkeiten,

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Unsicherheiten und Widersprüche zu benennen, um sie bearbeiten zu können. In der Projektarchitektur müssten daher konkrete Zeiträume definiert werden, in denen – idealerweise mit externer Unterstützung – die gemeinsame Reflexionsarbeit geleistet werden kann.

7.2 Vorschlag 2: Der Auf- und Ausbau reflektierter Professionalität im Kontext Kultureller Bildung an Schulen kann unterstützt werden, indem beide Professionen (bspw. im Rahmen von Werkstätten) zum Gegenstand der (Selbst-)Reflexion gemacht werden. Mit ›reflektierter Professionalität‹ meine ich, bezogen auf Kulturelle Bildung, die Bereitschaft von Künstler_innen, Lehrer_innen, Dramaturg_ innen etc., hinsichtlich ihrer je eigenen Handlungskontexte über das Zusammenspiel zwischen den Adressat_innen Kultureller Bildung sowie den beteiligten Institutionen und gesellschaftspolitischen Kontexten zu reflektieren und dabei einen Blick für die feldspezifischen Wettbewerbe, ↘ Diskurse, Voraussetzungen und eigenen Vorannahmen zu entwickeln. ›Reflektierte Professionalität‹ meint das Formulieren und Bearbeiten von Grundfragen der eigenen professionsbezogenen Positionierung zwischen Auftrag, pädagogischem / k ünstlerischem Selbstverständnis, zeitgenössischen Ästhetiken und aktuellen Programmatiken in Bildungs- und Kulturpolitik. Um den eigenen ›geschulten‹ Blick in den Blick nehmen zu können und um Erlerntes teilweise wieder zu verlernen, braucht es einen geschützten Raum, in dem mitunter die eigene Souveränität aufs Spiel gesetzt werden kann. Aus diesem Grund ist beispielsweise die Gestaltung einer Phase des Kennenlernens wichtig, die die (Selbst)Reflexion der je eigenen Profession fördert: Was könnte für mich als Lehrer_in am Künstlerischen und was für mich als Künstler_in am Pädagogischen von Interesse sein? Wo liegen Verbindungen und wo gibt es Spannungen aufgrund gleichberechtigter, aber unterschiedlicher Ziele? Wo gibt es Spannungen aufgrund konkurrierender Bildungsvorstellungen? In einer solchen Phase würde es darum gehen, die Neugier für das Andere am Anderen und damit einhergehend auch eine Bereitschaft entstehen zu lassen, das Eigene im Anderen anzuerkennen. Ein Beispiel für

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das Eigene im Anderen: zu sehen, dass sowohl Künstler_innen als auch Lehrer_innen Aufgaben stellen und dass in beiden Fällen pädagogischdidaktische Überlegungen im Spiel sind. Ein mit dieser Absicht gestalteter Raum für das gemeinsame Reflektieren und Bearbeiten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden eigener mentaler Konzepte erfordert von den Beteiligten auch Wissen über Wissen (sogenanntes Metawissen 61).

7.3 Vorschlag 3: Künstler_innen und Lehrer_innen machen ihre Theaterkonzepte transparent, verständigen sich über Probenprozesse (Wann kommt es worauf und warum an?) und ermöglichen dadurch Orientierung. Wenn bei JUMP  &  RUN – Schule als System (phasenweise) nicht klar gewesen ist, warum auf welche Weise und mit welchem Ziel die Probenarbeit angelegt war, dann führte dies auf Seiten der Schüler_innen und Lehrer_innen zu einem Gefühl von Orientierungslosigkeit. Was wann und wie gemacht oder nicht gemacht wurde, welche Impulse hereingegeben und aufgenommen wurden, was warum als ›Material‹ interessant war und was nicht, blieb meist der Verantwortung und Entscheidung der Künstler_innen überlassen. Dass es mit Blick auf iterative, tastend-suchende  61 | Als ›Metawissen‹ gilt das Wissen über Wissen, u. a. das Wissen über Art, Umfang und Herkunft des eigenen Wissens in Bezug auf einen spezifischen Gegenstand oder Bereich, aber auch das Wissen über die Verlässlichkeit von Informationen sowie über deren relative Relevanz. Zum Metawissen gehört auch die Einschätzung eigener ko­ gnitiver Fähigkeiten, das Wissen über Möglichkeiten des Wissenserwerbs sowie das Wissen über die Expertise anderer innerhalb einer Organisation oder eines Teams (Wer weiß was worüber?). Metawissen ist jedoch ein relativer Begriff. Ob Informationen Metawissen oder sogenanntes Basiswissen darstellen, hängt vom Kontext ab. Wenn ein Stundenplan bspw. ein spezifisches Wissen darstellt, können Informationen da­ rüber, an welchen Tagen der Stundenplan gilt, als Metawissen bezeichnet werden. Für Lehrer_innen, die die Aufgabe haben, den Stundenplan zu erstellen, stellt diese Information aber kein Metawissen, sondern Basiswissen dar (vgl. Thuy / Schnupp 1989: 129). Im Kontext von Kooperationsprojekten kann man Metawissen auf das Wissen über (eigene) mentale Konzepte beziehen. Wenn man über dieses Metawissen verfügt, gibt es die Möglichkeit, im Rahmen von Kooperationsprojekten in vor- und nachbereiten­ den Gesprächen zum Unterricht / zu Proben auf Unterschiede zwischen den mentalen Konzepten der Beteiligten aufmerksam zu werden und sie sukzessive zu bearbeiten bzw. einen Umgang mit den Unterschieden zu finden.

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Probenprozesse unter anderem um einen sehr unterschiedlichen Umgang mit Nicht-Wissen und der daraus resultierenden Unsicherheit (im Kontext Schule) geht, zeigt sich, wenn zwei Lehrerinnen gegenüber dem Künstler in ihrem Team äußern, ihnen sei das Gefühl, die Kontrolle abzugeben und/oder zu verlieren, unangenehm. Die beiden Lehrerinnen suchten zur eigenen Orientierung nach fixen Kriterien, um die Aktionen der Schüler_innen während des Probens anleiten zu können. So achteten sie beispielsweise auf die Einhaltung einer gleichmäßigen Schrittabfolge, was dem Künstler nicht nur nebensächlich erschien, sondern sogar kontraproduktiv. Aber, wie weiter oben (s. Seite 298) dargestellt, verfahren auch die Künstler_innen in ihrer Suche nicht beliebig ›offen‹, sondern sie orientieren sich an (teilweise nicht-bewussten) ›Primärmustern‹. Insofern benötigen sowohl die Lehrer_innen als auch die Künstler_innen und Schüler_innen Orientierungspunkte in der kunstanalogen Zusammenarbeit, um Suchbewegungen vollziehen und/oder Entscheidungsprozesse anleiten zu können. Damit Lehrer_innen und Künstler_innen in einem Probenprozess gemeinsam handeln und entscheiden können, kann es angesichts der Unterschiedlichkeit hinsichtlich der Konzepte von Theater und von Theatermachen sinnvoll sein, wenn der_die Künstler_in die Grundlagen seiner_ihrer Arbeitsweise nachvollziehbar und plastisch darlegt und dadurch Möglichkeiten der Orientierung bietet. So könnten sich Künstler_innen im Vorfeld einer Zusammenarbeit fragen, welche Informationen und/ oder Impulse sie Lehrer_innen und Schüler_innen geben können, um eine gemeinsame Arbeitsgrundlage herzustellen. Sie könnten sich fragen, auf welchen Voraussetzungen ihr eigenes Theater- und Probenverständnis beruht und was daraus für die Dramaturgie des Arbeitsprozesses mit den Schüler_innen folgt. Was muss den Beteiligten an die Hand gegeben werden, um ihnen ein selbstbewusst-eigenständiges Arbeiten zu ermöglichen? Gleiches gilt in abgeschwächter Form auch für Lehrer_innen, die ihrerseits spezifische Theaterverständnisse in die Zusammenarbeit mit Theater-Künstler_innen mitbringen. Eine konkrete Möglichkeit in diesem Zusammenhang ist das Zeigen eigener Arbeiten in Form von Videomitschnitten oder sogenannten Showreels, die für die künstlerische Eigenvermarktung hergestellt werden und entsprechend ›catchy‹ gestaltet sind. Eine der Künstler_innen hat im Laufe des Arbeitsprozesses erst auf Anraten der am Projekt beteiligten Lehrerin und trotz eigener anfänglicher Skepsis den Schüler_innen aus ihrer Gruppe ein solches Showreel gezeigt. Im Interview berichtet sie:

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Ich glaube, ein Knackpunkt war, als ich ihnen das Showreel gezeigt habe, was zwei ja schon kannten. […] die waren dann schon mal ein bisschen cooler, was mich und meine Person angeht. Ich glaube, weil sie ein viel klareres Bild davon hatten, was ich mache, und auch darüber, ob sie das jetzt interessant finden wollen oder nicht. Und die anderen hatten das eben noch gar nicht. Paula (Name der Lehrerin; SW) hat mir den Tipp gegeben, obwohl ich da sehr skeptisch war, das Video einfach noch mal zu zeigen. Ich dachte ›das finde ich albern, denen noch mal zu zeigen: Das habe ich gemacht‹. Dann aber dachte ich, man kann das ja gleich verbinden: Man zeigt es ihnen und fragt: ›Welche Puppenarten interessieren euch?‹ – Und das war noch mal ein guter Startpunkt, also das hat wirklich Sinn gemacht. Die Schüler kennen dich überhaupt nicht. Die wissen irgendwie so schwammig, da kommt jetzt jemand, der hat irgendetwas mit Theater zu tun. Was für sie zum Teil ein schwer greifbarer Begriff ist, glaube ich […]. [zweite Interviewserie, Mai / Juli 2012]

Die Entdeckung, die die Künstlerin machte, besteht darin, dass sie das Zeigen eigener Arbeitsproben als inhaltlichen Impuls für die Zusammenarbeit nutzen und gleichzeitig etwas für die Beziehungsebene tun kann. Die Schüler_innen lernen durch das Video verschiedene Puppenarten kennen, erfahren implizit etwas über das Genre ›Theater mit Puppen‹ und eine daran geknüpfte Theaterästhetik, die wiederum mit der Arbeitsweise der Künstlerin verbunden ist. Zudem bekommen sie einen Eindruck davon, wofür die Künstlerin ›steht‹ und können sich dazu verhalten. Dies sorgte im zitierten Beispiel dafür, dass sich die beteiligten Schüler_innen überhaupt etwas unter ›Theater mit Puppen‹ vorstellen und diese Vorstellungen mit ihren eigenen Wertmaßstäben in Beziehung setzen konnten.

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8. Ausblick: Kunstanaloge Prozesse und didaktisch-pädagogisches Denken Am Ende meines Berichts angelangt, zeichnet sich für mich eine zentrale, über den Kontext des Projekts JUMP  &  RUN – Schule als System hinausreichende Einsicht ab. Sie besteht darin, dass zwischen kunstanalogen Arbeitsprozessen und didaktisch-pädagogischem Denken eine Schnittmenge besteht, die sich – idealerweise – wie die Oberflächen eines ›Möbiusbandes‹ 62 zueinander verhalten. Die Vorstellung eines Möbiusbandes soll verdeutlichen, dass kunstanaloges Arbeiten aus didaktischpädagogischem Denken heraus betrieben werden kann und umgekehrt. Hinweise darauf sind meines Erachtens: • dass sowohl Künstler_innen als auch Lehrer_innen ›Aufgaben‹ stellen. Künstler_innen stellen den Schüler_innen Aufgaben zwecks Materialgenerierung (wie im Fallbeispiel 2) und müssen dabei im Blick haben, wie sie diese Aufgaben so formulieren, dass ›interessantes‹ Material entstehen kann. Lehrer_innen stellen ihrerseits ebenfalls Aufgaben und sind (wie im Übrigen auch die Schüler_innen) Expert_innen auf diesem Gebiet. Hier liegt sowohl bei den Künstler_innen als auch bei den Lehrer_innen implizites Wissen vor, das im Rahmen einer Zusammenarbeit explizit und dadurch für das gemeinsame Handeln fruchtbar gemacht werden kann: Was leistet eine ›gute‹ Aufgabe und wie muss sie formuliert sein? • dass sowohl Künstler_innen als auch Lehrer_innen darüber nachdenken müssen, wie sie mit unterschiedlich verteiltem Wissen und Können auf Seiten der Schüler_innen umgehen • dass sich Künstler_innen fragen, was Schüler_innen brauchen, um ›ins Arbeiten‹ zu kommen.

 62 | Ein Möbiusband (auch ›Möbiusschleife‹) ist eine zweidimensionale Struktur mit nur einer Kante und einer Fläche. Es zeichnet sich dadurch aus, dass optisch der Eindruck besteht, es gäbe eine Innen- und eine Außenseite. Tatsächlich aber gibt es kein ›unten / innen‹ und ›oben / außen‹. Folgt man dem Band, kommt man von innen nach außen und dann wieder von außen nach innen (s. Zeichnung S. 312). Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%B6biusband [28.02.2015]

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Wenn man Kunst nicht mehr als das Andere zur Schule beziehungsweise zur Pädagogik begreift, wird der Blick darauf frei, dass didaktisch-­ pädagogisches Denken auch in kunstanalogen Vermittlungsprozessen am Werk ist und diese überhaupt erst ermöglicht. Daher stellt das pädagogisch-didaktische Wissen von Lehrer_innen eine wertvolle Ressource dar. Um belastbare Aufschlüsse über dieses Wissen und dessen Potenziale für kunstanaloge Prozesse zu erhalten, ist es aus Forschungsperspektive unabdingbar, das didaktisch-pädagogische Wissen und Können von Lehrer_innen in den Blick zu nehmen 63, um es in Anlehnung an den Begriff des ›situierten Wissens‹ 64 für künstlerische / k unstanaloge Prozesse im Kontext Schule fruchtbar zu machen.

 63 | Dies geschieht beispielsweise im teambasierten Forschungsprojekt ›Kalkül und Kontingenz‹. Dort untersuchen Berufspraktiker_innen, unterstützt durch ein wis­ senschaftliches Begleitteam (zu dem ich gehöre), bspw. die Frage, was es heißt, eine Aufgabe im Kunstunterricht zu stellen. Einer der Ausgangspunkte hierzu war die Be­ schäftigung mit sogenannten Scores oder auch Handlungsanweisungen aus der Kon­ zeptkunst. Mehr Informationen zu diesem Projekt online unter: https://www.zhdk. ch/?flaks [24.07.2015]  64 | Situiertes Wissen: Konzept und Begriff des ›Situierten Wissens‹ wurden von der Biologin und Feministin Dona Haraway geprägt. Situiertes Wissen »sucht der doppelten Anforderung gerecht zu werden, sowohl die grundlegende historische Kontingenz aller Wissensansprüche und Wissenssubjekte – einschließlich der eigenen – zu berücksich­ tigen als auch auf ›einer besseren Darstellung der Welt‹ zu beharren. Es vertritt, wie sie in kritischer Abgrenzung sowohl gegen einen naiven sozialkonstruktivistischen Ansatz als auch gegen einen unkritischen Empirismus argumentiert, die Doktrin einer ›verkörperten Objektivität‹. Diese Doktrin berücksichtigt – ebenso wie der französische Ansatz der Epistemologie –, dass die Geschichte des rationalen Wissens und seine Produktion nicht unabhängig von der Materialität der Geschichte, den Verflechtun­ gen mit der Technik und der Geschichte der technischen Medien, den Institutionen und den Prozeduren der Macht verstanden werden kann. Verkörperte Objektivität, die Haraway synonym gebraucht mit ›feministischer Objektivität‹, handle, wie sie argu­ mentiert, von zeitlich und örtlich begrenzten Feldern des Wissens und breche mit der Vorstellung eines unmarkierten Blickes. Der Vorstellung eines solchen von zeitlichen und räumlichen Bedingungen unabhängigen Blickes hält sie das Konzept einer partia­ len Perspektive entgegen und plädiert für eine kritische Positionierung des Wissens.« (Deuber-Mankowsky / Holzhey 2013: 9f.)

