Ethische Wirklichkeit: Objektivität und Vernünftigkeit der Ethik aus pragmatistischer Perspektive 9783110286106, 9783110282733

Doubts regarding the intellectual honesty of everyday ethical discourse primarily relate to two of its fundamental assum

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German Pages 324 Year 2012

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Table of contents :
Einleitung
Übersicht
I. Zur Unhinterfragbarkeit des ethischen Diskurses
1. Die Ethik und ihre Aura des Dubiosen
1.1 Einleitung: Zweifel als Beginn der Philosophie
1.2 Die Philosophie als Teil des Problems
1.3 Zwei kardinale Zweifel am Anfang der Ethik
1.4 Philosophische Vorstellungen hinter den Zweifeln
1.5 Die Zweifel bestimmen die Spielregeln der Debatte
2. Die Ethik als Horizont der Intelligibilität
2.1 Einleitung: Unangemessene Verständnisse
2.2 Wittgenstein und der Weg zurück zur Alltagssprache
2.3 Ethische Regeln als Sprachspielregeln
2.4 Drei Einwände, und was man aus ihnen lernen kann
2.5 Fazit und Überleitung zu den nächsten Kapiteln
3. Konflikt und Objektivität
3.1 Einleitung: Konflikt und Objektivität
3.2 Propositionale Konflikte, Interpretation, Objektivität
3.3 Einige Gegenargumente
3.4 Einige interpretationistische Verwandtschaften
3.5 Ein noch nicht berücksichtigter Fall
4. Vom Grund zur Handlung
4.1 Einleitung: Die Einwirkung der Gründe auf die Welt
4.2 Humes Intuition und ihre Zurückweisung
4.3 Kritik der humeanischen Argumente
4.4 Zu den Wurzeln des motivationalen Externalismus
4.5 Abschließende Worte
II. Zur Offenheit des ethischen Diskurses
5. Sprache im Wandel – Ethik im Wandel?
5.1 Einleitung: Zur Historizität der Sprache
5.2 Was sind Begriffe?
5.3 Begriffe im Wandel I: Brandom
5.4 Begriffe im Wandel II: Dworkin
5.5 Zentrale Lehren
6. Eine pragmatistische Theorie des Regelfolgens
6.1 Einleitung: Die alte Frage nach der Normativität
6.2 Implizite Normen, aber nicht bloß Regularität
6.3 Normen als instituiert durch praktische Einstellungen
6.4 Der Theoretiker als Träger praktischer Einstellungen
6.5 Abschließende Bemerkungen
7. Zwischen Partikularismus und Generalismus
7.1 Einleitung: Eine neue Kontroverse
7.2 Partikularistische Zweifel an ethischen Prinzipien
7.3 Grammatische Sätze und grammatische Evolution
7.4 Ethische Probleme als grammatische Spannungen
7.5 Abschließende Bemerkungen und Überleitung
III. Zur Außenansicht des ethischen Diskurses
8. Die Ethik im Blick der Naturwissenschaft
8.1 Einleitung: Naturwissenschaftler und Philosophen
8.2 Bescheidene Erinnerungen zur Relevanz der Psychologie
8.3 Moralpsychologie zur Überprüfung von Urteilsdispositionen
8.4 Moralpsychologie als Horizonterweiterung
8.5 Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
Personen- und Sachregister
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Ethische Wirklichkeit: Objektivität und Vernünftigkeit der Ethik aus pragmatistischer Perspektive
 9783110286106, 9783110282733

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Matthias Kiesselbach Ethische Wirklichkeit

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante

Band 109

De Gruyter

Ethische Wirklichkeit Objektivität und Vernünftigkeit der Ethik aus pragmatistischer Perspektive

von

Matthias Kiesselbach

De Gruyter

ISBN 978-3-11-028273-3 e-ISBN 978-3-11-028610-6 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Meinen Eltern

Morality is not external, and only rarely constraining. For most of us, it is a normal practice, a way of living in which duties and obligations play a structuring role. Justification is not the ticket of entry; purity is not the mark of membership. — Barbara Herman1

Zu sagen: wir können am Ende nur solche Gründe anführen, die wir für Gründe halten, sagt gar nichts. — Ludwig Wittgenstein2

_____________ 1 Herman, 2000, 31. 2 Wittgenstein, 2003f [ÜG], §599, Hervorhebung im Original.

Vorwort Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die korrigierte und erweiterte Fassung einer Arbeit, die im Sommer 2010 von der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertation angenommen wurde. Der ursprüngliche Titel lautete »Die Praxis der Reflexion. Wesen und Werden der ethischen Rede aus pragmatistischer Perspektive«. Eine Reihe von Freunden und Kollegen haben maßgeblich dazu beigetragen, dass dieses Buch entstehen konnte. Armin Korte, Christian Voigt, Eva von Redecker, Aurelie Herbelot, Jens Bömer, Martin Brumberg, Jonas Marx, Lydia Rilling, Sebastian Bünker, David Löwenstein, Eugen Pissarskoi, Friederike Schmitz, Tim Wihl, Julia Zakkou, Robert Crosby, Andrew Pickin und Nick Cowen haben mir auf ganz unterschiedliche Weisen bei der Arbeit geholfen. Besonders hervorheben möchte ich die Unterstützung durch meinen akademischen Betreuer Christoph Menke, der mir alle Freiheit ließ, meine eigenen Gedanken auszuarbeiten, der mir aber mit seiner äußerst vielseitigen philosophischen Erfahrung und Kenntnis auch stets mit Rat und Hilfe zur Seite stand, wenn ein Problem die Weiterarbeit gefährdete. Ebenso erwähnen möchte ich meine Supervisorin auf Zeit, Sabina Lovibond, die mich nicht selten gezwungen hat, ungeprüft übernommene Annahmen unter die Lupe zu nehmen (und sie dann aufzugeben). Geert Keil schließlich hat mich mit ausführlichen Kommentaren zum Regelfolge-Kapitel vor dem einen oder anderen Fehler bewahrt. Die Arbeit wurde durch ein Promotionsstipendium der FriedrichEbert-Stiftung gefördert, für das ich sehr dankbar bin. Von großer Hilfe bei der Endkorrektur waren Stefanie Thiele und Juliane Jüngling. Dieses Buch ist meinen Eltern gewidmet als Dank für ihr Vertrauen, ihre Liebe und ihre Unterstützung. Für Vertrauen, Liebe und Unterstützung – und noch viel mehr – danke ich auch Hélène Doucet. Ohne sie gäbe es nicht nur dieses Buch nicht. Berlin, im Februar 2012

Matthias Kiesselbach

Inhalt Einleitung ............................................................................................................... 1 Übersicht .............................................................................................................. 12

I. Zur Unhinterfragbarkeit des ethischen Diskurses 1. Die Ethik und ihre Aura des Dubiosen ...................................................... 21 1.1 Einleitung: Zweifel als Beginn der Philosophie ....................................... 21 1.2 Die Philosophie als Teil des Problems ...................................................... 23 1.3 Zwei kardinale Zweifel am Anfang der Ethik .......................................... 26 1.4 Philosophische Vorstellungen hinter den Zweifeln ................................ 30 1.5 Die Zweifel bestimmen die Spielregeln der Debatte .............................. 36 2. Die Ethik als Horizont der Intelligibilität ................................................... 52 2.1 Einleitung: Unangemessene Verständnisse .............................................. 52 2.2 Wittgenstein und der Weg zurück zur Alltagssprache ............................ 53 2.3 Ethische Regeln als Sprachspielregeln....................................................... 56 2.4 Drei Einwände, und was man aus ihnen lernen kann ............................ 79 2.5 Fazit und Überleitung zu den nächsten Kapiteln .................................... 94 3. Konflikt und Objektivität .............................................................................. 98 3.1 Einleitung: Konflikt und Objektivität ....................................................... 98 3.2 Propositionale Konflikte, Interpretation, Objektivität ......................... 102 3.3 Einige Gegenargumente ............................................................................ 119 3.4 Einige interpretationistische Verwandtschaften .................................... 129 3.5 Ein noch nicht berücksichtigter Fall........................................................ 131 4. Vom Grund zur Handlung.......................................................................... 136 4.1 Einleitung: Die Einwirkung der Gründe auf die Welt .......................... 136 4.2 Humes Intuition und ihre Zurückweisung ............................................. 140 4.3 Kritik der humeanischen Argumente ...................................................... 145 4.4 Zu den Wurzeln des motivationalen Externalismus ............................. 151 4.5 Abschließende Worte ................................................................................. 163

XII

Inhalt

II. Zur Offenheit des ethischen Diskurses 5. Sprache im Wandel – Ethik im Wandel? .................................................. 169 5.1 Einleitung: Zur Historizität der Sprache ................................................. 169 5.2 Was sind Begriffe? ...................................................................................... 172 5.3 Begriffe im Wandel I: Brandom ............................................................... 180 5.4 Begriffe im Wandel II: Dworkin .............................................................. 194 5.5 Zentrale Lehren .......................................................................................... 210 6. Eine pragmatistische Theorie des Regelfolgens ....................................... 216 6.1 Einleitung: Die alte Frage nach der Normativität ................................. 216 6.2 Implizite Normen, aber nicht bloß Regularität ...................................... 218 6.3 Normen als instituiert durch praktische Einstellungen ........................ 221 6.4 Der Theoretiker als Träger praktischer Einstellungen.......................... 225 6.5 Abschließende Bemerkungen ................................................................... 243 7. Zwischen Partikularismus und Generalismus .......................................... 248 7.1 Einleitung: Eine neue Kontroverse ......................................................... 248 7.2 Partikularistische Zweifel an ethischen Prinzipien ................................ 250 7.3 Grammatische Sätze und grammatische Evolution .............................. 254 7.4 Ethische Probleme als grammatische Spannungen ............................... 261 7.5 Abschließende Bemerkungen und Überleitung ..................................... 271

III. Zur Außenansicht des ethischen Diskurses 8. Die Ethik im Blick der Naturwissenschaft ............................................... 277 8.1 Einleitung: Naturwissenschaftler und Philosophen .............................. 277 8.2 Bescheidene Erinnerungen zur Relevanz der Psychologie .................. 279 8.3 Moralpsychologie zur Überprüfung von Urteilsdispositionen ............ 283 8.4 Moralpsychologie als Horizonterweiterung............................................ 291 8.5 Abschließende Bemerkungen ................................................................... 297 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 299 Personen- und Sachregister ............................................................................. 309

Einleitung Lange vergangen ist die Zeit, in der Friedrich Nietzsche in seinem Jenseits von Gut und Böse anmerken konnte: In aller bisherigen »Wissenschaft der Moral« fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe.1

Wenn wir heute in einem Satz sagen sollten, wodurch sich das aktuelle Nachdenken über die »Moral« auszeichnet, so würden wir wohl das genaue Gegenteil behaupten. Die Auffassung, dass ethisches Reden und Handeln problematisch ist, dominiert die aktuelle wissenschaftliche und philosophische Reflexion über die Ethik mehr als alles andere.2 Tatsächlich ist diese Auffassung nicht etwa neu, und die von Nietzsche erwähnte Abwesenheit eines »Argwohns dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe,« ist sicherlich nicht mehr als ein vorübergehender Zug der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sowohl vor als auch nach dieser Epoche mit ihrem großen Technik- und Wissenschaftsoptimismus und ihrem dazu passenden utilitaristischen Konsens galt die Ethik als ein philosophisches Problem sondergleichen – und das nicht nur unter akademischen Philosophen oder Wissenschaftlern, sondern in wesentlich größeren Teilen der Öffentlichkeit. Spätestens seit der Antike herrscht unter denkenden und schreibenden Menschen eine tief verwurzelte Skepsis in Bezug auf die intellektuelle Redlichkeit ethischer Urteile, Argumente und Aufforderungen. Der Kern dieser verbreiteten Skepsis war und ist der Gedanke, dass es im ethischen Denken und Sprechen keine – zumindest keine klaren – Standards der Korrektheit gibt, wie sie zum Beispiel das Nachdenken oder die Rede über Stühle, Elektronen, Zahlen oder Kontostände kennzeichnen. Tatsächlich lässt sich dieses vermeintliche Problem in zwei Teilpro_____________ 1 Nietzsche, 1999 [1886], 106, originale Schreibweise. 2 Die vorliegende Arbeit macht keinen Unterschied zwischen den Begriffen »Ethik« und »Moral«. Hinter beiden soll sich die Gesamtheit der Antworten auf die (in unterschiedlichen Kontexten gestellte) Frage, was wir tun sollen, sowie das – mal freie, mal akademisch-rigorose – Nachdenken und Sprechen im Umkreis dieser Frage verbergen. Alle weiteren Begriffsschärfungen erfolgen in der Arbeit selbst. (S.a. Lovibond, 2002, 3, Fußnote 1.)

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Einleitung

bleme aufspalten. Zum einen ist da die alte Frage nach der Vernünftigkeit der Erfüllung ethischer Forderungen. Wenn ethische Forderungen aufgestellt werden, schwingt immer die Suggestion mit, dass es auch dann richtig wäre sie zu erfüllen, wenn der erwartete Nutzen der Adressatin der Forderung geringer ist als ihre Kosten. Doch worin, so die Frage der Skeptiker, soll diese Richtigkeit bestehen? Wenn hier auf einen anderen Standard als den Standard des Eigeninteresses Bezug genommen wird – wie es scheinbar der Fall ist –, so stellen sich die Fragen, wie sich für ihn argumentieren lassen soll, und was er mit der Vernunft zu tun haben soll. Zum andern ist da das Unbehagen am propositionalen Charakter der ethischen Rede. Heute ist der Gedanke weit verbreitet, dass die propositionale Rede – grob gesagt: der Gebrauch von Indikativsätzen; ihre Äußerung, Begründung, Bezweiflung und Zurückweisung – sich durch den Bezug auf Tatsachen auszeichnet, und dass die Rede von Tatsachen in ethischen Kontexten nichts zu suchen hat. Hieraus ergibt sich die weitere These, dass wir ethische Äußerungen nicht als wahr oder unwahr bezeichnen dürfen. Die Idee, dass ethische Äußerungen streng genommen nicht wahr oder unwahr sein können, kommt ihrerseits mit einer ganzen Gruppe verknüpfter Ideen daher. Allen voran ist hier die These zu nennen, dass Konflikte in der Ethik keine echten Meinungsverschiedenheiten sein können – bzw., dass sie, wenn sie Meinungsverschiedenheiten sind, keine üblichen Meinungsverschiedenheiten sein können, bei denen mindestens einer der Disputanten im Unrecht ist. Im aktuellen akademischen Jargon können wir zum einen vom Zweifel am ethischen Rationalismus und zum andern vom Zweifel am ethischen Kognitivismus sprechen. Philosophische Zweifel befallen üblicherweise Thesen, die auf den ersten Blick unverdächtig sind und daher Standardsichtweisen darstellen. So können wir den bestimmenden Zug des aktuellen Nachdenkens über die Ethik auch in der Wahrnehmung einer Kluft ausmachen: der Kluft zwischen Anschein und Wirklichkeit der ethischen Rede. Die Idee ist, dass die ethische Rede nicht tatsächlich so ist – nicht tatsächlich so sein kann –, wie sie zu sein scheint oder vorgibt. Im unphilosophischen Alltag mag es vorkommen – so die Idee –, dass Sprecher eine ethische Forderung auch dann als Forderung der Vernunft präsentieren, wenn ihre Erfüllung von der Adressatin der Forderung einen höheren Tribut verlangt als sie ihr Nutzen verspricht – doch eigentlich sollten wir akzeptieren, dass Vernunft und Moral in solchen Fällen nicht in die gleiche Richtung ziehen. Und weiter: Im unphilosophischen Alltag mag es vorkommen, dass ethische Äußerungen in das Gewand von Indikativsätzen gehüllt werden und insofern ihre Form mit Tatsachenbehauptungen teilen – doch eigentlich sollten wir anerkennen, dass wir keinerlei Recht besitzen, in ethischen Belangen so zu sprechen, als gäbe es hier Tatsachen.

Einleitung

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Wenn wir uns für die intellektuelle Redlichkeit unserer Alltagspraxis interessieren, so können wir der wahrgenommenen oder drohenden Kluft auf zwei Weisen begegnen. Die erste Reaktion ist ein unverblümter Revisionismus in Bezug auf die ethische Alltagspraxis. Die zweite Reaktion ist der Versuch, die Wahrnehmung der Kluft als eine Illusion auszuweisen und so die ethische Alltagspraxis zu verteidigen. Die erste Reaktion, also die Behandlung der ethischen Rede als durchzogen von Fehlern, die es zu korrigieren gilt, hat viele Denker zunächst in ihren Bann gezogen, ist aber zumindest in ihrer ursprünglichen Form nur von wenigen Philosophen ernsthaft vertreten worden. Der Grund liegt auf der Hand: Selbst, wenn ein radikaler Umbau oder gar eine Aufgabe der ethischen Alltagspraxis möglich wäre, würden wir damit so viel von unserer gewohnten Lebensweise aufgeben, dass wir uns selbst nur schwerlich wiedererkennen würden. Vor diesem Hintergrund ist es kaum erstaunlich, dass viele Philosophen nach weniger radikalen Revisionismen gesucht haben. In einigen philosophischen Kreisen hat sich etwa die routinemäßige Versicherung eingebürgert, dass mit den skeptischen Bemerkungen zum Rationalismus nur die notwendige Vernünftigkeit ethischen Verhaltens, nicht aber seine notwendige Lobens- oder Unterstützungswürdigkeit in Frage gestellt werden soll. In Bezug auf den ethischen Kognitivismus hat sich eine ähnliche, scheinbar bescheidene, Versicherung eingebürgert: Wenn Philosophen die alltagssprachliche Festlegung auf den propositionalen Charakter der ethischen Rede hinterfragen, so wollen sie nur die »Objektivität« ethischer Urteile in Frage stellen, ihre prinzipielle Legitimität – und das heißt dann wohl: ihre Fähigkeit, richtig oder falsch zu sein, oder auch die tatsächliche Richtigkeit vieler ethischer Urteile – aber nicht in Zweifel ziehen. Ob diese Versicherungen allerdings kohärent sind – ob es also Platz gibt für Lobens- und Unterstützungswürdigkeit als etwas anderes als Vernünftigkeit, und ob es Platz gibt für Objektivität als etwas anderes als die Möglichkeit richtigen und falschen Urteilens – das ist alles andere als klar, und insgesamt sind die Versuche, dem Revisionismus seine Radikalität zu nehmen, bislang ohne überzeugende Antworten auf die kritischen Nachfragen geblieben. Die vorliegende Arbeit will sich auf diese Fragen nur am Rand einlassen, denn sie wendet sich von Anfang an gegen den – radikalen oder sanften – Revisionismus. Als Vertreterin der zweiten Reaktion auf die verbreitete Skepsis verfolgt sie das Ziel, die Wahrnehmung der Kluft als eine Illusion auszuweisen und insofern die intellektuelle Redlichkeit der alltäglichen ethischen Rede- und Handlungspraxis zu verteidigen. Allerdings bilden die anti-revisionistischen Ansätze keinesfalls einen monolithischen Block, und aus der Sicht der vorliegenden Arbeit wurde die wichtigste Richtungsentscheidung noch gar nicht erwähnt.

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Einleitung

Grob gesagt gibt es zwei völlig unterschiedliche anti-revisionistische Ansätze in Bezug auf die ethische Rede. Sie unterscheiden sich – weiterhin grob gesagt – darin, wie sie zum sprachphilosophischen Pragmatismus stehen. Um zu zeigen, was es mit diesem Unterschied auf sich hat, möchte ich zunächst den »klassischen« anti-revisionistischen Ansatz skizzieren. Danach werde ich vor diesem Hintergrund die pragmatistische Alternative entwickeln. Wenn ich dabei nicht ganz fair mit dem klassischen AntiRevisionismus umspringe (wie ich auch mit den revisionistischen Ansätzen nicht ganz fair war), so biete ich hierfür drei Entschuldigungen an. Erstens gilt es zunächst – in dieser Einleitung –, den in der vorliegenden Arbeit verfolgten pragmatistischen Ansatz zu lokalisieren. Die Fairness oder Unfairness mit den theoretischen Konkurrenten wird erst in der Verteidigung des Ansatzes wichtig. Zweitens geht es selbst im Hauptteil dieser Arbeit nur am Rand um einen Vergleich mit etablierteren Positionen der philosophischen Ethik. Da die philosophische Ethik bislang vom Pragmatismus wenig Notiz genommen hat, liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit in der Präsentation seiner Relevanz in der Ethik, sowie in der Reaktion auf einige seiner internen Probleme. Drittens ist der pragmatistische Ansatz als Kur gegen philosophische Gewohnheiten angelegt, die so tief verwurzelt sind, dass wir uns ihrer oftmals erst gewahr werden, wenn sie in überspitzter Form präsentiert werden. Die klassischen – und populärsten – Versuche, die Idee der Kluft im ethischen Diskurs als Illusion auszuweisen, beginnen mit der Akzeptanz der Spielregeln der Zweifler. Das heißt, dass die philosophischen Rekonstruktionen der Begriffe, mit denen die Zweifel üblicherweise formuliert werden, übernommen werden und nun auch die Argumente bestimmen, mit denen die Zweifel als haltlos ausgewiesen werden sollen. Machen wir uns dies im Kontext der zentralen Begriffe – Vernunft und Tatsache – klar. Der Zweifel in Bezug auf die notwendige Vernünftigkeit ethischen Verhaltens entzündet sich im Wesentlichen am Gedanken, dass ethisch erfordertes Handeln den Interessen des Akteurs widersprechen kann. Hier zeigt sich ein dezidiert egozentrisches und instrumentalistisches Verständnis der Vernunft. Dieses Verständnis wird nun auch in der Verteidigung angesetzt – indem nämlich mit anthropologischen oder soziologischen Prämissen zu zeigen versucht wird, dass unser Interesse und die »Moral« immer in die gleiche Richtung ziehen, wenn wir nur ein genügend weitreichendes Verständnis unseres Interesses ansetzen. Wer mit Platon, Thomas Hobbes oder David Gauthier vertraut ist, der kennt einige der berühmtesten Protagonisten dieses Versuchs. Selbst Immanuel Kant, der sich vom egozentrischen und instrumentalistischen Verständnis der Vernunft offiziell distanziert, versucht dem Zweifel am ethischen Rationalismus mit der Idee beizukommen, dass Menschen qua Vernunftwesen bestimmte Motive

Einleitung

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entwickeln können, mit deren Aufweis sich die Vernünftigkeit ethisch erforderten Handelns zeigen lässt. In Bezug auf den Zweifel um den propositionalen Charakter der ethischen Rede ist es ähnlich. Dieser Zweifel entzündet sich an der Idee der repräsentationalen Beziehung zwischen Urteil und (nicht-sprachlicher, dennoch bestimmter) Tatsache, von denen letztere so aufgefasst wird, dass ethische Urteile sich per definitionem disqualifizieren als Darstellungen genuiner Tatsachen. Die klassische Verteidigung akzeptiert nun die metaphysische Idee der repräsentationalen Beziehung (und eine Reihe verknüpfter Ideen) und sucht nach etwas, das als unverdächtiges Objekt einer solchen Beziehung mit einem ethischen Urteil figurieren kann. Gewöhnlich findet sie es in nicht-ethischen Phänomenen, auf denen ethische Phänomene »basieren«, und unterfüttert diese Idee mit einem »kulturellen Konstruktivismus«: Wenn ethische Äußerungen wirklich Tatsachenbehauptungen sind – so diese Verteidigung –, dann bilden sie »natürliche« Tatsachen ab, welche bloß innerhalb einer kulturellen Praxis mit konventionellen Bedeutungen assoziiert sind, in direkter Analogie mit juristischen Sachverhalten oder auch mit Mustern geteilten Geschmacks. Wer mit Shakespeares Hamlet,3 mit David Hume oder auch mit John Rawls vertraut ist, der kennt einige der berühmtesten Vertreter dieses Versuchs. Auch wenn diese Skizze des »klassischen« Anti-Revisionismus überaus grob ist und eine ganze Reihe von Weggabelungen auslässt,4 so steckt sie doch (gemeinsam mit der Darstellung der revisionistischen Ansätze) den größten Bereich der etablierten akademischen Moralphilosophie ab – und stellt den Hintergrund dar, vor dem sich die pragmatistische Alternative entwickeln lässt. Der distinkte Zug der pragmatistischen Alternative in der Ethik ist die konsequente Weigerung, die Spielregeln der Zweifler, wie sie sich in ihren Rekonstruktionen der zentralen Begriffe zeigen, anzuerkennen. Dabei ist es jedoch nicht einfach so, dass der Pragmatismus andere Verständnisse der relevanten Begriffe ansetzt und somit an den Skeptikern vorbeiredet. Vielmehr sieht der Pragmatismus in den klassischen _____________ 3 »[T]here is nothing either good or bad, but thinking makes it so.« (2. Akt, 2. Szene) 4 So fehlen etwa die in der deutschsprachigen Debatte prominenten transzendentalpragmatischen oder auch diskursethischen Ansätze, die m.E. die Stichhaltigkeit des Zweifels am ethischen Rationalismus und damit die Legitimität des egozentrischen Rationalitätsverständnisses implizit anerkennen, weswegen es ihnen auch mit ihrem (in ihrer Antwort entwickelten) überpersönlichen Rationalitätsverständnis nicht gelingt, den Zweifel nachhaltig zu ersticken; s. 2.4.4. Ebenso bleiben die religiösen bzw. theologischen Ansätze außen vor. Zur Begründung verweise ich auf das Selbstverständnis moderner Philosophie, zu dem die konsekonsequente Vermeidung religiöser Annahmen gehört.

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Einleitung

Rekonstruktionen der zentralen Begriffe ein letztlich inkohärentes Sprachund Praxisverständnis, von dessen Bann es die Skeptiker zu befreien gilt. Die pragmatistische Ursprungsintuition lässt sich durch die These ausdrücken, dass es logisch unmöglich ist, dass ein tradiertes Spiel – also ein Spiel, welches nicht durch ein explizites Regelwerk gestiftet wurde – schon immer falsch gespielt worden wäre, oder dass das Spiel nur zufällig weitgehend richtig gespielt wurde.5 Diese logische Unmöglichkeit entspringt dem, was wir mit »etwas als Spiel verstehen« meinen: Das Verhalten von Menschen als das Spielen eines Spiels zu verstehen heißt, es im Großen und Ganzen als gemäß den angenommenen Spielregeln, und insofern als korrekt, zu sehen. Wären wir versucht, den interpretierten Menschen ein weitreichendes und persistentes Fehlverhalten zuzuschreiben, so müssten wir uns fragen lassen, wieso wir in unserer Interpretation nicht andere – oder gar keine – Spielregeln ansetzen. Die beiden Grundideen des pragmatistischen Ansatzes sind nun erstens, dass dieser Gedanke auf die menschliche Sprachpraxis als ganze angewendet werden kann, und zweitens, dass der ethische Diskurs einen so integralen Bestandteil der gesamten Sprachpraxis darstellt, dass allein die These der Möglichkeit seiner strukturellen und radikalen Fehlerhaftigkeit einem Missverständnis der Sprachpraxis entspringen muss. Doch wie muss die Sprachpraxis richtig verstanden werden? Im Folgenden will ich die konstruktive Seite der pragmatistischen Reaktion auf die Zweifel an der Ethik etwas genauer ausbuchstabieren. Wir können den pragmatistischen Ansatz in zwei Richtungen ausarbeiten, welche mit den zwei genannten Zweifeln korrespondieren. Zum einen steckt im Pragmatismus der Keim eines neuen Verständnisses der praktischen Vernunft und des praktischen Forderns und Begründens. Die Idee ist, dass die Aufstellung einer ethischen Forderung nichts anderes ist als ein Explizitmachen eines Aspekts des Regelwerkes unseres komplexen, in die Welt der praktischen Verrichtungen eingelassenen Sprachspiels. Ihre Erfüllung ist ein Verhalten gemäß jenes Regelwerkes und damit eine im Rahmen des Spiels intelligible Handlung – nicht notwendigerweise eine interessengemäße Handlung. Die Nicht-Erfüllung einer berechtigten ethischen Forderung erscheint dagegen als ein Schritt jenseits der Grenzen der Intelligibilität, vergleichbar mit dem Vertreten mehrerer inkonsistenter Thesen. Der Sinn, in dem eine Verletzung der relevanten Spielregeln möglich, aber nicht erlaubt ist, ist in beiden Fällen derselbe. Hier deutet sich eine pragmatistische Verteidigung des ethischen Rationalismus an. _____________ 5 Ich lehne mich hier an Wittgenstein, 2003f [ÜG], § 496, an. Diese Idee, die ich als »Interpretationismusthese« bezeichne, wird uns in dieser Arbeit immer wieder begegnen.

Einleitung

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Zum andern steckt in der pragmatistischen Herangehensweise der Keim einer neuen Auffassung des Indikativsatzes und seiner Bedeutung, der Proposition.6 Nach Ansicht der Pragmatisten erhalten Indikativsätze ihre Bedeutung nicht durch die Abbildung von (nicht- oder außersprachlichen) Sachverhalten. Sätze sind für Pragmatisten keine Bilder, sondern besondere – unter anderem besonders komplexe – Spielzüge in unserem praktisch erweiterten Sprachspiel. Diese Spielzüge sind, wie es Spielzüge an sich haben, manchmal korrekt und manchmal inkorrekt, je nach dem aktuellen Spielstand, wobei unter anderem die vorher gefallenen Sätze eine Rolle spielen. Zudem verändern sie selbst auf komplexe Weise den Spielstand: Jede Äußerung eines Satzes verpflichtet bzw. berechtigt den Sprecher zur Zustimmung (üblicherweise unter bestimmten Bedingungen) zu weiteren Sätzen und auch zur Ausführung (wiederum üblicherweise unter bestimmten Bedingungen) bestimmter nichtsprachlicher Verrichtungen. Die durch einen Satz ausgedrückte Proposition kann als die komplexe Rolle des Satzes im erweiterten Sprachspiel verstanden werden. Es gehört zu unserem Sprachspiel, dass ein Satz als korrekt anerkannt – wir sagen dann, dass er eine wahre Proposition ausdrückt – oder als inkorrekt abgelehnt werden muss – wir sagen dann, dass er eine unwahre Proposition ausdrückt. Unsere Anerkennung oder Ablehnung ergibt sich dabei daraus, welche praktischen Berechtigungen und Verpflichtungen wir als Spieler unseres komplexen, in vorsprachliche Verrichtungszusammenhänge eingebetteten, Sprachspiels tragen.7 Da sich ethische Sätze und damit auch ethische Propositionen in dieser Hinsicht nicht von anderen – etwa wissenschaftlichen – Sätzen und Propositionen unterscheiden, liegt in diesem Aspekt des Pragmatismus das Fundament eines ethischen Objektivismus. _____________ 6 Ein Wort zur Terminologie: Ein Indikativsatz (manchmal spreche ich auch einfach vom Satz) wird zunächst syntaktisch individuiert. Eine Proposition ist das, was durch einen Satz jeweils ausgedrückt wird. Das »jeweils« im letzten Satz ist wichtig: Welche Proposition durch einen Satz ausgedrückt wird, hängt mit davon ab, in welchem Kontext seine Äußerung (oder Inskription) erfolgt. Hin und wieder werde ich auf diesen Umstand aufmerksam machen, indem ich vom geäußerten Satz spreche. Urteile können unausgesprochen bleiben; es ist ihnen jedoch eigen, dass sie durch Indikativsätze explizit gemacht werden können. Insofern haben auch sie wesentlich propositionalen Gehalt. Da in der vorliegenden Arbeit die Äußerung eines Satzes fast immer als der Aufstellung einer Behauptung dienend aufgefasst wird, werde ich (mit der Ausnahme des Begriffes der Behauptung selbst) auf sprechakttheoretisches Vokabular verzichten. 7 Ebenso gut lässt sich sagen, dass es zu den Regeln unseres propositionalen Sprachspiels gehört, dass Inkonsistenzen nicht akzeptiert werden können.

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Einleitung

Die Verankerung der ethischen Sätze in unserem Sprachspiel mit unseren Sprachspielregeln tut dem ethischen Objektivismus dabei keinen Abbruch, denn ein Sprachspiel, das in einem philosophisch signifikanten Sinn alternativ zu unserem sein soll, müsste unüberführbar in unseres sein. Die Idee eines Sprachspiels, welches unüberführbar in unseres ist und dessen Spielzüge dennoch als Ausdrücke genuiner Propositionen interpretiert werden können, ist allerdings ebenso inkohärent wie die Idee, dass es Farben gäbe, welche wir uns prinzipiell nicht vorstellen können (vielleicht ein »gelbliches Violett« oder ein »transparentes Weiß«?), welche aber dennoch echte Farben sind. Wenn wir in den sprachlichen Zügen einer Person überhaupt den Ausdruck von Propositionen ausmachen können, dann müssen wir ihnen gegenüber auch die Haltung der Zustimmung (als wahr) oder der Ablehnung (als unwahr) einnehmen können, und eine Suspendierung unseres Urteils kann höchstens temporär sein. Fühlen wir uns bei einer fremden Äußerung weder zum einen noch zum andern in der Lage, ohne dass dies einfach an einem Mangel an relevanten Informationen läge, so müssten wir eingestehen, dass wir die Äußerung (noch?) gar nicht als Ausdruck einer bestimmten Proposition verstehen. Wenn hingegen das fremde Sprachspiel oder Sprecherverhalten überhaupt nicht als propositional strukturiert aufgefasst wird, dann taugt es ebenso wenig als Evidenz für die Falschheit des ethischen Objektivismus wie eine fremde Tracht oder ein fremder Tanz. Die vorliegende Arbeit ist der Versuch, die angedeutete anti-skeptische Interpretation der ethischen Rede auszuarbeiten. Sie tut dies in drei Teilen. In ihrem ersten Teil stellt sie die Grundzüge der Interpretation vor. Im Zentrum steht dabei die Interpretation propositional gehaltvoller Äußerungen als praktischer Manöver im Sprachspiel und die Lesart ethischer Sätze als eine der Explizierung der Spielregeln dienende Unterart dieser Manöver. Als solche sind ethische Sätze in erster Linie Sprachspielzüge, die immer in internen Beziehungen mit anderen Sprachspielzügen stehen, und zwar sowohl mit anderen Sätzen als auch mit nicht-sprachlichen Verrichtungen im Umfeld ihrer Äußerung. Eine wichtige Konsequenz des pragmatistischen Ansatzes lautet, dass ethische Sätze – wie alle Sätze – in einer wichtigen Hinsicht transzendental sind: Wenn sich ein Konflikt zwischen zwei Sprechern in Bezug auf die Korrektheit eines Satzes ergibt, so stellt sich für beide Sprecher die Frage, ob sie überhaupt das gleiche Spiel spielen. Vor dem Hintergrund dieser Frage gilt es nun zu erklären, wie genuine Meinungsverschiedenheiten auf einem pragmatistischen Fundament verstanden werden können. Die Antwort auf diese Frage ist eines der Hauptziele des ersten Teils der vorliegenden Arbeit. Zudem wird im ersten Teil die These verteidigt, dass philosophische Kommentatoren (wie wir) keinen privilegierten Zugang zum Gehalt und

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damit zur Angemessenheit oder Unangemessenheit sprachlicher Äußerungen (und auch nicht-sprachlicher Handlungen) haben. Wie sich zeigen wird, spielt dieser Punkt eine wichtige Rolle in dem Nachweis, dass ethische Konflikte kein Problem für den Objektivismus darstellen. Im letzten Kapitel des ersten Teils wird ein pragmatistisches Verständnis der Beziehung zwischen Gründen einerseits und Motivationen sowie Handlungen andererseits ausgearbeitet. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit einer Reihe von Fragen, die sich aus der Tatsache ergeben, dass unser Sprachspiel, inklusive seiner ethischen Bereiche, nicht etwa von einem Sprach-Erfinder konzipiert wurde, sondern dass es eine urwüchsige Praxis ist. Dies ist deswegen wichtig, da es uns die Frage aufzwingt, inwiefern wir als philosophische Kommentatoren überhaupt berechtigt sind zur Rede von den »Regeln« des Sprachspiels – schließlich gibt es für unsere natürliche Sprache gerade kein konsultierbares Verzeichnis originärer Regeln. Im ersten Kapitel des zweiten Teils wird unter Rückgriff auf zwei wichtige pragmatistische Philosophen der Gegenwart, Robert Brandom und Ronald Dworkin, die ständige und unvermeidliche Entwicklung – Weiterentwicklung – der Sprache, inklusive ihrer ethischen Bereiche, genauer beschrieben und in einigen ihrer Konsequenzen diskutiert. Eine zentrale Rolle in der ständigen Entwicklung spielen interne Spannungen im Sprachspiel und die sich aus ihnen ergebenden Resolutionszwänge. Im darauf folgenden Kapitel wird dann gezeigt, dass und wieso die Urwüchsigkeit und die ständige Entwicklung der Praxis die Rede von Regeln nicht obsolet macht. Dieser Schritt erfolgt im Rahmen einer pragmatistischen Theorie der Rolle normativen Vokabulars, zu dem der Begriff der Regel selbst gehört. Schließlich wird im dritten Kapitel des zweiten Teils auf eine interessante Konsequenz der ständigen Entwicklung der Sprache für die Debatte zwischen ethischem Partikularismus und ethischem Generalismus hingewiesen. Ging es im ersten Teil also um das Wesen des ethischen Diskurses, so geht es im zweiten Teil schwerpunktmäßig um sein Werden. Der dritte Teil der Arbeit betrachtet die ethische Rede schließlich von »außen«. Zwar gibt es keine philosophische Außenperspektive auf das Sprachspiel – also keine Perspektive, aus der Korrektheits- oder Inkorrektheitsurteile in Bezug auf Äußerungen oder Handlungen der Sprachspielteilnehmer aufgestellt werden können, die entsprechende Korrektheits- oder Inkorrektheitsurteile der Sprachspielteilnehmer selber prinzipiell ausstechen. Jedoch ist es in einer anderen, bescheideneren, Hinsicht durchaus möglich, von »außen« auf die Sprachpraxis zu blicken: Es ist möglich, nach Korrelationen zwischen Zügen des beobachtbaren Sprachverhaltens einer Gruppe von Sprechern (vielleicht aller Menschen) einerseits und anderen – sagen wir, naturwissenschaftlich ermittelten –

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Daten andererseits zu suchen. Zum Beispiel ist es durchaus möglich, nach Korrelationen zwischen alltäglichen Urteilen über die Hilfsbedürftigkeit von Menschen einerseits und bestimmten psychologisch relevanten Aspekten der Urteilssituationen zu suchen. Diese Art von Untersuchung hat nicht wenige Philosophen dazu veranlasst, ihre alltägliche Urteilspraxis auf den Prüfstand zu stellen und sogar teilweise zu verändern, denn mitunter sind sie – sind wir – gezwungen anzuerkennen, dass alltägliche praktische Urteile von Situationsaspekten abhängig sind, welche sich bei einer nüchternen Betrachtung als völlig irrelevant in Bezug auf die Angemessenheit der Urteile erweisen. Der dritte Teil beleuchtet also eine weitere Art des »Werdens« des ethischen Diskurses: die aktive Gestaltung des ethischen Diskurses auf der Basis humanwissenschaftlicher Erkenntnisse. Bevor es los geht, möchte ich zwei Anmerkungen machen. Erstens ging es mir in diesen einführenden Bemerkungen nicht darum, die Selbstverständnisse der Teilnehmer der akademischen Debatte akkurat wiederzugeben, sondern eher darum, die akademische Landschaft aus pragmatistischer Warte zu skizzieren. Aus diesem Grund fehlen einige der orthodoxen Trennlinien der Moralphilosophie, allen voran die Unterscheidung zwischen »Realisten« und »Antirealisten«. Der Hintergrund meiner unorthodoxen Aufteilung des Feldes der Ethik liegt in der Festlegung auf die Prinzipien, dass eine philosophische Stellungnahme sich mit nichts anderem beschäftigen kann als mit den Strukturen eines bestimmten Sprachbereichs, und dass es keine sprachspiel-externen Standards gibt, anhand derer sich solche Strukturen bewerten ließen. In dem Maße, in dem sich etwas als Standard für die Bewertung sprachlicher Manöver anbietet, muss es selber zum Sprachspiel gehören (was, wie angedeutet, die Möglichkeit eines globalen und dauerhaften Verstoßes logisch ausschließt).8 Da diese Einsicht den orthodoxen Debattenteilnehmern – gerade den »Realisten« und den »Antirealisten« – in aller Regel fremd ist,9 hat der Pragmatist oftmals ganz andere Vorstellungen von den fundamentalen philosophischen Optionen als die orthodoxen Lager. Zudem figurieren im Pragmatismus die großen »Ismen« der Moralphilosophie – solange sie _____________ 8 Aus verwandten Gründen habe ich übrigens die Versuche, nur die »Objektivität« ethischer Urteile – nicht aber ihre Fähigkeit, richtig oder falsch zu sein – und nur die notwendige Vernünftigkeit ethischen Handelns – nicht aber seine notwendige Lobenswürdigkeit – zu bezweifeln, nicht als Formen des Anti-Revisionismus, sondern vielmehr als sanfte Formen des Revisionismus interpretiert. Wenn diese Positionen überhaupt kohärent sind (was zunächst angenommen werden sollte), so müssen sie sich kritisch auf Strukturen des alltäglichen Sprechens beziehen, nicht auf ein Jenseits hinter der Sprachpraxis. 9 Die Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist Michael Dummett; siehe Dummett, 1991.

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überhaupt vorkommen – an anderer Stelle als in vielen klassischen Diskussionen. So werden der Kognitivismus und der Rationalismus in der vorliegenden Arbeit nicht als Doktrinen verstanden, sondern eben als Strukturaspekte der ethischen Rede, über die es herauszufinden gilt, inwieweit sie sich innerhalb einer transparenten Darstellung unserer gesamten Sprachpraxis als intellektuell respektabel ausweisen lassen. Die zweite Anmerkung ist, dass ich keinesfalls für alle Aspekte der vorliegenden Arbeit Originalität beanspruche. Insbesondere die Einsicht, dass die Forderung nach einer Rechtfertigung für den propositionalen Charakter eines Sprachbereiches (etwa durch den Hinweis auf entsprechende metaphysische Tatsachen) letztlich inkohärent ist, ist nicht mein Verdienst. Sie geht auf Ludwig Wittgenstein zurück und wurde seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von einer Handvoll von Philosophen – von Philippa Foot über Mark Platts bis Sabina Lovibond und Susan Hurley – sukzessive ausgebaut. Auch in Bezug auf die These, dass die Erfüllung berechtigter ethischer Forderungen per definitionem nicht unvernünftig sein kann, weise ich auf die Schriften anderer Philosophen hin – im Wesentlichen auf Warren Quinns und (wiederum) Philippa Foots einschlägige Arbeiten. Bezüglich der nicht-originellen Thesen, welche in meiner Diskussion vorkommen, ist der Anspruch der vorliegenden Arbeit erstens, die Thesen innerhalb einer kompletten Darstellung der ethischen Rede zu präsentieren, zweitens die sich aus ihnen ergebenden Fragen zu beantworten, und drittens ― sie einfach bekannter zu machen. Die nach wie vor große Verbreitung der Skepsis in Bezug auf die intellektuelle Redlichkeit alltäglicher ethischer Äußerungen ist ein klares Anzeichen dafür, dass sich die antiskeptischen Einsichten des Pragmatismus noch nicht weit genug herumgesprochen haben. Aus Gründen der Lesbarkeit habe ich alle Kapitel so zu schreiben versucht, dass sie als freistehende Texte gelesen werden können. Wiederholungen, die sich aus dieser Vorgehensweise hin und wieder ergeben, sind im Text markiert. Eine Übersicht mit Kurzzusammenfassungen der einzelnen Kapitel findet sich im Anschluss an diese Einleitung.

Übersicht Teil I: Zur Unhinterfragbarkeit des ethischen Diskurses Kapitel 1: Die Ethik und ihre Aura des Dubiosen Dieses Kapitel liefert den Hintergrund zur Theorie der ethischen Rede, die in der vorliegenden Arbeit vorgestellt wird. Es zeigt, dass nicht nur die philosophische Subdisziplin der Ethik, sondern die alltägliche Rede über die (und damit der Begriff der) »Ethik« überhaupt von einem tiefen philosophischen Unbehagen geprägt sind. Dieses Unbehagen basiert auf zwei kardinalen Zweifeln. Es handelt sich (1.) um den Verdacht, dass sich viele unserer alltäglichen praktischen Forderungen an uns selbst und an unsere Mitmenschen nicht wirklich rechtfertigen lassen, und (2.) um die Vermutung, dass der propositionale Charakter unserer alltäglichen Rede über diese Forderungen intellektuell problematisch bzw. unhaltbar ist. Es wird argumentiert, dass diese verbreiteten Zweifel bezüglich unserer Alltagspraxis und -sprache den Einfluss zweier Vorstellungen auf unser Denken aufzeigen: (1.) einem instrumentalistischen und egozentrischen Rationalitätsverständnis (»nur eine solche Handlung ist rational, die im Dienst des Wohls des Handelnden steht«) und (2.) einem Non-Objektivismus der normativen Rede (»die Rede von Tatsachen ist reserviert für nichtnormative, in erster Linie für wissenschaftliche bzw. proto-wissenschaftliche Kontexte«). Beide Vorstellungen bringen einen Hang zum Skeptizismus in unser Nachdenken über die Ethik. Schließlich wird angedeutet, dass sich die fraglichen Vorstellungen aber als Fehlinterpretationen unserer Alltagspraxis und -sprache und somit als geeignete Ziele wittgensteinianischer philosophischer Therapie erweisen, wodurch sich eine nichtskeptische Perspektive auf die Ethik eröffnet – wie die kommenden Kapitel ausführen werden. Dabei ist besonders interessant, dass eine solche philosophische Therapie uns nicht nur mit den relevanten Teilen unserer Alltagspraxis und -rede versöhnt, sondern auch den Begriff der »Ethik« unnötig, tatsächlich sogar problematisch, macht. Die Idee ist, dass die Ursachen der beiden Zweifel gleichzeitig die (einzigen) Gründe für die Unterscheidung zwischen »ethischen« und »nicht-ethischen« Gründen (Handlungen, usw.) sind.

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Kapitel 2: Die Ethik als Horizont der Intelligibilität Dieses Kapitel stellt ein von Wittgensteins Spätphilosophie inspiriertes Verständnis der Ethik vor, mit dessen Hilfe wir sowohl das instrumentalistische und egozentrische Verständnis praktischer Gründe (1.) als auch die non-objektivistische Interpretation ethischer Äußerungen (2.) als Missverständnisse unserer Sprachpraxis zurückweisen können. Der Schlüssel dazu ist Wittgensteins pragmatistisches Verständnis der Sprache, welches die Sprache als aus nicht-sprachlicher Praxis hervorgegangen und weiterhin in ihrem Dienst stehend betrachtet, und welches im erweiterten Sprachspiel den Horizont jeglicher Intelligibilität sieht. Die pragmatistische Konzeption der Sprache motiviert zunächst ein Verständnis der Indikativsätze und der durch sie ausgedrückten Propositionen, mit dem es nicht länger als ein Problem erscheint, dass die ethische Rede ebenso propositional strukturiert ist wie die wissenschaftliche oder quasi-wissenschaftliche Rede (2.). Für den Pragmatismus liegt der Sinn eines propositionalen Ausdrucks in seinen logischen bzw. internen Beziehungen mit anderen solchen Ausdrücken sowie mit praktischen Verrichtungen im Umfeld seiner Äußerung, weswegen eine Beschränkung von Propositionen auf nicht-praktische Kontexte inkohärent ist. Mit dem von Wittgenstein inspirierten Pragmatismus lässt sich auch der andere Zweifel ablegen, der seinen Ausgang in der Idee nimmt, dass Handlungsgründe an Eigeninteressen geknüpft sind und die Begründung ethisch geforderten Verhaltens daher ein Problem darstellt (1.). Für den Pragmatismus sind Begründungsbeziehungen nichts weiter als interne Beziehungen zwischen unterschiedlichen propositionalen Ausdrücken bzw. Propositionen – wir sprechen hier von theoretischen Gründen – und zwischen propositionalen Ausdrücken bzw. Propositionen und nicht-sprachlichen Verrichtungen – wir sprechen hier von praktischen Gründen. Handeln nach Gründen ist somit im Wesentlichen intelligibles, nicht interessengemäßes Verhalten. Eine scheinbare Verletzung oder Missachtung eines Grundes muss daher entweder zu einer Neu-Interpretation des fraglichen Sprechers (inklusive seines nicht-sprachlichen Verhaltens) oder aber zu seiner Behandlung als (rational) beschränkt führen, was von epistemisch benachteiligt bis hin zu gänzlich un-intelligibel reichen kann. Jede weitere Frage nach Gründen jenseits der internen Beziehungen, die die Intelligibilität von Handlungen konstituieren, ist inkohärent. Kapitel 3: Konflikt und Objektivität Wie gezeigt, hat die Sprachspieltheorie der ethischen Rede sowohl rationalistische als auch objektivistische Züge. In diesem Kapitel wird nun die Theorie weiter ausgebaut, indem explizit auf die Konflikte eingegangen wird, die die ethischen Bereiche der Alltagssprache anerkanntermaßen

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durchziehen. Gegen die verbreitete Auffassung, dass (häufige) ethische Konflikte gegen rationalistische und / oder objektivistische Theorien der Ethik sprechen, wird gezeigt, dass (häufige) ethische Konflikte nicht nur kein Problem für unsere Theorie darstellen, sondern dass sie diese – recht verstanden – sogar unterstützen. Zum einen bietet die Sprachspieltheorie genug Ressourcen, um alle ethischen Konflikte als ganz normale propositionale Konflikte und damit als Analoga (etwa) medizinischer Streitigkeiten wiederzugeben. Zum andern sagt die Sprachspieltheorie das häufige Auftreten ethischer Konflikte aufgrund der Komplexität der ethischen Rede sowie der Unterschiede in den Lebensumständen sogar voraus. Aus pragmatistischer Sicht müssen propositionale Konflikte zunächst als interpretationsbedürftig aufgefasst werden: Alle Beteiligten müssen abweichende, zunächst falsch scheinende, Äußerungen der jeweiligen Gegenseite interpretieren und re-interpretieren, bis sich der Konflikt entweder als ein bloßes Missverständnis oder aber als genuine Meinungsverschiedenheit herausstellt, bei der mindestens eine der konfligierenden Parteien aus logischen Gründen im Unrecht sein muss. Meinungsverschiedenheiten setzen dabei keine Abbild-Theorie der Bedeutung voraus, sondern können stattdessen als Inkonsistenzen in den inferenziellen und nicht-inferenziellen sprachlichen Dispositionen mindestens eines Sprechers verstanden werden. Wichtig ist nun, dass der Erfolg des Interpretierens nie garantiert ist. Es kann immer sein, dass die fraglichen Äußerungen – und damit auch die Natur des Konflikts – aus der Warte des Interpreten (ob Konfliktpartei oder Kommentator) unverstanden bleiben. Es wird gezeigt, dass die Sprachspieltheorie mit ihren (damit) drei möglichen interpretativen Urteilen über konkrete propositionale Konflikte den Relativismus und den NonKognitivismus als theoretisch unattraktiv und unnötig ausweist. Zuletzt wird ein bislang noch nicht erfasster Fall propositionaler Konflikte skizziert, der eine Vorschau auf den zweiten Teil dieser Arbeit gestattet. Kapitel 4: Vom Grund zur Handlung Das Ziel dieses Kapitels ist, das in den vorangegangenen Kapiteln ausgearbeitete Verständnis der Ethik mit einigen etablierten Ideen und Kontroversen der aktuellen Handlungstheorie in Verbindung zu bringen. Insbesondere gilt es zu zeigen, dass die pragmatistische Theorie der Ethik ein motivations-internalistisches Verständnis von Gründen mit sich bringt und – damit verknüpft – eine Tendenz zu einer nicht- oder antihumeanischen Position in der Motivations- und Handlungstheorie hat. In dieser Hinsicht stellt sich das von Wittgenstein inspirierte Verständnis der Ethik gegen die Mehrheitsposition in der aktuellen akademischen Landschaft. Aus wittgensteinianischer Perspektive weisen die erfolgversprechendsten Argumente gegen diese Mehrheitsposition zum einen darauf

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hin, dass letztere von der Alltagssprache wesentlich abweicht und daher eine erhebliche Beweislast trägt. Zum andern machen sie ernstzunehmende Probleme in den zwei Hauptargumenten für diese Position deutlich: dem Argument von den unterschiedlichen Motivationen und dem Argument von den Passungsrichtungen. Nach einer Diskussion dieser Argumente wird die Frage gestellt, wieso Humeaner und Externalisten die Lage der Beweislast systematisch falsch einschätzen, und wieso sie die Probleme in ihren Argumenten nicht als annähernd so dringlich ansehen, wie es in diesem Kapitel angemahnt wird. Es werden zwei Ursachen genannt: erstens die mangelnde Sensibilität vieler Philosophen für Unterschiede zwischen naturwissenschaftlichen Sprachregionen und alltäglichen sprachspielregel-explizierenden Manövern; zweitens die verbreitete Gewohnheit, zuerst die Rand- und Problemfälle der Sprachverwendung, und erst dann die zentralen und unproblematisch funktionierenden Sprachverwendungen zu betrachten. Im Rest des Kapitels wird dann gezeigt, dass die Angriffe der wittgensteinianischen Position auf den Humeanismus sowie auf den motivationalen Externalismus nichts mit einer generellen Ablehnung der Wissenschaft oder einer Leugnung ihres Potenzials zu tun haben. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls besonders betont, dass das in dieser Arbeit entwickelte Verständnis der Ethik durchaus als »naturalistisch« bezeichnet werden könnte. Teil II: Zur Offenheit des ethischen Diskurses Kapitel 5: Sprache im Wandel – Ethik im Wandel? In diesem Kapitel wird die Frage erörtert, wie und wieso sich unser Sprachspiel – und damit der Horizont der Intelligibilität unseres sprachlichen und nicht-sprachlichen Handelns – verändert. Gerade in den »ethischen« Bereichen der Alltagssprache sind diese Fragen wichtig: Wie schon die Prävalenz ethischer Konflikte, so gilt auch die Veränderung der ethischen Sprache nicht wenigen Kommentatoren als Evidenz für die Überlegenheit anti-objektivistischer, mithin relativistischer Theorien der Ethik. Eine der Hauptursachen der Verbreitung solcher Auffassungen besteht in der Vernachlässigung der Tatsache, dass die Veränderung der Sprache ein dialektischer und damit vernünftiger Prozess sein kann. Genau dies wird in diesem Kapitel ausführlich dargelegt, und zwar unter Rückgriff auf zwei der wichtigsten aktuellen pragmatistischen Philosophen – Robert Brandom und Ronald Dworkin. Während Brandom sich auf die empirische propositionale Rede konzentriert, nimmt der Rechtsphilosoph Dworkin vor allem die Rechtsprechung in den Blick. Dennoch sind die Arbeiten beider Autoren in verschiedenen Hinsichten nah miteinander

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verwandt. Erstens zeigen beide, wie sich eine normative Praxis durch die Konfrontation mit neuen (bislang nicht in Erscheinung getretenen oder relevanten) Realitäten als lokal inkonsistent erweisen kann, woraufhin die Praxisteilnehmer um lokale Anpassungen der Praxis nicht umhin kommen. Zweitens zeigt sich bei beiden Autoren die Einsicht, dass die Historizität der Praxis eine fundamentale Rolle bei der Konstitution des Gehalts ihrer Ausdrücke spielt und dass die Untersuchung des Wandels der Praxis daher für Philosophen keine optionale Angelegenheit ist. An beiden Autoren lässt sich aufzeigen, dass eine Untersuchung des Wandels normativer Praxis durch lokale Inkonsistenzen ganz natürlich in eine Untersuchung des Wesens normativer Praxis an sich – oder mit Wittgenstein gesagt: des Regelfolgens an sich – mündet. In diesem Kapitel wird angedeutet, dass bei Brandom und Dworkin auf diesem letzten Feld noch einige Unklarheiten bleiben. Diese sollen dann im sechsten Kapitel stellvertretend für Brandom und Dworkin beantwortet werden. Kapitel 6: Eine pragmatistische Theorie des Regelfolgens Dieses Kapitel schließt an das vorige Kapitel über die graduelle Evolution des Sprachspiels mit einer Erörterung der Frage an, inwiefern wir im Angesicht der ständigen und unvermeidlichen Entwicklung der Sprache überhaupt von einer normativen Praxis – oder, mit Wittgenstein: von einer Instanz echten Regelfolgens – sprechen dürfen. Das Kapitel verteidigt in diesem Zusammenhang Robert Brandoms Behauptung, das Regelfolgeproblem könne unter Rückgriff auf praktische Einstellungen gelöst werden, mit denen einzelne Teilnehmer der normativen Praxis auf andere Teilnehmer der normativen Praxis reagieren. Die Sorge vieler Philosophen in Bezug auf diesen Vorschlag ist, dass er zu einem Dilemma führt: Wenn praktische Einstellungen mit nicht-normativem Vokabular erläutert werden, so lässt sich mit ihnen höchstens Regularität, i.e. Regelmäßigkeit erklären; werden sie aber unter Rückgriff auf normative Begriffe erläutert, so wird der Erklärungsversuch zirkulär. In diesem Kapitel wird argumentiert, dass das zweite Horn des Dilemmas in zwei Schritten neutralisiert werden kann: Erstens müssen wir anerkennen, dass die praktischen Einstellungen verschiedener Akteure in konvergierenden Rückkopplungsschleifen aufeinander bezogen sind, zweitens müssen wir akzeptieren, dass Aussagen über normative Status (inklusive Aussagen des Theoretikers über die Angemessenheit praktischer Einstellungen) selber praktische Einstellungen explizit machen und insofern in den Rückkopplungsschleifen zu lokalisieren sind. Die Zirkularität, die mit diesem Vorschlag assoziiert ist, befällt nicht die Erklärung, sondern das System der Verwendung normativer Sprache; sie ist somit kein circulus vitiosus, sondern ein circulus virtuosus. Dieser Vorschlag wird im vorliegenden Kapitel zunächst auf das normative Phänomen des

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Papiergeldkreislaufs (und damit des Wertes) und dann auf die Sprache (und damit die Bedeutung) angewendet. Obwohl der Vorschlag den Fokus von Brandoms (und indirekt auch von Dworkins) Projekt von der Erklärung eines Phänomens zur Erläuterung eines Vokabulars verschiebt, löst er die philosophischen Zweifel, ohne dabei in den Quietismus abzugleiten. Es zeigt sich, dass Brandoms und Dworkins Ideen über die Veränderung der ethischen Rede- und Denkpraxis und über die Etablierung bestimmten Verhaltens als korrekt mit den in dieser Arbeit betonten objektivistischen Zügen unserer normativen Rede kompatibel sind. Kapitel 7: Zwischen Partikularismus und Generalismus In diesem Kapitel wird argumentiert, dass das in den vorangegangenen Kapiteln entwickelte Verständnis der Historizität der Sprachpraxis eine interessante Konsequenz in Bezug auf die Interpretation der ethischen Deliberation, bzw. auf die Interpretation des Wesens ethischen Wissens, hat: Zwischen den etablierten Positionen des ethischen Generalismus und des ethischen Partikularismus bleibt – zumindest, wenn die orthodoxen Formulierungen zugrunde gelegt werden– Raum für eine dritte Position. Während Generalisten die ethische Kompetenz in der Kenntnis allgemeiner ethischer Prinzipien (sowie der generischen Fähigkeit der Befolgung solcher Prinzipien) ausmachen, bestehen Partikularisten darauf, dass die ethische Kompetenz nicht auf die Kenntnis von Prinzipien (und auch nicht auf die Fähigkeit der Befolgung von Prinzipien) angewiesen ist. Aus der Perspektive der Sprachspieltheorie der ethischen Rede, und insbesondere aus ihrer Festlegung auf die Historizität der Sprache, ergibt sich nun eine Möglichkeit, zwischen den verfeindeten Lagern zu vermitteln. Die in diesem Kapitel beworbene, an Wittgensteins spätem Verständnis der Grammatik orientierte, Position basiert auf dem Vorschlag, Formulierungen ethischer Prinzipien als grammatische Sätze und ethische Probleme als grammatische Spannungen zu interpretieren. Mit dieser Lesart können wir die wichtige Rolle von Prinzipien in der ethischen Deliberation affirmieren, gleichzeitig jedoch zugeben, dass die ethische Kompetenz mitunter in der Fähigkeit besteht, Spannungen zwischen Prinzipien, die sich im Laufe der Zeit als inkompatibel erweisen, durch die Modifikation von Regeln zu beseitigen. Die Modifikation von Regeln ist dabei mehr als bloß das Befolgen höherstufiger Regeln. Auf der beworbenen Lesart erscheinen Situationen, in denen verschiedene ethische Prinzipien unerwartet konfligieren, als Stationen der sprachlichen Evolution. Wir können also zeigen, dass sich die alltägliche ethische Reflexion gleichzeitig als Aktualisierung unser ethischen Lebensform und als ihre Weiterentwicklung auffassen lässt.

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Übersicht

Teil III: Zur Außenansicht des ethischen Diskurses Kapitel 8: Die Ethik im Blick der Naturwissenschaft Nachdem wir in den letzten Kapiteln die Reflexion über die Alltagssprache samt ihrer ethischen Bereiche im Wesentlichen als eine Angelegenheit der Alltagssprecher selber behandelt haben, wollen wir uns nun mit einer anderen Art der Reflexion beschäftigen: der naturwissenschaftlichen Betrachtung unserer Sprachpraxis. In letzter Zeit sind Moralpsychologen vermehrt mit der These an die Öffentlichkeit gedrängt, dass die ethische Rede und das ethische Nachdenken bzw. die Moralphilosophie gut daran täten, die naturwissenschaftlichen – insbesondere die moralpsychologischen – Erkenntnisse über den Menschen ernster zu nehmen. Der implizite oder explizite Vorwurf vieler Wissenschaftler besteht darin, dass die alltägliche ethische und juristische Praxis an Annahmen geknüpft ist, die sich durch moderne empirische Forschung als brüchig erweisen. Nach der stärksten Lesart zielen die wissenschaftlichen Kritiker der traditionellen ethischen und juristischen Praxis darauf, die alltägliche – und in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder herausgestellte und verteidigte – Trennung von Fragen der Begründung einerseits und Fragen der Verursachung andererseits aufzuheben. Dieses Kapitel soll diese Unterscheidung verteidigen. Allerdings muss betont werden, dass die kritischen Wortmeldungen aus den empirischen Humanwissenschaften durchaus auf eine bescheidenere Weise interpretiert werden können, auf der sich in ihnen einiges Unterstützenswertes ausmachen lässt. Insbesondere ist es wahr, dass die Moralpsychologie in wichtigen Punkten dazu beitragen kann, das menschliche Verhalten auf positive Weisen zu beeinflussen, und dass die Moralpsychologie unerlässlich zur Beantwortung der Frage der angemessenen Zuteilung von Lob und Tadel (sowie Belohnung und Bestrafung) ist. Insgesamt vertritt dieses Kapitel also eine vermittelnde Position zur Relevanz der Naturwissenschaften in der ethischen Rede bzw. in der Reflexion letzterer.

Teil I Zur Unhinterfragbarkeit des ethischen Diskurses

1. Die Ethik und ihre Aura des Dubiosen. Über das verbreitete philosophische Unbehagen an der ethischen Rede 1.1 Einleitung: Zweifel als Beginn der Philosophie Der Beginn jeder Philosophie ist ein Zweifeln, eine Verunsicherung, eine Entfremdung. Es muss sich dabei nicht bloß um ein Zweifeln an der Wahrheit einer bestimmten Aussage oder Annahme handeln. Die Entfremdung kann auch dem nagenden Verdacht entspringen, dass eine ganze alltägliche Praxis einer rigorosen intellektuellen Prüfung nicht standhalten würde. Sie kann dem Verdacht entspringen, dass es sich bei der Praxis bloß um eine aus purer Gewohnheit oder Traditionshörigkeit verübte Reihe von Verrichtungen und Äußerungen handelt; um eine leere Choreographie, die nur deswegen den Anschein von Klarheit und Selbstverständlichkeit hat, weil wir uns nie die Mühe gemacht haben, sie konsequent zu durchdenken. Wir wollen uns ein einfaches und idealisiertes Beispiel ansehen, anhand dessen sich nicht nur zeigen lässt, wie genau wir uns die »Entfremdung am Beginn der Philosophie« vorzustellen haben, sondern auch, was es mit der »Philosophie« auf sich hat, die von ihr ausgelöst wird. Die meisten Menschen haben sich irgendwann in ihrem Leben schon einmal ernsthaft darüber gewundert, dass sich ein so großer Teil ihres Alltags um kleine farbige und bedruckte Stücke Papier dreht: Papiergeld. Unzählige Gedichte, Essays und Lieder konfrontieren uns mit der Frage, wie es sein kann, dass wir tagein, tagaus einem Gut hinterher laufen, mit dem wir nichts bauen können, das wir nicht essen können, auf dem wir nicht einmal richtig schreiben können. Wir kommen ins Grübeln: Ein Stück Papier ist gleichzeitig ein paradigmatisches Beispiel von Wertlosigkeit – und doch betrachten wir es in der Gestalt von Papiergeld ganz offensichtlich als wert, nach ihm zu streben und ihm sogar viele andere Ziele unterzuordnen. Wie kann das sein? Natürlich hört das Fragen bald wieder auf, sobald wir uns einen einigermaßen klaren Überblick darüber verschafft haben, welche Funktionen das Papiergeld in unserer komplexen sozialen Welt übernimmt, was die Teilnahme am Papiergeldkreislauf einer Person abverlangt, was sie ihr ermöglicht und welche Institutionen den Kreislauf des Papiergeldes regulieren. Aber wir haben hier, so möchte ich behaupten, eine einfache Form

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der Entfremdung, die zur Philosophie führt, und wir haben im Nachdenken über die Rolle und die Funktion des Geldes und über die Gestalt unserer Mitwirkung am Geldkreislauf eine einfache Form der Philosophie. Philosophie kann also verstanden werden als eine systematische Untersuchung der rationalen Akzeptabilität einer alltäglichen Praxis. Ob dabei herauskommt, dass mit der Alltagspraxis tatsächlich alles in Ordnung ist, das ist offen. Wichtig ist, dass es der Philosophie um die Schaffung von Transparenz in Bezug auf sie geht.1 Wir sollten das Beispiel des Geldes nicht allzu weit ausbauen, aber auf eines ist noch hinzuweisen, nämlich dass die philosophische (oder protophilosophische) Selbstvergewisserung viele weitere Fragen und Verunsicherungen auslösen kann, welche dann ihrerseits nach einer genaueren (nun wohl im vollen Sinne philosophischen) Überprüfung verlangen. Zum Beispiel drängt sich im Kontext des Nachdenkens über Geld geradezu der Gedanke auf, Geld sei eine, oder basiere auf einer, Konvention. Dieser Gedanke kann uns nun ins Nachdenken darüber bringen, wie etwas, über das wir (jedenfalls die meisten von uns) niemals beraten oder abgestimmt hätten, eine Konvention sein kann. Wir müssten nun den Begriff der Konvention klären, um zu ermitteln, ob die Rede von der konventionellen Natur des Geldes sinnvoll war – und so weiter, und so fort.2 Hat das Philosophieren erst einmal begonnen, hört es so schnell nicht wieder auf. Da sich unsere komplexe Alltagspraxis durch die Verwendung von Sprache auszeichnet, ist es kein Wunder, dass das philosophische Nachdenken sich irgendwann immer auf sprachliche Ausdrücke und ihre richtige Verwendung konzentriert – neben »Konvention« zum Beispiel »Wahrheit«, »Tatsache«, »Bedeutung« und »gut«, um nur einige unter Philosophen heiß diskutierte Begriffe zu nennen. Somit ist es kaum vermessen, die Rolle der Philosophie als den systematischen Versuch der Klärung unserer Alltagssprache zu beschreiben. In diesem Zusammenhang hat Jay Rosenberg die Philosophie hilfreicherweise als »Praxis zweiter Stufe« bezeichnet: Die Aufgabe der Philosophie ist das Überprüfen und Durchdenken alltäglicher sprachlicher Praxis, der »Praxis erster Stufe«3, zu der Rosenberg auch die wissenschaftlichen Sprachverwendungen zählt. Die vorliegende Arbeit möchte einen kleinen Beitrag zu dieser Selbstvergewisserung leisten, und zwar in einem Feld des praktischen _____________ 1 Vgl. Menke, 2001. 2 Siehe Lewis, 1969. Im sechsten Kapitel argumentiere ich übrigens für eine Interpretation des Papiergeldkreislaufs, in der der Begriff der Konvention keine tragende Rolle spielt. 3 Rosenberg, 1995, 16.

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Alltags, das wie kein zweites von Zweifeln und Verunsicherungen durchzogen ist: der Ethik.

1.2 Die Philosophie als Teil des Problems Bevor wir uns aber der Ethik und den charakteristischen Verunsicherungen in ihrem Umfeld widmen können, sollte klar gestellt werden, dass es Anlass gibt, ein etwas ambivalenteres Bild der Philosophie zu zeichnen. Oben hatte ich nur davon gesprochen, dass sich im Umfeld bestimmter praktischer Vollzüge Zweifel oder Unsicherheiten bilden, die dann von der Philosophie (im Erfolgsfall) aufgelöst werden. Spätestens seit dem Spätwerk Ludwig Wittgensteins müssen sich Philosophen allerdings dem Verdacht stellen, dass sie selbst verantwortlich – zumindest mitverantwortlich – für die Zweifel sind, die aufzulösen sie sich zu ihrer Aufgabe gemacht haben. Nach Wittgenstein sind die skizzierten Zweifel in ihrer überwältigenden Mehrheit nichts anderes als Missverständnisse der Alltagspraxis, welche gerade von philosophisch geneigten Zeitgenossen in die Welt gesetzt werden. Dies ist besonders tragisch, da diese Missverständnisse auch breitere Schichten dazu animieren, an der intellektuellen Redlichkeit ihrer sprachlichen und nicht-sprachlichen Praxis zu zweifeln.4 Nach dem wittgensteinianischen Philosophieverständnis sind Philosophen klassischerweise damit beschäftigt, Maßstäbe an sprachliche Ausdrücke oder Ausdrucksmuster anzulegen, vor denen letztere zwangsläufig als defizient und problematisch erscheinen.5 Diese Maßstäbe erhalten ihren trügerisch-natürlichen Schein durch die falsche Interpretation der grammatischen Konventionen im Umkreis der fraglichen Ausdrücke. Im Falle des Geldes ist es zum Beispiel möglich, dass der Anfangsgrund des Zweifels in der grammatischen Behandlung des Werts eines Geldscheins als seine Eigenschaft liegt. Die typische Reaktion der klassischen Philosophin ist an dieser Stelle, zu fragen, was eine Eigenschaft sein kann und was nicht. Bei ihrer Antwort wird sie sich – so die wittgensteinianische Sorge – an ganz bestimmten Verwendungen der Rede von »Eigenschaften« orientieren, die ihr zentral vorkommen mögen, die tatsächlich aber nur eine arbiträre Auswahl aus vielen gleichermaßen legitimen Verwendungen des entsprechenden grammatischen Musters sind. Hier ist etwa an die Rede _____________ 4 Zu Wittgensteins Philosophieverständnis, siehe Wittgenstein, 2003d [PU], §§107ff. u.a. Sehr hilfreiche Diskussionen finden sich in McGinn, 1997, und in Diamond, 1996a. 5 Die Wendung »the laying down of requirements« stammt von Cora Diamond; siehe Diamond, 1996a, 20.

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von Eigenschaften von Personen zu denken, beispielsweise Hilfsbereitschaft oder Feinfühligkeit, die zumeist etwas mit Handlungsdispositionen zu tun haben. Es ist dieser oder ein ähnlicher Weg, auf dem Vorstellungen wie diejenige in die Welt kommen, dass der Wert eines Geldscheins mit seiner Disposition zu tun habe, in seinem Besitzer angenehme Gefühle hervorzurufen. Diese Vorstellungen sind es nun, die zu Fragen wie derjenigen führen, ob Alltagssprecher nicht also unrecht haben, wenn sie Geld auch dann als wertvoll bezeichnen, wenn dieser Effekt bei ihnen oder anderen ausbleibt. Die vorliegende Arbeit teilt das angedeutete Verständnis philosophischer Probleme und ihrer Ursprünge. Auch in Bezug auf die ethischen Bereiche unserer Alltagssprache lassen wir uns gerade in philosophischen Momenten von der oberflächlichen Grammatik der Sprache in die Irre führen und verheddern uns so in Missverständnissen unserer eigenen Redepraxis. Aufgrund dieser Diagnose kann die vorliegende Arbeit als wittgensteinianisch bezeichnet werden. Sie ist auch wittgensteinianisch in den Konsequenzen, die sie aus der Diagnose zieht: Will die Philosophie uns erfolgreich von unseren philosophischen Zweifeln befreien, so sollte sie letztere nicht als offene Fragen verstehen, die nach dem Modell der Naturwissenschaften zu beantworten sind. Vielmehr sind philosophische Zweifel Symptome von Missverständnissen unserer Sprachpraxis, nach deren erfolgreicher Auflösung nichts weiter zu sagen oder gar zu schreiben ist. Die Auflösung der Zweifel selber sollte dabei nichts anderes sein als die wiederholte und gezielte Erinnerung daran, wie wir im unphilosophischen und damit unentfremdeten Zustand reden. Wittgenstein hat diesen Ansatz als »Therapie« bezeichnet: Der Philosoph ist kein Wissenschaftler, der Wissen produziert, sondern ein Therapeut, der Krankheiten heilt.6 Allerdings sind sich Wittgensteins Kommentatoren und Anhänger nie ganz eins darüber geworden, wie genau die philosophische Therapie aussehen soll. Wittgensteins eigener Stil philosophischer Therapie war – zumindest in seinem Spätwerk – streng minimalistisch. Da philosophische Therapie nach Wittgenstein bloß in der Erinnerung daran bestehen kann, wie wir im unphilosophischen Alltag sprechen, gibt es in ihrem Rahmen nichts zu sagen, was kompetenten Sprechern nicht schon von vornherein klar wäre. Auf diese Weise werden philosophische Theorien ausgeschlossen: Sobald ein Philosoph eine Theorie vertritt, setzt er nach dem minimalistischen Philosophieverständnis bereits wieder neue Missverständnisse in die Welt.7 _____________ 6 Vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §§ 123-133. 7 Vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], § 128.

Die Philosophie als Teil des Problems

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Nicht alle der von Wittgenstein inspirierten Philosophen folgen seinem strikten Minimalismus, und auch die vorliegende Arbeit wird sich einen gewissen Grad an Theoriebildung erlauben. Die Begründung für dieses Vorgehen ist, dass unser Sprachspiel in vielen Bereichen durchaus systematische Züge trägt, die den Teilnehmern des Sprachspiels nicht immer präsent sind. Zwar lassen sich seine Regeln manchmal ohne Sinnverlust – mitunter sogar auf produktive Weise – brechen.8 Dies tut der Sytematizität der Sprache jedoch keinen Abbruch, und oftmals lassen sich die Missverständnisse der eigenen Sprachpraxis eben am effektivsten beseitigen, indem die Systematizität detailliert untersucht und beschrieben wird. Nichts anderes ist philosophische Theoriebildung. Freilich muss die Philosophie stets aufpassen, keine neuen Missverständnisse zu produzieren. Sie muss sich davor hüten, in ihren Erläuterungsversuchen hinter die Sprache treten zu wollen und etwa von Zwecken oder Funktionsweisen von Ausdrücken zu reden, welche sich nicht bereits durch eine aufmerksame Sichtung der alltäglichen Sprachpraxis erschließen lassen. Dies zu tun würde bedeuten, Korrektheitsstandards sprachlicher Ausdrücke zu fabulieren, die selbst nicht zum Sprachspiel gehören. Aber philosophische Theorien müssen keinen solchen Schritt hinter die Sprache tun. Selbst bei Ausdrücken, bei denen dieser Drang am größten ist – etwa »Fakt«, »Wert«, »Tatsachenbehauptung« oder »Grund« – können wir ihm widerstehen – und dennoch theoretisieren. Wie sich im Laufe der nächsten Kapitel herausstellen wird, dienen uns diese Begriffe dazu, innerhalb des Sprachspiels Aspekte der Sprachspielregeln explizit zu machen. Diese systematischen Zusammenhänge sind gewöhnlichen Sprechern nicht präsent, und wenn sich bei ihnen philosophische Verwirrungen bilden, so kann eine detaillierte Darstellung dieser Zusammenhänge im Rahmen von philosophischen Theorien Abhilfe schaffen. Kurzum: Die Philosophie trägt nicht nur eine Mitschuld an den Verwirrungen, die sie dann aufzulösen versucht, sie ist zudem ständig der Gefahr ausgesetzt, in ihren Auflösungsversuchen neue Verwirrungen zu stiften. Um dieser Gefahr zu entgehen, sollte sie therapeutisch ausgerichtet sein, anstatt bleibendes Wissen schaffen zu wollen. Sie darf sich zu diesem Zweck aber ein gewisses Maß an Theoriebildung über die Praxis erlauben, die sie sich zum Gegenstand nimmt, solange sie dabei nicht über die Praxis hinausgeht und Zwecke oder Funktionen fabuliert, die außerhalb der Praxis liegen. Mit diesen Vorbemerkungen wollen wir uns endlich der ethischen Rede und ihren charakteristischen Verunsicherungen stellen. _____________ 8 Der produktive Verstoß gegen Sprachspielregeln und die dadurch vorangetriebene Weiterentwicklung der Sprache sind Gegenstand des zweiten Teils dieses Buches.

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Die Ethik und ihre Aura des Dubiosen

1.3 Zwei kardinale Zweifel am Anfang der Ethik Ich möchte behaupten, dass am Anfang der Philosophie der Ethik zwei voneinander logisch unabhängige, jedoch oft gemeinsam auftretende Zweifel stehen. Im ersten Zweifel geht es um die Angemessenheit bestimmter Forderungen, mit denen wir einander im Alltag regelmäßig konfrontieren; im zweiten Zweifel geht es um die Art, wie wir auf diese Forderungen sprachlich Bezug nehmen. Der Gehalt des ersten Zweifels ist, dass wir bei bestimmten alltäglichen Forderungen – oft ausgedrückt mit unqualifizierten Soll-Sätzen wie »du solltest bei der Steuererklärung nicht schummeln« oder »wir alle sollten weniger Fleisch essen« – prinzipielle Begründungsprobleme haben, und dass wir daher die Adressaten dieser Forderungen bei Nichterfüllung auch nicht kritisieren dürfen; zumindest nicht so, wie wir es normalerweise bei der Missachtung von Gründen tun. Der zweite Zweifel ist, dass unsere alltägliche Rede über diese Forderungen und über die Gründe für sie – zum Beispiel Aussagen darüber, dass es ungerecht wäre, von den Steuern der anderen zu profitieren, ohne selber seine Steuern zu bezahlen, oder dass Fleischkonsum unverhältnismäßiges Leid verursacht – zu Unrecht propositional strukturiert ist, da die propositionale Rede zum Ausdruck von Tatsachen dient und da die fraglichen Forderungen mit Tatsachen nichts zu tun haben. Tatsächlich haben diese beiden Zweifel nicht nur die Disziplin der philosophischen Ethik in Gang gebracht. Wie sich im Laufe der Arbeit zeigen wird, schwingen sie auch in nicht-philosophischen Kontexten in der Rede von »ethischen Gründen«, von »ethischen Motivationen«, von »ethischen Fragen« und auch von »(un)ethischem Verhalten« oder von »(un)ethischen Menschen« mit – sind also konstitutiv verbunden mit der Vorstellung, dass sich ein Teil des Alltagshandelns und -sprechens überhaupt sinnvoll als »Ethik« abgrenzen lässt. Paradoxerweise ist der Drang zur Rede von der »Ethik« dort am stärksten, wo auch die Zweifel an ihrer intellektuellen Redlichkeit am größten sind.9 Allein dies sollte uns Grund genug sein, uns die Zweifel einmal genauer anzusehen. 1.3.1 Der erste Zweifel: Kann es richtig sein, gegen das eigene Wohl zu handeln? Der erste Zweifel entwickelt sich vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Menschen ständig über einander sprechen. Wir thematisieren die Handlungen und Unterlassungen, die Charakterzüge und die Äußerungen unse_____________ 9 Diese Behauptung werde ich ab 1.5.3 genauer diskutieren.

Zwei kardinale Zweifel am Anfang der Ethik

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rer Mitmenschen, und wir haben dazu ein überaus reichhaltiges Vokabular zur Verfügung. Dabei ist es nie schwierig, aus den benutzten Adjektiven zu schließen, ob das jeweils Beschriebene gefordert, gelobt oder kritisiert wird. Die entsprechenden Adjektive, die unsere Alltagsrede durchziehen, sind Begriffe wie »geizig«, »ehrenvoll«, »verschwenderisch«, »liebenswürdig«, »lügenhaft«, »integer«, »feige«, »gerecht« und so weiter, und so fort.10 Ein Aspekt der Verwendung dieses Vokabulars springt sofort ins Auge: Im Fordern, Loben und Kritisieren schauen wir nicht auf die Interessen der fraglichen Personen. Vielfach fordern wir von Personen (oder empfehlen ihnen) gerade Handlungen, die nicht in ihrem Interesse liegen, und kritisieren sie auch für jene Handlungen, die sie aus ihrem Interesse tun. Kurzum, wir drücken in der fraglichen Redepraxis aus, dass wir die Angemessenheit unserer Empfehlungen, Forderungen und Kritiken für unabhängig von den berührten Interessen halten (was übrigens auch für unsere eigenen Interessen als Kommentatoren der jeweiligen Handlungen gilt). Unsere alltägliche Rede reflektiert also die Intuition, dass die Gründe einer Person – und zwar ihre ausschlaggebenden (»all things considered«) Gründe, nicht nur ihre beitragenden (»pro tanto«) Gründe11 – nicht mit ihren Interessen kovariieren und letzteren sogar widersprechen können. Genau hier stellt sich der erste kardinale Zweifel am Anfang des philosophischen Nachdenkens über die Ethik ein: Steht uns diese Rede- und Denkweise wirklich zu? Können wir Personen wirklich so behandeln, als hätten sie Gründe, gegen ihr Interesse zu handeln? Dürfen wir unsere Mitmenschen wirklich im Falle ihres Versäumnisses, diesen Gründen nachzukommen, kritisieren? Oder, in Bezug auf uns selbst formuliert: Kann es wirklich sein, dass unser Handeln defizient und kritikwürdig ist, wenn wir uns gegen solche angeblichen Gründe entscheiden, weil unsere Interessen im Weg stehen? Und schließlich: Ist diese Redeweise überhaupt kohärent, d.h. gehört das Streben nach der Befriedigung von Interessen nicht zur Definition von »Grund«? Die einflussreiche Moralphilosophin Philippa Foot hat in ihrem letzten Buch Natural Goodness geschrieben, dass diese Zweifel ihr eigenes _____________ 10 Erst seit einigen Jahren spricht sich in der philosophischen Ethik herum, dass die Hauptbegriffe der ethischen Alltagssprache diese »thick ethical concepts« (Williams, 1984) sind, und nicht »thin ethical concepts« wie »gut« oder »falsch«; siehe Anscombe, 1958; Foot, 1958, 1959; Wiggins, 1977; Platts, 1979; Lovibond, 1983; Hurley, 1989. 11 Eine Diskussion dieses in der (angloamerikanischen) Diskussion gängigen Vokabulars findet sich in Hurley, 1989, Kap. 3, sowie im zweiten Kapitel dieser Arbeit. Im Folgenden meine ich mit »Grund« immer ausschlaggebender (»all things considered«-) Grund, nicht beitragender (»pro tanto«) Grund. Alle Ausnahmen sind klar markiert.

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Nachdenken über ethische Fragen durch ihre gesamte philosophische Karriere bestimmt haben, und dass sie zu verschiedenen Zeitpunkten ganz unterschiedliche Antworten zu geben geneigt war.12 Ich werde etwas weiter unten auf Foots Texte eingehen, möchte aber bereits hier betonen, dass Foot sich in ihren Zweifeln in guter Gesellschaft befindet. So gut wie alle ernsthaften Moralphilosophen von Platon (Sokrates) über Thomas Hobbes13 und Immanuel Kant bis zu David Gauthier oder Karl-Otto Apel haben diese Zweifel nicht nur gehabt, sondern zum Zentrum ihres philosophischen Nachdenkens – zumindest zu einem von mehreren Zentren – gemacht.14 So ist es denn auch kaum eine Überraschung, dass in den ersten Semestern des modernen Philosophiestudiums so viel Zeit auf das Problem in Platons Staat verwendet wird, dass gerechtes (und insofern erfordertes) Handeln dem Gerechten allem Anschein nach schaden kann (was Sokrates bekanntlich mit der gewagten Behauptung quittiert, dass die ungerechten Menschen sich einfach nicht im Klaren darüber sind, was ihre eigentlichen Interessen sind15). Freilich wurden diese Zweifel immer wieder neu und in veränderter Weise formuliert. Eine aktuell häufig anzutreffende Formulierung spricht beispielsweise von der Frage der »Letztbegründung« von »Normen«.16 Der intellektuelle Kern des Zweifels ist jedoch die Geschichte der Philosophie der Ethik hindurch konstant geblieben und betrifft die in unserer alltäglichen Denk- und Sprachpraxis reflektierte Möglichkeit des Auseinanderklaffens von Gründen und Interessen. 1.3.2 Der zweite Zweifel: Dürfen wir in normativen Kontexten in propositionaler Form reden? Der zweite kardinale Zweifel betrifft einen zentralen grammatischen Aspekt der alltäglichen Rede über die Forderungen (Charakterzüge, Handlungen usw.), um die es im letzten Unterabschnitt ging, nämlich ihren propositionalen Charakter. _____________ 12 Foot, 2001, s.a. Foot, 2004. 13 In Kiesselbach, 2010, zeige ich, dass Hobbes seine gesamte intellektuelle Karriere hindurch mit dem Zweifel kämpft und seinen Leviathan keineswegs als eine befriedigende und endgültige Antwort ansieht. 14 Siehe – als die wichtigsten Arbeiten der genannten Autoren in der vorliegenden Debatte – Platon, 2004; Hobbes, 1996 [1651]; Kant, 1994 [1785]; Gauthier, 1986; Apel, 1988. 15 Vgl. Platon, 2004, 583b, s.a. 445a-c. 16 Der locus classicus dieser Formulierung ist Apel, 1988.

Zwei kardinale Zweifel am Anfang der Ethik

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In der Alltagssprache machen wir – Nichtphilosophen und Philosophen gleichermaßen – im Hinblick auf die Verwendung von Indikativsätzen keinen Unterschied zwischen normativen und nicht-normativen Kontexten. Wir sind es gewohnt, in Fragen der Gerechtigkeit, des Geizes, der Integrität oder auch der Güte von Personen oder Handlungen ebenso auf Indikativsätze zurückzugreifen wie in Kontexten, in denen es um Bohrmaschinen, Magnetismus, Sudoku-Lösungen oder Wohnungsmieten geht. Und wir greifen auf alle sprachlichen Konventionen zurück, die den Gebrauch von Indikativsätzen üblicherweise charakterisieren. Wir nehmen an, dass unsere Sätze wahr oder falsch sind, und dass ihre Wahr- oder Falschheit nicht davon abhängt, dass wir uns wünschen, dass sie wahr oder falsch sind. Wir gehen davon aus, dass sie in inferenziellen Beziehungen zueinander stehen können und aus diesem Grund auch als Prämissen oder Konklusionen in Argumenten auftreten und als Erklärungen fungieren können. Wir behandeln sie somit als geeignet, in kognitiven Konflikten – also in Meinungsverschiedenheiten – zu firmieren. Wenn Peter sagt, »Marie ist sehr großzügig«, und Franz dagegen behauptet, »Nein, Marie ist nicht großzügig«, dann ist die natürlichste Interpretation des sprachlichen Geschehens, dass mindestens einer der beiden Sprecher unrecht haben muss, oder aber, dass die Sprecher den Begriff der Großzügigkeit mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen, also aneinander vorbeireden, und nur deswegen beide Recht haben können.17 Kurzum: Unsere alltägliche Rede in ethischen Kontexten ist propositional strukturiert und reflektiert damit eine Festlegung auf eine ebensolche Objektivität, wie wir sie aus anderen – zum Beispiel wissenschaftlichen oder proto-wissenschaftlichen – Kontexten propositionaler Sprachverwendung kennen. Diese Festlegung hat viele Philosophen ins Grübeln gebracht: Steht uns ein solcher Objektivismus in ethischen Kontexten überhaupt zu? Haben wir es hier nicht mit Dingen zu tun, die so verschieden von den Gegenständen der wissenschaftlichen oder protowissenschaftlichen Rede sind, dass wir in ihrem Zusammenhang nicht mit einer Sprache operieren sollten, mit welcher wir Schlussregeln, Argumente, Wahrheits- oder Falschheitsbehauptungen (und so weiter) auszudrücken gewohnt sind? Ebenso wie der erste diskutierte Zweifel bestimmt _____________ 17 In diesem Fall müssten aber wir (als Interpreten und Kommentatoren des Gesprächs) beiden Sprechern zustimmen; ansonsten hätten wir mit ihnen, oder mit einem von ihnen, einen propositionalen Konflikt, bei dem wiederum gilt, dass entweder mindestens einer unrecht hat, oder dass wir aneinander vorbeireden. Um auf einen zu erwartenden Einwand gleich zu reagieren, sollte ich unterstreichen, dass dies auch jene Sätze betrifft, in denen das operative Adjektiv ein dünner ethischer Term wie »gut« oder »richtig« ist (»Maries Geste war richtig«, »Nein, ihr Handeln war falsch«) – mehr zu dicken und dünnen ethischen Termen in 2.3.4.

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Die Ethik und ihre Aura des Dubiosen

dieser Zweifel maßgeblich das Denken der wichtigsten Vertreter der philosophischen Ethik wie David Hume, G.E. Moore, J.L. Mackie, Simon Blackburn oder Peter Railton (von denen wir uns einige noch genauer ansehen werden).18 Dies sind also die beiden fundamentalen Zweifel, die das Nachdenken über die »Ethik« inspiriert haben, und die – wie ich behaupte – auch bei der Ausprägung des Begriffs der »Ethik« Pate standen. Der erste Zweifel ist älter und praxisnäher, der zweite ist jünger und basiert auf einer etwas distanzierteren Anschauung der eigenen Praxis sowie – so scheint es – auf bestimmten der Naturwissenschaft entlehnten Vorstellungen über die Standards intellektuell respektabler Rede. Beide Zweifel gehen aber mit einem Hang zum Skeptizismus (oder, mit Michael Smith, zum »moralischen Nihilismus«19) einher und sind dafür verantwortlich, dass die Ethik – sowohl als philosophische Disziplin als auch als (unscharf umrissener) Teil der Alltagspraxis – heute von einer Aura des Dubiosen umgeben ist.

1.4 Philosophische Vorstellungen hinter den Zweifeln Ich möchte nun zu der Frage kommen, welche philosophischen Vorstellungen sich hinter den Zweifeln verbergen. Oder vielleicht etwas genauer: welche Thesen in ihrem Kontext üblicherweise auf Nachfrage aufgestellt werden. Im anschließenden Abschnitt werde ich dann versuchen zu zeigen, dass der Mainstream der akademischen Moralphilosophie sich für eine ganz bestimmte Reaktion auf die Zweifel entschieden und eine andere – durchaus mögliche, und wie ich im nächsten Kapitel argumentiere: durchaus bessere – Reaktion weitgehend ignoriert hat. Er hat sich für den Versuch der Beantwortung der Fragen der Zweifelnden entschieden, und damit gegen die Zurückweisung der Fragen als Symptome von Missverständnissen unserer Sprachpraxis. 1.4.1 Die Familie der egozentrischen und instrumentalistischen Rationalitätsvorstellungen Beginnen wir mit dem ersten Zweifel. In ihm zeigt sich der Einfluss der Vorstellung, dass Gründe im Dienst von Interessen – also im Dienst des _____________ 18 Siehe wiederum als repräsentative Texte Hume, 1978 [1739]; Moore, 1993 [1903]; Mackie, 1977; Blackburn, 1998; Railton, 1986. 19 Smith, 1993, 13.

Philosophische Vorstellungen hinter den Zweifeln

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eigenen Wohls – stehen müssen.20 Tatsächlich können wir von einer ganzen Familie von miteinander verwandten Vorstellungen sprechen. Sie unterscheiden sich darin, wie sie das »eigene Wohl« fassen, das die Kernidee des egozentrischen und instrumentalistischen Rationalitätsverständnisses ausmacht.21 Eine erste Ausarbeitung der Kernidee lautet, dass Gründe im Dienst der Befriedigung von Wollenszuständen stehen; die anglophone Philosophie spricht von desires. Diese Idee drängt sich in Szenarien auf, in denen wir Hunger oder Durst haben, und in denen es natürlich ist zu sagen, dass unser Hunger oder Durst, beziehungsweise die Aussicht, den Hunger oder Durst zu stillen, unser Grund dafür ist, uns etwas zu essen oder zu trinken zu suchen. Im aktuellen akademischen Jargon wird diese Art von Theorie als Wunscherfüllungstheorie (desire satisfaction theory) bezeichnet. Bei dieser Theorie ist anzumerken, dass wir die Wollenszustände unterschiedlich weit fassen können. Zum Beispiel können wir die Bedingung aufgeben, dass ein Wollenszustand nur dann einen Grund darstellen kann, wenn er aktuell gefühlt wird. Auf einer entsprechend abgeschwächten Theorie könnte etwa auch ein Schlafender Grund haben, Geld für sein Traumauto zu sparen, obwohl er aktuell von etwas ganz anderem träumt. Ein zweiter, etwas anspruchsvollerer Versuch, die Kernidee zu präzisieren, ist die These, dass die Gründe einer Person essentiell im Dienst der (hypothetisch oder kontrafaktisch) komplett durchdachten Interessen der Person stehen. Mit dieser Konstruktion können die Gründe einer Person von punktuellen logischen Fehlern, aber auch globaleren Irrationalitäten abgeschirmt werden. Zum Beispiel kann es für einen nikotinsüchtigen Menschen insgesamt vernüftig sein, nicht zu rauchen, obwohl (hier und jetzt) sein Bedürfnis nach einer Zigarette seinen ebenfalls vorliegenden Wunsch, Nichtraucher zu werden, kognitiv aussticht. Eine dritte Art, die Kernidee auszubuchstabieren, erlaubt, dass die Interessen der fraglichen Person jene sind, die sie hätte, wenn ihre epistemische Situation vorteilhafter – bis hin zu perfekt – wäre. Philosophen sprechen hier von »objektiven Interessen« oder auch vom »objektiven Wohl« der Person. Die Methode der kontrafaktischen Verbesserung der episte_____________ 20 Es kann nicht schaden, bereits hier festzuhalten, dass diese Formulierung uns zwei Sprechweisen offen lässt. Nach der einen ist ein Grund nur dann ein guter Grund, wenn er im Dienst des eigenen Wohls steht; nach der anderen können wir bei einer Erwägung überhaupt erst dann von einem Grund sprechen, wenn sie im Dienst des eigenen Wohls steht. Solange wir diese Weggabelung als potenzielle Quelle von Missverständnissen im Auge behalten, müssen wir uns nicht – zumindest jetzt noch nicht – auf eine der beiden Möglichkeiten festlegen. 21 Die folgenden Unterscheidungen fehlen heute in kaum einer Diskussion praktischer Gründe; siehe z.B. Cullity und Gaut, 1997a.

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mischen Situation des potentiellen Trägers von Gründen ist zwar streng genommen unabhängig von der Kernidee der Verknüpfung von Gründen mit dem Eigenwohl, aber die meisten Vertreter der These, dass die eigentlichen Gründe einer Person sich aus einer kontrafaktischen Verbesserung der epistemischen Situation des Akteurs ergeben, bewegen sich innerhalb des Konsenses der hier diskutierten Kernidee. Diese Skizzen von Rationalitätstheorien sind zwar recht unterschiedlich, sie alle basieren aber auf der Vorstellung, dass ein rationaler Grund sich immer auf das eigene – wie auch immer reflektierte, kohärent gemachte oder kontrafaktisch korrigierte – Wohl zurückführen lassen muss. Tatsächlich ist die dominante Frage der akademischen Diskussion, wie genau sich das dem Grund vermeintlich zugrunde liegende Wohl durch Reflexion, Kompatibilisierung oder durch Zugabe empirischer Daten erschließen lässt22 – nicht, ob das Programm überhaupt verfolgenswert ist.23 Der Egozentrismus und der Instrumentalismus betreffen nicht nur eines von vielen konkurrierenden Verständnissen des Begriffes vom rationalen Grund, sondern das Verständnis, das von einer großen Mehrheit der Debattenteilnehmer entweder direkt akzeptiert oder doch zumindest als der Standard angesehen wird, den es auf eine akzeptable Weise zu modifizieren gilt. Natürlich wurden und werden in der akademischen Philosophie durchaus – mitunter radikale – Alternativen erwogen, von denen wir einige in den folgenden Kapiteln auch genauer besprechen werden. Doch im aktuellen Kontext gilt es, die Marginalität dieser Alternativen im akademischen Diskurs und a fortiori in der außerakademischen Welt zur Kenntnis zu nehmen. Bevor wir uns die dominanten philosophischen Reaktionen auf den Zweifel ansehen, möchte ich in einigen Worten die philosophischen Vorstellungen hinter dem zweiten Zweifel skizzieren.

_____________ 22 Vgl. Quinn, 1993. 23 Es mag an dieser Stelle hilfreich sein anzumerken, dass es wohl zu den Ursachen der skizzierten Schlagseite der akademischen Diskussion gehört, dass letztere zu einem nicht unerheblichen Teil innerhalb der Wirtschaftswissenschaften geführt wird, in denen aus guten methodischen Gründen gewöhnlich mit der Postulation feststehender Interessen (welche sich dann in Präferenzen äußern) sowie mit einem instrumentellen Rationalitätsverständnis begonnen wird – siehe hierzu Gaus, 2006, Kap. 1 und 2. Wir sollten aber nicht denken, dass wir es hier mit der Ursache des ersten Zweifels an sich zu tun hätten: Erstens ist der Zweifel älter als die Ökonomie, und zweitens bliebe zu erklären, wieso ein egozentrisches und instrumentalistisches Vernunftverständnis auch dort so eine Popularität genießt, wo die methodischen Gründe der Ökonomen nicht vorliegen.

Philosophische Vorstellungen hinter den Zweifeln

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1.4.2 Die Familie der ethischen Anti-Objektivismen Hinter dem zweiten Zweifel steht die philosophische Annahme, dass die Legitimität der Verwendung von propositionalen Ausdrücken – also im Kern von Indikativsätzen – mit allen ihren üblichen Aspekten, allen voran dem ihnen inhärenten Objektivismus, beschränkt ist auf bestimmte Kontexte, zu denen die ethische Rede nicht gehört. Wie auch die soeben skizzierte Vorstellung vom Wesen der Vernunft bzw. der Gründe ist die Vorstellung von der Unangemessenheit der propositionalen Rede in ethischen Belangen zumeist implizit und wird nur auf Aufforderung expliziert. Und wiederum teilen die angebotenen Formulierungen ihren intellektuellen Kern, unterscheiden sich aber im Detail voneinander. Die meisten Anhänger der Vorstellung drücken ihren Zweifel mittels eines Arguments aus, dessen erste Prämisse besagt, dass das Wesen bzw. der Anspruch von Indikativsätzen darin besteht, Tatsachen zu repräsentieren.24 Für die nächste Prämisse gibt es aber schon eine ganze Reihe unterschiedlicher Kandidaten. Manche Philosophen machen es sich verhältnismäßig einfach und behaupten ganz direkt, dass es keine ethischen Tatsachen gibt.25 Eine zweite Gruppe hält es für sinnvoller, den argumentativen Schlag einzuleiten mit der Prämisse, dass Tatsachen nicht normativ sind, also dass aus Tatsachen keine Handlungsrichtigkeiten oder -falschheiten erwachsen können.26 Für diese zweite Gruppe liegt es auf der Hand, dass die Tatsachen, die ethische Indikativsätze ihrem Anspruch nach wiederspiegeln, normativ sein müssten, da die ethische Rede zentral zum Begründen von Handlungen und Handlungsforderungen benutzt wird.27 Eine dritte Gruppe vermeidet den Begriff der Normativität und _____________ 24 Es sollte festgehalten werden, dass die meisten Anhänger der fraglichen Vorstellung diesen Satz für den Ausdruck einer interessanten These halten. Wie wir noch sehen werden, würde eine Pragmatistin die Behauptung nicht zurückweisen, sondern sie vielmehr als eine bloße Tautologie abtun: Nach ihr meinen wir mit »Indikativsatz« einfach diejenige sprachliche Einheit, die ihrem Anspruch nach eine Tatsache ausdrückt, aber mit »Tatsache« meinen wir nichts anderes als das, was mit einem Indikativsatz ausgedrückt wird. (Wir kommen auf diesen Punkt im nächsten Kapitel zurück.) 25 Diese Strategie erfolgt eher im Gespräch als im gedruckten Text. Manchmal wird die Position als selbstverständlich präsentiert, manchmal mit einer der beiden folgenden weiteren Prämissen unterstützt. 26 Diese Strategie geht zurück auf G.E. Moore; siehe Moore, 1993 [1903]; mehr dazu in Fußnote 30 dieses Kapitels. 27 Während die Idee, dass aus Tatsachen keine Handlungsrichtigkeiten erwachsen können, vor allem mit G.E. Moore assoziiert wird, findet sich der berühmteste Ausdruck der Idee, dass die Gegenstände ethischer Propositionen normativ sein

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Die Ethik und ihre Aura des Dubiosen

bevorzugt als die tragende Prämisse die These, dass Tatsachen nicht aus sich heraus zu Handlungen motivieren können. Hier wird davon ausgegangen, dass die Tatsachen, die wiederzugeben der Anspruch ethischer Indikativsätze ist, motivieren können müssten, da die (un-ironische, aufrichtige) Äußerung eines ethischen Indikativsatzes immer mit einem entsprechenden Motiviertsein einher geht. Die dritte – und mittlerweile wohl am weitesten verbreitete – Art, gegen die Legitimität der propositionalen Rede in der Ethik zu argumentieren, ist nah verwandt mit einem bekannten Argument – »McNaughtons Trilemma«28 –, nach dem alltägliche ethische Urteile nicht bloß Tatsachen ausdrücken: (1) Wenn jemand urteilt, dass es für ihn richtig ist, Ф zu tun, so ist er – ceteris paribus – motiviert, Ф zu tun. (2) Die Anerkennung einer Tatsache impliziert noch kein Motiviertsein; dazu ist zusätzlich ein bestimmter Wollenszustand (desire) nötig, welcher von der Anerkennung der Tatsache unabhängig ist. (3) Also drückt ein Urteil der Form »es ist richtig für mich, Ф zu tun« nicht einfach eine Tatsache aus. Dieses Argument ist unter anderem deswegen interessant, da sich seine zweite Prämisse problemlos in ein instrumentalistisches und egozentrisches Verständnis praktischer Gründe einfügt (oder ihm noch eher entspringt) und daher die Verwandtschaft zwischen den beiden kardinalen Zweifeln belegt. Argumente wie die hier skizzierten können auf zwei Weisen aufgestellt werden. Manchmal wird mit Prämissen wie den genannten argumentiert, dass propositionale Äußerungen in der Ethik illegitim sind, manchmal wird aber auch argumentiert, dass ethische Äußerungen nur dem Anschein nach Propositionen ausdrücken, in Wirklichkeit aber ganz andere, nichtpropositionale Manöver darstellen. Dieser Unterschied reflektiert verschiedene Verständnisse der philosophischen Kritik: Einmal wird kritisiert, wie im Alltag gängigerweise gesprochen wird, einmal wird die gängige Interpretation alltäglicher Äußerungen kritisiert. Beide Verständnisse des Problems haben aber den gleichen Ursprung und den gleichen Hang zum Skeptizismus. Der Startpunkt aller hier skizzierten Argumente ist eine bestimmte Vorstellung vom Wesen der propositionalen Rede und, verbunden damit, eine bestimmte Vorstellung von Tatsachen. Die diese Vorstellungen verbindende Idee ist, dass Tatsachen als außersprachliche Standards figurieren, anhand derer die Angemessenheit propositionaler Äußerungen bewertet werden kann. »Außersprachlich« soll hier andeuten, dass ein _____________ müssten, bei J.L. Mackie. In Mackie, 1977, schreibt er, dass ethische Tatsachen »queer« sein müssten – einerseits objektiv, andererseits normativ. 28 Siehe McNaughton, 2000, 23; s.a. Smith, 1995, 12; ich gebe das Trilemma bereits als gültiges Argument aus der Perspektive ethischer Anti-Objektivisten wieder.

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philosophisches Urteil über die prinzipielle Legitimität oder Illegitimität eines Indikativsatzes – nämlich per Rekurs auf seine Korrespondenz oder seinen Mangel an Korrespondenz mit einer Tatsache – aus einer Perspektive ausgesprochen wird, die sich von unserer alltäglichen Perspektive als motivierte und an Gründen orientierte Sprecher und Akteure unterscheidet und die letztere prinzipiell aussticht.29 Tatsachen allein können (nach dieser Vorstellung) nicht handlungsbegründend oder -motivierend sein, und aus diesem Grund sind ethische Indikativsätze, die so verwendet werden, als wären sie es, prinzipiell dubios. Über die Ursprünge dieser Vorstellung können wir nur spekulieren. Die vielleicht plausibelsten Kandidaten sind zwei ineinander verschränkte kulturelle Einflüsse. Zum einen ist die verbreitete und wiederholte Erfahrung mit schwierigen Konflikten darüber zu nennen, was wir tun sollen. Diese sowohl inter- als auch intrakulturell nicht seltenen Konflikte halten sich oftmals über lange Zeitspannen, mitunter über viele Generationen, ohne dass es echte Lösungsaussichten gäbe. Zum andern ist die Dominanz visueller Metaphern in unserer Rede (und in unserem Nachdenken) über unsere epistemische Situation zu nennen. Die vage Vorstellung, dass unsere Überzeugungen letztlich darauf fußen, was wir sehen können oder gesehen haben, verleitet uns dazu, uns Tatsachen oder Sachverhalte als den Sinnen direkt zugänglich und interpretativ transparent vorzustellen. Bei einem Konflikt verschiedener Tatsachenbehauptungen müssten wir – so die Vorstellung – bloß gemeinsam nachschauen, um zu sehen, welche Behauptung korrekt war und welche nicht. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur philosophischen Behauptung der Nichtexistenz ethischer Tatsachen und der daraus folgenden These der Unangemessenheit der propositionalen Rede in ethischen Belangen.30 _____________ 29 Es ist diese Vorstellung, die von Pragmatisten als Instanz des Fehlers verstanden wird, den John McDowell als »looking from sideways-on« beschrieben hat; siehe McDowell, 1996, 29, und siehe das nächste Kapitel, das die pragmatistische Alternative ausarbeitet. 30 Die Idee des Nachschauens lässt sich auch durch die Idee der naturwissenschaftlichen Überprüfung ersetzen, womit die Vorstellung dann zu einer szientistischen Vorstellung von Propositionen und Tatsachen wird. Dies zu betonen ist nicht unwichtig, da die philosophischen Formulierungen des ersten kardinalen Zweifels oftmals von szientistischen Idealen geleitet werden. Der szientistische Zug des zweiten Zweifels zeigt sich beispielsweise deutlich in der verbreiteten These der »Fakt/Wert-Trennung« (auch als »ist/soll-Trennung« bekannt), welche ihren berühmtesten modernen Ausdruck in G.E. Moores »Open Question Argument« findet (siehe Moore, 1993 [1903]). Moore fragt, wie das Prädikat »gut« durch ein naturwissenschaftlich zuweisbares, »naturalistisches«, Prädikat ersetzt werden könnte und findet, dass kein solches Prädikat sich als identisch mit »gut« erweist. Hilfreiche Diskussionen des Moore’schen Arguments (welches ich aufgrund sei-

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Ich werde später in diesem und in den folgenden Kapiteln argumentieren, dass sowohl das zugrundeliegende Verständnis von Sätzen und Propositionen als auch das zugrundeliegende Verständnis von Tatsachen irreführend ist, und dass es philosophisch gewinnbringender ist, nicht vom Verständnis der Tatsachen zur Interpretation von Sätzen und Propositionen, sondern andersherum vom vorgefundenen sprachlichen Regelwerk der propositionalen Rede zum Verständnis der Tatsachen zu gelangen. Zunächst jedoch möchte ich die Reaktionen auf die skizzierten Zweifel diskutieren, welche die akademische Debatte durchziehen.

1.5 Die Zweifel bestimmen die Spielregeln der Debatte 1.5.1 Vom philosophischen Umgang mit gerechtem Handeln, das sich nicht zu lohnen scheint Wir wollen uns zunächst der philosophischen Diskussion im Kontext des ersten Zweifels widmen. Dem ersten Zweifel liegt, wie wir gesehen haben, die Vorstellung zugrunde, dass die Gründe einer Handelnden im Dienst ihres individuellen Wohls stehen, wobei das individuelle Wohl entweder als Definition ihrer Gründe per se oder als Maßstab für die Qualität ihrer Gründe firmiert. Erst vor dem Hintergrund dieser Vorstellung – in einer ihrer unterschiedlichen Ausarbeitungen – erscheinen die alltäglichen Situationen als problematisch, in denen es implizit oder explizit als richtig präsentiert und anerkannt wird, dem eigenen Wohl zuwider zu handeln. Bevor im nächsten Kapitel eine Alternative zu der Vorstellung präsentiert wird, soll in diesem Unterabschnitt skizziert werden, wie die Philosophie durch ihr weitgehendes Versäumnis, diese Vorstellung zurückzuweisen, dazu beigetragen hat, sie immer alternativloser erscheinen zu lassen.31 _____________ ner uns mittlerweile fremden platonistischen und intuitionistischen Annahmen nicht ins Zentrum meiner Darstellung der Zweifel gestellt habe) finden sich in Darwall u. a., 1992, und Brink, 2001a, 162ff.; siehe auch Moore, 1942. Wir kommen im nächsten Abschnitt auf den Szientismus zurück. 31 Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass es im vorliegenden Kapitel um ein grobes Bild des philosophischen Mainstreams geht. Das Fehlen der Kantischen Tradition in diesem Kapitel kann daher schon damit gerechtfertigt werden, dass diese in großen Teilen der internationalen akademischen Diskussionen nicht als »live option« gilt. Hinzu kommen zwei systematische Erwägungen über gewichtige Probleme bei Kant, durch die eine angemessene Diskussion weit mehr Platz verlangen würde, als in dieser Arbeit zur Verfügung gestellt werden kann. Erstens räumt Kant die Existenz von essenziell eigeninteressen-relativen Gründen ein und trägt daher dazu bei, den ersten Zweifel überhaupt erst einzuladen (vgl.