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+ Anrufung (Interpellation) Um sich als ↘ Subjekt hervorbringen zu können, ist es unabdingbar, verschie­ dene ↘ Subjektpositionen einzunehmen und zwischen ihnen zu wechseln. Es stellt sich daher die Frage, wie es zum Wechsel von einer Position in die andere kommt. Eine Möglichkeit, diesen Wechsel zu verstehen, bietet der Begriff der ›Anrufung‹ des Philosophen Louis Althusser. Nach Althusser ist Ideologie keine verzerrte Vorstellung der Welt, sondern eine sogenannte symbolische Ordnung, die das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen repräsentiert. Diese Ordnung, die sich in und durch ›Sprache‹ (nicht nur gesprochene Sprache, sondern auch Bilder, Schrift, Musik etc.) erzeugt, ist bereits vorhanden, wenn Individuen als Neugeborene in sie eintreten. Die Sozialisierung innerhalb einer symbo­ lischen Ordnung prägt nicht nur das Bewusste, sondern vor allem auch das Unbewusste (psychische Besetzungen, Begehren). Die ›Ideologie‹ befindet sich daher sowohl im Inneren des Subjekts als auch im Außen, wo sie sich in Form von ›ideologischen Staatsapparaten‹ (Schule, Familie, Justiz etc.) materialisiert. Mit Althusser gesprochen, werden aus konkreten Individuen konkrete Subjekte, wenn sie von der symbolischen Ordnung »als konkrete Subjekte angerufen werden, auf diese Anrufung (›Interpellation‹) reagieren und sich mit diesen Interpellationen, die dem Einzelnen eine von der Ideologie bezeichnete Position zuweisen, identifizieren« (Moebius 2009: 424). Beispiel für eine ideologische Anrufung ist der Ausspruch ›Es ist ein Mädchen!‹ oder ›Es ist ein Junge!‹, womit sich Neugeborene adressiert finden. Nimmt man in Abweichung von Althusser an, dass eine Anrufung nicht erst durch den Einzelnen bestätigt werden muss, vollzieht sich die Subjektivierung als Mädchen oder Junge bereits dann, wenn das Baby von anderen als Mädchen oder Junge identifiziert, erkannt und darin zugleich anerkannt wird. Die Anrufung setzt sich im genannten Ausruf auf materieller Ebene fort, wenn Ärzt_innen in den Babypass weiblich oder männlich eintragen und sich eine Vielzahl nachfolgender Entscheidungen an dieser Zuordnung ausrichten. Subjektivierung (Subjektwerdung) bedeu­ tet entlang des Beispiels, dass Individuen im weiteren Verlauf ihres Lebens in einer schier unendlichen Zahl alltäglicher Situationen die Anrufung als Mann / Junge oder Frau / Mädchen immer wieder erneuern und bekräftigen respektive sie immer wieder zu erneuern und zu bekräftigen haben. Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin: VSA. Moebius, Stephan (2009): Strukturalismus/Poststrukturalismus. In: Kneer, Georg/Schroer, Markus (Hg.): Handbuch Soziologische Theorien. Wiesbaden: VS. Seite 419 – 444. Der zweite Absatz der Erläuterung folgt inhaltlich einem nicht-öffentlichen Wiki-Eintrag von Stephan Fürstenberg im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt ›Kunstvermittlung zeigen‹ (2013) am Institute for Art Education in Zürich.

Subalternität Das Wort ›subaltern‹ (von lat. subalternus = ›untergeordnet, nach- oder zweitrangig‹) wird verwendet, um bildungssprachlich in meist abwertender Weise andere als untergeordnet, geistig unselbstständig und unterwürfig zu bezeichnen. In der Folge des marxistischen Philosophen und Schriftstellers Antonio Gramsci wird ›subaltern‹ jedoch auch in einem kri­ tisch-politischen Sinne zur Benennung gesellschaftlich marginalisierter Gruppen gebraucht. Als ›Subalterne‹ werden in diesem Sinne jene Menschen bezeichnet, die sich außerhalb hegemonialer Strukturen befinden und zudem über begrenzte Möglichkeiten verfügen, sich der eigenen politischen Interessen und Stärken bewusst zu werden und sich inner­ halb politischer ↘ Diskurse artikulieren zu können. Subalternität ist daher nicht nur Folge direkter Gewaltausübung, sondern auch Folge diskursiver Hegemonie und entsprechender Ausschlussmechanismen. Hegemonie bezeichnet dabei die Vormachtstellung, Vorherrschaft oder auch Überlegenheit von Institutionen, Organisationen und sozialen Gruppen in politi­ scher, ökonomischer sowie kultureller Hinsicht. Eine konzeptionelle Schärfung erfuhr der Begriff durch die Literaturwissenschaft­lerin Gayatri Chakravorty Spivak (Spivak 1988). Mit Beispielen aus der Zeit des europäischen Kolonialismus arbeitete sie heraus, wie anhand der (weißen) Wissensproduktion über die Kolonialisierten genau diese Kolonialisierten als ›das Andere‹ hervorgebracht wurden. Ohne sich dessen gewahr zu sein, produziert das europäische Erkenntnissubjekt Repräsentationen von Wirklichkeit, die es nicht als diskursiv vorgeformt erkennt, sondern als essentialistisch gegeben verkennt. In dieser (europäischen) ›Wirklichkeitskonstruktion‹ müssen dann dieje­ nigen, die sich nicht selbst innerhalb der über sie geführten Diskurse repräsentieren können, gleichsam ›verstummen‹. Während es sich bei den von Spivak beispielhaft dargestellten Diskursen um eine koloniale Anmaßung des ›Sprechens über‹ handelt, kritisiert sie auch die Vorstellung, für den Anderen handeln und sprechen zu können, der oder die dabei ebenfalls ›verstummt‹: Subalterne nehmen innerhalb von Diskursen keine von den Diskursteilneh­ mer_innen anerkannte ↘ Subjektposition ein, von der aus sie sprechen und vernommen werden könnten. Dies ändert sich nicht zwangsläufig, wenn diejenigen, über die gesprochen wird, selbst reden. Denn um in ihrer ›Rede‹ als Subjekte anerkannt zu werden, müssen sie sich erst den gültigen (hegemonialen) Codes und Artikulationsformen unterwer­ fen. Ab diesem Moment schwindet die Differenz und mit ihr gewissermaßen auch die Existenz als eine subalterne. Insofern gibt es keine Subalternen, die ›sprechen‹ (vgl. Spivak 1988). Spivak, Gayatri Chakravorty (1988): Can the Subaltern speak? – Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus dem Englischen von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny. Wien: Turia + Kant. 2008.

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+ Andere Wege der Bildung?

Subjektanalytische und bildungswissenschaftliche Einsätze zu JUMP & RUN

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von Elisabeth Sattler, März 2013

Wird heute in der Disziplin Bildungswissenschaft nach Bildungsprozessen gefragt, so kommen diese als Transformationsprozesse der Subjekte in der Spät- und Postmoderne in den Blick (vgl. u. a. Koller 1999, Koller 2012, Marotzki 1990). Dabei sind Bildungs- und Subjektivierungsprozesse aufs Engste miteinander verwoben, versteht sich doch der moderne europäische Bildungsgedanke als einer, der den Menschen als vernünftiges und gebildetes ↘ Subjekt allererst hervorbringt. Unter der Chiffre Bildung firmiert immer auch schon eine gesellschaftliche Praktik der Subjektivierung (vgl. Ricken 2006). Gegen die übliche Einschätzung, dass Bildung bloß auf die Einzelnen und deren Wissen oder Können abzielt, zeigt sich damit, dass Bildungsprozesse immer auf soziale Formen, Formierungen und Formationen verweisen und eine ↘ Subjektposition außerhalb der Sozialität undenkbar ist. Wie können wir uns heute solche Bildungsprozesse, solche Subjektivierungsprozesse vorstellen? 1 Was bedeutet es, als gebildetes Subjekt benannt zu werden? Welchen Beitrag leistet so etwas wie Kulturelle Bildung für die transformativen Bildungsprozesse (vgl. Dzierzbicka 2009)? Wie kann das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System aus so einem Denkhorizont heraus verstanden und interpretiert werden? Ich unternehme aus bildungstheoretischer und subjektanalytischer Perspektive den Versuch, Passagen aus dem Projekt JUMP & RUN –  Schule als System zu analysieren. Dabei richtet sich mein Blick auf  1 | Wann immer von Bildungsprozessen die Rede ist, verstehe ich sie als bestimmt formierte Subjektivierungsprozesse, die allerdings nicht eine unbewegte und gleiche Gestalt annehmen, sondern die als in Bewegung, in Transformation befindliche Ge­ stalten gelesen werden können (vgl. Reckwitz 2008, Sattler 2009).

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Möglichkeits­räume, die das mir zu Verfügung stehende Material zum Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System (Konzeptpapier zum Projekt, Festivalprogrammheft, Videomitschnitte des Festivals) eröffnet. Was gibt es aus bildungswissenschaftlicher Sicht zu entdecken? Weil mein Beitrag im Untertitel nach subjektanalytischen und bildungswissenschaftlichen Einsätzen fragt, sondiert er auch die Felder und Orte, an denen sich diese Einsätze vollziehen. Mein Text markiert drei Einsatzfelder zum Projekt. Unter Rückbindung an das Spielgenre Jump 'n' Run liegt es nahe, diese Einsätze immer auch als Spieleinsätze, als Jetons, zu verstehen. Das Einsatzfeld – wir könnten es uns als Roulette-Tisch vorstellen – wird im Folgenden in drei Abschnitten systematisierend untersucht: ( 1.) Subjekt – Schwankende Gestalten, (2.) System – Schule und Theater als stabilisierende Institutionen? und (3.) Bildung – transformierende Bildungswege? Der hier vorliegende Beitrag figuriert in einem (bildungs-)wissenschaftlichen (Sprach-)Spiel – auch wenn es dort meist nicht weit her ist mit viel Bewegung, auch wenn dort Sprünge immer als solche auszuweisen sind und auch die ›Level‹ des akademischen Schreibens so ihre eigenen Tücken haben. Dass die so attrahierende Metapher von Jump 'n' Run für das Projekt inspirierend war und ist, ist leicht nachvollziehbar. 2 Es kann an dieser einleitenden Stelle vorweggenommen werden, dass das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System aus dieser Perspektive keinen anderen Weg zur Bildung eröffnet als herkömmlicher Unterricht – wenn Unterricht denn etwas zur Bildung beiträgt (vgl. Fischer 1978). Das liegt nicht daran, dass das Projekt verbesserungswürdig wäre – sondern bloß daran, dass wir keinen ›Weg zur Bildung‹ kennen, weil Bildung nicht als Resultat oder als statische Position eines Subjekts zu verstehen ist. Ob und inwiefern JUMP  &  RUN – Schule als System andere Wege der Subjektivierung und Entsubjektivierung ermöglicht, die auch als Wege eines Bildungsgangs verstanden werden können, das wird der Beitrag zur Sprache bringen.

 2 | Dass die Metapher möglichweise auch gerade in der Analogisierung von Schule und Computerspielen problematisch sein kann, werde ich an anderer Stelle noch aufgreifen.

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1. Einsatzfeld Subjekt: Schwankende Gestalten 1.1

Spotlight: JUMP & RUN – Schule als System: Subjected?

Denn was bedeutet es, wenn ich hier bis dato von ↘ Subjekten, Subjektformationen und ↘ Subjektpositionen gesprochen habe? Eine subjektanalytische Perspektive nimmt ↘ Diskurse unter die Lupe, in denen bestimmte Subjektformationen repräsentiert, dekretiert, problematisiert oder wieder umgeschrieben, resignifiziert werden (Reckwitz 2008: 11). Subjekt-Sein oder Subjekt-Werden versteht sich daher hier nie substanziell, sondern geschichtlich-gesellschaftlich konstituiert 3; es versteht sich hier nicht als ein Identisch-Sein, sondern als ein Different-Werden. Subjektivierungsprozesse deute ich insofern nicht als Identifikationsprozesse, sondern als Differenzgeschehnisse, deren ↘ Dezentrierungsmomente ebenso bedeutsam sind wie die Zentrierungsmomente. Ein starkes, bloß zentriertes, autonomes, vernünftiges Subjekt, wie es in der europäischen Moderne als aufgeklärtes Ideal formuliert wurde, erweist sich als Fiktion. Subjekte kommen viel eher in Übergängen, Brüchen oder Fraktalen in den Blick, weil diese Passagen eine Ent-Subjektivierung erfordern, mit dezentrierenden Momenten konfrontieren und etwas Neues erfragen. Subjekte figurieren daher als ›schwankende Gestalten‹ (Reckwitz 2008) 4. Der Begriff der Subjektivierung verweist darauf, dass Subjekte nicht als solche ›existieren‹, sondern sich in einem Prozess ständiger Formation und Transformation befinden und jeweils konstituieren. So gibt es kein Subjekt ohne subjektivierenden Prozess, der es zugleich machtvoll unterwirft und ermächtigt. Nach Meyer-Drawe »steht und stand [das Subjekt; ES] niemals wirklich vor der Entscheidung, Souverän oder Untertan zu sein. Die Situation des Subjekts […] ist labil und verführt zu zwanghaften Festlegungen« (Meyer-Drawe 1990: 11). Das Subjekt wird erst zum Subjekt, indem es als solches (an-)gerufen wird, wie Althusser in seiner Skizze als ↘ ›Anrufung‹, als ↘ ›Interpellation‹ (Althusser 1977) des Subjekts formuliert. Es bedarf des/der Anderen, um Subjekt zu werden. Damit ist

 3 | Dass in der Beschäftigung mit Subjektivität als (europäischer) menschlicher Selbst­ verständigungsformel zwischen Subjekt und Subjektivität zu unterscheiden ist, das zeigen die Studien von Norbert Ricken eindeutig (vgl. Ricken 1999).  4 | Vgl. hierzu insbesondere das Projekt ›Schüler als Gestalt‹, dessen Nähe zum aktuel­ len Subjektdiskurs sich nicht nur im Titel spiegelt.

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die moderne (souveräne, autonome und in sich selbst gründende) Subjektivität immer auch schon zur Disposition gestellt, ist sie doch immer mit dem Anderen verwoben und daher heteronom, nicht-souverän, alteritär bedingt. Die Kritik an der Vorstellung eines souveränen ↘ Subjekts (vgl. Sattler 2009) bedeutet nun keinesfalls, dass die Handlungsspielräume schwinden: »Während einige Theoretiker die Kritik der Souveränität als Zerstörung der Handlungsmacht missverstehen, setzt meiner Ansicht nach die Handlungsmacht gerade dort ein, wo die Souveränität schwindet.« (Butler 2006: 32) Gibt es im Material zu JUMP  &  RUN – Schule als System Hinweise auf diese Subjektivierungs- und Entsubjektivierungsprozesse, die neben Zentrik auch immer Dezentrik anspielen und in denen eine Subjektformation riskiert werden muss, um eine neue, andere leben zu können? Nun, das mir zur Verfügung stehende Material lässt legitimerweise keine Aussagen über Prozesse zu, weil längerfristige Zeitspannen, die Prozesse immer benötigen, damit nicht in den Blick kommen. Wohl aber lassen sich Thesen über die jeweilige Positionierung der Subjekte aufstellen.

1.2 Spotlight: Festival-Mitschnitte In dem folgenden Teilabschnitt geht es darum, nach subjektanalytischen Hinweisen im und am Material der Festival-Mitschnitte Ausschau zu halten. Wo und wie kommen Menschen als Subjekte in den Blick, wo werden sie in welcher Formation als (bestimmte) Subjekte erst angerufen? Ein Blick auf das vorliegende DVD-Material erlaubt es, in drei Produktionen exemplarische kleine Einblicke, Mikroblicke auf die Subjekte, Subjektformationen und ↘ Subjektpositionen vorzunehmen. 5 Die Produktion ›Next Level Pause‹ des Projektteams der 7. Klasse der Heinz-Brandt-Schule verweist schon im ersten Bild auf eine Stilisierung und in gewisser Hinsicht auf eine Konformität der Subjektpositionen: Alle Agierenden sind schwarz gekleidet und tragen identische Schlafmasken, auf die sie ihre auf Papier kopierten und ausgeschnittenen Augen aufgeklebt haben (s. Foto Seite 179), so dass die Gesichter der Agierenden in Richtung Animationsgesichter à la Avatar verschoben werden. Nicht durch ihre eigenen Augen bekommen die Darsteller_innen ›ein Gesicht‹,  5 | In meiner Analyse fokussiere ich vorrangig auf drei Projekte, die im ersten Hauptteil meines Artikels benannt und vorgestellt werden.