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Freilich ist es strukturell schwierig, in philosophischen Diskussionen die Abwesenheit bestimmter Argumente oder dialektischer Ziele herauszuarbeiten – schließlich kann immer eingewandt werden, dass die fehlenden Argumente möglicherweise in Texten oder Äußerungen zu finden sind, welche einfach nicht berücksichtigt wurden. Am Ende muss sich ein entsprechendes Projekt daher vornehmlich an diejenigen richten, die bereits einen gewissen Überblick über die Debatte haben, und die auf die interessanten Auslassungen nur noch gestoßen zu werden brauchen. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden nicht im Abstrakten über Gründe und die Richtigkeiten ihrer Befolgung sprechen, sondern mich auf eine ganz bestimmte begründende Erwägung konzentrieren, nämlich die der Gerechtigkeit. Die Diskussion um diese Erwägung stellt sich in vielen politischen Situationen spontan ein und ist deswegen zum einen bekannter und wird zum andern mit mehr Herzblut geführt als die abstrakte Debatte um praktische Gründe und die Vernünftigkeit ihrer Befolgung. In ihr zeigen sich jedoch genau die Aspekte, auf die es mir ankommt. Diese Diskussion eignet sich zudem für die aktuellen Zwecke besonders gut, da bei unserer Verwendung des Prädikats »gerecht« ein besonderer Drang festzustellen ist, es nur als ausschlaggebenden Grund zuzuschreiben. Während wir Attribute wie »höflich« oder »mutig« ohne weiteres auch dann zuschreiben, wenn wir anerkennen, dass die in ihnen zum Ausdruck kommenden Prima-Facie-Gründe am Ende durch andere Erwägungen ausgestochen werden, so ist dies beim Prädikat »gerecht« problematischer. Etwa gehen uns Sätze wie der folgende schwerer über die Lippen: »es mag gerechter sein, die Ärmeren steuerlich zu bevorzugen, aber alles in allem sollten wir uns gegen diese Gestaltung der Besteuerung entscheiden«. Bis auf wenige Ausnahmen gilt, dass wir, indem wir eine Handlungsoption »gerecht« nennen, letztere als insgesamt richtig darstellen. Um das Ausstechen von Gerechtigkeitsurteilen zu verhindern, senken wir mitunter sogar die Standards der korrekten Verwendung dieses Prädikats. Wir wollen uns anschauen, wie die Anhänger der Vorstellung, dass Gründe immer im Interesse des eigenen Wohls stehen, auf ein Szenario reagieren, in dem es zumindest auf den ersten Blick (und vielleicht auch auf den zweiten Blick) scheint, dass ein paradigmatisch gerechtes Handeln dem Handelnden selbst nicht zugutekommt, ihm vielleicht sogar scha_____________ Korsgaard, 2008, 69ff.). Zweitens sieht Kant es als zunächst offene Frage an, ob Menschen sich durch das bloße Vorliegen von Gründen (oder in seinen Worten: durch die Einsicht in das Sittengesetz) motivieren lassen können, und beantwortet diese psychologische Frage mit dem Hinweis auf die Spontaneität des Willens als Anzeichen der vernünftigen Natur der Menschen (vgl. Kant, 1994 [1785], 82ff. [Acad. 452ff.]). Diese Antwort hat wenige Kommentatoren überzeugt (vgl. etwa Korsgaard, 1986, 24).

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det.32 Um das Szenario etwas genauer zu spezifizieren, wollen wir von einem Fall ausgehen, in dem die Interessen des uns interessierenden Akteurs in direkter Konkurrenz mit den Interessen anderer Menschen stehen. Sagen wir, es geht um die Zuweisung eines bestimmten unteilbaren Gutes, das dem Akteur ein gewisses Wohlbefinden sichert (aber sonst nichts), das aber einer anderen Person beträchtliche Schmerzen ersparen könnte. Nehmen wir ferner an, dass die Zuweisung des Gutes in der Macht des Akteurs steht, und dass keine weiteren Erwägungen die Situation verkomplizieren (das Gut geht nicht auf die Investitionen seitens der Betroffenen zurück; ferner fallen keine Reputations- oder Reziprozitätserwägungen ins Gewicht). Jeder, der sich auch nur oberflächlich mit der Geschichte der praktischen Philosophie auseinandergesetzt hat, weiß, dass sie voll ist mit Diskussionen über Szenarien eben dieser Art. Das egozentrische und instrumentalistische Verständnis der Gründe äußert sich in dieser Situation als der logische Drang, eines von drei Dingen zu behaupten. Die erste Reaktion ist dabei die in Smiths Sinn »nihilistische«, also die skeptizistische und insofern »unphilosophische« Antwort,33 dass es mitunter unvernünftig ist, gerecht zu sein – also dass die Erwägung der Gerechtigkeit entgegen der traditionellen Überzeugung kein guter (ausschlaggebender) Grund ist, sondern durchaus durch eine auf das Eigeninteresse abstellende Erwägung ausgestochen werden kann. Die zweite Reaktion ist die These, dass es sich unter Berücksichtigung aller relevanter Kosten und Nutzen herausstellen wird, dass das als gerecht bezeichnete Handeln im Interesse des Handelnden – also im Dienst seines eigenen Wohls – steht, auch wenn es zunächst nicht so aussieht. Die dritte Reaktion besteht in der Behauptung, dass das fragliche Handeln entgegen dem ersten Anschein doch nicht als gerecht (bzw. doch nicht als maximal gerecht) betrachtet werden muss. Ich möchte im Folgenden die Diskussion um die beiden nicht-skeptizistischen Antworten wiedergeben und dabei andeuten, dass es bei all der auf sie verwendeten intellektuellen Energie weitgehend versäumt wurde, die Möglichkeit der Zurückweisung der Eigenwohltheorie der Gründe, durch die das Problem erst entsteht, ernsthaft in Betracht zu ziehen. _____________ 32 Für ein m.E. zwingendes Argument für die These, dass die Prädikate »gerecht« und »ungerecht« sich nicht nur auf institutionelle Arrangements, sondern auch auf individuelle Handlungen und Unterlassungen innerhalb – und sogar auch außerhalb – solcher Arrangements beziehen, siehe Cohen, 2001. 33 Wie Barry Stroud überzeugend argumentiert, ist der philosophisch produktivste Umgang mit skeptizistischen Argumenten, letztere als Einladungen zu verstehen, alltägliche Denk- oder Redeweisen genauer zu prüfen und von Paradoxien zu befreien. Aus diesem Grund sieht er die Akzeptanz einer skeptischen Konklusion als eine »unphilosophische« Reaktion. Siehe Stroud, 1984.

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Die zweite Antwort, nach der es manchmal zwar nicht offensichtlich, aber letztlich doch immer der Fall ist, dass der Gerechte mit seinem gerechten Handeln auch sein eigenes Wohl maximiert, finden wir bei Platon, Hobbes, Gauthier und vielen anderen. Obwohl Platon der erste Vertreter dieser Strategie ist,34 wird meist Thomas Hobbes als wichtigster Gewährsmann dieser Position genannt, da letzterer mit nüchterneren Annahmen über die menschliche Natur operiert.35 In jedem Fall ist es für Hobbes ebenso klar wie für Platon, dass der Gerechte am Ende in der Metrik des Eigenwohls der Gewinner ist. Für Hobbes liegt dies im Wesentlichen daran, dass das ungerechte Handeln einer Person von anderen Personen erkannt und mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft bestraft wird, was über kurz oder lang nichts weniger bedeutet als eine Gefährdung des Überlebens des Ungerechten. David Gauthiers Antwort ist der Hobbes’schen Antwort nicht unähnlich. Während Gauthier zwar die Möglichkeit gerechter Einzelhandlungen zugibt, welche den Interessen des Handelnden schaden (sowie individuelle ungerechte Handlungen, die ihm nützen), betont er, dass es sich in den meisten Kontexten auszahlt, gerechte Handlungsdispositionen zu kultivieren. Gauthier zeigt dies mit spieltheoretischen Argumenten, die sich unter anderem auf Hilfsprämissen über unsere epistemische bzw. kognitive Beschränktheit sowie über einschlägige psychologische und soziologische Mechanismen stützen.36 Ebenso gehört zum zweiten Antworttyp die Strategie, die sich auf die oft verwendete Hilfsprämisse stützt, dass gewöhnliche Menschen psychologisch zur Hilfe ihrer Mitmenschen disponiert sind. Nach ihr kann der Gerechte daher mit Glücksgefühlen, der Ungerechte dagegen mit Gewissensbissen rechnen.37 Es gibt eine etwas anspruchsvollere Variante dieser Strategie, die sich durch den Zusatz eines von Philippa Foot und Joseph Raz ausgearbeiteten Gedankens ergibt. Nach Foot und Raz sind einige der wichtigsten Güter soziale bzw. kulturelle Güter, welche dem Ungerechten aus konstitutiven Gründen verwehrt bleiben.38 So kann der Ungerechte, der _____________ 34 Siehe Platon, 2004. 35 Siehe Hobbes, 1996 [1651]. Im Gegensatz zu Platon hat Hobbes kein teleologisches Verständnis der biologischen bzw. psychologischen Natur des Menschen und der aus ihr entspringenden basalen Motivationen. 36 Siehe Gauthier, 1986. 37 Der klassische Vertreter dieser These ist David Hume; siehe Hume, 1978 [1739]. 38 Vgl. Foot, 2001, 101ff., oder Raz, 1979, 253ff., der die These im Kontext der Freundschaft überzeugend darlegt. Siehe auch Quinn, 1993, der, bezugnehmend auf unveröffentlichtes Material Foots, schreibt: »[A] deeply dedicated Nazi cannot really have, in his personal life, what he seems to want, for example, the love of family and friends. There is a great deal of plausibility in this [thesis]. How

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seinem Publikum erfolgreich vormacht, gerecht zu sein, zwar mit Anerkennung rechnen – nicht aber mit gerechtfertigter Anerkennung. Die so modifizierte Strategie ist in dem Maße plausibel, in dem es gewöhnlichen Menschen tatsächlich eher auf gerechtfertigte Anerkennung ankommt – und nicht auf Anerkennung per se. Der dritte Reaktionstyp auf das Problem des scheinbar gerechten Handelns, welches dem Handelnden selbst schadet, war die Behauptung, dass sich die fragliche Handlungsoption bei eingehender Analyse als doch nicht die gerechte (bzw. gerechteste) Option herausstellt. Möglicherweise mag diese Reaktion auf den ersten Blick unplausibel erscheinen. Doch es wird sich zeigen, dass sie durchaus ernst genommen werden muss. Tatsächlich findet sich in der Politischen Theorie eine populäre Variante des dritten Antworttyps. In der Politischen Theorie ist es gängig, Gerechtigkeitstheorien darauf abzutasten, ob bzw. in welchem Umfang sie es begrifflich gestatten, dass eine Steigerung der Gerechtigkeit eines sozialen Arrangements mit der Abnahme des Eigenwohls einiger individueller Teilnehmer einhergeht – und dann diejenigen Theorien zurückzuweisen, die diesen Test nicht oder besonders schlecht bestehen. Die krasseste Variante dieses Tests ist das sogenannte Pareto-Kriterium: Wenn dieses Kriterium als Gerechtigkeitsmaßstab interpretiert wird, so ist ein Arrangement A dann, und nur dann, gerechter als ein anderes Arrangement B, wenn einige der Teilnehmer im Arrangement A individuell besser gestellt sind als sie es im Arrangement B wären, und wenn keines der Individuen in A schlechter gestellt ist als es es in B wäre. Doch selbst viele politische Theoretiker, die das Pareto-Kriterium als Gerechtigkeitsmaßstab ablehnen, gehen davon aus, dass eine Person aus begrifflichen Gründen keine Gerechtigkeitspflichten haben kann, die ihr zu einem hohen individuellen Schaden gereichen würden. In dieser als Demandingness Objection bekannt gewordenen Kritik an Gerechtigkeitstheorien – wir können sie als »Überforderungseinwand« übersetzen39 – äußert sich der dritte Reaktionstyp auf das Problem des Handelns, das zwar scheinbar gerecht ist, sich aber für den Handelnden nicht rechnet.40 Es ist wichtig zu verstehen, dass der Überforderungseinwand nicht mit dem Sollen-Impliziert-Können-Grundsatz verteidigt werden kann, also mit dem Prinzip, dass wir nur zu einer Handlung ethisch verpflichtet _____________ could I really cherish a friend, or love my children, if I would wish them dead were I to come to believe them Jewish, or Gypsy, or gay?« (Quinn, 1993, 217) 39 Dieser Übersetzungsvorschlag stammt von Sebastian Bünker. 40 Zwei der seltenen direkten Auseinandersetzungen mit dem Überforderungseinwand sind Scheffler, 1986, und Goodin, 2009. Beide lehnen den Einwand ab. Siehe auch Cohen, 1991, der den Überforderungseinwand als den Ursprung von Rawls’ Differenzprinzip (Rawls, 2000 [1971]) ausmacht und ebenfalls kritisiert.

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sein können, die auszuführen auch in unserer Macht liegt. Letzterer Grundsatz ist schwächer als die Forderung nach der Moderatheit ethischer Forderungen, und wenn er greift, dann zeigt sich in ihm, dass die unter ihn fallende, scheinbar geforderte Handlungsoption tatsächlich überhaupt keine Handlungsoption ist und ihre Unterlassung aus diesem Grund auch nicht kritisiert werden kann. Der Überforderungseinwand kann auch nicht mit der These verteidigt werden, dass ein zu anspruchsvolles Regelwerk den Effekt hat, die Adressaten des Regelwerks zum »Aufgeben« zu treiben. Die Warnung vor einem solchen Effekt wäre möglicherweise angebracht, wenn es um die Effektivität eines Gesetzes oder einer Strafandrohung ginge. Davon ist jedoch gar nicht die Rede. Im Kontext der Frage nach der Gerechtigkeit einer Handlungsweise gilt: Wer aufgibt, der ist eben ungerecht. Er hat, so könnten wir sagen, nicht das Zeug zum gerechten Handeln. Insgesamt scheint der kuriose – und kurios verbreitete41 – Überforderungseinwand gegen Gerechtigkeitsurteile oder -theorien nicht nur dem Missverständnis zu entspringen, Gerechtigkeitsurteile seien Forderungen nach Gesetzen oder Quasi-Gesetzen, sondern auch und gerade eine Konsequenz der Vorstellung zu sein, dass ein scheinbar ethisch angezeigtes Handeln, das sich für den Handelnden nicht lohnt, ein tiefes konzeptuelles Problem darstellt, das bereits am Entstehen gehindert werden muss. Keine der drei Reaktionen ist befriedigend. Die erste ist mit unserer Sprachpraxis nicht zu vereinbaren bzw. ist übermäßig revisionistisch. Die zweite macht Annahmen psychologischer oder soziologischer Art, zu welchen sie nicht durchweg berechtigt ist. Die dritte beginnt mit einem grundlegenden Missverständnis der ethischen Rede. Doch wie befriedigend oder unbefriedigend die drei Reaktionen auch sind – alle dominanten Reaktionen teilen die Ursprungsintuition der konstitutiven Verknüpfung von Gründen mit dem Eigenwohl. Erst vor dem Hintergrund dieser Verknüpfung werden die skizzierten Reaktionen notwendig, und erst vor diesem Hintergrund wird die unbefriedigende Natur der klassischen Reaktionen zu einem Problem, das uns immer wieder in die unangenehme Nähe des Skeptizismus bzw. Nihilismus drängt. Aus diesem Grund ist es kaum übertrieben zu sagen, dass in der Philosophie der Ethik der Ein_____________ 41 Mein Freund Nick Cowen erzählte mir von einem Oxforder Political-TheorySeminar, welche vom Seminarleiter mit der These »We are all moral scum« eingeleitet wurde. Hintergrund der These waren die unzureichenden Anstrengungen wohlhabender Menschen im Kampf gegen Armut und Unterernährung. Die Mehrheit der Seminarteilnehmer vertrat die Ansicht, dass die These einem übermäßig anspruchsvollen Verständnis von Gerechtigkeitspflichten entstammen und schon aus begrifflichen Gründen falsch sein müsse.

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druck entstanden ist, dass die ethische Rede und die Teile der nichtsprachlichen Praxis, auf die sie sich bezieht, prinzipiell problematisch sind. 1.5.2 Vom philosophischen Umgang mit dem propositionalen Charakter der ethischen Rede Damit können wir uns dem zweiten Zweifel zuwenden. Sein philosophischer Ausdruck besteht, wie bereits angedeutet, in einer Familie von Positionen, die allesamt skeptisch in Bezug auf die Legitimität der propositionalen Rede mit ihrem assoziierten Objektivismus in ethischen Kontexten sind. Sein vortheoretischer Ursprung scheint die Erfahrung mit schwer lösbaren ethischen Konflikten zu sein. Ähnlich wie im Umfeld des (ersten) Zweifels am ethischen Rationalismus konzentriert sich die akademische Diskussion auch hier auf eine Beantwortung der Fragen hinter den Zweifeln und ignoriert weitgehend die alternative Reaktion der Zurückweisung der Fragen als Missverständnisse unserer Sprachpraxis. Wie schon in der Diskussion des letzten Abschnitts gilt auch hier, dass es strukturell schwierig ist, auf Auslassungen in der akademischen Debatte aufmerksam zu machen. Wiederum wende ich mich daher vor allem an jene, die bereits einen Überblick über die philosophische Debatte haben, und versuche sie zu sensibilisieren für das weitgehende Ausbleiben einer radikaleren Strategie des Umgangs mit dem Unbehagen am propositionalen Charakter der ethischen Rede. Und wiederum gesellt sich zu meinem Vorwurf der ungleichmäßigen Aufwendung philosophischer Energie die Feststellung, dass es den gegebenen Antworten schlichtweg nicht gelingt, die Zweifel effektiv zu ersticken. Aus diesem Grund komme ich auch in Bezug auf den zweiten Zweifel zur Diagnose, dass der Mainstream der philosophischen Debatte die Aura des Dubiosen um die Ethik verfestigt hat, anstatt sie aufzulösen. Tatsächlich können wir fast die gesamte Geschichte der dominanten philosophischen Reaktionen auf den Aussagencharakter der ethischen Rede als eine einzige sukzessive Verfestigung der Aura des Dubiosen lesen. Schauen wir uns diese philosophischen Entwürfe in etwas größerer Detailtiefe an. Ähnlich wie im Kontext des Zweifels am ethischen Rationalismus ist die erste Reaktion die skeptizistische Anerkennung der Illegitimität der propositionalen Rede in ethischen Kontexten und die aus ihr folgende Forderung nach einem radikalen Umbau oder gar nach einer kompletten Aufgabe der ethischen Rede, wie wir sie kennen. Im Gegensatz zum Kontext des ersten Zweifels gilt die Akzeptanz des Skeptizismus vielen Philosophen aber im Kontext des zweiten Zweifels durchaus als

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vertretbare Position. Die skeptizistische Reaktion findet ihren klarsten und berühmtesten Ausdruck im logischen Positivismus.42 Die ursprüngliche Stoßrichtung des logischen Positivismus war seine Ablehnung der – aus seiner Sicht schlichtweg unsinnigen – metaphysischen und theologischen Rede. Aus dieser Ablehnung entwickelte sich schließlich die positive Hauptthese des Positivismus: Eine Satz kann nur dann als gelingender Ausdruck einer Proposition gedeutet werden, wenn er sich empirisch, und zwar mit den kanonischen Mitteln der Naturwissenschaften, verifizieren lässt.43 Dieses sprachphilosophische Fundament wuchs mit der Zeit zu einer komplexen Theorie der propositionalen Äußerung als Abbild eines Teils der Welt heran, wie sie etwa in Wittgensteins Tractatus ausgearbeitet wird.44 Die »Welt« wird hier als die Gesamtheit der »Tatsachen« verstanden, welche »Sachverhalte« zusammenfassen, die ihrerseits nichts anderes sind als mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassbare Konstellationen von Gegenständen. Mit »Abbildung« wird die Repräsentationsbeziehung zwischen diesen Konstellationen von Gegenständen einerseits und Sätzen andererseits verstanden. Ein integraler Bestandteil des positivistischen Abbildungsverständnisses ist dabei die These, dass übliche – alltägliche – Sätze als komplexe Konjunktionen oder Disjunktionen von Elementarsätzen verstanden werden müssen, welchen jeweils einzelne, fundamentale Sachverhalte entsprechen. Da die Grundüberzeugungen des logischen Positivismus entschieden szientistisch sind – dies zeigt sich nicht nur in der Ablehnung der Theologie und der Metaphysik durch die Gründer des Positivismus, sondern auch und vor allem im Verständnis der Tatsachen bzw. Sachverhalte als ihrem Wesen nach mit den Mitteln der Naturwissenschaften erforschbar – und da es keine kanonischen naturwissenschaftlichen Methoden gibt, mit denen sich ein ethisches Urteil verifizieren oder falsifizieren ließe, sind logische Positivisten auf die These festgelegt, dass ethische Urteile keine Propositionen ausdrücken und insofern auch keine Wahrheitswerte besitzen.45 Die Tatsache, dass unsere alltäglichen ethischen Urteile in die _____________ 42 Der logische Positivismus – auch als logischer Empirismus oder nur Empirismus bekannt – ist mit vielen Namen verknüpft (allen voran mit den Namen Carnaps, Schlicks und des frühen Wittgenstein), jedoch hat keiner seiner Vertreter so nachhaltig die Philosophie der Ethik beeinflusst wie A.J. Ayer; siehe v.a. Ayer, 1952. 43 Ich sollte anmerken, dass es mir hier nicht darum geht, den Verifikationismus in die Definition des Positivismus einzuschreiben; es ist durchaus möglich, eine in metaethischer Hinsicht vergleichbare sprachphilosophische Theorie zu vertreten, die statt der Verifikation die Falsifikation in ihrem Zentrum hat. 44 Vgl. Wittgenstein, 2003e [TLP]. 45 A.J. Ayer ist der bekannteste Vertreter dieser Auffassung; siehe Ayer, 1952.

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grammatische Form des Indikativsatzes gehüllt werden, und dass Indikativsätze üblicherweise als wahrheitsfähig behandelt werden, verstehen Positivisten als bloß oberflächliche Sprachkonvention, auf die wir auch verzichten könnten. In dem Maße, in dem wir hierzu nicht bereit sind – etwa im Ausdiskutieren unserer Meinungsverschiedenheiten – ist das Urteil des Positivisten, dass unsere ethischen Sätze unsinnig und damit Merkmale einer letztlich irrationalen Praxis sind. Die größte Verbreitung hatte der logische Positivismus in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch obwohl der logische Positivismus in dieser Zeit so dominant war, dass nur wenige Philosophen sich überhaupt eine sinnvolle Philosophie jenseits von ihm vorstellen konnten, wuchs mit der Zeit die Zahl seiner Kritiker. Der wohl einflussreichste Kritiker war Willard van Orman Quine, der in einer Reihe kurzer Artikel46 eine empfindliche Schwachstelle des Positivismus aufdeckte. Quines Beobachtung bestand darin, dass die Zuschreibung konkreter empirischer Verifikations- bzw. Falsifikationsbedingungen auf einen einzelnen Satz immer im Rahmen einer ganzen Theorie erfolgen muss, in der auch andere Sätze berücksichtigt werden. Mit hinreichenden Veränderungen an anderen Stellen in der Gesamttheorie lässt sich ein gegebener Satz als durch alle möglichen empirischen Umstände bestätigt (bzw. falsifiziert) auffassen. Das Verständnis eines Satzes ist somit notwendig interdependent mit dem Verständnis anderer Sätze. Aus diesem Grund gilt seit Quine die Vorstellung des Elementarsatzes, und damit einer der Grundbausteine des logischen Positivismus, als untaugliches Fundament anspruchsvoller philosophischer Theorien. Quines Kritik war nicht der einzige Angriff auf den Positivismus. Seit dem linguistic turn, der Hinwendung der philosophischen Aufmerksamkeit auf die tatsächlich gesprochene Sprache, sind immer weniger Kommentatoren bereit, das niederschmetternde Urteil über die ethische Alltagsrede – und viele andere durchaus etablierte Bereiche der Alltagssprache, zum Beispiel der ästhetischen Rede – einfach hinzunehmen, ohne alternative Interpretationen der Sprachpraxis auch nur in Erwägung zu ziehen. Die Konsequenz von alledem ist, dass sich langsam eine zweite Reaktion auf die Zweifel an der Propositionalität des ethischen Diskurses etablierte: der ethische Non-Kognitivismus, dessen frühester Vertreter Charles Stevenson und dessen einflussreichster Vertreter Richard Hare ist.47 Der NonKognitivismus ist die erste post-positivistische Theorie, die die radikalen Konsequenzen des Skeptizismus abmildert, ohne jedoch seinen philosophischen Kern in Frage zu stellen. _____________ 46 Vor allem Quine, 1963. 47 Siehe Stevenson, 1950; Hare, 1972, 1981.

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Non-Kognitivisten übernehmen vom logischen Positivismus die Idee, dass ethische Sätze keine Wahrheitswerte besitzen, denken aber im Gegensatz zum Positivismus, dass dies auch gar nicht ihr Anspruch ist.48 Im Gegensatz zu Positivisten können Non-Kognitivisten daher darauf verzichten, große Teile der alltäglichen ethischen Rede als Unsinn abzutun. Für Non-Kognitivisten ist das Vorkommen von Indikativsätzen und anderer üblicher Charakteristika der propositionalen Rede im ethischen Diskurs bloß eine oberflächengrammatische Tatsache. In Wirklichkeit haben ethische Äußerungen eine ganz andere non-kognitive Kraft als Behauptungen. Der Begriff der »non-kognitiven Kraft« entstammt dabei der sprachphilosophischen These, dass die Bedeutung von Äußerungen zusammengesetzt ist aus Wahrheitswerten und einem zweiten Aspekt – eben der »Kraft« – durch die angezeigt wird, ob der wahrheitskonditional übermittelte Sachverhalt behauptet, erfragt, oder befohlen (gewünscht, angefordert, usw.) wird.49 Die zentrale Idee der Non-Kognitivisten ist nun, dass ethische Äußerungen nur dem Anschein nach in die erste Kategorie der »Deskription« fallen, tatsächlich aber unter die dritte Kategorie der »Präskription« gehören: Ein ethischer Indikativsatz muss also als eine Art von Forderung oder Befehl interpretiert werden. Genau genommen ist die non-kognitivistische Interpretation ethischer Äußerungen etwas komplexer. In der Folge von Hare behaupten viele Non-Kognitivisten,50 dass sich alltägliche ethische Terme wie »großzügig« oder »geizig« in zwei Bedeutungsteile zerfällen lassen: zum einen in ihren empirischen Gehalt, zum andern in den kraft-anzeigenden Teil, welcher mit den (von Bernard Williams so genannten51) dünnen ethischen Termen wie »gut« und »schlecht« dargestellt werden kann. Auf dieser Basis können Non-Kognitivisten einräumen, dass ethische Äußerungen, in denen Terme wie »großzügig« oder »geizig« vorkommen, neben ihrer präskriptiven _____________ 48 Aus didaktischen Gründen konturiere ich die Unterschiede zwischen dem historischen Positivismus und dem historischen Non-Kognitivismus besonders stark. Tatsächlich sollte eine historisch akkurate Darstellung nicht leugnen, dass der Non-Kognitivismus eine Ausarbeitung eines Gedanken darstellte, der bereits den Positivismus kennzeichnete. Die Gelassenheit, mit der logische Positivisten die revisionistischen Konsequenzen ihrer Interpretation der ethischen Rede betrachteten, lag unter anderem darin begründet, dass sie selber die Funktion vieler ethischer Indikativsätze im Ausdruck von Befehlen, Forderungen und Bitten sahen; siehe zum Beispiel Ayer, 1952, Kap. 6. 49 Die drei Äußerungen »Ist die Tür zu?«, »Mach die Tür zu!« und »Die Tür ist zu.« unterscheiden sich nach dieser Auffassung allein in Bezug auf die non-kognitive Kraft; der wahrheitskonditionale Gehalt ist in allen drei Äußerungen der gleiche. 50 Vgl. Hare, 1981, 17. 51 Vgl. Williams, 1981, 129.

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Funktion auch eine assertorische Seite haben, sodass eine ethische Äußerung einen Sprecher immer auch auf ein empirisches Urteil festlegt. Im Kern bleibt die ethische Äußerung allerdings eine Präskription. Durch seinen Verzicht auf eine pauschale Abwertung jeglicher ethischer Äußerung als schieren Unsinn und durch sein Einräumen einer assertorischen Seite ethischer Äußerungen ist der Non-Kognitivismus eine weniger radikale Position als der Positivismus. Allerdings kann und will auch der Non-Kognitivismus einen gewissen Revisionismus nicht vermeiden.52 Gerade unsere Gewohnheit, für ethische Positionen zu argumentieren und dabei insbesondere ethische Konditionalsätze zu verwenden, ist für den Non-Kognitivismus ein Problem, da völlig unklar ist, was es bedeuten soll zu sagen, dass im Antezedens eines Konditionalsatzes eine Präskription steht – selbst wenn diese eine assertorische »Seite« hat.53 Eine dritte verbreitete Reaktion ist die von J.L. Mackie ausgearbeitete Error Theory, oder Irrtumstheorie, die sich – wie der Non-Kognitivismus – als eine nicht- (oder nur sanft) revisionistische Position versteht.54 Mit seinem Buch Ethics: Inventing Right and Wrong versucht Mackie in erster Linie, gegen die seiner Meinung nach absurde Hauptthese des Non-Kognitivismus anzugehen: dass nämlich alltägliche ethische Indikativsätze ihrem Anspruch nach keine wahrheitsfähigen Aussagen, also keine Behauptungen seien. Für Mackie sind diese Äußerungen sehr wohl und ganz offensichtlich Aussagen. Allerdings sind sie systematisch falsche Aussagen und insofern Irrtümer – jedenfalls, solange sie, wie Mackie es ausdrückt, als »objektiv« verstanden werden.55 In ihrer Zurückweisung der non-kognitivistischen Hauptthese kann die Irrtumstheorie also als Wiederbelebungsversuch des logischen Positivismus gedeutet werden. Allerdings ist es unter Philosophen notorisch umstritten, ob die Irrtumstheorie überhaupt kohärent ist. Ihren Anspruch, keine (oder nur sanfte) revisionistische Implikationen zu besitzen, da alltägliche ethische Urteile nur falsch sind, wenn sie _____________ 52 Aus diesem Grund ist auch Skepsis in Bezug auf die Überzeugung vieler NonKognitivisten angezeigt, sie seien strikte Meta-Ethiker, die unsere ethische Rede »nur« kommentieren, dabei aber selber – qua non-kognitivistische Philosophen – keinerlei ethische Forderungen aufstellen. 53 Der locus classicus dieses Arguments gegen den Non-Kognitivismus ist Geach, 1960. Ich sollte anmerken, dass die Debatte um den Non-Kognitivismus und seinen Umgang mit ethischen Argumenten, insbesondere ethischen Konditionalsätzen, nicht als abgeschlossen betrachtet werden sollte. Einige Non-Kognitivisten (zum Beispiel Gibbard, 1990; Blackburn, 1998) haben komplexe Semantiken vorgelegt, deren Anspruch es ist, ethische Konditionalsätze mit der Idee des NonKognitivismus zu versöhnen. 54 Siehe Mackie, 1977. 55 Siehe etwa Mackie, 1977, 91.

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als »objektive« Urteile verstanden werden,56 kann sie nur durch eine Erklärung darüber einlösen, wie eine ethische Aussage zwar wahr, aber nicht »objektiv« wahr sein kann – und viele Philosophen denken, dass die Irrtumstheorie eine verständliche Antwort bis heute schuldig geblieben ist.57 Die letzten hier zu diskutierenden, vom engen, positivistischen Tatsachenverständnis inspirierten philosophischen Programme sind einige begründungs- bzw. motivations-externalistische58 Realismen, die in den letzten Jahren eine Reihe von Fürsprechern gefunden haben.59 Nach diesen Positionen sind ethische Sätze tatsächlich Ausdrücke von Propositionen, und dazu fehlerlose. Sie sind jedoch nur aus dem Grund unproblematisch, dass die von ihnen ausgedrückten Propositionen sich von nicht-ethischen Propositionen nicht unterscheiden, wobei nicht-ethische Propositionen anhand des positivistischen Modells verstanden werden. Insbesondere haben ethische Sätze aus der Perspektive des begründungs- bzw. motivations-externalistischen Realismus keine internen (also logischen) Beziehungen mit (nicht-sprachlichen) Handlungen, können also ohne weitere normative Prämissen nicht als Rechtfertigungen (nicht-sprachlicher) Handlungen firmieren, und zeigen an sich auch kein Motiviertsein an. Sie firmieren jedoch als Erklärungen. Tatsächlich sind ethische Sätze aus der Warte der externalistischen Realismen nichts anderes als unsere alltägliche Art, Muster menschlichen Handelns kausalistisch zu erklären. Für diese Realisten ist die einzige wichtige Frage jene, ob das charakteristische Vokabular der »ethischen« Ursachensätze sich ohne Verlust in ein paradigmatischeres kausalistisches Vokabular, also in naturwissenschaftlich anerkanntes Vokabular, überführen (oder auch: »reduzieren«) ließe.60 Ich habe die positivistische (und insofern den Skeptizismus einladende) Interpretation der ethischen Rede und auch ihre dominanten postpositivistischen Alternativen in einiger Detailtiefe beschrieben, um zu zeigen, dass alle bekannteren Vorschläge, auch die sich selbst als antiskeptisch verstehenden Behandlungen der ethischen Rede, den Zweifel _____________ 56 Siehe Mackie, 1977, 38. 57 Eine gute Behandlung dieser Frage findet sich in Hurley, 1989, insb. 278ff. 58 Diese Begriffe werden im vierten Kapitel genauer erläutert. 59 Siehe etwa Railton, 1986; Sturgeon, 1995; Boyd, 1995; Brink, 2001a,b. 60 Peter Railton vertritt die Auffassung der Reduzierbarkeit ethischen Vokabulars (vgl. Railton, 1986), während Richard Boyd, David Brink und Nicholas Sturgeon für einen sui generis-Charakter ethischen Vokabulars in kausalen Erklärungen argumentieren (vgl. Sturgeon, 1995; Boyd, 1995; Brink, 2001b). Übrigens lassen sich auch viele konventionalistische Philosophen als motivations-externalistische Realisten verstehen. Dies gilt etwa für Philosophen, die in ethischen Standardurteilen den erklärenden Verweis auf Sitten- bzw. Etiketteregeln sehen. Die frühe Philippa Foot wäre ein Beispiel dieser Position; siehe Foot, 1972.

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am ethischen Objektivismus im Kern anerkennen. Sie alle haben ihren Ursprung in der positivistischen Idee der abbildenden Natur des Satzes und versuchen dann – auf unterschiedlichen Wegen – die skeptischen Konsequenzen dieser Idee in der Ethik zu minimieren. Was sie nicht tun, ist, diese Idee selber kritisch zu hinterfragen. Aus diesem Grund, und aufgrund der Tatsache, dass die dominanten Strategien das Unbehagen an der ethischen Rede schlichtweg nicht zu ersticken vermögen, bin ich zu der gleichen Diagnose geneigt, die ich oben vertreten habe: Der Mainstream der akademischen Moralphilosophie hat die Aura des Dubiosen im Umfeld der Ethik eher verfestigt als beseitigt.61 1.5.3 Ausblick auf die »Sprachspielkonzeption der Ethik« Wir haben nun die Zweifel untersucht, die die philosophische Subdisziplin der Ethik und das alltägliche proto-philosophische Nachdenken über die Ethik prägen. Ebenfalls haben wir über die Ursprungsgründe dieser Zweifel spekuliert. Ich möchte nun, bevor im nächsten Kapitel die Zweifel zurückgewiesen werden, eine bereits angerissene These wiederholen und etwas mehr als bisher zu ihrer Unterstützung sagen: Die genannten Zweifel bestimmen nicht nur das philosophische oder proto-philosophische Nachdenken über die Ethik, sondern den Begriff der Ethik selbst. Zwar kann die Begründung dieser These erst in den folgenden Kapiteln vervollständigt werden. Jedoch lässt sich ein Ausblick auf die dort auszuarbeitende pragmatistische Interpretation der ethischen Sprachpraxis gut mit einer ersten Plausibilisierung der These verbinden. Das Zentrum der im nächsten Kapitel vorzustellenden »Sprachspieltheorie der Ethik« ist eine gegenüber den Standardverständnissen neuartige Erläuterung des Begriffes vom Grund (einer Überzeugung oder einer Handlung). Ein Grund ist nicht ein Wollen, ein Streben, eine Inklination, ein Interesse usw. und hängt auch nicht davon ab. Ein Grund ist eine Erwägung, welche erstens einen wesentlich propositionalen Charakter hat, also in der Form eines Indikativsatzes explizit gemacht werden kann, und welche zweitens intern mit dem Element verknüpft ist, das durch sie begründet wird – also eine weitere Proposition (wenn es sich bei dem Grund um einen theoretischen Grund handelt) oder eine Handlung (wenn es sich bei dem Grund um einen praktischen Grund handelt). Die Rede von der internen Verknüpfung ist dabei das Herzstück der »Sprachspieltheorie der _____________ 61 Es scheint mir eine akzeptable Verallgemeinerung zu sein, dass sich positivistische Positionen in der Moralphilosophie als sehr viel beharrlicher erwiesen haben als in (fast) allen anderen Subdisziplinen der Philosophie.

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Ethik«. Ein erstes Verständnis erschließen wir uns, wenn wir darin die Regel sehen, bei einem intern verknüpften Paar von Propositionen immer entweder beiden zuzustimmen oder aber keiner von ihnen; bei einem intern verknüpften Paar einer Proposition und einer Handlung ist die Regel, bei der Zustimmung zur Proposition auch die Handlung zu beabsichtigen und ansonsten der Proposition nicht zuzustimmen. Im Kontext dieser Regel reden wir von einer internen Verknüpfung, da eine sie scheinbar verletzende Akteurin entweder als nicht intelligibel (als eine lokale oder gar globale Irrationalität ausstellend) verbucht werden oder aber neu interpretiert werden muss, wobei die neue Interpretation ihr sprachliches und nicht-sprachliches Verhalten als konform mit der internen Beziehung verstehen muss. Sind wir beispielsweise zunächst geneigt, im Sprachverhalten einer Sprecherin das Vertreten einer begründenden Proposition auszumachen – etwa der Proposition, dass es falsch ist, Fleisch zu essen –, kommen dann aber zu der Auffassung, dass die Sprecherin eine mit der Proposition intern verbundene weitere Proposition – etwa dass es falsch ist, Geflügel zu essen – ablehnt, oder dass die Sprecherin eine Absicht an den Tag legt, die mit der Proposition intern inkompatibel ist – etwa die Intention, ein halbes Hähnchen zu bestellen –, so sind wir gezwungen, der Sprecherin doch nicht die zunächst vermutete Überzeugung, dass es falsch ist, Fleisch zu essen, zuzuschreiben, und ihr Sprachverhalten damit neu zu interpretieren – oder aber, die Sprecherin als irrational zu betrachten. Es könnte an dieser Stelle scheinen, dass die Gründe einer Person auf einer solchen Theorie immer nur relativ zu den vorgefundenen – durch die Theorie selber nicht erklärten – Überzeugungen der Person sind. In gewisser Hinsicht ist dies auch der Fall, allerdings steckt in dieser Feststellung aus zwei Gründen kein unzulässiger Relativismus. Zum einen gehört es zum Gerüst der Sprachspieltheorie, dass wir bei einer interpretierten Person, solange wir sie überhaupt als Trägerin von Überzeugungen interpretieren können, davon ausgehen müssen, dass sie im Großen und Ganzen unsere Überzeugungen teilt. Überzeugungsunterschiede zwischen uns und einer anderen interpretierten Person können immer nur lokal sein, da wir bei der Zuschreibung von zu weitgehenden Unterschieden keine Antwort mehr auf die kritische Gegenfrage geben können, auf welcher Basis wir der Sprecherin diese, und nicht vielmehr andere (oder überhaupt keine) Überzeugungen zuschreiben.62 Zum andern ist die Sprachspieltheorie darauf festgelegt, dass wir, solange wir einer Person tatsächlich eine bestimmte Proposition als Überzeugung zuschreiben, diese Proposition _____________ 62 Diese Erwägung, wie auch die nächste, ist eine Instanz der in der Einleitung angerissenen Interpretationismusthese.

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entweder als korrekt (wahr) oder als inkorrekt (unwahr) ansehen müssen, wobei wir in letzterem Fall eine zumindest vorläufige Diagnose des Schluss- oder Wahrnehmungsfehlers der interpretierten Sprecherin anbieten können sollten.63 Wenn diese interpretativen Thesen stimmen – und in den folgenden Kapiteln werde ich für sie argumentieren – dann können wir Gründe als interne Verknüpfungen unseres geteilten Sprachspiels und propositionale Ausdrücke, also Indikativsätze, als Explikationen dieser Gründe verstehen. Dies gilt für alle Gründe und alle Indikativsätze. Auf diese Weise können wir sowohl den Zweifel am ethischen Rationalismus als auch den Zweifel am ethischen Kognitivismus zurückweisen. Interessant ist nun, dass mit dieser Entmystifizierung der ethischen Rede eine zweifache sprachliche Verlockung wegfällt, nämlich der Drang, erstens das Feld der Gründe und zweitens das Feld der Urteile in einen »ethischen« und in einen »nicht- oder außerethischen« Teil aufzuspalten. Diese populäre Aufspaltung hängt nämlich untrennbar mit dem Gedanken zusammen, dass jeweils ein Teilbereich der Gründe bzw. der Urteile unproblematisch ist – also auf der Basis der klassischen Interpretation der Rede von Gründen und Urteilen erläutert werden kann – und ein anderer Teilbereich dubios ist – nämlich von den skizzierten philosophischen Zweifeln befallen ist. Der unproblematische Teil der Gründe umfasst die Gründe, die an die Eigeninteressen des Halters der Gründe geknüpft sind. Der unproblematische Teil der Urteile umfasst die Urteile, die als Darstellungen von metaphysisch unverdächtigen Tatsachen aufgefasst werden können. Der problematische Teil der Gründe dagegen ist durch den als mysteriös wahrgenommenen Anspruch gekennzeichnet, dass die Einhaltung des Grundes gleichzeitig richtig sein kann und die Eigeninteressen verletzen kann. Der problematische Teil der Urteile ist durch den als mysteriös wahrgenommenen Anspruch gekennzeichnet, dass die propositionale Rede verwendet werden kann, ohne dass die Urteile sich mit naturwissenschaftlichen Methoden überprüfen ließen. Es ist klar, wie das Prädikat »ethisch« an dieser Stelle figuriert: Ethische Gründe sind genau die in der skizzierten Hinsicht dubiosen Gründe; ethische Urteile sind genau die in der skizzierten Hinsicht dubiosen Urteile. _____________ 63 Hier machen wir einige Annahmen, die in den folgenden Kapiteln noch erläutert werden. Insbesondere gehen wir von einer Sprechsituation aus, die durch Aufrichtigkeit, epistemische und intellektuelle Ebenbürtigkeit der Sprecher und durch interpretatives Wohlwollen gekennzeichnet ist. Dies ist deswegen wichtig, da so die Möglichkeit ausgeschlossen wird, dass eine Proposition als möglicherweise wahr, möglicherweise aber auch falsch, angesehen wird: Wenn ein Sprecher eine (logisch mögliche) Proposition vertritt, auf die wir noch nicht festgelegt waren, so legen wir uns unter den genannten Annahmen allein auf der Basis der Aussage des Sprechers auf sie fest.

Die Zweifel bestimmen die Spielregeln der Debatte

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Da wir mit der Sprachspieltheorie Zugang zur radikal alternativen Sichtweise bekommen, dass alle Gründe ihrem Wesen nach interne Beziehungen im Sprachspiel darstellen und insofern unabhängig von Interessen sind, und dass alle Urteile ihrem Wesen nach Explikationen von Aspekten des geteilten Sprachspiels darstellen, verschwindet der Drang zur »Ethik«/»Nicht-Ethik«-Unterscheidung. Mit der Sprachspieltheorie können wir einfach von Gründen und von Urteilen reden und darauf verzichten, die unendliche Vielfalt der Gründe und der Urteile mit einer philosophisch arbiträren Grenze zu unterteilen.64 Freilich wird noch eine Menge zu erläutern sein, beispielsweise die Rede von »schlechten« Gründen und auch die Idee von »ausgestochenen« Gründen. In diesem Rahmen wird sich auch die Frage stellen, wie es sein kann, dass sich auch in schlechtem, mitunter in bösem, Handeln manchmal Gründe ausfindig machen lassen, sodass dieses Handeln nicht einfach unverständlich bleibt. Bislang bleibt auch die Rolle von Interessen unklar, welche in so harmlosen Sätzen wie »Der Grund meiner Handlung war, dass ich Hunger hatte« als Gründe zitiert zu werden scheinen. All diese – und weitere – Punkte können nicht in einer groben Vorschau behandelt werden. Der Hauptzweck der in diesem Kapitel gegebenen Vorschau war, einen Eindruck vom kommenden Argument zu geben, sowie eine erste Plausibilisierung der These anzubieten, dass die beiden kardinalen Zweifel nicht nur die Philosophie der Ethik in Gang gesetzt haben, sondern nichts weniger als den Begriff der »Ethik« bestimmen.

_____________ 64 Wenn dies stimmt, so muss sich die vorliegende Arbeit freilich die Frage gefallen lassen, ob damit nicht ihr Gegenstand zerfällt. In gewisser Hinsicht tut er dies: Indem der Begriff der Ethik problematisch wird, wird auch der Begriff der ethischen Rede problematisch. Ich biete zwei Antworten auf das Problem an: Erstens können wir uns mit »ethischer Rede« einfach auf bestimmte, vage umrissene, paradigmatische Sprachverwendungen beziehen, die durch unqualifizierte Gründe bzw. unqualifizierte Soll-Sätze bestimmt sind. Zweitens kommt es mitunter vor, dass selbst ein philosophischer Therapeut eine Weile lang einen aufzugebenden Begriff benutzen muss, bis seine Leere oder Inkohärenz offensichtlich geworden ist. Erst dann gilt es (mit Wittgenstein gesagt), die Leiter wegzuwerfen, mit der wir heraufgeklettert sind (vgl. Wittgenstein, 2003e [TLP], 6.54).

2. Die Ethik als Horizont der Intelligibilität. Ein pragmatistisches Verständnis der ethischen Rede 2.1 Einleitung: Unangemessene Verständnisse Wenn man die Definition von »Arzt« so anspruchsvoll macht, dass nur derjenige sich Arzt nennen darf, der neben einer Arztzulassung die Fähigkeit besitzt, jede vorstellbare Krankheit binnen zwei Minuten zu heilen, dann darf man sich nicht wundern, wenn ein Blick in die empirische Welt ergibt, dass es keine Ärzte gibt.1 Man darf sich nicht wundern – das heißt auch: Man sollte nicht herumlaufen und seinen Mitmenschen die erstaunliche Tatsache von der Nichtexistenz von Ärzten kundtun. Entweder das Publikum hat ein weniger anspruchsvolles Verständnis des Arztseins und folglich das Recht, sich über die grandiosen und irreführenden Behauptungen zu beschweren; oder aber es gibt wenig Grund anzunehmen, dass das Publikum tatsächlich erstaunt sein würde. Die Lehre aus dieser kleinen Überlegung liegt auf der Hand: Wollen wir die Möglichkeit offen halten, einander zu erstaunen – oder genereller: einander interessante Dinge mitzuteilen –, so ist es ratsam, Definitionen zu verwenden, die unsere tatsächliche Denk- und Sprachpraxis widerspiegeln. Wir werden dann zwar seltener erstaunt. Aber wenn wir erstaunt werden, haben wir es mit einem Erkenntnisgewinn und nicht mit einer begrifflichen Verwirrung zu tun. In diesem Kapitel möchte ich zeigen, dass es mit den im letzten Kapitel besprochenen Zweifeln ähnlich ist wie mit der Behauptung, es gäbe keine Ärzte. Sowohl die Idee, die in der ethischen Alltagssprache verwendeten Sätze drückten nicht wirklich Propositionen aus oder korrespondierten nicht wirklich mit Tatsachen, als auch die Vorstellung, anspruchsvolle ethische Forderungen seien nicht wirklich begründbar und ihre Erfüllung folglich nicht wirklich vernünftig, hängen letztlich am Fehler der von der Alltagssprache abweichenden Definition. Wenn dies stimmt, dann ist auch der gängige Vorwurf der gedankenlosen Traditionshörigkeit illegitim, mit dem un-ironische Teilnehmer der alltäglichen ethischen Rede routinemäßig bedacht werden. Von ethischen Tatsachen zu reden und harte ethische Forderungen auch dann ernst zu nehmen, wenn ihre Erfül_____________ 1 Dieses Beispiel, auf das mich Stefan Tolksdorf aufmerksam gemacht hat, stammt aus Stroud, 1984, 40.

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lung unseren Interessen zuwiderläuft, sind dann keine Anzeichen von Aberglauben oder Gedankenlosigkeit, sondern von Realismus – und zwar Realismus sowohl im technischen Sinn der aktuellen akademischen Philosophie als auch in einem älteren und gleichzeitig alltäglicheren Sinn. Um diese Art von Realismus soll es in diesem Kapitel gehen. Oder etwas konkreter: Dieses Kapitel wird versuchen, einen Realismus der angedeuteten Art aus den Ressourcen wittgensteinianischer Sprachphilosophie zu bauen. Zwar ist Ludwig Wittgenstein kein »moralischer Realist« – tatsächlich hat er zur Ethik außer einem kurzen Vortrag im Jahr 19292 überhaupt wenig gesagt – jedoch ist es möglich, aus seinen sprachphilosophischen Schriften einen Realismus in der Ethik zu konstruieren, der seinem Kredo »Nicht Empirizismus[,] und doch Realismus in der Philosophie«3 entspricht und auch unabhängig von Wittgensteins Schriften plausibel ist.4 In den folgenden Untersuchungen wollen wir uns besonders auf die Begriffe konzentrieren, an denen sich die im ersten Kapitel beschriebenen Zweifel entsponnen haben – Tatsache und Grund.5

2.2 Wittgenstein und der Weg zurück zur Alltagssprache Mit Ludwig Wittgenstein nimmt eine philosophische Tradition ihren Anfang, der es darum geht aufzuzeigen, wann und wo die Philosophensprache sich unbemerkt aus der Alltagssprache heraustrennt. Das Ziel dabei ist es, die Philosophen dann mit Hinweisen auf die alltäglichen Sprachverwendungen zur Umkehr zu bewegen. Im Hintergrund dieser Tradition steht die Überzeugung, dass das Verständnis eines Ausdrucks letztlich in der Praxis des Umgangs mit dem Ausdruck im alltäglichen Sprachspiel – wir können auch sagen: in der impliziten oder expliziten Kenntnis der Regeln seiner Verwendung – liegt. Im Arzt-Beispiel können wir uns das so vorstellen, dass ein kompetenter Sprecher der Alltagssprache den Begriff _____________ 2 Siehe Wittgenstein, 1965 [LE] – der Text wurde, wie fast alle Texte Wittgensteins, erst nach seinem Tod veröffentlicht. 3 Wittgenstein, 2003b [BGM], VI:23. 4 Eine vor kurzem erschienene systematische Rekonstruktion des Ethikverständnisses von Ludwig Wittgenstein, die nur minimal über Wittgensteins eigene Schriften hinausgeht, ist Wachtendorf, 2008. 5 Ab jetzt werde ich die Reihenfolge umkehren und zuerst über Tatsachen und Propositionen und das mit ihnen verknüpfte Unbehagen am Aussagencharakter der ethischen Rede sprechen, und erst dann auf Gründe und den mit ihnen verknüpften Zweifel an der Vernünftigkeit des Befolgens ethischer Forderungen zu sprechen kommen. Im Übrigen behandle ich die Begriffe »Tatsache« und »Fakt« als Synonyme.

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»Arzt« eben nicht als synonym mit »eine Person, die alle nur erdenklichen Krankheiten in zwei Minuten heilen kann« verwendet. Vielmehr zeigt sich in der alltäglichen Verwendung des Begriffs »Arzt« ein sehr viel entspannteres Verständnis des Arztseins. Freilich zählt »Arzt« nicht gerade zu den in der Philosophie diskutierten Begriffen, und freilich würden wir bei den irreführenden »Arzt«-Äußerungen eher von falschen Sätzen als von Inkohärenzen bzw. Konfusionen reden. Doch es wird sich zeigen, dass dies dem Beispielcharakter des »Arzt«-Falls keinen Abbruch tut.6 Die hier (und kurz auch im ersten Kapitel) grob skizzierte wittgensteinianische Tradition hat viele Subdisziplinen der Philosophie bereichert und sogar revolutioniert, dabei allerdings das Feld der philosophischen Ethik weitgehend ausgelassen. Dies liegt im Wesentlichen an einem nicht hinreichend radikalen Verständnis davon, was es heißt, die alltäglichen Verwendungen eines Ausdrucks zu beschreiben. Nach dem unzureichend radikalen Verständnis kann ein an der alltäglichen Sprachverwendung orientierter philosophischer Ansatz in Bezug auf die Ethik nicht mehr als die »Erinnerung« daran erbringen, dass wir die ethischen Terme benutzen, um bereits vorausgesetzte non-kognitive Haltungen auszudrücken. Dieser Gedanke verbindet sich auf natürliche Weise mit einer besonderen Betonung der dünnen ethischen Terme wie »gut« und »schlecht« (und nicht der dicken ethischen Terme wie »verständnisvoll« oder »unhöflich«) und fügt sich relativ spannungslos in den anti-objektivistischen Mainstream der Moralphilosophie ein.7 Hinzu kommt ein zweiter Aspekt des aktuellen Nachdenkens über Wittgenstein, nämlich ein verbreitetes Missverständnis des Plädoyers Wittgensteins für eine therapeutische Ausrichtung der Philosophie.8 Nach _____________ 6 Konkret wird sich am Ende dieses Kapitels und dann (genauer) im dritten Kapitel zeigen, dass die Unterscheidung zwischen falschen Sätzen und unsinnigen Äußerungen erstens immer nur von einem Standpunkt innerhalb des Sprachspiels getroffen werden kann, und dass der sie treffende Sprecher damit zweitens bloß angibt, ob er der divergierenden Partei einen konkreten Denk- oder Wahrnehmungsfehler zuschreiben kann oder nicht. Kann er es nicht, muss er den fraglichen Satz des divergierenden Sprechers streng genommen als unverstanden verbuchen. 7 Tatsächlich hat Wittgenstein selber in seiner hastig ausgearbeiteten und von ihm selbst in seiner späteren Phase nie wieder erwähnten oder zitierten Vorlesung über die Ethik eine solche Position vertreten; vgl. Wittgenstein, 1965 [LE]. Eine aktuelle Behandlung Wittgensteins als Non-Kognitivist ist Brandhorst, 2009. 8 Dieses Plädoyer findet sich in Passagen wie §§127f. der Philosophischen Untersuchungen (Wittgenstein, 2003d [PU]): »Die Arbeit des Philosophen ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck. Wollte man Thesen in der Philosophie aufstellen, es könnte nie über sie zur Diskussion kommen, weil Alle mit ihnen einverstanden wären.«

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diesem Missverständnis folgt aus einem therapeutischen Philosophieverständnis notwendig die radikale Abkehr vom Anspruch, systematische Aussagen über die Sprachpraxis aufzustellen.9 Ich habe im ersten Kapitel betont, dass philosophische Therapie durchaus kompatibel mit der Aufstellung systematischer sprachtheoretischer Aussagen ist – gerade in Bezug auf bestimmte reflexive Begriffe, mit denen wir in der Alltagsrede Züge unserer eigenen Alltagsrede explizit machen. In diesem Kapitel möchte ich wittgensteinianische Sprachphilosophie auf eine Weise betreiben, die in beiden Punkten von den verbreiteten Vorstellungen abweicht: Erstens soll versucht werden, auf der Ebene der Beschreibung der Alltagssprache theoretische Festlegungen wie die skizzierte Festlegung auf den Non-Kognitivismus zu vermeiden und insofern die wittgensteinianische Forderung nach einer Beschränkung auf die Beschreibung der Alltagssprache radikaler zu verstehen. Konkret geht es darum, die grammatische Tatsache der propositionalen Struktur des ethischen Diskurses und die internen, also logischen oder auch normativen Beziehungen seiner unterschiedlichen Sprachspielzüge ernst zu nehmen, ohne sie von Anfang an an ein metaphysisches Verständnis von »Proposition« und »Grund« zu knüpfen. Dies bringt uns zum zweiten Punkt. Denn es wird sich zeigen, dass eine Erinnerung daran, wie die Begriffe »Proposition« und »Grund« normalerweise im Sprachspiel verwendet werden, gleichzeitig therapeutisch und Teil eines systematischen Projekts der Erläuterung der Sprache ist. In den reflexiven Begriffen »Proposition« (oder »Tatsache«) und »Grund« zeigen sich implizite, aber durchaus explizierbare Aspekte unseres Verständnisses unserer Sprache. Zwar wird dieses implizite Verständnis von Philosophen manchmal mit metaphysischen Nebelkerzen verschleiert. Im Großen und Ganzen haben wir es aber nie wirklich vergessen und müssen es nur reaktivieren. Dazu sollen die folgenden Abschnitte beitragen. _____________ 9 Dieses Missverständnis findet sich sowohl bei den Anhängern der therapeutischen Lesart Wittgensteins – etwa bei John McDowell, der unter den führenden Wittgenstein-Interpreten wohl den extremsten Anti-Systematizismus vertritt (McDowell, 1981, 1984, 1992) – als auch bei ihren Gegnern – siehe etwa Saul Kripkes Diskussion des angeblich wittgensteinianischen Regelskeptizismus (Kripke, 1982) oder Crispin Wrights Diskussion von Wittgensteins angeblich kommunitaristischer Normativitätstheorie (Wright, 2001b). Dass Wittgenstein den Gedanken der philosophischen Therapie durchaus als kompatibel mit (bestimmten) systematisch-sprachtheoretischen Ambitionen ansah, zeigt sich m.E. etwa im berühmten systematischen Abschnitt § 242 der Philosophischen Untersuchungen (Wittgenstein, 2003d [PU], s.a. Wittgenstein, 2003f [ÜG], §§80f., Wittgenstein, 2003a [BF], I:32): »Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen[…]«.

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2.3 Ethische Regeln als Sprachspielregeln 2.3.1 Erste Schritte im Tractatus Wittgensteins Gedanken sollen hier auf eine un-historische Weise präsentiert werden. Wir werden zwar mit Wittgensteins früher Philosophie beginnen, aber wir werden sie explizit im Licht seiner späteren Philosophie lesen. Konkret sollen in Wittgensteins Tractatus jene Aspekte herausgearbeitet werden, welche in späteren Stadien der intellektuellen Entwicklung Wittgensteins in die ausgearbeitete »Sprachspieltheorie der Bedeutung« münden – unabhängig davon, dass der frühe Wittgenstein wohl selber eine ganz andere Gewichtung vorgenommen hätte. Ferner soll Wittgenstein – und zwar sowohl der frühe als auch der späte – noch in einer zweiten Hinsicht ohne übertriebenen Respekt behandelt werden: Wir werden uns erlauben, in wichtigen Punkten über Wittgenstein selbst hinauszugehen. Insbesondere soll Wittgenstein nicht nur (auf der Basis der Überlegungen des vorangegangenen Abschnitts) eine Theorie der Sprache zugeschrieben werden, es soll sogar (auf der Basis der Hauptzüge der wittgensteinianischen Sprachtheorie) eine wittgensteinianische Theorie der propositionalen Sprache entwickelt werden, obgleich Wittgenstein selbst eine solche Theorie nie ausgearbeitet hat.10 Mit diesen Bemerkungen wollen wir nun in die Entwicklung der »Sprachspieltheorie« einsteigen. Wittgensteins Tractatus enthält einen Samen, aus dem lange nach seiner Publikation die Frucht der pragmatistischen Sprachspieltheorie hervorgehen sollte. Dieser Samen ist die Idee der internen Beziehungen. Ich möchte behaupten, dass es unmöglich ist, Wittgensteins Philosophie – sowohl die frühe als auch die späte – zu verstehen, ohne den Begriff der internen Beziehung verstanden zu haben. Dieser Abschnitt soll ihn im Kontext des Tractatus erläutern.11 Als Wittgenstein in die Philosophie eintritt, ist eines der ungelösten Probleme die Frage nach dem Status der Sätze der Logik. Zwar besteht weitgehende Einigkeit über den kalkülhaften Umgang mit Schlussregeln wie »P → Q; P; also Q« (Modus Ponens) oder »P → Q; ¬Q; also ¬P« _____________ 10 Allerdings hat Wittgenstein in seiner gesamten späten Phase, allen voran in Über Gewissheit, einzelne Sätze einer solchen Theorie aufgestellt (siehe Wittgenstein, 2003f [ÜG], §§80 f., vgl. Wittgenstein, 2003a [BF], I:32 und Wittgenstein, 2003d [PU], §242). 11 Der einzige mir bekannte Kommentar zu Wittgensteins Philosophie, der die Idee der internen Beziehungen explizit als zentral würdigt, ist Gordon Bakers und Peter Hackers Analytic Commentary zu Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen – siehe Baker und Hacker, 1985 – von dem die vorliegende Arbeit stark beeinflusst ist.

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(Modus Tollens) – bzw. als Sätze formuliert: »((P → Q) & P) → Q« und »((P → Q) & ¬Q) → ¬P«. Unklarheit herrscht aber in der Frage, um was für Sätze es sich hier handelt. Sind es empirische Sätze über die sprachlichen Gewohnheiten des homo sapiens? Sind es Darstellungen wissenschaftlicher Konventionen? Sind es Beschreibungen einer platonischen Sphäre logischer Entitäten? Wittgenstein hält von alledem nichts. Nach seiner Meinung sind logische Sätze nichts anderes als Tautologien.12 Allerdings sind es nützliche Tautologien, denn sie zeigen auf, wie die auch in inhaltsreichen Sätzen vorkommenden logischen Konstanten – etwa »→« oder »¬« – verwendet werden.13 Somit spielen logische Sätze für Wittgenstein die gleiche funktionale Rolle wie Wahrheitstabellen: Beide dienen dazu, die Verwendungsweisen und damit die Bedeutungen logischer Zeichen zu explizieren; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein Aspekt dieser Sichtweise, der uns durch die gesamte Arbeit begleiten wird, besteht darin, dass mit ihr die Idee inkohärent wird, dass man die logischen Sätze »verletzen« könnte, ohne dabei die Grenze zum schieren Unsinn zu überschreiten. Sobald zum Beispiel jemand aus »P → Q« und »¬Q« den Schluss zieht, dass P – und wir davon auszugehen wünschen, dass die Sprecherin nicht einfach Unsinn redet – bleibt uns nichts anderes übrig als zu konstatieren, dass sie mindestens einem der verwendeten Zeichen eine neue Bedeutung gegeben hat. Hätte sie »→« und »¬« so gemeint, wie wir diese Zeichen meinen, so hätte sie »¬P« gefolgert – nichts anderes zeigt die Tautologie, dass ((P → Q) & ¬Q) → ¬P. Hat die Sprecherin aber ihren Zeichen eine neue Bedeutung gegeben, so können wir von keinem Konflikt zwischen ihrer Äußerung und den logischen Sätzen sprechen. Was sie nun sagt, das können wir erst nach einer Übersetzung ihrer Äußerung angeben. Dies allerdings bedeutet nichts anderes, als systematisch ihre Symbole durch unsere Symbole zu ersetzen und die Äußerung der Sprecherin damit als konsistent mit den bekannten logischen Sätzen zu verstehen.14 In diesem Zusammenhang spricht Wittgenstein auch davon, dass logische Sätze »interne Beziehungen«15 explizieren bzw. »transcendental«16 sind: Wir können sie nicht brechen, weil sich in ihnen die Bedingungen des sinnvollen Sprechens verbergen. _____________ 12 Vgl. Wittgenstein, 2003e [TLP], 6.1, 6.11, s.a. 5.142. 13 Vgl. Wittgenstein, 2003e [TLP], 6.1201, 6.121, s.a. 6.113. 14 Es könnte sich als korrekt erweisen, das Zeichen »→« der Sprecherin als unser » « zu übersetzen. 15 Wittgenstein, 2003e [TLP], 4.125ff., 5.131, 5.2ff., vgl. 4.014, 4.122ff., 2.01231 16 Wittgenstein, 2003e [TLP], 6.13

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2.3.2 Vom Tractatus zur Sprachspieltheorie Es ist wichtig zu verstehen, dass die Idee der internen oder auch transzendentalen Beziehung mit Wittgensteins späterer Distanzierung von seinem Frühwerk keineswegs aufgegeben wird. Im Gegenteil: In einer wichtigen Hinsicht verwandelt sich die interne Beziehung von einer »Zutat« zur Sprache in nichts weniger als die bestimmende Substanz der Sprache. Während sich die internen Beziehungen im Tractatus die Funktion der Bedeutungsbestimmung noch mit der Abbildung von Sachverhalten der nicht-sprachlichen Welt teilen mussten, so spielen sie diese Rolle in Wittgensteins späterem Werk ganz allein. Mit seiner philosophischen Pause in den 20er Jahren und seinem Wiedereintritt in die akademische Welt im Jahr 1929 legt Wittgenstein die Vorstellung ab, dass die Sprache im Wesentlichen zur Abbildung nichtsprachlicher Sachverhalte dient. Überhaupt verabschiedet er sich von der Idee, es gäbe eine Aufgabe, der die Sprache als ganze verpflichtet wäre. Wenn es etwas gibt, mit dem der spätere Wittgenstein diese Ideen ersetzt, dann ist es die neue Leitvorstellung, dass die Sprache organisch aus nichtsprachlicher Praxis hervorgegangen ist und auch weiterhin mit ihr konstitutiv verbunden bleibt.17 Ab seiner mittleren Phase versteht Wittgenstein die natürliche Sprache als ein komplexes Spiel, dessen Spielzüge – die sprachlichen Ausdrücke – mit praktischen Verrichtungen im Umfeld ihrer Äußerung – und damit auch mit der Verwendung weiterer Ausdrücke – intern verknüpft sind. Einen ersten Einblick in dieses Sprachverständnis gibt Wittgenstein in den berühmten »Bauarbeitersprachspiel«-Passagen der Philosophischen Untersuchungen.18 Hier stellt er eine Sprachgemeinschaft vor, deren Äußerungen – »Platte!«, »Würfel!«, »Säule!« etc. – verwendet werden, um bestimmte Verrichtungen im Umfeld eines Hausbaus zu koordinieren. Ein Bauarbeiter ruft »Platte!«, woraufhin ein zweiter Bauarbeiter ihm eine Platte bringt und sich das Spiel mit demselben oder einem anderen Ausdruck wiederholt – dies ist alles, und das Spiel läuft ohne konkretes Ende, allerdings mit unbegrenzt vielen Etappenzielen immer weiter. Von fundamentaler Wichtig_____________ 17 Sabina Lovibond betont, dass Wittgenstein nicht der erste Philosoph ist, der ein solches Verständnis der Sprache – sie nennt es »Expressivismus« – entwickelt. Insbesondere werden Herder und Vico als Vorläufer genannt; siehe Lovibond, 1983, 116ff., 166. Da es aber bei letzteren – zumindest innerhalb einer Arbeit wie der vorliegenden – kaum möglich ist, die bedeutungstheoretischen von den vielen anderen Zielen (z.B. den geschichtsphilosophischen, kulturtheoretischen usw.) zu trennen, behandle ich hier Wittgenstein als den Impulsgeber der mich interessierenden philosophischen Tradition. 18 Vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §§2, 6-8, 18-21 u.a.

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keit ist in den fraglichen Passagen, dass das Operieren in der nichtsprachlichen Welt als Hintergrund sprachlicher Äußerungen immer schon vorausgesetzt wird. Wir können in diesem Beispiel Wittgensteins ein negatives und ein positives Ziel ausmachen. Das negative Ziel besteht darin, uns davon abzubringen, Maßstäbe, die für die Bedeutung von Ausdrücken eines bestimmten Bereichs gelten, auf jegliche Sprachverwendung zu extrapolieren (also auf andere Bereiche unserer entwickelten Sprache oder auf ganz andere Sprachspiele). Dies wird vor allem in Wittgensteins anschließender Diskussion deutlich, in der die Vorstellung, die Bauarbeiter-Äußerung »Platte!« sei eine Kurzform des Imperativs »Bringe mir eine Platte!«, als irreführend zurückgewiesen wird. Der Imperativ »Bringe mir eine Platte!« kann, so Wittgenstein, erst im Kontext der Praktiken des Umgangs mit unterschiedlichen Satzarten, des Hinweisens auf verschiedene Personen und des Abzählens von Gegenständen verstanden und also sinnvoll geäußert werden. Da das »Bauarbeitersprachspiel« gerade als ein Sprachspiel konzipiert ist, das diese Praktiken (noch) nicht umfasst, kann seinen Teilnehmern auch nicht die Beherrschung von Ausdrücken wie »bringe«, »mir« oder »eine« oder der grammatischen Form des Imperativs (und damit auch, als Kontrast, vor dem der Imperativ erst als solcher identifizierbar ist, der Konstatierung oder der Frage) zugeschrieben werden.19 Im Rahmen dieser Warnung ist es ebenfalls wichtig zu verstehen, dass die offensichtliche Bedeutsamkeit der Äußerung »Platte!« erläutert werden kann, ohne Begriffe wie »Abbildung« oder »Bezug« ins Spiel zu bringen. Abbildung und Bezug – die tractarianischen Kandidaten bedeutungsgebender Mechanismen neben der internen Beziehung – sind selber erst im Rahmen einigermaßen komplexer praktischer Verrichtungen (etwa des Abzeichnens oder des Einordnens von Gegenständen) zu verstehen, die sich zwar in manchen unserer alltagssprachlicher Kontexte, nicht aber im Bauarbeitersprachspiel finden lassen. Das positive Ziel besteht darin, die Idee der internen Beziehung wieder aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Wenn Wittgenstein versucht aufzuzeigen, dass die Bedeutung eines Ausdrucks auf der fundamentalen Ebene in seinen regelhaften Beziehungen mit praktischen Verrichtungen in seinem Umfeld liegt (und mittelbar auch mit anderen Ausdrücken, die das in die praktische Welt eingebettete Sprachspiel ausmachen – welche allerdings in der einfachen Bauarbeitersprache noch nicht zu sehen sind), _____________ 19 Vgl. v.a. Wittgenstein, 2003d [PU], §20. Die konstitutive Rolle fundamentaler Fähigkeiten wie der des Abzählens oder des Unterscheidens in der Sprachfähigkeit wird auch besonders betont in dem von Wittgenstein maßgeblich beeinflussten Schneider, 1992.

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dann will er zeigen, dass die internen Beziehungen, die im Tractatus nur in der Form logischer Beziehungen zwischen Sätzen vorlagen, nun das gesamte Feld der sprachlichen Ausdrücke durchwirken. Sie machen jetzt die gesamte Struktur des praktischen Sprachspiels aus und haben keinen Gegenpart mehr in der Abbildung nicht-sprachlicher Tatsachen. Was dies bedeutet, sollte mittlerweile klar sein: Wer eine angenommene interne Beziehung missachtet, der zeigt damit, dass er nicht das zunächst vorausgesetzte Spiel spielt und daher neu interpretiert – sprich: übersetzt – werden muss, oder aber, dass er schlichtweg unsinnig spricht bzw. sich unsinnig verhält.20 Der sich durch sein gesamtes späteres Werk ziehende zentrale Gedanke Wittgensteins lautet nun, dass die beiden Lehren uns auch und gerade in der Betrachtung komplexerer sprachlicher Praktiken, inklusive unserer eigenen natürlichen Sprache, vor philosophischen Missverständnissen und Zweifeln bewahren können. Natürlich ist unsere entwickelte natürliche Sprache um ein Vielfaches komplexer als die Sprachspiele, die Wittgenstein in seinen einfachen Beispielen ausstellt. Jedoch hat sie sich nicht nur aus diesen einfachen Spielen entwickelt, sie teilt mit ihnen auch in ihrem aktuellen Stadium den Wesenszug, dass der Sinnhorizont jeglicher Äußerung nicht außerhalb des Spiels liegt, sondern in den Regeln des Spiels selber besteht. Damit soll nicht geleugnet werden, dass wir uns mit unseren alltäglichen Ausdrücken mitunter auf Aspekte der Welt beziehen können. Es wird aber erstens betont, dass sich die Redeweise »sich auf etwas in der Welt beziehen« erst im Rahmen bestimmter, verhältnismäßig anspruchsvoller, praktischer Verrichtungen ergibt (welche fundamentaler sind als der Bezug, und welche in verschiedenen Kontexten der Rede von »Bezug« nicht alle gleich sein müssen). Zweitens wird betont, dass in jenen Fällen die Aspekte der Welt, die in den fraglichen Verrichtungen involviert sind, bereits als in das Sprachspiel integriert verstanden werden müssen. Die Idee des praktischen Eingelassenseins der Sprache in die Welt (in etwa so, wie das Fußballspiel in eine Welt von Fußbällen und Toren oder das Schachspiel in eine Welt von Spielfiguren eingelassen ist21) ist Witt_____________ 20 Es steht uns dann auch frei zu sagen, er handle oder spreche überhaupt nicht, sondern mache bloß Körperbewegungen oder Geräusche. Ich beziehe mich hier auf den Handlungsbegriff, den zuerst Elisabeth Anscombe in ihrem Klassiker Intention ausgearbeitet hat; siehe Anscombe, 2000– mehr dazu im vierten Kapitel. Auf die Rede von Fehlern (oder genauer: von »sinnvollen, aber falschen Äußerungen«) gehe ich weiter unten ein; sie wird auch im Zentrum des folgenden Kapitels stehen. 21 Es ist sicher kein Zufall, dass die Beispiele, mit denen Wittgenstein sein Sprachverständnis zunächst erläutert, aus der Welt des tätigen Umgangs mit Werkzeugen und Baustoffen stammen und insofern an Martin Heideggers Sein und Zeit er-

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gensteins systematische Alternative zur klassischen – tractarianischen – Idee der Abbildungsbeziehung zwischen sprachlichem Zeichen und nichtsprachlicher Welt.22 Nachdem Wittgenstein am Anfang der Philosophischen Untersuchungen sein pragmatistisches Verständnis der Sprache in seinen Grundzügen dargelegt hat, verbringt er fast den ganzen Rest des Werkes, ja: seines gesamten Spätwerkes mit der Zurückweisung zahlloser Varianten des Impulses, in allen möglichen philosophischen Kontexten in klassische Theorien der Sprache zurückzufallen. Wenige philosophische Dränge, so stellt Wittgenstein immer wieder fest, sind so beharrlich wie unser Drang, die Sinnhaftigkeit unserer Ausdrücke im »Bezug« auf außerhalb des praktisch erweiterten Sprachspiels liegende Dinge festzumachen, wahlweise auf »Fakten« oder auf »innere Zustände« (jeweils in einem metaphysisch anspruchsvollen Sinn). Wittgensteins Reaktion ist dabei immer die gleiche: Fakten oder innere Zustände sollen nicht geleugnet werden, aber es soll davor gewarnt werden, die Begriffe »Fakt« und »innerer Zustand« auf eine ihnen fremde Weise zu verwenden und in ihnen metaphysische Standards der Bewertung sprachlicher Ausdrücke per se zu sehen. Hilfreicher ist es, uns die genaue alltägliche Verwendung dieser Begriffe vor Augen zu führen und uns daran zu erinnern, wie sie im Sprachspiel figurieren, also was wir im Sprachspiel mit ihnen anstellen (können).23 Diese grobe Skizze von Wittgensteins pragmatistischem Sprachverständnis erlaubt nun eine erste Vorschau auf das moralphilosophische Potenzial Wittgensteins. Vielleicht ist bereits sichtbar geworden, wie sich _____________ innern. Heideggers Ziele decken sich zu einem kleinen, aber nicht unwichtigen Teil mit denen des späten Wittgenstein; siehe Heidegger, 2006 [1927]. 22 Wenn ich John McDowell richtig verstehe, dann plädiert auch er in seinem Mind and World für diese (oder eine sehr ähnliche) Sichtweise. Doch ob meine Darstellung McDowells Ansichten entspricht oder nicht; in jedem Fall eignet sie sich, wie mir scheint, als Reaktion auf die Sorge, die hinter McDowells Projekt steht: die Sorge nämlich, unseren sprachlichen Äußerungen mangele es an »Reibung mit der Welt«, sie seien nichts als ein »frictionless spinning in a void« (McDowell, 1996, 39, 50). Hans Julius Schneider hat diese Sorge im Gespräch einmal mit dem Satz umschrieben, es gäbe immer nur Speisekarten, aber nichts zu essen. Im folgenden Unterabschnitt wird die pragmatistische Reaktion auf diese Sorge genauer ausgearbeitet. 23 Ein weiteres Argument gegen die Behauptung, der Gehalt sprachlicher Äußerungen würde durch »Fakten« oder »innere Zustände« jenseits von menschlicher Praxis bestimmt, konfrontiert die Behauptung mit einem Dilemma: Entweder die Fakten oder inneren Zustände verfehlen durch ihre essenzielle Interpretationsbedürftigkeit ihr Ziel der Bestimmung von Gehalt, oder aber wir müssen sie per impossibile als selbst-interpretierende Entitäten begreifen. Siehe hierzu Hurley, 1989, Kap. 5. Meines Wissens findet sich dieses Argument nicht bei Wittgenstein.

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mit Wittgensteins Sprachverständnis der Zweifel bezüglich der Rolle von propositionalen Ausdrücken, also Indikativsätzen, in ethischen Kontexten zurückweisen lässt: Wittgensteins wiederholte Forderungen, dass wir uns im philosophischen Nachdenken über sprachliche Ausdrücke auf ihre konkrete Rolle im praktischen Sprachspiel konzentrieren müssen, und dass wir uns nicht von der Vorstellung einer abbildenden Beziehung zwischen Sprache und Welt irreführen lassen sollten, geben den Weg einer Entmystifizierung der ethischen Indikativsätze vor. Mit Wittgenstein lassen sich ethische Sätze und damit ethische Propositionen als integrale Bestandteile unserer sprachlich konstituierten Lebensform und damit unseres Sinnhorizontes verstehen. Auch die praktischen Verknüpfungen ethischer Sätze, also die Tatsache, dass uns das Vertreten eines ethischen Urteils mitunter auch auf nicht-sprachliche Handlungen festlegen kann (sodass das Ausbleiben dieser Handlungen uns als irrational ausweisen würde – zumindest, wenn es nicht mit anderen Sätzen verteidigt wird), sind auf Wittgensteins Sprachverständnis keine erklärungsbedürftigen Abweichungen vom sprachlichen Standard mehr, sondern ein normaler Aspekt gewöhnlicher propositionaler Äußerungen. Mit dem pragmatistischen Verständnis der Sprache bekommen wir auch die Chance einer Zurückweisung des Zweifels bezüglich der Vernünftigkeit ethisch geforderten, aber mit hohen Kosten verbundenen Verhaltens. Die Idee ist, dass die Frage nach Gründen in einem pragmatistischen Sprachverständnis immer die Frage nach internen Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen des praktischen Sprachspiels ist. Wie sich zeigen lässt, ist die Frage nach dem Grund einer Handlung in unserer entwickelten Sprache immer die Frage nach einer intern mit ihr verbundenen Tatsache. Von »Tatsachen« zu reden, heißt aber nur, auf eine bestimmte Weise über Propositionen zu reden. Bisher haben wir vor allem von propositionalen Äußerungen und damit von Spielzügen geredet. Propositionen sind aber auch Status innerhalb des Sprachspiels: Wir sind auf sie festgelegt, ob sie explizit gemacht – geäußert – werden oder nicht.24 Zu sagen, dass wir auf eine Proposition festgelegt sind, heißt freilich, sie als wahr auszuzeichnen. Und wahre Propositionen und Tatsachen sind dasselbe. Aus diesem Grund müssen wir auch nicht davor zurückschrecken zu sagen, dass Tatsachen intern mit Handlungen verbunden sind oder uns Handlungen abverlangen: Vor dem Hintergrund bestimmter Tatsachen _____________ 24 Die Tatsache, dass wir auf bestimmte Propositionen festgelegt sind, ist wichtig. In der vorliegenden Arbeit wird die Lokalisierung des philosophischen Kommentators in der Sprachpraxis an mehreren Stellen thematisiert. Sie informiert die Diskussion des 3. Kapitels und wird dann im 5. und vor allem im 6. Kapitel genau erläutert.

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sind bestimmte Handlungen regelgemäß, also begründet, also vernünftig. Wenn wir nun noch zur Kenntnis nehmen, dass in unseren Sprachspielen zwar unsere Eigeninteressen durchaus als Gründe firmieren können, aber dass diese Gründe sich immer potenziell gegen andere Gründe behaupten müssen (und dass es keinen generellen Grund für die Annahme gibt, erstere gäben immer den Ausschlag), fällt es nicht schwer, mit den hier skizzierten wittgensteinianischen Ressourcen auch den Zweifel bezüglich anspruchsvoller ethischer Forderungen zurückzuweisen. Doch um von dieser Vorschau tatsächlich zur Einlösung des Versprechens zu kommen, aus dem pragmatistischen Sprachverständnis eine Zurückweisung der beiden Zweifel an der ethischen Rede, und damit einen akzeptablen ethischen Objektivismus sowie einen akzeptablen ethischen Rationalismus zu entwickeln, müssen wir das pragmatistische Sprachverständnis noch etwas weiter ausbauen. Hierzu werden wir nun beginnen, im Sinne von Wittgensteins Grundüberzeugungen über Wittgensteins eigene Ausarbeitungen hinauszugehen. 2.3.3 Propositionale Sprachspiele Wenn Wittgenstein in seinen Beispielen vor allem Sprachspiele diskutiert, die nicht – wie unsere Sprache – propositional strukturiert sind, d.h. in denen die Ausdrucksform des Indikativsatzes nicht zur Verfügung steht, so ist der Grund hierfür sicherlich sein Interesse daran, ein Gegengewicht zur klassischen Sprachphilosophie zu setzen. Diese hat, zumindest in den Augen Wittgensteins, nicht nur die praktischen Aspekte der Sprachverwendung, sondern auch die große Vielfalt der sprachlichen Ausdrücke und ihrer Kombinationsweisen immer unterschätzt. Leider hat Wittgensteins Schwerpunktsetzung allerdings dazu geführt, dass sein Werk nicht viel Aufschluss über die genaue praktische Rolle von Indikativsätzen gibt. Dies ist besonders tragisch, da ein falsches Verständnis des Indikativsatzes ein Hauptgrund des schlechten Ansehens der ethischen Sprache ist. Wahrscheinlich hätte Wittgenstein auf dieses Bedauern geantwortet, dass das grammatische Konstrukt des Indikativsatzes tatsächlich auf die verschiedensten Weisen verwendet wird. Ein Satz wie »Es zieht« wird beispielsweise in den meisten Kontexten, in denen er vorkommt, als eine Art Aufforderung oder Bitte verwendet; ein Satz wie »Das hast du gut gemacht« als Lob, und ein Satz wie »Ich verspreche es dir« als Selbstzuschreibung einer (je nach Kontext mehr oder weniger sanktionsbewährten) Festlegung auf eine zukünftige Handlung.25 Jedoch gibt es, wie erst _____________ 25 Die Liste ließe sich ohne Mühe um viele Beispiele erweitern.

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die moderne pragmatistische Sprachphilosophie26 zeigt, unterhalb dieses scheinbaren Chaos eine weitere pragmatische Ebene, auf der Sätze durchaus systematisch funktionieren. Natürlich kommen wir erst in die Nähe der entwickelten Indikativsätze unserer Sprachpraxis, wenn wir eine ganze Reihe weiterer Fähigkeiten und die mit ihnen verknüpften grammatischen Kategorien und Markierungen einführen. Hierzu gehören nicht nur solche Dinge wie die Fähigkeit des Abzählens (und damit die natürlichen Zahlen) oder die Fähigkeit des Wiedererkennens verschiedener individueller Gegenstände (und damit die Eigennamen bzw. die singulären Terme),27 sondern vor allem die Fähigkeit des informellen Schließens von einem Satz auf einen anderen Satz, über welche sogleich mehr zu sagen sein wird. Wichtig – und mit diesen Überlegungen hoffentlich ein wenig klarer – ist aber vor allem, dass eine Untersuchung der pragmatischen Rolle von Sätzen uns keineswegs zurück zu einer Abbildtheorie der Bedeutung trägt, sondern weit weg davon. Zunächst ist zu sagen, dass Indikativsätze (in ihrer uns hier interessierenden Grundform, aus der sich erst später »chaotisch« Sonderformen entwickeln) ihren ersten Ursprung wohl in der Entwicklung der praktischen Trias des Befehls, der Frage und der Antwort haben. Schon im einfachsten »Bauarbeiter-Sprachspiel«, in dem das einzige verfügbare Manöver eine simple Form des Befehls ist, drängt sich die Möglichkeit der Einführung eines neuen praktischen Manövers auf, mit dem Bauarbeiter Informationen anfordern können – etwa darüber, ob von einem Bausteintyp noch Exemplare vorrätig sind.28 (Wir könnten dieses Manöver phonetisch durch eine höhere Stimme am Satzende und symbolisch mit dem Zeichen »?« andeuten, könnten aber auch jede beliebige andere Markie_____________ 26 Ein großer Teil der folgenden Überlegungen stützt sich auf die von Wilfrid Sellars begründete und von Robert Brandom fortgesetzte sprachphilosophische Tradition – siehe Sellars, 2007b,c, 1997, siehe auch Brandom, 1994, 2000a – in der zwar Indikativsätze und die propositionale Rede im Zentrum stehen, jedoch selber auf der Basis fundamentalerer Aspekte des Sprachspiels erläutert werden. 27 Das Interesse an der Einführung und der genauen Struktur neuer Ausdruckstypen und damit neuer Verrichtungen begleitet Wittgenstein durch seine gesamte spätere Schaffenszeit. Explizit diskutiert werden im Kontext des Bauarbeitersprachspiels zum Beispiel Zahlwörter (vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §§8ff., s.a. Wittgenstein, 1974, 79), Ortsangaben (vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §8), Namen (vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §§ 15,28,37,41,49, s.a. Wittgenstein, 2003c [BB], 120) und die Negation (vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §19), an anderen Stellen seines Werkes behandelt Wittgenstein darüber hinaus andere Ausdruckstypen, etwa Längen- und Volumenangaben (vgl. Wittgenstein, 2003b [BGM], I:5, I:148) und verschiedene mathematische Operatoren (Wittgenstein, 2003b [BGM], IV:24, V:26). Eine ausführliche Diskussion findet sich in Schneider, 1992, 268ff. 28 Vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §19.

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rung verwenden.) Dieses Manöver erfordert logisch die Verfügbarkeit eines dritten, komplementären Manövers, mittels dessen die angeforderte Information ausgeliefert wird. (Auch dieses dritte Manöver könnten wir auf bestimmte Weise markieren, zum Beispiel durch eine niedrigere Stimme am Satzende oder durch das Zeichen ».«.) Dieses Manöver, das übrigens aufgrund der Spezifikation des Informationstyps – wir haben das zweite Manöver oben als eine ob-Frage charakterisiert – die praktische Finesse der Negation mit sich bringt, basiert auf der Fähigkeit der differenziellen Reaktion auf bestimmte Reize und ist die Urform des Ausdruckstyps des Satzes. Eine Theorie propositionaler Ausdrücke, die als direkte Weiterentwicklung der wittgensteinianischen Idee der internen Beziehung verstanden werden kann, ist der Inferenzialismus.29 Seine Kernidee besagt, dass Sätze ihren propositionalen Gehalt durch ihre inferenziellen Beziehungen mit anderen Sätzen tragen. Wer wissen will, was ein Satz bedeutet, der muss nach den Sätzen fragen, aus denen er folgt, und nach den Sätzen, die aus ihm folgen. Die relevanten Inferenzen sind dabei materiale Inferenzen. Damit ist gemeint, dass nicht nur formallogische Schlussbeziehungen die Bedeutungen von Sätzen festlegen, sondern auch und in erster Linie Schlussbeziehungen wie der Schluss von »Pittsburgh ist westlich von Philadelphia« zu »Philadelphia ist östlich von Pittsburgh« oder auch den Schluss von »Dies ist ein Hund« zu »Dies ist ein Säugetier«. Zwar wird von Inferenzialisten anerkannt, dass auch nicht-inferenzielle Beziehungen eine bedeutungskonstitutive Rolle spielen – zu den Antezedentien eines Satzes im weiteren Sinn zählen auch nicht-sprachliche Umstände, zu den Konsequenzen eines Satzes zählen auch Handlungen –, jedoch bestehen Inferenzialisten auf der besonderen Rolle von materialen Inferenzbeziehungen zwischen Sätzen. Sie sind, so können wir sagen, die theoretische Alternative der Inferenzialisten zur alten Idee der Abbildungsbeziehung. Für Robert Brandom, der die inferenzielle Theorie des propositionalen Gehalts wie kein anderer ausgearbeitet und verteidigt hat, ist die Praxis des Umgangs mit Indikativsätzen zu verstehen als Spiel mit etwa folgender Struktur: Durch die Zustimmung zu einem Satz nimmt eine Sprecherin eine Reihe von Festlegungen auf sich, nämlich Festlegungen auf den fraglichen Satz sowie auf die aus ihm material folgenden Sätze. Sie verpflichtet sich aber gleichzeitig auch, ihre Berechtigung zu den Festlegungen (zumindest auf Nachfrage) auszuweisen, und kann dies tun, indem sie jene Sätze äußert, aus welchen der Satz, auf den sie sich festgelegt hat, material _____________ 29 Die inferenzialistische Ausarbeitung des pragmatistischen Projektes ist im Wesentlichen die Leistung Sellars’ und seiner Nachfolger, allen voran Brandoms. Siehe Fußnote 26.

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folgt – diese Sätze gelten dann als ihre Begründung. Ihre Berechtigung zur Festlegung auf diese Sätze ist entweder der Standard- (oder auch Default-) Fall30 oder resultiert aus ihrer Berechtigung zur Festegung auf die Gründe dieser Sätze. Sowohl der Status der Festlegung als auch der Status der Berechtigung überträgt sich von Satz zu Satz mittels materialer Inferenzbeziehungen. Diese Übertragung muss dabei nicht intrapersonal verlaufen, sondern kann auch interpersonal verlaufen. Die Äußerung eines Satzes einer Sprecherin (oder die Zustimmung zu diesem Satz) gilt nämlich ebenfalls als Autorisierung anderer Sprecher – genauer: als Autorisierung, sich ebenfalls auf den fraglichen Satz und seine Folgen festzulegen –, wodurch diese anderen Sprecher ein ähnliches Paar aus Verantwortung und Autorität auf sich nehmen. Die interpersonale Berechtigung kann, im Gegensatz zur intrapersonalen Berechtigung, mittels Hinweis auf das Zeugnis des ursprünglichen Sprechers ausgewiesen werden. Jeder Sprecher ist in diesem Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen31 gleichzeitig ein Spieler und ein Schiedsrichter, der sowohl über die Festlegungen der verschiedenen Sprecher (inklusive seiner eigenen) als auch über ihre Berechtigungen (wiederum inklusive seiner eigenen) Buch führt: Ist eine der propositionalen Festlegungen eines Sprechers A inkompatibel mit weiteren Festlegungen von A selbst oder aber mit Festlegungen des Schiedrichters B, so wird B sie als unberechtigt verbuchen und Sprecher A sowie andere Sprecher auf dieses Urteil hinweisen.32 Wie bereits eingestanden, reichen inferenzielle Beziehungen nicht hin, um die Struktur des propositionalen Ausdrucks als Spielzug oder Spielstandaspekt zu erläutern. Was fehlt, ist, dass einige Sätze neben ihren inferenziellen Beziehungen konstitutiv auch in nicht-inferenziellen Beziehungen stehen, durch welche sie mit der nicht-sprachlichen Umwelt verknüpft sind. Diese nicht-inferenziellen Beziehungen begegnen uns in zwei verschiedenen Sorten. Zum einen gibt es nicht-inferenzielle Äußerungsbedingungen, die Sätze an wahrnehmbare Umstände binden. Der Satz »Dies ist ein Hund« ist beispielsweise dann, und nur dann, legitim äußerbar, wenn _____________ 30 Das heißt: Dieser Fall darf angenommen werden, wenn keine expliziten Informationen über den Berechtigungs-Status des Sprechers vorliegen. 31 Die Rede vom »game of giving and asking for reasons« geht auf Wilfrid Sellars zurück; siehe insbesondere Sellars, 2007b,c. 32 Natürlich kann A reagieren, indem er die Festlegungen von B angreift. B kann dann wiederum reagieren und die dem Angriff zugrunde liegenden Festlegungen von A angreifen. Was wir nun vor uns haben, ist eine rationale Diskussion. Eine ausführliche Erläuterung von Diskussionen (und anderen Arten propositionaler Konflikte) findet sich im folgenden Kapitel.

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sein Sprecher sich in einer Situation wiederfindet, in der ein Hund anwesend ist.33 Zum andern gibt es nicht-inferenzielle Äußerungskonsequenzen, die Sätze mit Handlungen verbinden. Zum Beispiel ist der Satz »Hunde müssen angeleint werden« in vielen Situationen intern mit der Verrichtung des Anleinens (auf Seiten der Leser oder Zuhörer des Satzes) verbunden. Natürlich ist das Bündel der aus einem geäußerten Satz erwachsenden Handlungskonsequenzen üblicherweise komplexer: Die meisten Sätze lassen sich auch mit dem Hinweis auf Ausnahmefälle beantworten (im aktuellen Fall zum Beispiel mit dem Satz: »Aber dies ist ein Spürhund, und für Spürhunde im Einsatz gilt die Anleinpflicht nicht«). Worum es mir hier geht, das ist die Tatsache, dass Sätze in unserem komplexen Sprachspiel nicht nur mit weiteren Sätzen intern verbunden sind, sondern dass sie via nicht-inferenzieller Bedingungen und Konsequenzen ebenfalls mit der nicht-sprachlichen Umwelt intern verbunden sind. Mit »intern« ist dabei wiederum gemeint, dass der Bruch einer entsprechenden Beziehung einen Schritt jenseits der Grenzen der Intelligibilität darstellt. Bei einer Sprecherin, die eine solche Beziehung zu brechen scheint, drängt sich also die Notwendigkeit eine Re-Interpretation ihres sprachlichen (und nichtsprachlichen Verhaltens) auf. Mit den vorangegangenen Bemerkungen sollte klar geworden sein, dass die Anerkennung der sprachtheoretischen Rolle von nicht-inferenziellen Beziehungen uns nicht insgeheim zurück zu einer Abbildtheorie der Sprache führt. Zwar können die nicht-inferenziellen Aspekte der Sprache – und zwar sowohl die nicht-inferenziellen Bedingungen als auch die nicht-inferenziellen Konsequenzen propositionaler Äußerungen – als die »Anker« des Spiels des Gebens und Verlangens von Gründen in der nicht-sprachlichen Realität verstanden werden. Immerhin lassen sich Sätze mit dem Hinweis auf nicht-inferenziell relevante Umstände begründen und lassen sich nicht-sprachliche Handlungen durch die Äußerung von Sätzen begründen. Jedoch weist die Anker-Metaphorik nicht in die Richtung einer Abbildtheorie, denn insofern wir die nicht-inferenziellen Beziehungen als interne Beziehungen im erläuterten Sinn verstehen, akzeptieren wir, dass beide der durch sie verbundenen Relata Aspekte des Sprachspiels _____________ 33 Die Arten von Bedingungen der legitimen Äußerung von Sätzen hängen von der Natur des konkreten Sprachspiels ab. Je näher wir der Komplexität unseres propositionalen Sprachspiels kommen, desto komplexere Fähigkeiten werden von den Sprechern verlangt. Ferner sei angemerkt, dass hier bloß eine grobe Skizze der nicht-inferenziellen Verankerung des Sprachspiels in der nichtsprachlichen Umwelt gegeben wurde. Eine vollständige Behandlung müsste etwa pragmatische Kommunikationsprinzipien (etwa die Grice’schen Konversationsmaximen) thematisieren.

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sind. Wir müssen uns von dem Bann der Idee befreien, dass Begründungen auf irgendeine Art aus dem Spiel hinausweisen oder aus einer Außenperspektive heraus erfolgen. Stehe ich vor einer roten Blume und behaupte »Diese Blume ist grün«, so ergibt sich für meine Zuhörer (die wissen, dass ich weder verrückt noch farbenblind noch ein notorischer Lügner bin) ein logischer Drang, meinen Satz – und zwar auch seine Äußerung in vergangenen Situationen – zu re-interpretieren, bis eine Interpretation gefunden ist, mit der meine Äußerung als ein vernünftiges und insofern nachvollziehbares Manöver erscheint. Hier ist die Röte der Blume ebenso Teil des Sprachspiels wie das Abseits Teil des Fußballspiels ist. Um das oben gegebene Versprechen der Entmystifizierung ethischer Propositionen sowie der Begründbarkeit anspruchsvollen ethischen Handelns einzulösen, müssen wir uns noch einen (oben nur kurz angerissenen) Aspekt wittgensteinianischer Philosophie genauer ansehen: die These nämlich, dass wir Theoretiker mit unseren Aussagen über das Sprachspiel selbst Teilnehmer des Sprachspiels sind. Wir können mit unseren Begriffen »Proposition« und »Grund«, und auch mit weiteren Begriffen dieser Familie wie »Tatsache« oder »Wahrheit« folglich nichts anderes tun als das, was alle anderen Teilnehmer der Sprache auch mit ihnen tun. Diese Einsicht fordert von uns, die Rolle der fraglichen Begriffe im Spiel der natürlichen Sprache zu untersuchen. Nach dem aussichtsreichsten mit dem Pragmatismus kompatiblen Verständnis besteht die praktische Rolle dieser Begriffe darin, Aspekte des Sprachspiels explizit zu machen, die ohne sie implizit bleiben würden. Ein Teil dieser These ist bekannt als »Disquotationsthese«34: Im Hinblick etwa auf die Rede von Tatsachen lässt sich leicht absehen, dass eine Sprecherin, die einen Satz mit dem Präfix »Es ist eine Tatsache, dass…« einleitet, genau dasselbe tut wie eine Sprecherin, die einfach nur den Satz ausspricht, der auf das »dass« folgt. »Es ist eine Tatsache, dass die Massentierhaltung umweltschädlich ist« besagt dasselbe wie »Die Massentierhaltung ist umweltschädlich«. Gleiches – oder auf offensichtliche Weise Analoges – gilt für die Begriffe »Wahrheit« und »Grund«.35 Es gibt aber einen zweiten Teil der These, dass die genannten reflexiven Begriffe zur Explizierung von Sprachspielregeln bzw. Sprachspielständen dienen. Die Verwendung der fraglichen Begriffen spielt nämlich auch eine nicht-triviale, also nicht-disquotierbare Rolle. »Peters Aussage, dass es gestern geregnet hat, ist unwahr«, »Peter stellt meteorologische _____________ 34 Siehe Grover u. a., 1975; vgl. Brandom, 1994, Kap. 7. 35 Der Begriff »Proposition« kommt hier nur als Nebenbegriff vor, etwa in: »Es ist eine wahre Proposition, dass…«. Dennoch muss auch seine Bedeutung auf die hier angedeutete Weise erläutert werden.

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Tatsachen oft falsch dar«, »Peters Überzeugungen über das Wetter sind reines Wunschdenken« – all diese Sätze müssen als Manöver innerhalb des Sprachspiels verstanden werden, mit denen Sprecher – oder auch nur mehr oder weniger eingegrenzte Behauptungsmengen dieser Sprecher – als generell zuverlässig oder unzuverlässig dargestellt werden. In diesem Punkt liegt gewissermaßen der metaphysische Clou der Sprachspieltheorie: Wir müssen die reflexiven Begriffe – allen voran »(ist eine) Tatsache« und »Wahrheit« (»ist wahr«) – nicht in erster Linie als Prädikate des Sprachtheoretikers verstehen, und schon gar nicht als Prädikate, mit denen die Sprache in Relation zur nicht-sprachliche Welt verortet wird, sondern akzeptieren, dass ihre Verwendung innerhalb der alltäglichen propositionalen Rede eine Klasse von Manövern darstellt, mit denen Sprecher den Spielstand verändern bzw. einander über angemessene Arten der Spielstandveränderung unterrichten. Die Verwendung dieser Begriffe durch Philosophen unterscheidet sich dabei nicht prinzipiell von ihrer Verwendung durch andere Sprecher.36 2.3.4 Konsequenzen in der philosophischen Ethik Obwohl noch einige wichtige Aspekte der propositionalen Rede unberücksichtigt geblieben sind,37 können wir nun beginnen, den Zweifel bezüglich der Verwendung von Indikativsätzen und anderen propositionalen Ausdrücken in ethischen Kontexten endgültig zurückweisen.38 In dem nun entwickelten Sprachverständnis ist der Satz in erster Linie ein Spielzug und dient in zweiter Linie zur Explikation des regelhaften Hintergrunds des großen Spiels der natürlichen Sprache (auf den wir als Interpreten von Sprachspielmanövern festgelegt sind). Das Spiel ist dabei nicht über Abbildungsbeziehungen mit der Welt verbunden, sondern hat seine nicht-sprachliche Verankerung im Eingelassensein in praktische Verrichtungszusammenhänge (zum Beispiel des Abzählens, des Unterscheidens, des Sortierens nach Farbe, Gewicht, Geruch, usw. usf.). Wer sich auf ein _____________ 36 Die genannten reflexiven Begriffe, allen voran der Begriff der Wahrheit, sind (auf das Spiel der propositionalen Rede beschränkte) Sonderformen der generischen normativen Begriffe (»Korrektheit«, »Richtigkeit« etc.). Im 6. Kapitel gebe ich eine generelle Erläuterung der Semantik von Korrektheits- und Inkorrektheitszuschreibungen. 37 Insbesondere wurde noch nichts über die Rolle von Wörtern, also von subsentenziellen Einheiten gesagt. Auf sie werden wir etwas weiter unten zu sprechen kommen. 38 In einem nächsten Schritt werden wir den Zweifel über die Rationalität ethisch anspruchsvollen Verhaltens zurückweisen.

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solches Sprachverständnis einlässt, wird eventuelle Vorbehalte gegen ethische Sätze als Relikte eines tractarianischen Verständnisses der natürlichen Rede- und Handlungspraxis zurückweisen. Er wird sich nicht länger von der Frage angezogen fühlen, ob die Welt »ethische Tatsachen« beinhaltet und unsere ethischen Äußerungen somit tatsächlich als Ausdrücke von Propositionen (»ethischen Propositionen«) gelten dürfen. Wer aus einer pragmatistischen Perspektive auf die ethische Sprache blickt, der wird bereits dann von ethischen Tatsachen und ethischen Propositionen zu sprechen bereit sein, wenn er feststellt, dass wir in ethischen Kontexten ebenso mit Indikativsätzen operieren wie überall sonst, und dass jene Sätze ebenso als korrekt (wahr) oder inkorrekt (unwahr) behandelt werden, als Prämissen und Konklusionen figurieren, als nicht-inferenziell mit unseren Sinnen zugänglichen Situationen und Handlungen verbunden behandelt werden – und so weiter, und so fort. Die vielleicht bekannteste Anerkennung paradigmatischer ethischer Äußerungen als vollwertige Ausdrücke von Propositionen findet sich in Sabina Lovibonds Buch Realism and Imagination in Ethics. Die üblicherweise in ethischen Belangen verwendeten Ausdrücke, so schreibt sie, »qualify by grammatical standards as propositions«39 und dürfen daher ohne Weiteres als wahrheitsfähige Urteile akzeptiert werden. Auf der Basis von Wittgensteins pragmatistischem Sprachverständnis fordert Lovibond ebenfalls, die philosophische Rede von der »objektiven Realität« auch im Kontext ethischer Propositionen zuzulassen. What Wittgenstein offers us […] is a homogeneous or ›seamless‹ conception of language. It is a conception free from invidious comparisons between different regions of discourse. […] Just as the early Wittgenstein considers all propositions to be of equal value […], so the later Wittgenstein – who has, however, abandoned his previous normative notion of what counts as a proposition – regards all language-games as being of ›equal value‹ in the transcendental sense of the Tractatus. On this view, the only legitimate role for the idea of ›reality‹ is that in which it is coordinated with […] the metaphysically neutral idea of ›talking about something‹. […] It follows that ›reference to an objective reality‹ cannot intelligibly be set up as a target which some propositions – or rather, some utterances couched in the indicative mood – may hit, while others fall short. If something has the grammatical form of a proposition, then it is a proposition: philosophical considerations cannot discredit the way in which we classify linguistic entities for other, non-philosophical, purposes […] Thus Wittgenstein’s view of language confirms us – provisionally, at least – in the pre-reflective habit of treating as ›descriptive‹, or fact-stating, all sentences which qualify by grammatical standards as propositions.40

_____________ 39 Lovibond, 1983, 6ff. 40 Lovibond 1983, pp. 25ff.

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Freilich können ethische Indikativsätze41 (wie alle Indikativsätze) unwahr sein – dies zu sagen bedeutet, uns nicht auf sie festzulegen bzw. uns auf ihr Gegenteil festzulegen –, jedoch gibt es neben dieser Möglichkeit keinen Grund zum Unbehagen an Indikativsätzen in der Ethik. »The only way in which a statement can fail to describe reality is by not being true«42 – dieses Prinzip gilt in der Ethik nicht minder als in allen anderen Bereichen, in denen wir Propositionen verwenden. 2.3.5 Charakteristisches ethisches Vokabular: dick, nicht dünn Es lohnt sich, in einem kleinen Exkurs einige Worte zu dem in ethischen Sätzen charakteristischerweise verwandten Vokabular zu sagen – schon deswegen, da verschiedene philosophische Reaktionen auf die Propositionalität des ethischen Diskurses mit ganz unterschiedlichen Beispielen charakteristischen ethischen Vokabulars beworben werden.43 Während die klassischen Ansätze – sowohl der Logische Positivismus als auch der Non-Kognitivismus als auch die Error Theory als auch die motivationsexternalistischen Realismen – üblicherweise davon ausgingen, dass sich das ethische Standardvokabular in Begriffen wie »gut« oder »schlecht« erschöpft,44 betonen kognitivistische Theorien wie die in dieser Arbeit vertretene Sprachspieltheorie nicht nur die Vielfalt des ethischen Vokabulars, sondern auch seine Fähigkeit, feinkörnigen empirischen Gehalt zu tragen. In ihrem bekannten Essay Modern Moral Philosophy macht Elisabeth Anscombe auf die Zentralität von Begriffen wie »untruthful, unchaste, unjust«45 aufmerksam; Philippa Foot bietet in ihrem Essay Moral Arguments eine Untersuchung des Begriffs »rude« an46; David Wiggins wirbt für das _____________ 41 Achtung: Lovibond ist etwas weniger vorsichtig als wir es sind. In der zitierten Passage behaldelt sie »Indikativsatz« und »Proposition« als Synonyme (zeigt dann allerdings in den Parenthesen ein schlechtes Gewissen – »[propositions,] or rather, some utterances couched in the indicative mood«. 42 Lovibond, 1983, 26. 43 Dieser meta-philosophische Punkt beweist nichts, aber motiviert hilfreiche Interpretationshypothesen. Beispielsweise wird im Folgenden erläutert, dass die klassischen Positionen einen Teil der Plausibilität, die sie zunächst besitzen, aus ihrem Ignorieren der »dicken« ethischen Terme sowie einer falschen Analyse letzterer beziehen. Eine Korrektur dieser Fehler käme aus diesem Grund einem Angriff auf die klassischen Interpretationen gleich. 44 Oft werden die ethischen Standardbegriffe auch in der Trias »ethisch erfordert«, »ethisch erlaubt« und »ethisch verboten« gesehen. 45 Anscombe, 1958, 9. 46 Vgl. Foot, 1959, 507.

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Studium von »evaluative moral propositions typified by ›x is brave‹, ›malicious‹, ›corrupt‹, [of which it would be] either false or senseless to deny that they involve reference to properties in a (real) world«47 und Jonathan Dancy betont Begriffe wie »tasteless, charming, hasty [und] lewd«.48 Kurzum: Kognitivistische Interpretationen unserer ethischen Sprache betonen im Gegensatz zu klassischen non- oder antikognitivistischen Theorien jene Begriffe, welche Bernard Williams als thick ethical concepts bezeichnet hat.49 Nicht nur bestimmt dieses Vokabular de facto den Großteil des alltäglichen ethischen Diskurses50, sondern es macht es uns zudem leicht zu sehen, dass paradigmatische ethische Urteile neben ihren (praktischen) Äußerungskonsequenzen eben auch empirische Äußerungsbedingungen haben, ohne durch diese Kombination logischer Beziehungen irgendwie als philosophisch dubios gelten zu müssen. In einer verhältnismäßig frühen realistischen Sprachtheorie schreibt denn auch Mark Platts: »We detect moral aspects [of a situation] in the same way we detect (nearly all) other aspects: by looking and seeing.«51 Oder mit dem oben eingeführten Vokabular ausgedrückt: Es zeigt sich auf besonders anschauliche Weise, dass paradigmatische ethische Äußerungen durchaus als nicht-inferenzielle Berichte fungieren können, ohne dadurch ihre praktische, handlungsleitende Rolle aufzugeben. Heißt dies jedoch, dass die pragmatistischen, anti-revisionistischen Theorien es sich mit ihrer besonderen Hervorhebung der thick ethical concepts erlauben, nur diejenigen Aspekte der Sprache zur Kenntnis zu nehmen, die ihren vorgefertigten Ansichten entsprechen, und die anderen einfach zu ignorieren? Die Antwort ist nein. Es gibt einen plausiblen Ansatz, mit dem auch dünne ethische Terme in eine kognitivistische und damit objektivistische Theorie der ethischen Sprache eingebunden werden können. Machen wir uns jedoch zunächst das Problem klar. Im Gegensatz zu Begriffen wie »ehrlich« oder »großmütig« sehen wir es Begriffen wie »gut« oder »schlecht« nicht an, dass sie konkrete empirische Äußerungsbedingungen haben. Im Gegenteil, allem Anschein nach ist es logisch – also nach den Regeln des Sprachspiels – nie illegitim, diese Begriffe zu benutzen. Aus diesem Grund haben viele Philosophen die mit ihnen gebildeten Sätze (»X ist gut«, »Y ist nicht gut«) nicht als Ausdrücke von Propositio_____________ 47 Wiggins, 1998, 95. 48 Dancy, 2004, 192. 49 Vgl. Williams, 1984. 50 Einer philosophischen Theorie, die diese Tatsache unberücksichtigt lässt, kann aus diesem Grund mit Wittgenstein eine einseitige Diät von Beispielen vorgeworfen werden (vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §593). 51 Platts, 1979, 247.

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nen, sondern vielmehr als eine Variante von Präskriptionen interpretiert. Mit diesen nur scheinbar propositionalen Äußerungen, so diese Interpretation, geben wir in Wirklichkeit eine Art von Befehlen. Vor diesem Hintergrund lassen sich nun auch die dicken ethischen Begriffe wie »ehrlich« oder »großmütig« in eine non-kognitivistische Interpretation einbeziehen. Der Trick ist, thick ethical concepts als zweigliedrige Begriffe zu analysieren: Sie haben einerseits einen »empirischen« und andererseits einen »wertenden« Anteil. Während ersterer als faktische (und damit interne) Beziehung zwischen Sprache und Welt dargestellt werden kann, so wird letzterer non-kognitivistisch interpretiert, also als Ausdruck einer Präskription (wie auch immer dies im Detail verstanden wird). Der Begriff »gerecht« wird also als aus einem empirischen Teil bestehend verstanden (vereinfachend wahrscheinlich: eine komplexe Theorie über die Verteilung von Gütern), zu dem dann die Information hinzukommt, dass das im ersten Teil spezifizierte empirische Muster gut ist – was (auf der non-kognitivistischen Theorie) dem Ausdruck einer Präskription gleichkommt.52 Doch aus der Perspektive unserer Sprachspieltheorie lässt sich eine überzeugende Alternative anbieten, deren Zentrum in dem Hinweis besteht, dass dünne ethische Terme keinesfalls frei verwendet werden können, sondern genauso durch die Regeln des erweiterten Sprachspiels bestimmt werden wie dicke ethische Terme. Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu zeigen, eine negative und eine positive. Der negative Weg besteht in der einfachen Erinnerung daran, dass auch Befehle oder Bitten durchaus per Rekurs auf Gründe gerechtfertigt werden können (und gerechtfertigt sein sollten!), und dass sie sich prinzipiell mit Argumenten angreifen lassen. Doch dieser Aufweis ist nicht ganz befriedigend. Denn eine Erinnerung daran, dass Präskriptionen sich nicht in jeder Hinsicht von Tatsachenbehauptungen mit empirischen Äußerungsbedingungen abheben, zeigt noch nicht, dass ethische Äußerungen normalerweise vollgültige Tatsachenbehauptungen sind, deren begriffliche Bestandteile ebenso empirisch sind wie die gängigen Prädikate in nicht-ethischen, informativen Aussagen. Hierzu müssen wir den positiven Weg beschreiten. Der positive Weg, eine kognitivistische Interpretation von Sätzen mit dünnen ethischen Termen zu verteidigen, besteht aus zwei Hinweisen. Erstens gibt es nicht nur einen Begriff des »Guten« (beziehungsweise des »Sollens«, des »Richtigen« etc.), sondern für jeden praktischen Kontext einen eigenen. In gewisser Hinsicht ist dies etwas, das uns eigentlich klar sein sollte: »gut« beim Friseur bedeutet etwas anderes als »gut« beim Bäcker, und wenn wir unser Kind mit dem Begriff »gut« loben, weil es sein Zimmer aufgeräumt hat, meinen wir damit etwas anderes, als wenn wir _____________ 52 Der locus classicus dieser Interpretation ethischer Äußerungen ist Hare, 1972.

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eine Politikerin mit dem Begriff »gut« loben, weil sie es versucht hat, einen Wahlkampf ohne unerfüllbare Wahlversprechen zu führen. Zweitens ist jeder konkrete Begriff des Guten von dicken ethischen Begriffen im jeweiligen Verwendungskontext abhängig. Von ihnen erbt er die empirischen Äußerungsbedingungen. Susan Hurley, die diese zweite Idee als erste ausgearbeitet hat, spricht vom Nonzentralismus und illustriert die Interpretation mit einer Analogie aus der Rede von Farben.53 Der Kern dieser Analogie ist die Beobachtung, dass es bestimmte falsche Verwendungen unserer Farbworte gibt, die es logisch ausschließen, dass die fragliche Rede oder Unterhaltung als eine Rede oder Unterhaltung über Farben interpretiert werden kann. Wer beispielsweise von angeblichen Farbtönen wie »rötlich-grün« oder »gelb-violett« spricht, der zeigt dadurch, dass er nicht über Farben, sondern offenbar über etwas anderes (vielleicht auch über gar nichts) redet. Wittgenstein spricht hier von einer Verletzung unserer »Farbgeometrie«.54 Da die komplexe Farbgeometrie, die die Gesamtheit der Sätze über logische Möglichkeiten (»gelb-rot«, »transparent grün«) und Unmöglichkeiten (»gelb-violett«, »transparent weiß«) von Farbtönen darstellt, intern mit dem Begriff der Farbe verbunden ist, können wir nur dann über Farben reden, wenn sich unsere individuellen Farbbegriffe und Farburteile in diese Farbgeometrie einfügen: »Zeigt uns nicht gerade die Farbengeometrie, wovon die Rede ist, dass nämlich von den Farben die Rede ist?«55 Die nonzentralistische These über dünne ethische Terme besagt nun, dass die Beziehung zwischen thin ethical concepts und thick ethical concepts auf genau die gleiche Weise interpretiert werden muss. Dicke ethische Begriffe wie gerecht, liebenswürdig oder unehrlich werden also als die semantische Basis von (in konkreten Kontexten verwandten) dünnen ethischen Begriffen wie gut oder ethisch erforderlich aufgefasst. Ebenso wie der Begriff der Farbe sich erst aus der »Farbgeometrie«, also aus unserer komplexen Theorie der konkreten Farbwörter (und damit aus unseren individuellen Verwendungen der konkreten Farbwörter) ergibt, so ergibt sich ein konkreter Begriff _____________ 53 Vgl. Hurley, 1989, Kap. 2 und 3, insb. 11ff. Hurley erläutert verschiedene Varianten der Thesen; neben der Nonzentralismusthese der Farben wirbt sie für den Nonzentralismus der Logik (der Begriff »gültig« hängt ab von konkreten Schlussmustern wie Modus Ponens oder Modus Tollens) und den Nonzentralismus des Rechts (der Begriff »ist das Recht« hängt ab von konkreten Urteilen der Rechtsprechung). 54 Siehe Wittgenstein, 2003a [BF], III:86. Wir gehen im nächsten Kapitel explizit auf Wittgensteins Bemerkungen über den Farbdiskurs ein. 55 Wittgenstein, 2003a [BF], III:86, Kursivierung durch mich. Etwas vorher heißt es: »Es gibt ja kein allgemein anerkanntes Kriterium dafür, was eine Farbe sei, es sei denn, daß es eine unserer Farben ist.« (Wittgenstein, 2003a [BF], III:42)

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des Guten – und damit auch des Sollens – aus unserer komplexen Theorie der im fraglichen Kontext relevanten dicken ethischen Begriffe (und damit aus unseren einzelnen Verwendungen dicker ethischer Terme). Natürlich kommt es vor, dass verschiedene Sprecher die dicken ethischen Terme unterschiedlich verwenden, sie etwa auf unterschiedliche Personen, Handlungen oder Situationen anwenden. Doch nach der nonzentralistischen These heißt dies nichts anderes als dies: Bevor Sprecher die Aussagen eines Gegenübers bewerten können, in denen dünne ethische Terme vorkommen, müssen sie eine Interpretation seiner dicken ethischen Terme durchführen. Auf der Basis dieser Interpretation können sie dann entweder eine verdeckte Übereinstimmung – also ein komplexes AneinanderVorbei-Reden – oder eine echte Meinungsverschiedenheit erkennen. Da im Gegensatz zum Term »(ist eine) Farbe« der dünne ethische Term »(ist) gut« in verschiedenen Äußerungskontexten unterschiedliche Bedeutungen trägt, also unterschiedliche Begriffe repräsentiert, kann es bei unterschiedlichen Verwendungen verschiedener Sprecher sein, dass die Sprecher sich einfach noch nicht einig darüber sind, in welchem Kontext sie sich befinden, also worüber es für sie genau zu urteilen gilt. Diese Theorie der dicken und dünnen ethischen Terme wird übrigens vor dem Hintergrund eines wichtigen, von Sellars und Brandom ausgearbeiteten Zuges pragmatistischer Sprachphilosophie noch um einiges plausibler, nämlich des pragmatistischen Verständnisses davon, wie Satzbedeutung und Wortbedeutung zusammenhängen.56 Ein wichtiger Zug des pragmatistischen Sprachverständnisses ist, dass das Verständnis von Wörtern dem Verständnis von Sätzen nicht vorausgeht. Vielmehr entstehen beide Fähigkeiten gemeinsam und bleiben fortwährend auf einander angewiesen. Betrachten wir als Beispiel die Zeichenfolge oder das Phonem »Hund« (bzw. »ist ein Hund«) in einem Netzwerk von Sätzen, in dem Hunde in Beziehung mit Pudeln und Säugetieren gebracht werden. Zwar dürfen wir behaupten, dass wir die (kompletten) Sätze nur verstehen, wenn wir wissen, was »Hund« bedeutet. Wir müssen aber ebenfalls anerkennen, dass wir erst durch unsere Fähigkeit im inferenziellen Umgang mit den (kompletten) Sätzen wissen, was »Hund« bedeutet. Wenn eine Sprecherin beispielsweise nicht weiß, dass jeder Pudel ein Hund und jeder Hund ein Säugetier ist, so kann ihr kaum ein Verständnis des Begriffs »Hund« zugeschrieben werden – selbst wenn es ihr gelingen sollte, immer

_____________ 56 Dieses Verhältnis wird oft unter dem Begriff der »Kompositionalität« diskutiert. Siehe Sellars, 2007b,c, sowie Brandom, 1994, Kap. 7. Ich werde diesen Zug des Pragmatismus im nächsten Kapitel noch einmal eingehender diskutieren.

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dann »Hund« zu rufen, wenn sie einen Hund sieht.57 Diese These ist generell (betrifft also alle Begriffe) und widerspricht somit der klassischen – zentralistischen – Idee, dass die Bedeutungen dünner ethischer Terme unabhängig von den Urteilen sind, in denen sie vorkommen, und damit von den dicken ethischen Termen, mit denen sie intern (durch das Vorkommen letzterer in den gleichen Urteilen) verknüpft sind. 2.3.6 Die Ethik als Horizont der Intelligibilität Das im vorangegangenen Unterabschnitt ausgearbeitete Verständnis ethischer Begriffe hat zwei wichtige Konsequenzen. Zum einen lassen sich dünne ethische Begriffe ebenso als an empirische Äußerungsbedingungen geknüpft auffassen wie dicke ethische Begriffe. Auch mit ihnen können wir also nicht-inferenzielle Berichte über unsere Umwelt formulieren. Zum andern taugen dünne ethische Begriffe dazu, Gesamturteile auszudrücken, während dicke ethische Begriffe sich zum Ausdruck von einzelnen Erwägungen eignen, mit welchen Gesamturteile begründet werden. Manchmal ist es insgesamt richtig, etwas zu tun, das zwar (sagen wir) eine Lüge beinhaltet, andererseits aber großzügig ist und Leid mindert – in einem Urteil wie diesem zeigen sich die verschiedenen Rollen dünner und dicker ethischer Terme: Der operative Term im Gesamturteil ist dünn, die Terme in den Sätzen über die relevanten Einzelerwägungen sind dick. Insgesamt unterstützt unser Exkurs über den Zusammenhang zwischen dicken und dünnen ethischen Termen die Idee, dass ethische Urteile eine explizierende Rolle spielen. Wir machen mit ihnen explizit, worauf wir unserem Anspruch nach bereits aus dem Wissen über die mit dicken ethischen Termen ausdrückbaren Situationsaspekte festgelegt sind. Wenn sich diese Interpretation als robust herausstellt, dann hätten wir die Ethik mit der skizzierten Sprachspieltheorie nicht bloß als intellektuell respektable Rede- und Handlungspraxis verteidigt. Wir hätten zudem eine konstruktive These über den ethischen Diskurs entwickelt: Unsere ethische Rede ist nichts weniger als eine Reihe von Manövern, mit denen wir den Horizont der Intelligibilität ausloten. Unser Sprachspiel ist der Rahmen, in dem sprachliche und nicht-sprachliche Handlungen als sinnvoll bezeichnet werden können. Dieser Sinn liegt immer (zumindest mittelbar) in der Verknüpfung mit basalen Verrichtungen. Die ethische Rede nun, also die Aufstellung praktischer Forderungen, ihre Darstellung als praktische Urteile, sowie das daran angeschlossene Spiel des Gebens und Verlangens _____________ 57 Es gibt übrigens keinen Grund zu denken, dass dies nur für generische Sätze (z.B. über Hunde), nicht aber für singuläre Sätze (z.B. über den Hund Fifi) gilt.

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von Gründen, dient der Explizierung dieser Verknüpfungen, also der Regeln des praktisch erweiterten Sprachspiels. Diese Interpretation hätte das Potenzial, mit einem Schlag beide der im letzten Kapitel diskutierten kardinalen Zweifel an der ethischen Rede als Missverständnisse zurückzuweisen. Das Unbehagen an der Propositionalität der ethischen Rede erschiene als bloße Konsequenz einer Sprachphilosophie, die mit der Hinwendung zum Pragmatismus aufgegeben wird. Ebenso das Unbehagen an der Behandlung üblicher ethischer Forderungen als Vernunftforderungen: Mit dem pragmatistischen Verständnis der Praxis des Umgangs mit Gründen (zu der auch das im nächsten Kapitel diskutierte Angreifen von Aussagen über Gründe mit Argumenten und damit mit Gegengründen gehört) ergäbe sich für die Vernunft eine ganz andere Rolle als in den klassischen, egozentrischen und instrumentalistischen Theorien. Zwar können wir die Vernunft weiterhin als die Fähigkeit auffassen, mittels derer wir unser Handeln und Sprechen an den uns vorliegenden Gründen orientieren. Doch auf der Basis des pragmatistischen Verständnisses der Gründe würden wir erklären, dass die Orientierung an Gründen als eine Orientierung an den transzendentalen Regeln des erweiterten Sprachspiels, nicht als Orientierung an den eigenen Interessen verstanden werden muss. Bevor ich zur Diskussion einiger Gegenargumente gegen die entwickelte Interpretation der ethischen Rede komme, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass unsere pragmatistische Zurückweisung des zweiten Zweifels ähnlich vorgeht wie Warren Quinns Arbeiten zur praktischen Vernunft. In seinem Essay Rationality and the Human Good58 argumentiert Quinn gegen »humeanische« Rationalitätsverständnisse, die grob den im ersten Kapitel zurückgewiesenen Rationalitätsverständnissen entsprechen. Sie zeichnen sich nach Quinn dadurch aus, dass sie (1) von fundamentalen desires ausgehen, die ihrerseits nicht rational kritisiert werden können, sondern das Material jeglicher vernünftiger Deliberation ausmachen, und dass sie (2) abgeleitete desires postulieren, welche im Dienst der fundamentalen desires stehen und nur instrumentell kritisiert werden können. Der zentrale Zug des humeanischen Rationalitätsverständnisses ist die These, dass desires zwar als »unmoralisch« ausgezeichnet werden können, aber dass dies nichts darüber aussagt, ob es rational oder irrational ist, die Erfüllung dieser desires anzustreben – oder andersherum: dass bestimmtes Verhalten zwar als rational ausgezeichnet werden kann, dass dies aber nichts über seine moralische Güte aussagt.59 _____________ 58 Quinn, 1993. 59 Vgl. Quinn, 1993, 211.

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In seinem Essay zeigt Quinn, »how hard it is for neo-Humean rationality to maintain its attitude of moral indifference to our choices and ends and still be all the things we want rationality to be.«60 Was ist es nach Quinn, das wir von unserem Vernunftbegriff erfüllt sehen wollen? Unsere fast immer implizite Anforderung an den Vernunftbegriff ist, dass die Vernunft als wichtig für uns ausgezeichnet wird – »indeed, so important that it deserves center stage in normative treatments of action and choice.«61 Es ist diese Anforderung, die es uns nach Quinn verbietet, die Vernunft einfach der Befriedigung eigener Interessen zuzuordnen. In einer treffenden Charakterisierung von Quinns Punkt schreibt Philippa Foot: »[Quinn] pointed out that by [the Humean] account, practical reason, which would concern only the relation of means to ends, would therefore be indifferent to nastiness or even disgracefulness in an agent’s purposes. And Quinn asked, in the crucial sentence of the article, what then would be so important about practical rationality?«62 Sie führt dann aus: This now seems to me to be the correct way of [proving] the rationality of acting, even against desire and self-interest, on a demand of morality. The argument depends on the change of direction that Quinn suggested: seeing goodness as setting a necessary condition of practical rationality and therefore as at least a partdeterminant of the thing itself. Nor is this a quite unfamiliar way of arguing. Many of us are willing to reject a »present desire« theory of reasons for action because we think that someone who knowingly puts his future health at risk for a trivial pleasure is behaving foolishly, and therefore not well. Seeing his will as defective, we therefore say that he is doing what he has reason not to do.63

Zwar ist Foots Verwendung des dünnen ethischen Terms »good« aus der Sicht unserer (nonzentralistischen) pragmatistischen Theorie nicht ohne Probleme.64 Jedoch fängt Foot mit ihrem Hinweis auf die Umkehrung der Untersuchungs- und Argumentationsreihenfolge einen wichtigen Punkt ein, der auch den Kern des hier entwickelten Ansatzes trifft: Sowohl Quinns als auch unser pragmatistischer Ansatz raten von einem Vorgehen ab, das mit einem vorgefertigten Verständnis von der Vernunft (und den Gründen) beginnt und dann fragt, wie es vernünftig (und also optimal begründet) sein kann, gegen sein Interesse zu handeln. Beide Ansätze werben stattdessen dafür, zuerst eine unvoreingenommene Sichtung der alltäglichen Forderungen, Vorwürfe und Befolgungshandlungen vorzunehmen, wie sie sich in unserem Alltag zeigen und uns in einem vortheo_____________ 60 Quinn, 1993, 212. 61 Quinn, 1993, 212. 62 Foot, 2001, 62f. 63 Foot, 2001, 62ff. 64 Quinn selber konzentriert sich aus den genannten (und weiteren) Gründen auf dicke ethische Begriffe wie »shameless« und »contemptible«.

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retischen Sinn durchaus akzeptabel erscheinen, und dann auf dieser Basis ein explizites Verständnis von Gründen zu formulieren, das die Zentralität des Gebens und Verlangens von Gründen in unserem Leben widerspiegelt. Und aus beiden folgt, dass eine scheinbare oder auch vorgeworfene Verletzung von Gründen im Normalfall immer selber mit (weiteren) Gründen verteidigt werden muss, und ansonsten in einem intuitiven, noch genauer zu spezifizierenden Sinn unverständlich bleibt – selbst dann, wenn die Missachtung der Gründe mit einer Neigung (einem desire) in Verbindung gebracht und insofern erklärt werden kann. Die pragmatistische Theorie ist ziemlich weit entfernt von den klassischen Ansätzen der philosophischen Ethik, und so sollte es kaum erstaunen, dass sich bereits an dieser Stelle Gegenargumente ergeben. Die drei wichtigsten von ihnen möchte ich nun diskutieren und zurückweisen.

2.4 Drei Einwände, und was man aus ihnen lernen kann 2.4.1 Stehen Gründe (jedenfalls manche Gründe) nicht in Konflikt miteinander? Das erste Gegenargument beginnt mit der These, dass aus der in diesem Kapitel entwickelten pragmatistischen Theorie der ethischen Rede folgt, dass es keine echten Konflikte zwischen verschiedenen, in einer Situation relevanten begründenden Erwägungen geben kann. In seiner zweiten Prämisse wird darauf bestanden, dass es solche Konflikte aber gibt, woraus dann per Modus Tollens folgt, dass unsere Theorie falsch sein muss. Wir werden auf dieses Argument mit dem Hinweis auf eine Mehrdeutigkeit in der Rede von Konfikten zwischen verschiedenen Erwägungen antworten. Beginnen wir mit einer Skizze des populären Verständnisses von (intrapersonalen65) Konflikten zwischen verschiedenen begründenden Erwägungen, welches hinter dem Gegenargument steht. Ich nenne dieses Verständnis die »Tauziehen-Metapher in der Interpretation miteinander interagierender begründender Erwägungen«, oder einfach die »TauziehenMetapher«. Nach dieser Metapher muss die Interaktion verschiedener begründender Erwägungen als analog mit der Interaktion verschiedener Kraftvektoren verstanden werden. In ihrer am häufigsten anzutreffenden _____________ 65 Genau genommen behandelt die Sprachspieltheorie intra- und interpersonale Konflikte als im Kern identisch. Da dies aber erst im folgenden Kapitel erläutert wird, und da der theoretische Gegner sich im aktuellen Gegenargument auf intrapersonale Konflikte konzentriert, soll auch hier nur von intrapersonalen Konflikten die Rede sein.

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Ausarbeitung ziehen verschiedene Gründe in einem gegebenen Kontext immer in eine von zwei genau entgegengesetzten Richtungen, sodass es letztlich zwei Gruppen von Gründen gibt, von denen eine am Ende den Ausschlag gibt. Die beiden Gruppen unterscheiden sich hier darin, ob sie eine Handlung bzw. Handlungsoption, welche durch einen Indikativsatz ausgedrückt wird bzw. werden kann, unterstützen oder angreifen. Ein populärer Verwandter dieser Metapher besteht in der verbreiteten Idee von »Pro/Contra«-Listen, in denen eine Seite am Ende »gewinnt«. Es sollte klar sein, dass eine Theorie der ethischen Sprech- und Redepraxis, die sowohl theoretische als auch praktische Gründe als interne Beziehungen innerhalb des Sprachspiels sieht, keinen Platz lässt für die Konflikthaftigkeit begründender Erwägungen, wie die »Tauziehen-Metapher« sie darstellt. Im Regelwerk eines Spiels gibt es keine echten Antagonismen, kein echtes Hin- und Hergerissensein zwischen verschiedenen Erwägungen – jedenfalls dann nicht, wenn alle seine Regeln, auch die höherstufigen, in Betracht gezogen werden.66 Vor dem Hintergrund dieser scheinbaren phänomenologischen Schwäche der Sprachspieltheorie, und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die »Tauziehen-Metapher« genau in diesem Punkt stark ist, sollte es keine große Überraschung sein, dass die »Tauziehen-Metapher« in einer ganzen Reihe von Theorien der Ethik firmiert, die mit der Sprachspieltheorie der Ethik inkompatibel sind. Auf dem Feld der metaphysischen Debatte ist hier vor allem der NonKognitivismus zu nennen; auf dem Feld der Rationalitätsfrage sind es die verschiedenen Interessenbefriedigungstheorien. Wie kann nun auf die Sorge geantwortet werden? Nun – indem ein Verständnis der Interaktion verschiedener begründender Erwägungen skizziert wird, das die phänomenologischen Stärken der »TauziehenMetapher« repliziert, ohne selbst auf das Bild des Tauziehens angewiesen zu sein. Die Grundidee unserer Alternative ist, dass die Interaktion einzelner Erwägungen eine logische ist, und dass eine Einzelerwägung in epistemischen Situationen, in denen weitere Erwägungen in Betracht gezogen werden müssen, ihre eigene Begründungskraft zugunsten der logischen Komposition des (praktischen) Gesamtgrundes komplett einbüßt. Wir können ein erstes Verständnis im Kontext eines sehr simplen Sprachspiels entwickeln. Wir wollen uns eine Praxis vorstellen, in der ein sprachlicher Ausdruck, der für das Vorhandensein einer frischen, nach _____________ 66 Ich gehe hier davon aus, dass die Idee des »ethischen Dilemmas« (der AntigoneVariante, siehe Sophokles, 1986) und die Idee der »existenziellen Wahl« (à la Sartre, siehe Sartre, 1989) zwei (miteinander offensichtlich verwandte) Konsequenzen der »Tauziehen-Metapher« sind. Hierzu später mehr.

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Norden weisenden Tierspur steht,67 als Grund dafür genannt werden kann, die Sicherheit der eigenen Behausung zu verlassen und nach Norden zu ziehen. Ebenfalls wollen wir uns vorstellen, dass es in der Praxis einen Ausdruck gibt, der für ein nahendes Unwetter steht, und der seinerseits als Grund dafür genannt werden kann, die eigene Behausung nicht zu verlassen. Wie ist es nun in Situationen, in denen nach den Regeln der Praxis beide Ausdrücke gleichzeitig geäußert werden können, da zwar einerseits eine Tierspur vorliegt, sich aber andererseits ein Unwetter ankündigt? Vertreter der »Tauziehen-Metapher« werben bekanntermaßen für das Bild der in verschiedene Richtungen ziehenden Gründe, von denen am Ende einer gewinnen muss. Aus der Perspektive unseres alternativen Verständnisses wird die Frage nicht anhand der relativen Gewichte der Erwägungen, sondern anhand weiterer Erwägungen entschieden, die mit den bereits genannten Erwägungen in bestimmten logischen Beziehungen stehen. Als Beispiel ließe sich die weitere Erwägung der vermuteten Migrationsgeschwindigkeit der Tierherde einführen: Wenn die Tierherde morgen nicht weit von ihrem jetzigen Aufenthaltsort entfernt ist, dann kann die Jagd auf morgen verschoben werden; wenn sie morgen uneinholbar verschwunden sein wird, dann muss die Jagd sofort stattfinden. Die Rollen der Erwägungen sehen also wie folgt aus: Wenn Tierspur [und keine weiteren Erwägungen], dann Jagd. Wenn Unwetter [und keine weiteren Erwägungen], dann keine Jagd. Wenn Tierspur und Unwetter, dann: wenn hohe Migrationsgeschwindigkeit, dann Jagd; sonst: keine Jagd.

Die Idee ist, dass dieses Bild der Interaktion von begründenden Erwägungen – das auf offensichtliche Weise die Kraftvektor-Analogie komplett vermeidet – die gesamte Praxis des Gebens und Verlangens von Gründen beschreibt, nicht nur diejenige unserer kleinen Phantasiepraxis. Dieser Gedanke wird insbesondere dann plausibel, wenn wir uns klar machen, wie leicht es ist, das soeben skizzierte Begründungstableau um weitere Erwägungen – zum Beispiel des Hungergrades, der aktuellen Frequenz von Tiersichtungen oder der Jahreszeit – und damit um weitere, beliebig komplexere Konditionalsätze zu erweitern, bis wir bei einer Sprache des Komplexitätsgrades unserer natürlichen Sprache ankommen. Tatsächlich können wir auf der Basis unseres alternativen Verständnisses der Begrün_____________ 67 Genau genommen (d.h. ohne Rekurs auf den Bezugsbegriff) müssten wir sagen, dass es zu den nicht-inferenziellen Äußerungsregeln des Ausdrucks gehört, dass letzterer (in assertorischer Absicht) dann, und nur dann, geäußert werden darf, wenn eine nach Norden weisende Tierspur erkannt wird. Entsprechendes gilt für den nächsten Beispielausdruck.

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dungspraxis nun auch zeigen, wie in bestimmten Entscheidungssituationen ein Anschein von Antagonizität entstehen kann. Auf der Basis der Theorie der logischen Verknüpfung verschiedener begründender Erwägungen ließe sich dann von Antagonizität sprechen, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Zum einen muss es eine Erwägung geben, die (in bestimmten Situationen, als freistehende Äußerung genannt) als Grund für eine bestimmte Handlungsoption firmieren kann, während es eine andere Erwägung gibt, die (in bestimmten anderen Situationen, als freistehende Äußerung genannt) als Grund gegen die Handlungsoption firmieren kann. Zum andern müssen wir es mit einer Situation zu tun haben, in der beide Erwägungen gleichzeitig relevant sind und die ein Gesamturteil verlangt. (Das Gesamturteil muss natürlich in die eine oder andere Richtung ausschlagen.) Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, ist es nicht unnatürlich, die beiden Erwägungen als »in verschiedene Richtungen ziehend« aufzufassen. Der Drang zu einer solchen Formulierung ist besonders stark – und besonders nachvollziehbar – in Situationen, in denen es (noch) nicht klar ist, welche weitere(n) Erwägung(en) zu den beiden Erwägungen hinzutreten, also wie das komplexere konditionale Urteil aussieht. Dies kann daran liegen, dass bestimmte Informationen (noch) nicht vorliegen, oder auch daran, dass die Entscheidungssituation emotional besonders kräftezehrend ist – oder einfach daran, dass der Akteur vor der Entscheidung noch nicht genug nachgedacht hat. Bevor wir dieses alternative Verständnis der Interaktion verschiedener Erwägungen explizit in ethischen Kontexten betrachten, sollte noch eine wichtige theoretische Konsequenz zur Kenntnis genommen werden. Wir haben gesehen, dass eine einzelne Erwägung streng genommen nur in jenen Situationen als Grund genannt und akzeptiert werden kann, in denen weitere Erwägungen nicht als relevant gelten. In letzteren Situationen verliert die Erwägung ihren begründenden Charakter zugunsten eines logisch komplexeren begründenden Konditionalsatzes. Dies bedeutet aber, dass unsere Theorie die These beinhalten muss, dass zur praktischen Kompetenz ein (implizites oder explizites) Wissen gehört, in welcher Situation welche Erwägungen als relevant betrachtet werden müssen. Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich für ein historistisches Verständnis dieser These werben, nach dem ein Sprachspiel im Laufe der Zeit immer komplexer wird, da die zu berücksichtigenden Erwägungen immer zahlreicher und die zu durchdenkenden begründenden Konditionalsätze folglich immer länger werden. An dieser Stelle ist es nur wichtig zu sehen, dass wir uns diese Konsequenz durchaus leisten können. Auch in nicht-ethischen Kontexten ist es häufig der Fall, dass die Sprachfähigkeit – die Urteilskraft – mit einem Wissen darüber steht und fällt, welche Faktoren (in einem bestimmten Kontext) berücksichtigt werden müssen und welche nicht.

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Wenn vor uns ein Behälter mit Tee steht, dann ist es gewöhnlich falsch zu sagen »dies ist Wasser« – gewöhnlich, denn im Kontext eines Klärwerks wird Tee durchaus als Wasser behandelt. Es sind die weiteren praktischen Aspekte der Situation, die den Unterschied ausmachen. Wir wollen nun das hier skizzierte Verständnis der Interaktion verschiedener Erwägungen mit der bereits eingeführten Rede von »dicken« und »dünnen« ethischen Termen zusammenbringen. Denn die Sprachspieltheorie kann gegen den aktuellen Vorwurf mit der These verteidigt werden, dass sich die einzelnen Erwägungen, die in einfachen Situationen als Gründe fungieren können und die in komplexen Situationen als Komposita im Antezedens des konditionalen Gesamturteils firmieren, üblicherweise in der Gestalt von dicken ethischen Termen äußern, während die Prädikate der Gesamturteile dünne ethische Terme sind. Wie oben bereits geschildert, ist diese Sichtweise mit zwei zentralen interpretativen Thesen verknüpft. Erstens: Ein dünner ethischer Begriff wie »gut« kann zwar als empirischer Begriff (mit konkreten nicht-inferenziellen Äußerungsbedingungen) verstanden werden, in diesem Fall muss aber anerkannt werden, dass es zahllose verschiedene Prädikate »gut« gibt – in jedem Kontext (der durch die in ihm relevanten dicken ethischen Terme markiert ist) ein je eigener. Zweitens: Die Bedeutung eines dünnen ethischen Begriffs in einem konkreten Kontext ist semantisch abhängig von den im fraglichen Kontext relevanten Urteilen mit dicken ethischen Termen. Aus diesen Festlegungen folgt, dass zwei Sprecher, die sich in einem propositionalen Konflikt über ein »gut«-Urteil befinden, erst einige Verständigungsarbeit leisten müssen, um überhaupt den Status ihres Konfliktes ermitteln zu können. Nicht nur besteht die Möglichkeit eines Missverständnisses. Auch im anderen Fall ist alles andere als klar, wo der genaue Ort der Meinungsverschiedenheit liegt.68 Bevor wir uns dem zweiten Gegenargument gegen die Sprachspieltheorie stellen, soll noch ein letzter Punkt angesprochen werden. Es gibt Philosophen, die sich auch von der soeben diskutierten Theorie der Interaktion von Gründen nicht überzeugen lassen, von der »TauziehenMetapher« Abstand zu nehmen. Der Grund ihres Festhaltens besteht darin, dass sie die Möglichkeit von Dilemmata beibehalten wollen, in denen ein Akteur, egal wie er sich in einer Situation entscheidet, Tadel für seine jeweilige Entscheidung in der fraglichen Situation verdient.69 Dieses Ar_____________ 68 Mehr dazu im dritten Kapitel. Eine dritte interpretative Möglichkeit neben einer Meinungsverschiedenheit und einem Missverständnis wird im zweiten Teil dieser Arbeit eingeführt. 69 Siehe Williams, 1966, 1993. Vielleicht gibt es auch positive Dilemmata, in denen ein Akteur bei beiden möglichen Entscheidungen besonderes Lob verdient.

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gument hat allerdings eine offen Flanke: Bisher ist es schlechterdings nicht gelungen, ein einigermaßen unkontroverses Beispiel zu finden. Bei allen bislang vorgeschlagenen Dilemmakandidaten (von Sophokles’ Antigone70 bis zu Sartres Widerstandskämpfer71) scheint eine nicht-dilemmatische ReInterpretation möglich zu sein, deren Attraktivität sich gewiss der großen Plausibilität des Sollen-Impliziert-Können-Prinzips verdankt: Lob und Tadel müssen immer an die Handlungsmöglichkeiten des Adressaten angepasst sein, und für die Unterlassung einer Handlung, die einem Akteur de facto nicht offensteht, kann er kaum Tadel verdienen. Freilich könnte der Dilemma-Theoretiker einwenden, dass Lob und Tadel überhaupt nicht vom Können oder Nichtkönnen von Akteuren abhängig gemacht werden sollten. Doch wenn er dies tut – und damit kommen wir zum zweiten Punkt –, dann verfehlt er das alltagssprachliche Verständnis vom »Tadeln« bzw. »Loben«. Der angeblich bei beiden Handlungsalternativen angemessene Tadel kann jedenfalls nicht – wie es normalerweise der Fall ist – intern mit einer Unterlassung (oder in Bezug auf andere Akteure: der Abwehr oder dem Versuch der Verhinderung) der Handlung verbunden sein. Somit zeigt sich in der Rede des DilemmaTheoretikers ein Tadelbegriff, der, anders als das alltagssprachliche Verständnis vom Tadeln, nicht direkt mit nicht-sprachlichen Handlungen verbunden ist. Wir können insgesamt folgern, dass der Einwand von der Antagonitizität verschiedener begründender Erwägungen scheitert. 2.4.2 Sind Gründe (jedenfalls manche Gründe) nicht persönlich? Ein zweites Argument beginnt mit der Feststellung, dass Gründe nach der an Wittgenstein orientierten Sprachspieltheorie der Ethik ihrem Wesen nach öffentliche – zumindest veröffentlichbare – Aspekte des geteilten Sprachspiels sind. Die Hauptprämisse des Arguments lautet, dass die Theorie damit einen wichtigen Aspekt unserer alltäglichen Praxis des Gebens und Verlangens von Gründen ignoriert: die Tatsache nämlich, dass unsere Gründe (zumindest einige unserer Gründe) zutiefst persönliche Angelegenheiten sind. Unsere Theorie muss aus diesem Grund, so die Konklusion des Arguments, revidiert oder zurückgewiesen werden. Freilich ist die Rede von der »Persönlichkeit« von Gründen mehrdeutig, und mindestens zwei Vorstellungen, die sich hinter ihr verbergen, sollten klar unterschieden werden – nicht zuletzt, weil die erste der beiden Vorstellungen schon scheitert, bevor die Diskussion richtig beginnt. Fan_____________ 70 Siehe Sophokles, 1986. 71 Sartre, 1989.

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gen wir mit der ersten Vorstellung an, um sie beiseitelegen zu können. Nach ihr sind Gründe in dem Sinn persönlich – können jedenfalls persönlich sein –, dass sie private Objekte sind, ähnlich wie Interessen oder Wünsche (nach einer klassischen Auffassung) private Objekte sind: Während wir unsere jeweils eigenen Interessen oder Wünsche unmittelbar und unfehlbar erkennen und wiedererkennen können, so ist unser Zugang zu den Interessen und Wünschen anderer Menschen notwendig vermittelt durch das öffentliche Verhalten (inklusive des Sprachverhaltens) dieser Menschen. Der Gedanke, dass dies auch in Bezug auf Gründe gesagt werden kann, ist ohne Zweifel weit verbreitet – allerdings können wir hier kaum von einem Gegenargument sprechen. Denn letztlich verbirgt sich in dem Gedanken nicht viel mehr als der Unglauben, dass die Konklusion der in diesem Kapitel entwickelten Theorie korrekt sein kann. Die Behauptung der Falschheit einer Konklusion ist aber kein Gegenargument. Eine verwandte Behauptung, die noch am ehesten als eine Basis eines Arguments gegen die angeblich illegitime Unpersönlichkeit der vorgestellten Theorie interpretiert werden kann, ist der Hinweis darauf, dass einige Gründe auf somatische Zuständen wie Hunger oder Durst basieren, welche ihrerseits auf offensichtliche Weise privat (im genannten Sinn) sind. Genau besehen taugt jedoch auch dieser Hinweis nicht als Fundament eines Gegenarguments. Das Problem an ihm ist nicht bloß, dass er nur für manche Gründe gilt. Es wird zudem übersehen, dass zur Begründung vorgebrachte Hinweise auf somatische und insofern innere Zustände immer durch weitere begründende Erwägungen unterstützt oder angegriffen werden können. Auch »somatischen« Erwägungen können wir nur dann begründende Kraft zuschreiben, wenn sie im argumentativen und damit öffentlichen Widerstreit bestehen können. Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass etwa die Erwägung des Hungers einer bestimmten Person durchaus gegen andere Erwägungen verlieren kann (vielleicht gegen die Erwägung der Unhöflichkeit, etwas während einer Theateraufführung zu essen, oder die Erwägung, dass jemand anderes größeren Hunger hat).72 Wie oben erläutert, verliert eine Erwägung in diesem Fall ihre begründende Kraft zugunsten des sie ablösenden Gesamtgrundes. Freilich kommt es vor, dass das Handeln eines bestimmten Menschen auch dann noch per Hinweis auf somatische Zustände erklärt und mitunter auch entschuldigt werden kann, wenn der Hinweis als Begründung oder Rechtfertigung argumentativ scheitert. Doch dies unterstreicht nur den Unterschied zwi_____________ 72 Zu diesem Punkt wird im 3. und 4. Kapitel der vorliegenden Arbeit mehr zu sagen sein.

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schen Begründung und Erklärung und sagt nichts über die angeblich persönliche Natur (mancher) Gründe.73 Möglicherweise ist es hilfreich, sich an dieser Stelle die Analogie mit einer zentralen epistemologischen Frage des letzten Jahrhunderts vor Augen zu führen. In der Epistemologie wurde immer wieder die Idee formuliert, dass Überzeugungen letztlich unter Hinweis auf Sinnesdaten gerechtfertigt werden müssen. Ganz ähnlich wie im aktuellen Kontext lautet das schlagende Argument gegen diese These (vertreten von Philosophen wie Wilfrid Sellars oder Michael Williams74), dass von einer Rechtfertigung nur dann gesprochen werden kann, wenn die Sinnesdaten als propositional strukturiert aufgefasst werden. Wenn dies eingestanden wird, verlieren sie jedoch notwendig ihre intrinsisch persönliche, nicht-veröffentlichbare Natur und erscheinen als das, was sie sind: Erwägungen innerhalb der öffentlichen Debatte, in der sie mit anderen Erwägungen (zum Beispiel solchen über die Möglichkeit optischer Täuschungen) zusammenwirken. Damit können wir zur zweiten Interpretation der Unpersönlichkeitssorge kommen. Nach ihr sind Gründe in dem Sinn persönlich (oder können es zumindest sein), dass in ihrer Spezifikation (bzw. in ihrer Verteidigung im Falle von Anzweiflungen) konkrete Personen genannt werden können.75 Wir alle haben Gründe, bestimmte Dinge für andere Menschen zu tun (und bestimmte Dinge im Interesse anderer Menschen zu unterlassen), und einige dieser Handlungsgründe (oder Unterlassungsgründe) haben klar spezifizierte Adressaten. Ich habe besondere Pflichten gegenüber meinen Eltern, die ich gegenüber ihren Nachbarn nicht habe; meine Eltern haben besondere Pflichten mir gegenüber, die sie gegenüber meinen Nachbarn nicht haben. Tatsächlich ist die soziale Welt durchzogen von besonderen Beziehungen und insofern auch von besonderen – persönlichen – Gründen. Welche Beziehungen hier relevant sind und welche nicht, das ist eine schwierige substanzielle Frage der normativen und angewandten Ethik, aber dass es solche Beziehungen gibt und dass Eltern-Kind-Beziehungen paradigmatische Fälle letzterer sind, kann _____________ 73 Wir werden im 4. Kapitel der vorliegenden Arbeit genauer auf die Unterschiede zwischen der Rede von Gründen und der Rede von Ursachen eingehen. 74 Siehe Sellars, 1997, Williams, 1977. 75 Siehe z.B. Williams, 1981, 18 oder Leist 2000, 332ff. Mir scheint, dass dieser Gedanke auch die in der früheren Frankfurter Schule vertretene Kritik an der »Vernunftmoral« (Adorno) Kantischer Prägung motiviert, wobei allerdings von den Mitgliedern der Frankfurter Schule nicht nur auf konkrete Personen, sondern auch auf konkrete Projekte, mit denen wir affektiv verbunden sind, als von der »Vernunftmoral« ignorierter Gehalt von Gründen hingewiesen wird. Siehe hierzu Menke, 2004, 146ff.

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schwerlich geleugnet werden. Die Sorge ist nun, unsere Theorie lasse keinen Platz für solche besonderen Beziehungen zwischen Menschen. Doch wenn dies der Kern des Einwandes ist, dann kann aus der Perspektive der wittgensteinianischen Theorie eine überzeugende Antwort gegeben werden. Es lässt sich nämlich nur dann von einer wirklichen Unvereinbarkeit sprechen, wenn mit »Persönlichkeit« gemeint ist, dass in der Spezifikation eines Grundes ein Eigenname erwähnt werden muss. Dies allerdings ist eine viel zu starke Forderung, und besondere Beziehungen können durchaus auch von einer Theorie eingefangen werden, die diese Forderung nicht erfüllt. Um Raum zu schaffen für persönliche Beziehungen der Art, wie sie unsere soziale Welt ausmachen, muss es nur möglich sein, dass bei der Spezifikation (bzw. Verteidigung) von Gründen Beziehungstypen sowie persönliche Pronomen genannt werden. So kann ein Vater seinen Kindern gegenüber besondere Pflichten haben, die er gegenüber anderen Kindern nicht hat. Sollte eine Entscheidung eines Vaters zugunsten seiner Kinder (und gegen die Interessen anderer Kinder) argumentativ angegriffen werden, so kann er mit dem Hinweis auf die besondere Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern antworten. Dieser Beziehungstyp ist universell nur in dem Sinn, dass jeder, der bestimmte, unpersönlich formulierte Bedingungen erfüllt, ihn instantiieren kann – er ist aber persönlich in der Hinsicht, dass alle, die diesen Beziehungstyp tatsächlich instantiieren, besondere Gründe mit eindeutigen Adressaten haben. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese Art von persönlichem Grund in unserer wittgensteinianischen Theorie keinen Platz fände. 2.4.3 Sind falsche Handlungen (jedenfalls manche falschen Handlungen) nicht ebenso intelligibel wie richtige Handlungen? Schließlich kommen wir zu einer dritten argumentativen Strategie gegen die Sprachspieltheorie der Ethik. Ihre Anhänger bestehen darauf, dass falsches Handeln – also Handeln, das unter Berücksichtigung aller relevanten begründenden Erwägungen nicht optimal begründet, unter Umständen sogar grundfalsch ist – ebenso intelligibel sein kann wie richtiges und damit zustimmungswürdiges Handeln. Da die in diesem Kapitel entwickelte Theorie diese Tatsache nicht wiedergeben kann, muss die Theorie revisionsbedürftig bzw. falsch sein. Neben diesem »phänomenologischen« Punkt (»phänomenologisch«, da sich in seinem Kern der Hinweis auf die »wahrgenommene« Intelligibilität schlechten Handelns verbirgt) gibt es noch ein internes Argument. Dies ergibt sich daraus, dass auf der pragmatistischen Theorie eigentlich erst von Handlungen gesprochen werden kann – im Gegensatz zu bloßem Verhalten bzw. Geschehen –,

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wenn sich das entsprechende Verhalten im Raum der Gründe verorten lässt, also wenn Gründe für das Handeln identifiziert werden können. Genau genommen kann daher – auf der Sprachspieltheorie – gar nicht von »falschem Handeln« gesprochen werden. Dies müssen wir aber tun, wenn wir das Handeln kritisieren wollen; und für die Möglichkeit von Kritik muss eine pragmatistische Theorie gewiss Raum schaffen. Es ist wichtig zu verstehen, dass der phänomenologische Punkt durchaus aus einer Alltagserfahrung erwächst, die nicht einfach als Illusion zurückgewiesen werden kann: Nach einem falschen, kritikwürdigen Verhalten ist es normal zu fragen, warum, wozu oder aus welchen Gründen die fragliche Handlung ausgeführt wurde, und wir haben hier durchaus das Gefühl, mit einer Antwort die Handlung besser verstehen zu können. Nicht zuletzt zeigt sich dies darin, dass es nach einem schweren Verbrechen – etwa einem Amoklauf – nie lange dauert, bis in den Zeitungsschlagzeilen die plakative Frage »Warum?« auftaucht. Doch auf das Argument vom Konflikt zwischen der Sprachspieltheorie und der alltäglichen Erfahrung der Intelligibilität falschen Verhaltens gibt es eine Antwort. Wiederum gilt es, eine Mehrdeutigkeit zu bemerken; diesmal in der Rede von »Intelligibilität« und »Verstehen«. Hierzu ist die im letzten Abschnitt diskutierte Unterscheidung zwischen einzelnen begründenden Erwägungen (die oft mit dicken ethischen Termen formuliert werden) und praktischen (Gesamt-)Urteilen (die mit dünnen ethischen Termen formuliert werden) zu wiederholen. Wie wir gesehen haben, können beide als Gründe bezeichnet werden, wobei allerdings beachtet werden muss, dass eine einzelne Erwägung, welche in einem bestimmten Kontext als Grund fungiert, im Zusammenspiel mit anderen Erwägungen ihre eigene begründende Funktion zugunsten des logisch komplexen Gesamtgrundes einbüßt. Mit dieser Idee kann sowohl auf den phänomenologischen Punkt als auch auf das interne Gegenargument (»Wie können wir von falschem Handeln sprechen, wenn Handeln per definitionem begründet, also richtig, sein muss?«) geantwortet werden: Ein Verhalten hat eine gewisse Intelligibilität bereits dann, wenn es Einzelerwägungen gibt, die (in bestimmten, einfachen Situationen) für sie sprechen (würden), selbst wenn das Verhalten insgesamt, im Kontext aller anderen relevanten Erwägungen als falsch zurückgewiesen werden muss. Und diese Form von Intelligibilität reicht zur Behandlung des Verhaltens als genuines Handeln aus. In diesem Zusammenhang dürfen wir sogar an Fälle denken, in denen eine einzelne begründende Erwägung nur unter wilden, kontrafaktischen Annahmen einen plausiblen Gesamtgrund darstellen würde. Der sich nun ergebende Begriff von Intelligibilität – wir können von »kontrafaktischer Intelligibilität« sprechen – scheint in Fragen wie jener berührt zu sein,

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»warum« etwa ein Amoklauf begangen wurde. Seine Rolle zeigt sich somit auch in den Informationen, die als Antworten auf solche Fragen akzeptiert werden. Bei einem Amoklauf könnte die Antwort auf die »Warum?«Frage etwa besagen, dass der Amokläufer in seinem Wahn alle Passanten für Mitglieder einer Verschwörung gegen ihn angesehen hat. Unter der kontrafaktischen Annahme einer tatsächlichen universellen Verschwörung gegen ihn wäre sein Verhalten durchaus wohlbegründet, und nichts anderes ist die »Intelligibilität« und damit die Handlungsfähigkeit, von der wir auch bei Geisteskranken sprechen. Ähnlich wie oben gilt: Es ist nicht unplausibel, die interne Beziehung zwischen dem Begriff der Handlung und dem Begriff des Grundes so zu interpretieren, dass letzterer auf die skizzierte Weise kontrafaktisch erweitert ist. Es gibt noch eine zusätzliche Erwägung, die als Antwort auf den phänomenologischen Einwand – allerdings nicht auf das interne Argument – taugt. Manchmal wird eine Handlung auch dann als »verständlich« bezeichnet, wenn sie zwar nicht maximal oder auch nur einigermaßen gut begründet ist, wenn stattdessen aber bekannt ist (oder eine Hypothese darüber vorliegt), welcher nicht-rationale Mechanismus für die Handlung kausal verantwortlich ist. Dieser Begriff von »verständlich« kann auch dann verwendet werden, wenn der fragliche Akteur selber weiß, dass seine Handlung nicht optimal begründet ist. Im diesem Sinn heißt »verständlich« dann eher so etwas wie »nachvollziehbar, wenn konkrete Willensschwächen in Betracht gezogen werden«. Der Griff zur Zigarette ist hier das vielleicht beste Beispiel: Er ist zwar zumeist schlecht begründet bzw. begründbar, sollte aber wohl dennoch als »intelligible Handlung« durchgehen, da wir mit ihm und mit den ihm zugrunde liegenden Willensschwächen selber nur zu gut vertraut sind. Hier ist allerdings anzumerken, dass Fälle, bei denen wir von dieser Verständlichkeit sprechen wollen, gewöhnlich auch die oben skizzierte kontrafaktische Intelligibilität aufweisen, und dass die irrationale Verständlichkeit alleine nicht ausreicht, um ein Verhalten als echte Handlung im Sinne der pragmatistischen Sprach- und Praxistheorie auszuzeichnen. Mit diesen Erklärungen, die jeweils eine Feinheit der Grammatik des Begriffs »verstehen« (bzw. »Intelligibilität«) klären, können wir der These entgegenkommen, dass auch falsches Verhalten »intelligibel« sein kann, dabei aber am intellektuellen Kern der Theorie – nämlich der Idee, dass die Ethik als Horizont der Intelligibilität des erweiterten Sprachspiels angesehen werden muss – festhalten. Im ursprünglichen und strikten Sinn bedeutet die Bezeichnung eines Handelns als »gut« oder »richtig«, dass es im Rahmen des vorausgesetzten erweiterten Sprachspiels optimal begründet und insofern vollständig rational ist. »Schlechtes« Handeln ist jenes, das nicht mit Gründen, sondern nur mit Ursachen erklärt werden kann. In

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Bezug auf Personen, die den Anspruch haben, vollwertige Teilnehmer am praktisch erweiterten Sprachspiel zu sein, läuft dies darauf hinaus, ihr Handeln mit Fehlern zu erklären. Bei ihnen muss Unwissen, fehlerhaftes Denken oder Willensschwäche zugeschrieben werden. Eine etwas andere, aber verwandte, Variante der Kritik wollen wir noch diskutieren. Sie beginnt mit der Forderung an Theorien der Ethik, den Unterschied zwischen strikt erfordertem Handeln einerseits und lobenswertem (aber nicht notwendigerweise erfordertem) Handeln andererseits wiederzugeben.76 Die These, dass sich hier ein Problem der Sprachspieltheorie ergibt, basiert auf dem Eindruck, die Sprachspieltheorie leugne oder ignoriere den Unterschied. Dieser Sorge kann auf zwei Weisen begegnet werden. Erstens kann die Unterscheidung selbst hinterfragt werden. Zweitens lässt sich zeigen, dass die Sprachspieltheorie eine (unschuldige) Variante der Unterscheidung durchaus wiederzugeben vermag. Beginnen wir mit der ersten Antwort. Die Unterscheidung zwischen strikt erfordertem Handeln und lobenswerten, aber nicht erfordertem Handeln ist keine Leitunterscheidung, an der sich jede Theorie der Ethik messen lassen muss. Nicht nur ist sie weniger tief in unserer Alltagsrede verwurzelt, als es scheinen mag. Sie kann vor allem als pragmatische Ungleichbehandlung verstanden werden, mittels derer Adressaten von Lob und Tadel motiviert werden, sich gemäß ihrer Gründe zu verhalten, wenn das bloße Vorliegen oder die bloße Nennung von Gründen dazu schlechterdings nicht ausreichen. Beides wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass wir im Alltag mit den verschiedenen Kategorien ethischer Urteile – mit strikten Erfordernissen, deren Erfüllung kein Lob, deren Verletzung aber Tadel verdient einerseits, und mit Aufforderungen zu lobenswerten Handlungen, deren Unterlassung keinen Tadel verdient, andererseits – erstens nicht gerade konsistent umgehen und dass wir sie zweitens nicht nur vom Fähigkeitsniveau, sondern auch (und gerade) vom Rationalitätsniveau der Adressaten unseres Lobes und unseres Tadels abhängig machen. Aus diesem Grund loben wir etwa Kinder für Handlungen, die bei Erwachsenen ganz selbstverständlich wären, oder verzichten wir auf legitime Kritik, um die Adressatin der Kritik zu schonen.77 Die zweite Antwort lautet, dass für eine unschuldige Variante der Unterscheidung durchaus auch in der Sprachspieltheorie Platz ist. Tatsächlich _____________ 76 Die Rede von »super-erogatorischen« Handlungen hat eine lange Tradition in der Moraltheologie; in der akademischen Philosophie geht sie auf J. O. Urmson zurück; siehe Urmson, 1966, s.a. Chisholm, 1963. 77 Hier verbergen sich zwei Verständnisse der »Angemessenheit« von Kritik: Auf dem ersten Verständnis bemisst sie sich nur an der Falschheit der inkriminierten Handlung; auf dem zweiten Verständnis spielen zusätzlich die zu erwartenden Auswirkungen der Kritik auf die Handelnde eine Rolle.

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spricht nichts dagegen, etwa im Schach oder im Fußball zu unterscheiden zwischen dem Befolgen konstitutiver Regeln einerseits (deren Bruch einem Austritt aus dem Spiel gleichkäme) und der Ausführung von geschickten oder weniger geschickten (klugen, vorausschauenden usw.) Spielzügen andererseits. Es ist aber zu berücksichtigen, dass die Grenze zwischen den beiden Kategorien durchaus je nach Kontext der Begutachtung und Kritik verschoben werden kann. Ob eine Person überhaupt Schach spielt (die, sagen wir, mechanisch nur einen Bauern nach vorne zieht, und dann den nächsten Bauern nach vorne zieht etc., so dass sie nach wenigen Zügen schachmatt ist), das hängt davon ab, in welcher Art von Situation das Geschehen verortet wird. (Ist es eine Lernsituation? Ist es ein Profi-Turnier?) Ebenso am anderen Ende des Spektrums: Manchmal gilt, dass ein Fußballer das Tor »hätte treffen müssen« und folglich für sein Versäumnis scharf kritisiert werden darf, wie erschöpft er auch gewesen sein mag. Aus der Perspektive der Sprachspieltheorie gibt es keinen Grund anzunehmen, dass dies in der ethischen Rede anders ist. Hiermit sind wir am Ende der Diskussion der ersten Welle von Einwänden gegen die Sprachspieltheorie angelangt. 2.4.4 Ein kleiner Exkurs zum »transzendentalpragmatischen« Ansatz Es gibt einen in der deutschsprachigen Diskussion prominenten Ansatz, der dem hier vertretenen pragmatistischen Ansatz auf den ersten Blick ähnlich sieht, von ihm aber unterschieden werden sollte: der auf Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel zurückgehende »diskursethische« oder auch »transzendentalpragmatische« Ansatz.78 Dieser Ansatz ist eine Reaktion auf die (angenommene oder unterstellte) Notwendigkeit einer schlüssigen Begründung für die Unterwerfung unter Normen, die die freie Verfolgung eigener Interessen einschränken.79 Im Hintergrund des transzendentalpragmatischen Ansatzes steht die Überlegung, dass alle klassischen Versuche, der Forderung nach einer Begründung – oder wie es in dem Ansatz üblicherweise heißt: nach einer »Letztbegründung« – nachzukommen, in einer von drei Sackgassen enden. Das Trilemma ergibt sich, wenn wir bedenken, dass es bei einer Begrün_____________ 78 Siehe Habermas, 2001; Apel, 1988. 79 Der diskursethische Ansatz ist also im Wesentlichen eine Reaktion auf den (älteren) Zweifel am ethischen Rationalismus, allerdings erwächst aus ihm (zumindest bei Apel und Habermas) ebenfalls ein ethischer Kognitivismus und damit eine Antwort auf das jüngere theoretische Unbehagen an der propositionalen Struktur des ethischen Diskurses.

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dung mittels der Nennung einer Regel formell immer möglich ist, die Gegenfrage nach einer Begründung der just zitierten Regel zu stellen. Die drei Optionen sind folgende. Erstens: Das Projekt der Begründung wird mit immer neuen Ad-Hoc-Gegenfragen und Ad-Hoc-Antworten ewig weiter getrieben. Dies wäre ein klassischer infiniter Regress. Zweitens: Im Begründungsprojekt werden Thesen verwendet, die bereits angenommen, bzw. in einem früheren Stadium schon genannt wurden. Hier ließe sich dem Proponenten ein Zirkelschluss vorwerfen. Drittens schließlich: Das Begründungsprojekt wird einfach abgebrochen, wodurch die Fragestellerin mit ihrer Forderung nach einer Begründung frustriert wird. Nach Ansicht der Anhänger des transzendentalpragmatischen Ansatzes ist die Gefahr eines solchen Trilemmas bei der Begründung praktischer Normen besonders folgenreich, da praktische Begründungen, die nicht direkt auf ein Interesse des Adressaten der Begründung rekurrieren (und dann einfach deduktiv vorgehen), die besonders tückische amoralische Variante der wiederholten Gegenfrage herausfordern: »Was soll mich dein praktisches (Begründungs-)Prinzip kümmern?« Der transzendentalpragmatische Ansatz beansprucht das Trilemma umgehen zu können, indem er auf die Bedingungen der Möglichkeit des freien Argumentierens reflektiert, wie es sich – so jedenfalls die Behauptung der Diskursethiker – in der Situation des Diskurses zwischen der zweifelnden Fragenden und dem Proponenten der Begründung zeigt. Der Zweiflerin soll nachgewiesen werden, dass sie durch ihre offensichtliche Akzeptanz der diskursiven Situation, innerhalb derer sie ihre Forderung nach einer Begründung stellt, bereits Annahmen getroffen hat, die – nüchtern besehen und klar durchdacht – ausreichen, um ihren eigenen Zweifel auszuräumen. Transzendentalpragmatiker nennen hier vor allem die Annahme, dass das Ziel des Diskurses ein gegenseitiges Überzeugen ist, nicht ein gegenseitiges Überreden, und dass aus diesem Grund beide Gesprächspartner bereits auf das Ideal der Freiheit des Diskurses von jeglichen Faktoren festgelegt sind, die den Transfer von Gründen verzerren. Die Normen, um deren Begründung es im Austausch zwischen der Zweiflerin und dem Antwortenden geht, haben kein anderes Ziel als dieses, und so würde ihre Ablehnung einen performativen Selbstwiderspruch darstellen. Im Folgenden möchte ich auf zwei Schwachstellen der transzendentalpragmatischen Begründungsstrategie hinweisen, von denen der sprachspieltheoretische Ansatz der vorliegenden Arbeit frei ist. Die erste Schwachstelle liegt darin, dass der Zweiflerin eine durchaus plausible Antwortstrategie zur Verfügung steht, der sich mit den Ressourcen der Transzendentalpragmatik kein überzeugender Riegel vorschieben lässt. Die Zweiflerin kann anerkennen, dass es beim rationalen Diskutieren tatsächlich notwendig ist, vernunftwidrige Verzerrungen zu minimie-

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ren und sich in dieser Hinsicht dem Ideal der Herrschaftsfreiheit zu verschreiben. Aber wieso muss die Zweiflerin sich immer, auch in jenen Situationen, die aus ihrer Sicht schlichtweg nicht vom Ziel der Konvergenz auf wahre Überzeugungen gekennzeichnet sind, auf dieses Ideal verschreiben? Wenn nun auf diese Frage geantwortet wird, dass eine Sprecherin, welche das Ideal der Herrschaftsfreiheit ganz selektiv anwendet, am Ende nie wirklich das tun kann, was wir als »rationales Diskutieren« bezeichnen – und zwar aus konstitutiven, also begrifflichen, Gründen, da echtes rationales Diskutieren nur vor dem Hintergrund der unselektiven Akzeptanz des Ideals der Herrschaftsfreiheit möglich ist –, so kann die Zweiflerin fragen, wieso sie dann überhaupt »rational diskutieren« soll, während sie sich wohler fühlt mit der Praxis, die offenbar unserem »rationalen Diskutieren« nur ähnlich ist, ihm aber nicht entspricht. In diesem Zusammenhang hat Thomas Rentsch dem transzendentalpragmatischen Ansatz vorgeworfen, nur eine Art logische Analyse bestimmter Praktiken, nicht aber echte Begründungsarbeit zu leisten.80 Ein weiterer Punkt, der in einer kritischen Bewertung des transzendentalpragmatischen Ansatzes berücksichtigt werden sollte, ist seine implizite Akzeptanz des Zweifels an der Vernünftigkeit des Befolgens ethischer Forderungen. Er akzeptiert die Notwendigkeit einer Begründung ethischen Verhaltens, und er akzeptiert damit auch die Stichhaltigkeit der instrumentalistischen und egozentrischen Konzeption der Vernunft, aus welcher der Zweifel erst entsteht. Jürgen Habermas schreibt in seinem Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln: Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenfolgen, die sich aus der allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können.81

Freilich entwickeln Transzendentalpragmatiker in ihrer Antwort eine andere, überpersönliche Konzeption der Vernunft und erweisen sich damit _____________ 80 Siehe Rentsch, 1999, Kap. 1, §1; s.a.Wellmer 1986, 65ff. Nach Anton Leist liegen nicht einmal logische Beziehungen vor. Leist vermag aus diesem Grund in der Ablehnung der zu begründenden Normen durch einen Sprecher keinen performativen Selbstwiderspruch zu erkennen, vgl. Leist, 2000, 128ff. In einem jüngeren Essay (Leist, 2003, 9) bemerkt er: »[D]en Interpreten und Verteidigern von Kants Ethik ist es bisher nicht überzeugend gelungen, Kants kategorischen und darin ›stärker‹ als nur instrumentellen Vernunftbegriff selbst moralisch voraussetzungslos zu formulieren. Damit bleibt die Skepsis der Hobbesschen und Humeschen Tradition bestehen, wonach die praktische Vernunft nur eine instrumentelle Vernunft sein kann, die von psychologischen Voraussetzungen abhängig ist, um moralische und politische Normen zu rechtfertigen.« 81 Habermas, 2001, 103, Hervorhebung durch mich.

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nicht einfach als Anhänger des klassischen Anti-Revisionismus.82 Doch durch ihre Akzeptanz der Notwendigkeit einer Begründung öffnen sie dem Skeptizismus das Tor, welches sich – ist es erst einmal geöffnet – schwer wieder schließen lässt. In beiden genannten Punkten unterscheidet sich unser Ansatz vom transzendentalpragmatischen Vorschlag. Erstens gesteht unser Ansatz der Zweiflerin ihre wiederholten Gegenfragen nicht zu. Aus der Sicht der Sprachspieltheorie der Ethik sind sie nur scheinbar kohärent; die hinterfragten Regeln markieren keine Annahmen, die überhaupt kohärenterweise bezweifelt werden können (oder auf die kohärenterweise verzichtet werden könnte). Zweitens weist die Sprachspieltheorie die klassische Formulierung des Zweifels und die ihm zugrundeliegenden Rationalitätsvorstellung von Anfang an zurück und verhindert so, dass sich mit letzteren ein Skeptizismus zwischen uns und unsere ethische Alltagspraxis schieben kann.

2.5 Fazit und Überleitung zu den nächsten Kapiteln Mit dem Ende dieses Kapitels sind wir nun auch am Ende des ersten Versuchs angekommen, die Sprachspieltheorie der Ethik zu umreißen. Zum Abschluss soll auf zwei bisher nur kurz angerissene dialektische Stärken der Theorie hingewiesen werden, die in den nächsten beiden Kapiteln eingehender diskutiert werden. Der erste Aspekt besteht in der Fähigkeit der Sprachspieltheorie zu zeigen, dass und wieso persistente ethische Konflikte keine Evidenz für einen ethischen Relativismus darstellen. Der zweite Aspekt besteht in ihrer Fähigkeit zu zeigen, dass und wieso Gründe nicht als psychologische (oder anderweitig in unserer körperlichen Natur zu verortende) Zustände aufgefasst werden dürfen. Im Folgenden sollen diese beiden Aspekte eingeführt und damit das restliche Programm des ersten Teils der vorliegenden Arbeit abgesteckt werden. In unserem Versuch, die Sorgen um den propositionalen Charakter der ethischen Rede zurückzuweisen, haben wir vor allem den Begriff des »Kognitivismus« verwendet. Tatsächlich spricht jedoch nichts dagegen, noch einen Schritt weiter zu gehen und in der Sprachspieltheorie das Fundament eines vollwertigen Objektivismus auszumachen. Dieser Objektivismus besteht aus zwei Thesen. Erstens: Ethische Standardäußerungen sind Ausdrücke gewöhnlicher Propositionen. Zweitens: Bei einer Inkonsistenz _____________ 82 Aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit repräsentieren sie eher eine Mittelposition zwischen dem klassischen und dem pragmatistischen Ansatz, welcher die Zweifel nicht beantwortet, sondern zurückweist.

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zwischen zwei ethischen Propositionen – wie bei jeder anderen propositionalen Inkonsistenz – muss mindestens eine der konfligierenden Propositionen falsch sein. Interessant an diesem Objektivismus ist, dass er sich allein mit sprachphilosophischen Überlegungen erschließen lässt. Falls an dieser Stelle der Einwand formuliert wird, dass die Sprecher unseres Sprachspiels nach der bisherigen Ausarbeitung der Theorie »losgelöst von der Welt« operieren,83 kann und muss die Antwort lauten, dass die Sprachspieltheorie von Anfang an darauf festgelegt ist, dass Sprecher als in der Welt (mit ihren Häusern, Hämmern, Kontoständen, u.s.w.) handelnd verstanden werden, genauso wie Fußballer in der Welt der Bälle und Tore und Schachspieler in der Welt der Schachbretter und Spielfiguren operieren und durch interne Beziehungen mit diesen Aspekten der Welt in Beziehung stehen. Dies war die systematische Alternative der Sprachspielkonzeption zur Idee der Abbildung der Welt. Der aus der Theorie erwachsende ethische Objektivismus lässt sich auch auf eine etwas andere Weise beschreiben.84 Nach ihr besagt die zentrale These des Objektivismus, dass sich alle eventuell auftretenden ethischen Äußerungen fremder Sprecher von uns unter drei interpretative Rubriken bringen lassen – nicht vier, wie Relativisten denken. Wenn wir eine fremde Äußerung vernehmen, die wir zunächst als Ausdruck einer Überzeugung, also einer Proposition, verbuchen, dann können wir erstens mit ihr übereinstimmen. Wir waren selber auf die Proposition festgelegt und bezeichnen sie (zumindest auf Nachfrage) daher als wahr. Natürlich können wir eine Proposition auch als möglicherweise wahr und möglicherweise falsch betrachten. Aber da wir üblicherweise mit der Annahme operieren, dass uns die Wahrheit gesagt wird (wie wir ja auch selber üblicherweise die Wahrheit sagen), und da wir eine vormals noch nicht gekannte Proposition insofern sofort in unsere eigene Überzeugungsmenge eingliedern, soll dies nicht als eigenständige interpretative Kategorie verstanden werden.85 Es kann aber auch sein, dass eine fremde Äußerung, die wir zunächst als aufrichtiges und informatives Urteil interpretieren, mit (mindestens) einer unserer eigenen Überzeugungen inkonsistent zu sein scheint. Eine Situation wie diese können wir als eine von zwei – nicht drei – Fällen verbuchen. Entweder wir haben – dies ist der zweite Fall auf der Gesamtliste der interpretativen Möglichkeiten – eine echte Meinungsverschiedenheit. _____________ 83 Wie bereits erwähnt, werden in diesem Sinn immer wieder Metaphern wie die des »frictionless spinning in a void« verwendet; siehe Fußnote 22 dieses Kapitels. 84 Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es nicht wenige gibt, denen der ethische Objektivismus in der nun folgenden, alternativen Formulierung unproblematischer erscheint. 85 Diese Annahmen habe ich zum ersten Mal in Kap. 1, Fußnote 64, genannt.

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In diesem Fall muss entweder dem interpretierten Sprecher oder aber uns selbst ein Fehler zugeschrieben werden. Dies folgt daraus, dass die Äußerung propositional ist, und es zu den Spielregeln der propositionalen Rede gehört, dass Inkonsistenzen uns zwingen, mindestens eine der inkonsistenten Propositionen zurückzuweisen bzw. zurückzunehmen. Mit Sicherheit können wir eine Meinungsverschiedenheit übrigens erst dann feststellen, wenn wir den Fehler des fremden Sprechers genau identifiziert haben86 – immerhin kann es immer auch sein, dass wir den fremden Sprecher falsch interpretiert haben und er tatsächlich eine mit unseren Überzeugungen kompatible Aussage gemacht hat und seine Äußerung damit in die erste interpretative Kategorie fällt.87 Oder aber – und dies ist die dritte mögliche Interpretation – es gelingt uns bis zu einem gegebenen Zeitpunkt weder, einen echten Fehler zuzuschreiben, noch, die fremde Äußerung als Ausdruck einer mit unseren eigenen Überzeugungen kompatiblen Proposition zu interpretieren. In diesem Fall müssen wir anerkennen, dass wir die fremde Äußerung und somit auch den Konflikt mit ihr (noch) nicht durchschauen. Wir müssen weiter nach ihrer korrekten Interpretation – also nach der ausgedrückten Proposition – suchen. Die drei genannten Interpretationen erschöpfen unsere Möglichkeiten. Insbesondere gibt es keinen vierten Fall, in dem wir zwar durchaus von einem propositionalen Konflikt zwischen uns und dem fremden Sprecher reden wollen, aber in dem wir uns gleichwohl gegen die Konsequenz verwahren wollen, dass mindestens einer der beiden Sprecher (wir oder er oder wir beide) im Unrecht sein muss. Das folgende Kapitel wird diesen Aspekt der Theorie ausführlich diskutieren. Der zweite in den kommenden Kapiteln noch zu diskutierende Aspekt der Sprachspieltheorie ist ihre Ablehnung des Psychologismus. Dieser Aspekt ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die Sprachspieltheorie für eine klare Trennung zwischen Kontexten des Begründens einerseits und Kontexten des kausalen Erklärens andererseits plädiert. Prinzipiell gilt innerhalb einer Theorie, welche auf diese Trennung festgelegt ist, dass letztlich somatische Zustände, also Zustände, die sich durch die empirischen Fachwissenschaften wie die Psychologie oder auch die Neurowis_____________ 86 Natürlich können auch wir Fehler machen. Wenn wir allerdings einen eigenen Fehler feststellen, so sollte diese Feststellung bereits das Ende der Meinungsverschiedenheit markieren, da wir in diesem Fall (zumindest unserem Anspruch nach) unsere fehlerhafte Aussage zurückziehen und dadurch den propositionalen Konflikt beenden. 87 Hier ist an den oben – im Abschnitt 2.3.1– diskutierten Fall zu erinnern, in dem eine fremde Sprecherin aus »P → Q« und »¬Q« den Schluss zieht, dass P, und damit zeigt, dass sie ihre Symbole anders verwendet als wir. In diesem Fall müssen wir für ihre Äußerungen eine neue Interpretation finden.

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senschaften untersuchen lassen, in Begründungskontexten nichts zu suchen haben und nur in Fragen der kausalen Genese (einer Handlung, einer Situation, einer Charaktereigenschaft usw.) zitiert werden können. Mit anderen Worten, wenn uns eine Handlung (eine Situation, eine Charaktereigenschaft usw.) mysteriös erscheint, dann müssen wir uns entscheiden, ob wir nach ihren Gründen oder nach ihren Ursachen fragen wollen, und uns davor hüten, beide Fragen miteinander zu vermengen. Eine Theoretikerin, die diese sprachlich-theoretische Unterscheidung stark macht, wird häufig mit dem Hinweis kritisiert, dass ihre Theorie einen zentralen Aspekt der Alltagssprache leugnen muss: die Tatsache nämlich, dass Menschen als Antwort auf die Frage nach ihren Gründen mitunter durchaus ihren Hunger, ihren Durst oder ihre Müdigkeit nennen – also Zustände, welche durchaus »körperlich« sind und sich ohne Zweifel als Gegenstände der empirischen Wissenschaften eignen. Dieser Einwand ist wichtig, fordert die Theoretikerin aber nicht zu einer Revision oder gar Aufgabe ihrer Festlegung heraus –, sondern nur zu einer Klarstellung. Körperliche Zustände können zwar als begründende Erwägungen firmieren, wir sollten uns aber vor der Idee hüten, dass Gründe deswegen ihrem Wesen nach körperliche Zustände sind. Doch viele Philosophen halten diese Klarstellung für nicht annähernd ausreichend. Für sie müssen körperliche Zustände in der Erläuterung des Wesens der Gründe (des Verständnisses des Begriffs vom »Grund« sowie der Praxis des Begründens) eine zentralere Rolle spielen. Wenn wir in unserer Theorie der begründenden Rede die körperliche Seite der Teilnehmer der fraglichen Praxis außer Acht lassen – so ihre Sorge –, dann nehmen wir uns die Möglichkeit, die Motivationsfähigkeit von Gründen zu erklären. Wie wir in den nächsten Kapiteln sehen werden, lassen sich auf der Basis der Sprachspieltheorie der Ethik überzeugende Antworten auf diese Sorgen geben. Im nächsten Kapitel wird es um die richtige Interpretation ethischer Konflikte und um die Frage des Relativismus gehen. Im übernächsten Kapitel werden wir dann die handlungs- und motivationstheoretischen Konsequenzen der Sprachspieltheorie unter die Lupe nehmen.

3. Konflikt und Objektivität. Ethische Konflikte aus pragmatistischer Perspektive 3.1 Einleitung: Konflikt und Objektivität In den vorangegangenen Kapiteln wurde die ethische Rede als nahtlos mit dem Rest der Sprache verwoben interpretiert und die gesamte natürliche Sprache als ein komplexes, in die Welt der praktischen Verrichtungen integriertes Spiel beschrieben. So ist es gelungen, die zwei kardinalen Zweifel des klassischen philosophischen Nachdenkens über die Ethik auf eine plausible Weise zurückzuweisen: einerseits den Zweifel daran, dass die Einhaltung ethischer Forderungen auch dann vernünftig sein kann, wenn dies mit hohen Kosten verbunden ist, andererseits den Zweifel daran, dass übliche ethische Äußerungen propositional und insofern wahrheitsfähig sind. Kurzum: Mit der Sprachspieltheorie der Ethik wurde eine Theorie erarbeitet, die auf sprachtheoretischem Wege zu einem ethischen Rationalismus und zu einem ethischen Objektivismus führt. Bei alledem wurde aber bislang ein Aspekt der alltäglichen ethischen Rede vernachlässigt, nämlich die Tatsache, dass letztere durchzogen ist von Konflikten. Diese Vernachlässigung könnte als ein dialektischer Skandal erscheinen. Für viele Kommentatoren ist die Häufigkeit ethischer Konflikte nicht nur einer der augenfälligsten Aspekte des alltäglichen ethischen Diskurses, sondern gleichzeitig das größte Hindernis für einen ethischen Objektivismus sowie für einen ethischen Rationalismus. In der Tat ist der Gedanke verlockend: Wie können wir im Angesicht der Tatsache, dass wir uns immer und immer wieder auf verschiedenen Seiten genuiner Konflikte sehen, ethische Objektivisten und Rationalisten sein? Beschreibt die Sprachspieltheorie nicht höchstens unsere Gründe und (auch wenn dies seltsam klingt) unsere ethischen Tatsachen – nicht aber die Gründe und Tatsachen derjenigen, mit denen wir uns streiten? Dieses Kapitel soll zeigen, dass sowohl der Rationalismus als auch der Objektivismus im Angesicht der ethischen Konflikte verteidigt werden können. Der Schlüssel dazu besteht im Hinweis auf den zunächst noch unklaren Status der Konflikte in unserer ethischen Sprachpraxis. Üblicherweise denken jene Philosophen, die in dem Hinweis auf ethische Konflikte einen Angriff auf den ethischen Rationalismus und/oder Objektivismus sehen, dass bei einem ethischen Konflikt bereits von Anfang an

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klar ist – und zwar sowohl den Konfliktparteien als auch der philosophischen Kommentatorin – worin die Positionen der Konfliktparteien bestehen, inwiefern sie auseinander gehen, und wie die Konfliktparteien ihre Positionen verändern müssten, um miteinander ins Reine zu kommen. Genau hier setzt die Verteidigung an. Aus der Perspektive der Sprachspieltheorie der Ethik sollten wir bei einem Konflikt keinesfalls mit der Festlegung beginnen, dass die beteiligten Parteien – und die Kommentatoren – einander korrekt verstehen. Zwei fundamentale sprachtheoretische Festlegungen der Pragmatisten sprechen dagegen. Erstens ist zu beachten, dass fremde Äußerungen zunächst interpretiert werden müssen, und dass diese Interpretation vor dem Hintergrund der immensen Komplexität unserer propositionalen Sprache sowie der großen Unterschiede in den Lebensweisen verschiedener Sprecher oftmals alles andere als ein einfaches Unterfangen ist. In diesem Zusammenhang können wir auch von einer initialen Opazität von Äußerungen, und daher auch von einer initialen Opazität von Konflikten, sprechen. Zweitens ist zu beachten, dass die Interpretation einer fremden Äußerung logisch von ihrer Beurteilung als angemessen oder unangemessen abhängt. In Bezug auf die propositionale Rede heißt dies: sie ist abhängig von einer Bewertung als wahr oder falsch, wobei in letzterem Fall entweder ein nachträgliches Fehlereingeständnis oder aber eine außerrationale Erklärung des Fehlers vorliegen muss. Diese These, die als eine Variante der bereits in der Einleitung erwähnten Interpretationismusthese verstanden werden kann, betrifft sowohl die Konfliktparteien als auch die philosophische Kommentatorin.1 Wenn wir uns in einem propositionalen Konflikt befinden, und wenn das gegenseitige Interpretieren und Re-Interpretieren der jeweils inkriminierten Äußerungen beginnt – idealerweise im Rahmen einer geordneten Diskussion, in der alle Beteiligten ihre Äußerungen beliebig umformulieren können – dann dürfen wir von drei möglichen Ergebnissen ausgehen. Der erste mögliche Ausgang ist, dass sich ein echter Fehler auf mindestens einer der beiden Seiten ausmachen lässt. In diesem Fall dürfen wir von einer genuinen Meinungsverschiedenheit sprechen – wenn wir sie auch gewissermaßen erst in dem Moment zuschreiben, in dem sie bereits als gelöst betrachtet werden kann.2 Meinungsverschiedenheiten bedingen _____________ 1 Ab sofort gehe ich davon aus, dass wir (die philosophischen Kommentatoren) tatsächlich eine aktive Rolle im Konflikt spielen und nicht nur durch die logische Notwendigkeit einer Stellungnahme zur »Konfliktpartei« werden. Diese Annahme, die im Laufe dieses Kapitels – und dann noch einmal im zweiten Teil des Buches – diskutiert wird, ändert an der philosophischen Grundsituation nichts. 2 Freilich wird die Meinungsverschiedenheit nur von uns als gelöst betrachtet. Ob der Irrende seinen Fehler einsieht und seine Position entsprechend revidiert, ist eine andere Frage. Es ist allerdings anzumerken, dass im Fall einer Nicht-

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Fehler, da bei genuinen propositionalen Inkonsistenzen mindestens eine der inkompatiblen Propositionen falsch sein muss. Wichtig ist, dass eine Fehlerzuschreibung alles andere als trivial ist: Wenn wir einen Fehler zuschreiben, müssen wir zuvor sorgfältig prüfen, dass die gegnerische Seite ihre Ausdrücke nicht bloß mit fremden Bedeutungen belegt und folglich an uns vorbei geredet hat. Und hierzu ist es notwendig, dass wir mit der Gegenseite in Bezug auf viele weitere Sätze übereinstimmen.3 Ein zweites mögliches Ergebnis ist das Vorliegen eines Missverständnisses. In diesem Fall sind unsere Überzeugungen tatsächlich miteinander kompatibel und der Konflikt war ein bloßer Schein-Konflikt – interessanterweise legen wir uns wiederum erst in dem Moment auf den Status des Konflikts fest, in dem der Konflikt als gelöst betrachtet werden darf.4 Im dritten Fall gelingt weder der Aufweis einer Meinungsverschiedenheit noch der Aufweis eines reinen Missverständnisses. In diesem Fall bleibt die Opazität des Konflikts bestehen, und uns bleibt nichts anderes übrig, als weiter zu diskutieren, bis sich entweder unsere Überzeugungen als kompatibel erweisen oder sich der genaue Ort der logischen Inkonsistenz so ermitteln lässt, dass wir mit einiger Sicherheit einen konkreten Wahrnehmungs- oder Denkfehler zuschreiben können. Die dritte Möglichkeit wird oft übersehen, ist aber von zentraler Bedeutung. Denn durch sie verschwinden die anti-objektivistischen Verlockungen des ethischen Relativismus und des Non-Kognitivismus. Sowohl der Drang zur Postulierung von Konflikten, bei denen die konfligierenden Äußerungen zwar als Ausdrücke inkonsistenter Propositionen interpretiert werden, der philosophische Kommentator aber dennoch nicht von einem Denk- oder Wahrnehmungsfehler sprechen möchte, als auch der Drang zur Behauptung, ethische Konflikte seien entgegen ihrem Anschein Konflikte non-kognitiver Einstellungen, kann in der Sprachspieltheorie in die _____________ Akzeptanz des Fehlers seitens des Irrenden besondere Sorgfalt aufgewendet werden muss, um nachzuweisen, dass er seine Ausdrücke nicht vielleicht auf eine von uns abweichende Weise verwendet und folglich an uns vorbei redet. Hierzu mehr im Hauptteil dieses Kapitels. 3 Hier zeigt sich die logische Abhängigkeit der Interpretation eines Satzes von der Stellungnahme zu ihm als wahr oder falsch. Auch dies wird in den folgenden Abschnitten eingehend diskutiert. 4 Hier haben wir einen zweiten Ort, an dem sich die Abhängigkeit des Interpretierens eines geäußerten Satzes von der Stellungnahme zu ihm zeigt. Übrigens gilt wiederum, dass es auf die Sicht des Interpreten ankommt – ob das (zunächst als konfligierend verstandene) Gegenüber die (zunächst nicht recht verstandene) Kompatibilität der Positionen anerkennt, ist eine andere Frage. Und wiederum gilt, dass in dem Fall, in dem er die Anerkennung verweigert, besondere interpretative Sorgfalt aufgewendet werden muss.

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dritte interpretative Möglichkeit umgeleitet werden. Anstatt von der Tatsache eines persistierenden ethischen Konflikts auf die interpretationstheoretisch unhaltbare These des Relativismus oder die phänomenologisch unhaltbare These des Non-Kognitivismus zu schließen, wirbt der Sprachspieltheoretiker für das offene Eingeständnis des (einstweiligen) gegenseitigen Nicht-Verstehens. Mit Wittgenstein können wir nun sagen, dass der Konflikt ein Aufeinandertreffen verschiedener Sprachspiele ist, nicht ein Aufeinandertreffen verschiedener Meinungen. Es sollte bereits klar geworden sein, dass sich diese Interpretation ethischer Konflikte auch auf die Interpretation der Praxis des ethischen Diskutierens auswirkt. Zwar bestätigt die Sprachspieltheorie die klassische Auffassung, dass Sprecher im Diskutieren versuchen, einander Denk- und Wahrnehmungsfehler nachzuweisen. Allerdings besteht sie auf drei Qualifizierungen. Erstens ist die Praxis der Zuschreibung von Fehlern nur deshalb möglich, weil im Diskutieren selber erst sprachliches Datenmaterial verfügbar wird, auf dessen Basis die Diskutanten die Äußerungen ihrer jeweiligen Gesprächspartner als Ausdrücke von mit den jeweils eigenen Überzeugungen konsistenten (also als wahr zu akzeptierenden) oder inkonsistenten (also als falsch zurückzuweisenden) Propositionen interpretieren können. Zweitens kann ein Fehler nur vor dem Hintergrund weitgehender Übereinstimmung (in anderen Urteilen) zugeschrieben werden. Und drittens kann sich in jeder Diskussion herausstellen, dass ein reines Missverständnis (bei tatsächlicher Kompatibilität der fraglichen Äußerungen) vorlag, wodurch dann eine gegenseitige Zuschreibung von Fehlern unnötig und unangemessen wird. Aus einer sprachtheoretischen Perspektive dient das Diskutieren in erster Linie der Verständigung, der Übersetzung verschiedener sprachlicher Dispositionen ineinander. Dieses Kapitel wird die hier skizzierte Verteidigung der Sprachspieltheorie gegen das Argument von der Konflikthaftigkeit der ethischen Rede genauer ausarbeiten. In einem ersten Schritt wird es auf die Interpretationsbedürftigkeit hinweisen und die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten für propositionale Konflikte diskutieren. Hiermit verbunden ist die Erläuterung der Natur des ethischen Diskutierens. Dabei soll gezeigt werden, wieso der Relativismus nicht bloß unnötig, sondern nichts weniger als inkohärent ist, und wie auch der Drang zum Non-Kognitivismus blockiert werden kann. Danach gilt es, einige Gegenargumente gegen die vorgeschlagene Verteidigung der Sprachspieltheorie zu diskutieren. Sodann werden die erarbeiteten Ergebnisse mit der Debatte um den Interpretationismus Donald Davidsons in Beziehung gebracht, und es wird darauf hingewiesen, dass der Antirelativismus unserer Sprachspieltheorie der Ethik letztlich analog zu Davidsons These der Unmöglichkeit echter ontologischer Alternativen verläuft. Schließlich wird im letzten Abschnitt

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ein bisher noch nicht diskutierter Fall ethischer Konflikte skizziert, der eine Vorschau auf den zweiten Teil der vorliegenden Arbeit gestattet.

3.2 Propositionale Konflikte, Interpretation, Objektivität 3.2.1 Das Unbehagen an ethischen Konflikten, und eine erste Reaktion Beginnen wir also mit der Tatsache des Vorkommens von Konflikten in den ethischen Bereichen der propositionalen Alltagssprache. Nicht wenige Philosophen haben auf diese Tatsache hingewiesen, da sie sie für inkompatibel mit dem skizzierten Rationalismus und vor allem mit dem diskutierten Objektivismus der ethischen Rede halten. Lässt sich in ihrem Sinne ein entsprechendes Argument aufstellen? Es scheint, dass der gängigste Gedanke in diesem Zusammenhang besagt, dass wir keine oder nur wenige Konflikte in der ethischen Rede erwarten würden, wenn es tatsächlich so etwas gäbe wie ethische Tatsachen. Die Idee ist, dass konfligierende Sprecher sich in diesem Fall schnell einigen könnten. Sie könnten einfach auf die ethischen Tatsachen hinweisen, welche ja ihrem Wesen nach interpersonal zugänglich sein müssten – und sofort wären die Konflikte beendet, zumindest beendbar. Da dies natürlich nicht der Fall ist, wird im Umkehrschluss behauptet, dass der Objektivismus und damit unsere ihn implizierende Sprachspieltheorie der ethischen Sprache falsch sein muss.5 Ähnliches kann in Bezug auf den rationalistischen Zug unserer Theorie gesagt werden. Wären ethische Forderungen einfach Forderungen der Vernunft, so würden wir nicht erwarten, dass rationale Menschen sich immer wieder in Konflikten in Bezug auf ethische Forderungen wiederfinden. Da dies jedoch offensichtlich der Fall ist, muss der Rationalismus und unsere ihn implizierende Theorie zurückgewiesen werden.6 Dieses Argument ist freilich schon auf den ersten Blick vorschnell. Eine seiner offenen Flanken besteht darin, dass in einer objektivistischen _____________ 5 Diese Kritik ist seit der Antike der vielleicht berühmteste Topos der Moralphilosophie überhaupt. Der aktuellste locus classicus ist J.L. Mackies Ethics: Inventing Right and Wrong, siehe Mackie 1977, insb. 36ff., s.a. 38ff. 6 Im Folgenden erlaube ich mir, nur noch über den Objektivismus zu sprechen. Es wird in der folgenden Diskussion klar sein und bleiben, dass meine Verteidigung des Objektivismus gleichzeitig eine Verteidigung des Rationalismus darstellt, da alle in diesem Kapitel diskutierten potentiellen Probleme des Rationalismus letztlich Probleme des Objektivismus sind. Am Ende des Kapitels komme ich noch einmal explizit auf den Zusammenhang zwischen dem ethischen Objektivismus und dem ethischen Rationalismus zu sprechen.

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Theorie noch gar nicht festgelegt sein muss, wie leicht zugänglich ethische Tatsachen sind. Überhaupt ist das Bild, das das Argument von Tatsachen zeichnet, irreführend. Im Zentrum des anti-objektivistischen Arguments steht das klassische abbildtheoretische Verständnis der Tatsache als einer metaphysischen Entität, welche von einem Indikativsatz abgebildet werden kann, wobei dann der Indikativsatz seine Bedeutung von der (ihrerseits offenbar nicht interpretationsbedürftigen) Tatsache in einer Eins-zuEins-Beziehung erbt. Die Sprachspieltheorie ersetzt dieses Bild durch ein Verständnis, nach dem Tatsachen nichts anderes sind als Propositionen, auf welche wir, die Kommentatoren einer propositionalen Praxis, die als Sprecher selber Spieler im Sprachspiel, festgelegt sind. Propositionen sind jedoch dabei nichts anderes als Bündel von Berechtigungen und Verpflichtungen zu Sprachspielzügen, insbesondere der Zustimmung zu oder der Äußerung von Sätzen. In diesem Zusammenhang mag es hilfreich sein, noch einmal an das wittgensteinianische Philosophieverständnis zu erinnern: Wir lösen unsere philosophischen Zweifel nicht auf, indem wir fragen, worin Tatsachen bestehen oder ob es sie in diesem oder jenem Bereich der Welt gibt, sondern indem wir fragen, worin die Rolle der Rede von Tatsachen besteht und ob diese Rede in einem bestimmten Sprachbereich sinnvoll zur Anwendung kommt. Die Frage, die in diesem Kapitel gestellt werden soll, lautet, ob die Prävalenz ethischer Konflikte sich als ein Problem für unsere im zweiten Kapitel erarbeitete Theorie der ethischen Rede herausstellt. Wenn wir die Frage so stellen, so scheint es, dass sich ein großer Teil der antiobjektivistischen Sorgen als folgendes Argument wiedergeben lassen kann. (1) Wenn die ethische Rede als propositional strukturiert interpretiert wird, dann müssen ethische Konflikte genuine Meinungsverschiedenheiten sein. (2) Wenn aber ethische Konflikte genuine Meinungsverschiedenheiten sind, dann muss der philosophische Kommentator in Bezug auf die Affirmierung oder die Negierung der relevanten Sätze Denk- oder Wahrnehmungsfehler zuschreiben – schließlich muss bei einem Paar inkonsistenter Sätze mindestens einer der Sätze falsch sein. (3) Diese Zuschreibung eines Denk- oder Wahrnehmungsfehlers kann der philosophische Kommentator oftmals nicht so rechtfertigen, dass die von ihm als fehlerhaft urteilend beschriebene Seite überzeugt werden kann. (4) Dies ist aber eine notwendige Bedingung der Legitimität der Zuschreibung von Denkoder Wahrnehmungsfehlern seitens des philosophischen Kommentators. Also gilt (5): Die Interpretation der ethischen Rede als propositional strukturiert muss zurückgewiesen werden. In diesem und den folgenden Unterabschnitten möchte ich zeigen, an welchen Stellen dieses Argument kritisiert werden kann. Es hat zwei ver-

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schiedene, allerdings miteinander verknüpfte, Schwachstellen. Zum einen ist die erste Prämisse falsch: Konflikte in propositionalen Sprachspielen – also Konflikte in Bezug auf die Angemessenheit eines bestimmten Satzes – müssen nicht Meinungsverschiedenheiten sein, sondern können auch Missverständnisse sein. Ein Missverständnis zu haben heißt, aneinander vorbei zu reden, und dies kann zunächst oder sogar auch dauerhaft unerkannt passieren. Doch selbst wenn wir annehmen, dass eine genuine Meinungsverschiedenheit und damit eine genuine Inkonsistenz zweier Propositionen vorliegt, sollten wir nicht davon ausgehen, dass es schon von Anfang an klar ist, welche Propositionen genau miteinander konfligieren. Der logische Ort der Inkonsistenz und damit auch der logische Ort des Denk- oder Wahrnehmungsfehlers muss erst durch Interpretation ermittelt werden. Je nach genauer Lesart des Arguments bedeutet dies, dass entweder die zweite oder aber die vierte Prämisse des Arguments zurückgewiesen werden muss. Die Erklärung einer Meinungsverschiedenheit geht mit der Annahme der Existenz eines Fehlers einher, nicht aber notwendigerweise bereits mit der Zuschreibung eines konkreten Fehlers. Da letzteres erst nach einem (potenziell komplexen) Diskussions- und Interpretationsprozesses möglich wird, bleibt die Lesart ethischer Konflikte als kognitiver Konflikte auch dann die plausibelste Interpretation, wenn sich die irrende Partei nicht sofort überzeugen lässt. 3.2.2 Pragmatismus und Interpretation Um die Notwendigkeit und die Nicht-Trivialität des Interpretierens aufzuzeigen, möchte ich in einem ersten Schritt auf die komplexe interne Struktur unserer entwickelten propositionalen Sprache hinweisen. Ich werde dabei zunächst noch nicht explizit über die ethische Rede sprechen, sondern vielmehr die propositionale Sprache an sich beschreiben. Der Interpretationismus wird sich vor diesem Hintergrund als integraler Bestandteil einer realistischen Sicht auf den sprachlichen Alltag erweisen. In einem späteren Schritt werde ich dann explizit auf die ethische Rede zu sprechen kommen und zeigen, dass sie nicht nur genauso funktioniert wie alle anderen propositionalen Sprachbereiche auch, sondern dass sie sogar noch besseres Anschauungsmaterial für die erarbeiteten interpretationistischen Thesen bietet als die zunächst diskutierten nicht-ethischen Bereiche der Alltagssprache. Ich beginne im Folgenden damit, einen bisher nur kurz erwähnten Aspekt unseres propositionalen Sprachspiels vorzustellen,7 an dem sich die Komplexität der Sprache sehr gut aufzeigen lässt, und aus _____________ 7 Siehe 2.3.5.

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dem wir ebenfalls eine (bislang ebenfalls nur erwähnte) Funktionsbestimmung des Äußerungstyps des Indikativsatzes gewinnen können – nämlich die sub-sentenzielle oder auch begriffliche, Ebene unseres Sprachspiels. Dabei werde ich, wie auch schon im zweiten Kapitel, auf die von Sellars und Brandom begründete Tradition des Inferenzialismus zurückgreifen.8 Der Inferenzialismus ist insofern beispielhaft für die pragmatistischen Ansätze der Sprachphilosophie, als er die Idee der abbildenden Beziehung zwischen Sprache und Welt ersetzt durch die Idee der inferenziellen Beziehungen zwischen Sätzen sowie der nicht-inferenziellen Einbettung letzterer in die Welt der Verrichtungszusammenhänge. Auf den ersten Blick beschert ihm dies jedoch ein Problem, was die Erläuterung der Bedeutung derjenigen sprachlichen Ausdrücke angeht, die keine vollständigen Sätze, offensichtlich aber Bedeutungsträger sind: sub-sentenzielle Einheiten – Wörter.9 Müssen wir zur Erläuterung der Bedeutung von subsentenziellen Einheiten nicht doch wieder Bezugsrelationen mit sprachspiel-externen Dingen oder Eigenschaften einführen? Brandoms Antwort ist ein nachdrückliches Nein. Genauso wie der Inferenzialismus empfiehlt, die Bedeutung eines Satzes nicht in seiner abbildenden Beziehung mit (außersprachlich verstandenen) Tatsachen zu verorten, empfiehlt er, die Bedeutung eines Begriffs nicht in seinem Bezug auf Gegenstände oder Eigenschaften zu verorten. Und auch der von Brandom vorgeschlagene theoretische Ersatz ist ähnlich: Während die Bedeutung von Sätzen – also die durch sie ausgedrückten Propositionen – in den inferenziellen Profilen der Sätze verortet wird, so wird die Bedeutung von Begriffen in ihren substitutionellen Profilen verortet. Tatsächlich ist letzterer theoretischer Vorschlag eine Erweiterung des ersteren Vorschlags: Die Idee ist, dass wir Begriffe verstehen können als diejenigen sprachlichen Einheiten, die durch ihre substitutionellen Beziehungen mit anderen Begriffen die inferenziellen Profile von kompletten Sätzen bestimmen. Andersherum gesagt: Aus Sätzen, die in einer be_____________ 8 Was in diesem Abschnitt skizzenhaft bleibt, findet eine präzise Ausarbeitung im 6. Kapitel von Brandom, 1994, auf das ich mich hier maßgeblich stütze; einige korrektive Bemerkungen finden sich in Schneider, 2001. Siehe auch Abschnitt 5.2 dieser Arbeit, in dem das Thema noch einmal aufgegriffen wird. 9 Natürlich gibt es noch andere Ausdrücke, die anders funktionieren als Indikativsätze: Fragen und Imperative. Wir können aber davon ausgehen, dass sich Fragen oder Imperative ohne größere Probleme von einer etwas erweiterten inferenzialistischen Theorie erfassen lassen – immerhin ist ihre Binnenstruktur auf offensichtliche Weise an der von Indikativsätzen angelehnt. Dies gilt nicht für Wörter, die überhaupt keine Binnenstruktur haben und die als freistehende Äußerungen auch keine Bedeutung tragen, sondern die nur als Komposita von Indikativsätzen (und Fragen und Imperativen) eine sinnvolle Verwendung finden.

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stimmten inferenziellen Beziehung miteinander stehen, lassen sich Begriffe mit bestimmten substitutionellen Profilen extrahieren. Hier und nirgendwo sonst liegt für Brandom der Ort der Wortbedeutungen.10 An einem Beispiel lässt sich der Gedanke verständlich machen. Bei der matematerialen Inferenz von »Fido ist ein Hund« zu »Fido ist ein Säugetier« können wir etwa das Prädikat »ist ein Hund« im ersten Satz mit dem Prädikat »ist ein Pudel« austauschen (substituieren), ohne dass die Inferenz dadurch ungültig würde. Ebenso können wir das Prädikat »ist ein Säugetier« im zweiten Satz mit dem Prädikat »ist ein Tier« austauschen, ohne dass die Inferenz dadurch ungültig würde. Diese (und viele weitere) Substitutionsregeln in Bezug auf Wörter zu kennen ist nach Brandom dasselbe, wie die inferenziellen Regeln bezüglich der ganzen Sätze zu kennen, in denen die Wörter vorkommen. Die Fähigkeiten des inferenziellen Umgangs mit Sätzen und des substitutionellen Umgangs mit Wörtern sind somit zwei Seiten derselben Medaille. Ohne allzu tief in die Details der sub-sentenziellen Sprachtheorie einzusteigen, sollte ich noch rasch andeuten, dass sich unterschiedliche grammatische Wortgattungen in ihren substitutionellen Regeln strukturell unterscheiden. Bislang war nur von der Bedeutung von Prädikaten (oder auch Begriffen) die Rede. Sie haben uni-direktionale substitutionelle Beziehungen und sind als Hierarchien (Tier, Säugetier, Hund, Pudel etc.) darstellbar. Neben ihnen gibt es aber auch Ausdrücke, die in bi-direktionalen Beziehungen miteinander stehen. Wir nennen diese letzteren Ausdrücke »singuläre Terme«. Bei dem durch Ersetzungen erzeugten Satzpaar »Angela Merkel ist Physikerin« und »Die Kanzlerin ist Physikerin« dürfen wir in beide Richtungen schließen, worin sich die bi-direktionale Substitutionsbeziehung zwischen »Angela Merkel« und »die Kanzlerin« zeigt. Es wird deutlich, dass wir weder bei Prädikaten noch bei singulären Termen gezwungen sind, zur Erläuterung ihrer Bedeutungen fundamentale Bezüge zwischen der Sprache und der Welt zu zitieren. Die Bedeutung einer sub-sentenziellen Einheit kann als Beziehung zwischen verschiedenen Aspekten des Sprachspiels, also (mit Wittgenstein gesagt) als eine interne Beziehung, dargestellt werden. Freilich haben Prädikate und singuläre Terme durchaus auch regelhafte Verknüpfungen mit der nichtsprachlichen Welt. Diese Verknüpfungen sollten aber nicht mit Bezugsrelationen verwechselt werden. Erstens spielt die Wendung »X bezieht sich auf Y« nur innerhalb bestimmter, verhältnismäßig komplexer, Verrich_____________ 10 Dies entspricht übrigens genau der Beziehung der »schwachen Inferenz« in der Mathematik. Während Sätze miteinander in inferenziellen Beziehungen stehen, können Prädikate miteinander durch »schwache Inferenzen« miteinander verbunden sein. (Dank an Martin Brumberg für diesen Hinweis.)

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tungszusammenhänge eine Rolle. Zweitens basiert diese Wendung dann auf den fundamentaleren nicht-inferenziellen Profilen der Sätze, in denen die fraglichen Prädikate und singulären Terme vorkommen. Und drittens weisen diese nicht-inferenziellen Beziehungen von Sätzen nicht aus dem Spiel der Sprache hinaus: Die praktische Umwelt, die durch sie mit Äußerungen und indirekt auch mit Handlungen verknüpft wird, wird in der Sprachspieltheorie als Teil des Spiels aufgefasst. Auch nicht-inferenzielle Beziehungen sind somit interne Beziehungen.11 An dieser Stelle zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen der sentenziellen und der sub-sentenziellen Ebene der propositionalen Sprache. Während die propositionalen Gehalte von Indikativsätzen – also von Ausdrücken, welche in (material-)inferenziellen Beziehungen stehen – mit Konditionalsätzen (oder entsprechenden Satzpaaren) expliziert werden, werden die Bedeutungen von Wörtern – also von Ausdrücken, die in substitutionellen Beziehungen stehen – mit logisch einfachen Sätzen ausgedrückt. Somit kann ein einzelner Satz wie »Ein Hund ist ein Tier« als ein Ausdruck einer internen Beziehung aufgefasst werden.12 Mit diesem Hinweis können wir nun auch einen im aktuellen Zusammenhang zentralen Zug des Pragmatismus beleuchten. In den internen Beziehungen, die unser propositionales Sprachspiel ausmachen, sind nicht nur die Bedeutungen unserer Ausdrücke, sondern gleichzeitig auch unser substanzielles Wissen über die Welt, kodifiziert. Besonders deutlich ist dies anhand der oben erwähnten Begriffshierarchien zu erkennen. Dass Hunde eine Spezies der Gattung der Säugetiere sind und somit als Tiere gelten, während aber nicht jedes Tier ein Säugetier und schon gar nicht jedes Tier ein Hund ist – all diese Beziehungen können sowohl als Bestimmung der Bedeutung unserer Begriffe als auch als Ausdruck unserer Überzeugungen über die Welt gelesen werden. Selbst in Bezug auf singuläre Sätze können wir dies sagen. Dass Angela Merkel die aktuelle Kanzlerin ist, ist nicht nur etwas, was wir wissen, sondern kann durchaus als bedeutungsbestimmende Beziehung verstanden werden: Wer den Satz »Angela Merkel ist Kanzlerin« leugnet, der scheint (wenn er einigermaßen über die politische Welt informiert ist und keine Witze machen will) mit »Kanzlerin« (oder gar mit »Angela Merkel«) etwas anderes zu meinen als wir. Tatsächlich ist dies sogar in Bezug auf jene singulären Sätze der Fall, die als Beobachtungssätze, also als nicht-inferenzielle Reaktionen auf äußere Umstände, geäußert werden. Wie bei »Angela Merkel ist Kanzlerin« könnte (in einigermaßen normalen Situationen) die Bezweiflung des Satzes »Dies ist die _____________ 11 Siehe noch einmal Abschnitt 2.3.2, dort auch Fußnote 22. 12 Dies gilt auch für Sätze mit demonstrativem bzw. indexikalischem Vokabular wie »Dies ist ein Tier« – hier wird eine nicht-inferenzielle Beziehung ausgedrückt.

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aktuelle Kanzlerin« oder gar »Dies ist Angela Merkel« zu einer ReInterpretation der Äußerungen des zweifelnden Sprechers führen. Wird nun berücksichtigt, dass alle unsere Ausdrücke – Indikativsätze wie auch einzelne Wörter – in ganzen Netzwerken interner Beziehungen zusammenhängen, sehen wir, dass letztlich jede Divergenz zweier Sprecher in Bezug auf ein gegebenes Urteil ein echtes Problem des gegenseitigen Verstehens aufwirft: Jede Divergenz in Bezug auf einen Indikativsatz wirft die Frage auf, ob die Sprecher dasselbe Sprachspiel spielen. Wittgenstein war einer der ersten Philosophen, die dies klar gesehen haben: Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen.13

Ohne Zweifel ist dies aus der Sicht klassischer Sprachverständnisse ein harter Brocken, und nicht wenige philosophische Kommentatoren sind geneigt, die These Wittgensteins einfach als reductio ad absurdum zu verstehen und mit ihr die gesamte Sprachspieltheorie mitsamt ihrem Verzicht auf atomistische Abbildungsbeziehungen zurückzuweisen.14 Diese Kommentatoren bestehen darauf, dass wir einander sehr wohl verstehen können, auch wenn wir nicht in Bezug auf jedes einzelne Urteil bzw. auf jede einzelne begriffliche Festlegung übereinstimmen. Auf den ersten Blick scheint diese Antwort das pragmatistische Sprachverständnis tatsächlich als absurd auszuweisen. Doch diese Reaktion ist vorschnell. Um dies zu zeigen, könnten wir uns den Begriff des Verstehens vornehmen und darauf hinweisen, dass das Verstehen nach einem angemessenen Verständnis ein graduelles Phänomen ist. Es gibt aber eine effektivere Methode, mit der wir die reductio-ad-absurdum-Lesart der Wittgensteinianischen These zurückweisen können. Sie besteht in dem Vorschlag, die von Wittgenstein affirmierte Konsequenz des Pragmatismus als eine bescheidene These über einen Aspekt unseres alltäglichen Umgangs mit propositionalen Divergenzen zu lesen. Der Punkt ist, dass wir auf eine propositionale Divergenz normalerweise reagieren, indem wir zu diskutieren beginnen. Und dieses Diskutieren kann nun verstanden werden als nichts anderes als der Versuch, das gegenseitige Verständnis wiederherzustellen. Ein genauerer Blick auf die Praxis des Diskutierens bestätigt die Plausibilität dieser Lesart. Der für unsere Zwecke interessanteste Zug des alltäglichen Diskutierens ist, dass in einer Diskussion Fragen gestellt und _____________ 13 Wittgenstein 2003d [PU], §242, s.a. Kap. 2, Fußnote 9. 14 Siehe etwa Fodor und Lepore, 1992, 8ff. oder Dummett, 1993, 599f. Das Problem wird auch in Heal, 1994, 328ff. diskutiert; Heals (zwei) Lösungsstrategien scheinen mir kompatibel mit (aber unterschieden von) der in diesem Kapitel angebotenen Strategie zu sein.

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Aussagen gemacht werden, die außerhalb der Diskussion als banal bezeichnet würden (und deswegen auch gar nicht vorkommen). Denken wir uns noch einmal in den Kontext der Rede über Hunde, und stellen uns eine Sprecherin vor, die vor einem Hund steht und (ernsthaft) behauptet: »Dies ist kein Säugetier«. Was tun wir mit dieser Sprecherin? Nun, wir präsentieren ihr interne Beziehungen der fraglichen Begriffe – also »Hund« und »Säugetier« – und testen, ob sie die entsprechenden Aussagen mitzutragen bereit ist: »Wir sind uns aber einig, dass Hunde Säugetiere sind, oder?«, »Wir sind uns auch einig, dass jene Tiere, die vom Wolf abstammen und als Haustiere beliebt sind, als Hunde bezeichnet werden, oder?«, »Und dies hier ist doch ein Hund, oder nicht?« – und so weiter, und so fort. Mit dieser Praxis des Abtastens interner Beziehungen versuchen wir, zu einer gemeinsamen Sprache zurück zu finden. Dabei hoffen wir auf eines von zwei Ergebnissen (obgleich wir immer auch mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass unsere Interpretation scheitert und uns keine Resolution des Konflikts gelingt – dies ist der dritte der möglichen, oben skizzierten, Ausgänge). Entweder, wir finden den genauen Ort, an dem wir einen Fehler zuschreiben können, von dem wir vorher nur ahnten, dass er irgendwo begangen wurde. Will unsere Sprecherin vielleicht sagen, dass das vor uns sitzende Tier kein Hund ist? Dass Hunde keine Säugetiere sind? Oder etwas ganz anderes? Oder aber, wir finden heraus, dass wir gar keine echte Meinungsverschiedenheit hatten, sondern von Anfang an aneinander vorbeigeredet haben. Im vorliegenden Fall ist es beispielsweise vorstellbar, dass es sich bei dem Hund nur um ein Stofftier handelte und die eine Partei bei Stofftieren nicht von Säugetieren sprechen würde, wohingegen die andere Partei auch im Falle von Stofftieren von »ist ein Hund« auf »ist ein Säugetier« schließen würde. In beiden Fällen können wir unter Umständen zu einer aufwendigen und komplexen Übersetzung der Äußerungen unseres Gegenübers gezwungen sein.15 Doch wie komplex und aufwändig unsere Interpretationsbemühungen auch sein mögen: In der Diskussion zielen wir auf eine der beiden möglichen Ergebnisse – entweder die Ermittlung des zugrunde liegenden Fehlers, oder den Nachweis der Kompatibilität unserer Überzeugungen. Schauen wir uns kurz den erwarteten Fall an, dass tatsächlich ein Fehler vorliegt. In unserem (etwas weit her geholten, aber dafür einfachen) Szenario könnte es sich beispielsweise zeigen, dass die Sprecherin den Schluss von »Hund« auf »Säugetier« schlichtweg nicht beachtet hatte, aber auf ihn hingewiesen werden kann. Es könnte auch sein, dass die Sprecherin aus irgendeinem Grund dachte, Hunde seien Reptilien. In diesem Fall würde die Diskussion früher oder später die internen Beziehungen des _____________ 15 Im Grenzfall würden wir sagen, dass die Sprecherin eine fremde Sprache spricht.