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sondern durch die Stimmen, die demgemäß mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In kurzer Syntax gehalten, fast schon staccato, werden Selbstaussagen (zum Beispiel: »Ich bin chronisch lernbehindert.« / »Ich bin der kleine süße Junge, irgendwie bin ich immer der kleine süße Junge.«) – kontrastiert mit ›Wir‹-Statements (zum Beispiel: »Wir sind leise.« / »Wir sind höflich und respektvoll.«) – gesprochen. Die Aussagen spiegeln Subjektpositionen im schulischen Kontext, wobei die Wir-Aussagen sowohl als normative Lehrer_innen-Sätze gelesen werden können als auch als Aussagen, die den jeweiligen Schulleitbildern, wie sie so hübsch ideal konstruiert auf den Homepages der Schulen nachzulesen sind, entnommen sein könnten. Die Produktion des DS-Kurses 6 der 8. Klassen der Carlo-SchmidOberschule fokussiert bereits im Titel eine Figuration von Subjektivität: ›Schüler als Gestalt‹ 7, lässt aber zu Beginn der Aufführung die Subjektposition ›Lehrerin‹ in den Blick des_der Zuschauers_in treten, und zwar in einem als Video aufgezeichneten Gespräch, das hörbar macht, dass Lehrerin-Sein nicht die einzig vorstellbare Subjektzuschreibung ist: »…ich könnte mir vorstellen, auch was anderes zu machen…« heißt es da. Im Hauptteil der Produktion zeigen sich dann auch Schüler_innen-Subjektpositionen. So spricht eine Schülerin als Moderatorin zum Publikum und wechselt von dieser Position in die Lehrerinnenposition, um beispielsweise ›ihre‹ Schüler_innen zu fragen: »Was soll ich mit euch machen?« Nach einem Sprachspiel-Intermezzo zu Hänschen-Klein folgt ein Auszug aus einer Schulstunde, in der eine Deutsch-Arbeit geschrieben wird. Auch hier werden die Lehrerinnenposition und mehrere Schüler_innenpositionen allesamt von Schüler_innen eingenommen. Es folgt in einer anderen Kleingruppe ein Polylog über ›Wenn es keine Schule mehr gäbe …‹, der vielerlei, auch veränderbare Schüler_innen-Gestalten anspricht (zum Beispiel: »… wüssten wir viele Dinge nicht?« »… wäre vielleicht vielen langweilig« – der Schüler_in-Status impliziert also entgegen dominanter Schüler_innen-Positionen im Sinne von ›… ich bin gegen Schule …‹ auch so Bilder wie Schule als Ort von Wissenszuwachs oder Schule als  6 | Die Abkürzung ›DS‹ steht für ›Darstellendes Spiel‹.  7 | Im Festivalprogrammheft heißt es zu dieser Produktion: »Ist der Schüler eine Ge­ stalt, die sich der Gestaltung entzieht?« (Harmsen et al. 2012: 15). Eine spannende Frage, weil darin ja noch offengehalten ist, wer hier ›gestaltet‹, wer wie ›gestaltet wird‹. Aus subjektanalytischer Sicht ist es nie nur eine monadologische Selbstgestaltung, sondern es bedarf einer ↘ ›Anrufung‹ von außen, um eine bestimmte ↘ Subjektposition (zuge­ schrieben) zu bekommen und sich selbst zuschreiben zu können.

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Langeweile-Tilger etc.). Das sind nur einige der schwankenden Gestalten, die hier im Raum stehen. Ein weiteres Spiel mit Entwürfen des Selbst, die immer auch Entwürfe der ↘ Anrufung der Anderen als Selbst sind, tritt in einer Sequenz mit vier kostümierten Jungen in den Fokus. Unter anderem mit Langhaarperücken, die an die Pop-Szene der 1980er Jahre à la Modern Talking erinnern, werden Stilisierungen versucht und die heterosexuelle Matrix an unterschiedlichen Positionen und deren Grenzen erprobt. Die Sequenz vollzieht einen re-turn zur anfänglichen Lehrerinnen-Sequenz, der allerdings eine Verschiebung impliziert, weil jetzt aus der Schüler_innen-Perspektive heraus Folgendes gesprochen wird: »Ich habe eine Lehrerin, die kann sich vorstellen, was Anderes zu tun …«. Die letzte hier vorzustellende Produktion ist jene von den Schüler_innen der Schule am Rathaus mit dem Titel ›Die Crew‹. Der Theaterraum reinszeniert einen Schulraum mit Schulbänken. »Ich bin so müde«, »Was, wir haben schon Mathe?«, »Leute, ihr habt vergessen, eure Köpfe aufzusetzen!«, sind einige der durch den Raum flatternden hörbaren Sätze. Die Köpfe der Agierenden sind über Handpuppen dargestellt, es werden also Kopf-Puppen bewegt. Die Dialogfetzen aus dem dargestellten Unterricht verweisen auf Selbstzuschreibungen (»So wie ich scheine, bin ich nicht …«; »… ich bin manchmal peinlich …«; »Ich mag Bier und Wein …«) und auf Kommunikationsmodi der Schüler_innen untereinander (»Du bist zu blöd, ich werde mit der Lehrerin sprechen, damit du wieder in die erste Klasse kommst«), die als Kampf um ↘ Subjektpositionen im Schulleben gedeutet werden können. Nach anderen Puppen-Gesprächen (»Ich bin dein Gewissen.« oder: »Ich nenne dich Hildegard, ich liebe dich, willst du mich heiraten …?«) folgt eine Videoprojektion, die eine bekannte Klassenzimmersituation (re-)inszeniert: Hier sind die Schüler_innenpositionen klar festgeschrieben, nimmt die Lehrerin – wie erwartet – eine disziplinierende Rolle ein (»Das kann ja nicht wahr sein, das ist doch nicht euer Ernst: Aufräumen!«), wobei das Hauptaugenmerk auf den Aktionen der Schüler_innen liegt, die durch das Schulhaus mit der Kamera verfolgt werden.

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1.3 Spotlight: Textmaterial Im folgenden Teilabschnitt untersuche ich die unterschiedlichen, mir vorliegenden Textsorten zum und über das Kooperationsprojekt JUMP  &  RUN – Schule als System als Materialien eines subjektanalytischen Zugangs. Auch hier geht es mir um Hinweise auf das implizite oder explizite Verständnis des Menschen als ↘ Subjekt, um die Gestalten und deren Gestaltungen. Das Festivalprogrammheft gibt Auskunft darüber, dass »Lehrer und Künstler mit Schülern in künstlerischen Teams« (Harmsen et al. 2012: 5) zusammengebracht werden sollten. Hier sind mindestens drei Subjektgestaltungen im Spiel: Lehrer_in, Künstler_in und Schüler_in. Das ›Zusammenbringen‹ verweist darauf, dass diese aus Sicht der Künstlerischen Leitung des Projekts nicht bereits etwas verbindet, sondern dass hier unterschiedliche Positionen zueinander zu bringen sind. Das Konzeptpapier zum Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System perspektiviert die unterschiedlichen Subjekte des Projekts genauer: Schüler_innen der Klassen 7 – 9 werden als eine »Altersgruppe« (Harmsen et al. 2010: s. Seite 45 in diesem Band) gefasst, also in Subjektgruppen positioniert, die das einzelne Subjekt einer ontogenetischen Entwicklung unterordnen: Es sei eine Altersgruppe, »die in entwicklungspsychologischer und gruppendynamischer Hinsicht die Auseinandersetzung mit dem Außen sucht und dabei immer wieder in Konflikte mit dem Normierungsapparat Schule gerät beziehungsweise Strategien entwickelt, um sich scheinbar oder tatsächlich konform zu verhalten« (Harmsen et al. 2010: s. Seite 45 in diesem Band). 8 Kunst wird verstanden als »Aneignung von Lebenswirklichkeiten und gesellschaftlichen ↘ Diskursen. Dies gilt es in actu den Lehrern und Jugendlichen zu vermitteln« (Harmsen et al. 2010: s. Seite 44 in diesem Band). Hinsichtlich der ↘ Subjektpositionen ist hier eine Unterscheidung formuliert, die Künstler_innen in die Subjektposition der Vermittler_innen und Lehrer_innen und Schüler_innen in die Subjektposition der Aneignenden feststellt. Im besten Fall führe dies zu einem künstlerisch inspirierten Unterricht, so heißt es weiter, »da sowohl Künstler als auch Lehrer und Schüler eine ähnliche Haltung  8 | Das Zitat verweist auf entwicklungspsychologische und gruppendynamische Kon­ zeptionalisierungen des Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen. Diese müssen sich mit den Selbstbeschreibungen der Schüler_innen keineswegs decken. Für mich ist es interessant, dass hier im Rückgriff auf psychologische Wissensformationen subjek­ tiviert wird.

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verbinden sollte: nämlich die des Suchenden / L ernenden« (Harmsen et al. 2010: s. Seite 45 in diesem Band). Das relativiert wiederum das zunächst Unterscheidende der drei Subjektpositionen 9 und versucht, sie über eine gemeinsame (erwünschte) ›Haltung‹ zu verbinden. Zur Subjektposition der Künstler_innen merkte Sascha Willenbacher in seinem Tagungsbeitrag 10 an, dass die Bezeichnung Künstler_in als Selbstbezeichnung mehrfach zurückgewiesen wurde, weil sie immer noch mit dem modernen Künstlergeniemythos verbunden sei und daher pathosbeladen (vgl. Willenbacher 2012: 3). Als gewählte Selbstbezeichnungen werden eher Regisseur_in oder Choreograf_in genannt, wobei das Subjektverständnis stärker über eine gemeinsame ›Haltung‹ bezogen wird: der »Bereitschaft und Lust, Widersprüche aufzusuchen, Zusammenhänge zwischen vermeintlich Entferntem zu stiften, Verhältnisse produktiv aufzustören und Routinen des Alltags unterbrechen zu wollen« (aus dem Tagungsbeitrag von Sascha Willenbacher 2012: 3). Ich komme an dieser Stelle auf die Subjektanalyse der Festival-Mitschnitte zurück. Können wir dort jedenfalls von Subjektivierungsund Entsubjektivierungsprozessen sprechen, weil doch Schüler_innen beispielsweise Lehrer_innen spielen? 11 Ist das schon neu und transformierend? Nein, davon können wir hier nicht ausgehen. Denn die Festival­ produktionen sind auch in den ›alten‹ Subjektivierungsformationen zu bespielen. Es muss keinen Unterschied für die Selbst- und Weltbilder machen, mal den Text der eigenen Lehrer_in auf der Bühne gesprochen zu haben; aber es kann einen Unterschied machen, der dann auch weitere Unterschiede nach sich zieht. Daher will ich auf die oben gestellte Frage mit einem ›vielleicht‹ einsetzen. Vielleicht hat der Prozess, der mit JUMP  &  RUN – Schule als System für die Teilnehmer_innen verbunden war, eine alte Subjektivierungsform ins Schwanken gebracht, ein wenig  9 | Denn allen drei Positionen wird eine ›ähnliche Haltung‹ zugeschrieben, wobei das Ähnliche wohl eine Gleichheit bei gleichzeitig größerer Ungleichheit meint. Auch ein wenig unklar bleibt, was denn unter ›Haltung‹ genau verstanden wird.  10 | Gemeint ist die Tagung ›Inszenierung zwischen Verweigerung und Transformation‹ zur gemeinsamen Diskussion und Reflexion des Projekts JUMP & RUN – Schule als System am 8. / 9. November 2012 im Theater an der Parkaue in Berlin. Einladungsflyer online unter: https://www.zhdk.ch/?flaks [24.07.2015]  11 | Den Spielbegriff für die menschliche Selbstbeschreibung zitiert auch die Beschrei­ bung zur Produktion der Klasse 8A2 der Hector-Peterson-Schule ›Action unites – Words devide‹: »Der Mensch ist dem Menschen ein Spiel, denn nur wo der Mensch spielt, ist er frei.« (Harmsen et al. 2012: 38)

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Unsicherheit in das scheinbar sichere ›Ich‹ gebracht. Vielleicht war auch gerade im Prozess des Erarbeitens der Produktionen etwas dabei, was wir rückblickend als einen dadurch motivierten Entsubjektivierungsprozess lesen könnten. Aus der heutigen Perspektive und ohne prozessbegleitende biografische Interviews mit den teilnehmenden Lehrer_innen, Künstler_innen und Schüler_innen, die leider nicht vorliegen (vgl. dazu Koller 1999 und 2012), bleibt es bei einem ›vielleicht‹. Vielleicht hat sich da etwas ereignet; vielleicht wurde etwas angestoßen, das das alte Selbstbild nicht mehr tauglich erscheinen ließ und daher die Not zur Wende, das heißt die Notwendigkeit der Entsubjektivierung angestoßen hat.

2. Einsatzfeld System: Schule und Theater als stabilisierende Institutionen? 2.1 Spotlight JUMP  &  RUN – Schule als System: In den Gängen des Systems? Wenn wir nun danach fragen, welche Bedeutung die Chiffre ›System‹ 12 im Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System (bekommen) hat, so fragen wir nach den Orten, den Topoi, an denen die Subjektformationen Künstler_in, Schüler_in und Lehrer_in unterwegs oder auch für bestimmte Zeiten festgestellt sind. Auch das Spielgenre Jump 'n' Run verweist auf eine bestimmte ›Gangstruktur‹, in der Wege zurückgelegt werden können. Die Metapher Jump 'n' Run steht für ein Vorankommen in Levels, für wiederholbare Spielniveaus, solange eben nicht alle Punkte erspielt wurden, die zum Aufstieg notwendig sind. Was bedeutet so eine Metapher für ein Projekt der Kulturellen Bildung, das Schüler_innen, Künstler_innen und Lehrer_innen in einen produktiven gemeinsamen Prozess führen will?  12 | Die Begriffe System, Institution etc. werden in den Texten (Konzeptpapier, Festival­ programm, Einladungsflyer zur Tagung) zumeist gleichlautend eingesetzt, wenn es um die schulischen Normierungs- und Normalisierungsprozeduren geht. Wie genau sich ›System‹ von ›Institution‹ oder von (unterwerfenden) Strukturen unterscheidet, bleibt unbeleuchtet. Michel Foucaults Begriff der ›Einschließungen‹ (wie z. B. Schulen, Fabriken, Kasernen) scheint mir in dieser Hinsicht ein wichtiger, weil institutionel­ le Strukturen erschließender Terminus zu sein, der klärt, dass mit Einschließungen immer auch Ausschließungen und/oder Aufschließungen verbunden sein können (vgl. Foucault 1994).

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Die Analogien zwischen dem Spielgenre und Schule sind an vielen Orten im Projekt aufgegriffen worden und sie liegen auch nahe. Doch – so ist freilich zu fragen – wo liegen die Differenzen zwischen Schule und diesem Computerspiel-Genre? Sind es tatsächlich dieselben Regeln, die hier wirksam werden? Sind tatsächlich beides ›Spielformen‹, in denen unendlich viele ›Leben‹ zur Verfügung stehen? Was unterscheidet die Gang­ struktur des Spieler_in-Seins von der Gangstruktur des Schüler_in-Seins? Wir wissen, dass die fertigen, programmierten Spiele den Spieler_innen zunächst eine scheinbar unabänderliche Welt samt einer begrenzten Zahl möglicher Wege zur Verfügung stellen. Darin sind keine (ironischen) Verschiebungen, Verdrehungen oder Resignifizierungen möglich – jeder Versuch in diese Richtung endet mit Systemabsturz: Error. 13 Schule – bei aller Normativität und Reglementiertheit – verstehe ich auch als ein variableres Subjektivitätsgeflecht, das Grenzgänge und Balanceakte ermöglicht, weil allen Subjekten eine gewisse Macht und eine gewisse Ohnmacht an diesem Ort eingeschrieben ist; weil bestimmte Vereinbarungen immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden, freilich mit unterschiedlichen Pouvoirs 14 (vgl. Dzierzbicka 2006). 15 Den Differenzen zwischen Jump 'n' Run-Spielen und Schule auf der Spur zu sein, scheint mir spannend und lohnenswert, die Analogien verweisen ja auf Gleichheit bei größerer Ungleichheit. Ich gehe davon aus, dass die Chiffre JUMP & RUN für Schüler_innen leichter dekodierbar war als der Untertitel des Projekts: Schule als System. 16 Ich vermute im Gegenzug, dass den ›erwachsenen‹ Projektteilnehmer_innen der Untertitel des

 13 | Ich schränke meine Aussage durch den Zusatz ›scheinbar‹ ein, weil nahezu jedes programmierte Spiel Stellen aufweist, die ›außerhalb‹ der programmierten Spielinten­ tion liegen. An diese Stellen gelangen Spieler_innen, indem sie sich ›spiel-widersinnig‹ verhalten und hierfür beispielsweise auch bereit sind, die eigene Spiel-Figur ›crashen‹ zu lassen. Es gibt also durchaus die Erfahrung, dass man die Begrenztheit von Spielen erkennt, um dann mit diesen Grenzen zu spielen, indem man sie bewusst aufsucht – auch wenn dies zur Folge hat, dass man (Bonus-)Punkte verliert. Ich danke Sascha Willenbacher für diesen Hinweis.  14 | Redakt. Anm.: in diesem Kontext ›Macht‹, ›Machtbefugnisse‹ oder ›Macht­bereiche‹  15 | Agnieszka Dzierzbicka (2006) zeigt in ihrer Publikation ›Vereinbaren statt Anord­ nen‹ auf, dass und inwiefern der Modus der Vereinbarung im pädagogischen Kontext zwischen ungleichen Partner_innen getroffen wird.  16 | In den ausgewählten Schul- und Altersstufen wäre es spannend, mal bloß phä­ nomenologisch bei Schüler_innen zu erkunden, welche Bilder zu ›Schule als System‹ auftauchen.