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Begriffs »ist ein Reptil« unter die Lupe nehmen. Spätestens bei der Kaltblütigkeit von Reptilien sollte der Sprecherin nachgewiesen werden können, dass sie sich eines Fehlers schuldig gemacht hat. Übrigens ist es für die Interpretation eines Konflikts als Meinungsverschiedenheit nicht zwingend notwendig, dass die irrende Sprecherin ihren Fehler am Ende zugibt und ihre Position entsprechend revidiert. Allerdings muss in diesem Fall mit besonderer Sorgfalt nachgewiesen werden, dass die Sprecherin die fraglichen Begriffe nicht doch anders verwendet als wir und wir insofern an ihr vorbeireden. Sollte sie aber tatsächlich mit uns in Bezug auf alle von uns vorgebrachten intern verknüpften Urteile übereinstimmen und nur bei der einen Aussage (»Dies ist ein Säugetier«) von uns divergieren, so dürfen wir in den meisten Kontexten von einem Fehler auf Seiten der abweichenden Sprecherin ausgehen. Diese Interpretation kann zusätzliche Stabilität bekommen, wenn wir eine kausale Erklärung ihrer Abweichung haben. In verwandten Fällen reicht etwa der Hinweis auf die Farbenblindheit, die Abwesenheit eines absoluten Gehörs oder die Depression eines fehlerhaft urteilenden Menschen. An unserem einfachen Fall können wir sehen, dass Wittgensteins Behauptung der Abhängigkeit des Verstehens von der Übereinstimmung in Bezug auf konkrete Urteile alles andere als absurd ist. Tatsächlich ist Wittgensteins Punkt in komplexeren Bereichen der Alltagssprache noch offensichtlicher. Während das Hund-Beispiel aus einem sehr einfachen und sehr etablierten Bereich unserer Alltagssprache bzw. unseres Alltagswissens stammt, sind die echten propositionalen Konflikte unseres sprachlichen Alltags in sehr viel komplexeren und weniger etablierten Bereichen unserer Sprache angesiedelt. Die vertracktesten Konflikte treten zum Beispiel in Fragen wie derjenigen auf, ob bestimmte Symptome auf eine bestimmte Krankheit schließen lassen und eine bestimmte Therapie sinnvoll machen, oder ob bestimmte Indizien auf eine Täterschaft des Verdächtigen schließen lassen und einen Richter insofern auf eine bestimmte juristische Reaktion festlegen.16 Je vielfältiger die internen Beziehungen und je weniger überschaubar die vielen relevanten Erwägungen, desto anspruchsvoller gestaltet sich das gegenseitige Interpretieren. Und dies betrifft nicht nur den Gehalt der umstrittenen Äußerungen, sondern auch den Status des Konflikts. Vor einer Resolution muss der Status des Konflikts als unbekannt behandelt werden. _____________ 16 Unser Hauptinteresse wird in den kommenden Abschnitten den ethischen Konflikten gelten, welche ebenso komplex sind wie medizinische oder juristische Streitigkeiten und sich – in ihrer sprachtheoretischen Struktur von letzteren nicht unterscheiden.

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Wir haben nun zweierlei gesehen. Erstens: Es ist eine Konsequenz des pragmatistischen Verständnisses der propositionalen Rede, dass propositionale Konflikte mit Störungen des gegenseitigen Verständnisses einhergehen. Zweitens: Richtig verstanden spricht diese Konsequenz nicht gegen das pragmatistische Verständnis der propositionalen Rede. Das Diskutieren, das sich im Rahmen propositionaler Konflikte natürlicherweise einstellt, dient dazu, sprachliche Dispositionen zutage zu fördern, auf deren Basis sich das gegenseitige Verständnis wiederherstellen lässt. Die Wiederherstellung des gegenseitigen Verständnisses bringt entweder die Erkenntnis der Kompatibilität der betroffenen Überzeugungen mit sich oder aber die Kenntnis des Fehlers an der Wurzel des Konflikts. Es liegt auf der Hand, inwiefern diese Lehren die im vorangegangenen Kapitel entworfene Sprachspieltheorie der Ethik zu unterstützen vermögen: Auf die beschriebene Weise verstandene propositionale Konflikte sind sowohl mit einem ethischen Objektivismus als auch mit einem ethischen Rationalismus kompatibel. Mehr noch: Wer berücksichtigt, wie prekär das gegenseitige Verstehen ist, der verliert sowohl den Drang zum NonKognitivismus als auch den Drang zum ethischen Relativismus. 3.2.3 Grammatische und informative Sätze Bevor wir die erarbeiteten Ergebnisse im ethischen Diskurs festmachen, möchte ich rasch eine auf Wittgenstein zurückgehende Terminologie einführen und dabei ein häufig vorkommendes Missverständnis aus dem Weg räumen. Die Rede ist von der Unterscheidung zwischen grammatischen und informativen Sätzen. Ich hatte oben betont, dass in Diskussionen oftmals Sätze fallen, die außerhalb einer Diskussion gar nicht geäußert würden, weil jeder einigermaßen normale Sprecher die durch sie kodifizierte Information bereits kennt. Die Sätze drücken interne Beziehungen aus, die im Fall der glückenden Verständigung einfach vorausgesetzt werden, und auf deren Basis andere Sätze interpretiert werden. In unserem Beispiel, in dem eine Sprecherin den Satz »Dies ist ein Säugetier« partout nicht akzeptieren wollte, wurde beispielsweise der Satz »Hunde sind Säugetiere« geäußert – ein Satz, der im Normalfall zu banal ist, um den Aufwand seiner expliziten Äußerung zu rechtfertigen.17 Nur in einer Diskussion, also in einer Situation, in _____________ 17 Tatsächlich wäre die Äußerung nach Wittgenstein im Normalfall nicht nur zu aufwendig – aber ansonsten akzeptabel –, sondern sogar irreführend: Der Ausdruck eines allseits bekannten Sachverhalts animiert die Zuhörer nämlich dazu, nach einem nicht-banalen Sinn des Satzes zu suchen, den es mitunter gar nicht

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der das gegenseitige Verständnis gestört ist, lassen sich diese Sätze sinnvoll äußern. In Wittgensteins Terminologie sind diese Sätze grammatische Sätze. An dieser Stelle nun könnte sich folgendes Missverständnis ergeben: Im Licht der Tatsache, dass alle Sätze Teile des Netzwerkes sind, durch das und innerhalb dessen unsere Ausdrücke bedeutungsvoll sind, und dass somit alle Sätze als Ausdrücke interner Beziehungen gelesen werden können, könnte nun behauptet werden, alle Sätze seien grammatisch. Hat nicht Wittgenstein mit seiner Kopplung des Verstehens an die Übereinstimmung in konkreten Urteilen selbst dieser Konsequenz zugestimmt? Das Missverständnis lässt sich durch die Unterscheidung zwischen Sätzen als mehrfach äußerbaren Typen einerseits und in konkreten Situationen geäußerten Sätzen andererseits – im philosophischen Jargon: Token – auflösen. Nach Wittgenstein und der pragmatistischen Schule kann ein Satz – verstanden als Typ – sowohl im Rahmen einer grammatischen als auch im Rahmen einer nicht-grammatische, informativen, Äußerung fallen. Der konkrete Satz – verstanden als Token – ist dann ein grammatischer oder ein nicht-grammatischer, informativer. Worauf es ankommt, ist, ob die Information, die mit einem Satz ausgedrückt werden kann, als dem Publikum bereits bekannt vorausgesetzt wird oder nicht. Wird sie als bekannt vorausgesetzt – wird also davon ausgegangen, dass es im Überzeugungsnetzwerk des Publikums eine materiale Entsprechung des geäußerten Satzes gibt – so kann die Äußerung des fraglichen Satzes nur dazu dienen, Klarheit über die verwendeten Begriffe zu schaffen. Wir können dann von einem grammatischen Satz sprechen. In unserem Beispiel hat der Satz »Dies hier ist (doch) ein Hund (,oder?)« diese Rolle gespielt: Selbst, wenn der Satz verneint wird, wird vom Interpreten zunächst noch davon ausgegangen, dass es im Überzeugungsnetzwerk des Zuhörers eine Entsprechung gibt und die Tatsache somit nicht geleugnet wird. Wird die Information nicht als bekannt vorausgesetzt, so ist der Satz nicht grammatisch – nun ist er informativ oder auch empirisch. Stellen wir uns beispielsweise vor, dass der Satz »Dies ist ein Hund« einer blinden Person gesagt wird. In diesem Szenario kann er als ein informativer, also nichtgrammatischer, Satz gelesen werden.18 Wittgenstein bestätigt: _____________ gibt. Für den spätesten Wittgenstein war dies das Problem hinter Äußerungen wie G.E. Moores berüchtigtem Ausspruch »Ich weiß, dass ich zwei Hände habe« (siehe Wittgenstein, 2003f [ÜG], insb. §§67–81). Systematisch untersucht werden pragmatische Interpretationsstrategien seit H.P. Grices Gründung der philosophischen Pragmatik (siehe etwa Grice, 1989). 18 Übrigens gibt es ein weiteres Missverständnis im Zusammenhang mit der Rede von grammatischen Sätzen, welches ich nur am Rande ansprechen möchte. Manchmal wird davon ausgegangen, dass grammatische Sätze nur in der Rede von Philosophen vorkommen. (Beispielsweise scheint Marie McGinn dies in

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Sätze werden oft an der Grenze von Logik und Empirie gebraucht, so daß ihr Sinn über die Grenze hin und her wechselt und sie bald als Ausdruck einer Norm, bald als Ausdruck einer Erfahrung gelten. (Denn es ist ja […] die Verwendung, die den logischen vom Erfahrungssatz unterscheidet.) 19

3.2.4 Zur Anwendung in der ethischen Sprache Wir haben gesehen, dass die Bedeutung von Begriffen – also der Beitrag sub-sentenzieller Einheiten zur praktischen Signifikanz der Sätze, in denen sie vorkommen – in ihren substitutionellen Beziehungen mit anderen Begriffen liegt. Dies war in zweierlei Hinsicht ein wichtiges Ergebnis. Erstens zeigte sich darin, dass wir auch auf der sub-sentenziellen Ebene ohne die Idee von abbildenden Beziehungen zwischen der Sprache und der Welt auskommen. Und zweitens zeigte sich, dass auch logisch einfache Sätze (wie »Hunde sind Säugetiere« oder gar »Dies ist ein Hund«) als Ausdrücke grammatischer Beziehungen gelesen werden können, mit denen wir im Diskutieren nichts anderes tun als die Verwendungsweisen unserer Begriffe vorzuführen, damit in einem späteren Schritt Fehler zugeschrieben oder Einverständnisse erkannt werden können. Wir haben dann gesehen, dass in der propositionalen Rede die einzige Alternative zur Zuschreibung eines Fehlers und zur Einverständniserklärung das Eingeständnis des (einstweiligen) Nicht-Verstehens ist. Allerdings haben wir bisher mit ziemlich weit her geholten Beispielen gearbeitet. Tatsächlich bietet die ethische Rede viel klareres Anschauungsmaterial unserer Thesen. Wir kommen somit (endlich) zur ethischen Rede. Bereits im zweiten Kapitel haben wir im Kontext der »NonZentralismus«-These gesehen, dass »dünne« ethische Terme mit »dicken« ethischen Termen auf eine solche Weise verwoben sind, dass es unmöglich ist, einen dünnen ethischen Term wie »gut« oder »schlecht« zu verstehen, ohne die Verwendung einer Reihe dicker ethischer Terme zu beherrschen. Der analoge Fall im Bereich des Farbvokabulars war die Unmög_____________ McGinn, 1997, 12ff., zu implizieren.) Das Problem an dieser These ist das »nur«. Klar ist, dass viele Philosophen mittels grammatischer Sätze ihre Zuhörer an die alltägliche Verwendung unserer Begriffe erinnern und sie so von ihren philosophischen Illusionen abzubringen versuchen. Im Lichte des hier skizzierten Grammatikverständnisses ist es aber wichtig zu verstehen, dass grammatische Sätze nicht nur Philosophenwerkzeuge sind, sondern durchaus alltägliche Manöver. Grammatische Sätze sind die Währung des Diskutierens; ohne sie wäre es uns unmöglich, Übereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten überhaupt zu identifizieren. 19 Wittgenstein, 2003a [BF], I:32, s.a. Wittgenstein, 2003f [ÜG], § 309.

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lichkeit, den Begriff der »Farbe« zu verstehen, ohne die Verwendung konkreter Farbwörter und damit die Navigation durch die »Farbgeometrie« zu beherrschen. »Zeigt uns nicht gerade die Farbengeometrie,« so fragte Wittgenstein in seinen Bemerkungen über die Farben, »wovon die Rede ist, dass nämlich von den Farben die Rede ist?«20 In Bezug auf ethisches Vokabular können wir dies nun auch als These über die Interpretation fremder Äußerungen formulieren. Wenn ein fremder Sprecher einen Satz mit einem dünnen ethischen Term formuliert, können wir ihn erst dann als Ausdruck einer bestimmten Proposition verstehen, wenn wir wissen, wie der fragliche Sprecher die relevanten dicken ethischen Terme verwendet, die die Bedeutung des verwendeten Terms bestimmen. Bei den meisten Satzäußerungen müssen wir uns freilich keine Sorgen um mögliche Missverständnisse machen. Doch im Fall von Konflikten wird die These wichtig. Sie besagt nun, dass wir bei einem propositionalen Konflikt um ein ethisches Urteil das Netzwerk dicker ethischer Terme durchkämmen müssen, um den Status des Konflikts ermitteln zu können. In diesem Zusammenhang sollten wir uns klar machen, wie komplex und wie abhängig von der Lebenserfahrung diese Netzwerke sind. Aus diesem Grund sollten wir in Bezug auf ethische Gesamturteile reichlich Konflikte erwarten. Und zwar nicht trotz, sondern aufgrund unserer Festlegung auf den ethischen Objektivismus. Bei der Interpretation ethischer Urteile gibt es eine diskussionswürdige Besonderheit, die sich so nicht in der Interpretation von (sagen wir) Farburteilen zeigt: Bei ethischen Gesamturteilen können wir oftmals schon wissen, dass wir uns in einer Meinungsverschiedenheit befinden, bevor wir den genauen logischen Ort der Inkonsistenz und damit des Fehlers ermittelt haben. Dies liegt daran, dass Gesamturteile, also »gut«-, »richtig«-, oder auch »schlecht«- oder »falsch«-Urteile logisch unmittelbar mit Handlungen verknüpft sind: Wer zum Beispiel behauptet, die Handlung Ф sei in einer bestimmten Situation gut oder richtig, der ist in der entsprechenden Situation auf die Handlung Ф bzw. auf ihre Ermöglichung oder Unterstützung festgelegt und wird bei einer Verletzung dieser Festlegung Verwunderung und Unverständnis auslösen. Da gewöhnliche Sprecher nun in ethischen Belangen oft nicht nur die Äußerungen, sondern auch die Handlungen anderer Sprecher zurückweisen, ist somit klar, dass ethische Konflikte oftmals nicht durch adäquatere Interpretationen bereinigt werden können und damit echte Meinungsverschiedenheiten sind.21 Wir wollen uns nun einen beispielhaften ethischen Konflikt ansehen. _____________ 20 Wittgenstein, 2003a [BF], III:86, siehe auch noch einmal Abschnitt 2.3.5. 21 Ich mache hier die (plausible) Annahme, dass Zurückweisungen bzw. Zurückweisungsverhalten bereits verstanden werden.

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Stellen wir uns einen Konflikt über das Urteil »Es wäre (hier und jetzt) richtig, der verletzten Person zu helfen, auch wenn wir dadurch zu spät zur Beerdigung unserer Großmutter kommen« vor. Sagen wir, wir stimmen dem Satz zu, während die gegnerische Partei ihn ablehnt. Nach allem, was bisher gesagt wurde, können wir uns auf eine komplexe Diskussion gefasst machen. Doch was ist darüber hinaus über den Fall zu sagen? Zuallererst sollte anerkannt werden, dass sich der Fall als ein Missverständnis herausstellen kann. Wir haben es schließlich mit zwei noch un-interpretierten satzartigen Ausdrücken zu tun, die zunächst nur auf der syntaktischen Ebene inkonsistent erscheinen. Allerdings ist durch die direkten praktischen Bezüge unserer Äußerungen, die sich zum Beispiel in unserem Anhalten oder im energischen Weitergehen der gegnerischen Partei zeigen, wohl bald klar, dass es sich nicht um ein reines Missverständnis handeln kann. Was es nun also zu tun gilt, ist, den logischen Ort der Inkonsistenz der Überzeugungsmengen – also den Fehler – näher einzugrenzen. Hierzu müssen wir Sätze formulieren, die jeweils intern mit den konfligierenden Urteilen verbunden sind. Wenn wir die Beziehungen einigermaßen explizit machen, so wird dieses Unterfangen die Form des Argumentierens haben. Dabei gibt es keinen Grund anzunehmen, dass das Argumentieren in diesem Fall anders verläuft oder anders interpretiert werden sollte als das Argumentieren in anderen Fällen propositionaler Konflikte. Was für Argumente fallen also in unserer Beispieldiskussion? Nun, zum Beispiel folgendes:22 »Der wichtigste Grund für die Bevorzugung des pünktlichen Erscheinens auf der Beerdigung ist die Pietät- oder Respektlosigkeit des Zuspätkommens. Die Erwägung der Pietät bzw. des Respekts ist aber letztlich nur relevant, insofern pietät- bzw. respektloses Handeln verletzend ist. Dies heißt, dass hinter der Erwägung der Pietät bzw. des Respekts das Ziel der Vermeidung von Schmerz steckt. Nun ist die Vermeidung von Schmerz auch das Ziel hinter einer Entscheidung gegen die Pünktlichkeit bei der Beerdigung und für die Nothilfe für die verletzte Person. Da solche Entscheidung für die Nothilfe und gegen die Pünktlichkeit insgesamt eine bessere Bilanz der Verursachung und Verhinderung von Schmerz aufweist, ist sie zu unterstützen.« Interessant ist an diesem Argument, dass in ihm eine Erwägung (Pietät) mit einer weiteren Erwägung (Schmerzverhinderung) verknüpft wird. Dies ist eine interne Beziehung und insofern wesensgleich mit den internen Beziehungen, die in der ersten (noch nicht-ethischen) Beispieldiskussion aufgeführt wurden. _____________ 22 Die folgenden Argumente sind nur Rekonstruktionen von Satzsequenzen, die in der wirklichen Welt zumeist viel elliptischer ausfallen oder aus Zeit- oder Disziplinmangel der Streitenden überhaupt nicht erst geäußert werden. Mit ihnen soll das kognitive Wesen von Konflikten wie dem skizzierten aufgezeigt werden.

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Und wie sieht ein Gegenargument aus? Nun, vielleicht wird diese interne Beziehung bestritten. »Aber in der Pietät geht es doch nicht bloß um die Verhinderung von Schmerz!« Oder die Erwägung der Verhinderung von Schmerz wird ihrerseits mit einer weiteren Erwägung verknüpft, auf deren Basis wiederum die andere Handlungsalternative, also die Entscheidung gegen die Nothilfe, dialektisch gewinnt. (Vielleicht fällt dem Leser ein einigermaßen plausibles Argument dieser Art ein.) Genau wie in der oben diskutierten Beispieldiskussion gilt es, den logischen Ort der Inkonsistenz zu ermitteln, sodass eine klare Fehlerzuschreibung möglich wird. Natürlich fallen in einer »ethischen« Diskussion vor allem »wertende« Aussagen, also Aussagen, die als Rechtfertigungen oder Erklärungen nicht-sprachlichen Verhaltens figurieren können. Dies ist aber kein philosophisch relevanter Unterschied und auch kein theoretisches Problem, da alle sinnvollen Äußerungen ihre Bedeutung letztlich durch ihre Rolle im Sprachspiel erhalten, und da letzteres immer als nahtlos mit der Welt der praktischen Verrichtungen verstanden werden muss.23 Eine andere mögliche Wendung unserer Diskussion wäre, dass die Streitenden im Gespräch aufdecken, dass ihre Differenz auf unterschiedlichen Einschätzungen der Situation basiert, welche wir gar nicht als »ethische« Einschätzungen bezeichnen würden – also deren propositionale Ausdrücke nur indirekte praktische Konsequenzen haben. Zum Beispiel schätzen wir die vorliegende Verletzung des Passanten als ganz unterschiedlich gravierend ein: Während wir die Verletzung für lebensbedrohlich halten, denkt die gegnerische Partei, dass die Verletzung nur oberflächlich ist. Oder die Parteien schätzen den Eindruck eines Zuspätkommens auf die anderen Trauernden ganz unterschiedlich ein, weil sie mit unterschiedlichen psychologischen Theorien über die Trauernden operieren. In diesen Fällen müsste die Diskussion – sollte sie gewissenhaft ausgetragen werden und genug Zeit für sie vorhanden sein – sich bald auf medizinisches bzw. psychologisches Terrain verlagern: Ist die Verletzung schwer oder leicht? Ist die eine oder die andere psychologische Theorie (oder keine von beiden) korrekt? Welche ist besser begründet? Welche Annahmen sind plausibler? Und so weiter, und so fort. _____________ 23 Ein Rätsel ergibt sich für die Pragmatistin eher, wenn behauptet wird, dass einige Sätze – zum Beispiel die naturwissenschaftlichen – keine praktischen Konsequenzen haben. Doch die Pragmatistin weist diese These zurück: Der Eindruck der »rein deskriptiven« Natur wissenschaftlicher Sätze entsteht nur deswegen, weil die praktischen Beziehungen letzterer indirekt sind. Dass auch sie letztlich mit der Welt der praktischen Verrichtungen verbunden sind, zeigt ein genauerer Blick auf die Wissenschaft, für die wir uns gerade deswegen interessieren, weil wir nicht bloß interesselose Beschreiber oder Erklärer der Welt sind.

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Ob nun das Zentrum der Diskussion in naturwissenschaftlich zugänglichen Fragen oder im Feld klassischer ethischer, also direkt handlungsrelevanter und damit »wertender« Propositionen liegt – nichts spricht dagegen, die Diskussion genau so zu verstehen und zu behandeln wie jede andere Diskussion auch. Weder die Tatsache, dass »ethische Sätze« besonders direkte praktische Konsequenzen haben, noch die Tatsache, dass Unstimmigkeiten über sie besonders häufig vorkommen, ist ein hinreichender Grund für eine Sonderbehandlung ethischer propositionaler Konflikte. Dies betrifft auch Fälle, in denen eine Resolution eines Konflikts sich partout nicht einstellen will. Genau wie in allen anderen propositionalen Konflikten erlangen wir erst mit der Resolution des Konflikts – also mit der Erklärung eines reinen Missverständnisses oder einer genuinen Meinungsverschiedenheit – endgültige Klarheit über den Status des Konflikts. Und genau wie bei allen anderen propositionalen Konflikten bleibt es vor der Resolution unangemessen zu sagen, wir verstünden die gegnerische Partei bzw. die Parteien.24 Ob sich die Resolution irgendwann einstellt oder nicht: Neben den drei interpretativen Möglichkeiten bleibt kein Raum für eine vierte. Ein Fall, in dem ein Sprecher von unseren Positionen divergiert – und zwar beharrlich divergiert – dabei aber nicht entweder bloß an uns vorbei redet oder eine Meinungsverschiedenheit mit uns hat, ist inkompatibel mit dem aus unabhängigen Gründen plausiblen pragmatistischen Verständnis der Indikativsätze. Zudem ist er durch die Phänomenologie der ethischen Rede nur so lange gedeckt, wie wir die interpretative Möglichkeit – und Plausibilität – von opaken oder ungeklärten Konflikten ignorieren. Sollte dagegen die Möglichkeit prinzipieller Inkommensurabilitäten, also Unübersetzbarkeiten, ins Spiel gebracht werden, so lautet die Antwort, dass wir uns eine Sprache, die uns interpretativ prinzipiell verschlossen bleibt, überhaupt nicht vorstellen können. Von einer Sprache zu sprechen heißt, von der Möglichkeit des Verstehens zu sprechen.25 _____________ 24 Wiederum gilt, dass wir als Kommentatoren eines fremden Konflikts letztlich in der gleichen interpretationstheoretischen Situation sind wie die Konfliktparteien selber. Auch als Kommentatoren müssen wir Stellung zu den Äußerungen und Handlungen der Konfliktparteien nehmen. 25 Eine exzellente jüngere Diskussion des Themas – zwar außerhalb des Kontextes der Ethik, dafür aber mit einer expliziten Kritik an der kontinentalphilosophischen Variante der Inkommensurabilitätsthese – findet sich in Kober 2000. Die klassische Widerlegung der Möglichkeit alternativer, inkommensurabler Begriffssysteme findet sich in Davidson, 1974b. An dieser Stelle sollte explizit eingeräumt werden, dass die These der logischen Unmöglichkeit echter Inkommensurabilität nicht Fälle wie denjenigen ausschließen soll, in dem eine Praxis einfach präzisere Unterscheidungen zulässt als eine andere (als Beispiel kann hier die oft genannte

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Wie wir es auch drehen und wenden: Haben wir uns erst einmal für eine propositionale Interpretation des ethischen Diskurses entschieden, so haben wir uns für einen ethischen Objektivismus entschieden, der sich weder mit dem Hinweis auf ethische Konflikte noch mit dem Hinweis auf fremdartiges ethisches Verhalten so leicht aus dem Sattel heben lässt. Bevor wir uns einige Gegenargumente gegen die skizzierte Behandlung ethischer Konflikte durch die Sprachspieltheorie ansehen, möchte ich noch auf eine interessante Konsequenz des oben erarbeiteten Verständnisses »grammatischer« Sätze hinweisen, welche im zweiten Teil dieser Arbeit wichtig werden wird: Diejenigen Sätze, die wir als »ethische Prinzipien« kennen, sind nichts anderes als grammatische Sätze. Sie sind nichts anderes als Explikationen interner Beziehungen zwischen Begriffen, von denen jeweils mindestens einer ein ethischer Term (zumeist ein dünner ethischer Term) ist. Sie sind transzendental in dem Sinn, dass ihre Verneinung ein Ausdruck eines Missverständnisses (oder ein Plädoyer für eine semantische Revision), nicht aber ein (an sich hinreichendes) Anzeichen einer Meinungsverschiedenheit ist. Um diese Lesart als die korrekte Interpretation ethischer Prinzipien anzuerkennen, müssen wir uns letztlich nur noch einmal die propositionale und empirische Natur üblicher ethischer Äußerungen in Erinnerung rufen. Wir haben bereits gesehen, dass gewöhnliche ethische Äußerungen nicht nur grammatisch betrachtet Indikativsätze sind, sondern zudem in der überwältigenden Mehrheit der Fälle die Struktur konkreter empirischer Urteile besitzen. Hiermit ist gemeint, dass sie konkrete Personen, Handlungen oder Situationen, die zudem oft mittels indexikalischer bzw. demonstrativer Ausdrücke bestimmt werden, mit Prädikaten versehen, welche ihrem Anspruch nach interpersonal überprüfbar sind. Übliche ethische Urteile lauten: »du hast dich sehr integer verhalten«, »Peters ständige Lügen sind feige« oder »was diese Leute tun, ist ein Verbrechen«. Interessant ist nun, dass Urteile, in welchen ein empirisches Prädikat als (logischer) Gegenstand firmiert und mit einem weiteren Prädikat versehen wird, genau wie in den Wissenschaften ziemlich sichere Hinweise darauf sind, dass der Kontext der Äußerung ein Beibringen, ein Streit oder ein bis dato neuer und unsicherer Fall ist. Beispiele entsprechender ethischer Sätze, die ich aus nahe liegenden Gründen nicht-empirisch oder auch theoretisch nenne, sind: »Integrität gibt es nicht ohne eine Prise Gefühlskälte«, »Unehrlichkeit kann ein Ausdruck von Liebe sein« oder »Unnötige _____________ Behauptung der vielen Weiß-Unterscheidungen der Innuit genannt werden, für die wir keine Worte haben). Dies ist keine interessante Inkommensurabilität, da die präziseren Unterscheidungen ohne weiteres eingeführt werden können, ohne dabei Spannungen in unsere Sprache zu bringen; siehe Stout, 2000, 64f.

Einige Gegenargumente

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Grausamkeit ist immer ein Verbrechen«. Vor dem Hintergrund der Sprachspieltheorie mit ihrer Unterscheidung zwischen grammatischen und empirischen Sätzen sollte die richtige Interpretation der zuletzt genannten Beispielsätze auf der Hand liegen. Ihr Status lässt sich plausibel mit ihrer Funktion angeben, grammatische Beziehungen zwischen Ausdrücken zu explizieren, deren Hauptrolle in empirischen Urteilen liegt.26 Sie sind grammatische Sätze, und ein Konflikt in Bezug auf sie muss entweder als ein Missverständnis oder als ein Plädoyer für die Ersetzung des propositionalen Spiels durch ein neues Spiel interpretiert werden. Diese Interpretation ethischer Prinzipien stellt den Abschluss unserer Verteidigung des Objektivismus dar. Mit ihr wird nebenbei noch einmal unterstrichen, dass das intellektuelle Zentrum unseres Objektivismus nicht die Vorstellung ist, dass es ethische Fakten in einem metaphysisch anspruchsvollen, also abbildtheoretischen Sinn gäbe. Es liegt vielmehr in der Idee, dass der philosophische Kommentator ein Spieler im Spiel der propositionalen Sprache ist, innerhalb dessen die Rede von einer Tatsache bloß dazu dient, sich auf eine Proposition festzulegen, welche ihrerseits als Status innerhalb des Sprachspiels verstanden wird. Ethische Prinzipien sind dabei nichts anderes als die Regeln, die der Kommentator als Hintergrund seiner weiteren Äußerungen sowie seiner nicht-sprachlichen Handlungen voraussetzt. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

3.3 Einige Gegenargumente 3.3.1 Leugnet die Sprachspieltheorie legitime ethische Unterschiede? Wenn die Sprachspieltheorie der Ethik in ihren Grundzügen formuliert ist, dauert es gewöhnlich nicht lange, bis sie mit einem Gegenargument konfrontiert wird, welches in verschiedenen Formen auftritt, aber im Kern immer das gleiche ist. Dieses Gegenargument beginnt mit der Feststellung der geographischen und historischen Vielfalt der ethischen Sensibilitäten bzw. Reaktions- oder Handlungsweisen.27 Dieser Vielfalt, so das Argument in seiner zweiten Prämisse, könne die Sprachspieltheorie mit ihrem interpretationistischen Zug nicht gerecht werden, da sie nicht in der Lage sei, legitime Unterschiede im ethischen Verhalten und Urteilen anzuer_____________ 26 Vergleiche: »Im Leben ist es ja nie der mathematische Satz, den wir brauchen, sondern wir benützen den mathematischen Satz nur, um aus Sätzen, welche nicht der Mathematik angehören, auf andere zu schließen, welche gleichfalls nicht der Mathematik angehören.« (Wittgenstein, 2003e [TLP], 6.211) 27 Vgl. Mackie, 1977, 36ff.

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kennen. Selbst, wenn eingestanden wird, dass die Sprachspieltheorie neben der direkten Ablehnung fremden Verhaltens als falsch noch die Möglichkeit offen lässt, dass ein fremdes Verhalten einfach nicht verstanden wird, so verstößt sie doch gegen die legitime Forderung, die Möglichkeit alternativer, aber gleichwertiger, also gleichermaßen akzeptabler, Verhaltensweisen anzuerkennen. Damit – so zumindest eine besonders scharfe Variante des Arguments – erweist sich die Sprachspieltheorie als eine Spielart des kulturellen Imperialismus: Sie erklärt unsere Lebensform – die Lebensform verhältnismäßig privilegierter Einwohner postchristlicher Industrienationen Westeuropas – implizit zum Standard und bewertet von dieser Warte aus alle anderen Lebensformen als minderwertig. Da dieser theoretische Einwand mit einer ziemlich massiven ethischen Kritik gepaart ist, liegt mir an seiner Zurückweisung eine ganze Menge. Zum Glück ist eine Verteidigung möglich. Das Problem am Einwand ist seine zweite Prämisse. Die Sprachspieltheorie ist nicht darauf festgelegt, Verhaltensweisen, welche von den »unsrigen« abweichen, notwendigerweise abzulehnen. Zwar ist es korrekt, dass die Sprachspieltheorie nichtsprachliches und sprachliches Handeln als miteinander verwoben ansieht, was letztlich auch dazu führt, dass sie nicht-sprachliches Handeln als mit propositionalen Festlegungen logisch verknüpft ansieht. Aus diesem Grund ist es ebenfalls korrekt, dass es nach der Sprachspieltheorie vorkommen kann, dass das nicht-sprachliche Handeln unterschiedlicher Akteure darauf hinweist, dass die Akteure in einem genuinen propositionalen Konflikt miteinander stehen (mitunter auch mit den Theoretikern – also mit uns, die wir ja Spieler im Sprachspiel sind). Und schließlich kommt dies nicht nur innerhalb von Kulturgrenzen vor, sondern auch in kulturübergreifenden Kontexten. Es wäre aber absurd, aus dieser Tatsache zu schließen, dass die Sprachspieltheorie darauf festgelegt wäre, Menschen, die unterschiedliche Verrichtungen ausführen, oder die vergleichbare Probleme auf unterschiedliche Weise lösen, notwendigerweise als Opponenten propositionaler Konflikte aufzufassen. Wohl folgt aus dem Vorliegen eines (propositionalen) Konfliktes, dass die Konfliktparteien unterschiedliche Handlungsdispositionen aufweisen. Aus dem Vorliegen unterschiedlicher Handlungsdispositionen folgt aber noch lange nicht die Existenz eines genuinen (propositionalen) Konflikts. Tatsächlich habe ich in diesem Kapitel mit Bedacht – nämlich aus genau diesem Grund – nicht von (praktischen) Unterschieden, sondern eben nur von Konflikten gesprochen, die sich sprachlich dadurch äußern, dass eine Seite einem geäußerten Urteil zustimmt, während die andere Seite es ablehnt. Vielleicht ist diese Antwort aber unfair, weil sie aus der aktuellen Kritik eine Karikatur macht. Sicher wäre es absurd zu behaupten, dass die

Einige Gegenargumente

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Sprachspieltheorie immer gleich von einem propositionalen Konflikt sprechen müsste, wenn verschiedene Menschen verschiedene Dinge tun. Vielleicht machen wir es uns daher zu einfach, wenn wir in der aktuellen Kritik eine solche These ausmachen. Könnte sich eine treffendere Kritik formulieren lassen, nach der die Sprachspieltheorie etwa mit jenen Fällen Schwierigkeiten bekommt, in denen in verschiedenen Gruppen oder Regionen unterschiedliche Forderungen oder Erwartungen von Akteuren gegenüber anderen Akteuren als angemessen behandelt werden? Gibt es Fälle, in denen solche Unterschiede völlig legitim sind, während die Sprachspieltheorie gezwungen ist, von propositionalen Konflikten zu sprechen und Stellung gegen die eine oder andere Gruppe zu beziehen? Eine Sprachspieltheoretikerin kann auch mit solchen Fällen ohne weiteres zurechtkommen. Dazu ist nur der Hinweis nötig, dass fremde Handlungs- oder Urteilsweisen einfach ungewohnte und daher zunächst unberücksichtigte Umstände reflektieren können. Nehmen wir uns einen kulturellen Unterschied der Art vor, wie er dem Kritiker der Theorie möglicherweise vorschwebt. Bekanntlich unterscheidet sich die in Westeuropa vorherrschende Familienstruktur stark von der in, sagen wir, Ostanatolien vorherrschenden Familienstruktur. Ein direkt damit verbundener Unterschied steckt in den informellen (und manchmal auch formellen) Erwartungen, die Familienangehörige in Bezug aufeinander haben. So gehen in Ostanatolien die Erwartungen an Kinder, sich im Erwerbsalter um ihre nicht mehr erwerbsfähigen Eltern zu kümmern, wesentlich weiter als in Westeuropa. Zwar werden Kinder auch in Westeuropa als ihren Eltern gegenüber besonders verpflichtet angesehen. Üblicherweise wird aber von westeuropäischen Eltern erwartet, dass sie sich selber angemessen versichern, sodass die Last für die jungen Familienangehörigen auch dann begrenzt bleibt, wenn ihre Eltern alt und hilfsbedürftig sind. Ferner gilt es in Westeuropa oftmals als akzeptabel, wenn Kinder ihre Eltern nicht in ihrem Haus aufnehmen, obgleich diese Frage freilich in jedem Einzelfall schwierig ist und auch als schwierig angesehen wird. Mit einiger Plausibilität können wir in diesem Zusammenhang von einem Fall sprechen, in dem unterschiedliche Gruppen sich unterschiedlich verhalten, ohne dass wir hier von einem propositionalen Konflikt sprechen müssen – und zwar weder von einer Meinungsverschiedenheit noch von einem Fall gegenseitigen Unverständnisses. Kurzum: Wir haben es hier mit legitimen Unterschieden zu tun. Es sollte einer Sprachspieltheoretikerin im skizzierten Fall nicht schwer fallen, Unterschiede in den Umständen zu finden, die als Rechtfertigungen der unterschiedlichen Handlungs- und Urteilsweisen in Frage kommen. Sie könnte zum Beispiel die Tatsache zitieren, dass eine familiengebundene Altersversorgung vor dem Hintergrund der in Ostanatolien

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vorherrschenden Arbeits- und Wohnstruktur relativ günstig ist, oder auch die Tatsache, dass es in Ostanatolien schlichtweg keine leistungsfähige, staatlich geförderte Altersversorgungsstruktur gibt. Zumindest auf den ersten Blick scheinen dies durchaus relevante Erwägungen zu sein. Freilich soll hier bloß ein Schema angedeutet werden, mit dem sich die aktuelle Kritik zurückweisen lässt. Bei konkreten Unterschieden in Handlungs- oder Urteilsweisen kann die Frage der Gleichwertigkeit natürlich sehr kompliziert sein – der Teufel steckt wie immer im Detail, und es sollte immer mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass zwei scheinbar gleichermaßen akzeptable Handlungsweisen sich als völlig unterschiedlich in ihren Werten herausstellen. Besonders schwierig ist es dabei, zu berücksichtigen, dass die Bewertung einer Handlungs- oder Urteilsweise sowohl ihre kurz- als auch ihre langfristigen und sowohl ihre direkten als auch ihre indirekten (systemischen, politischen) Folgen berücksichtigen muss.28 Die Sprachspieltheorie sollte allerdings offensiv erklären, dass bei der Suche nach relevanten Unterschieden in den Umständen auch lokale bzw. gruppeninterne Erwartungen berücksichtigt werden dürfen. Natürlich macht das bloße Vorliegen einer Erwartung seitens einer Gruppe von Akteuren die von ihr erwartete Handlungs- oder Urteilsweise nicht richtig. Dennoch können Erwartungen eine wichtige Rolle spielen: Nichterfüllte Erwartungen bringen oftmals Leid mit sich, und Leid kann eine eigenständige Erwägung bei der Bewertung von Handlungs- oder Urteilsweisen darstellen – unabhängig von der Berechtigung der Erwartung, durch deren Verletzung es verursacht wird.29 Auf dieser Basis können auch etwa Unterschiede in religiösen Überzeugungen als ethisch relevant aufgefasst werden. Selbst ein atheistischer Sprachspieltheoretiker kann anerkennen, dass es falsch sein könnte, in einer hypertraditionellen und hyperreligiösen Gegend auf einer nichtkirchlichen Hochzeit zu bestehen. Eine solche Position mag kontrovers sein, aber es ist nicht unplausibel, dass etwa die Vermeidung der Verletzung religiöser Gefühle oder der Beschädigung von friedens- und gemeinschaftsstiftenden Institutionen am Ende ausschlaggebend sein können. Mit diesem Hinweis wird sichtbar, dass wir durchaus komplexe Einstellungen gegenüber den Praktiken fremder Menschen einnehmen können: Während wir bestimmte Aspekte ihrer Lebensweise ablehnen können _____________ 28 Eine ernsthafte hermeneutische Auseinandersetzung mit einer fremden Praxis (und den mit ihr verwobenen Meinungen), in der es die Autoren nicht vermeiden, ihrer Kritik und damit ihrer Auffassung des kulturellen Unterschiedes als Instanz einer genuinen Meinungsverschiedenheit Ausdruck zu verleihen, findet sich in Menke und Pollmann, 2007, 94ff. 29 Zumindest muss eine solche Abhängigkeit indirekt und komplex sein.

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(zum Beispiel ihren Gottesglauben, oder ihre sich aus vermeintlich göttlichen Geboten speisenden homophoben oder frauenfeindlichen Sitten), können wir diese Aspekte doch als Teil des rechtfertigenden Hintergrundes weiterer Handlungen oder Praxiselemente sehen. Dies hat nichts mit der relativistischen Ansicht zu tun hat, dass bloß, weil irgendwo eine Forderung, Erwartung, Gewohnheit oder Überzeugung30 besteht, letztere auch als legitim betrachtet werden muss. Was den Ansatz der Sprachspieltheoretikerin auszeichnet, ist ihre Festlegung darauf, dass legitime Unterschiede als legitim ausgewiesen werden müssen, indem auf relevante Unterschiede in den Umständen hingewiesen wird. Die Bandbreite der als begründende Erwägungen zulässigen Umstände ist dabei zunächst unbeschränkt, kann aber natürlich selber Gegenstand des Spiels des Gebens und Verlangens von Gründen sein. Zum Abschluss der Diskussion dieses ersten Kritikpunkts soll noch rasch auf zwei Punkte eingegangen werden, die hin und wieder in seinem Kontext aufgeworfen werden. Erstens ist die Sprachspieltheorie im Falle von Meinungsverschiedenheiten nicht notwendigerweise darauf festgelegt, dass die anderen im Unrecht sind: Auch wir können im Unrecht sein, und oftmals lernen wir dies erst durch den Kontakt mit Fremden. Dies betrifft sowohl individuelle als auch kollektive Handlungen. Zweitens gilt es immer zu unterscheiden zwischen der Frage, ob wir eine fremde Überzeugung bzw. Praxis ablehnen oder nicht einerseits, und wie wir uns gegenüber den Anhängern bzw. Teilnehmern der fraglichen Überzeugung bzw. Praxis verhalten sollten andererseits. Es kommt alles andere als selten vor, dass wir uns in einem echten propositionalen Konflikt mit einer fremden Person oder Gruppe wiederfinden, uns jedoch aus unabhängigen Erwägungen entscheiden – und zu Recht entscheiden –, auf die Äußerung von Kritik (oder einer schärferen Form der Intervention) zu verzichten. Der ethische Objektivismus impliziert keinen strikten Interventionismus.

_____________ 30 Hier sei folgende Nebenbemerkung gestattet: Die vorliegende Arbeit spricht bewusst nicht von Werten – und zwar weder hier noch an anderer Stelle –, da dieser Begriff in seiner außer-ökonomischen Verwendung zweideutig und damit missverständlich ist. Einerseits bezieht er sich auf Sitten (oder manchmal auch auf ethische Überzeugungen); andererseits wird mit ihm behauptet, dass etwas prinzipiell unseren Respekt bzw. unsere Unterstützung verdient. Da natürlich nicht alle Sitten (bzw. Überzeugungen) unseres Respekts (bzw. unserer Unterstützung) würdig sind, und da nicht alles, was unseres Respekts (unserer Unterstützung) würdig ist, eine Sitte (eine ethische Überzeugung) ist, halte ich es für sinnvoll, den Begriff »Wert« aufzugeben.

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3.3.2 Ist die Theorie psychologisch unrealistisch? Ein Argument gegen den interpretationistischen Zug der Sprachspieltheorie, welches in privaten Unterhaltungen und mitunter auch in philosophischen Texten immer wieder auftaucht,31 basiert auf der These, dass die Theorie auf einem unrealistischen Bild der menschlichen Psyche basiert, insofern sie Menschen als vollständig rationale (oder doch als zu vollständiger Rationalität fähige) Wesen auffasst. Diese empirischen Annahmen über die menschliche Psyche – so das Argument – zeigen sich in der Interpretation ethischer Konflikte als propositionaler und damit kognitiver Konflikte und kommen besonders deutlich im Optimismus der Theorie zum Ausdruck, dass sich jeder ethische Konflikt rational beilegen lässt. Wenn dieses Argument sich nicht schärfer formulieren lässt, so ist es kein besonderes Problem für die Sprachspieltheorie. Die zentrale Prämisse des Arguments ist schlichtweg falsch: Die Sprachspieltheorie trifft überhaupt keine Aussage über den Rationalitätsgrad ethischer Akteure und Diskutanten. Sie muss auch keine solche Aussage treffen. Zwar ist die Sprachspieltheorie auf die These festgelegt, dass sich ethische Konflikte prinzipiell durch ernsthafte Diskussion beilegen lassen. Sie muss aber nicht behaupten, dass viele – oder auch nur einige – Menschen dazu tatsächlich fähig sind. Sie muss nur behaupten, dass sie ihre ethischen Konflikte prinzipiell lösen könnten, wenn sie diese Fähigkeit besäßen.32 Somit ist die Sprachspieltheorie durchaus konsistent mit der Überzeugung der rationalen Unzulänglichkeit vieler – im Grenzfall sogar aller – Menschen. Tatsächlich wird eine Sprachspieltheoretikerin, die eine gewisse Lebenserfahrung besitzt, ohne weiteres der These zustimmen, dass für viele ethische Konflikte zumindest in ihrer Lebenszeit keine Beilegung mehr zu erwarten ist. Sie wird dies gerade aus dem Grund tun, dass die Mehrheit der Konfliktparteien rational unzulänglich sind, was sich zum Beispiel darin zeigt, dass es ihnen außerordentlich schwer fällt, ihre propositionalen Festlegungen ernsthaft zu überprüfen und gegebenenfalls im Licht besserer Gründe zu revidieren. Letztlich ist diese These für die Anhängerin der Sprachspieltheorie nicht nur logisch möglich, sondern in einer wichtigen Hinsicht notwendig: Sie ist ihr wichtigster Trumpf gegen das Argument von der Häufigkeit beharrlicher ethischer Konflikte. Dieses anti-objektivistische, oft von Non-Kognitivisten vertretene, Argument beginnt mit der Prämisse, dass viele ethische Konflikte schon seit Jahrzehnten, mitunter seit Jahrhunderten, bestehen, und dass es naiv wäre, in der nahen oder mittleren Zukunft Resolutionen für sie zu erwar_____________ 31 Ich sehe es am Werke etwa in Butler, 2005; siehe insb. die erste Vorlesung. 32 Siehe auch Korsgaard, 1986, § 5.

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ten. Der Streit um die Frage der Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen ist ein oft angeführtes Beispiel eines solchen Konflikts. Die zweite Prämisse des Arguments besagt nun, dass sich von der Beharrlichkeit eines Konflikts auf die Unmöglichkeit einer rationalen Lösung schließen lässt. An diesem Punkt führt die Sprachspieltheoretikerin die psychologische These ins Feld, mit der sie zeigen kann, dass die zweite Prämisse des non-kognitivistischen Zweiflers ohne guten Grund bleibt: Viel plausibler als der Schluss von persistierenden Konflikten auf die meta-ethische These des Relativismus ist nämlich die Erklärung persistierender Konflikte per Rekurs auf die Tücken der menschlichen Psychologie, zu denen zum Beispiel die immense Schwierigkeit gehört, sich von Überzeugungen zu trennen, die nicht in der Erfahrung fußen, sondern in der Erziehung. Doch kann es sein, dass wir den Vorwurf der psychologischen Inadäquatheit zu schwach gemacht haben? Verbirgt sich hinter ihm nicht vielleicht ein anderes, stärkeres, Argument? Das beste alternative Argument, welches ich hinter dem Vorwurf ausmachen kann, bezieht sich nicht auf die Interpretation ethischer Konflikte, sondern nur auf den oben angerissenen Imperativ an die Konfliktparteien, so lange zu diskutieren, bis sie ihren Konflikt entweder als bloßes Missverständnis ausweisen oder aber einen echten Fehler auf einer der beiden Seiten identifizieren können. In diesem Zusammenhang lässt sich ein Sollen-impliziert-Können-Vorwurf formulieren: Da es Menschen aus psychologischen Gründen unmöglich ist, in ihren ethischen Konflikten hundertprozentige Vernunft walten zu lassen, darf dieses von ihnen auch nicht verlangt werden. Allerdings lässt sich auch dieses Argument widerlegen. Mindestens drei plausible Antworten stehen zur Verfügung. Erstens ist der (letztlich ethische) Imperativ an die Streitenden überhaupt kein essenzieller Bestandteil der Sprachspieltheorie. Die Sprachspieltheorie besteht aus einer Reihe von Thesen zur Interpretation der ethischen Rede inklusive ihrer Konflikte; eventuelle Verhaltensregeln sind höchstens ein optionales Extra. Auf keinen Fall kann die Sprachspieltheorie an letzteren scheitern. Zweitens ist die Forderung der Sprachspieltheorie nur, so rational zu handeln, wie es in der konkreten Situation geht, wobei unsere psychologischen Grenzen immer bereits mitgedacht werden. Und drittens sind eventuelle praktische Konsequenzen der Theorie komplex. So müssen Sprecher nicht nur der Forderung, propositionalen Konflikten auf den Grund zu gehen, nachkommen, sondern gleichzeitig vielen weiteren Forderungen. Es liegt auf der Hand, dass der Aufwand einer sorgfältigen Analyse bei vielen propositionalen Konflikten einfach zu hoch ist. Kurz-

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um: Auch diese schwächere Variante des Arguments scheitert. Unsere Theorie trotzt somit den Angriffen auf psychologischem Boden.33 3.3.3 Darf ein unbeteiligter Theoretiker sich anmaßen, die KonfliktInterpretation eines Konflikt-Teilnehmers zurückzuweisen? Ein letztes Argument basiert auf der These, dass ein Theoretiker sehr gute Gründe vorweisen muss, wenn er eine Interpretation eines Konfliktes vertreten möchte, die mit der Interpretation des Konflikts seitens einer Konfliktpartei inkompatibel ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Theoretiker den Konflikt als ein komplexes Missverständnis darstellt, während die Konfliktpartei ihn als eine genuine Meinungsverschiedenheit behandelt. Die zweite Prämisse des Arguments besagt, dass der Sprachspieltheoretiker für dieses Vorgehen prinzipiell keine ausreichend starken Gründe hat bzw. haben kann. Dass ein häufiges Vorkommen von Missverständnissen aus unserer Sprachspieltheorie folgt,34 ist für den Kritiker jedenfalls keine befriedigende Begründung. Nach letzterem muss eine Theorie der Sprache sich ihrerseits an den Konflikt-Interpretationen der Konfliktparteien orientieren, und nach deren Ansicht sind komplexe Missverständnisse ein eher marginales Phänomen. Tatsächlich kann dieses Gegenargument nicht einfach ignoriert werden. Unabhängig davon, wie weit wir in der Frage des Gewichts der Urteile der Beteiligten zu gehen bereit sind, müssen wir eingestehen, dass seine Hauptprämisse eine gewisse Plausibilität besitzt. Diese speist sich aus der Intuition, dass das Urteil einer Sprecherin bezüglich der Frage, ob sie einen anderen Sprecher versteht oder nicht, größeres Gewicht haben muss als ein entsprechendes Urteil eines Kommentators, der ihre Äußerungen und Handlungen gleichsam aus der Ferne betrachtet. Oder, in Bezug auf uns selbst formuliert: Ob wir etwas verstehen oder nicht, ist eine Frage, die wir am besten selbst beantworten können. Diese Intuition scheint übrigens nicht notwendigerweise auf einer mentalistischen Vorstellung des Verstehens zu basieren. Um sie zu haben, müssen wir nicht denken, dass das Verstehen ein innerer Zustand ist, den wir – und nur wir – per Introspektion begutachten können, in etwa wie sich Descartes die Welt des _____________ 33 Wir werden uns allerdings im dritten Teil der vorliegenden Arbeit noch einmal genauer mit dem Thema der Beziehung zwischen unserer Sprachpraxis und unserer Psychologie beschäftigen. 34 Im Sinne der Überlegungen des Abschnitts 3.2.2 sollten wie etwas genauer sagen: Die These des häufigen Vorkommens von Missverständnissen folgt aus der Sprachspieltheorie plus der Anerkennung der extremen Komplexität unserer entwickelten Sprache.

Einige Gegenargumente

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Mentalen vorgestellt hat. Auch Pragmatisten können sich zur These eines epistemischen Privilegs der ersten Person in Bezug auf ihr eigenes Verstehen gedrängt sehen. Die große Frage in diesem Zusammenhang ist: Stimmt diese These? Ist diese Intuition tatsächlich gerechtfertigt? Und wenn ja, wie viel größer ist das Gewicht der an einem gegebenen Konflikt beteiligten Partei gegenüber dem eines unbeteiligten Theoretikers? Im Folgenden möchte ich zwei Argumente vorstellen, aus denen hervorgeht, dass es zwar in unserer Sprachpraxis ein entsprechendes Erste-Person-Privileg geben mag, aber dass es nicht so schwer wiegen kann, dass es sich von einem Kommentator nie aufheben ließe. Das erste Argument beginnt mit der Prämisse, dass ein Theoretiker durchaus Konflikte kommentieren kann, an denen er selbst beteiligt ist.35 Wenn nun die Möglichkeit zugestanden wird, dass zwei Konfliktparteien unterschiedliche Interpretationen ihres eigenen Konflikts haben, und wenn zugestanden wird, dass sie in diesen Fällen logisch gezwungen sind, ihrem jeweiligen Gegenüber einen Fehler in der Interpretation des Konflikts zuzuschreiben, dann muss das Erste-Person-Privileg in Bezug auf die Erkennung der Natur eines Konflikts und damit in Bezug auf die Erkennung des Verstehens eines Satzes begrenzt sein. In der Situation, wie sie in diesem Argument skizziert wird, wäre die einzige Alternative für den Kommentator, die Interpretation seines Gegenübers anzunehmen. In diesem Fall würde jedoch dasselbe passieren: Die Konflikt-Interpretation einer Konfliktpartei (in diesem Fall: des Kommentators) wäre durch die einer anderen ausgestochen worden. Und natürlich kann auch diese Partei ein Theoretiker sein. Neben diesem – m.E. entscheidenden – Argument gibt es noch ein zweites, welches an der Wurzel der fraglichen Intuition ansetzt. Es greift eine auf den ersten Blick plausible Begründung der Privilegierungsthese an, die von einer Analogie zwischen dem Verstehen eines formalen Beweises einerseits und dem Verstehen eines empirischen Satzes andererseits ausgeht. Bei ersterer ist es wesentlich weniger kontrovers, dass ein Irrtum in Bezug auf das eigene Verstehen ein überaus sonderbarer Fall wäre, _____________ 35 Freilich ist der Kommentator nach der Sprachspieltheorie immer mit von der Partie, muss also immer selber Stellung zu den propositionalen Äußerungen der von ihm betrachteten Sprecher beziehen. Wir wollen allerdings an dieser Stelle nicht bereits die Konklusionen der Sprachspieltheorie vorweg nehmen. Wir brauchen dies aber auch nicht. Alles, was wir brauchen, ist die bescheidene These, dass es vorkommt, dass wir Konflikte kommentieren, in denen wir selber eine der Konfliktparteien sind.

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Konflikt und Objektivität

jedenfalls dann, wenn der Beweis einen gewissen Komplexitätsgrad nicht überschreitet.36 Tatsächlich hinkt die Analogie zwischen formellen Beweisen einerseits und informativen Äußerungen fremder Sprecher andererseits aber in einem entscheidenden Punkt. Ein Beweis muss nämlich als ganzer – also aufgefasst als (langer) Konditionalsatz – als eine komplizierte Tautologie verstanden werden, nicht als ein komplizierter inhaltsreicher Satz. Während ein inhaltsreicher Satz richtig verstanden oder missverstanden werden kann, kann eine Tautologie nur entweder verstanden oder nicht verstanden werden. Der einzige Sinn, in dem eine Tautologie, und damit auch ein Beweis, missverstanden werden kann, ist, als inhaltsreiche Mitteilung aufgefasst zu werden. Wer jedoch weiß, dass er es mit einer Tautologie (egal wie komplex) zu tun hat, der kann die Tautologie nur als Explikation der Verwendungsregeln der in ihr vorkommenden Ausdrücke zur Kenntnis nehmen (verstehen) oder sie nicht zur Kenntnis nehmen (nicht verstehen). Während es nun in Bezug auf Tautologien, und damit auch auf Beweise, plausibel scheint, dem Verstehensurteil des Interpreten größeres Gewicht zuzuschreiben als einem entsprechenden Urteil eines Beobachters, so liegt dies einzig daran, dass der Satz nicht auf die Weise missverstanden werden kann, wie informative Sätze missverstanden werden können. Wir können es auch so ausdrücken, dass das Verstehen eines Beweises in dieser Hinsicht transparent ist, während das Verstehen eines inhaltsreichen Satzes essenziell opak ist.37 Zusammenfassend können wir also sagen, dass die Vorbehalte gegen den sprachspieltheoretischen Revisionismus in Bezug auf KonfliktInterpretationen sich erstens selber untergraben und zweitens auf einem falschen Bild des Verstehens ethischer Äußerungen beruhen. _____________ 36 Selbst, wenn für die Möglichkeit eines solchen Falls Raum geschaffen wird, so sollte (nach der hier zu explizierenden Vorstellung) doch das Urteil eines Sprechers über sein Verstehen eines Beweises bevorzugt behandelt werden gegenüber dem Urteil des Theoretikers. 37 Übrigens sollten wir mit der These der Transparenz verstandener Beweise insgesamt vorsichtig sein. Gerade ab einem hohen Komplexitätsgrad kommt es durchaus vor, dass wir auch bei schlechten Beweisen – also bei tatsächlich inkonsistenten Propositionenmengen – ein Gefühl des Durchschauens haben können, welches sich vom echten Durchschauen phänomenologisch nicht unterscheidet. (Natürlich kommt es ebenfalls vor, dass wir einen guten Beweis nicht durchschauen!) Der Grund liegt darin, dass wir oftmals Beweise in verschiedene Stücke aufteilen und einige von ihnen einfach »glauben«. Da wir uns hier sehr leicht täuschen können und es somit vorkommt, dass wir Unsinn für sinnvoll halten (und Tautologien nicht als solche erkennen), haben wir hier zusätzliche Gründe zum Zweifeln an der Privilegierung des Verstehenssubjekts.

Einige interpretationistische Verwandtschaften

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3.4 Einige interpretationistische Verwandtschaften Bevor wir zum nächsten Kapitel übergehen, möchte ich kurz auf die Beziehungen zwischen der vorgestellten Theorie einerseits und der Diskussion der Interpretationismusthese (wie ich die Idee in der Einleitung genannt habe) seitens ihrer berühmteren Vertreter andererseits eingehen.38 Beginnen wir mit den Parallelen. Zunächst ist da natürlich die Idee der Interpretationsbedürftigkeit jeglicher Äußerung, bzw. die Ablehnung der Vorstellung, es könne so etwas geben wie selbst-interpretierende Entitäten.39 Dies ist die Quelle jedes Interpretationismus, und natürlich teilt die vorliegende Arbeit sie mit allen interpretationistischen Autoren. Zweitens teilt das vorliegende Kapitel die Idee der ursprünglichen Interpretationisten, dass die Interpretation einer Äußerung immer der Versuch ist, die fragliche Äußerung als Manöver innerhalb eines vorausgesetzten Regelwerks – genauer: innerhalb einer Praxis mit vorausgesetztem Regelwerk – zu interpretieren. Drittens wird die Idee geteilt, dass die Erkennung des Befolgens des Regelwerks nur möglich ist, wenn (zumindest) die meisten Äußerungen als Manöver verstanden werden können, auf die der Interpret sich selber auch festgelegt sähe, wenn er sich in der Situation des Interpretierten befände. In Bezug auf die propositionale Sprache heißt dies, dass der Interpret die Mehrheit der interpretierten Sätze als wahr auffasst, und damit als Ausdrücke von Propositionen, auf die der Interpret sich selber ebenfalls als festgelegt versteht.40 Erst dann kann er einen bestimmten Satz als verstanden, aber falsch, verbuchen. Die These, dass das Verstehen eines fremden Sprechers von der Übereinstimmung mit ihm in Bezug auf viele Urteile abhängig ist und dass es beim Interpretieren folglich darum geht, diese Übereinstimmung zu maximieren, wird häufig als »Principle of Charity«, zu deutsch: als »Prinzip des Wohlwollens«, bezeichnet. David Lewis bringt die wichtigen Bestandteile des Interpretationismus auf sehr anschauliche Weise auf den Punkt, wenn er schreibt: [The subject to be interpreted] should be represented as believing what he ought to believe, and desiring what he ought to desire. And what is that? In our opinion, he ought to believe what we believe, or perhaps what we would have believed in his place; and he ought to desire what we desire, or perhaps what we

_____________ 38 Siehe Davidson, 2001b, 1974b, 1994; Lewis, 1974. S.a. Quine, 1960, 1969, 1970, 1987. 39 Dieser Punkt wird klar herausgearbeitet in Hurley, 1989, insb. Kap. 5. 40 Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dass Wahrheit die der propositionalen Sprache eigene Variante von Korrektheit ist. Korrektheit ist die fundamentalere Kategorie; eine Erläuterung der Rede von Korrektheit im Allgemeinen gebe ich im 6. Kapitel.

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Konflikt und Objektivität

would have desired in his place. (But that’s only our opinion! Yes. Better we should go by an opinion we don’t hold?)41

Es gibt allerdings zwei diskussionswürdige Unterschiede zwischen der vorliegenden Arbeit und den gängigeren Darstellungen des Interpretationismus, zumindest in den Nuancen. Der erste Unterschied liegt in der Präsentation der Rolle der Übereinstimmung zwischen Interpret und Interpretiertem, der zweite Unterschied liegt in unserer Einbettung der Diskussion um den Interpretationismus in eine konkrete Sprachtheorie. Beginnen wir mit dem ersten Unterschied. Während ich in der obigen Diskussion des Interpretationismus von Anfang an von propositionalen Konflikten gesprochen habe, beschäftigen sich Davidson, Lewis und auch Quine in erster Linie mit dem Versuch der Interpretation fremder (aber keineswegs notwendigerweise mit uns konfligierender) Gruppen oder Sprecher. Hiermit eng verknüpft ist die genaue Rolle, die die substanzielle Übereinstimmung in der Interpretation spielt. Während die klassischen Arbeiten zum Interpretationismus in erster Linie darauf hinweisen, dass wir interpretationstheoretisch gezwungen sind, substanzielle Übereinstimmung mit dem Interpretierten vorauszusetzen, da wir bei zu viel Divergenz die Basis für die Behandlung des andern als überhaupt sprechend verlieren, so habe ich von Anfang an Wert auf die Feststellung gelegt, dass es ein ebenso akzeptabler Ausgang des Interpretierens ist, klare Denk- oder Wahrnehmungs- (oder Informations-) Fehler zuzuschreiben. Nach der in dieser Arbeit vorgestellten Theorie streben Sprecher nicht das Ziel der Übereinstimmung, sondern das Ziel entweder der Übereinstimmung oder aber der sicheren Zuschreibung konkreter Denk- oder Wahrnehmungsfehler an. Die Begründer der interpretationistischen Schule hätten diese Charakterisierung der grundlegenden Ziele im Interpretieren bzw. Diskutieren zwar nicht als falsch zurückgewiesen – und hätten ferner zu Recht darauf hingewiesen, dass auch die Zuschreibung von Fehlern nur vor dem Hintergrund substanzieller Übereinstimmung möglich ist. Jedoch scheint mir die abweichende Nuancierung gerade vor dem Hintergrund der manchmal anzutreffenden Auffassung wichtig zu sein, dass der Interpretationismus ein übertriebenes interpretatives Wohlwollen fordert. Der Unterschied zwischen den originalen Autoren und der Ausarbeitung in diesem Kapitel reflektiert allerdings möglicherweise keine philosophische Meinungsverschiedenheit, sondern bloß die Tatsache, dass es uns nicht in erster Linie um die philosophische Frage der Möglichkeit von

_____________ 41 Lewis, 1974, 336.

Ein noch nicht berücksichtigter Fall

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inkommensurablen Sprachen (oder »Begriffsschemata«42) geht, sondern um die speziellere Frage der korrekten Interpretation ethischer Konflikte. Der zweite Unterschied liegt darin, dass ich es mir gestattet habe, die interpretationistischen Thesen erst nach, bzw. innerhalb, einer Einführung in die Theorie der propositionalen Sprache zu diskutieren. In diesem Kapitel habe ich zunächst einiges über die komplexe Binnenstruktur der propositionalen Rede, nämlich über die substitutionellen Beziehungen von Wörtern, gesagt, bevor ich die zentralen interpretationistischen Thesen vorgestellt und motiviert habe. Auch dieser zweite Unterschied ist dadurch begründet, dass die Ausrichtung der vorliegenden Arbeit keine generelle sprachphilosophische ist, sondern dass es ihr im Kern um die Erhellung einer bestimmten Alltagssituation geht, nämlich des ethischen Konflikts bzw. der ethischen Diskussion. Da unsere ethische Sprache eben propositional ist, können wir es uns erlauben, den Interpretationismus unter der Bedingung der Propositionalität zu diskutieren.

3.5 Ein noch nicht berücksichtigter Fall – und eine Vorschau auf den zweiten Teil Wir haben in diesem Kapitel gesehen, dass der Sprachspieltheorie mit ihrem objektivistischen Zug aus dem Vorkommen ethischer Konflikte kein Strick gedreht werden kann. Nicht nur stellen (selbst häufige) ethische Konflikte kein Problem für die Theorie dar – sie unterstützen sie sogar. Dies wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass es bei ethischen Konflikten zunächst noch gar nicht auf der Hand liegt, ob sich in ihnen genuine Meinungsverschiedenheiten verbergen oder nicht. Tatsächlich sagt die Sprachspieltheorie vor dem Hintergrund der immensen Komplexität unserer propositionalen Sprache sowie der großen Unterschiede in den Lebensweisen verschiedener Menschen voraus, dass viele Konflikte sich als reine Missverständnisse herausstellen. Die restlichen Konflikte sollten uns keine theoretischen Kopfschmerzen mehr bereiten. Entweder, wir betrachten sie als echte Meinungsverschiedenheiten. Dies können wir tun, wenn sich im Zuge der Interpretation ermittelt ließ, dass sich mindestens eine Konfliktpartei eines Denk- oder Wahrnehmungsfehlers schuldig gemacht hat. Oder aber, wir verstehen die Konflikte als bis auf weiteres ungelöst, was uns dazu antreiben sollte, weiter über sie nachzudenken und zu diskutieren, bis wir sie als reine Missverständnisse oder als echte Meinungsverschiedenheiten (inklusive identifizierter Fehler) aus_____________ 42 Ich denke hier an Davidsons Essay des Titels »On the very idea of a conceptual scheme«, siehe Davidson, 1974b.

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weisen können. Mit diesem Bündel interpretativer Möglichkeiten können wir den in unserer propositionalen Alltagssprache der Ethik angelegten Objektivismus bestätigen, da wir jeden Drang zum Relativismus in die plausiblere dritte interpretative Möglichkeit umleiten können. An dieser Stelle ist noch einmal zu betonen, dass mit der Verteidigung des Objektivismus ebenfalls der in der Sprachspieltheorie angelegte Rationalismus verteidigt wurde. Die Verteidigung des Objektivismus bestand im Wesentlichen in der Idee, dass seine relativistischen Gegner viel zu schnell von echten Inkompatibilitäten in den (ethischen) Überzeugungen der Konfliktparteien sprechen, ohne die Interpretationsbedürftigkeit ethischer Äußerungen und ethischer Konflikte zur Kenntnis zu nehmen. Dieser Aufweis rettet aber ebenfalls die Festlegung, dass das Befolgen (anspruchsvoller oder nicht-anspruchsvoller) ethischer Forderungen rational ist. Denn die These, dass ethische Konflikte ein Problem für die Rationalität der Befolgung ethischer Forderungen darstellten, basiert allein auf der Idee, dass wir in Anbetracht der verschiedenen möglichen ethischen Positionen damit rechnen müssten, auf miteinander inkompatible Handlungen festgelegt zu sein. Auch diese Idee hängt am Übersehen der Interpretationsbedürftigkeit ethischer Konflikte. Mit der in diesem Kapitel ausgearbeiteten Replik sehen wir nun, dass die Zuschreibung echter propositionaler Inkompatibilitäten erstens ohne anspruchsvolle Interpretationsarbeit nicht zu haben ist und zweitens mit der Zuschreibung eines Fehlers auf mindestens einer Seite des Konflikts einhergehen muss. An dieser Stelle stoßen wir auf eine Schwierigkeit. Genau genommen gibt es nämlich in unserem sprachlichen Alltag entgegen der bisherigen Darstellung sehr wohl so etwas wie inkompatible Festlegungen. Zwar entspringen die in unserer Sprache vorkommenden inkompatiblen Festlegungen durchaus menschlichen Unzulänglichkeiten und sind nicht bleibend, sondern werden von uns in grammatischen Weiterentwicklungen unseres Sprachspiels immer wieder aus dem Weg geräumt. Jedoch müssen sie aus verschiedenen Gründen ernst genommen werden. Erstens sind sie nicht einfach Anzeichen von Denk- oder Wahrnehmungsfehlern, jedenfalls nicht von Fehlern der bisher diskutierten Art. Und zweitens sind sie für ein adäquates Verständnis der ethischen Sensibilität, Deliberation und Diskussion von großer Wichtigkeit. Es wird sich sogar herausstellen, dass wir ohne sie eine wichtige Klasse ethischer Konflikte überhaupt nicht richtig verstehen können. Tatsächlich können wir in ihrem Zusammenhang von einer weiteren Interpretationsmöglichkeit ethischer Konflikte – neben dem reinen Missverständnis und der genuinen Meinungsverschiedenheit (und eventuell dem Scheitern des Verstehens) – sprechen. Der dritte Teil dieser Arbeit wird dieses Thema im Detail diskutieren – an dieser Stelle muss jedoch die Erweiterung der Theorie bereits eingeführt

Ein noch nicht berücksichtigter Fall

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werden, um eventuellen grundlegenden Zweifeln an der Sprachspieltheorie zuvorzukommen. Die bisherige Theorie erweist sich damit als eingeschränkt; ihr Gegenstandsbereich sind bloß zeitliche Querschnitte unseres Sprachspiels, während eine vollständige pragmatistische Behandlung des Sprachspiels eine diachronische Theorie sein muss, also explizit in Betracht ziehen muss, dass das Sprachspiel zeitlich ausgedehnt ist und sich aus sich selbst heraus – nämlich in Reaktion auf Inkonsistenzen in ihrem Gefüge – ständig verändert. Von welchen »inkompatiblen Festlegungen«, von welcher »dritten Möglichkeit der Interpretation ethischer Konflikte«, ist hier die Rede? Um einen ersten Eindruck von dem Typ inkompatibler Festlegungen zu übermitteln, der uns zu einer Erweiterung der bisherigen Theorie zwingt (und dem wir uns im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit ausführlich widmen werden), möchte ich an dieser Stelle ein einfaches, nichtethisches Beispiel diskutieren. Wir wollen uns in Gedanken in die antike Welt versetzen, genauer: in das Leben und Wirken frühzeitlicher Fischer. Wir wollen uns ferner zwei grammatische Regeln der Fischer ins Bewusstsein rufen. Erstens: »Ein Lebewesen, welches grau ist, schwimmt, nie an Land kommt und Flossen hat, ist ein Fisch,« und zweitens: »Wenn etwas ein Fisch ist, so laicht es, säugt seine Jungen nicht, und hat keine Lunge.« Natürlich wurden diese Sätze fast nie verwendet: Da es schlichtweg keinen logischen Raum für eine Bezweiflung der Sätze gab, gab es (außer in Kontexten des Beibringens der Sprache, also in Gesprächen mit Kindern oder Fremden) auch keinen Anlass zur Äußerung der fraglichen Sätze. Nichts anderes meinen wir, wenn wir die Sätze als grammatische Sätze bezeichnen. Der Fall, um den es mir nun geht, ergab sich mit der ersten näheren Begegnung unserer Fischer mit einem Wal – an dem Tag, als sie zum ersten Mal einen Wal aufschnitten oder die Geburt eines Walkalbs beobachteten. Der Fall ist interessant, da die Sätze, die vormals als nicht bezweifelbar und daher auch als nicht der Mühe der Äußerung wert galten, auf einmal doch geäußert wurden. Es ist nämlich anzunehmen, dass sich in der geschilderten Situation zwei Fraktionen bildeten. Das Argument der ersten Fraktion lautete: »Wir haben es hier mit einem grauen, schwimmenden, nie an Land kommenden und mit Flossen ausgestatteten Lebewesen zu tun, also muss es sich um einen Fisch handeln«, während die zweite Fraktion argumentierte: »Das Tier hat eine Lunge und laicht nicht, also kann es sich nicht um einen Fisch handeln.« Interessant ist nun, dass diese Gruppen in einem offensichtlichen propositionalen Konflikt miteinander standen. Allerdings scheint es weder angemessen zu sein, den Konflikt als reines Missverständnis noch ihn als genuine Meinungsverschiedenheit zu begreifen. Es muss eine weitere interpretative Möglichkeit geben – eine

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interpretative Möglichkeit, die wir in der bisherigen Ausarbeitung der Sprachspieltheorie noch nicht diskutiert haben. Die fehlende Interpretationsmöglichkeit kann mit dem Begriff der praktischen Inadäquatheit umrissen werden: Die Sprache der Fischer, wie sie sich in den eingangs zitierten grammatischen Regeln äußerte, stellte sich mit der ersten Begegnung mit einem Wal als praktisch inadäquat heraus. Die grammatischen Regeln der Fischer, die vor der Begegnung mit dem Wal keine Probleme verursacht haben, erweisen sich plötzlich als inkonsistent.43 Hieraus folgt, dass die angemessene Reaktion auf den Konflikt weder eine selbstbewusste Zuschreibung von Fehlern auf Seiten der jeweils gegnerischen Partei noch ein Weiterdiskutieren und Weiterinterpretieren ist – sondern eine Entscheidung über die Anpassung der Grammatik an den vormals nicht bedachten Anwendungsfall. Konkret bedeutet dies, dass die beiden Parteien sich entscheiden müssen, welcher der beiden konfligierenden grammatischen Sätze aufgegeben werden soll. Wie unsere Vorfahren tatsächlich entschieden haben, sollte allgemein bekannt sein. Heute gilt uns der Satz »Ein Lebewesen, welches grau ist, schwimmt, nie an Land kommt und Flossen hat, ist ein Fisch« als falsche Aussage, während wir den Satz »Fische laichen und haben keine Lunge« weiterhin als grammatische und insofern unfalsifizierbare Proposition anerkennen. Mit anderen Worten: Uns gilt das Schwimmen (etc.) nicht länger als ausschlaggebend für das Fischsein, das Vorliegen einer Lunge (etc.) aber noch immer als ausschlaggebend für das Kein-Fisch-sein.44 Der Walfischfall veranschaulicht etwas, das prinzipiell alle Bereiche der propositionalen Sprache betrifft. Auch in den ethischen Sprachbereichen kann das Auftreten von Spannungen zwischen inkompatiblen Festlegungen, die uns grammatische Anpassungen aufzwingen, nicht ausgeschlossen werden. Ein Beispiel, welches ich im siebten Kapitel genauer diskutieren werde, ist der seit einiger Zeit unter Moralphilosophen disku_____________ 43 Es ist wichtig, dies richtig zu verstehen. Tatsächlich erweist sich das Sprachspiel erst durch die Begegnung mit einem Wal als inkonsistent. Zwar könnte eingewandt werden, dass die Konsistenz oder Inkonsistenz einer Sprache eine formale Eigenschaft letzterer ist und folglich nichts mit sprachexternen Dingen zu tun haben kann. Ein Pragmatist hat aber auf diesen Einwand eine klare Antwort: Wenn die Welt (inklusive ihrer Meeresbewohner) als praktisch in die Sprache integriert verstanden wird, so kann die Begegnung mit einem Wal nicht mehr als sprachexterne Tatsache verstanden werden. Insofern die Grammatik der Sprache durch Sätze expliziert werden kann, in denen »Tiere mit Flossen«, »schwimmende Tiere«, »Tiere mit Lungen« usw. vorkommen, ist es durchaus möglich, dass sich durch das Auftauchen eines Wals eine Inkonsistenz der Sprache offenbart. 44 Tatsächlich haben sich die Zoologen auf ein komplexeres Schema geeinigt, aber als Beispiel grammatischer Spannungen sollte diese Skizze in Ordnung sein.

Ein noch nicht berücksichtigter Fall

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tierte Fall des Folterknechts, der am Foltern Spaß hat. Zwar stimmen fast alle Kommentatoren in ihrer Ablehnung des Verhaltens des Folterknechts überein, es gibt aber einige Philosophen, die der Meinung sind, dass der Aspekt des Spaßmachens das Foltern weniger schlimm macht, während die Mehrheit die entgegengesetzte Position vertritt, dass der empfundene Spaß das Foltern noch verabscheuungswürdiger macht. Mir scheint dieser Fall ein Beispiel grammatischer Spannung zu sein. Die grammatischen Regeln, die sich in seinem Umfeld als inkompatibel erweisen, sind einerseits »Alles, was Spaß macht, ist unterstützenswert« und »Foltern ist (ein Verbrechen, und daher) nie unterstützenswert«, und die verschiedenen Positionen der Kommentatoren sind verschiedene Lösungen des Konflikts. Die Vorschau auf diesen theoretischen Sonderfall, der im zweiten Teil der Arbeit diskutiert wird, ist in diesem Kapitel notwendig geworden, weil wir im Zusammenhang mit der Interpretationismusthese eine Schlussfolgerung gezogen haben, die genau genommen nur unter der restriktiven Annahme korrekt ist, dass die Sprache keine internen Spannungen aufweist. Im zweiten Teil der Arbeit werden wir die Annahme außer Kraft setzen und die Sprachspieltheorie entsprechend erweitern. Im aktuellen Zusammenhang ist wichtig, dass wir auch nach der diachronischen Erweiterung der Sprachspieltheorie, und damit nach der Erweiterung der Interpretationsmöglichkeiten propositionaler Konflikte um einen weiteren Fall, den Relativismus zurückweisen können. Nach wie vor gilt, dass es keinerlei Grund gibt anzunehmen, dass von zwei miteinander inkompatiblen Propositionen eines Sprachspiels tatsächlich beide akzeptabel sein können. Eventuelle Sorgen in Bezug auf das Eingeständnis von Spannungen im Sprachspiel werden dann im zweiten Teil dieser Arbeit diskutiert.

4. Vom Grund zur Handlung. Handlungstheoretische Aspekte des pragmatistischen Verständnisses der ethischen Rede 4.1 Einleitung: Die Einwirkung der Gründe auf die Welt 4.1.1 Rückblick und Einführung Ich habe in den vorangegangenen Kapiteln die Ethik als Gerüst unserer Lebensform präsentiert. Die Idee war, dass ethisches Handeln, inklusive dem ethischen Sprechen, einfach rationales Handeln ist, und dass rationales Handeln nichts anderes ist als Handeln gemäß den Spielregeln unseres in die Welt der praktischen Verrichtungen eingelassenen Sprachspiels. Dabei habe ich besonders die oft ignorierte oder missverstandene Tatsache betont, dass die Spielregeln des erweiterten Sprachspiels – und damit, wenn wir so zu sprechen wünschen, »die Regeln der Ethik« – in einer wichtigen Hinsicht unhintergehbar sind: Aus interpretationstheoretischen Gründen ist die Vorstellung von Regeln, die in einem interessanten Sinn alternativ zu den tatsächlichen Regeln unseres Sprachspiels sind, letztlich unmöglich. Mit einem Satz, der uns als Ausdruck eines Aspekts einer alternativen »Ethik« angeboten wird, ist es nicht anders als mit jedem anderen Satz auch: Entweder wir stimmen ihm zu oder wir lehnen ihn ab – oder aber wir können in ihm (noch?) gar nicht den Ausdruck einer bestimmten Proposition ausmachen. Im ersten Fall entpuppt der Satz sich als konsistent mit unseren Überzeugungen. Wir können nun nicht mehr von einer Alternative sprechen. Im zweiten Fall bleibt es bei einer Alternative, aber nur in dem Sinn, in dem eine falsche Antwort auf eine Frage eine »Alternative« zur richtigen Antwort ist. Im dritten Fall schließlich können wir nicht einmal dies sagen. Erst wenn wir den Satz als Ausdruck einer bestimmten Proposition verstehen, können wir sinnvoll auf ihn reagieren – dann jedoch bleiben uns nur die beiden genannten Reaktionen: Entweder wir erkennen den Satz als Ausdruck eines Aspekts unserer Regeln an oder wir lehnen ihn als falsch an. Mit unserem rationalistischen und objektivistischen Verständnis der ethischen Rede haben wir eine in der aktuellen akademischen Landschaft eher abseitige Position vorgestellt. Jedoch hat unsere Theorie direktere Beziehungen mit bereits etablierten philosophischen Debatten und Positi-

Die Einwirkung der Gründe auf die Welt

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onen, als es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag. Insbesondere findet unsere Theorie Anknüpfungspunkte in der aktuellen handlungsund motivationstheoretischen Debatte. Die Motivations- und Handlungstheorie dreht sich um einen Aspekt der zentralen moralphilosophischen Frage, wie sich das Phänomen der Ethik in die natürliche Welt einfügt.1 Konkret geht es ihr um die Frage, wie der Zusammenhang zwischen Gründen – welche auf die Regeln des Sprachspiels rekurrieren und insofern normative Phänomene sind – und Motivationen sowie Handlungen – welche im Gegensatz zu Gründen auch empirisch und damit naturwissenschaftlich erfassbare Aspekte haben – gedacht werden soll. Der Einfluss dieser Frage auf das korrekte Verständnis der Ethik liegt auf der Hand, und so sollte es auch klar sein, dass eine Theorie der Ethik, aus welcher eine plausible Geschichte über das Verhältnis von Handlungsgründen und Handlungen folgt, gegenüber ihren theoretischen Konkurrenten im Vorteil ist. Zwar wird sich zeigen, dass unser Ansatz auch in der Handlungs- und Motivationstheorie eher Seitenwege als Hauptstraßen der akademischen Landschaft beschreitet. Dennoch kann die Diskussion dazu beitragen, ihn als kohärente und attraktive Alternative zu klassischen Ansätzen auszuweisen. Und sie kann, wie sich zeigen wird, die Idee der Unhinterfragbarkeit des ethischen Diskurses, um die es in den vorangegangenen Kapiteln ging, um eine weitere Lesart erweitern. 4.1.2 Externalismus und Humeanismus In der Handlungs- und Motivationstheorie ist es gängig, zwischen »normativen« und »motivierenden« Gründen zu unterscheiden. Etwas genauer gesagt: Es ist gängig, innerhalb der Menge der »normativen« Gründe die »motivierenden« Gründe besonders auszuzeichnen.2 Während normative Gründe Handlungen als rational und damit als (zumindest bedingt) zustimmungswürdig ausweisen, beziehen sich Philosophen mit der Rede von »motivierenden« Gründen auf diejenigen normativen Gründe, die den Akteur tatsächlich zur Handlung treiben, die also – wie es oft heißt – in einer »kausalen Erklärung« der Handlung figurieren können. _____________ 1 »[T]he problem is one of finding room for ethics, or of placing ethics within the disenchanted, non-ethical world which we inhabit[…]« (Blackburn, 1998, 49, Hervorhebung im Original) 2 Vgl. z.B. Cullity und Gaut, 1997b; Dancy, 2002, Kap. 1; Dreier, 1997, 86; Smith, 1995, 94ff. oder Woods, 1972. Die Rede von motivierenden Gründen, welche keine normativen Gründe sind, behandle ich im Unterabschnitt 4.1.3.

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Vom Grund zur Handlung

Auf den ersten Blick mag diese Unterscheidung unschuldig wirken. Doch hinter ihr steht ein substanzielles philosophisches Programm.3 Seine Hauptthese besagt, dass Gründe nicht notwendig motivieren, sondern dass ihnen das Motivieren äußerlich ist, also dass zur Erklärung eines Handelns die Angabe des entsprechenden normativen Grundes nicht hinreicht. Wie sich zeigen wird, ist diese als Motivationaler Externalismus bekannte These alles andere als unschuldig. Sie ist jedoch prominent, und eine der Ursachen ihrer Prominenz besteht in ihrer natürlichen Allianz mit der (im zweiten Kapitel diskutierten) »Tauziehen-Metapher« der Interaktion verschiedener begründender Erwägungen. Wir erinnern uns: Nach der Vorstellung hinter dieser Metapher müssen wir uns das Zusammenwirken verschiedener Erwägungen so vorstellen wie die Interaktion verschiedener Kräfte. Ein einfacher Fall, in dem die Kräfte einfach in entgegengesetzte Richtungen ziehen, ist das Tauziehen.4 Die Rede von motivierenden Gründen bietet sich in diesem Bild für die Erwägungen an, die auf der siegreichen Seite stehen. Ich möchte die Diskussion um die Metapher vom »Tauziehen« in diesem Kapitel nicht wiederholen und setze ab sofort das alternative Verständnis der Interaktion von Gründen als logischer bzw. dialektischer Interaktion voraus. Es bleibt jedoch notwendig, den Motivationalen Externalismus zu diskutieren, denn auch unabhängig von der Metapher vom »Tauziehen« gilt er vielen als plausibel. Die Popularität des Motivationalen Externalismus lässt sich am besten vor dem Hintergrund einer weiteren These nachvollziehen, die als komplementär zum Externalismus verstanden werden kann: dem Humeanismus. Humeaner denken, dass eine Überzeugung allein nicht motivieren kann, sondern dass zu ihr immer noch ein Wollen, ein »desire«, ein »konativer Zustand« – oder, wie es manchmal heißt: eine »Pro-Einstellung« – hinzukommen muss.5 Wenn wir die beiden Positionen miteinander kombinieren und dabei berücksichtigen, dass Gründe wesentlich als Überzeugungen firmieren, dann kommen wir zu der These, dass ein Grund erst im Zusammenspiel mit einem Wollen motiviert.6 Wir haben es also mit einer Position zu tun, nach der die Nennung _____________ 3 Auf eine unschuldigere Lesart gehe ich kurz im Abschnitt 4.1.3 ein. 4 Siehe 2.4.1. 5 Shafer-Landau gibt folgende dreiteilige Definition des Humeanismus: 1. Überzeugungen und Wollenszustände sind unterschiedliche Zustände, 2. ein Wollenszustand ist ein notwendiger Bestandteil der Motivation, 3. eine Überzeugung kann nicht alleine zur Motivation führen (ist nie hinreichend), vgl. Shafer-Landau, 2005, Kap. 5. Der Begriff der »Pro-Einstellung« stammt von Donald Davidson; vgl. Davidson, 1963, 1974a. 6 Ich sollte auf eine nah verwandte Position hinweisen. Philosophen, die nicht einverstanden mit der Redeweise sind, nach der Gründe wesentlich als Überzeu-

Die Einwirkung der Gründe auf die Welt

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eines Grundes zwar in Fragen der Rechtfertigung, nicht aber in Fragen der Erklärung eines Handelns eine befriedigende Reaktion sein kann, da eine Erklärung erst dann komplett ist, wenn sie neben dem Grund noch den entsprechenden Wollenszustand anführt.7 Im Folgenden will ich für ein alternatives Verständnis motivierten Handelns werben. Dazu werde ich mit einer Zurückweisung der humeanischen Intuition beginnen, nach der jedem Handeln ein Wollenszustand zugrunde liegt. Das Hauptproblem an dieser Intuition ist, dass sie keinen Raum für jene Fälle lässt, in denen wir uns auf der Basis von Gründen zu bestimmten Handlungen überwinden. Ein richtiges Verständnis dieser Fälle schließt den Humeanismus aus und unterstützt gleichzeitig den motivationalen Internalismus der Gründe: Wenn ein rationaler Akteur einen Grund hat und über diesen Grund auch informiert ist, dann ist der Akteur auch entsprechend motiviert – ob wir ihm darüber hinaus einen Wollenszustand unterstellen können oder nicht. Nachdem ich diese These plausibilisiert habe, gilt es zu fragen, wieso der Humeanismus und der Externalismus so verbreitet sind, und wieso die sie befallenden Probleme so systematisch unterschätzt werden. In diesem Zusammenhang werde ich auf eine mangelnde Sensibilität für die Unterschiede zwischen der Wissenschaftssprache einerseits und den (in dieser Arbeit besonders hervorgehobenen) sprachspielstand-explizierenden Manövern hinweisen. 4.1.3 Eine unschuldigere Redeweise Bevor wir in die Diskussion einsteigen, sollte ich einräumen, dass ich in den vorangegangenen Absätzen und auch im weiteren Verlauf des Kapitels eine weitere, unschuldigere Redeweise ignoriere. Nach dieser Redeweise ist die Bezeichnung eines Grundes als »motivierend« nichts anderes als ein Hinweis darauf, dass eine Akteurin, die einen bestimmten Grund hat, auch die Überzeugung hat, den Grund zu haben. Bei dieser Begriffsverwendung ist die Rede von einem »nicht motivierenden Grund« bloß der Hinweis darauf, dass eine Akteurin über einen bestimmten Grund, den sie hat, nicht informiert ist. Es geht hier um Fälle wie jenen, in dem die Akteurin zwar einen Grund hat, schnell zum Bahn_____________ gungen firmieren (also selbst eine propositionale Form haben), können die Externalismusthese so formulieren: Zwar kann ein Grund aus sich heraus motivieren; wenn dies jedoch passiert, so ist es nur deswegen der Fall, weil ein entsprechender Wollenszustand Teil des Grundes ist (vgl. Davidson, 1963). 7 In der alternativen Redeweise, die in der letzten Fußnote skizziert wurde, müssten wir sagen, die Angabe eines Grundes sei nur deswegen eine befriedigende Reaktion, weil sie eine Aussage über einen Wollenszustand bereits impliziert.

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hof zu laufen, weil die letzte Bahn in fünf Minuten abfährt, aber sich Zeit lässt, weil sie den Fahrplan nicht kennt und daher von ihrem Grund schlichtweg nichts weiß. Von dieser Redeweise aus ist es kein großer Schritt zur Idee, dass es »motivierende Gründe« gibt, die keine normativen Gründe sind. Hierbei würde es um Überzeugungen gehen, welche zwar begründungsrelevant aber falsch sind. Wenn eine Akteurin überzeugt ist, dass die letzte Bahn in fünf Minuten abfährt, die letzte Bahn tatsächlich aber erst in zwei Stunden abfährt, und wenn die Akteurin sich nur deswegen beeilt, zum Bahnhof zu gelangen, weil sie die letzte Bahn erwischen muss, so kann – in dieser Redeweise – durchaus gesagt werden, dass der sie »motivierende Grund« nicht gleichzeitig ein normativer Grund ist. Diese Rede ist unabhängig vom motivationalen Externalismus in Bezug auf Gründe sowie vom motivationstheoretischen Humeanismus und insofern kompatibel mit der Position, für die ich in diesem Kapitel werbe.8 Tatsächlich können wir in dem skizzierten »unschuldigen« Vokabular sagen, dass die gesamte folgende Diskussion sich mit vorliegenden und motivierenden Gründen beschäftigen wird: Es geht also um tatsächliche Gründe, über die ihre Träger auch korrekt unterrichtet sind.

4.2 Humes Intuition und ihre Zurückweisung: Motivation durch Wollen? 4.2.1 Anfangsplausibilität und erste Zweifel Wir wollen in unsere Untersuchungen mit der Frage David Humes einsteigen: Muss nicht jemand, der motiviert ist etwas zu tun, wollen, was er tut? Auf den ersten Blick mag es durchaus so scheinen. Jedenfalls dann, wenn unsere Aufmerksamkeit auf unsere körperliche Natur gelenkt ist: Wir haben Hunger, also essen wir; wir haben Durst, also trinken wir; wir haben sexuelle Begierden, also sind wir sexuell aktiv – natürlich immer nur dann und nur in dem Maße, in dem unsere Umwelt unseren jeweiligen somatischen Neigungen entgegenkommt. In jedem dieser Fälle scheint es _____________ 8 Problematisch an ihr ist nur, dass die Rede von »motivierenden« Gründen schon anderweitig belegt ist. Einige Philosophen haben deswegen dafür plädiert, lieber von »agents’ reasons« zu sprechen: Der »agent’s reason« unserer sich beeilenden Akteurin besteht darin, dass (wie sie denkt) ihr Zug in fünf Minuten abfährt – selbst dann, wenn der Zug de facto erst in zwei Stunden abfährt. (Jonathan Dancy widmet der »wie sie denkt«-Konstruktion ein ganzes Kapitel; vgl. Dancy, 2002, Kap. 6.)

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angemessen zu sagen, dass wir etwas wollen – Essen, Trinken, Sex – und dass dieses Wollen eine notwendige Rolle in der Erklärung der jeweiligen Handlung spielt.9 Ohne Zweifel ist die Fixierung auf Fälle wie diesen zumindest mitverantwortlich für die Popularität des Humeanismus. Hunger, Durst und sexuelle Begierde sind genau die passions, denen David Hume in seinem berühmten Diktum »[R]eason is, and ought to be, only the slave of the passions« die Vernunft als bloße Sklavin beigeordnet hat.10 Andererseits tun Philosophen bekanntlich gut daran, die Diät ihrer Beispiele so ausgewogen wie möglich zu gestalten. Und tatsächlich verflüchtigt sich die scheinbare Unausweichlichkeit des Humeanismus, wenn wir den Blick auf einen der vielen Fälle richten, in denen wir motiviert sind etwas zu tun – und vielleicht sogar entsprechend handeln – dabei aber in der Alltagssprache nicht sagen würden, dass wir die Handlungen, zu denen wir motiviert sind, auch ausführen wollen. Dies sind Fälle jenseits unserer somatischen, oder auch animalischen, Seite. Wenn wir unsere Steuererklärungen schreiben, das Klo putzen, den Müll hinaus bringen – oder auch schon, wenn wir uns die Zähne putzen, einkaufen gehen oder den Telefonhörer abheben – dann scheint es mindestens schief, von einem Wollen zu sprechen. Diese Dinge tun wir – so würden wir eher sagen – obwohl wir sie nicht tun wollen.11 Vor dem Hintergrund dieser nicht-somatischen Fälle haben wir nun zwei Optionen. Die erste – und wie mir scheinen will, die natürlichere – Option besteht darin zu sagen, dass es unterschiedliche Wege zum motivierten Handeln gibt, und dass wir nur bei einem von ihnen von einem Wollen sprechen können. Die andere Option ist, an der Humeanischen Antwort festzuhalten und die zuletzt genannten Fälle anders darzustellen, um sie mit Humes Antwort konsistent zu machen. Bevor wir an dieser Stelle weiter denken, möchte ich einen metaphilosophischen Punkt betonen: Selbst wenn wir uns am Ende für die zweite Option entscheiden, sollten wir anerkennen, dass sich die Rede vom Wollen hinter den Gründen als mehr entpuppt denn eine direkt unter der Oberfläche liegende implizite Festlegung gewöhnlicher Sprecher. Sie ist eine philosophische These, und sie ist nicht unkontrovers. _____________ 9 Freilich ist das Wollen nicht hinreichend zum Handeln. Eine hinreichende Rolle spielt es allenfalls in der Erklärung der Motivation; tatsächlich ist es schwer zu sehen, wie wir etwas wollen können, ohne dadurch motiviert zu sein. 10 Hume, 1978 [1739], II.iii.3, 415. Es ist nicht ganz unerheblich, dass es in dem Satz gleichzeitig um die Vernunft und um die Motivation geht. 11 In der angloamerikanischen Diskussion kommt dieser Punkt noch klarer zum Vorschein. Dort ist es fast absurd, von einem »desire« zu sprechen. Sicher ist dies einer der Gründe dafür, dass sich unter Humeanern die weniger mit Leidenschaft assoziierte Redeweise von den »Pro-Einstellungen« durchgesetzt hat.

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Die in der gegenwärtigen akademischen Philosophie häufiger vertretene zweite Option ist die These, dass jedes Handeln auf einem Wollen basieren muss, auch wenn diese Redeweise in einigen Fällen »schief« zu sein scheint. Der wohl offensichtlichste (und gewöhnlich ohne große Argumente ausgeführte12) Versuch, die letzteren »schiefen« Fälle unter das Dach der Humeanischen Antwort zu bringen, besteht in der Postulierung umfassenderer Wollens-Zustände. Wer eine Steuererklärung schreibt, der will unangenehme Probleme mit dem Finanzamt vermeiden; wer das Klo putzt, der will ein sauberes Klo haben oder sich die Peinlichkeit eines dreckigen Klos ersparen – oder in den banaleren Fällen: wer den Telefonhörer abhebt, der will hören, wer am anderen Ende der Leitung ist. Der erste Eindruck der Unnatürlichkeit der hier diskutierten Beschreibungen wird von den Anhängern der Humeanischen Antwort einfach auf das ihrer Meinung nach unmysteriöse Phänomen der Konkurrenz verschiedener Wollens-Zustände zurückgeführt: Wir wollen nicht nur Probleme mit dem Finanzamt vermeiden, sondern jetzt gerade wollen wir auch fernsehen oder spazieren gehen – und vielleicht wollen wir letzteres eben fast genauso sehr wie ersteres. So erklärt sich aus der Sicht des Humeanismus der Eindruck, dass wir die Steuererklärung nicht schreiben wollen, obwohl wir uns jedes Jahr wieder dabei ertappen, es zu tun. So weit, so einfach. 4.2.2 Ein Verdacht gegen den Humeanismus Allerdings beschwört dieses humeanische Manöver, so harmlos es auf den ersten Blick zu sein scheint, einen wichtigen Verdacht herauf. Nicht nur scheinen die Humeaner sich der problematischen »Tauziehen-Metapher« der Interaktion begründender Erwägungen zu bedienen. Schwerer noch wiegt die Sorge, dass sie mit ihrem Re-Interpretations-Vorschlag unter der Hand den Wollensbegriff verändern. Rekapitulieren wir noch einmal den Gedankengang. Humeaner schauen sich zunächst die somatischen Bereiche unseres sprachlichen Alltages an, in denen es nur zu natürlich ist, von Wollenszuständen zu reden, die unseren Handlungen vorausgehen und sie erklären. Sie weiten dann diese philosophische Rede auf Fälle aus, in denen es zwar grammatisch möglich ist, das Verb »wollen« zu benutzen (»ich will das Klo putzen«, »ich will ein sauberes Klo haben«),13 die darüber hinaus aber mit den somatischen Fällen wenig gemein haben. Der offensichtlichste Unterschied ist, dass die Wollenszustände der somatischen _____________ 12 Vgl. etwa Dreier, 1997, 87. 13 Auf diese oberflächengrammatische Tatsache werde ich im Abschnitt 4.4.4 genauer eingehen.

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Kontexte klare phänomenologische Profile haben. Wir spüren den Hunger, den Durst, den sexuellen Drang, wohingegen wir beim »Wollen« der neueren Kontexte außer der Erfahrung unseres tatsächlichen Handelns gar nichts Besonderes spüren müssen. In mindestens einem Aspekt haben die Humeaner also den Wollensbegriff in der Mitte der Unterhaltung verändert.14 Und mehr noch: Ihre Veränderung bestand nicht in der Ersetzung, sondern der ersatzlosen Streichung eines Kriteriums der üblichen Verwendung des Begriffes »Wollen«. An dieser Stelle ist es wichtig, den sich aufdrängenden Verdacht richtig zu verstehen. Es geht nicht darum, dass der Humeanismus gegen eine als unverdorben interpretierte Sprechweise verstößt. Es geht auch nicht bloß um die Unart der Veränderung der Spielregeln in der Mitte des Spiels. Vielmehr drückt sich in dem soeben geäußerten Zweifel der Verdacht eines sprachlichen Taschenspielertricks und damit der begrifflichen Leere aus. Der Verdacht lautet, dass der humeanische Begriff »Wollen« einfach definiert wird als immer dann legitim verwendbar, wenn eine Motivation vorliegt, und dass es außer der Verknüpfung mit der Motivation gar keine weiteren bedeutungskonstitutiven Verknüpfungen gibt. Wenn dies aber so ist, dann ist die Aussage, dass bei jeder Motivation ein Wollen vorliegt, jeglichen Sinnes entleert. Sie erledigt dann keinerlei sprachliche Arbeit; sie erklärt nichts.15 Mit Wittgenstein könnten wir dann sagen, dass wir uns zu ihr nur deswegen hingezogen fühlen, weil wir uns von Aspekten der Grammatik unserer Sprache in die Irre führen lassen. 4.2.3 Zur Begründungslast der Humeaner Humeaner, die empfänglich für die Sorge um die begriffliche Leere ihrer Rede vom »Wollen« sind, sehen sich im Zugzwang, weitere begriffskonstitutive Regeln der Verwendung dieses zentralen Begriffs zu finden. Aus diesem Grund reden viele Humeaner von generellen konativen Zuständen – »Pro-Einstellungen« – die zwar nicht die phänomenologischen Eigenschaften des gewöhnlichen, somatischen Wollens haben, dessen konkrete _____________ 14 Dieser Vorwurf kann übrigens nicht dadurch entkräftet werden, dass eine humeanische Philosophin, die gerade ihre Steuererklärung schreibt, auf die Frage, ob sie gerade ein Wollen mit dem Gegenstand des Steuererklärung-Schreibens verspürt, affirmativ antworten würde. Für ihre affirmative Antwort wäre wohl eher ihr philosophisches Ziel als ihre introspektive Erfahrung verantwortlich – und gewiss gilt dies ebenso für diejenigen ihrer Studenten, die sich die humeanische Art zu sprechen bewusst oder unbewusst angeeignet haben. 15 Dieser Vorwurf findet sich in sehr klarer Form in Platts, 1979, 256 und in Schueler 1995, 48f.

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kausale Profile aber geeignet sind, unvollständige Handlungserklärungen zu komplettieren. Zwar ist uns von ihren kausalen Profilen außer der stipulierten Eignung für kausale Handlungserklärungen nichts bekannt. Humeaner erwarten aber, dass sich Pro-Einstellungen neurologisch oder psychologisch feststellen und untersuchen lassen, wenn die entsprechenden Fachwissenschaften ausgereift sind.16 Selbst wenn logischer Raum für eine These wie diese bleibt – wir kommen zu dieser Frage im Abschnitt 4.4.2 dieses Kapitels –, lässt sich kaum leugnen, dass die Anfangsplausibilität des Humeanismus, die wir im Kontext der somatischen Fälle noch anzuerkennen bereit waren, verschwunden ist. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf: Was sind die Gründe der Humeaner für so eine These? Warum denken sie, sie bräuchten einen Zustand, der immer dann vorliegt, wenn wir handeln (bzw. motiviert sind zu handeln) und der in einer kausalen Beziehung mit dem Handeln (bzw. mit der Motivation) steht? Es scheint, dass Humeaner sich aus zwei Erwägungen zu der Rede von der Pro-Einstellung gezwungen sehen. Erstens: Unterschiedliche Leute können – so jedenfalls die Annahme – ein und dieselbe begründende (normativ relevante) Überzeugung haben, aber unterschiedlich motiviert sein. Zweitens: Überzeugungen, unter anderem Überzeugungen über Gründe, stehen – so wird jedenfalls gesagt – in einer Welt-Geist-Passungsrichtung. Es bedarf aber zur Erklärung einer Motivation eines Zustands, der eine Geist-Welt-Passungsrichtung hat. Ohne letzteren bleibt die Motivation mysteriös, und zwar auch dann, wenn der entsprechende (normative) Grund bekannt ist. Im Folgenden möchte ich diese beiden humeanischen Argumente diskutieren und schließlich zurückweisen. In beiden Fällen wird mein Gegenargument essenziellen Gebrauch von den (in den vorangegangenen Kapiteln erläuterten) sprachphilosophischen Einsichten des Pragmatismus machen, vor allem vom prekären Status des gegenseitigen Verstehens.

_____________ 16 Michael Smith ist der vielleicht prominenteste Vertreter dieser Verteidigungsstrategie. Er verknüpft sie mit dem Funktionalismus, also der Idee, dass es in kausalen Erklärungen nur um die funktionalen Rollen von intentionalen Zuständen – wie Wollenszuständen – gehen muss, nicht darum, wie selbige physikalisch oder biologisch realisiert sind. Vgl. Smith, 1995, 104ff.

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4.3 Kritik der humeanischen Argumente 4.3.1 Gleiche Überzeugung, unterschiedliche Motivation? Das erste Argument der Humeaner stützt sich auf die Behauptung unserer Vertrautheit mit Situationen, in denen verschiedene Sprecher dieselbe ethisch relevante Überzeugung haben, aber auf ganz unterschiedliche Weise – bzw. in ganz unterschiedlichem Grad – motiviert sind entsprechend zu handeln.17 Nehmen wir an, eine Sprecherin äußert die Überzeugung, ein bestimmtes Erbschaftssteuerniveau sei zu niedrig und insofern ungerecht, da es die Gesellschaft zu weit vom Ideal der Chancengleichheit entferne. Nehmen wir ferner an, dass zwei befreundete Zuhörer ihre Zustimmung signalisieren und dabei wahrhaftig sprechen. Wir haben somit eine Situation, in der drei Sprechern ein bestimmtes Urteil zugeschrieben werden kann. Natürlich ist diese Situation kompatibel mit ganz unterschiedlichen Handlungsdispositionen der drei Sprecher. Die erste Sprecherin könnte in eine sozialdemokratische Partei eintreten, um sich in jahrzehntelanger Arbeit aktiv für eine Anhebung des Steuerniveaus einzusetzen, während der erste Freund sich höchstens dazu bereit erklärt, der Partei in der nächsten Wahl seine Stimme zu geben und sich der zweite Freund nicht einmal dazu aufraffen kann. Es scheint, dass wir es hier mit einer Überzeugung, aber mit drei unterschiedlichen Motivationen zu tun haben. Die humeanische Reaktion auf diese Möglichkeit ist geradlinig: Die motivationalen Unterschiede lassen sich aus humeanischer Perspektive problemlos mit unterschiedlichen (oder unterschiedlich starken) ProEinstellungen der drei Freunde erklären. Während das angehende Parteimitglied eine besonders starke Pro-Einstellung hat, müssen wir beim ersten Freund von einer schwächeren und beim zweiten von der völligen Abwesenheit einer Pro-Einstellung sprechen. Diese Reaktion können wir nach der Diskussion des letzten Kapitels schon deswegen zurückweisen, weil sie die Prekarität der Zuschreibung von Überzeugungen ignoriert. Die Identität einer Überzeugung hängt von vielen Urteilen ab, weswegen es immer möglich ist, dass sich hinter einer scheinbaren Übereinstimmung von Überzeugungen komplexe Unterschiede verbergen. Genau dies ist im vorliegenden Fall eine plausible Diagnose. Wenn die drei Sprecher ganz unterschiedlich auf den geäußerten Satz über das zu niedrige Erbschaftssteuerniveau reagieren, so sollten wir zunächst davon ausgehen, dass dies an weiteren Festlegungen liegt, in denen _____________ 17 Vgl. etwa Svavarsdottir, 1999.

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die Sprecher divergieren.18 Da zunächst nicht klar ist, in welchen Festlegungen die Sprecher genau divergieren, können wir den Sprechern im Sinne des vorangegangenen Kapitels eine nur imperfekt gelingende Kommunikation zuschreiben.19 Die Sprecher haben eine grobe Einigung, aber über die genaue Signifikanz und damit die genaue Identität der relevanten Erwägungen herrscht Unklarheit und weiterer Diskussionsbedarf. Kurzum: Der Unterschied zwischen den Sprechern ist kognitiver Art, und von einem Fall von »gleichen Überzeugungen, aber unterschiedlichen Motivationen« sollte hier noch lange nicht gesprochen werden. Doch dies ist nur eine von mindestens zwei interpretativen Optionen, die ohne die vom Humeaner als unausweichlich angesehenen ProEinstellungen auskommen. Sie erlaubt es uns, an der Rationalität der drei Sprecher in dem Sinne festzuhalten, dass wir ihnen bloß unterschiedliche Überzeugungen über die Welt zuschreiben, nicht aber von Inkonsistenzen in ihren Überzeugungsmengen ausgehen. Die andere uns offen stehende Interpretation verzichtet auf die Hypothese der gleichrangigen Rationalität der interpretierten Sprecher. Ein einigermaßen kompetenter Interpret menschlichen Handelns wird nie die Möglichkeit ausschließen, dass ein von ihm interpretierter menschlicher Sprecher und Akteur die komplexen Regeln des Sprachspiels aus Müdigkeit, Hunger, Stress, Depression, Narzissmus, Habgier – oder welchem psychologischen Zustand auch immer – verletzt. Tatsächlich wird ein kompetenter Interpret bei ihm bekannten Sprechern sogar mit konkreten Erwartungen der einen oder anderen Form von Willensschwäche20 arbeiten. Kurzum: Auch mit der interpretativen Zuschreibung lokaler Irrationalität können wir zu einer plausiblen Diagnose der unterschiedlichen Dispositionen der drei Sprecher kommen, die ohne die Zuschreibung von Pro-Einstellungen auskommt. Natürlich lassen sich die beiden Interpretationen miteinander kombinieren. Für die Unterschiede im Verhalten der drei Sprecher wären dann sowohl unterschiedliche propositionale Festlegungen als auch unterschiedliche Rationalitätsgrade verantwortlich. _____________ 18 Vgl. auch Shafer-Landau, 2005, 129f. 19 Wir können sogar an zwei Stellen von imperfekt gelingender Kommunikation sprechen: zum einen zwischen den Sprechern untereinander, zum andern zwischen den Sprechern einerseits und uns (Interpreten) andererseits. 20 Ein Wort zur Terminologie: Es ist bedauerlich, dass im Wort »Willensschwäche« eine humeanische Position eingeschrieben zu sein scheint. In der vorliegenden Arbeit ist mit »Willensschwäche« einfach ein Mangel an (zumeist praktischer) Vernunft gemeint, der sich im illegitimen Unterlassen der als richtig erkannten Handlung äußert. Es soll nicht suggeriert werden, dass das Problem im ausbleibenden (oder zu schwachen) Wollen besteht.

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An dieser Stelle mag der Humeaner einwenden, dass die zweite Interpretationsmöglichkeit des Pragmatisten den Humeanismus durch die Hintertür doch wieder einführt: Für ihn liegt im Eingeständnis der Möglichkeit von Willensschwäche als kausal effektivem Zustand letztlich eine (wenn auch ungewohnt verpackte) Variante der Rede von ProEinstellungen. Doch dieser humeanische Einwand wird sich schnell als ein Pyrrhussieg erweisen. Wenn der Humeaner im Eingeständnis der Möglichkeit von Willensschwäche ein Einfallstor für seine These von der Rolle der Pro-Einstellungen sieht, zeigt er, dass er sich auf eine viel dünnere Interpretation von »Pro-Einstellung« einlässt, als es zunächst schien und als er zunächst behauptete. Für ihn ist eine Pro-Einstellung jetzt nichts anderes mehr als die Abwesenheit von Willensschwäche. In diesem Fall kommt die Zuschreibung einer Pro-Einstellung einfach der Zuschreibung von Rationalität (plus der Zuschreibung bestimmter Gründe) gleich. Diese Interpretation ist möglich, muss einem Humeaner aber aus zwei Gründen als unpassend erscheinen. Zum einen müsste der so sprechende Philosoph mit der Zuschreibung von einer Pro-Einstellung selber für das Objekt der Pro-Einstellung Partei ergreifen, zumindest bedingt. Dies jedenfalls ist einer der Effekte der Bezeichnung einer Handlung als rational: Die Redeweise ist normativ. Zum andern wäre es nun irreführend, dem vorgeblichen konativen Zustand eine eigenständige explanatorische Rolle einzuräumen, da irrationales Handeln generell eher erklärungsbedürftig ist als rationales Handeln. Doch wie dem auch sei: Unsere Re-Interpretation des vom Humeaner skizzierten Szenarios lässt nicht nur die humeanische These als problematisch erscheinen, sondern schließt auch den mit ihr verknüpften motivationalen Externalismus der Gründe aus. Denn je plausibler die angebotene Interpretation des Szenarios, desto plausibler wird auch die These, dass der Weg vom Grund zur Motivation nicht durch Wollenszustände vermittelt sein muss. Wird dieser Weg unterbrochen, so reden wir nicht von einem fehlenden Wollen, sondern von praktischer Irrationalität.21 Doch bevor wir dies genauer diskutieren, wenden wir uns dem zweiten Argument der Humeaner zu.