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Projekts die klarere, leitendere Perspektive war als JUMP & RUN 17 – leichter logisch einzugrenzen und über viele Jahre bedacht, erfahren, erlitten, kritisch reflektiert u. v. a. m. 18 Da – pro Einzelprojekt – im Team zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen die jeweiligen Rahmen für die Partizipation von Schüler_innen entwickelt wurden, sehe ich dort eine direkte Wiederaufnahme des Untertitels ›Schule als System‹. Der Untertitel verhindert vielleicht auch den Einbezug des Systems ›Theater‹ in die Auseinandersetzung – also beispielsweise eine Reflexion der Zuschauersituation (Wer zeigt wem von welcher Position aus was: Wer ist auf der Bühne, wer schaut zu und wie will man mit dieser Aufteilung umgehen?) sowie ein Nachdenken über Theater als einem Apparat oder eine, eigenen System mit eigenen Gangstrukturen 19. So wird im Zuge des Festivals dann eben ›Theater‹ gemacht – das ist auch lohnenswert und vielleicht ein wichtiger (Zwischen-)Schritt zu weiteren, dann vielleicht dekonstruktiven Arbeiten in Formen einer zeitgenössischen darstellenden Kunst. Möglicherweise bedarf es zuerst dieses einen ›gesicherten‹ Schritts auf den Brettern, die manchen die Welt bedeuten. Möglicherweise bedarf es der Erfahrung, des Erarbeitens und Durcharbeitens im zunächst selbst nicht befragten Theater›system‹, bevor auch dieses zur Disposition gestellt werden kann. Vielleicht, denn vielleicht ist es auch ein Einrichten in den bekannten Gängen des konstatierenden Darstellens, das diejenigen stärker ins Licht rückt, die ohnedies leibliche Präsenz im Sprechen, Singen und Performen ausspielen können. Ob damit aber im Rahmen des Theaters – und so bleibt zu vermuten: auch im Rahmen ›Schule‹ – selbst schon kritische, oder gar subversive Kräfte entfaltet werden? ›Wer‹ ist das System? Sind nicht auch variable, mächtige (im Sinne Foucaults, also machtvolle und nicht herrschaftliche) Systeme denkbar, in denen Neues möglich wird, das heißt: Ermöglichen Systeme nicht auch Transformationen ins Neue?

 17 | Hier vermute ich wiederum bei den ›Erwachsenen‹ einen höheren Erklärungs­ bedarf, was denn ›Jump 'n' Run‹ sei, auch wenn genau sie die Spieler_innengeneration dieser Spiele waren oder hätten sein können.  18 | Ein Blick auf die Häufigkeit, mit der in den Textmaterialien (Konzeptpapier, Tagungsflyer) von ›Schule als System‹ die Rede ist, lässt im Vergleich zu den Festi­ val-Mitschnitten eine deutlich stärker gewichtete Beschäftigung in den Texten erkennen.  19 | So wurde in den Produktionen, die ich für diesen Text im Blick habe, beispielswei­ se nie die starre Positionierung in Spieler_innen einerseits und Rezipient_innen als applaudierendes Publikum andererseits zur Disposition gestellt.

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Bevor ich mich dieser Frage in bildungstheoretischer Perspektive annähere, folge ich – wie schon beim 1. Abschnitt – dem Material, zunächst den Festival-Mitschnitten und dann den textlichen Materialien zum Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System unter der Perspektive von Schule und Theater als stabilisierenden Institutionen.

2.2 Spotlight: Festival-Mitschnitte Durch die Produktion ›Next Level Pause‹ zieht sich das Ticken einer Uhr. In einem Mittelteil werden Insignien der Schule 20 vorgestellt, indem sie via projizierten Fotos visualisiert und von einem Schüler im Tonfall eines dozierenden Experten kommentiert werden: unter anderem die Schuluhr 21, die immer falsch geht; der Pausenhof, der keine Sitzgelegenheiten bietet; der Nahversorger nebenan, der aber in der Pause nicht frequentiert werden darf; das Handy, das aus- oder auf stumm geschaltet sein soll; die Raucherbank, die angekettet ist; der Schüler_innenclub, aus dem Bildung und Bücher ausgeklammert sind etc. Im Videoausschnitt, der zu Beginn der Produktion ›Schüler als Gestalt‹ zu sehen ist, kommt die Regelmäßigkeit des Schulalltags für Lehrer_innen (Geld, Urlaub etc.) zur Sprache. In der folgenden Sequenz stellt eine Schülerin als Moderatorin das Fach Darstellendes Spiel vor. Dieses Fach – so hört das Publikum – sei eine Vorbereitung, wenn man später ›Schauspieler‹ werden wolle. Aber – so der Nachsatz – so viele ›Schauspieler‹ brauche es ja nicht.

 20 | Auch andere Produktionen nehmen die räumliche und architektonische Struktur von Schule auf, zum Beispiel die Produktion der Kulturwerkstatt 9 des Leonardo-daVinci-Gymnasiums in ›Alles muss raus‹. Das Programmheft gibt Folgendes dazu zu lesen: »Schulen sehen prinzipiell alle gleich aus. Die Flure sind immer gerade und geo­ metrisch, in den Klassenzimmern gibt es eine klare und frontale Ausrichtung. Wir ha­ ben uns damit beschäftigt, die konkrete Schule und ihre Gegenstände anders erfahrbar zu machen und unsere Sicht auf den Alltag Schule aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Langweilen sich Stühle? […]« (Harmsen et al. 2012: 21)  21 | Die Schuluhr taucht in unterschiedlichen Projekten auf, wie zum Beispiel in der Produktion ›Ich bin nicht da‹ der Klasse 7 der Schule am Zille-Park: »Die Rhythmus­ gruppe gibt den Takt vor: Schulstunde, Pausen, die Zeit, die vergeht.« (Harmsen et al. 2012: 25)

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Auch in der Produktion ›Die Crew‹ werden Elemente aus der Welt der Schule 22 auf die Bühne gebracht: zusätzlich zu den oben bereits benannten Symbolen (Schulbänke, Schüler_innen-›Rollen‹) sind dies die zu erledigenden Hausaufgaben (ein Schüler seufzend: »… immer diese Hausaufgaben …«), der permanente Druck, weiterzukommen (»Brauchst du Hilfe? Kriegst du aber nicht; kommst du nicht weiter? Du bist zu blöd …«) sowie die Imperative, Ordnung zu halten.

2.3 Spotlight: Textmaterial Im Festivalprogrammheft erscheint die ›Institution Schule‹ mit ihren »offiziellen und inoffiziellen Regelwerken« »wie ein gigantisches Jump 'n' Run« (Harmsen et al. 2012: 4). Schule kommt so als ein »Hindernisparcours mit Belohnungsanreizen« (Harmsen et al. 2012: 4) in den Blick und es stellt sich die Frage: »[...] lässt sich Schule auf diese Formel verkürzen?« (Harmsen et al. 2012: 4). Was macht ›Schule als System‹ aus, wenn hier nicht Personen oder Inhalte im Fokus stehen, sondern das strukturierende institutionelle Gebilde? Schule erscheint dann als »Soziotop, als Lebenswelt, als Mikrokosmos« (Harmsen et al. 2012: 4). Die Autorinnen des Festivalprogrammhefts, also das Künstlerische Leitungsteam, geben den einzelnen Teams des Projekts einen gemeinsamen thematischen Rahmen: »Schule als System. Es geht um die Auseinandersetzung mit der Institution Schule, ihren bekannten und geheimen Gesetzen und Mechanismen, mit ihrer Funktion für die Gesellschaft, mit ihrer Aufgabe zur Disziplinierung des Einzelnen, der Vermittlung von Inhalten und Fähigkeiten.« (Harmsen et al. 2012: 6). Damit ist die Frage gestellt, wie die Institution Schule auf die Einzelnen »wirkt und umgekehrt«, um »Strategien des Lernens und der Anpassung, des Zusammenlebens, des Vorankommens und Scheiterns von Schülern, Lehrern und anderen Mitgliedern des Systems Schule« (Harmsen et al. 2012: 6) in den Blick zu bekommen. Die Dramaturg_innen der am Projekt beteiligten Theaterhäuser, die das Konzeptpapier (Harmsen et al. 2010: ab Seite 42 in diesem Band) zu JUMP  &  RUN – Schule als System erarbeitet haben, fassen Schule als  22 | Diese und andere Perspektiven auf ›Schulwelten‹ werden in mehreren Produk­ tionen in den Blick gerückt, so zum Beispiel vom Team der Klasse 9d der SophieBrahe-Schule mit dem Titel ›Multiversum - Das System läuft parallel‹.

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»Normierungsapparat« (Harmsen et al. 2010: Seite 45 in diesem Band), der eine scheinbare oder tatsächliche Konformität fordert. Ziel des Projekts ist eine Auseinandersetzung mit Schule als System, die in eine theatrale Form übersetzt werden kann (Harmsen et al. 2010: Seite 42 in diesem Band). Dabei geht es auch darum, »aus der Perspektive von Lehrern das System Schule abbilden zu können« (Harmsen et al. 2010: Seite 42 in diesem Band). Gegenstand aller künstlerischen Projekte ist unter anderem die Untersuchung des Zusammenlebens im System Schule. Zu diesem gehört auch das örtliche Umfeld der Schule, die Architektur des Gebäudes etc. (vgl. Harmsen et al. 2010: Seite 46 in diesem Band). Der Titel des Projekts JUMP  &  RUN – Schule als System spielt »auf Analogien« zwischen dem Computerspielgenre und dem System Schule an, »das ebenfalls einen Hindernisparcours mit Belohnungsanreizen darstellt« (Harmsen et al. 2010: Seite 47 in diesem Band). Der Idee nach transferiert das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System das System Schule ins Theater, »um es dort als gesellschaftlich variabel und gestaltbar erfahrbar zu machen« (Harmsen et al. 2010: Seite 47 in diesem Band). Damit nimmt das Projekt für sich in Anspruch, »nach Hinweisen auf reale Veränderungen und die Veränderbarkeit von Schule zu suchen« (Harmsen et al. 2010: Seite 47 in diesem Band). 23 Sascha Willenbacher (2012) thematisiert in seinem Arbeitspapier zur Tagung ›Inszenierung zwischen Widerstand und Transformation‹ 24 den Gedanken, dass Schule als Ort der gesellschaftlichen Reproduktion derzeit einen Wandel erfahre, der nicht von soziokulturellen Veränderungen losgelöst betrachtet werden kann (Willenbacher 2012: 7). 25 Das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System ist aus seiner Perspektive insofern als kritisch-dekonstruktiv zu verstehen, weil es Strukturen als solche zum Untersuchungsgegenstand machen will (Willenbacher 2012: 11). Aus  23 | Und das bedeute – so die Verfasser_innen des Konzeptpapiers – heute: »Karriere­ planung mit Eintritt in den Kindergarten oder Vorbereitung auf die Arbeitslosigkeit.« (Harmsen et al. 2010: Seite 47 in diesem Band). Aus solch einer Perspektive ist das Bil­ dungssystem ein binär kodierendes: Karriere oder Drop-out, wobei der Eintritt in den Kindergarten wohl auch schon ein später Zeitpunkt der Karriereplanung sein dürfte, wenn man bspw. die gehypten pränatal und postnatalen ›Bildungsangebote‹ für die Kleinsten in den Blick nimmt.  24 | Die Tagung fand ein halbes Jahr nach den Präsentationen der Projekte im Thea­ ter an der Parkaue Berlin statt und diente der Reflexion und Diskussion des Gesamt­ projekts JUMP & RUN – Schule als System.  25 | Ich würde hinzufügen, dass es auch um einen multidimensionalen Wandlungs­ prozess geht, der auch ökonomische, epistemologische u. a. Dimensionen betrifft.

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seiner sehr intensiv eingebundenen Perspektive heraus 26 zeigt sich auf konzeptioneller Projektebene ein blinder Fleck hinsichtlich der Frage, in welcher Weise Theater selbst und dessen Vermittlung »schulähnliche Strukturen reproduzieren kann« (ebenda). Damit weist Willenbacher explizit darauf hin, dass auch Theater – analog zur Schule als kulturell kodierter Bildungsinstitution – nicht voraussetzungslos ist. 27 Hier setzt auch Carmen Mörsch (2012) in ihrem Beitrag zur Tagung an: Im Rahmen von JUMP  &  RUN – Schule als System wurde von einer Gegensetzung im Sinne einer These-Antithese ausgegangen: Theater = Anti-Struktur versus Schule = Struktur (Mörsch 2012: Seite 99 in diesem Band). Dass aber nicht nur das System Schule, sondern auch das System Theater kritisch zu durchleuchten wäre, das ist eine Forderung, die im Projekt nicht ausreichend Raum bekommen hat (Willenbacher 2012: 16). Das System Theater habe – in wertschätzender Absicht – gerade durch die Setzung eines Festivals als Zielpunkt des Gesamtprojekts den Werk­ charakter aufgerufen und damit eine bestimmte theatrale Produktions­ logik starkgemacht (Willenbacher 2012: 4). 28

 26 | Sascha Willenbacher war als Dramaturg und Theaterpädagoge einer der Mitver­ fasser_innen des Konzeptpapiers zu JUMP & RUN – Schule als System. Siehe dazu das in diesem Band abgedruckte Tagungsprogramm auf Seite 356 / 357. Einladungsflyer zur Tagung online unter: https://www.zhdk.ch/?flaks  27 | Das Theater verlange – so Willenbacher weiter – beispielsweise ein spezifisches kulturelles Vorwissen und Kommunikationsfertigkeiten, eine Lust am Austausch, am Probieren, die Fähigkeit zur Konzentration (vgl. Willenbacher 2012: 6). Darüber formie­ re sich auch wieder eine bestimmte Subjektanforderung, die im Theater (als System?) gestellt wird. Eine weitere subjektivitätsrelevante Frage schließt Sascha Willenbacher hier noch an: »Ist bei Fehlen dieser Voraussetzungen eine Grenze für künstlerische Theaterprojekte erreicht? Oder müsste das Nachdenken gerade hier ansetzen?« (Wil­ lenbacher 2012: 6). Aus meiner Perspektive muss das Nachdenken genau hier an- und einsetzen, weil erst dann Transformationen aller drei beteiligten Subjektpositionen (Schüler_innen, Lehrer_innen, Künstler_innen) möglich werden. Erst dann bleiben Theater, Kunst und Künstler_innen nicht in einer übergeordneten vermittelnden Po­ sition scheinbar ›außen vor‹, sondern bedürfen neue Dreh- und Angelpunkte für das Eigene und das Fremde (im Eigenen).  28 | Carmen Mörsch konstatiert in ihrem Beitrag – entlang der von ihr gesichteten Festival-Mitschnitte und den ihr vorliegenden Informationen über das Festival – das Fehlen von Institutionskritik in den Produktionen, die nicht so sehr das System Schule als Thema behandelt, sondern die es ermöglichen würde, »dass die Kooperationen […] zu performativ-künstlerischen Eingriffen in das System Schule selbst führen […].« (Mörsch 2012: s. Seite 92 in diesem Band)

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3. Einsatzfeld Bildung: Transformierende Bildungswege? Im nun folgenden dritten und letzten Abschnitt frage ich nach transformierenden Bildungswegen von Subjekten, die sich auch in Institutionen positionieren. An dieser Stelle wendet sich das Verständnis von ›Einsatzfeld‹ im Text, weil auch nach einem bildungswissenschaftlichen Einsatz – nach dem ein oder anderen pädagogischen ›Spiel-Jeton‹ – gefragt wird – ein Verständnis von ›Einsatzfeld‹ also, das Passagen aus JUMP  &  RUN – Schule als System bildungswissenschaftlich bearbeitbar machen kann.

3.1 Spotlight JUMP & RUN – andere Wege der Bildung? Der dritte Abschnitt folgt in der Struktur einer anderen Logik als die beiden vorhergegangenen. Das liegt auch daran, dass eine Analyse von ›Bildung‹ aus dem Material heraus nicht möglich ist. Denn Bildung wird weder in den Videomitschnitten des Festivals 29 noch im Konzeptpapier 30 oder dem Festivalprogrammheft 31 explizit benannt oder ausgedehnt

 29 | In der Produktion ›Next Level Pause‹ kommt der Begriff ›Bildung‹ zweimal zur Sprache. Beide Nennungen fallen im Kontext der Perspektive der Schüler_innen auf ih­ ren Schulalltag. Anknüpfend daran, dass der Gebrauch des Handys verboten ist, fragen sie: »Was ist erlaubt?« Antwort: »Bildung ist erlaubt […].« Kurze Zeit darauf wird der Schülerclub vorgestellt, der so charakterisiert wird, dass hier eben nicht von Bildung und nicht von Büchern gesprochen werden darf.  30 | Auch im Konzeptpapier ist die Rede von »einem künstlerisch inspirierten Un­ terricht« (Harmsen et al. 2010: s. Seite 44 in diesem Band) und von »Strategien des Lernens und der Anpassung« (Harmsen et al. 2010: s. Seite 46 in diesem Band), die im Projekt JUMP & RUN – Schule als System untersucht werden sollen. Das Stichwort »Bil­ dungschancen« (Harmsen et al. 2010: s. Seite 47 in diesem Band) wird einmal genannt, wo es um die Suche nach Hinweisen auf reale Veränderungen und die Veränderbarkeit von Schule im Rahmen der Projektarbeit geht.  31 | Das Festivalprogrammheft beginnt mit einem Gruß- und Vorwort der Schirmherrin Adrienne Göhler, in dem sie davon ausgeht, dass Lernen »für alle Beteiligten nur über die Erfahrung des Machens entstehen kann« (Harmsen et al. 2012: 3). Sie stellte ihrem Grußwort ein Zitat des chinesischen Philosophen Konfuzius voran: »Erkläre es mir – Ich werde es vergessen. Zeige es mir – Ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun – Ich werde es können.« (Harmsen et al. 2012: 3). Damit wird das Können im Tun, im Handeln als bedeutsam ausgewiesen. Ansonsten gibt es keine weiteren Stellen im Festivalprogrammheft, an denen Bildung explizit zur Sprache kommt.