_____________ 21 Diese Position entspricht der von Michael Smith in seinem The Moral Problem (1995) vertretenen »defeasible form of internalism« (die er als »judgment internalism« ausdrückt): »If an agent judges that it is right for her to Ф in circumstances C, then either she is motivated to Ф in C or she is practically irrational.« (Smith, 1995, 61, meine Hervorhebung)

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4.3.2 Welt-Geist-Passungsrichtungen Das zweite humeanische Argument basiert auf der Idee, dass eine Überzeugung – auch eine Überzeugung über einen Grund – eine Welt-GeistPassungsrichtung besitzt, während einem motivierten Handeln ein Zustand mit einer Geist-Welt-Passungsrichtung zugrundeliegen muss.22 Hinter diesem eher pompösen Vokabular verbirgt sich ein einfacher Gedanke. Wer eine Überzeugung äußert, der muss bereit sein, seine Äußerung zurückzunehmen bzw. seine Überzeugung zu modifizieren, wenn sich herausstellt, dass es sich in der Welt anders verhält als er dachte. Nichts anderes meinen Philosophen, wenn sie bei Überzeugungen von einer Welt-Geist-Passungsrichtung sprechen. Anders ist es etwa mit Bitten, Wünschen, Absichten oder Forderungen. Hier würden wir keine Zurücknahme oder Korrektur im Licht der vorgefundenen Sachlage verlangen. Im Gegenteil: Im Fall einer Divergenz mit der Welt gilt es, letztere im Licht von ersterem anzupassen. Es ist hier zu bedenken, dass man dem Gehalt eines Zustandes oder einer Äußerung seine Passungsrichtung üblicherweise nicht direkt ansieht. Dies ist nicht anders als etwa bei einem Zettel, auf dem nur die Wörter »2 Dosen Thunfisch« stehen. Die Passungsrichtung hängt davon ab, ob es sich bei dem Zettel um eine Inventurnotiz oder um einen Einkaufszettel handelt. Im ersten Fall hat er eine Welt-Geist-Passungsrichtung, im zweiten Fall eine Geist-Welt-Passungsrichtung. Diese Unterscheidung taucht nun in einem humeanischen Argument mit den folgenden beiden Prämissen auf. Erstens: Wenn wir ein motiviertes Handeln analysieren, dann muss sich in unserer Analyse ein Zustand finden, der eine Geist-Welt-Passungsrichtung hat, der also hinsichtlich seiner Passungsrichtung analog mit Einkaufszetteln und nicht mit Inventurlisten ist. Zweitens: Wie wir es auch drehen und wenden, eine Überzeugung ist ein Zustand, der die Welt-Geist-Passungsrichtung ausstellt, nicht die Geist-Welt-Passungsrichtung – der also seine Passungsrichtung nicht mit Einkaufszetteln, sondern mit Inventurlisten teilt. Wer diese Thesen ernst nimmt, der wird aus ihnen schließen, dass einer Handlung nicht allein eine Überzeugung zugrunde liegen kann. Soll die Handlung tatsäch_____________ 22 Die Rede von »Passungsrichtungen« hat ihren Ursprung in Gertrude Elizabeth Anscombes Klassiker Intention (siehe Anscombe, 2000, §32, 56), wenngleich sie dort nicht in einem Argument für den Humeanismus verwendet wird. Für den Humeanismus in Anschlag gebracht wird sie in Platts, 1979, Kap. 3 und Smith, 1995, 111. Obgleich im Englischen nicht nur von mind und world, sondern auch von word und world die Rede ist, spreche ich hier der Einfachheit halber nur von »Geist« und »Welt«.

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lich entmystifiziert werden, so sind wir gezwungen – so das Argument –, nach einem weiteren Zustand zu suchen. Für den Humeaner liegt auf der Hand, welcher Zustand die erforderliche Passungsrichtung besitzt und daher die explanatorische Lücke füllt: es ist das oben beschriebene und diskutierte Wollen, beziehungsweise – im passenden philosophischen Jargon gesagt und gegen die genannten Zweifel abgeschottet – es ist die zwar phänomenologisch unzugängliche, aber kausal wirksame Pro-Einstellung. Wiederum sind wir bei der humeanischen These angelangt: Zu einem motivierten Handeln gehört immer eine ProEinstellung.23 Tatsächlich fällt es nicht ganz leicht, dieses Argument so zu formulieren, dass seine Prämissen auch nur eine initiale Plausibilität besitzen. Dies liegt an den pragmatistischen Vorarbeiten des vorigen Kapitels. Wie wir es auch drehen und wenden: Es scheint, dass die zweite Prämisse des Arguments die Hauptlehre des Pragmatismus einfach ignoriert. Diese besteht in der Einsicht, dass propositionale Ausdrücke – Indikativsätze – eben nicht repräsentational zu verstehen sind, also dass ihr Gehalt nicht in der Abbildung von, oder der Korrespondenz mit, nicht-sprachlichen Sachverhalten oder Dingen liegt, sondern in der praktischen Rolle im erweiterten Sprachspiel. Wie ich in den letzten beiden Kapiteln ausgeführt habe, zeichnen sich Indikativsätze gleichzeitig durch ihre Antezedenten und durch ihre Konsequenzen aus, und zwar sowohl in inferenzieller als auch in nicht-inferenzieller Hinsicht. Dies gilt für den Fall, in dem sie als Sprachspielmanöver geäußert werden, ebenso wie für den Fall, in dem sie (von uns) als Überzeugungen zugeschrieben und damit als Aspekt des Spielstands postuliert werden. Eine Überzeugung bringt konstitutiv ihre praktischen Konsequenzen mit – tut sie es nicht, so ist es keine Überzeugung. Wenn wir mit diesem Sprachverständnis nicht ganz falsch liegen, dann fällt die zentrale zweite Prämisse, also die These der alleinigen Welt-GeistPassungsrichtung von Überzeugungen, in sich zusammen. Zwar bleibt es richtig zu sagen, dass eine Überzeugung daran angepasst werden muss, was wir in der Welt vorfinden – aber dies ist kein Grund anzunehmen, dass eine Überzeugung frei von internen Verknüpfungen mit praktischen Konsequenzen wäre. Hiermit wird nun klar, dass mit der Plausibilität des Humeanismus auch die Plausibilität des mit ihm verknüpften motivationa_____________ 23 An dieser Stelle sollte ich anmerken, dass wir mit Michael Smith mindestens einen Philosophen kennen, der sowohl den motivationalen Internalismus als auch den motivationstheoretischen Humeanismus vertritt (und zwar auf der Basis des Passungsrichtungs-Arguments), siehe Smith, 1995, 113ff. In seinem Fall liegt dies allerdings daran, dass er ein sehr dünnes Verständnis von desires als (bloßen) goals (Zielen) hat – sprich: für ihn ist die Frage des Humeaners die Frage danach, ob Motivationen immer auf teleologischen Zuständen beruhen müssen oder nicht.

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len Externalismus der Gründe fällt. In beiden Antworten auf die humeanischen Argumente wurde motiviertes Handeln als essenziell rationales – und nicht als essenziell gewolltes Handeln – verstanden. Damit erweist sich der motivationale Internalismus der Gründe als eine robuste und plausible These: Ein vorliegender und verstandener Grund führt bei einem rationalen Akteur zur Handlung – unabhängig von Wollenszuständen. Ein ausbleibendes Handeln trotz vorliegender Gründe ist also ein Problem der Unvernünftigkeit, nicht eines von fehlenden Wollenszuständen. 4.3.3 Der motivationale Internalismus der Gründe Ich habe oben bemerkt, dass mir die natürlichste Reaktion auf die »schiefen« Fälle darin zu bestehen scheint, zu sagen, dass es eben verschiedene Wege zum motivierten Handeln gibt und dass nur einer dieser Wege durch das Wollen führt. Hier stellt sich eine gewisse Versuchung ein zu behaupten, dass ein anderer Weg zur Motivation über die Vernunft bzw. die Gründe führt. Wir würden, wenn wir uns auf diese Sprachregelung einließen, den Grund auf eine logische Stufe mit dem Wollen stellen und beiden gleichermaßen die Fähigkeit zu motivieren zuschreiben. Ich rede hier allerdings aus zwei Gründen von einer Versuchung. Zum einen ist zu bedenken, dass es philosophisch mindestens ebenso verlockend ist, selbst in den nicht-schiefen, also in den »somatischen« Fällen zu behaupten, dass die Motivation eher auf Gründen fußt als auf Wollenszuständen. Bei rationalen Menschen – und Menschen sind im Standardfall rational – lässt sich nämlich normalerweise sagen, dass ihre Neigungen als Gründe firmieren. Nehmen wir eine Frage wie »Warum hat Peter das Brot gegessen?« und schauen uns verschiedene Antworten an. Es scheint, dass die Antwort »Weil er Hunger hatte« den gleichen logischen Raum besetzt wie die Antwort »Weil er sich als guter Gast verpflichtet fühlte, es zu essen«. In Anbetracht der Tatsache, dass der letztere Satz eindeutig auf einen Grund Bezug nimmt, können wir auch bei ersterem Satz mit einiger Plausibilität sagen, dass Peters Motivation auf einen Grund zurückgeht: Peters Hunger fungiert als Grund. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass sich die Erwägung, dass Peter hungrig ist, ohne weiteres mit anderen begründenden Erwägungen logisch kombinieren lässt – zum Beispiel mit der Erwägung, dass Marie weniger (oder mehr) Hunger hat als er. Tatsächlich ist es möglich und plausibel, eine Antwort wie »Weil er Hunger hatte« zu interpretieren als Kurzform der längeren Antwort »Weil er Hunger hatte und weil die begründende Erwägung seines Hungers durch keine (weiteren) begründenden Erwägungen außer Kraft gesetzt wurde«.

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Hinzu kommt eine zweite Erwägung, nämlich die Sorge, dass wir uns mit solchen Formulierungen in die Irre führen und so neue Probleme erzeugen könnten, anstatt ein Problem sicher aus der Welt zu schaffen. Im Hintergrund dieser Sorge steht der Gedanke, dass Klarheit im Denken am besten durch die Erinnerung an die Regeln des eigenen Sprachspiels erreicht wird. Die Aussage, dass Gründe motivieren, scheint nun in unserem Sprachspiel kaum ein wirklich klar verständlicher Satz zu sein – übrigens genau wie der Satz, dass das Wollen motiviert. In der Alltagssprache motivieren Aussichten, Motivationstrainer, Chefs und vielleicht Ängste. Gründe oder gar Wollenszustände gehören zumindest nicht klarerweise zu den Dingen, denen wir üblicherweise eine Motivationsfähigkeit zuschreiben. Mit diesem Leitgedanken im Hintergrund sollten wir die sich herauskristallisierende These lieber so formulieren, wie wir es oben bereits getan haben: Wenn wir einen Grund zuschreiben, und wenn wir dem Träger des Grundes auch ein klares Verständnis selbigen Grundes zuschreiben, dann schreiben wir im Standardfall auch eine Motivation zu – wobei die einzig legitime Abweichung vom Standardfall die Zuschreibung praktischer Irrationalität, also Willensschwäche, ist. Wollenszustände spielen in dieser Gleichung jedenfalls keine Rolle. Diese internalistische These ist gleichzeitig verwurzelt in der Alltagssprache und führt – zumindest bisher – zu keinen Selbstwidersprüchen. Sie darf daher bis auf weiteres als die plausibelste These über den Charakter der Beziehung zwischen Gründen und Motivationen gelten.

4.4 Zu den Wurzeln des motivationalen Externalismus 4.4.1 Versuch einer Diagnose Und doch erfreuen sich sowohl der Humeanismus als auch der motivationale Externalismus nach wie vor großer Popularität. Im Zuge einer Diagnose der Ursachen dieser Popularität möchte ich auf ein verborgenes und schwer zu therapierendes Missverständnis bestimmter Ausdrücke bzw. bestimmter Bereiche unserer Sprache aufmerksam machen. Konkret möchte ich auf das Versäumnis hinweisen, hinreichend klar zwischen zwei Lesarten – einer normativen einerseits und einer nicht-normativen, naturwissenschaftlichen andererseits – von »Warum?«-Fragen und ihren »Weil«Antworten zu unterscheiden. Ich möchte das Problem im Folgenden auf drei Unterabschnitte aufteilen. Im nun beginnenden Unterabschnitt werde ich auf die verbreitete

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Idee hinweisen, dass die Sprache der Wissenschaften24 als ein Ideal jeglicher Sprachverwendung zu verstehen ist, und zeigen, dass diese Idee falsch und irreführend ist. Im darauf folgenden Unterabschnitt werde ich das Problem etwas weiter fassen. Ich werde argumentieren, dass sich in ihm die philosophische Gewohnheit verbirgt, zuerst auf die Rand- und Sonderbereiche unserer natürlichen Sprache zu blicken und erst später die zentralen Bereiche der Sprache zur Kenntnis zu nehmen. Durch diese Untersuchungsreihenfolge erscheinen vielen Philosophen letztere als erklärungsbedürftig, obwohl eigentlich – wenn überhaupt – erstere erklärungsbedürftig sind. In einem letzten Unterabschnitt werde ich kurz auf die oberflächengrammatische Tatsache eingehen, dass wir bestimmte normative Aussagen mit dem Begriff »wollen« bilden, und davor warnen, aus dieser Tatsache vorschnelle philosophische Schlüsse zu ziehen. Meine Diagnose beansprucht keine Neutralität, insofern die Ursachen des Externalismus darin explizit als Missverständnisse aufgefasst werden. 4.4.2 Ein Missverständnis der Wissenschaftssprache Was ich als das Missverständnis der Wissenschaftssprache bezeichne, sind tatsächlich zwei Missverständnisse: Erstens machen wir uns ein falsches Bild von der Wissenschaftssprache. Zweitens behandeln wir dieses Bild als das Ideal jeglicher propositionaler Sprachverwendung. Diese beiden Missverständnisse sind aber eng miteinander verknüpft. Ich möchte mit den Thesen beginnen, dass das Wortpaar »warum« und »weil« älter ist als jede Wissenschaft oder Proto-Wissenschaft und dass es mit der Entstehung letzterer gewissermaßen einen neuen Ableger ausgebildet hat. Diese Behauptungen sollen nicht – zumindest nicht in erster Linie – sprachhistorische Thesen darstellen. Stattdessen soll mit ihnen ausgedrückt werden, dass an der Verwendung des Wortpaares »warum« und »weil« in der Sprache der Wissenschaften nicht etwa ein Aspekt in Reinform beobachtet werden kann, der auch von der nicht-wissenschaftlichen Verwendung des Wortpaares anvisiert, aber nur mangelhaft getroffen wird. Vielmehr kommt der naturwissenschaftlichen Verwendung des Wortpaares eine eigenständige Funktion zu; eine Funktion, die erst vor dem Hintergrund seiner älteren Verwendung verständlich wird. Ein großer Teil der philosophischen Unklarheit in der Handlungs- und Motivationstheorie ist der Verwechslung und Vermengung dieser beiden Funktionen geschuldet. _____________ 24 Ab sofort werde ich mit »Wissenschaft(en)« die Naturwissenschaft(en) meinen.

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Die ursprünglichste Warum-Frage und ihre Weil-Antwort beziehen sich auf Verhalten, das einem Interpreten aus Mangel an kontextuellen Daten zunächst nicht als sinnvolle Handlung erscheint. Sie sind üblicherweise in der zweiten oder dritten Person formuliert. »Warum hat sie ihre Hand gehoben?« – »(Sie hat ihre Hand gehoben,) weil der Häuptling die Frage gestellt hat, wer morgen mit zur Jagd kommt«; »Warum bist du gestern ausgeritten?« – »(Ich bin gestern ausgeritten,) weil das Wetter passend für die Jagd war«. Mit diesen Warum-Fragen werden Informationen angefordert, die das zunächst rätselhafte Verhalten in einen weiteren Sinnzusammenhang stellen und es somit als rationale Handlung ausweisen. Wichtig an dieser Verwendung ist, dass bei ihr das erweiterte Sprachspiel vorausgesetzt und nach spielstandbestimmenden Verhaltens- oder Situationsaspekten gefragt wird. In den soeben skizzierten Situationen wird beispielsweise vorausgesetzt, dass eine an alle gestellte Wer-Frage mit dem Heben einer Hand beantwortet werden kann bzw. dass gutes Wetter einen Grund dafür darstellt, zur Jagd auszureiten. In komplexen Spielen, in denen verschiedene Erwägungen gemeinsam auftreten und von den Spielern in logische Strukturen gebracht werden müssen, ist dies nicht anders, wenngleich natürlich ein Adressat einer Warum-Frage bei zunehmender Komplexität des zugrundeliegenden Sprachspiels ein zunehmend feines Gespür dafür aufbringen muss, welche der vielen relevanten Situationsaspekte dem Fragenden unbekannt sind. Mit der Entwicklung der Praxis und der angeschlossenen Sprache entstanden nun zwei weitere Warum/Weil-Verwendungen – eine nur leicht variierte und eine völlig neue. Zunächst zur nur leicht variierten Verwendung. Mit der zunehmenden Komplexität des psychologischen Diskurses und der aufkommenden Rede über unterschiedliche Rationalitätsgrade entstand die Verwendung von Warum-Fragen als Fragen nach der Willensstärke konkreter Akteure. Nehmen wir beispielsweise die Frage: »Warum hat Peter das Geld zurückgegeben?« Hier ist es durchaus plausibel, dass es in ihr (in einer konkreten Situation) darum geht, ob Peter die Art von Person ist, die das Geld aus den richtigen Gründen zurückgegeben hat (weil es nicht seines war, weil andere es mehr brauchten, weil es aus fragwürdigen Quellen stammte) – oder nicht (weil er Angst vor Verfolgung hatte, weil ihm der Aufwand der Geldwäsche zu groß war). Diese Warum-Frage ist also eine verkappte Ob-Frage; die anvisierte Information betrifft den Grad der Verankerung des fraglichen Akteurs im erweiterten Sprachspiel. Doch während diese neue Verwendung sprach- und handlungstheoretisch durchaus interessant ist, geht es mir hier letztlich nicht um sie. Die im aktuellen Kontext interessantere neue Verwendung des Warum/WeilPaares ist die Verwendung fernab von menschlichen Sprachspielsituatio-

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nen, nämlich im Kontext der Aufstellung, Überprüfung und Ersetzung konditionaler Prognosen über äußere Umstände. Wenn man einen Gegenstand loslässt, dann fällt er zu Boden. Warum? Nun, er fällt zu Boden, weil auf ihn die Schwerkraft wirkt, oder vielleicht etwas genauer: weil auf ihn die gravitationale Anziehung des verhältnismäßig massereichen Objekts wirkt, auf dessen Oberfläche sich das Geschehen abspielt. In wissenschaftlichen oder proto-wissenschaftlichen Kontexten wie diesem liefern wir in unseren Weil-Antworten nicht sprachspielrelevante Zusatzinformationen, deren praktische Signifikanz allen beteiligten Sprechern bereits klar ist und bei denen die Sprachspielteilnehmer bereits mitgedacht werden. Vielmehr stellen wir hier bedingte Prognosen über die äußeren Umstände unseres Sprachspiels auf.25 Um meine Hauptthese zu unterstützen, dass die wissenschaftliche Verwendung der Warum/Weil-Konstruktion keine ideale, sondern eine neue, eigenständige und nur in bestimmten Kontexten sinnvolle Verwendung ist, möchte ich im Folgenden einige Aspekte der wissenschaftlichen Verwendung besonders hervorheben. Erstens zeichnen sich wissenschaftliche Sätze durch eine relative Ferne zum nicht-linguistischen Handeln aus: Als Erklärungen von oder Rechtfertigungen für letzteres taugen sie nur, wenn eine Reihe weiterer Sätze bzw. Inferenzen vorausgesetzt werden. Zweitens hat sich mit der Entwicklung der Wissenschaften das Ideal der Vermeidung intensionaler Begriffe wie »glauben« oder »denken« gebildet, in deren Kontexten nicht garantiert werden kann, dass sich extensionsgleiche Terme wahrheitserhaltend durch einander ersetzen lassen.26 Drittens schließlich wird bei der Anforderung bzw. Aufstellung eines wissenschaftlichen Ursachensatzes immer bereits akzeptiert, dass der Satz mit der Verfügbarkeit genauerer und sichererer Daten durch einen neuen Satz ersetzt werden muss, ohne dass deswegen seine ursprüngliche Aufstellung als kritikwürdiger Fehler zu werten ist. Der Satz, dass Holz bei hohen Temperaturen anfängt zu brennen, wurde mit der Zeit ersetzt durch den Satz, dass Holz bei hohen Temperaturen und dem Kontakt mit Sauerstoff anfängt zu brennen – und auch dieser Satz ist mittlerweile ersetzt worden durch einen Konditionalsatz mit einer noch komplexeren Konjunktion im Antezedens. Diese drei Eigen_____________ 25 Was hier angedeutet wird, ist ein Vorläufer bzw. eine einfache Form des von Carl Hempel entwickelten DN-Modells der wissenschaftlichen Erklärung. Vgl. Hempel, 1965. 26 Dass Sätze mit Begriffen wie »glauben« oder »denken« dieses Ziel verfehlen, sehen wir in Freges altem Beispiel der Sätze »Peter denkt, er sehe den Morgenstern« und »Peter denkt, er sehe den Abendstern«. Diese Sätze können nicht immer wahrheitserhaltend ersetzt werden, denn es kann sein, dass Peter nicht weiß, dass der Morgenstern und der Abendstern derselbe Himmelskörper sind. Vgl. Frege, 1967 [1892], 144.

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schaften der wissenschaftlichen Warum/Weil-Konstruktionen, für die es keine Analogien bei den sprachspielbezogenen Warum/Weil-Konstruktionen gibt, dienen vor allem dem Ziel, die wissenschaftliche Arbeitsteilung zu maximieren und die Zugangsbarrieren zur Wissenschaft zu minimieren. Wir sollten sie nicht verstehen als Konzessionen an die Struktur der Welt, »wie sie wirklich ist« – um die Welt, wie sie wirklich ist, geht es auch in den anderen, älteren, Warum/Weil-Kontexten. Freilich könnte an dieser Stelle eingewandt werden, dass die drei Aspekte der wissenschaftlichen Spezialsprache nicht unkontrovers sind und dass es Wissenschaften gibt, deren Sätze nicht alle drei Merkmale aufweisen. Allerdings geht es hier bloß um den Unterschied zwischen normativen, also spielstand-explizierenden Erklärungen einerseits, und nichtnormativen, rein prognostischen Erklärungen andererseits. Dass die Grenze unscharf und unkämpft ist, ist für die Unterscheidung an sich belanglos. Mit der Erinnerung an die unterschiedlichen Funktionen normativer und wissenschaftlicher Warum/Weil-Konstruktionen ziehen wir dem Humeanismus den Boden unter den Füßen weg. Denn ob Humeaner denken, dass die Angabe von Gründen noch nicht ausreicht, um Handlungen zu erklären, und deswegen mit dem Verweis auf kausal effektive Wollens-Zustände komplettiert werden muss, oder ob sie denken, dass Gründe nur deswegen als Erklärungen von Handlungen firmieren können, weil die kausal effektiven Wollens-Zustände bereits implizit in ihnen stecken27 – in beiden Fällen ist der Drang zum Humeanismus eine Konsequenz der Vermengung bzw. Verwechslung der unterschiedlichen Warum/Weil-Konstruktionen, und damit der unterschiedlichen Arten von Erklärungen. Humeaner sehen sich zur Postulierung von WollensZuständen nur deswegen gedrängt, weil sie die normativen Warum-Fragen und Weil-Antworten als verkürzte oder rudimentäre naturwissenschaftliche Warum-Fragen und Weil-Antworten verstehen.28 _____________ 27 Diese zweite Version des Humeanismus geht auf Davidsons Verwendung der Rede von Gründen zurück, siehe Fußnote 6 dieses Kapitels. 28 Mit dem Hinweis auf die Unterscheidung zwischen normativen und wissenschaftlichen Kontexten lässt sich übrigens auch die Position von Thomas Nagel zurückweisen, die wir als eine Art Semi-Humeanismus bezeichnen können. Einerseits wendet sich Nagel gegen den motivationalen Externalismus der Gründe, andererseits sieht er sich aber in der Tradition Humes. Der Trick Nagels besteht im Argument, dass Gründe in der Lage seien, aus sich heraus Wollenszustände – Nagel nennt sie »motivated desires« – zu generieren, welche dann in kausalen Erklärungen aufgeführt werden können. Die Vermengung der unterschiedlichen Warum/Weil-Konstruktionen tritt hier offen zutage. Vgl. Nagel, 1979; s.a. Schueler, 2003, 51.

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Wenn wir uns die Unterschiede der beiden Arten von Erklärungen vor Augen führen, dann sollte noch eine andere Quelle humeanischer Zweifel in Bezug auf normative Erklärungen erlöschen: Es sollte kein Problem mehr darstellen, dass wir mit der Erklärung einer Handlung selber Partei für sie ergreifen oder – wie es auf der Basis eines eher nonkognitivistischen Sprachverständnisses ausgedrückt werden könnte – dass wir mit einer Erklärung werten. Vielmehr können wir akzeptieren, dass hierin der ganze Clou des normativen Typs der Erklärung liegt. Eine Frage allerdings, die in den letzten Absätzen aufgetreten sein könnte, ist, ob die These von der Verschiedenheit der sprachspielbezogenen und der (proto-)wissenschaftlichen Warum/Weil-Konstruktion impliziert, dass in Bezug auf Dinge wie Überzeugungen oder Handlungen – also in Bezug auf intentionale Phänomene, bei denen unsere üblichen Warum/Weil-Konstruktionen klar zum sprachspielbezogenen, normativen Typ gehören –, die wissenschaftliche Sprache prinzipiell fehl am Platz ist. Können wir nicht mit Gewinn auch bei Überzeugungen, Absichten oder Handlungen nach Ursachen (statt Gründen) forschen, selbst wenn wir akzeptieren, dass die übliche Warum/Weil-Konstruktion in diesen Kontexten keine wissenschaftlichen Sätze anvisiert? Die Antwort ist, dass eine Berücksichtigung der Verschiedenheit der beiden Sprachbereiche tatsächlich keine wissenschaftlichen Erklärungsversuche von Überzeugungen, Absichten oder Handlungen ausschließt. Wir haben darin jedoch bis heute kaum Fortschritte gemacht, die mit denen vergleichbar wären, die wir aus anderen Bereichen der empirisch zugänglichen Welt kennen. Das Problem ist, dass es den relevanten Fachwissenschaften bislang schlechterdings nicht gelungen ist, wissenschaftlich beschreib- und erforschbare Substrate intentionaler Phänomene zu finden, durch die einigermaßen sichere Voraussagen möglich werden. Tatsächlich haben wir bislang nicht nur keinerlei Anhaltspunkte über explanatorisch bzw. prognostisch fruchtbare Muster29 hinter oder in unseren intentionalen Zuständen. Wir wissen nicht einmal, wo wir suchen müssen. Weder Versuche, entsprechende Muster in unserer neuronalen Aktivität zu verorten (dies ist etwa Paul Churchlands Ansatz)30 noch Versuche, stattdessen oder zusätzlich auf die Welt öffentlich einsehbaren Verhaltens sowie der Umstände unseres Verhaltens zu blicken (Daniel Dennett ist ein Vertreter dieses Ansatzes),31 haben bislang belastbare Ergebnisse gezeitigt. Mit Blick auf den aktuellen Stand der Wissenschaften müssen wir wohl anerkennen, _____________ 29 Meine Verwendung des Musterbegriffes entspricht derjenigen Daniel Dennetts; vgl. Dennett, 1991. 30 Vgl. Churchland, 1988. 31 Vgl. etwa Dennett, 1999.

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dass wir zur halbwegs genauen Voraussage menschlichen Handelns um die Frage nach den relevanten Gründen, und damit um den Rekurs auf die Regeln des geteilten Sprachspiels, bislang nicht herum kommen. Natürlich ist dies nichts, was wir a priori wissen können. Doch um übertriebene Erwartungen an die Wissenschaften zu dämpfen, dürfte es angeraten sein, unsere tatsächlichen Optionen zu unterstreichen: Entweder wir entscheiden uns für Wissenschaftlichkeit, verzichten dabei aber auf die Chance auf erfolgreiche Prognosen, oder wir zielen auf brauchbare Prognosen, verzichten dann aber auf die Wissenschaftlichkeit. Eines können wir übrigens durchaus a priori wissen, nämlich dass die Ideale der Wissenschaft es verbieten, in den Antezedenten der konditionalen Prognosen (bzw. im Explanans der Erklärungen) weitere intentionale Zustände zu zitieren, wie es etwa funktionalistische Ansätze tun. Intentionale Phänomene sind handlungsnah in der Hinsicht, dass es sich bei ihnen um Aspekte des Spielstandes des geteilten Sprachspiels handelt, welche mit spielregelgemäßen Verpflichtungen und Verboten für den Zuschreibenden einhergehen, und die Rede von intentionalen Phänomenen ist nicht rein extensional, da in Sätzen über intentionale Phänomene extensionsgleiche Terme nicht notwendigerweise wahrheitserhaltend ersetzt werden können. Wem dies egal ist – und im Alltag ist uns dies oft und ganz zu Recht egal – der darf intentionale Phänomene mit anderen intentionalen Phänomenen voraussagen oder erklären. Er muss aber akzeptieren, dass er damit wieder im »alten« Geschäft der normativen Verwendung der Warum/WeilKonstruktion ist – und insofern die Wissenschaft im strengen Sinn verlassen hat. Ob er es will oder nicht: Letztlich redet er über Gründe. 4.4.3 »Das Zweifeln kommt nach der Überzeugung« – Kommen die nicht-motivierenden Gründe auch nach den motivierenden Gründen? Das Missverständnis der Wissenschaftssprache kann als Sonderfall eines generelleren philosophischen Fehlers verstanden werden: der Gewohnheit, zuerst die komplizierten Randbereiche unserer Sprache zu begutachten und erst danach zu den einfachen und ursprünglichen Kernbereichen der Sprache vorzustoßen. Durch diese Untersuchungsreihenfolge erscheinen die Kernbereiche erklärungsbedürftig, obwohl eigentlich – wenn überhaupt – die komplizierten Randbereiche einer Erläuterung bedürfen. Ich möchte dies im vorliegenden Kontext aufzeigen, indem ich eine Parallele zwischen der Rede von motivierenden und nicht-motivierenden Gründen einerseits und der Rede von unbezweifelten und bezweifelten Überzeugungen andererseits aufzeige. In letzterer ist der Fehler der falschen Untersuchungsreihenfolge nämlich besser sichtbar.

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Auf das Missverstehen des Zweifelns hat Ludwig Wittgenstein vor allem in seiner spätesten Phase – insbesondere in seinem letzten Buch Über Gewißheit – immer wieder hingewiesen. Für Wittgenstein besteht der Fehler darin, das Zweifeln als einen inneren Vorgang zu verstehen und dabei aus dem Blick zu verlieren, dass die Äußerung oder Zuschreibung von Zweifeln immer auch und gerade als Spielzug im öffentlichen Sprachspiel angesehen werden muss, mit dem der Spielstand auf eine komplexe, aber gezielte Weise manipuliert wird. Doch der Anti-Mentalismus ist nur einer der Aspekte von Wittgensteins Beschäftigung mit dem Zweifeln. Ein anderer ist die Umkehrung einer klassischen logischen Prioritätsthese. Wittgenstein betont, dass die Möglichkeit der Zuschreibung von Zweifeln logisch auf die Möglichkeit der Zuschreibung von unbezweifelten Überzeugungen angewiesen ist. In einem wichtigen Sinn kommen wir also von der Überzeugung zum Zweifel, nicht andersherum. Ich möchte in diesem Abschnitt vorschlagen, im Kontext der Rede von Gründen, Motiven und Handlungen von einem analogen Missverständnis zu sprechen und versuchen, eine analoge Klärung anzubieten. Zwar stellen wir uns nicht-motivierende Gründe nicht als innere Vorgänge vor, jedoch stellen wir sie uns mitunter durchaus als nicht-normative Zustände vor, die zugeschrieben werden können, ohne dass sich der Zuschreibende damit ebenfalls auf die Zuschreibung anderer, motivierender, Gründe festlegt. Die analoge Klärung des Missverständnisses besteht in der Erstellung einer möglichst detaillierten Übersicht über die komplexe Grammatik der Rede von nicht-motivierenden Gründen, aus der hervorgeht, dass dieses Bild irreführend ist. Wichtigster Bestandteil eines besseren Verständnisses ist der Hinweis, dass das Nicht-Motiviertsein-TrotzGründen – besser bekannt als Willensschwäche – nach dem MotiviertseinDurch-Gründe kommt, genau wie das Zweifeln nach dem Überzeugtsein kommt. Für den Humeanismus wäre dies eine schlechte Nachricht. Denn es würde sich hierin zeigen, dass nicht etwa die motivierende Wirkung des Grundes erläuterungsbedürftig ist. Erläuterungsbedürftig wären nun eher Fälle, in denen ein vorliegender und verstandener Grund nicht motiviert. Beginnen wir mit Wittgensteins Beschäftigung mit dem Zweifeln. Schon seit seinem Tractatus weist Wittgenstein immer wieder darauf hin, dass sich bestimmte Sätze aus logischen Gründen nicht bezweifeln lassen. Der Idee, dass ein Satz wie »((P → Q) & P) → Q« bezweifelt werden könne, stellt er den Gedanken entgegen, dass wir überhaupt nicht wissen, was es bedeuten soll, einen Satz wie diesen zu bezweifeln.32 Tatsächlich ist die logische Unmöglichkeit eines Zweifels (die natürlich mit dem Bild _____________ 32 Vgl. etwa Wittgenstein, 2003e [TLP], 6.51; Wittgenstein, 2003d [PU], §§ 84, 246, 288, 303, 408, 578, 679, vgl. Wittgenstein, 2003f [ÜG], §231.

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vom Zweifeln als innerem Vorgang inkompatibel ist) schon immer eines von Wittgensteins Kriterien dafür, dass ein bestimmter Satz in einem konkreten Äußerungskontext als grammatischer Satz aufgefasst werden muss. Obwohl sich Wittgensteins Interesse am Zweifeln schon in seinem frühesten Werk zeigt, geben erst seine letzten Schriften einen systematischen Überblick über die Grammatik der Rede vom Zweifeln.33 Die grammatischen Aspekte, auf die der späte Wittgenstein in seinen Untersuchungen stößt, sind im Wesentlichen dreierlei. Erstens: Das Zweifeln an einer Aussage kann nur einem Akteur zugeschrieben werden, dem auch unbezweifelte Überzeugungen zugeschrieben werden.34 Ähnliches gilt zweitens für den Zuschreibenden: Nur jemand, der die Rede vom Wissen bzw. vom Überzeugtsein beherrscht, kann auch die Rede vom Zweifeln erlernen und beherrschen.35 Drittens: Der Zweifelnde (sowie – trivialerweise – der das Zweifeln Zuschreibende) muss zu der Sorte von Akteuren gehören, die ihre Überzeugungen sprachlich artikulieren können.36 Wittgenstein weist wiederholt darauf hin, dass eine Verletzung einer dieser konstitutiven Regeln auf einen Themenwechsel hinausliefe. Wer die Regeln verletzt, der redet nicht länger über das Zweifeln, sondern höchstens über das Verhalten, das das Zweifeln gewöhnlich begleitet.37 Wir wollen es bei diesen drei Aspekten der Rede vom Zweifeln belassen – und als Nebenbemerkung anführen, dass ganz ähnliche Aspekte auch in der Rede vom Scheinen (»es scheint, dass...«) zu finden sind. (Dazu sogleich mehr.) Interessant ist, dass wir im Kontext der Rede von nicht-motivierenden Gründen mit einiger Plausibilität dieselben grammatischen Aspekte ausmachen können wie im Kontext der Rede vom Zweifeln. Erstens: Ein _____________ 33 Dies hat damit zu tun, dass Wittgenstein sein Verständnis des Grammatikbegriffs kontinuierlich ausbaut und sich erst spät zu der These durchringt, dass grammatische Beziehungen unsere gesamte Sprache durchziehen und jede sinnvolle Äußerung bestimmen. Es hat auch damit zu tun, dass für den späten Wittgenstein grammatische Sätze nicht mehr nur Werkzeuge im Werkzeugkoffer des therapeutischen Philosophen sind, sondern auch und gerade als alltägliche Manöver von Alltagssprechern verstanden werden. 34 Vgl. Wittgenstein, 2003f [ÜG], §§ 354, 67ff., 74ff., 105, 115, 122, 140ff., 323, 341ff., 458, 494, 509, 566, 625. S.a. Wittgenstein, 2003f [ÜG], §§ 410, 432, 446, 479, 543. 35 Vgl. Wittgenstein, 2003f [ÜG], §§ 231, 275ff., 325, 333, 354, 609ff., 648; s.a. Wittgenstein, 2003f [ÜG], §§458, 526. 36 Siehe z.B. Wittgenstein, 2003f [ÜG], §472. Sicher kommt es vor, dass wir bei bestimmten Menschen ohne Sprachfähigkeit gewisse Ausnahmen machen und die Fähigkeit zu zweifeln auch ohne ein Vorliegen von Sprachfähigkeit zuschreiben. Dies stellt aber Wittgensteins Ergebnisse nicht in Frage, sondern ist nur ein Zeichen unserer sprachlichen Kulanz. 37 Vgl. Wittgenstein, 2003f [ÜG], §255.

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nicht-motivierender Grund kann nur jemandem zugeschrieben werden, der auch gewöhnliche motivierende Gründe hat. Zweitens: Nur ein solcher Sprecher kann anderen Sprechern nicht-motivierende Gründe zuschreiben, der auch bereits die Rede von gewöhnlichen motivierenden Gründen beherrscht. Drittens schließlich: Sowohl jemand, der trotz der Verfügbarkeit von Gründen unmotiviert bleibt, als auch (trivialerweise) der Zuschreibende solcher nicht-motivierenden Gründe, müssen Teilnehmer unseres Sprachspiels sein. Sie müssen Gründe prinzipiell artikulieren können, nicht nur nach ihnen handeln.38 Die Prioritätsthesen stellen ein Problem für den Humeanismus dar. Werden sie auf angemessene Weise berücksichtigt, erscheint nicht länger der Zusammenhang zwischen Gründen und Motivationen, sondern vielmehr das Fehlen einer Motivation trotz eines vorliegenden Grundes als erläuterungsbedürftig. Wir können das Ergebnis auch wie folgt ausdrücken: Der ursprüngliche Clou der Rede von Gründen ist gerade die Entmystifizierung alltäglichen Handelns. Die Möglichkeit der Rede von Gründen, die zwar akzeptiert und verstanden werden, jedoch nicht zum Handeln führen, ist eine spätere Erfindung, mit der das Phänomen der Willensschwäche, also der Irrationalität und damit des temporären oder dauerhaften Austritts aus dem geteilten Sprachspiel unter Kontrolle gebracht wird. Hier ist aber das ausbleibende Handeln das eigentlich erläuterungsbedürftige Phänomen. Die Analogie zur Rede vom Zweifeln sollte offenkundig sein. Hier können wir sagen, dass der ursprüngliche Clou der Rede von Überzeugungen darin besteht, menschliches Handeln auf die Welt zu beziehen.39 Die Rede von bezweifelten Überzeugungen ist nun eine spätere Erfindung, mit der Unklarheiten unter Kontrolle gebracht werden können, die sich aus der Möglichkeit einander widersprechender Evidenzen ergeben. Es lohnt sich, die Parallele dieses Gedankengangs mit Wilfrid Sellars’ Behandlung der Rede vom Scheinen (»mir scheint...«, »es scheint...«) hervorzuheben. Der Kontext und das Angriffsziel der Diskussion von Sellars ist die verbreitete Meinung seiner Zeitgenossen, dass unsere Überzeugungen letztlich auf Sinnesdaten fußen, insofern erstere per Rekurs auf letztere gerechtfertigt werden können. Zu dieser Meinung gesellt sich gewöhnlich die Auffassung, dass die natürliche Funktion von Aussagen der Form _____________ 38 Wiederum ist zu bedenken, dass wir in Bezug auf diese dritte Bedingung in Randfällen sprachlich kulant sind; vgl. Fußnote 36. 39 Vgl. die Passagen in Sellars’ Empiricism and the Philosophy of Mind (Sellars, 1997, 98ff.), die die Idee durchspielen, dass die Rede von »Gedanken« bzw. »Überzeugungen« von einem Sprecher (dem Genie Jones) erfunden wurde, und die dann fragen, was mit dieser neuen Rede geleistet werden kann, das nicht schon durch die Rede über äußere Dinge abgedeckt ist. S.a. Wittgenstein, 2003f [ÜG], 443.

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»mir scheint...« bzw. »es scheint...« in der Bezugnahme auf ebendiese Sinnesdaten liegt. Wer diese Auffassung vertritt, der muss nun auch denken, dass die »Scheint«-Rede fundamentaler ist als die »Ist«-Rede. Erstens – so die Idee – können wir einem Sprecher »Ist«-Überzeugungen erst dann zuschreiben, wenn wir ihm bereits »Scheint«-Überzeugungen – also unmittelbar präsente Sinnesdaten – unterstellen, und zweitens lernen wir die »Ist«-Rede erst nach der »Scheint«-Rede.40 In seinem Empiricism and the Philosophy of Mind argumentiert Sellars, dass wir das Verhältnis zwischen der »Ist«-Rede und der »Scheint«-Rede genau andersherum verstehen müssen.41 Für Sellars dient die »Scheint«Rede dazu, einem Sprecher eine propositionale Reaktion auf einen Aspekt der Welt zuzuschreiben, dabei aber selber ein Urteil über die Angemessenheit der Reaktion zurückzuhalten. Der Punkt lässt sich sehr gut an den Sätzen »Peter sieht ein rotes Haus«, »Peter sieht ein Haus, das ihm rot zu sein scheint«, und »Peter sieht etwas, das ihm ein rotes Haus zu sein scheint« studieren. Der Sprecher dieser Sätze schreibt Peter jeweils die gleiche Reaktion auf die Welt zu – nämlich die Festlegung auf das Urteil, das sich durch den Satz »Dies ist ein rotes Haus« ausdrücken lässt –, nimmt aber auf ganz unterschiedliche Weisen dazu Stellung. Im ersten Fall unterstützt er das Urteil, das er Peter zuschreibt, komplett. Im zweiten Fall bestätigt er nur das Urteil, dass dies ein Haus ist, versagt aber explizit die Zustimmung zur These, dass es rot sei. Im dritten bestätigt er das Peter zugeschriebene Urteil nicht einmal teilweise. Wir sehen nun leicht die in diesem Vorschlag angelegte Umkehrung der genannten Prioritätsthesen. Nicht nur kommt die Zuschreibung von »Scheint«-Überzeugungen erst nach der Zuschreibung von »Ist«-Überzeugungen (hierzu müssen wir uns einen dritten Sprecher denken, der den Sprecher der drei genannten Beispielsätze kommentiert). Der Zuschreibende lernt die »Scheint«-Rede auch erst, nachdem er die »Ist«-Rede bereits beherrscht: Während wir uns ohne weiteres einen Sprecher vorstellen können, der nur die »Ist«-Rede, nicht aber die »Scheint«-Rede beherrscht, ist der umgekehrte Fall nicht möglich. Der Clou der »Scheint«-Rede ist schließlich die genaue Bestimmung der _____________ 40 Um die Analogie mit der Position perfekt zu machen, gegen die Wittgenstein sich wendet, könnten wir hier noch die dritte populäre Überzeugung anfügen, dass die »Scheint«-Rede nicht bloß auf Sprecher, sondern auf alle Tiere mit Sinnesorganen angewendet werden kann. Ich bin mir allerdings nicht sicher, wie problematisch diese These ist. 41 Zwar geht es Sellars vor allem um die erste Prioritätsthese, es scheint mir aber unproblematisch zu sein, Sellars auch eine Verneinung der zweiten Prioritätsthese zuzuschreiben. Vgl. Sellars, 1997, 49ff., s.a. 39ff.

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eigenen »Ist«-Urteile bei der Kommentierung des (sprachlichen) Verhaltens anderer Sprecher und Akteure.42 Sellars’ Diskussion der Pragmatik der »Scheint«-Rede ist nicht in allen Punkten analog mit unserer Diskussion der Rede von nicht-motivierenden Gründen oder mit Wittgensteins Diskussion der Rede vom Zweifeln. Die drei diskutierten Sprachbereiche decken sich aber in den wichtigsten Aspekten: Sowohl die Rede vom Scheinen als auch die Rede vom Zweifeln als auch die Rede von nicht-motivierenden Gründen bauen auf einfacheren diskursiven Manövern auf – nämlich auf der Rede vom Sein, vom Wissen und vom motivierenden Grund – und dienen dazu, mit Konsequenzen bestimmter menschlicher Unzulänglichkeiten umzugehen. Mit der pragmatistischen Neuinterpretation wird nicht nur jeweils klar, dass die klassischen philosophischen Bilder den normativen Charakter des jeweiligen Phänomens ignorieren – also die zustimmende bzw. ablehnende Einstellung desjenigen, der über das Wissen/Zweifeln, über die IstUrteile/Scheint-Urteile sowie über das Motiviertsein/Schwachen-WillensSein redet. Es wird auch klar, dass die klassischen Verständnisse der drei Unterscheidungen jeweils einer Form des Skeptizismus Vorschub leisten, welche sich aber mit der pragmatistischen Neuinterpretation zurückdrängen lässt. Der von Sellars zurückgedrängte Skeptizismus behauptet, dass unsere Überzeugungen nie gerechtfertigt sein können, weil der Schritt vom Sinnesdatum zum Tatsachenwissen misslingen muss. Der von Wittgenstein zurückgedrängte Skeptizismus behauptet, dass sich jeder Satz bezweifeln lässt, weil der Schritt vom zweifelhaften Wissen zum sicheren Wissen nie seinerseits über alle Zweifel erhaben sein kann. Der in diesem Kapitel zurückgewiesene Skeptizismus schließlich behauptet, dass es immer rationale Amoralisten geben kann, die sich mit noch so guten Gründen nicht motivieren lassen, weil der Schritt vom Grund zur Motivation immer eines kontingenten Zusatzes, des Wollens, bedarf. 4.4.4 Vom Wollen und Für-Gut-Halten In meinem Versuch einer Diagnose der tieferen philosophischen Probleme, deren Symptome der Humeanismus und der Externalismus sind, habe ich auf breite sprachliche und kulturelle Strömungen hingewiesen. Doch neben dem Missverständnis der Wissenschaftssprache und der Tendenz, komplexe sprachliche Sondermanöver vor den einfachen und ursprünglichen Sprachverwendungen zu betrachten, gibt es noch eine weitere, weni_____________ 42 Dies ist freilich nur eine grobe Skizze der »Scheint«-Rede. Eine komplette Beschreibung muss Raum für die Verwendung der Rede in der ersten Person lassen.

Abschließende Worte

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ger tief verwurzelte Ursache der Popularität des Humeanismus. Die Rede ist von der grammatischen Möglichkeit, Aussagen über die Güte – also die rationale Erforderlichkeit, die Angemessenheit – von Handlungsoptionen mit dem Begriff »wollen« zu bilden. Zum Beispiel kann die Überzeugung, dass es gut ist oder wäre, eine sozialdemokratische Partei zu wählen, mit dem Satz »ich will eine sozialdemokratische Partei wählen« ausgedrückt werden. Diese Redeweise, so scheint es, hat sich gebildet im Rahmen schwieriger Deliberationsprozesse, in denen es bis zur Resolution nicht klar ist, welche von mehreren einander ausschließenden Handlungsoptionen die am schlüssigsten begründete und insofern die richtige ist. Gewiss fallen uns schnell viele Beispielsituationen ein, in denen wir etwas sagen wollen wie: »Nun, einerseits will ich eine sozialdemokratische Partei wählen, andererseits will ich aber ihrem Kandidaten meine Stimme nicht geben.« Es ist kein Wunder, dass sich im Rahmen dieser sprachlichen Gewohnheit die philosophische These aufdrängt, dass hier Wollens-Zustände der Art am Werk sind, wie wir sie auch aus den somatischen Kontexten kennen, in denen wir Dinge sagen wie: »einerseits habe ich Hunger (will ich essen), andererseits bin ich viel zu müde zum Essen (will ich schlafen)«. Gerade vor dem Hintergrund der vorgebrachten Argumente scheint mir, dass dieser Zug unserer Alltagssprache nichts weiter als ein Aspekt ihrer Oberflächengrammatik ist. Zu offensichtlich ist es, dass das Geschäft dieser Ich-will-Sätze die Rede über die rationale Angemessenheit von Handlungen ist, nicht die Beschreibung somatischer Zustände. Zu offensichtlich ist es zum Beispiel, dass sich – anders als in somatischen Kontexten – im Anschluss an sie fragen lässt, welche Gründe wir für sie haben. Aus diesen Überlegungen sollten wir zwar nicht den Schluss ziehen, dass wir alltägliche Sätze wie »ich will die SPD wählen« als sprachlich unsauber ablehnen müssen – ich selber habe in dieser Arbeit viele Sätze wie diesen verwendet. Wir sollten uns in ihrem Kontext aber gegen die »Verhexung unserer Intelligenz durch die Sprache«43 wehren und auf vorschnelle Schlüsse aus ihnen verzichten. Die Ähnlichkeiten zwischen ihnen und somatischen Ich-will-Sätzen sind trügerisch und irreführend.

4.5 Abschließende Worte In den letzten Abschnitten habe ich für die These geworben, dass die wissenschaftlich verwendete (handlungsferne, extensionale, vorläufige) Warum/Weil-Konstruktion nicht als ein Ideal angesehen werden sollte, _____________ 43 Wittgenstein, 2003d [PU], §109.

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das auch unsere normativen, nicht-wissenschaftlichen, Sprachbereiche bestimmt, sondern dass sie andere Funktionen erfüllt. Ich möchte nun in diesem abschließenden Abschnitt betonen, dass das Plädoyer für die Akzeptanz der Eigenständigkeit und Legitimität normativer Erklärungen aber nicht missverstanden werden darf als eine Ablehnung oder Herabstufung der Wissenschaft. Nicht nur ist es möglich, auch im Kontext intentionaler Phänomene auf wissenschaftliche Weise nach Ursachen zu forschen (und nicht nur nach Gründen) – oben habe ich diese Möglichkeit explizit eingeräumt. Es ist ebenfalls wichtig zu verstehen, dass es mindestens einen Sinn gibt, in dem wissenschaftliche Fragen nicht-optional sind: Normative Aussagen müssen mit unserem besten wissenschaftlichen Wissen kompatibel sein. Diese These kann als ein bescheidenes Zugeständnis in die Richtung des Naturalismus verstanden werden. Tatsächlich gibt es noch einen zweiten Sinn, in dem die in dieser Arbeit entwickelte Sprachspieltheorie der Ethik gegenüber der Rolle der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Sprache nicht verschlossen ist. Sie ist kompatibel mit einer im weitesten Sinn naturalistischen Supervenienzthese in Bezug auf die Ethik, jedenfalls wenn eine bestimmte Interpretation dieser These vorausgesetzt wird. Die globale Supervenienz (auf die wir uns hier beschränken wollen44) ist eine Beziehung zwischen verschiedenen Beschreibungen der Welt. Zu sagen, dass Tatsachen des Typs A auf Tatsachen des Typs B global supervenieren, bedeutet, zu sagen, dass sich eine hypothetische Welt, die sich von der tatsächlichen Welt hinsichtlich mindestens einer A-Tatsache unterscheidet, auch hinsichtlich mindestens einer B-Tatsache von ihr unterscheiden muss. Es liegt auf der Hand, welche globale Supervenienzthese im Zusammenhang des pragmatistischen Verständnisses der Ethik zur Diskussion steht: Normative Tatsachen supervenieren global auf wissenschaftlich darstellbaren Tatsachen. Oder, etwas anders gesagt: Empirische normative Urteile supervenieren auf empirischen wissenschaftlichen Urteilen.45 Eine hypothetische Welt, die in normativer Hinsicht anders ist als unsere tatsächliche Welt, muss auch in naturwissenschaftlich beschreibbarer Hinsicht anders sein als unsere tatsächliche Welt. Dies heißt freilich nicht, dass in ihr andere Naturgesetze gelten müssen; wohl aber heißt es, dass ihre Materie raumzeitlich anders verteilt sein muss. Die umgekehrte These wird üblicherweise nicht vertreten: Die wissenschaftliche Welt superveniert nicht auch auf der normativen Welt, sodass sich eine hypothetische Welt, die sich von der _____________ 44 Eine Diskussion verschiedener Typen von Supervenienz findet sich in Jackson, 2000. 45 Vgl. etwa Railton, 1986, 183f.; Smith, 1995, Kap. 2; Jackson, 2000, 122ff.; Brink, 2001a, 160ff.; Streumer, 2008.

Abschließende Worte

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tatsächlichen Welt in wissenschaftlich zugänglicher Hinsicht (also bezüglich der raumzeitlichen Verteilung ihrer Materie) unterscheidet, von ihr nicht auch in normativer Hinsicht unterscheiden muss (allerdings kann).46 Es scheint mir eine interessante Erkenntnis zu sein, dass aus der Perspektive der wittgensteinianischen Auffassung der Ethik nichts gegen diese im weitesten Sinn naturalistische Position spricht. Die Kompatibilität liegt darin begründet, dass nach der wittgensteinianischen Auffassung der Ethik die wissenschaftliche Sprache gerade als handlungsfern und extensional konzipiert ist.47 Nach dem pragmatistischen Verständnis ist ein in einer bestimmten Situation angemessen äußerbarer wissenschaftlicher Satz immer mit dem Anspruch verbunden, dass sich zwei Sprecher auch dann auf ihn einigen müssen, wenn sie in Bezug auf die normativen Aspekte der Situation – also in Bezug auf die aus der Situation erwachsenden praktischen Erfordernisse – nicht einer Meinung sind. Dies ist andersherum nicht der Fall: Ein normativer Satz über eine Situation kommt nicht mit dem Anspruch daher, dass sich zwei Sprecher, die sich in Bezug auf die wissenschaftlich zugänglichen Aspekte der Situation streiten, dennoch auf ihn einigen müssen.48 Ich möchte behaupten, dass die These der Supervenienz von AAussagen auf B-Aussagen sinnvollerweise als Ausdruck genau der These interpretiert werden kann, dass wir im Fall von A-Dissens immer noch BKonsens erwarten sollten, wohingegen wir bei B-Dissens keinen AKonsens mehr erwarten sollten. Noch einmal in Bezug auf normative und wissenschaftliche Sätze gesagt: Im Fall von normativem Dissens behalten wir unsere Erwartungen des wissenschaftlichen Konsenses bei, während wir im Fall von wissenschaftlichem Dissens unsere Erwartung des norma_____________ 46 Die Kombination dieser Thesen, also die Behauptung der Supervenienz der normativen Welt auf der wissenschaftlichen Welt und die Leugnung der Supervenienz der wissenschaftlichen auf der normativen Welt, können wir auch – gemäß dem aktuellen Jargon – als die These der »Multiplen Realisierbarkeit« ausdrücken: Normative Phänomene können durch unterschiedliche wissenschaftlich zugängliche Substrate »realisiert« werden. Vgl. Putnam, 1975c. 47 Das dritte oben genannte Strukturmerkmal der wissenschaftlichen Rede, nämlich die vorläufige Natur ihrer Sätze, spielt in diesem Zusammenhang m.E. keine Rolle. Die Rede vom »Konzipiertsein« ist natürlich metaphorisch zu verstehen. 48 Freilich gehen wir ganz generell davon aus, dass andere Sprecher unseren Urteilen zustimmen müssen – in dem Sinn nämlich, dass bei einer expliziten Verweigerung von Zustimmung entweder ein Missverständnis oder ein Fehler (bei dem anderen Sprecher oder bei uns selbst) vorliegen muss. Worum es hier geht, ist, dass wir bei einigen Fällen von Dissens in einer Frage unsere Erwartungen des Konsenses in anderen Fragen fallen lassen, während wir bei anderen Fällen von Dissens in einer Frage unsere Konsens-Erwartungen in anderen Fragen beibehalten.

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Vom Grund zur Handlung

tiven Konsenses aufgeben. Wenn die Supervenienzthese auf diese Weise verstanden wird – also als These über die legitimen Konsenserwartungen im Falle spezifischer Dissense –, wie es mir plausibel zu sein scheint, dann kann eine Sprachspieltheoretikerin der Ethik ihr ohne weiteres zustimmen. Schließlich sieht sie die wissenschaftliche Rede gerade als auf sie ausgerichtet: nichts anderes war der Clou der Extensionalität und der Handlungsferne des wissenschaftlichen Diskurses. Freilich bleibt über das genaue Verhältnis zwischen der alltäglichen normativen Rede und der wissenschaftlichen Rede noch viel zu sagen – viel mehr als ich in der vorliegenden Arbeit sagen kann. Was wir in diesem Kapitel gesehen haben, ist, dass die Sprachspieltheorie der Ethik hinsichtlich der Einbettung ethischer Sachverhalte in die natürliche Welt nicht auf unplausible oder gar verrückte Thesen festgelegt wäre, obwohl sie betont, dass sich ethische Sachverhalte nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschen lassen. Nicht nur ist die Theorie, wie soeben argumentiert, mit der These der Supervenienz ethischer Sachverhalte auf wissenschaftlich erforschbaren Sachverhalten kompatibel. Ebenfalls haben wir gesehen, dass es keinen Grund gibt, die Motivationsfähigkeit ethischer Gründe als mysteriös anzusehen – auch dann nicht, wenn diese nicht von kontingenten Wollenszuständen abhängt.

Teil II Zur Offenheit des ethischen Diskurses

5. Sprache im Wandel – Ethik im Wandel? Brandom und Dworkin über die Entwicklung normativer Praxis 5.1 Einleitung: Zur Historizität der Sprache Im ersten Teil der Arbeit haben wir eine an Wittgenstein und seinen pragmatistischen Nachfolgern orientierte Interpretation der ethischen Rede erarbeitet. Diese Interpretation, für die wir hin und wieder den Namen »Sprachspieltheorie der Ethik« verwendet haben, unterstützt sowohl einen Objektivismus als auch einen Rationalismus der Ethik. Dies ist vor allem deswegen ein interessantes Ergebnis, weil wir auf dem Weg dorthin rein sprachphilosophisch vorgegangen sind. Wir haben es hier mit dem Effekt zweier Einsichten des Pragmatismus zu tun: erstens der Einsicht, dass die in ethischen Belangen standardmäßig verwendete Ausdrucksform des Indikativsatzes (und mit ihr die Rede von Propositionen und Tatsachen) sich nicht durch ihre abbildende Funktion, sondern durch ihre inferenzielle und nicht-inferenzielle Einbettung in fundamentalere Verrichtungszusammenhänge als legitim verwendbar erweist. Zweitens ist die Einsicht zu nennen, dass wir über die Ethik nicht in dem Sinne etwas lernen können, wie wir über Moleküle, über Viren oder über das Bürgerliche Gesetzbuch etwas lernen können, sondern dass die ethische Rede dazu dient, interne Beziehungen zwischen unterschiedlichen Elementen unseres Sprachspiels, die wir im praktischen Alltag bereits beherrschen, explizit und damit diskutierbar zu machen. Wir haben es auch so formuliert, dass die ethische Rede der Explizierung des Horizonts der Intelligibilität dient. Wir haben dann gesehen, dass der Objektivismus und der Rationalismus keinen Schaden nehmen durch die Prävalenz ethischer Konflikte und dass sie sich auch gegen motivations-externalistische Angriffe auf dem Feld der Handlungstheorie behaupten. Im nun beginnenden zweiten Teil unserer Diskussion des ethischen Diskurses wollen wir uns mit einem Thema beschäftigen, welches in der analytischen Philosophie – und zwar sowohl in der praktischen als auch in der theoretischen – bislang nur am Rand diskutiert wurde: der Historizität der Verwendung von Sprache. Zunächst ist es wenig erstaunlich, dass die Historizität des Sprachspiels bislang nicht im Zentrum des Interesses der analytischen Philosophie stand. Immerhin interessiert sich letztere von

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Sprache im Wandel – Ethik im Wandel?

Haus aus vor allem für die logischen Aspekte von Sätzen oder Begriffen, und die Logik ist in einem offensichtlichen Sinn nicht nur unveränderlich, sondern auch unabhängig von der zeitlichen Lokalisierbarkeit der Äußerungen, die durch sie regiert werden oder ihre Gesetze explizieren. Passend dazu hat sich ein impliziter Konsens darüber gebildet, wie eine Veränderung in den Verwendungen sprachlicher Ausdrücke zu interpretieren ist: nämlich als (vielleicht stufenweise) Ersetzung eines Sprachspiels durch ein anderes, neues Sprachspiel. Teilnehmer der jeweiligen Sprachspiele müssen einander in Konfrontationen1 also genau so interpretieren, wie es auch in allen anderen Konfrontationen disparater Sprachspiele angemessen ist, und mehr ist aus einem Blick auf die Historizität der Sprache nicht zu gewinnen. Jedoch lohnt es sich, einen genaueren, zweiten Blick auf die Historizität der Sprachverwendung zu werfen. Der pragmatistische Ansatz hat nämlich mehr zu bieten als die These, dass die Geschichte der Sprache eine Geschichte der Ersetzungen verschiedener Sprachspiele ist. Es gibt gute Gründe, die Historizität und die fortwährende Weiterentwicklung des Sprachspiels als fundamental in der Bestimmung des Gehaltes seiner Ausdrücke zu verstehen, und diese Gründe lassen sich besonders gut an den ethischen Sprachbereichen studieren. Dies ist nicht zuletzt deswegen so, weil wir den Wandel der ethischen Sprache schon dann erfahren, wenn wir uns mit unseren Großeltern (oder Enkeln) unterhalten. Besonders interessant ist diese Beschäftigung, weil sie – weit davon entfernt, eine Rücknahme des bisher entwickelten Objektivismus nahezulegen – uns eine weitere Dimension des ethischen Objektivismus erschließen kann. Die Form der Diskussion wird in diesem Kapitel etwas anders als in den vorangegangenen Kapiteln sein, da wir uns zunächst sehr nah an den Schriften zweier einschlägiger Philosophen orientieren wollen – Robert Brandom und Ronald Dworkin – und erst nach einer textnahen Rekonstruktion ihrer Position die für unsere Theorie der Ethik relevanten systematischen Ergebnisse herausarbeiten werden. Grob umrissen werden sich in der Diskussion folgende Schritte ergeben. Zunächst wird gezeigt, dass sich bei beiden Autoren eine Interpretation des Wandels normativer Praxis – also auch des Wandels des Sprachspiels – findet, nach der der Wandel ein dialektischer und damit vernünftiger Prozess ist oder zumindest sein kann. Wir verändern unsere Praxis, um sie von Inkonsistenzen zu befreien bzw. frei zu halten. Dies ist auch und gerade in der propositionalen Sprache, und insbesondere in ihren ethischen Bereichen, der Fall. Je plausibler diese These ist, desto unplausibler ist die These, dass der _____________ 1 Diese Konfrontationen ergeben sich zum Beispiel, wenn wir alte Bücher lesen.

Zur Historizität der Sprache

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Wandel der ethischen Sprache gegen den ethischen Objektivismus spricht bzw. sprechen muss. In einem nächsten Schritt wird dann gezeigt, dass diese Interpretation bei beiden Autoren mit einer weiteren These verknüpft ist: Sowohl Brandom als auch Dworkin sehen den Wandel nicht bloß als einen möglichen, sondern vielmehr als einen notwendigen und ständigen Begleiter jeglicher normativer Praxis an. Nur eine Praxis ohne interne Spannungen müsste sich nicht ständig entwickeln, und es lässt sich zeigen, dass eine propositionale Sprache mit der Möglichkeit der expliziten Reaktion auf empirische Sachverhalte notwendig Spannungen in sich trägt. Dies jedoch führt zu einer grundlegenden Frage: Wie ist vor dem Hintergrund der Unvermeidlichkeit der Entwicklung unseres Sprachspiels überhaupt die Normativität zu verstehen? Wie können wir vor dem Hintergrund ihrer ständigen Entwicklung davon sprechen, dass die Praxis durch Normen bestimmt ist, also dass sich aus praxisrelevanten Situationen überhaupt Handlungsrichtigkeiten und -falschheiten mit bestimmtem Gehalt ergeben? Wir werden sehen, dass sowohl Dworkin als auch Brandom eine anti-regelskeptische Einstellung an den Tag legen und dass ihre Verteidigungen dieser Einstellung interessante Parallelen miteinander aufweisen. Allerdings bleiben in ihren Texten durchaus noch Fragen offen, die dann im nächsten Kapitel beantwortet werden sollen. Am Ende wird sich ein Bild der sich ständig entwickelnden ethischen Sprache ergeben, das gleichzeitig den ihr inhärenten Objektivismus bestätigt und ihre Normativität erklärt. Bevor wir in die Diskussion einsteigen, soll noch eine wichtige strategische Entscheidung verteidigt werden: Dieses Kapitel wird sich in erster Linie mit der Historizität empirischer Begriffe beschäftigen. Mit »empirischen Begriffen« sind jene subsentenziellen Einheiten gemeint, die substitutionelle Hierarchien bilden2 und in Beobachtungssätzen figurieren können, in Sätzen also, die in direkten nicht-inferenziellen Beziehungen mit der nicht-sprachlichen Umwelt stehen. Wie wir im ersten Teil der Arbeit gesehen haben, sind übliche ethische Äußerungen durchaus Beobachtungssätze und zählen ethische Terme (sowohl »dicke« als auch »dünne«) durchaus zu den empirischen Begriffen. Eine Untersuchung der Historizität empirischer Terme bringt uns somit direkt ins Zentrum der ethischen Urteils- und Diskussionspraxis. Der andere Grund für die Fokussierung auf empirische Begriffe besteht darin, dass die Historizität der Sprache bei empirischen Begriffen, wie sich zeigen wird, eine besonders fundamentale Rolle spielt. _____________ 2 Siehe 2.4.1 und 3.2.2.

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Sprache im Wandel – Ethik im Wandel?

Das vorliegende Kapitel hat vier Abschnitte. Im nächsten wird das pragmatistische Verständnis von Begriffen behandelt, welches zwar in den vorangegangenen Kapiteln schon angerissen wurde, aber nun eine genauere Ausarbeitung erfährt. Der dritte Abschnitt wird Robert Brandoms Beschäftigung mit dem Wandel von Begriffen beschreiben und bereits erste philosophische Ergebnisse herausarbeiten. Der vierte Abschnitt wird Ronald Dworkins Überlegungen über den Wandel normativer Praktiken vorstellen und dabei sowohl auf Parallelen als auch auf Komplementaritäten mit Brandoms Diskussion hinweisen. Schließlich wird der fünfte Abschnitt die wichtigsten Diskussionsstränge zusammenbinden und in das nächste Kapitel überleiten, in dem die noch offenen normativitätstheoretischen Fragen geklärt werden sollen.

5.2 Was sind Begriffe? 5.2.1 Zum Primat des Urteils3 Das moderne, auf Frege zurückgehende Verständnis des Begriffs ist in einem philosophischen Kontext möglich geworden, welcher oft mit dem Namen Immanuel Kants assoziiert wird. Die Leitidee, die damit markiert werden soll, besagt, dass die fundamentale Einheit informationalen Gehaltes nicht der Sinneseindruck oder die Idee ist, wie es in der frühen Neuzeit angenommen wurde, sondern das Urteil – also der komplette, seinem Anspruch nach eine Proposition ausdrückende, Indikativsatz. Diese Leitidee bildet einen der Pfeiler des modernen Pragmatismus, denn das Urteil hat eine aus seiner Sicht wichtige Eigenschaft: Im Gegensatz zur Idee oder zum Sinneseindruck ist es das Wesen des Urteils, dass es den zentralen Zug unserer Sprache4 konstituiert. Dies zeichnet das Urteil auch gegenüber sprachlichen Ausdrücken aus, die wir nur als Teile von Urteilen kennen: Namen, Prädikate, logische Konstanten. Nur ein komplettes Urteil, nur ein kompletter Satz, kann im Spiel der Sprache als frei stehender Spielzug fungieren. Das kantische Verständnis des Urteils als fundamentale Einheit informationalen – ab jetzt: semantischen – Gehalts ist für den Pragmatismus also eine direkte Konsequenz seines besonderen pragmatischen Status. Hierin zeigt sich die zentrale Annahme des Pragmatismus, nach der die _____________ 3 Leser, die mit dem pragmatistischen Verständnis subsentenzieller Einheiten (u.a. aus 3.2.2) bereits vertraut sind, können im Abschnitt 5.3 weiterlesen. 4 Die Frage, wie komplex eine Praxis sein muss, damit sie legitim als »Sprache« bezeichnet werden kann, möchte ich in dieser Arbeit nicht thematisieren.

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Rede vom Gehalt eines sprachlichen Ausdrucks nichts weiter ist als eine besondere Weise der Rede über seine praktische Verwendung. Wie das Verhältnis zwischen der Pragmatik (der Verwendung) zur Semantik (dem Gehalt) eines Urteils im Pragmatismus genau zu verstehen ist, kann in diesem Kapitel nicht erschöpfend diskutiert werden. Wichtig für uns ist aber auch nur, dass es dem Pragmatismus darauf ankommt, die Verwendung eines Urteils ohne Rekurs auf die unanalysierten Begriffe des »Bezuges« oder der »Repräsentation« von »Tatsachen« zu beschreiben. Die alternative Strategie des Pragmatismus ist es (in seiner im zweiten Kapitel diskutierten inferenzialistischen Ausarbeitung), den Gehalt des Urteils in seinen inferenziellen Beziehungen zu anderen Urteilen zu lokalisieren und das ganze Geflecht von Urteilen als Darstellungsweise komplexer normativer Spielregeln zu interpretieren. Die Äußerung eines Urteils wird nun als Spielzug verstanden, der den pragmatischen Spielstand verändert und insofern von den Teilnehmern am Sprachspiel – und in der Folge auch von uns Theoretikern – als gehaltvoll behandelt wird.5 Als Teilnehmer und Schiedsrichter des Spiels der Sprache müssen wir bei jeder Äußerung eines Urteils durch einen Sprecher nur die folgenden Fragen stellen: Zu welchen weiteren Urteilen verpflichtet sich der Sprecher mit seiner Äußerung? (Welche weiteren Urteile folgen aus seinem Urteil?) Welche weiteren Urteile stehen ihm nach seiner Äußerung offen? (Mit welchen weiteren Urteilen ist sein Urteil kompatibel?) Die Antworten auf diese Fragen benennen den Gehalt des Urteils, also die von ihm ausgedrückte Proposition. Wohlgemerkt: Dabei sieht der Inferenzialist keine prinzipielle Grenze zwischen (logischen) Regeln einerseits und (empirischem) Gehalt andererseits – es gibt für ihn nichts weiter als miteinander durch materiale Schlussbeziehungen verknüpfte Urteile. Mit dieser Theorie will der Inferenzialist zwar nicht leugnen, dass wir uns mit Urteilen »auf die Welt beziehen« können. Er lehnt es aber ab, diesen »Bezug auf die Welt« in der Erläuterung semantischen Gehaltes bereits vorauszusetzen; vielmehr ist es sein Anspruch, ihn später selbst als Aspekt der Binnenstruktur der normativen Praxis der Sprache zu erläutern. (Hierzu wird sogleich noch einiges zu sagen sein.)

_____________ 5 Das hilfreiche Bild der scorekeeping practice ist zuerst von David Lewis (Lewis, 1979) skizziert worden und wurde dann von Robert Brandom in seinem Making It Explicit (1994) präzisiert.

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5.2.2 Begriffe und die Zerfällung von Urteilen Obwohl Urteile die fundamentalen Einheiten von Gehalt sind, können sie in semantische Komponenten zerfällt werden. Dass Urteile aus Wörtern bestehen, wissen wir natürlich schon vor jeder Theorie. Tatsächlich ist die Zerfällbarkeit unserer Urteile jedoch sogar in dem Sinne notwendig, dass nur durch sie erklärt werden kann, wie es endlichen Wesen wie uns gelingt, unendlich viele neue Urteile zu konstruieren – und diese sofort zu verstehen. Die Bedingung der Möglichkeit dieser Fähigkeit liegt darin, dass unsere Urteile auf systematische Weise aus einer endlichen Menge an Wörtern und einer endlichen Menge an Konstruktionsregeln gebildet werden. In der so angedeuteten Kompositionalität unserer Sprache liegt der Schlüssel zum hier vorauszusetzenden Begriff des Begriffes, denn wenn die genaue Struktur der Kompositionalität der Sprache verstanden wird, dann lässt sich der semantische Gehalt der Fragmente eines Urteils – und dazu gehören eben Begriffe – vom Gehalt des kompletten Urteils ableiten.6 Dies ist ein wichtiger Unterschied zu klassischen Theorien des Gehaltes: Der Pragmatismus nimmt die besondere pragmatische Rolle des Urteils ernst und arbeitet sich vom Urteil zu seinen Teilen vor, nicht andersherum von seinen Teilen zum kompletten Urteil.7 Im Zuge einer ersten Annäherung an den Begriff des Begriffes wollen wir uns kurz mit Freges bekannter Diskussion der Zerfällung von Urteilen beschäftigen, die zwar die historische Keimzelle der pragmatistischen Erklärungsrichtung vom Urteil zu seinen Teilen darstellt, selbst aber auf instruktive Weise hinter sie zurückfällt. Frege erklärt in seiner kurzen Schrift Funktion und Begriff8 und in einigen Folgeartikeln, dass Urteile sinnvollerweise als aus zwei Komponenten bestehend behandelt werden können: Namen einerseits und Begriffe andererseits. Ein Urteil wie »Frege ist ein Philosoph« kann zerfällt werden in den Namen »Frege« und den Begriff »…ist ein Philosoph«. Mit dem Wort der Zerfällung (oder Zerlegung) signalisiert (der frühe) Frege, dass er – entgegen der Tradition – das komplette Urteil, und nicht seine Teile, als fundamental betrachtet. Das genaue Prinzip hat Frege allerdings nur angedeutet statt präzise erläutert. Was bei der Zerfällung eines Urteils als Name und was als Begriff herauskommt, _____________ 6 Natürlich müsste noch einiges mehr darüber gesagt werden, unter welchen Umständen die hier vorgeschlagene Erklärungsreihenfolge legitim ist (die Zerfällung möglich ist). Dies würde den Rahmen dieser Arbeit aber sprengen. Siehe hierzu Dummett, 1994. 7 Siehe hierzu vor allem Brandom, 1994, Kapitel 6, aber auch Schneider, 2001. Ursprünge dieses Aspektes des Pragmatismus finden sich in Frege, 1988 [1884], 10 und Abschnitte 46, 60 und 62. 8 Frege, 1967 [1891].

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das wird in dem Text nur mit dem Begriffspaar »gesättigt«/»ungesättigt« angedeutet. Dem Begriff fällt dabei letztere Rolle zu: Er ist ungesättigt in der Hinsicht, dass er eines Namens bedarf, um überhaupt Gehalt tragen und übertragen zu können. Der Name hingegen, so der suggerierte Umkehrschluss, hat bereits als frei stehendes Element einen gewissen Gehalt und ist somit gesättigt. Diesen Gehalt stellen wir uns – und stellte sich wohl auch Frege – intuitiv als den Bezug auf einen Gegenstand vor. Diese Suggestion ist aber aus zwei Gründen problematisch, und es wird uns schlechterdings nicht gelingen, ein adäquates Verständnis vom Begriff zu erlangen, solange wir die von Frege verursachten Probleme nicht klären. Erstens ist es alles andere als ausgemacht, dass Frege im Kontext seiner Untersuchung der Rollen der Begriffe »Begriff« und »Name« zu dem Vokabular des »Bezuges« und der »Gegenstände« überhaupt berechtigt wäre. Zumindest müsste Frege dieses Vokabular selber erklären, was er aber zu tun versäumt. Natürlich können wir im Namen Freges eine solche Erklärung nachreichen und uns dabei – der klassischen Tradition folgend – auf das populäre Bild des Zeigens auf handliche, physikalische Objekte stützen. Doch hiermit würden all die Namen aus Freges Bild herausfallen, die sich nicht auf »middle-sized, dry goods«9, sondern auf Zahlen, Beziehungen, Richtungen oder gar Begriffe selbst (als Namen benutzt) beziehen. Ohne die Idee des Zeigens auf Gegenstände hingegen scheint uns nicht viel mehr übrig zu bleiben als die Plattitüde der klassischen Grammatiker: Ein Gegenstand ist das, was in der Sprache als Gegenstand behandelt wird. Auf diese Weise, so scheint es, kommen wir kaum weiter. Zweitens ist es bei dieser Art der Erläuterung des Gesättigtseins von Namen nicht mehr von der Hand zu weisen, dass auch bei einem Begriff von »Bezug« gesprochen werden kann, nämlich – in unserem Beispiel – dem Bezug auf die Eigenschaft »…ist ein Philosoph«. Mit der Rede von »Eigenschaften« hätten wir ontologisch gesehen nichts Dubioseres eingeführt, als wir es mit der Rede von »Gegenständen« schon getan haben. Doch mit diesem Zug wird es unklar, inwiefern ein Begriff im Gegensatz zum Namen noch ungesättigt ist: Er hat nun ja auch bereits als frei stehendes Element einen gewissen Gehalt. Zusammengefasst besteht das Problem der Andeutungen Freges darin, dass sie sich durch ihren drohenden oder tatsächlichen Rückfall in klassische Strategien der Erläuterung semantischen Gehaltes mit dubiosen Annahmen belasten und zu unnötigen Unklarheiten führen. _____________ 9 Dieses Wort ist natürlich J.L. Austins, siehe Austin, 1975. Siehe auch Frege, 1967 [1892], besonders 155.

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5.2.3 Kompositionalität und begrifflicher Gehalt Die Frage, die also beantwortet werden muss, wenn wir ein adäquates Verständnis des Begriffes vom »Begriff« entwickeln möchten, ist diese: Wie kann es uns gelingen, Urteile in subsentenzielle10 Einheiten zu zerlegen, ohne dabei hinter die kantische Leitidee des semantischen Primats des Urteils zurückzufallen? Anders gefragt: Wie kann es uns gelingen, Urteile in subsentenzielle Einheiten zu zerlegen, ohne dabei bereits die Idee des Gehalts durch »Bezug« oder »Repräsentation« vorauszusetzen? Dass dies möglich ist, ist eine der zentralen Thesen des modernen Pragmatismus. Sie erhält übrigens initiale Plausibilität dadurch, dass wir eine ganze Reihe von Teilhandlungen kennen (also Einzelhandlungen, die Komponenten komplexer Gesamthandlungen sind), die nur als Komponenten der Gesamthandlung eine praktische Signifikanz haben, für sich genommen (also außerhalb der Gesamthandlung) hingegen keinerlei praktische Signifikanz besitzen. Ein offensichtliches Beispiel ist das Versetzen von Schachfiguren, das als Spielzug nur als Teil der komplexen Gesamthandlung des Schachspielens beschrieben werden kann. Für den Pragmatisten lässt sich ähnliches auch über Begriffe sagen: Begriffsäußerungen sind Handlungen, die nur innerhalb der Gesamthandlung der Äußerung eines Urteils praktische Signifikanz haben. Hieraus folgt für den Pragmatisten, dass Begriffen auch nur als Komponenten von Urteilen semantischer Gehalt zugesprochen werden kann.11 Das Problem mit Freges Erläuterung ist für ihn einfach, dass sie implizit davon ausging, dass bestimmte subsen_____________ 10 Dieser Begriff ist Robert Brandoms, siehe Brandom 1994. 11 Tatsächlich ist die Beziehung zwischen Gesamturteil und Urteilskomponente komplexer als hier angedeutet, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens können wir zwar nur mit Urteilen, nicht aber mit subsentenziellen Einheiten pragmatisch signifikante bzw. semantisch gehaltvolle Züge machen. Für sich genommen Begriffe zu nennen ist ebenso insignifikant wie für sich genommen – also außerhalb des Schachspielens – Schachfiguren zu verschieben. (Daher die Rede vom semantischen Primat des Urteils.) Es ist und bleibt aber der Fall, dass das gesamte Urteil einerseits und die in ihm vorkommenden subsentenziellen Einheiten andererseits in einem Verhältnis der gegenseitigen Abhängigkeit stehen. So wie es richtig ist, dass die subsentenziellen Einheiten nur als Teile des Urteils als sinnhaft beschrieben werden können, ist es (banalerweise) richtig, dass Urteile nur durch ihre subsentenziellen Komponenten (ihren) Gehalt haben können. Die zweite unterschlagene Komplexitätsdimension eröffnet sich, wenn wir eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Urteilen einerseits und ganzen Theorien andererseits erkennen. Das Stichwort ist hier die »Quine-Duhem-These« (siehe hierzu z.B. Fodor und Lepore, 1992) bzw. der Überzeugungsholismus, den auch Brandom explizit vertritt.

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tenzielle Komponenten auch außerhalb des Urteils pragmatisch signifikant und somit semantisch gehaltvoll sind. Glücklicherweise gibt es eine alternative und durchaus zufriedenstellende Methode der Zerfällung von Urteilen. Wenn wir uns auf das grammatische Vorverständnis von Namen und Begriffen stützen, auf das sich implizit auch schon Frege gestützt hat, dann fällt auf, dass die subsentenziellen Einheiten, die wir »Begriffe« nennen, eine bestimmte Eigenschaft haben, die Frege zwar nicht übersehen, aber auch nicht hinreichend deutlich hervorgehoben hat. Durch die genaue Art der Kompositionalität unserer Sprache stehen Begriffe – im Gegensatz zu Namen – in einer bestimmten Art von hierarchischer Beziehung untereinander. Zwar können wir in Bezug auf subsentenzielle Einheiten nicht von inferenziellen Beziehungen sprechen (da nur Urteile in solchen Beziehungen stehen können), doch wir können von »abgeleitet-inferenziellen« Beziehungen sprechen. Hiermit meine ich, dass Paare von Urteilen, in denen ein Begriff substituiert wird, die aber ansonsten identisch sind, durch die Substitution in bestimmte inferenzielle Beziehungen zueinander geraten können.12 Wir können sagen, dass die Begriffe »…ist ein Hund«, »…ist ein Säugetier« und »…ist ein Tier« auf diese Weise miteinander verknüpft sind, denn drei Sätze, in denen der gleiche Name mit jeweils einem der Begriffe kombiniert wird, bilden eine inferenzielle Kette. Dabei kann der Name beliebig gewählt werden. Aus »X ist ein Hund« folgt »X ist ein Säugetier«, »X ist ein Tier« sowie der Satz »X ist ein Hund« selbst. Aus »X ist ein Säugetier« folgt »X ist ein Tier« sowie der Satz selbst. Aus »X ist ein Tier« folgt nur noch dieser Satz selbst. Dieser Gedanke rechtfertigt die Rede von abgeleitet-inferenziellen oder auch substitutionellen Hierarchien von Begriffen. Je mehr Begriffe abgeleitet-inferenziell unter einem fraglichen Begriff stehen, desto gehaltvoller ist er.13 _____________ 12 Dies entspricht der Beziehung der »schwachen Inferenz« in der Mathematik. Auch hier vereinfache ich zentrale Gedanken Brandoms sehr stark. Brandom selbst nimmt die Zentralität der materialen Inferenzen noch ernster als ich und spricht daher von einer Substitution in Inferenzen, nicht in Sätzen. Wollte ich meine abweichende Methode rechtfertigen, müsste ich explizit für die Gleichursprünglichkeit von Sätzen und Inferenzen argumentieren; auch dies würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. 13 Ich gehe hier von einem klassischen Baumdiagramm aus, in dem allgemeine Begriffe unten, konkretere – gehaltvollere – Begriffe oben stehen. Vorsicht: Je gehaltvoller ein Begriff, desto mehr Begriffe stehen abgeleitet-inferenziell unter ihm, aber desto seltener ist er »erfüllt«. Viele Dinge sind Tiere, aber nur relativ wenige Dinge sind Hunde. (»Erfüllung« ist freilich eine der klassischen Vokabeln der Semantik, die im Pragmatismus offiziell zu vermeiden sind.)

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Diese Idee ist von fundamentaler Wichtigkeit, denn sie ermöglicht uns eine Erläuterung des Begriffes vom Begriff, die ohne einen Rekurs auf »Bezüge« oder »Eigenschaften« auskommt und die es möglich macht, dieses semantische bzw. ontologische Vokabular selbst pragmatistisch zu entmystifizieren. Alles, was wir dazu brauchen, sind die verhältnismäßig harmlosen Begriffe der Inferenz und der Substitution – also Begriffe über das praktische Handeln der Teilnehmer der sprachlichen Praxis. 5.2.4 Nicht-inferenzielle Beziehungen und empirischer Gehalt Der einfache (und bekannte) Gedanke der Begriffshierarchien gestattet uns zwar die Identifikation von Begriffen, aber noch nicht von empirischen Begriffen. Er lässt uns die Idee des begrifflichen Gehaltes erläutern, aber noch nicht des empirischen begrifflichen Gehaltes. Zu letzterem kommen wir, wenn wir mit Wilfrid Sellars14 und Robert Brandom15 anerkennen, dass Urteile nicht nur in inferenziellen Beziehungen (mit anderen Urteilen), sondern zusätzlich in nicht-inferenziellen Beziehungen mit äußeren Umständen stehen. Zum Kontext einer Festlegung auf ein Urteil gehört nicht nur die Festlegung auf ein vorheriges Urteil, sondern auch äußere Umstände. Konkret: Die Überzeugung, die sich mit dem Satz »Dieses Wesen ist ein Tier« ausdrücken lässt, kann dadurch hervorgerufen werden, dass sich in der Umgebung des Sprechers ein Tier befindet. Wir nennen den Satz dann einen Beobachtungssatz. Von nicht-inferenzieller Beziehung sprechen wir, weil äußere Umstände nicht in Inferenzen vorkommen können (nur Urteile können das), sondern kausal auf Sprecher einwirken. (Die nicht-inferenziellen Konsequenzen von Urteilen vernachlässigen wir an dieser Stelle.16) Um einem wichtigen Missverständnis vorzubeugen, weise ich nachdrücklich darauf hin, dass zu alledem noch immer nicht explanatorischer Gebrauch von der Idee des »Bezuges« oder des »Gegenstandes« gemacht werden muss. Dies liegt daran, dass die nicht-inferenzielle Beziehung zwischen dem Urteil des Sprechers und dem äußeren Umstand (hier: der Anwesenheit eines Tieres) selbst als eine interne Beziehung verstanden werden kann, welche sich mittels eines Urteils explizit machen lässt (dessen Gehalt sich wieder auf die übliche, inferenzielle, Weise erläutern lässt). Es mag hilfreich sein, an dieser Stelle zu bemerken, dass ein solches Urteil im sprachlichen Alltag gewöhnlich das eines Interpreten, also eines weite_____________ 14 Siehe insb. Sellars, 1997, 2007b,c. 15 Siehe insb. Brandom, 1994, insb. Kap. 6. 16 Siehe dazu noch einmal 2.3.3.

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ren Sprechers, ist. Wir können also an dieser Stelle unser Modell semantischen Gehalts neben der Idee nicht-inferenzieller Beziehungen noch um die soziale Dimension erweitern. Es ist, in der einfachen Situation, ein Interpret, der die Festlegung eines Sprechers auf ein Urteil als Folge einer verlässlichen (also nicht zufälligen oder arg fehler-anfälligen) nichtinferenziellen Reaktion auf einen kausal einwirkenden Umstand beurteilt und sich folglich selbst auf das Urteil des Sprechers festlegt. Doch welche Rolle auch immer wir den Transaktionen verschiedener Sprecher zuweisen: Mit unserer Konstruktion gelingt es, empirischen Gehalt von Urteilen wiederum mit dem bloßen Rekurs auf die Binnenstruktur der Sprache zu erklären. Zwar wirken äußere Umstände kausal auf die Sprecher ein. Der Gehalt ihrer Äußerungen, der ein normatives und kein kausales Phänomen ist, residiert jedoch in den normativen Beziehungen innerhalb der Praxis der Sprache. Und dies ist nun der pragmatistische Clou: Da die Festlegung auf ein Urteil durch äußere Umstände kausal bewirkt sein kann, der Gehalt des Urteils jedoch ausschließlich in den inferenziellen Verknüpfungen des Urteils besteht, und da hierarchisch verknüpfte Begriffe einen Teil seines Innenlebens ausmachen, können wir nun vom empirischen Gehalt von Begriffen sprechen, ohne bereits von »Bezug« und von »Eigenschaften« explanatorischen Gebrauch zu machen. Wiederum brauchen wir also zur Erläuterung von Gehalt – diesmal von empirischem Gehalt auf der subsentenziellen Ebene – keine normativen Sprache-Welt-Beziehung zu zitieren. Normative, also begründende, Beziehungen bestehen nur innerhalb der Praxis der sprachlichen Kommunikation und nur sie brauchen wir zur Erläuterung von empirischem Gehalt.17 Was wir also im Folgenden voraussetzen wollen, ist zweierlei. Empirische Begriffe sind einerseits jene subsentenziellen Einheiten, die wesentlich in abgeleitet-inferenziellen Beziehungen untereinander stehen und insofern als gehaltvoll beschrieben werden können. Andererseits kommen sie in nicht-inferenziell hervorgerufenen Beobachtungssätzen vor und können insofern als empirisch gehaltvoll beschrieben werden. Vor dem Hintergrund dieser Ausarbeitung des pragmatistischen Verständnisses empirischen Gehalts können wir nun etwas mehr zur relativen Seltenheit der Beschäftigung analytischer Philosophen mit dem Wandel von Begriffen sagen. Erstens war und bleibt es in der analytischen Philosophie die dominante Strategie, begrifflichen Gehalt auf die klassische Weise, also entweder unter Verwendung des unanalysierten Begriffes des »Bezuges« oder mit mengentheoretischen Mitteln und der Rede von »Erfüllung«, zu erklären. Mit diesen Ansätzen verliert freilich das Phänomen _____________ 17 Den Versuch einer alternativen Erläuterung empirischen Gehaltes unter Einbeziehung der pragmatistischen Kernthesen unternimmt McDowell, 1996.

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des Begriffswandels einiges an Brisanz. Der Wandel von Begriffen wird nun verstanden als ein Austausch des Bezuges auf eine Eigenschaft durch den Bezug auf eine andere Eigenschaft, bzw. als ein Austausch einer Extension durch eine andere. Das kann recht interessant sein, trägt aber nicht zu einer Beantwortung der Fragen bei, wieso sich die Sprache verändert, und welche Veränderungen wir für die Zukunft erwarten dürfen. Zweitens war in der Vergangenheit selbst im pragmatistischen Lager wenig vom Wandel der Begriffe die Rede, da es bisher vor allem auf die Formulierung und die Verteidigung der grundlegenden pragmatistischen Theorie ankam, nicht so sehr auf die präzise Ausgestaltung ihrer Feinheiten. Der Wandel von Begriffen wurde eher zu den Feinheiten als zu den Grundpfeilern der Theorie gerechnet. Kürzlich aber haben zwei prominente Philosophen sich des Themas in größerer Detailtiefe angenommen und es ist eine interessante Frage, wie ihre Ausführungen zueinander stehen. Der erste der beiden Philosophen ist Ronald Dworkin, der die Frage des Begriffswandels im Rahmen seiner Untersuchungen des Wesens des Rechts berührt, seit einiger Zeit aber die Anwendung seiner Theorie auch in anderen Bereichen vorschlägt. Der zweite uns interessierende Philosoph ist Robert Brandom, der seit seinem Making It Explicit aus dem semantischen Inferenzialismus einige radikale Konsequenzen gezogen hat, in denen sich interessante Parallelen zum Werk Dworkins finden. Auch an Brandoms Theorie ist der Anspruch der Anwendbarkeit fernab ihres Ursprungskontextes interessant. Tatsächlich geht es Brandom in seinen jüngsten Artikeln um ein neues Verständnis der Bestimmtheit von Regeln überhaupt – also um nichts Geringeres als eine neue Theorie der Normativität. Die Frage, die uns zunächst interessieren wird, betrifft den genauen Gehalt der beiden Theorien.

5.3 Begriffe im Wandel I: Brandom Dabei wird uns die Exposition leichter fallen, wenn wir mit Robert Brandom beginnen, genauer: mit seinem Making It Explicit (1994) und einigen seiner jüngeren Aufsätze, allen voran »Einige pragmatistische Themen in Hegels Idealismus« (1999, ebenfalls im Sammelband Tales of the Mighty Dead (2002) erschienen) und »Vocabularies of Pragmatism: Synthesizing Historicism and Naturalism« (2000b). Wir können bei Brandom eine Entwicklung ausmachen. Am Anfang redet er eher über die Struktur der Situation, in der sich empirische Begriffe als insuffizient erweisen; nach und nach erst beginnt Brandom sich für die Historizität der Verwendung von Begriffen selbst zu interessieren.

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5.3.1 Begrifflicher Wandel durch die Inkompatibilität gleichzeitiger Festlegungen Wir konzentrieren uns in diesem Unterabschnitt auf die frühen Überlegungen zur Situation des Begriffswandels in Making It Explicit. Die in den vorangegangenen Abschnitten präsentierte Theorie der Identität und des Gehaltes von Begriffen hat sich stark an Brandoms Theorie angelehnt. Die fundamentalen Einheiten von Gehalt sind für Brandom Urteile. Ihr Gehalt residiert in ihren inferenziellen Beziehungen untereinander. Urteile können aber zerfällt werden. Begriffe sind dabei diejenigen Zerfällungsprodukte, die wir anhand ihrer hierarchischen Beziehungen untereinander identifizieren können und deren Gehalt wir mit Hinweis auf diese Hierarchien erläutern können. Da Begriffe nun innerhalb von Beobachtungssätzen vorkommen, die in nicht-inferenziellen Beziehungen mit äußeren Umständen stehen, können wir bei ihnen von empirischem Gehalt sprechen. Brandom weist darauf hin, dass Urteile nicht nur eine Position in einer einzigen inferenziellen Kette einnehmen, oder etwas anders gesagt: dass sie nicht nur Grund für ein weiteres Urteil und Folge eines weiteren Urteils sind. Vielmehr sind Urteile sowohl Grund für als auch Folge von einer Vielzahl anderer Urteile. Sie sind Knotenpunkte in ganzen inferenziellen Netzwerken. Insofern ist auch der Gehalt von Begriffen durch ganze inferenzielle Netzwerke bestimmt. Brandoms erste, einfache, Geschichte über den Wandel von Begriffen geht nun davon aus, dass zur Erklärung von Begriffswandel nicht mehr als dies gebraucht wird. Sie operiert ausschließlich mit Inkompatibilitäten zwischen mehreren gleichzeitigen normativen Festlegungen. Im einfachsten Fall kollidiert eine inferenzielle Festlegung mit einer nicht-inferenziellen Festlegung18. Brandoms eingängigstes Beispiel dieses Falles beschäftigt sich mit einem Wandel des Begriffes »…ist eine Säure« (bzw. »…ist säureartig«).19 Zunächst wird der Begriff »…ist eine Säure« angewandt auf Dinge, die einen sauren Geschmack haben. Oder, in der offiziellen Version: Bestimmte Situationen, in denen sauer-schmeckende Dinge sich im Mund des Sprechers befinden, rufen nicht-inferenziell eine Festlegung auf das Urteil »Dies ist Säure« hervor. Doch der initiale Begriff von »Säure« steht zusätzlich in abgeleitet-inferenziellen Beziehungen. Das muss er, um gehaltvoll zu sein. Eine von diesen abgeleitet-inferenziellen Bezie_____________ 18 Mit »nicht-inferenzieller Festlegung« meine ich eine kausale, nicht-inferenzielle Hervorrufung eines Urteils, das inferenziell abgestützt ist durch einen Verlässlichkeitsschluss eines Interpreten (der mit dem Sprecher zusammenfallen kann). 19 Ich entnehme dieses Beispiel Brandom 2000b, 167f., die Beispiele aus Making It Explicit finden sich in Brandom 1994, 126ff.

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hungen ist die abgeleitete Inferenz von »…ist Säure« auf »…färbt Lackmuspapier rot« (wobei die Festlegung auf Urteile mit letzterem Begriff wiederum auf nicht-inferenzielle Weise hervorgerufen wird.) Hierin zeigt sich besonders deutlich, dass abgeleitet-inferenzielle Beziehungen immer auch Überzeugungen kodifizieren. Nun gerät der Sprecher, der zuvor eine Substanz als sauer schmeckend identifiziert hat, an eine Kanüle mit Lackmuspapier und testet sein Urteil – und muss feststellen, dass seine sauer schmeckende Substanz das Lackmuspapier nicht rot färbt. Dies ist ein Paradebeispiel einer Kollision zweier Festlegungen; in diesem Fall einer nicht-inferenziellen und einer inferenziellen Festlegung. Einerseits ist die Substanz säureartig, insofern sie einen sauren Geschmack hat; andererseits ist sie nicht säureartig, insofern sie das Lackmuspapier nicht rot färbt. Der Begriff »säureartig« muss sich also entwickeln: Entweder der Geschmack oder aber die Eigenschaft der Hervorrufung einer bestimmten Reaktion mit Lackmuspapier wird für die Zuschreibung von »säureartig« als irrelevant behandelt – zumindest dann, wenn auch die jeweils andere Erwägung vorliegt. Man kann wohl sagen, dass wir uns kollektiv eher für die erstere Option entschieden haben und (im vorliegenden Fall) folglich eingestehen würden, dass der sauer-schmeckende Gegenstand wohl doch nicht säureartig war. Dennoch ist anzuerkennen, dass der Begriff »säureartig« in der genannten Situation neu kalibriert wurde. Fälle dieser Art sind auf einem ganzen Spektrum von Möglichkeiten angesiedelt. Am einen Ende würden wir (wie hier) vortheoretisch eher sagen, dass sich eine Überzeugung (über einen Gegenstand oder eine Eigenschaft) als falsch erweist. Am anderen Ende würden wir vortheoretisch eher sagen, dass eine Bedeutung (eines Begriffes) sich verändert. Ein Fall, der eher am anderen Ende des Spektrums angesiedelt ist, ist die Konfrontation des natürlichsprachigen Begriffes »solide« mit der Feststellung, dass Elektronen durchaus Gegenstände passieren können, die uns als »solide« gelten. Hier haben wir es mit einer Kollision zwischen der abgeleitetinferenziellen (substitutionellen) Beziehung zwischen »…offenbart beim Durchschneiden keine sichtbaren Freiräume« und »…ist solide« einerseits und der abgeleitet-inferenziellen (substitutionellen) Beziehung zwischen »…ist solide« und »…ist unpassierbar« andererseits zu tun. In diesem Fall ringt uns die Feststellung der Elektronendurchlässigkeit wohl nicht das Zugeständnis ab, der Gegenstand sei doch nicht, wie zuvor vermutet, »solide«. Vielmehr motiviert sie uns zu einer Klarstellung der Bedeutung unseres Begriffes »solide« als kompatibel mit der Elektronendurchlässigkeit. Das Phänomen der Begriffswandel durch Spannungen im Gesamtsystem der Sprache ist spätestens seit Quines »Two Dogmas of Empiri-

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cism«20 gut dokumentiert, und in Making It Explicit geht Brandom nicht wesentlich darüber hinaus. Jedoch ist er seit Making It Explicit mehr und mehr davon überzeugt, dass die Geschichte noch nicht zufriedenstellend ist, sondern selbst eingebettet werden muss in eine umfassendere Theorie begrifflicher Regeln, ihrer Ausgestaltung und ihrer Revision. Dabei motiviert ihn nicht etwa die Frage, wie Menschen wie wir (in Kulturen wie der unsrigen) tatsächlich Begriffe bzw. Meinungen revidieren. Diese Frage ist eine empirische und obwohl noch viele Aspekte der Frage offen bleiben, wissen wir bereits eine Menge darüber, welche Rolle die verschiedenen Aspekte unserer körperlichen und kulturellen Konstitution in der Revision von Begriffen und Meinungen spielen. Vielmehr fragt sich Brandom, wie wir die Veränderung von Begriffen auf eine Weise beschreiben können, die den Unterschied zur falschen Anwendung des Begriffes bzw. zur Anwendung eines anderen Begriffes hinreichend deutlich macht. 5.3.2 Zur Allgegenwart begrifflichen Wandels Man könnte denken, dass die Frage nach der Richtigkeit von Begriffsverwendungen bzw. nach der Individuation von Begriffen sich im aktuellen Kontext gar nicht stellt. Denn immer da, wo wir mit inkompatiblen sprachlichen Verpflichtungen konfrontiert sind, gibt es kein Richtig und Falsch und somit keinen eindeutigen Unterschied zwischen Begriffsveränderung und Begriffsersatz. Jedenfalls, so der Einwand, sind die von Brandom diskutierten Fälle kaum paradigmatische Fälle von richtiger oder falscher Begriffsverwendung. Im Sinne der oben skizzierten Zweifel an der philosophischen Signifikanz der Historizität der Sprachverwendung könnten wir auch sagen, dass sich in Brandoms früher Geschichte der Begriffsveränderung eben genau das zeigt, was klassische analytische Philosophen erwarten: Ein Begriff wird durch einen neuen Begriff ersetzt, wobei sich die Gehalte der Begriffe einfach aus ihren Verknüpfungen mit den anderen Aspekten ihres jeweiligen Sprachspiels ergeben. Allerdings findet sich in Brandoms jüngeren Texten eine Überlegung, die uns die Frage aufzwingt, wie sich neue Begriffsverwendungen als die korrekten etablieren können. Es ist der Gedanke, dass ein pragmatistischer Ansatz nicht um die Feststellung herum kommt, dass jede Verwendung eines empirischen Begriffes – oder besser: jede empirische bzw. informative _____________ 20 Siehe Quine, 1963.

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Verwendung eines Begriffs – den Effekt der Re-Kalibrierung der Begriffsbedeutung hat. In seinem Hegel-Aufsatz schreibt Brandom: The practice of using language must be intelligible as not only the application of concepts by using linguistic expressions, but equally and at the same time as the institution of the conceptual norms that determine what would count as correct and incorrect uses of linguistic expressions. The actual use of the language settles – and is all that could settle – the meanings of the expressions used.21

Etwas später, in einem Aufsatz über Richard Rorty, formuliert Brandom die These schärfer und gibt eine genauere Erklärung: Every claim and inference we make at once sustains and transforms the tradition in which the conceptual norms that govern that process are implicit. […] [A]pplying conceptual norms and transforming them are two sides of one coin. […] The only practical significance of conceptual norms lies in the role they play in governing the use and application of those concepts in concert with their fellows. That use consists largely in making novel claims and novel inferences. And doing that leads inexorably to changes, not just in the claims we are disposed to make, but thereby in the concepts themselves. To use a vocabulary is to change it. This is what distinguishes vocabularies from other tools.22

Brandom betont im Einklang mit dem pragmatistischen Erbe des frühen Frege, dass die ganze Funktion subsentenzieller Einheiten in der Ermöglichung der Bildung und des sofortigen Verstehens neuer Urteile liegt. Der Gehalt eines Urteils liegt im Pragmatismus aber ausschließlich in seinen internen Beziehungen mit anderen Urteilen und mit Verrichtungen in seinem praktischen Umfeld. Beide Beziehungen können als materiale Inferenzen (in letzterem Fall als Zuverlässigkeitsurteile) explizit gemacht werden. In materialen Inferenzen sind aber sowohl die Bedeutungen der Begriffe als auch unser Wissen über die Welt kodifiziert: Der Korpus der Spielregeln der Sprache ist im Pragmatismus gleichzeitig der Korpus substanziellen Wissens. Wird nun ein neues Urteil vertreten und innerhalb einer Gruppe von Sprechern übernommen, so erweitert sich dieser Korpus des Wissens und der Sprachregeln um neue materiale Inferenzen, denn der Gehalt des neuen Urteils liegt in den materialen Inferenzen, in denen bereits akzeptierte Urteile als Gründe oder Konsequenzen des neuen Urteils fungieren – der Gehalt entspricht den internen Beziehungen mit weiteren Urteilen und Verrichtungen, in denen das neue Urteil steht. Von hier aus ist es schnell ersichtlich, dass dabei die Bedeutungen der alten Urteile nicht unangetastet bleiben, denn ihr Gehalt besteht nicht minder in ihren inferenziellen und nicht-inferenziellen Profilen. Da im Pragmatismus eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Gehalt des kompletten Urteils und dem Gehalt seiner Teile besteht, lässt _____________ 21 Brandom, 1999, 359; s.a. Brandom, 2002, 214f. 22 Brandom, 2000b, 177.

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sich nun nachvollziehen, wieso in der pragmatistischen Theorie der Gehalt des Begriffes sich durch seine bloße informative Verwendung verändert. Im Quineschen Geist kann dies auch so gesagt werden: Jedes Urteil ist eine implizite (Teil-)Definition seiner Begriffe, somit ist jedes neue, also jedes interessante, Urteil eine Erweiterung der bestehenden Definitionen. Diese These geht wesentlich weiter als das Eingeständnis, dass einige »revolutionäre« bzw. »paradigmen-verändernde« Urteile die in ihnen vorkommenden Begriffe verändern (wie zum Beispiel die oft diskutierte Erkenntnis, dass die Temperatur eines Gegenstandes proportional zu (bzw. identisch mit) der mittleren kinetischen Energie seiner Atome ist23). Sie betrifft alle Urteile. Oder, etwas genauer: Sie betrifft alle neuen (also bisher noch nicht akzeptierten) Urteile – auch und gerade empirische Urteile. Every use of a vocabulary, every application of a concept in making a claim, both is answerable to norms implicit in communal practice – and transforms those norms by its novelty […] apart from which it does not formulate a belief, plan, or purpose worth expressing.24

Die besondere Auszeichnung neuer Urteile hat übrigens eine Entsprechung beim späten Wittgenstein, der – ganz ähnlich wie Brandom – eine Unterscheidung zwischen zwei Weisen der Verwendung von Urteilen trifft. Was bei Brandom neue (noch nie aufgestellte) und alte (bereits bekannte) Urteile sind, sind bei Wittgenstein einerseits empirische Sätze und andererseits jene Sätze, mit denen wir uns bloß der sprachspiel-konstitutiven Regeln vergewissern, die ansonsten aber leer sind (grammatische oder »Rahmensätze« also).25 Um zu vermeiden, dass die Signifikanz der hier diskutierten sprachphilosophischen These durch ein Missverständnis vernebelt wird, sollte ich klarstellen, dass die Rede von »neuen Urteilen« sich auch auf Sätze beziehen kann, welche, rein lexikalisch bzw. phonetisch betrachtet, bereits (oft) formuliert wurden. Wichtig ist nur, dass diese Sätze bei ihrer Äußerung einen neuen Gehalt bzw. eine neue praktische Signifikanz haben. (Wir haben es hier mit einem der Kontexte zu tun, in denen eine Trennung zwischen »Satz« und »Urteil« wichtig ist – letzteres wird durch ersteres ausgedrückt.) Die Möglichkeit homophoner oder homographischer Sätze, die unterschiedliche Propositionen ausdrücken, besteht im Umfeld von indexikalischen Begriffen, Pronomina und Demonstrativa: »Hier ist es _____________ 23 Siehe etwa Churchland, 1989, 258, Churchland, 1988, 41, oder auch Kuhn, 1987, 16. Thomas Kuhn gilt als der Urheber der Idee der wissenschaftlichen Revolutionen. 24 Brandom, 2000b, 179 25 Siehe 3.2.3.

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schön«, »Er ist nett«, »Dieses Auto ist rot« – all diese Sätze sind natürlich schon millionenfach geäußert worden, drückten und drücken jedoch in der Mehrheit ihrer Äußerungen jeweils neue Propositionen aus, da die (hier kursiv gedruckten) indexikalischen Angaben jeweils in ganz unterschiedlichen Substitutionsbeziehungen mit Namen bzw. Beschreibungen stehen (oder, auf klassische, aber potentiell irreführende Weise gesagt: »sich auf ganz unterschiedliche Gegenstände beziehen«).26 5.3.3 Begrifflicher Wandel durch Neuverhandlung zwischen Autoritätszentren Jedes ernstzunehmende Urteil konstituiert also gleichzeitig eine Instantiierung und eine Transformation der in ihm impliziten begrifflichen Normen. Dies macht die Frage dringlich: Wie können wir die Veränderung von Begriffen auf eine Weise beschreiben, die den Unterschied zur falschen Anwendung von Begriffen oder auch zum Wechsel zu anderen Begriffen deutlich macht? Diese Frage ist nichts anderes als die alte philosophische Frage nach der Möglichkeit (und nach dem richtigen Verständnis) bestimmten Regelgehalts. Im Folgenden möchte ich einen ersten Überblick über Brandoms Antwort auf diese Frage geben. Zwar wird erst das nächste Kapitel auf die sich aus ihr ergebenden Sorgen reagieren und die Antwort damit vervollständigen. Doch ohne hier einen Überblick über Brandoms Antwort zu geben, würde dieses Kapitel unhaltbare Lücken enthalten und zudem das Verständnis der (als nächstes zu diskutierenden) Position Dworkins erschweren. Brandom erwähnt an mehreren Stellen eine Spannung zwischen Kant und Hegel.27 Kant steht bei Brandom für den Beginn des modernen Verständnisses des Unterschiedes zwischen normativen (oder rationalen) Erklärungen einerseits und kausalen Erklärungen andererseits. Dieser Unterschied, der auch als einer zwischen zwei Arten der Determination beschrieben werden kann, ist bei Kant mit dem enigmatischen Begriffspaar der Autonomie und der Heteronomie assoziiert: Unter dem Gesichtspunkt der kausalen Determination wird ein Akteur als heteronom bestimmt und insofern als unfrei aufgefasst; unter dem Gesichtspunkt der normativen (oder rationalen) Determination – der Gründe – wird er hingegen als autonom und insofern als frei aufgefasst. Brandom stellt bei Kant besonders die Erkenntnis heraus, dass es zur normativen Determi_____________ 26 Eine pragmatistische Rekonstruktion der Type/Token-Unterscheidung findet sich in Brandom, 1994, Kap. 7. 27 Siehe etwa Brandom, 2002, 212; Brandom, 2009, Kap. 1 und 2.

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nation eines Handelnden, also zur Determination desselben durch eine begründende Erwägung, notwendig ist, dass der Akteur die begründende Erwägung selbst als Grund anerkennt. Wenn also ein Handeln normativ erklärt werden soll, dann muss dem Handelnden selbst eine Anerkennung der entsprechenden Regel zugeschrieben werden; ansonsten handelt es sich bloß um das Zitieren einer Regelmäßigkeit und somit um eine im weitesten Sinne kausale Erklärung.28 Diese Erklärung akzeptiert Hegel, weist aber darauf hin, dass in ihr eine wesentliche Lücke bleibt, die sich in der Frage zeigt: Worin besteht die Anerkennung einer Regel? Was bedeutet es, eine Regel anzuerkennen, sich durch sie zu binden? Zwar beachtet Kant, dass der Standard der Korrektheit oder Inkorrektheit des konkreten Regelfolgeverhaltens einer Akteurin nicht in ihrem eigenen Ermessen liegen kann. Wäre das so, so würde es notorisch unverständlich, worin der Unterschied besteht zwischen dem Fall, in dem die Akteurin tatsächlich die Regel befolgt und jenem, in dem es ihr bloß so vorkommt, als befolge sie die Regel.29 Aber Kant erklärt an keiner Stelle, worin eine »Anerkennung einer Regel« bestehen soll, die diesen Unterschied (und somit Irrtümer und Fehler der Akteurin) erst möglich macht. [I]f I have available a rule (one of many) with a content that is determinate, in the sense that it is already settled for any particular whether or not the particular falls under it (whether or not applying the concept to it would be correct), then I can bind myself by applying the concept. For the concept will then settle what I have obliged myself to do. But Hegel thinks Kant leaves it mysterious how I could have access to concepts, rules, or norms that are determinate in this sense. In effect, Kant just assumes that there can be such things.30

Worin besteht aber die »Anerkennung einer Regel«, die Kant als Bedingung für die Angemessenheit einer normativen (bzw. rationalen) Erklärung formuliert? In seinem Nachdenken über diese Frage hält sich der Brandomsche Hegel nicht lange mit der Möglichkeit auf, dass die Anerkennung einer Regel in einem expliziten, als Satz formulierten, Bekenntnis der Akteurin besteht. Diese Antwort hätte nicht nur die offensichtlich falsche Implikation, dass nur sprachbegabte Wesen sich auf Regeln festlegen können. Sie wäre genau genommen gar keine Antwort, denn dieselbe Frage würde sich gleich wieder in etwas anderer Form stellen: Wann gilt die entsprechende Äußerung (ob laut ausgesprochen oder irgendwie innerlich aufgesagt) als tatsächlicher Ausdruck dieser Festlegung, und nicht vielmehr einer (etwas) anderen Festlegung? Sowohl bei gesprochenen als _____________ 28 Vgl. Brandom, 1994, 7ff.; Brandom, 2001, 602ff.; Brandom, 2009, Kap. 1, §4. 29 Siehe dazu Wittgenstein, 2003d [PU], §§ 202 und 258; vgl. Kripke, 1982. 30 Brandom, 2002, 220f.

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auch bei bloß gedachten Bekenntnissen ist klar, dass wir in einen infiniten Regress stürzen würden, wenn wir auf diese Frage wieder mit einem expliziten Bekenntnis antworteten.31 Ebenso wenig kann die von Kant vorausgesetzte »Anerkennung einer Regel« in einem – wohl physikalisch zu denkenden – kausalen Mechanismus bestehen. Nach dieser Idee ist die Rede von der »Anerkennung einer Regel« nur eine façon de parler und steht dafür, dass die »Regel« in der »anerkennenden« Akteurin in der Form eines chemischen oder neuronalen Mechanismus kodiert ist. Mit dieser Antwort würden wir allerdings die Normativität der Regel aus dem Blick verlieren, denn es ist eine Sache zu fragen, was bei der Betätigung eines Mechanismus passieren wird, und eine ganz andere, was dabei passieren soll. Letzteres ist die Frage danach, was passieren wird, wenn der Mechanismus richtig funktioniert – und diese Frage ist wiederum die Frage nach dem Gehalt der Regel. Um sie geht es, wenn danach gefragt wird, was es bedeutet, eine bestimmte Regel »anzuerkennen«.32 Auf diese Weise, so scheint es, kommen wir nicht weiter, und Hegel ist es ebenso klar wie Brandom, dass die Anerkennung einer Regel im praktischen Handeln der Regelbefolgerin selbst bestehen muss. Aber wie kann eine Regel im Handeln liegen? Wie kann man in einem konkreten Handeln eine bestimmte Regel befolgen – und nicht vielmehr eine (geringfügig) andere? Das Problem, das uns nun begegnet, und das Brandom als das »Gerrymandering-Problem«33 bezeichnet, lautet, dass in einem endlichen Abschnitt regelmäßigen Verhaltens unendlich viele Regeln ausgemacht werden können. Wir kennen dies aus der Mathematik, in der wir eine endliche mathematische Serie durch unendlich viele unterschiedliche Funktionen darstellen können. So ist Hegels Frage effektiv diese: Wie kann es sein, dass wir uns im praktischen Handeln auf eine Regel mit bestimmtem Gehalt festlegen können? Die Hegelianische Antwort auf diese Frage baut darauf auf, dass der Kontext der legitimen Feststellung von Regelfolgeverhalten und somit von bestimmtem Gehalt notwendig geprägt ist von einer Pluralität von sich gegenseitig anerkennenden Autoritäten. Die Idee dabei ist diese: Die Festlegung eines Akteurs auf eine bestimmte Regel ist nur möglich, wenn _____________ 31 Siehe zur Zurückweisung dieser Position (des »Regulismus«) auch Brandom, 1994, 18ff. 32 An dieser Stelle drängt sich vielleicht die Hoffnung auf einen Apparat auf, bei dem irgendwie garantiert ist, dass er nie abnutzt oder kaputt geht. Doch selbst, wenn es einen solchen Apparat geben könnte, wäre es sprachphilosophisch unzulässig, unsere Fähigkeit des Regelfolgens an diese Hoffnung zu knüpfen. Siehe Wittgenstein, 2003d [PU], §§193ff. 33 Siehe Brandom, 1994, 26ff.

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(bzw. weil) der Akteur selbst keine endgültige Autorität über den Maßstab besitzt, anhand dessen sein Folgeverhalten als korrekt oder inkorrekt ausgewiesen wird. Hätte er diese Autorität, so gäbe es keinen Unterschied zwischen dem Fall, in dem er eine Regel befolgt, und dem Fall, in der es ihm nur so vorkommt, als befolge er die Regel. Die Autorität, die dem Akteur zukommt, ist bloß die Autorität über sein Folgeverhalten, nicht die über den Standard seiner Bewertung. Wenn wir sein Verhalten nun als korrekt oder inkorrekt bewerten, sind wir es, die diesen Standard ansetzen und verwenden. Heißt das, dass wir die Autorität über den Standard der Bewertung seines Folgeverhaltens haben? Hegel denkt, dass es gar nicht falsch wäre, genau dies zu behaupten – allerdings einseitig, denn unsere Autorität können wir nur als Wesen besitzen, die sich ebenfalls durch Regeln binden können und deren Verhalten folglich ebenfalls als korrekt oder inkorrekt bewertet werden kann. Der Standard der Bewertung dieses Verhaltens muss allerdings aus dem Bereich unserer Autorität herausfallen. Auch für uns gilt: Wir besitzen nur Autorität über unser Verhalten – hier: über unsere Bestätigungs- und Ablehnungsmanöver – nicht über die Standards der Bewertung unseres Verhaltens. Diese Autorität muss außerhalb unserer liegen. Für Hegel ist die Konsequenz aus diesem Gedankengang, dass Normativität ein Phänomen ist, das erst im Kontext von sich gegenseitig anerkennenden Autoritäten auf den Plan tritt (zu denen wir Theoretiker gehören). »Anerkennung« bedeutet in diesem Kontext die Behandlung eines anderen als fähig zur Festlegung. Da dies nichts anderes ist als die Behandlung des anderen als Adressat von Bestätigung oder Ablehnung seiner individuellen Regelfolgeschritte, können wir auch sagen: »Anerkennung« bedeutet die Festlegung des andern. Brandom formuliert den Hegelianischen Gedankengang wiederholt wie folgt: Zwar hat jede Akteurin die freie Wahl der Regel, auf die sie sich festlegt. (Etwa hat eine Sprecherin die Wahl der Begriffe, die sie verwenden möchte.) Hat sie jedoch ihre Wahl getroffen, so setzt sie ihre individuellen Regelfolgeschritte der Bestätigung oder Ablehnung der anderen aus – und dies bedeutet: es sind die anderen (und dazu gehören wir Theoretiker), die den Gehalt der Regel für sie administrieren. Administrieren können sie den Gehalt der Regel freilich nur, insofern sie selbst auch Rezipienten von Anerkennung sind, insofern also ihre Regelfolgeschritte ebenfalls von anderen bestätigt oder abgelehnt werden. Dies ist nach Brandom der Grund von Hegels Rede von gegenseitiger Anerkennung (die auch den Theoretiker mit umfasst).34 _____________ 34 Natürlich drängt sich hier leicht der Verdacht auf, dass sich im System der gegenseitigen Anerkennung ein Teufelskreis verbirgt: Wie kann es sein, dass sich Wesen gegenseitig zu Autoritäten über korrektes und inkorrektes Regelfolgeverhal-

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Ein Akteur muss also interpretiert werden als jemand, der die Autorität über Korrektheit und Inkorrektheit seiner individuellen Regelfolgeschritte zumindest implizit den anderen Teilnehmern des Systems gegenseitiger Festlegung zugesteht, welche ihrerseits das Gleiche tun. I commit myself, but then they hold me to it. For me to be committed, I have to have acknowledged a commitment, and others must attribute it to me. Only so is a real, contentful commitment instituted. Only so can I really be understood to have bound myself. The commitment one undertakes by applying a concept in judgment or action can be construed as determinately contentful only if it is to be administered by others distinct from the one whose commitment it is. So in acknowledging such a commitment one is at least implicitly recognizing the authority of others over the content to which one has committed oneself.35

Mit der Idee der sozial distribuierten Administration der Gehalte akzeptierter Regeln durch die gegenseitige Bestätigung und Ablehnung individueller Regelbefolgungsschritte sind wir nun an dem Ort angelangt, an dem wir nach einer Antwort auf unsere Frage suchen können: Wie etabliert sich eine neue Begriffsverwendung als korrekt und nicht vielmehr als Instanz eines anderen Begriffes? Die Antwort, die nun kommt, ist kurz. Die Etablierung einer neuen Begriffsverwendung geschieht durch die implizite Neu- bzw. Nachverhandlung zwischen den unterschiedlichen Autoritäten. Wherever a norm can properly be discerned, there must be distinct centers of reciprocal authority and a process of negotiation between them.36

Was hier mit »Verhandlung« gemeint ist, kann mit einem einfachen Beispiel aus der Sprache aufgezeigt werden. Sagt zum Beispiel jemand über eine UV-Lampe »Dies ist eine Lichtquelle«, so signalisiert eine Ablehnung dieses Urteils durch andere die Ablehnung der Erweiterung des Begriffes »…ist eine Lichtquelle« auf Geräte, die andere Wellenlängen als die normalerweise sichtbaren produzieren. Diese Ablehnung kann explizit diskutiert werden.37 Es kann zum Beispiel mit dem Hinweis gegen sie gekontert _____________ ten machen, ohne »am Anfang des Prozesses« bereits solche Autoritäten zu sein? Wie kann es sein, dass ihr Verhalten als Bestätigung oder Ablehnung gewertet werden kann, ohne dass sie selbst »bereits« legitime Adressaten von Bestätigung und Ablehnung sind? Diese Fragen werde ich im folgenden Kapitel beantworten. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass neben der Idee der Gegenseitigkeit der Anerkennungsverhältnisse darauf bestanden wird, dass wir Theoretiker eine Partei des Systems gegenseitiger Anerkennung sind. Im folgenden Kapitel wird sich zeigen, wieso die beiden Thesen zusammengenommen den Vorwurf des Teufelskreises zunichtemachen. 35 Brandom, 2002, 221f. 36 Brandom, 2002, 222, meine Hervorhebung. 37 Eine genauere Diskussion eines ähnlichen Beispiels findet sich in 7.3.4.

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werden, dass UV-Strahlung im Wellenspektrum gewöhnlichen Sonnenlichtes vorkommt oder dass sie nicht völlig unsichtbar ist. Sollte sich das Urteil dennoch nicht durchsetzen, bleibt es aber illegitim, »UV-Lampe« als Unterbegriff von »Lichtquelle« zu behandeln – auch in anderen Sätzen. Das Spiel der Sprache erlaubt kein unilaterales Hinwegsetzen über die sich abzeichnende Ablehnung der anderen. Man sieht, dass neue Urteile zunächst tentativ sind. Erst durch ihre Akzeptanz bzw. Übernahme durch andere gehen sie in den Bestand der Regeln der Sprache ein. Dann haben sich die in ihnen vorkommenden Begriffe tatsächlich als korrekt etabliert. Sollte die Radikalität dieses Normativitätsverständnisses bisher noch nicht klar geworden sein – spätestens hier wird sie offenbar: Mit der Idee der Etablierung eines Regelfolgeschritts als korrekt – und zwar im Zuge der Befolgung der Regel, also im praktischen Handeln – wird die Idee der Bestimmtheit einer Regel kompatibel mit der Nachverhandlung über ihre Anwendung in jeweils neuen Fällen. In dieser Kompatibilität liegt Brandoms radikale Innovation in der Normativitätstheorie.38 5.3.4 Von der sozialen zur historischen Distribution normativer Autorität Wie wir gesehen haben, ist die legitime Verwendung normativen Vokabulars bei Brandom an eine Pluralität einander anerkennender Autoritäten gebunden (die alle Verwender normativen Vokabulars, also auch uns Theoretiker, mit einschließt). Aus diesem Grund ist Normativität notwendig ein soziales Phänomen. Allerdings gibt es verschiedene Arten dieser Sozialität. Neben der skizzierten Art der Verteilung von Anerkennungssubjekten gibt es noch eine zweite, zeitliche, Distributionsachse.39 Die Idee dabei ist, dass die Administration der Regeln, auf die wir uns heute festlegen, also die Bestätigung oder Ablehnung unserer individuellen Regelfolgeschritte, durch Akteure geschehen kann, die nach uns kommen. Trotz des paradoxen Eindrucks können wir somit sagen, dass unsere Nachfolger eine gewisse Autorität über uns haben. Andererseits haben wir eine gewisse Autorität über ihre späteren Äußerungen, denn unsere derzeitigen Schritte sind das einzige Material, das die ihnen später zugänglichen Regeln instituieren kann. In Bezug auf Begriffe können wir sagen: Unsere Nachfolger richten über die Korrektheit und Inkorrektheit unserer konkreten Begriffsverwendungen und haben insofern Autorität über uns; wir aber prägen mit unseren Begriffsverwendungen die begrifflichen Regeln, _____________ 38 Ich beschäftige mich in 5.5.2 und im folgenden Kapitel mit Einwänden gegen dieses Normativitätsverständnis. 39 Siehe Brandom und Haase, 2006; Brandom, 2009, 2008.

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anhand deren sie über uns (und andere) später erst richten können – insofern haben wir auch Autorität über sie. Das Ganze können wir natürlich auch in die Vergangenheit projizieren. Wir heutigen Sprecher sind diejenigen, die die einzelnen Begriffsverwendungen unserer Vorfahren bestätigen oder ablehnen – es waren dagegen unsere Vorfahren, die die uns heute zugänglichen begrifflichen Regeln, auf deren Basis wir ihre konkreten Schritte bestätigen oder ablehnen, durch ihre Begriffsverwendungen instituiert haben. Dies ist nichts anderes als das oben beschriebene Muster reziproker Anerkennung: Spätere Akteure zollen früheren Akteuren Anerkennung, indem sie den Gehalt der später zugänglichen Regeln in den Verwendungen der früheren Akteure instituiert sehen; frühere Akteure zollen späteren Akteuren Anerkennung, indem sie ihre frühen Verwendungen der Bestätigung bzw. Ablehnung der Nachwelt anvertrauen. Freilich bleibt unklar, wie die Verhandlung zwischen den verschiedenen historischen Autoritätszentren analog sein kann zu jener zwischen verschiedenen sozialen Autoritätszentren. Jedoch sollte der Begriff der Verhandlung nicht überlastet werden. Zur Instituierung bestimmten Gehaltes ist bloß die Administration der Regeln durch andere Akteure mit der Möglichkeit der Ablehnung einzelner Begriffsverwendungen vonnöten. Dies ist in der historischen Kette gegeben: Für jeden Akteur gilt, dass andere Akteure – nämlich seine Nachfolger – über seine individuellen Regelfolgeschritte zu Gericht sitzen. Mit der Ausweitung des Modells auf die historische Achse passiert nun etwas Wichtiges, auf das ich mit besonderem Nachdruck hinweisen möchte, da Brandom selbst dies nicht in der wünschenswerten Klarheit tut. Im Kontext der sozialen Dimension der Autoritätsdistribution haben wir gesehen, wie sich Begriffe durch die permanenten Nachverhandlungen der verschiedenen Autoritäten entwickeln. Die so beschriebene Entwicklung war jedoch bloß eine inkrementelle Entwicklung: Wird ein neues Urteil akzeptiert, so stoßen neue inferenzielle Beziehungen zum bestehenden Korpus der Sprachspielregeln hinzu. Wird es dagegen abgelehnt, so bleibt der Korpus der Sprachregeln, wie er zuvor schon war.40 Mit der Auswei_____________ 40 Brandom suggeriert immer wieder, dass sich im Falle der Neuaufnahme einer materialen Inferenz in den Korpus der Sprachregeln notwendig Inkompatibilitäten mit alten Regeln ergeben, die dann die Sprecher in Spannungssituationen der oben diskutierten Art bringen. Dies ist jedoch falsch: Es kann durchaus neue Inferenzen geben, die keinerlei Spannung im Gesamtgefüge verursachen. Selbst in komplexen Sprachen wie der unseren kommt es häufig vor, dass neue Inferenzen spannungslos integriert werden: Fast alle Beobachtungssätze (»Dieses Auto ist rot«) sind dieser Art. Vielleicht hat Brandom selbst die systematische Rolle der historischen Distributionsachse missinterpretiert. Im folgenden Absatz versuche ich eine Klarstellung dieser Rolle vis-à-vis dem Rest der Brandomschen Theorie.

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tung auf die historische Achse jedoch wird es möglich, dass alte Begriffsverwendungen zurückgewiesen werden: Wird im historischen Kontext eine individuelle Begriffsverwendung abgelehnt, so bleiben die Spielregeln nicht die gleichen. Stattdessen werden materiale Inferenzen aus ihnen getilgt. (Im historischen Kontext wird die Beibehaltung des Status Quo der Sprachregeln durch die Bestätigung eines Urteils erwirkt.) Aus diesem Grund hat die Ausweitung auf die historische Achse keinesfalls nur den Wert einer interessanten Nebenbemerkung. Sie spielt eine systematisch wichtige Rolle, denn erst mit ihr kann erläutert werden, wie im Korpus der Sprachregeln materiale Inferenzen ersetzt werden können. Vorher kannte unser Modell nur das Wachstum – nun kennt es auch das Absterben interner Beziehungen. Mit der Verfügbarkeit der jüngeren normativitätstheoretischen Ideen Brandoms können wir die Geschichte des Begriffswandels nun neu aufrollen. Denn es wird jetzt deutlich, dass die eingangs skizzierte Inkompatibilitätstheorie einen systematischen Platz in der integrierten Theorie des Wesens begrifflichen Gehaltes findet, den Brandom in Making It Explicit selbst nicht gesehen hat: Zuerst schlagen sich konkrete Erkenntnisse bzw. Erfahrungen als materiale Inferenzen in der Sprachpraxis einer Gruppe nieder, indem neue Urteile, die inferenziell mit alten verbunden sind, von der Gemeinschaft bestätigt werden. Dabei ergeben sich Querverbindungen zwischen Urteilen durch das Vorkommen der gleichen Begriffe – und dadurch Erweiterungen der begrifflichen Regeln. Ab einem bestimmten Komplexitätsgrad, ab einer gewissen Dichte an materialen Inferenzen, kommt es damit aber zu gehäuften Inkompatibilitäten zwischen verschiedenen Festlegungen. Nun sind die Sprecher gezwungen zu einer expliziten Aufgabe bestimmter materialer Inferenzen. Dies kommt einer Ökonomisierung ihrer Sprachpraxis gleich und äußert sich gewöhnlich in der Zurückweisung konkreter Begriffsverwendungen bzw. Urteile.41 Die Inkompatibilitätstheorie, mit der wir in Brandoms Gedanken eingeführt hatten, erweist sich also als Spezifizierung der Art, in der die historische Dimension der Instituierung von Gehalt zur Zurücknahme materialer Inferenzen führt. Ihr richtiger Platz wäre somit ganz am Ende der Geschichte. Ich schließe diese Bestandsaufnahme der Brandomschen Theorie mit einem jüngeren Zitat Brandoms, in dem er nicht nur die Radikalität seiner Theorie affirmiert, sondern auch eine Analogie zwischen der Alltagsspra_____________ 41 Hiermit ist noch nicht geklärt, welche materialen Inferenzen durch die Ablehnung eines konkreten Urteils getilgt werden. Dies ist eine wichtige Frage, da der Gehalt eines Urteils in vielen Inferenzen besteht und nicht alle Inferenzen sich als ungerechtfertigt erweisen müssen. Ich komme auf diese Frage im Kontext der Diskussion Dworkins und am Ende dieses Kapitels zurück.

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che und der juristischen Sprachverwendung skizziert, die uns als Überleitung zu Ronald Dworkin dienen soll. Die Idee von dem vollständig bestimmten Gehalt eines Begriffs, den wir implizit während dieses Prozesses schon die ganze Zeit anwenden, ist im Kern eine retrospektive Idee. Der vollständig bestimmte Gehalt ist ein Ideal und ist immer revidierbar. Wenn man auf den Prozess der Anwendung eines Begriffs im Laufe der Zeit zurückblickt, dann hat man als vernünftig semantisch Handelnder die Aufgabe, sich einen Gehalt einfallen zu lassen, den man als denjenigen betrachten kann, der implizit schon die ganze Zeit über angewandt worden ist. Und diesen Gehalt muss man zugleich als die Norm behandeln, der man sich in der eigenen Anwendung des Ausdrucks unterwirft. Doch schon die nächste Anwendung des Begriffs kann diese retrospektive rationale Rekonstruktion der Semantik des Begriffs obsolet machen. […] In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, sich das Modell der Entwicklung juristischer Begriffe im Präzedenzrecht vor Augen zu führen. Vom retrospektiven Standpunkt her ist jeder Richter verpflichtet, seine Anwendung eines Begriffs auf neue Tatsachen zu rechtfertigen, indem er einen klar bestimmten begrifflichen Gehalt findet, der – so wie er es jetzt sieht – schon immer im Spiel war und der bestimmt, ob es richtig ist, den Begriff auf den aktuellen Fall anzuwenden. Die einzigen Gründe, die er angeben kann, um seine Entscheidungen zu rechtfertigen, sind Gründe, die auf solche begrifflichen Gehalte rekurrieren. Doch der nächste Richter kann, wenn er auf die Entscheidung seines Vorgängers zurückblickt, zu der Überzeugung kommen, dass dieser den Gehalt des Begriffs falsch verstanden hat. Der spätere Richter kann sich an anderen Präzedenzfällen orientieren, und er wird vielleicht andere inferenzielle Verbindungen zwischen den Anwendungen auf die Fälle, die bereits entschieden worden sind, betonen. Wenn wir den ganzen Vorgang nun von außen betrachten, dann wird klar, warum man Präzedenzrecht sinnvollerweise als »Richterrecht« bezeichnet. Es besteht in gewissem Sinne aus nichts anderem als dem, was durch die Entscheidungen der verschiedenen Richter hineingelesen worden ist.42

5.4 Begriffe im Wandel II: Dworkin Ronald Dworkins Modell ist weniger komplex als das Modell Brandoms, und es baut nicht explizit auf der eingangs skizzierten pragmatistischen Theorie begrifflichen Gehaltes auf. Aber es ist direkt an den Pragmatismus anschließbar, es weist wichtige Parallelen zu Brandoms Antworten auf, und es wird sich zeigen, dass Dworkins Modell genau dort stark ist, wo bei Brandom wichtige Lücken gelassen werden – und andersherum. Außerdem hat Dworkins Modell seinen Ursprungskontext in der Jurisprudenz und gibt uns daher die Chance, die von Brandom in der zuletzt zitierten Passage aufgezeigte Analogie näher zu untersuchen. _____________ 42 Brandom und Haase, 2006, 461ff.

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5.4.1 Die Idee der theoretischen Meinungsverschiedenheit Ronald Dworkins Modell des Wandels von Begriffen findet sich in seiner Erläuterung des Begriffes des »interpretive concept«, also des »interpretativen Begriffs«. Ich will in diesen Zusammenhang kurz mit einigen Sätzen einleiten. Dworkins monumentales Law’s Empire,43 das die mich interessierenden Gedanken enthält, sieht sich, wie eine ganze Reihe früherer Schriften von Dworkin, als in fundamentaler Opposition zu »semantischen Theorien des Rechts« im Allgemeinen und dem Rechtspositivismus im Besonderen stehend.44 Damit ist eine rechtsphilosophische Position gemeint, nach der propositionale Konflikte im Bereich der Rechtsprechung sich (so gut wie) immer entpuppen als Meinungsverschiedenheiten über moralische Fragen im Umfeld der Rechtsprechung: Sollte der Richter in dieser oder jener unklaren Situation das Recht auf diese oder jene Weise dehnen? Sollte der Richter bei schwierigen Fällen nach der öffentlichen Moral entscheiden? Sollte er in Härtefällen das Gesetz ganz ignorieren? Für den Semantizisten (wie wir ihn nennen wollen) ist es kaum vorstellbar, dass es echte, persistente Konflikte darüber gibt, was das Recht verlangt. Der Grund für diese Position – und so erklärt sich auch ihre Etikettierung durch Dworkin – ist, dass dieser Theoretiker davon ausgeht, die Möglichkeit echter Kommunikation bedinge die vollständige Deckung der jeweiligen begrifflichen Regeln und eine Kenntnis dieser Regeln mache persistente Kontroversen unmöglich. Im Fall des Rechts vertritt der Semantizist die Position, dass die Bedingung der Möglichkeit einer Verständigung über Gesetze in der exakten Einigung über die Anwendung des Begriffes »Recht« (»…is the law«) liegt. Die unter Semantizisten häufigste Position darüber ist der Rechtspositivismus, nach dem die Kenntnis der Anwendungsbedingungen des Rechtsbegriffes darin besteht zu wissen, welche historischen Ereignisse als rechtsrelevant zu deuten sind (nämlich bestimmte Sprechakte von Gesetzgebern oder – bei Präzedenzfällen – Richtern).45 Der rechtspositivistische Semantizist denkt also, dass ein Sprecher, der kompetent im Umgang mit dem Begriff des »Rechts« ist, bereits den Schlüssel zur Lösung eventueller Streitigkeiten in der Hand hält. Vielleicht kennt er das Recht nicht – was er aber weiß, ist, wo er nachschauen muss. Als mögliche kontroverse Punkte bleiben somit bloß _____________ 43 Dworkin, 1986b 44 Siehe Dworkin, 1986b, 31ff. 45 Oder, im rechtspositivistischen Jargon gesagt: Die Kenntnis der Bedeutung des Rechtsbegriffes besteht in der Kenntnis der adäquaten »Rule of Recognition«. Siehe hierzu Hart, 1997. Diese Position kann im Jargon von Susan Hurleys Theorie (siehe noch einmal 2.3.5 und 2.4.1) als ein Paradebeispiel des Zentralismus bezeichnet werden.

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Fragen darüber übrig, ob oder wie rigide nach dem dieser Art bestimmten Recht verfahren werden sollte. Dies jedoch sind keine Fragen des Rechts, sondern der Moral. Dworkin wendet sich seit langem vehement gegen den Semantizismus im Allgemeinen und den Rechtspositivismus im Besonderen und wirbt stattdessen für die These, dass die häufigen Konflikte zwischen Richtern oder Anwälten als theoretische Meinungsverschiedenheiten aufgefasst werden müssen. Theoretische Meinungsverschiedenheiten sind genuine Konflikte darüber, was das Recht ist, was das Recht verlangt, was »Recht« bedeutet. Sie entstehen zwischen Sprechern, die unterschiedliche theoretische Überzeugungen über das Recht, bzw. über den Begriff »Recht«, haben. Vielleicht wird schon an dieser Stelle deutlich, dass sich Dworkin somit – ohne die Bezüge selbst allzu deutlich zu machen – in der Nähe eines der zentralen Aspekte des sprachphilosophischen Pragmatismus befindet. Wie Wittgenstein, Quine und Brandom – und wie der Brandomsche Hegel – geht Dworkin davon aus, dass es keine strikte Trennung gibt zwischen der Frage, was der Rechtsbegriff bedeutet, und der Frage, was das Recht in konkreten Fällen besagt bzw. verlangt. In unseren Netzwerken von Urteilen – Dworkin nennt sie »Theorien« – sind sowohl Überzeugungen als auch Begriffsdefinitionen kodifiziert.46 Hiermit vertritt Dworkin die Gegenthese zum Semantizismus: Für ihn ist es letztlich unmöglich, den Begriff »Recht« wirklich zu verstehen, ohne das Recht zumindest in zentralen Zügen zu kennen. Oder gradualisiert formuliert: Je weniger konkretes Recht wir kennen, umso weniger klar ist uns der Begriff des Rechts. Dabei stellt Dworkin nun etwas heraus, das Brandom weniger interessiert hat, das wir aber im dritten Kapitel bereits ausführlich diskutiert haben. Es ist die Tatsache, dass begriffliche Beziehungen (also inferenzielle Beziehungen zwischen Urteilen, und abgeleitet-inferenzielle, also substitutionelle, Beziehungen zwischen Begriffen) sich bei verschiedenen Sprechern bzw. in verschiedenen Idiolekten nicht immer vollständig decken. In Situationen, in denen dies passiert, bricht aber nicht sofort die Kommunikation vollständig zusammen. Stattdessen passiert etwas ganz Alltägliches: Es tritt eine theoretische Meinungsverschiedenheit auf.47 _____________ 46 Wittgensteins einschlägige Passage lautete: »Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung der Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen.« (Wittgenstein, 2003d [PU], § 242); siehe noch einmal 3.2.2. 47 Hier zeigt sich, dass Dworkin zwar eine mit meiner (im 3. Kapitel ausgearbeiteten) Position verwandte Theorie propositionaler Konflikte vertritt, aber nicht die gleiche. Während ich argumentiert habe, dass immer zunächst nur von einem propositionalen Konflikt gesprochen werden sollte, und dass die Rede von einer Meinungsverschiedenheit für Fälle reserviert bleiben sollte, in denen ein konkre-

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Um einen Einblick in den intellektuellen Hintergrund von Dworkins Beschäftigung mit theoretischen Meinungsverschiedenheiten zu geben, will ich kurz eines seiner Beispiele aus der Jurisprudenz diskutieren. Der Fall Riggs vs. Palmer (New York, 1889), bei Dworkin als Elmer’s Case diskutiert, ist ein berühmter Lehrbuch-Fall, in dem divergierende Rechtsauffassungen (repräsentiert durch verschiedene involvierte Richter) auf sehr anschauliche Weise miteinander kollidieren. Elmer E. Palmer, der von seinem Großvater Francis B. Palmer testamentarisch als Erbe bestimmt und hiervon auch unterrichtet war, ermordete im Jahr 1880 selbigen Großvater, um die Auszahlung seines Erbes zu beschleunigen. Er wurde jedoch des Mordes überführt und zu einer langen Haftstrafe verurteilt. So weit, so einfach. Doch durch eine Klage zweier Töchter des Ermordeten – Elmers Tanten –, kam es zu dem zivilrechtlichen Prozess Riggs vs. Palmer, in dem die Frage zu klären war, ob Elmer weiterhin das Erbe zustünde, oder ob der Anspruch auf die Töchter überginge, welche im Testament nur mit kleineren Erbanteilen bedacht worden waren. Da der Fall im New York des ausgehenden 19. Jahrhunderts der erste seiner Art war und da auch keine legislative Entscheidung vorlag, die die Frage des Erbanspruches im Falle eines Mordes des Erben am Vererbenden explizit geklärt hätte, war diese Frage keinesfalls leicht zu beantworten. Richter Gray, der sich am Ende nicht durchsetzen konnte, vertrat die Meinung, dass das Erbe an Elmer ausgezahlt werden müsse, da keine expliziten legislativen Entscheidungen die Auszahlung im vorliegenden Fall verbaten bzw. eine Übertragung an nachrangige Erben gestatteten oder forderten. Nach seiner Auffassung träte daher das übliche Erbrecht in Kraft, nach dem durch das Testament zu bestimmen ist, wem das Erbe zusteht. Wenn weder das Erbrecht noch das Testament eine Klausel zum Fall der Ermordung des Vererbenden durch den Erben enthalte, so Gray, dann sei auch nicht nach einer solchen zu entscheiden. Man spricht bei Ansätzen wie dem von Gray häufig von einem »buchstäblichen« oder auch »akontextuellen« Rechtsverständnis. Richter Earl dagegen, der sich am Ende durchsetzen konnte, vertrat die Auffassung, dass Elmer seinen Anspruch auf das Erbe durch den Mord verwirkt habe. Die Rechtsgrundlage dieser Auffassung sah er in folgendem Rechtsgrundsatz: _____________ ter Denk- oder Wahrnehmungsfehler diagnostiziert werden kann (weswegen mit der Rede von einer Meinungsverschiedenheit zumeist bereits Partei für eine Position eingenommen wird), findet sich eine solche Bedingung bei Dworkin nicht. Dworkins Verwendung des Begriffes »theoretische Meinungsverschiedenheit« oszilliert daher – mit meiner im 3. Kapitel vorgeschlagenen Terminologie gesprochen – zwischen dem Bezug auf propositionale Konflikte und dem Bezug auf genuine Meinungsverschiedenheiten (inklusive Fehlerzuschreibung).

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It is a familiar canon of [statutory] construction that a thing which is within the intention of the makers of a statute is as much within the statute as if it were within the letter; and a thing which is in the letter of the statute is not within the statute, unless it be within the intention of the makers.48

Dabei meinte Richter Earl natürlich nicht – wie Dworkin korrekterweise betont – dass ein Statut keinerlei Konsequenzen haben kann, die nicht »in the intention« der Gesetzgeber waren. Dies wäre viel zu stark. (»The New York legislators could not have contemplated that people might bequeath computers, but it would be absurd to conclude that the statute does not cover such bequests.«49) Ebenfalls wollte Earl nicht bloß sagen, dass ein Statut nichts enthalten kann, das die Gesetzgeber auszuschließen intendierten. Dies wäre zu schwach. Earl meinte, dass ein Statut keine Konsequenzen hat, die die Gesetzgeber (klarerweise?) abgelehnt hätten, wenn sie über diese konkreten Konsequenzen nachgedacht und diskutiert hätten. Aus seiner Sicht wäre es nun absurd anzunehmen, dass die Gesetzgeber des Staates New York gewollt hätten, dass ein Mörder das Erbe des von ihm Ermordeten antreten dürfe. Indem sich Richter Earl auf das zitierte Prinzip stützt, affirmiert er zugleich ein weiteres Prinzip. Es besagt, dass ein Statut nicht in logischer Isolation interpretiert, sondern vor dem Hintergrund allgemein akzeptierter Rechtsgrundsätze konstruiert werden müsse. Hierfür nannte Earl zwei Gründe. Erstens sei es plausibel, dem Gesetzgeber eine generelle Intention zuzuschreiben, traditionelle Gerechtigkeitsvorstellungen zu respektieren, solange sie dies nicht explizit verneinen. Zweitens müsse ein Statut, da es immer ein Teil eines ganzen intellektuellen Systems ist, auf eine Weise interpretiert werden, die die Kohärenz des Gesamtsystems maximiert. Der Fall Riggs vs. Palmer berührt somit zwei grundsätzliche theoretische Fragen des Rechts – oder, wie Dworkin ohne weiteres sagen würde: »der Bedeutung des Begriffes ›Recht‹«: Zum einen geht es um die genaue Rolle der Erwägung der Intention des Gesetzgebers, zum andern geht es um die genaue Rolle der Erwägung der Systematizität in der Ermittlung des Rechts in einem konkreten Fall. Wir können der richterlichen Deliberation und der schließlichen Urteilsbegründung im Riggs-vs.-Palmer-Fall im Rahmen dieses Kapitels keine vollständige Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die diskutierte Episode unterstreicht aber, dass es hier tatsächlich um die Frage geht, was das Recht verlangt, und nicht bloß um die Frage, ob nach dem (eindeutig feststehenden) Recht verfahren werden sollte oder nicht. Sowohl Richter Gray als auch Richter Earl waren geleitet von der Frage, worin das Recht in dem ihnen vorliegenden Fall bestand. Zwischen den _____________ 48 Riggs vs. Palmer, 1889, zitiert in Dworkin, 1986b, 18. 49 Dworkin, 1986b, 19.

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involvierten Richtern bestand eine echte Meinungsverschiedenheit über den Gehalt des Rechts, und diese Meinungsverschiedenheit fußte in unterschiedlichen theoretischen Überzeugungen über das Recht: Es war eine theoretische Meinungsverschiedenheit. Da diese Meinungsverschiedenheit sich direkt auf die Verwendung des Rechtsbegriffes auswirkt, spricht sie gegen die skizzierten semantischen Theorien des Rechts, deren zentraler Bestandteil die Festlegung auf eine strikte Unterscheidung zwischen der Frage nach der Bedeutung des Rechtsbegriffes und der Frage nach der Korrektheit bestimmter Urteile, also dem Gehalt des Rechts im konkreten Fall, ist. Wollten wir gegen Dworkin an der semantizistischen Interpretation des Rechts festhalten, dann müssten wir entweder davon ausgehen, dass die beteiligten Richter sich selbst nicht im Klaren darüber waren, was sie eigentlich taten, oder wir müssten eine richterliche Verschwörung konstatieren, mit der die Schaffung neuen Rechts als Diskussion über die Anwendung bestehenden Rechts getarnt wird. Zum Glück können wir diese krassen Interpretationen mit der Dworkinschen Alternative der theoretischen Meinungsverschiedenheit vermeiden.50 Dworkins Hauptinteresse gilt zwar seit Beginn seiner philosophischen Arbeiten dem Recht; prinzipiell kommen theoretische Meinungsverschiedenheiten aber bei allen möglichen Begriffen vor. Am häufigsten finden wir sie nach Dworkin in politisch besonders brisanten Begriffen wie »Gerechtigkeit«, »Toleranz« oder »Freiheit«. Dworkin nennt diese Begriffe interpretative Begriffe. 5.4.2 Zur Interpretation von Praktiken Nehmen wir den Begriff der »Gerechtigkeit«. Ebenso wie im Kontext des Begriffes »Recht« ist eine theoretische Meinungsverschiedenheit hier eine Meinungsverschiedenheit darüber, was »Gerechtigkeit« bedeutet, wobei nicht davon ausgegangen wird, dass die Bedeutung von »Gerechtigkeit« unabhängig von der Frage abgehandelt werden kann, was gerecht ist (welche Gesellschaftsordnung, welches Wahlsystem etc.).51 Dworkin schreibt immer wieder, dass es unangebracht wäre, eine Erläuterung des Begriffs _____________ 50 Es sollte übrigens auf der Hand liegen, dass die Dworkinsche Analyse von richterlichen Konflikten als theoretischen Meinungsverschiedenheiten sich anschließen lässt an die im dritten Kapitel dieser Arbeit vorgestellte Analyse von Meinungsverschiedenheiten als (idealerweise) temporäre Verständigungsprobleme. Dworkin selber beleuchtet diese Beziehung leider nicht. 51 Die Unbrauchbarkeit der manchmal gegebenen »Definition« des Polemarchos aus Platos Staat, nach der Gerechtigkeit darin besteht, zu geben, was geschuldet ist (siehe Platon, 2004, 331e), unterstreicht diese Position.

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der Gerechtigkeit zu verlangen, die neutral in Bezug auf konkrete Instanzen seiner konkreten, informativen, Verwendung wäre: Ein Philosoph mit dieser Arbeitsaufgabe wäre »like a man at the North Pole who is told to go any way but South.«52 Dieser Gedanke zieht sich leitmotivisch durch Dworkins Schriften. Allerdings verwendet er eine andere Art der Beschreibung als die in dieser Arbeit verwendete Rede von der »Interdependenz von Überzeugungen«, dem »inferenziellen Charakter des Gehalts« und dem »Non-Zentralismus empirischer Begriffe«. Ich möchte im Folgenden in Dworkins Terminologie einführen. Interpretative Begriffe wie »Gerechtigkeit« oder »Recht« stehen im Zentrum von Praktiken, in denen wir uns gewöhnlich seit unserer Geburt wiederfinden. Die Rede ist hier von den Praktiken des gerechten Umgangs miteinander bzw. der Rechtsprechung. Die Begriffe »Gerechtigkeit« und »Recht« machen die jeweiligen Regeln dieser Praktiken bloß formulier- und somit diskutierbar oder markieren (besonders im Recht) bestimmte perlokutionäre53 Sprechakte. Was die Regeln der Praktiken für uns aber interessant macht, ist ihre praktische Anwendung im jeweils neuen, konkreten Fall. Wie soll ich diesen Kuchen verteilen? Soll ich diesen Straftäter einsperren lassen? Wie hoch sollte die Erbschaftssteuer sein? Dabei konnten wir schon am Elmer-Fall eines sehen. Um herauszufinden, was genau die genannten Praktiken von uns in konkreten neuen Situationen fordern – also wie ihre jeweiligen Begriffe in neuen Situationen anzuwenden sind –, kommen wir nicht umhin, die Praktiken in der Gestalt ihrer bisherigen individuellen Schritte zu interpretieren. Um zu ermitteln, wie im ihnen vorliegenden Fall zu entscheiden war, mussten die Richter Gray und Earl in die Vergangenheit schauen, um weitere Teile der Praxis der Gesetzgebung und Rechtsprechung in den Blick zu nehmen. Doch worin besteht, was ist eigentlich, diese Beschäftigung, die wir »Interpretation« nennen? Dworkins Antwort auf diese Frage ist einfach: Roughly, constructive interpretation is a matter of imposing purpose on an object or practice in order to make of it the best possible example of the form or genre to which it is taken to belong.54

_____________ 52 Dworkin, 1986b, 69 – Zitate wie dieses geben Anlass, Dworkin (mit dem Vokabular des zweiten Kapitels) als Non-Zentralisten zu bezeichnen; siehe 2.3.5. 53 Ich leihe diesen Begriff von Austin, 1975. 54 Dworkin, 1986b, 52. Ich beziehe mich hier nur auf Dworkins Verständnis von »Interpretation« in Bezug auf Objekte, welche von intentionalen Wesen geschaffen wurden. Für dieses Interpretieren reserviert Dworkin den Begriff der »constructive interpretation«. Einige andere Varianten der Rede von »Interpretation« werden in Dworkin, 1986b, 50ff. diskutiert.

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»Imposing of purpose« ist genau das, was die Richter Gray und Earl im Elmer-Fall versuchten: Um zu ermitteln, worin das Recht in ihrer Situation bestand, mussten sie davon ausgehen, dass die Gesamtheit der vorherigen legislativen und judikativen Entscheidungen eine Praxis offenbart, die insgesamt als sinnvolle Beschäftigung erscheint. Die so beschriebene Interpretation erledigten die beiden Richter freilich auf sehr unterschiedliche Weisen. Richter Earl wies judikativen Entscheidungen ein größeres Gewicht vis-à-vis legislativen Entscheidungen als Richter Gray zu, operierte mit der Kategorie der »Intention« und maß Erwägungen der Systematizität des gesamten Rechtssystems eine wichtige Rolle bei. Doch beide Richter spielten dasselbe Spiel: Beiden ging es darum, in individuellen Daten das bestmögliche Gesamtgefüge einer bestimmten Art zu sehen. Dabei mussten die Richter natürlich mit bestimmten Vorannahmen operieren, unter anderem Vorannahmen über Genres bzw. soziale Praktiken und ihre Individuierung. Im vorliegenden Fall arbeiteten sie zum Beispiel mit der Annahme, dass legislative und judikative Entscheidungen gemeinsam eine Praxis ergeben. (Ich komme auf Vorannahmen dieser Art noch genauer zu sprechen.) In jedem Fall muss der Interpret die ihm vorliegenden intentionalen Daten aber so zusammensetzen, dass dabei ein maximaler Wert realisiert wird. Ähnliches passiert, so Dworkin, in allen anderen praktischen Interpretationen. Auch in den Kontexten der Literatur und des Theaters versuchen wir, die einzelnen Aspekte eines Romans oder eines Theaterstückes so zu sehen, dass dabei der bestmögliche Roman bzw. das bestmögliche Stück – gegeben sein Text – realisiert wird. Aus diesem Grund sehen wir in Hamlets »Sein oder Nichtsein«-Monolog keinen albernen Witz, sondern eine ernst gemeinte Reflexion der Conditio Humana: Unter der ersten Beschreibung wäre der gesamte Hamlet einfach nicht mehr das grandiose Werk, das es ist. Eine Nebenbemerkung könnte dem Verständnis der Dworkinschen These hier dienlich sein: In der praktischen Anweisung hinter der skizzierten Interpretationstheorie können wir eine Sonderform von Donald Davidsons »Principle of Charity« ausmachen, welches bereits im dritten Kapitel erwähnt wurde.55 Jenes Prinzip hält den Interpreten in der Situation radikaler Interpretation (in der der Interpret mit komplettem Nichtverstehen beginnt) an, den zunächst unverstandenen Akteuren maximal wahre Überzeugungen und maximal sinnvolle Projekte zuzuschreiben und diese zugeschriebenen Überzeugungen und Projekte dann als Datenmaterial für die Ermittlung der Bedeutungen ihrer sprachlichen Ausdrücke (bzw. der intendierten Signifikanz ihrer Handlungen überhaupt) zu verwenden. Wie _____________ 55 Siehe noch einmal 3.4, siehe auch Davidson, 2001a.

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bereits mehrfach erwähnt, lautet die Begründung des Prinzips, dass uns vor dem Hintergrund der Interdependenz von Überzeugungen und Bedeutungen (bzw. von Überzeugungen und anvisierten HandlungsSignifikanzen) kein anderer Weg zum Verstehen intentionaler Akte offen steht. Erst wenn wir ein verhältnismäßig gutes Verständnis der fraglichen Akteure besitzen, sind wir überhaupt in der Position, vom interpretativen Wohlwollen abzurücken und ihnen Fehler (also Abweichungen davon, was wir mit guten Gründen glauben und anstreben) zuzuschreiben. Jedoch bleibt selbst in dieser epistemisch verbesserten Situation das Prinzip relevant, da zu viel Fehlerhaftigkeit (also zu viel Abweichung von unseren Überzeugungen und Projekten) die gesamte Interpretation unterminiert: Ab einem bestimmten Grad der Fehlerhaftigkeit wird die Hypothese relativ plausibler, dass die zu interpretierenden Wesen doch nicht richtig verstanden wurden oder gar überhaupt keine intentional Handelnden bzw. Sprechenden waren. Der gleiche Ansatz findet sich auch bei Dworkin – mit dem Unterschied, dass bei letzterem noch die Idee des »Genres« oder der »Praxis« zwischengeschaltet ist. Die zu interpretierenden intentionalen Daten müssen als die bestmöglichen Instanzen eines angesetzten Genres, bzw. einer angesetzen Praxis, interpretiert werden. Bevor ich auf diese Annahme weiter unten genauer eingehe, möchte ich hier darauf hinweisen, dass sich in ihr einer der Hauptgründe unterschiedlicher theoretischer Überzeugungen über einen intentionalen Gegenstand verbirgt. Häufig ist es zum Beispiel so, dass einzelne Aspekte eines Romans von verschiedenen Interpreten unterschiedlich bewertet werden, da einer der Interpreten das Buch für eine Komödie, der zweite es für einen Entwicklungsroman und der dritte es für eine Tragödie hält. Ähnliches ließe sich natürlich im Kontext juristischer Kontroversen sagen. Wir sind jetzt in der Position zu sehen, wie in der hier skizzierten Interpretationstheorie das Brandomsche Bekenntnis zur Interdependenz von Überzeugung und Bedeutung, bzw. von Einzelurteil und Begriffsgehalt, zum Vorschein kommt. Der Gehalt unserer Begriffe ergibt sich durch die Interpretation der in ihrem Rahmen erfolgten Einzelschritte, wobei die interpretative Offenheit durch die Annahme des Wertes beschränkt wird. Es ist diese These, die erklärt, wieso Praktiker, die sich für die gegenwärtigen Erfordernisse ihrer Praxis interessieren, nicht um einen Blick in die Vergangenheit herum kommen. Und es ist diese These, die erklärt, wieso es unmöglich ist, eine Definition eines eine praktische Regel markierenden Begriffes zu geben, ohne Stellung zu konkreten Begriffsverwendungen, also konkreten Urteilen, zu beziehen.

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5.4.3 Kritikfähigkeit als notwendige Komponente der Interpretation Oft ist dieser Blick in die Vergangenheit bereits in die Praxis eingebaut. Wir sprechen dann, mit Dworkin, von interpretativen Praktiken. Dies ist besonders gut am Beispiel der (präzedenzrechtlichen) Rechtsprechung zu sehen, in der die Richter aus ihrem Interesse an einem neuen praktischen Schritt – einem neuen Urteil – zur Interpretation der zurückliegenden Schritte schreiten. Allerdings ist die Personalunion zwischen Praktiker und Interpret noch nicht alles, was eine Praxis aus Dworkins Sicht »interpretativ« macht. Um zu zeigen, was es genau bedeutet, eine Praxis »interpretativ« zu nennen, skizziert Dworkin eine imaginäre Praxis, die »Praxis der Höflichkeit« (courtesy), in der es implizite Normen darüber gibt, welches Verhalten »höflich« und insofern gefordert, und welches »unhöflich« und insofern zu meiden ist. Was diese Praxis interpretativ macht, erklärt Dworkin mit einer bestimmten Einstellung der Praktiker, der »interpretive attitude«, die aus zwei Komponenten besteht. The first is the assumption that the practice of courtesy does not merely exist but has value, that it serves some interest or purpose or enforces some principle – in short, that it has some point – that can be stated independently of just describing the rules that make up the practice. The second is the further assumption that the requirements of courtesy – the behavior it calls for or the judgments it warrants – are not necessarily or exclusively what they have always been taken to be but are instead sensitive to its point, so that the strict rules must be understood or applied or modified or qualified or limited by that point.56

Die erste der zwei Komponenten ist die bereits diskutierte Annahme, dass das Ganze der Praxis zunächst als maximal sinnvoll zu interpretieren ist. Mit der zusätzlichen Annahme, dass menschliche Praktiker aber nicht nur wert- und sinnvolle, sondern mitunter auch schlechte und falsche Entscheidungen treffen oder für die richtigen halten, muss der Interpret nun davon ausgehen, dass eine Interpretation einer Praxis den einen oder anderen Einzelschritt zurückzuweisen bereit sein muss, wenn letzterer nach der plausibelsten Interpretation der gesamten Praxis eher als Abweichung denn als Instantiierung ihrer Regel erscheint. Zu dieser Zurückweisung muss der Interpret prinzipiell auch dann bereit sein, wenn alle anderen Praktiker mit ihm in dieser Sache uneins sind. Der Interpret muss also einen Unterschied machen zwischen der (allgemeinen) Meinung bezüglich der Richtigkeit eines Schrittes einerseits und der tatsächlichen Richtigkeit des Schrittes andererseits. Obwohl Dworkin selbst die zweite Komponente nicht eingehend erklärt, sondern sie eher phänomenologisch erschließt, können wir eine _____________ 56 Dworkin, 1986b, 47.

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befriedigende Erklärung für sie finden: Wir haben es hier mit der Konstruktion von Regeln zu tun. Regeln werden in normativen Erklärungen zitiert und sind somit etwas prinzipiell anderes als Ursachen (in deren Kontext es höchstens um Regelmäßigkeiten gehen kann). Regeln aber sind nur denkbar in Zusammenhang mit der prinzipiellen Möglichkeit von Fehlern in der Praxis ihrer Befolgung: Könnten wir nicht unterscheiden zwischen Situationen, in denen eine Person eine Regel befolgt, und Situationen, in denen es der Person nur so vorkommt, als befolgte sie die Regel, so wäre die Rede von Regeln leer. Zum Kontext der legitimen Rede über Regeln gehört somit notwendig die Möglichkeit der Zurückweisung individueller Schritte durch den Interpreten, und sei es durch uns Theoretiker.57 Dworkins zwei Bedingungen für die Zuschreibung der »interpretive attitude« können also letztlich beschrieben werden als Bedingungen der legitimen Feststellung von Regelfolgeverhalten überhaupt. Die von den Teilnehmern der interpretativen Praxis gemachte Unterscheidung zwischen der (wie weit auch immer verbreiteten) Meinung über eine Regel einerseits und dem tatsächlichen Gehalt der Regel andererseits ist bei Dworkin nun der Hauptbaustein der Antwort auf eine Frage, die uns schon bei Brandom – bzw. bei Hegel – beschäftigt hatte: Wie kann sich ein Akteur auf die Regel einer Praxis in einer Weise festlegen, die den Unterschied aufrecht erhält zwischen dem Fall, in dem der Praktiker bloß meint, seiner Praxis treu zu sein, und jenem, in dem er sich tatsächlich auf einer Linie mit seiner Praxis befindet? Der zweite wesentliche Baustein der Antwort besteht darin, dass Dworkin – genau wie Brandom und der Brandomsche Hegel – in Praktiken nicht nur konstitutiv soziale Phänomene sieht, in denen verschiedene Praktiker einander bestätigen und kritisieren, sondern dass er zusätzlich darauf besteht, dass wir Theoretiker, um überhaupt die Praxis als Praxis (und nicht bloß als Regelmäßigkeiten zeigendes Geschehen) erkennen zu können, notwendig die Teilnehmerperspektive einnehmen müssen. [The theorist’s] conclusions are […] not neutral reports about what the citizens of courtesy think but claims about courtesy competitive with theirs.58

Die Parallelen zwischen Dworkin und Brandom sind klar, schreibt doch letzterer an zentraler Stelle: »The norms implicit in the application of con_____________ 57 Natürlich können viele Menschen viele Regeln auch über lange Zeit hinweg korrekt befolgen: Worauf es ankommt, ist, dass die Frage, ob ihr Handeln dem Gehalt der Regel tatsächlich entspricht, verständlich und sinnvoll bleibt. Dieser Unterschied zwischen faktischem und eigentlich erfordertem Handeln ist nichts anderes als die Zustimmung zur prinzipiellen Möglichkeit des Fehlers. 58 Dworkin, 1986b, 64, Hervorhebung im Original.

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cepts are social and perspectival«59; »[I]nferential contents are essentially perspectival – they can in principle be specified only from a point of view«.60 In dem Maße, in dem wir Theoretiker die Teilnehmerperspektive einnehmen, sind unsere Aussagen mit normativem Vokabular unproblematisch: Als Teilnehmer stehen uns diese Urteile ebenso zu wie allen anderen Teilnehmern, denn die Verwendung normativen Vokabulars ist ein integraler Bestandteil der Praxis selbst. Ob die Zustimmung zu einer konkreten Handlung dabei die Form eines bloßen Kopfnickens seitens eines philosophisch uninteressierten Teilnehmers annimmt, oder ob sie die Form der Aussage annimmt, dass der fragliche Akteur die Regel der (sagen wir) Höflichkeit befolgt und seine Konformität somit mehr als bloßer Schein ist, ist dabei sekundär. In dem Maße, in dem wir Theoretiker nicht die Teilnehmerperspektive einnehmen, beschreiben wir übrigens nach Dworkin auch kein Regelfolgeverhalten mehr, sondern nunmehr bloße Regelmäßigkeiten, in deren Kontext bekanntlich das Vokabular der »Korrektheit« und der »Inkorrektheit«, und damit auch der »Festlegung«, unangebracht ist.61 5.4.4 Ständiger Wandel Wir haben nun mit Dworkin dieselbe Position erreicht, an der wir schon im Kontext von Brandoms Modell standen. Wenn wir es erstens mit normativen Erklärungen zu tun haben – also mit Erklärungen, die ihrem Wesen nach Regeln zitieren – und wenn wir zweitens anerkennen, dass der Gehalt dieser Regeln in ihrer praktischen Befolgung residiert, woraus die bereits mehrfach erwähnte besondere Auszeichnung neuer Befolgungsschritte folgt, dann ist der Weg nicht mehr weit zur These der ständigen Entwicklung der Praxis. Dworkin selbst sieht dies sehr klar. In einer einschlägigen Passage beschreibt er die allmähliche Ausprägung der »interpretive attitude« in der Entwicklung der Praxis der Höflichkeit von ihren unreflektierten, tabu-artigen Anfängen bis zum Zustand des ständigen Wandels. Suppose that before the interpretive attitude takes hold in both its components, everyone assumes that the point of courtesy lies in the opportunity it provides to show respect to social superiors. No question arises whether the traditional forms of respect are really those the practice requires. These just are the forms of deference, and the available options are conformity or rebellion. When the full interpretive attitude develops, however, this assumed point acquires critical power,

_____________ 59 Brandom, 1994, 212. 60 Brandom, 1994, 485; siehe auch das gesamte Kap. 8, insb. Abschnitt VI, 584ff. 61 Dieser Punkt wird eines der Zentren der Diskussion des nächsten Kapitels sein.

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and people begin to demand, under the title of courtesy, forms of deference previously unknown or to spurn or refuse forms previously honored, with no sense of rebellion, claiming that true respect is better served by what they do than by what others did. Interpretation folds back into the practice, altering its shape, and the new shape encourages further reinterpretation, so the practice changes dramatically, though each step in the progress is interpretive of what the last achieved.62

Ist die interpretative Einstellung erst einmal fest in der Praxis verankert, dann trägt die jeweils neueste Interpretation der Praxis zu ihrer ständigen Fortentwicklung bei. Die Praktiker interpretieren die eigene Praxis, sehen sie also als etwas, das zu tun sinnvoll ist, und handeln dann nach den so verstandenen Regeln – woraufhin ihr Handeln von den Mitgliedern (inklusive ihnen selbst) wiederum als Basis für die nächste Interpretation verwandt wird. Der Motor des ständigen Wandels ist dabei die ständige Konfrontation der Praxis mit neuen Fällen. An anderer Stelle präsentiert Dworkin diese Idee mit Hilfe des Bildes der »chain novel«.63 Eine »chain novel«, ein Kettenroman, ist ein Roman, der in Zusammenarbeit mehrerer Autoren entsteht. Der erste Autor schreibt ein Kapitel. Der zweite muss sein zweites Kapitel so schreiben, dass der Roman das bestmögliche Kunstwerk wird. Da dies die maximale Einheitlichkeit des Werks impliziert, muss er mit einer Interpretation des ersten Kapitels beginnen und sich an sie halten. Der dritte Autor muss nun die beiden Vorgängerkapitel so interpretieren, dass sie gemeinsam das bestmögliche Werk konstituieren und schreibt sein drittes Kapitel entsprechend. Und so weiter, und so fort. Bedauerlicherweise erlaubt sich Dworkin in seinen Ausführungen zum ständigen Wandel der Praxis ähnliche Unklarheiten, wie ich sie in Brandoms Theorie herausgestellt habe. Genau wie Brandom hin und wieder suggeriert, dass bereits durch die Neuaufnahme von Urteilen in die Sprachpraxis Zurücknahmen alter Festlegungen notwendig werden, suggeriert auch Dworkin, dass sich schon durch praktische Entscheidungen in neuen Fällen Spannungen im Gesamtgefüge der Praxis einstellen. Doch was sich bei Brandom als voreilig erwies, ist bei Dworkin nicht annehmbarer. Bei Brandom gab es eine ungenannte Bedingung, die erfüllt sein muss, damit durch die Neuaufnahme von Urteilen tatsächlich alte Urteile zurückgewiesen werden müssen: Die in ihnen geschehenden Begriffsverwendungen müssen mit alten Begriffsverwendungen manifest inkompatibel sein.64 Dies ist aber nicht etwa immer der Fall; vielmehr müssen wir damit erst ab einem bestimmten Komplexitätsniveau der gesamten Spra_____________ 62 Dworkin, 1986b, 48. 63 Siehe Dworkin, 1986a. 64 Siehe noch einmal das Säure-Beispiel oben.

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che rechnen, wenn wir nämlich durch das Auftauchen ein und desselben Begriffes in mehreren Urteilen zu Urteilen gedrängt werden, die wir nicht gleichzeitig unterstützen können. Ähnlich sollten wir es bei Dworkin sehen. Nur bestimmte neue Urteile machen die Revision alter Urteile erforderlich, und in seinem Beispiel der community of courtesy liegt es einigermaßen auf der Hand, dass es auch manche neue Beurteilungen geben kann, die sich spannungslos in die Reihe der alten Urteile einfügen. Zum Glück verdeckt dieses Problem nicht die zentrale Einsicht, dass sich bei neuen Urteilen, also sowohl bei Urteilen, die Zurücknahmen alter Urteile mit sich bringen, als auch bei solchen, die sich spannungslos einfügen in die Reihe alter Urteile, die Gestalt der Praxis der Höflichkeit verändert – und damit die Bedeutung der Begriffe der interpretativen Praxis. 5.4.5 Verhandlung als Diskussion Ich hatte oben angekündigt, dass Dworkins Modell dem von Brandom in einer Hinsicht überlegen ist, nämlich in der Hervorhebung der Rolle der theoretischen Meinungsverschiedenheit zwischen verschiedenen Interpreten und der Möglichkeit der expliziten Diskussion zwischen ihnen. Im Kontext von Brandoms Theorie habe ich nur ganz am Rande die These angerissen, dass neue Begriffsverwendungen – und ihre Ablehnungen – zum Gegenstand expliziter Diskussionen werden können, nämlich am Beispiel der Diskussion um die Verwendung des Begriffes »Lichtquelle« bei UV-Lampen.65 Dort hatte ich zwei Argumente skizziert, mit denen die Ausweitung des Begriffes der »Lichtquelle« verteidigt werden kann. Doch das Beispiel war nicht Brandoms, sondern meines. Während die explizite Diskutierbarkeit neuer Fälle bei Brandom ironischerweise eher implizit bleibt, ist es eine wesentliche Stärke von Dworkins Theorie, dass sie die Diskutierbarkeit sowohl neuer Fälle als auch stehender Interpretationsannahmen explizit einräumt und immer wieder Beispiele für sie präsentiert. Der Hinweis auf die Möglichkeit der expliziten Diskussion lässt sich bei Dworkin natürlich unter anderem damit erklären, dass der Ursprungskontext seiner Theorie der Gerichtssaal ist. Hier konfrontieren Anwälte und Richter einander mit Argumenten, sowohl um ein bestimmtes Urteil zu unterstützen, als auch, um die Argumente ihrer jeweiligen Gegner zu entkräften. Jedoch wäre es falsch, diesen Aspekt der Theorie bloß in einer vermeintlich kontingenten Besonderheit der juristischen Verhandlung begründet zu sehen – oder in ihm (wie der rechtspositivistische Semantizist es tut) gar die Folge einer Missdeutung des Geschehens im Gerichts_____________ 65 Siehe 5.4.3.

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saal zu sehen. Nicht nur zeigt sich auch in vielen anderen Praktiken, dass das Argumentieren ein allgegenwärtiger Begleiter des praktischen Handelns ist (unser Beispiel kam aus einem Kontext irgendwo zwischen der Alltagsrede und dem Wissenschaftsdiskurs); es gibt darüber hinaus noch eine allgemeine Erwägung, die in diese Richtung weist. Das entsprechende Argument lautet in etwa so: Regeln können nur als solche interpretiert werden, wenn in der Interpretation die Annahme der Sinn- bzw. Werthaftigkeit gemacht wird. Die Annahme der Werthaftigkeit der Regel bzw. ihrer Befolgung ist aber ein Verweis auf andere Regeln. Regeln sind somit konstitutiv auf andere Regeln angewiesen; wir können diese Position »Regelholismus« nennen. Der Aufweis der Korrektheit eines konkreten Regelfolgeschritts ist nun nichts anderes als eine Explikation der in der Annahme der Werthaftigkeit firmierenden Regel. Das Argumentieren, das Anbieten von Gründen, kann somit als Schnittstelle zwischen verschiedenen Regeln verstanden werden; es muss immer dann möglich sein, wenn überhaupt von einer Regel gesprochen werden kann. In dieser Hinsicht ist die Rede von bestimmtem Regelgehalt aufs engste verknüpft mit der prinzipiellen Argumentierbarkeit für und gegen konkrete Schritte.66 Bei Dworkin finden sich immer wieder Anzeichen dafür, dass ihm die wichtige Rolle der Diskutierbarkeit in der Rede von Regeln bewusst ist. In seinem Law’s Empire, und auch in vielen seiner Artikel, besteht die Form seiner Behandlung eines Themas oft in der Präsentation einer fiktiven Diskussion zweier oder mehrerer sich uneiniger Interpreten. Ein klares Beispiel sind die Richter Gray und Earl in Dworkins Behandlung der Rollen der rechtlichen Systematizität und der Intention des Gesetzgebers. In diesem Zusammenhang sollten wir nun noch einmal auf die Annahmen zu sprechen kommen, die innerhalb von Argumenten für oder gegen bestimmte neue Regelbefolgungsschritte figurieren, denn sie lassen sich als Anzeichen der Angewiesenheit von Regeln auf andere Regeln verstehen. Schauen wir uns die essenziell diskutierbare Annahme des Genres an (»to which [the individual data/steps are] taken to belong«). Oben hatte ich erwähnt, dass eine Interpretin eines intentionalen Phänomens nach Dworkins Theorie eine Annahme darüber machen muss, zu welchem Genre es zu rechnen ist. Sie muss also vor bzw. in der Interpretation bereits mit Vorannahmen über die zu interpretierenden Daten operieren. In diesem Aspekt lag der feine Unterschied zwischen Davidsons und Dwor_____________ 66 Praktiker müssen die Korrektheit ihrer individuellen Regelfolgeschritte nicht selbst explizit ausweisen können. Aber spätestens einem Theoretiker muss dieser Aufweis prinzipiell möglich sein.

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kins Interpretationstheorie.67 Ich hatte ferner darauf hingewiesen, dass die Annahme des Genres ganz wesentlich an vielen konkreten Meinungsverschiedenheiten über bestimmte Aspekte von Romanen, Theaterstücken, Gesetzen usw. beteiligt ist: Die Interpretation des Sein-oder-NichtseinMonologs hängt davon ab, welchem Genre der Hamlet zugerechnet wird. Diese Abhängigkeit ist eine wechselseitige Beziehung. Mit dem Hinweis auf das Genre können wir für eine bestimmte Interpretation eines einzelnen Werkes argumentieren; mit einem Hinweis auf eine Reihe von einzelnen Werken können wir aber auch für eine bestimmte Interpretation des Genres argumentieren. Dabei ist es nicht möglich, rein formal bzw. syntaktisch zu entscheiden, welches Argument angebrachter ist. In einem Streit zwischen zwei Fraktionen, von denen die eine für eine Neuinterpretation bestimmter einzelner Werke im Licht ihres geteilten Genres (nennen wir sie die Genre-Konservativen) und die andere für eine Neuinterpretation des Genres im Licht seiner einzelnen Werke (nennen wir sie die Einzelwerk-Konservativen) plädiert, müssten wir die Werke und das Genre möglichst en détail kennen.68 In einer Debatte zwischen den Genre-Konservativen und den Einzelwerk-Konservativen könnten erstere beispielsweise das Argument vorbringen, dass die einzelnen Werke, auf die sich ihre Gegner stützen, eher marginal sind und daher nicht genug Gewicht haben, das Genre zu definieren. Der Grund der Marginalität bestünde, sagen wir, darin, dass ihre Autoren sich selbst von den Werken distanziert hätten. Auf dieses Argument können nun die Einzelwerk-Konservativen antworten, dass eine Distanzierung durch den Autor keinesfalls für die Marginalität eines Werks spreche, und dass die Meinung des Autors überhaupt irrelevant für die Bewertung eines Werkes sei. Nun könnten die Genre-Konservativen dem letzten Punkt zustimmen, aber argumentieren, dass die Distanzierung des Autors nicht als an sich relevant, sondern als indirekter Hinweis auf _____________ 67 Davidson leugnet nicht, dass wir mit Vorannahmen an die Interpretation herangehen. Er erläutert nur nicht explizit den Fall, in dem wir ein Gesetz, ein Kunstwerk o.ä. interpretieren. Da es bei Davidson vorrangig um die Interpretation sprachlicher Äußerungen in Situationen völligen Nichtverstehens geht, muss er die Annahmen nicht diskutieren, um die es Dworkin geht. Übrigens hat die Annahme der Rolle des Genres einen philosophischen Verwandten in John Rawls’ berühmter Unterscheidung zwischen concept und conception. Viele der hier gemachten Aussagen gelten auch für diese Unterscheidung. Siehe Rawls, 2000 [1971]. 68 Ohne diese Kenntnis können wir höchstens die allgemeine Aussage treffen, dass die angemessenste Lösung eine ist, in der beide Seiten angemessen auf die jeweils andere eingehen – John Rawls hat in einem verwandten Kontext von einem »reflective equilibrium« gesprochen; siehe Rawls, 2000 [1971], 49.

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die Marginalität der Bücher verstanden werden sollte: Dieser liege darin, dass die fraglichen Bücher letztlich uneinheitliche Werke sind. Die Autoren waren als intime Kenner der Werke bloß in der besten Position, dies festzustellen. Diese Debatte kann sich beliebig lang hinziehen – mein Punkt ist einfach: interpretative Diskussionen haben die Tendenz, von ursprünglich strittigen Annahmen auf allerlei weitere Annahmen überzuspringen. Hier zeigt sich die Komplementarität verschiedener Aspekte einer Sichtweise bzw. verschiedener interpretativer Annahmen einer Interpretation. Dies ist die Interaktion verschiedener Regeln in Aktion. Diskussionen müssen selbstverständlich nicht endlos wuchern. Viele sind nach einem begrenzten Austausch von Argumenten beendet. In diesen Fällen werden bestimmte Annahmen mindestens eines der Diskutanten aufgegeben. In der obigen Debatte ist es leicht vorstellbar, dass eine der beiden Fraktionen eine wichtige Annahme, die sich erst im Laufe der Diskussion gezeigt hat, wieder aufgibt und somit ihre ursprüngliche Position zurücknimmt. Mit der These der wesentlichen Diskutierbarkeit neuer Schritte (neuer Begriffsverwendungen, neuer Urteile) können wir aber für die Rede vom »bestimmten Gehalt« einen plausiblen Ort finden: Es ist der Diskutant, der mit ihr seine Argumente für den jeweils erforderten aktuellen Schritt seiner Praxis einkleidet. Wenn also der Theoretiker der Praxis der Höflichkeit vom »bestimmten Gehalt« des zentralen Begriffes der »Höflichkeit« spricht, dann tut er das nicht nur als Teilnehmer der Praxis, sondern sogar mit der impliziten Absicht der Einwirkung auf die Praxis. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, leistet die Rede vom »bestimmten Gehalt« in Dworkins Modell.

5.5 Zentrale Lehren aus Brandoms und Dworkins Überlegungen Wir haben nun die beiden Theorien beschrieben und in einigen wesentlichen Punkten verglichen. Obwohl die Theorien unterschiedlichen Subdisziplinen der akademischen Philosophie entstammen, haben sie sich nicht nur als kompatibel erwiesen, sondern in Bezug auf ihre Hauptaussagen sogar als ganz ähnlich herausgestellt. Beide Theorien lassen sich als sprachphilosophische Theorien über den Wandel von Begriffen durch ihre Verwendung in immer neuen Situationen verstehen, reichen aber gleichzeitig in das normativitätstheoretische Fundament hinein, das die Sprachphilosophie erst voraussetzt. Interessanterweise tun sie das auf ähnliche Weise, denn beide betonen, dass der Gehalt einer Regel zwar feststeht (dass Aussagen über die von ihnen geforderten Schritte entweder wahr oder falsch sind und keine dritte Möglichkeit gestatten), erklären

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aber gleichzeitig, dass der Gehalt der Regel in den einzelnen Anwendungen bzw. in den Einzelurteilen residiert und sich somit im Verlauf der Anwendungen bzw. Einzelurteile erst etabliert. Was die Theorien interessant macht, ist in erster Linie die Kombination dieser beiden Thesen. Dabei gibt es zwischen den Theorien aber systematische Unterschiede. Diese zeigen sich unter anderem als relative Stärken und Schwächen. Brandoms Theorie ist Dworkins in der Hinsicht überlegen, dass sie feinkörniger und vor allem formaler erläutert, wie bzw. wieso sich empirische Begriffe durch ihre jeweils neue Verwendung verändern. Der Vorteil Dworkins gegenüber Brandom besteht in seiner viel klareren Ausführung, dass und wie neue Regelfolgeschritte (und damit der Gehalt der Regel selbst) zum Gegenstand expliziter Diskussion werden können. Dies bleibt bei Brandom bedauerlicherweise weitgehend implizit. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass es Brandom um die Grundzüge einer Theorie des Gehaltes von Regeln und ihrer Ausprägung in der praktischen Befolgung an sich geht und er folglich kein besonderes Interesse an ihrer Anwendung in konkreten praktischen Kontexten (etwa an rechtlichen oder ethischen) hat. Dworkin dagegen interpretiert seine eigene Tätigkeit als die theoretisch informierte Beschreibung der real existierenden Rechtsprechungspraxis und kann somit eher als Theoretiker der praktischen Vernunft gelesen werden. 5.5.1 Zentrale Thesen Brandoms und Dworkins Wir wollen im Rahmen einer Bilanz die zentralen Thesen Brandoms und Dworkins noch einmal herausarbeiten und so präzise wie möglich fassen. Erstens: Brandom und Dworkin sind sich einig darin, dass Begriffe bzw. ihre Gehalte normative, also keine kausalen, Phänomene sind und somit durch praktische Regeln bestimmt werden. Dass nur Brandom von »Regeln« spricht, Dworkin hingegen eher den Begriff der »Praxis« benutzt, sollte über diese grundlegende Einigkeit nicht hinwegtäuschen.69 Zweitens: Beide Autoren deuten den Gehalt von Regeln pragmatistisch. Das heißt, sie vertreten die Meinung, dass der Gehalt einer Regel in den praktischen Einstellungen der Befolger der Regeln besteht. Drittens: Beide Autoren erklären, dass dies unter anderem bedeutet, dass das, was wir Theoretiker den »Gehalt der Regel« nennen, in der Gesamtheit der individuellen Regelfolgeschritte liegt. Hieraus ergibt sich eine _____________ 69 Allerdings stellen die beiden Autoren keine expliziten Argumente gegen kausalistische Bedeutungstheorien auf. Offenbar teilen sie die Standardeinwände gegen letztere.

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besondere Auszeichnung der jeweils neuen Fälle in der Befolgungsgeschichte einer Regel: Sie tragen sowohl nach Brandom als auch nach Dworkin zur Instituierung des Gehaltes der Regel bei. In Bezug auf begriffliche Regeln formuliert müssen wir sagen, dass der Gehalt eines Begriffes in der Gesamtheit der Urteile besteht, in denen er vorkommt, wodurch jedes neue Urteil eine Erweiterung bzw. Veränderung jenes Gehaltes bewirkt. Viertens: Die beiden Autoren sind unmissverständlich in ihrer Insistenz, dass der so verstandene Pragmatismus in Bezug auf den Regelgehalt kompatibel ist mit der These der Einstellungstranszendenz des Regelgehalts: Der Gehalt einer Regel (eines Begriffes) transzendiert die Meinungen bezüglich des Regelgehalts (des Begriffsgehalts) seitens der durch sie gebundenen Akteure (der sie verwendenden Sprecher). In dieser Behauptung liegt die systematische Signifikanz der Brandom-Dworkin-Theorie der Historizität der Verwendung von Begriffen. Fünftens: Die Rechtfertigung dieser These besteht in einem eigenständigen und neuartigen Normativitätsverständnis. Dieses Normativitätsverständnis sieht in seinen Grundzügen wie folgt aus: Im Kontext der Verwendung normativen Vokabulars – auch seitens des Theoretikers – ist es notwendig, dass die Frage nach der Korrektheit eines konkreten Regelfolgeschritts prinzipiell möglich und verständlich sein muss. Antworten auf diese Frage sind aber nichts anderes als Bestätigungen oder Ablehnungen des fraglichen Regelfolgeschritts; sie stehen Teilnehmern der normativen Praxis offen, da letztere sich gerade durch die gegenseitige Bestätigung oder Ablehnung auszeichnet. Gleichzeitig sind Ablehnungen oder Bestätigungen konkreter Regelfolgeschritte nichts anderes als Aussagen über den Gehalt der Regel. Wenn nun die Aussagen von Theoretikern (wie uns) als Spielzüge von Teilnehmern der normativen Praxis verstanden werden, die den gleichen logischen Raum wie die entsprechenden – bestätigenden oder ablehnenden – Spielzüge anderer Teilnehmer ausfüllen, so werden philosophische Aussagen über den bestimmten Gehalt von Regeln (oder über die Möglichkeit bestimmten Gehaltes) unproblematisch. Freilich wirft diese Erklärung die Frage auf, ob der im ersten Teil dieser Arbeit vertretene Objektivismus kompatibel ist mit der Idee der essenziellen Teilnahme des Theoretikers an dem Diskurs, innerhalb dessen zwischen tatsächlichen und bloß angenommenen Regelerfordernissen unterschieden wird.70 Sechstens: Die beschriebene besondere Auszeichnung der jeweils neuen Fälle in der Befolgungsgeschichte einer praktischen Regel erklärt das Phänomen des ständigen Wandels einer Praxis und damit des ständigen _____________ 70 Das nächste Kapitel wird versuchen, diese Sorge zu zerstreuen.

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Wandels eines Begriffes. In diesem Zusammenhang wird sichtbar, dass die Rede von Regeln mit bestimmtem Gehalt für Brandom und Dworkin kompatibel ist mit dem historischen Wandel der von jenen Regeln bestimmten Praxis bzw. des jene Regeln markierenden Begriffs. Siebtens: Dabei müssen jedoch zwei Aspekte des Phänomens des ständigen Wandels der Praxis stärker voneinander unterschieden werden als Dworkin und Brandom dies tun. Zum einen fällt unter den ständigen Wandel der Praxis die ständige Erweiterung der Praxis (bzw. der Begriffsdefinition). Sie geschieht durch die jeweils neuen Schritte in der Befolgung einer Regel an sich. Zum andern fällt unter ihn die prinzipiell nie auszuschließende Notwendigkeit der Zurücknahme bzw. der nachträglichen Distanzierung von einzelnen konkreten Regelfolgeschritten. Hierzu kommt es nur bei bestimmten neuen Urteilen. Achtens: Weder bei Dworkin noch bei Brandom ist damit aber entschieden, welche vergangenen Urteile nachträglich zurückgewiesen werden müssen. Genau wie in der Frage, welcher Schritt in einem neuen Fall gefordert ist, sind auch Thesen hierzu prinzipiell gleichberechtigt mit Thesen der anderen Teilnehmer der jeweiligen Praxis. Worauf es ankommt, sind die besseren Argumente. Der Theoretiker hat dabei keine Garantie auf die besseren Argumente. Neuntens: Prinzipiell sind alle Aspekte der Befolgung einer Regel diskutierbar. Sowohl die Angemessenheit eines konkreten (jetzigen oder vergangenen) Schrittes, als auch interpretative Thesen über den Zusammenhang der bisherigen Schritte bzw. über den Gehalt der Regel, als auch interpretative Annahmen, auf die sich solche Thesen stützen: Alle diese Aspekte aus dem Umfeld der Praxis des Regelfolgens können prinzipiell zum Gegenstand expliziter Diskussionen werden. Dies gilt selbstverständlich auch im Kontext der Begriffe: Jede neue Begriffsverwendung – jedes neue Urteil – muss prinzipiell zum Gegenstand einer expliziten Diskussion werden können. 5.5.2 Normativitätstheoretische Zweifel und Überleitung in das nächste Kapitel Obgleich in den Überlegungen Brandoms und Dworkins dichte und zunächst befriedigende Theorien über normative Praktiken und ihre ständige Entwicklung ausgemacht werden können, sind sie noch nicht in alle Richtungen abgesichert. Insbesondere scheinen die Überlegungen den Einwand der fehlenden Verankerung des Systems gegenseitiger Anerkennung einzuladen. In diesem letzten Abschnitt möchte ich diesen Einwand kurz

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skizzieren, um ihn dann im folgenden Kapitel ausführlich zu diskutieren und zurückzuweisen. Der Einwand der fehlenden Verankerung basiert auf der These, dass die (bei Brandom explizite und bei Dworkin implizite) Idee der gegenseitigen Anerkennung verschiedener Sprecher (bzw. Rechtsausleger bei Dworkin) fehlgeht. Ein System gegenseitigen Auf-Einander-Reagierens kann, so der Einwand, erst dann ein System gegenseitiger Anerkennung sein, wenn sich unabhängig vom (und außerhalb des) fraglichen System(s) zeigen lässt, dass die in ihm zusammenkommenden Akteure (Organismen, Teilsysteme,…) tatsächlich Anerkennungssubjekte sind. Ohne einen entsprechenden Aufweis der Anerkennungsfähigkeit der angeblichen Anerkennungssubjekte kann die Maschinerie der gegenseitigen Anerkennung schlechterdings nicht starten. Wir können das Problem auch als Dilemma darstellen. Brandom und Dworkin bestehen darauf, dass es bei normativen Praktiken immer einen Unterschied zwischen der Meinung der Praxisteilnehmer über die Richtigkeiten und Unrichtigkeiten der Praxis einerseits und den tatsächlichen praktischen Richtigkeiten und Unrichtigkeiten andererseits geben muss. Wenn wir von diesen Richtigkeiten und Unrichtigkeiten aber nur von einer Perspektive innerhalb des Systems der gegenseitigen Anerkennung sprechen können, dann stehen wir vor einem Dilemma. Entweder wir verwenden in der Spezifizierung des Anerkennungsverhaltens der betrachteten Sprecher selbst keine normativen (anerkennenden bzw. ablehnenden) Terme. Dann können wir in ihm aber bloß ein regelmäßiges Geschehen ausmachen, in Bezug auf welches es entgegen der Behauptung Brandoms und Dworkins ebenso unangebracht wäre von Richtigkeiten und Unrichtigkeiten zu sprechen wie in Bezug etwa auf das Wetter. Oder aber, wir charakterisieren die Anerkennungs- und Ablehnungsmanöver der Praxisteilnehmer bereits selbst als angemessen und unangemessen. In diesem Fall ist es kein Wunder, wenn wir am Ende tatsächliche Richtigkeiten und Unrichtigkeiten im Verhalten der Praxisteilnehmer sehen: Das System der gegenseitigen Anerkennung generiert den Unterschied zwischen angenommenen und tatsächlichen Richtigkeiten und Unrichtigkeiten nun einfach deswegen, weil wir von Anfang an so eine Unterscheidung in das System hineingelesen haben. Dies ist ein klassischer explanatorischer Teufelskreis.71 Im nun folgenden Kapitel werde ich zeigen, dass die sich hier äußernde Sorge auf ein Missverständnis der Brandomschen bzw. Dworkinschen Theorie zurückgeht. Der Kern meines Arguments wird in dem Aufweis _____________ 71 Siehe zum Beispiel die Reihe von Artikeln, mit denen Stanley Fish die Rechtsauffassung Dworkins attackiert (Fish, 1987, 1989b,c).

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liegen, dass die Kritik eine wichtige theoretische Festlegung der pragmatistischen Normativitätstheorie übersieht oder missrepräsentiert, nämlich die These, dass wir – nicht bloß fiktive Philosophen, die über fiktive normative Praktiken theoretisieren – selber in relevanter Hinsicht Teilnehmer der Praktiken sind, in Bezug auf welche wir normatives Vokabular in Anschlag bringen.72

_____________ 72 Ich werde dabei aus Gründen der einfacheren Exposition explizit nur noch Brandom, nicht Dworkin, verteidigen. Die Verteidigung ist allerdings auf beide Autoren anwendbar – tatsächlich hat Dworkin mit seinem Artikel »Objectivity and Truth: You’d Better Believe It« (1996) einen wichtigen Baustein der Verteidigung geliefert, nämlich den Aufweis, dass die Idee einer Verankerung in die »tatsächliche« Welt letztlich inkohärent ist, wenn sich dahinter mehr verbirgt als die Wahrheitsbehauptung in Bezug auf die fraglichen Aussagen.

6. Eine pragmatistische Theorie des Regelfolgens. Eine Verteidigung der Rede von »Regeln« in Bezug auf sich entwickelnde Praktiken1 6.1 Einleitung: Die alte Frage nach der Normativität Als Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen die Frage aufwarf, wie es sein kann, dass ein bestimmtes Verhalten einer Regel entsprechen oder sie verletzen kann, obwohl jenes Verhalten gar nicht explizit bedacht wurde, als die Regel formuliert wurde – oder, noch problematischer: obwohl die Regel überhaupt nie explizit formuliert wurde –, gab er einer alten Frage einen neuen Ausdruck.2 Die alte Frage ist, wie normative Aussagen, also Zuschreibungen von Korrektheit und Inkorrektheit (Angemessenheit und Unangemessenheit), zu verstehen sind. Das Neuartige an Wittgensteins Diskussion sind zwei Aspekte einer pragmatistischen Herangehensweise. Erstens erinnert Wittgenstein stets daran, dass die Quelle unseres Interesses für Normativität mit dem Interpretieren anderer Sprecher und Akteure zu tun hat: Wie bestimmen wir, ob ein interpretierter Akteur (Sprecher) versucht etwas zu tun (sagen), dabei aber Fehler macht, anstatt vielmehr etwas anderes zu tun (sagen) als wir zunächst vermutet hatten? Zweitens sieht Wittgenstein die Frage als eine Frage nach der Rolle der Unterscheidung im Sprachspiel: Wenn wir den Unterschied zwischen einer fehlerhaften Verrichtung und einer nicht fehlerhaften, anderen Verrichtung verstehen wollen, so müssen wir fragen, was wir mit dieser Unterscheidung im praktischen Alltag anstellen, wozu sie uns dient. Mit seinen Überlegungen zum Regelfolgen sollte Wittgenstein das Fundament eines neuartigen Verständnisses von Regeln und Regelfolgen legen, nach dem es nicht von vornherein absurd ist, auch bei solchen Praktiken von Regeln zu sprechen, die nicht mittels eines expliziten Regelwerks gestiftet wurden und die sich zudem ständig weiterentwickeln. Allerdings ist Wittgenstein in seiner Diskussion des Regelfolgens philosophischer Minimalist durch und durch: Er versucht bloß, uns daran zu erinnern, wie wir normatives Vokabular (inklusive des Wortes »Regel«) _____________ 1 Eine englischsprachige, leicht abgewandelte Version dieses Kapitels erscheint in Philosophical Investigations, Vol. 35, Heft 2, 2012. 2 Vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §§ 138–242; Wittgenstein, 2003b [BGM], Teil IV.

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verwenden – nicht weniger als das, aber eben auch nicht mehr.3 Aus diesem Grund möchte ich in diesem Kapitel einen Ansatz zur Beantwortung der Normativitätsfrage diskutieren, der pragmatistisch im skizzierten Sinn ist – sich sogar explizit auf Wittgenstein beruft –, dabei aber der philosophischen Theoriebildung weniger abgeneigt ist als Wittgensteins Untersuchungen: Robert Brandoms Ansatz.4 Brandoms Schlüsselidee ist, dass ein normativer Status einer Akteurin – also ihre Festlegung auf eine Norm, so dass einige ihrer Verhaltensweisen als korrekt und andere als inkorrekt gelten – unter Rückgriff auf praktische Einstellungen der Akteurin sowie anderer auf sie reagierender Akteure erklärt werden können. Gegen diese Idee wird häufig eingewandt, dass der Rekurs auf praktische Einstellungen unweigerlich in ein Dilemma mündet. Entweder, der Begriff der praktischen Einstellung wird komplett ohne Rückgriff auf normatives Vokabular erläutert; oder es wird in seiner Erläuterung normatives Vokabular verwendet. Im ersten Fall können wir aus praktischen Einstellungen höchstens Regelmäßigkeit bzw. Regularität, nicht jedoch echte Normativität herleiten. Im zweiten Fall dagegen versinkt der Erklärungsansatz in einem Teufelskreis, da er auf das, was er erklären will, selber zurückgreift. Dies ist genau das Problem, das am Ende des vorangegangenen Kapitels skizziert wurde: Ein System gegenseitiger Anerkennung von Richtigkeiten – so lautete die Kritik an Brandom und an Dworkin – muss entweder ein bloß regelmäßiges Geschehen sein, bei dem wir genauso wenig Richtigkeiten und Unrichtigkeiten ausmachen können wie beim Wetter oder bei den Meeresströmungen; oder wir können in ihm nur deswegen Richtigkeiten und Unrichtigkeiten erkennen, weil wir diese Status selbst in das System hineinlesen. Aus dem System gegenseitiger Anerkennung, wie wir es bei Brandom und bei Dworkin finden, lässt sich jedenfalls – so die Sorge – kein stabiles Fundament für unsere alltäglichen prak_____________ 3 Siehe noch einmal Abschnitt 1.2. 4 Freilich gibt es eine ganze Reihe anderer Versuche, das Phänomen des Regelfolgens auf der Basis von Wittgensteins Bemerkungen zu erläutern. Es würde zu weit gehen, diese in der vorliegenden Arbeit alle zu diskutieren. Hier sei bemerkt, dass sich mittlerweile ein Konsens herausgebildet hat, dass sämtliche berühmteren Versuche unbefriedigend sind. Saul Kripkes »sceptical solution« (Kripke, 1982) zieht vor allem den Vorwurf auf sich, einen exegetisch und systematisch (interpretationstheoretisch) unhaltbaren Skeptizismus in Bezug auf Bedeutung zu vertreten; Crispin Wrights Ansatz dagegen (Wright, 2001a, Teil I und II) wird weithin als übermäßig revisionistisch eingestuft, und John McDowells Beschäftigung mit dem Regelfolgen (McDowell, 1981, 1984) wird von vielen Kommentatoren als uninformativ, da quietistisch, zurückgewiesen. Mir scheint, dass der hier vorgestellte Ansatz von Robert Brandom – bzw. die hier vorgeschlagene Ausarbeitung seiner Grundidee – alle genannten Vorwürfe parieren kann.

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tischen Richtigkeits- und Unrichtigkeits-Zuschreibungen sowie für die in diese Praxis eingravierte Objektivitätsannahme bauen. In diesem Kapitel werde ich argumentieren, dass das zweite Horn des skizzierten Dilemmas neutralisiert werden kann. Dazu müssen zwei Thesen eingestanden werden: Erstens wirken die praktischen Einstellungen verschiedener Akteure in konvergierenden Rückkopplungsschleifen zusammen. Zweitens dienen Aussagen über normative Status (inklusive Aussagen über die Angemessenheit, also Validität, von praktischen Einstellungen) selbst dazu, praktische Einstellungen auszustellen. Insofern sind sie selbst in den Rückkopplungsschleifen zu verorten. Dies gilt auch für normative Urteile, auf die wir Theoretiker uns festlegen – übrigens schon dann, wenn wir ein Verhalten als Regelbefolgungsverhalten charakterisieren. Mit dieser Erläuterung wird es klar, dass die Zirkularität nicht dem Erklärungsversuch anhaftet, sondern ein Strukturaspekt des Systems interagierender praktischer Einstellungen ist, an dem wir Theoretiker praktisch beteiligt sind. Kurzum: Es zeigt sich, dass wir es nicht mit einem Teufelskreis (circulus vitiosus) zu tun haben, sondern mit einer gutartigen Variante von Zirkularität (mit einem circulus virtuosus). Obwohl dieser Vorschlag den Fokus von Brandoms Ausführungen von der Erklärung eines Phänomens zu der Erläuterung der Verwendungsweise eines Vokabulars verschiebt, behält er eine Distanz zum wittgensteinianischen Minimalismus: Er erschöpft sich nicht in der Erinnerung an alltagssprachliche Begriffsverwendungen, sondern unterfüttert sie mit einer Darstellung des sozialen Mechanismus, der sich in den relevanten Begriffsverwendungen verschiedener Akteure (zu denen wir Theoretiker gehören) zeigt. Dieses Kapitel geht in vier Schritten vor. Im nächsten Abschnitt wird Brandoms Einführung des Problems der Normen nachgezeichnet und ihre Verknüpfungen mit Brandoms weiteren philosophischen Zielen skizziert. Der dritte Abschnitt führt Brandoms neuen Versuch der Lösung des Problems der Normativität ein und zeichnet ein exakteres Bild des (vermeintlich) drohenden Dilemmas. Im vierten Abschnitt wird schließlich gezeigt, wie sich das Dilemma unschädlich machen lässt. Der fünfte Abschnitt schließt mit einigen Gedanken zu den Auswirkungen der vorgestellten Theorie auf das generelle Verständnis der Brandomschen (und indirekt auch der Dworkinschen) Theorien normativer Praktiken.

6.2 Implizite Normen, aber nicht bloß Regularität Nach Robert Brandom geht ein großer Teil des aktuellen Interesses an Normativität und normativem Vokabular auf Immanuel Kant zurück. In

Implizite Normen, aber nicht bloß Regularität

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Brandoms Darstellung war Kant der erste Philosoph, der eine Theorie intentionalen Gehalts auf der Basis des Normenbegriffs errichtete. Deswegen war er – für Brandom – auch der erste Philosoph, für den die Probleme um den Normenbegriff zur echten philosophischen Gefahr wurden. Wir wollen zum Zweck der Einführung dieser Probleme Brandom folgen und uns einige Absätze lang mit Kant beschäftigen. Kants große Leistung besteht nach Brandom darin, unser Verständnis der Intentionalität (bzw. unser Verständnis entwickelter intentionaler Wesen) vom frühneuzeitlichen Mentalismus befreit zu haben. Seit Kant müssen wir uns Intentionalität nicht mehr als aus einer bestimmten Substanz bestehend vorstellen (dem »Geist«, dem »Mentalen«), sondern können sie als normatives Phänomen verstehen. Der Kern dieses neuen Ansatzes liegt in Kants revolutionärem Verständnis des Gehaltes von Urteilen und Absichten. In beiden Fällen weist Kant das traditionelle Verständnis zurück, nach dem dieser Gehalt in der mentalen Repräsentation eines Sachverhaltes, zusammen mit einer bestimmten non-kognitiven Kraft, liegt. An seine Stelle rückt die Idee, dass dieser Gehalt in der Festlegung auf konkrete (zukünftige) Handlungen besteht: Das Haben einer Überzeugung besteht in der Festlegung auf die Äußerung (bzw. Affirmierung) bestimmter Urteile; das Haben einer Intention besteht in der Festlegung auf die Ausführung bestimmter Verrichtungen. Erst durch diese Handlungsfestlegungen macht sich der Träger der Überzeugung bzw. der Intention zum Gegenstand von Zustimmung oder Ablehnung, und die Rede von intentionalem Gehalt ist nichts anderes als eine Art, auf diese Festlegungen Bezug zu nehmen.5 Sich festzulegen bedeutet nach Kant, sich ein Gesetz zu geben, sich an ein Gesetz zu binden. Dieses Gesetz regelt, welches zukünftige Verhalten im Lichte eines Urteils oder einer Absicht zu erfolgen hat. Im Hinblick auf Überzeugungen regelt es, welche weiteren Urteile gefällt bzw. affirmiert werden müssen; im Hinblick auf eine Absicht regelt es, welche Handlungen erfolgen müssen. Die Charakterisierung dieses Gesetzes als selbstgegeben bedeutet, dass einer unter dem Gesetz stehenden Akteurin nur dann _____________ 5 Diese These über Kants philosophische Hauptleistung findet sich in Brandom, 1994, 7ff.; Brandom 2001, 602ff; Brandom, 2002, 212ff. und Brandom, 2009, 32ff. (u.a.). Es ist zu beachten, dass Brandom sich für exegetische Fragen nicht besonders interessiert. Aus diesem Grund suchen wir bei ihm vergebens genaue Verweise auf Kants Werk. Die wichtigste Evidenz des normativen Charakters von Urteilen in Kants Werk findet sich in Passagen, in denen das Urteilen als die Bildung von Synthesen und damit als Aktivität verstanden wird, siehe Kant, 1990 [1781/1787], B 130ff. (aber siehe auch die nächste Fußnote). Trotz der kontroversen Natur von Brandoms Kant-Interpretation werde ich im Folgenden nur »Kant« statt »Brandoms Kant« schreiben.

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Eine pragmatistische Theorie des Regelfolgens

ein Fehler in der Befolgung des Gesetzes zugeschrieben werden kann, wenn sie selbst sich von der Fehlerhaftigkeit ihres Verhaltens rational überzeugen lässt. Wenn eine Akteurin eine Fehlerzuschreibung wiederholt zurückweist, selbst nachdem sie mögliche Verzerrungen ihrer oder unserer Daten berücksichtigt hat und wenn wir auch keine kausale, also nichtrationale, Erklärungshypothese ihres vermeintlichen Fehlers haben, dann ist es prinzipiell plausibler, dass wir die Akteurin missinterpretiert haben. Dies würde bedeuten, dass die Akteurin ein anderes Gesetz befolgt hat, und es wäre unsere Aufgabe zu ermitteln, welches Gesetz dies war – also welche Überzeugung sie hat bzw. ausgedrückt hat, oder welche Absicht sie hat bzw. mitgeteilt hat. Wir können hier sehen, wieso Kant die Gesetze, die sich in seiner Theorie hinter dem intentionalen Gehalt verbergen, mit der Autonomie assoziiert: Wir sind nur an Gesetze gebunden, die wir uns selbst gegeben haben. Ohne Zweifel ist Kants Theorie intentionalen Gehalts aus pragmatistischer Warte wegweisend. Allerdings bringt sie – wie Hegel und später Wittgenstein beklagen sollten – schwerwiegende philosophische Probleme mit sich.6 Die Probleme entstehen mit Kants Versäumnis, Genaueres darüber zu sagen, inwiefern es sich bei den relevanten Gesetzen um etwas anderes als explizite Regeln handeln kann. Eine solche Erklärung wäre notwendig, da unser Paradigma von Gesetzen den Aspekt der Schriftlichkeit und damit der Explizitheit enthält. Doch mit einem Verständnis der relevanten Gesetze als explizite Regeln drängt sich nicht nur die schwierige Frage auf, in welchem Medium die Regeln explizit repräsentiert sein sollen. Es ist zu bedenken, dass die offensichtlichsten Antworten auf diese Frage uns in einen Mentalismus drängen, den Kant eigentlich zurückweisen wollte. Schwerer noch wiegt das Problem, dass wir mit dem Verständnis von Gesetzen als expliziten Regeln in einen infiniten Regress stürzen: Da die Interpretation einer expliziten Regel selber korrekt oder inkorrekt ist, muss sie (ex hypothesi) selber durch eine höherstufige explizite Regel bestimmt sein. Dies gilt jedoch für die Interpretation der höherstufigen Regel ebenso – und so weiter und so fort.7 Nach Brandom ist das Resultat dieser Überlegung, dass wir Normen als implizit in der Handlungspraxis ver_____________ 6 Siehe Brandom, 1994, 18ff., Brandom, 2002, 217ff. und Brandom, 2009, 66ff. 7 Siehe Brandom, 1994, 18ff. und Wittgenstein, 2003d [PU], §201. In einer Fußnote (Brandom, 1994, 657 FN 31) gibt Brandom zu, dass Kant von dem Problem nicht nur weiß, sondern selber explizit davor warnt (in Kant, 1990 [1781/1787], A 132 / B 171. Was von Brandoms Vorwurf übrig bleibt, so scheint es, ist bloß die Aussage, Kant »makes very little« aus seinen eigenen Einsichten. Übrigens schreibt Brandom in neueren Schriften neben Wittgenstein auch Hegel das Verdienst zu, das Problem erkannt zu haben, siehe Brandom, 2009, Kap. 2.

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stehen müssen. In Brandoms Jargon heißt dies, dass der »Regulismus« (oder auch »Intellektualismus«) falsch sein muss. Wenn wir allerdings die Bindung an eine Norm als implizit in der Handlungspraxis inbegriffen verstehen, so stehen wir unter einem gewissen Drang, uns die Korrektheit eines bestimmten Verhaltens einfach als sein Passen in einen regelmäßigen (regulären) Geschehensverlauf vorzustellen. Geben wir diesem Drang nach, so bedroht uns eine zweite Version des Wittgensteinschen Regelfolgeproblems. Brandom nennt es das »Gerrymandering-Problem«:8 Für einen endlichen Verlauf bloßen Geschehens finden sich unendlich viele verschiedene Normen, mit denen das Geschehen in Einklang gebracht werden kann. Wir kennen dies aus unserer Erfahrung mit mathematischen Reihen: Eine endliche Reihe von Zahlen kann aus unendlich vielen Formeln generiert werden. Regelmäßigkeit (bzw. Regularität) in endlichen Verläufen – und endliche Verläufe sind alles, was wir ohne normative Klauseln in der Beschreibung bekommen können – ist daher keinen Deut erfolgreicher darin, die korrekten von den inkorrekten Verhaltensschritte zu unterscheiden. In Brandoms Jargon liegt hierin die Zurückweisung der Doktrin des »Regularismus«. Die philosophische Herausforderung besteht für Brandom darin, zu erläutern, wie wir Korrektheit und Inkorrektheit als implizit in die menschliche Praxis eingeschrieben verstehen können, ohne das Phänomen der Korrektheit und Inkorrektheit dabei zur bloßen Regelmäßigkeit zu degradieren. Die Relevanz dieser Frage besteht, um es noch einmal klar zu sagen, darin, dass wir ohne eine Antwort auf sie einen wichtigen Teil der Welt nicht richtig verstehen können: intentionale Wesen – uns. Im Hinblick auf das vorangegangene Kapitel können wir hinzufügen, dass von einer Antwort auf diese Frage die Lösung des Problems abhängt, wie eine Praxis gleichzeitig im ständigen Wandel begriffen sein und dennoch genuin normativ, also regelbestimmt, sein kann.

6.3 Normen als instituiert durch praktische Einstellungen Die Strategie, mit der Brandom diese Herausforderungen zu meistern versucht, beruht auf der Idee, dass normative Status per Rekurs auf praktische Einstellungen erklärt werden können. Schon in den ersten Kapiteln von Making It Explicit wird klar, dass Brandom mit »praktischen Einstellungen« nicht-normativ spezifizierbare Reaktionsdispositionen meint, _____________ 8 Siehe Brandom, 1994, 26ff., vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §202.

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welche das Verhalten individueller Akteure kennzeichnen.9 Diese Reaktionsdispositionen sind genau so wenig mysteriös wie die Dispositionen von Weckern, zum eingestellten Zeitpunkt zu klingeln, oder wie die von Thermometern, in unterschiedlich warmen Räumen unterschiedliche – aber bestimmte – Temperaturen anzuzeigen, oder auch wie die von Schachcomputern, auf unterschiedliche Eröffnungen mit unterschiedlichen – aber bestimmten – Gegenstrategien zu reagieren.10 Brandoms Idee ist nun, dass solche praktischen Einstellungen, wenn sie in Systemen von Gruppen von Akteuren auftreten, sodass die Einstellungen eines Akteurs reaktiv auf die Einstellungen anderer Akteure bezogen sind und umgekehrt, dazu führen oder zumindest beitragen können, dass bestimmte praktische Einstellungen angemessen (bzw. richtig) werden und andere unangemessen (bzw. falsch).11 Würde sich dieser Ansatz als erfolgreich herausstellen, so wäre dies nicht nur eine gute Nachricht für Naturalisten, da praktische Einstellungen wesentlich leichter in der naturalistisch verstandenen Welt verortet werden können als normative Status. Es wäre auch für uns als Vertreter des ständigen Wandels normativer Praxis eine gute Nachricht, da Normativität, also Richtigkeiten und Unrichtigkeiten des Verhaltens, mit dieser Strategie selbst in jenen Praktiken verortet werden kann, die sich gemäß des vorangegangenen Kapitels ständig weiterentwickeln. Brandom beginnt seine Ausführungen mit einer Skizze simpler Praktiken, in denen praktische Einstellungen und ihre Interaktion (gewisserweise in freier Wildbahn) betrachtet werden können.12 Dabei bleibt es etwas unklar, ob Brandom mit seiner Skizze der Interaktion praktischer Einstellungen über die tatsächliche Entstehung unserer normativen Praxis – etwa unserer Sprache – spekuliert. Klar hingegen ist, dass es ihm darum _____________ 9 Um in diesem Stadium der Erläuterung ohne intentionales Vokabular zu arbeiten, könnten wir auch von »welt-manipulierenden Systemen« (statt »Akteuren«) sprechen. 10 Sie können beliebig komplex sein. Brandom jedenfalls nennt keine Grenzen der Komplexität. 11 »The theory developed in this work can be thought of as … offer[ing] an answer to the question, What features must one’s interpretation of a community exhibit in order properly to be said to be an interpretation of them [sic] as engaging in practices sufficient to confer genuinely propositional content on the performances, statuses, attitudes, and expressions caught up in the practices? If the practices attributed to the community by the theorist have the right structure, then according to that interpretation, the community members’ practical attitudes institute normative statuses and confer intentional content on them; according to the interpretation, the intentional contentfulness of their states and performances is the product of their own activity, not that of the theorist interpreting that activity.« (Brandom, 1994, 61, meine Hervorhebung) 12 Brandom, 1999, 33-46.

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geht, eine Entwicklung von extrem simplen hin zu immer komplexeren praktischen Zusammenhängen aufzuzeigen. Am Anfang haben wir es mit sehr einfachen Systemen zu tun, die mittels des gegenseitigen Zufügens von Schmerz und Genuss das Verhalten ihrer jeweiligen Mitsysteme beeinflussen. In späteren Entwicklungsstadien werden die Sanktionsmanöver der Systeme zunehmend symbolisch. Es verändert sich etwa der Charakter des Bestrafens: Während zuerst einfach Schläge ausgeteilt wurden, so wird in späteren Stadien etwa durch den Entzug der Eintrittserlaubnis in den Tempel bestraft. Ab diesem Stadium sind wir geneigt, bestimmte Sanktionsmanöver als Manöver der Anerkennung anderer Manöver als angemessen oder unangemessen zu interpretieren. Schließlich skizziert Brandom, wie sich in der Praxis Muster der gegenseitigen Anerkennung von Anerkennungsmanövern herausbilden, mit denen nicht nur der Übergang zum Symbolischen komplettiert wird, sondern auch und gerade der Übergang vom bloßen Anerkennen als angemessen (bzw. unangemessen) zum angemessenen Anerkennen als angemessen (bzw. unangemessen). Für sich genommen vermögen es die Skizzen der Interaktion einfacher Sanktionsmanöver wohl kaum, eine ernsthafte Leserin von der Richtigkeit von Brandoms Grundidee zu überzeugen.13 Selbst wenn wir es Brandom gestatten, von der Anerkennung als angemessen zu sprechen, so müssten wir von ihm doch – so scheint es jedenfalls – wesentlich Genaueres darüber erfahren, wie die beschriebenen Manöver der Anerkennung als angemessen zu angemessenen Manövern der Anerkennung als angemessen werden können. Oder mit Wittgenstein gesagt: Es scheint, dass Brandom erläutern müsste, wie es dazu kommen kann, dass die von ihm beschriebenen Akteure ihre Sanktionsmanöver nicht nur für angemessen halten, sondern dass sie tatsächlich angemessen sind.14 Und wenn an dieser Stelle einfach geantwortet würde, dass dies eine Sache der Anerkennung wieder anderer Akteure ist, so müsste – so scheint es – gleich weiter gefragt werden: Und wie ist es mit der Anerkennung jener anderen Akteure? Brandom weiß um die durch seine Skizzen heraufbeschworenen Fragen, gibt sich aber wenig beeindruckt von ihnen. Sein Grund ist, wie sich im Laufe des Buches herausstellt, dass er die Spekulation um die Genese von Regelfolgeverhalten nur als einen von zwei Teilen seiner Entmystifizierungsstrategie des Regelfolgens versteht. Der zweite Teil, der an verschiedenen Stellen in Making It Explicit auftaucht, ist die Behauptung, dass normative Status wesentlich aus einer normativen Perspektive heraus zugeschrieben werden. _____________ 13 Eine besonders klare ablehnende Reaktion ist Hattiangadi, 2003. 14 Auf die Wichtigkeit dieser Unterscheidung – welche Brandom offiziell anerkennt – weist Wittgenstein, 2003d [PU], §202, hin.

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The work done by talk of deontic [normative] statuses cannot be done by talk of deontic [practical] attitudes actually adopted […] nor by regularities exhibited by such adoption […] Talk of deontic [normative] statuses can in general be traded in only for talk of proprieties governing adoption and alteration of deontic [practical] attitudes – proprieties implicit in social score keeping practices.15

Und weiter: We are always already inside the game of giving and asking for reasons. We inhabit a normative space, and it is from within those implicitly normative practices that we […] assess proprieties of the application of concepts.16

Mit seinem Eingeständnis, dass die Rede von normativen Status immer aus einer normativen Warte erfolgt, mag Brandom dem Vorwurf des »Gerrymandering« und damit der Bezichtigung des »Regulismus« entgehen. Dies war ein Unterdeterminiertheitsproblem: Egal wie komplex eine ohne normatives Vokabular gegebene Beschreibung des reaktiven Verhaltens verschiedener Systeme ist, ein so beschriebenes Verhalten wird immer mit unendlich vielen Normen – also mit unendlich vielen Zuweisungen von Korrektheit und Inkorrektheit auf individuelle Verhaltensschritte – konsistent sein. Dieser Vorteil scheint allerdings teuer erkauft zu sein, denn die Strategie handelt Brandom nichts weniger ein als den Vorwurf der Zirkularität: Wenn Brandom zugibt, dass der Theoretiker – er – die praktischen Einstellungen der betrachteten Systeme bzw. Akteure bereits von vornherein als angemessen bzw. unangemessen betrachtet und darstellt, importiert er dann nicht in seine Geschichte genau das, was er aus ihr herauszubekommen hofft (und behauptet)?17 Am Ende scheint es, dass wir diese Strategie genauso als leer ablehnen müssten wie den Satz »Dieses Bild ist ein echter Vermeer genau dann, wenn seine Bezeichnung als echter Vermeer angemessen ist.«18 Bevor wir uns im nächsten Abschnitt überlegen, wie sich Brandoms Strategie verteidigen lässt, sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass Brandom – obwohl er sich keine Illusionen über die von ihm heraufbeschworenen Sorgen macht – das Problem erst ganz am Ende von Making It Explicit explizit diskutiert. Die inferenzialistische Bedeutungstheorie, die die

_____________ 15 Brandom, 1994, 626, siehe auch xiii [Preface] und 58ff. 16 Brandom, 1994, 648. 17 Der Vorwurf wird auf besonders klare Weise erhoben in Rosen, 1997. Es sollte allerdings angemerkt werden, dass nicht alle Kommentatoren der Meinung sind, dass Brandom mit seinem Zug erfolgreich den »Gerrymandering«-Vorwurf zurückweist. Siehe dazu Hattiangadi, 2003. 18 Rosen, 1997, 167, meine Übersetzung.

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500 zentralen Seiten des Buches füllt, ist damit voller zunächst unerläuterter normativer Status.19

6.4 Der Theoretiker als Träger praktischer Einstellungen Bislang sieht es danach aus, dass wir es mit einem Dilemma zu tun haben und dass Brandom auf einem seiner Hörner festsitzt.20 Wird die Geschichte der Institutierung normativer Status durch praktische Einstellungen ohne normatives Vokabular erzählt, so stellt sich die Frage, wie aus den praktischen Einstellungen mehr als bloße Regularität abgeleitet werden kann. Selbst, wenn wir akzeptieren, dass die betrachteten Akteure einander mittels ihrer praktischen Einstellungen sanktionieren, bleibt unklar, wie wir das Gerrymandering-Problem umgehen und aus bloßer Regelmäßigkeit zu tatsächlicher Korrektheit und Inkorrektheit hinaufsteigen können. Wird dagegen in der Geschichte auf normatives Vokabular zurückgegriffen – wie es bei Brandom der Fall ist – so setzt sie sich dem Zirkularitätsvorwurf aus. Am Ende scheint es geboten, die Brandomsche Strategie, normative Status aus praktischen Einstellungen zu generieren, ganz aufzugeben. Brandom selbst denkt nicht an eine Aufgabe, und in diesem Abschnitt möchte ich seine Weigerung verteidigen. Ich möchte zeigen, dass der Rückgriff auf normatives Vokabular in der Erklärung die praktischen Einstellungen nicht ihres explanatorischen Potenzials berauben muss, und dass Brandoms eigene Erklärung in der Tat funktionieren kann. Wir wollen beginnen, indem wir Brandom selbst zu Wort kommen lassen. An unterschiedlichen Stellen in Making It Explicit suggeriert er, dass _____________ 19 An dieser Stelle sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der Vorwurf, wenn er auf Making It Explicit zutrifft, auch auf Brandoms jüngere Werke zutrifft. Auch in seinen aktuelleren Texten bleibt der Autor auf die Idee festgelegt, dass normative Status unter Rückgriff auf praktische Einstellungen erklärt werden. Die einzige relevante Neuerung besteht in Brandoms (im vorangegangenen Kapitel skizzierten) Historizismus, also im Eingeständnis der Tatsache, dass eine praktische Einstellung eines Akteurs als Reaktion auf frühere Einstellungen (anderer Akteure, vielleicht auch frühere Einstellungen des nun reagierenden Akteurs selber) interpretiert werden kann, vgl. Brandom 2002 und 2009, insb. Kap. 3. Wenn Making It Explicit mit seiner philosophischen Strategie in ein Dilemma gerät, so müssen auch Brandoms jüngere Werke in das Dilemma führen. 20 Der Dilemmavorwurf ist besonders klar in Esfeld, 2003. Einige Philosophen, die das Dilemma akzeptieren, machen Brandom darüber hinaus den Vorwurf, sich für eine der beiden problematischen Thesen zu entscheiden. Rosen, 1997 wirft Brandom den Fehler der Zirkularität vor, Hattiangadi, 2003 dagegen diagnostiziert das Problem des Regularismus.