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bearbeitet. 32 Interessant scheint mir, dass im textuellen Projektmaterial von Lernen, Entwicklung etc. die Rede ist, obwohl das, was inhaltlich als Zielperspektive genannt wird, sehr wohl bildungstheoretische Relevanz aufweist. So fragt Carmen Mörsch in ihrem Beitrag mehrmals nach Kultureller Bildung 33, die in ihrer transformativen Funktion darauf abzielt, Institutionen nicht unverändert zu lassen, sondern sie in einem handlungspolitischen Sinne in eine Mitgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu involvieren (Mörsch 2012: s. Seite 85 in diesem Band). Kulturelle Bildung sieht sie – bezogen auf JUMP  &  RUN – Schule als System – in einem Spannungsfeld positioniert: einerseits dem schulischen Auftrag folgend, auch die »aus der hegemonialen Perspektive schwächsten Glieder der Kette auf die Reise mitzunehmen und sie zum Mitspielen zu ermächtigen« (Mörsch 2012: s. Seite 102 in diesem Band) und andererseits dem theatralen Auftrag folgend, »künstlerische Exzellenz zu produzieren« (Mörsch 2012: s. Seite 102 in diesem Band). Wie – so fragt Carmen Mörsch – kann Kulturelle Bildung eine Arbeit ermöglichen, »die auch ihre eigene Ermöglichungsfunktion problematisiert« (Mörsch 2012: s. Seite 104 in diesem Band)? Es steht damit zur Diskussion, wie in diesem Widerspruch zu arbeiten sei, in »einem trotzdem« (Mörsch 2012: s. Seite 104 in diesem Band; Hervorhebung im Original). 34 Nicht Bildung, sondern Lernen und offenes Lernen ist mehrfach Thema im Tagungsbeitrag von Sascha Willenbacher. Er skizziert, dass im Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System die Lernprozesse auf der Ebene der Erwachsenen »dem Zufall überlassen« (Willenbacher 2012: 12) wurden, wie auch »die Frage, wie künstlerische Prozesse in der Zusammenarbeit mit den Schüler_innen zugleich Bildungsprozesse sein können oder sollen« (Willenbacher 2012: 12). Mit Blick auf die für das  32 | Die Leerstelle, die hier in den Blick rückt, kann projektstrategisch sehr klug sein, entzieht sich doch Bildung sowohl einer einheitlichen Definition als auch einer kla­ ren evidenzbasierten Forschungslogik. Da es sich bei JUMP & RUN – Schule als System aber nicht um ein Forschungsprojekt, sondern um ein Kooperationsprojekt zwi­ schen Schule und Theater handelt, geht es wohl nicht primär um forschungslogische Unwägbarkeiten.  33 | Sascha Willenbacher thematisiert berechtigterweise, dass Projekte der Kulturellen Bildung – auch wenn sie genau das Gegenteil intendieren – »Ungleichheitsverhältnisse verstetigen« können (Willenbacher 2012: 9).  34 | Weil Ermächtigung – so Mörsch weiter – immer nur Selbstermächtigung sein kann und dabei vor allem eine »Selbstermächtigung gegen« ermöglichen muss: »Eure Zwe­ cke sind nicht unsre Zwecke« (Mörsch 2012: s. Seite 104 in diesem Band). Damit spannt sich der Bogen zurück zu Subjekten und deren Subjektivierungen.

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Projekt relevanten Lernverständnisse, die er »an der Nahtstelle zwischen künstlerischen respektive suchend-forschenden Prozessen zu offenen Lernformen« verortet, kommt ein Lernen in den Blick, das mit Zweifeln, Staunen, mit Fremdheitserfahrungen und anderem und nicht mit dem »Konsum von fertigen Weltbildern« 35 (Willenbacher 2012: 14) konfrontiert. Auch die Arbeit an der »Gestaltung von Interaktionen in künstlerischen Lehr-Lern-Situationen« (Willenbacher 2012: 17) fragt Sascha Willenbacher an. Wie aber sind Lehren und Lernen zu Bildung zu relationieren? Ich beschäftige mich nun im letzten Teil meines Beitrags mit Fragen nach Wegen der Bildung im Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System. Wenn ich einleitend konstatiert habe, dass das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System keinen anderen Weg zur Bildung eröffnet als herkömmlicher Unterricht, dann spielt diese Beobachtung genau auf dieser argumentativen Ebene. Weder die Bildungswissenschaft noch die Bildungspraxis kennt einen ›Weg zur Bildung‹, weil Bildung nicht als Resultat oder als statische Position eines Subjekts zu verstehen ist. Und weil Bildung immer schon ein Bildungsprozess ist, dessen Ende – im Gegensatz zu erzieherischen Interventionen, die auf ihr eigenes Ende hin angelegt sind, an dem Fremderziehung im besten Fall in Selbsterziehung übergeht – nicht in Sicht ist. Die Prozessdimension von Bildung macht es auch schwierig, in bestimmten Projektzeiträumen wie dem von JUMP  &  RUN – Schule als System ›Ergebnisse‹ evaluieren zu können. Die Prozessdimension stellt auch bildungswissenschaftliche Forschungen immer wieder vor methodische Problemlagen, die ein Projekt klugerweise umgeht, indem es Bildung dort als Begriff nicht setzt. Doch damit ist freilich die Sache mit der Bildung nicht erledigt. 36 Wenn in den schriftlichen Selbstproklamationen (Konzeptpapier, Festivalprogrammheft etc.) von Strategien des Lernens und der Anpassung, von Verhalten etc. die Rede ist, dann ist damit auch nochmals eine Differenz zu Bildung eingetragen. Denn nicht jeder Anpassungsvorgang,  35 | Ein bildungstheoretisch orientiertes Lernverständnis fragt – so würde ich formu­ lieren – nach Selbstbildern und Weltbildern, wobei Letztere die Anderen implizieren.  36 | Für meinen Blick erscheint Bildung als ein blinder Fleck innerhalb des Projekts JUMP & RUN – Schule als System. Es ist gut verständlich, dass ein herkömmliches Bil­ dungsverständnis von Theatern im bildungsbürgerlich und staatstragenden Sinn ge­ dacht wird und/oder aus dem gleichen Grund per se unter Ideologieverdacht gestellt wird. Dennoch denke ich, dass es Möglichkeiten gibt, aktuelle Bildungsprozess-Ent­ würfe mit einem spezifischem Kunstverständnis zusammenzudenken, das die Künste dort am Werk sieht, wo sie Wahrnehmungen, Zuschreibungen, Ordnungssysteme auch zu stören, Routinen zu irritieren vermögen.

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nicht jedes Verhalten ist relevant für Bildungsprozesse, sondern ein Tun, ein Handeln, das mit Zweifeln, Staunen, Fremdheitserfahrungen, veränderten Selbst- und Weltbildern beschäftigt ist. Ja, diesen letzten Teilsatz haben Sie schon einmal gelesen: Ich habe hier nochmals Sascha Willenbachers Aussage zu einem für das Projekt JUMP  &  RUN – Schule als System bedeutsamen Lernverständnis genannt. Damit verschiebe ich meine Aussage, dass Lernen (oder Anpassung oder Verhalten) und Bildung immer schon zwei unterschiedliche Gegenstandsbereiche darstellen. Lernen kann relevant für Bildungsprozesse sein, wenn damit ein bestimmtes Lernen in den Bick kommt, das nicht ein Sachwissen beschreibt und ein additives Verhältnis zum Wissensstand und Kompetenzstand meint, sondern wenn Lernen mit Irritation, mit Enttäuschung einer Erwartung über sich und die Welt, mit Selbst- und Weltsicherheitsverlust, mit Erfahren und Erfahrung und anderem mehr zu tun hat. 37 Dass Bildungsprozesse immer auf Subjektformationen, auf Verständnisse des Menschen von sich selbst, bezogen sind, liegt auf der Hand. Dass auch Systeme auf ihre Subjekte hin befragt werden können und die Frage gestellt werden kann, wer oder was Systeme sind – wenn nicht mehr oder weniger verfestigte Strukturen von mächtigen ↘ Subjektpositionen und deren Spielräume –, verweist auf die Zusammenhänge zwischen den drei Teilabschnitten meines Beitrags: Subjekt / System / Bildung sind hier analytische Kategorien, deren tatsächliche Verwiesenheiten und Verwobenheiten untereinander nicht zu lösen sind. Zum Abschluss meines Beitrags skizziere ich im Rekurs auf die Arbeiten von Hans-Christoph Koller (2012) ein aktuelles prozessuales Bildungsverständnis, das ich für Projekte der Kulturellen Bildung wie JUMP  &  RUN – Schule als System für aufschlussreich halte. Bildungsprozesse kommen bei Koller als Transformationsprozesse in den Blick, die neben einer skeptischen Dimension 38 auch eine hervorbringende, innovative Dimension beinhalten: »›Gebildet‹ wäre demzufolge nicht das einheitliche Subjekt, sondern ein Subjekt, das seine eigene Gespaltenheit und Vielfältigkeit ebenso anerkennt wie die radikale Vielheit anderer Sub 37 | Vgl. dazu die bildungswissenschaftlichen Arbeiten von Käte Meyer-Drawe zum Umlernen (Meyer-Drawe 1982 und 2008) sowie die Arbeiten von Konstantin Mitgutsch (2009) zu Lernen durch Enttäuschung.  38 | Die skeptische Dimension macht Koller an der Respektierung von Differenzen und Inkommensurabilitäten fest. Sie ist damit eine strikte Zurückweisung aller totalisie­ renden Versuche, einen Metadiskurs zu inthronisieren und/oder einen Widerstreit in einen Rechtsstreit zu überführen.

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jekte und ihrer Artikulationsformen.« (Koller 2001: 47). Bildung besteht »… auch im (Er-)Finden neuer Sätze und Sprachspiele für das, was danach drängt, gesagt zu werden, aber mit den vorhandenen Möglichkeiten nicht artikuliert werden kann. ›Gebildet‹ in diesem Sinne wäre weniger das autonome als das kreative, paralogische Subjekt, das durch gezielte Regelverletzungen Neues hervorbringt und dabei dem Widerstreit Geltung verschafft.« (Koller 2001: 47)

+ Performativität Durch den Sprachphilosophen John L. Austin (1962) wurde eine wichtige sprachphilosophische Erkenntnis zum ersten Mal systematisch begründet: die Möglichkeit, durch sprachliche Äu­ ßerungen zu handeln. Für solche Äußerungen prägte Austin den Begriff ›performative utterances‹. Ein einfaches Beispiel für eine performative Äußerung ist die Eheschließung durch eine_n Standes­ beamt_in, wenn gesagt wird: »Kraft meines Amtes erkläre ich Sie hiermit zu …«. Mit der Sprechakttheorie und der Klassifikation sogenannter performativer Sprechakte wurde es möglich zu verstehen, in welcher Weise ›Sprache‹ Zustände in der sozialen Welt verän­ dert beziehungsweise soziale Wirklichkeit als solche miterzeugt. Im Beispiel verändert sich auf individueller Ebene die soziale Wirklichkeit durch den Eintritt in den Stand der Ehe. Zugleich wird die Ehe als eine Institution sozialer Wirklichkeit anerkannt und fortgeschrie­ ben. »Während konstative Äußerungen einen bestehenden Sachverhalt beschreiben oder Tatsachen behaupten und folglich wahr oder falsch sind, vollziehen performative Äußerun­ gen eine Handlung, die sie benennen. Mit performativen Sprechakten werden Handlun­ gen vollzogen, Tatsachen geschaffen und Identitäten gesetzt. In diesem Sinne können sie zwar nicht wahr oder falsch sein, jedoch gelingen oder fehlschlagen.« (Posselt 2003). Der Sprachwissenschaftler Emile Benveniste greift den Begriff des Performativen bei Austin auf und betont dessen autoritative und subjektkonstitutive Funktionen (vgl. Posselt 2003). »Für poststrukturalistische Positionen entscheidend ist die Differenzierung zwischen Performanz (performance) und Performativität. Während Performanz verstanden als Aufführung oder Vollzug einer Handlung ein handelndes Subjekt vorauszusetzen scheint (das ist auch die Position der Sprechakttheorie), bestreitet der Terminus Performativität gerade die Vorstel­ lung eines autonomen, intentional agierenden Subjekts. Die Performativität einer Äußerung unterstreicht deren Kraft, das Äußerungssubjekt und die Handlung, die sie bezeichnet, in und durch diesen Äußerungsakt allererst hervorzubringen.« (Posselt 2003; Hervorhebung im Original) Judith Butler hat Performativität für die Gender Studies und andere Bereiche bedeutend gemacht. Mit Blick auf alltägliche Situationen – beispielsweise wenn nach einer Geburt »Es

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Hans-Christoph Kollers Konzeption von ›Bildung anders denken‹ (Koller: 2012; vgl. dazu aber auch Koller 1999 und 2001) beschreibt damit das Hervorbringen eines neuen, anderen Blicks – und damit verbunden eines neuen, anderen Subjektverständnisses – als ein Moment dieses Bildungsprozesses, der nicht als Resultat oder Ergebnis zu sichern ist, sondern der wiederum neue Erfahrungsräume über Resignifizierungen anspielt. Die von Koller (2012) im Rückgriff auf die Arbeiten von Jean

ist ein Mädchen!« ausgerufen wird – entfaltet Butler den Gedanken, dass ›Geschlecht‹ kei­ ne rein biologische Kategorie ist, sondern durch performative Äußerungen gesellschaftlich ›hergestellt‹ wird. In dieser Perspektive sind die Subjekte, die performative Akte setzen, selbst das Resultat performativer Äußerungen. Geschlechtsidentität ist aber nicht nur durch diesen Akt performativ begründet, sie wird auch durch die Wiederholung von Praxen, die als ›Mann sein‹ oder ›Frau sein‹ historisch etabliert sind, immer neu aufgeführt und da­ durch bestätigt. In der Differenz von Wiederholung zu Wiederholung liegt laut Butler aber auch der Handlungsraum des Subjekts und die Möglichkeit zur Subversion. Denn identi­ sche Wiederholungen sind insofern unmöglich, als dass sich stets minimale Abweichungen ergeben, sich Fehler in die Wiederaufführung einschleichen und dadurch Verschiebungen produzieren. Wirklichkeitswirksame Verschiebungen können damit sowohl bewusst als auch nicht-bewusst evoziert werden. Durch diese Weiterentwicklung wird das Konzept der Perfor­ mativität anschlussfähig an das Bedeutungsfeld ›performance‹ – im Sinne von Aufführung, verbunden mit ›Theatralität‹. Performativität beschreibt demnach, dass soziale Wirklichkeit durch die bewusste und/oder unbewusste (Wieder-)Aufführung von historisch gewachsenen Handlungsmöglichkeiten hergestellt wird. Vor diesem Hintergrund erlebt der Begriff Perfor­ mativität in den Kulturwissenschaften seit den 1990er Jahren einen großen Aufschwung, da Kulturen als Summe performativer, wirklichkeitserzeugender Aufführungspraxen untersucht und verstanden werden können. Die Erläuterung zum Begriff ›Performativität‹ ist an den Glossareintrag von Nora Landkammer (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Art Education) auf der Website des Institute for Art Education angelehnt. Link zum Online-Glossar: http://iae.zhdk.ch/iae/deutsch/glossar. [29.07.2014] Austin, John L. (1962): How to Do Things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955. Postum herausgegeben von James Opie Urmson und Marina Sbisà. Zweite, verbesserte Auflage Clarendon Press, Oxford 1975 [1. Auflage 1962]. Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York. (dt. Titel: Das Unbehagen der Geschlechter.) Posselt, Gerald (2003): Glossareintrag zum Begriff ›Performativität‹. Online unter: http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=4 [29.07.2014]

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François Lyotard, Judith Butler und anderen entwickelte prozessuale Bildungstheorie fasst Sprechen im weiten Sinne als Sprachhandeln, in dem sich immer auch die Frage nach der Handlungsmacht des Subjekts stellt, »d. h. nach den Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass Subjekte innerhalb einer gegebenen gesellschaftlichen und politischen Ordnung verändernd wirksam werden können« (Koller 2012: 131). Transformationsgeschehen kommen aus dieser Perspektive als Resignifizierungen in den Blick. Die Entstehung neuer, anderer Subjekt- und Weltfigurationen vollzieht sich aus dieser Perspektive als sprachliche oder zeichenförmige »Praktik, die bereits vorhandene Figuren wiederaufführen und dabei zugleich abwandeln« (Koller 2012: 134). 39 In und mit ihren Impulsen für Veränderungen, Veranderungen (othering) erscheinen Bildungs- und Kunstprozesse als Möglichkeitsräume für Entsubjektivierungsprozesse. Denn künstlerische wie bildende Erfahrungen verweisen auf einen Umgang mit Irritationen, mit Grenzen und Ereignissen, die in der Frage »Geschieht es?« (Lyotard 1989: 299) ihren Ausdruck finden. 40 Kunst- und Bildungsprozesse können aus der Alterität, aus der irreduziblen Andersheit des Anderen das Potenzial zur Subjektivierung und Entsubjektivierung, zur Veränderung und Veranderung [sic; ES] des Subjekts, anstoßen. In Fragen der Kulturellen Bildung suchen wir damit »nach Momenten des Unkontrollierbaren, nach Momenten, in denen die kulturellen Schließungen scheitern, in denen die Konflikte um das scheinbar Universale auf brechen, in denen das Eindeutige sich als mehrdeutig und hybride erweist, die Orte, an denen der Spielcharakter der Kultur deutlich wird« (Reckwitz 2008a: 298). Unter einer so skizzieren Perspektive zeigt sich freilich nochmals deutlich die Grenze zu einem binär kodierten Spielgenre namens Jump 'n' Run. Was sich jedenfalls auch zeigt, ist das Potenzial des Projekts JUMP  &  RUN – Schule als System, das ich hier in Ausschnitten in dessen subjektanalytischen und bildungstheoretischen Dimensionen fokussiert  39 | Das Neue erscheint freilich nicht als das »›ganz andere‹, völlig Unbekannte, Noch-Nie-Dagewesene, sondern vielmehr als eine Wiederholung des schon Vorhande­ nen, die das Wiederholte in einen anderen Kontext versetzt und so in seiner Bedeu­ tung verschiebt« (Koller 2013: 134).  40 | In poststrukturalistischer Perspektive sei jeder starke, an das ↘ Subjekt gekop­ pelte Autonomiebegriff zu verabschieden zugunsten dessen, was ›das Ereignis‹, das ›Unkontrollierbare‹ etc. genannt werden könnte (vgl. Reckwitz 2008a: 298). Während es für eine klassisch-kritische Position nur möglich war, im Rahmen des Rationalen das Autonome zu denken, so sei es poststrukturalistisch nur »gegen das Rationale, gegen die fixierten Regulierungen möglich« (Reckwitz 2008a: 298).