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die Erläuterung der Entstehung normativer Status aus praktischen Einstellungen erst mit dem achten Kapitel vollständig ist. Im achten Kapitel von Making It Explicit geht es um den repräsentationalen Gehalt singulärer Terme bzw. Pronomen (und indirekt auch um den repräsentationalen Gehalt der entsprechenden mentalen Zustände). Die konkrete Frage, der sich das Kapitel widmet, lautet: Wie können sich zwei verschiedene Sprecher mit einem singulären Term auf ein und denselben Gegenstand beziehen, obwohl die beiden Sprecher nicht exakt die gleichen inferenziellen Dispositionen im Umkreis ihrer nicht-inferenziell hervorgerufenen Verwendungen des singulären Terms haben (obwohl sie der Welt mit unterschiedlichen Überzeugungen entgegentreten)? Dieses Problem ergibt sich dadurch, dass sich nach Brandoms Sprachtheorie die Identität von Gegenständen, und damit die Denotation singulärer Terme, erst aus der inferenziell strukturierten diskursiven Praxis ergibt, und nicht unabhängig von ihr – gleichsam schon bevor das Spiel der Sprache beginnt – gegeben ist.21 Brandom reagiert auf dieses Problem mit der Erklärung, dass die Divergenz in einigen inferenziellen (und nicht-inferenziellen) Festlegungen zwar ein praktisch unvermeidlicher Aspekt der menschlichen sprachlichen Situation ist, eine erfolgreiche Kommunikation mittels singulärer Terme aber keinesfalls unmöglich mache. Sein Argument ist, dass die Gleichheit repräsentationalen Gehalts eines singulären Terms per Stipulation erreicht werden kann. Tatsächlich passiert dies in der natürlichen Sprache alltäglich – nämlich mittels des sprachlichen Manövers der Anapher. Mit anaphorischen Konstruktionen wie »der Mann, von dem du gesprochen hast«, »die Handtasche (von der die Rede war)«, »jenes Auto« (usw.) können wir die Bezüge eines Gesprächspartners aufnehmen und selber verwenden, obwohl wir nicht in der Position sind, alle relevanten inferenziellen Festlegungen unseres Gesprächspartners wiederzugeben. Der Erfolg der Aufnahme eines Bezuges zur weiteren Verwendung ist dabei grammatisch garantiert: Dies ist einfach die Funktion von Anaphern. Wie sich herausstellt, hat dieser argumentative Zug Brandoms wichtige philosophische Konsequenzen. Denn mit der Verfügbarkeit eines referenziellen Platzhalters, dessen Gehalt anaphorisch fixiert wird und dann unabhängig vom jeweiligen Sprecher (innerhalb einer gegebenen Unterhaltung) konstant bleibt, kommt die Möglichkeit einer wichtigen Unterscheidung ins Sprachspiel. Die Rede ist von der Unterscheidung zwischen den Urteilen, auf die ein Sprecher sich selbst festgelegt sieht, und jenen, auf die er tatsächlich festgelegt ist, ob er sie anerkennt oder nicht. Grob gesagt _____________ 21 Auch hier zeigt sich wieder Wittgensteins Einsicht aus § 242 der Philosophischen Untersuchungen, nach der jegliche Divergenz in den Urteilen zweier Sprecher als ein gegenseitiges Verständigungsproblem interpretiert werden muss.

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sind erstere die Schlüsse, die ein Sprecher aus einem akzeptierten Satz, in dem ein anaphorischer Platzhalter steht, zu ziehen geneigt ist; während letztere diejenigen Schlüsse aus dem Satz sind, zu denen der die anaphorische Konstruktion benutzende Kommentator – zum Beispiel wir – seine Zustimmung gibt.22 Ob der Kommentator Recht hat mit seiner Zustimmung oder Nichtzustimmung ist freilich immer eine offene Frage. Wichtig ist, dass wir mittels anaphorischer Konstruktionen im Sprachspiel einen Unterschied machen können zwischen dem, was jemand über einen Gegenstand denkt und dem, was in Bezug auf den Gegenstand der Fall ist. Wie bereits oben erwähnt, ist die Möglichkeit dieser Unterscheidung ein wichtiges Kriterium genuiner normativer Status. Allerdings ist Brandoms Punkt im achten Kapitel nicht vollständig befriedigend. Ein wichtiger Mangel ist die irreführende Suggestion, dass sich die Unterscheidung zwischen dem Sich-Für-Festgelegt-Halten und dem Festgelegt-Sein nur im Kontext diskursiver Normen – ja: nur in repräsentationalen Kontexten, also im Umkreis der Verwendung singulärer Terme – treffen lässt.23 Weiterhin bleibt es (wiederum!) unklar, wie die Erläuterung echter normativer Status mit Brandoms Modell dem Vorwurf der Zirkularität entgehen soll.24 Verständlicherweise bleiben Brandoms Kommentatoren unsicher, ob sie von Brandom bekommen, »what [they]’d been gunning for«25. Inmitten all der technischen Details über die Funktionsweise singulärer Terme und anaphorischer Konstruktionen bleibt die wichtigste Frage scheinbar unbeantwortet: Birgt Making It Explicit die Ressourcen zur Zurückweisung des Zirkularitätsvorwurfs – oder nicht? Ich möchte nun zeigen, dass die Antwort für Making It Explicit positiv ausfällt: Tatsächlich lässt sich Brandoms Strategie gegen den Vorwurf verteidigen. Die Ressourcen, auf denen die Verteidigung beruht, sind allerdings in Brandoms Buch teilweise implizit. Zudem liegen sie auf einer anderen Ebene als der des repräsentationalen Gehalts singulärer Terme: Letzteres ist eine spezielle Anwendung eines viel allgemeineren Gedankens. Die Verteidigung, die ich in diesem Kapitel vorschlagen werde, basiert auf zwei Thesen, die ich zunächst bloß aufstellen will und dann im Rest des Kapitels genauer diskutieren und begründen werde. Der erste Gedanke erscheint in einigermaßen klarer Form, wenn Brandom betont, dass die _____________ 22 Eine (sehr viel) genauer ausgearbeitete Darlegung der Idee findet sich in Brandom, 1994, Kap. 8. Eine Ausweitung auf transhistorische Praktiken, wie in Fußnote 19 dieses Kapitels beschrieben, findet sich in Brandom 2002 und 2009, insb. Kap. 2). 23 Dies ist die Beschwerde von Gideon Rosen, siehe Rosen, 1997, 169. 24 Siehe Rosen, 1997, 168. 25 Siehe Rosen, 1997, 168.

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praktischen Einstellungen, aus denen sich normative Status ableiten lassen, auf verschiedene Akteure verteilt und aufeinander reaktiv bezogen sind. Die philosophische These, die wir darin am Werke sehen können, besagt, dass praktische Einstellungen in konvergierenden Rückkopplungsschleifen miteinander interagieren. Die zweite These, die aus zwei unterschiedlichen Bemerkungen Brandoms zusammengesetzt werden kann, besagt, dass mit Aussagen über normative Status selber praktische Einstellungen ausgestellt werden. Dies gilt für Philosophen, die etwa über die Angemessenheit oder die gemeinsame Selbstvalidierung bestimmter praktischer Einstellungen reden, nicht minder als für alle anderen Sprecher auch. Ein erster Teil dieser These steckt in Brandoms Erinnerung daran (in seiner Diskussion begrifflicher Normen), dass die Zuschreibung repräsentationalen Gehalts auf einen Term immer bereits im Sprachspiel erfolgt, nicht aus einer Perspektive außerhalb des Sprachspiels.26 Den zweiten Teil der These können wir Brandoms wiederholten Bemerkungen entnehmen, dass in solchen Zuschreibungen immer eine zustimmende oder ablehnende Haltung gegenüber dem sprachlichen Verhalten anderer Sprecher zum Ausdruck kommt, dass darin also bestimmte praktische Einstellungen des Zuschreibenden ausgestellt werden. Beide Teile der zweiten These treten zum ersten Mal in Brandoms Beschäftigung mit Daniel Dennett auf. Ein System als »intentionales System« zu beschreiben, bedeutet nach Dennett einfach, gegenüber dem System den »intentional stance«, also einen bestimmten Interpretationsmodus, einzunehmen.27 Zwar betont Brandom, dass die Theoretikerin – anders als es Dennett sieht – nicht bloß ein einzelnes Kandidatensystem betrachten muss (in Bezug auf welches sie ihren »stance«, ihre Haltung, einnimmt), sondern auf ganze Gruppen von aufeinander reagierenden Systemen. Aber er nimmt Dennetts Idee auf, dass die Theoretikerin mit ihrer Haltung selbst eine bestimmte Art von Einfluss auf den Gegenstand ihrer Theorie nimmt. Wenn wir die beiden Ideen – also die Idee vom Zusammenwirken praktischer Einstellungen in konvergierenden Rückkopplungsschleifen und die Idee, dass normative Aussagen praktische Einstellungen ausstellen und somit selbst in den Rückkopplungsschleifen verortet werden müssen – miteinander kombinieren, dann können wir auch sagen, dass praktische Einstellungen daran beteiligt sind, sich selbst zu validieren, sich selbst _____________ 26 Siehe zum Beispiel Brandom, 1994, 586ff. 27 »A particular thing is an intentional system only in relation to the strategies of someone who is trying to predict or explain its behavior.« (Dennett, 1979, 221) Siehe Brandom, 1994, 55ff.

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angemessen zu machen.28 Im Rest dieses Kapitels möchte ich ausbuchstabieren, wie ich diese (vielleicht noch kryptischen) Bemerkungen meine, und wieso sich mit ihnen die Zirkularität von Brandoms Strategie als circulus virtuosus – nicht als circulus vitiosus – entpuppt. In den nun folgenden Abschnitten werde ich zunächst zwei Beispielpraktiken diskutieren, anhand derer sich die beiden Thesen gut erläutern und belegen lassen, sodann einige Konsequenzen diskutieren, und schließlich auf eine Reihe von antizipierten Gegenargumenten antworten. 6.4.1 Ein erstes Beispiel: Geld und Wert Das erste Beispiel ist eine relativ einfache Praxis – die Verwendung von Papiergeld29 – und dient in erster Linie dazu, die zwei zentralen Thesen zu erläutern, mit denen der scheinbare Teufelskreis als ein circulus virtuosus ausgewiesen werden kann. Zudem wird in ihm deutlich, dass die Diskussion singulärer Terme in Brandoms Erläuterung normativer Status ein unnötiger Umweg war. Es liegt auf der Hand, dass ein Geldschein, um Wert zu tragen, nicht essbar oder anderweitig konsumierbar sein muss. Es bedarf dazu auch keiner Waffen oder Drohungen. Alles, was (sagen wir) ein Euroschein braucht, um wertvoll zu sein, ist eine verbreitete Wertschätzung des Scheins, wobei mit »Wertschätzung« die Disposition gemeint ist, den Schein gegen Güter, Dienste oder (andere) Scheine zu tauschen, welche als gleichwertig (oder höherwertig für Käufer und niedrigerwertig für Verkäufer) gelten. Die Qualifizierung »verbreitet« soll die Idee blockieren, dass meine private Wertschätzung des Euroscheins ausreicht, um ihm tatsächlichen Wert zu verleihen. Erst bei einer verbreiteten Wertschätzung kann sich tatsächlicher Wert entwickeln – schließlich kann ich mit dem Schein nur etwas _____________ 28 In mehreren seiner neueren Texte schreibt Brandom, dass verschiedene praktische Einstellungen »jointly sufficient« zur Erzeugung normativer Status sind (siehe Brandom, 2009, Kap. 3, §1; siehe auch Brandom, 1999 bzw. Brandom, 2002). Diese These schreibt Brandom zunächst Hegel zu, es ist jedoch klar, dass er sie auch selbst vertritt. Leider versäumt es Brandom in den entsprechenden Passagen, ebenfalls für die zweite These zu werben, nach der Aussagen über normative Status selber praktische Einstellungen ausdrücken. (Dies ist die zweite These, zu der wir sogleich kommen werden.) 29 Natürlich gibt es schon eine gewisse Tradition, die Geld als philosophisches Schaustück verwendet. Diese Tradition beginnt mit David Lewis – vielleicht gar mit David Hume. Allerdings hat sich diese Tradition meistens auf die Konventionalität des Geldes bezogen (siehe Lewis, 1969); in diesem Kapitel möchte ich auf andere Aspekte aufmerksam machen.

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kaufen, wenn es Verkäufer gibt, und nur etwas verkaufen, wenn es Käufer gibt. Für diese anderen Marktteilnehmer gilt natürlich das gleiche. Sobald aber die anderen Subjekte anwesend und mit den angemessenen Dispositionen ausgestattet sind, können wir von tatsächlichem Wert sprechen.30 Dies bedeutet (unter anderem), dass ich einen Fehler machen würde, wenn ich aufhörte, den Schein entsprechend wertzuschätzen – und zwar völlig unabhängig davon, ob der Fehler von anderen bemerkt oder gar bestraft31 wird.32 Sicher ist mittlerweile die hier anvisierte Idee klar geworden, dass der Wert eines Geldscheins einen normativen Status darstellt, während die Wertschätzung des Scheins seitens der Marktteilnehmer eine praktische Einstellung darstellt, und dass letztere ersteren auf unmysteriöse Weise erklärt.33 Oder etwas genauer: Es scheint, dass die praktischen Einstellungen gegenüber dem Euroschein zusammengenommen hinreichend sind, um letzterem den Status zu verleihen, wertvoll zu sein. Der Status des Wertes ist wiederum hinreichend, um es für jeden Marktteilnehmer angemessen zu machen, gegenüber dem Geldschein die Einstellung der Wertschätzung anzunehmen. Was sich hier zeigt, ist in der Tat ein Kreis, aber kein Teufelskreis, denn die Zirkularität haftet nicht unserer Erklärungs_____________ 30 An dieser Stelle sei angemerkt, dass die zeitlichen Begriffe (»sobald« etc.) im aktuellen Zusammenhang aus rein didaktischen Gründen verwendet werden. Es geht nicht um die historische Genese von Geldkreisläufen; es geht nur um die Struktur von bereits bestehenden Kreisläufen. Dies gilt auch für die Diskussion des nächsten Beispiels. 31 Sanktionen habe ich kaum zu erwarten, da meine evaluativen Fehler gut für die anderen Akteure sind. Diese Tatsache scheint mir ein wichtiges Korrektiv für die verbreitete philosophische Intuition zu sein (Brandom ist hier keine Ausnahme, siehe Brandom, 1994, 42ff.), dass das Regelfolgen immer mit Sanktionen, also mit Strafe, beginnen muss. Es scheint mir richtiger zu sein zu sagen, dass es mit der Gefahr des Verlustes beginnt. 32 Tatsächlich bedeutet der Wert des Scheins, dass es unendlich viele Korrektheiten und Inkorrektheiten in Bezug auf den Schein gibt: Ein Käufer kann immer versuchen, weniger Geld anzubieten, und ein Verkäufer kann immer versuchen, mehr Geld zu verlangen. 33 Hier könnte die Beschwerde eingelegt werden, dass es unnatürlich sei, normative Status leblosen Gegenständen zuzuschreiben; bislang haben wir damit nur Menschen (vielleicht höher entwickelte Lebewesen überhaupt) charakterisiert. Ich werde bei der Redeweise bleiben, da sie mir wie eine bescheidene Erweiterung vorkommt, und da es eine einfache Regel gibt, mit der das Beispiel so umformuliert werden kann, dass Menschen, nicht Papierstücke, die Träger normativer Status sind. (Man denke hier an eine Gemeinschaft außerordentlich ehrlicher Menschen, die kein Papiergeld mit sich herumtragen, sondern über ihr monetäres Inventar nur mental Buch führen, und die nur linguistische Transaktionen miteinander machen.)

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strategie an, sondern dem sozialen Mechanismus, den es zu erläutern gilt, und in dem das verbreitete Wertschätzen zum tatsächlichen Wert führt. Natürlich fußt das zirkuläre pragmatische System auf verschiedenen Schichten nicht-normativer Materie, und zwar in durchaus nicht-zirkulärer Weise. So setzt es Menschen voraus, die Güter produzieren und konsumieren, und die Zugang zu Märkten haben. Diese Menschen sind entwickelte Lebensformen, in deren Gehirnen komplexe Algorithmen ausgeführt werden, die das Verhalten auf dem Markt (und jenseits des Marktes) regeln. Die Gehirne bestehen aus kohlenstoffbasierter Materie sowie Wasser und zeigen komplexe chemische und elektrische Vorgänge. Und so weiter, und so fort. In einem offensichtlichen Sinn bedingt die Entstehung von Wert die Stabilität dieser Schichten geordneter Materie. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Wert sich reduzieren ließe auf diese Schichten nicht-normativer Materie (oder auf einen Teil von ihnen). Wir haben sogar gute Gründe, diese Reduktionsthese abzulehnen – nicht nur, weil der Wert eines Geldscheins von dem gesamten zirkulären System abhängt, sondern vor allem, weil die Rede von Reduktion völlig ignoriert, dass eine Aussage über den Wert eines Geldscheins selber Auswirkungen auf das zirkuläre System der praktischen Einstellungen hat.34 Hier kommen wir zur zweiten der beiden Thesen, die im Hintergrund von Making It Explicit wirken. Obwohl der Geldkreislauf ein relativ einfaches System des Zusammenwirkens der praktischen Einstellungen verschiedener Subjekte ist, lässt sich an ihm gut die Position der Theoretikerin und die praktische Signifikanz ihrer Äußerungen aufzeigen. Ihre Aussage, ein Euroschein habe (jetzt), sagen wir, genau so viel Wert wie ein Laib Brot, befindet sich auf der gleichen logischen Ebene wie die Wertschätzung anderer Marktteilnehmer und ist aus diesem Grund als der Ausdruck der eigenen Wertschätzung der Theoretikerin zu interpretieren. Diese Interpretation wird sofort plausibel, sobald wir uns des Effekts ihrer Aussage annehmen. Natürlich kann es sein, dass das Szenario der Theoretikerin imaginär ist. Aber wenn sie über einen tatsächlich existierenden Markt mit tatsächlich verwendetem Papiergeld spricht, dann wird gelten, dass wenn sie einen Geldschein als wertgleich mit einem Laib Brot erklärt, während andere Marktteilnehmer ihn für wertgleich mit zwei Laiben Brot halten, diese anderen Marktteilnehmer bei ihr Schlange stehen werden, um mit ihr zu handeln. Wenn der Markt nun klein genug ist, dann führt ihre Wertschätzung dazu, dass der Geldschein tatsächlich seinen Wert in Richtung eines Laibes Brot _____________ 34 Wittgenstein hat immer wieder betont, dass Regeln auf Regelmäßigkeit beruhen, ohne darauf reduziert werden zu können. Siehe z.B. Wittgenstein, 2003d [PU], §§207f.

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verändert35 (und wenn er groß ist, wird die Theoretikerin zu arm zum Verbleiben im Markt). Kurzum: Die Theoretikerin hätte mit ihrer Aussage über den Wert direkten Einfluss auf den Wert genommen. Die Theoretikerin hätte dabei keinen Grund, die Marktteilnehmer mit dem Hinweis abzuwimmeln, dass sie »bloß Theorie betreibe«: wenn sie rational und ihre Aussage wahrhaftig ist, so wird sie nur zu bereit sein, die Transaktionen einzugehen. Es ist auch kaum hilfreich zu sagen, dass die Theoretikerin vielleicht nichts besitzt, womit sie handeln könnte: für die hier vertretene Theorie der Institution von Wert durch Wertschätzung reicht es aus, dass sie in die Transaktionen in dem hypothetischen Fall einwilligen würde, in dem sie es könnte. Kurzum: Wenn wir akzeptieren, dass die Transaktions-Dispositionen verschiedener Marktteilnehmer miteinander interagieren und auf diese Weise Geldkreisläufe mit relativ stabilen Konvergenzpunkten bilden, in deren Rahmen bestimmte Dispositionen erst als korrekt oder inkorrekt gelten, und wenn wir uns klar machen, dass eine Korrektheits- oder Inkorrektheitsaussage, also eine Wert-Aussage, dazu dient, die TransaktionsDispositionen des sie aussprechenden Marktteilnehmers auszustellen (auch, wenn dieser Marktteilnehmer ein Theoretiker ist), wodurch die Wert-Aussage den Markt beeinflusst und zu ihrer eigenen Korrektheit beiträgt, dann gibt es einen Sinn, in dem der Wert eines Geldscheins erklärt werden kann per Rekurs auf bloße Wertschätzung. Wir beginnen in einer Welt, in der es bloß Transaktions-Dispositionen gibt – und finden uns am Ende in einer Welt wieder, die Wert enthält. 6.4.2 Ein zweites Beispiel: Sprache und Bedeutung Damit wollen wir zu dem Kontext übergehen, der wohl mehr als jeder andere für das aktuelle philosophische Interesse an Normen verantwortlich ist: Sprache und Bedeutung. Es wird sich zeigen, dass sich in diesem Kontext genau dasselbe über die Instituierung von normativen Status durch praktische Einstellungen sagen lässt, was sich auch im Kontext des Geldkreislaufes sagen ließ. Wie im Geldbeispiel gilt auch bei der Sprache, dass meine Disposition, einen bestimmten Ausdruck auf eine bestimmte Weise zu verwenden – also ihn als inferenziell, substitutionell, oder nicht-inferenziell mit bestimmten anderen Aspekten des Sprachspiels verknüpft zu behandeln – aus sich heraus kaum bewirkt, dass dieser Ausdruck tatsächliche Bedeutung erlangt. Wenn meine Disposition aber in angemessener Weise mit _____________ 35 Wessen Urteil wäre dies? Unseres!

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den relevanten Dispositionen anderer Sprecher interagiert – wenn also andere Sprecher auf meine Äußerungen auf eine bestimmte Weise reagieren, sodass das sprachliche Geschehen als eine Konversation bezeichnet werden kann – dann ist es für mich natürlich zu sagen, dass der Ausdruck eine bestimmte Bedeutung trägt, nach der wir uns zu richten haben. Ähnlich wie im Geld-Beispiel können wir also davon sprechen, dass sich sprachliche Dispositionen gemeinsam selbst validieren. Mehr noch, eine Aussage über die Bedeutung des Ausdrucks stellt selber eine sprachliche Disposition aus und trägt somit zur Bedeutung des Ausdrucks und damit zu ihrer eigenen Angemessenheit bei. Wiederum haben wir es mit einem zirkulären pragmatischen System von Einstellungen (hier: sprachlichen Dispositionen) und Status (hier: Bedeutungen) zu tun, und wiederum befindet sich der Theoretiker – befinden wir uns – in seiner Mitte. Dies wird am ehesten klar, wenn wir uns Kommunikationsprobleme ansehen. Unsere Kommunikation mittels sprachlicher Zeichen ist gewiss eine gut funktionierende Praxis. Jedoch geraten wir immer wieder durch kleinere oder größere Kommunikationsprobleme ins Stolpern: Wir sind es gewohnt, von Fußballern zu vernehmen, die Presse habe etwas »hochsterilisiert«, von Freunden gesagt zu bekommen, Delfine seien »majestätische Fische« oder Patienten zu ihren Ärzten sagen zu hören, sie hätten »Arthritis im Oberschenkel«. Um Fälle, in denen Sprecher einfach merkwürdig – in »Malapropismen«36 – reden, von Fällen zu unterscheiden, in denen Sprecher echte Fehler machen – also in denen sich in den inferenziellen und nicht-inferenziellen Dispositionen der Sprecher echte Inkonsistenzen finden – haben wir eine Reihe von Untersuchungstechniken entwickelt.37 Eine dieser Techniken ist die Rede von »Bedeutung«.38 _____________ 36 Diesen Begriff entnehme ich Davidson, 1986. 37 In diesem Kapitel ignoriere ich aus Gründen der einfachen Darstellung den dritten Fall, in dem eine zunächst als merkwürdig wahrgenommene Äußerung eines Sprechers sich als Behauptung einer bislang unbekannten Tatsache erweist. Wie ich im vorangegangenen Kapitel erklärt habe (und wie ich im nächsten Kapitel mit ethischen Beispielen noch einmal zeigen werde), entwickelt sich in diesen Fällen das Sprachspiel weiter. (Die Wurzeln dieser Auffassung finden sich, wie gesagt, in Wittgenstein, 2003f [ÜG], §§210ff.; genauere Ausarbeitungen können nachgelesen werden in Brandom, 1999; Brandom, 2008, Kap. 3 sowie Brandom, 2008, Kap. 6, §3ff.) 38 Eine andere Technik ist – wie im dritten Kapitel erläutert – die Verwendung grammatischer Sätze. Ein Beispiel eines grammatischen Satzes, welches auf das nun folgende Szenario gemünzt ist, wäre: »Es gibt (doch) einen Unterschied zwischen Wasser und Tee (oder etwa nicht?)«. Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass ich mit »grammatischen Sätzen« mehr meine als bloß die Sätze, mit denen wittgensteinianische Philosophen ihre Gesprächspartner therapieren. Ich verwende den Begriff weiterhin so, wie der späteste Wittgenstein (aus Über Gewissheit oder

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Stellen wir uns eine Situation im Restaurant vor, in der wir Wasser bestellt haben (indem wir so etwas sagten wie »Ein Wasser, bitte!«), der Kellner uns jedoch einen Tee serviert. Auf unsere Beschwerde – etwa durch die Äußerung: »Ich habe aber Wasser bestellt!« – reagiert der Kellner konsterniert und sagt »Das ist doch Wasser!«. In dieser Situation wäre es für uns eine natürliche Reaktion, eine Frage wie diese zu stellen: »Meinen sie mit ›Wasser‹ vielleicht jede Mischung, in der sich mindestens 99% H2O befindet?« Und der Kellner könnte an dieser Stelle durchaus mit etwas antworten wie: »Ja, ›Wasser‹ bedeutet ›Eine Flüssigkeit, deren größter Anteil H2O ist‹.« Nehmen wir an, dies ist tatsächlich die Antwort unseres Kellners. In diesem Fall dürften wir annehmen, dass wir es mit einem komplexen Malapropismus zu tun hätten, also mit einem Problem, welches durch reine Neu-Interpretation (bzw. Umformulierung) gelöst werden kann. Interessant ist hier die direkte Analogie mit dem Geldbeispiel. Indem wir dem Kellner etwas antworten wie: »Aber ›Wasser‹ bedeutet klares H2O« (oder auch »Aber ›Tee‹ fällt doch nicht unter ›Wasser‹!«), dann tragen wir dazu bei, dass die ausgestellte Verwendung der Begriffe die angemessene (richtige) Verwendung der Begriffe wird – nämlich, indem wir unseren Gesprächspartner dazu bringen, die Begriffe in der ausgestellten Weise zu verwenden, jedenfalls dann, wenn er es mit uns zu tun hat. Nicht nur tragen wir dazu bei, dass der Kellner uns nun Wasser bringt, wenn wir die Bestellung »Wasser« aufgeben, wir befähigen den Kellner auch, seine Gedanken in unsere Art zu sprechen zu übersetzen: Was der Kellner vormals (oder normalerweise) mit »Wasser« gemeint hat, kann er nun im Gespräch mit uns (sagen wir) als »Wasser oder Tee« ausdrücken. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn er an glückender Kommunikation interessiert ist, und wenn seine merkwürdige Kategorie in der Kommunikation mit uns jemals relevant wird. Kurzum: Mit unserer Antwort tragen wir dazu bei, dass »Wasser« tatsächlich Wasser bedeutet – genau, wie wir gesagt haben! Um zwei offensichtlichen Beschwerden zuvorzukommen, sollte ich zwei klärende Bemerkungen anfügen. Erstens habe ich im obigen Beispiel die übliche Art zu reden gegen die merkwürdige Art zu reden gewinnen _____________ den Bemerkungen über die Farben) ihn verstanden hat – nämlich als Bezeichnung eines durchaus alltäglichen (und damit nicht-philosophischen) sprachlichen Manövers zur Vergewisserung des gegenseitigen Verständnisses (und natürlich zum Beibringen der eigenen Sprache). Sätze werden oft an der Grenze von Logik und Empirie gebraucht, so daß ihr Sinn über die Grenze hin und her wechselt und sie bald als Ausdruck einer Norm, bald als Ausdruck einer Erfahrung gelten. (Denn es ist ja nicht eine psychische Begleiterscheinung […], sondern die Verwendung, die den logischen vom Erfahrungssatz unterscheidet.) (Wittgenstein, 2003a [BF], I:32)

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lassen. Damit sollte jedoch nicht suggeriert werden, dass wir nicht auch mit folgender Äußerung hätten reagieren können: »Nun, wenn Sie das mit ›Wasser‹ meinen, dann möchte ich gerne eine Flasche mit kaltem H2O ohne jegliche Zusätze bestellen.« In dem kleinen Sprachspiel zwischen uns und dem Kellner wäre das Prädikat »ist Wasser« kompatibel mit dem Prädikat »ist Tee«, was wiederum zeigen würde, dass die Bedeutungsaussage – diesmal diejenige des Kellners – daran beteiligt war, sich selbst korrekt zu machen. Zweitens gilt, dass Sprecher in kleinen Sprachspielen – sagen wir, mit nur zwei Sprechern – ihren jeweiligen Gesprächspartner viel leichter und weiter entgegenkommen können, als sie es in großen Sprachspielen mit vielen Teilnehmern tun können. In letzteren Sprachspielen können die Bedeutungsaussagen eines Sprechers viel eher scheitern in dem Sinne, dass sie von seinen Gesprächspartnern nicht validiert werden. Natürlich soll mein Vorschlag auch diese Tatsache nicht verdecken. Es lohnt sich, die zweite Bemerkung etwas genauer auszubuchstabieren, da dies eine willkommene Gelegenheit bietet, zu präzisieren, wann es sinnvoll ist – und wann nicht – von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, eine fremde sprachliche Disposition durch die Anpassung der eigenen Dispositionen korrekt zu machen. Wie gesagt ist es in den seltenen Fällen von Sprachspielen mit nur zwei Teilnehmern ohne große Probleme möglich, sich dem Gesprächspartner durch die Rekonfiguration der eigenen sprachlichen Dispositionen anzupassen. Natürlich verlangt eine solche Anpassung immer eine gewisse kognitive Anstrengung, und natürlich mag die Anpassung mit einem Verlust an sprachlicher Eleganz einhergehen. Aber unter der Annahme, dass beide beteiligten sprachlichen Dispositionen das gleiche expressive Potenzial haben, entstehen keine darüber hinaus gehenden Kosten. Die Situation ist eine andere, sobald mehr als zwei Sprecher von der Partie sind. Nun muss jeder Sprecher nicht nur mit jeweils einem anderen Sprecher, sondern mit mehreren Sprechern eine Uniformität der sprachlichen Dispositionen anstreben. In einer solchen Situation kommt die Entscheidung zugunsten einer Anpassung an einen merkwürdigen Sprecher der Entscheidung gleich, das Sprachspiel in verschiedene separate Sprachspiele auseinander brechen zu lassen. Schließlich ist es dem sich anpassenden Sprecher üblicherweise verwehrt, die anderen (nicht-merkwürdigen) Sprecher daran zu hindern, untereinander auf die gewohnte Weise weiterzusprechen. Es liegt daher auf der Hand, dass die Anpassung zusätzliche Kosten sowohl für den sich anpassenden Sprecher, als auch für alle anderen betroffenen Sprecher, bedeutet. Aus diesem Grund kann es durchaus eine bessere Entscheidung sein, die Redeweise des merkwürdigen Sprechers einfach als falsch zurückzuweisen und es dabei bewenden zu lassen.

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Die Lehre des Sprach-Beispiels ist exakt analog zur Lehre des GeldBeispiels: Wenn wir akzeptieren, dass die Korrektheit einer sprachlichen Disposition die Konsequenz ihrer Interaktion mit den sprachlichen Dispositionen anderer Sprecher ist, und wenn wir anerkennen, dass der Sinn der Bezeichnung einer sprachlichen Disposition als »korrekt« darin liegt, sich die Disposition selber zuzuschreiben, und zwar mit dem Ziel, dass andere Sprecher ihre eigenen sprachlichen Dispositionen entsprechend anpassen, dann gibt es einen Sinn, in dem die Korrektheit des sprachlichen Verhaltens eines Sprechers – und damit das Phänomen der Bedeutung – erklärt werden kann per Rekurs auf die sprachlichen Dispositionen von Sprechern. Wir beginnen in einer Welt, in der es bloß sprachliche Dispositionen gibt – und finden uns am Ende in einer Welt wieder, die Bedeutung enthält. 6.4.3 Drei Punkte zur Bedeutung Bevor wir uns einige Gegenargumente gegen den soeben entworfenen Ansatz der Erklärung von Normen anschauen, möchte ich kurz drei seiner besonders interessanten Eigenschaften hervorheben. Aus Gründen der Einfachheit platziere ich sie im Kontext der Sprache und Bedeutung; sie ließen sich jedoch auch im Kontext des Geldes und Wertes diskutieren. Erstens können wir mit diesem Ansatz die Intensionalität von intentionalen Zuschreibungen erläutern; zweitens können wir mit ihm zeigen, wieso Schlüsse von nicht-semantischen Sätzen auf semantische Sätze problematisch sind; und drittens ist der Ansatz in der Lage zu erklären, wieso wir nicht nur in Bezug auf individuelle Sprecher, sondern auch in Bezug auf ganze Sprachgemeinschaften von Fehlern, sogar von sprachlichen Fehlern, sprechen können. Fangen wir mit dem ersten Aspekt an. Ich habe bislang nur von Bedeutungssätzen der ersten Person (»Ich meine mit A B«) und von nichtpersönlichen Bedeutungssätzen (»A bedeutet B«)39 gesprochen und beide als synonym behandelt. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass Bedeutungssätze in der dritten Person irgendwie illegitim seien. Tatsächlich stellen sie eine interessante Erweiterung der bisherigen Theorie dar. Nehmen wir Sätze wie »NATO-Generäle meinen mit ›Kollateralschäden‹ getötete Zivilisten«, »Mit ›Arthritis‹ meint Tyler Arthritis oder Gicht« oder »›Schnee‹ heißt auf Englisch ›snow‹«. Die Beziehung zwischen diesen Sätzen und den nicht-persönlichen Bedeutungssätzen ist offensichtlich eng, jedoch beziehen sich diese Sätze klarerweise auf die Kontexte der _____________ 39 Natürlich steht dieser Satz grammatisch in der dritten Person. Es geht mir hier darum, ihn abzuheben von Fällen wie »X meint mit A B«.

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Sprecher, um die es in den Sätzen geht. Genau wie zuvor ist die Funktion dieser Sätze die Verhinderung bzw. die Korrektur von Kommunikationsproblemen, obgleich natürlich die Kommunikationsprobleme diesmal auf Situationen der Kommunikation mit den genannten Personen beschränkt sind (also mit Nato-Generälen, Tyler oder englischsprachigen Menschen). Genau wie zuvor kommen in diesen Sätzen praktische Einstellungen zum Vorschein und genau wie zuvor wirken diese an ihrer eigenen Validierung mit. Es sind allerdings zwei Besonderheiten zu beachten. Erstens gibt es zwei unterschiedliche praktische Einstellungen: zum einen die des Sprechers, der den jeweiligen Satz äußert, zum andern die der in dem Satz genannten Person(en). Die erstere ist explizit auf die genannten Kontexte beschränkt, die letztere nicht. Zweitens kann die Validierung der letzteren Einstellung uni-direktional sein. Der Punkt ist, dass es logisch zulässig ist, an eine Bedeutungsaussage in der dritten Person den Rat anzuhängen, die ausgestellte Redeweise nicht selber anzunehmen: »Mit ›Kollateralschaden‹ meinen NATO-Generäle getötete Zivilisten, aber wir sollten nicht auf die Idee kommen, diesen Jargon zu kopieren.« Oder auch: »Mit ›Arthritis‹ meint Tyler Arthritis oder Gicht, aber er hat eben auch nicht Medizin studiert.« In diesen Fällen kann »Validierung« nur die Interpretation der Äußerungen der genannten Sprecher seitens des Publikums bedeuten, nicht die Annahme der jeweiligen Art zu reden. Interessant ist, dass wir uns mit dieser Weise, die pragmatistische Strategie auf Kontexte der dritten Person zu erweitern, auf das Feld der alltäglichen intentionalen Rede (»was in diesem Text behauptet wird...«, »Peter meint damit...«, »Marie denkt eher an...«) mitsamt ihrem intensionalen Charakter begeben.40 Wie wir gesehen haben, können wir in diesem Feld nicht davon ausgehen, dass sich extensionsgleiche Terme immer wahrheits- und inferenzerhaltend durch einander ersetzen lassen. Das hier entwickelte Modell zeigt uns, wieso das so ist. Ich komme nun zur zweiten Eigenschaft des vorgestellten Ansatzes. Aus dem bisher Gesagten sollte klar sein, dass jeder Sprecher, der über Bedeutung redet – und dies gilt auch für Bedeutungstheoretiker – eine Partei in dem sozialen pragmatischen System ist, über dessen Produkt er redet. Es ist nicht nur so, dass ein Sprecher, der behauptet, A bedeute B, damit angibt, dass er die entsprechenden Terme auf diese Weise (inferenziell, substitutionell, nicht-inferenziell) verwendet – und damit dazu beiträgt, dass (auch andere) Sprecher, die mit A B meinen, mit ihrer Disposition richtig liegen. Es ist ebenfalls wichtig zu verstehen, dass die Kenntnis einer Bedeutung ein fundamentaleres Verständnis des kommunikativen Gelingens bedingt. Einem Sprecher kann nur dann die Kenntnis einer _____________ 40 Mehr zur Intensionalität der Intentionalität findet sich in Brandom, 2001, 588ff.

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Begriffsbedeutung zugeschrieben werden, wenn ihm ebenfalls eine mehr oder weniger enge Vertrautheit mit dem relevanten Sprachbereich und seinen Erfolgskriterien zugeschrieben werden kann. Ich möchte eine Konsequenz aus dieser Tatsache explizit machen, die ich im Geldbeispiel nur gestreift habe: Es ist alles andere als offensichtlich, dass ein (sagen wir) außerirdischer Beobachter mit perfekten Informationen über alle materiellen Vorgänge auf der Erde (über unser äußeres Verhalten sowie unsere Gehirnzustände), aber bislang ohne ein Teilnehmerverständnis unseres Sprachspiels, aus den ihm zur Verfügung stehenden Daten die Bedeutungen unserer Ausdrücke ableiten kann. Natürlich treffen wir im Alltag nicht auf solche außerirdischen Beobachter, und aus diesem Grund ist es kein Wunder, dass unsere philosophischen Intuitionen in Bezug auf sie eher unterentwickelt sind. Ferner haben wir nicht besonders viel über unseren Außerirdischen gesagt und sicher könnte es sein, dass er seine kognitiven Fähigkeiten beschränkt, sich ein menschliches Äußeres gibt und wie ein menschlicher Migrant mit uns zu leben beginnt. Irgendwann würde er einen Punkt erreichen, an dem wir ihn als einen von uns, und insofern als einen potentiellen Kenner von Bedeutungen, ansehen würden. Aber mir scheint, dass wir ihn in seinem normalen Modus in Anbetracht seiner nicht-menschlichen Konstitution kaum als einen gewöhnlichen Teilnehmer unserer alltäglichen sprachlichen Austausche ansehen würden. Und genau dies begrenzt die Plausibilität der Interpretation etwaiger Äußerungen des Außerirdischen als Bedeutungsaussagen und damit die Zuschreibung von Bedeutungswissen. Freilich bedeutet dies nicht, dass wir ihm die Fähigkeit der Voraussage entsprechender Äußerungen seitens menschlicher Sprecher absprechen müssen. Wir müssen ihm auch nicht die Fähigkeit absprechen, diese Aussagen zu zitieren. Zwar gibt es Spezialkontexte, in denen mit »eine Bedeutung kennen« bloß diese Fähigkeit gemeint ist – etwa Spielshows im Fernsehen, in denen es ausreicht, Wörterbucheinträge herunterzubeten. Für alltäglichere Kontexte gilt aber: Wenn die in diesem Kapitel gegebene Skizze der Rede von Bedeutung korrekt ist, dann ist die Kenntnis einer Bedeutung ein Status, der üblicherweise denjenigen vorbehalten bleibt, die zumindest fähig sind, an der Art von Praxis teilzunehmen, innerhalb derer die gewöhnliche Rede von Bedeutung die skizzierte praktische Rolle spielt. Interessanterweise ist dem Außerirdischen hier seine extreme epistemische Überlegenheit im Weg.41 _____________ 41 Natürlich ist es, nüchtern betrachtet, nichts Mysteriöses, wenn wir durch die Zunahme bestimmter Fähigkeiten andere Fähigkeiten verlieren: Wer etwa einen Beweis versteht, der kann an seiner Korrektheit nicht mehr zweifeln. Dies ist bloß ein kurioser Effekt der Grammatik von »können«.

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Eine dritte Eigenschaft der pragmatistischen Auffassung von Normativität ist ihre Affirmierung der logischen Möglichkeit des Fehlers ganzer Gemeinschaften von Sprechern. Wenn eine ganze imaginäre Gemeinschaft plötzlich beginnt, das Prädikat »ist Wasser« als kompatibel mit dem Prädikat »ist Tee« zu behandeln, so können wir ohne weiteres sagen, dass die gesamte Gemeinschaft nun (nach ihren eigenen Standards) Fehler macht. Immerhin können wir uns durchaus als (imaginative) Teilnehmer des fraglichen Sprachspiels vorstellen und uns damit das Teilnehmerrecht verschaffen, uns über die Bedeutungen der in jenem Sprachspiel verwendeten Wörter auszulassen. Freilich müssen hier aber zwei Punkte bedacht werden, die zwar die These etwas weniger aufregend erscheinen lassen, aber dafür die Analogie mit Papiergeld und Wert stärken. Erstens zeigt sich in unserer Äußerung, dass eben nicht jeder Teilnehmer des relevanten Sprachspiels die inkriminierte Begriffsverwendung teilt oder affirmiert. Zweitens kann immer ein weiterer Theoretiker hinzukommen, der argumentiert, dass die betreffenden Sprecher nicht etwa einen Fehler machen, sondern dass sie einen anderen Begriff benutzen und damit einer neuen Regel folgen. Eine Debatte mit diesem Theoretiker können wir aber für uns entscheiden, wenn die neue Sprechweise der imaginierten Sprecher eine Inkonsistenz involviert, auf die wir uns mit dem anderen Theoretiker (und prinzipiell auch mit den Sprechern selber) einigen könnten.42 6.4.4 Drei Sorgen und ihre Zurückweisung Ich möchte meine Vorstellung des »zirkularistischen« Ansatzes mit einer Diskussion dreier möglicher Sorgen beenden. Wiederum formuliere ich die Sorgen im Kontext von Sprache und Bedeutung, obgleich sie sich – in leicht abgewandelter Form – auch im Kontext von Geld und Wert diskutieren ließen. Die erste Sorge lautet, dass der Vorschlag die Grenze zwischen theoretischen Aussagen (über die Welt) und grammatischen Festlegungen (die nur die Bedeutungen der in ihnen vorkommenden Begriffe klären) auf illegitime Weise verwischt. Die zweite Sorge ist, dass der Vorschlag hinter die Einsichten des semantischen Externalismus zurückfällt, der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts unter Philosophen _____________ 42 Mit »Inkonsistenz« sind hier Inkonsistenzen im Gerüst der inferenziellen und nicht-inferenziellen (oder evaluativen, im Geldbeispiel) Dispositionen der fraglichen Sprecher (Marktteilnehmer) gemeint. Natürlich kann jede angebliche Inkonsistenz immer logisch weg-diskutiert werden, indem die scheinbar fehlerhaften Schritte oder Dispositionen als Instanzen komplexerer Dispositionen ausgestellt werden; aus diesem Grund ist ein vorbestehender Konsens darüber nötig, was als Inkonsistenz gilt und was nicht.

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weitgehende Anerkennung gefunden hat. Die dritte Sorge schließlich ist, dass der Vorschlag keinen Raum für den unendlichen Charakter (»infinitary nature«43) von Bedeutungen schaffen kann. Beginnen wir gleich mit der ersten Sorge. Das Gegenargument in ihrem Zentrum basiert auf der Prämisse, dass das hier gezeichnete Bild der Sprache die Grenze zwischen informativen theoretischen Festlegungen einerseits und grammatischen – also ausschließlich bedeutungsbestimmenden – Festlegungen andererseits verwischt. Es wird behauptet, dass wir entgegen dem hier gezeichneten Bild bei jeder sprachlichen Festlegung angeben können, ob es sich bei ihr um Wissen (über die Welt) oder aber um pure Bedeutungsbestimmung handelt. Mir scheint allerdings, dass der in diesem Kapitel gemachte Vorschlag nicht im Unrecht ist, wenn er diese Linie nicht einfach anerkennt. Tatsächlich ist für pragmatistische Sprachverständnisse diese Linie nicht nur unscharf, sondern die ganze Idee einer solchen Trennlinie ist irreführend. Die pragmatistische Gegenthese, die im zweiten und dritten Kapitel dieser Arbeit ausführlich erläutert wurde, besagt, dass jede Aussage, die in einem Kontext als informativ gilt (also als gehaltvoll, »von der Welt handelnd« angesehen wird), in einem anderen Kontext als rein grammatische Aussage gelten kann. Der Status einer konkreten Satzäußerung hängt weder von ihrer grammatischen Konstruktion ab, noch davon, wie der Satz ursprünglich in das propositionale Netz des Sprechers integriert wurde. Er hängt nur davon ab, welche anderen Sätze (Festlegungen) als sein Hintergrund betrachtet werden. Im Rahmen dieses Kapitels kann ich die hier zum Ausdruck kommende holistische Sprachauffassung nicht wiederholen. Es ist allerdings anzuerkennen, dass der hier vertretene Ansatz nur im Paket mit den Ausführungen des zweiten und dritten Kapitels angenommen werden kann. Die zweite Sorge lautet, dass der Vorschlag hinter die Einsichten der semantischen Externalisten – etwa Saul Kripke oder Hilary Putnam – zurückfällt.44 Der intellektuelle Kern dieser Einsichten besteht darin, dass Sprecher die Bedeutungen ihrer Terme selber nicht komplett unter Kontrolle haben, sodass Raum dafür bleibt, dass sie a posteriori herausfinden, was sie genau meinen – insbesondere, worauf sich ihre Terme genau beziehen. Ein klares Beispiel dafür ist das Wort »Gold«, wie es von Archimedes – also vor langer Zeit – verwendet wurde. Semantische Externalis_____________ 43 Siehe Boghossian, 1989, 509. 44 Im Folgenden vorgestellte Lesart der externalistischen Einsicht ist inspiriert von Ebbs, 1997, der die Geschichte der »kausalen Bestimmung der Referenz« minimiert und stattdessen die Geschichte der »sprachlichen Arbeitsteilung« maximiert. Ebbs’ Lesart basiert somit eher auf Putnam, 1975a und (noch eher) auf Burge, 1979 als auf Kripke, 1972.

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ten behaupten, dass die Bedeutung seines (Archimedes’) Wortes »Gold« genau die gleiche ist wie die Bedeutung unseres Wortes »Gold«, obwohl Archimedes nicht annähernd so viel materialkundliches bzw. chemisches Wissen besaß wie wir. Hier liegt die Idee auf der Hand, dass diese sprachliche Intuition am besten erklärt wird durch die semantische Potenz der essenziellen Struktur des Metalls Gold. Diese Idee allerdings, so die aktuelle Sorge, findet keinen Platz in unserem Vorschlag des Verständnisses von Normativität. Die Formulierung der Sorge scheint mir allerdings die zentrale Einsicht der Externalisten auf extrem irreführende Art darzustellen. Tatsächlich ist der These zuzustimmen, dass Archimedes’ Wort »Gold« die gleiche Bedeutung (Extension) hat wie unser Wort »Gold«. Aus pragmatistischer Warte deutet diese These aber nicht auf die semantische Potenz des Metalls Gold hin, sondern auf einen viel weniger mysteriösen Aspekt unseres Sprachspiels,45 nämlich darauf, dass wir im normalen propositionalen Sprachspiel die Bedeutungen unserer Terme mitunter als durch bestimmte intellektuelle Autoritäten bestimmt auffassen. Wenn eine Alltagssprecherin das Wort »Gold« benutzt, so akzeptiert sie implizit, dass die Frage, welche partikularen Gegenstände genau unter ihren Begriff fallen, in letzter Instanz von Experten der Metallurgie zu beantworten ist. Dies können heute lebende, es können aber durchaus auch zukünftige Experten sein. Zwar kann eine solche Expertin der Metallurgie nur dann wissen, für welchen Begriff sie die genaue Extension bestimmen soll, wenn wir implizit von einer ursprünglichen Begegnung mit einem natural kind und von einer Kette ko-referierender Ausdrücke ausgehen, die sich von Archimedes bis zu uns durch die Jahrhunderte zieht. Hier haben wir es jedoch kaum mit einem philosophischen Problem zu tun. Die Identität des natural kind ergibt sich einfach aus der Taxonomie der Expertin, auf die wir implizit verweisen, und die Kette der koreferierenden Ausdrücke ist ein unproblematischer Aspekt der Grammatik unserer natürlichen Sprache. Wir nehmen mittels pronominaler bzw. anaphorischer Konstruktionen ständig die Referenzen anderer Sprecher auf, um sie in unseren Äußerungen weiterzuverwenden.46 Wenn wir die Einsicht der Externalisten auf diese Weise ausdrücken, dann gibt es nicht länger einen Grund anzunehmen, dass unser Vorschlag des Verständnisses der Normativität hinter den semantischen Externalismus zurückfällt. Im Gegenteil: Eine Theorie, die in ihrem Zentrum von sprachlichen Dispositionen ausgeht, welche sich gemeinsam selbst_____________ 45 Im Wort »unseres« ist hier wohl Archimedes mit eingeschlossen. Dies ist aber für die These nicht notwendig. 46 Siehe hierzu Brandom, 1994, Kap. 7.

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validieren, ist besonders gut geeignet, den semantischen Externalismus wiederzugeben und zu erläutern. Schließlich gibt es die dritte Sorge, nach der der hier gemachte Vorschlag einen der wichtigsten Aspekte – vielleicht den wichtigsten Aspekt – des Wittgensteinschen Regelfolgeproblems einfach unberücksichtigt lässt, nämlich den unendlichen Charakter von Regeln. In Wittgensteins ursprünglicher Präsentation des Regelfolgeproblems geht es um einen Lehrer, der seinem Schüler eine mathematische Reihe beizubringen versucht, die er mit den Elementen »2, 4, 6, 8…« beginnt. Der Schüler führt die Reihe zunächst auf eine Weise fort, die wir intuitiv als korrekt bezeichnen würden (»10, 12, 14…«), doch als er zur Zahl 1000 kommt, weicht er ab und schreibt »1000, 1004, 1008…« und provoziert damit die philosophische Frage, wie wir die Inkorrektheit seines Verhaltens gemessen an der Regel, wie der Lehrer sie gemeint hat, verstehen und aufzeigen können. Es könnte nun scheinen, dass der Vorschlag dieses Kapitels nichts dazu beiträgt, dieses Problem zu lösen. Im Licht des bisher Gesagten würden wir einfach sagen, dass die Reihe des Lehrers das Fragment »1000, 1004, 1008« nicht beinhaltet, sondern nur das Fragment »1000, 1002, 1004«. Indem wir dies sagen, stellen wir eine praktische Einstellung aus, deren Gehalt (wie gesehen) unter anderem darin besteht, dass wir das Fragment »1000, 1004, 1008« als nicht in der Reihe des Lehrers vorkommend ablehnen. Damit tragen wir (wie oben erklärt) dazu bei, dass es tatsächlich falsch ist bzw. wird, das Fragment »1000, 1004, 1008« der »Reihe des Lehrers« zuzurechnen. So weit, so einfach. Jedoch ist es wichtig, die unscheinbaren Wörter »unter anderem« ernst zu nehmen. Wenn wir nämlich beginnen darüber nachzudenken, welche weiteren Urteile wir in Bezug auf das Verhalten des Schülers zu machen disponiert sind, stoßen wir bald auf die Tatsache, dass unsere Disposition eine ebenso unendliche Ausdehnung hat wie die mathematische Reihe des Lehrers.47 War dies nicht das ganze Problem? Die Antwort ist nein. Das Problem war nicht zu erklären, wie wir unendliche Dispositionen haben können; das Problem war zu erklären, wie konkrete Handlungen korrekt oder inkorrekt sein können. Unendliche Dispositionen, die auch in der Welt der Uhren, Thermometer und Computer vorkommen sind nicht problematischer als unsere Fähigkeit zu zählen und immer weiter zu zählen – zumindest, wenn wir eingestehen, dass eine Disposition »unendlich« genannt werden kann, selbst wenn der sie manifestierende Apparat eine begrenzte Lebensdauer hat und nicht völlig fehlerfrei ist, ähnlich wie wir. Die Frage, auf die uns Wittgenstein aufmerk_____________ 47 Tatsächlich haben alle bisher diskutierten Beispiele die Eigenschaft der Unendlichkeit; an mathematischen Reihen ist sie nur besonders leicht zu sehen.

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sam macht, wie es nämlich sein kann, dass Leute mitunter falsch zählen – oder genauer: wie wir über Leute sagen können, dass sie versuchen zu zählen, dabei aber Fehler machen – ist mit dem bisher Gesagten vollständig geklärt. Wenn wir korrekt zählen, machen wir zum Beispiel nicht den Schritt von 28763542 zu 28763544. Woher ich das weiß? Nun, unter anderem dadurch, dass ich (wie jeder Computer) die Fähigkeit besitze, immer wieder 1 zu addieren und zu prüfen, ob ich dabei irgendwann einen bestimmten Schritt gemacht habe. (Als homo sapiens bin ich übrigens auch recht gut in der Erkennung von Mustern.48) Wie auch immer mir dies gelingt – aufgrund dieser Fähigkeit weise ich den beschriebenen Schritt als inkorrekt zurück. Wenn nun die Strategie dieses Kapitels nicht auf dem Holzweg ist, dann trage ich mit dieser praktischen Einstellung zur tatsächlichen Inkorrektheit des Schrittes von 28763542 zu 28763544 (gegeben die gängige Bedeutung des Begriffes »Zählen«) bei.49

6.5 Abschließende Bemerkungen 6.5.1 Die normative Rede als Kalibrationspraxis Es sieht somit ganz danach aus, dass wir Brandoms Strategie der Erklärung normativer Status unter Rückgriff auf praktische Einstellungen tatsächlich retten können, wenn wir akzeptieren, dass verschiedene praktische Einstellungen sich gemeinsam selber validieren können, und wenn wir akzeptieren, dass die Rede über normative Status selber praktische _____________ 48 Es ist zu beachten, dass die menschliche Fähigkeit der Mustererkennung viel zu komplex für eine technische Reproduktion ist. Während wir Computern vielleicht noch die Erkennung von Zahlenreihen beibringen können, geraten unsere besten Software-Ingenieure bereits bei der technischen Implementierung der Erkennung von Gesichtsausdrücken ins Stocken. Die immense Komplexität unserer Mustererkennungskapazitäten, die Grenzen unserer Fähigkeit, ihre Algorithmen zu explizieren, und die konsequente praktische Unmöglichkeit zu überprüfen, ob die Mustererkennungs-Dispositionen zweier Sprecher zuverlässig harmonieren, hat einige Philosophen zum Ausdruck von Sorge bezüglich der Prekarität des gegenseitigen Verstehens gebracht, siehe z.B. Cavell, 1969, 52; vgl. McDowell, 1979, 50. 49 Wenn an dieser Stelle die Frage gestellt wird, wieso Menschen eher zählen als, sagen wir, xählen (letzteres ist wie Zählen, außer dass beim Xählen der Schritt von 28763542 zu 28763544 erlaubt ist), dann müssen – und können – wir eine Geschichte über Praktiken und ihre natürliche Auswahl erzählen; siehe Dennett, 2010, insb. 55ff.

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Einstellungen ausstellt, die dann im System der gemeinsamen SelbstValidierung mitwirken. Mit dieser Verteidigung der Brandomschen Strategie gegen den Vorwurf der Zirkularität verschieben wir allerdings den Fokus von Brandoms Überlegungen zur Normativität. Wir wollen uns diese Verschiebung kurz vor Augen führen. Zunächst hatten wir die unschuldige Frage gestellt, wie wir uns und andere an Normen binden können. Das Problem, auf das uns dabei (unter anderem) Ludwig Wittgenstein gestoßen hatte, lautete, dass die gängigen Antworten entweder in einem infiniten Regress enden oder aber nicht weiter reichen als bis zu bloßer Regelmäßigkeit (Regularität). Ursprünglich versuchten wir, eine Antwort in der Form einer Erklärung zu geben, die (als Explanans) Fakten über praktische Einstellungen aufführt. Als uns jedoch auffiel, dass ein Sprecher mit Aussagen über Festlegungen auf Normen selber praktische Einstellungen ausstellt, sahen wir, dass die ursprüngliche Frage eine irreführende war. Die philosophischen Zweifel hinter ihr stellten sich als Zweifel heraus, die am besten beiseitegelegt werden können, indem die Frage neu gestellt wird als Frage danach, was wir – individuell und kollektiv – mit einem bestimmten Vokabular praktisch anstellen. An diesem Punkt hat unsere Strategie ihr Wesen geändert, von einem Versuch der Erklärung eines Phänomens hin zu dem Versuch der Erläuterung eines bestimmten Bereichs unserer Alltagssprache und des in ihm charakteristischerweise verwendeten Vokabulars. An dieser Stelle könnte es nun scheinen, dass wir uns einem philosophischen Quietismus hingeben, denn auch quietistische Philosophen tun nichts weiter, als daran zu erinnern, wie wir bestimmte sprachliche Ausdrücke normalerweise verwenden. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen dem Quietismus und unserer Strategie der Erläuterung normativen Vokabulars. Ersterem fehlt nämlich die detaillierte Erläuterung des zirkulären Systems, welches aus unseren individuellen Verwendungen normativen Vokabulars zusammengesetzt ist. Vertreter unserer Strategie leisten mehr als die bloße Erinnerung ihrer Zuhörer an ihre eigene Sprachverwendung. Während Quietisten meinen, dass es keine sinnvolle generelle Antwort auf die Frage gäbe, »was wir mit einem bestimmten Vokabular anstellen,« können wir auf der Basis unseres Vorschlags eine funktionale Charakterisierung normativen Vokabulars anbieten: Da die Angemessenheit einer bestimmten praktischen Einstellung ein Effekt ihrer Interaktion mit anderen praktischen Einstellungen ist, und da die Affirmierung einer bestimmten praktischen Einstellung immer dazu dient, sich die praktische Einstellung öffentlich selber zuzuschreiben, wodurch das System der Interaktion praktischer Einstellungen beeinflusst wird, können wir die normative Rede als eine Kalibrations-Praxis charakterisieren. Wir benutzen normative Ausdrü-

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cke, um die praktischen Einstellungen anderer Akteure mit den unsrigen in Einklang zu bringen, sodass wir sie dazu verwenden können, die Welt der Dinge, mit denen wir handeln (im Falle der Rede von Wert) bzw. über die wir reden (im Falle der Rede von Bedeutung) auf sinnvolle Weise zu konfrontieren. In praktischer Hinsicht ist uns die kalibrierende Natur normativen Vokabulars übrigens schon immer vertraut gewesen, denn dies ist klar: Je weniger wir mit anderen Menschen im Einklang sind, desto mehr brauchen wir das normative Vokabular, und je mehr wir mit ihnen im Einklang sind, desto weniger brauchen wir es. In diesem Zusammenhang mag es hilfreich sein, kurz darauf einzugehen, wie der Vorschlag dieses Kapitels zu Brandoms jüngerer Arbeit Between Saying and Doing (2008) steht, mit der es die Idee teilt, dass philosophische Probleme – besonders die Normativität, die Modalität und die Indexikalität betreffende – am besten als Fragen über die Verwendung bestimmter Vokabulare aufgefasst und beigelegt werden müssen. Die Hauptthese von Between Saying and Doing in Bezug auf normatives Vokabular besagt, dass normatives Vokabular als eine bestimmte Art von Metavokabular aufgefasst werden kann. Nach Brandom lässt sich die Fähigkeit seiner Verwendung algorithmisch aus der Fähigkeit des Sprechens schlechthin ableiten und dient es dazu, implizite Festlegungen im Sprechen explizit zu machen, welche ohne es implizit bleiben würden.50 Mir scheint, dass Brandoms Idee in Between Saying and Doing als komplementär zu den Ideen dieses Kapitels gelesen werden kann. Konkret kann Between Saying and Doing als der Versuch gelesen werden, genau zu spezifizieren, wodurch das normative Vokabular zu einem geeigneten Mittel der Kalibrierung sprachlicher Dispositionen wird. Die Antwort besteht in dem Hinweis auf genau die beiden Aspekte des normativen Vokabulars, auf die Brandom aufmerksam macht: Erstens ist die Fähigkeit seiner Verwendung algorithmisch elaboriert aus der generellen Sprachfähigkeit, zweitens macht es die impliziten Festlegungen der Teilnehmer am Spiel der Sprache explizit. Brandoms neueste Überlegungen geben unserer Verteidigung der pragmatistischen Strategie der Erläuterung von Normativität somit zusätzliche Stabilität. In Bezug auf Brandoms Ziel der Erläuterung der Intentionalität können wir nun eine Lösung in seinem Sinne wie folgt formulieren: Zu sagen, dass ein Wesen intentional ist, heißt, es als potentiellen oder tatsächlichen Teilnehmer einer oder mehrerer der Praktiken zu beschreiben, in welchen sich einzelne Teilnehmerdispositionen auf die beschriebene Weise kalibrieren lassen. Falls wir für verschiedene Arten von Intentionalität Platz schaffen möchten, können wir das Feld anhand der _____________ 50 Siehe Brandom, 2008, Kap. 2.

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verschiedenen sich qualifizierenden Praktiken aufteilen. Und wir können einen besonderen Platz für jene Wesen reservieren, die die Sub-Praxis der Kalibrierung durch die Verwendung normativer Ausdrücke beherrschen: also für Sprecher – für uns. 6.5.2 Zur Relevanz in Bezug auf die ethische Rede In den beiden Kapiteln des zweiten Teils haben wir unseren theoretischen Fokus sukzessive ausgeweitet. Im vorangegangenen Kapitel haben wir nicht mehr nur über die ethische Rede gesprochen, sondern über die Verwendung von Sprache überhaupt. In diesem Kapitel nun haben wir nicht mehr nur über die Verwendung von Sprache gesprochen, sondern über normative Praxis überhaupt. Dabei haben wir aber die ethischen Bereiche der Alltagssprache nie hinter uns gelassen. Zum einen war es die Debatte über die richtige Interpretation der ethischen Rede, welche uns in die Untersuchung der Verwendung von Sprache an sich (insbesondere ihrer ständigen Weiterentwicklung) und schließlich in die Untersuchung normativer Praxis an sich (insbesondere der Natur der Festlegung auf Normen) gezwungen hat. Es gibt aber noch eine zweite Hinsicht, in der wir die ethische Rede nie hinter uns gelassen haben. Denn die nun abgeschlossene Untersuchung der Normativität – oder, mit Wittgenstein gesagt: des Regelfolgens – hat sich erwiesen als eine Untersuchung der Verwendung normativen Vokabulars, also als eine Untersuchung dessen, was wir mit normativem Vokabular anstellen und wie es funktioniert. Wie wir gesehen haben, war dies eine Konsequenz der Feststellung, dass normative Aussagen selber praktische Einstellungen ausdrücken. Ganz offensichtlich befinden wir uns nach wie vor im Zentrum der ethischen Rede. Dabei ist es nicht so sehr der Fall, dass die ethische Rede einer von vielen Sprachbereichen ist, in denen normatives Vokabular vorkommt. Vielmehr sollten wir uns in diesem Zusammenhang an die These des zweiten Kapitels erinnern, nach der die Ethik überhaupt kein Gegenstandsbereich der Art ist, wie sie etwa von wissenschaftlichen Fachdisziplinen erforscht werden. Die These des zweiten Kapitels war, dass wir mit ethischen Äußerungen vielmehr die inferenziellen und nicht-inferenziellen – praktischen – Beziehungen explizieren, die gemeinsam den Horizont der Intelligibilität jeglichen Handelns und damit auch jeglichen Sprechens darstellen. Zwar werden manchmal konventionelle Einteilungen zwischen »ethischen« und anderen Gründen (vielleicht Erwägungen der Gesundheit oder der Machbarkeit) vorgenommen. Doch diese Unterscheidungen sind im-

Abschließende Bemerkungen

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mer zu einem gewissen Grad ad hoc und lenken von der Tatsache ab, dass es für jede begründende Erwägung ein Szenario gibt, in dem es insgesamt richtig ist, sein Handeln an ihr auszurichten. Und dass es gleichzeitig keine Erwägungen gibt, die eine Garantie in sich tragen, nie durch andere relevante Erwägungen aufgehoben zu werden. Ebenso irreführend wäre es allerdings, mit der Rede von »ethischen Gründen« einfach die in der jeweiligen Situation korrekten Gesamturteile zu markieren. Nun würde der Status einer Erwägung als »ethisch« oder »nicht-ethisch« hin- und herwechseln, je nachdem, welche weiteren Erwägungen in ihrem Umkreis ins Blickfeld kommen. Außerdem würde diese Redeweise verdecken, dass sich ethische Gesamturteile nicht ausstechen lassen wie Aufforderungen, die an bloß beitragenden begründenden Erwägungen hängen. Unser Sprachspiel ist komplex, und wir – seine Spieler – sind fehlbar. Aus diesen Gründen bedarf es oft guter Argumente darüber, wo der Weg zum richtigen Handeln liegt, und Ermahnungen daran, diesen Weg nicht zu verlassen. Für diese Dinge brauchen wir normatives Vokabular, und im vorliegenden Kapitel haben wir gesehen, wie es funktioniert. Um zu guter Letzt noch einmal auf die spezifischeren Sorgen des vorangegangenen Kapitels zurückzukommen, nach denen sich aus der Tatsache der ständigen und notwendigen Weiterentwicklung normativer Praxis ein Problem für die Objektivität des ethischen Diskurses ergab, können wir nun eine kurze und befriedigende Antwort geben. Mit der in diesem Kapitel vorgeschlagenen Entmystifizierung des Regelfolgens und damit der Verwendung normativen Vokabulars lässt sich die Sorge um die Rechtmäßigkeit der objektivistischen Festlegungen unserer Redepraxis als unbegründet zurückweisen. Genauso wenig, wie die ständige und unvermeidliche Veränderung von Preisen zeigt, dass Wert-Aussagen irgendwie problematisch seien oder erst mit einem Warnhinweis über die fehlende Objektivität von Preisen intellektuell redlich werden, zeigt die im letzten Kapitel diskutierte ständige und unvermeidliche Weiterentwicklung des Sprachspiels (samt seiner ethischen Bereiche), dass Soll-Aussagen irgendwie problematisch seien oder erst mit einem Warnhinweis über die fehlende Objektivität von Bedeutungen intellektuell redlich werden.

7. Zwischen Partikularismus und Generalismus. Zu einer interessanten Konsequenz der Historizität der Sprache1 7.1 Einleitung: Eine neue Kontroverse In der Moralphilosophie hat sich in letzter Zeit eine neue Kontroverse aufgetan. Auf der einen Seite befinden sich die »Generalisten«, für die unsere ethische Kompetenz in der Kenntnis ethischer Prinzipien sowie der generischen Fähigkeit ihrer Befolgung besteht. Ethische Prinzipien sind ihrem Anspruch nach völlig allgemein und doch hinreichend gehaltvoll, um in verschiedenen Situationen jeweils treffende Handlungsanweisungen zu implizieren. Auf der anderen Seite hat sich ein Lager gebildet, für das die ethische Kompetenz den Charakter eines Auskennens mit einer Vielzahl ethischer Erwägungen hat, ohne dabei auf Prinzipien angewiesen zu sein. Für dieses Lager hat sich die Bezeichnung »Partikularismus« etabliert. Auf den ersten Blick halten sich die jeweiligen Stärken und Schwächen der Theorien in etwa die Waage. Für den Generalismus spricht die wichtige Rolle der Konsistenz im ethischen Lernen, Diskutieren und Urteilen. Im Gegensatz zum Partikularismus hat der Generalismus keine Schwierigkeit, hierfür einen Platz in seiner Theorie bereitzustellen. Dafür scheitert der Generalismus regelmäßig am Versuch, plausible Beispiele der angeblich unsere einzelnen Urteile bestimmenden Prinzipien zu geben. Egal wie sorgfältig seine Prinzipienvorschläge formuliert sind: Es scheint, dass sich immer Szenarien konstruieren lassen, in denen wir ihre strikte Befolgung als falsch ablehnen würden. Es liegt auf der Hand, dass in diesem Mangel des Generalismus die große Stärke des Partikularismus liegt. Anstatt für eines der streitenden Lager Stellung zu beziehen, möchte ich in diesem Kapitel versuchen, eine dritte Position zu etablieren, welche die Vorzüge beider Lager vereint, ohne in ihre jeweiligen Schwierigkeiten zu geraten. Dies möchte ich tun, indem ich einige Aspekte der bisher erarbeiteten Sprachspieltheorie – insbesondere die Erkenntnis der Historizität der Sprachverwendung – auf den ethischen Diskurs anwende. Ich möchte auf diese Weise sichtbar machen, dass die ethische Deliberation – _____________ 1 Eine etwas ältere Version dieses Kapitels wurde bereits in der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie, Vol 35, Heft 1, S. 45-66, veröffentlicht.

Eine neue Kontroverse

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entgegen der Behauptung des Partikularismus – durchaus auf einer Art von Prinzipien fußt. Teilnehmer ethischer Sprachspiele formulieren diese Prinzipien als Prämissen in Argumenten für neue ethische Urteile. Entgegen der Meinung der Generalisten müssen diese Prinzipien aber als grammatische Beziehungen und ihre Ausdrücke als grammatische Sätze (im Sinne Wittgensteins) aufgefasst werden. Wie wir im dritten Kapitel gesehen haben, erheben grammatische Sätze nicht den Anspruch, etwas auszusagen, sondern nur, die Bedeutung von Symbolen oder Ausdrücken zu bestimmen. Obwohl grammatische Sätze somit bloß Darstellungsnormen explizieren und insofern nicht sinnvoll negiert werden können, ergeben sich in der Entwicklung von Sprachspielen immer wieder Fälle, in denen verschiedene grammatische Sätze einer Sprache miteinander in Konflikt geraten. Nichts anderes passiert, wenn ethische Prinzipien mit Gegenbeispielen konfrontiert werden. In diesen Situationen treten Spannungen im grammatischen Gerüst des Sprachspiels auf und erfordern von den Teilnehmern grammatische Anpassungen. Bei diesen Revisionen ihrer Sprachspiele – die immer auch Revisionen ihrer Begriffe sind – können sich die Sprecher auf keine vorbestimmten Regeln, wohl aber auf klar formulierbare Argumente stützen. Das Ziel ist die Erarbeitung jeweils neuer Sprachspiele, in denen die vormaligen Gegenbeispiele unter eindeutige Regeln fallen und insofern nicht länger Deliberationsprobleme darstellen. Wenn diese Interpretation der ethischen Deliberation nicht ganz auf dem Holzweg ist, dann liegt der Fehler der Generalisten und der Partikularisten in ihrer monolithischen und statischen Konzeption der Sprache: Ohne sprachliche Spannungen und Evolutionen in Betracht zu ziehen, können sie ethische Prinzipien – und ihre Rolle in ethischen Problemen – nicht adäquat verstehen. Dieses Kapitel geht in vier Schritten vor. Der zweite Abschnitt wird den partikularistischen Angriff auf den Generalismus sowie die Vorbehalte der Generalisten vorstellen. Der dritte Abschnitt wird die konkrete Frage herausarbeiten, ob sich beide Lager auf eine Interpretation ethischer Prinzipien als grammatische Sätze und ethischer Probleme als grammatische Spannungen einigen könnten. Der vierte Abschnitt wird eine positive Antwort geben und zeigen, dass das entstehende dynamische Bild der ethischen Sprache die Stärken der beiden Theorien vereint, dabei aber ihre Probleme vermeidet. Der fünfte Abschnitt wird zum Abschluss des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit einige abschließende Gedanken zur Historizität der Sprache präsentieren.

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Zwischen Partikularismus und Generalismus

7.2 Partikularistische Zweifel an ethischen Prinzipien 7.2.1 Zweifel an der Rolle ethischer Prinzipien in der Deliberation Bis vor Kurzem war die Idee, dass ethische Einzelurteile und Handlungen ihrem Anspruch nach Implikate ethischer Prinzipien sind, eine zumeist implizite und selten bezweifelte Annahme hinter einem beträchtlichen Teil der Moralphilosophie. Erst vor einigen Jahren wurde von Partikularisten die Frage aufgeworfen, ob diese Annahme nicht auf einer Illusion beruht. Ausschlaggebend für ihre Vermutung war und ist die Beobachtung, dass sich zu jedem (bisher) vorgeschlagenen ethischen Prinzip Szenarien finden lassen, in denen eine strikte Anwendung des Prinzips zu konterintuitiven Resultaten führen würde. Schauen wir uns einen konkreten Fall an, bei dem der partikularistische Verdacht besonders plausibel erscheint.2 Viele Praktiken gelten uns als gut und unterstützenswert, weil sie ihren Teilnehmern Spaß machen. Kindergeburtstage, Parties, Kinobesuche – all diese Dinge können sich aufgrund dieses Aspektes unseres generellen Wohlwollens gewiss sein. Nicht nur nehmen wir an ihnen teil, auch unterstützen wir sie und sehen davon ab, ihnen mit unnötigen Hindernissen den Weg zu versperren. Freilich können wir uns Situationen vorstellen, in denen sich andere Erwägungen als gewichtiger erweisen als das Spaßmachen. Intuitiv nehmen wir aber an, dass der Aspekt des Spaßmachens generell als positive, unterstützende Erwägung in die Gesamtrechnung der Gründe eingeht. Findet sich gegen diese bescheidene generalistische Annahme ein Gegenbeispiel? Der Partikularist antwortet mit ja und präsentiert als Beweis ein Szenario, in dem gefoltert wird, und in dem das Foltern dem Folterknecht Spaß macht. In diesem Szenario, so wollen wir nun sagen, ist die Tatsache, dass der Folterknecht Spaß hat, nicht etwa ein durch andere Erwägungen ausgestochener positiver Grund für das Foltern oder seine Unterstützung, sondern ein weiterer – und starker – Grund dagegen. Der empfundene Spaß macht die Handlung nicht weniger verabscheuungswürdig, sondern noch verabscheuungswürdiger. An diesem Beispiel zeigt sich, dass der Partikularismus nicht bloß darauf hinweist, dass vorgeschlagene Prinzipien ausgestochen werden können. Dies ist eine bekannte Schwachstelle der gängigsten Form des Generalismus. Um die offensichtlichsten Angriffe auf seine Prinzipienvorschläge auszuschließen, nehmen viele Generalisten für letztere keinen ausschlaggebenden (»all out«), sondern bloß beitragenden (»pro tanto«) Charakter in Anspruch. So verstandene Prinzipien sind zwar schwieriger zu falsifizie_____________ 2 Das folgende Beispiel ist zum Standard-Beispiel der Partikularismus-Literatur avanciert. Es findet sich unter anderem in Jackson u. a., 2003.

Partikularistische Zweifel an ethischen Prinzipien

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ren, haben jedoch ein nicht unbeträchtliches Manko: Da beitragende Prinzipien immer durch andere Prinzipien ausgestochen werden können, ohne dass die relativen Gewichte von Prinzipien aus ihnen selber ersichtlich wären, ist die Frage ihrer Nützlichkeit notorisch umkämpft.3 Partikularisten gehen allerdings einen Schritt weiter und bezweifeln, dass ethische Erwägungen – selbst diejenigen »beitragender« Art – in verschiedenen Szenarien überhaupt mit dem gleichen Vorzeichen in die Gesamtrechnung der Gründe eingehen müssen (um mein obiges Bild noch einmal aufzugreifen). Jede ethische Erwägung, die sich in einem Kontext als Grund für X auswirkt, so ihr Verdacht, kann sich in einem anderen Kontext als irrelevant in Bezug auf X oder sogar als Grund gegen X auswirken. 7.2.2 Partikularistische Strategien und generalistische Vorbehalte Die Idee dabei ist, dass ethische Erwägungen nicht jeweils separat als Gründe fungieren, sondern dem Tribunal der praktischen Deliberation nur gemeinsam antworten. Jonathan Dancy, der diese These in zahlreichen Artikeln und Büchern als »Holismus der praktischen Gründe« bezeichnet hat,4 schlägt in diesem Zusammenhang vor, ethische Erwägungen nicht nur als favourers bzw. disfavourers, sondern zumindest einige von ihnen als enablers bzw. disablers zu verstehen. Die Rolle einer Erwägung letzterer Kategorie besteht darin zu bestimmen, ob eine weitere Erwägung als Grund oder als Gegengrund firmiert oder gar keine Relevanz hat. Dancys Version der partikularistischen Vermutung lautet nun, dass sich zu jeder Erwägung (egal welcher Kategorie) ein Szenario finden lässt, in dem ein disabler die Relevanz der Erwägung aufhebt oder umkehrt. Freilich bleibt dem generalistischen Gegner immer die Möglichkeit, einen vorgebrachten disabler in seinen Prinzipienvorschlag mit aufzunehmen. So kann der Generalist auf das obige Gegenbeispiel mit dem Prinzipienvorschlag kontern, dass »alles, was Spaß macht, ohne Leid zu verursachen,« unterstützenswert sei. Allerdings ist ein einigermaßen überzeugter Partikularist zuversichtlich, auch zur Erwägung des »leidfreien Spaßmachens« einen plausiblen disabler zu finden. Hier zeigt sich, dass die Vermutung des Partikularisten sich nicht im Holismus der Gründe er_____________ 3 Ich werde im Folgenden darauf verzichten, in die Debatte um die Aggregation sogenannter »beitragender«, »ceteris paribus« oder »pro tanto«-Prinzipien einzusteigen, weise jedoch darauf hin, dass mein Vorschlag zur Interpretation des ethischen Diskurses (siehe Abschnitte 7.3 und 7.4 dieses Kapitels) kein entsprechendes Aggregationsproblem hat. 4 Vgl. Dancy, 1993, 60, 66; Dancy, 2003, 75 und Dancy, 2004, 75.

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schöpft. Ein Generalist, der sich auf die Suche nach immer feineren Prinzipien einlässt, könnte schließlich auch mit Recht als Holist bezeichnet werden.5 Um die partikularistische Vermutung sicher gegen die generalistische Position abzugrenzen, sollten wir sie daher als Vermutung eines unkodifizierbaren Holismus bezeichnen. Die bekannteste Strategie des Partikularismus besteht darin, den theoretischen Gegner immer wieder aufs Neue herauszufordern, um ihn dann jedes Mal mit einem sorgfältig konstruierten Gegenbeispiel, in dem ein unvorhergesehener disabler auftaucht, zu widerlegen. Gegen die manchmal geäußerte Sorge, dass diese Strategie höchstens zu einem dialektischen Patt führen kann, da kein Ende des intellektuellen Tauziehens abzusehen ist6, muss auf den Anspruch des Generalisten hingewiesen werden, Prinzipien vorzubringen, die in unserer ethischen Deliberation bereits operativ sind. Da der Partikularist ohne derartige konkrete Behauptungen arbeitet, trägt der Generalist eine besondere dialektische Last. Wird jedes generalistische Beispiel eines angeblich implizit von uns befolgten Prinzips aufs Neue widerlegt, so behält der Partikularist in der Debatte die Oberhand. In letzter Zeit konzentriert sich die Debatte – angestoßen durch Dancy7 – allerdings auf zwei andere Schauplätze. Zum einen weist Dancy auf die enge Analogie zwischen moralischen Gründen einerseits und nicht-moralischen praktischen Gründen sowie theoretischen Gründen andererseits hin. Dabei suggeriert er immer wieder, dass ein unkodifizierbarer Holismus bei letzteren evidenter oder weniger kontrovers sei. Zum andern steht für Dancy seit einiger Zeit die Attacke auf ein zentrales generalistisches Manöver im Vordergrund, nämlich das bereits erwähnte Ausweichen auf »beitragende« Prinzipien. Der Generalist ist allerdings auf _____________ 5 Leider lässt Dancy in diesem Punkt die wünschenswerte Klarheit vermissen und schadet dadurch seinem Projekt. Dancy schreibt, dass die variable Relevanz der Erwägungen durch die Existenz von enablers und disablers – diese Position nennt er »Holismus der Gründe« – Evidenz für die Wahrheit des Partikularismus ist. Da er hier übersieht, dass ein so gefasster Holismus durchaus kompatibel mit (hinreichend komplexen) Prinzipien ist, müsste in seinem »Argument« die implizite Prämisse der Unkodifizierbarkeit des Zusammenwirkens der Gründe nachgetragen werden. Da diese These allerdings entweder eine Konsequenz oder eine bloße Umformulierung des Partikularismus ist, setzt er sich dem Vorwurf einer petitio principii aus. (Siehe hierzu exemplarisch McKeever und Ridge, 2005.) Im vorliegenden Kapitel behandle ich den Partikularismus daher als gleichbedeutend mit dem unkodifizierbaren Holismus der Gründe und rekonstruiere ihn als induktiv erschlossene Vermutung. 6 So Margaret Little: »[T]here’s something not a little farcical about measuring dialectical success in terms of who can outlast whom – those who want to refine the principles or those who want to find exceptions« (Little, 2003, 279). 7 Siehe zu den folgenden zwei Punkten Dancy, 2004, Teil I, sowie Dancy, 2005.

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diesen Nebenschauplätzen keineswegs so verwundbar wie auf dem Feld der konkreten Beispiele. Das Analogie-Argument ist leicht angreifbar, da der Holismus nicht-moralischer Gründe mindestens so kontrovers ist wie der Holismus moralischer Gründe. Die Strategie gegen »beitragende Prinzipien« dagegen kann – wenn erfolgreich – nur dazu führen, dass der Generalist auf alle Ceteris-Paribus- oder Pro-Tanto-Klauseln verzichtet und sich auf ausschlaggebende (»all out«) Prinzipien besinnt. Zwar führt Dancy gegen diese Position an, dass es in ethischen Problemen genuine Spannungen zwischen verschiedenen Erwägungen gibt und dass ein Generalismus mit ausschlaggebenden (»all out«) Prinzipien diese Spannungen leugnen muss. Dieser Protest läuft aber ins Leere, denn die Abwesenheit von deliberativen Spannungen ist gerade eines der argumentativen Ziele des Generalisten. Doch welche Strategie der Partikularismus auch immer gegen den Generalismus in Anschlag bringt; aus der Sicht des Generalismus bleibt der Weg zum Partikularismus durch eine unüberwindliche Barriere versperrt. Da der Partikularismus die Kenntnis ethischer Prinzipien nicht nur für nicht hinreichend, sondern darüber hinaus für nicht notwendig für das Vorliegen von ethischer Kompetenz erklärt,8 wird es – so die zentrale Sorge des Generalismus – unklar, wie unser Anspruch auf Konsistenz im ethischen Lernen, Diskutieren und Urteilen eingelöst werden kann. Zwar könnte dieser Anspruch einfach geleugnet oder abgelehnt werden. Aus guten Gründen zögert der Partikularismus aber, einen derartig revisionistischen Kurs einzuschlagen. Vielleicht ist der Partikularist versucht zu behaupten, dass es konsistente Urteile auch ohne Prinzipien geben kann. Mit dieser These würde er sich aber eine schwer zu tragende Beweislast einhandeln, da es zum Konsistenzbegriff gehört, dass die Konsistenz von Urteilen argumentativ nachgewiesen werden kann. Da Argumente nichts anderes sind als strukturierte Mengen allgemeiner Sätze, kommen Prinzipien – so scheint es – durch die Hintertür immer wieder herein. 7.2.3 Eine logische Nische zwischen Generalismus und Partikularismus Die Frage, die sich an dieser Stelle ergibt, ist folgende: Kann es sein, dass zur Fähigkeit, korrekte ethische Urteile zu fällen, die Kenntnis ethischer Prinzipien zwar nicht ausreicht (wie der Partikularist mit seinen Gegenbeispielen aufzeigt), aber dennoch in irgendeiner Weise notwendig ist (wie der _____________ 8 Dancys offizielle Formulierung des Partikularismus lautet: »The possibility of moral thought and judgment does not depend on the provision of a suitable supply of moral principles.« (Dancy, 2004, 7)

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Generalist mit Hinweis auf die Konsistenzforderung behauptet)? In meinem Versuch zu zeigen, dass diese Möglichkeit tatsächlich offen steht, werde ich zunächst mit dem späten Wittgenstein die implizite Entscheidung revidieren, die Sprache – und damit auch die Gesamtheit ethischer Begriffe – als eine spannungslose und feststehende Struktur zu verstehen. Wir haben bereits im zweiten Kapitel gesehen, dass es in unserer komplexen Sprachpraxis eine Klasse von Sätzen gibt, mit denen wir die Regeln des Sprachspiels explizieren: grammatische Sätze Im fünften Kapitel haben wir gesehen, dass die mit ihnen explizierten Regeln aber keinesfalls ewig oder unveränderlich sind. Vielmehr geraten grammatische Sätze immer wieder in Konflikte miteinander und fordern die Sprecher so zu Weiterentwicklungen des Sprachspiels auf, die selber nicht durch Regeln bestimmt sind. Im vorliegenden Kapitel wird auf der Basis dieser beiden Erkenntnisse eine Position zwischen dem Partikularismus und dem Generalismus erarbeitet. Wenn wir ethische Prinzipien als grammatische Sätze und (einige) ethische Probleme als grammatische Spannungen interpretieren, dann können wir dem Partikularisten zugestehen, dass die ethische Deliberation sich nicht auf die Anwendung von Prinzipien reduzieren lässt, während wir dem Generalisten zugestehen, dass konsistente Urteile ohne prinzipielle Beziehungen undenkbar sind. Im Folgenden werde ich zunächst Wittgensteins Verständnis grammatischer Sätze und ihrer Revisionen rekapitulieren und dann argumentieren, dass einer Interpretation ethischer Prinzipien als grammatische Sätze und (einiger) ethischer Probleme als grammatische Spannungen nichts im Weg steht.

7.3 Grammatische Sätze und grammatische Evolution 7.3.1 Erste Schritte9 Wir haben im zweiten Kapitel gesehen, wie sich Wittgensteins reifes Verständnis grammatischer Sätze aus seiner Konzeption der Logik heraus entwickelt hat. Wittgensteins zentraler Gedanke über die Logik war, dass logische Gesetze transzendentale Grenzen der Intelligibilität darstellen. Aus diesem Grund kann ein Sprecher ein logisches Gesetz, etwa die Modus-Ponens-Regel, nicht bestreiten, ohne damit die Grenze zum Unsinn _____________ 9 In diesem und den folgenden drei Unterabschnitten rekapituliere ich in kurzen Worten einige zentrale Ergebnisse der Kapitel 2, 3 und 5. Leser, die bereits eine sichere Kenntnis (des wittgensteinianischen Verständnisses) der grammatischen Sätze und der grammatischen Evolution haben, können im Unterabschnitt 7.3.4 weiterlesen.

Grammatische Sätze und grammatische Evolution

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zu überschreiten. Logische Sätze sind somit Tautologien. Allerdings betont Wittgenstein, dass sie – wie alle Tautologien – in manchen Situationen durchaus sinnvoll geäußert werden können. Dazu gehören Situationen, in denen wir anderen Sprechern unsere Sprache beibringen. Logische Sätze, so Wittgenstein, sind nützliche Tautologien und damit in Wesen und Funktion vergleichbar mit Wahrheitstabellen: Genau wie letztere dienen sie dazu, die Verwendungsweisen und damit die Bedeutungen logischer Zeichen zu explizieren.10 Wir haben im zweiten Kapitel die Transzendentalität logischer Sätze verdeutlicht, indem wir uns die möglichen Interpretationen eines scheinbaren Bruchs der Modus-Tollens-Schlussregel überlegt haben. In diesem Zusammenhang haben wir gesehen, dass, sobald etwa jemand aus »P → Q« und »¬Q« den Schluss zieht, dass P – und wir davon auszugehen wünschen, dass die Sprecherin nicht einfach Unsinn redet –, uns nichts anderes übrig bleibt als zu konstatieren, dass die Sprecherin mindestens einem der verwendeten Zeichen eine neue Bedeutung gegeben hat. Hätte sie »→« und »¬« so gemeint, wie wir diese Zeichen meinen, so hätte sie schließlich »¬P« gefolgert. Nichts anderes zeigt unsere Tautologie, dass ((P → Q) & ¬Q) → ¬P. Wir haben (etwas verallgemeinernd) festgehalten, dass scheinbare Leugnungen logischer Sätze uns zu einer Neuübersetzung des fremden Sprechers in unseren Idiolekt drängen. Im aktuellen Beispiel ließe sich das →-Symbol der Sprecherin etwa als unser » « übersetzen. 7.3.2 Von der Logik zur Grammatik Wir haben dann gesehen, dass die Betonung der Transzendentalität und die Rolle des Drangs zur Neuübersetzung Wittgensteins spätere Distanzierung vom Tractatus unbeschadet übersteht. Auch in seiner späteren Phase betont Wittgenstein immer wieder die transzendentale Natur bestimmter geäußerter Sätze sowie die gefährliche Verlockung, jene Sätze als informativ bzw. empirisch zu interpretieren. In diesem und in den folgenden zwei Unterabschnitten soll aber gezeigt werden, dass der späte Wittgenstein wesentliche Neuerungen im Verständnis dieser Sätze einführt, die er nun auch als »grammatische Sätze« bezeichnet. Im seinem späteren Werk versteht Wittgenstein die natürliche Sprache als ein komplexes Spiel, dessen Spielzüge – die sprachlichen Äußerungen – konstitutiv mit praktischen Verrichtungen verknüpft sind. Einen ersten Einblick in dieses Sprachverständnis gibt Wittgenstein in seinen berühm_____________ 10 Vgl. Wittgenstein, 2003e [TLP], 6.1, 6.11, 6.1201, 6.121, s.a. 6.113.

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ten »Bauarbeitersprachspiel«-Passagen.11 Hier stellt er eine Sprachgemeinschaft vor, deren Äußerungen – »Platte!«, »Würfel!«, »Säule!« usw. – verwendet werden, um bestimmte Verrichtungen im Umfeld eines Hausbaus zu koordinieren. Wittgensteins Ziel ist hier der Aufweis, dass die Bedeutung eines Ausdrucks auf der fundamentalen Ebene nicht von der Abbildung von Sachverhalten oder dem Bezug auf Gegenstände abhängt (oder darin besteht). Abbildung und Bezug, so Wittgenstein, sind selber erst im Rahmen verhältnismäßig komplexer Praktiken zu verstehen. Fundamentaler sind die niedrigstufigen, in die Sprache eingewobenen praktischen Fähigkeiten, die im »Bauarbeitersprachspiel« exemplarisch ausgestellt sind.12 Dies gilt auch für die Bereiche unserer (wesentlich komplexeren) Sprache, die propositional strukturiert sind, also in denen wir in Indikativsätzen sprechen. Indikativsätze sind besondere Spielzüge, deren Verwendung einerseits durch nicht-inferenzielle Regeln (durch die diese Spielzüge mit der nicht-sprachlichen Umwelt verknüpft sind) und andererseits durch inferenzielle Regeln (durch die diese Spielzüge mit anderen Propositionen in materialen Schlussbeziehungen13 verbunden sind) bestimmt ist. Nach Wilfrid Sellars, auf dessen Überlegungen ich mich hier wie auch in den vorangegangenen Kapiteln stütze, dienen Indikativsätze in erster Linie dazu, Überzeugungen auszudrücken. Eine Überzeugung wird dabei als ein normativer Status verstanden – also als ein Aspekt des Spielstandes –, der immer zusammen mit seinen praktischen Konsequenzen gesehen werden muss. Zu letzteren gehört, dass eine Sprecherin, die mittels eines Satzes eine Überzeugung ausgedrückt hat, auch denjenigen Sätzen zustimmen muss (evtl. auf Nachfrage), die aus ihrem Satz gemäß der inferenziellen Regeln folgen. Zu ihnen gehört aber oft auch die nicht-inferenzielle Bereitschaft zu bestimmten Handlungen. _____________ 11 Vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §§ 2, 6-8, 18-21 u.a. 12 Insgesamt warnt Wittgenstein immer wieder davor, sprachtheoretische Maßstäbe an die Äußerungen der »Bauarbeiter« anzulegen, welche sich nicht an ihrer konkreten, praktischen Verwendung orientieren. So ist die Vorstellung, eine Bauarbeiter-Äußerung wie »Platte!« sei eine Kurzform des Imperativs »Bringe mir eine Platte!« nach Wittgenstein irreführend, da letztere Äußerung erst im Kontext der Praktiken des Fragens und Konstatierens, des Bezuges auf verschiedene Personen, des Abzählens etc. erfolgen kann. Da das »Bauarbeitersprachspiel« aber gerade als ein Sprachspiel konzipiert ist, das diese Praktiken (noch) nicht umfasst, kann seinen Teilnehmern kaum die Beherrschung von Ausdrücken wie »bringe«, »mir« oder »ein« zugeschrieben werden; vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §20. 13 »Material« bedeutet, dass es sich nicht bloß um formallogische Schlussbeziehungen handelt. Zu den materialen Schlüssen unserer Sprache gehören der Schluss von »Pittsburgh ist westlich von Philadelphia« zu »Philadelphia ist östlich von Pittsburgh« sowie der Schluss von »Dies ist ein Hund« zu »Dies ist ein Säugetier«.

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Eine Implikation dieses Verständnisses von propositionalen Ausdrücken besteht nun darin, dass die gegenseitige Zuschreibung von Überzeugungen nur dann reibungslos funktionieren kann, wenn alle Teilnehmer des Sprachspiels in möglichst all ihren nicht-inferenziellen und inferenziellen Dispositionen konvergieren. Jeder Satz, über deren Angemessenheit verschiedene Sprecher sich streiten, wirft daher die Frage auf, ob die konfligierenden Sprecher überhaupt dasselbe Spiel spielen. »Zur Verständigung durch die Sprache,« schreibt Wittgenstein in seinen Untersuchungen, »gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen.«14 Um dem Missverständnis vorzubeugen, dass diese These nur sehr abstrakte Sätze betrifft, ist noch einmal zu betonen, dass sie sich durchaus auch auf Urteile wie »diese Blume ist rot« bezieht.15 In einer Situation, in der zwei Sprecher eine Blume sehen und keinen besonderen Anlass haben, dem jeweils anderen Sprecher Farbenblindheit oder Verrücktheit zu unterstellen, kann ein zur Schau gestellter Zweifel an diesem Urteil genau das gleiche bewirken wie im Fall abstrakterer Sätze: Für den Zuhörer ergibt sich ein logischer Drang, den geäußerten Satz auf eine neue Weise zu interpretieren – sprich: ihn zu übersetzen, und zwar in die Sprache, die von den gewohnten inferenziellen und nicht-inferenziellen Festlegungen bestimmt ist.16 Die offensichtliche Analogie mit den logischen Sätzen des Tractatus führt nun zu einer anderen positiven, Seite dieser Idee: Mit einem Satz lassen sich nicht nur Überzeugungen ausdrücken, sondern auch Bedeutungen klären, d.h. Missverständnisse beseitigen, sowie Fremdsprachlern die relevanten Teile unserer Sprache beibringen. Der Satz »diese Blume ist rot« kann beispielsweise von Sprechern verwendet werden, um sich auf eine einheitliche Grenze zwischen den Begriffen »orange« und »rot« zu einigen. Hier liegt nun der erste wichtige Fortschritt von Wittgensteins Spätwerk gegenüber dem Tractatus: Prinzipiell kann jeder Satz als grammatischer Satz verwendet werden. Wittgenstein bestätigt: Sätze werden oft an der Grenze von Logik und Empirie gebraucht, so daß ihr Sinn über die Grenze hin und her wechselt und sie bald als Ausdruck einer

_____________ 14 Wittgenstein, 2003d [PU], §242. 15 Vgl. z.B. Wittgenstein, 2003f [ÜG], §§79–81, Wittgenstein, 2003d [PU], §381. 16 Wenn wir die Regeln der Verwendung von Versicherungsfloskeln mit in Betracht ziehen, dann hat auch ein Satz wie »ich bin ganz sicher, dass diese Blume rot ist« diesen Effekt (Wittgenstein, 2003f [ÜG], §§526–528). (Dieser Punkt wurde auch im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit gestreift.)

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Norm, bald als Ausdruck einer Erfahrung gelten. (Denn es ist ja […] die Verwendung, die den logischen vom Erfahrungssatz unterscheidet.)17

Wichtig ist aber dies: Ist die Äußerung eines Satzes einmal als grammatische Äußerung interpretiert, kann die Bezweiflung oder Verneinung des Satzes nicht länger als Ausdruck einer Meinungsverschiedenheit verstanden werden, sondern nur noch als ein Missverständnis – oder als ein Vorschlag, das aktuelle Sprachspiel zu beenden und ein neues zu beginnen. 7.3.3 Informative Sätze und grammatische Sätze Kommen wir nun zur zweiten Neuerung in Wittgensteins späterem Nachdenken über die Grammatik. Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass der grammatische Status eines Satzes wesentlich davon abhängt, auf welche inferenziellen und nicht-inferenziellen Reaktionen das Publikum zum Zeitpunkt der Äußerung des Satzes festgelegt ist. Hierin liegt der Keim einer Evolutionstheorie der propositionalen Sprache. Der Kerngedanke lautet, dass ein informativer Satz, sobald er als wahr anerkannt ist, in das Repertoire inferenzieller und nicht-inferenzieller Beziehungen eingeht, mittels dessen Sprecher weitere Sätze interpretieren. Seine wiederholte Formulierung (innerhalb einer Konversation) wird daher als grammatische Äußerung gelten, seine Leugnung als Irrtum (oder als Vorschlag, das aktuelle Sprachspiel durch ein neues zu ersetzen). In Wittgensteins Worten: Ein allseits akzeptierter Satz »scheidet aus dem Verkehr [des Transfers von Überzeugungen] aus«18 und gibt »unsern Betrachtungen, unsern Forschungen ihre Form.«19 Ein Beispiel ist der Satz »AIDS ist eine Folge des HI-Virus.« Noch vor kurzer Zeit war dieser Satz informativ. Heute aber wird er (unter informierten Sprechern, in nichtphilosophischen Kontexten) höchstens noch ausgesprochen, um zu klären, was mit »AIDS« (bzw. »HIV«) gemeint ist – er wird nur noch grammatisch verwendet. Bevor dieser Gedanke akzeptiert werden kann, ist allerdings die Frage zu klären, wie es in einer Spiel-Konzeption der Sprache überhaupt möglich _____________ 17 Wittgenstein, 2003a [BF], I:32; s.a. Wittgenstein, 2003f [ÜG], §309. Es mag eine hilfreiche Nebenbemerkung sein, dass wir eine Reihe von Sätzen kennen, die (unter halbwegs normalen Bedingungen) ausschließlich grammatisch verwendet werden können, z.B. »Junggesellen sind unverheiratet« oder »(P & (P → Q)) → Q«. Es gibt aber keine Sätze, die ausschließlich empirisch verwendet werden können: Ist ein Satz einmal (allseits) akzeptiert, so taugt er nur noch als grammatische Bemerkung. Dies wird im folgenden Unterabschnitt ausgeführt. 18 Wittgenstein, 2003f [ÜG], §210. 19 Wittgenstein, 2003f [ÜG], §210, vgl. §§96ff.

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ist, dass ein neuer Satz – also ein Satz, der (noch) nicht durch Spielregeln mit praktischer Signifikanz ausgestattet ist – verstanden werden kann, bzw. worin sein Verstehen bestehen soll. Da Wittgenstein auf diese Frage wiederum keine systematische sprachtheoretische Antwort entwickelt, werde ich in diesem Unterabschnitt erneut auf die theoretische Tradition von Sellars zurückgreifen. Aus der Perspektive dieser Tradition liegt der Schlüssel in der Kompositionalität unserer (entwickelten) Sprache.20 Eine Sprache ist kompositional, wenn ihre kleinsten sprachlichen Einheiten, die als freistehende Spielzüge fungieren können, selber in semantisch relevante Teile zerfällt werden können. Indikativsätze, die bei Wittgenstein (implizit) und bei Sellars (explizit) die zentralen freistehenden Spielzüge darstellen, zeigen diese Eigenschaft auf klare Weise, denn sie bestehen aus Wörtern, welche ihrerseits nur als Komposita von Sätzen eine sinnvolle Verwendung finden. Nach Sellars geht das Verständnis von Wörtern dem Verständnis von Sätzen allerdings nicht voraus. Vielmehr ist unser Verständnis von Wörtern abhängig von unserer Fähigkeit des inferenziellen und nicht-inferenziellen Umgangs mit den (kompletten) Sätzen, in denen sie vorkommen. Diese Idee erklärt nun das Verständnis neuer Sätze: Sätze, die aus dem bisherigen inferenziellen Netzwerk der Sprache (noch) nicht erschließbar sind, können von den in ihnen vorkommenden Wörtern inferenzielle und nicht-inferenzielle Beziehungen erben und aus diesem Grund trotz ihrer Neuheit sofort einen Platz im Sprachspiel finden. Werden diese Sätze akzeptiert, so werden die entsprechenden Beziehungen dauerhaft in das Regelwerk der Sprache integriert und taugen, in der Form grammatischer Äußerungen, zur Klärung von Missverständnissen.21 7.3.4 Die Idee grammatischer Kollisionen Die skizzierte Evolution des Sprachspiels verläuft allerdings nicht immer geradlinig. In der Hervorhebung dieser Tatsache liegt der dritte und für die weitere Diskussion wichtigste Zug von Wittgensteins spätem Grammatikverständnis. In seiner spätesten Phase stellt Wittgenstein fest, dass _____________ 20 Was hier skizzenhaft bleibt, wird genau erklärt in Brandom, 1994, Kap. 6. Ein anderes Verständnis von Kompositionalität (welches aber m.E. kompatibel ist mit dem Kompositionalitätsverständnis der Sellars’schen Tradition) findet sich in Schneider, 2001. 21 Vgl. Wittgenstein, 2003f [ÜG], §65, 96ff., 210f., 256. Brandom betont zu Recht, dass sich bei der Integration neuer Sätze in das Sprachspiel die in ihnen vorkommenden Wörter semantisch verändern, weswegen die Sprachfähigkeit immer auch Projektionsleistungen erfordert; vgl. Brandom, 1999. Die ausführlichste Behandlung des Projizierens als Teil der Sprachfähigkeit bietet Schneider, 1992.

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grammatische Festlegungen miteinander kollidieren können. Nehmen wir als Beispiel den von Wittgenstein eher beiläufig erwähnten Fall der Entdeckung infraroter Strahlung. In einer Passage, die zunächst die Transzendentalität unseres Farbvokabulars betont, dann aber über Situationen spekuliert, in denen wir unsere Farbbegriffe auf ganz neue und vormals für logisch unzulässig gehaltene Weisen verwenden würden, heißt es: Es ist hier ähnlich, wie wenn man von infrarotem ›Licht‹ spricht; es ist guter Grund dafür, es zu tun, aber man kann dies auch für einen Missbrauch erklären. Und ähnlich geht es mit meinem Begriffe: ›im Körper des andern Schmerzen haben‹.22

Wittgenstein möchte hier zeigen, dass wir an den Grenzen unserer etablierten Sprache mitunter logische Gründe sowohl für bestimmte Urteile als auch für ihre Negationen haben, und dass wir in diesen Situationen um grammatische Entscheidungen nicht umhin kommen. Machen wir uns unsere Optionen im Infrarot-Fall klar. Wir könnten uns entscheiden, infrarote Strahlung nicht als Licht zu bezeichnen. Dabei würden wir uns wohl auf den grammatischen Satz stützen, dass Licht Dinge für das bloße Auge sichtbar macht. Aber wir würden mit der Entscheidung auch Sätzen widersprechen, die vormals ausschließlich grammatisch verwendet wurden und insofern als transzendental galten – zum Beispiel dem Satz, dass die Strahlung, welche uns unter Zuhilfenahme unserer Augen die Navigation ermöglicht, Licht ist. (Mit Nachtsichtgeräten trifft dieser Satz auf Infrarot zu!) Unsere andere Option ist, die infrarote Strahlung als Licht anzuerkennen. Bei dieser Entscheidung stützen wir uns auf letzteren transzendentalen Satz und revidieren ersteren. In beiden Fällen setzen wir uns also über Sätze hinweg, die vor der Erfindung bzw. Entdeckung infraroter Strahlung als unfalsifizierbar galten. Zusätzlich widmen wir in beiden Fällen informative Sätze in neue rein grammatisch verwendbare und insofern unfalsifizierbare Sätze um. Im ersten Fall wäre eines der vielen Beispiele der Satz, dass Infrarot-Strahlung kein Licht ist; im zweiten Fall wäre ein Beispiel der Satz, dass es Licht gibt, welches mit dem bloßen Auge nicht wahrgenommen werden kann. Der Infrarot-Fall ist sprachphilosophisch instruktiv, da er die charakteristischen Spannungen unserer Sprachspiele im Angesicht neuer praktischer Anforderungen sowie die von ihnen herausgeforderten Umwidmungen von Sätzen aufzeigt. In diesem Zusammenhang sind zwei Lehren besonders zu unterstreichen. Erstens zeigt sich deutlich, dass wir in Situationen grammatischer Spannung die Bedeutungen der zentralen Begriffe ändern – im vorliegenden Beispiel vor allem des Begriffes »Licht«. Streng genommen müssten wir daher alle entsprechenden Sätze, die vor dem _____________ 22 Wittgenstein, 2003a [BF], III:127.

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sprachlichen Evolutionsschritt geäußert oder aufgeschrieben wurden, einer Prüfung und gegebenenfalls einer Übersetzung unterziehen. Zweitens wird im Infrarot-Beispiel deutlich, dass grammatische Aussagen mitunter erst dann fallen, wenn ihr grammatischer Status zur Disposition steht. Es ist zu beachten, dass sie in diesem Fall als Prämissen in Argumenten für oder gegen eine bestimmte Revision fungieren. Sind uns die grammatischen Implikationen neuer praktischer Anforderungen erst einmal geläufig, so wird die Häufigkeit grammatischer Revisionen offenbar. Ein weiteres Beispiel ist die Erfindung komplexer Zahlen und die Ausweitung der Standard-Rechenregeln auf sie. Galt der Satz »für alle x gilt: x2 ≥ 0« noch vor wenigen Jahrhunderten als vollkommen unbezweifelbar, so ist die Annahme, dass i2 = –1, zusammen mit den sie umgebenden Rechentechniken, heute in vielen Anwendungskontexten unverzichtbar. Ein drittes bekanntes Beispiel ist die Entscheidung, die Prädikate »ist ein Fisch« und »hat eine Lunge« für inkompatibel zu erklären und daher die Wale nicht länger den Fischen zuzurechnen. Wie präsent der Gedanke des grammatischen Umbruchs im Denken des späten Wittgenstein ist, zeigen die vielen Passagen, in denen Wittgenstein darüber nachdenkt, ob es andere Farben als unsere geben könnte23 und ob andere Arten des Messens24 oder Rechnens25 vorstellbar sind. Immer wieder spekuliert er über mögliche neue Situationen, in denen grammatische Spannungen auftreten, welche grammatische Anpassungen notwendig machen und uns auf diese Weise fremde Farben und fremde Arten des Messens und Rechnens erschließen, wie sich uns einst durch die Entdeckung der Infrarot-Strahlung eine fremde Art des Lichts erschloss. Kann sich diese Idee als relevant im Streit zwischen Generalisten und Partikularisten erweisen?

7.4 Ethische Probleme als grammatische Spannungen 7.4.1 Eine Neuinterpretation des ethischen Diskurses Tatsächlich wird mit dem im vorausgegangenen Abschnitt skizzierten Verständnis grammatischer Sätze eine Neuinterpretation des ethischen Diskurses möglich, die zwischen Generalisten und Partikularisten vermitteln kann. Die beiden zentralen Thesen dieser Neuinterpretation habe ich _____________ 23 Vgl. Wittgenstein, 2003a [BF], I:66, III:42, III:86ff., III:94, III:127, s.a.. III:30, III:123f. 24 Vgl. Wittgenstein, 2003b [BGM], I:5, I:148ff. 25 Vgl. Wittgenstein, 2003b [BGM], IV:24, V:26; Wittgenstein, 2003a [BF], III:293.