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habe. JUMP  &  RUN – Schule als System kann andere Wege zur Bildung anstoßen, auch wenn bei Bildungsprozessen – aus der Außenperspektive – letztlich niemand wissen kann, ob ›es geschieht‹.

DR.IN PHIL. Elisabeth Sattler ist Professorin für Kunst- und Kultur­ pädagogik am Institut für das künstlerische Lehramt an der Akademie der bildenden Künste Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Erziehungs- und Bildungsphilosophie insbesondere auf Fragen nach Kultureller Bildung, Subjektanalysen sowie Lehren und Lernen.

literatur Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung). In: ders. (Hg.): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg, Berlin: VSA. Seite 108 – 153. Butler, Judith (2006): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Dzierzbicka, Agnieszka (2006): Vereinbaren statt Anordnen. Neoliberale Gouvernementalität macht Schule. Wien: Löcker. Dzierzbicka, Agnieszka (2009): »Es sieht gut aus für die Kunstpädagogik«. Schulpädagogisches Agendasetting und seine Spielräume. In: Egermann, Eva / Pritz, Anna (Hg.): school works. Beiträge zu vermittelnder, künstlerischer und forschender Praxis. Wien: Löcker. Seite 45 – 57. Fischer, Wolfgang (1978): Bildung trotz Schule. In: ders.: Schule als parapädagogische Organisation. Kastellaun: Henn. Seite 158 – 172. Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Harmsen, Mijke / Stang, Kristina / Willenbacher, Sascha (2010): Konzeptpapier zum Projekt JUMP & RUN – Schule als System. – Ein ursprünglich nicht zur Veröffentlichung verfasstes Papier, das in diesem Band ab Seite 42 nachgelesen werden kann. Harmsen, Mijke / Schlie, Camilla / Stang, Kristina (Hg.) (2012): Festivalprogrammheft. JUMP & RUN – Schule als System, 11. + 12. Mai 2012, HAU1 – HAU3. Online unter: https://www.zhdk.ch/index.php?id=38657 [15.09.2015] Lyotard, Jean-François (1989): Der Widerstreit. München: Fink. Koller, Hans-Christoph (1999): Bildung und Widerstreit. München: Fink. Koller, Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer. Marotzki, Winfried (1990): Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie: Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag. Meyer-Drawe, Käte (1982): Lernen als Umlernen. Zur Negativität des Lernprozesses. In: Lippitz, Winfried / dies. (Hg.): Lernen und seine Horizonte. Phänomenologische Konzeptionen menschlichen Lernens. Königstein: Scriptor. Seite 19 – 45. Meyer-Drawe, Käte (1990): Illusionen von Autonomie. München: Peter Kirchheim.

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Meyer-Drawe, Käte (2008): Diskurse des Lernens. München: Fink. Mitgutsch, Konstantin (2009): Lernen durch Enttäuschung. Wien: Braumüller. Mörsch, Carmen (2012): Darüber, hinaus. Mehrwert mit Marx: den über den Wert der Arbeitskraft hinausgehenden Teil der Wertschöpfung. Vortrag im Rahmen der Tagung ›Inszenierung zwischen Verweigerung und Transformation‹ am 8. / 9. November 2012 im Theater an der Parkaue Berlin. Eine redigierte Fassung des Vortrags findet sich in diesem Band ab Seite 85. Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt. Bielefeld: transcript. Reckwitz, Andreas (2008a): Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld: transcript. Ricken, Norbert (1999): Subjektivität und Kontingenz. Würzburg: Königshausen & Neumann. Ricken, Norbert (2006): Die Ordnung der Bildung. Bielefeld: transcript. Sattler, Elisabeth (2009): Die riskierte Souveränität. Erziehungswissenschaftliche Studien zur modernen Subjektivität. Bielefeld: transcript. Willenbacher, Sascha (2012): Unveröffentlichtes Arbeitspapier zur Fachtagung ›Inszenierung zwischen Verweigerung und Transformation‹. Dieses Arbeitspapier wurde den Teilnehmer_innen im Vorfeld der Tagung als Diskussionsgrundlage zur Verfügung gestellt.

Anerkennung Unter dem Begriff der Anerkennung wird in und zwischen verschiedenen kultur- und sozialwissenschaftlichen Diszip­ linen, aber auch in Bereichen der Rechts- und Wirtschafts­ wissenschaften, über das Verhältnis zwischen Einzelnem und Gesellschaft diskutiert. Summarisch kann gesagt werden, dass Anerkennung als Vorbedingung dafür gilt, sich als Individuum oder als soziale Gruppe gegenüber anderen Individuen, Gruppen oder Institutionen an gesellschaft­ lichen Prozessen beteiligen zu können – und dies vor dem Hintergrund eigener, spezifisch-differenter Eigenschaften. ↘ Anerkennungstheorien basieren auf dem Gedanken, dass sich Selbstbewusstsein nur in der Begegnung mit ei­ nem Anderen entwickeln kann. Zudem geht man in ihnen davon aus, dass das Verhalten gegenüber anderen direkte Aus­ wirkungen auf das eigene Selbstverständnis hat. In Anerkennungstheorien gilt die Erfahrung von anerkennender Anerkennung als wesentlich für die Aufrechterhaltung einer positiven Identität und Handlungsfähigkeit. Im Unterschied zu Anerkennungstheorien gelten in ato­ mistisch-wirtschaftsliberalistischen Ethiken und Gesellschaftstheorien Individuen als au­ tonome Einheiten, die aus sich selbst heraus agieren und sich daher erst in einem zweiten Schritt freiwillig zu Gesellschaften zusammenschließen (wie man z. B. an Vertragstheorien sehen kann). Hinsichtlich der Entwicklungen zu Migrationsgesellschaften ist der Begriff der ›Aner­ kennung‹ im pädagogischen Feld eine relevante Denkfigur, in der es um das Spannungs­ verhältnis zwischen Identitätsentwurf und den Umgang mit Differenz geht. Die Spannung resultiert aus der Forderung nach einer Anerkennung von Differenz einerseits und der damit einhergehenden Notwendigkeit zu Unterscheidungspraktiken andererseits, durch welche der oder die Andere als Andere_r überhaupt erst (re-)konstruiert wird. Um aus einer sich daraus ergebenden Identitäts- und Fixierungsfalle herauszukommen oder sie zu vermeiden, ver­ weist Mecheril auf Auseinandersetzungen um Kategorien wie Ambivalenz, Dekonstruktion, Transdifferenz oder Unreinheit (vgl. Mecheril 2012: 8). Dabei geht es Mecheril darum, »der Unrepräsentierbarkeit und der Prozesshaftigkeit von Differenz-Phänomenen Rechnung zu tragen«, wodurch »die einfache und unmittelbare Praxis der Anerkennung des Anderen als Anderer fraglich wird« (Mecheril 2012: 8). Mecheril, Paul (2012): Ästhetische Bildung und Kunstpädagogik. Migrationspädagogische Anmerkungen. In: Landkammer, Nora / Mörsch, Carmen (Hg.): Art Education Research. Nr. 6/2012. Online unter: http://iae-journal.zhdk.ch/no-6 [20.07.2015]

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+ JUMP & RUN? Sitzen und Seinlassen!

Skizze eines Forschungsprojekts zum Potenzial aktiven Nichttuns

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von Alice Lagaay, Dezember 2013

Das Lassen ist kein besonderer Fall, es ist eine elementare Qualität des menschlichen Tuns. […] Es kann darum nichts schaden, einmal nicht das Lassen vom Tun, sondern das Tun vom Lassen her zu denken. Seel (2002: 270)

Weshalb ist das Lehren schwerer als das Lernen? Nicht deshalb, weil der Lehrer die größere Summe von Kenntnissen besitzen und sie jederzeit bereithaben muss. Das Lehren ist darum schwerer als das Lernen, weil Lehren heißt: lernen lassen. (Heidegger 1951;52: 17f. / Hervorhebung: AL)

Das Paradigma der menschlichen Performanz hat die Geistes- und Kultur­w issenschaften in den letzten Jahrzehnten stark geprägt. In vielen Disziplinen, ob in der Philosophie, Psychologie, Soziologie, Anthropologie, in den Kultur- und Theaterwissenschaften oder auch den Erziehungswissenschaften, dominierte ein Interesse für Prozesse des Erzeugens von menschlicher Realität und Subjektivität. Aus einer Vielzahl von Perspektiven heraus wurde formuliert, wie der Mensch seine Welt, also seine sozialen Verhältnisse und die eigene Subjektivität, nicht bloß passiv erfährt, sondern durch seine Tätigkeiten, seine sprachlichen Praktiken, körperlichen und technischen Handlungen selbst konstituiert und erschafft. 1  1 | Die Einsicht, dass ›Welt‹ oder ›Wirklichkeit‹ nicht als objektiv Gegebenes ›vorliegt‹, sondern vom Einzelnen durch Symbolsysteme wie Sprache (mit)erzeugt wird, findet

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Diese konstruktivistische Sichtweise, die die Performanztheorie bislang durchzieht, geht einher mit einer Fülle von ›positiv‹ konnotierten Begriffen wie zum Beispiel ›Präsenz‹, ›verkörperte Sprache‹, ›Ereignishaftigkeit‹, ›Aktualisierung‹, ›Intervention‹, ›Leistungsfähigkeit‹, ›Selbst-Optimierung‹, ›Beschleunigung‹, ›Effektivität‹ usw. 2 Neueste Ansätze in der Theorie deuten jedoch auf eine Verschiebung hin. Wissenschaftler_innen aus verschiedenen Disziplinen beginnen, diese konstruktivistischen, aktivistischen und positivistischen Ansätze der Performanztheorie kritisch zu hinterfragen und – wo nötig – zu revidieren. 3 Bei meinem eigenen philosophischen Forschungsprojekt an der Universität Bremen geschieht dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen versuche ich, von ›innen‹ heraus das phänomenale Spektrum der Performanztheorie zu erweitern, indem ich auf das wirksame Potenzial des Nichttuns, des Unterlassens und der Zurückhaltung, also auf das Potenzial der ›Kehrseite der Aktion‹, fokussiere. Dabei verlieren Phänomene und Begriffe wie ›Absenz‹, ›Schweigen‹, ›Unterlassen‹ und ›Scheitern‹ allmählich etwas von ihrer meist negativen Konnotation. 4 Zum anderen rücke ich die Grenzen des bereits erwähnten konstruktivistischen Paradigmas innerhalb der Performanztheorie in den Blick, indem ich sowohl auf die Destruktivität performativer Handlungen als auch auf die passive Dimension menschlichen Daseins hinweise. 5 Im Folgenden werde ich in aller Kürze beispielhaft einige der zentralen Forschungsfragen, die mich beschäftigen, skizzieren, um die grobe Richtung der Gedankenbewegung anzudeuten. Anschließend wird auf ein grundsätzliches Problem dieser theoretischen Forschung hingewiesen, bei dem die Zusammenarbeit mit praxisbezogenen Projekten wie JUMP  &  RUN – Schule als System in besonderer Weise weiterhelfen kann. Umgekehrt können die Berufspraktiker_innen versuchen, über das Potenzial von ›Lassen‹ oder ›Nichttun‹ in pädagogischen Verhältnissen nachzudenken und auf ihre eigene Praxis anzuwenden. ihren Niederschlag in sozial-konstruktivistischen Theorien und Modellen. Ein Beispiel hierfür ist das für die Pädagogik einflussreiche ›Lebensweltmodell‹ von Peter Berger und Thomas Luckmann (1966).  2 | Für einen allgemeinen Überblick über Theorien des Performativen siehe zum Bei­ spiel Fischer-Lichte / Wulf (2001, 2004) und Wirth (2002).  3 | In dieser Richtung vgl. z. B. Seel (2002), Vogl (2008), Koch (2012) und Strässle (2013).  4 | Vgl. z. B. Gronau / L agaay (2008 und 2010). Siehe auch: Koller / Rieger-Ladich (2013).  5 | Vgl. dazu Busch / Därmann (2007), Strässle (2013) und Lagaay / L orber (2012).

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1. Landkarte der ›negativen‹ Performanz Die Erweiterung der Konzepte der Performanz und des Performativen (↘ Performativität, Seite 338) beruht auf Überlegungen, wie auch das Unterlassen von Handlungen als performativ wirksam verstanden werden kann. Dabei sind vor allem folgende Fragen relevant: Welche verschiedenen Dimensionen oder Modalitäten des Unterlassens, Auslassens und ›Seinlassens‹ können voneinander unterschieden werden? Inwiefern generieren diese Modalitäten (zum Beispiel: nicht sagen, nicht tun, warten, zögern, geschehen lassen) selbst performative Effekte? Unter welchen Bedingungen kann beispielsweise das Nicht-Sagen, also das (Ver-)Schweigen, ein Sprechakt sein? Oder inwiefern kann ein Nichttun, zum Beispiel bei Schüler_innen die Weigerung, mitzumachen, als Handlungsakt sinnvoll (an)erkannt werden? Ziel solcher Überlegungen ist es, zunächst eine umfassende Synopse der verschiedenen Formen und Schattierungen des Unterlassens beziehungsweise des Nichttuns herzustellen, um im Zuge dessen eine Art ›Landkarte der Phänomene negativer Performanz‹ zu zeichnen. Dazu gehören nicht nur verschiedene Figuren des Lassens (unterlassen, auslassen, verlassen, sich überlassen, sich einlassen, seinlassen usw.) und Formen des Nichttuns (zögern, warten, schlafen, faul sein usw.) 6, sondern auch die Bedeutungsvielfalt des Nicht-Sagens, des Schweigens, der Stille, der Leere des Nichts, sowie auch verschiedene Strategien der Geheimhaltung. Dabei folge ich der Arbeitshypothese, dass es sinnvoller ist, weniger nach verschiedenen Kategorien des Nichttuns zu suchen, als vielmehr von Graden, Intensitäten oder Nuancen von Unterlassungen auszugehen. 7 Denn manche Formen des ›Nichttuns‹ lassen sich überhaupt nur schwer erkennen: Jemand sieht zum Beispiel fern, doch ob er wirklich sieht, was ihm vorgeführt wird, ist eine Frage der Konzentration beziehungsweise des inneren Zustands; vielleicht ist das Fernsehen nur eine Strategie oder  6 | Vgl. zum Beispiel: »Wahrscheinlich bin ich in meiner Anlage gar nicht faul, aber es gab für mich nichts zu tun.« Das Zitat stammt aus einem Brief Franz Kafkas an seinen Vater (zitiert in Koch 2012: 7).  7 | Herman Melvilles (1853) Bartleby beginnt in der gleichnamigen Erzählung seine höfliche Verweigerung (»I would prefer not to«) als ein bestimmtes Nichttun, das sich jedoch im Laufe der Erzählung zu einer totalen Negation des Lebens steigert (Essens-, Kommunikations-, schließlich Lebensverweigerung). Ob es sich bei Bartleby überhaupt um ein schlichtes Nichtstun handelt, ist allerdings fragwürdig und wurde in der zeit­ genössischen Philosophie (zum Beispiel von Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Giorgio Agamben) stark diskutiert.

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gar Ausdruck einer Verweigerungshaltung, um sich auszuruhen und für eine Weile eben nichts zu tun – oder nichts anderes tun zu müssen. Insofern wirft das Nichttun eine Reihe von Fragen auf, wie beispielsweise nach dem Grad der Intention, des Bewusstseins und des ↘ Habitus. Zusätzlich zur begrifflichen Klärung von verschiedenen Formen des Lassens beziehungsweise Nichttuns untersuche ich in meinem Forschungsprojekt Fragen nach sprachlich tradierten Bedeutungen: Inwiefern und warum sind zum Beispiel manche Formen oder Figuren des Unterlassens respektive des Nicht-tun-Wollens in den meisten westlichen Kulturen ausschließlich negativ konnotiert (Langeweile, Leere, Depression, …)? 8 Was ist die Eigenart der Zeitlichkeit bei bestimmten Figuren des Nichttuns (Warten, Zögern, Sterben, …) und wie lässt sich diese repräsentieren beziehungsweise inszenieren? 9 Inwiefern stellt das Lassen im Sinne des Unfertig-Belassens, Auslassens, Liegenlassens, Verlassens oder ›einfachen‹ Auf hörens eine produktive Strategie sowohl in der alltäglichen Unterrichtspraxis als auch künstlerischen Praxis dar? Es scheint, als spannte sich inmitten des Rahmens der Negativität ein Feld der Überlagerung von je innerer und äußerer Potenz und Berechtigung beziehungsweise Rechtfertigung aus, als gäbe es einen Schlüssel mit einem Januskopf aus voluntativem Bestreben und assertorischem Zulassen. Gleichzeitig beleuchte ich diese verschiedenen Schattierungen des Lassens / Nichttuns nicht nur im Sinne ihrer produktiven Dynamik, sondern nehme auch die Gegenperspektive ein, in der sich der Raum (er)öffnet für ein Sich-Einlassen auf etwas, ein Nicht-selbst-Determinieren-Wollen: ein Sich-dem-Anderen-Überlassen. Auf diese Weise kommen die Passivität und der Charakter der Widerfahrnis eines jeden Tuns – und Lassens – zur Geltung.

2. Philosophische Implikationen und besondere Herausforderungen Die Phänomenologie der ›negativen‹ Performanz lenkt die Aufmerksamkeit auf das Tun im Lassen, auf das Sprechen im Nicht-Sagen, auf die Aktivität in der Passivität, auf die Präsenz in der Absenz und auf das Konstruktive im Destruktiven. Daher geht es nicht darum, ein Paradigma  8 | Vgl. zum Beispiel Wüschner (2011).  9 | Vgl. zum Beispiel Vogl (2008).

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einfach durch seinen Widerpart zu ersetzen. Vielmehr bedeutet das Verweilen des Denkens an der Schwelle zwischen Tun und Lassen, sich an einem Ort des Übergangs aufzuhalten, um den Moment der Möglichkeit vor jedem Tun oder Nichttun zu erforschen und die Relevanz dieses Moments hervorzuheben. Ähnlich wie das Denken der ›Performanz‹ ist die Theorie der ›negativen Performanz‹ eine Philosophie des Prozesses – nur mit verändertem Blickwinkel. Denn es geht bei dieser theoretischen Forschung darum, auf tentativ-tastende Weise den Bereich der verkörperten Aktualisierung (d. h. ›Performanz‹) einer Tätigkeit zu verlassen, um in der Zone des Potenziellen ein Quantum an Impotenz, Unmöglichkeit zu erkennen; ähnlich vielleicht dem, was Giorgio Agamben mit dem Begriff der ›Inoperativität‹ zu fassen versucht hat. 10 Wobei hier eindeutig und bewusst auch ein Raum des Unfassbaren, des gewissermaßen Unverfügbaren betreten wird. Eine besondere Herausforderung meiner philosophischen Arbeit besteht daher für mich darin, die Wahrnehmung einer solchen Perspektive, wie sie für jedes Tun und Lassen eingenommen werden kann, nicht in ein Verschwimmen der Begriffe münden zu lassen. Vielmehr soll gerade durch die Schärfung des Blicks für die Dimensionen der Negativität – und die damit zusammenhängende Erfahrung des Aporetischen – der Horizont eines onto-ethischen Denkens sichtbar werden. 11 Durch die Verbindung beider Denkachsen – nämlich die Sensibilisierung für die ↘ Performativität nicht nur des Tuns, sondern auch des Unterlassens einerseits sowie die bewusste Abkehr vom Ansatz des Performativen andererseits – eröffnet sich ein Denkraum, in dem sich vita activa und vita passiva treffen und vermengen, ohne jedoch ganz ineinander aufzugehen. Diese feine Bewegung darzustellen beziehungsweise sich in sie hineinzubegeben und von ihr zu berichten – von einem Pendeln zwischen zwei Dimensionen des Seins –, mag gerade die Konturen einer Philosophie des ›Seinlassens‹ beschreiben. Und zwar als simultanes Unterlassen und bewusstes In-Ruhe-Lassen.  10 | Der Begriff der ›negativen Potenzialität‹ ist ein Leitmotiv in den Schriften des ita­ lienischen Philosophen Giorgio Agamben, der auch die Begriffe ›Inoperativität‹ und ›désœuvrement‹ verwendet (vgl. Agamben 2003).  11 | Das ›Onto-Ethische‹ setzt sich von der deskriptiven beziehungsweise normativen Ethik ab. In ihr geht es nicht darum zu sagen, wie gehandelt wird oder wie gehandelt werden sollte, sondern vielmehr darum, ausgehend von einer Beschreibung des Ge­ gebenen, die Bedingungen der Möglichkeit von ethisch gehaltvollen Aussagen sichtbar werden zu lassen. Das Onto-Ethische entspricht in diesem Sinn einer Metaethik.

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Doch wie kann diese Bewegung adäquat in Begriffen beschrieben werden, ohne sie zu etwas anderem, zu etwas allzu Eindeutigem zu machen, das heißt, ohne sie in ihr Gegenteil – in etwas Statisches – umzuwandeln? Diese Frage verweist auf ein so klassisches wie unlösbares Problem der Philosophie, das mit der Struktur der Sprache selbst zusammenhängt. Denn Sprache funktioniert paradigmatisch, das heißt nach einem Entweder/Oder-Prinzip: Etwas zu sagen bedeutet zwangsläufig, dass ich in dem Augenblick, in dem ich etwas sage, dessen Gegenteil zurückweise. Für den französischen Literatur- und Kulturtheoretiker Roland Barthes besteht das Paradigma der Sprache in einer »Opposition zweier virtueller Terme, von denen ich einen aktualisiere [womit ich das Gegenteil des Gesagten verneine], wenn ich spreche, wenn ich Sinn erzeugen will« (Barthes 2005: 32 / Hinzufügung in Klammern: AL). Doch es gibt durchaus Erfahrungen und Phänomene, denen dieses ausschließende Entweder/Oder-Prinzip der Sprache einfach nicht gerecht werden kann. Roland Barthes, um hier nur einen unter vielen Theoretikern zu nennen, die sich mit diesem Problem der Sprache auseinandergesetzt haben, träumt von einem Bereich des ›Neutrums‹, welches er als dasjenige definiert, »was das Paradigma außer Kraft setzt« (Barthes ebd.). Sprachlich gesehen ist die Figur des ›Neutrums‹ eine Utopie, oder besser gesagt eine Atopie; denn jeder Versuch, es zu beschreiben, ist verdammt zu scheitern (macht es zu etwas anderem, als es ist). Doch die spürbare Sehnsucht nach dem Neutrum (und für Barthes ist dies übrigens keine rein geistige Übung, sondern als ein durchaus körperliches Verlangen zu verstehen, also als existenzielles Bedürfnis ernst zu nehmen), das Begehren nach einer Befreiung vom ständigen Imperativ, etwas bedeuten zu müssen, eröffnet an und für sich die Perspektive des radikal Offenen, ja lässt die Kostbarkeit eines solchen Raums erahnen: Muss ich beispielsweise als Lehrende_r gegenüber den Studierenden während eines Seminars stets ›die Universität‹ oder ›das Wissen‹ repräsentieren respektive bedeuten? – Was an dieser Stelle vielleicht deutlich wird, ist, dass die Theorie des ›Neutrums‹ nicht ohne Erfahrung aus der Praxis vorstellbar ist. Vielleicht benennt das ›Neutrum‹ sogar den Ort, wo Theorie und Praxis sich auf besondere Weise begegnen und – sprachlos – ergänzen. Was sich dabei ergibt, ist unter Umständen nichts weniger als eine Körper-bezogene Ethik, das heißt in einem erweiterten Sinn Ästhetik – oder genauer noch: Aisthetik (vgl. Böhme 2001). Denn es geht um die (besondere) Art und Weise, wie Sinneswahrnehmungen geweckt und geschärft werden, gerade wenn der Impuls ›etwas‹ als ›etwas‹ zu benennen gebremst wird. Im Hinblick auf

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JUMP  &  RUN – Schule als System und auf den Kontext der gesuchten Begegnung und des Austausches zwischen Kunst und Wissenschaft sowie zwischen Theater und Schule möchte ich abschließend versuchen, diesen Ausblick auf das ›Neutrum‹ sowie dessen Bezug zur Aisthesis ein kleines Stück deutlicher zu konturieren, wenngleich meine Beobachtungen notwendigerweise weiterhin grob und allgemein bleiben werden.

3. Sitzen und Seinlassen – oder die Kunst des neutralen Blicks Ich beginne mit einer Erinnerung und einem Erfahrungsbericht aus meiner Begegnung mit Lehrer_innen und Theaterpädagog_innen im Rahmen von JUMP  &  RUN – Schule als System im August 2011 12. Ich war damals für einen Vortrag und einen Workshop zum Thema ›Verweigerung‹ angefragt gewesen. Die teilnehmenden Lehrer_innen wollten sich über mögliche theoretische Zugänge zu diesem Thema informieren, da sie oft frustrierende Erlebnisse mit ›Nullbockschülern‹ hatten und sie hofften, neue Perspektiven aufgezeigt zu bekommen beziehungsweise sich auszutauschen über mögliche Formen des Umgangs mit solchen Schüler_ innen. Natürlich hatte ich kein Wundermittel parat, um Verweigerung magisch in Partizipation umzuwandeln – und die Lehrer_innen hatten nicht nur viel mehr professionelle Erfahrung auf diesem Gebiet als ich, sondern auch den Vorteil der Praxis gegenüber der bloßen ›Theorie‹ 13. Ich präsentierte mich im Workshop selbst als ultimative Verweigerin, indem ich es als das Privileg der Philosophie darstellte, sich der Pflicht, immer ›praktisch anwendbar zu sein‹, in gewisser Weise zu widerstehen. Sollte nicht mit Blick auf eine ›Leistungsgesellschaft‹, in der Menschen scheinbar immer umfassender auf Produktivität und Effektivität trainiert und getrimmt werden, die Philosophie – verstanden als ein Raum der Theorie – bevorzugter Ort der Verweigerung gegenüber penetrantem Leistungsdruck sein? Ein Ort der Zurückhaltung, des Zögerns, des nochmaligen, genauen, differenzierteren Hinschauens? Anstatt also über praktische

 12 | Redaktionelle Anmerkung: Gemeint ist ein Arbeitstreffen, zu dem die am Projekt beteiligten Künstler_innen und Lehrer_innen eingeladen waren.  13 | Über mein Unbehagen, soziale Realität mit Theoretisierungen des Scheiterns zu konfrontieren, habe ich mit Mijke Harmsen gesprochen. Dieses Gespräch wurde publi­ ziert unter dem Titel ›Macht mich doch kaputt!‹ (Lagaay / Harmsen 2012: 52 – 57).

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Lösungen im Umgang mit desinteressierten Schüler_innen zu sprechen, begannen wir allmählich … über das Sitzen nachzudenken. Während der Projekttitel JUMP  &  RUN – Schule als System an Aktivität und Geschwindigkeit denken lässt, wird das ›Sitzen‹ mit dem genauen Gegenteil verbunden: Sitzen deutet ja zunächst auf Passivität und Langsamkeit. Es passte also intuitiv ganz gut zur ›negativen Performanz‹ und zu meinem Forschungsprojekt, das ich in der damaligen Workshop-Runde thematisieren wollte. Außerdem bot das Sitzen eine klare Referenz zur Schule – und zwar auf interessant zwiespältige Art und Weise. Schule ist nämlich der Ort, wo Kinder normalerweise im Sitzen lernen – und also zuerst lernen müssen, sitzen zu bleiben. In der Tat können und dürfen Kinder in der Regel nur mit der Schule beginnen, wenn sie bereits fähig sind, für die Mindestdauer einer Unterrichtsstunde still sitzen zu können. Die Schule verlangt also, dass die Schüler sitzen. Später aber – so beschrieben es einige der Lehrer_innen, die an JUMP  &  RUN – Schule als System beteiligt waren – erweist sich das Sitzen als Problem, wenn Jugendliche nur noch passiv ›rumsitzen‹ wollen. 14 Wir hätten sicherlich lange über den Zusammenhang dieser Gegebenheiten sprechen können. Wir hätten darüber diskutieren können, ob nicht ein eindeutig weniger ›sitzlastiger‹ Unterricht in der Grundschule positive Auswirkungen auf die spätere Sitzattitüde von Jugendlichen haben könnte. Das ist aber nicht mein Gebiet. Stattdessen lud ich die Anwesenden dazu ein, über das Sitzen als einer Zwischenposition, als einer Art ›neutraler‹ Lage zwischen Liegen und Stehen nachzudenken: Sitzen als eine ermöglichende Stellung in einem Prozess, als Fähigkeit, als Latenz. Die Phänomenologie des Sitzens zeigt nämlich schnell, dass Sitzen alles andere als passiv ist. Unsere Aufmerksamkeit für die wahre Kunst des Sitzens können wir unter anderem dadurch schärfen, wenn wir uns an den langen Weg erinnern, den Kleinkinder zurücklegen, um selbstständig zu sitzen. Im freien Spiel lernt ein Kind nach und nach, sich von der Rückenlage über die Seitenlage und Bauchlage, zum seitlichen Ellenbogenstütz, zum abgestützten Seitsitz sowie über den Knie-Händestütz, der Bärenstellung, dem Kniestand und Hocken bis zum selbstständigen freien Sitzen zu bewegen. Wissenschaftliche Studien aus dem Bereich der Kleinkind­entwicklung  14 | Einerseits muss man also in der Regel sitzen, um zu lernen; andererseits gibt es die Gefahr – zumindest in deutschen Schulen – dass ein Schüler ›sitzen bleiben muss‹ (also eine Klasse wiederholen), wenn seine Lernergebnisse nicht einem Mindeststan­ dard entsprechen.