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bereits angerissen. Erstens: Formulierungen ethischer Prinzipien sind grammatische Äußerungen. Sie geben die Verwendungsweisen ethischer Prädikate an und sind in dem Sinne transzendental, dass ihre Verneinung entweder ein Ausdruck eines Missverständnisses oder ein Plädoyer für eine semantische Revision, nicht aber ein (an sich hinreichendes) Anzeichen einer Meinungsverschiedenheit ist. Zweitens: Viele ethische Probleme, in denen ethische Prinzipien mit Gegenbeispielen oder konfligierenden Prinzipien konfrontiert werden, sind Fälle grammatischer Spannung. Sie werden durch grammatische Revisionen beigelegt und können somit als Momente der sprachlichen Evolution verstanden werden. Im Folgenden möchte ich die interpretativen Thesen im Einzelnen erläutern und plausibilisieren. In den nächsten Unterabschnitten werde ich dann ihre Konturen mit einem Beispiel und mit der Diskussion einiger Konsequenzen weiter schärfen. Beginnen wir mit der ersten interpretativen These. Um zu zeigen, dass Formulierungen ethischer Prinzipien tatsächlich als grammatische Äußerungen interpretiert werden können, möchte ich auf einige interessante Parallelen zwischen dem ethischen und dem wissenschaftlichen Diskurs hinweisen, in dem die bisherigen Beispielfälle angesiedelt waren. Zunächst ist zu betonen, dass die Standardform der ethischen Äußerung der Indikativsatz ist.26 Weiterhin haben ethische Äußerungen in der überwältigenden Mehrheit der Fälle die Struktur konkreter empirischer Urteile. Hiermit meine ich, dass sie konkrete Personen, Handlungen oder Situationen, die zudem oft mittels indexikalischer bzw. demonstrativer Ausdrücke bestimmt werden, mit Prädikaten versehen, welche ihrem Anspruch nach interpersonal überprüfbar sind. Übliche ethische Urteile lauten: »Du hast dich sehr integer verhalten«, »Peters ständige Lügen sind feige« oder »Was diese Leute tun, ist ein Verbrechen«.27 _____________ 26 Zwar werden viele ethische Urteile nicht explizit ausgesprochen, sondern zeigen sich nur inferenziell (d.h. durch die Äußerung von Urteilen oder die Ausführung von Handlungen, die aus ihnen folgen oder ihnen zugrunde liegen) oder aber elliptisch (also in kurzen Aussprüchen wie »gut so« oder »zu wenig«), siehe Diamond, 1996b, insb. 242–246. Doch diese Erwägungen deuten weder auf einen fundamentalen Unterschied zum wissenschaftlichen Diskurs hin noch können sie über die zentrale Rolle von Indikativsätzen bzw. Urteilen in der ethischen Sprache hinwegtäuschen. 27 Ein frühes Beispiel einer Moraltheorie, das den propositionalen Charakter des moralischen Diskurses und seine Nähe zum wissenschaftlichen Diskurs stark macht, ist Mark Platts Ways of Meaning (1979), in welchem auf der Grundlage der genannten Aspekte für den moralischen Realismus geworben wird. Weitere Beispiele sind Sabina Lovibonds Realism and Imagination in Ethics (1983) und Susan Hurleys Natural Reasons: Personality and Polity (1989). Eine besondere Rolle in der Entstehung dieser Sichtweise spielt Philippa Foot (siehe Foot, 1958, 1959).

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Interessant ist nun eine dritte Analogie. Urteile, in denen ein empirisches Prädikat als (logischer) Gegenstand firmiert und mit einem weiteren Prädikat versehen wird, sind sowohl in der Wissenschaft als auch in der Ethik ziemlich sichere Hinweise darauf, dass der Kontext der Äußerung ein Beibringen, ein Streit oder ein bis dato neuer und unsicherer Fall ist. Beispiele entsprechender ethischer Sätze, die ich aus nahe liegenden Gründen »nicht-empirisch« oder auch »theoretisch« nenne, sind: »Integrität gibt es nicht ohne eine Prise Gefühlskälte«, »Unehrlichkeit kann ein Ausdruck von Liebe sein« oder »Unnötige Grausamkeit ist immer ein Verbrechen«. Vor dem Hintergrund der Sprachtheorie des späten Wittgenstein sollte sich meine besondere Hervorhebung dieser Sätze nun von selbst erklären. Der besondere Status der zuletzt genannten Sätze lässt sich plausibel mit ihrer Funktion angeben, grammatische Beziehungen zwischen Ausdrücken zu explizieren, deren Hauptrolle in konkreten empirischen Urteilen liegt.28 Der Effekt dieser Interpretation ist, dass eine Leugnung oder Anzweiflung dieser Sätze durch einen Sprecher nicht als Hinweis auf eine Meinungsverschiedenheit, sondern zunächst als Hinweis auf ein Aufeinandertreffen unterschiedlicher grammatischer Festlegungen gedeutet werden muss. (Natürlich kann eine echte Meinungsverschiedenheit nicht ausgeschlossen werden. Diese muss sich aber erst erweisen und sollte dann gesondert erklärt werden.) Natürlich gilt diese These auch und gerade für ethische Prinzipien. Zugegebenermaßen erkaufen wir uns diese Interpretation ethischer Prinzipien damit, einigen verbreiteten philosophischen Gewohnheiten zu widersprechen. Andererseits spricht nicht wenig für die Interpretation. Erstens ist unsere Alltagserfahrung buchstäblich voll von Konflikten, die sich bei genauerem Hinsehen als komplexe Missverständnisse entpuppen. Es wäre daher sonderbar, wenn sich Ähnliches nicht auch in der Ethik zeigte. Tatsächlich kennen wir aber auch ethische Fälle aus erster Hand. Gerade bei sogenannten »dünnen« ethischen Termen wie »gut« oder »schlecht«29 passiert es ständig, dass Streitende mit den gleichen Wörtern _____________ 28 Vergleiche: »Im Leben ist es ja nie der mathematische Satz, den wir brauchen, sondern wir benützen den mathematischen Satz nur, um aus Sätzen, welche nicht der Mathematik angehören, auf andere zu schließen, welche gleichfalls nicht der Mathematik angehören.« (TLP 6.211) 29 Die Rede von »dünnen« und »dicken« (»thin« bzw. »thick«) ethischen Termen ist von Bernard Williams geprägt worden. In seinem Ethics and the Limits of Philosophy (1984) benutzt er das Begriffspaar für ethische Begriffe ohne (dünn) oder mit (dick) interpersonal erkennbarem empirischen Gehalt. Beispiele dünner Begriffe sind »gut«, »böse«, »empfehlenswert« oder »soll (getan werden)«; Beispiele dicker Begriffe sind »großzügig«, »gierig«, »grausam« oder »nett«.

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ganz verschiedene Begriffe verknüpfen und ihre Konflikte folglich eine undurchsichtige Mischung aus Meinungsverschiedenheit und gegenseitigem Unverständnis – oft nur letzteres – sind.30 Diese Streitenden täten gut daran, die Logik ihrer Begriffe offen zu legen, bevor sie der jeweils anderen Partei Denk- oder Wahrnehmungsfehler vorwerfen. Zweitens ist die hier beworbene Interpretation eng verknüpft mit der Einsicht, dass das gegenseitige Verstehen letztlich auf geteilten Praktiken und Lebensumständen fußt. Dass ethische Konflikte häufig an kulturellen Bruchlinien entstehen, ist somit zusätzliche Evidenz für die vorgestellte These. Drittens ist zu bedenken, dass ethische Prinzipien in der Alltagssprache viel seltener fallen als etwa in philosophischen Seminaren. Aus der Perspektive unserer Interpretation ist dies kein Wunder: Da grammatische Sätze die Regeln der geteilten Sprache explizieren, ist ihre Äußerung nur in Ausnahmefällen sinnvoll, zu denen natürlich Situationen grammatischer Spannung gehören, über die im Folgenden mehr zu sagen sein wird. Ich folgere vorläufig, dass die erste These eine plausible Interpretation ethischer Prinzipien darstellt. Die zweite interpretative These, nach der die eingangs diskutierten Konfrontationen ethischer Prinzipien mit partikularistischen Gegenbeispielen Manifestationen grammatischer Spannungen sind, sollte nun schon ein stückweit plausibler sein. Schließlich haben wir gesehen, dass grammatische Sätze, obgleich sie im Normalfall nicht sinnvoll negiert werden können, in besonderen Situationen miteinander konfligieren. Darüber hinaus brauchen wir nun aber ein Argument, welches zeigt, dass ethische Gegenbeispiele – solange sie nicht einfach Denk- oder Wahrnehmungsfehlern geschuldet sind – Implikate weiterer grammatischer Sätze sind. Dieses Argument können wir uns leicht erschließen, wenn wir bedenken, dass in einer Spiel-Konzeption der Sprache jedes Urteil – wie überhaupt jede sinnvolle Äußerung – erst durch seine grammatischen Beziehungen _____________ 30 In dieser kurzen Skizze steckt eine Theorie der moralischen Rede, die Susan Hurley »Non-Zentralismus« genannt hat (vgl. Hurley, 1989, Kap. 2, 3 und 10). Diese Position besagt, dass die Bedeutung dünner ethischer Begriffe eine Funktion der Bedeutung dicker ethischer Begriffe ist. Das Verständnis eines Begriffs wie »gut« ist somit logisch abhängig von der Fähigkeit des Umgangs mit Begriffen wie »großzügig«, »nett« oder »bescheiden«, und zwar auf die gleiche Art, wie das Verständnis des Begriffs »Farbe« abhängig ist von der Fähigkeit des Umgangs mit konkreten Farbwörtern (»rot«, »gelb«, »grün« etc.). Wenn zwei Sprecher unterschiedliche Theorien des Zusammenwirkens konkreter ethischer Terme haben, so können sie folglich nicht den gleichen Begriff »gut« haben und müssen sich, bevor sie eventuelle Meinungsverschiedenheiten überhaupt identifizieren können, auf eine gemeinsame Sprache einigen. Explizite Zustimmung findet sich u.a. bei Pettit und Jackson, 2004. Der locus classicus des gegnerischen Lagers ist Hare, 1981, Kap. 4.

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Bedeutung trägt. Da grammatische Sätze nichts weiter als Explikationen dieser Beziehungen sind, folgt, dass jedes korrekte Urteil als Implikat eines grammatischen Satzes darstellbar ist. Wenn nun ein Urteil ein tatsächliches Gegenbeispiel eines ethischen Prinzips konstituiert, so muss dies auf eine Spannung zweier grammatischer Regeln zurückgeführt werden. Diese Interpretation erklärt übrigens auf eine elegante Weise, wieso wir in ethischen Konflikten oft auch in der Sichtweise unserer jeweiligen Gegner Unterstützenswertes sehen und wieso ethische Probleme auch intrapersonal auftreten. Ein wichtiger Zweifel muss in Bezug auf die zweite These aber noch ausgeräumt werden. Ethische Urteile sind wesentlich praktisch. Damit ist gemeint, dass ethische Urteile als Rechtfertigungen und Erklärungen von (nicht-sprachlichen) Handlungen fungieren können. In dieser Hinsicht, so wird häufig behauptet, unterscheiden sie sich von wissenschaftlichen Urteilen, die »rein deskriptiv« seien. Dieser Zweifel muss klar zurückgewiesen werden. Das Problem an ihm ist, dass er einen grundlegenden Aspekt einer an Wittgenstein orientierten Sprachtheorie ignoriert, nämlich die Festlegung darauf, dass alle Urteile in letzter Instanz praktisch sind, also als Rechtfertigungen und Erklärungen von Handlungen verwendet werden. Zwar mag es sein, dass wissenschaftliche Urteile nur über inferenzielle Umwege praktische Konsequenzen haben. Dass sie aber im relevanten Sinn praktisch sind, kann in einem wittgensteinianischen Kontext nicht geleugnet werden. 7.4.2 Ein Beispiel Spielen wir noch einmal die ethische Erwägung des Spaß-Machens, den Prinzipienvorschlag »Alles, was Spaß macht, ist unterstützenswert«, und das Folter-Gegenbeispiel durch. Aus einer wittgensteinianischen Perspektive müssen wir mit der Forderung nach einem Kontext anfangen, in dem ein Satz wie »Alles, was Spaß macht, ist unterstützenswert« überhaupt sinnvoll geäußert werden kann. Der Satz könnte in einer Diskussion mit einem Verächter von Kindergeburtstagen fallen. Er könnte auch in einer Situation fallen, in der einem Fremdsprachler der Begriff »Spaß« erläutert wird. Oder aber er tritt drittens in einer Situation auf, in der sich ein sonderbarer neuer Fall präsentiert, an den wir im Kontext der Rede von »Spaß« noch nie gedacht hatten, und der uns vor eine grammatische Entscheidung stellt. Nehmen wir an, dass sich in einer konkreten Sprechsituation zum ersten Mal ein Fall ergibt, in dem Foltern mit Spaß praktisch relevant wird. In dieser Situation könnte nun unser Prinzip in einen Konflikt mit folgenden grammatischen Sätzen treten: »Jedes Foltern ist ein

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Verbrechen« und »Ein Verbrechen ist nie unterstützenswert«. Wir hätten es hier mit einer Situation zu tun, in der wir ein konkretes Handeln gleichzeitig als unterstützenswert und als nicht unterstützenswert behandeln müssten. Ebenso wie im Infrarot-, im Walfisch-, oder im i2-Fall müssen wir eine grammatische Anpassung vornehmen. Dabei stehen uns mehrere Optionen offen. Zu ihnen gehören die (grammatischen) Erklärungen »Nicht jedes Foltern ist ein Verbrechen«, »Manche Verbrechen sind unterstützenswert« und »Nicht alles, was Spaß macht, ist unterstützenswert«. Da alle diese Sätze als grammatische Sätze vorgeschlagen werden, können sie nicht – wie empirische Sätze – getestet werden. Aber sie alle sind mit unzähligen weiteren grammatischen Sätzen intern verbunden. Da jeder grammatische Satz als Prämisse in einem Argument auftreten kann, erstaunt es kaum, wenn eine grammatische Spannung wie die vorliegende eine komplexe Diskussion auslöst. Welche Argumente am Ende den Ausschlag geben, das hängt – wie in den obigen Beispielen – sowohl von den praktischen Anforderungen an das Sprachspiel als auch von der Weitsicht der Diskutierenden ab. Der bereits im ersten Abschnitt angedeutete Lösungsvorschlag der Generalisten kann nun als Versuch einer ökonomischen und möglichst konservativen grammatischen Anpassung verstanden werden. Mit dem Satz »Alles, was Spaß macht, ohne Leid zu verursachen, ist unterstützenswert« wird eine Lösung vorgeschlagen, welche die verbrecherische Natur des Folterns und die NichtUnterstützungswürdigkeit von Verbrechen unangetastet lässt und stattdessen die Unterstützungswürdigkeit von Dingen, die Spaß machen, qualifiziert. Da wir hiermit einen Vorschlag der Generalisten aufnehmen, sollten wir es nicht versäumen, die Unterschiede zum Generalismus klar zu machen. Erstens wird nicht behauptet, dass wir uns schon immer »implizit« oder »eigentlich« an der komplexeren Regel orientiert hätten. Dies lässt sich unter anderem durch den Hinweis auf alternative Lösungen zeigen. Es wäre beispielsweise möglich gewesen, einen weiteren grammatischen Satz ins Feld zu führen: »Spaß kann man nur bei harmlosen Beschäftigungen haben« Mit jenem Satz hätte nun die Interpretation des problematischen Phänomens als ein »Foltern mit Spaß« bestritten werden können. Stattdessen hätten wir von einem »Foltern mit Wollust« sprechen können, welches mit dem grammatischen Satz »Alles, was Spaß macht, ist unterstützenswert« gar nicht konfligiert. Zweitens wird nicht behauptet, dass die Revision notwendigerweise unser letztes Wort ist. Es kann nie ausgeschlossen werden, dass sich in Zukunft neue Spannungen ergeben, die mit erneuten grammatischen Revisionen gekittet werden müssen. Drittens schließlich geben wir zu, dass wir es nach einer grammatischen Entscheidung mit einem neuen Sprachspiel mit neuen Begriffen zu tun haben. Aus der Perspektive eines späteren Sprechers müssen also alle Äußerungen frühe-

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rer Sprecher einer Überprüfung und gegebenenfalls einer Übersetzung unterzogen werden, bevor sie bewertet werden können. 7.4.3 Drei tragbare Konsequenzen Bevor ich auf die Frage der Vermittlung zwischen Partikularismus und Generalismus explizit eingehe, möchte ich drei allgemeine Argumente gegen die vorgestellte Interpretation diskutieren. Bei ihnen handelt es sich sämtlich um Modus-Tollens-Argumente: Sie erklären jeweils, dass aus der vorgeschlagenen Interpretation eine These folgt, die dann – in der zweiten Prämisse – abgelehnt wird. Da meine Reaktion in allen Fällen in einer Affirmierung der fraglichen Konsequenz besteht – also in einer Zurückweisung der zweiten Prämisse –, mache ich es mir einfach und stelle nur die jeweiligen ersten Prämissen vor. In einem nächsten Schritt werde ich dann erklären, wieso wir uns die Konsequenzen leisten können, die in den Prämissen zum Ausdruck kommen. Erstens: Aus der vorgestellten Interpretation folgt, dass sich unsere ethische Sprache aufteilt in eine große Anzahl von Einzelspielen, die sich vielfältig überschneiden. Dies ist erstens auf der Zeitachse der Fall, da durch jede (noch so periphere) grammatische Revision eine »neue Sprache« entsteht. Dies ist zweitens in Bezug auf unterschiedliche Sprecherkontexte der Fall, da grammatische Anpassungen nicht in einer einzigen globalen Unterhaltung, sondern in Milliarden von Einzelkontexten erfolgen. Zweitens: Aus der vorgestellten Interpretation folgt, dass der im ersten Abschnitt skizzierte Unterschied zwischen dem Ausgestochenwerden und der Aufhebung (bzw. Umkehrung) einer begründenden Erwägung philosophisch zweitrangig ist. In beiden Fällen passiert letztlich das gleiche: Eine grammatische Spannung tritt auf und wird im Rahmen einer grammatischen Revision beseitigt. Drittens: Aus der vorgestellten Interpretation folgt, dass jeder Sprecher im Fall einer grammatischen Spannung zu einer grammatischen Entscheidung gezwungen ist, und dass seine Entscheidung sogar für zukünftige Sprecher bindend sein kann. Ich bestreite nicht, dass die hier vorgeschlagene Interpretation der ethischen Denk- und Sprachpraxis wichtige theoretische Konsequenzen hat, möchte jedoch im Folgenden zeigen, dass wir uns durch die Konsequenzen nicht abschrecken lassen müssen. Wir sollten sie vielmehr als sprachtheoretische Einsichten begrüßen. Die erste Konsequenz fordert von uns eine Revision des theoretischen Begriffes der Sprache. Dies ist natürlich zunächst nichts Schlimmes. Aber da die Sprache nach dem revidierten Begriff aus sehr vielen Einzelspielen besteht, die einander zudem vielfältig überschneiden und sich so-

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gar ständig verändern, so dass zwei Sprecher selten oder nie exakt dasselbe Spiel spielen, bleibt zu klären, wie Kommunikation überhaupt möglich ist, wenn die hier vorgeschlagene Theorie korrekt ist. Dass dies allerdings bloß ein Scheinproblem ist, wissen wir spätestens seit Donald Davidsons Essay »A Nice Derangement of Epitaphs«.31 Um das zu zeigen, reicht es (für unsere Zwecke) aus, wenn wir uns einige Aspekte grammatischer Revisionen in Erinnerung rufen. Erstens wird in grammatischen Revisionen meistens nur ein sehr kleiner Anteil der grammatischen Beziehungen eines Urteils oder Begriffs abgestoßen. Zweitens sind viele der Entwicklungen, die zu grammatischen Spannungen führen, kontextübergreifend feststellbar. Drittens äußern Sprecher gewöhnlich nicht nur einzelne Urteile, sondern übermitteln im Gespräch eine Vielzahl grammatischer Hinweise, so dass sich verschiedene Gesprächspartner über zurückliegende Revisionen unterrichten können. Viertens sind wir in der Lage, in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich ausgestaltete Regelwerke zu verwenden. Fünftens schließlich – und dieser Punkt ist vielleicht der wichtigste – sollten wir nicht meinen, einander immer und überall richtig zu verstehen.32 Die zweite Konsequenz – die Zweitrangigkeit des Unterschiedes zwischen ausgestochenen und aufgehobenen (bzw. umgekehrten) begründenden Erwägungen – ist in der Tat auf den ersten Blick problematisch. Schließlich hat niemand Schwierigkeiten, in Fällen wie dem Folter-Beispiel den Unterschied zu sehen. Mehr noch, es könnte scheinen, dass die hier vorgeschlagene Interpretation impliziert, dass alle Fälle grammatischer Umbrüche dem einen oder dem anderen Typ der Interaktion von Einzelerwägungen zuzusprechen sind. Doch während der erste Einwand irrelevant ist, ist der zweite schlichtweg falsch. Beides wird deutlich, wenn wir uns klar machen, dass unsere Interpretation den Unterschied zwischen dem Ausstechen und dem Aufheben von Gründen nicht leugnet, sondern ihn nur für theoretisch zweitrangig erklärt. Tatsächlich kann der Unterschied auf der hier entwickelten Sprachauffassung rekonstruiert werden. Auf der einen Seite kann das Bild der unterschiedlich wichtigen Erwägungen wiedergegeben werden durch die unterschiedlich schwer aufzugebenden grammatischen Beziehungen eines Terms. Auf der anderen Seite kann von einem »Umkehren« einer Erwägung gesprochen werden, wenn ein grammatischer Satz nicht bloß aufgegeben wird, sondern als negierter Nebensatz in einem komplexeren Konditionalsatz wieder auftaucht. _____________ 31 Davidson, 1986. 32 All dies sollte es uns beträchtlich erleichtern, Davidson zuzustimmen, wenn er sagt, »that there is no such thing as a language, not if a language is anything like what many philosophers and linguists have supposed« (Davidson, 1986, 446).

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Die dritte Konsequenz, nach der grammatische Entscheidungen oftmals unumgänglich sind, könnte auf Unverständnis stoßen, wenn davon ausgegangen wird, dass es möglich sein muss, sich in Bezug auf die Spielregeln einer Praxis rein passiv zu verhalten. Beim Schachspiel können wir dies schließlich auch. Die Sprache ist jedoch aufgrund ihrer internen Spannungen eine andere Art von Spiel als Schach. Im Gegensatz zu letzterem konfrontiert uns die Sprache immer wieder mit inkompatiblen Spielregeln, die wir nicht einfach ignorieren können. Freilich können wir immer sagen: »Hier weiß ich nicht mehr weiter«. Doch dies wäre eine Entscheidung zum Schweigen, also zum Spielabbruch. Jeder andere Kurs involviert notwendigerweise eine grammatische Anpassung. Natürlich können diese Entscheidungen durchaus mit mehr oder weniger Bedacht getroffen werden. Das Ergebnis einer unbedachten grammatischen Politik ist uns übrigens nicht unbekannt. Wir erkennen es am Phänomen der »Familienähnlichkeiten« (PU 66f.), bei dem wir im grammatischen Gerüst der Sprache »ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten [sehen], die einander übergreifen und kreuzen« (PU 66) wie die Ähnlichkeiten »zwischen den Gliedern einer Familie […]: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc.« (PU 67). 7.4.4 Zur Vermittlung zwischen Partikularismus und Generalismus Insgesamt erweist sich die vorgeschlagene Interpretation somit als robust und theoretisch interessant. Damit bleibt nur noch das Verhältnis zum Partikularismus und zum Generalismus zu untersuchen. Dass die Interpretation beiden Lagern entgegenkommt, sollte aus dem bisher Gesagten offensichtlich sein. Sie bestätigt erstens die partikularistische Kernthese der Unmöglichkeit einer Algorithmisierung der ethischen Deliberation, insofern sie einen Teil der ethischen Probleme als Fälle auffasst, welche die Grammatik des jeweils aktuellen Sprachspiels sprengen. Sie bestätigt aber gleichzeitig das generalistische Festhalten an ethischen Prinzipien, insofern sie die ethische Deliberation als argumentativen oder auch dialektischen Prozess darstellt. Ob dieses doppelte Entgegenkommen aus der Perspektive der verfeindeten Lager ausreicht, hängt von zwei Fragen ab. Erstens: Gehört es zu den Kernaussagen des Generalismus, dass das Regelwerk der Ethik alle möglichen und bis in alle Ewigkeit auftretenden ethischen Probleme zu lösen vermag, selbst, wenn sie sich in Lebenssituationen ergeben, die von unseren aktuellen Lebenssituationen wesentlich abweichen? Zweitens: Gehört es zu den Kernaussagen des Partikularismus, dass ein Verständnis

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der ethischen Deliberation als argumentativ und als insofern mit generellen Sätzen operierend notwendig das Wesen der Deliberation verfehlt? Mir scheint, dass Generalisten wie Partikularisten ohne Gesichtsverlust von den hier aufgeführten starken Forderungen Abstand nehmen und sich auf ihre ursprünglichen Ziele konzentrieren können. Sowohl das Insistieren auf ethische Prinzipien als auch das Insistieren auf die Grenzen der Kodifizierbarkeit der ethischen Sensibilität bleiben vor dem Hintergrund meines Vorschlags gehaltvoll und wichtig. Vielleicht hilft ihnen bei dieser Besinnung die Tatsache, dass Wittgenstein selbst sich für beide Seiten stark gemacht hat. In einer aufschlussreichen Passage der Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, in der es um Widersprüche in formalen Systemen geht, lässt er einen Diskutanten anmerken: Wir machen lauter legitime – d.h. in den Regeln erlaubte – Schritte, und auf einmal kommt ein Widerspruch heraus. Also ist das Regelverzeichnis, wie es ist, nichts nutz, denn der Widerspruch wirft das ganze Spiel um.33

Wittgensteins lapidare Gegenfrage ist: »Warum lässt du ihn es umwerfen?« Und weiter: »Nun, welche Art von Voraussicht willst du? Eine, die dein gegenwärtiger Kalkül nicht zulässt? Nun, dadurch ist er nicht ein schlechtes Stück Mathematik, oder, nicht im vollsten Sinne Mathematik.«34 Im folgenden Abschnitt präzisiert Wittgenstein dann seine Interpretation der Neuaufstellung der Axiome als Reaktion auf den Widerspruch: Nicht schlechte Mathematik wird hier verbessert, sondern ein neues Stück Mathematik erfunden. […] Waren die ersten Regeln des Kalküls nicht gut? Nun, wir gaben sie nur, weil sie gut waren. – Wenn sich später ein Widerspruch ergibt,– haben sie nicht ihre Pflicht getan? Nicht doch, sie waren für diese Anwendung nicht gegeben worden.35

In diesen Bemerkungen zeigen sich beide Seiten Wittgensteins. Einerseits beruht das Schließen auf allgemeinen Regeln; andererseits können wir dabei durchaus an die Grenzen des zugrunde liegenden Kalküls stoßen. Diese Möglichkeit ist aber für Wittgenstein kein Grund zur Verzweiflung. Vielmehr fordert er uns auf, eine Entscheidung über die Anpassung des Kalküls an die vormals nicht bedachten praktischen Anforderungen zu treffen – und dann weiterzumachen, bis wieder eine Anpassung erforderlich wird und das Spiel von Neuem beginnt.

_____________ 33 Wittgenstein, 2003b [BGM], VII:11. 34 Wittgenstein, 2003b [BGM], VII:11. 35 Wittgenstein, 2003b [BGM], VII:12.

Abschließende Bemerkungen und Überleitung

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7.5 Abschließende Bemerkungen und Überleitung Wir haben gesehen, dass die Historizität der Sprachpraxis – insbesondere die ständige Weiterentwicklung der Sprache inklusive der ethischen Sprachbereiche – nicht nur kein Problem für ethische Objektivisten und Rationalisten ist. Tatsächlich haben wir in diesem und in den vorangegangenen Kapiteln gesehen, dass die Sprachspieltheorie, die den Objektivismus und den Rationalismus unterstützt, uns gute Gründe gibt, eine ständige Entwicklung der Sprachpraxis zu erwarten. Ethische Akteure – Teilnehmer unseres komplexen Sprachspiels und damit unserer komplexen Lebensform – sind immer sowohl Regelbefolger als auch Regelentwickler, und ihre Deliberation hat immer sowohl Züge der kalkülmäßigen Manipulation von Symbolen als auch Züge der freien Bestimmung der Manipulationsregeln im Kalkül. Die Haupteinsicht des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit, welche bereits im Kapitel über Brandom und Dworkin anklang, aber welche erst jetzt vollständig und klar vor uns liegt, ist die Einsicht, dass unsere Denkund Handlungspraxis sich immer – ohne Vorwarnung – als inkonsistent erweisen kann. Es ist immer möglich, in Situationen zu geraten, in denen wir uns nicht mechanisch an Regeln halten können, sondern in denen wir die Regeln, welche gemeinsam unsere Lebensform ausmachen, umschreiben müssen. Oder, um es noch etwas dramatischer auszudrücken: Unsere Lebensform ist konstitutiv brüchig. Sie ist eine ständige Baustelle, und sie muss es sein, um nicht in Inkohärenz zu versinken. Die ständige Weiterentwicklung unserer sprachlich konstituierten Lebensform in der alltäglichen ethischen Reflexion dient also der Bewahrung der Rationalität – der Rationalität des Sprachspiels, und damit unserer Rationalität. Es lohnt sich zu unterstreichen, dass sich in dieser Einsicht ein Menschenbild zeigt, welches gleichermaßen die Rationalität (und den damit einhergehenden Zwang der besseren Gründe) und die Freiheit (und die damit verbundene Offenheit der Strukturen, in denen das Leben stattfindet) betont. Tatsächlich liegt es nicht allzu fern, an dieser Stelle an die Kantische Idee zu erinnern, dass die Freiheit im selbst-gegebenen Gesetz residiert. Oder – vielleicht noch passender – an die Hegelsche Idee, dass die eigentliche Freiheit sich aus der Aufhebung des Widerspruchs zwischen der subjektiven Freiheit der Willkür einerseits und der objektiven Freiheit der Sittlichkeit andererseits ergibt. Vielleicht darf das im zweiten Teil dieser Arbeit erarbeitete Modell der ethischen Rede und der ethischen Deliberation als Versuch verstanden werden, diesem enigmatischen Diktum Hegels Substanz zu geben. Die dritte Position zwischen Partikularismus und Generalismus repräsentiert dann nichts weniger als die Aufhebung des Widerspruchs zwischen subjektiver und objektiver Freiheit.

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Mit einem weiteren (im weitesten Sinne) hegelianischen Gedanken möchte ich nun in den dritten Teil der vorliegenden Arbeit überleiten.36 Bislang haben wir die Weiterentwicklung des Sprachspiels als eine bloße Angelegenheit der Alltagssprecher selber behandelt. Doch neben dieser Variante der reflexiven Weiterentwicklung der Sprache gibt es eine zweite: Es gibt auch Veränderungsimpulse von »außen«. Zwar gibt es, wie ich mehrfach betont habe, keine philosophische Außenperspektive auf das Sprachspiel – also keine Perspektive, aus der Korrektheits- oder Inkorrektheitsurteile in Bezug auf Äußerungen oder Handlungen von Sprachspielteilnehmern aufgestellt werden können, die entsprechende Korrektheits- oder Inkorrektheitsurteile der Sprachspielteilnehmer selber prinzipiell ausstechen. Jedoch ist es in einer anderen, bescheideneren Hinsicht durchaus möglich, von »außen« auf die Sprachpraxis zu blicken. Es ist möglich, nach Korrelationen zwischen Zügen des tatsächlichen Sprachverhaltens einer Gruppe von Sprechern (vielleicht aller Menschen) einerseits und anderen – sagen wir, wissenschaftlich ermittelten – Daten andererseits zu suchen. Zum Beispiel ist es durchaus möglich, nach Korrelationen zwischen alltäglichen Urteilen über die Hilfsbedürftigkeit von Menschen einerseits und bestimmten psychologischen Daten der Urteilenden andererseits zu suchen. Wie sich zeigen wird, hat diese Art von Untersuchung nicht wenige Philosophen dazu veranlasst, ihre alltägliche Urteilspraxis auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls zu verändern. Denn mitunter kommt bei diesen Untersuchungen heraus, dass unsere alltäglichen praktischen Urteile von Situationsaspekten abhängig sind, die wir bei einer nüchternen Betrachtung als völlig irrelevant in Bezug auf die Angemessenheit unserer Urteile bezeichnen würden. Wir können diese Variante der Reflexion des Sprachspiels als Reflexion durch die Konfrontation des manifesten (prä-reflexiven) Selbstverständnisses mit dem wissenschaftlichen Menschenbild bezeichnen (um einen Begriff von Wilfrid Sellars aufzunehmen und leicht zu modifizie_____________ 36 »Im weitesten Sinne« bedeutet, dass bei Hegel die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Individualität und Universalität immer auch im Feld des (durch Letztauslegungsinstanzen gekennzeichneten und von der Staatsgewalt umgesetzten) positiven Rechts erfolgen soll. Wenn im Rahmen der hier entwickelten Sprachspieltheorie ebenfalls von einer »Aufhebung« gesprochen werden kann, so geht es in ihr nicht um das Spannungsverhältnis zwischen Vernunftsubjekt und (gleich wie vernünftigem) positivem Recht – sondern nur um das Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit des individuellen Sprach-Schaffers und dem unausweichlichen Zwang, der vom bereits vorhandenen Sprachspiels ausgeht. Unter anderem aus diesem Grund scheint mir die »Aufhebung« durch die Sprachspieltheorie der Hegelkritik Christoph Menkes (siehe Menke 1996, 299ff.) zu entgehen.

Abschließende Bemerkungen und Überleitung

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ren).37 Wir wollen uns diese Art der Reflexion – und auch die durch sie angestoßene Veränderung unserer Sprachpraxis – im nächsten Kapitel und damit im dritten Teil der Arbeit genauer ansehen, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen aus Gründen der Vollständigkeit. Wir interessieren uns für den Wandel der Sprache, und wenn die Sprache sich im Zuge der Konfrontation des manifesten mit dem wissenschaftlichen Menschenbild verändert, dann müssen wir uns diese Konfrontation genauer ansehen. Der zweite Grund liegt in den in letzter Zeit immer häufiger werdenden Behauptungen und Suggestionen aus den Wissenschaften – allen voran den Neurowissenschaften –, dass unsere alltäglichen ethischen und juristischen Praktiken im Licht neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über den Menschen umgeschrieben werden müssten. Die berühmteste – und kontroverseste – Idee in diesem Zusammenhang ist, dass die Neurowissenschaften zeigen könnten, dass die Willensfreiheit eine Chimäre ist, und dass die ethischen und juristischen Praktiken, die auf der These der Willensfreiheit beruhen, sich damit als illegitim erweisen. Das nächste Kapitel wird die Reflexion der Sprachpraxis aus der wissenschaftlichen Außenperspektive mit dem Fokus auf die Fragen diskutieren, welche Rolle die Wissenschaft bei der Weiterentwicklung der Alltagssprache spielt und welche Rolle sie spielen sollte.

_____________ 37 Siehe Sellars, 1963.

Teil III Zur Außenansicht des ethischen Diskurses

8. Die Ethik im Blick der Naturwissenschaft. Über Relevanz und Irrelevanz der Moralpsychologie in Bezug auf die ethische Rede 8.1 Einleitung: Naturwissenschaftler und Philosophen Anhänger des sprachpragmatischen Zugangs zur Ethik, wie er in der vorliegenden Arbeit entwickelt und vertreten wird, sind ebenfalls Anhänger der These, dass es eine konstitutive Grenze zwischen normativen Erklärungen (Rechtfertigungen) einerseits und kausalen bzw. naturwissenschaftlichen Erklärungen andererseits gibt.1 Wenn wir über eine Rechtfertigung sprechen – sagen wir, über die Rechtfertigung eines Krieges, einer Ehe oder einer steuerpolitischen Strategie –, dann reden wir nicht über die Ursachen des jeweiligen Phänomens. Vielmehr reden wir darüber, was es gut, richtig, legitim oder erforderlich macht. Das gleiche gilt, wenn wir den Gegenstand von der anderen Seite betrachten, obwohl die Dinge hier etwas komplizierter sind. Wenn wir als Gesprächsthema die Frage festlegen, wodurch etwas verursacht wurde –, nehmen wir ruhig wieder einen Krieg, eine Ehe oder eine Art von Steuerpolitik – dann reden wir nicht darüber, was das Phänomen gut oder richtig (oder schlecht oder falsch) macht. Zwar dürfen wir in diesem Kontext durchaus rechtfertigende Informationen anführen. Diese Informationen firmieren dann aber bloß als Gehalte der Überzeugungen von Akteuren, die zur Herbeiführung des Phänomens beigetragen haben. Ob diese Überzeugungen wahr sind, ob sie also unsere Unterstützung verdienen, ist eine ganz andere Frage. Kurzum: Die Rede von Gründen und die Rede von Ursachen sind voneinander unabhängig.2 _____________ 1 Siehe noch einmal Kap. 2 und 4.4.2. 2 Zugegebenermaßen wird in der Alltagssprache manchmal der Begriff »Grund« in nicht-normativen Erklärungen verwendet. Jedoch haben auch diejenigen Sprecher, welche die Rede von »Gründen« nicht auf justifikatorische Kontexte beschränken, üblicherweise Methoden, mit denen explanatorische von justifikatorischen Fragen getrennt und die Trennung markiert werden. Aus ökonomischen Gründen verwende ich die Rede von Gründen nur für justifikatorische Fragen. Ein zweiter Punkt ist, dass manche Philosophen denken, dass während alle Gründe vorgeben zu rechtfertigen (dass alle Gründe in Begründungsversuchen auftreten), nicht alle Gründe tatsächlich erfolgreich begründen. Im Gegensatz zu die-

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Aus der Sicht der in dieser Arbeit entwickelten pragmatistischen Theorie gilt dies nicht nur für Kriege, Ehen und steuerpolitische Strategien, sondern auch für intentionale Zustände wie Ängste, Hoffnungen, Erwartungen oder Überzeugungen – mithin für die Überzeugung, dass etwas gerechtfertigt ist. Überzeugungen können, wie jedes andere als intentional beschreibbare Phänomen, sowohl als kausal effektives als auch als normativ bzw. rechtfertigend relevantes Phänomen behandelt werden; diese beiden Behandlungsweisen dürfen nur nicht vermischt werden. Die Idee, dass die beiden Ansätze der Auseinandersetzung mit Überzeugungen strikt getrennt werden müssen, ist in letzter Zeit unter Beschuss von Moralpsychologen gekommen – zumindest in Bezug auf ethische Überzeugungen.3 Eine der Thesen der fraglichen Autoren ist einfach, dass viele Philosophen zu weit gegangen sind in ihrer Ablehnung der Disziplin der Psychologie als irrelevant für jegliche ethische Frage bzw. jegliches ethisches Nachdenken. Gegen diese Tendenz erinnern sie uns daran, dass unsere ethischen4 Handlungs- und Unterlassungspflichten immer von der aktuellen empirischen Beschaffenheit der Welt abhängt, und dass die Wissenschaften – natürlich inklusive der Psychologie – uns diese vermitteln. Aber einige Moralpsychologen sind in letzter Zeit über diese bescheidene Erinnerung hinausgegangen. Wenn sie von Moralphilosophen verlangen, die Psychologie ernster zu nehmen, als sie es bislang getan haben, so geht es ihnen oftmals um die These, dass das kausale Profil einer ethischen Überzeugung relevant in Bezug auf die Rechtfertigung der Überzeugung sein kann.5 Das Hauptziel dieses Kapitels besteht darin, diese These unter die Lupe zu nehmen. Zuerst werde ich allerdings im nächsten Abschnitt einige Worte über die bescheidene Erinnerung an die Relevanz der empirischen Erkenntnis _____________ sen Philosophen – und wiederum im Namen der Begriffsökonomie – vermeide ich die Rede von »guten« und »schlechten« (scheiternden) Gründen und übersetze die Rede von »schlechten« Gründen einfach als die Rede von irrtümlichen Annahmen darüber, dass es sich bei bestimmten Erwägungen tatsächlich um Gründe handelt. Schließlich sollte ich anmerken, dass ich aus Gründen der Einfachheit in diesem Kapitel alle Gründe als nicht-personengebunden (non-agentrelative; wenn jemand einen Grund hat, dann hat jeder diesen Grund) und objektiv (Informationen darüber, was eine Person weiß oder wissen sollte, sind irrelevant bezüglich der Frage, ob sie einen Grund hat) behandle. 3 Vgl. Doris und Stich, 2004, 2006; Haidt, 2007; Sinnott-Armstrong, 2008b; Doris, 2002; Casebeer 2003. 4 Obwohl ich in den vorangehenden Kapiteln vor der Rede von »ethischen Gründen« (anstatt einfach von Gründen) gewarnt habe, lasse ich mich hier auf sie ein. Im aktuellen Kontext hängt nichts daran. 5 Vgl. etwa Doris und Stich, 2004, oder Casebeer 2003.

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für ethische Belange sagen. Danach – im dritten Abschnitt – werde ich die zentrale und interessantere These der Moralpsychologen über die kausale Seite ethischer Überzeugungen und Intuitionen diskutieren und weitgehend zurückweisen. Im Anschluss – im vierten Abschnitt – soll dann die gegenwärtig prominente Idee diskutiert werden, dass die Disziplin der Moralpsychologie dazu beitragen kann, Philosophen und anderen an ethischen Fragen Interessierten von den Beschränkungen und Gewohnheiten ihrer engen Weltsicht zu befreien und ihnen ein Gefühl für die Vielfalt der Varianten ethischen Nachdenkens zu geben. Auch diese These werde ich, zumindest in ihren nicht-banalen Interpretationen, zurückweisen. Insgesamt werde ich für die Sichtweise werben, dass die aktuelle Aufregung um die Moralpsychologie in fast allen Aspekten übertrieben und ungerechtfertigt ist, aber dass es auch einige wertvolle Lektionen in den moralpsychologischen Erkenntnissen der letzten Jahre gibt.

8.2 Bescheidene Erinnerungen zur Relevanz der Psychologie Ein verbreitetes Unbehagen vieler Moralpsychologen an der Moralphilosophie lässt sich mit der These auf den Punkt bringen, dass sich aus dem akademischen Elfenbeinturm heraus die Welt schlecht erfassen und damit auch schlecht bewerten lässt. Wer Antworten auf die großen (und kleinen) Fragen der Ethik sucht, der muss erst einmal wissen, wie die Welt um ihn herum beschaffen ist. Und da ein nicht unerheblicher Teil der Welt aus Menschen besteht, spricht nichts dagegen und einiges dafür, dazu die Humanwissenschaften inklusive der Psychologie zu konsultieren. Zwar wird sich wohl niemand finden, der diesen Thesen widersprechen wollte. Andererseits ist die Philosophie seit ihrer Emanzipation von den Naturwissenschaften von einem besonderen Misstrauen gegenüber der Psychologie gekennzeichnet. So ist es vielleicht nicht ganz unberechtigt, wenn Psychologen ihren philosophischen Kollegen manchmal ein mangelndes Interesse an psychologischer Forschung vorwerfen. Doch wie berechtigt oder unberechtigt dieser Vorwurf auch sein mag: Sicher ist, dass es mindestens zwei Hinsichten gibt, in denen das ethische Nachdenken von empirischen Erkenntnissen der Psychologie profitieren kann. Erstens kann die Psychologie dabei helfen, »to better understand what educational and policy interventions may facilitate good conduct and ameliorate bad conduct«6. Die Idee hinter dieser bescheidenen These ist, dass wir indirekt viel Gutes tun können, wenn uns die psychologischen Faktoren bekannt sind, die Menschen besser oder schlechter (mehr oder weni_____________ 6 Doris und Stich, 2006.

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ger aufmerksam, einfühlsam, großzügig, tolerant etc.) machen, da wir mit diesem Wissen für eine passende Beeinflussung unserer Mitmenschen sorgen können. Zweitens kann uns die Psychologie dabei helfen, die Schwierigkeits- bzw. Anforderungsgrade ethischer Urteile und die mit ihnen verknüpften Grade des angemessenen Lobes und Tadels, richtig abzuschätzen. Im Grenzfall kann uns die Moralpsychologie zeigen, dass bestimmte ethische Forderungen, die wir leichtfertig aus dem Lehnstuhl heraus aussprechen, praktisch unmöglich zu erfüllen sind. In solchen Fällen liefert die Moralpsychologie sogar harte Sollen-impliziert-Können- – oder besser: Nichtkönnen-impliziert-Nichtmüssen- – Gegenargumente gegen ethische Urteile oder Forderungen. Der erste Punkt wird schnell klar, wenn wir uns einige der bekannten Ergebnisse der Moralpsychologie vor Augen führen, aus denen sich mehr oder weniger direkt »educational and policy interventions« ergeben.7 Darley und Batson (1973, 105) berichten, dass Passanten, die es nicht eilig haben, sechsmal so geneigt sind, sich um eine offensichtlich leidende Person zu kümmern, als Passanten in Eile (63% gegen 10%). Isen und Levin (1972, 387) zeigen, dass Passanten, die gerade eine ihrer eigenen reflektierten Meinung nach niedrigwertige Münze (10 Cent) gefunden haben, mit 22 (!) mal größerer Wahrscheinlichkeit einer Passantin helfen, der gerade ein Papierstapel auf die Straße gefallen ist. (88% gegen 4%) Haney und Zimbardo (1973) beschreiben, wie College-Studenten, die in einem Gefängnis-Rollenspiel die Rolle von »Wärtern« innehaben, andere Studenten, welche »Gefangene« spielen, auf extreme Weise emotional und verbal zu misshandeln bereit sind. Milgram (1974) zeigt, dass Menschen bereit sind, andere von ihnen räumlich getrennte Menschen mit »Elektroschocks« zu »bestrafen« und sich dabei über Schreie hinwegzusetzen, wenn sie nur von einem Versuchsleiter höflich gebeten werden. Dabei spielt besonders der institutionelle Charakter des Versuchsaufbaus, zu dem etwa die Uniformierung des Versuchsleiters gehört, eine Rolle. Der zweite Punkt wird mehr noch als der erste als Vorwurf formuliert.8 Die Behauptung lautet, dass ethische Denker und Philosophen durch ihr Ignorieren der menschlichen Moralpsychologie immer wieder übermäßig anspruchsvolle Forderungen und Urteile aufstellen. Seit einiger Zeit grei_____________ 7 Die meisten der Punkte der folgenden Liste stammen aus Doris, 2002; Doris und Stich, 2006. 8 Vgl. auch hier Doris und Stich, 2006.

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fen Moralpsychologen in diesem Zusammenhang insbesondere die Vertreter der Tugendethik an.9 John Doris etwa schreibt, dass die Tugendethik, verstanden als Katalog ethischer Handlungsforderungen, letztlich gar nicht befolgt werden kann – oder nur zu dem Preis der Missachtung von tief in der menschlichen Natur verwurzelten psychologischen Anlagen.10 Eine der Studien, die von Doris in diesem Zusammenhang besonders betont werden, ist der oben genannte Artikel von Darley und Batson über die »Samariter in Eile«.11 In der Studie wurden Studenten des Theologischen Seminars der Universität Princeton gebeten, kurze Szenen über die Geschichte des Barmherzigen Samariters zu präsentieren. Die Präsentationen sollten jedoch in einem anderen Gebäude des Instituts stattfinden und der Weg zu diesem Gebäude führte an einem offenbar leidenden und hilfsbedürftigen Mann vorbei. Es zeigte sich, dass von den Studenten, die reichlich Zeit bis zu ihrer Präsentation und damit keine Eile hatten, 63% dem Mann halfen. Von den Studenten jedoch, denen die Versuchsleiter sagten, dass sie bereits etwas verspätet seien und sich zum Ort der Präsentation beeilen müssten, halfen nur 10% dem Mann – obwohl es allen beteiligten Studenten klar war, dass an der Präsentation nicht viel hing. Dieses Ergebnis zeigt, dass eine Veränderung der Situation, die an sich ethisch weitgehend irrelevant ist, einen signifikanten Effekt auf das (ethische) Verhalten der Versuchssubjekte haben kann. Studien dieser Art haben mittlerweile zahllose ähnliche Resultate in vielen vergleichbaren Szenarien mit ethisch irrelevanten Unterschieden erbracht. Die generelle Lektion, die Doris aus Studien dieser Art zu ziehen geneigt ist, lautet, dass menschliches Handeln nicht von »globalen« und »robusten«12 Charakterzügen bestimmt wird, welche durch verschiedene Situationen und Zeiten hindurch konstant sind (Anthony Kwame Appiah spricht in diesem Zusammenhang von »evaluatively integrated character traits«13). Stattdessen müssen wir das menschliche Handeln als durch unterschiedliche Module bestimmt sehen, welche in bestimmten Situationen von bestimmten Schaltern (»triggers«) aktiviert und deaktiviert werden, ohne notwendigerweise mit ethisch relevanten Situationsaspekten (also Gründen) verknüpft zu sein. Selbst wenn wir versuchen, unseren Charakter _____________ 9 Vgl. Doris, 2002, der auch weitere einschlägige Literatur zitiert. 10 Dieser Angriffstyp ist verwandt, aber nicht identisch, mit dem Angriff auf den Utilitarismus, nach dem die Befolgung eines utilitaristischen Prinzips Menschen von den eigentlichen Werten entfremde. Dieser Vorwurf scheint in erster Linie in einer ethischen Kritik der Ziele des Utilitarismus zu liegen, während sich der hier zu diskutierende Einwand gegen die Tugendethik in dieser Hinsicht nicht äußert. 11 Vgl. Darley und Batson, 1973. 12 Doris, 2002, 22. 13 Appiah, 2008.

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zu trainieren oder abzurichten, also unsere komplexen Verhaltensdispositionen zu beeinflussen und zu kanalisieren, wird es uns – so die moralpsychologische Literatur um Doris – kaum gelingen, uns wirklich von den Prinzipien zu lösen, nach denen unsere Moralpsychologie unsere verschiedenen Lebenssituationen schlechterdings gruppiert und behandelt. Kurzum: Unsere Psychologie steht der effektiven Orientierung an ethischen Gründen im Weg, und es wird uns nie gelingen, sie in dieser Hinsicht tiefgreifend und nachhaltig zu verändern. Natürlich steht den Anhängern der Tradition der Tugendethik eine einfache Antwort offen: Tugenden werden nicht als (ihrem Anspruch nach) ausschlaggebende Verhaltensprinzipien, sondern nur als Tendenzen verstanden, welche von äußeren Faktoren gestärkt und geschwächt werden können – wie zum Beispiel ohne Frage der Hunger und die Müdigkeit unsere vielen und komplexen Verhaltensdispositionen schwächen können. Doch es gibt eine zweite und letztlich zentralere Antwort. Die These, dass die Erkenntnisse der Moralpsychologie die Tugendethik »als falsch erweise«,14 ist an die Vorstellung gebunden, dass die Tugendethik ihrerseits als eine letztlich empirische These (oder als eine Sammlung empirischer Thesen) aufzufassen ist. Diese Interpretation wird der Tugendethik allerdings kaum gerecht. Worum es den ganz verschiedenen philosophischen Ideen im Umkreis Tugendethik geht, das ist eine Ordnung unseres alltäglichen ethischen Nachdenkens mittels eines Charakter-Ideals (»rationalist character ideal«15), das als Bewertungsmaßstab für Verhalten, Denken und Emotionen dienen kann. Der Zweck dieses Charakter-Ideals besteht darin, zusammenzufassen und auszudrücken, was ethisch und damit justifikatorisch signifikant ist. Das die Tugendethik kennzeichnende Charakter-Ideal soll nicht als Modell der psychologischen Organisation tatsächlicher menschlicher Akteure fungieren. Wenn wir die Tugendethik auf diese Weise lesen, dann können wir kaum behaupten, dass die Erkenntnisse der Moralpsychologie die »Annahmen« der Tugendethik als falsch ausweisen. Was allerdings auch die Verteidiger der Tugendethik eingestehen müssen, ist, dass moralpsychologische Ergebnisse wie die oben skizzierten uns einen Maßstab an die Hand geben können, mit dem wir Lob und Tadel für die Befolgung oder Verletzung ethischer Urteile bemessen können. Diese Art, mit den Erkenntnissen der Moralpsychologie zu arbeiten, scheint mir konsistent mit den philosophischen Zielen der Tugendethik zu sein und die Moralpsychologie dabei doch zu ihrem Recht der Berücksich_____________ 14 Die ersten Abschnitte von Doris und Stich, 2006, sind voller solcher Formulierungen. 15 Lovibond, 2002, 12.

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tigung in der ethischen Diskussion kommen zu lassen. Die Moralpsychologie hilft uns dabei, uns mit vorschnellem Tadel und überschwänglichem Lob zurückzuhalten und mit unseren reaktiven Attitüden angemessener hauszuhalten.16 Nebenbei erinnert uns die Moralpsychologie auch daran, dass wirklich tugendhafte Menschen eine echte Seltenheit sind, ja: dass es durchaus sein kann, dass kein einziger Mensch das Charakter-Ideal der Tugendethik komplett verkörpert.17

8.3 Moralpsychologie zur Überprüfung von Urteilsdispositionen Mit diesen Bemerkungen wollen wir uns nun der interessanteren Seite der Erinnerung an die Relevanz der Moralpsychologie zuwenden. Die Idee ist, dass die Moralpsychologie eine echte Herausforderung für die Methode des alltäglichen ethischen Nachdenkens und der Moralphilosophie darstellt. In einer ganzen Salve von Beispielen versuchen Moralpsychologen, unsere gesamte ethische Urteilspraxis als inhärent instabil und unzuverlässig darzustellen. Dabei geht es nicht nur um intuitive ethische Reaktionen, sondern auch um reflektierte ethische Urteile und Urteilsmuster. Moralpsychologen argumentieren, dass wir unser alltägliches Vertrauen in unsere Urteilspraxis vor dem Hintergrund aktueller moralpsychologischer Erkenntnisse radikal in Frage stellen müssen. Zu den Studien, die Anlass zu dieser Sorge geben, zählen etwa folgende: Zhong, Strejcek und Sivanathan (2011) zeigen, dass unsere ethischen Urteile und Forderungen strenger ausfallen und wir eher zum Tadeln anderer geneigt sind, wenn wir uns physisch sauber fühlen. Helzer und Pizarro (2011) zeigen, dass selbst Erinnerungen an physische Reinlichkeit, etwa durch das implizite Hinweisen auf Desinfektionsmittelspender, unsere ethischen Urteile strenger machen. Erinnerungen dieser Art führen weiterhin dazu, dass wir _____________ 16 In einem zusammenfassenden Satz schreibt Appiah, dass »knowing [these results], you should surely be a little less confident that ›she’s helpful‹ is a good explanation next time someone stops to assist you in picking up your papers (especially if you’re outside a bakery!)« (Appiah, 2008, 41, die »bakery« ist eine Referenz zu einer etwas neueren Studie – Baron und Thomley, 1994 –, die den starken Effekt von angenehmen Gerüchen auf unsere Hilfsbereitschaft untersucht). 17 Siehe DePaul, 1999; Kupperman, 2001; Annas, 2007, 242f. für Beispiele dieses Eingeständnisses von Vertretern der Tugendethik.

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auf eine ganze Reihe von Fragen eher »konservative« als »liberale« Antworten geben (nach dem amerikanischen Gebrauch dieser Begriffe), etwa sexuelle Abweichungen vom Durchschnitt eher ablehnen. Urteilsmuster lassen sich sogar nachhaltig verändern. Ebenso zeigen Schnall, Haidt, Clore und Jordan (2008) sowie Wheatley und Haidt (2005) generell, dass die Empfindung von Ekel unsere ethischen Urteile strenger und »konservativer« macht. Studien wie die genannten zeigen klar die Abhängigkeit ethischer Urteilsmuster von Faktoren auf, deren ethische Relevanz mindestens fragwürdig ist. Eine weitere bekannte Studie, die sich für eine theoretische Diskussion des Themas gut eignet, ist Daniel Kahnemans und Amos Tverskys »Asian Flu« (Asiatische Grippe) -Szenario.18 Kahneman und Tversky konfrontierten ihre Untersuchungssubjekte mit einem Szenario, in dem ein asiatisches Grippevirus sich in Amerika ausbreiten und binnen kurzer Zeit 600 Menschen töten würde, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Sie gaben den Subjekten dann die Entscheidung zwischen zwei verschiedenen Maßnahmenpaketen – jedoch formulierten sie die Maßnahmenpaare in zwei separaten Versuchen auf unterschiedliche Weise. Gegenüber einer ersten Gruppe wurden die möglichen Maßnahmen wie folgt charakterisiert: Bei Option A würden 200 Leben sicher gerettet, während bei Option B mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 alle 600 Leben gerettet würden und mit einer Wahrscheinlichkeit von 2/3 keines der 600 Leben gerettet würde. Einer zweiten Gruppe wurden die möglichen Maßnahmen wie folgt präsentiert: Bei Option C (entspricht A) würden 400 Menschen ihr Leben verlieren, während bei Option D (entspricht B) mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 keiner der 600 Menschen sein Leben verlieren würde und mit einer Wahrscheinlichkeit von 2/3 alle 600 Menschen ihr Leben verlieren würden. (Es ist klar, dass die Optionen materiell äquivalent sind.) Das beunruhigende Ergebnis der Studie von Kahneman und Tversky ist, dass die große Mehrheit der Gefragten sich im ersten Versuchsaufbau für die weniger riskante Option A entschied, während die große Mehrheit der mit dem zweiten Paar konfrontierten Gefragten sich für die wesentlich riskantere Option D (B) entschied. Es sollte offensichtlich sein, dass der einzige Unterschied zwischen den ethischen Urteilen – nämlich die Art der Formulierung – ethisch völlig irrelevant ist. Seit Kahnemans und Tverskys Untersuchungen wurden viele ähnliche Studien durchgeführt, durch die sich unter Psychologen allmählich die Rede vom »Framing-Effekt« etablierte: Unsere ethischen Urteile können beeinflusst, mithin bestimmt werden von ethisch irrelevanten Faktoren. _____________ 18 Vgl. Kahneman und Tversky, 1981.

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Die Wortwahl und die Reihenfolge in der Präsentation von Handlungsoptionen sind dabei nur zwei besonders klare von zahllosen Beispielen. Neben ihnen gibt es eine Vielzahl weiterer ethisch irrelevanter, aber psychologisch höchst potenter Faktoren. Die Erforschung des Framing-Effekts stellt mittlerweile eine eigene kleine Subdisziplin der Psychologie dar. Um nur ein Beispiel der aktuellen Forschung zu geben: Zurzeit scheint sich die These zu erhärten, dass der Framing-Effekt (durch Wortwahl und Reihenfolge) selbst dann nicht verschwindet, wenn die Versuchspersonen aufgefordert werden, die verschiedenen Optionen genau und aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten und zum Urteil einen erklärenden Kommentar zu geben.19 Tatsächlich gibt es sogar Hinweise darauf, dass sich der Framing-Effekt durch diese Veränderungen im Versuchsaufbau noch verstärken kann.20 In den diskutierten Untersuchungen stecken zwei Lektionen. Erstens zeigt sich, dass wir unseren schnellen ethischen Urteilen mit einem gesunden Maß an Vorsicht begegnen sollten – dass wir also nicht überrascht sein sollten, wenn sich unsere Urteile im Nachhinein als falsch erweisen und dass wir unsere Urteile mit angemessener Vorsicht und Demut vortragen und vertreten sollten. Zweitens – und dies ist der interessantere Punkt – zeigt sich, dass unsere ethischen Urteile letztlich verankert sind in unserer kontingenten menschlichen Natur. Allerdings bedeutet dies nicht einfach, dass die These einer konstitutiven Grenze zwischen Rechtfertigungen und (kausalen) Erklärungen einfach falsch ist. Dass es komplizierter ist, wird schon durch folgende Überlegung klar: Wenn Kahneman und Tversky tatsächlich zeigen, dass die Rechtfertigung unserer ethischen Überzeugungen problematisch ist, dann tun sie das gerade, indem sie uns darauf aufmerksam machen, dass unsere Urteile durch ethisch irrelevante Faktoren bestimmt und damit verzerrt werden. Mit anderen Worten: Ihr Hinweis beruht selber auf Informationen rechtfertigender Art und ist nicht bloß eine kausale Erklärung unserer alltäglichen ethischen Urteilsmuster. Es ist ähnlich wie mit optischen Täuschungen. Im Hinblick auf visuelle Eindrücke sollten wir uns auch nie im Besitz unumstößlicher Daten wähnen. Und auch hier gilt, dass die Rede von Täuschung einhergeht mit einer (wenn auch tentativen) Beurteilung der Lage, die ihrem Anspruch nach näher an der Wahrheit ist als die inkriminierte. Allerdings ist die Warnung im Bereich der Ethik interessanter und auch beunruhigender als im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung. Denn in ersterer können wir selbst mit der Hilfe der Moralpsychologie oftmals gar nicht sagen, wie wir ein ungerechtfertigtes Urteil durch ein gerechtfertigtes ersetzen _____________ 19 Vgl. z.B. Takemura, 1994, McElroy und Seta, 2003. 20 Vgl. z.B. Laboeuf und Shafir, 2003.

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sollen. Während die Feststellung einer sinnlichen, etwa einer visuellen, Täuschung gewöhnlich einhergeht mit der Erkenntnis, wie das falsche Urteil korrigiert werden muss, so ist es unklar, ob ähnliches auch für die Feststellung von Framing-Effekten in der Moralpsychologie gilt. Der Grund liegt darin, dass es in letzterem Kontext oftmals nicht möglich ist zu sagen, wie eine verzerrungsfreie Beurteilung aussähe. In Kahnemans und Tverskys Fall, in dem wir zwar wissen, dass die Optionen A und C (A) keine relevanten Unterschiede aufweisen (ebenso die Optionen B und D (B)), bleibt es beispielsweise zunächst offen, ob wir eher unserer Intuition im Fall der »Leben gerettet«-Formulierung oder eher unserer Intuition im Fall der »Leben verloren«-Formulierung Vertrauen schenken sollen (oder ob wir vielleicht beide zugunsten einer dritten Option verwerfen sollten). Im Gegensatz zu paradigmatischen Fällen von verzerrter Sinneswahrnehmung lässt sich also die moralpsychologische Verzerrung nicht auf einfache Weise aufheben. Es ist nicht so, als ob wir die Welt durch eine das Bild verfälschende Brille betrachtet hätten, die wir nun einfach abnehmen könnten. Vielmehr müssen wir anerkennen, dass uns die Moralpsychologie mit Ergebnissen wie den skizzierten an die Stelle führt, wo das Begründen ein Ende hat (um auf eine wittgensteinianische Weise zu sprechen21) und wo unsere Gründe übergehen in Bauchgefühle. Hier gibt es schlechterdings keine klare – und schon gar keine generelle – Antwort mehr auf die Frage, welche ethischen Konsequenzen aus einem bestimmten moralpsychologischen Ergebnis zu ziehen sind. Ich will versuchen, diese – vielleicht enttäuschende, vielleicht aber auch befreiende – These mit ein paar weiteren Beispielen zu untermauern. Sollte sich die These als korrekt erweisen, wäre das Ergebnis dieses Kapitels ein gemischtes: Einerseits hat die Moralpsychologie direkte Relevanz für Moralphilosophen, wenn auch nur in der oben als »bescheiden« beschriebenen Hinsicht. Andererseits gibt es moralpsychologische Daten, die eher Fragen aufwerfen als Orientierungshilfe geben. Das erste der Beispiele, denen wir uns zuwenden wollen, ist eine berühmte von Joshua Knobe durchgeführte Untersuchung unserer Verantwortlichkeitszuschreibungen.22 In seinem ursprünglichen Aufsatz beschäftigt sich Knobe mit der Frage, ob die bekannten, aber nicht gewünschten und auch nicht anvisierten (also gezielt bewirkten) Nebeneffekte einer Handlung als absichtlich bewirkt betrachtet werden sollten. Dies ist eine typische philosophische Frage, zu der viele Philosophen ihren Beitrag geleistet haben. Doch anstatt Argumente für oder gegen die eine oder andere Position zu diskutieren und dann mit den traditionellen Methoden _____________ 21 Vgl. Wittgenstein, 2003d [PU], §217. 22 Vgl. Knobe, 2003a,b, 2004.

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der Philosophie zum einen oder anderen Ergebnis zu kommen, testet und erfasst Knobe die entsprechenden linguistisch-philosophischen Reaktionen von Nichtphilosophen (»folk reactions«) und kommt dabei zu interessanten Ergebnissen. Das genaue Szenario und die Fragen, mit denen Knobe seine Testsubjekte konfrontiert, lauten wie folgt: »Der Vorstandsvorsitzende eines Unternehmens hat entschieden, ein neues Programm aufzusetzen. Er glaubt (1), dass er und sein Unternehmen mit dem Programm eine Menge Geld verdienen werden und (2), dass das Programm darüber hinaus einen Effekt X haben wird. Dem Vorstandsvorsitzenden ist der Effekt X völlig egal – der einzige ihn motivierende Grund für die Implementierung des Programms ist, dass sich damit viel Geld verdienen lässt. Das Programm wird wie geplant implementiert, das Unternehmen erbringt den anvisierten Gewinn und es stellt sich der Nebeneffekt X ein. Obwohl der Vorsitzende den Effekt X kommen sah, war es ihm egal, ob X passieren würde oder nicht. Sollen wir sagen, dass X absichtlich bewirkt wurde?«23 Zur Überraschung von Knobe und vieler anderer Psychologen und Philosophen hängt die Antwort der überwältigenden Mehrheit der Befragten davon ab, ob der Nebeneffekt X als gut oder als schlecht beschrieben bzw. wahrgenommen wird. Wenn der Nebeneffekt als gut für die Umwelt beschrieben wurde, sagten 77% der Befragten, dass er nicht absichtlich bewirkt wurde. Wenn er aber als umweltschädigend beschrieben wurde, so waren 88% (!) der Befragten geneigt, von einem absichtlich bewirkten Effekt zu sprechen. Eine plausible Erklärung dieses Resultats könnte darin bestehen, dass das Vokabular der Absicht (»absichtlich«, »unabsichtlich« etc.) in erster Linie in Kontexten des Bestrafens oder Tadelns verwendet wird und erst in zweiter Linie in Kontexten der Belohnung oder des Lobens – oder gar der neutralen, quasi wissenschaftlichen Beschreibung.24 Dies wiederum könnte dadurch erklärt werden, dass in Gruppen menschlicher Akteure das Tadeln und Strafen eine wichtigere Rolle einnehmen als das Belohnen und Loben und dass die Frage der Absicht in neutralen Beschreibungskontexten nicht vorkommt.25 Ich erwähne dieses moralpsychologische Ergebnis, da es eine philosophische Spannung verdeutlicht. Auf der einen Seite kommt uns das Ergebnis erstaunlich vor, und aus diesem Grund ist es zumindest auf den ersten Blick auch beunruhigend. Auf der anderen Seite jedoch ist es auch nach einiger Reflexion nicht klar, ob normale Sprecher in ihren alltägli_____________ 23 Knobe, 2003a, 190, meine Übersetzung. 24 Vgl. Austin, 1957. 25 Die Frage, ob genuin neutrale Beschreibungen menschlichen Handelns überhaupt möglich sind, wird hier ausgeklammert.

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chen Verantwortlichkeitszuschreibungen wirklich Fehler begehen. Wir scheinen die folgenden zwei Tendenzen in uns zu finden: Auf der einen Seite sind wir der Meinung, dass unsere Verantwortlichkeitsurteile nicht davon beeinflusst sein sollten, wie gut etwas ist. Auf der anderen Seite jedoch denken wir, dass, wenn wir und unsere Mitmenschen tatsächlich so urteilen, wie Knobe es beschreibt, die bloße Merkwürdigkeit des Urteils noch nicht zeigt, dass mit unseren Reaktionen auf den Geschäftsmann etwas nicht in Ordnung ist. Ist die Güte eines Nebeneffekts eine Erwägung, die wir mit Recht als Grund für unser Urteil vorbringen können, dass der Nebeneffekt nicht absichtlich verursacht wurde? Ist die Schlechtigkeit eines Nebeneffekts eine Erwägung, die wir mit Recht als Grund für unser Urteil vorbringen können, dass der Nebeneffekt mit Absicht verursacht wurde? Unser Hin- und Hergerissensein in Bezug auf diese Fragen kommt auch in einem weiteren Beispiel gut zum Ausdruck, welches uns zudem in besonderer Klarheit vor Augen führt, wie begrenzt die Aussicht ist, dass wir durch rigoroses Nachdenken unsere alltäglichen Urteile verbessern, d.h. von den skizzierten Verzerrungen befreien können. Bei dem Beispiel geht es um die die Unterscheidung zwischen dem (aktiven) Töten und dem (passiven) Sterbenlassen. Sie wird am klarsten in der Gegenüberstellung von zwei Szenarien. Das erste Szenario ist das klassische »trolley problem«.26 Eine Bergwerklore (trolley) rollt auf fünf unschuldige Menschen zu, die sich aus uns unbekannten Gründen ohne jegliche Ausweichmöglichkeit auf dem Gleis befinden, und droht sie zu töten. Wir stehen daneben, sind aber nicht bloß Zuschauer, sondern können in das Geschehen eingreifen: Neben uns befindet sich eine Weiche, die wir durch einen Schalter umlegen können. Wenn wir die Weiche umstellen, so wird der Wagen auf ein Nebengleis umgelenkt, auf dem sich nur ein unschuldiger Mensch befindet, wiederum aus unbekannten Gründen und ohne Fluchtmöglichkeit. Somit haben wir folgende Optionen: Wenn wir nichts tun, werden fünf unschuldige Menschen getötet; wenn wir den Schalter betätigen, wird nur ein unschuldiger Mensch getötet. Nehmen wir an, wir wissen nichts über die involvierten Menschen und haben auch sonst keine weiteren ethisch relevanten Daten über das Szenario als die bereits genannten. Die meisten Leute, die mit diesem Szenario konfrontiert werden, plädieren dafür, den Schalter zu bedienen und den Wagen so von dem Gleis mit fünf Menschen auf das Gleis mit _____________ 26 »Trolley problems« wurden ursprünglich von Philippa Foot (Foot, 1979) in die Moralphilosophie eingeführt und bestimmen heute einen ganzen Teilbereich der Moralphilosophie.

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nur einem Menschen umzulenken. (Ich persönlich bin in dieser Sache auf der Seite der Mehrheit.) Das zweite Szenario ist ebenfalls ein »trolley case«: Wiederum rollt eine Bergwerklore auf fünf unschuldige Menschen zu und droht sie zu töten. Wiederum sind wir zugegen und können in das Geschehen eingreifen. Diesmal haben wir es allerdings nicht mit einer Weiche und mit einem Nebengleis zu tun. Stattdessen stehen wir auf einer Fußgängerbrücke über dem Gleis, zusammen mit einem sehr dicken Mann. Wenn wir den Mann von der Brücke herunter stoßen, so wird er auf das Gleis fallen und den rollenden Wagen mit seiner bloßen Masse stoppen – dabei allerdings umkommen. (Wir selber sind zu dünn, um den Wagen zu stoppen.) Wiederum gilt also, dass fünf Menschen sterben, wenn wir nicht eingreifen, und dass ein Mensch stirbt, wenn wir eingreifen. Mit diesem Szenario konfrontiert, ist nun fast niemand der Meinung, dass es richtig oder gar erforderlich ist, in das Geschehen mit dem Ziel einzugreifen, einen Menschen zu töten und damit fünf zu retten. Die Mehrheit der Befragten vertritt vielmehr die Position, dass es nicht weniger als verwerflich ist, den Mann herunter zu stoßen, um den Wagen zu stoppen. Interessant ist nun der wissenschaftliche Blick auf diese Urteilsdispositionen. Joshua Greene und Jonathan Cohen haben zu dem hier skizzierten Paar von Szenarien neuro-psychologische Untersuchungen durchgeführt.27 Neben dem Ergebnis, dass die Reihenfolge der Präsentation (wiederum) eine große Rolle in unserer Reaktion spielt, zeigen Green und Cohen, dass der kausal relevante Unterschied zwischen den Szenarien damit beschrieben werden kann, dass die Szenarien phänomenal und emotional unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Es kommt darauf an, so Greene, wie »up close and personal« unsere Vorstellung der eigenen projektierten Handlung ist. »The thought of pushing someone to his death is […] more emotionally salient than the thought of hitting a switch that will cause a trolley to produce similar consequences, and it is this emotional response that accounts for people’s tendency to treat these cases differently.«28 Greene und Cohen unterstützen diese These mittels Magnetresonanzanalyse (functional magnetic resonance imaging, fMRI). Ihr Vorgehen kann dabei (etwas grob) wie folgt beschrieben werden. Greene und Cohen arbeiten mit bestimmten weithin anerkannten Hypothesen darüber, welche Gehirnareale mit den Emotionen und welche Gehirnareale mit der Erinnerung assoziiert sind. Die fMRI-Scans zeigen nun, dass gewöhnliche Subjekte, die mit dem Fußgängerbrücken-Szenario konfrontiert werden, _____________ 27 Siehe Greene u. a., 2001. 28 Greene, 2005, 58.

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vor allem in den mit Emotionen assoziierten Gehirnarealen Aktivität zeigen, während ihre Gedächtnis-Areale eher inaktiv bleiben. Dieses Bild ist genau umgekehrt im Weichen-Szenario, in welchem die Eingriffsmöglichkeit als weniger blutig imaginiert wird. Besonders interessant ist, dass selbst die (wenigen) Testsubjekte, welche die Meinung vertraten, dass es in beiden Szenarien richtig ist einzugreifen, im Fußgängerbrücken-Szenario besondere emotionale Aktivität zeigten. Dies deutet nach Greene und Cohen darauf hin, dass auch diese Testsubjekte die sich herauskristallisierende Hypothese stärken: Sie überwanden ihre eigene starke emotionale Reaktion. Anthony Appiah, der Greenes und Cohens Ergebnisse in seinem Experiments in Ethics (2008) ausführlich diskutiert, bringt in seiner Reaktion eine interessante Einstellung auf den Punkt: Appiah wird sich im Licht der neuro-psychologischen Untersuchung weniger sicher in Bezug auf die Akzeptabilität seiner Urteile (und da seine Urteile mit denen der Mehrheit harmonieren: der Urteile der Mehrheit). Er beschreibt den Eindruck, dass unsere Versuche der Begründung nur vorgeschobene post-hoc-Kodifizierungen prä-programmierter psychologischer Routinen sind. »Greene’s psychological explanation,« so schreibt Appiah, raises the possibility that […] there’s just no good moral reason for our making [the] distinction. Our brains are so constituted that most of us will go one way in one scenario and another in the other: so we’ve been told what makes us respond as we do. We have (at least) two ways of deciding what to do. […] Which one kicks in is decided by whether or not the killing in question is »up close and personal«; and while that makes a difference to how we will feel, it doesn’t have any real moral significance.29

Ich möchte darauf hinweisen, dass Appiahs Bereitschaft, sein eigenes initiales Urteil zurückzuziehen, vielleicht gar nicht so sehr der (begründeten) Überzeugung geschuldet ist, dass das initiale Urteil falsch war. In den oben diskutierten Framing-Fällen konnten wir mit wesentlich größerer Sicherheit sagen, dass unsere ersten Urteile falsch waren, und selbst in dem Asian Flu-Fall ist einiger Raum dafür, obwohl wir nicht wissen, welche der Optionen falsch ist. Appiah erwähnt jedenfalls keinen besonderen Grund für die Zurückweisung oder Anzweiflung des initialen Urteils – er behauptet bloß, dass der fMRI-Scan zeige, dass die Unterschiede zwischen den Szenarien ethisch irrelevant sein müssen. Könnte es sein, dass Appiahs Sinneswandel selber als das Ergebnis eines psychologischen Mechanismus zu beschreiben ist, der ebenfalls kaum

_____________ 29 Appiah, 2008, 95.

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an guten Gründen ausgerichtet ist?30 Wenn wir das Gefühl haben, dass unser Verhalten und Urteilen durch kausale Mechanismen gesteuert ist und insofern nicht im vollen Sinne unsere Autorschaft besitzt, dann entwickeln wir einen Widerstand gegen diese Beeinflussung unserer Urteile. Die Bereitschaft der Revision des initialen Urteils könnte einem solchen psychologischen Mechanismus geschuldet sein. In jedem Fall deutet sich hier wiederum an, dass die Hoffnung auf eine verzerrungsfreie Sicht auf die Faktenlage unrealistisch ist. Mir scheint, die Moral von der Geschichte lautet, dass wir an den äußeren Grenzen unserer ethischen Urteilsnetze unserer animalischen Natur ins Auge blicken. Hier hören unsere Gründe auf und fangen unsere Bauchgefühle an, hier ist die Grenze, an der wir Bauchgefühle und Bauchreaktionen nicht mehr wirklich sicher als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt, also als Reaktionen auf Gründe, verstehen können. Sie sind nicht gerechtfertigt: es gibt keine Gründe, an denen sie sich orientieren. Sie sind aber auch nicht ungerechtfertigt: Es gibt schließlich auch keine Gründe, die sie ignorieren oder übersehen. Sie sind der animalische Hintergrund unserer Praxis des Forderns und des Anbietens von Gründen.

8.4 Moralpsychologie als Horizonterweiterung Es gibt einen weiteren Bereich, in dem Moralpsychologen in letzter Zeit behauptet haben, Vorstöße in die Philosophie gemacht zu haben. Die Rede ist hier von der Behauptung einiger einflussreicher Moralpsychologen, dass wir uns erst durch moralpsychologische Forschung ein Bild von der ganzen Bandbreite des ethischen Denkens und der ethischen Sensibilität machen können. Der Psychologe Jonathan Haidt, der diese Behauptung in einer ganzen Reihe von Artikeln und Vorträgen gemacht hat,31 argumentiert, dass wir nur mit einem reichhaltigen moralpsychologischen Wissen der »moral matrix« entfliehen (»step out of the moral matrix«32) und akzeptieren können, dass auch Menschen ganz fremder ethischer Überzeugungen letztlich das gleiche Geschäft ausüben wie wir – die ethische Bewertung der Welt. Insbesondere denkt Haidt, dass die Moralpsychologie dazu beitragen kann, eine Brücke zu schlagen zwischen Konservativen und Progressiven. Sie kann, so Haidt, dazu beitragen, den Zirkel _____________ 30 Ich erlaube mir diese Spekulation über den Hintergrund von Appiahs Reaktion, da ich seine Reaktion teile. 31 Vgl. etwa Haidt, 2001; Haidt und Graham, 2007; Haidt, 2007; Haidt und Bjorklund, 2008. 32 Vgl. Haidt, 2008.

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aus gegenseitigem Unverständnis und gegenseitiger Verteufelung, die das Verhältnis der beiden Gruppen kennzeichnen, zu durchbrechen. Haidt ist der Begründer einer moralpsychologischen Theorie, die er »Sozialen Intuitionismus« nennt. Diese Theorie ist bestrebt, zwei Arten von Ideen bezüglich ethischer Urteile und ethischer Verhaltensweisen zusammenzubringen. Auf der einen Seite sind wichtige Aspekte unserer Beurteilungsdispositionen fest in unserer biologischen Natur verankert und in der Hinsicht nicht im vollen Sinne unsere: Wir werden mit ihnen geboren und es wird uns nie (ganz) gelingen, sie abzulegen oder wesentlich zu beeinflussen. Auf der anderen Seite gibt es durchaus Raum für Training und Veränderung unserer eigenen Beurteilungen und Reaktionen, gar für die Revision als problematisch erkannter Urteils- und Verhaltensmuster. Haidts Theorie versucht die theoretische Spannung zwischen diesen Polen mit der Idee zu überbrücken, dass unsere ethischen Urteile zwar im Groben das Ergebnis vorprogrammierter (also unserem Einfluss entzogener) psychologischer Module sind, dass aber in späteren Entwicklungsphasen einiger Platz für die gesteuerte Veränderung dieser Module, besonders im Feintuning-Bereich bleibt. Was Haidts Theorie »sozial« macht, ist die These, dass viele der Veränderungs- bzw. Einwirkungsmechanismen ihrer Natur nach gesellschaftlich sind. Um nun Haidts Behauptung zu verstehen, dass die Moralpsychologie – genauer: Haidts Sozialer Intuitionismus – uns gegenüber der ganzen Bandbreite der ethischen Sensibilität öffnen kann, müssen wir einen Blick auf Haidts Ideen bezüglich der vorprogrammierten Module unserer ethischen Sensibilität werfen. Haidt geht von fünf solchen Modulen aus, die er wie folgt benennt: 1) Care/Harm, 2) Justice/Reciprocity, 3) Authority/ Hierarchy, 4) Ingroup/Outgroup und 5) Purity/Sanctity. Wie die Namen der Module suggerieren, geht es in jedem Modul um eine Dimension ethischer Empfindung bzw. ethischen Urteilens. Haidt gesteht dabei ein, dass die Module nicht komplett unabhängig voneinander und in verschiedenen Hinsichten unscharf sind, besteht aber darauf, dass die Existenz dieser fünf weitgehend eigenständigen Module der ethischen Sensibilität durch empirische Forschung einigermaßen sicher belegt ist. Haidts zentrale Behauptung im vorliegenden Kontext ist nun, dass die »five foundations theory« dazu benutzt werden kann, die »Mauer« einzureißen, die uns von den ethischen Urteilen fremder Menschen trennt – in Haidts Beispiel: konservativer Menschen, die er nicht ganz zu Unrecht als die Anderen der akademischen Philosophen und Psychologen ansieht.

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[T]he five foundations theory can be used as a doorway through the wall [to others’ opinions]. Liberals can use this doorway to step (briefly) beyond their moral comfort zone and see issues from the perspective of others.33

Hinter dieser Behauptung steht der von Haidt und seinen Kollegen mittels Fragebögen und neurologischen Begleituntersuchungen ermittelte Befund, dass es, während alle gesunden Erwachsenen letztlich durch alle fünf Module bestimmt werden, zwischen Liberalen einerseits und Konservativen andererseits Unterschiede in den relativen Gewichten bzw. Stärken der Module gibt. Konkret sind bei Liberalen die ersten drei Module (Care/ Harm, Justice/Reciprocity sowie Authority/Hierarchy) weitaus ausgeprägter als die beiden letzten Module (Ingroup/Outgroup und Purity/Sanctity), wohingegen bei Konservativen alle fünf Module etwa gleich stark ausgebildet sind. Während sich Liberale in ihren ethischen Urteilen also vorrangig für die Aspekte des Leidens bzw. der Wohlfahrt, der Gerechtigkeit sowie (vielleicht etwas erstaunlich) der Hierarchie interessieren (darunter fallen nach Haidt aber auch solche Dinge wie Respekt vor dem Alter), so sind die Urteile Konservativer zusätzlich von Fragen der Gruppenzugehörigkeit34 sowie der Reinheit35 bestimmt. Natürlich sind diese Ergebnisse keine wirkliche Überraschung, stimmen sie doch mit der landläufigen Erfahrung überein, dass Themen wie Patriotismus (in dem das Ingroup/Outgroup-Modul wirkt) und sexuelle Normen (bei denen Haidt das Purity/Sanctity-Modul am Werk sieht) Konservative zu starken und mit Herzblut verteidigten Thesen reizen, für die Liberale zumeist nicht viel mehr als ein verständnisloses Achselzucken übrig haben. Haidt drückt diese moralpsychologischen Befunde gern mit einer Metapher aus der Unterhaltungselektronik aus: Während Liberale mit einer »3 dial morality« operieren, sind Konservative im Besitz einer vielseitigeren »5 dial morality«, haben also zwei weitere Regler an ihrer moralpsychologischen HiFi-Anlage. Mit seinem Kollegen Fredrik Bjorklund versucht Haidt seit vielen Jahren zu zeigen, dass dieses Bild über soziale Grenzen, Geschlechtergrenzen, Altersgrenzen, Ländergrenzen und Kulturgrenzen hinweg stabil ist.36 _____________ 33 Haidt und Graham, 2007, 111. 34 Es ist zu beachten, dass es hier nicht nur um Mitgliedschaft bzw. Nichtmitgliedschaft in der eigenen Gruppe (Familie, Land, Religion, Sportverein etc.) des Urteilenden geht. Das Modul bezieht sich auf die Mitglied/Nicht-Mitglied-Grenze schlechthin, nicht auf die Grenze Wir/Ihr. 35 Was genau Reinheit ist, ist notorisch unklar und von Kontext zu Kontext unterschiedlich. Haidt subsumiert unter dieses Modul vor allem konservative Positionen in sexualethischen Fragen; als »unrein« gelten konservativen Urteilenden Inzest, Sodomie, aber (bekanntlich) auch Dinge wie Homosexualität oder Onanie. 36 Vgl. Haidt und Bjorklund, 2008, vgl. auch Haidt und Graham, 2007, Haidt, 2008.

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Die große Frage, die sich hier stellt, ist: Wie genau soll uns nun die Forschung über die fünf Module der ethischen Sensibilität dazu befähigen, aus der »moralischen Matrix« auszubrechen und die Welt »from the perspective of others« zu sehen? Und was soll diese Metapher genau bedeuten? In einem zentralen Artikel über die konservative Ablehnung gleichgeschlechtlicher Ehen bietet Haidt (mit seinem Kollegen Jesse Graham) einige erklärende Worte: We in psychology, and in academe more generally, have a tendency to reject conservative concerns related to ingroup, authority, and purity as »bad« on the grounds that they often conflict with the »good« moralities of harm and fairness. We dismiss the conservative outgroup’s morality as »motivated social cognition« driven by non-moral concerns such as fear of change. Doing so makes us feel good, but it should not, for it is a violation of our values (we become »politicocentric«), and it is a route to irrelevance (we cannot persuade the electorate, because we do not have an accurate picture of their moral motivations). Recognizing ingroup, authority, and purity as moral concerns – even if they are not your moral concerns – is crucial both for scientific accuracy and for the application of social justice research beyond the walls of the academy.37

Der zentrale Gedanke der zitierten Passage scheint zu besagen, dass Haidts sozialpsychologisches Fünf-Module-Modell uns davon abbringen kann zu denken, konservative Urteilsmuster seien »driven by non-moral concerns such as fear of change«. Stattdessen können wir sie als Konsequenzen der Aktivität der zwei bzw. drei letztgenannten Module unserer ethischen Sensibilität betrachten. Allerdings ist es schwer zu sehen, wie für eine solche Position argumentiert werden kann. Haidts und Grahams These, so scheint es, beruht ausschließlich auf terminologischen Festlegungen, da die Rede von den »moral concerns«, welche angeblich auch die Urteile der Konservativen informieren, noch gar nicht definiert ist. Wenn damit nur gemeint ist, dass ein bestimmtes Urteil mit einem (oder mehreren) der Haidtschen Module assoziiert ist, dann ist damit noch gar nichts über die Güte bzw. die Akzeptabilität des Urteils gesagt. Um hierzu etwas zu sagen, müssten Haidt und Graham mehr tun als Menschen Fragebögen auszuhändigen, um zu ermitteln, auf welche Situationsaspekte sie bei ihren Urteilen schauen. Sie bräuchten ein Argument, aus dem hervorgeht, dass die von ihnen identifizierten fünf Module jeweils mit echten Gründen korrespondieren (was etwa die bloße gewohnheitsmäßige Ablehnung von Veränderung, die Haidt mit »fear of change« meint, nicht tut). Das Problem ist, dass von Haidt und Graham nichts – überhaupt nichts – darüber gesagt wird, wieso die Tatsache, dass ein Urteil irgendwie mit einem der von ihnen entdeckten fünf psychologischen Mechanismen erklärt werden kann, uns als Moralphilo_____________ 37 Haidt und Graham, 2007, 110f.

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sophen oder auch nur als an ethischen Fragen interessierte Denker in normativer Hinsicht beeindrucken soll. Insofern ist Haidts und Grahams Punkt im besten Fall eine petitio principii. Aus ihm folgt noch lange nicht, dass Liberale mittels moralpsychologischer Ergebnisse irgendwie aus ihrer »moralischen Matrix« treten können. Ich möchte diese Erwiderung noch stärker machen, indem ich aus der Perspektive der Liberalen eine konkurrierende Interpretation der moralpsychologischen Ergebnisse von Haidt anbiete. Aus der Perspektive der Liberalen ist es nämlich die naheliegendste Interpretation, die drei »konservativen Module«38 als Faktoren zu behandeln, die die Urteilskraft und damit das angemessene Verhalten verzerren, vernebeln bzw. verhindern. Ebenso wie Stolz oder Kränkung die Urteilsfähigkeit von Menschen temporär oder gar dauerhaft einschränken können, so können wir auch über die gewohnheitsmäßige Reaktion auf Dinge wie Gruppenmitgliedschaft oder Reinheit sagen, dass es sich hier nicht um kognitive bzw. ethische Tugenden, sondern um archaische Verzerrungsmechanismen handelt. Tatsächlich ist es aus der liberalen Perspektive ein echtes Rätsel, wie Haidt und Graham auf die Idee kommen, die drei konservativen Module in einen Topf mit den zwei liberalen Modulen39 zu werfen. Vielleicht würden sie an dieser Stelle vorbringen, dass die Urteile aus den konservativen Modulen die gleichen psychologischen oder phänomenologischen Eigenschaften haben wie die Urteile, deren Genese eher in den liberalen Modulen liegt: Sie werden ähnlich vehement verteidigt, sie sind mit ähnlich starken emotionalen Reaktionen verknüpft, sie haben ähnlich starke Gruppenbildungs-Effekte, die Abweichung von ihnen wird ähnlich stark bestraft usw. Dies alles ist jedoch aus liberaler Perspektive kein ausreichender Grund, die Urteile der Konservativen auch nur für teilweise unterstützenswert und die für sie kausal verantwortlichen psychologischen Module insofern als etwas anderes als Verzerrungsmechanismen zu behandeln. Im Gegenteil: Ein Liberaler würde eher argumentieren, dass wir es hier mit einem geradezu paradigmatischen Fall der Irrelevanz deskriptiver bzw. kausaler Information in Bezug auf die Rechtfertigung ethischer Urteile zu tun haben. Die bei Konservativen ausgeprägten psychologischen Module sind bedauerliche Verzerrer; dass die ihnen entspringenden Urteile ähnlich vehement vertreten werden (usw.) wie andere Urteile, _____________ 38 Ich benutze diese Etikette aus Ermangelung einer besseren Alternative. Gemeint sind einfach die letzten zwei bzw. drei Module. (Das »authority / hierarchy«Modul scheint mir sinnvollerweise unter diesen Begriff zu fallen, obgleich es angeblich auch die Urteilsmuster von Liberalen bestimmt.) 39 Ich ignoriere hier wiederum die Tatsache, dass das dritte Modul (Authority / Hierarchy) sowohl bei Konservativen als auch bei Liberalen ausgeprägt ist, und merke an, dass es aus liberaler Sicht nicht unproblematisch ist.

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macht die Sache nur noch schlimmer. Haidt und Graham würden vielleicht auch darauf hinweisen, dass konservative Urteile insofern die gleiche logische Form wie liberale Urteile haben, dass sie als universell gültig und als meinungs- bzw. einstellungs-unabhängig behandelt werden. Doch dies zeichnet sie einfach als ethische Urteile aus; es gibt keinerlei Anlass, wegen der gleichen logischen Form die Genese aus Haidts moralpsychologischen Modulen als begründungsrelevant anzusehen. Aus der Sicht des Liberalen scheitern diese Verteidigungsversuche der philosophischen Gleichbehandlung der fünf Haidtschen psychologischen Module. Somit bleibt es unklar, inwiefern der Liberale mit seinem neuen moralpsychologischen Wissen aus der »moralischen Matrix« aussteigen kann (oder soll). Der Liberale lehnt die Gleichbehandlung der fünf Module übrigens nicht aus einer Laune heraus ab. Sein Argument ist, dass die aus den konservativen Modulen erwachsenden Urteile im Gegensatz zu den aus den liberalen Modulen erwachsenden Urteilen üblicherweise (zumindest oft) falsch sind. Urteile, die sich implizit oder explizit auf die »Unreinheit« bestimmter sexueller Akte oder auf die Mitgliedschaft in bestimmten nationalen Gruppen stützen, werden von ihm schlichtweg nicht als akzeptable Urteile anerkannt. Dies ist natürlich eine ethische Position, für die ethische Gründe vorgebracht werden müssen (und von Liberalen auf Nachfage auch vorgebracht werden). Wenn Haidt und Graham diese Art von Argument verbieten wollen, dann brauchen sie dafür gute Gründe. In ihren einschlägigen Texten liefern sie keine. Es könnte natürlich sein, dass der eigentliche Punkt der Behauptung von Haidt und Graham, die Moralpsychologie könne uns aus unserer »moralischen Matrix« befreien, darin liegt, dass die Moralpsychologie den Liberalen in Erinnerung bringt, dass auch sie alle fünf moralpsychologischen Module in sich tragen, nur eben einige davon (nämlich die letzten zwei bzw. drei) in abgeschwächter oder verkümmerter Form. Die Idee ist dann, dass Liberale mit Konservativen eher sympathisieren können, da etwa der Drang zu, oder die Forderung nach, sexueller Reinheit (was auch immer das genau bedeutet) oder der Drang, zwischen Gruppenmitgliedern und Nichtmitgliedern zu unterscheiden, auch in ihren eigenen Urteilsmustern erkennbar ist. Doch dieser Gedanke ist als ethisches Argument hoffnungslos. Wiederum kann der Liberale ohne weiteres eine alternative Interpretation anbieten: Das, was Liberale mit Konservativen teilen, ist der Hang zur Bigotterie und zur Ungerechtigkeit, nur dass Liberale eben gegen diesen Hang zu kämpfen bereit sind, während Konservative sich ihm hingeben. Tatsächlich könnte der Liberale sogar behaupten, dass dieses Wissen dazu beiträgt, die Urteile der Konservativen mit noch größerer Schärfe zurückzuweisen!

Abschließende Bemerkungen

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An diesem Punkt ist es verlockend, eine bescheidenere Interpretation der Behauptung Haidts und Grahams in Erwägung zu ziehen, nach der Haidt und Graham letztlich wiederum nur daran interessiert sind, uns einen Maßstab für die angemessene Zuteilung von Lob und Tadel an die Hand zu geben: Aus liberaler Sicht hieße das (etwas platt gesagt), dass sie Konservative nicht zu sehr tadeln sollten, da letztere ja nichts dafür können, dass sie denken, wie sie denken – schließlich stehen sie unter dem starken Einfluss moralpsychologischer Urteilsmodule, die zum Glück (moralischem Glück!40) bei Liberalen schwächer ausgeprägt sind. Wiederum scheint dieser Punkt tatsächlich interessant und hilfreich zu sein. »Stepping out of the moral matrix« hieße dann wiederum nichts anderes, als dass wir vorsichtiger werden mit unseren Zuschreibungen von Lob und Tadel. Freilich wäre dies aber eine wesentlich bescheidenere Behauptung, als es die Rhetorik von Haidt und Graham erwarten lässt.

8.5 Abschließende Bemerkungen Wir haben einige Thesen untersucht, die in letzter Zeit im Lager der Moralpsychologie formuliert worden sind. Ihr Tenor war jeweils, dass zumindest der Mainstream des (akademischen) Nachdenkens über die Ethik die Disziplin der Moralpsychologie auf kritikwürdige Weise vernachlässigt bzw. ignoriert. Mit diesen Thesen verknüpft war jeweils die Forderung, sich aktiv und ernsthaft mit der moralpsychologischen Forschung auseinander zu setzen und letztere auf angemessene Weise in das ethische bzw. moralphilosophische Nachdenken einfließen zu lassen. Dabei hat sich ergeben, dass die Thesen und Forderungen oft mit falschen, mindestens mit irreführenden Verständnissen der Signifikanz psychologischer und anderer kausaler Aspekte unserer ethischen Urteile verbunden sind. Wenn ein sinnvolles Verständnis der genauen Signifikanz nachgeliefert wird, dann erweisen sich nur noch die bescheidensten Thesen (bzw. nur noch die bescheidensten Verständnisse der Thesen) der Moralpsychologen als haltbar. Dies ist einerseits schade, andererseits sind aber die bescheidenen Thesen nicht gänzlich uninteressant. Rufen wir uns noch einmal ihren Gehalt vor Augen. Die erste bescheidene moralpsychologische These besagt, dass alle jene, die sich für die Verbesserung der (u.a. sozialen) Welt interessieren, sich für die psy_____________ 40 Es ist verlockend, den Grad der Freiheit von bestimmten urteilsverzerrenden psychologischen Mechanismen mit Bernard Williams zumindest teilweise als durch »moral luck« bestimmt zu verstehen. Zum Begriff des »moral luck«, siehe Williams, 1981.

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chologische Seite des ethischen Urteilens interessieren sollten. Hier bietet die Moralpsychologie einfach ein Reservoir nützlichen Wissens über Faktoren, die das Verhalten von Menschen beeinflussen. Die zweite bescheidene These besagt, dass ein solides moralpsychologisches Wissen unerlässlich für eine angemessene Zuteilung von Lob und Tadel sowie von Belohnung und Bestrafung ist. Im Grenzfall kann die Moralpsychologie wichtige Sollen-impliziert-Können-Prämissen (oder besser: Nichtkönnenimpliziert-Nichtmüssen-Prämissen) unterstützen. Sie kann uns also sagen, ob unsere Urteile zu harsch oder zu weich sind, und wie die angemessene Reaktion auf das Befolgen oder Ignorieren unserer Forderungen sein sollte. Soweit, so gut. Darüber hinaus drängen aber Moralpsychologen mit der wesentlich gewagteren These an die Öffentlichkeit, dass wir für die Überprüfung der Rechtfertigbarkeit bzw. Akzeptabilität unserer (ethischen) Urteile einer Kenntnis der kausalen Genese eben dieser Urteile bedürfen. Hier nun sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass sich Moralpsychologen mit dieser These zu weit aus dem Fenster lehnen. Zwar haben uns einige Forschungsergebnisse der Moralpsychologie in letzter Zeit auf problematische Verzerrungen unserer alltäglichen und weniger alltäglichen Urteile gestoßen. Aber diese Verzerrungen sind genau genommen nicht Ergebnisse der Moralpsychologie (sie sind prinzipiell auch für Alltagssprecher erkennbar), und der Umgang mit diesen Verzerrungen ist eine Aktivität, zu der die Moralpsychologie nichts beizutragen hat. Es ist allerdings nicht ganz so, dass sich die Moralpsychologie hier als vollständig irrelevant erweist. Vielmehr führen uns die entsprechenden moralpsychologischen Forschungsergebnisse tatsächlich die Grenzen unseres ethischen Urteilens – oder, wie man auch sagen könnte, die Grenzen des Raumes der Gründe – vor Augen. Ein Anzeichen dafür ist das Unwohlsein, das uns beschleicht, wenn wir bei den »trolley cases« feststellen, wie sehr unsere komplexen, unterschiedlichen Urteile letztlich ein Effekt unseres animalischen Wesens sind. Wir stellen hier fest, dass unsere Gründe die Gründe einer bestimmten Gattung sind, der Gattung homo sapiens. Ansonsten gilt wiederum: Eine bescheidenere Lesart der moralpsychologischen Thesen steht uns wie immer offen, nämlich die These, dass wir zur richtigen Bemessung von Lob und Tadel der Moralpsychologie bedürfen. Aber spätestens am Ende der Überlegungen dieses Kapitels rennen die Moralpsychologen mit dieser These offene Türen ein.

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Personen- und Sachregister Aneinander vorbei reden (s.a. Missverständnis) 29, 75, 109 Anpassung, grammatische → Spannung, grammatische Anscombe, Gertrude Elizabeth 27n, 60n, 71, 148n Apel, Karl-Otto 28n, 91–92 Ayer, A.J. 43n, 45n Bauarbeiter-Sprachspiel (Wittgenstein) 58–60, 64, 256 Befehl 45–46, 64, 73 Begriffe 105–107, 113, 172–210 Brandom, Robert B. 9, 64 n26, 65– 69, 75–76, 105–107, 169–194 (insb. 180–194), 196, 202, 204– 206, 210–215, 217–229, 230n, 233n, 237n, 241n, 243–246, 259n Charity, Principle of → Wohlwollens, Prinzip des Dancy, Jonathan 72, 137n, 140n, 251–253 Davidson, Donald 101, 117n, 129– 131, 138n, 155n, 201n, 208–209, 233n, 268 Desire → Pro-Einstellung Differenzprinzip (Rawls) 40n Dilemma, moralisches 80n, 83–84 Disposition 24, 39, 101, 111, 120, 145–147, 221–236, 239n, 241– 242, 245, 257, 283–291, 292 Dworkin, Ronald 9, 169–215 (insb. 169–172, 180, 194–215) Eigeninteresse → Interesse Eigenwohl → Interesse Einstellung, praktische (Brandom) 216–247 (insb. 217–218, 221–225, 225–229, 243–246) Egozentrismus (Rationalität) 32 s.a. Interesse Empirismus, Logischer → Positivismus, Logischer Error Theory → Irrtumstheorie

Ethik / Moral (Begriffe) 1n Externalismus vs. Internalismus (Motivation) 137–140, 147, 150–151, 151–163 Externalismus (Semantischer) 239– 241 Fakt/Wert-Trennung 35n Familienähnlichkeit 269 Farbe, Farben 8, 68, 74–76, 113– 114, 260–261, 264n Foot, Philippa 11, 27–28, 39–40, 47n, 71, 78, 262n, 288n Framing-Effekt 284–286, 290 Frege, Gottlob 154n, 172–178, 184 Geld 21–24, 229–232, 234, 236, 239 Generalismus vs. Partikularismus 9, 248–273 Gerechtigkeit 28, 36–42, 73, 145, 198, 199–200, 293, 296 Grammatik (siehe auch Spannung, grammatische) 23–24, 64, 70, 111–113, 118–119, 132–135, 142– 143, 159, 171, 182–186, 192n, 233n, 239–240, 249, 249, 254–269 Grund, Gründe vii, 6, 25, 26–28, 30–32, 33, 34, 36–42, 48–51, 53, 55, 62–63, 66–68, 73, 76–79, 79– 91, 97, 98, 123, 136–166, 181, 184, 186–188, 247, 250–253, 259– 261, 265–268, 277n, 281, 286, 287–291, 294, 298 et passim; beitragende (pro-tanto) vs. ausschlaggebende (all-thingsconsidered) 27, 250, 251n; motivierende 137–139, 139– 140; personengebundene vs. nicht-personengebundene (agentrelative vs. non-agent relative reasons) 86–87, 278n Habermas, Jürgen 91–94 Handlung 6, 33, 34, 35, 47, 48–51, 60n, 62–63, 65, 67, 76, 82, 84, 87–

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Personen- und Sachregister

91, 114, 119, 132, 136–166, 171, 176, 219, 242, 250, 256, 262n, 265 et passim Hart, H.L.A. 195n Hegel, G.W.F. 184, 186–191, 204, 220, 229n, 271–272 Heidegger, Martin 60n Historizität der Sprache 169–210, 259–261 Hobbes, Thomas 4, 28, 39, 93n Holismus (der Gründe) 208, 251– 254 Holismus (Sprachphilosophie) (s.a. Inferenzialismus) 108–109, 176n, 240 et passim Hume, David 5, 30, 39n, 77–78, 93n, 137–139, 140–151, 155–156, 160, 229n Humeanismus → Hume, David Hurley, Susan L. 11, 27n, 47n, 61n, 74, 129n, 195n, 262n, 264n Inferenzialismus 14, 65–67, 70, 75– 76, 105–108, 149–150, 173–183, 193–194, 224, 226, 232–233, 239n, 256–259, 262n Inferenz, materiale 65–66, 106, 173, 177n, 184, 192n, 193, 256 Instrumentalismus (Rationalität) 4, 30–32, 34, 38–42, 77 Intentionalität 156–157, 164, 218– 221, 222n, 228, 236, 237, 245–246 Intensionalität 154, 236, 237 Interesse 4, 6, 26–28, 30–42, 48, 50–51, 53, 63, 77–78, 80, 85–87, 91–94; objektives 31–32; kontrafaktisch erweitertes 32– 32 Internalismus vs. Externalismus (Motivation) → Externalismus vs. Internalismus (Motivation) Interne Beziehung 8, 47, 48–51, 55, 56–63, 65–69, 73, 80, 89, 95, 106– 111, 112, 118, 149, 169, 178, 184 Interpretation 6, 49, 61n, 67–68, 75, 79, 95–96, 99–102, 102–119, 126– 128, 129–131, 131–135, 199–203, 203–205, 205–207, 207–210, 220, 255, 266 Interpretationismusthese 6n, 49n, 129–131, 135 Intuitionen 279, 286

Intuitionismus, sozialer (Haidt) 292 Irrtumstheorie 46, 71 Kalibration (Normative Rede als Kalibrationspraxis) 243–246 Kant, Immanuel 4, 28, 36n, 86n, 93n, 172, 176, 186–188, 218–220 Kognitivismus (s.a. NonKognitivismus) 2, 3, 11, 50, 91n, 71–76 Konflikt, propositionaler 2, 8–9, 29n, 35, 42, 66n, 83, 94, 96–97, 98–135, 195–197, 199n Konservativismus (Politik) 283– 284, 292–297 Konservativismus (Sprache) 209, 266 Kritik 27, 88, 90–91, 189–191, 191– 194, 203–205, 207, 212, 214, 219, 242 Kultur → Unterschiede, kulturelle Letztbegründung 28, 91 Liberalismus 284, 293–297 Lob und Tadel 3, 27, 83–84, 90–91, 280 282, 287, 297, 298 Logik, Logischer Satz 56–58, 74, 80–82, 113, 158, 170, 234n, 254– 255, 257–258 Lovibond, Sabina 1n, 11, 27n, 58n, 70–71, 262n, 282n McDowell, John 35n, 55n, 61n, 179n, 217n, 243n Mackie, John L. 30, 33n, 46–47, 102n, 119n McNoughtons Trilemma 34 Meinungsverschiedenheit (s.a. Konflikt, propositionaler; Missverständnis) 2, 8, 14, 29, 44, 75, 83, 95–96, 99–100, 103–104, 109, 113n, 114, 117–118, 122n, 123, 126, 131, 133, 258, 262–264; theoretische (Dworkin) 195– 199, 207 Menke, Christoph 22n, 86n, 122n, 272n Missverständnis (s.a. Konflikt, propositionaler; Meinungsverschiedenheit; Aneinander vorbei reden) 31n, 83, 100–101, 104, 114, 115– 119, 125, 126–128, 131, 165n, 258, 259, 262, 263

Personen- und Sachregister

Moral / Ethik (Begriffe) → Ethik / Moral (Begriffe) Moralpsychologie 277–298 Motivation 39n, 47, 137–139, 139– 140, 140–145, 145–151, 151–163, 294 Naturalismus 164–147, 222 Naturalistischer Fehlschluss → Fakt/Wert-Trennung Naturwissenschaft 24, 30, 35n, 43, 47, 116n, 137, 152–157, 164–166, 277–298 Neurowissenschaft 96, 144, 156, 273, 289–290, 293 nicht-inferenzielle Beziehung 65– 67, 70, 72, 76, 81n, 83, 105, 107, 149, 169, 171, 178–180, 181–182, 226, 232–233, 246, 256–257, 258– 259 Nietzsche, Friedrich 1 Nihilismus 30, 41 Non-Kognitivismus (s.a. Kognitivismus) 44–47, 54, 71, 73, 100– 101, 124–125 Normativität 33–34, 55n, 171–172, 180, 188, 191, 193–194, 212, 215, 216–247 Objektivität, Objektivismus 3, 7–8, 10n, 29–30, 33–36, 42, 47, 48, 63, 70, 72–73, 94–96, 98–135 (insb. 102–111, 114, 118–119, 123), 170–171, 212, 247, 271 Ought-implies-can-Prinzip → Sollen-impliziert-KönnenPrinzip Pareto-Kriterium (als Gerechtigkeitsmaßstab) 40 Partikularismus vs. Generalismus → Generalismus vs. Partikularismus Passungsrichtung (Welt-Geist vs. Geist-Welt) 144, 148–150 Philosophie, Rolle der 21–25, 30– 36, 53–55, 216–217 Platon 4, 28, 39, 199–200 Positivismus, Logischer 43–46, 71 Pragmatismus 4–11, 33n, 35n, 48– 51, 52–97 (insb. 56–69, 70–71, 75, 77–79), 98–135 (insb. 99, 104– 111, 116n, 127, 133, 134n), 136– 166 (insb. 145–151, 162), 170,

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172–180, 184–194, 196, 211–213, 216–247, 277–278 Präskription → Befehl Pro-Einstellung 138, 141n, 143– 144, 145–147, 149 Proposition (s.a. Rede, propositionale; Konflikt, propositionaler) 7–8, 36, 48–49, 55, 62–63, 63–69, 70– 71, 86–87, 94–97, 105, 114, 119, 129, 136, 146, 149, 169, 172–175, 185–186, 222n, 240, 256–257 Psychologie → Moralpsychologie Quine, Willard van Orman 44, 129, 130, 176n, 182–183, 185, 196 Quinn, Warren 11, 32n, 39n, 77–78 Rationalismus, ethischer 2–4, 5n, 6, 11, 50, 63, 91n, 98, 102, 111, 271 Rationalität 2–4, 26–28, 30–32, 36– 42, 77–79, 79–91, 136–166 et passim Rawls, John 5, 40n, 209n Recht, Rechtsprechung 74n, 110, 194–209 (insb. 195–199, 200–201, 203, 208, 214, 272n, 273) Rede, propositionale 2, 5, 11, 26, 28–30, 33–36, 42–48, 52, 55, 63– 69, 69–71, 91n, 98–131, 152–157, 256–257 Rechtspositivismus 195–196 Regelfolgen 187–194, 204, 208, 211–213, 216–247 Relativismus 49, 94–95, 100–101, 111, 123, 125, 132, 135 Religion 5n, 122–123 Revision, grammatische → Spannung, grammatische Satz, grammatischer → Grammatik Satz, informativer (i.Ggs.z. grammatischer Satz) → Grammatik Sellars, Wilfrid 64n, 65n, 66n, 75, 86, 105, 160–162, 178, 256, 259, 272–273 Sittlichkeit (Hegel) 271 Skeptizismus 30, 34, 38, 41, 42–43, 94, 162, 217n Sollen-impliziert-Können-Prinzip 40–41, 84, 125, 280, 298 Spannung, grammatische 9, 132– 135, 171, 182–186, 192n, 249, 259–269

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Personen- und Sachregister

Sprachspiel (s.a. BauarbeiterSprachspiel) 6–10, 25, 48–51, 53, 54n, 56–79, 80, 82, 84, 89–91, 95, 101, 103, 104–111, 116, 133, 173, 227–228, 233n, 235, 247, 256, 258, 259, 266, 272 Status, normativer 216–247 (insb. 217–218, 221–225, 225–229, 243– 246), 256 Subsentenzielle Ausdrücke → Begriffe Substitutionsbeziehung 105–106, 113, 131, 177–178, 182, 186 Supervenienz 164–166 Tadel und Lob → Lob und Tadel Tatsache (s.a. Proposition) 2, 4–5, 22, 25, 26, 33–36, 43, 50, 52–53, 60, 62–63, 68–69, 70, 73, 98, 102– 103, 105, 112, 119, 134n, 164, 173, 194 Tauziehen-Metapher 79–84, 138– 139, 142 Theorie, Politische 40–41 Therapie, philosophische 24–25, 51n, 54–55, 159n, 233n Tractatus Logico-Philosophicus (Ludwig Wittgenstein) 43, 56– 63, 70, 158, 255–258 Transzendentalpragmatik 91–94 Trolley problem 288–289, 298 Tugendethik 281–283 Überforderungseinwand 40–41

Unsinn 43, 44, 45, 46, 54n, 57, 60, 128n, 254–255 Unterschiede, kulturelle 35, 120– 123, 183, 264, 293 Utilitarismus 1, 281n Vernunft → Rationalität Wahrheit 29, 43–44, 68–69, 70, 129n Wert (Geld) → Geld Wert, moralischer 123n Willensschwäche 89–90, 146–147, 151, 158, 160 Williams, Bernard 27n, 45, 72, 83n, 263n, 297n Wittgenstein, Ludwig vii, 6n, 11, 23–25, 43, 51n, 53–55, 55–69, 70, 72n, 74, 101, 103, 106, 108, 110, 111–113, 114, 119n, 143, 158– 162, 163n, 185, 187n, 188n, 196, 216–217, 220–221, 223, 226n, 231n, 233n, 234n, 242–243, 244, 249, 254–261, 263, 265, 270, 286 Wohlwollens, Prinzip des 50n, 129– 131, 201–202, 250 Wollen → Pro-Einstellung Wunscherfüllungstheorie 31 Zweifel (als Ursprung der Philosophie) 21–51 (insb. 21–23) Zweifel (grammatische Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein) 157–162