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haben eindeutig gezeigt, dass gesunde Säuglinge, die in liebevoller Geborgenheit leben und sich frei bewegen können, auf ihrem Weg zum aufrechten Sitzen alle diese Übergangspositionen ausprobieren. 15 Durch eigenen Ansporn, ohne jegliche Aufmunterung von außen und ohne zu wissen, warum sie bestimmte Körperbewegungen und -haltungen ausprobieren (denn sie kennen weder das ›Ziel‹ noch die Funktion ihrer Bewegung), experimentieren und arbeiten sich Kleinkinder im eigenen Tempo und Rhythmus durch diese Positionen durch. Sich im Sitzen schließlich selbstständig halten zu können, ist ein wahrer Balanceakt. Auf dem Weg zum freien Stehen und Gehen stellt das Sitzen an sich somit eine Zwischenstufe dar. Die Entwicklung über viele verschiedene Positionen hinweg zum Sitzen bedarf nicht nur sehr viel Übung und Zeit; es braucht die Möglichkeit des freien Experimentierens sowie Geduld und Mut. Denn jeder neue Schritt auf dem Weg zum Stehen und Gehen ist für das Kleinkind zunächst fremd und unbequem. Warum das Baby es überhaupt von alleine wagt, ist im Grunde genommen ein Rätsel. Und doch tut es dies. Der Lebensdrang, das Wachstum, die Neugier des Kindes verlangen es wohl von ihm. Weder der Weg zum Sitzen noch das Sitzen selbst sind also passiv oder inaktiv. Es ist ein Zustand des Prozesses und des Prozessierens, der ein ständiges Pendeln verlangt, eine ständige körperliche Anpassung an die sich immer verändernden Verhältnisse. Der Körper ist in dieser Hinsicht ständig wach und aufnahmefähig. (Kein Wunder, dass das Sitzen die bevorzugte Position des Zuschauens und Zuhörens ist: Man sitzt nicht nur in der Schule, sondern auch im Theater, im Konzertsaal, im Kino usw.). Und nun zu meinem Punkt: Die Wahrnehmung dieser minutiösen Schritte, dieser kleinen geschickten Bewegungen und Reaktionen des Baby­körpers, verlangt vom Beobachter beziehungsweise vom Begleiter dieser Entwicklung eine bewusste unaufgeregte bewertungsfreie Sicht des Geschehnisses – also Zurückhaltung und ›Neutralität‹. Und um diese offene Neutralität anbieten zu können, braucht es wohl zuerst eine Arbeit an sich selbst, um sich seiner eigenen Körperhaltung und Sichtweise, das heißt seiner möglichen Vorurteile, die den neutralen, zurückhaltenden Blick verhindern, bewusst zu werden. Denn nur ein Blick, der bewusst von der je eigenen Teleologie beziehungsweise Zielgerichtetheit des Betrachters  15 | Siehe dazu zum Beispiel Pikler (2001). Vgl. dazu auch einen Vortrag von Anna Tardos online unter: http://www.pikler-hengstenberg.at/pdf/zeit.pdf [25.10.2013]

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abgelöst werden kann (das bedeutet, dass ein_e Betrachter_in neutral gegenüber dem ist, was er_sie sehen will oder was er_sie zu sehen erwartet) – nur ein neutraler Blick kann beginnen zu sehen, um dann differenzierter zu sehen, was wirklich da ist. Es gilt also weder die ↘ ›Performativität‹ noch die ›negative‹ Performanz zu suchen, sondern einen Raum der Möglichkeit, einen Weg der Entfaltung dazwischen. Diesen schwer benennbaren Raum zu erkennen und zu spüren, ihn willkommen zu heißen (und nicht von ihm abzulenken), ihm sogar noch mehr Raum zu lassen, dies ist die Kunst des neutralen Gebens. Manche nennen es Liebe. Tatsächlich waren die Lehrer_innen und Theaterpädagog_innen, denen ich bei JUMP  &  RUN – Schule als System begegnete, sehr vertraut mit dem Blick, der einen ›neutralen‹ Raum öffnet. Ich war von ihrer Großzügigkeit in dieser Hinsicht sehr beeindruckt. Eigentlich suchten sie, glaube ich, nur etwas Zuversicht und die Möglichkeit des freien Austausches miteinander, um sicherzustellen, dass dieser Weg – der Weg der bewussten Zurückhaltung – in Ordnung ist. Es war nicht meine Rolle, ihnen in pädagogischer Hinsicht diese Zuversicht zu geben. Schließlich bin ich Philosophin und keine pädagogische Supervisorin; es gibt sehr gute qualifizierte und erfahrene Leute, die solche Arbeit machen. Doch ich fühlte, dass unsere Begegnung und unser Austausch, der Umweg über die Abstraktheit der philosophischen Spekulation und das Spielen mit dem rein Theoretischen, die Diskussion, die uns von der ›negativen‹ Performanz über das Scheitern, die Langeweile und die Unmöglichkeit, sinnliche Geschehnisse adäquat in Worte zu fassen, schließlich zum Nachdenken über die mannigfaltigen Weisen des Sitzens führten; dass uns all dies eine spürbare Erleichterung vom ›Leistungsdruck‹ brachte und allen Teilnehmer_innen (inklusive mir selbst) ein bisschen mehr Zuversicht für die alltägliche Arbeit schenkte. Und dafür bin ich dankbar.

Dr. phil. Alice Lagaay ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Bremen und gehört zu den Gründer_innen und Vertreter_in­nen des internationalen Netzwerkes Performance Philosophy (http://performancephilosophy.ning.com/). Sie lehrt und forscht im Bereich der zeitgenössischen Phänomenologie mit den Schwerpunkten Philosophie der Stimme, des Schweigens und der ›negativen‹ Performance (Stichwort: Seinlassen).

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Literatur Agamben, Giorgio (2003): Die kommende Gemeinschaft. Berlin: Merve. Barthes, Roland (2005): Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977 – 1978. Hg. von Eric Marty. Übersetzt von Horst Brühmann. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Berger, Peter / Luckmann, Thomas (1966): The Social Construction of Reality. New York: Free Press. Deutsche Ausgabe: Berger, Peter/Luckmann, Thomas (1970): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/Main: S. Fischer. Böhme, Gernot (2001): Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeiner Wahrnehmungslehre. München: Fink. Busch, Kathrin / Därmann, Iris (Hg.) (2007): Pathos. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs. Bielefeld: transcript. Heidegger, Martin (1951/52): Was heißt Denken?. In: ders. (2002): Gesamtausgabe. Band 8. Frankfurt / Main: Klostermann. Fischer-Lichte, Erika / Wulf, Christoph (Hg.) (2001): Theorien des Performativen. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Paragrana. Band 10, Heft 1. Berlin: Akademie Verlag. Fischer-Lichte, Erika / Wulf, Christoph (Hg.) (2004): Praktiken des Performativen. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Paragrana. Band 13, Heft 1. Berlin: Akademie Verlag. Gronau, Barbara / L agaay, Alice (Hg.) (2008): Performanzen des Nichttuns. Wien: Passagen. Gronau, Barbara / L agaay, Alice (Hg.) (2010): Ökonomien der Zurückhaltung. Bielefeld: transcript. Koch, Manfred (2012): Faulheit. Eine schwierige Disziplin. Springe: zu Klampen. Koller, Hans-Christoph / R ieger-Ladich, Markus (Hg.) (2013): Vom Scheitern. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane III. Bielefeld: transcript. Lagaay, Alice / L orber, Michael (Hg.) (2012): Destructive Dynamics in the Performative. Amsterdam / New York: Rodopi. Lagaay, Alice / Harmsen, Mijke (2012): Macht mich doch kaputt!. In: Hehmeyer, Kirsten /  Pees, Matthias: Import Export. Arbeitsbuch zum HAU. Theater der Zeit. Arbeitsbuch 21. Berlin: Theater der Zeit. Seite 52 – 57. Melville, Herman (1853): Bartleby, the Scrivener: A Story of Wall Street. Originalausgabe: Bartleby the Scrivener. Putnam's Monthly Magazine. New York. Der Erstabdruck wurde anonym publiziert. Deutsche Ausgabe: Melville, Herman (2004): Bartleby, der Schreiber. Neuübersetzung: Jürgen Krug. Frankfurt/Main: Insel. Pikler, Emmi (2001): Lasst mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. Zusammengestellt und überarbeitet von Anna Tardos. München: Pflaum. Seel, Martin (2002): Sich bestimmen lassen. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Strässle, Thomas (2013): Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt. München: Carl Hanser. Vogl, Joseph (2008): Über das Zaudern. Zürich: diaphanes. Wirth, Uwe (Hg.) (2002): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Wüschner, Philipp (2011): Die Entdeckung der Langeweile. Wien: Turia + Kant.

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beiträger

programm jump & run

DonnerStag, 8. noVember 2012 foyer 09:30

akkreDItIerung

bühne 2 10:00 beteIlIgung unD nachhaltIgkeIt In programmen kultureller bIlDung dr. heike riesling-Schärfe (geschäftsführung der Pwc-Stiftung)

+

10:30

künStlerISche reflexIonen Von Schule alS SyStem: welche mehrwerte hat „jump & run“ für alle beteIlIgten? Prof. carmen mörsch (künstlerin & kunstvermittlerin, Leitung Institute for art education, Zürcher hochschule der künste)

11:15

kurZe PauSe

11:30

rückblIck auf DIe präSentatIon Der projektergebnISSe Im maI 2012 In fIlmISchen kurzDokumentatIonen mit mijke harmsen, kristina Stang, camilla Schlie (künstlerische Leitung JumP & run – Schule als System)

12:30

jump & run – projekt VerSuS SyStem? Zum Zusammenspiel von nachhaltigkeitsanspruch und Projektcharakter Prof. dr. dorothea hilliger (Institut für Performative künste und Bildung, hBk Braunschweig) und anne hartmann (theaterpädagogin)

13:30

mIttagSPauSe Wahl der tischgesprächsthemen

14:30

tISchgeSpräche runDe 1 die teilnehmenden führen anhand von JumP & run moderierte diskussionen zu untenstehenden doppelthemen. Jeder kann an insgesamt zwei tischthemen teilnehmen. konzept + performer BÜhne 2 – tISch 1 kann man ein System reflektieren, in dem man sich selbst befindet? können Schüler als experten ihrer eigenen rolle auf der Bühne bestehen? moderation: gudrun herrbold (regisseurin. Projekt: „tagebuch einer Lehrerin“) körper + raum BÜhne 2 – tISch 2 Schularchitektur und jugendliche Performer als ästhetischer rahmen einer Inszenierungsarbeit moderation: Jacqueline Beier (Lehrerin an der thomas-mann-oS. Projekt: „erSoSieSo. ein Schulausflug“ & „tagebuch einer Lehrerin“) motIVatIon + VerweIgerung konZImmer Partizipatorische Strategien und künstlerische methoden bei der arbeit mit Schülern der 7. – 9. klasse im klassenverband moderation: alexandra kersten (Lehrerin an der heinz-Brandt-oS.) & eva Plischke (Performancekünstlerin. Beide Projekt: „next Level Pause“) plan + wIrklIchkeIt theaterWerkStatt Zwischen Prozess und Inszenierung, theorie und realität – wie haben sich die inhaltlichen und strukturellen vorgaben des Projekts in der Praxis umsetzen lassen? moderation: eva-maria reimer (dramaturgin/theaterpädagogin. Projekt: „multiversum – das System läuft parallel“)

Abb.: Programm zur Tagung ›JUMP & RUN – Schule als System: Inszenierung zwischen

Verweigerung und Transformation‹, 8. / 9. November 2012

überschrift schule als system

proDukt + tranSformatIon krokoFoYer künstlerisches Produzieren in Schul- und theaterstrukturen – veränderungen von Strukturen durch künstlerische arbeit? moderation: Benita Bandow (Lehrerin an der hector-Peterson-Schule. Projekt: „action unites – Words divide“) & adrienne goehler (freie Publizistin & kuratorin) QualItät + kontInuItät hImmeLFoYer und wen interessiert’s? Was kommt danach? Schul- und kulturpolitische nachhaltigkeit des Projekts moderation: Prof. dr. dorothea hilliger & anne hartmann 16:00 16:30 18:00

kaFFeePauSe tISchgeSpräche runDe 2 ende tag 1

freItag, 9. noVember 2012 bühne 2 10:00 reSümee DeS 1. tageS Im gespräch mit den moderatorinnen der tischgespräche 11:00

lehrerSeIn & künStlerSeIn – theSen zu Den wIrkungSweISen Von erwartungen unD rollenbIlDern Im SpannungSfelD InStItutIoneller IntereSSen beIm projekt jump & run Sascha Willenbacher (Wissenschaft licher mitarbeiter am Institute for art education, Zürcher hochschule der künste)

12:30

mIttagSPauSe einteilung der diskussionsgruppen

13:30

gruppenDISkuSSIonen zu Den theSen Der begleItforSchung Im rahmen der Begleitforschung zum Projekt JumP & run wurde vielfältiges material erhoben. dessen auswertung führte zu thesen hinsichtlich eines Zusammenhangs von impliziten und expliziten rollenbildern des Lehrer- und des künstler seins einerseits und den Formen des Zusammenarbeitens andererseits. diese thesen dienen den gruppendiskussionen als ausgangspunkt, um ihren gehalt kontrovers zu diskutieren und sie in diesem Zuge auszudifferenzieren.

15:00

kaFFeePauSe

15:30

SchulpolItISche (un)möglIchkeIten Von jump & run gespräch zwischen angelika tischer (Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft), Benita Bandow, kristina Stang und dr. Jochen Schnack (Leiter der abteilung Fortbildung im hamburger Landesinstitut für Lehrer bildung und Schulentwicklung)

16:30

auSwertung/theSen/befunDe abschlussplenum

18:00

ende tag 2

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Abgucken Ablenken Abschreiben An den Haaren ziehen An die Decke starren

+ ABC für Aussteiger +

Eine Erlaubnis holen Eine Erlaubnis vergessen haben Eine Hochzeit feiern Eine kranke Großmutter haben

Klasse 7.2 der Lina-Morgenstern-Schule, Udo Kesy, Antje Siehler & Marcio Carvalho

An die Wand starren Auf dem Klo schminken Auf dem Klo schön machen Auf den Tisch schreiben Aufs Klo gehen Aus dem Fenster gucken Auslachen Ausreden erfinden Bauchschmerzen haben Beleidigt sein Briefe lesen Briefe schreiben Briefe weiterleiten Chaos machen Das Lineal bemalen Das Lineal zerbrechen Dazwischenreden Dem Lehrer peinliche Fragen stellen Den Lehrer beleidigen Den Lehrer ignorieren Den Lehrer unterstützen Den Lehrer wütend machen Durst haben Ein Kühlkissen holen Eine Entschuldigung fälschen

Einem anderen Lehrer helfen Erkältet sein Etwas aus dem Sekretariat holen Etwas essen Etwas in den Papierkorb schmeißen Etwas langsam machen Etwas nicht tun Etwas trinken Etwas von der Wand abmachen Etwas von draußen holen Etwas werfen Fortbildungen machen Fragen stellen Freunde retten Freunde schützen Freunde treffen Fußball spielen Geschäfte machen Hausaufgaben machen Hausaufgaben vergessen Hitzefrei Hunger haben In den AOB gehen

Ins Krankenzimmer gehen Ins Sekretariat gehen Jemanden beleidigen Jemandem etwas wegnehmen Jemanden zum Arzt bringen Käsekästchen spielen Kaugummi kauen Klatschen Klingel nicht hören Kopfschmerzen haben Krach machen Krank sein Krank spielen Lachen Langsam sein Laut sein Liebesspiel machen Liebestest machen Malen Material holen Mit dem Handy spielen Mit dem Hefter spielen Mit dem Lehrer streiten Mit dem Schwamm werfen Mit dem Stuhl rutschen Mit dem Tisch rutschen Mit den Fingern ein Tor machen Mit der Federmappe spielen Mit der Schultasche spielen Mit einem anderen Lehrer reden müssen Mit Freunden reden Mit Freundinnen reden Mit Kreide werfen Mit Papier oder Stiften werfen Mit Papierbällchen spielen

Mit Unterrichtsmaterial spielen Nachmachen Nachplappern Nase putzen Nasenbluten haben Nass sein Nerven Nicht zuhören Nichts antworten Nichts machen Nichts sagen Nichts tun Papierbällchen durch Fingertore schießen Papierbällchen formen Papierflieger basteln Papierflieger bemalen Papierflieger werfen Postamt aufmachen Quatschen Radiergummi werfen Radiergummi zerkleinern Rand vom Block abreißen Rausgeschmissen werden Reden Reinreden Rennen Sachen geklaut kriegen Sachen wegnehmen Schiffe versenken spielen Schimpfen Schlafen Schleichen Schmerzen haben Schnipsel produzieren Schreien Schummeln Schwänzen Schweigen Seinen Hund suchen müssen

Sich anschreien Sich aufregen Sich bewerfen Sich helfen Sich schlagen Sich unterhalten Sich verletzt haben Sich weigern Singen Sitznachbarn ärgern Spickzettel basteln Spickzettel schreiben Spielen Stifte anspitzen Störungen Streiten Stühle umkippen Tanzen Theater spielen Tinte wechseln Tische und Stühle umstellen Träumen Trinken Übelkeit Übersensibel reagieren Unangenehme Geräusche machen Unkonzentriert sein Warmes Kühlkissen austauschen Wegen Knete streiten Weinen Wütend werden Zettel schreiben Zettel weiterreichen Zu spät kommen Zum Arzt gehen Zum Fenster laufen Zum Papierkorb laufen

Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Juni 2017, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Mai 2017, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Katharina Rost Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance Mai 2016, ca. 420 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3250-7

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Theater Ingrid Hentschel Theater zwischen Ich und Welt Beiträge zur Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters. Theorien – Praxis – Geschichte April 2016, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3382-5

Miriam Dreysse Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance Juli 2015, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3054-1

Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien April 2015, 254 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2392-5

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Theater Manfred Brauneck, ITI Zentrum Deutschland (Hg.) Das Freie Theater im Europa der Gegenwart Strukturen – Ästhetik – Kulturpolitik Juni 2016, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3242-2

Nora Haakh Muslimisierte Körper auf der Bühne Die Islamdebatte im postmigrantischen Theater Juni 2016, ca. 220 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3007-7

Annika Wehrle Passagenräume Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart Oktober 2015, 388 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3198-2

Karin Burk Kindertheater als Möglichkeitsraum Untersuchungen zu Walter Benjamins »Programm eines proletarischen Kindertheaters« August 2015, 336 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3176-0

Nikolaus Müller-Schöll, Leonie Otto (Hg.) Unterm Blick des Fremden Theaterarbeit nach Laurent Chétouane Juli 2015, 296 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2913-2

Rafael Ugarte Chacón Theater und Taubheit Ästhetiken des Zugangs in der Inszenierungskunst Mai 2015, 344 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2962-0

Anu Allas Spiel der Unsicherheit/ Unsicherheit des Spiels Experimentelle Praktiken in der estnischen Kunst und im estnischen Theater der 1960er Jahre März 2015, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2966-8

Fu Li Hofmann Theaterpädagogisches Schauspieltraining Ein Versuch 2014, 202 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-3009-1

Céline Kaiser (Hg.) SzenoTest Pre-, Re- und Enactment zwischen Theater und Therapie 2014, 256 Seiten, kart., durchgängig farbig, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3016-9

Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen 2014, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater 2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1839-6

Melanie Hinz Das Theater der Prostitution Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart 2014, 264 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2467-0

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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